eBooks

Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen

Geschichte und Gegenwart

0203
2025
978-3-3811-2302-5
978-3-3811-2301-8
Gunter Narr Verlag 
Vincent Balnat
Barbara Kaltz
10.24053/9783381123025

Über einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch wird in Deutschland nun schon seit über 40 Jahren diskutiert. In Folge der Verbreitung gegenderter Formen (Wählende) und grascher Sonderzeichen (Dozent*in) ist der Ton der Debatte deutlich rauer geworden; die beiden ,Lager' stehen sich inzwischen nahezu unversöhnlich gegenüber und reden nicht selten aneinander vorbei. Dieser Sammelband vereint Beiträge zu elf europäischen Sprachen, in denen sprachgeschichtliche Aspekte und die gegenwärtige Debatte so wertneutral wie möglich und unter Vermeidung von Polemik behandelt werden. Ziel des Bandes ist es, Denkanstöße zum komplexen Verhältnis zwischen Genus und Geschlecht zu bieten und auf diese Weise zu einer gelasseneren und respektvolleren Debatte beizutragen. Einen Einstieg in das Thema bietet der erste Beitrag zum Gendern in der Antike; es folgen Untersuchungen zu den Sprachen Deutsch, Englisch, Niederländisch, Norwegisch, Schwedisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Tschechisch und Finnisch.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-12301-8 Über einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch wird in Deutschland nun schon seit über 40 Jahren diskutiert. In Folge der Verbreitung gegenderter Formen (Wählende) und gra scher Sonderzeichen (Dozent*in) ist der Ton der Debatte deutlich rauer geworden; die beiden ‚Lager‘ stehen sich inzwischen nahezu unversöhnlich gegenüber und reden nicht selten aneinander vorbei. Dieser Sammelband vereint Beiträge zu elf europäischen Sprachen, in denen sprachgeschichtliche Aspekte und die gegenwärtige Debatte so wertneutral wie möglich und unter Vermeidung von Polemik behandelt werden. Ziel des Bandes ist es, Denkanstöße zum komplexen Verhältnis zwischen Genus und Geschlecht zu bieten und auf diese Weise zu einer gelasseneren und respektvolleren Debatte beizutragen. Einen Einstieg in das Thema bietet der erste Beitrag zum Gendern in der Antike; es folgen Untersuchungen zu den Sprachen Deutsch, Englisch, Niederländisch, Norwegisch, Schwedisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Tschechisch und Finnisch. Band 6 Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen Balnat / Kaltz (Hrsg.) Vincent Balnat / Barbara Kaltz (Hrsg.) Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen Geschichte und Gegenwart <?page no="1"?> Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen <?page no="2"?> herausgegeben von Paola Cotticelli-Kurras (Verona) Katrin Schmitz (Wuppertal) Joachim Theisen (Athen) Carlotta Viti (Lorraine) wissenschaftlicher Beirat Daniel Petit (Paris) Georges-Jean Pinault (Paris) Sabine Ziegler (Berlin) Sprachvergleich Studien zur synchronen und diachronen Sprachwissenschaft Band 5 6 reihenseite.indd 1 reihenseite.indd 1 04.12.2024 10: 04: 44 04.12.2024 10: 04: 44 <?page no="3"?> Vincent Balnat / Barbara Kaltz (Hrsg.) unter Mitarbeit von Florian Gieseler Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen Geschichte und Gegenwart <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381123025 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 2569-2275 ISBN 978-3-381-12301-8 (Print) ISBN 978-3-381-12302-5 (ePDF) ISBN 978-3-381-12303-2 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 17 43 71 95 117 135 163 189 209 229 Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Meiser Vor 2500 Jahren: Gendern, das „generische Maskulinum“ und die Entdeckung des grammatischen Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanja Stevanović Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Susanne Günthner Gendern im Deutschen: Aktuelle Forschungsfragen und das inhärente Positionierungspotenzial genderbezogener Personenreferenzen . . . . . . . . . Karoline Irschara Gendern in Österreich: Aktuelle Strategien und öffentliche Debatten . . . . . Jürg Niederhauser Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz . Daniel Elmiger Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen Französisch, Italienisch und Romanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laure Gardelle Epicene references in British English before second-wave feminism: A diachronic perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann Coady Gender-inclusive language debates in the UK: From feminist to trans linguistics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra Gendern im Niederländischen: „m/ v/ x“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiko Motschenbacher Gender in Norwegian: Gendered Language Structures and Language Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 251 277 299 323 359 381 397 429 451 Magnus P. Ängsal Gendern im Schwedischen: Sprachsystematische, gebrauchsbezogene und metapragmatische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Éliane Viennot Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht . Vincent Balnat „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ . Zum gegenwärtigen Gebrauch gendergerechter Sprache in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cecilia Robustelli Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carmen Galán Rodríguez Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen (16.- 21.-Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . María Isabel Rodríguez Ponce Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch . . . . . . . . . . . Svetlana Kibardina Genus und Sexus im Russischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jana Valdrová Gendern im Tschechischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Niedling/ Mia Raitaniemi Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Zur Bezeichnung des geschlechterbzw. gendergerechten Sprachgebrauchs werden auch die Adjektive genderneutral bzw. -sensibel, inklusiv, nichtsexistisch, diskriminie‐ rungsfrei und genderfair verwendet (vgl. Becker et al. 2022: 7-8). Die Definition von ‚Gendern‘ im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache lautet: „geschlechtsneutrale oder geschlechtsinklusive Ausdrücke verwenden und dadurch Texte so gestalten, dass die Ausgrenzung aufgrund des (sozialen) Geschlechts vermieden wird“ (DWDS, s.v. „gendern“). 2 Für eine detaillierte Darstellung der vielfältigen in der Genderlinguistik behandelten Aspekte vgl. Kotthoff/ Nübling (2018/ 2024). 3 Ausführlich zum Partizip I als Sexusmarker siehe Glück (2020). 4 Aldi Süd verwendet neuerdings den Doppelpunkt im Wortinneren auf Werbeplakaten (Gestalter: innen) - Pro-Gender-Statement oder nur ein (gelungener) ‚Hingucker‘? 5 Zur Entwicklung der feministischen zur postfeministischen Auffassung von Sprache und zur Diversität der gegenwärtigen Positionen und Forderungen siehe Günthner (2022) und ihren Beitrag in diesem Band. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Simon (2022), der den Einfluss verschiedener Akteure bei der (Nicht-)Durchsetzung neuerer Sprachnormen beleuchtet. Vorwort der Herausgeber „Hat es sich bald ausgegendert? “ So lautet der Titel eines ausführlichen Berichts zur gegenwärtigen Lage der Debatte um die geschlechterbzw. gendergerechte Sprachverwendung (‚Gendern‘) 1 im SPIEGEL-Magazin vom 28. Juli 2024 (Max‐ will/ Mingels 2024). Die beiden Verfasser kommen zu dem Schluss, dass sich in Deutschland allmählich ein geschlechtsneutraler Sprachgebrauch durchsetzt, der Gebrauch von Sonderzeichen zurückgeht und das geschlechtsübergreifende Maskulinum deutlich weniger verwendet wird. Dass angesichts dieser Entwick‐ lungen ein baldiges Ende der Genderdebatte in Sicht sein könnte, halten wir allerdings für mehr als fraglich. In Deutschland wird nun seit mehr als vier Jahrzehnten über eine ge‐ schlechtergerechte Sprachverwendung diskutiert, und die Debatte hat sich in den letzten Jahren zunehmend verschärft. 2 Umstritten sind nicht nur die Verwendung des Maskulinums zur Bezeichnung von Frauen bzw. geschlechts‐ gemischten Gruppen und der Einsatz nicht lexikalisierter genderneutral ver‐ wendeter Partizipialkonstruktionen (Radfahrende für Radfahrer, Wählende für Wähler). 3 Vor allem über die Sonderzeichen im Wortinneren (Genderstern, Doppelpunkt, 4 Schrägstrich, Unterstrich) sind lebhafte Kontroversen entbrannt; deren Gebrauch hat sich inzwischen nicht nur an Universitäten und Schulen, sondern auch in den Medien, im Internet und in der Verwaltung verbreitet. 5 <?page no="8"?> 6 Vgl. auch die abwertenden Ausdrücke „Genderismus“, „Gender-Gaga“ und „Gegendere“. 7 Der Kasseler Sprachwissenschaftler David Römer vergleicht das Gender-Thema mit „eine[r] Arena, in der ein Sprachkampf ausgetragen wird“ (https: / / www.hessenschau .de/ kultur/ kasseler-sprachwissenschaftler-zum-thema-gendern-sprachverbote-darf-es -nicht-geben-v1,interview-linguisten-gendern-100.html, 31.07.2023; zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Beatrix von Storch, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, sprach ihrerseits von einem „Kampf gegen Gender-Gaga und den rot-grünen Zwang zur Sprachverhunzung“; https: / / www.afd.de/ beatrix-von-storch-m erz-folgt-afd-forderung-nach-verbot-von-gendersprache (23.04.2021; zuletzt abgerufen am 02.01.2024). 8 Die AfD ist die einzige Partei, die das Gendern in ihrem Grundsatzprogramm aus‐ drücklich ablehnt. (https: / / www.afd.de/ wp-content/ uploads/ 2023/ 05/ Programm_AfD_ Wie in der Diskussion anderer gesellschaftlich und politisch relevanter Themen (Klimawandel, Zuwanderung, Impfpflicht, Krieg in der Ukraine …) ist in den letzten Jahren auch in der Genderdebatte der Ton deutlich rauer geworden. Die Argumentation von Gegnern und Befürwortern ist vielfach ideologisch überfrachtet, und es mangelt auf beiden Seiten an Bereitschaft, der Gegenseite erst einmal zuzuhören und sich ernsthaft mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Manche Vertreter einer gendergerechten Sprache werfen ihren Kontrahenten Unwissen, mangelnde Empathie und eine insgesamt ‚rück‐ ständige‘ Haltung vor, die u. a. darauf zurückzuführen sei, dass die „alten weißen Männer“ „auf dem Sockel [ihr]er Privilegien hocken und niemandem wirklich zuhören, außer anderen alten weißen Männern“ (Park 2017). Gegner des Genderns sprechen von „Sprach- und Kulturverfall“ und warnen vor dem „Gender-Wahn“ 6 und einer „Sprachpolizei“, die keine Mittel scheue, ihren eigenen Sprachgebrauch der gesamten Sprachgemeinschaft von „oben“ aufzu‐ drängen. Auffallend ist der häufige Rekurs auf die Kriegsmetaphorik auf beiden Seiten: In diesem „Kulturkampf um die deutsche Sprache“ (Bohr et al. 2021), 7 scherzhaft auch „Star Wars“ (Ritter 2023) oder „Krieg der Stern*innen“ (Bender/ Eppels‐ heim 2021) genannt, stehen eine „Gender-Front“ und eine „Anti-Gender-Front“ einander gegenüber und werfen sich gegenseitig ideologische Verblendung vor. Über Anti-Gender-Bürgerinitiativen wird in den Medien derzeit öfter berichtet, so über die Hamburger Volksinitiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ (2023), auf die Genderbefürworter übrigens mit der Initiative „Die Mitgemeinten“ reagiert haben (Pommerenke/ Scheper 2023; Fromm 2023). Diese Spaltung ist auch in der politischen Debatte greifbar. Während die Grünen, die Linke und, etwas zurückhaltender, auch die SPD dem Gendern grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen, setzen sich AfD, 8 CDU/ CSU und 8 Vorwort der Herausgeber <?page no="9"?> Online_.pdf, S. 55; zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Zum politischen Nutzen der Genderdebatte für die AfD siehe Maxwill/ Mingels (2024). 9 Ausführlicher zur Lage in Sachsen-Anhalt siehe Nejezchleba (2023). Die Literatur‐ wissenschaftlerin Tina Hartmann hat auf das Verbot mit einem Aufruf zu einem „gendergerechten Widerstand“ reagiert (Hartmann 2023). 10 In Bayern gilt dieses Verbot auch für offizielle Texte in den Behörden und Hoch‐ schulen; https: / / www.bayern.de/ herrmann-bayern-beschliesst-verbot-der-genderspra che/ (19.03.2024; zuletzt abgerufen am 22.08.2024). 11 https: / / www.rechtschreibrat.com/ geschlechtergerechte-schreibung-erlaeuterungen-b egruendung-und-kriterien-vom-15-12-2023/ ; ausführlicher hierzu siehe Lobin (2023). - Bei der Sitzung im Mai 2024 wurden einige jüngere Mitglieder in den Rechtschreibrat berufen, die dem Gendern aufgeschlossen gegenüberstehen; dies könnte zur Folge haben, dass die Stellungnahmen des Rats in Zukunft stärker in Richtung pro-Gendern tendieren (siehe Steinke 2024). 12 So auch der Rat für deutsche Rechtschreibung in der erwähnten Pressemitteilung: „Inwieweit den Hochschulen das Recht zusteht, von der amtlichen deutschen Recht‐ schreibung abzuweichen, ist strittig.“ FDP vor allem für das Verbot von Genderzeichen in Verwaltung und Bildung ein. In mehreren Bundesländern (Sachsen, Sachsen-Anhalt, 9 Schleswig-Holstein und Bayern; vgl. Maxwill/ Mingels 2024: 35) ist deren Gebrauch an Schulen in‐ zwischen untersagt. 10 Zur Begründung dieser Verbote wird von Politikern gern auf die Stellungnahmen des (übernationalen) Rats für deutsche Rechtschreibung verwiesen. Tatsächlich äußert sich der Rechtschreibrat eher ausgewogen zum Gendern; so heißt es in der Stellungnahme im Anschluss an die Sitzung vom 15.12.2023, dass „allen Menschen mit geschlechtergerechter Sprache begegnet werden soll“ und dass diese „gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Auf‐ gabe […] nicht mit orthografischen Regeln und Änderungen der Rechtschrei‐ bung gelöst werden kann“. 11 An den Schulen wird allmählich deutlich, dass das Genderverbot in der Praxis nur schwer durchzusetzen ist; die Lage in den Hochschulen, an denen Persönlichkeitsrechte und Wissenschaftsfreiheit zentrale Werte sind (vgl. Breyton 2023), ist durch eine „allgemeine Rechtsunsi‐ cherheit“ gekennzeichnet (Thiel 2023). 12 Wie die Journalistin Lara Ritter zutreffend bemerkt, ist die Polarisierung der Debatte auf verschiedene Auffassungen von Sprache zurückzuführen: Dass es bei diesem Hin und Her blieb, lag daran, dass beide Seiten zwar von derselben Sache sprachen (der Sprache! ), aber etwas anderes meinten: Die eine Seite ein Machtinstrument, die andere Seite ein nützliches Alltagswerkzeug. Dementsprechend befand erstere Seite das Schulterzucken letzterer für maximal ignorant, letztere die Forderungen ersterer für maximal nervig. Und weil beide davon ausgingen, dass beide dasselbe meinten, gab es noch weniger Verständnis für die jeweils andere Seite. Vorwort der Herausgeber 9 <?page no="10"?> 13 Zur Thematik des Genderns in mehreren Sprachen vgl. weiter den Sammelband Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven (Becker et al. 2022), die Themenhefte Sprache und Geschlecht (Ewels/ Plewnia 2020) und Geschlechtergerechte Sprache (Ewels 2020) sowie das von der Bundeszentrale für politische Bildung heraus‐ gegebene Sonderheft Geschlechtergerechte Sprache (2022). Vorwürfe der „Gewaltausübung“ und „Diskriminierung“ wurden gegen Vorwürfe des „Zwangs“ in Stellung gebracht. (Ritter 2023) Angesichts dieser verfahrenen Situation ist es an der Zeit, sich ernsthaft um einen Dialog zu bemühen, in dem auch altbekannte Argumente - einschließlich der eigenen - hinterfragt werden müssen. Unser Sammelband soll einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass das komplexe Verhältnis von Genus und Geschlecht in der Sprache endlich mit mehr Distanz und weniger Voreingenommenheit in den Blick genommen wird. In den neunzehn Beiträgen in- und ausländischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden der gegenwärtige Umgang mit dem geschlechtergerechten Sprachgebrauch und die sprach- und kulturge‐ schichtliche Entwicklung des Phänomens in elf ausgewählten Sprachen Europas untersucht. Die germanischen Sprachen sind mit dem Deutschen (in Deutsch‐ land, Österreich und der Schweiz), Englischen, Niederländischen, Norwegischen und Schwedischen vertreten, die romanischen mit Französisch, Italienisch und Spanisch, die slawischen mit Russisch und Tschechisch, und mit dem Finnischen ist auch eine nicht-indoeuropäische Sprache berücksichtigt. Dieser sprachübergreifende Ansatz ist im Übrigen nicht neu; bereits vor vierzig Jahren erschien der Sammelband Sprachwandel und feministische Sprachpolitik: Interna‐ tionale Perspektiven (Hellinger 1985), in dem „unter feministisch-linguistischer Perspektive“ (1985: 3) sieben europäische Sprachen (Deutsch, Niederländisch, Dänisch, Norwegisch, Spanisch, Italienisch und Griechisch) beleuchtet werden. Weiter verfolgt wurde dieser Ansatz in dem vierbändigen Werk Gender Across Languages: The Linguistic Representation of Women and Men (Hellinger/ Buß‐ mann 2001-2015); in den - sämtlich englischsprachigen - Beiträgen werden sprachsystematische Aspekte und soziokulturelle Faktoren für nicht weniger als 42 Sprachen behandelt. Der Schwerpunkt beider Publikationen liegt auf der Beschreibung der damaligen Sprach(gebrauchs)zustände. 13 Wir haben alle Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bands darum gebeten, die Thematik so wertfrei und unvoreingenommen wie möglich zu behandeln und von polemischen Aussagen und persönlichen Stellungnahmen abzusehen; ob und ggf. in welcher Form sie in ihren Beiträgen ‚gendern‘ wollten, blieb ihnen überlassen. Neben international auf dem Gebiet der Genderlinguistik ausgewiesenen Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sind auch 10 Vorwort der Herausgeber <?page no="11"?> 14 Vgl. etwa den in der russischen Sprachwissenschaft etablierten Terminus „Feminitiv“ für weibliche, meist suffigierte Frauenbezeichnungen. 15 Ausführliche Erläuterungen zu diesen Termini in Hellinger/ Bußmann (2001: 6-11) und den einzelnen Beiträgen in diesem Band. Nachwuchswissenschaftler vertreten; ihre Mitwirkung war uns angesichts der gerade für die jüngeren Generationen großen Bedeutung des Themas ein besonderes Anliegen. Einen lehrreichen Einstieg in die Thematik des Sammelbands bietet der Beitrag „Vor 2500 Jahren: Gendern, das ‚generische Maskulinum‘ und die Ent‐ deckung des grammatischen Geschlechts“, der den Lesern und Leserinnen vor Augen führt, dass diese Fragen mitnichten so „neu“ sind, wie viele meinen. Es folgen Beiträge zur sprachgeschichtlichen Dimension und zum gegenwärtigen Umgang mit dem Gendern in den ausgewählten europäischen Sprachen; im Fall des Deutschen, Französischen, Englischen und Spanischen sind diese Aspekte in separaten Beiträgen dargestellt; für die anderen Sprachen ist die Gewichtung der beiden Dimensionen unterschiedlich ausgefallen. Um die Behandlung des Themas durch unsere Beiträgerinnen und Beiträger nicht über Gebühr einzu‐ schränken und unterschiedliche Forschungstraditionen 14 nicht von vornherein auszuschließen, wurde bewusst kein theoretischer Rahmen vorgegeben. Bei der redaktionellen Bearbeitung der einzelnen Artikel wurde jedoch auf eine gewisse konzeptuelle Vereinheitlichung geachtet, speziell im Hinblick auf die grundle‐ gende Unterscheidung von biologischem (Sexus), grammatischem (Genus) und sozialem Geschlecht (Gender). 15 Wir haben uns dafür entschieden, sämtliche Aufsätze (mit Ausnahme derje‐ nigen zum Englischen und Norwegischen) in deutscher Sprache zu veröffentli‐ chen; damit soll auch ein (bescheidener) Beitrag zum Erhalt des Deutschen als Wissenschaftssprache geleistet werden. Alle in anderen Sprachen verfassten Aufsätze wurden ins Deutsche übersetzt: Die Übersetzung des sprachgeschicht‐ lichen Beitrags zum Französischen, der beiden Aufsätze zum Spanischen und des Beitrags zum Italienischen hat Barbara Kaltz übernommen, und Roland Duhamel hat den Beitrag zum Niederländischen ins Deutsche übertragen. Der Rückblick auf die Sprachgeschichte der hier behandelten Sprachen führt uns besonders deutlich vor Augen, dass Überlegungen zum komplexen Ver‐ hältnis von Sexus und Genus und zur generischen Funktion des Maskulinums schon seit der Antike angestellt werden und auf welche Weise die sprachnor‐ mierenden Werke der Grammatiker und Lexikografen der Frühen Neuzeit zu einer asymmetrischen Darstellung der Geschlechter zuungunsten der Frau beigetragen haben. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass alle hier untersuchten Sprachen Möglichkeiten zur Verfügung stellen, um explizit auf Vorwort der Herausgeber 11 <?page no="12"?> 16 So an der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg; siehe Amtliches Verzeichniss des Personals und der Studirenden der Universität Strassburg (https: / / gallica.bnf.fr/ ). Die Form Studirende wurde 1875 zwar im Titel durch Studenten ersetzt, doch begegnet der Ausdruck in sämtlichen Ausgaben bis 1915 (ab 1903 in der Schreibung Studierende). --Vgl. hierzu auch ironisch Maxwill/ Mingels (2024: 37: „Kein gutes Beispiel“). Frauen zu referieren. So zeichnen sich das Französische und Russische durch zahlreiche Movierungssuffixe aus (fr. -e, -euse, -esse, -ière, -trice usw.; russ. -к(а), -иц(а), -ниц(а), -их(а) usw.), im Englischen gibt es neben wenigen Suffixen (-ette, -ess) auch feminisierte Komposita (woman golfer), und selbst das genuslose Finnisch hat einige (wenn auch selten verwendete) Movierungssuffixe (-tar, -tär). Weiter zeigt sich, dass Mittel zur Geschlechtsneutralisierung (Abstrakta, substantivierte Partizipien, Reformulierungen und/ oder neuartige Endungen und Pronomina) in allen hier vertretenen Sprachen vorhanden sind und Femi‐ nisierungsbzw. Neutralisierungsstrategien schon seit Langem von anderen Sprachen übernommen werden. So hat das Russische im 18. Jh. das niederdeut‐ sche Suffix -sche (-ш(а)) übernommen und im 19. Jh. einige Feminina aus dem Französischen, Deutschen und Italienischen entlehnt. Sprachkontakte spielen nach wie vor eine wichtige Rolle, etwa bei der Übernahme von Frauenbezeich‐ nungen aus dem Englischen (dt. Model, russ. блогерка ‚Bloggerin‘) oder der Suche nach geschlechtsneutralen Pronomina (Einfluss von finn. hän auf schwed. hen bzw. von engl. they auf derartige Pronomina im Niederländischen und Norwegischen). Schließlich muss aus sprachgeschichtlicher Sicht doch nachdenklich stimmen, dass Formen wie das Partizip I Studierende, die an deutschen Hoch‐ schulen neben Studenten im 19. Jh. durchaus gebräuchlich waren, auch von manchen Wissenschaftlern als nicht ‚systemgerecht‘ und ‚unschön‘ abgelehnt werden. 16 Ähnlich sind zahlreiche suffigierte feminine Berufsbezeichnungen im gegenwärtigen Französisch abwertend konnotiert, nachdem die Grammatiker und Lexikografen des 17. und 18. Jh. deren - bis dato völlig wertneutralen - Gebrauch verworfen hatten. Dass solche Entwicklungen umkehrbar sind, zeigt die gegenwärtige Akzeptanz feminisierter Amtsbzw. Berufsbezeichnungen wie première ministre und maîtresse de conférences. Auch im Russischen, wo zahl‐ reiche Feminitive infolge ihrer Verdrängung durch den generischen Gebrauch des Maskulinums seit den 1930er Jahren abwertend konnotiert sind (агентка ‚Agentin‘, секретарша ‚Sekretärin‘), entstehen heute wertneutrale Bildungen zur Bezeichnung neuer Phänomene (лайфхакерша ‚Lifehackerin‘), namentlich im Sprachgebrauch der jungen Generation. 12 Vorwort der Herausgeber <?page no="13"?> Die Genderfrage gibt gegenwärtig in all diesen Sprachen Anlass zu Dis‐ kussionen und Kontroversen, die andernorts in der Regel jedoch gelassener verlaufen als in Deutschland. So zeigen die Beiträge zum Englischen, Norwegi‐ schen, Schwedischen und Niederländischen, dass der Umgang mit dem Gendern in den jeweiligen Ländern wenig problematisch ist. Dies gilt auch für die offiziellen Landessprachen in der Schweiz, wo pragmatische, anwendungsprak‐ tische Aspekte im Vordergrund stehen. Die Romania bietet ein heterogenes Bild: Während die Académie française und die Real Academia Española sich entschieden für den Gebrauch des Maskulinums als eines geeigneten Mittels sprachlicher Inklusion und ebenso deutlich gegen nichtbinäre Schreibungen und Pronomina aussprechen, zeigen die Accademia della Crusca und die politi‐ schen Institutionen in Italien sich grundsätzlich offen gegenüber Bestrebungen für eine gendergerechte Sprache. Den Einfluss von Sprachpolitik und Ideologie auf den Umgang mit dem Gendern illustrieren besonders eindringlich die Beiträge zum Tschechischen und Russischen: In Tschechien wurden Fragestel‐ lungen der feministischen Linguistik bis 1989 völlig ignoriert, und im heutigen Russland, wo das Gendern unlängst in Zusammenhang mit der kriminalisierten LGBTQ-Bewegung gebracht wurde (vgl. Chevtaeva 2024; Vitkine 2024), gibt es von sprachwissenschaftlicher Seite kaum Überlegungen zu einem nichtbinären Sprachgebrauch. Unser Dank gilt zunächst Prof. Dr. em. Hans-Joachim Solms (Halle) für die Anregung, einen Sammelband zur Genderthematik in europäischen Sprachen zu konzipieren, in dem der sprachvergleichende Ansatz mit einer sprachge‐ schichtlichen Perspektive verbunden wird; seine Überzeugung, der Blick in die Sprachgeschichte könne zu einer Versachlichung der Debatte beitragen, teilen wir. Weiter danken wir allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung an diesem Band und den durchgängig kollegialen Austausch im Zusammenhang mit der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge. Ein ganz besonderer Dank geht an Florian Gieseler (Halle), der sich professionell, sehr engagiert und geduldig um die Formatierung des gesamten Manuskripts gekümmert und uns des Öfteren auf redaktionelle Ungereimtheiten aufmerksam gemacht hat. Und nicht zuletzt danken wir Tillmann Bub vom Narr Francke Attempto Verlag für die effiziente Betreuung bei der Endredaktion und dem Vorstand der Stiftung deutsche Sprache (Berlin) für die Förderung unseres Vorhabens mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss. Vincent Balnat und Barbara Kaltz Vorwort der Herausgeber 13 <?page no="14"?> Bibliographie Becker, Lidia/ Kuhn, Julia/ Ossenkop, Christina/ Polzin-Haumann, Claudia/ Prifti, Elton (Hrsg.) (2022): Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven. Tübingen: Narr Francke Attempto (=-Romanistisches Kolloquium 35). Bender, Justus/ Eppelsheim, Philip (2021): Krieg der Stern*innen: Müssen wir bald alle gendern? 08.02.2021. https: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ inland/ gendern-geschlechte rgerechte-sprache-kommt-in-mode-17183146.html (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Bohr, Felix/ Duhm, Lisa/ Fokken, Silke/ Pieper, Dietmar (2021): DUD*IN. Ist das * jetzt Deutsch? Der Spiegel 10/ 2021. 05.03.2021. https: / / www.spiegel.de/ panorama/ gesellsc haft/ gendergerechte-sprache-der-kulturkampf-um-die-deutsche-sprache-a-ad32de9a -0002-0001-0000-000176138596 (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Breyton, Ricarda (2023): Wer die Sprache regelt, greift auch in das Denken ein. 14.12.2023. https: / / www.welt.de/ politik/ deutschland/ plus249012124/ Gendern-Wer-die-Spracheregelt-greift-auch-in-das-Denken-ein.html (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2022): Geschlechtergerechte Sprache. Themenheft der Zeitschrift Aus Politik und Zeitschrift (APuZ) 72/ 5-7. Chevtaeva, Irina (2024): „Putins Feldzug gegen das Gendern und LGBTQ“. 30.01.2024. https: / / www.spiegel.de/ ausland/ russland-wladimir-putin-kaempft-gegen-die-lgbtqgemeinschaft-und-feminismus-a-33e6f016-6b77-467d-bd94-c9f353a54eeb (zuletzt ab‐ gerufen am 22.08.2024). DWDS = Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. https: / / www.dwds.de/ (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Ewels, Andrea-Eva (Hrsg.) (2020): Geschlechtergerechte Sprache. Themenheft der Zeit‐ schrift Der Sprachdienst 64 (1-2). Ewels, Andrea-Eva/ Plewnia, Albrecht (Hrsg.) (2020): Sprache und Geschlecht. Beiträge zur Gender-Debatte. Themenheft der Zeitschrift Muttersprache 130. Fromm, Neele (2023): Mitgründerin über Pro-Gendern-Ini: ‚Wir sind gegen Sprachver‐ bote‘. 05.12.2023. https: / / taz.de/ Mitgruenderin-ueber-Pro-Gendern-Ini/ ! 5977263/ (zu‐ letzt abgerufen am 22.08.2024). Glück, Helmut (2020): Das Partizip I im Deutschen und seine Karriere als Sexusmaker? Paderborn: IFB Verlag (=-Schriften der Stiftung Deutsche Sprache 4). https: / / www.sti ftung-deutsche-sprache.de/ partizip_I_v4.pdf (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Günthner, Susanne (2022): „Personenbezeichnungen im Deutschen. Aspekte der aktu‐ ellen Debatte um eine gendergerechte Sprache“. In: Becker et al. (Hrsg.),-17-38. Hartmann, Tina (2023): Ohne Punkt, Komma und Stern: Eine Handreichung für gender‐ gerechten Widerstand. In: wochentaz 9.-15.09.2023, S.-23. Hellinger, Marlis (Hrsg.) (1985): Sprachwandel und feministische Sprachpolitik: Interna‐ tionale Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag. 14 Vorwort der Herausgeber <?page no="15"?> Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (Hrsg.) (2001-2015): Gender Across Languages: The Linguistic Representation of Women and Men. 4 Bde [I: 2001, II: 2002, III: 2003, IV: 2015]. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins (=-Impact: Studies in Language and Society 9, 10, 11, 36). —-(2001): „Gender across languages: the linguistic representation of women and men“. In: Dies. (Hrsg.), 1-25. Kotthoff, Helga/ Nübling, Damaris (2018/ 2 2024): Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr Francke Attempto. Lobin, Henning (2023): Was der Rechtschreibrat beschlossen hat. 30.07.2023. https: / / scil ogs.spektrum.de/ engelbart-galaxis/ was-der-rechtschreibrat-beschlossen-hat/ (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Maxwill, Peter/ Mingels, Guido (2024): Hat es sich bald ausgegendert? In: Der Spiegel 31/ 2024, 34-38. Nejezchleba, Martin (2023): ✻ = Fehler. Warum an Sachsen-Anhalts Schulen nicht mehr gegendert werden darf. 24.08.2023. https: / / www.zeit.de/ 2023/ 36/ gender-verbot-sachs en-anhalt-schulen (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Park, Enno (2017): Die Welt aus alter weißer Männersicht. 28.11.2017. https: / / www.deuts chlandfunkkultur.de/ gender-debatte-die-welt-aus-alter-weisser-maennersicht-100.ht ml (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Pommerenke, Anina/ Scheper, Benedikt (2023): Hamburger Autorin startet Volksinitia‐ tive gegen das Gendern. 19.01.2023. https: / / www.ndr.de/ kultur/ kulturdebatte/ Ha mburg-Volksinitiative-gegen-das-Gendern,gendern124.html (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Ritter, Lara (2023): Der Gender-Gaga-Gigi-Gugu-Kampf. Star Wars - Next Level. 01.12.2023. https: / / taz.de/ Der-Gender-Gaga-Gigi-Gugu-Kampf/ ! 5973767/ (zuletzt ab‐ gerufen am 22.08.2024). Simon, Horst J. (2022): „Sprache Macht Emotionen. Geschlechtergerechtigkeit und Sprachwandel aus Sicht der Historischen Soziolinguistik“. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), 16-22. Steinke, Ronen (2024): Rat für deutsche Rechtschreibung. Krieg der Sterne. 15.05.2024. https: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ rat-fuer-deutsche-rechtschreibung-genderster nchen-gendern-1.7251329? reduced=true (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Thiel, Thomas (2023): Hochschulen - Wie weit darf Hessens Regierung mit dem Genderverbot gehen? 20.12.2023. https: / / www.faz.net/ aktuell/ karriere-hochschule/ hoersaal/ genderverbot-an-unis-wie-weit-darf-hessens-regierung-gehen-19394148.ht ml (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). Vitkine, Benoît (2024): En Russie, féminiser les noms, premier pas vers ‚l’extrémisme LGBT‘ pour la Cour suprême. 29.01.2024. https: / / www.lemonde.fr/ international/ arti Vorwort der Herausgeber 15 <?page no="16"?> cle/ 2024/ 01/ 29/ en-russie-feminiser-les-noms-premier-pas-vers-l-extremisme-lgbt-po ur-la-cour-supreme_6213571_3210.html (zuletzt abgerufen am 22.08.2024). 16 Vorwort der Herausgeber <?page no="17"?> 1 Unter „Gendern“ wird hier die explizite Nennung beider Geschlechter, i. A. durch ihre Beidnennung, verstanden; der moderne Begriff wird im weiteren bei der Bespre‐ chung der antiken Texte beibehalten. Reflexionen über Existenzweisen „zwischen den Geschlechtern“ sind zwar in manchen der im Folgenden behandelten Kulturen und Zeiträume nicht unbekannt, wie etwa der griechische Mythos vom Hermaphroditos zeigt - einem Wesen, das die äußeren Merkmale beider Geschlechter aufweist. Aus‐ führlich berichtet über diesen Mythos der römische Dichter Ovid (43 v.-17 n. Chr.) in seinen Metamorphosen, Buch IV, V. 274-388. In grammatikalischer Hinsicht und in den hier behandelten Texten spielen solche Vorstellungen jedoch keine Rolle. Zum Mythos vom Hermaphroditos vgl. Delcourt (1958). Vor 2500 Jahren: Gendern, das „generische Maskulinum“ und die Entdeckung des grammatischen Geschlechts Gerhard Meiser Zusammenfassung: Gendern, generisches Maskulinum und unsere Ter‐ minologie für die Bezeichnung des grammatischen Geschlechts berühren sämtlich das Verhältnis von „natürlichem“ und „grammatischem“ Ge‐ schlecht. Die nachstehenden Ausführungen zeigen anhand von drei Texten bzw. Textgruppen - den heiligen Schriften der Zarathustrier, einem altin‐ dischen Kommentar zum Rigveda und einer altgriechischen Komödie des Dichters Aristophanes - auf, wie solche Fragen bereits vor mehr als 2000 Jahren theoretisch diskutiert oder praktisch bearbeitet wurden. Schlüsselbegriffe: Genus und Sexus, grammatikalische Terminologie, Avesta, Rigveda, altgriechische Komödie, Sophistik, Aristophanes, Aristo‐ teles, Varro, Zarathustra 1 Einleitung In der heftigen Diskussion, die heute um das „Gendern“ 1 geführt wird, bleibt häufig außer Acht, dass es sich dabei keineswegs um ein ausschließlich mo‐ <?page no="18"?> 2 Ein früher Beleg für die Beidnennung findet sich in Hans Rosenplüts (1400-1460) Fastnachtsspiel: „Des Künigs von Engellant Hochzeit“ (Keller 1853: 761, Z. 5-8): „Es hat der künig auß engellant/ sein erwerge potschaft außgesant/ und leßet allermenniglich bedeuten/ burgern und purgerinn und edelleuten …“. Einen knappen Überblick über die Entwicklung im deutschen Sprachraum gibt Braun (2021); vgl. auch Stevanović im vorliegenden Band (Anm. d. Hrsg.). dernes Phänomen handelt. Einzelbelege reichen im Deutschen bis ins späte Mittelalter zurück. 2 Tatsächlich aber finden sich sehr viel frühere Zeugnisse: bereits in der Zeit vor (wenigstens) etwa zweieinhalbtausend Jahren. Und die Texte, in denen die Beispiele auftreten, sind in dieser Hinsicht wesentlich konsistenter als die isolierten Beispiele aus der deutschen Sprachgeschichte. Diesen Texten ist der erste Teil des nachstehenden Artikels gewidmet. Eng verknüpft mit dem Thema „Gendern“ ist die Diskussion um das „gene‐ rische Maskulinum“. Es geht dabei, kurz gesagt, um die Frage, ob Frauen sich mitgemeint fühlen können, wenn ausschließlich die grammatikalische Form des Maskulinums gebraucht wird. Auch diese Frage ist bereits vor mehr als 2000 Jahren, und zwar in Indien, erörtert worden; hierum geht es im zweiten Abschnitt. Wann und wie aber ist nun die grammatische Kategorie „Genus“ in unsere abendländische Grammatiktradition gekommen? Dies wird im dritten Teil der folgenden Ausführungen behandelt. 2 Gendern auf Avestisch Die frühesten Zeugnisse in einer indoeuropäischen Sprache (und vielleicht weltweit) für das Gendern kommen aus einer Region, in der man sie aus heutiger Perspektive wohl am allerwenigsten erwarten würde: aus Afghanistan und den nördlich angrenzenden Gebieten. Dort wurden und werden seit jeher iranische, also indoeuropäische Sprachen wie etwa Paschtu gesprochen. In einer altiranischen Sprache, deren lebendiger Gebrauch vor mindestens 2000 Jahren ausgestorben sein dürfte, ist das „Avesta“, das Corpus der heiligen Schriften der Zarathustrier, verfasst. In Ermangelung irgendeiner anderen schlüssigen Be‐ zeichnungsweise wird diese Sprache heute allgemein als „Avestisch“ bezeichnet. Da mit dem Avestischen und seiner Literatur nur wenige Fachleute befasst sind, mögen hier zum besseren Verständnis einige Vorbemerkungen folgen, die eine erste Einbettung der nachstehend zitierten, uns doch zunächst recht fremdartig erscheinenden Textzeilen erlauben. 18 Gerhard Meiser <?page no="19"?> 3 Zu den widersprüchlichen antiken Nachrichten über die Lebenszeit Zarathustras vgl. Humbach (1991: I, 24-30 und 48 f.). 4 Das Wort entspricht etymologisch dt. Trug. 5 Vīdēvdāt (= Vd) 19,31; vgl. Narten (1986: 2, Anm. 4). 6 Wo nicht anders vermerkt, ist die Übersetzung der Gāthā- und Yasna-Haptaŋhāiti-Stellen aus Narten (1985) und (1986) übernommen, die der Stellen aus den übrigen Teilen des Avesta aus Wolff (1910) - mit gelegentlichen Modifizie‐ 2.1 Zarathustra als Religionsstifter Wann Zarathustra gelebt und gewirkt hat, ist durchaus unklar. Die Spannweite der Schätzungen reicht vom ausgehenden zweiten vorchristlichen Jahrtausend (etwa ab 1100 v. Chr.) bis in die erste Hälfte des ersten Jahrtausends (558 v. Chr.). 3 In jedem Falle aber ist ihm die Stiftung einer neuen Religion zuzurechnen, die weitgehend (Zarathustras Intention wäre wohl gewesen: vollständig) mit den überkommenen Glaubensvorstellungen bricht: Die alten Daevas - Götter - werden nunmehr zu einer Klasse von teuflischen Dämonen, deren schlimmster die Drug  4 ‚Lüge‘ ist. Der alleinige Gott ist nunmehr Ahura Mazdā [‚HERR Weisheit‘], dem in der Hierarchie religiöser Verehrung eine Reihe weiterer höherer Wesen unterstellt sind. Jedoch verraten schon ihre Namen, dass ihnen jede vermenschlichende Dimension fehlt, wie wir sie etwa bei den lebensprallen griechischen Gottheiten vom Schlage eines Zeus oder einer Aphrodite finden. Zu diesen Aməṣ̌a Spəṇtas (‚Heilvollen Unsterblichen‘; Narten 1986: 70) gehören außer Ahura Mazdā selbst etwa Vohu Manah ‚Gutes Denken‘, Aša Vahišta ‚Bestes Recht‘, Xšaθra Vairiia ‚Wünschenswerte Herrschaft‘, Spəṇta Ārmaiti ‚Heilvolle Rechtgesinntheit‘, Hauruuatāt ‚Unversehrtheit‘ und Amərətāt ‚Un‐ sterblichkeit‘. Im Laufe der Zeit werden diese Wesen personifiziert. So heißt es im Vīdēvdāt (s. u.): Nach dem Tode bei der Ankunft der Seele im Himmel „erhebt sich das Gute Denken von seinem aus Gold gefertigten Thron, es verkündet das Gute Denken …“. 5 Dieser Vorgang bleibt übrigens nicht ohne Folgen für die Grammatik: ārmaiti- ‚Rechtgesinntheit‘, hauruuatāt ‚Unversehrtheit‘ und amərətāt ‚Unsterblichkeit‘ sind als Appellativa Feminina und werden in der Personifikation demgemäß zu Göttinnen. Hingegen sind die übrigen - manah- ‚Denken‘, aṣ̌a- ‚Recht‘, xšaθra- ‚Herrschaft‘ - als Appellativa Neutra. Durch die Personifikation werden sie jedoch als Götter, als männliche Wesen mithin konzipiert, da nun einmal Personen, seien sie menschlicher oder göttlicher Natur, in der Auffassung des Avesta nur als Frauen oder Männer denkbar sind. Und so heißt es denn in dem „yeŋ̇hē-hātąm-Gebet“, das sowohl in der Liturgie des Yasna wie auch innerhalb der Hymnen (Yašts) am Ende der einzelnen Abschnitte weit über hundert Male gesprochen wird, in Bezug auf die Aməša Spəṇtas: 6 Vor 2500 Jahren 19 <?page no="20"?> rungen durch den Autor (Ersatz von ‚Weib‘ durch ‚Frau‘, Anpassung an die neueren Übersetzungen von Narten (1985) und (1986), z.-B. ‚ašagläubig‘ durch ‚aṣ̌ahaft‘). 7 Wo im Folgenden „(männlich)“ bzw. „(weiblich)“ o. ä. in der Übersetzung hinzugefügt wurde, ist im Avesta-Text das Genus eindeutig erkennbar. In der Morphologie des Deutschen fehlen hier dann die entsprechenden Differenzierungsmöglichkeiten. 8 yeŋ̇hē hātąm āat̰ yesnē paitī/ vaŋ̇hō mazdǡ ahurō vaēθā/ aṣ̌at̰ hacā yǡŋhąmcā/ tąscā tǡscā yazamaidē. Vgl. Narten (1986: 80). 9 Dem Wortsinn nach bezeichnet fra-vaṣ̌iaus uriran. *pra-var-tidie ‚Vor(zugs)-Wahl‘. 10 tə̄m aṣ̌aūnąm fravaṣ̌īš narąmcā nąirinąmcā yazamaidē. 11 Narten (1985: 45). In der modernen Zoroastrismus-basierten Esoterik gelten die Fravar‐ dins (zur Namensform s. die folgende Anm.) als „Engel“, vgl. https: / / wiki.yoga-vidya.d e/ Farvardin (Farvardin ist die neupersische Namensform). 12 Die einzelnen Teile des Avesta - Hymnen, Gebete usw. - werden in mittelpersischer Sprache bezeichnet, so auch hier der Fravardī-n-Yašt für avest. fravaṣ̌i. 13 Dafür spricht, dass Darius I. (Regierungszeit 522-486 v. Chr.) in der großen Behistun-In‐ schrift, in der er seine Taten von 522/ 21 v. Chr. aufzählt, seine Erfolge dem Gott Ahura Mazdā zuschreibt. 14 Eine informative Zusammenstellung der einheimischen Quellen zum Schicksal des Avesta-Corpus findet sich bei Humbach (1991: I, 49-55), darunter etwa S. 52 zur Invasion Alexanders. 1. ‚In der Verehrung welches (männlichen Wesens) 7 von denen, die es gibt, Ahura Mazdā nun gemäß der Wahrheit das Bessere weiß, und (in der Verehrung) welcher (weiblichen) Wesen, diese (männlichen) und diese (weiblichen Wesen) verehren wir‘ 8 . Eine weitere Kategorie vergöttlichter Personifikationen stellen die Fravaṣ̌is dar. Ursprünglich bezeichnet das Wort die individuelle „Wahlentscheidung“ 9 der Anhängerin oder des Anhängers von Zarathustra für die zarathustrische Religion. Hierauf bezieht sich etwa Yasna Haptaŋhāiti (YH; s.-u.) 37,3: 2. ‚Ihn (Ahura Mazdā) verehren wir in den Wahlentscheidungen der Wahr‐ haften, der Männer und Frauen‘ 10 . Diese Wahlentscheidung - als solche verehrungswürdig - wandelt sich letztlich „zur Vorstellung von einem eigenen unsterblichen Wesen, das dem Gläubigen zugehört und ihm beisteht - Fravaṣ̌i als ‚Schutzgeist‘, eine der religiösen Grund‐ einstellung des Individuums entsprechende ‚Schutzmacht‘“. 11 Als „Schutzengel“ haben die Fravaṣ̌is weibliches Geschlecht, schützen aber natürlich auch Männer. Einer der großen Hymnen, der Fravardīn-Yasht 12 (Yt 13), ist ihnen gewidmet. In Bezug auf göttliche Wesen wird also im Avesta in aller Regel gegendert! Im Reich der persischen Großkönige hatte sich Zarathustras Religion wohl durchgesetzt. 13 In der auf die griechische Eroberung durch Alexander (seit 334 v. Chr.) folgenden „Dunkelzeit“ 14 geriet sie in Bedrängnis. Nach der Gründung 20 Gerhard Meiser <?page no="21"?> 15 Möglicherweise auch der Yasna Hapaŋhāiti, vgl. Narten (1986: 36 f.). 16 Eine Sonderstellung nehmen die Hymnen Yasna (Y) 29 - die sog. „Klage der Kuh“, für die Zarathustra nach Weisung Ahura Mazdās sorgen soll, um sie vor dem barbari‐ schen Brauch des Rinderopfers zu bewahren - sowie Y 53 ein, das Hochzeitslied für Zarathustras Tochter Pouručistā (oder in Erinnerung an ihre Hochzeit verfasst, da es sich [auch] an andere junge Frauen richtet, die vor der Hochzeit stehen). 17 Die Formel āaṯ mraoṯ … „Also sprach …“ ist im Avesta vielfach bezeugt, jedoch ist das Subjekt stets die Gottheit: „Also sprach Ahura Mazdā“ - es folgt immer die Antwort auf eine von Zarathustra gestellte Frage. des neuen persischen Reiches der sassanidischen Könige (224 n. Chr.) wurde sie zur Staatsreligion erhoben, es wurden die heiligen Schriften gesammelt und - unter Beibehaltung der ursprünglichen Sprachform - in die für uns heute greifbare Gestalt gebracht. Eine neuerliche Katastrophe für den Zoroastrismus stellte die Eroberung Persiens durch die Araber 642 n. Chr. und die Durchset‐ zung des Islams dar. Der Umfang des heutigen Avesta-Corpus beträgt gemäß einheimischer Überlieferung etwa ein Viertel dessen, was zur Sassanidenzeit vorhanden war. Heutzutage lebt Zarathustras Stiftung in der Religion der Parsen fort, deren eines Zentrum sich im südostiranischen Yazd, das andere im indischen Mumbay befindet. In neuerer Zeit findet der Zoroastrismus gerade bei jüngeren Iranern Interesse als ein eigenes kulturelles Erbe aus vorislamischer Zeit (vgl. Hermann 2019). 2.2 Die Texte des Avesta Das Avesta-Corpus setzt sich, abgesehen von einigen kleineren Texten wie etwa Gebeten zu alltäglichen Verrichtungen, aus drei großen Teil-Corpora zusammen. Der Yasna (Y) (avest. ‚Verehrung, Gebet, Gottesdienst‘) enthält den Text der Großen Liturgie. In dieses Ritual sind an zwei Stellen - getrennt durch den sog. Yasna Haptaŋhāiti („7-Kapitel-Yasna“, im weiteren YH = Y 35-41) - als Kernstücke die fünf sog. Gāthās (Hymnengruppen in strophischer Form) eingearbeitet (Y 28-34; Y 43-54,1). Sie enthalten ihrerseits insgesamt 17 verschiedene Hymnen, die (wie auch der YH) in einer höchst altertümlichen Sprachform verfasst und nach allgemeiner Auffassung von Zarathustra selbst gedichtet sind. 15 Weit davon entfernt, lehrhafte oder gar dogmatische Texte zu sein, dienen sie vielmehr der Verehrung und der Verkündung des Ruhmes und der Herrlichkeit Ahura Mazdās, 16 in ihrem Gehalt insoweit den biblischen Psalmen deutlich näher als dem bekannten Buch von Friedrich Nietzsche. 17 Das zweite Teil-Corpus machen 21 Yashts (Yt) aus, wiederum Hymnen wie etwa der schon erwähnte Fravardin-Yasht (Yt 13; s. Kap. 2.1), die an die einzelnen Tagesgottheiten des Monats gerichtet sind. Während eine Reihe von ihnen Vor 2500 Jahren 21 <?page no="22"?> womöglich - zur Komplettierung des Bestandes - zu einer Zeit verfasst wurde, als die Avesta-Sprache nicht mehr recht lebendig war, gibt es andere von untadeliger Sprachform, die inhaltlich weit in vorzarathustrische, gar bis in eine gemeinsame indo-iranische Zeit zurückreichen. So beschreibt etwa der Yasht an Mithra (Yt 10) die verschiedenen Inkarnationen, in denen der Gott den Menschen erschienen ist. Den dritten Teil des Avesta-Corpus bildet der Vīdēvdāt (Vd), das ‚Gegen-die-Daevas-gegebene‘ Gesetz, das vor allem religiöse Vorschriften, zumal solche zur Reinheit, aber auch Passagen über das Schicksal der Seele nach dem Tode (vgl. oben Kap. 2.1) oder über die Endzeit und den in ihr erscheinenden Erlöser enthält. 2.3 Zur Stellung der Frau im Avesta Bemerkenswert ist, welche Stellung der Frau im Avesta eingeräumt wird. Kuiper (1978: 35) führt hierzu aus: Since the new religion must, like the older one, primarily have been an affair of men, it is striking that Zarasthustra’s Urgemeinde seems from the beginning to have also been open to women. In Zarathustra’s Gathas, it is true, only once, amidst references to many men who supported the prophet, mention is made of women as supporters, Cf. 46.10: 3. yəֿ vā mōi nā gənā vā mazdā ahurā/ dāyāt̰ aŋhəֿuš yā tū vōistā vahištā „Who, indeed, be it man or woman, O wise Lord, may give (? ) me those things which Thou knowest best“ (the stanza further only refers to these people in the masculine plural). In Y. 53, which cannot have been composed by Zarathustra, there are the well-known references to girls […] and the direct address in 6 iθā ī haiθyā narō aθā jə̄nayō „thus these things are true, O men, and also ye women“. Except in these places, however, women are as rule not specificially mentioned. Zarathustra refers to „the soul of the truthful man“ (45.7 aṣ̌aonō urvā, 49.10 urunascā aṣ̌āunąm, cf. Vend. [Vd] 19.30) and in the Later Avesta aṣ̌aonąm … fravaṣ̌ayō [„die Fravaṣ̌is der aṣ̌ahaften [Männer]“] is formulaic, e.g. in the Fravardīn Yasht. Curiously, both formulas occur in the Yasna Hapaŋhāiti [s. o., G.M.] in an extended form, with / narąm nāirinąmca/ [‚der Männer und der Frauen‘] added. See YH 39.2 (cf. Yt. 13.154) and 37.3. Only at the end of the Fravardīn Yasht (Yt. 13.143-145), after the list of pious women which is probably a later interpolation (Lommel 1927, 111), do we find the doubled formula narąm aṣ̌aonąm fravaṣ̌ayō … nāirinąm aṣ̌aoninąm fravaṣ̌ayō [‚die Fravashis der aṣ̌ahaften Männer … die Fravashis der aṣ̌ahaften Frauen‘]. Later additions are no doubt Y. 13.149, Y. 1.16 aṣ̌aoninąmca (cf. Y. 27.2) [„und der aṣ̌ahaften (Frauen)“] and Y. 1.6 γənąnąmca (in 22 Gerhard Meiser <?page no="23"?> 18 Unter den zahlreichen schwer übersetzbaren Termini des Avesta ist Aṣ̌a sicherlich der zentrale. Etymologisch ‚Recht, Wahrheit‘ bedeutend, lässt der Begriff sich oft als „reli‐ giöses Konzept des Zarathustrismus, Inhalt der Religion“, geradezu als „Glaubensinhalt“ übersetzen, wobei ihm durchaus auch eine praktische Komponente innewohnt („das rechte Handeln“). Dementsprechend lässt sich dann ‚aṣ̌ahaft‘ - auch als ‚wahrhaft‘ übersetzt - in etwa als ‚gläubig, fromm‘ verstehen. Den absoluten Gegensatz zu Aṣ̌a stellt Drug (etymologisch: ‚Trug‘, s. o. Kap. 2.1) dar - die ‚Drughaften‘ sind also die Gegner der zarathustrischen Gemeinde, die „Ungläubigen“. 19 aṣ̌āunąm āat̰ urunō yazamaidē, kudō.zātanąmcīt̰, narąmcā nąirinąmcā - „Die Seelen der Wahrhaften, wo immer sie geboren sein mögen, verehren wir nun, der Männer und Frauen“. 20 huxšaθrastū nə̄ nā vā nāirī vā xšaētā. 21 ā airiiə̄mā išiiō rafəδrāi jaṇtū/ nərəbiiascā nāiribiiascā zaraθuštrahē … aṣ̌āunąm fravaṣ̌inąm γənąnąmca [‚der aṣ̌ahaften Fravaṣ̌is und der Frauen‘]). The older formulas, however, must silently have presupposed the presence of women. 2.4 Weitere Erwähnungen von Frauen im Avesta Anders, als es das Zitat von Kuiper vermuten lassen könnte, werden Frauen im Avesta-Corpus wesentlich häufiger erwähnt. Zu der von ihm erwähnten Stelle YH 37,3 (s. o. Bsp. 2) über die „Wahlentscheidungen der Männer und Frauen“ schreibt Johanna Narten (1986: 181): Auch hier ist, wie für den YH charakteristisch, von Männern und Frauen die Rede: das geistige Selbst der aṣ̌ahaften 18 Menschen beider Geschlechter empfängt Verehrung (37,3; 39,2 19 ), so wie eingangs (35,6 S. 116) die natürliche Erkenntnis des Guten und abschließend (41,2, S. 293) die Fähigkeit, ein guter Herrscher zu sein, sowohl dem Mann wie der Frau zugeschrieben wird. vgl. Y 41,2: 4. ‚Möchte ein Gutherrscher über uns herrschen, sei es Mann oder Frau‘. 20 Am Ende der Gāthās heißt es schließlich in Y 54,1: 5. ‚Her komme der kraftvolle Aryaman [Gottheit] zur Unterstützung zu den Männern und den Frauen des Zarathustra‘. 21 Erst recht werden außerhalb der Gāthās und des Yasna Haptaŋhāiti Frauen erwähnt, etwa Y 1,6: Vor 2500 Jahren 23 <?page no="24"?> 22 niuuaēδaiiemi haŋkāraiiemi aṣ̌āunąm frauuaṣ̌inąm γənąnąmca vīrō.vąϑβanąm. Die Wendung „die Fravaṣ̌is der Aṣ̌ahaften, … der Scharen von Heldensöhnen besitzenden Frauen“ findet sich, ggfs. leicht variiert, noch mehrfach, etwa Y 2,6; Y 4,11; Y 7,8; Y 17,5 - Y 3,8 („zu verehren hole ich her die Fravaṣ̌is der Aṣ̌ahaften und die Scharen von Heldensöhnen besitzenden Frauen“), ähnlich Y 5,3; Y 6,5 - Y 26,8; 59,27: „die Fravaṣ̌is der aṣ̌ahaften Männer verehren wir, die Fravaṣ̌is der aṣ̌ahaften Frauen verehren wir“ - Y 26,6f.: die Fravaṣ̌i der nächstverwandten aṣ̌ahaften (Männer) und der aṣ̌ahaften (Frauen) … aller verstorbenen Nächstverwandten … der aṣ̌ahaften Männer (und) der aṣ̌ahaften Frauen“ - Y 26,4: „Wir verehren nun die Lebenskraft und die Wesenheit und das Wahrnehmungsvermögen und die Seele und die Fravaṣ̌i der ersten Verkünder und der ersten Hörer der heiligen Lehren, aṣ̌ahafter (Männer) und aṣ̌ahafter (Frauen), die zugunsten des Aṣ̌a den Sieg davon getragen haben.“ 23 dahma bezeichnet das eingeweihte, d. h. in den religiösen Dingen kundige und dadurch vollwertige Mitglied der Gemeinde. 24 kuuacit̰ aŋ́hā̊ zəmō para.iristi dahma nāirike apərənāiiūke kainike vāstriiāuuarəzi upaṣ̌ aēti. 25 yō driγaošca drīuuiiā̊sca amauuat̰ nmānəm hąm.tāšti pasca hū frāṣ̌mō.dāitīm. 26 Ratu hier in der Bedeutung „(geistiger) Führer“. 27 vīspanąmca spəṇtahe mainiiə̄uš dāmanąm aṣ̌aonąm aṣ̌aoninąmca aṣ̌ahe raϑβąm. Vgl. noch Y 3,18; 4,21; 22,18. 6. ‚Ich widme es, ich vollziehe es [das Ritual, GM] für die Fravaṣ̌is der Ashahaften und für die Scharen von Heldensöhnen besitzenden Frauen…‘ 22 und in den weiteren in der obigen Anmerkung zusammengestellten formel‐ haften Wendungen. Weniger stereotyp ist Y 23,3 = Y 67,3: 7. ‚Wo immer ist sie [die Fravaṣ̌i] beim Sterben? - Bei dem dahma-mäßigen 23 (Manne), bei der Frau, dem Knaben und dem Mädchen (und) dem in der Landwirtschaft Tätigen hat sie den Wohnsitz.‘ 24 oder in der Anrufung an den Gott Sraoša (Y 57,10), 8. ‚der dem armen (Mann) und der armen (Frau) ein mächtiges Haus nach Sonnenuntergang zimmert‘ 25 wie auch, wenn von den „Ratus 26 des Aṣ̌a“ die Rede ist, etwa Y 1,16: 9. ‚für alle Geschöpfe des heilvollen Geistes, für die aṣ̌ahaften (männlichen) und aṣ̌ahaften (weiblichen), die Ratus des Aṣ̌a‘. 27 Schließlich ergeht gegen Ende des Yasna-Rituals in Y 68,12f. die Bitte: 10. ‚Gebt, o gute Wasser, mir, dem betenden Priester, und uns, den betenden Mazdaahanbetern … und den Männern und Frauen, und den unmündigen (Knaben) und Mädchen, und (überhaupt allen die) in der Landwirtschaft 24 Gerhard Meiser <?page no="25"?> 28 dāiiata vaŋuhīš āpō māuuaiiaca zaoϑre yazəmnāi ahmākəmca mazdaiiasnanąm frāiiazəmnanąm … narąmca nāirinąmca apərənāiiūkanąmca kainikanąmca vāst‐ riiāuuarəzanąmca … razištahe paϑō aēṣ̌əmca vaēδəmca, yō asti razištō ā aṣ̌āt̰ vahištəmca ahūm aṣ̌aonąm raocaŋhəm vīspō.xvāϑrəm. 29 hə̄ ptā gə̄ušcā aṣ̌aŋhācā aṣ̌aonascā aṣ̌āuuairiiā̊scā stōiš. 30 tat̰ druuatō druuatiiā̊sca aṣ̌i uṣ̌i karəna gauua duuarəϑra zafarə dərəzuuąn pairi.uruuaēštəm, yat̰ nəmō vohu aδauuīm at̰baēṣ̌əm. 31 āϑat̰ca mare nāṣ̌ātaēca mairiiō. 32 hamistaiiaēca nižbərətaiiaēca kaxvarəδanąmca kaxvarəiδinąmca… kaiiaδanąmca kaiieiδinąmca. ähnlich Y 57,15. tätig sind … das Suchen und Finden des geradesten Pfades, der der geradeste ist zum Aṣ̌a und zum Paradies der Aṣ̌ahaften …‘. 28 Letztendlich ist Ahura Mazdā 11. ‚der Vater des Rindes und des Aṣ̌a und jedes zum Aṣ̌a gehörigen männlichen und weiblichen Geschöpfes‘ (Y 58,4). 29 Das „Gendern“ betrifft freilich nicht nur die „frommen“ - Pardon: aṣ̌ahaften - Männer und Frauen, sondern auch deren Gegenspieler - die Anhänger und Anhängerinnen der Drug (vgl. Kap.-2.1 und Anm. 18), vgl. Yt 11,2: 12. ‚Das (ist’s, was) am besten des drughaften (Mannes) und der drughaften Frau Augen Ohren, Hände, Beine, Mund gefesselt zugrunde richtet: (näm‐ lich) das gute Gebet, (das) nicht trügt (und) kein Leid antut‘. 30 Erst recht heißt es in Yt 19,12 in Bezug auf die Endzeit, in der die Unvergäng‐ lichkeit erscheinen wird und die Toten auferstehen: 13. ‚Und erschrecken wird die Schurkin und … der Schurke‘. 31 Auch wenn nicht klar ist, was mit den folgenden Termini gemeint ist, steht fest, dass die betreffenden Personen keinesfalls der Gemeinde der „Aṣ̌ahaften“ angehören sollen, denn es sind 14. ‚zu unterdrücken und fortzuschaffen die (männlichen) Kaxvarədas und die (weiblichen) Kaxvarədas … die mit der Kayadha(-Sünde) behafteten (Männer) und die mit der Kayada(-Sünde) behafteten (Frauen)‘ (Y 61,2f.). 32 Allzu viel Sorgen müssen sich die Angehörigen der zarathustrischen Religion jedoch nicht machen, denn 15. ‚wer, o Zarathustra, dies geoffenbarte Wort - Mann oder Frau - mit aṣ̌a-ei‐ nigem Denken, mit aṣ̌a-einigem Reden, mit aṣ̌a-einigem Tun verkündet […]/ niemals soll den an diesem Tag noch in dieser Nacht der erzürnte, Vor 2500 Jahren 25 <?page no="26"?> 33 yasca zaraϑuštra imat̰ uxδəm vacō frauuaocāt̰ nā vā nāiri vā, aṣ̌a.sara manaŋha aṣ̌a.sara vacaŋha aṣ̌a.sara š́iiaoϑna … nōit̰ dim yauua aiŋ́he aiiąn nōit̰ aiŋ́hā̊ xṣ̌apō druuā̊ zarətō zaranumanō zazarānō aṣ̌ibiia auua.spašticina aoi auua.spaṣ̌naot̰. 34 Zu Zarathustras Familienverhältnissen vgl. Jackson (1965 [1898]: 21). 35 Altind. vedabedeutet ‚Wissen‘. zornige, zornig gewordene Druganhänger durch keinerlei Erspähen mit den Augen erspähen …‘ (Yt 11,4f.). 33 2.5 Frauen in Zarathustras „Gemeinde“ Selbstredend wird im Avesta nicht durchweg gegendert - den hier ausgeho‐ benen Stellen stehen Aberdutzende gegenüber, an denen Frauen nicht erwähnt und vielfach auch nicht mitgemeint sind. Gleichwohl ist die immer wieder explizite Erwähnung von Männern und Frauen bemerkenswert, umso mehr, als beiden Geschlechtern sowohl die Fähigkeit zur „Guten Herrschaft“ (s. o. Bsp. 4) als auch zur Verkündigung der zarathustrischen Lehre zugesprochen wird (s. o. Bsp. 15). Letzteres bedeutet freilich nicht die Zulassung von Frauen zum Priesteramt - nirgendwo ist in den Texten des Avesta von Priesterinnen die Rede. Jedoch stand, wie Kuiper schreibt (s. o. Kap. 2.3), „Zarathustras Urgemeinde von Anfang an auch für Frauen offen“. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren; offenkundig hatte jedoch Zarathustra selbst eine in seiner Zeit keineswegs übliche Haltung gegenüber Frauen eingenommen. Es mag in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung sein, dass als einzigem von seinen Kindern, die er gemäß der Überlieferung hatte, 34 nur seiner jüngsten Tochter Pouručistā ein eigener Hymnus in den Gāthās gewidmet ist, vielleicht von ihrem Vater selbst gedichtet (s.-o. Anm. 16). 3 Dürfen Frauen opfern? Rituale und das Problem des „generischen Maskulinums“ 3.1 Das Opfer im Veda Das älteste Textcorpus des alten Indien stellen die vier Veden dar, deren alter‐ tümlichster und wichtigster der Rigveda (RV) ist. Er besteht aus einer Sammlung von 1028 Hymnen, die zwischen 1500 und 500 v. Chr. entstanden. Verfasst in altindischer Sprache, einer Vorstufe der klassischen indischen Sprache Sanskrit, wurden diese Hymnen jahrhundertelang mithilfe ausgefeilter Memoriertech‐ niken ausschließlich mündlich überliefert. Als geoffenbartes heiliges „Wissen“ 35 sind sie inhaltlich von großer Vielfalt. In jedem Falle aber spielen Vorgaben und 26 Gerhard Meiser <?page no="27"?> 36 tā ya̱jñeṣu̱ pra śa̍ṁsatendrā̱gnī śu̍mbhatā naraḥ | tā gā̍ya̱treṣu̍ gāyata. Die Übersetzung der Rigveda-Zitate folgen Geldner (1951). 37 yacci̱tramapna̍ u̱ṣaso̱ vaha̍ntījā̱nāya̍ śaśamā̱nāya̍ bha̱dram. 38 Soma ist eine Pflanze nicht völlig geklärter botanischer Identität, aus der ein berau‐ schender Trank gewonnen wird. Ihr entspricht im Avestischen haoma. 39 yā dampa̍tī̱ sama̍nasā sunu̱ta ā ca̱ dhāva̍taḥ | devā̍so̱ nitya̍yā̱śirā̍ / / prati̍ prāśa̱vyā̍ṁ̆ itaḥ sa̱myañcā̍ ba̱rhirā̍śāte. 40 Ein Sūtra (w. ‚Schnur, Faden‘) ist einerseits ein „Merksatz“, andererseits das aus solchen Merksätzen bestehende Werk. Das Verhältnis zwischen Sutra und Kommentar mag etwa der Satz des Pythagoras veranschaulichen: das „Sutra“ lautet „a 2 + b 2 = c 2 “, Regelungen für die vielen Opfer eine große Rolle, die an die zahlreichen Götter des altindischen Pantheons zu vollziehen sind. Als Opfernde treten hierbei durchweg Männer auf: 16. ‚Diese beiden preiset bei den Opfern, verherrlichet [die Götter] Indra und Agni, ihr Männer; besinget sie in Sangesliedern‘ 36 (RV 1, 21,2). 17. ‚Welch ansehnlichen löblichen Lohn die Uṣas’ für den dienstbereiten Opferer bringen […]‘ 37 (RV 1, 112,20). Frauen werden nur dann erwähnt, wenn sie im Rahmen bestimmter Riten für den Hausstand gemeinsam mit dem Ehemann das Opfer vollziehen: 18. ‚Wenn die beiden Ehegatten einträchtig (Soma 38 ) auspressen und umschüt‐ teln (und) mit der notwendigen Milch (mischen), o Götter,/ Dann emp‐ fangen sie die für die Pünktlichen bestimmten (Belohnungen)‘ 39 (RV 8, 315,5f.). Für viele würde heutzutage die Darbringung des Opfers als eine lästige Pflicht erscheinen. Doch im alten Indien hängt davon viel ab: Glück, Erfolg, Wohlstand, Gesundheit, das Wohl des Landes, die Aussicht auf einen Sieg in der Schlacht usw., nicht zuletzt die Aussicht auf ein Fortleben nach dem Tode - „im Himmel“. Hatten Frauen also einen eigenständigen Anspruch auf solche „Belohnungen“ oder nicht? 3.2 Die Diskussion im Werk „Pūrva Mīmāṃsa Sutras“ (PMS) Solche und ähnliche Fragen werden im PMS diskutiert, einer Art philoso‐ phisch-juristischem Kommentar zu den Veden. Das Werk wurde zwischen 300 und 200 v. Chr. von Jaimini verfasst und stellt eines der Hauptwerke der altin‐ dischen Philosophie dar. Die „Reflexionen über die ersten (Teile der Veden)“ - dies die Bedeutung von Pūrva Mīmāṃsa - sind im „Sutra-Stil“ gehalten, bestehen also aus Sutras, 40 d. h. Merksätzen, die oft bis zur Unverständlichkeit verknappt Vor 2500 Jahren 27 <?page no="28"?> der „Kommentar“: „in einem rechtwinkligen Dreieck entspricht der Flächeninhalt der Quadrate über den Katheden dem Flächeninhalt des Quadrats über der Hypotenuse“. Der „Sutra-Stil“ verdankt sich wiederum der bereits erwähnten jahrhundertelang ausschließlich mündlichen Überlieferung der ihrem Umfang nach nicht anders als riesig zu bezeichnenden altindischen Literatur - mündlich wurden natürlich auch die Kommentare und die Kommentare zu den Kommentaren tradiert. 41 Zum Folgenden vgl. auch Patton (2020), v.-a. S.-454f. 42 Because the reward of an action is desired, all are entitled to perform it. Komm.: The objector says that as the reward of an action is the desired object of human beings, so no one can be excluded from it; every human being is entitled to it. Heaven is the summum bonum; all persons desirous of it, are entitled to perform the sacrifice to obtain it. Der englische Text ist übernommen von Sandal (1980: 299-301). 43 The view of Pratishāyana is that a man alone is entitled, there being a mention of a special gender. Komm.: The objector of the strength of Pratishāyana’s view says that a man is alone entitled to perform sacrifaces as there is a masculine gender mentioned in the Veda. 44 On the other hand, the view of Vadarāyana is that it refers to a class without distinction; therefore woman is also included: the object of the class is without distinction. 45 Being enjoined it should be performed, according to the direction of the Veda. sind und eines Kommentars bedürfen, um überhaupt verständlich zu werden - der bedeutendste Kommentator des PMS ist Shābara, dessen Erläuterungen im Folgenden mit „Komm.“ eingeführt werden. Zur hier interessierenden Thematik führen die Sutras im ersten Kapitel des VI. Buches des PMS Folgendes aus: 41 19. Sutra 4: ‚Weil der Lohn einer Handlung erwünscht ist, deshalb sind alle berechtigt, sie durchzuführen‘. Komm.: ‚Der Opponent sagt, dass der Lohn einer Handlung das von Men‐ schen gewünschte Objekt ist; somit kann niemand davon ausgeschlossen werden. Jeder Mensch ist dazu berechtigt. Der Himmel ist das höchste Gut; alle Personen, die ihn ersehnen, sind berechtigt, das Opfer durchzuführen, um ihn zu erlangen.‘ 42 20. Sutra 6: ‚Die Ansicht von Pratishāyana ist, dass nur ein Mann dazu berechtigt ist, weil ein bestimmtes Genus genannt wird‘. Komm.: ‚Der Opponent im Sinne der Beweiskraft von Pratishāyanas Ansicht sagt, dass nur ein Mann berechtigt ist zu opfern, weil im Veda das maskuline Genus genannt wird.‘ 43 21. Sutra 8: ‚Andererseits ist die Ansicht von Vādarāyaṇa, dass sich (das Genus) unterschiedslos auf eine Klasse bezieht; deshalb ist die Frau auch eingeschlossen: das Element der Klasse hat keine Unterscheidung (von anderen).‘ 44 22. Sutra 9: ‚Da (das Opfer) angeordnet ist, soll es nach den Regeln des Veda durchgeführt werden‘. 45 28 Gerhard Meiser <?page no="29"?> 46 Das zweite Problem, dem das folgende Sutra 10 gewidmet ist, bezieht sich auf den Besitz, dessen Vorhandensein für die Durchführung eines Opfers Voraussetzung ist: Können Frauen, die - im Rahmen der Hochzeitszeremonie! - selbst „verkauft“ und „gekauft“ werden wie Vieh (so wörtlich der Kommentar), überhaupt etwas besitzen? Was den „Verkauf “ und „Kauf “ angeht, sei an den Brauch der Mitgift oder des „Brautpreises“ in uns zeitlich und räumlich deutlich näheren Kulturen erinnert; was die Konklusion des PMS angeht: Natürlich sind Frauen in der Lage, über Besitz zu verfügen, und deshalb zum Opfer berechtigt! 47 Sie ist damit die vermutlich älteste ausführliche Grammatik einer Sprache der Welt und übertrifft die grammatischen Darstellungen der Griechen und Römer bei weitem in der methodischen Durchdringung des Stoffes und der Prägnanz der Darstellung - darin vielleicht bis heute unerreicht. 3.3 Das „generische Maskulinum“ als „Ermächtigung“ von Frauen Die Frage, ob das Opfer von Frauen vollzogen werden darf (außerhalb der wenigen Fälle, in denen dies der Rigveda ausdrücklich vorsieht, s. o. Bsp. 18), hängt also u.a. 46 davon ab, ob das im Veda verwendete Genus masculinum „spezifisch“ oder „generisch“ gemeint ist. Jaimini entscheidet sich - wie (22) zeigt - für Letzteres, wodurch das PMS auch Frauen den Zugang zum Opfer eröffnet. Während die Diskussion heute darum kreist, inwieweit Frauen bei Verwendung des „generischen Maskulinums“ mitgemeint sind bzw. sich fühlen können, konstatiert das PMS, dass die Verwendung des maskulinen Genus in vedischen Regelungen zum Opfer gerade nicht „spezifisch“, sondern „generisch“ zu verstehen sei und sich deshalb auch auf Frauen bezöge: Frauen sind mitge‐ meint und somit opferberechtigt! Man mag dies als einen kleinen Schritt zur Gleichstellung der Frauen in Angelegenheiten des Rituals interpretieren. 3.4 Die grammatische Kategorie Genus im alten Indien Zu Zeiten, als Jaimini sein Werk verfasste, war die Genuskategorie in der Grammatik der altindischen Sprache längst etabliert, sie findet sich bereits bei dem genialen Grammatiker Pāṇini, der um 450 oder 350 v. Chr. gelebt und eine vollständige Beschreibung der altindischen Grammatik 47 in 3.959 Sutras verfasst hat, gegenüber deren hochverdichteter Form sich Jaiminis Stil geradezu geschwätzig ausnimmt. Für die Bezeichnung der drei Genera verwendet er die Termini puṃs- ‚Mann‘, strī- ‚Frau‘ und napuṃsaka- ‚Eunuch‘, wodurch deutlich wird, „dass die Sprecher altindogermanischer Sprachen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ als inhaltliche Hauptmotivation der Genussysteme ihrer Sprachen verstanden haben […]“ (Litscher 2018: 4, Anm. 6). Vor 2500 Jahren 29 <?page no="30"?> 48 So lt. Aristoteles, téchnē rhētorikḗ (Rhetorik), Buch B, Kap. 24. 1402 a 23 die Formulierung des Protagoras: tòn hḗttō … lógon kreíttō poieîn (= Protagoras frgm B 6b DK (Bd. II, S.-266)). 49 Die nachfolgende Übersetzung folgt dem Text von Seeger (1958). 50 SO: all‘ hétera deî se prótera toutou manthánein, / tō̃n tetrapódōn hátt‘ estìn orthō̃s árrena./ STR: all‘ oîd‘ égōge t’árren‘ ei mḕ maínomai: / kriòs trágos taûros kúōn alektruṓn. Im griechischen Text steht alektruṓn, das als Mask. ‚Hahn‘, als Fem. ‚Henne‘ bedeutet; das Wort kann also im Griechischen mit mask. und mit fem. Artikel gebraucht werden. Da dt. Hahn sich aber ausschließlich auf das männliche, Henne nur auf das weibliche Tier bezieht, hat Seeger in seiner Übersetzung als Beispielwort Spatz gewählt. 4 Die Entdeckung der Kategorie „Genus“ Vielleicht in die Lebenszeit Pāṇinis fällt die Entdeckung der grammatikalischen Kategorie Genus für die europäische Tradition. Den zeitgenössischen Reflex dieses ‚Fundes‘ finden wir ausgerechnet in einer altgriechischen Komödie, die - etwa in Bezug auf das Verhältnis von Sexus und Genus - Fragen anspricht, die bis heute diskutiert werden. 4.1 Die Wolken des Aristophanes Im Jahre 423 v. Chr. werden in Athen die Wolken des Dichters Aristophanes aufgeführt. Darin begehrt der Bauer Strepsiades, von der Pferdeleidenschaft seines Sohnes in den Ruin getrieben, in seiner Not, die sophistische Redekunst zu erlernen, die „die schwächere Sache zur stärkeren machen“, 48 also die Richtigkeit des eigenen Standpunkts beweisen kann, obwohl man tatsächlich im Unrecht ist. Mit der neu erworbenen rhetorischen Kunst will er seine Gläubiger davon überzeugen, dass er seine Schulden keineswegs begleichen müsse. Als Lehrer wählt er ausgerechnet Sokrates, der in der Komödie - im krassen Gegensatz zu dem uns geläufigen Bild, das Platon und Xenophon von ihm gezeichnet haben - als Obersophist und Leiter eines Phrontistérions, einer „Denkerei“, dargestellt wird, wo man sich gegen Geld u. a. eben die Tricks der Rhetorik aneignen kann. Vor deren Erlernung aber hat „Sokrates“ - zum Verdruss des neuen Schülers - die Beschäftigung mit der Grammatik angesetzt. Und so beginnt der Unterricht (V. 658 ff.): 49 23. SO: Du mußt zuvor noch manches andre lernen: Vierfüß’ge Tiere nenne mir, die männlich! (658) - STR: Wer das nicht wüßte, wär’ ein Esel! Männlich Sind Widder, Stier und Bock und Hund und Spatz. 50 (660) 30 Gerhard Meiser <?page no="31"?> 51 SO: horâis, hó páskheis? tḗn te thḗleian kaleîs/ alektruóna katà t’autò kaì tòn árrena./ STR: pôs dḕ phér‘? SO: hópōs; alektruṑ k’alektruṓn. 52 STR: nḕ tòn Poseidō̃. nûn de pō̃s me khrḕ kaleîn? / SO: alektrúainan, tòn d‘ héteron aléktora. 53 STR: hṓst‘ antì toúto toû didágmatos mónou/ dialphitṓsō sou kúklōi tḕn kárdopon./ SO: idoù mál‘ aûtis toûth‘ héteron: tḕn kárdopon./ árrena kaleîs thḗleian oûsan. Das Genus eines griechischen Substantivs ist einerseits am Artikel, andererseits oft an der Dekli‐ nationsweise erkennbar. kárdopos ‚Backtrog‘ hat feminines Genus, flektiert jedoch nach der typischerweise „maskulinen“ I. Deklination, während die II. Deklination i. A. für Feminina reserviert ist. Nach Sokrates müsste also das Femininum kárdopos auch wie ein Femininum, d.-h. nach der II. Deklination, flektieren: hē kardópē ‚die Backtrögin‘. 54 STR: tō̃i trópōi/ árrena kalō̃ ‘gṑ kárdopon? […] atàr ò loipòn pō̃s me khrḕ kalêin? / SO: hópōs? / tḕn kardópēn, hṓsper kalêis tḕn Sōstrátēn. Im griechischen Text steht hier der weibliche Eigenname Sostrate, dessen Übernahme in den deutschen Text allerdings das Prinzip der Wortveränderung nicht erkennen ließe. 55 STR: tḕn kardópēn thḗleian? SO: orthō̃s gàr légeis. 56 SO: éti dḗ ge perì tō̃n onomátōn matheîn se deî,/ hátt‘ árren‘ estín, hátta d‘ autō̃n thḗlea./ STR: all‘ oîd‘ égōg‘ hà thḗle‘ estín. SO: eipè dḗ./ STR: Lúsilla Phílina Kleitagóra Dēmētría. SO: Siehst du? So geht’s: das Weibchen nennst du Spatz, Und dann das Männchen wieder ebenso. (662) - STR: Und dann? (664) - SO: Bedenk nur einmal, Spatz und - Spatz! 51 - - STR: Wahr, beim Poseidon! Nun, wie muß ich sagen? - - SO: Spatz heißt das Männchen, Spätzin heißt das Weibchen. 52 (666) - STR: … Da muß ich wohl für diese Lehre schon Dir bis zum Rand mit Mehl den Backtrog füllen. (668) - SO: Ein neuer Bock! Der Backtrog sagst du, männlich? Das muß ja weiblich enden! 53 (670) - STR: Ei, wieso? … … Allein im Ernst, wie muß ich sagen? - - SO: Wie? Backtrögin! wie du sagst: die Demagögin. 54 (678) - STR: Backtrögin? Sonderbar! - - SO: Das einzig Richt’ge! 55 … von Eigennamen weißt Du nicht, was männlich und was weiblich ist. --(682) - STR: Was weiblich ist, das kenn’ ich gut. - - SO: Zum Beispiel? - - STR: Lysilla, Philina, Kleitagora, Demetria. 56 (684) - SO: Und Männernamen? - Vor 2500 Jahren 31 <?page no="32"?> 57 SO: árrena dè poîa tō̃n onomátōn? STR: muría./ Philóksenos Melēsías Amunías. SO: all‘ ō̃ pónēre taûtá g‘ est‘ ouk árrena. 58 STR: ouk árren humîn estin? SO: oudamō̃s g‘, epeì/ pō̃s àn kaléseias entukhṑn Amuníai? STR: hópōs án? hōdí, deûro deûr‘ Amunía! Der im Nominativ Amynías lautende Name lautet im Anredefall (Vokativ) Amynía, hat also den für Feminina im Nominativ und Vokativ typischen Ausgang -ia. 59 SO: horâis? gunaîka tḕn Amunían kaleîs./ STR: oúkoun dikaíōs hḗtis ou strateúetai. Nicht in den Krieg zu ziehen, ist ein Privileg der Frauen - daher leuchtet es Strepsiades ein, wenn des Amynias Name als Femininum behandelt wird. Die „weibliche“ Flexion des Namens korreliert also mit einer typisch weiblichen Verhaltensweise: im Krieg daheim zu bleiben. Im griechischen Text steht übrigens: „Sie zieht auch nicht zu Feld“. Der Spott des Aristophanes zielt auf einen stadtbekannten Gecken (vgl. Rogers 1930: 94 zu V. 686), den man sich - wie alle im Stück attackierten Personen, so auch den „echten“ Sokrates - während der Aufführung natürlich als im Theater anwesend zu denken hat. Zum Verhältnis von Genus und als typisch männlich (oder weiblich) verstandenem Verhalten s. im Folgenden Kap. 4.3. 60 STR: atàr tí taûth‘ hà pántes ísmen manthánō. 61 Gegen Ende der Komödie wird der Sohn, nun seinerseits bei Sokrates ausgebildet, seinem Vater ‚beweisen‘, dass es recht sei, nicht nur ihn selbst zu schlagen, was dieser zähneknirschend gerade noch akzeptiert, sondern auch die eigene Mutter (V. 1443) - ein in traditioneller Auffassung geradezu todeswürdiges Verbrechen, weshalb Strepsiades am Ende denn auch das „Phrontisterion“ als Geburtsort solch verderblicher Lehren in Brand setzt. STR: Weiß ich dir die Meng’! Philoxenos, Melesias, Amynias. (686) - SO: Dummkopf! Die sind nichts weniger als männlich! 57 - - STR: Die sind bei euch nicht männlich? (688) - SO: Nein: wie sagst/ Du denn, wenn du Amynias zärtlich grüßt? - - STR: Ich denk’: Amynchen, grüß’ dich Gott, Amynchen! 58 (690) - SO: Nun sieh: Amynchen sagst du, wie: Philinchen: - Ein Weib! - - STR: ’S ist wahr! Er zieht auch nicht zu Feld! 59 Allein du lehrst mich da, was jeder weiß. 60 (692) 4.2 Aristophanes und Protagoras Aristophanes ist immer für aberwitzige und absurde Wendungen der Handlung gut, aber was ist der Sinn dieser einigermaßen kruden „grammatikalischen“ Darlegungen? Nun, die Wolken setzen sich mit der sophistischen Philosophie im Allgemeinen und ganz besonders den aus Sicht des Aristophanes verderb‐ lichen Konsequenzen sophistischer Rhetorik 61 auseinander. An der zitierten Stelle aber geht es um die (für den Sprachwissenschaftler nichts weniger 32 Gerhard Meiser <?page no="33"?> 62 tétarton, hōs Prōtagóras tà génē tō̃n onomátōn diḗirei, árrena kaì thḗlea kaì skeúē. Aristoteles, Téchnē rhētorikḗ (Rhetorik), Buch III, Kap. 5, 1407 b 6 = Protagoras frgm. A 27 (DK II, S.-262). 63 autō̃n dè tō̃n onomátōn tà mèn árrena, tà dè thḗlea, tà dè metaksú. Aristoteles, poietike [techne] Poetik, Buch I, Kap. 21, 1458a 9f. 64 Übersetzung nach Rolfes (1968: 32). als bahnbrechende) Entdeckung des grammatischen Geschlechts durch den zeitgenössischen Sophisten Protagoras (ca. 490-411 v. Chr.). Freilich sind von Protagoras keine Schriften erhalten; wir kennen seine Lehren nur aus Zitaten späterer Autoren. Für seine Genuslehre sind hier zwei Stellen aus den Werken des Aristoteles einschlägig: 24. ‚Ein vierter Faktor [für korrektes Griechisch] besteht darin, Protagoras’ Unterteilung der Nomina in die Geschlechter männlich (árrena), weiblich (thḗlea) und ‚Sachen‘ (skeúē) zu beachten.‘ 62 Die beiden Adjektive árrēn (Nom.) ‚männlich‘ und thē̂lus (Nom.) ‚weiblich‘ entstammen dem allgemeinen Sprachgebrauch; skeúē ist ein Nomen im Nom. Pl., das ‚Gerätschaft‘ und dann allgemein ‚unbelebtes Objekt‘ bedeutet. In seiner Poetik kommt Aristoteles wieder auf die Genuslehre des Protagoras zu sprechen. Den Begriff für das „sächliche“ Geschlecht hat er jedoch geändert: 25. ‚Von den Substantiven sind die einen männlich (árrena), die anderen weiblich (thḗlea), die dritten ‚dazwischen (liegend)‘ (metaksú)‘. 63 Griech. metaksú ‚dazwischen‘ ist Adverb, das gemäß den Regeln der griechi‐ schen Grammatik attributiv verwendet werden kann und in dieser Hinsicht dem ursprünglichen skeúē ‚Gerätschaften, unbelebte Objekte‘ überlegen ist. Ob diese Begriffswahl inhaltlich besonders glücklich ist - das Neutrum bezeichnete dann etwas, was „zwischen“ Maskulinum und Femininum liegt -, mag dahingestellt bleiben. 4.3 Sprachrichtigkeit im Sinne von Protagoras Auch Protagoras hat seine Genuslehre unter den Aspekt der Sprachrichtigkeit gestellt. Was er damit meint, erhellt aus dem zweiten Aristoteles-Zitat: 64 26. ‚Was ein Solözismus (Sprachfehler) ist, ist früher (im 3. Kap.) gesagt worden. Es gibt hier drei Fälle. Man kann einen Solözismus machen (so daß er gleichzeitig als solcher erscheint), kann ihn bloß zu machen scheinen und kann ihn wirklich machen, ohne daß es doch so scheint, wie es z. B. geschieht, wenn, wie Protagoras sagt, ‚Zorn‘ (μῆνιν [mē ֘ nin]) und Vor 2500 Jahren 33 <?page no="34"?> 65 soloikismòs ésti dè toûto kaì poieîn kaì mḕ poioûnta phaínesthai kaì poioûnta mḕ dokeîn, katháper ho Prōtagóras élegen, ei ho mē̃nis kaì ho pḗlēks árren estín: hó mèn gàr légōn ‚ouloménēn’ soloikízei kat‘ ekeînon, ou phaínetai dè toîs állois, ho dè ‚oulómenon‘ phaínetai mèn, all‘ ou soloikízei. Aristoteles, Perì sophistikō̃n elégkhōn (Sophistische Widerlegungen), Kap.-14, 173 b 17-22. = Protagoras frgm. A 28 (DK II, S.-262). 66 Mē̃nin áeide, theá, Pēlēiádeō Akhilēos/ ouloménēn […]. ‚Helm‘ (πήληξ [pḗlēks]) männlich ist. Wer (mit Homer im Eingang der Ilias) vom Zorn sagt οὐλομένην [ouloménēn] (‚verderblich‘, weibliche Endung), begeht nach Protagoras einen Sprachfehler, ohne daß es doch den übrigen Menschen so scheint, und wer sagt οὐλόμενον [oulómenon] (männliche Endung), scheint einen sprachlichen Fehler zu begehen, tut es aber (nach Protagoras) nicht […]‘. 65 Protagoras bezieht sich offenkundig auf den Anfang von Homers Ilias, der da lautet: 27. ‚Vom Zorn [mē ֘ nin, Akkusativ] singe, Göttin, des Peleus-Sohnes Achil‐ leus,/ dem verderblichen [ouloménēn] …‘ 66 (Ilias, I 1-2) Das Wort mē ֘ nin (Akk.), Nom. mē ֘ nis ‚Zorn‘, ist im Griechischen Femininum, was man - da Homer den Artikel hier nicht verwendet - jedoch an dieser Stelle erst an seinem Bezugswort ouloménēn ‚verderblich‘ (Akk. Sg. Femininum) erkennen kann. Wenn nach Protagoras hier die maskuline Form oulómenon und damit auch maskulines Genus des Bezugswortes mē ֘ nis „richtiger“ wäre, dann offenkundig deshalb, weil der männermordende Zorn des Achilleus ein ausgesprochen männlicher Charakterzug ist. Entsprechendes gilt für das zweite Beispielwort pḗlēks ‚Helm‘, der in den Kampfschilderungen der Ilias ebenfalls eine nicht geringe Rolle spielt: Im Griechischen Femininum, sollte das Wort eigentlich im Sinne der Protagoras’schen Sprachrichtigkeit Maskulinum sein, denn der Helm ist nun einmal ein typisch männlicher Ausrüstungsgegenstand. Letztendlich geht es um die Übereinstimmung von „Form“ (Genuskategorie) und „Inhalt“ (Sexus-Konnotation des Bezeichneten). Hieraus folgt, dass bei seiner Einführung in die Sprachbeschreibung das Genus eindeutig Sexus-konnotiert ist. Sein „Entdecker“, der Philosoph Prota‐ goras, geht sogar so weit, zu postulieren, dass auch bei Sachbezeichnungen, die sich dem weiblichen oder männlichen Lebensbereich zuordnen lassen, das Genus - im Sinne einer „höheren Sprachrichtigkeit“ - entsprechend zu gebrauchen wäre. 34 Gerhard Meiser <?page no="35"?> 67 Zu diesen beiden „Prinzipien“, die der aristophaneische Sokrates von Protagoras übernommen hat, vgl. auch Dorion (1995: 312 f.) und Siebenborn (1976: 15). Der aristophaneische „Sokrates“ geht - natürlich in parodistischer Absicht - im oben zitierten Ausschnitt aus den Wolken in drei Punkten auf die neue Lehre ein: 1. Die beiden Geschlechter einer Art sollten nicht durch dasselbe Wort bezeichnet werden. 2. Die Flexionsweise eines Wortes sollte seinem Genus entsprechen 67 . 3. Männern, die nicht die von Männern zu erwartende Verhaltensweisen zeigen, sollte auch nicht das Genus masculinum zugesprochen werden. Jedenfalls ergäbe die Beachtung dieser „Regeln“ sicherlich einen Schritt in Richtung der von Protagoras postulierten „Sprachrichtigkeit“ im Sinne einer Übereinstimmung von „Form“ und „Inhalt“. 4.4 Zur weiteren Entwicklung des Genus-Begriffs Einmal eingeführt, werden die Termini der Genus-Kategorien offenbar wie selbstverständlich verwendet. Ein Problem bereitete zunächst noch die Be‐ nennung des neutralen Genus. Protagoras hatte es - s. o. (24) - als skeúē ‚Sachen‘ bezeichnet, Aristoteles diesen Begriff wenig glücklich durch metaksú ‚dazwischen (liegend)‘ ersetzt. Die ein für alle Mal gültige Terminologie ist dann bei Dionysius Thrax erreicht, der wohl im 2. Jh. vor Christus die erste Gesamtdarstellung der griechischen Grammatik verfasst hat (Kap. ιβ‘ = 12): 28. ‚Es gibt drei Genera, das maskuline (arsenikón), das feminine (thēlukón) und das neutrale (oudéteron).‘ Es werden also nicht mehr die „Normalwörter“ árrēn, thḗlus für ‚männlich‘ bzw. ‚weiblich‘ verwendet, sondern hiervon abgeleitete. Und für das dritte Geschlecht ist der Terminus oudéteron ‚keines von beiden‘ gefunden, der in seiner lateinischen Übersetzung ne-utrum bis heute gültig ist. Allerdings fährt Dionysius Thrax unmittelbar im Anschluss an die obige Stelle fort: 29. ‚Einige fügen noch zwei weitere Genera hinzu, das gemeinschaftliche (koinón) und das gemeinsame (epíkoinon), das gemeinschaftliche wie híppos Vor 2500 Jahren 35 <?page no="36"?> 68 Pecorella (1962: 36). - Génē mèn oûn eisi tría: arsenikón, thēlukón, oudéteron. énioi dè prosthitéasi toútois álla dúo, koinón te kaì epíkoinon, koinòn mèn hoîon híppos kúōn, epíkoinon de hoîos khelidṓn, aetós. 69 Inwieweit Varro eine tatsächlich bestehende Diskussion aufgegriffen und ggfs. zuge‐ spitzt oder sie gar weitgehend erfunden hat, mag hier auf sich beruhen, vgl. hierzu Fehling (1956: 268-270). ‚Pferd‘, kúōn ‚Hund‘, das gemeinsame wie khelidṓn ‚Schildkröte‘, aetós ‚Adler‘.‘ 68 Die von „einigen“ hinzugefügten Genera beziehen sich auf das Verhältnis von Sexus und Genus. Die Wörter mit „gemeinschaftlichem“ (doppelten) Geschlecht können sowohl als Maskulina als auch als Feminina gebraucht werden - híppos ‚Pferd‘ und kúōn ‚Hund‘ also sowohl mit dem maskulinen Artikel ho als auch dem femininen hē. Im Deutschen ist dergleichen bei lexikalisierten Partizipial‐ bildungen möglich, vgl. der/ die Angestellte. Wörter mit ‚gemeinsamem‘ Genus sind zwar auf dieses festgelegt - griech. khelidṓn hat ebenso wie dt. Schildkröte feminines, griech. aetós ebenso wie dt. Adler männliches Geschlecht, die Wörter benennen aber in beiden Sprachen jeweils auch den gegengeschlechtlichen Partner (vgl. Schreiner 1954: 54). 4.5 Die römische Tradition Zu den originellsten Sprachwissenschaftlern der Antike gehört der römische Po‐ lyhistor Marcus Terentius Varro (116-127 v. Chr.). Von den mehr als 600 von ihm verfassten Büchern, die sich zu über 70 Werken zusammenfassen lassen, ist eines der lateinischen Sprache gewidmet. De lingua Latina umfasste ursprünglich 25 Bücher, von denen sechs auf uns gekommen sind: Die erhaltenen Bücher V-VII behandeln die Etymologie, die Bücher VIII-X die Morphologie. In den letzteren ist es Varros Absicht, in dem Streit der Grammatiker zwischen „Analogisten“ und „Anomalisten“ zu vermitteln - also zwischen der Position, gemäß der Sprache regelhaft organisiert sei, und der Gegenposition, der zufolge sie es nicht sei. 69 Zur Genusflexion führt er in Buch IX aus: 30. (Kap. 55) ‚Sie [die „Anomalisten“] bestreiten, da alle Natur entweder Mann oder Frau oder Neutrum sei, dass nicht aus den einzelnen Wörtern dreifache Wortformen entstehen müssten, wie albus alba album [‚weiß‘]. Nun gäbe es bei manchen Sachen nur Doppelformen, wie Metellus Metella, Aemilius Aemilia [römische Gentilnamen], manche nur als Einzelformen wie tragoedus [Tragödiendarsteller], comoedus [Komödienspieler]. So gäbe es Marcus, Numerius [röm. Männervornamen], nicht hingegen (deren 36 Gerhard Meiser <?page no="37"?> 70 Lat. turdus im Text bedeutet ‚Drossel‘; ‚Sperling‘ ist hier stattdessen gewählt, weil Varro Vogelnamen anführt, die nur im mask. Genus gebraucht werden. 71 Lat. panthera ist Femininum! 72 Negant, cum omnis natura sit aut mas aut femina aut neutrum, <non> debuisse ex singulis vocibus ternas figuras vocabulorum fieri, ut albus alba album. nunc fierei in multis rebus binas, ut Metellus Metella, Aemilius Aemilia, nonnulla singula ut tragoedus comoedus. sic esse Marcum, Numerium, at Marcam, at Numeriam non esse. dici corvum, turdum, non dici corvam turdam; contra dici pantheram, merulam, non dici pantherum, merulum. 73 Lat. equus ‚männliches Pferd‘ und equa ‚weibliches Pferd‘ sind - anders als die dt. Ausdrücke Hengst, Stute - sprachlich aufeinander beziehbar. 74 Ad haec dicimus, omnis orationis quamvis res naturae subsit, tamen si ea in usu<m> non pervenerit, eo non pervenire verba: ideo equus dicitur et equa: in usu enim horum discrimina; corvus et corva non, quod sine usu id, quod dissimilis natura<e>. Itaque quaedam al<i>ter olim ac nunc: nam et tum omnes mares et feminae dicebantur columbae, quod non erant in eo uso domestico quo nunc, <et nunc> contra, propter domesticos usus quod internovimus appellatur mas columbus, femina columba. weibliche Gegenstücke) Marca, Numeria. Man sagt Rabe, Sperling, 70 man sagt hingegen nicht Räbin oder Sperlingin. Andererseits sagt man die Panthera, 71 Amsel, nicht hingegen Pantherich oder Amsler.‘ 72 31. (Kap. 56): ‚Hierauf antworten wir, dass zwar irgendein Objekt jeder Rede‐ weise zugrunde liegt, wenn es aber nicht in den Gebrauch gekommen ist, dann gibt es dafür auch kein Wort. So sagen wir Hengst und Stute, 73 denn ihre Unterscheidung ist gebräuchlich, hingegen nicht Rabe und Räbin, weil nicht das im Gebrauch ist, was von Natur aus unterschieden ist. Deshalb verhält es sich bei manchen Wörtern heute anders als früher. Denn früher wurden Männchen und Weibchen columbae ‚Tauben‘ genannt, weil sie nicht in der Weise als Haustiere gehalten wurden wie heute. Dagegen heute, weil wir sie wegen ihres Gebrauchs als Haustiere unterscheiden, wird das Männchen columbus ‚Tauber‘, das Weibchen columba ‚Taube‘ genannt‘. 74 Interessant ist hier Varros Feststellung, dass die Genusdifferenzierung in dem Maße relevant wird, wie die Sexusdifferenzierung von Lebewesen für den Men‐ schen bedeutsam wird. Je vertrauter ihm etwa eine bestimmte Tierart ist, etwa weil sie als Haus- oder Nutztier gehalten wird, umso stärker ausgebaut ist das entsprechende Wortfeld, gerade auch im Hinblick auf die beiden Geschlechter. Schließlich noch zur Bezeichnung der Genuskategorien: Im Buch VIII, Kap. 46 spricht er zweimal von sexus, etwa (32) sexum, utrum virile an muliebre an neutrum sit „… das Geschlecht, ob es männlich oder weiblich oder Neutrum sei“, ansonsten von genus. Die später und bis heute üblichen Begriffe masculinum und femininum dürfte Verrius Flaccus (geb. 60 v. Chr.) eingeführt haben; wie Vor 2500 Jahren 37 <?page no="38"?> 75 XXIII. Atqui si quis et didicerit satis et (quod non minus deesse interim solet) voluerit docere quae didicit, non erit contentus tradere in nominibus tria genera et quae sunt duobus omnibusve communia. XXIV. Nec statim diligentem putabo qui promiscua, quae epicoena dicuntur, ostenderit, in quibus sexus uterque per alterum apparet, aut quae feminina positione mares aut neutrali feminas significant, qualia sunt „Murena" et "Glycerium“. im Griechischen (s. o. Kap. 4.4) schreitet also die Entwicklung von Wörtern der Alltagssprache zu eigens geprägten Termini voran (vgl. Schreiner 1954: 54). Den Abschluss dieses Kapitels möge ein Zitat aus Quintilians Institutiones, Buch I, Kap. 4, Abs. 23 f. bilden, in dem der Verfasser über die Qualitäten des guten Lehrers spricht: 32. ‚Wenn jedoch ein Lehrer hinreichend unterrichtet ist und - woran es bisweilen nicht weniger zu fehlen pflegt - auch seinerseits lehren will, was er gelernt hat, wird er nicht damit zufrieden sein, die Schulweisheit weiterzugeben, die Nomina hätten drei Geschlechter, und weiter die No‐ mina bringen, die zweien oder allen dreien Geschlechtern gemeinsam sind. Auch werde ich nicht gleich einen Lehrer für gewissenhaft halten, der auf die Mischfälle, die epíkoina heißen, hinweist, in denen beide Geschlechter durch eins von ihnen in Erscheinung treten, oder welche durch Feminin‐ bildungen Männer oder durch Neutrumbildung Frauen bezeichnen, wie etwa ‚Murena‘ und ‚Glycerium‘‘. 75 Der tatkräftige Grammatiklehrer, so Quintilian weiter, wird vielmehr auch noch die Herkunft von Namen erklären. Die Passage zeigt jedenfalls, dass das „Genus“ längst elementare Schulweisheit geworden ist. 5 Schlussbemerkung Den Beispielen in den drei Kapiteln ist gemeinsam, dass sie sich letztlich auf das Verhältnis von Genus und Sexus bzw. von grammatikalischem und natürlichem Geschlecht beziehen: Im Avesta wird der feminine Sexus explizit genannt, im Rigveda-Kommentar des Jaimini die Frage diskutiert, ob er im Maskulinum „mitgemeint“ sein kann. Am deutlichsten ist die Sexus-Genus-Korrelation bei Protagoras thematisiert, der die Korrelation zwischen beiden sogar über den Bereich der Lebewesen hinaus ausdehnen will: Was männlich konnotiert ist, sollte auch maskulines Geschlecht haben! Er hat mit dieser Meinung keine Anhänger gefunden; schon sein Zeitgenosse Aristophanes macht sich darüber mit dem Vorschlag lustig, ein Mann, der „weibliches“ Verhalten an den Tag lege, müsse dementsprechend auch als Femininum flektiert werden. Für Varro, den letzten der hier behandelten Autoren, ist die Genusdifferenzierung längst 38 Gerhard Meiser <?page no="39"?> etabliert, doch setzt er sich immerhin noch mit der Ausdifferenzierung des Wortschatzes im Hinblick auf die wichtig gewordene Sexusdifferenzierung auseinander. Bei der Diskussion der altindischen Opfervorschriften wiederum ist es wichtig, ob das verwendete Maskulinum „spezifisch“ oder „generisch“ zu verstehen sei - denn nur im letzteren Fall kommt Frauen das Recht auf die Durchführung von Opfern zu. In den Texten des Avesta schließlich werden Frauen immer wieder in Beidnennung eigens erwähnt, um jeden Zweifel daran auszuschließen, dass auch sie vollwertige Mitglieder in der Gemeinschaft der Gläubigen sind. Ausgerechnet im antiken Iran und im antiken Indien geht es also um eine - vorerst nur sehr punktuelle - Gleichstellung der Frau. Es erscheint daher nur konsequent, dass heutzutage, wo dieses Thema eine viel größere gesellschaftliche Rolle spielt, die Diskussion sehr viel heftiger geworden ist, als es die gewählten Beispiele für ihre Zeit erkennen lassen. Sie zeigen aber, dass die einschlägigen Fragen schon vor zweieinhalbtausend Jahren die Menschen bewegten. Bibliographie Primärliteratur Aristophanis Comoediae, … edd. F.W. Hall et W.M. Geldart (1967 repr.) Bd. I. Oxford University Press. Aristotelis Opera (1831 die für die Seitenzählung maßgebliche Ausgabe). Hrsg. v. Academia Regia Borussica. Aristoteles Graece ex recognitione Immanuelis Bekkeri. Vol. I-II. Berlin: Reimer. Avesta: die heiligen Bücher der Parsen (1886-1895). Im Auftr. der Kaiserlichen Akad. der Wiss. in Wien hrsg. von Karl F. Geldner. 3 Bde. Stuttgart: Kohlhammer. Geldners Ausgabe ist in der Avestaschrift gehalten; in Lateinschrift transkribierte, auf Geldners Ausgabe beruhende Versionen bei https: / / wikisource.org/ wiki/ Avesta/ Yasn a, https: / / wikisource.org/ wiki/ Avesta/ Ya%C5%A1t. Dionysius Thrax s.-u. Pecorella (1962). Homer (1998): Ilias. Homeri Ilias: 1 , Rhapsodias I-XII continens/ recensuit, testimonia congessit Martin L. West. Stuttgart - Leipzig: Teubner. Protagoras s.-u. DK. Quintilian s.-u. Rahn (2006). Rigveda (1995). A Metrically Restored Text with an Introduction and Notes. Edd. Barend van Nooten, Gary Holland: Harvard University Press. Auf dieser Ausgabe basiert die Internetpublikation https: / / sanskritdocuments.org/ mirrors/ rigveda/ e-text.htm (in der Sanskrit-Schrift Devanagari sowie in lateinischer Schrift). Vor 2500 Jahren 39 <?page no="40"?> Varro (1967). De Lingua Latina. On the Latin Language. With an English translation by Roland G. Kent. Vol. I: Books V.-VII., Vol. II: Books VIII.-X. Fragments. Cambridge (Mass.): University Press. Sekundärliteratur Braun, Christina von (2021): Kein Grund sich aufzuregen! Wir gendern schon seit Hunderten von Jahren. Focus, 25 (1). 21: https: / / www.focus.de/ wissen/ experts/ christ ina-von-braun-gendersternchen_id_24341389.html, Zugriff am 10.02.24. Delcourt, Marie (1958): Hermaphrodite. Mythes et rites de la bisexualité dans l’antiquité classique. Paris: Presses Universitaires de France. DK: Diels, Hermann/ Kranz, Walther (1985): Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. II, [59-90], 11. Aufl. Berlin: Weidmann. Dorion, Louis-André (1995): Les réfutations sophistiques. Introduction, traduction et commentaire. Presses de l’Université Laval. Fehling, Detlev (1956-1957): Varro und die grammatische Lehre von der Analogie und der Flexion. Teil I: Glotta 35 (1956): 214-270. Teil II: Glotta 36 (1957): 48-100. Geldner, Karl Friedrich (1951): Der Rig-Veda. Aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt und mit einem laufenden Kommentar versehen. 3 Bde. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Hermann, Rainer (2019): Also spricht Zarathustra. Wie der Zoroastrismus im Iran neue Anhänger gewinnt. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.10.2019. Humbach, Helmut (1991): The Gāthās of Zarathustra and the Other Old Avestan Texts, in collaboration with Josef Elfenbein and Prods O. Skjærvø. Part I: Introduction - Text and Translation. Heidelberg: Winter. Jackson, A.V. Williams (1965): Zoroaster, the Prophet of Ancient Iran. New York: Ams Pr. (Nachdruck der Ausgabe von 1898). Keller, Adalbert von (1853): Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, Bd. II. Stuttgart: Litterarischer Verein. Kuiper, Franciscus B. J. (1978): On Zarathustras Language, Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde. Nieuwe Reeks, Deel 42, No. 4. Amsterdam/ London/ New York: Noord-Hollandsche Uitgeversmaatschappij. Litscher, Roland (2018): Die Entstehung des femininen Genus in den indogermanischen Sprachen. (Diss. Univ. Zürich). Zürich https: / / www.zora.uzh.ch/ id/ eprint/ 159689/ 1/ 1 59689.pdf. Narten, Johanna (1985): Avestisch „FRAVAṢ̌I-“. Indo-Iranian Journal 28 (1): 35-48. ―-(1986): Der Yasna Haptanhāiti. Wiesbaden: Reichert. 40 Gerhard Meiser <?page no="41"?> Patton, Laurie L. (2020): Women and language in the early Indian tradition. In: Ayres-Ben‐ nett, Wendy/ Sanson Helena (Hrsg.): Women in the History of linguistics, Oxford University Press, 449-467. Pecorella, Giovan Battista (1962): Dionisio Trace. Tekhnē Grammatikē. Testo critico e commento. Bologna: Cappelli. Rahn, Helmut (2006): Marcus Fabius Quintilianus. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, herausgegeben und übersetzt. Erster Teil: Buch I - VI. 2. Aufl. Darmstadt: WBG. Rogers, Benjamin Bickley (1930): Αristophanous Nephelai. The Clouds of Aristophanes. The Greek Text Revised, with a Translation into Corresponding Metres, Introduction and Commentary. London: G. Bells and Sons LTD. Rolfes, Eugen (1922, repr. 1968): Aristoteles, Sophistische Widerlegungen. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen. Hamburg: Steiner. Sandal, Mohan Lal (1980): Jaiminī , Mīmāṃsāsūtra, translated by Mohan Lal Sandal. Bd. I. 2. Aufl. Delhi: Motilal Banarsidass. Schreiner, Max (1954): Die grammatische Terminologie bei Quintilian. (Diss. Universität München). https: / / ifa.phil-fak.uni-koeln.de/ fileadmin/ IfA/ Klassische_Phil/ schreiner. pdf. Seeger, Ludwig (1958): Aristophanes, Komödien [1]. Die Ritter, Die Wolken [u.-a.], übersetzt von Ludwig Seeger. Hamburg: Standard. Siebenborn, Elmar (1976): Die Lehre von der Sprachrichtigkeit und ihren Kriterien. Studien zur antiken normativen Grammatik. Amsterdam: B. R. Grüner B. V. Wolff, Fritz (1910): Avesta. Die heiligen Bücher der Parsen, übers. auf der Grundlage von Chr. Bartholomae‘s Altiranischem Wörterbuch. Straßburg: Trübner. Vor 2500 Jahren 41 <?page no="43"?> 1 Weitere Themenfelder, die im Rahmen dieses Beitrags nicht thematisiert werden können, sind bspw. die Sexusmarkierung durch Komposition (Bäckersfrau, Bäckers‐ mann) und ihr Verhältnis zur Movierung (Stephan 2009; Eisermann 2004), Genuskon‐ gruenz bei sog. hybrid nouns (Birkenes/ Fleischer 2022; Fleischer 2012) oder der dia‐ chrone Bedeutungswandel von männlichen und weiblichen Personenbezeichnungen (Sökefeld 2023; Nübling 2011; Keller 1995, Kochskämper 1994; Warnke 1993). Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte Tanja Stevanović Zusammenfassung: Der Beitrag gibt einen Überblick über die bisherige Forschung zu fünf ausgewählten Themengebieten der historischen Gen‐ derlinguistik: die Entwicklung des dreigliedrigen Genussystems im frühen Indoeuropäischen, die metasprachliche Beschreibung der Kategorie Genus in der historischen Grammatikschreibung, das geschlechtsübergreifende Maskulinum in der Sprachgeschichte, die historische Entwicklung der Fe‐ mininmovierung mit -in sowie der sprachgeschichtliche Zusammenhang zwischen dem Indefinitpronomen man und dem Substantiv Mann. Dabei werden neben den zentralen Erkenntnissen auch bestehende Desiderata und Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen vorgestellt. Schlüsselbegriffe: Historische Genderlinguistik, Sprachgeschichte, Genus und Sexus, geschlechtsübergreifendes Maskulinum, Movierung, Indefinitpronomen man 1 Einleitung Nachdem das Anliegen der feministischen Linguistik seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren in erster Linie darin bestand, sprachliche Diskriminie‐ rung in der Gegenwartssprache aufzudecken, werden in der Debatte um die gendergerechte Sprache inzwischen zunehmend auch Fragen aus diachroner Perspektive thematisiert. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die zentralen Forschungsbereiche der historischen Genderlinguistik und deren Erkenntnisse, die im Kontext der Genderfrage häufig kontrovers diskutiert werden: 1 <?page no="44"?> 2 Die weitverbreitete Bezeichnung generisches Maskulinum ist irreführend, da es sich bei den damit bezeichneten Maskulina keineswegs immer um generisch gebrauchte Aus‐ drücke handelt. Daher folge ich Pettersson (2011: 62) und verwende die Bezeichnung geschlechtsübergreifendes Maskulinum. 3 Die Entwicklung des gesamten Forschungsdiskurses detailliert zu beschreiben, würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen und wurde an anderer Stelle bereits geleistet (u. a. bei Weber 2001); daher sollen hier nur die heute gängigsten Erklärungsansätze der Genusgenese knapp vorgestellt werden. Für eine prägnante Zusammenfassung dieses Themenfelds aus germanistischer Sicht siehe auch Kotthoff/ Nübling (2018: 70-71) und Scholten (2017). 4 Von einer ursprünglichen Unterteilung nach Belebtheit gehen u. a. Fritz/ Meier-Brügger (2021: 195), Hajnal/ Zipser (2017: 132 f.), Kausen (2012: 72), Schwink (2004: 106) und Hajnal (2002: 16) aus. • Was ist die ursprüngliche Funktion der grammatischen Kategorie Genus? Besteht ein sprachgeschichtlicher Zusammenhang zwischen Genus und Sexus? (Abschnitt 2 und 3) • Seit wann gibt es das geschlechtsübergreifende Maskulinum 2 im Deutschen? (Abschnitt 4) • Warum werden Bezeichnungen für weibliche Personen im Deutschen von maskulinen Basiswörtern abgeleitet - wie entstand dieses asymmetrische System und stellt es aus historischer Sicht eine sprachliche Diskriminierung von Frauen dar? (Abschnitt 5) • Hat das Pronomen man sich im Laufe der Sprachgeschichte von seinem ety‐ mologisch bedingten Zusammenhang mit dem Substantiv Mann gelöst oder birgt es noch immer eine männliche Bedeutungskomponente? (Abschnitt 6) Abschließend wird resümiert, welche Desiderata weiterhin bestehen und wel‐ chen Beitrag die historische Linguistik zur gegenwartssprachlichen Debatte um die gendergerechte Sprache leisten kann. 2 Entstehung des indoeuropäischen Genussystems 3 Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass im frühen Indoeuropäischen ursprünglich ein System aus zwei Genera existierte (vgl. Fritz/ Meier-Brügger 2021: 195; Litscher 2018: 1; Matasović 2004: 33). Diese werden häufig als genus distinctum und genus indistinctum bezeichnet (Tichy 1993: 3 f.), da eines der Genera eine Unterscheidung zwischen Nominativ und Akkusativ vornahm (-s/ -m), das andere hingegen nicht (-m/ -m). Worin genau die Funktion der beiden älteren Genera bestand, ist umstritten. Die unterschiedliche Nominativmarkie‐ rung wurde von einigen Forscher*innen 4 als Indiz dafür angeführt, dass das 44 Tanja Stevanović <?page no="45"?> 5 Dazu zählen u. a. Litscher (2018), Werner (2012), Froschauer (2003), Weber (2001), Leiss (1997), Ostrowski (1985), Lehmann (1958) und Wheeler (1899). 6 Laut Leiss (1997: 35) konnte zunächst jedes Substantiv in jedes der Genera über‐ führt werden und wurde dadurch hinsichtlich seiner Individuiertheit unterschiedlich perspektiviert (als Singulativum, Kollektivum/ Abstraktum oder Massennomen). Sie bezieht sich dabei auf Lehmann (1958: 185), der die quantifizierende Funktion des Genus anhand von Beispielen aus dem Sanskrit illustriert: himás (m.) ‚Frost‘ - himā (f.) ‚Winter‘ - himam (n.) ‚Schnee‘. Leiss’ Vermutung, dass Reste dieses Systems noch im Ahd. nachweisbar sind, wird von Froschauer (2003) überprüft. Froschauers Befunde stützen die Annahme eines solchen „spurenhaft nachwirkenden Reliktsystems“ im Ahd. (2003: 372), beruhen allerdings auf einer sehr überschaubaren Datenbasis und müssten weitergehend überprüft werden (vgl. 2003: 494). Genus die Substantive in Animata und Inanimata unterteilte. Andere 5 sehen die ursprüngliche Funktion des Genus in der Markierung unterschiedlicher Individuiertheit, sodass singulative, zählbare Einheiten dem genus distinctum angehörten und unzählbare Massennomina dem genus indistinctum. Konsens besteht jedoch darüber, dass die Zweiteilung keinesfalls auf einer binären Sexusopposition beruhte, da es sich bei den beiden ursprünglichen Genera um die Vorgänger von Maskulinum (genus distinctum) und Neutrum (genus indistinctum) handelte, das Femininum hingegen erst deutlich später entstanden ist (vgl. u.-a. Neri/ Schuhmann 2014; Schwink 2004). Bei der Herausbildung des dritten Genus, dem späteren Femininum, spielten Kollektiva und Abstrakta eine entscheidende Rolle, die sich als Subgruppe aus dem genus indistinctum abspalteten (vgl. u. a. Litscher 2018; Neri/ Schuhmann 2014; Harðarson 1987). Schließlich bildeten sich eigene Kongruenzformen zu dieser Subklasse heraus, wodurch das Zweigenussystem zu einem Dreigenus‐ system wurde. 6 Später fand - in einem sekundären Prozess - eine Assoziation des neuen Genus mit Weiblichkeit statt (vgl. u. a. Litscher 2018: 125-133). Dies führte dazu, dass alle Bezeichnungen für weibliche Personen, die zuvor dem genus distinctum angehört hatten, in diese neue Klasse wechselten. Wie es zu dieser Assoziation mit Weiblichkeit (und dadurch später zur Bezeichnung als Femininum) kommen konnte, wird seit langem kontrovers diskutiert. Brugmann (1889: 104) zieht eine rein zufällige Formengleichheit zwischen dem ie. Kollektiv- und Abstraktsuffix *-ā und dem Auslaut der Frauenbezeichnungen *gwenā ‚Frau‘ und *māmā ‚Mama‘ in Betracht, wodurch *-ā als Weiblichkeitsmarker reanalysiert worden sei. Andere Erklärungsansätze sind die wiederholte Nutzung von Abstrakta zur Bezeichnung von Frauen (Sie ist eine Schönheit) oder eine häufig auftretende Bedeutungsverschiebung von Kollektiva hin zu Bezeichnungen für einzelne weibliche Personen; bspw. führt Tichy (1993: 16) nhd. Witwe auf ein ie. Kollek‐ Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 45 <?page no="46"?> 7 Einen einleuchtenden Vorschlag bieten aktuell Hajnal (2002: 49) und Litscher (2018: 125-132), die vermuten, dass Zugehörigkeitsbildungen auf *-ih 2 den Ausschlag gaben, die in größerer Anzahl in der neuen Kongruenzklasse vorlagen (siehe dazu Abschnitt 5). Weitere Erklärungsansätze werden bei Hajnal (2002: 47-50) diskutiert. 8 Die hier präsentierte Darstellung der Genusgenese folgt im Wesentlichen den Aus‐ führungen von Litscher (2018: 107-133), die Abbildung ist außerdem angelehnt an Fritz (1998: 256). Für eine abweichende Rekonstruktion der Entwicklung siehe u. a. Fritz/ Meier-Brügger (2021: 195-197). tivum ‚Familie des Getroffenen‘ zurück. 7 Abbildung 1 stellt die Rekonstruktion der Genusgenese im frühen Indoeuropäischen schematisch dar: 8 Abbildung 1: Entwicklung des indoeuropäischen Genussystems Für die historische Genderlinguistik des Deutschen sind aus den Erkenntnissen zur Genusgenese im frühen Indoeuropäischen besonders zwei zentrale Aspekte festzuhalten: 1. Das Genus hat in seiner ursprünglichen Funktion nichts mit der Markie‐ rung von Sexus zu tun, sondern mit der Markierung von Belebtheit, Agentivität oder Individuiertheit. 46 Tanja Stevanović <?page no="47"?> 9 Siehe hierzu auch Meiser in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). 2. Das Femininum ist später entstanden als das Maskulinum, sodass Mas‐ kulinum und Femininum ursprünglich keine sexusbasierte Opposition zueinander gewesen sein können. Unter Berufung auf diese Erkenntnisse wird immer wieder die Unabhängigkeit von Genus und Sexus betont und der Vorwurf eines diskriminierenden Genussystems aus diachroner Perspektive als unzulässig bewertet (z. B. bei Meineke 2023: 239-245). Allerdings bezieht sich dies nur auf den Befund, dass die Ent‐ stehung des dreigliedrigen Genussystems, wie oben skizziert, nicht mit Sexus zusammenhing. Dass das dritte Genus später (zumindest in einem gewissen Rahmen) mit Weiblichkeit assoziiert wurde und dadurch Frauenbezeichnungen ins Femininum übergegangen sind, wird dabei nicht berücksichtigt. Hajnal (2002: 56) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Semantisierung der Kategorie Genus“. Welches Ausmaß diese Semantisierung seit dem Ahd. an‐ genommen hat, wie weitreichend also die Genus-Sexus-Korrelation in den historischen Sprachstufen des Deutschen wirkt, ist bislang nicht bekannt (siehe dazu Abschnitt 4). Recht gut erforscht ist hingegen der metasprachliche Diskurs über die Kategorie Genus in der Sprachgeschichte. Dieser kann Hinweise darauf geben, inwiefern Genus und Sexus als zusammenhängende Kategorien wahrgenommen wurden, und wird daher im folgenden Abschnitt vorgestellt. 3 Diachrone Wahrnehmung von Genus und Sexus Den Anfang der metasprachlichen Diskussion über die Funktion und Sinnhaftig‐ keit des Genus bildet Protagoras, den Jellinek (1914: 185) als den „Entdecker des Genus“ bezeichnet. 9 Er ist „der erste, der die Bezeichnungen maskulin, feminin und unbelebt […] für Substantive verwendet“ (Naumann 1986: 183) und damit den Grundstein für die weitere Debatte legt. Schon in der griechischen Antike bilden sich zwei gegensätzliche Auffassungen heraus, die sich bis in die Neuzeit gegenüberstehen. Die erste, vertreten von Protagoras und seinen Nachfolgern, stellt einen direkten Zusammenhang zwischen Genus und Sexus her und geht davon aus, dass selbst substantivische Bezeichnungen für Unbelebtes ihr Genus aufgrund ihrer inhärent weiblichen bzw. männlichen Eigenschaften erhalten hätten; sie wird von Royen (1929: 94) als „sexualistische Theorie“ bezeichnet. Nach der zweiten Auffassung, deren früher prominenter Vertreter Aristoteles ist, ist Genus eine rein formal-grammatische Klassifikation von Substantiven, die nichts mit Sexus zu tun hat. Weber (2001: 27) fasst alle dazugehörigen Über‐ legungen als „formal-grammatische Genustheorien“ zusammen. Beide Ansätze Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 47 <?page no="48"?> 10 Zum Umgang mit der Kategorie Genus in deutschsprachigen Fremdsprachenlehr‐ werken siehe Hübner/ Filatkina (2023). Mit der Darstellung der Geschlechter in eben‐ diesen Quellen befasst sich Miehling (2003). 11 Begünstigend wirkte vermutlich die Wiedergabe der lateinischen Bezeichnung Genus in den Grammatiken mit Geschlecht, wie etwa bei Ratke (1619: 7), Gueintz (1641: 34) und Schottel (1663: 261). Dieses polyseme Lexem wurde zwar zunächst in der Bedeu‐ tung ‚Art‘ oder ‚Gattung‘ verwendet, die Bezeichnungen der Genera als Maskulinum und Femininum dürften eine Interpretation von Geschlecht als ‚Sexus‘ aber durchaus befördert haben (vgl. Irmen/ Steiger 2005: 217; Naumann 1986: 185). finden ihre Fortsetzung zunächst bei den lateinischen Grammatikern und später sowohl bei den mittelalterlichen Scholastikern als auch bei den Humanisten, wobei die formal-grammatischen Ansätze insgesamt größere Beachtung finden (vgl. Royen 1929: 8-25). Den ersten Grammatikern, die sich im 16. und 17. Jh. mit der Beschreibung des Deutschen befassen, „liegen philosophische Erörterungen über das Wesen des Genus ganz ferne“ ( Jellinek 1914: 187). 10 Die Genus-Sexus-Korrelation bei Personenbezeichnungen (PB) wird von ihnen als eine semantische Regel unter vielen aufgeführt (z. B. dass Bezeichnungen für Flüsse und Bäume feminin sind). Auch formale Regeln werden genannt (z. B. feminines Genus bei Bildungen auf -ung), ohne dass diese Heterogenität der Regeln problematisiert wird (vgl. exemplarisch die Darstellung bei Gueintz 1641: 34-45). Dies ändert sich jedoch im folgenden Jahrhundert grundlegend. Genus wird nun immer stärker mit Sexus in Verbindung gebracht (vgl. Naumann 1986: 185) und Protagoras’ sexu‐ alistische Theorie erfährt eine Art Renaissance. 11 Gottsched (1762) betrachtet das Genus „von einem philosophischen Standpunkt, wie es in den zuvor besprochenen Werken nicht üblich war“ (Doleschal 2002: 47). Es geht nun nicht mehr nur darum, das Genus als Kategorie des Nomens zu beschreiben, sondern darum, einen Sinn dahinter zu erkennen. Dafür zieht Gottsched das natürliche Geschlecht, den Sexus, heran: Da Menschen und Thiere von zweyerley Geschlechtern; außer diesen aber, viele andere Dinge, weder Mann noch Weib sind, sondern ein unbestimmtes Geschlecht ausmachen: so hat man auch in den Wörtern der Sprachen dreyerley Geschlechter, nämlich das männliche, weibliche und ungewisse eingeführet. (Gottsched 1762: 155) Noch einen Schritt weiter geht Herder (1772), indem er die Entstehung des Genus mit der sinnlichen Wahrnehmung der Umwelt durch den primitiven Urmenschen erklärt. Dieser habe seine gesamte Umwelt als lebendig wahrge‐ nommen und daher allen Entitäten, belebt und unbelebt, aufgrund ihrer typi‐ schen Eigenschaften ein Geschlecht zugewiesen, so „daß sich ihm die Nomina in Geschlechter und Artikel paaren mußten“ (Herder 1772: 85). Diese Idee stößt 48 Tanja Stevanović <?page no="49"?> 12 Nur wenige stellen sich gegen diesen Trend; eine ausführliche Darstellung bietet Naumann (1986: 187-200). 13 Eberharter-Aksu (2014: 75) betont allerdings, dass Grimm die Geschlechterstereotype in seiner Grammatik nicht „naiv […] reproduziere“ und damit seiner eigenen sexistischen Agenda folge. Er sehe die Sprache vielmehr „als ein Ausdruckssystem einer bestimmten historischen Epoche und Kultur“ und komme anhand einer deskriptiven Beschreibung des Wortschatzes zu der Erkenntnis, dass in der Kultur der Indoeuropäer*innen offenbar eine unterschiedliche Bewertung der Geschlechter vorgelegen haben müsse. Daher habe das Maskulinum „das frühere, größere, festere, sprödere, raschere, das thätige, bewegliche, zeugende; das femininum das spätere, kleinere, weichere, stillere, das leidende, empfangende“ (Grimm 1831: 358 f.) bezeichnet. bei den zeitgenössischen Grammatikern auf großen Anklang und Sexus wird nun grundsätzlich als Ursprung des Genus dargestellt. 12 Die Genuszuweisung wird vorwiegend anhand semantischer, stereotyp sexustypischer Eigenschaften hergeleitet; so sei bspw. die Feder wegen ihrer sanften Eigenschaften feminin, der Stein hingegen aufgrund seiner Härte maskulin (vgl. Naumann 1986: 195). Zu größerer Bekanntheit gelangt Herders Theorie zunächst durch Adelung (1782) und später durch Grimm (1831), der dem Genus in seiner Deutschen Grammatik rund 250 Seiten widmet und dessen Entstehung genauso erklärt wie Herder. 13 Die enorme Beliebtheit der sexualistischen Theorie führen Irmen/ Steiger (2005: 218 f.) und Leiss (1994: 294 f.) auf den Zeitgeist im 18. und 19. Jh. und das vorherrschende Interesse an der Anthropologie zurück: Genau genommen besteht die Anthropologie im 18. Jahrhundert ausschließlich aus Sonderanthropologien. Es ist nicht die Wissenschaft vom Menschen, wie der Name suggeriert, sondern die Wissenschaft vom anderen Menschen: den ‚Wilden‘, den ‚Schwarzen‘, den ‚hoch und tief stehenden Nationen‘; in bezug [sic] auf die Frauen ist es die Wissenschaft vom ‚anderen Geschlecht‘. (Leiss 1994: 294) Eine Genustheorie, die auf den systematischen Unterschieden der Geschlechter aufbaut und diese vermeintlich wissenschaftlich herausarbeitet und hervorhebt, konnte sich vor diesem Hintergrund deutlich besser durchsetzen „als rein grammatisch orientierte formale Erklärungen, für die das große Publikum kein Interesse aufzubringen vermochte“ (Leiss 1994: 295). Tatsächlich bleibt diese semantische Interpretation des Genus bis weit ins 20. Jh. hinein die vorwiegende Darstellungsweise - noch in der zweiten Auflage der Duden-Grammatik von 1966 wird Herders sexualistische Theorie wiedergegeben: Einmal beseelte der Mensch, vor allem in früher Zeit, die ganze Natur und sprach vielen Dingen männliche oder weibliche Züge zu, d. h. er prägte die Welt nach seinem Bilde. (Duden-Grammatik 1966: 137) Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 49 <?page no="50"?> 14 Der Nachweis des Zitats in Doleschal (2002: 54) ist inkorrekt. Die Annahme eines direkten Zusammenhangs zwischen Genus und Sexus lässt sich also bis in die Antike zurückverfolgen und hat auch unter den Grammatikern der Neuzeit eine lange Tradition. Dies basiert jedoch nicht auf rein linguistischen Beobachtungen, sondern ist insbesondere im deutsch‐ sprachigen Diskurs seit dem 18 Jh. auch durch außersprachliche Faktoren bedingt. Inwiefern im tatsächlichen Sprachgebrauch früherer Sprachstufen eine Verknüpfung zwischen Genus und Sexus bei PB stattgefunden hat, muss weiter offenbleiben. Ob maskuline PB in der Sprachgeschichte grundsätzlich männlich interpretiert wurden oder ob sie auch für eine geschlechtsübergreifende Lesart genutzt werden konnten, ist Thema des folgenden Abschnitts, in dem die bisherigen Forschungsbeiträge zum geschlechtsübergreifenden Maskulinum in der deutschen Sprachgeschichte, ihre Erkenntnisse und weiterhin bestehende Desiderata vorgestellt werden. 4 Geschlechtsübergreifendes Maskulinum Eine sprachgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung und Verwendung des geschlechtsübergreifenden Maskulinums (GM) im Deutschen wurde bereits vor über 20 Jahren von Doleschal (2002: 40) als Forschungsdesiderat benannt. Ihre Annahme, dass das GM das Ergebnis „von patriarchalem normativem Eingreifen“ (2002: 41) in die Sprache ist und sein Gebrauch in Grammatiken vorgegeben wurde, überprüft sie auf der Grundlage historischer Grammatiken ab dem 16. Jh. Zu ihrer Überraschung wird das GM in den Grammatiken des 16. bis 18. Jh. jedoch nicht erwähnt. Im Gegenteil wird bei den PB zumeist deutlich zwischen den „Nahmen der Männer“ und den „Nahmen der Weiber“ unterschieden (u. a. bei Schottel 1663: 263-265). Den frühesten Hinweis auf die Möglichkeit, sich mit Maskulina auf Frauen zu beziehen, findet Doleschal im vierten Teil der Grammatik von Jacob Grimm (1898: 333f.): 14 Mhd. steht das schwache adj. masc. substantivisch auch für die weibliche bedeutung: der tôte, der heilige […] Daher die bezeichnung der frau vielfach durch masc. substan‐ tiva mit vertreten […] nhd. die jungfer mir zum freunde machen […] mhd. ein herr hat einen lieben bulen […]. Allerdings schreibt er diesen Sprachgebrauch keineswegs vor, sondern erwähnt ihn eher beiläufig. Die erste explizite Beschreibung des GM gibt Brinkmann (1962), vollständig behandelt wird das Phänomen erst bei Eisenberg (1986) (vgl. Doleschal 2002: 59 f.). Insgesamt kommt Doleschal zu dem Schluss, dass es 50 Tanja Stevanović <?page no="51"?> nicht die Grammatiker waren, die „für die Durchsetzung männlicher Personen‐ bezeichnungen in geschlechtsabstrahierender Bedeutung verantwortlich sind“ (2002: 62). Wie das GM entstanden ist und seit wann es verwendet wird, kann sie anhand ihrer Studie nicht beantworten. Aus der Tatsache, dass das GM in historischen Grammatiken nicht beschrieben wird, könne man jedoch nicht automatisch ableiten, dass es das Phänomen nicht gegeben hat. Daher betont sie nochmals die Notwendigkeit, „den Sprachgebrauch früherer Epochen bezüglich des generischen Maskulinums zu untersuchen“ (2002: 66). Einen ähnlichen Ansatz wie Doleschal verfolgen Irmen/ Steiger (2005), die Ge‐ nustheorien und Grammatiken von der Antike bis ins 20. Jh. auf Einstellungen und Argumentationen in Bezug auf Genus, Sexus und das GM durchsuchen. Sie führen zahlreiche Indizien dafür an, „dass die sprachliche Konvention des generischen Maskulinums vor einem ideologischen Hintergrund entstanden ist“ (2005: 214). Dass das Maskulinum sich als Allgemeinform für PB durchgesetzt hat, beruhe weder auf einem Zufall noch resultiere es aus Gegebenheiten inner‐ halb des Sprachsystems; es handle sich vielmehr um das Ergebnis patriarchaler Strukturen. Über den gesamten Untersuchungszeitraum stoßen die Autorinnen immer wieder auf die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Genus und Sexus und der Überlegenheit des männlichen Sexus, und diese „Annahme […] begründete schließlich das Konzept des generischen Maskulinums“ (2005: 230). Abschließend halten sie wie Doleschal fest: Entstehung und Einführung des generischen Maskulinums im Deutschen bleiben aber letztendlich ungeklärt […], weil konkrete historische Testate über die sprachliche Konvention für das Deutsche fehlen. (2005: 230) Untersuchungen, die anhand konkreten historischen Sprachmaterials für oder gegen die historische Existenz des GM argumentieren, gibt es nach wie vor nur wenige. Kochskämper (1999) untersucht Männer- und Frauenbezeichnungen im Ahd. und macht einige Beobachtungen, die sie zu Vermutungen über das GM im Ahd. veranlassen. So konstatiert sie einen ausgeprägten male bias für das Ahd., also eine ganz grundsätzliche Gleichsetzung von ‚Mann‘ und ‚Mensch‘, während die Frau immer „als menschlicher ‚Sonderfall‘ erscheint“ (1999: 184). Außerdem sichtet sie Textstellen, in denen eine maskuline PB mit einem Zusatz versehen wird, der die geschlechtsübergreifende Referenz erläutert (z. B. sînen iungerôn, wîben unde mannan ‚seinen Jüngern, Frauen und Männern‘). Diese Befunde veranlassen Kochskämper (1999: 186) zu der Annahme, „daß Frauen sich vom grammatischen ‚generischen‘ Maskulinum nicht ohne weiteres mitgemeint fühlen konnten“. Eisermann (2004: 2003 f.) gibt allerdings in Bezug auf Formulierungen wie cremer, frowen unde man ‚Krämer, Frauen und Männer‘ Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 51 <?page no="52"?> 15 Ihr Beitrag basiert allerdings nicht auf einer systematischen Untersuchung, sondern auf der gezielten Suche nach bestimmten Lexemen. Außerdem bleibt unklar, wie genau die Autor*innen bei der Suche vorgegangen sind und auf welche Datengrundlage sie sich beziehen, da entsprechende Angaben fehlen. 16 Unter anderem Belege aus Otfrids Evangelienharmonie, Die Gäuchmatt von Thomas Murner, Tugent spyl von Sebastian Brant, Ulrichs von Liechtenstein Frauenbuch, Biterolf und Dietleib, Konrads von Kilchberg Lied 3, Barlaam und Josaphat und Hartmanns von Aue Iwein. zu bedenken, dass derartige Belege nicht automatisch gegen die Existenz des GM sprechen, sondern im Gegenteil auch als Nachweis des GM verstanden werden könnten, wenn man den Zusatz frowen und man als Apposition versteht. Außerdem sichtet Eisermann in literarischen Schriften des 18. und 19. Jh. einige maskuline PB (Arzt, Professor, Medikus, Anwalt, Bratenkoch, Tagelöhner), die sich eindeutig auf eine weibliche Romanfigur beziehen (vgl. 2004: 208). Trutkowski/ Weiß (2023: 24) sind überzeugt, dass das GM „seit dem AHD, und stabil, d. h. in allen Epochen nachweisbar, im Grammatiksystem des Deutschen verankert ist“. Dabei berufen sie sich auf die Erkenntnisse der indoeuropäischen Genusforschung, die einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen Genus und Sexus negieren (siehe Abschnitt 2). Das Maskulinum sei sprachhistorisch gesehen die Fortsetzung der ehemals belebten Substantivklasse und stelle daher das Defaultgenus für PB dar, ohne Bezug zum Sexus. Hierbei berufen sie sich auf Hajnal (2002: 64): Der generische Gebrauch des sexusmännlichen Nominalstamms ist im Prinzip das Relikt aus einer Sprachstufe, in welcher ein feminines Genus noch nicht bzw. noch nicht ausreichend etabliert ist. Um diese Argumentation für das GM in der deutschen Sprachgeschichte mit Belegen zu untermauern, präsentieren Trutkowski/ Weiß (2023) einige ahd., mhd. und frnhd. Textstellen, in denen Maskulina sich auf gemischtgeschlecht‐ liche Gruppen oder auf eine einzelne Frau beziehen. 15 Aufgrund dieser Belege kommen sie (2023: 35) zu dem Schluss, dass die vielfach geäußerten Zweifel am Alter des generischen Maskulinums im Deutschen als widerlegt gelten [können]. Es war schon immer Teil der Grammatik des Deutschen. Allerdings stammt der größte Teil der präsentierten Belege aus gereimten Texten, 16 in denen das Metrum und der Reim Einfluss auf die Auswahl der jeweiligen PB genommen haben dürften und ggf. die Verwendung einer Mo‐ vierung oder Doppelnennung blockiert haben. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich außerdem, dass etwa die Hälfte der präsentierten Belege keine geschlechts‐ übergreifende Verwendung nachweisen, da der Kontext der Belegstelle dazu 52 Tanja Stevanović <?page no="53"?> 17 Kopf (2023: 22) sichtet im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch 38 Belegstellen mit weib‐ lichem Subjekt und femininem Prädikativ, dagegen nur zwei maskuline Prädikative. 18 Einigen der oben skizzierten Fragestellungen gehe ich in meinem Dissertationsprojekt nach (Betreuerin: Prof. Natalia Filatkina, Universität Hamburg), in dem ein Korpus aus mittelalterlichen Stadtrechtstexten hinsichtlich aller PB und textimmanenten Hinweise auf die Sexusreferenz systematisch untersucht wird. keine näheren Anhaltspunkte liefert - eine geschlechtsübergreifende Lesart scheint Trutkowski/ Weiß lediglich naheliegend (vgl. 2023: 28, 30, 32). Bei den meisten restlichen Belegen handelt es sich um Prädikativkonstruktionen. Laut Kopf (2023: 220), die Prädikativkonstruktionen mit weiblichem Subjekt seit dem Ahd. korpuslinguistisch untersucht, handelt es sich bei Prädikativen „um einen eher atypischen Fall“ des GM, da sie nicht referieren; diese Fälle können demnach zu der Frage nach dem Alter des GM im Deutschen „nur wenig beitragen“. Das Maskulinum war laut Kopf (2023: 220) „nie die dominierende Form in Prädikativkonstruktionen mit weiblichem Subjekt“, sondern lediglich eine Randerscheinung. 17 Außerdem vermutet sie, dass nicht alle Maskulina für eine Verwendung als GM gleichermaßen geeignet waren, denn in den historischen Belegen (etwa bei Grimm 1898: 334, Behaghel 1928: 34 f., Wilmanns 1899: 310 f.) treten immer wieder dieselben Lexeme auf - darunter die von Trutkowski/ Weiß herangezogenen Ausdrücke Gast, Freund, Feind und Nachbar (vgl. Kopf 2023: 204). Es gilt also, noch zu klären, inwiefern das GM auch in nicht-prädikativen Kontexten verwendet wurde, wenn kein zusätzlicher Reimzwang besteht, und ob es lexemspezifische Restriktionen gab (abgesehen von offensichtlichen, au‐ ßersprachlich bedingten Fällen wie Papst, Kaiser usw.). Ein weiterer ungeklärter Aspekt ist die Gebrauchshäufigkeit des GM, da bislang nur vereinzelte Belege vorliegen. Gänzlich unbekannt ist außerdem, ob es in der Verwendung des GM eine diachrone Entwicklung gab, ob seine Verwendung (und Funktionalität) also durch die Jahrhunderte hinweg stabil geblieben ist oder es Veränderungen gegeben hat. Schließlich bleibt, besonders in nicht-prädikativen Kontexten, die Frage nach der rezipientenseitigen Wirkung: Wurden durch das GM gleicher‐ maßen männliche und weibliche Vorstellungen evoziert - auch in Äußerungen, in denen keine Frauenbezeichnung oder ein feminines Pronomen im unmittel‐ baren Kotext auftritt? Dies ist im Hinblick auf die heutige Debatte zentral, da aus gegenwartssprachlicher Sicht ja besonders die gleichberechtigte gedankliche Einbindung aller Geschlechter beim GM in Frage gestellt wird. 18 Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 53 <?page no="54"?> 19 Bösewichtin wurde 2006 in die 24. Auflage des Rechtschreib-Dudens aufgenommen, Gästin 2009 in die 25. Auflage. 5 Femininmovierung mit -in Ein weiteres zentrales Thema der feministischen Linguistik ist die Bildung weiblicher PB mit dem Suffix -in. Da die feminine Form von einer maskulinen PB abgeleitet wird, „entstehe eine Asymmetrie, welche die gesellschaftliche Benachteiligung der Frau bzw. ihre Abhängigkeit vom Mann auch in der Sprache widerspiegle“ (Hajnal 2002: 3, vgl. auch Trömel-Plötz 1978: 56). Aus historischer Perspektive stellt sich hinsichtlich der Femininmovierung daher die Frage, wie diese Asymmetrie ursprünglich entstanden ist und ob dafür sexistische Strukturen in der Gesellschaft oder vielmehr sprachinterne Gründe verantwortlich sind. Ein weiterer Punkt, der im aktuellen Diskurs immer wieder aufgegriffen wird, ist die Frage nach Bildungsrestriktionen der in-Movierung. So hält Loheide (2021) die inzwischen 19 im Duden aufgeführten Bildungen Gästin und Bösewichtin für „abenteuerliche Duden-Kreationen“. Doch wie sieht es hinsichtlich solcher Bildungsrestriktionen in der Sprachgeschichte aus - bestanden sie schon immer oder handelt es sich dabei um ein neues Phänomen? Etymologisch lässt das in-Suffix sich auf das ie. Formans *-ih 2 zurückführen, das laut Hajnal (2002: 50) in vorindoeuropäischer Zeit einmal ein sexusindif‐ ferentes Zugehörigkeitssuffix war, wie noch vereinzelte Bildungen erkennen lassen (altindisch rathī́ - ‚Wagenlenker‘, abgeleitet von ratha- ‚Wagen‘, also wörtlich ‚der zum Wagen Gehörende‘). Bereits im frühen Indoeuropäischen habe *-ih 2 jedoch eine Konnotation [+weiblich] angenommen, da Zugehörig‐ keitsbildungen vorwiegend weibliche Personen bezeichneten. Die Entstehung dieser Konnotation erklären sowohl Hajnal (2002: 67) als auch Litscher (2018: 131) mit den gesellschaftlichen Bedingungen: Wenn „zu grammatisch dem alten belebten Genus angehörenden und faktisch auf Männer referierenden“ PB zugehörigkeitsanzeigende Ableitungen gebildet wurden, „die auf zu ihrer Ein‐ flusssphäre gehörende Personen referierte[n]“ (Litscher 2018: 131), so handelte es sich in aller Regel um Frauen. Dies hänge damit zusammen, dass die gesellschaftliche Stellung der Frau in der relevanten Zeit durch ihre Position im [sic] Bezug auf einen Mann definiert war, weshalb abgeleitete Frauenbezeich‐ nungen prinzipiell sehr plausibel werden. (2018: 127) Diese Genese des Movierungssuffixes aus einem zugehörigkeitsanzeigenden Suffix erklärt, warum movierte Feminina eine maskuline (< belebte) PB als Ablei‐ tungsbasis erfordern und somit asymmetrisch gebildet werden. Demnach ließe sich die asymmetrische Bildungsweise der in-Movierung tatsächlich auf patri‐ 54 Tanja Stevanović <?page no="55"?> 20 Interessant ist hier, dass das in-Suffix in dieser Hinsicht kein Einzelfall ist: Auch das im niederdeutschen Raum verwendete Movierungssuffix -sche hat sich diachron aus einem Zugehörigkeitsmarker (germ. *-iska) entwickelt (vgl. Schmuck 2017: 34; Werth 2015: 57), was eine grundsätzliche Assoziation von Frauen und Zugehörigkeit im germanischen Kulturraum nahelegt. archale Gesellschaftsstrukturen zurückführen. 20 Allerdings zeigen verschiedene Untersuchungen, dass die Zugehörigkeitsbzw. Abhängigkeitskomponente des in-Suffixes im Laufe der Sprachgeschichte immer weiter abgebaut wurde. Rabofski (1990), die Movierungen im Gotischen, Ahd. und Altenglischen untersucht, attestiert den frühen ahd. in-Movierungen wie cuningin ‚Frau des Königs‘ noch eine starke Zugehörigkeitsbedeutung, im Unterschied zu Bildungen mit -a und -āra wie meistra ‚Meisterin‘ und salbāra ‚Salbenhändlerin‘, die „eher die Tätigkeiten aus[drücken], die Frauen ausüben, nicht den Bezug zu anderen Personen“ (1990: 47). Im Gegensatz zu -in handelt es sich bei den Movierungen mit -a und -āra um symmetrische Bildungsweisen, denen die maskulinen Suffixe -o bzw. -āri gegenüberstehen. Anders als im Nhd. konnten weibliche PB im Ahd. demnach anhand eines symmetrischen Verfah‐ rens gebildet werden. Gegen Ende der ahd. Periode unterliegen -a und -āra jedoch zunehmend der Nebensilbenabschwächung, sodass sie lautlich mit den maskulinen Suffixen -o und -āri in -e und -er zusammenfallen und somit nicht mehr geeignet sind, weiblichen Sexus eindeutig zu markieren. Im Zuge dieser Entwicklung übernimmt das - von dieser Abschwächung nicht betroffene - Suffix -in die sexusanzeigende Funktion und wird so zum wichtigsten und produktivsten Movierungssuffix des Deutschen (vgl. Rabofski 1990: 51). Dass sich für die Femininmovierung im Deutschen die asymmetrische Bildungsweise durchgesetzt hat, wurde laut Stephan (2009: 371 f.) ausschließlich durch das Bedürfnis nach einer lautlichen Verstärkung der geschlecht‐ lichen Opposition vorangetrieben. […] Die Bezeichnungsasymmetrien erscheinen sprachlich und zwar phonetisch und nicht sozial bedingt zu sein. Rabofski (1990: 145) wirft dagegen die Frage auf, warum ausgerechnet weibliche PB nach der Nebensilbenabschwächung asymmetrisch abgeleitet wurden - denkbar wäre ja auch gewesen, dass sich eine neue symmetrische Möglichkeit herausgebildet hätte. Sie vermutet, dass dies mit der Christianisierung zusam‐ menhängt und die in der kirchlichen Ideologie bestehende Selbsterhebung des Mannes zur Norm und die daraus resultierende Position der Frau, die von dieser Norm abhängig und nur in Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 55 <?page no="56"?> 21 Kochskämper (1999: 187) stellt fest, dass auf der lexikalischen Ebene keine Symme‐ trie zwischen den Geschlechtern bestand. Frauen seien fast ausschließlich in ihrer Beziehung zum männlichen Geschlecht und ihrer Eigenschaft als „Geschlechtswesen“ bezeichnet und differenziert worden und zudem sehr selten überhaupt in den Quellen erwähnt worden, während Bezeichnungen für Männer „in erheblich stärkerem Maße durch Faktoren wie Lebensalter, sozialer Stand, Herrschaft, unterschiedliche Abhän‐ gigkeitsverhältnisse und berufliche Tätigkeiten bestimmt sind“ (ebd.). 22 Dabei bezieht sie sich auf Schulze (2009: 858): „unter dem Einfluß des christl. Perso‐ nenverständnisses […] wandelte sich die Stellung der Frau in der Ehe und bei der Eheschließung tiefgreifend durch das Verständnis der Ehe als wechselseitige Treuebe‐ ziehung und die Einführung des Konsensprinzips“. 23 Die onymische Movierung stand in den letzten Jahren im Fokus zahlreicher Untersu‐ chungen, siehe u.-a. Werth (2022; 2015), Steffens (2019), Möller (2017), Schmuck (2017) und Mottausch (2004). bezug [sic] auf diese Norm überhaupt definierbar ist (= 1. Bedeutung ‚Frau des X‘), sich morphologisch in einem Derivationsverhältnis niederschlagen. (1990: 151) Kochskämper (1999: xxii, 463) wendet ein, die Ungleichheit der Geschlechter sei trotz eines symmetrischen Systems im Bereich der Wortbildung schon vor der Christianisierung in der Sprache verankert gewesen, 21 und die Christianisierung habe die Stellung der Frau gegenüber dem zuvor vorherrschenden germanischen Recht sogar verbessert. 22 Dennoch geht auch sie davon aus, dass die asymme‐ trische Femininmovierung mittels -in ein Reflex der patriarchalen Gesellschaft ist. Seit dem späten Ahd. erfüllt das Suffix -in also mehrere Funktionen: Als Fortsetzung der ursprünglichen Zugehörigkeitsmarkierung wird es zur matrimoniellen Movierung eingesetzt, mit der die Zugehörigkeit der Frau zum Ehemann ausgedrückt wird, entweder mit appellativischer Basis (z. B. mhd. grævinne ‚Gräfin, Frau eines Grafen‘) oder mit onymischer 23 Basis (z. B. die Lutherin ‚Ehefrau von Martin Luther‘, vgl. Schmuck 2017: 33). Neben der Zugehörigkeit zum Ehemann wird (seltener) auch die Zugehörigkeit zum Vater bzw. allgemein zu einem Familiennamen ausgedrückt (vgl. Eisermann 2004: 51). Zusätzlich wird -in zur funktionellen Movierung eingesetzt, also zur Bildung weiblicher PB ohne Bezug zu einem Mann (z. B. vîendinne ‚Feindin‘). Klein et al. (2009: 139) weisen darauf hin, dass es im Mhd. nicht immer möglich ist, zwischen matrimonieller und funktioneller Movierung zu unterscheiden, weil bspw. die Ehefrau eines Bauern auch selbst eine Bäuerin ist. Mit dieser jahrhundertelang bestehenden Polysemie befasst sich Eisermann (2004); sie untersucht weibliche Berufsbezeichnungen vom 16. bis 19. Jh. und stellt die Frage, wie die Zeitgenoss*innen die mehrdeutigen Movierungen im Einzelfall disambiguieren konnten. Sie kommt zu dem Schluss, dass letztlich nur das 56 Tanja Stevanović <?page no="57"?> spezifische Weltwissen darüber, „welche Aufgaben und Funktionen von Frauen übernommen werden können und welche nicht“, zur richtigen Interpretation führen konnte. Die historische Ambiguität der Movierungen zeigt sich auch in der inkonsistenten Darstellung historischer Grammatiken. So behauptet Gottsched (1762: 201), für eine funktionelle Movierung würden Komposita mit Zweitglied -frau verwendet, während das Movierungssuffix -in nur für die matrimonielle Movierung genutzt werde: Und dieß geschieht wenn diese wirklich selbst in Diensten stehen; als da sind: Der Kammerherr - die Kammerfrau, der Kammerjunker - das Kammerfräulein […] Hergegen wo das Frauenvolk nicht selbst die Dienste thut, da behalten sie den Namen ihrer Männer, mit einer weiblichen Endung. Z. E. Minister - Ministerinn, Geheimer Rath - Geheime Räthinn […]. Aichinger (1754: 191-192) vertritt hingegen die Auffassung, das in-Suffix werde für beide Funktionen eingesetzt: Es werden demnach bewegt […] Die männlichen Ämter, Würden, Handwerke und Lebensarten, in deren Ansehung ein Weib entweder auch ist, was der Mann ist, z. B. Fürst, Fürstinn, Wirth, Wirthinn, Bauer, Bäuerinn, Narr, Närrin, Dieb, Diebinn; oder nur nach ihrem Ehemanne genennet wird, als: Bürgermeisterinn, Pfarrerinn, Richterinn, Schreinerinn, Schusterinn. Die matrimonielle Movierung von Eigennamen wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jh. abgebaut und ist seitdem nur noch im dialektalen Gebrauch vertreten (vgl. Werth 2022; Mottausch 2004). Auch die matrimonielle Movierung appella‐ tivischer Basen ist im heutigen Standarddeutschen nicht mehr gebräuchlich (vgl. Doleschal 1992: 32); m. W. liegen bislang aber keine Untersuchungen dazu vor, wann genau sie unüblich wurde. Der Abbau der matrimoniellen Movierung lässt sich nach Plank (1981: 118 f.) mit außersprachlichen Entwicklungen begründen: die matrimonielle Movierungsbedeutung kann nur resultieren, wenn der vom Basis-Element bezeichnete Beruf oder Stand derart ist, daß er in der jeweiligen Gesellschaftsform Männern vorbehalten ist oder zumindest eine weitgehend männ‐ liche Domäne ist. Bei nicht ausgeprägt geschlechtsspezifischen Berufen/ Ständen kommt, genauso wie bei Basis-Elementen, die keinen Beruf/ Stand bezeichnen, nur die funktionelle Lesart in Betracht […]. Aufgrund der pragmatischen Bedingung der Wortbildungsregel wird die matrimonielle Bedeutungsvariante umso weniger ausgeprägt sein, je emanzipierter, d. h. je unbeschränkter in der Berufswahl und je unabhängiger von den Statusattributen des Ehemanns, die Frau in der Gesellschaft ist. […] Freilich kann die Regel im Lauf der Zeit dann obsolet werden, wenn ihr jeglicher Input dadurch entzogen wird. Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 57 <?page no="58"?> 24 Kopf (2022: 71) weist allerdings auch auf die Notwendigkeit hin, zu klären, „ab welcher Gebrauchsfrequenz man ein Lexem überhaupt als movierbar anerkennt“. 25 Produktivität wird hier mit Kopf (2022: 67) „als Verlust von Wortbildungsrestriktionen gefasst“. 26 Empirische Untersuchungen, die weibliche PB in den historischen Sprachstufen sichten und dem in-Suffix seit Ende des Ahd. hohe Produktivität attestieren, finden sich bei Klein et al. (2009), Stephan (2009), Eisermann (2004), Henning (1991) und Rabofski (1990). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Movierungssuffix -in aus historischer Perspektive insofern in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen steht, als der semantische Inhalt ‚Zugehörigkeit‘ mit Weiblichkeit assoziiert wurde. Außerdem hätte nach dem Verlust der symmetrischen Bildungsweisen mit -a und -āra (zumindest theore‐ tisch) ein neues symmetrisches Modell entstehen können; stattdessen etablierte sich ein asymmetrisches System mit einem alten Zugehörigkeitssuffix. Ob diese Entwicklung rein lautlich bedingt oder gesellschaftlich begründet war, konnte bislang nicht abschließend geklärt werden. Es zeigt sich jedoch, dass die zunehmende gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter sich in der Femininmovierung widerspiegelt: Das in-Suffix hat die Zugehörigkeitskompo‐ nente im Laufe der Zeit aufgegeben und in der heutigen Standardsprache besteht seine einzige Funktion in der Bezeichnung einer weiblichen Person, unabhängig von einer männlichen Bezugsperson. Im Gegenwartsdeutschen unterliegt die in-Movierung, wie oben bereits angesprochen, gewissen Bildungsrestriktionen. Laut Doleschal (1992: 36 f.) sind einige Basiswörter aus phonologischen, morphologischen und semantischen Gründen von der Movierung ausgeschlossen. Dies betrifft u. a. Basen mit femininem oder neutralem Genus (*Wachin, *Kerlchenin) oder vollvokalischem Auslaut (*Naziin), substantivierte Adjektive (*Reichin, *Angestelltin), Derivate auf -ling (*Flüchtlingin), Metonyme (*Vorständin) sowie einige „idiosynkratische Ausnahmen“ (*Gästin, *Schuftin). Aus heutiger Sicht sind nicht mehr alle Re‐ striktionen uneingeschränkt gültig; laut Kopf (2022: 68) ist bspw. die Vorständin inzwischen belegt. 24 Dass die Movierbarkeit diachronen Schwankungen unter‐ liegt, macht auch der Blick in die ältere Sprachgeschichte deutlich. Nachdem das Suffix gegen Ende der ahd. Periode die Funktionen von -a und -âra übernommen hatte, stieg seine Produktivität 25 an, da es in diesem Zuge die Beschränkung auf matrimonielle Bildungen ablegte. 26 Als Derivationsbasis kommen im Ahd. nur maskuline PB und (seltener) Tierbezeichnungen in Frage (vgl. Rabofski 1990: 45). Klein et al. (2009: 97f.) stellen mit Bezug auf Movierungen im Mhd. fest: „Die Basissubstantive sind etwa zur einen Hälfte Simplizia und zur anderen Ableitungen auf -er(e); andere Derivate werden nicht 58 Tanja Stevanović <?page no="59"?> moviert. Nur in wenigen Fällen bilden Komposita die Basis.“ Die heute stark umstrittene Bildung Gästin ist tatsächlich keine „Duden-Kreation“, sondern schon im 13. Jh. belegt (vgl. MWB Bd. 2, Sp. 602). Kopf (2023: 204) nimmt an, dass schwache Maskulina im Mhd. seltener moviert wurden, weist jedoch darauf hin, dass zumindest vereinzelt auch Formen wie botinne und genôzinne belegt sind (vgl. MWB Bd. 1, Sp. 950, Bd. 2, Sp. 470). Im weiteren Verlauf stieg die Produktivität der in-Movierung weiter an. Laut Kopf (2023: 207) sind etwaige Movierungsbeschränkungen für schwache Maskulina im 17. Jh. „längst überwunden“. Möller (2017) findet in seinem Korpus frühneuzeitlicher Hexenverhörprotokolle sowohl Movierungen mit substantivierten Adjektiven bzw. Partizipien als Basis (gefangenin, verhafftin, angeklagtin, verwandtin) als auch (pleonastische) Movierungen mit femininer Basis wie hexin, Wittibin ‚Witwin‘ und dochtterinne. Das DWB (Bd. 4, Sp. 131) führt mit Fremdlingin auch ein moviertes ling-Derivat an. Auf heute ungrammatische Bildungen wie Heiligin und Deutschin stößt auch Doleschal (2002: 46) in Grammatiken des 17. Jh. Die Ansicht, dass Movierungen mit adjektivischer Basis (Heiligin) „fehlerhaft sind“, findet sie zuerst bei Adelung (1782: 325). Doleschal (2002: 60) nimmt jedoch an, dass die in-Movierung erst seit Anfang des 20. Jh. den oben genannten systematischen Bildungsbeschränkungen unterliegt. Kopf (2022), die die Movierung von Anglizismen im Gegenwartsdeutschen untersucht, stellt fest, dass einige dieser Restriktionen inzwischen im Abbau begriffen sind (vgl. 2022: 67-71). Angesichts des gestiegenen Benennungsbedarfs im Zuge der zunehmenden Gleichberechtigung der Geschlechter sei bei Movierungen, diachron gesehen, grundsätzlich mit dem Abbau von Restriktionen zu rechnen: Letztlich erweisen sich also viele Restriktionen als temporär und vom Bezeichnungs‐ bedarf für Frauen überschreibbar […]. Interessant ist also nicht, ob Restriktionen fallen, sondern wann, in welchem Umfang (Movierungsanteile) und in welcher Reihenfolge. (2022: 70) Daher wäre zu klären, warum im Zeitraum vom 18. bis zum 20. Jh. offenbar manche Restriktionen aufkamen, die zuvor nicht galten. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit dem Aufkommen eines metasprachlichen Bewusstseins für das GM, wie es sich laut Doleschal (2002) in der Grammatikschreibung seit Grimm manifestiert. Für eine umfassende Beleuchtung dieser Entwicklung wären auch hier systematische Erhebungen notwendig. Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 59 <?page no="60"?> 27 Vgl. dazu Splett (1993: 590), AWB (Bd. 6, Sp. 162), BMZ (Bd. II/ 1, Sp. 30a), Lexer (Bd. 1, Sp. 2021). 6 Indefinitpronomen man Das Indefinitpronomen man wurde seitens der feministischen Linguistik kriti‐ siert, da es auf das Substantiv man zurückgeht und dadurch für eine geschlechts‐ neutrale Referenz ungeeignet sei: Was rufen nun die Maskulina man und jedermann den Frauen ins Gedächtnis? Richtig - das Wort Mann, und es gibt inzwischen zahllose Texte und Kontexte, in denen diese Assoziation störend bis widersinnig wirken muß. In solchen Kontexten verwendet frau deshalb lieber und sinniger frau und jedefrau. (Pusch 1979: 93) Da hier unmittelbar Bezug auf die Etymologie genommen wird, bietet sich eine sprachgeschichtliche Betrachtung besonders an. Von Polenz (1988: 153) weist die Kritik an dem Pronomen man zurück, da sie aus sprachhistorischer Perspektive nicht zu rechtfertigen sei: Das Pronomen man ist vor mehr als einem Jahrtausend aus dem (auch in Mensch steckenden) substantivischen Stamm man entstanden, der ursprünglich und z. T. noch im Alt- und Mittelhochdeutschen ,Mensch allgemein‘ bedeutete. […] Daß beim Sub‐ stantiv Mann die Bedeutung allmählich auf ,männlicher Mensch‘ eingeengt wurde, ist eine Folge patriarchalischer Sozialordnung, also androzentrischen Sprachgebrauchs. Davon war aber das orthographisch vom Substantiv ferngerückte Pronomen man nicht betroffen. Die ursprünglich noch allgemeine Bedeutung ‚Mensch‘ neben der geschlechts‐ spezifischen Bedeutung ‚Mann‘ wird dem Substantiv man auch von allen gängigen Wörterbüchern 27 des Ahd. und Mhd. attestiert. Anders als von Po‐ lenz geben Braune/ Heidermanns (2018: 348) zum Pronomen man im Ahd. an, dass die „Grundbedeutung ‚Mensch, Mann’ des Substantivs […] meist noch durchzufühlen“ sei. Kochskämper (1999: 464) stellt nach Durchsicht ihres ahd. Belegmaterials die Bedeutung ‚Mensch‘ für das Substantiv man im Ahd. grundsätzlich in Frage: Weder in substantivischem noch in pronominalem Gebrauch hat man in der Ge‐ schichte seiner deutschen Überlieferung jemals eindeutig ‚Mensch‘ in einem ge‐ schlechtsindifferenten oder zwiegeschlechtlichen Sinn bedeutet. Der Einsatz von man in allgemeineren, nicht explizit auf den Sexus bezogenen Kontexten sei kein Hinweis auf eine Polysemie ‚Mensch, Mann‘, „sondern eine traditionelle Unschärfe in der Trennung der Begriffe ‚Mensch‘ und ‚Mann‘“ 60 Tanja Stevanović <?page no="61"?> (1999: 402), da der Mensch grundsätzlich als Mann konzeptualisiert wurde. Deshalb könne das Pronomen man im Ahd. bei rein weiblicher Referenz nicht eingesetzt werden (1999: 403). Um dies zu bekräftigen, führt sie eine Belegstelle an, in der bei weiblicher Referenz ein quasi-pronominal verwendetes wîb steht (1999: 185): (1) so wîb in sulihu ofto duat ‚wie frau/ eine Frau es in solchen Fällen oft tut‘ Dadurch sieht sie die Argumente der feministischen Sprachkritik bestätigt: Sowohl beim Substantiv als auch beim Pronomen man sei im Ahd. von einem „männlichen Bedeutungsüberhang“ (1999: 459) auszugehen. In dieselbe Rich‐ tung weist auch die Angabe im DWB zum gemeingermanischen Substantiv man: das gemeingermanische wort […] meint allerdings den menschen ohne rücksicht auf das geschlecht; aber da nach der altgermanischen rechtlichen anschauung nur der mann im vollbesitze des menschlichen wesens sich befindet, so liegt von uralter zeit her in dem worte bereits die heutige bedeutung beschlossen, und tritt gelegentlich so scharf wie heute hervor. (DWB Bd.-12, Sp. 1553) Der Bezug des Pronomens zum Substantiv man ist auch im Mhd. insofern ersichtlich, als es dort - wie im Ahd., aber anders als im Nhd. - noch mit dem maskulinen Pronomen er wiederaufgegriffen werden kann (vgl. Fobbe 2004: 124). In den neueren Grammatiken des Mhd. finden sich keine Angaben zu einer möglichen Sexusspezifik des Pronomens (vgl. Klein et al. 2018: 415; Paul 2007: 226). Die Ausführungen zum Pronomen man in historischen Grammatiken legen allerdings nahe, dass der semantische Bezug zum Substantiv man im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte verloren ging. Laut Doleschal (2002: 50) geht Aichinger (1754: 260) als einer der ersten auf die allgemeine Verwendungs‐ möglichkeit von man ein: Man deutet also die allerungewissesten Personen an: und ich kann mir darunter einen, zween, zehen, hundert, tausend, bekannte, unbekannte Menschen männliches und weibliches Geschlechtes einbilden. Auch Adelung (1782: 691) ordnet man als sexusindefinites Pronomen ein, ebenso wie Grimm (1837: 221), der explizit auf dessen geschlechtsneutrale Verwendungsmöglichkeit hinweist: in solcher unbestimmtheit darf es denn, wie jemand und niemand, auch von frauen gesagt werden, da der wirkliche begrif man = vir ungefühlt darin enthalten ist. Anhand der bisherigen Forschung ergibt sich also das Bild, dass man in den Anfängen des Deutschen durchaus noch mit dem Substantiv man in Verbindung Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 61 <?page no="62"?> 28 Näheres zum Projekt unter https: / / tp2.forschungsgruppe-pronomen.de/ (zuletzt einge‐ sehen am 11.04.24). gebracht wurde und zumindest in bestimmten Kontexten mit Männlichkeit assoziiert wurde. Nach übereinstimmenden Angaben in den Grammatiken seit dem 18. Jh. haben Pronomen und Substantiv sich später jedoch voneinander entfernt; ein „männlicher Bedeutungsüberhang“ wurde schon zu Adelungs Zeiten nicht mehr wahrgenommen. Eine eingehende diachrone Untersuchung des Pronomens man steht weiterhin aus; es sei jedoch darauf hingewiesen, dass dieses Forschungsdesiderat derzeit im Rahmen des DFG-geförderten Teil‐ projekts „Referenzielle Praxis im Wandel: Das Pronomen man in der Diachronie des Deutschen“ unter der Leitung von Antje Dammel bearbeitet wird. 28 7 Resümee: Desiderata und Möglichkeiten der historischen Genderlinguistik In diesem Beitrag wurden vier zentrale Themengebiete der Genderlinguistik - das Verhältnis zwischen Genus und Sexus, das geschlechtsübergreifende Maskulinum, die Femininmovierung mit -in und das Indefinitpronomen man - aus sprachhistorischer Perspektive beleuchtet. Wie gezeigt werden konnte, liegen bereits einige Erkenntnisse zu den sprachgeschichtlichen Hintergründen dieser genderlinguistischen Themenfelder vor, die in der medialen Debatte und selbst im Forschungsdiskurs um die gendergerechte Sprache allerdings nur selten berücksichtigt werden. Gleichzeitig bleiben viele Fragen offen, die noch näher zu untersuchen sind. Hier konnten exemplarisch vor allem im Themenbereich des GM zahlreiche Aspekte aufgezeigt werden, die im Hinblick auf eine systematische historische Erforschung des Phänomens noch gründlich untersucht werden müssen. Nur mit solchen Untersuchungen kann ein wirk‐ licher Beitrag zur genderlinguistischen Debatte geleistet werden: Vereinzelte sprachliche Belege oder Angaben zur Herkunft eines Pronomens oder eines Suffixes allein sagen wenig über die Verhältnisse in der Gegenwartssprache aus. So ist der sprachgeschichtliche Zusammenhang zwischen dem Pronomen man und dem heutigen Substantiv Mann kein zwingender Grund, dem Pronomen im Gegenwartsdeutschen seine geschlechtsneutrale Funktion abzusprechen. Ebenso wenig lässt sich aus der Erkenntnis, dass die Entstehung des Genus im frühen Indoeuropäischen nichts mit Sexus zu tun hatte, automatisch ableiten, dass das Genus heute (in bestimmten Kontexten) nicht mit Sexus assoziiert wird. In diesem Sinne stellte schon Hermann Paul fest: 62 Tanja Stevanović <?page no="63"?> Nach dieser seite hin hat gerade die historische sprachforschung viel gesündigt, indem sie das, was sie aus der erforschung des älteren sprachzustandes abstrahiert hat, einfach auf den jüngeren übertragen hat. (Paul 1886: 29) Was wir benötigen, ist empirische Forschung, die Phänomene einerseits his‐ torisch-synchron und unter ständiger Berücksichtigung von Ko- und Kon‐ text systematisch erfasst und andererseits diachron durch die Sprachstufen hinweg verfolgt und etwaige Veränderungen dokumentiert. Schließlich muss für Sprecher*innen des Gegenwartsdeutschen nicht mehr gelten, was für ihre Vorgänger*innen in ahd. Zeit noch zutraf. Wie dieser Beitrag gezeigt hat, bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungen an, die den aktuellen Diskurs weiter voranbringen könnten. Bibliographie Adelung, Johann Christoph (1782): Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen. 1. Bd. Leipzig: Breitkopf. Aichinger, Carl Friedrich (1754): Versuch einer teutschen Sprachlehre. Wien: Kraus (Nachdruck 1972 Hildesheim). AWB = Althochdeutsches Wörterbuch, digitalisierte Fassung bereitgestellt durch die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, <https: / / awb.saw-leipzig.de/ AWB>, abgerufen am 06.03.2024. Behaghel, Otto (1928): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Band III: Die Satzgebilde. Heidelberg: Winter. Birkenes, Magnus Breder/ Fleischer, Jürg (2022): Genus- und Sexuskongruenz im Mit‐ telhochdeutschen: eine Paralleltextanalyse zum Lexical hybrid kint. In: Diewald, Gabriele/ Nübling, Damaris (Hrsg.): Genus - Sexus - Gender (Linguistik - Impulse & Tendenzen 95). Berlin/ Boston: De Gruyter, 241-265. BMZ = Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 23, <https: / / www.woerterbuchnetz.de/ BMZ>, abgerufen am 06.03.2024. Braune, Wilhelm/ Heidermanns, Frank (2018): Althochdeutsche Grammatik I: Laut- und Formenlehre. 16. Auflage. Berlin/ Boston: De Gruyter. Brinkmann, Hennig (1962): Die deutsche Sprache. Gestalt und Leistung. Bd. 1. Düsseldorf: Schwann. Brugmann, Karl (1889): Das Nominalgeschlecht in den indogermanischen Sprachen. Techmer’s Internationale Zeitschrift für Sprachwissenschaft 4, 100-109. Doleschal, Ursula (1992): Movierung im Deutschen. Eine Darstellung der Bildung und Verwendung weiblicher Personenbezeichnungen. Unterschleissheim, München: Lincom Europa. Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 63 <?page no="64"?> ―-(2002): Das generische Maskulinum im Deutschen. Ein historischer Spaziergang durch die deutsche Grammatikschreibung von der Renaissance bis zur Postmoderne. Linguistik Online 11 (2), 39-70. Duden (1966): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 2., vermehrte und verbes‐ serte Auflage. Mannheim: Dudenverlag. ―-(2006): Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u.a.: Dudenverlag. ―-(2009): Die deutsche Rechtschreibung. 25., völlig neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe. Mannheim/ Zürich: Dudenverlag. DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 23, <https: / / www.woerterbuchnetz.de/ DWB>, abgerufen am 06.03.2024. Eberharter-Aksu, Margit (2014): Das Generische Maskulinum bei Jacob Grimm. In: Biadun-Grabarek, Hanna/ Firyn, Sylvia (Hrsg.): Aspekte der philologischen Forschung von Jacob Grimm und der Märchenübersetzung ins Polnische (Schriften zur dia‐ chronen und synchronen Linguistik 13). Frankfurt a.-M. u.a.: Peter Lang, 67-76. Eisenberg, Peter (1986): Grundriß einer deutschen Grammatik. Stuttgart: Metzler. Eisermann, Sonja Iris (2004): Berufsbezeichnungen für Frauen vom 16.-19. Jahrhundert. Eine sprachhistorische Untersuchung insbesondere des in-Derivationsmorphems unter Berücksichtigung prototypensemantischer Aspekte beim Bedeutungswandel. Dissertation. Oldenburg. Fleischer, Jürg (2012): Grammatische und semantische Kongruenz in der Geschichte des Deutschen: eine diachrone Studie zu den Kongruenzformen von ahd. wīb, nhd. weib. PBB 134 (2), 163-203. Fobbe, Eilika (2004): Die Indefinitpronomina des Deutschen. Aspekte ihrer Verwendung und ihrer historischen Entwicklung (Germanistische Bibliothek 18). Heidelberg: Winter. Fritz, Matthias (1998): Die urindogermanischen s-Stämme und die Genese des dritten Genus. In: Meid, Wolfgang (Hrsg.): Sprache und Kultur der Indogermanen. X. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft, Innsbruck, 22.-28. September 1996. Innsbruck: Institut für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck, 255-264. Fritz, Matthias/ Meier-Brügger, Michael (2021): Indogermanische Sprachwissenschaft. Berlin/ Boston: De Gruyter. Froschauer, Regine (2003): Genus im Althochdeutschen. Eine funktionale Analyse des Mehrfachgenus althochdeutscher Substantive (Germanistische Bibliothek 16). Heidel‐ berg: Winter. Gottsched, Johann Christoph (1762): Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprach‐ kunst. 5., merklich verb. Aufl. Leipzig: Breitkopf. Grimm, Jacob (1831): Deutsche Grammatik. Dritter Theil. Göttingen: Dieterich. 64 Tanja Stevanović <?page no="65"?> ―-(1837): Deutsche Grammatik. Vierter Theil. Göttingen: Dieterichsche Buchhandlung. ― (1898): Deutsche Grammatik. Vierter Theil. Neuer vermehrter Abdruck besorgt durch Gustav Roethe und Edward Schroeder. Gütersloh: Bertelsmann. Gueintz, Christian (1641): Deutscher Sprachlehre Entwurf. Köthen: Fürstliche Druckerei. Hajnal, Ivo (2002): Feministische Sprachkritik und historische Sprachwissenschaft. Die unterschiedlichen Sichtweisen der Kategorie Genus in Syn- und Diachronie. Innsbruck: https: / / www.sprawi.at/ files/ hajnal/ a9_fem_hist_sprawi.pdf, abgerufen am 06.03.2024. Hajnal, Ivo/ Zipser, Katharina (2017): Genus: Eine Kategorie zwischen Grammatik und Semantik. In: Meinunger, André/ Baumann, Antje (Hrsg.): Die Teufelin steckt im Detail. Zur Debatte um Gender und Sprache. Berlin: Kadmos, 129-147. Harðarson, Jón Axel (1987): Zum urindogermanischen Kollektivum. Münchener Studien zur Sprachwissenschaft 48, 71-113. Henning, Beate (1991): Von adelmüetern und züpfelnunnen. Weibliche Standes- und Berufsbezeichnungen in der mittelhochdeutschen Literatur zur Zeit der Hanse. In: Vogel, Barbara/ Weckel, Ulrike (Hrsg.): Frauen in der Ständegesellschaft (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 4). Hamburg: Krämer, 117-146. Herder, Johann Gottfried (1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin: Voß. Hübner, Julia/ Filatkina Natalia (2023): Morphosyntax als Beschreibungsgegenstand der frühneuzeitlichen Fremdsprachenlehrwerke. Jahrbuch für Germanistische Sprachge‐ schichte 14, 122-142. Irmen, Lisa/ Steiger, Vera (2005): Zur Geschichte des Generischen Maskulinums: Sprach‐ wissenschaftliche, sprachphilosophische und psychologische Aspekte im historischen Diskurs. Zeitschrift für germanistische Linguistik 33 (2/ 3), 212-235. Jellinek, Max Hermann (1914): Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung. 2. Halbband. Heidelberg: Winter. Kausen, Ernst (2012): Die indogermanischen Sprachen von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Hamburg: Buske. Keller, Rudi (1995): Sprachwandel, ein Zerrspiegel des Kulturwandels? In: Lönne, Karl-Egon (Hrsg.): Kulturwandel im Spiegel des Sprachwandels. Tübingen/ Basel: Francke, 207-218. Klein, Thomas/ Hans-Joachim Solms/ Klaus-Peter Wegera (2009): Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III: Wortbildung. Berlin/ Boston: De Gruyter. ― (2018): Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil II: Flexionsmorphologie. Band 1: Substan‐ tive, Adjektive, Pronomina. Berlin/ Boston: De Gruyter. Kochskämper, Birgit (1994): Soziales Geschlecht als Kategorie historischer Sprachwis‐ senschaft. In: Brandt, Gisela (Hrsg.): Historische Soziolinguistik des Deutschen. For‐ Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 65 <?page no="66"?> schungsansätze - Korpusbildung - Fallstudien. Internationale Fachtagung, Rostock 1.-3.9.1992. (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 283). Stuttgart: Heinz, 139-149. ― (1999): ‚Frau‘ und ‚Mann‘ im Althochdeutschen. (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 37). Frankfurt a. M.: Peter Lang. Kopf, Kristin (2022): Ist Sharon Manager? Anglizismen und das generische Maskulinum. In: Diewald, Gabriele/ Nübling, Damaris (Hrsg.): Genus - Sexus - Gender (Linguistik - Impulse & Tendenzen 95). Berlin, Boston: De Gruyter, 65-103. ―-(2023): Normalfall Movierung: Geschichte und Gegenwart des generischen Maskuli‐ nums in Prädikativkonstruktionen. Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte 14, 196-226. Kotthoff, Helga/ Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr Francke Attempto. Lehmann, W. P. (1958): On Earlier Stages of the Indo-European Nominal Inflection. Language 34 (2), 179-202. Leiss, Elisabeth (1994): Genus und Sexus. Kritische Anmerkungen zur Sexualisierung von Grammatik. Linguistische Berichte 152, 281-300. ― (1997): Genus im Althochdeutschen. In: Grammatica ianua artium. Festschrift für Rolf Bergmann zum 60. Geburtstag. Heidelberg: Winter, 33-48. Lexer = Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 23, <https: / / www.woerterbuchnetz.de/ Lexer>, abgerufen am 06.03.2024. Litscher, Roland (2018): Die Entstehung des femininen Genus in den indogermanischen Sprachen. Dissertation. Zürich. Loheide, Bernward (2021): Kritik an Gender-Sprache: „Abenteuerliche Duden-Krea‐ tionen“. Der Spiegel, Ausgabe vom 14.02.21, <https: / / www.spiegel.de/ kultur/ kritikan-gender-sprache-abenteuerliche-duden-kreationen-a-846e042d-dfa9-4077-a16d-9a db2f258322>, abgerufen am 06.03.2024. Matasović, Ranko (2004): Gender in Indo-European. Heidelberg: Winter. Meineke, Eckhard (2023): Studien zum genderneutralen Maskulinum. Heidelberg: Winter. Miehling, Sandra (2003): Von altpusserin bis zun Huren gehen. Die Darstellung der Geschlechter in Lehrwerken für das Deutsche als Fremdsprache vom 15. bis zum 17.-Jahrhundert (Bamberger Studien zum Mittelalter 3). Münster: Lit. Möller, Robert (2017): Euphrosina kolerin, Beckhin vonn Paindten, die Berndt bonesche und andere beclagtinnen. Feminin-Movierung von Appellativen und Namen in Hexenver‐ hörprotokollen des 16./ 17.-Jahrhunderts. In: Denkler, Markus et al. (Hrsg.): Deutsch im 17.-Jahrhundert. Studien zu Sprachkontakt, Sprachvariation und Sprachwandel. Gedenkschrift für Jürgen Macha (Sprache - Literatur und Geschichte 46). Heidelberg: Winter, 129-159. 66 Tanja Stevanović <?page no="67"?> Mottausch, Karl-Heinz (2004): Familiennamen als Derivationsbasis im Südhessischen. Bezeichnungen von Familien und Frauen in Synchronie und Diachronie. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 71, 307-330. MWB = Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller, Jens Haustein, Karl Stackmann. <http: / / www.mhdwb-online.de/ wb.php>, abgerufen am 06.03.2024. Naumann, Bernd (1986): Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856. Die Kategorien der deutschen Grammatik in der Tradition von Johann Werner Meiner und Johann Christoph Adelung (Philologische Studien und Quellen 114). Berlin: Erich Schmidt. Neri, Sergio/ Schuhmann, Roland (Hrsg.) (2014): Studies on the Collective and Feminine in Indo-European from a Diachronic and Typological Perspective (Brill’s Studies in Indo-European Languages & Linguistics 11). Leiden/ Boston: Brill. Nübling, Damaris (2011): Von der ‚Jungfrau‘ zur ‚Magd‘, vom ‚Mädchen‘ zur ‚Prostitu‐ ierten‘: Die Pejorisierung der Frauenbezeichnungen als Zerrspiegel der Kultur und als Effekt männlicher Galanterie? Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 2, 344-359. Ostrowski, Manfred (1985): Zur Entstehung und Entwicklung des indogermanischen Neutrums. In: Schlerath, Bernfried (Hrsg.): Grammatische Kategorien: Form und Geschichte. Akten der 7. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft, Berlin, 20.-25. Februar 1983. Wiesbaden: Reichert, 313-323. Paul, Hermann (1886): Prinzipien der Sprachgeschichte. 2. Auflage. Halle: Niemeyer. ― ( 25 2007): Mittelhochdeutsche Grammatik. Neubearbeitet von Thomas Klein, Hans-Joa‐ chim Solms, Klaus-Peter Wegera, Ingeborg Schöbler und Heinz-Peter Prell. Tübingen: Niemeyer. Pettersson, Magnus (2011): Geschlechtsübergreifende Personenbezeichnungen. Eine Referenz- und Relevanzanalyse an Texten (Europäische Studien zur Textlinguistik 11). Tübingen: Narr. Plank, Frans (1981): Morphologische (Ir-)Regularitäten. Aspekte der Wortstrukturtheorie (Studien zur deutschen Grammatik 13). Tübingen: Narr. Polenz, Peter von (1988): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den- Zeilen-Lesens. 2., durchges. Aufl. Nachdruck 2019 (Sammlung Göschen 2226). Berlin/ Boston: De Gruyter. Pusch, Luise F. (1979): Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch weiter kommt man ohne ihr - Eine Antwort auf Kalverkämpers Kritik an Trömel-Plötz’ Artikel über „Linguistik und Frauensprache“. Linguistische Berichte 63, 84-102. Rabofski, Birgit (1990): Motion und Markiertheit. Synchrone und sprachhistorische Evi‐ denz aus dem Gotischen, Althochdeutschen und Altenglischen für eine Widerlegung Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 67 <?page no="68"?> der Theorien zur Markiertheit (Europäische Hochschulschriften Reihe 21 Linguistik, Bd.-84). Frankfurt a.-M. u.a.: Peter Lang. Ratke, Wolfgang (1619): Allgemeine Sprachlehr: Nach der Lehrart Ratichii. Gram‐ matica universalis. Die Sonderbaren Eigenschafften der Nennwörter/ VorNenn‐ wörter/ Sprechwörter/ und Theilwörter. Köthen: Fürstliche Druckerei. Royen, Gerlach (1929): Die nominalen Klassifikations-Systeme in den Sprachen der Erde. Historisch-kritische Studie, mit besonderer Berücksichtigung des Indogermanischen. Mödling bei Wien: Administration des „Anthropos“. Schmuck, Mirjam (2017): Movierung weiblicher Familiennamen im Frühneuhochdeut‐ schen und ihre heutigen Reflexe. In: Helmbrecht, Johannes/ Nübling, Damaris/ Schlü‐ cker, Barbara (Hrsg.): Namengrammatik (Linguistische Berichte Sonderheft 23). Ham‐ burg: Buske, 33-58. Scholten, Daniel (2017): Der Führerin entgegen! In: Meinunger, André/ Baumann, Antje (Hrsg.): Die Teufelin steckt im Detail. Zur Debatte um Gender und Sprache. Berlin: Kadmos, 101-112. Schottel, Justus Georg (1663): Ausführliche Arbeit von der teutschen Haubtsprache. Braunschweig: Zilliger. Schulze, Rudolf (2009): Frau - Germanisches und deutsches Recht. In: Lexikon des Mittelalters. Band-4: Erzkanzler bis Hiddensee. Unveränd. Nachdr. der Studienausg. 1999. Darmstadt: Metzler, 857-858. Schwink, Frederick W. (2004): The Third Gender. Studies in the Origin and History of Germanic Grammatical Gender (Indogermanische Bibliothek 3. Reihe). Heidelberg: Winter. Sökefeld, Carla (2023): Höflichkeit von Personenbezeichnungen in historischen Wör‐ terbüchern und die Pejorisierung von Frauenbezeichnungen. In: Cosma, Ruxandra (Hrsg.): Höflichkeit und Derbheit: literarisch inszeniert, real, im Vergleich. (Bukarester Beiträge zur Germanistik 5). Bukarest: Bucharest University Press, 163-184. Splett, Jochen (1993): Althochdeutsches Wörterbuch. Analyse der Wortfamilienstruk‐ turen des Althochdeutschen, zugleich Grundlegung einer zukünftigen Strukturge‐ schichte des deutschen Wortschatzes. 3 Bände. Berlin/ New York: De Gruyter. Steffens, Rudolf (2019): Grede Gertnerßen und die Leyendeckersen von Mentze. Feminin‐ movierung in Rechtsquellen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des rheinfränkischen -sin-Suffixes. In: Pickl, Simon/ Elspaß, Stephan (Hrsg.): Historische Soziolinguistik der Stadtsprachen. Kontakt - Variation - Wandel (Germanistische Bibliothek 67). Heidelberg: Winter, 97-120. Stephan, Julia (2009): Wortbildungsmodelle für Frauenbezeichnungen im Mittelhoch‐ deutschen und Frühneuhochdeutschen (Schriften zur Mediävistik 16). Hamburg: Dr. Kovač. 68 Tanja Stevanović <?page no="69"?> Tichy, Eva (1993): Kollektiva, Genus femininum und relative Chronologie im Indoger‐ manischen. Historische Sprachforschung 106, 1-19. Trömel-Plötz, Senta (1978): Linguistik und Frauensprache. Linguistische Berichte 57, 49-68. Trutkowski, Ewa/ Weiß, Helmut (2023): Zeugen gesucht! Zur Geschichte des generischen Maskulinums im Deutschen. Linguistische Berichte 273, 5-40. Warnke, Ingo (1993): Zur Belegung von „frau“ und „weib“ in historischen deutschen Wörterbüchern des 16. und 17.-Jahrhunderts. In: Hufeisen, Britta (Hrsg.): „Das Weib soll schweigen …“ (I.Kor.14,34). Beiträge zur linguistischen Frauenforschung. (Kasseler Arbeiten zur Sprache und Literatur. Anglistik - Germanistik - Romanistik 19). Frankfurt a. M.: Peter Lang, 127-151. Weber, Doris (2001): Genus. Zur Funktion einer Nominalkategorie exemplarisch darge‐ stellt am Deutschen. Frankfurt a. M.: Lang. Werner, Martina (2012): Genus, Derivation und Quantifikation. Zur Funktion der Suffi‐ gierung und verwandter Phänomene im Deutschen (Studia Linguistica Germanica 114). Berlin/ Boston: De Gruyter. Werth, Alexander (2015): Gretie Dwengers, genannt die Dwengersche. Formale und funk‐ tionale Aspekte morphologischer Sexusmarkierung (Movierung) in norddeutschen Hexenverhörprotokollen der Frühen Neuzeit. Niederdeutsches Jahrbuch 138, 53-75. ―-(2022): Der Abbau der onymischen Movierung im 18.-Jahrhundert: Eine Auswer‐ tung des Deutschen Textarchivs. In: Havinga, Anna D./ Lindner-Bornemann, Bettina (Hrsg.): Deutscher Sprachgebrauch im 18.-Jahrhundert. Sprachmentalität, Sprach‐ wirklichkeit, Sprachreichtum. Heidelberg: Winter, 93-113. Wheeler, Benjamin Ide (1899): The Origin of Grammatical Gender. The Journal of Germanic Philology 2 (4), 528-545. Wilmanns, Wilhelm (1899): Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt-, Mittel- und Neuhoch‐ deutsch. Bd.-2: Wortbildung. Straßburg: Trübner. Genderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte 69 <?page no="71"?> 1 Ich danke Helga Kotthoff, Paul Meuleneers, Patricia Linnemann und den HerausgeberInnen des Sammelbandes für ihre Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Beitrags. Gendern im Deutschen: Aktuelle Forschungsfragen und das inhärente Positionierungspotenzial genderbezogener Personenreferenzen 1 Susanne Günthner Zusammenfassung: Das Gendern und die damit verwobenen Fragen um eine gendergerechte bzw. -indifferente Sprache gehören aktuell zu den am heftigsten in der Öffentlichkeit diskutierten Phänomenen der deutschen Sprache. Dabei wird deutlich, dass Fragen der Genderlinguistik, insbesondere der Repräsentanz der Geschlechter in der deutschen Sprache, eng mit soziokulturellen Facetten unserer Lebenswelten vernetzt sind, die über rein grammatische Erwägungen hinausreichen. Der vorliegende Beitrag wird nicht nur die sprachliche Konstruktion von Gender und die damit verwobene Asymmetrie von Personenbezeich‐ nungen im Deutschen skizzieren, sondern auch Forschungsdefizite der Genderlinguistik thematisieren. Darüber hinaus soll der bislang wenig beachtete Aspekt der „metapragmatischen Positionierung“ und damit das Kontextualisierungspotenzial genderbezogener Sprachverwendung auf‐ gezeigt werden: Genderbezogenes Sprechen fungiert in unserer Alltags‐ welt u. a. als kommunikative Ressource zur Indizierung soziokultureller „stances“ und Markierung sozialer Zugehörigkeiten bzw. Abgrenzungen. Schlüsselbegriffe: metapragmatische Positionierung, „stance“/ „stance taking“, „doing gender“, „undoing gender“, Inferenzbildung, kommunika‐ tive Ressource <?page no="72"?> 2 Zur Konzeption des Begriffs der „Genderlinguistik“ siehe Günthner/ Hüpper/ Spieß (2012). 3 In Sachsen existiert ein solches Verbot des Genderns mit Sonderzeichen bereits seit 2021 (https: / / www.mdr.de/ nachrichten/ sachsen/ politik/ gendern-verbot-schulen-verei ne-100.html), in Sachsen-Anhalt seit August 2023 (https: / / www.mdr.de/ nachrichten/ sa chsen-anhalt/ landespolitik/ gendern-verbot-schulen-104.html). 4 https: / / www.deutschlandfunkkultur.de/ genderverbot-bayern-100.html. Als Begrün‐ dung des erlassenen Genderverbots nennt der Chef der Bayerischen Staatskanzlei, Florian Herrmann (CSU), dass es gelte, „Diskursräume in einer liberalen Gesellschaft offenzuhalten“ (https: / / www.fr.de/ hessen/ schwarz-rot-in-hessen-einigt-sich-auf-koali tionsvertrag-zr-92727992.html). Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) begründet das Verbot folgendermaßen: „Zu einer bürgernahen Verwaltung gehört auch eine einheitliche und verständliche Sprache“ (https: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ 2024-03 / gendersprache-verbot-hessen-landesverwaltung). 1 Einleitung Das Gendern und damit verwobene Fragen zu einer gendergerechten bzw. -abstrahierenden Sprache gehören aktuell zu den am heftigsten in der Öffent‐ lichkeit diskutierten Phänomenen der deutschen Sprache. Die seit einigen Jahren innerhalb der Sprachwissenschaften wie auch in den öffentlichen Me‐ dien geführten, oftmals emotional aufgeladenen Debatten veranschaulichen immer wieder, dass Fragen der Genderlinguistik 2 eng mit soziokulturellen Aspekten unserer Lebenswelten verbunden sind: Entrüstungen über scheinbare „Genderstrafzettel“ oder „die Gender-Diktatur“ mit „ihrem Angriff auf unsere Demokratie“ wie auch die Forderung einiger deutscher PolitikerInnen nach einem „Genderverbot“ spiegeln eine Echauffiertheit wider, die weit jenseits sprachwissenschaftlicher Auseinandersetzungen zu Aspekten der Personenbe‐ zeichnungen angesiedelt ist. So haben (nach Sachsen und Sachsen-Anhalt) im März 2024 sowohl der bayerische Ministerrat als auch die hessische Staats‐ kanzlei ein „Verbot der Gendersprache“ beschlossen: 3 In Bayern wurde die Allgemeine Geschäftsordnung für Behörden (AGO) dahingehend abgeändert, dass Behörden, Schulen und Hochschulen fortan untersagt ist, Sonderzeichen (wie Genderstern, Doppelpunkt, Gender-Gap etc.) zur geschlechtsabstrahier‐ enden Personenreferenz zu verwenden. 4 In Hessen verbietet eine neue Dienst‐ anweisung ebenfalls die „genderneutrale Sprache“ mit „Doppelpunkt, Binnen-I, Unterstrich oder Sternchen“. Beidnennung durch feminine und maskuline Formen wie auch geschlechtsneutrale Umschreibungen (wie „Fachkräfte“) sind - so die Erklärung der Staatskanzlei Hessen - jedoch weiterhin „erlaubt“ (https: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ 2024-03/ gendersprache-verbot-hessen-landesverwa ltung). Hessens auf Sonderzeichen ausgerichtetes Genderverbot wurde durch‐ gesetzt, obgleich sämtliche Germanistischen Institute hessischer Universitäten 72 Susanne Günthner <?page no="73"?> 5 https: / / www.giessener-allgemeine.de/ giessen/ germanistische-institute-warnen-vor-g enderverbot-92758882.html. Siehe auch den aktuellen Vorstoß von Thomas Strobl zu einem möglichen „Genderverbot“ in Baden-Württembergs Behörden (https: / / www. zeit.de/ news/ 2024-01/ 16/ baden-wuerttemberg-hier-soll-gendern-verboten-werden). 6 Siehe Gumperz (1982) sowie Günthner (1993) zur Theorie der Kontextualisierung bzw. zur reflexiven Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen und der Indizierung von Kontext. mit größtem Nachdruck dazu aufriefen, das Verbot zu unterlassen. Diese fordern stattdessen einen „verantwortungsbewussten Umgang“ mit dem Gendern. 5 Die vehemente Erregung in Hinblick auf genderbezogene Personenrefe‐ renzen und die damit verwobenen Sprachwandelerscheinungen liegt nicht zuletzt an der zentralen Rolle, die Sprache für unsere Identitätskonstitution innehat. So betont Simon (2022: 21) in diesem Zusammenhang: Wie eine Person Sprache verwendet, sagt viel über ihre regionale und soziale Herkunft aus […]. Sprecher: innen fühlen deshalb typischerweise eine innige Verbundenheit mit ihrer jeweils individuellen Sprachausprägung. Infolgedessen reagieren viele Men‐ schen gereizt auf alles, was durch Variation und Wandel die subjektive Essenzialität ihrer Sprache infrage stellt. Nicht zu unterschätzen ist ferner, dass die aktuelle gesellschaftliche Neuaus‐ richtung von Genderrelationen einen Kernbereich unserer sozialen Alltagser‐ fahrung berührt und folglich der „Kampf um eine gendergerechte Sprache“ gar als „Kulturkampf “ in Verbindung mit der Veränderung soziokultureller Lebens‐ stile, dem Hinterfragen tradierter Machtverhältnisse und der „Infragestellung von Grundlagen unserer Weltwahrnehmung“ (Simon 2022: 21) etikettiert und politisiert wird. Sprache und genderbezogenes Sprechen erweisen sich in diesem Zusammenhang somit als Kontextualisierungsressource zur Indizierung sozio‐ kultureller Positionierung: 6 Mittels genderbezogener Sprachpraktiken werden neben sozialen Zugehörigkeiten und Abgrenzungen auch sprachbzw. kultur‐ politische Einstellungen konstituiert. Allerdings trifft auch zu, dass die in Leitfäden vorgeschlagenen, teilweise konkurrierenden Referenzformen zur Inklusion von Frauen und nichtbinären Personen zahlreiche LeserInnen verwirren, dass konsequent gegenderte Texte oftmals als „unschön“ und „schwer lesbar“ bewertet werden, dass einzelne Vorschläge und Forderungen queerer Gendersprach-Politik „das Maß des Prak‐ tikablen überschreiten“ und folglich Teile der Bevölkerung sich durchaus irritiert oder gar ablehnend gegenüber dem Gendern äußern. Auch gilt es, ein‐ zugestehen, dass einige in der urbanen akademischen Lebenswelt verbreiteten, genderbezogenen Praktiken u. U. Gefahr laufen, nicht-akademische, ältere etc. Gendern im Deutschen 73 <?page no="74"?> 7 Auch wenn die Genderlinguistik keineswegs nur grammatische Aspekte der Per‐ sonenbezeichnungen umfasst, sondern auch genderbezogene Sprech- und Interak‐ tionskonventionen, sprach- und kulturvergleichende Studien zur kommunikativen Konstruktion von Genderzugehörigkeiten, stimmliche und gestisch-mimische Reprä‐ sentationen genderbezogener Erwartungen etc. (hierzu Günthner/ Hüpper/ Spieß 2012; Kotthoff/ Nübling 2018), werde ich den Fokus dieses Beitrags auf genderbezogene Personenreferenzen im Deutschen legen. Bevölkerungsgruppen auszugrenzen. Dennoch: Sprachwandelerscheinungen haben es an sich, dass sie in bestimmten Gemeinschaften starten und sich teilweise nur langsam über diese „communities of practice“ (Eckert/ McCon‐ nell-Ginet 1998) hinaus ausbreiten (oder auch nicht). So erinnern sich die Älteren unter uns noch daran, dass die mittlerweile als selbstverständlich akzeptierten Umsetzungen sprachlicher Gleichstellung (wie die Abschaffung des Fräulein oder die bis Ende der 1970er Jahre geltenden Passe-partout-Anrede Sehr geehrte Herren in formellen Schreiben, aber auch die Beibehaltung des eigenen Familiennamens bei der Eheschließung) im Zuge der Frauenbewegung über viele Jahre hinweg hart erkämpft werden mussten (Trömel-Plötz et al. 1981). Dass sich soziokulturelle Veränderungen notwendigerweise auch sprachlich manifestieren, ist eine bekannte Tatsache. Folglich sollte man sich nicht wun‐ dern, dass die Gleichstellung von Frauen oder nichtbinären Personen und die damit einhergehenden soziokulturellen Veränderungen sich auch in der Sprache, die das herausragende Mittel der alltäglichen Wirklichkeitskonstruk‐ tion darstellt, manifestieren. Momentan befinden wir uns diesbezüglich in einer Phase des Austestens und der Entwicklung möglichst praktikabler Vorschläge (Diewald/ Steinhauer 2017; 2019; Duden 2022), aber auch des Verwerfens allzu umständlicher oder nicht nachvollziehbarer Optionen. Die aktuelle Vielfalt an Empfehlungen, Kritikpunkten etc. verwundert schon deshalb nicht, da das Deutsche als Genussprache in Bezug auf eine genderabstrahierende bzw. -gerechte Sprachverwendung weitaus größere Hürden zu überwinden hat als zahlreiche genuslose Sprachen. Darüber hinaus gilt es, Aspekte wie Grammati‐ kalität, Sprach- und Sprechgewohnheiten, Gebrauchskontexte etc. gegenüber Fragen der Gleichstellung, Inklusion wie auch der Akzeptanz und Lesbarkeit gegeneinander abzuwägen. Im vorliegenden Beitrag sollen zunächst die sprachliche Konstruktion von Gender und die damit verbundene Asymmetrie der Personenbezeichnungen im Deutschen skizziert werden (Kap. 2 und 3), bevor ich dann auf Fragestellungen und Forschungsdefizite der Genderlinguistik 7 eingehen werde (Kap. 4). Im Anschluss werde ich den in Zusammenhang mit dem Gendern bislang wenig 74 Susanne Günthner <?page no="75"?> beachteten Aspekt der „metapragmatischen Positionierung“ bzw. des „Kon‐ textualisierungspotenzials genderbezogener Personenbezeichnungen“ darlegen (Kap. 5). 2 Die sprachliche Konstruktion von Gender und Genderindifferenz: doing bzw. undoing gender in Bezug auf Personenbezeichnungen Die Erforschung des Zusammenhangs von Sprache, Denken, Wirklichkeit und der Verwobenheit von sprachlichen Kategorien, Kognition und kommunika‐ tivem Handeln in sozialen Kontexten beschäftigt die Sprachwissenschaft seit langem. So vertrat Wilhelm von Humboldt die Auffassung, dass die Sprache den „Geist des Volkes“ verkörpere und mit dem Erwerb einer Sprache zugleich eine eigene „Form der Weltanschauung“ verknüpft sei (Humboldt 1963 [1830-1835]). Auch der amerikanische Kulturanthropologe Edward Sapir (1929), der sich der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Weltanschauung widmete, wies auf das Potenzial der Sprache hin, die Wahrnehmung ihrer SprecherInnen zu beeinflussen. Aktuelle sprachwissenschaftliche und anthropologische Studien erforschen auf Basis empirischer Untersuchungen ebenfalls das komplexe Zu‐ sammenspiel von Sprache/ Sprechen, Denken und sozialer Wirklichkeitskonsti‐ tution (Lucy 1992; Gumperz/ Levinson 1996; Levinson 2003). Mit der Rolle von Sprache als dem zentralen Mittel zur Konstruktion sozialer Wirklichkeiten befassen sich auch die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann (1969 [1966]) in ihrem Klassiker zur „Gesellschaftlichen Konstruk‐ tion der Wirklichkeit“: Sprache erweist sich nicht nur als das zentrale Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern auch als das vorrangige Medium zur Tradierung sozialer Kategorien und Relevanzen im Wissensvorrat einer Gesellschaft. In jeder Sprache werden Kategorien und Konzeptualisie‐ rungen der Welt sedimentiert, die in der zwischenmenschlichen Interaktion zugleich als „objektive Tatbestände“ übermittelt werden: Ich erfahre die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung. Ihre Phä‐ nomene sind vor-arrangiert nach Mustern, die unabhängig davon zu sein scheinen, wie ich sie erfahre, und die sich gewissermaßen über meine Erfahrung von ihnen legen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, […] längst bevor ich auf der Bühne erschien. Die Sprache, die im alltäglichen Leben gebraucht wird, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt mir sinnhaft erscheint. (Berger/ Luckmann 1969 [1966]: 24) Gendern im Deutschen 75 <?page no="76"?> 8 Hierzu auch Knoblauchs (2017) Theorie der „kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit“. 9 Hierzu u.-a. Günthner (2006). Diese wirklichkeitskonstituierende Kraft und Objektivierungsfunktion von Sprache bildet eine der Grundlagen für aktuelle Debatten zur Repräsentanz von Genderrelationen in unterschiedlichen Sprachkulturen (Günthner 2014; 2019; 2022). In der Sprache wie auch im kommunikativen Haushalt der SprecherInnen sind soziokulturell relevante Perspektiven, Normen und Wertvorstellungen sedimentiert, die oftmals als „gegeben“ betrachtet und in der Alltagskommu‐ nikation wiederum bestätigt, ggf. auch modifiziert werden. 8 In Anlehnung an den Sozialkonstruktivismus betrachten soziologische und anthropologische Ansätze, wie die Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) und Interaktionssozio‐ logie (Goffman 1977), „soziale Tatsachen“ wie Genderidentitäten, institutionelle Rollen, Machtstrukturen usw. nicht einfach als „gegeben“, sondern widmen sich der Frage, wie diese „sozialen Tatsachen“ intersubjektiv - und damit im alltäglichen kommunikativen Austausch - konstruiert werden: Wie wird gesell‐ schaftliche Wirklichkeit durch zwischenmenschliche, vor allem kommunikative Handlungen erzeugt? Wie wird die Einteilung von Personen in Gendergruppen in unseren Alltagsinteraktionen konstruiert, bestätigt oder gar modifiziert? Wie werden genderbezogene Asymmetrien sprachlich kodiert und übermittelt? In enger Verbindung mit Fragen nach dem Wie der sozialen Konstruktion von Genderidentitäten entwickelten West/ Zimmerman (1987) das Konzept des doing gender. 9 Die soziale Geschlechtszugehörigkeit gilt hierbei nicht länger als eine reine Angelegenheit des Being, sondern als ein Doing, das auf Basis soziokultureller Konventionen im Alltag praktiziert wird: Wie präsentieren wir uns in unserem sozialen Handeln als weiblich, männlich oder non-binär? Eine zentrale Rolle kommt hier der Sprache in der zwischenmenschlichen Interaktion zu - der Stimme, den kommunikativen Praktiken, aber auch grammatisch kodierten Konventionen zur Referenz auf Personen (Günthner 2006; Günthner/ Hüpper/ Spieß 2012; Kotthoff/ Nübling 2018). So ist die in unserer Gesellschaft vorherrschende binäre Geschlechtseinteilung, die wir in Alltagshandlungen immer wieder neu herstellen und die für soziale Unterschiede in der gesell‐ schaftlichen Verteilung von Besitz und Reichtum, in Lebensstilen, im Habitus usw. mitverantwortlich ist, auch in unserer Grammatik kodiert: Man denke an konventionalisierte Anredeformen wie Sehr geehrte Damen und Herren, an nominale und pronominale Personenbezeichnungen wie der Schüler vs. die Schülerin, er vs. sie, an die bis 2008 gültige Vornamenregelung, die in der Regel eine eindeutige Markierung der Geschlechtszuordnung (weiblich - männlich) verlangt. Unsere Grammatik verpflichtet uns geradezu, Personen, über die 76 Susanne Günthner <?page no="77"?> 10 Hierzu Nübling (2019); Nübling/ Lind (2021). 11 Zu verschiedenen Typen nominaler Spezifikation von Genderzugehörigkeiten bei Personenbezeichnungen im Deutschen siehe Pusch (1984). Auf Indefinitpronomina wie „man“, „jedermann“, „jeder“ etc. werde ich im Folgenden nur randständig eingehen. Hierzu Kotthoff/ Nübling (2018: Kapitel 5.2). wir reden, geschlechtsspezifisch einzuordnen, indem wir beispielsweise sagen: „Vorgestern traf ich beim Sport auf einen total engagierten Sportlehrer, der auch Pilates macht.“ vs. „Vorgestern traf ich beim Sport auf eine total engagierte Sportlehrerin, die auch Pilates macht.“ Im Deutschen ist ein undoing gender (Hirschauer 1989; Günthner 2006; 2019; 2022; Nübling/ Fahlbusch/ Heuser 2012) keineswegs einfach zu bewerkstelligen. So kann ich im Fall einer Genderirre‐ levanz der getroffenen Person nicht etwa sagen: „Vorgestern traf ich beim Sport auf ‚ein‘ total ‚engagiertes‘ Sportlehrer, ‚das‘ auch Pilates macht.“ Das Neutrum gilt im Deutschen, da es primär für Inanimata verwendet wird, als „verdinglichend“ und folglich als „unangemessen“ bei Personenreferenzen. 10 Obgleich sich in einigen wenigen Kontexten die Verwendung eines Epikoinums anbieten könnte („Vorgestern traf ich beim Sport auf eine total engagierte Sport‐ lehrkraft/ Sportlehrperson, die auch Pilates macht.“), ist eine einfache Lösung in Bezug auf eine genderabstrahierende oder gendergerechte Sprachverwendung nicht wirklich in Sicht. 3 Personenreferenzen im Deutschen: das sogenannte „generische Maskulinum“ Im Zentrum der Debatte um eine gendergerechte Sprache steht seit Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre die im Deutschen kodierte androzentri‐ sche Schieflage bei Personenbezeichnungen (Trömel-Plötz 1978; Trömel-Plötz et al. 1981; Pusch 1980; 1984; 1990; Günthner 2022): So werden durch die Verwendung des scheinbar „generischen Maskulinums“ Männer als „Norm“ objektiviert, während Frauen als „sekundär“ kodiert werden und sprachlich eher „unsichtbar“ bleiben (siehe Pusch 1984; Günthner 2014; 2019; 2022; Diewald 2018; Kotthoff/ Nübling 2018; Diewald/ Nübling 2022). Die Mehrheit nominaler Personenbezeichnungen beinhaltet eine Stammform (Lehrer, Fahrer) und eine davon abgeleitete movierte Form für weibliche Per‐ sonen (Lehrerin, Fahrerin). 11 Die maskuline Stammform verweist jedoch einer‐ seits auf Männer („ein Lehrer nimmt weniger Erziehungszeit als eine Lehrerin“ oder „Radfahrer fahren deutlich unvorsichtiger als Radfahrerinnen“), anderer‐ seits fungiert sie zugleich als Oberbegriff, der Personen aller Geschlechter ein‐ beziehen kann („ein Lehrer verdient im Durchschnitt mehr als ein LKW-Fahrer“ Gendern im Deutschen 77 <?page no="78"?> oder „für Radfahrer gibt es in deutschen Großstädten noch immer zu wenige Radwege“). Die dem generischen Maskulinum inhärente Ambiguität (Referenz auf männliche Personen und mögliche Referenz auf Personen beiderlei Ge‐ schlechts) führt u. a. dazu, dass die Wahrnehmung von weiblichen Personen in der mentalen Repräsentation nur bedingt vorhanden ist (Pusch 1979; 1984; Kotthoff/ Nübling 2018). Ferner führt die asymmetrische Gestaltung der Perso‐ nenbezeichnungen dazu, dass aus 9 Radfahrerinnen, die sich auf dem Radweg abstrampeln, plötzlich 10 Radfahrer werden, sobald auch nur ein männlicher Radfahrer dazukommt: „Es ist die scheinbar harmlose Grammatikregel, die aus beliebig vielen Frauen Männer macht, sowie ein einziger Mann hinzukommt“ (Pusch 1990: 86). Feminine Stammformen (die Witwe, die Hexe und die Braut), von denen die maskulinen Formen (der Witwer, der Hexer und der Bräutigam) abgeleitet sind, sind dagegen extrem rar. Auch werden diese femininen Stamm‐ formen (wie Bräute oder Witwen) keineswegs als Oberbegriffe eingesetzt, mit denen genderneutral sowohl auf Bräute als auch Bräutigame, auf Witwen wie auf Witwer referiert werden könnte. Obgleich die männliche Form Witwer die von Witwe abgeleitete Variante ist, werden aus „9 Witwern, die eine Radtour machen“ nicht etwa „10 Witwen“, sobald auch nur eine Frau dazukommt. Der Aspekt der Sprachökonomie scheint hier keine Rolle zu spielen (Günthner 2014; 2019; 2022). Angesichts dieser personenreferenziellen Asymmetrie und der damit einher‐ gehenden Ideologie von „Mann = Norm“ und „Frau = Abweichung“ kamen im Zuge der Frauenbewegung Ende der 1970er Jahre heftige Debatten, aber auch Vorschläge zur Korrektur des „androzentrischen Grammatikgebrauchs“ im Deutschen auf. Die ersten „Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachge‐ brauchs“ (Guentherodt/ Hellinger/ Pusch/ Trömel-Plötz 1980) enthielten Forde‐ rungen zur Durchsetzung geschlechtergerechter Formulierungen in der Amts- und Behördensprache, in Stellenausschreibungen, Prüfungsordnungen sowie Empfehlungen zur Beseitigung sprachlicher Asymmetrien im Sprachsystem und -gebrauch. In diesem Zusammenhang wurden bereits in den 1980er Jahren Formen der Beidnennung (Lehrerinnen und Lehrer), das Binnen-I (Leh‐ rerInnen), der Schrägstrich (Lehrer/ innen) sowie das „generische Femininum“ (Lehrerinnen), aber auch Pronomina wie frau oder mensch (statt man) bzw. jefrau … die (statt jemand … der) eingeführt - mit dem Ziel, Frauen sichtbar zu machen (Pusch 1984: 46). Auch Möglichkeiten der Genderneutralisierung durch nominale Partizipien (Lehrende) und Abstrakta (das Management) wurden diskutiert. Darüber hinaus schlug Pusch (1984) ein dem Englischen nicht unähnliches System vor, das geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen er‐ möglichen könnte: Hierbei wäre ein Nomen wie Student als geschlechtsneutral 78 Susanne Günthner <?page no="79"?> 12 Bereits anhand dieser graphostilistischen Zeichen ist die „metapragmatische“ Kontex‐ tualisierung (hierzu Kap. 5) erkenntlich, die sich u. a. darin zeigt, dass beispielsweise der dynamische Unterstrich eine „graphostilistische Störung“ markieren und darüber hinaus „die Geschlechtervielfalt in der Sprache sichtbar […] machen“ soll (Baumgar‐ tinger 2008: 11). Dagegen wird das der Feministischen Linguistik entstammende Binnen-I teilweise als binär ausgerichtet und folglich überholt eingestuft, obgleich man es ebenso gut als Symbol eines dynamischen, skalar ausgerichteten Emblems interpretieren könnte, das alle genderbezogenen Übergänge indiziert. 13 Siehe u. a. die neue Verfassung der Univ. Leipzig, die das „generische Femininum“ verankert hat. https: / / www.tagesspiegel.de/ wissen/ frauen-sind-keine-sonderfalle-251 2831.html zu behandeln und lediglich der Artikel die bzw. der würde die Gendermarkierung kodieren (die Student … sie; der Student … er). Die Verwendung im Neutrum (das Student … es) hätte dann eine geschlechtsabstrahierende Funktion: das Student die Student der Student die weiblichen Studenten die männlichen Studenten die Studenten Tab. 1: Beispiel für geschlechtsabstrahierende Funktion Im Zuge der von Seiten der Queer Studies beeinflussten Genderdebatten ent‐ wickelte sich in den letzten 15 Jahren eine stärkere Ausrichtung an Optionen nichtbinärer, alle Gendergruppen inkludierender Personenbezeichnungen. So wurden u. a. folgende, als „entbinarisierend“ geltende, Schreibweisen vorge‐ schlagen: der (dynamische) Unterstrich (Bäcker_in bzw. Bäck_erin), das Aus‐ rufezeichen (Bäcker! innen), der Doppelpunkt (Bäcker: innen), der Genderstern (Bäcker*innen), das Trema (Bäckerïnnen), das „x“ (Bäckx), das „a“ (Bäcka), die maskuline Stammform mit Asterisk (Bäcker*) oder auch mit geklammerten Zusatzangaben (Bäcker (m/ w/ d)). 12 Die vielfältigen und teilweise auch konkur‐ rierenden Vorschläge führ(t)en teilweise zu Gegeninitiativen und Plädoyers für eine Rückkehr zum deutlich einfacheren, wenn auch oftmals ambigen oder „Frauen unsichtbar machenden“ Maskulinum. An einigen deutschen Universi‐ täten wurde allerdings auch das alle Geschlechter inkludierende „generische Femininum“ eingeführt. 13 Festzuhalten bleibt, dass sich der Großteil der Leitli‐ nien und Vorschläge zum Gendern wie auch die Umfragen zu Bewertungen von Leitlinienideen auf die Schriftsprache und damit schriftliche Texte beziehen. Gendern im Deutschen 79 <?page no="80"?> 14 Beispielsweise zeigen diese Studien ein Spektrum an Faktoren, die die Geschlechtsre‐ präsentanz bei der Interpretation „generisch maskuliner“ Formen beeinflussen (Kotthoff/ Nübling 2018: 115). Siehe auch Schröter/ Linke/ Bubenhofer (2012). 15 Siehe Agha (2007: 286-288) zum Problem einer Gleichsetzung von Ergebnissen zum „Sprachgebrauch“ aus dekontextualisierten Interview- und Fragebogendaten mit tat‐ sächlichen Gebrauchsweisen in der alltäglichen Praxis. Mündliche Optionen des Genderns werden bislang kaum erforscht (Michaux/ Méndez/ Apel 2021; Christen 2023; Günthner i.Dr.). 4 Gendern in der Alltagspraxis: Fragen und Forschungsdefizite Trotz der unterschiedlichen Positionen zum Gendern wie auch der Vielfalt an Vorschlägen zur Realisierung einer adäquaten gendergerechten Sprache existieren bislang nur wenige Studien, die das Gendern in der kommunikativen Praxis und damit in authentischen Texten und konkreten Interaktionskontexten analysieren. Und dies, obgleich hinreichend bekannt ist, dass sprachliche Bedeu‐ tungen und Funktionen stark kontextabhängig sind (Wittgenstein 2001; Gar‐ finkel 1967) und Aussagen über die tatsächliche Gebrauchsweise von Formen der Personenreferenz sowie deren Interpretation im situierten Verwendungszu‐ sammenhang zu betrachten sind. Untersuchungen, die auf konstruierten Beispielsätzen, auf Experimentalstu‐ dien oder (Online-)Umfragen mit schriftsprachorientierten kontextlosgelösten Sätzen basieren, liefern zwar wichtige Beobachtungen, 14 doch inwiefern diese auf die sprachliche Realität in authentischen Kommunikationssituationen über‐ tragbar sind 15 und auf welche Weise die situierten Kontexte (soziale Umge‐ bungen, private/ informelle vs. institutionelle/ formelle Einbettungen, genrebe‐ zogene Aspekte, sequenzielle Kontexte etc.) die Verwendungsweisen wie auch deren Interpretationen und Inferenzbildungen beeinflussen, ist bislang weithin ungeklärt. Damit drängen sich folgende Fragen auf: • In welchen „communities of practice“ (Eckert/ McConnell-Ginet 1998) wird in Alltagsinteraktionen gegendert? Trifft beispielsweise zu, dass sich das Gendern primär in urbanen Akademikerkreisen und in spezifischen Medi‐ enkontexten zeigt, während andere soziale Gruppen nur in ausgewählten institutionellen Kontexten (oder gar nicht) gendern? Inwiefern wird in privaten, informellen Gesprächen und Chatdialogen überhaupt gegendert? • In welchen mündlichen und schriftlichen Genres werden sogenannte „Streufeminina“ (und damit randomisiert eingestreute „generische Femi‐ 80 Susanne Günthner <?page no="81"?> 16 Die Darstellung der WhatsApp-Dialoge orientiert sich an den Konventionen des Centrums für Sprache und Interaktion (CeSI) der Universität Münster (https: / / centru m.sprache-interaktion.de/ ): Die einzelnen Dialog-Züge werden in Kolumnen geordnet und chronologisch untereinander versetzt präsentiert. Die Anordnung der Mitteilungs‐ kästchen wie auch die Grautöne unterscheiden die verschiedenen Interaktionsteilneh‐ merInnen. Sämtliche Personennamen, Städtenamen etc. sind anonymisiert. nina“) eingefügt und wann wird ein „punktuelles Gendern“ (Kotthoff/ Nüb‐ ling 2018; Kotthoff 2020) praktiziert? Siehe hierzu folgenden Ausschnitt aus DIE ZEIT ONLINE, in dem zunächst „generische Maskulina“ wie Radfahrer und Autofahrer verwendet werden, doch im Anschluss das Femininum Radfahrerinnen (ebenfalls genderabstra‐ hierend) aktiviert wird: Und dann noch durch Münster. Die Stadt ist ein Traum für Radfahrer und ein Alptraum für Autofahrer. Radfahrerinnen sind hier grundsätzlich im Recht, und immer sind sie viele. (https: / / www.zeit.de/ 2024/ 08/ fuehrerschein-70-fahrtauglichkeit-senioren-siche rheit-strassenverkehr). Zeichnen sich in Zusammenhang mit solchen „Streufeminina“ u. U. situierte Präferenzen (je nach sequenzieller Position, Kategorientyp, generischer vs. spezifischer Referenzdomäne etc.) ab? Bzw. korrelieren „Streufeminina“ mit soziokulturellem Wissen oder gar mit verankerten Stereotypen in Bezug auf weiblich assoziierte Gruppenzugehörigkeiten? • In den letzten Jahren finden sich ferner zunehmend kategorienbezogene Referenzen auf Personengruppen, die insbesondere im Kontext von Listen‐ bildungen alternierend maskulin und feminin kodiert werden. Hierbei fun‐ giert sowohl die maskuline als auch die feminine Form genderübergreifend. Nachdem Dora (im folgenden Auszug aus einem WhatsApp-Dialog) ihre in X-Stadt lebende Freundin Pia nach der dortigen Ärztelage gefragt hat, antwortet Pia (in WhatsApp #6): 16 ÄRZTESITUATION Die Ärztesituation ist in X-Stadt eigentlich okay. kein Problem Termin zu kriegen. WhatsApp #6 (12.09.2023, 20: 19) Ca. eine Stunde nach Pias Replik produziert Dora zwei unmittelbar aufeinan‐ derfolgende Dialogzüge: Gendern im Deutschen 81 <?page no="82"?> 17 Hierzu Christen (2023); Günthner (i.Dr.). Echt? ? ? Klingt ja exeptionell! WhatsApp #7 (12.09.2023, 21: 22) Hier ist kacke! Zähnärzte sind okay, augenärztinnen schwierig…aber orthopäden ne katastrophe. Gyn geht. WhatsApp #8 (12.09.2023, 21: 22) Bezeichnend für die von Dora eingesetzten Berufsbezeichnungen ist, dass in ihrer Auflistung die maskulinen und femininen Formen nicht nur alternieren, sondern beide Typen genderübergreifend fungieren. Dies führt zu der Frage, was die jeweilige Wahl der Genderform beeinflusst, d. h., ob diese tatsächlich randomisiert erfolgt oder inwiefern sich die Genderzuweisung an soziokultu‐ rellem Wissen um die Genderaufteilung oder gar an vorhandenen Stereotypen orientiert. Die die Liste abschließende Kurzform „Gyn“ (von altgriechisch „gyné“ ‚Frau‘) fungiert hierbei als eine Art Epikoinum, das sowohl Gynäkologinnen als auch Gynäkologen bzw. gynäkologische Arztpraxen umfasst. Weitere offene Fragen zum Gebrauch genderbezogener Personenreferenz‐ formen in Alltagsinteraktionen beinhalten u.-a. folgende Aspekte: • Wann und in welchen sequenziellen Umgebungen führen Maskulina aufgrund ihrer potenziellen Ambiguität zu Verstehensnachfragen? 17 Wie werden diese Verstehensprobleme behoben? • In welchen sequenziellen Kontexten werden Selbstbzw. Fremdreparaturen in Richtung Gendern vorgenommen? Werden diese u. U. metasprachlich kommentiert? Im folgenden Chat-Ausschnitt zwischen einem kirgisischen Deutschdo‐ zenten (Aybek) und seiner Kollegin (Ute) aktiviert diese eine (humoristisch modalisierte) genderbezogene Fremdkorrektur. Aybek berichtet Ute, dass momentan viele deutsche Unternehmer in Kirgistan sind, um Fachkräfte für Deutschland zu akquirieren (WhatsApp #3): 82 Susanne Günthner <?page no="83"?> ARBEITSKRÄFTEMANGEL Es sind viele deutsche unternehmer momentan bei uns. Sie suchen fachleute aus für Deutschland WhatsApp #3 (12.03.2024, 10: 50) Und was ist mit den familien von denen? WhatsApp #4 (12.03.2024, 10: 51) Nach dem neuen Einwanderung Gesetz dürfen Männer ihr Frau mit nehmen WhatsApp #5 (12.03.2024, 10: 53) Oder ihre Männer! Nicht diskriminieren! diskriminieren! WhatsApp #7 (12.03.2024, 11: 06) Und auch Eltern oder Schwiegermutter WhatsApp #6 (12.03.2024, 10: 53) Umso besser besser WhatsApp #8 (12.03.2024, 11: 13) Auf Utes Frage zu den Familien der eingeworbenen Fachleute antwortet Aybek in WhatsApp #5, dass die betreffenden „Männer“ ihre Frauen nach Deutschland mitnehmen dürfen, wodurch sich sein zuvor verwendetes Epikoinum „fach‐ leute“ als rein männerinkludierend entpuppt. In seiner unmittelbar folgenden Mitteilung ergänzt er mittels des konnektiven „Und“-Anschlusses, dass auch die Eltern und Schwiegermutter mitreisen dürfen. Ute korrigiert daraufhin (#7) Aybeks vorausgehende Aussage zu den Männern, die ihre Frauen mitnehmen dürfen, indem sie „Oder ihre Männer! “ (mit Exklamationsmarker) ergänzt und den auf der metakommunikativen Ebene angesiedelten, im deontischen Infinitiv realisierten Appell „Nicht diskriminieren! “ anfügt. Das die Mitteilung abschlie‐ ßende Emoji 😉 kontextualisiert die scherzhafte Modalisierung. Inwiefern Ute mit ihrer „Oder“-Alternative die Option von „Frauen, die ihre Männer mitnehmen“ im Blick hat, oder aber Aybeks Aussage um „Männer, die ihre potenziell gleichgeschlechtlichen Partner mitnehmen“ erweitert, bleibt unklar. Aybeks Reaktion auf die Fremdkorrektur inklusive Belehrung mittels „Umso Gendern im Deutschen 83 <?page no="84"?> 18 Patricia Linnemann danke ich für die Bereitstellung dieses WhatsApp-Ausschnittes. besser“ und des lachenden Emoji (#8) bestätigt die humoristische Modalisierung von Utes Zurechtweisung. • Wann und wie wird Gendern interaktiv „eingeklagt“? Hierzu folgenden Auszug aus einem WhatsApp-Gruppenchat unter FreundInnen. Nachdem Raphaela ein Foto einer Schmuckdose verschickt hat, die sie zum Ver‐ schenken anbietet, moniert Jerome deren genderbezogene Referenz: 18 Find ich nicht ok das das gegendert wird wird WhatsApp #2 (07.08.2020, 12: 46) SCHMUCKDOSE Heyho, jemand von den Mädels interesse an nem schmuckbaum oder einer schmuckdose? Gerne auch für dritte zum weiterverschenken, ich habe leider gar keine Verwendung mehr dafür WhatsApp #1 (07.08.2020, 12: 45) Zeitgleich mit Jeromes Mitteilung und seiner mittels Emoji humoristisch abge‐ milderten Kritik an Raphaelas männerexkludierender Referenzform („Mädels“) verschickt Raphaela eine Korrektur ihrer vorausgegangenen, rein feminin ausgerichteten Personenreferenzform, indem sie mittels „oder“ die Personenka‐ tegorie „Jungs“ nachliefert und zugleich ihre Korrektivhandlung begründet: Oder auch Jungs, will nicht diskriminieren. WhatsApp #3 (07.08.2020, 12: 46) Auch in Hinblick auf mögliche Sprachwandeltendenzen in Bezug auf das „generische Maskulinum“ besteht Forschungsbedarf: • In welchen Umgebungen zeichnet sich in den letzten Jahren ein „Rückzug des generischen Maskulinums“ ab? Handelt es sich hierbei tatsächlich um einen Sprachwandelprozess, der nicht nur einige wenige schriftliche Textsorten (Mediengenres, Gesetzestexte, politische Ansprachen etc.) be‐ trifft (Müller-Spitzer 2022: 37-38; Christen 2023), sondern sich auch in Alltagsgesprächen etabliert? Obgleich die mündliche (informelle wie formelle) Kommunikation einen we‐ sentlichen Beitrag zur alltäglichen „Konstruktion von Wirklichkeit“ (Berger/ Luckmann 1969 [1966]) leistet, liegen bis dato nur vereinzelte Studien zu 84 Susanne Günthner <?page no="85"?> 19 Ausnahmen bilden u. a. Christen (2023) zu Radiotalkshows; Kotthoff (2023) zu mündlichen Leitfadeninterviews; Meuleneers (2023) zu öffentlichen Radiosendern; Müller-Spitzer et al. (2024) zu Weihnachts- und Neujahrsansprachen. 20 Hierzu auch Christen (2023). 21 Erste Ansätze dazu liefern u. a. Christen (2023); Kotthoff (2023); Müller-Spitzer et al. (2024); Meuleneers (2024); Günthner (i.Dr.). situierten Praktiken genderbezogener Personenreferenzen im Bereich der ge‐ sprochenen Sprache (in unterschiedlichen kommunikativen Gattungen) vor. Gerade hier besteht ein erheblicher Klärungsbedarf: 19 • Wo und wie werden in mündlichen Interaktionen genderneutrale Personen‐ bezeichnungen realisiert? Werden bevorzugt Beidnennungen verwendet? In welchen Kontexten wird der Glottisschlag [Ɂ] nach der Stammform realisiert, bevor dann die movierten Suffixe in bzw. innen („Pfleger(.)innen“) folgen? Bzw. wann werden nominale Partizipien (Auszubildende), Abstrakta (Lehrperson, Vorstand) oder gar adjektivisch angereicherte Nominalphrasen (studentische Menschen) präferiert eingesetzt? • Inwiefern triggert die Erstnennung einer gegenderten Form durch Spre‐ cherIn1 (wie „drei Pfleger(.)innen waren dabei, davon ein Mann“) eine entsprechende Reproduktion im Folgeturn von SprecherIn2 („waren diese Pfleger(.)innen alle im Dienst? “) bzw. „waren auch Ärzt(.)innen anwe‐ send“)? 20 • In welchen (informellen bzw. formellen) Kontexten werden geschlechtsneu‐ trale Pronomina wie hen oder nin bzw. they eingesetzt? Zu all diesen Fragen der konkreten Umsetzung von Genderpraktiken in der privaten wie auch institutionellen Alltagswirklichkeit fehlen systematische, empirisch-ausgerichtete qualitative wie auch quantifizierende Studien. 21 5 Facetten einer metapragmatischen Positionierung: zur Kontextualisierungskraft genderbezogener Personenreferenzen Der Rechtschreibrat, der zu einer Stellungnahme bzgl. korrekter Schreibweise genderbezogener Personenbezeichnungen aufgefordert wurde, gab in seiner Presseerklärung am 14.07.2023 bekannt, dass grafische Zeichen im Wortinneren (Asterisk, Unterstrich, Binnen-I etc.) „nicht zum Kernbestand der deutschen Orthografie zählen“. Obgleich das Amtliche Regelwerk der deutschen Schrei‐ bung durchaus Wortbinnenzeichen (wie wortinterne Klammern, Apostroph, Bindestrich, Anführungszeichen) enthält, weist der Rechtschreibrat darauf Gendern im Deutschen 85 <?page no="86"?> 22 Siehe u. a. Günthner/ Bücker (2009) zu kommunikativen Konstruktionen der Selbst- und Fremdpositionierung in der Interaktion; Günthner (2013) zur kommunikativen Positionierung in Bezug auf kulturelle Zugehörigkeit; Kotthoff (2023) zu Gender-Posi‐ tionierungen in Interviewdaten. Vgl. Simon (2022) zur sozialindexikalischen Aufladung genderbezogener Sprache. Hierzu auch Günthner (2022) und Spitzmüller (2023). hin, dass er - angesichts der bislang nicht abgeschlossenen Entwicklung - diese zunächst „weiter beobachte[n]“ werde. Mit folgendem Hinweis spricht er allerdings eine wichtige Funktion dieser Symbole an: „Sie sollen eine über die formalsprachliche Funktion hinausgehende metasprachliche Bedeutung zur Kennzeichnung aller Geschlechtsidentitäten auf der Metaebene - männlich, weiblich, divers - vermitteln“ (https: / / www.rechtschreibrat.com/ amtliches-reg elwerk-der-deutschen-rechtschreibung-ergaenzungspassus-sonderzeichen/ ). Neben dieser vom Rechtschreibrat ausgeführten „metasprachlichen“ Funk‐ tion möchte ich an dieser Stelle einen weiteren funktionalen Aspekt dieser genderbezogenen Embleme ergänzen, der in der Genderlinguistik bislang nur randständig thematisiert wurde: die metapragmatische Kontextualisierungs‐ kraft (Silverstein 1993) dieser Zeichen (Kotthoff 2017; 2020; 2023; Günthner 2022; Spitzmüller 2023). Die Verwendung der aktuell diskutierten Embleme - Beidnennung, Binnen-I, generisches Femininum, nominale Partizipien und Abstrakta sowie Gender‐ stern, Doppelpunkt, Ausrufezeichen etc. - trägt neben der Kennzeichnung von Genderidentitäten bzw. Genderindifferenz zugleich zur Kontextualisierung der sozialen Positionierung bzw. eines „stancetaking“ (Du Bois 2007; Jaffe 2009; Kiesling 2022) bei. Das Konzept des „stancetaking“ wird in der Soziolinguistik und Anthropologischen Linguistik verwendet, um die Indexikalität kommuni‐ kativer Variablen in ihrer kontextuellen Verwendung zu erforschen und zu eruieren, wie sich SprecherInnen bzw. AutorInnen in Bezug auf das Gesagte positionieren. Mit ihrem stark dialogisch und intersubjektiv ausgerichteten Fokus untersuchen diese Forschungsbereiche die im Prozess der Interaktion von Seiten der SprecherInnen (bzw. AutorInnen) kodierte u. a. emotionale, modalisierende, regionale, bildungsbzw. gruppenbezogene etc. Positionierung. Es ist hinreichend bekannt, dass Äußerungen bzw. Sätze stets in einem soziokulturellen Kontext produziert und interpretiert werden und somit ein‐ gebunden sind in eine „sociolinguistic matrix“ ( Jaffe 2009: 3): Interagierende indizieren durch ihre Wahl der kommunikativen (etwa prosodischen, phono‐ logischen, grammatischen, lexikalisch-stilistischen und gestisch-mimischen) Verfahren zugleich ihre Positionierung bzw. ihre Orientierung an soziokultu‐ rellen Konventionen, Werten, Handlungen etc. 22 Wenn also eine/ ein AutorIn ein „generisches Maskulinum“, ein Binnen-I, einen Asterisk, einen Doppelpunkt 86 Susanne Günthner <?page no="87"?> 23 Selbstverständlich existieren vielfältige Kontexte, bei denen das sogenannte „gene‐ rische Maskulinum“ als unmarkierte Form zur Referenz auf Personen aller Gender‐ gruppen verweist. 24 Hierzu auch Kotthoff (2017: 104), die von der „Herstellung von Gruppenzugehörigkeit“ mittels genderbezogener „Schreibpraxen“ spricht. Siehe auch Spitzmüller (2023) zu Aspekten des impliziten und expliten „stancetaking“ in Bezug auf das Gendern. Vgl. Christen (2023) zur Positionierung durch Gendern in Radiotalkshows. etc. zur Personenreferenz verwendet, liefert sie/ er keineswegs nur Hinweise in Bezug auf die Genderidentitäten der Referenzperson bzw. -gruppe, sondern die Symbolkraft dieser sprachlichen Zeichen verweist zugleich zurück auf die/ den AutorIn und deren/ dessen soziokulturelle Positionierung (Günthner 2013; 2022). Im Sinne Aghas (2007: 279) handelt es sich hierbei um „metapragmatische Stereotype“ und damit um Typisierungen, die wiederum Einstellungen der SprecherInnen (bzw. deren „stancetaking“) - im Sinne der Reflexivität kom‐ munikativer Verfahren (Günthner 2000; 2013) - indizieren: Während einige AutorInnen mit dem „generischen Maskulinum“ in bestimmten Kontexten ihre Distanz zur gendersensiblen Sprache markieren, 23 kontextualisieren andere durch Binnen-I oder „generisches Femininum“ u. U. ihren feministisch ausge‐ richteten „stance“, ihre Generationszugehörigkeit etc.; wiederum andere indi‐ zieren mit Asterisk, Unterstrich usw. eine Affiliation mit einer queer-bezogenen Diskursgemeinschaft, bzw. ordnen sich einer jüngeren akademisch gebildeten Personengruppe in Großbzw. Universitätsstädten zu. Die gewählte Variante der Personenbezeichnung kann ferner dazu beitragen, das betreffende Genre - offizielle Stellenausschreibung, Artikel einer linken Zeitung, Rundschreiben einer universitären Fachschaft etc. -, das stilistische Register oder Aspekte wie (In)formalität, Vertrautheit vs. Distanz etc. mit zu konstituieren. Obgleich die soziale Indexikalität dieser Genderformate kontextkontingent variiert, ist ihr Kontextualisierungspotenzial dennoch keineswegs willkürlich; vielmehr ist es Bestandteil eines reflexiven Prozesses, der in der zwischenmenschlichen Kommunikation verankert ist: Das gewählte Zeichen indiziert also nicht nur die Genderzugehörigkeit der Referenzperson oder Personengruppe, sondern aufgrund ihrer grundlegenden Indexikalität vermag die gewählte Personenre‐ ferenzform zugleich weitere soziale Faktoren zu kontextualisieren. 24 Dieser Aspekt der Kontextualisierung soziokultureller Bedeutung verweist wiederum auf die sich vollziehende metapragmatische Re-Semiotisierung und Emblematik genderbezogener Zeichen (Silverstein 2003), deren Zuordnung und Ausbreitung sozial (je nach Alter, Region, Geschlechtszugehörigkeit, Ausbil‐ dung, soziopolitischer Einstellung etc.) unterschiedlich verteilt scheint. Bezeich‐ nenderweise bleibt auch das traditionelle Maskulinum von diesem Prozess nicht Gendern im Deutschen 87 <?page no="88"?> 25 Nach King/ Crowley (2023: 81) werden solche „pronouns in bio“ vor allem in sozialen Medien, in E-Mail-Signaturen, aber auch in „dating apps“ verwendet. 26 King/ Crowley (2023: 82) sprechen hierbei von einer Selbstcharakterisierung als „woke liberal“. unberührt (Christen 2023; Müller-Spitzer et al. 2024): So verliert das Maskulinum in gewissen Kontexten an Generizitätspotenzial, in anderen dagegen gewinnt es zusammen mit dem Femininum an Generizitätsbefähigung; beispielsweise im Zusammenhang mit (listenförmig) gereihten Alternativformen wie im WhatsApp-Dialog ÄRZTESITUATION „Zahnärzte sind okay, augenärztinnen schwierig … aber orthopäden ne katastrophe“, bei denen sowohl das Masku‐ linum als auch das Femininum generisch interpretiert werden (können). Zur Skizzierung der Kontextualisierungskraft genderbezogener Personenre‐ ferenzen seien hier zwei Beispiele aus meinem Universitätsalltag angeführt: • In Seminaren, auf Tagungen, in Videokonferenzen, aber auch bei E-Mail-Si‐ gnaturen etc. trifft man seit einigen Jahren immer wieder auf folgendes Phänomen der metakommunikativen Selbstreferenz: TeilnehmerInnen prä‐ sentieren Namensschilder bzw. Signaturen, bei denen der eigene Personen‐ name durch pronominale Zusatzangaben (z. B. „Max Müller - he/ him“ oder „Jule Knapp - sie/ ihr“) ergänzt wird. Mit diesen Pronomina der 3. Person („pronouns in bio“, King/ Crowley 2023: 80-82), die meist im Nominativ und Dativ oder Akkusativ stehen, soll indiziert werden, wie auf den/ die SchreiberIn zu referieren ist. 25 Hierbei handelt es sich insofern um eine mehrdimensionale Selbstpositionierung, als die betreffende Person sich zum einen über die Pronominalverwendung der 3. Person in Bezug auf ihre Genderzugehörigkeit identifiziert, obgleich die gewünschte Genderidentität (und damit der Hinweis, wie auf sie in der 3. Person zu verweisen ist) in der Regel bereits durch den Vornamen sowie in Face-to-face Interaktionen und Videokonferenzen auch durch körperliche Indikatoren wie Frisur, Kleidung, Stimme kontextualisiert wird. Zum andern wird auf der Ebene der Metapragmatik ein „stance act“ durchgeführt, bei dem die Person - auf Basis der sozial-indexikalischen Symbolkraft dieses pronominalen Zusatzhinweises - eine Positionierung in Bezug auf ihre genderbezogene Einstellung bzw. ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten „community of practice“ kommuniziert (Agha 2007). 26 Auf Anfrage hin teilten mir Studierende, die diese zusätzliche pronominale Selbstidentifikation verwenden, mit, dass sie damit (selbst wenn sowohl ihr Vorname als auch ihr kleidungs- und frisurbezogenes wie auch stimmliches Display ihre Genderidentität instanziieren), ihre „Solidarität mit Personen 88 Susanne Günthner <?page no="89"?> ausdrücken“, die sich entweder nicht binär einordnen (markiert u. a. durch they/ them) oder allein durch die sichtbaren und auditiven Merkmale nicht klar zuzuordnen sind. Ferner sei dies aber auch ein Hinweis darauf, dass man markieren möchte, dass „Genderidentitäten keineswegs rein binär ausgerichtet“ sind. • Gelegentlich erhalte ich E-Mails von Studierenden, die mich mit Prof* Günthner bzw. Prof*in Günthner anschreiben - ungeachtet der Tatsache, dass ich einen weiblich markierenden Vornamen („Susanne“) trage. Es scheint hierbei also weniger darum zu gehen, dass die SchreiberInnen meine Genderidentität als „non-binär“ kategorisieren, sondern vielmehr um eine indexikalische Selbstpositionierung der Schreibenden in Bezug auf Gendern als soziokulturelle Praxis. Auf Nachfrage berichteten mir Studierende, dass sie solche Anredeformen in Mails an ihre DozentInnen verwenden, da sie teilweise unsicher sind, welche Anrede die betreffende Person bevorzugt und sie zugleich ihre positive Einstellung zum Gendern ausdrücken wollen. In beiden Fällen der Genderbezugnahme durch zusätzliche Pronomina bzw. Genderstern in der namentlichen Anrede wird das alltägliche Gender-Display (Goffman 1977) als nicht länger ausreichend betrachtet. Dies wirft die Frage auf: Wie kommt es, dass die soziokulturell gerahmten Genderdisplay-Verfahren (wie Vornamen, Kleidung, Frisur, Stimme, Gestik/ Mimik), die wir in unseren Alltags‐ inszenierungen mitliefern, vom Gegenüber u. U. als unzureichend behandelt werden, so dass eine zusätzliche, explizite Genderidentifikation per Pronomina der 3. Person notwendig erscheint? Bzw. sind diese zusätzlichen Indizierungen primär Embleme einer metapragmatischen „stance“-Markierung von Seiten der ProduzentInnen, die damit ihre Solidarität mit und ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Diskursgemeinschaft indizieren? Angesichts der aufgeworfenen Fragen, der Skizzierung von Forschungslü‐ cken und der Diskussion einzelner Beispiele aus dem Universitätsalltag in Hinblick auf den Einsatz von Genderpraktiken in Alltagsinteraktionen wird erkenntlich, dass rein systemlinguistische Analysen, welche die auf unter‐ schiedlichen Ebenen angesiedelten Indizierungsoptionen sozialer Bedeutung ignorieren, in mehrfacher Hinsicht zu kurz greifen: Wir haben es in Bezug auf Strategien des Genderns mit einem mehrdimensionalen Bereich zu tun, in dem Aspekte der Grammatik mit soziokulturellen Faktoren und Gebrauchs‐ konventionen in der konkreten kommunikativen Praxis (Fladrich et al. 2024) interagieren. Gendern im Deutschen 89 <?page no="90"?> Bibliographie Agha, Asif (2007): Language and social relations. Cambridge: Cambridge University Press. Baumgartinger, Perrson P. (2008): Lieb[schtean] Les[schtean], [schtean] du das gerade liest… Von Emanzipation und Pathologisierung, Ermächtigung und Sprachverände‐ rungen. Liminalis 02, 24-39. Berger, Peter/ Luckmann, Thomas (1969 [1966]): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.-M.: Fischer. Christen, Helen (2023): Über das Unbehagen am generischen Maskulinum. Befunde zum mündlichen Gebrauch von Personenbezeichnungen. Beiträge zur Namenforschung 58, 283-310. Diewald, Gabriele (2018): Zur Diskussion: Geschlechtergerechte Sprache als Thema der germanistischen Linguistik - exemplarisch exerziert am Beispiel um das sogenannte generische Maskulinum. ZGL 46 (2), 283-299. Diewald, Gabriele/ Steinhauer, Anja (2017): Richtig gendern. Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Berlin: Dudenverlag. ―-(2019): Gendern - ganz einfach. Berlin: Dudenverlag. Diewald, Gabriele/ Nübling, Damaris (Hrsg.) (2022): Genus - Sexus - Gender. Berlin/ Boston: De Gruyter. https: / / doi.org/ 10.1515/ 9783110746396 Du Bois, John W. (2007): The Stance Triangle. In: Englebretson, Robert (Hrsg.): Stance‐ taking in Discourse. Subjectivity, Evaluation, Interaction. Amsterdam: Benjamins, 139-182. Duden (2022): Handbuch geschlechtergerechte Sprache: Wie Sie angemessen und ver‐ ständlich gendern. (Gabriele Diewald, Anja Steinhauer). Berlin: Dudenverlag. Eckert, Penelope/ McConnell-Ginet, Sally (1998): Communities of practice. Where lang‐ uage, gender, and power all live. In: Coates, Jennifer (Hrsg.): Language and gender: A reader. Oxford/ Maden, MA.: [o. V.], 484-494. Fladrich, Marcel/ Imo, Wolfgang/ König, Katharina/ Lanwer, Jens/ Weidner, Beate (Hrsg.) (2024): Susanne Günthner: Sprache in der kommunikativen Praxis. Berlin/ Boston: De Gruyter. Garfinkel, Harald (1967): Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Goffman, Erving (1977): The Arrangement between the Sexes. Theory and Society 4, 301-331. Guentherodt, Ingrid/ Hellinger, Marlis/ Pusch, Luise/ Trömel-Plötz, Senta (1980): Richtli‐ nien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs. Linguistische Berichte 69, 115- 121. Gumperz, John J. (1982): Discourse Strategies. Cambridge: Cambridge University Press. 90 Susanne Günthner <?page no="91"?> Gumperz, John J./ Levinson, Stephen C. (1996): Introduction: Linguistic Relativity re-exa‐ mined. In: Gumperz, John J./ Levinson, Stephen C. (Hrsg.): Rethinking linguistic relativity. Cambridge: Cambridge University Press, 1-20. Günthner, Susanne (1993): Diskursstrategien in der interkulturellen Kommunikation. Tübingen: Niemeyer. ―-(2000): Vorwurfsaktivitäten in der Alltagsinteraktion. Grammatische, prosodische, rhetorisch-stilistische und interaktive Verfahren bei der Konstitution kommunika‐ tiver Muster und Gattungen. Tübingen: Niemeyer. ―-(2006): Doing vs. Undoing Gender? Zur Konstruktion von Gender in der kommuni‐ kativen Praxis. In: Bischoff, Doerte/ Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.): Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt: Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhe‐ torik. Heidelberg: Winter, 35-58. ―-(2013): Doing Culture - Kulturspezifische Selbst- und Fremdpositionierungen im Gespräch. In: Bogner, Andrea et al. (Hrsg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Band-38/ 2012. München: iudicium, 30-48. ―-(2014): Ein Empathietraining für Männer? Zur Reaktivierung des generischen Femi‐ ninums an deutschen Hochschulen. In: Pusch, Luise (Hrsg.): Die Sprachwandlerin - Luise Pusch. Göttingen: Wallstein, 44-53. ―-(2019): Sprachwissenschaft und Geschlechterforschung: Übermittelt unsere Sprache ein androzentrisches Weltbild? In: Kortendiek, Beate/ Riegraf, Birgit/ Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Band-1. Wiesbaden: Springer VS, 571-579. ―-(2022): Personenbezeichnungen im Deutschen. Aspekte der aktuellen Debatte um eine gendergerechte Sprache. In: Becker, Lidia/ Kuhn, Julia/ Ossenkop, Chris‐ tina/ Polzin-Haumann, Claudia/ Profti, Elton (Hrsg): Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven. Tübingen: Narr Francke Attempto, 17-38. ―-(i.Dr.): Kommunikative Praktiken des Genderns: zum Kontextualisierungspotenzial genderbezogener Indizierungen. Erscheint in: Deutsche Sprache. Günthner, Susanne/ Bücker, Jörg (Hrsg.) (2009): Grammatik im Gespräch. Konstruktionen der Selbst- und Fremdpositionierung. Berlin/ New York: De Gruyter. Günthner, Susanne/ Hüpper, Dagmar/ Spieß, Constanze (Hrsg.) (2012): Genderlinguistik. Sprachliche Konstruktionen von Geschlechtsidentität. Berlin/ Boston: De Gruyter. Hirschauer, Stefan (1989): Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit. Zeitschrift für Soziologie 18 (2), 100-118. Humboldt, Wilhelm von (1963 [1830-1835]): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Flitner, Andreas/ Giel, Klaus (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, vol. 3: Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell‐ schaft, 144-165. Gendern im Deutschen 91 <?page no="92"?> Jaffe, Alexandra (2009): Introduction: The Sociolinguistics of Stance. In: Jaffe, Alexandra (Hrsg.): Stance: Sociolinguistic Perspectives. Oxford: Oxford University Press, 3-28. Kiesling, Scott F. (2022). Stance and Stancetaking. Annual Review of Linguistics 8, 409-426. King, Brian W./ Crowley, Archie (2023): The future of pronouns in the online/ offline nexus. In: Paterson, Laura L. (Hrsg.): Routledge Handbook of Pronouns. New York: Routledge, 74-85. Knoblauch, Hubert (2017): Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Wies‐ baden: Springer VS. Kotthoff, Helga (2017): Von Syrx, Sternchen, großem I und bedeutungsschweren Strichen. Über geschlechtergerechte Personenbezeichnungen in Texten und die Kreation eines schrägen Registers. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 91 (2), 91-115. ―-(2020): Gender-Sternchen, Binnen-I oder generisches Maskulinum, … (Akademische) Textstile der Personenreferenz als Registrierungen? “ Linguistik Online 103 (3), 105- 127. https: / / bop.unibe.ch/ linguistik-online/ article/ download/ 7181/ 10198/ . 17.05.2024. ― (2023): Gendern unter soziolinguistischer Perspektive. Leitfadeninterviews mit nicht‐ akademischer Klientel zu Haltungen und Spracheinstellungen. Deutsche Sprache 3 (2023), 181-220. Kotthoff, Helga/ Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik: Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr. Levinson, Stephen (2003): Space in language and cognition: Explorations in cognitive diversity. Cambridge: Cambridge University Press. Lucy, John (1992): Grammatical Categories and Cognition: A Case Study of the Linguistic Relativity Hypothesis. Cambridge-: Cambridge University Press. Meuleneers, Paul (2023): „Als Mann bin ich grundsätzlich positiv eingestellt gegenüber einer gendergerechten […] Sprache“ [As a man I’m in principal in favour of genderfair language] - Positioning oneself towards gender-inclusive language in the german discourse. Vortrag gehalten bei AILA 20th World Congress 2023. Lyon. 21.07.2023. Michaux, Valerie/ Méndez, Josefine/ Apel, Heiner (2021): Mündlich Gendern? Gerne. Aber wie genau. IDS Sprachreport 2 (2021), 34-41. Müller-Spitzer, Carolin (2022): Der Kampf ums Gendern, In: Nassehi, Armin/ Felixberger, Peter/ Anderl, Sibylle (Hrsg.): Kursbuch 209 - Ausnahmezustand - Normalität. Ham‐ burg: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, 28-45. Müller-Spitzer, Carolin et al. (2024): Die Herausbildung neuer Routinen der Personenre‐ ferenz am Beispiel der deutschen Weihnachts- und Neujahrsansprachen. Manuskript. Nübling, Damaris (2019): Geschlechter(un)ordnungen in der Grammatik. Deklination, Genus, Binominale. In: Eichinger, Ludwig/ Plewnia, Albrecht (Hrsg.): Neues vom heutigen Deutsch. Empirisch - methodisch - theoretisch. Berlin/ Boston: De Gruyter, 19-58. 92 Susanne Günthner <?page no="93"?> Nübling, Damaris/ Fahlbusch, Fabian/ Heuser, Rita (2012): Namen. Eine Einführung in die Onomastik. Tübingen: Narr. Nübling, Damaris/ Lind, Miriam (2021): The Neutering Neuter - grammatical gender and the dehumanisation of women in German. Journal of Language and Discrimination ( JLD) 5.2, 118-141. Pusch, Luise (1979): Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch weiter kommt man ohne ihr. Linguistische Berichte 63, 84-102. ―-(1980): Das Deutsche als Männersprache. Diagnose und Therapievorschläge. Lingu‐ istische Berichte 69 (Themenheft Sprache, Geschlecht und Macht), 59-74. ―-(1984): Das Deutsche als Männersprache. Frankfurt a.-M.: Suhrkamp. ―-(1990): Alle Menschen werden Schwestern. Frankfurt a.-M.: Suhrkamp. Sapir, Edward (1929): The Status of Linguistics as a Science. Language 5, 207-214. Schröter, Juliane/ Linke, Angelika/ Bubenhofer, Noah (2012): ‚Ich als Linguist‘ - Eine empirische Studie zur Einschätzung und Verwendung des generischen Maskulinums. In: Günthner, Susanne/ Hüpper, Dagmar/ Spieß, Constanze (Hrsg.): Genderlinguistik. Sprachliche Konstruktionen von Geschlechtsidentität. Berlin/ Boston: De Gruyter, 359-379. Silverstein, Michael (1993): Metapragmatic discourse and metapragmatic function. In: Lucy, John (Hrsg.): Reflexive Language: Reported Speech and Metapragmatics. Cam‐ bridge: Cambridge University Press, 33-58. ―-(2003): Indexical order and the dialectics of sociolinguistic life. Language and Com‐ munication 23, 193-229. Simon, Horst J. (2022): Sprache Macht Emotionen: Geschlechtergerechtigkeit und Sprachwandel aus Sicht der historischen Soziolinguistik. APuZ - Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 5 (7), 16-22. https: / / www.bpb.de/ shop/ zeitsc hriften/ apuz/ geschlechtergerechte-sprache-2022/ 346087/ sprache-macht-emotionen/ . 17.04.2024. Spieß, Constanze/ Günthner, Susanne/ Hüpper, Dagmar (2012): Perspektiven der Gender‐ linguistik. In: Günthner, Susanne/ Hüpper, Dagmar/ Spieß, Constanze (Hrsg.): Gender‐ linguistik. Sprachliche Konstruktionen von Geschlechtsidentität. Berlin/ Boston: De Gruyter, 1-27. Spitzmüller, Jürgen (2023): Metapragmatische Positionierung. Reflexive Verortung zwi‐ schen Interaktion und Ideologie. In: Dang-Anh, Mark (Hrsg.): Politisches Positio‐ nieren. Sprachliche und soziale Praktiken. Heidelberg: Winter, 39-66. Trömel-Plötz, Senta (1978): Linguistik und Frauensprache. Linguistische Berichte 57, 49-68. Trömel-Plötz, Senta et al. (1981): Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachge‐ brauchs. Linguistische Berichte 71, 1-2. Gendern im Deutschen 93 <?page no="94"?> West, Candace/ Zimmerman, Don H. (1987): Doing Gender. Gender and Society 1, 121- 151. Wittgenstein, Ludwig (2001): Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edi‐ tion. Herausgegeben von Joachim Schulte. Frankfurt a.M.: Wissenschaftliche Buch‐ gesellschaft. https: / / www.br.de/ nachrichten/ bayern/ soeder-verspricht-gender-verbot-hightech-osca r-und-ki-uni,TxZEbes. 17.05.2024. https: / / www.deutschlandfunkkultur.de/ genderverbot-bayern-100.html. 17.05.2024. https: / / www.fr.de/ hessen/ schwarz-rot-in-hessen-einigt-sich-auf-koalitionsvertrag-zr-9 2727992.html. 17.05.2024. https: / / www.giessener-allgemeine.de/ giessen/ germanistische-institute-warnen-vor-ge nderverbot-92758882.html. 17.05.2024. https: / / www.mdr.de/ nachrichten/ sachsen-anhalt/ landespolitik/ gendern-verbot-schulen -104.html. 31.03.2024 https: / / www.mdr.de/ nachrichten/ sachsen/ politik/ gendern-verbot-schulen-vereine-100. html. 17.05.2024. https: / / www.rechtschreibrat.com/ amtliches-regelwerk-der-deutschen-rechtschreibungergaenzungspassus-sonderzeichen/ . 17.05.2024 https: / / www.rechtschreibrat.com/ DOX/ rfdr_PM_2018-11-16_Geschlechtergerechte_Sc hreibung.pdf. 17.05.2024 https: / / www.tagesspiegel.de/ wissen/ frauen-sind-keine-sonderfalle-2512831.html. 17.05.2024 https: / / www.zeit.de/ 2024/ 08/ fuehrerschein-70-fahrtauglichkeit-senioren-sicherheit-stra ssenverkehr. 17.05.2024 https: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ 2024-03/ gendersprache-verbot-hessen-landesverwaltu ng. 17.05.2024. https: / / www.zeit.de/ news/ 2024-01/ 16/ baden-wuerttemberg-hier-soll-gendern-verboten -werden. 17.05.2024. 94 Susanne Günthner <?page no="95"?> 1 Ich verwende den Begriff gendern hier in seiner engeren Bedeutung: „geschlechtsneu‐ trale oder geschlechtsinklusive Ausdrücke verwenden und dadurch Texte so gestalten, dass die Ausgrenzung aufgrund des (sozialen) Geschlechts vermieden wird“ („gen- Gendern in Österreich: Aktuelle Strategien und öffentliche Debatten Karoline Irschara Zusammenfassung: Dieser Beitrag widmet sich dem Thema Gendern im österreichischen Raum aus mehreren Blickwinkeln: Zunächst werden aktuelle Strategien und Empfehlungen des gendergerechten Sprachge‐ brauchs anhand unterschiedlicher Leitfäden herausgearbeitet. In einem zweiten Schritt werden Tendenzen im Sprachgebrauch mit Hilfe der A-Korpora (IDS 2023) analysiert. Dabei lässt sich feststellen, dass neuere Genderzeichen im Zeitraum 2010-2022 mit geringer Frequenz Eingang in den Sprachgebrauch der österreichischen Zeitungslandschaft gefunden haben. In den letzten Jahren zeigen vor allem der Genderstern und -dop‐ pelpunkt eine steigende Tendenz. Diese Zeichen stehen immer wieder im Zentrum der öffentlichen, teils sehr polemisch geführten Debatte. Ein Korpus aus dreißig rezenten Artikeln zu diesbezüglichen Diskussionen dient als Grundlage für die Analyse rekurrenter Topoi. Insgesamt zeigt sich eine starke Dominanz von Gegenpositionen sowie ein Rückgriff auf traditionelle Argumente gegen den gendergerechten Sprachgebrauch. Schlüsselbegriffe: Österreich, gendern, gendergerechte Sprache, Genderzeichen, Topoi, Argumente, Diskurs 1 Einleitung Kaum eine andere sprachbezogene Angelegenheit wird im österreichischen Raum derzeit so intensiv und kontrovers diskutiert wie das sogenannte Gendern.  1 Vorschläge für eine geschlechtergerechtere Sprache werden in verschie‐ <?page no="96"?> dern“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https: / / www.dwds.de/ wb/ gendern>, abgerufen am-01.07.2023). 2 Zahlreiche Benennungen werden partiell synonym zu gender- oder geschlechterge‐ rechtem Sprachgebrauch verwendet. Eine detaillierte Systematisierung entsprechender Ausdrücke, die in Titeln österreichischer Sprachleitfäden vorkommen, findet sich bei Wetschanow (2017: 37-45), darunter nicht-sexistisch, geschlechtergerecht, geschlechter‐ neutral, gendergerecht, genderfair, gendersensibel, diskriminierungsfrei, antidiskriminie‐ rend, inklusiv. Dazu kommt als neuerer Ausdruck diversityfair (so in der Broschüre der FH Campus Wien, vgl. Traunsteiner 2021). denen gesellschaftlichen und institutionellen Bereichen erprobt; das Thema ruft vielfach auch heftige Kritik und emotionale Reaktionen hervor, und zwar nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Linguistik. In der über weite Strecken polemisch aufgeladenen Diskussion fällt es schwer, den Überblick zu bewahren und der augenfälligen Polarisierung etwas entgegenzusetzen. Dies möchte der folgende Beitrag mit Blick auf die gegenwärtige Situation in Öster‐ reich leisten, indem 1) aktuelle Strategien und Tendenzen im Sprachgebrauch dargestellt und 2) aus einer argumentationsanalytischen Perspektive rekurrente Topoi im öffentlich-medialen Disput zu diesem Thema zusammengetragen werden. Die folgenden Fragen werden kursorisch behandelt: Welche Strategien werden aktuell eingesetzt und debattiert? Wie stark sind diese Strategien verbreitet? Welche Argumente werden von verschiedenen Seiten vorgebracht und welche Annahmen liegen diesen zugrunde? 2 Strategien und Empfehlungen zum gendergerechten Sprachgebrauch in Österreich Im deutschsprachigen Raum koexistieren mehrere Varianten des genderge‐ rechten Sprachgebrauchs; 2 je nach Institution, Organisation oder Community unterscheiden sich die Empfehlungen und Verfahrensweisen voneinander: Gender wird sichtbar gemacht und spezifiziert (Studenten und Studentinnen, StudentInnen) oder aber neutralisiert (Studierende) bzw. anderweitig umgangen. Letzteres ist der Fall, wenn anstelle einer Personenbezeichnung ein Kollektivum oder eine abstrakte Bezeichnung verwendet wird (Kundschaft statt Kunden und Kundinnen; Gericht statt RichterInnen). Neben dem bereits in den 1980er Jahren vorgeschlagenen Binnen-I wurden im Sinne einer postfeministischen Sprachkritik besonders in den letzten Jahren weitere Kürzungsvarianten vor‐ geschlagen (vgl. Kotthoff/ Nübling 2018: 218). Derzeit werden in Österreich besonders solche intensiv debattiert, mit denen Gestaltungsraum zwischen den Geschlechtern eröffnet bzw. das binäre Geschlechtersystem hinterfragt werden soll (AG Feministisch Sprachhandeln 2014: 15). Bei diesen Verfahren 96 Karoline Irschara <?page no="97"?> 3 Nicht alle Genderzeichen treten an der Morphemgrenze auf, so tritt der von Hornscheidt (2012: 302-306) vorgeschlagene dynamische Unterstrich an unterschiedlichen, nicht festgelegten Stellen im Wortinneren auf. 4 Die x-Form wird beispielsweise in den vom Dudenverlag herausgebrachten Handrei‐ chungen zum Gendern nur am Rande eines Überblicks zur feministisch motivierten Debatte erwähnt (vgl. Diewald/ Steinhauer 2017: 123). 5 Mein Beitrag widmet sich vor allem der Diskussion typographischer Zeichen in nominalen Personenreferenzen, jedoch geht es beim Gendern auch um die - bisher kaum behandelte - Frage nach geschlechtsneutralen Pronomina (vgl. Ängsal 2015: 165), bei denen Löhr (2022: 372) einen „dringenden Änderungsbzw. Ergänzungsbedarf “ feststellt, um sprachliche Diskriminierung zu verringern. 6 Für eine Übersicht zur Kritik der Bezeichnung des Maskulinums als generisch siehe Ott (2017: 16 f.). werden unterschiedliche Zeichen an die Morphemgrenze angefügt; 3 zu den pro‐ minentesten gehören der Genderstern/ Asterisk (Student*innen), der Gendergap (Student_innen) sowie der Genderdoppelpunkt (Student: innen). Darüber hinaus gibt es weitere, weniger bekannte typographische Formen wie die Tilde (Stu‐ dent~innen), den Apostroph (Student’innen) und den Mediopunkt (Student·innen) sowie tiefgreifendere Änderungsvorschläge wie die x-Form (Studierx, vgl. AG Feministisch Sprachhandeln 2014: 15), auf welche hier aufgrund ihrer geringen Verbreitung 4 nicht näher eingegangen wird. 5 Die derzeitigen sprachpolitischen Strategien können unter anderem in insti‐ tutionell verankerten Leitfäden und Handreichungen beobachtet werden. In einer historisch-vergleichenden Untersuchung von Leitfäden österreichischer Universitäten und Behörden bestätigt Wetschanow (2017), dass wechselnde Gendertheorien Einfluss auf die Gestaltung dieser Richtlinien nehmen, die sich in einem Spannungsfeld zwischen traditioneller feministischer und queerer, poststrukturalistischer Sprachkritik bewegen. Während einige Richtlinien vor‐ dergründig am Konzept der sprachlichen Korrektheit orientiert sind und Ein‐ griffe in die Sprachstruktur so weit wie möglich vermieden werden, richten sich andere Leitlinien stärker nach gesellschaftspolitischen Anliegen und schlagen insofern radikalere Veränderungen der sprachlichen Gewohnheiten vor. Eine Fokussierung auf sprachliche Korrektheit stellt etwa Steurer (2019) für die staatlich herausgegebenen Leitfäden in Österreich fest, die für den Zeitraum 2006-2015 vor allem binäre Strategien der Sichtbarmachung empfehlen. Auch die jüngste Version des Sprachleitfadens des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (2018) schlägt traditionelle Formen der Sichtbar‐ machung vor, nämlich Beidnennung (Bürger und Bürgerinnen) und Kürzung mit Schrägstrich (Bürger/ -innen). Im Abschnitt zu den geschlechtsneutralen Formulierungen wird auch das sogenannte generische Maskulinum 6 (GM) empfohlen, welches im Zentrum feministischer Sprachkritik steht. Zahlreiche Gendern in Österreich 97 <?page no="98"?> psycholinguistische Studien sichern die Erkenntnis, dass dieses nicht geschlech‐ terübergreifend interpretiert wird (u. a. Braun et al. 1998; Gygax et al. 2008; Sczesny et al. 2016). Ein Gegenbeispiel ist der aktuelle Leitfaden der Gleich‐ behandlungsanwaltschaft (2021), in welchem verschiedenste, auch weniger bekannte typographische Zeichen (etwa der Apostroph) und Formulierungen (Mitarbeiter ‚bis‘ Mitarbeiterinnen) erwähnt und geschlechtsneutrale Pronomina bzw. Anredeformen thematisiert werden. Ein kursorischer Blick in die Leitfäden der österreichischen Universitäten und Fachhochschulen lässt erkennen, dass hier neueren und teilweise ungewohnten Formen mehr Spielraum gewährt wird: Mehrere Leitfäden der jeweiligen Gleichbehandlungsstellen enthalten Informationen zu den typographischen Zeichen Genderstern, -doppelpunkt und -gap (vgl. Universität Innsbruck 2023; Universität Salzburg 2012); favorisiert wird der Genderstern als Ausdruck geschlechtlicher Vielfalt (vgl. Traunsteiner 2021; Universität Wien 2019; Uni‐ versität Graz 2023; Donau-Universität Krems 2020). Auch verschiedene Stra‐ tegien der Neutralisierung werden durchgängig empfohlen, überwiegend in Kombination mit Strategien der Sichtbarmachung. Beispielsweise empfiehlt der Leitfaden der Universität Wien, nicht ausschließlich geschlechtsneutral zu formulieren, sondern geschlechtliche Vielfalt auch aktiv sichtbar zu machen (vgl. Universität Wien 2019). In einigen Leitfäden finden sich zudem seltenere Varianten wie die Tilde und der dynamische Unterstrich (vgl. WU Wien 2017) oder der Mediopunkt (vgl. FH Oberösterreich 2015) und auch Hinweise zur Benutzung geschlechtsneutraler Pronomina (vgl. Traunsteiner 2021). Seltener sind Empfehlungen, die explizit von binären Formen abraten, wie der Leitfaden der FH Joanneum, in dem Doppelformen und Formulierungen mit dem Binnen-I als „nicht ausreichend“ (2023: o.S.) bezeichnet werden. Diese Offenheit für neuere Formen steht im Widerspruch zur aktuellen Rechtschreibung: Das amtliche Regelwerk der für Österreich gültigen deutschen Sprache (ÖWB 2022) schließt sich in diesem Punkt dem Rat für deutsche Rechtschreibung an und spricht mit dem Hinweis darauf, dass sich bisher keine Regelmäßigkeit herausgebildet habe, keine Empfehlung für verkürzte Formen mit Genderstern, -gap oder -doppelpunkt aus. Unter Berufung auf die Leitlinien des Bundeskanzleramtes (2021) werden unter anderem die Beidnennung, die Kürzungsform mit Schrägstrichen und substantivierte Partizipien befürwortet. Hinsichtlich weiterer Kürzungsvarianten vertritt das ÖWB die Auffassung, dass diese „die Lesbarkeit irritieren bzw. das Vorlesen zum Stocken bringen“ (ÖWB 2022: 873). Nicht im Kapitel zur gendersensiblen Sprache, sondern im Kapitel zur Verwendung von Schrägstrichen findet sich schließlich das Binnen-I als Schreib‐ variante mit dem Hinweis, dass aus der Nichtbehandlung der Binnenmajuskel‐ 98 Karoline Irschara <?page no="99"?> 7 Dieser Aspekt dürfte weiterhin interessant bleiben: Im Juli 2023 wurde vom Rat für deutsche Rechtschreibung beschlossen, dass Genderzeichen nun in einem neuen Passus zu Sonderzeichen im amtlichen Regelwerk erfasst werden sollen. In einem Interview erklärt Henning Lobin (Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung), dass die Anerkennung von Sonderzeichen außerhalb der Orthographie ein Fortschritt sei - auch in diesem Bereich gebe es Verwendungsregeln, und der Einsatz von Sonderzeichen im Wortinneren sei hier nicht einfach falsch, nur weil das Regelwerk sie nicht erfasse (vgl. Frank 2023). 8 Dieses Korpus bildet die Basis für korpuslinguistische Analysen des Rats für deutsche Rechtschreibung (12,5 Mrd. Tokens, bestehend aus Zeitungs- und Zeitschriftentexten). schreibung im amtlichen Regelwerk nicht automatisch geschlossen werden könne, deren Gebrauch sei fehlerhaft (vgl. ÖWB 2022: 924). 7 Diewald/ Steinhauer (2019) sehen ihrerseits in solchen Schreibungen unabhängig von orthographi‐ schen Nicht-Empfehlungen „weitverbreitete und legitime Mittel des Strebens nach geschlechtergerechtem schriftlichen Ausdruck“ (S. 30). Es stellt sich nun die Frage, inwieweit diese in Österreich tatsächlich verwendet werden. 3 Genderzeichen im Sprachgebrauch Für den deutschsprachigen Raum liegen bisher nur vereinzelte Studien zum Gebrauch von Genderzeichen vor, darunter Sökefeld (2021), die sich mit der Entwicklung von Personenbezeichnungen im Standarddeutschen beschäftigt. Auf Grund einer Korpusanalyse von Blog- und Zeitungstexten zeigt sie, dass das GM weiterhin sehr häufig vorkommt und dessen Frequenz u. a. von der Textsorte oder der Publikationsform beeinflusst wird. Neben der hohen Vielfalt textinterner Variation ist in diesem Korpus für den Zeitraum 2009-2019 ein Rückgang solcher Formen zu beobachten, die Frauen explizit sichtbar machen. In den letzten Jahren hat vor allem der Genderstern deutlich an Frequenz gewonnen. Diesen Trend beschreibt auch Krome (2021) in ihrer Analyse des di‐ gitalen Kernkorpus des Rats für deutsche Rechtschreibung. 8 Der Asterisk kommt im Untersuchungskorpus ab etwa 2016 immer häufiger vor und sticht auch im Vergleich zu den anderen Varianten heraus; so überholt er 2020 das Binnen-I. Krome (2021: 25) identifiziert eine tendenzielle Zunahme von Kürzungsvari‐ anten, die verglichen mit den anderen, mehrere Geschlechter kennzeichnenden Schreibweisen allerdings weniger als 0,01 % ausmachen. In ihrer Fallstudie eines DeReKo-Subkorpus (das aus Pressetexten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz besteht) ermitteln Müller-Spitzer et al. (2023) ebenfalls eine Zunahme von Genderstern und Doppelpunkt ab 2016, bei nahezu gleichzeitigem Rückgang des Binnen-I. Diesen Rückgang des Binnen-I zugunsten des Asterisks beobachten ferner Diewald/ Steinhauer (2019: 29): Der Stern tritt nicht mehr nur Gendern in Österreich 99 <?page no="100"?> 9 Die Abstracts waren für zwei Konferenzen mit Beteiligung aus dem Raum Deutschland, Österreich sowie der Schweiz eingereicht worden. in solchen Kontexten auf, in denen Geschlechtervielfalt symbolisiert werden soll, er ersetzt inzwischen das Binnen-I auch, wenn es prinzipiell nur um die Nennung femininer und maskuliner Formen geht. Ivanov et al. (2018: 283 f.) stellen in einer Untersuchung wissenschaftlicher Abstracts 9 eine Vielfalt an geschlechtergerechten Personenbezeichnungen fest; zugleich wird deutlich, dass generische Maskulina auch dann noch präsent sind, wenn es in den Abstracts thematisch um Inhalte der Geschlechterforschung geht. Für den spezifisch österreichischen Kontext sei auf Posch (2024) verwiesen, die in ihrer Zusammenschau korpuslinguistischer Arbeiten einen generellen Anstieg des Gebrauchs movierter und gegenderter Formen beschreibt, wobei sie feststellt, dass diese häufig in explizit frauenspezifischen oder -dominierten Diskursen auftreten. Zur Ermittlung aktueller Tendenzen bei der Verwendung von Genderzeichen habe ich die A-Korpora des Deutschen Referenzkorpus (IDS 2023) herange‐ zogen. Sie beinhalten mehrere Teilkorpora mit Texten, die von 1991 bis 2022 in regionalen und überregionalen österreichischen Zeitungen und Magazinen erschienen sind (1,3 Mrd. Tokens); bei der Abfrage habe ich mich auf den Zeitraum 2010-2022 beschränkt. Auf dieser Grundlage lassen sich lediglich grobe Tendenzen der österreichischen Standardschriftsprache in Printmedien beschreiben. Ergänzend wäre es aufschlussreich, weitere Korpora abzufragen, die soziale Medien oder gesprochene Sprachdaten erfassen. In den A-Korpora wird jedenfalls deutlich, dass die Verwendung des Binnen-I im Laufe der Zeit abnimmt. Genderstern und -doppelpunkt fallen erst ab 2020 ins Auge. Interessanterweise weist der Doppelpunkt hier eine höhere Frequenz als der Asterisk auf und wird 2022 etwa doppelt so häufig verwendet (Abbildung 1): 100 Karoline Irschara <?page no="101"?> Abbildung 1: Relative Frequenz unterschiedlicher Genderzeichen in den A-Korpora (DeReKo 2023-I) von 2010 bis 2022 Während Schreibweisen mit Schrägstrich zunächst deutlich häufiger waren als solche mit Asterisk und Doppelpunkt, zeigt sich inzwischen auch hier eine abnehmende Tendenz. Die Schreibweisen mit Gendergap können vernach‐ lässigt werden, da sie sich auf einer sehr niedrigen Frequenz von 0-0,1 pro Millionen Wörter bewegen. Interessant ist, dass der Genderstern in der von mir untersuchten österreichischen Presselandschaft erst ab 2019 auftaucht. Dies deutet auf einen Unterschied zu den Ergebnissen der oben diskutierten Studien für die deutsche Presse hin, die den Genderstern bereits ab 2016 belegen. Die Verbreitung der untersuchten Genderzeichen ist in den herangezogenen österreichischen Printmedien also sehr überschaubar; in den sozialen Medien (vor allem in jenen, die sich an ein grundsätzlich gendersensibles Zielpublikum richten) dürfte sie deutlich höher sein. Der Aufwand, mit dem im öffentlichen Diskurs vor allem gegen solche Zeichen argumentiert wird, kann mit Wetschanow/ Doleschal (2013: 312) als „Gradmesser für die Etablierung feministischer Sprachpolitik“ gelten. Dieser Aufwand scheint in Österreich aktuell recht hoch zu sein, wobei festzuhalten Gendern in Österreich 101 <?page no="102"?> 10 Weitere Forschungsdesiderate sind etwa Untersuchungen zu den diskursiven Aushand‐ lungsprozessen in Kommentarforen oder den sozialen Medien. ist, dass von den Medien vor allem die Gegenstimmen verbreitet werden. Im Folgenden werden einige diskursive Fragmente der aktuellen Diskussionen um gendergerechte Sprache beleuchtet. Zunächst wird kurz auf einige re‐ zente Debatten eingegangen. Auf der Basis meiner Sammlung von dreißig Zeitungsartikeln zu diesen Debatten lassen sich sodann einige wiederkehrende Topoi bzw. Muster der Alltagsargumentation (Kienpointner 1996) ausmachen; ein Anspruch auf Vollständigkeit wird hier selbstverständlich nicht erhoben. Diese Muster können als sedimentierte Spuren komplexer argumentativer Handlungen in Diskursen (vgl. Spieß 2018: 358) aufgefasst werden; sie geben Aufschluss darüber, welche Annahmen im alltäglichen öffentlichen Argumen‐ tieren zum Thema Gendern als plausibel gelten. 10 4 Zur Diskussion um das Binnen-I und den Genderstern in Österreich Wie bereits erwähnt, beschränkt sich die Diskussion um den geschlechterge‐ rechten Sprachgebrauch in Österreich vorwiegend auf einzelne Zeichen - derzeit geht es vor allem um das Binnen-I und den Genderstern inklusive des dafür im Mündlichen verwendeten Glottisschlags. Um diese Formen ent‐ spinnt sich ein emotionaler Diskurs, dessen Polemik schon in den Titeln man‐ cher Zeitungsbeiträge anklingt: Kulturkampf, Gender-Neusprech, Gender-Manie, Gender-Ideologie. Zudem fungieren (Nicht-)Verwendungen bestimmter Gender‐ zeichen als „‚Embleme‘ von sozialen Identitäten“ (Kotthoff 2017: 105), wodurch eine pragmatische Zusatzinformation indiziert wird, mit welcher man sich - überspitzt formuliert - als pro oder contra Gendern outet. In der öffentlichen Debatte geht es jedenfalls weniger um eine prinzipielle Diskussion feministi‐ scher Sprachplanung als um Meinungen (vgl. Wetschanow/ Doleschal 2013: 326), und zwar meist um Gegenmeinungen zu bestimmten Vorschlägen. Ähnlich wie in Deutschland (vgl. Kasper 2022: 26) dominieren die Positionen gegen die gendergerechte Sprache, zumeist verwoben mit weiteren Diskursen, etwa zur feministischen Politik oder zur politischen Korrektheit, die symbolisch für diese weiteren Aushandlungen stehen. Während Zusammenhänge zwischen Sprache und Diskriminierung kaum behandelt werden, äußern sich vor allem Vertreter konservativer bis rechtskonservativer Parteien im Bemühen um die Legitimie‐ rung ihrer parteipolitischen Werte und Konzepte regelmäßig zum Gendern (vgl. Lobin 2021). Hierzu werden nachstehend einige Beispiele angeführt. 102 Karoline Irschara <?page no="103"?> 11 Ein ähnliches Beispiel ist aus Deutschland bekannt: Erst kürzlich wurde die Klage eines VW-Mitarbeiters gegen den Genderleitfaden der Audi AG bzw. die darin enthaltene Empfehlung der Verwendung des Gendergaps abgelehnt (vgl. Olivares 2023). • 2018 untersagte ein ehemaliger Verteidigungsminister der FPÖ den Ge‐ brauch des Binnen-I in der Bundesheerkommunikation durch einen offizi‐ ellen Erlass (vgl. Weißensteiner 2018). • Immer wieder wird das Gendern als stadt- oder landespolitisches Thema aufgegriffen, etwa 2019 bei der Empfehlung des GM in der internen Kom‐ munikation der Stadt Salzburg (vgl. Aigner 2019) oder 2022 im Zuge der Einführung genderneutraler Anredeformen in Amtsbriefen der Stadt Wien (vgl. Beer/ Mauthner-Weber 2022). • 2022 wollte ein Student an der Universität Wien rechtlich gegen einen an‐ geblichen Punkteabzug bei Nichtbeachtung von „Genderregeln“ vorgehen (vgl. Pflügl 2022). 11 • Seit August 2023 dürfen Genderstern, -gap und Binnen-I in offiziellen Dokumenten des Landes Niederösterreich nicht mehr verwendet werden. Der von der FPÖ und ÖVP verfasste Gendererlass (vgl. ÖVP/ FPÖ Niederös‐ terreich 2023) ist für Landesbedienstete bindend; wiederholte Nichtbeach‐ tung kann mit disziplinären Maßnahmen geahndet werden (vgl. Stephan 2023). Niederösterreich ist damit das erste österreichische Bundesland, das verpflichtende Regeln zum Gendern eingeführt hat. Die überarbei‐ teten Leitlinien werden ferner als Empfehlungen an die Hochschulen des Landes und als Forderungen an den Bund gerichtet. Für Aufsehen sorgte in diesem Zusammenhang die Nachricht, dass Udo Landbauer, Stellver‐ treter der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, der korrekten Amtsbezeichnung Landeshauptfrau-Stellvertreter die Form Landeshauptmann-Stellvertreter vorzieht und in seinen offiziellen Kanälen auch auf die Form LH-Stellvertreter ausweicht (vgl. Wintersteller 2023). • 2023 führten Beschwerden beim Publikumsrat des Österreichischen Rund‐ funks (ORF) zur Aktualisierung der ORF-internen Empfehlungen zum gendergerechten Sprachgebrauch. Im Zentrum der Kritik stand die Verwen‐ dung des Glottisschlags, die zahlreiche negative Publikumsreaktionen aus‐ gelöst hatte (vgl. Mark/ Prieschig 2023). Zuvor waren andere Beschwerden gegen die Verwendung gendergerechter Formen in Informationssendungen beim Publikumsrat (2020) und bei der Medienbehörde KommAustria (2021) eingelegt worden (vgl. Wenz 2022). Aufgrund mangelnder Beschwerdelegi‐ timation wurde der Rechtsstreit schließlich vom Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen. Gendern in Österreich 103 <?page no="104"?> 12 Die Begriffe Topos und Argumentationsmuster werden bisweilen synonym verwendet (vgl. Wengeler 2018: 254). Differenziert werden sie u. a. von Kienpointer (2017): Argumentationsmuster definiert er als „zwar sehr allgemeine, aber auf semantischer Plausibilität und nicht auf formallogischer Gültigkeit beruhende inhaltliche Schluss‐ schemata“ (2017: 192), Topoi als Teile solcher Argumentationsmuster bzw. generelle Prämissen, die den Übergang zwischen Argument und Konklusion garantieren. Die medial repetitive Darstellung des Genderns als Zwang „von oben“ (vgl. die Schlagwörter Sprachpolizei und Sprachdiktatur) kann als eine populistische Strategie verstanden werden, mit welcher kontinuierlich ein Bedrohungssze‐ nario aufrechterhalten wird. Weniger medial präsent sind hingegen Positionen, die Bemühungen um eine geschlechtergerechte Sprachpraxis als sprachpolitisch motivierte Sprachwandelphänomene einordnen (vgl. Müller-Spitzer 2021: 6 f.). In Österreich fällt eine starke Fokussierung auf das Binnen-I auf, die vermutlich auf frühere Empfehlungen staatlicher bzw. landesweiter Stellen zurückzuführen ist. Ein Beispiel ist der Leitfaden für geschlechtergerechtes Formulieren des Landes Niederösterreich, in welchem noch 2021 das Binnen-I empfohlen wurde (vgl. Land Niederösterreich 2021: 12). Die Diskussionen um das Binnen-I in Österreich waren bereits Untersuchungsgegenstand feministi‐ scher Sprachforschung, etwa im Rahmen der ÖNORM-Debatte von 2011 bis 2014, als das Austrian Standards Institute (ASI) im Zuge der Erneuerung von Richtlinien für die Textgestaltung das Binnen-I zugunsten des GM zunächst ablehnte, diese Änderung letztendlich jedoch wieder verwarf. Posch/ Mairhofer (2017) stellten in dieser Diskussion fest, dass die Gegenargumente weitgehend identisch waren mit jenen, die bereits in den 1980er Jahren gegen die ersten Vorschläge von Vertreterinnen einer feministischen Sprachpolitik vorgebracht worden waren. Dies trifft großenteils wohl auch auf die in der gegenwärtigen Debatte herangezogenen Argumente und Topoi zu. 12 4.1 Mehrheitstopos Mehrheitstopoi lassen sich im Untersuchungskorpus reduzieren auf das Muster weil die Mehrheit der österreichischen Gesellschaft gegen das Gendern ist, sollte auf dieses verzichtet werden, das vor allem in der Diskussion um die ORF-Be‐ schwerden, aber auch in Bezug auf den Gendererlass auftritt. So argumentiert Landbauer damit, dass die „überwältigende Mehrheit der Österreicher […] nichts mit dem Gendern“ anfangen könne (vgl. Stempfl 2023). Eine vom ORF initiierte Marktforschungsstudie ergab, dass sich 77 % der 1.000 Befragten grundsätzlich für die Gleichstellung aller Geschlechter aussprechen bzw. diese für ein wichtiges Thema halten. Während Beidnennungen und Umschreibungen 104 Karoline Irschara <?page no="105"?> von 70 % der Befragten befürwortet werden, finden Glottisschlag, Genderstern, -doppelpunkt und -gap nur eine Zustimmung von rund 40 % (vgl. Mark/ Prie‐ schig 2023). Ein ähnliches Bild zeichnet sich derzeit in Deutschland ab, etwa beim WDR, der sich 2023 aufgrund von Umfragen dazu entschloss, künftig auf Genderzeichen zu verzichten (vgl. WDR 2023). Die Mehrheit wird als argumentative Autorität hergestellt (vgl. Kienpointner 1996: 168 ff.), die eine ablehnende Haltung gegenüber bestimmten Varianten einer gendergerechten Sprache vertritt und den Verzicht auf solche Formen nahelegt - eine Argumen‐ tationsweise, die mit Walton (1999) als ad populum verstanden werden kann: Was die Mehrheit für richtig hält, ist tatsächlich für richtig zu halten. Hier ist zu hinterfragen, wie legitim die Berufung auf die Mehrheitsmeinung tatsächlich ist. Walton (1999: 31) weist darauf hin, dass für eine angemessene Einschätzung dieses Argumentationsmusters u. a. zu berücksichtigen ist, um welche Umfrage es sich handelt, wie die Fragen formuliert sind und welche Möglichkeiten der Beantwortung gegeben waren. Kritisch wird bemerkt, dass aus den Antworten häufig nicht hervorgeht, was eigentlich abgelehnt oder befürwortet wird (vgl. Stefanowitsch 2021). Zudem kann grundsätzlich hinterfragt werden, ob die jeweilige Mehrheit als Autorität plausibel und glaubwürdig ist bzw. um welche Expertise es hier geht (vgl. Kienpointner 1996: 170 f.). Auf der anderen Seite tritt in der Presse auch ein Muster der Gerechtigkeitsargumentation auf, mit dem kritisiert wird, dass Mehrheiten Minderheiten vorschreiben möchten, was sie fordern dürfen und was nicht (vgl. Hausbichler 2021). 4.2 Ideologietopos Besonders verbreitet ist der Vorwurf, Gendern sei ideologisch und insofern unwissenschaftlich. Im Arbeitspapier zum Gendererlass ist zu lesen, es brauche eindeutige Regeln für die Verwendung der deutschen Sprache, „um einen Beitrag gegen einen ideologisierten und unsachgemäßen Gebrauch zu leisten“ (ÖVP/ FPÖ Niederösterreich 2023: 17). Ein ORF-Kunde spricht abwertend von einer Verweiblichung der Sprache, welche die „Pflicht zur objektiven Bericht‐ erstattung“ (Kommenda 2023) verletze, und reicht daher eine Beschwerde ein. Zudem habe der ORF nicht das Recht, sich gesellschaftspolitisch zu äußern und damit „Männer in den Hintergrund zu drängen“ (ebd.); die übermittelten Informationen seien daher nicht korrekt (vgl. Wenz 2022). Hinsichtlich der Klage gegen die Universität Wien wird argumentiert, das Studium der Translations‐ wissenschaft solle junge Menschen befähigen, Texte „frei von Ideologie und politischen Absichten“ (Pflügl 2022) zu übersetzen. Damit wird hier jeweils impliziert, die eigene Position sei ideologiefrei, während die Gegenposition Gendern in Österreich 105 <?page no="106"?> ideologisch geblendet und insofern nicht neutral sei: Weil ideologisch motivierte Handlungen negativ zu bewerten sind, ist auch das Gendern als ideologisch motivierte Handlung negativ zu bewerten. Dieser unspezifische, emotional auf‐ geladene Ideologievorwurf ist zudem Teil eines breiteren Diskurses, in dem der Geschlechterforschung mangelndes Reflexions- und Kritikvermögen unterstellt wird (vgl. Bargen 2013: 40 f.). Auch lässt sich die Frage nach einem sachgemäßen Gebrauch von Sprache nicht allgemeingültig beantworten, da nicht ein für alle Mal festgelegt werden kann, was „richtig“ oder „korrekt“ ist, sondern dies immer wieder neu ausgehandelt werden muss (vgl. Müller-Spitzer 2021: 10). Mit dem Ideologievorwurf wird in Kombination mit den Begriffen Genderwahn (vgl. o. A. 2023) bzw. Genderunsinn (vgl. Kimeswenger 2021) zugleich ein gesamter Fachbereich lächerlich gemacht, was eine Diskussionsbereitschaft auf Augenhöhe erschwert. 4.3 Topos der Natürlichkeit und Ästhetik von Sprache Ein weiterer klassischer Topos bezieht sich auf die vermeintliche Natürlichkeit von Sprache (vgl. dazu auch Hellinger/ Pauwels 2007: 654; Kasper 2022: 30). So wird Sprache in der Diskussion um das Binnen-I-Verbot in der Bundesheerkom‐ munikation als Naturphänomen metaphorisiert, das eine „gewachsene Struktur“ (Weißensteiner 2018) habe, die durch feministische Sprachpolitik „zerstört“ (ebd.) werde. Ähnlich sieht der ORF-Kläger den Glottisschlag als „die sprachlich unnatürlichste Ausprägung“ und spricht von einer „gekünstelten weiblichen Endung“, durch die die Muttersprache verbogen werde (o. A. 2023). Der Glot‐ tisschlag sei mit einem Sprachfehler gleichzusetzen, der den Sprachfluss störe (vgl. Kommenda 2023). Sprachwandel könne in diesem Verständnis nur auf natürliche Weise erfolgen: Weil Sprache etwas Natürliches ist, darf sie sich nur natürlich (i.e. nicht durch künstliche Eingriffe) weiterentwickeln. Was genau unter natürlich vs. künstlich zu verstehen ist, wird indessen nicht expliziert. Sprach‐ wandel erscheint damit als ein natürlicher Prozess, der unabhängig von den Sprecher*innen abläuft, und wird nicht als ein komplexer soziokultureller Vor‐ gang gedacht. Weiter untermauert wird dies durch die Berufung auf die Sprache oder die Grammatik als etwas Natürliches, das eindeutig und präzise bestimmbar ist. Die Sprache (auch: die Sprachstruktur, das Sprachsystem) wird als vorexis‐ tent, als etwas Gegebenes konstruiert, während der Sprachgebrauch diesem Primat untergeordnet ist. Diese Hierarchisierung ist insofern zu kritisieren, als beide Ebenen als Untersuchungsobjekt zusammenfallen (vgl. Posch/ Mairhofer 2017: 38). Die Grammatik ist dem Sprechen nicht vorgeordnet, sondern lässt sich erst daraus ableiten - sie ist als „ein aus beobachteten Sprachgebräuchen nach 106 Karoline Irschara <?page no="107"?> 13 Für eine ausführliche Kritik an der Unterscheidung von Sprachsystem und Sprachge‐ brauch siehe etwa Hornscheidt (2012: 39): Es gibt „keine sprache vor dem sprechen“. Zwecken ideiertes, deskriptives linguistisches Konstrukt“ (Kasper 2022: 26) zu betrachten. 13 Die Metapher der Sprache als Naturphänomen wird weiter mit einem Kon‐ zept von Ästhetik verknüpft: Die Ästhetik des natürlichen Objekts Sprache werde durch das Gendern beschädigt; Gendern sei eine „politisch motivierte Verunstaltung unserer Sprache“ (vgl. Belschner 2023), eine „Verhunzung“ (vgl. o. A. 2022b), eine „völlige Zerstörung der deutschen Sprache“ (vgl. Müller 2022). Dazu passen die Argumente, man müsse die deutsche Sprache gegen „Gender-Eingriffe“ schützen (vgl. Kimeswenger 2021) und die vielen künstlichen Veränderungen seien „auch übertrieben“ (vgl. Aigner 2019); schließlich greife das Gendern „krebsgeschwürartig“ um sich (so der Linguist Heinz-Dieter Pohl in Kimeswenger 2021). Die Krankheitsmetapher illustriert besonders deutlich, wie hier ein unkontrollierbares Bedrohungsszenario konstruiert wird. Gleichzeitig bleibt die Bezugnahme auf die Ästhetik unpräzise und ist weitgehend beschränkt auf die Annahme, typographische Genderzeichen und Kürzungsformen seien der Ästhetik der Sprache abträglich. 4.4 Gendern ist kompliziert und macht Texte unleserlich Dass gendergerechte Sprache zu kompliziert sei und Texte unleserlich mache, ist ebenfalls ein altbekanntes Argument, das auch in der aktuellen Debatte immer wieder auftaucht. Zum Gendererlass gibt ein konservativer Politiker zu bedenken, dass das „ohnehin für viele schwer fassbare Amtsdeutsch“ an sich schon kompliziert genug sei, man müsse als Behörde viel eher versuchen, klar zu kommunizieren (vgl. Röhrer/ Schinewitz 2023). Auch die Salzburger Stadtverwaltung argumentiert mit der „leichteren Lesbarkeit“ des GM (o. A. 2019); „klare Worte“ und eine „verständliche Sprache“ seien oberste Priorität (vgl. Aigner 2019). Genderzeichen wie der Glottisschlag würden den Sprachfluss stören und die Informationsverarbeitung beeinträchtigen (vgl. Kommenda 2023; Weißensteiner 2018). Entsprechend diesem Kausalschema lautet das Argument: Weil Gendern kompliziert ist, ist es abzulehnen. Empirisch lässt sich diese Prämisse - die ohnehin nur dann gilt, wenn weitere Faktoren wie Textgestaltung und Stil ausgeblendet werden - nicht erhärten. Mehrere experimentelle Studien deuten darauf hin, dass geschlechterinkludierende Varianten wie Beidnennung, Binnen-I und neutralisierte Formulierungen das Textverständnis nicht beein‐ Gendern in Österreich 107 <?page no="108"?> 14 Zur Beidnennung vgl. Friedrich/ Heise (2019); zur Beidnennung und Binnen-I siehe Braun et al. (2007); zu neutralisierten Formulierungen vgl. Blake/ Klimmt (2010); zu den Formen Schrägstrich und neutralisierten Formulierungen vgl. Pöschko/ Prieler (2018). flussen. 14 Der Genderstern beeinträchtigt bei Pluralformen weder die Verständ‐ lichkeit noch die ästhetische Bewertung von Texten; mit Stern gegenderte Formen im Singular schneiden jedoch in Bezug auf diese Parameter schlechter ab (vgl. Friedrich et al. 2021). Hinsichtlich der Erinnerungsleistung konnten für die Formen mit Binnen-I, Stern und Unterstrich sowie für Neutralisierungen keine signifikanten Unterschiede zum GM festgestellt werden (vgl. Huckauf et al. 2018). 4.5 Topos der sprachlichen Normalität Mit diesem Topos wird in Bezug auf den Gendererlass argumentiert, dass man sich vom Gendern „hin zur gewohnten Normalität“ (Amt der Niederös‐ terreichischen Landesregierung 2023) befreien müsse; der Verzicht auf das Binnen-I und die typographischen Genderzeichen sei „für normaldenkende Menschen der völlig logische und pragmatische Zugang“ (ebd.); es gehe darum, „mit Vernunft“ (Mikl-Leitner 2023) zu gendern und der „normal denkenden Mehrheit der Mitte“ (ebd.) Gehör zu verschaffen. Schließlich ginge das Gendern an „den echten Problemen und Sorgen der Familien“ (ebd.) vorbei. In dieser Bezugnahme auf eine vermeintliche Normalität kommt gleichzeitig eine Skepsis gegenüber neueren Entwicklungen zum Ausdruck; das Altbewährte bzw. ein gewisser Status quo sollen dagegen erhalten bleiben. „Sprachliche Normalität“ (wiederum nur vage als Sprache ohne Binnen-I definiert) war bereits in der ÖNORM-Debatte als ein erstrebenswertes Ziel dargestellt worden (Posch 2015: 110). Der Topos der Normalität, der immer nur in Abgrenzung zu dem definiert werden kann, was als abnormal betrachtet wird, wird in der Öffentlichkeit diskutiert. Entgegnet wird beispielsweise, dass auch das, was als „normal“ gilt, laufend verhandelt werden muss (vgl. Röhrer 2023). Auch der Hinweis auf andere, wichtigere Probleme, die vorrangig angegangen werden müssten, ist in der Debatte um einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch nichts Neues; er unterstellt, dass Personen, die sich für dieses Anliegen engagierten, nicht fähig seien, zugleich weitere gesellschaftliche Probleme zu kritisieren oder dagegen anzutreten. 108 Karoline Irschara <?page no="109"?> 4.6 Abbildung der Realität In der öffentlichen Debatte wird immer wieder betont, dass in den meisten Fällen keine generellen Verpflichtungen zum Gendern vorliegen und die Aufregung daher großteils medial konstruiert ist (vgl. Weißensteiner 2018; o. A. 2022a). Kasper (2022: 33) argumentiert, dass negative Bewertungen des Nichtgenderns jedoch nicht unmittelbar im Einflussbereich derjenigen liegen, die versichern, dass niemand gendern müsse. Befürworter*innen gendergerechter Sprache berufen sich neben der wech‐ selseitigen Beeinflussung von Sprache und Denken darauf, dass Sprache nicht nur die Wirklichkeit prägt, sondern sie auch abbildet (vgl. o. A. 2019). Zum tat‐ sächlichen gedanklichen Einbezug verschiedener Geschlechter (d. h. nicht nur von Männern und Frauen) verfügen wir bislang noch nicht über hinreichende empirische Evidenzen; Forschungen, in denen andere sprachliche Formen ähn‐ lich umfassend unter die Lupe genommen werden wie das generisch intendierte Maskulinum, liegen noch nicht vor. Immerhin haben Körner et al. (2022) bereits gezeigt, dass der Genderstern zu einem minimalen female bias in der mentalen Repräsentation führt, jedoch in deutlich geringerem Ausmaß als das male bias bei der Verwendung von Maskulina. In einem Word-Picture-Matching-Test erwies der Asterisk sich im Vergleich zum Maskulinum und dem Femininum als besser geeignet, um mentale Repräsentationen von nichtbinären Personen zu aktivieren (Zacharski/ Ferstl 2023). Damit liegen erste Hinweise auf die kommunikative Zweckmäßigkeit dieser neueren Formen vor. 5 Fazit Aktuell koexistieren im österreichischen Raum verschiedene Formen des gendergerechten Sprachgebrauchs. Während staatliche bzw. landespolitische Leit‐ fäden eher sprachkonservativ orientiert sind, tauchen vor allem an Hochschulen und Universitäten neuere, auch wenig verbreitete Vorschläge auf; in den neuesten Leitlinien zeichnet sich vor allem die Empfehlung ab, den Genderstern alternierend mit Formen der Neutralisierung zu verwenden. Wie die Korpusanalyse der A-Korpora (IDS 2023) zeigt, haben neuere Genderzeichen Eingang in den Sprachgebrauch österreichischer Zeitungen und Magazine gefunden; die Frequenz bzw. Verbreitung ist bislang allerdings überschaubar. Während Schreibweisen mit Binnen-I im Zeitraum 2010-2022 seltener geworden sind, lässt sich seit 2019 eine steigende Tendenz von Asterisk und Doppelpunkt beobachten; der Unterstrich taucht hingegen kaum auf. Untersuchungen zum Gebrauch der genannten Zeichen in anderen, weniger Gendern in Österreich 109 <?page no="110"?> sprachkonservativen Korpora (Web-Korpora) sind ein dringendes Forschungs‐ desiderat. Augenfällig sind in der öffentlichen Debatte zum einen die starke Domi‐ nanz der Gegenpositionen, zum anderen der stete Rückgriff auf traditionelle Argumentationsmuster gegen einen gendergerechten Sprachgebrauch. Die Dis‐ kussion ist stark auf die Kritik am Binnen-I und am Genderstern fokussiert; die Feststellung eines generellen Backlash gegen neuere Formen (Posch 2015) trifft weiterhin zu. Pro-Stimmen gehen in dieser überwiegend polemisch und emotional geführten Debatte weitgehend unter. Um der deutlichen Verhärtung der Fronten entgegenzuwirken, ist es unumgänglich, einen differenzierten, sachlichen Zugang zu diesem Thema zu finden und sich um die Akzeptanz unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten zu bemühen. Bibliographie AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin (2014): Was tun? Sprachhandeln - aber wie? W_ortungen statt Tatenlosigkeit. Berlin. Aigner, Sandra (2019): Aus für das Binnen-I schlägt hohe Wellen. Die Krone, 13.09.2019, 24. Amt der Niederösterreichischen Landesregierung (2023): Niederösterreich legt Gender-Regeln in Kanzleiordnung fest. 21.07.2023. APA-OTS. Ängsal, Magnus P. (2015): Personenbezeichnungen mit Unterstrich und geschlechtsneu‐ trale Pronomen. Zur queerfeministischen Sprachkritik in Deutschland und Schweden. In: Bücker, Jörg/ Diedrichsen, Elke/ Spieß, Constanze (Hrsg.): Perspektiven linguisti‐ scher Sprachkritik. Stuttgart: Ibidem-Verlag, 75-100. Bargen, Henning von (2013): Gender, Wissenschaftlichkeit und Ideologie. Argumente im Streit um Geschlechterverhältnisse. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. Beer, Barbara/ Mauthner-Weber, Susanne (2022): Von Gästinnen und Bösewichtinnen. Kurier, 16.01.2022, 28. Belschner, Philipp (2023): Genderverbot für niederösterreichische Behörden wird umge‐ setzt. MeinBezirk.at, 28.06.2023 (10.11.2023). Blake, Christopher/ Klimmt, Christoph (2010): Geschlechtergerechte Formulierungen in Nachrichtentexten. Publizistik 55 (3), 289-304. Braun, Friederike/ Gottburgsen Anja/ Sczesny, Sabine/ Stahlberg, Dagmar (1998): Können Geophysiker Frauen sein? Generische Personenbezeichnungen im Deutschen. Zeit‐ schrift für germanistische Linguistik 26 (3), 265-283. Braun, Friederike et al. (2007): ‚Aus Gründen der Verständlichkeit…‘: Der Einfluss generisch maskuliner und alternativer Personenbezeichnungen auf die kognitive Verarbeitung von Texten. Psychologische Rundschau 58 (3), 183-189. 110 Karoline Irschara <?page no="111"?> Bundeskanzleramt (2021): Geschlechtergerechte Sprache. Wien. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (2018): Geschlechterge‐ rechte Sprache. Leitfaden im Wirkungsbereich des BMBWF. Wien. Diewald, Gabriele/ Steinhauer, Anja (2017): Richtig gendern. Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Berlin: Bibliographisches Institut. —-(2019): Duden, gendern - ganz einfach! Berlin: Dudenverlag. Donau-Universität Krems (2020): Leitfaden für geschlechtergerechtes Formulieren. Krems an der Donau. FH Joanneum (2023): Gendergerechter Sprachleitfaden. Graz. FH Oberösterreich (2015): Gendersensible Sprache. Geschlechtergerechter Sprachge‐ brauch an der FH OÖ. Wels. Frank, Arno (2023): Genderzeichen sind nur die Spitze eines großen sprachlichen Eisbergs. Der Spiegel Online, 16.07.2023 (10.11.2023). Friedrich, Marcus C. G. et al. (2021): The Influence of the Gender Asterisk (‚Genderstern‐ chen‘) on Comprehensibility and Interest. Frontiers in psychology 12, Art. N° 760062 (doi: 10.3389/ fpsyg.2021.760062). Friedrich, Marcus C. G./ Heise, Elke (2019): Does the Use of Gender-Fair Language Influence the Comprehensibility of Texts? Swiss Journal of Psychology 78 (1-2), 51-60. Gleichbehandlungsanwaltschaft (2021): Geschlechtersensible Sprache - Dialog auf Au‐ genhöhe. Leitfaden. Wien. Gygax, Pascal et al. (2008): Generically intended, but specifically interpreted: When beauticians, musicians, and mechanics are all men. Language and Cognitive Processes 23 (3), 464-485. Hausbichler, Beate (2021): Und ewig grüßt die Sprachpolitik. derstandard.at, 11.03.2021 (10.11.2023). Hellinger, Marlis/ Pauwels, Anne (2007): Language and sexism. In: Hellinger, Marlis/ Pauwels, Anne (Hrsg.): Handbook of Language and Communication: Diversity and Change. Berlin/ New York: De Gruyter, 651-684. Hornscheidt, Lann (2012): Feministische W_orte: Ein Lern-, Denk- und Handlungsbuch zu Sprache und Diskriminierung, Gender Studies und feministischer Linguistik. Frankfurt a.-M.: Brandes & Apsel. Huckauf, Anke et al. (2018): Okulomotorik und Lesefluss beim Lesen von Texten in geschlechterfairer Schreibung. In: Schwender, Clemens et al. (Hrsg.): Geschlecht und Verhalten aus evolutionärer Perspektive. Lengerich: Pabst Science Publishers, 293-307. IDS (2023): Deutsches Referenzkorpus/ Archiv der Korpora geschriebener Gegenwarts‐ sprache 2023-I. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache. Mannheim (Release vom 31.03.2023). Gendern in Österreich 111 <?page no="112"?> Ivanov, Christine/ Lange, Maria B./ Tiemeyer, Tabea (2018): Geschlechtergerechte Perso‐ nenbezeichnungen in deutscher Wissenschaftssprache. suvlin 44 (86), 261-289. Kasper, Simon (2022): Sprachideologien in der öffentlichen Debatte um geschlechterge‐ rechte Sprache. Ein kritischer Versuch. SGG 47, 24-39. Kienpointner, Manfred (1996): Vernünftig argumentieren. Regeln und Techniken der Diskussion. Reinbek: Rowohlt. —-(2017): Topoi. In: Roth, Kersten Sven/ Wengeler Martin/ Ziem, Alexander (Hrsg.): Handbuch Sprache in Politik und Gesellschaft. Berlin/ Boston: De Gruyter, 187-211. Kimeswenger, Fritz (2021): Kärntens Sprachexperte kritisiert Gender-Unsinn. Die Krone, 06.06.2021, 22. Kommenda, Benedikt (2023): ORF-Kunde blitzt mit Beschwerde gegen Gendern ab. Die Presse, 24.07.2023, 10. Körner, Anita et al. (2022): Gender Representations Elicited by the Gender Star Form. Journal of Language and Social Psychology 41 (5), 553-571. Kotthoff, Helga (2017): Von Syrx, Sternchen, große, I und bedeutungsschweren Strich. Über geschlechtergerechte Personenbezeichnungen in Texten und die Kreation eines schrägen Registers. OBST 90 (1), 91-115. Kotthoff, Helga/ Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr. Krome, Sabine (2021): Gendern zwischen Sprachpolitik, orthografischer Norm, Sprach-und Schreibgebrauch. Bestandsaufnahme und orthografische Perspektiven zu einem umstrittenen Thema. Sprachreport 37 (2), 22-29. Land Niederösterreich (2021): Leitfaden geschlechtergerechtes Formulieren 2021. Infor‐ mation zu geschlechterinklusiver Sprache. St. Pölten. Lobin, Henning (2021): Aktuelle sprachpolitische Kontroversen zur deutschen Sprache. Studi Germanici 19, 33-51. Löhr, Ronja (2022): Ich denke, es ist sehr wichtig, dass sich so viele Menschen wie möglich repräsentiert fühlen. In: Diewald, Gabriele/ Nübling, Damaris (Hrsg.): Genus - Sexus - Gender. Berlin/ Boston: De Gruyter, 349-380. Mark, Oliver/ Prieschig, Doris (2023): Sprache polarisiert das Publikum: Wie der ORF jetzt gendert. derstandard.at, 17.06.2023 (10.11.2023). Mikl-Leitner, Johanna (2023): Gendern - der Stern des Anstoßes. derstandard.at, 03.07.2023 (10.11.2023). Müller, Walter (2022): Doch kein Gendern. Der Standard, 16.12.2022, 7. Müller-Spitzer, Caroline (2021): Geschlechtergerechte Sprache: Zumutung, Herausforde‐ rung, Notwendigkeit? Sprachreport 37 (2), 1-14. Müller-Spitzer, Carolin/ Ochs, Samira/ Rüdiger, Jan Oliver (2023): Distribution of gender-inclusive orthographies in German press texts. Linguistic Intersections of 112 Karoline Irschara <?page no="113"?> Language and Gender Conference. Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf. http: / / lil g.div-ling.org/ wp-content/ uploads/ 2023/ 06/ Mueller-Spitzer_etal.pdf (10.22.2023). o. A. (2019): Nach außen hin Gendersternchen, nach innen Maskulinum. derstandard.at, 12.09.2019 (10.11.2023). o. A. (2022a): Student sieht sich durch gendergerechte Sprache an Uni Wien diskriminiert. diepresse.com 21.02.2022 (10.11.2023). o.-A. (2022b): Genderleitfaden erregt die Kärntner Gemüter. derstandard.at, 14.12.2022 (10.11.2023). o. A. (2023): Gender-Wahn: Zuseher-Proteste zwingen ORF-Stars in die Knie. exxpress.at, 18.06.2023 (10.11.2023). Olivares, Daniela (2023): Klage gegen Audis Gendersprache-Leitfaden endgültig geschei‐ tert. br.de, 18.07.2023 (10.11.2023). Ott, Christine (2017): Sprachlich vermittelte Geschlechterkonzepte. Eine diskurslingu‐ istische Untersuchung von Schulbüchern der Wilhelminischen Kaiserzeit bis zur Gegenwart. Berlin/ Boston: De Gruyter. ÖVP/ FPÖ Niederösterreich (2023): Arbeitsübereinkommen. Niederösterreich weiter‐ bringen. 2023-2028. St. Pölten: Land Niederösterreich. ÖWB (2022): Österreichisches Wörterbuch. Herausgegeben im Auftrag des Bundesmi‐ nisteriums für Bildung. 44. Auflage, revidierte Ausgabe. Wien: öbv. Pflügl, Jakob (2022): Student will rechtlich gegen ‚Gender-Zwang‘ an Uni Wien vorgehen. derstandard.at, 18.02.2022 (10.11.2023). Posch, Claudia (2015): Zurück zur sprachlichen Normalität. Rhetorik und Argumenta‐ tion in der Debatte um den geschlechtergerechten Sprachgebrauch in Österreich. L’homme: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 26 (1), 107-115. —-(2024): Feministische Sprachpolitik in Österreich - Hot Topic oder Fail? In: de Cillia, Rudolf/ Reisigl, Martin/ Vetter, Eva (Hrsg.): Sprachenpolitik in Österreich. Bestands‐ aufnahme 2021. Berlin/ Boston: De Gruyter. Posch, Claudia/ Mairhofer, Elisabeth (2017): Die Normalität ist eine gepflasterte Straße … Argumentationsanalytische Untersuchung eines Offenen Briefs gegen antidiskrimi‐ nierenden Sprachgebrauch in Österreich. OBST 90 (2), 35-58. Pöschko, Heidemarie/ Prieler, Veronika (2018): Zur Verständlichkeit und Lesbarkeit von geschlechtergerecht formulierten Schulbuchtexten. Zeitschrift für Bildungsforschung 8 (1), 5-18. Röhrer, Lisa (2023): Was das ‚Normal‘ der VPNÖ wirklich bedeutet. noen.at, 21.07.2023 (10.11.2023). Röhrer, Lisa/ Schinewitz, Katrin (2023): Gendern hat nichts mit Sternchen zu tun, das ist eine Haltung. noen.at, 03.07.2023 (10.11.2023). Sczesny, Sabine/ Formanowicz, Magda/ Moser, Franziska (2016): Can Gender-Fair Gendern in Österreich 113 <?page no="114"?> Language Reduce Gender Stereotyping and Discrimination? Frontiers in Psychology 7, Art. 25 (PDF: 11 S.). Sökefeld, Carla (2021): Gender(un)gerechte Personenbezeichnungen: derzeitiger Sprach‐ gebrauch, Einflussfaktoren auf die Sprachwahl und diachrone Entwicklung. Sprach‐ wissenschaft 46 (1), 111-141. Spieß, Constanze (2018): Diskurs und Handlung. In: Warnke, Ingo H. (Hrsg.), 339-362. Stefanowitsch, Anatol (2021): Meinungsumfragen zum Thema ‚Gendern‘. Sprachlog, https: / / www.sprachlog.de/ 2021/ 06/ 23/ extern-imeinungsumfragen-zum-thema-gend ern/ (10.11.2023). Stempfl, Leo (2023): Skurriler Gender-Streit erreicht nun Udo Landbauer. heute.at, 28.06.2023 (10.11.2023). Stephan, Max (2023): Gender-Erlass in Niederösterreich in Kraft, Beamter kündigt Protest an. derstandard.at, 01.08.2023 (10.11.2023). Steurer, Simone (2019): Zwischen „hen“ und „-x“: antidiskriminierende und geschlechts‐ neutrale Sprache im Wandel. Masterarbeit, Universität Wien. Traunsteiner, Bärbel Susanne (2021): Eine Sprache für alle! Leitfaden für geschlechter- und diversityfairen Sprachgebrauch: mit Tipps für Vorträge, die englische Sprache und Bildgestaltung. Wien: FH Campus Wien. Universität Graz (2023): Sprachliche Gleichbehandlung *. Arbeitskreis für Gleichbehand‐ lungsfragen. Graz. Universität Innsbruck (2023): Geschlechtergerechte Sprache. Innsbruck. Universität Salzburg (2012): Leitfaden für einen gerechten Sprachgebrauch. Salzburg. Universität Wien (2019): Leitlinie und Empfehlungen zum geschlechterinklusiven Sprachgebrauch in der Administration der Universität Wien. Wien. Walton, Douglas N. (1999): Appeal to popular opinion. University Park: Pennsylvania State University Press. Warnke, Ingo H. (Hrsg.) (2018): Handbuch Diskurs. Berlin/ Boston: De Gruyter. WDR (2023): Wie wir mit Gendern umgehen. wdr.de, 28.02.2023. https: / / www1.wdr.de/ nachrichten/ gendern-umgang-newsroom-100.html (10.11.2023). Weißensteiner, Nina (2018): Kunasek streicht inexistente Binnen-I-Order beim Bundes‐ heer. derstandard.at, 25.05.2018 (10.11.2023). Wengeler, Martin (2018): Diskurslinguistik als Argumentationsanalyse. In: Warnke, Ingo H. (Hrsg.), 242-264. Wenz, Astrid (2022): Beschwerde gegen Gendern im ORF als Verletzung des Objektivi‐ tätsgebots wurde zurückgewiesen. derstandard.at, 09.07.2022 (10.11.2023). Wetschanow, Karin (2017): Von nicht-sexistischem Sprachgebrauch zu fairen W_or‐ tungen - Ein Streifzug durch die Welt der Leitfäden zu sprachlicher Gleichbehandlung. OBST 90 (1), 33-59. 114 Karoline Irschara <?page no="115"?> Wetschanow, Karin/ Doleschal Ursula (2013): Feministische Sprachpolitik. In: de Cillia, Rudolf/ Vetter, Eva (Hrsg.): Sprachenpolitik in Österreich. Bestandsaufnahme 2011. Frankfurt: Peter Lang (=-Sprache im Kontext 40), 306-340. Wintersteller Anna (2023): Landbauer will nicht Landeshauptfrau-Stellvertreter heißen. profil.at, 28.06.2023 (10.11.2023). WU Wien (2017): Fair und inklusiv in Sprache und Bild. Ein Leitfaden für die WU. 2., aktualisierte Auflage. Wien. Zacharski, Lisa/ Ferstl, Evelyn C. (2023): Gendered Representations of Person Referents Activated by the Nonbinary Gender Star in German: A Word-Picture Matching Task. Discourse Processes 60 (4-5), 294-319. Gendern in Österreich 115 <?page no="117"?> 1 Ausführlicher zur Sprachsituation in der Schweiz vgl. Bickel/ Schläpfer (2000) und Niederhauser (2011) | Siehe auch Elmiger in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz Jürg Niederhauser Zusammenfassung: In der mehrsprachigen Schweiz zeigten sich in den öffentlichen Diskussionen um eine gendergerechte Sprache Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachregionen. So setzten diese Diskus‐ sionen in der Deutschschweiz viel eher ein. Bei diesen ging es weniger um theoretische Fragen, sondern um pragmatische, anwendungspraktische Aspekte wie die geschlechtergerechte Formulierung von Verwaltungs- und Rechtstexten; dabei kam dem Leitfaden der Schweizerischen Bundes‐ kanzlei die Rolle einer Orientierungshilfe zu. Seit der Mitte der Zehnerjahre macht sich eine deutliche Politisierung bemerkbar; das Thema genderge‐ rechte Sprache wird in der öffentlichen Debatte und der Medienbericht‐ erstattung der Deutschschweiz wieder verstärkt aufgegriffen. Erwähnens‐ wert ist, dass die Binnengroßschreibung mit I in Personenbezeichnungen als Deutschschweizer Erfindung gilt, obwohl in der Deutschschweiz eher ein konservativerer Sprachgebrauch üblich ist und etwa die Anrede Fräu‐ lein länger gebräuchlich blieb als im übrigen deutschen Sprachraum. Schlüsselbegriffe: Mehrsprachigkeit, feministische Linguistik, Frauenbe‐ wegung, Leitfaden (Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung, Sprach‐ leitfäden), Binnengroßschreibung, Rechtstexte, Verwaltungstexte, generi‐ sches Maskulinum, Deutschschweiz 1 Zur Sprachsituation in der (Deutsch-)Schweiz Die Schweiz ist ein mehrsprachiges Land mit vier Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. 1 Zwischen diesen vier Landesspra‐ chen bestehen recht unterschiedliche Größenverhältnisse. Die Deutschspra‐ <?page no="118"?> 2 Angaben zu den Anteilen der drei romanischen Sprachen in der Schweiz finden sich im Beitrag von Elmiger in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). chigen dominieren die anderen Sprachgruppen bei Weitem: Knapp zwei Drittel der gesamten Bevölkerung in der Schweiz respektive knapp drei Viertel der Schweizer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind deutschsprachig. 2 Der größte Teil der schweizerischen Bevölkerung wächst einsprachig auf, lebt einsprachig innerhalb einer Sprachregion und muss mit Ausnahme der Spre‐ cherinnen und Sprecher des Rätoromanischen im Alltag kaum mehrsprachig kommunizieren. Die Mehrsprachigkeit des Landes ist für viele Schweizerinnen und Schweizer höchstens im Hintergrund präsent: durch mehrsprachige amt‐ liche Veröffentlichungen und Dokumente, mehrsprachige Beschriftung vieler Produkte und beim gelegentlichen Kontakt mit anderssprachigen Landsleuten. Auch die Nutzung der Medien findet vorwiegend einsprachig statt. Zwar werden die nationalen Rundfunk- und Fernsehprogramme von einer gesamt‐ schweizerischen Gesellschaft getragen, aber die Fernseh- und Rundfunkpro‐ gramme in den vier Landessprachen werden nicht zentral, sondern in den jewei‐ ligen Sprachregionen produziert. Sie unterscheiden sich hinsichtlich Gestaltung und Themensetzung deutlich voneinander. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in den einzelnen Sprachregionen jeweils die Medien sowie die politischen und kulturellen Themen und die Debatten der angrenzenden großen Sprach- und Kulturräume Deutschland, Frankreich und Italien besondere Beachtung finden. Dies trifft selbstverständlich auch auf die öffentlichen Diskussionen um die gendergerechte Sprache zu. Auch hier spielten Impulse aus den Nachbarländern eine große Rolle und es zeigten sich entsprechend auch Unterschiede zwischen den Sprachregionen: In der Deutschschweiz setzten die Diskussionen viel eher ein als in den anderen Sprachregionen. 2 Feministische Sprachkritik innerhalb und außerhalb der Universität Wie in Deutschland spielten auch in der deutschen Schweiz die Sprachwissen‐ schaftlerinnen Senta Trömel-Plötz und Luise F. Pusch eine zentrale Rolle als Pionierinnen der feministischen Linguistik. Sie hatten sich an wegweisenden Arbeiten aus den USA orientiert, vor allem Senta Trömel-Plötz, die mehrere Jahre an US-amerikanischen Hochschulen tätig war, bevor sie 1978 nach Kon‐ stanz kam. Besonders die drei Bücher Frauensprache: Sprache der Veränderung (Trömel-Plötz 1982), Das Deutsche als Männersprache (Pusch 1984) und Gewalt 118 Jürg Niederhauser <?page no="119"?> 3 Baseldeutsche wortspielerische Neubildung (standarddeutsch: Schreibeisen), die sowohl auf das Schreiben als auch auf die saloppe, pejorative Bezeichnung Reibeisen für eine widerspenstige Frau anspielt. Diese Gruppe engagierte sich vor allem gegen sexistische Werbung, indem sie Protestschreiben an Firmen und Briefe an Medien verfasste. 4 Als Rechtsanwältin und bürgerliche Politikerin aus Luzern hatte Josi Meier sich in den Sechzigerjahren stark für die Einführung des Frauenstimmrechts engagiert. Sie gehörte zu den ersten Parlamentarierinnen, die 1971 ins nationale Parlament gewählt wurden; 1992 präsidierte sie als erste Frau den Ständerat, die zweite Kammer des Schweizer Parlaments (vgl. Trüeb 2008, Parlamentsdienste 2021). - Bundeshaus: Bezeichnung für das Schweizer Parlamentsgebäude. durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen (Trömel-Plötz 1984) spielten eine entscheidende Rolle in der Anfangsphase der Diskussionen über Themen und Anliegen der feministischen Linguistik, insbesondere bei der Debatte über geschlechtergerechte Sprache. Die Diskussionen über geschlech‐ tergerechte Sprache wurden weit über sprachwissenschaftliche Kreise hinaus im außeruniversitären Bereich wahrgenommen; es waren „nicht in erster Linie die Wissenschaftlerinnen, die ihr Unbehagen an die Öffentlichkeit trugen, sondern Frauen aus der Frauenbewegung, denen die gebräuchliche Sprache zu eng wurde“ (Studer 1989: 47). Diese Frauen waren einerseits in schreib- und publizistiknahen Tätigkeits‐ feldern zu finden, im Journalismus, in der Publizistik, im Verlagswesen und Buchhandel, wie schon die Namen entsprechender Gruppierungen zeigen: „Bücher Frauen“, „Netzwerk schreibender Frauen“, „Werkstatt Frauensprache“ oder „Schrybyse“ 3 (vgl. Der Bund 1996). Im Oktober 1988 wurde der eFeF-Verlag gegründet, der erste explizit feministische Verlag, der vorwiegend Texte und Sachbücher aus der (deutschen) Schweiz veröffentlicht (www.efefverlag.ch). Andererseits machte sich nach der 1971 erfolgten Einführung des Frauen‐ stimmrechts in der Schweiz eine gewisse frauenpolitische Aufbruchsstimmung bemerkbar, die die Politikerin Josi Meier in einer berühmt gewordenen Rede zum Ausdruck brachte: Endlich verstehe sie die Forderung, die Frau gehöre ins Haus („Natürlich gehören wir ins Haus, ins Gemeindehaus, ins Bundeshaus! “). 4 Mit dieser Stimmung ging ein Nachholbedarf für politisches Engagement von Frauen einher. Es entstanden oder vergrößerten sich zahlreiche Gruppen, die sich frauenpolitischen und feministischen Anliegen widmeten und sich zum Teil auch mit sprachlichen Themen befassten, vornehmlich mit der Sichtbarma‐ chung der Frauen in der Sprache und der Entwicklung von Leitlinien für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz 119 <?page no="120"?> 5 Der schweizerische Bundesstaat wurde 1848 gegründet. Am 12. September 1848 trat die erste Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Kraft. 1874 wurde eine vollständig revidierte Verfassung in einer Volksabstimmung angenommen. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 blieb bis zur nächsten Totalrevision im Jahre 1999 in Kraft. Einzelne Bestimmungen der Verfassung wurden zwischenzeitlich durchaus revidiert. Mithilfe einer Volksinitiative kann eine Verfassungsbestimmung geändert oder neu eingefügt werden, sofern diese Initiative in einer Volksabstimmung angenommen wird. 3 In der Schweiz gab es bis in die 1990er Jahre keine Frauen Nach dem Wortlaut amtlicher Dokumente waren Frauen in der Schweiz bis in die Neunzigerjahre gewissermaßen unsichtbar. So hieß es noch in der 1985 ein‐ geführten Version des Schweizer Passes, mit dem die Identität einer bestimmten Person nachgewiesen wird: „Der Inhaber dieses Passes ist Schweizerbürger und kann jederzeit in die Schweiz zurückkehren“. Auf Proteste antwortete der Direktor des Bundesamtes für Polizeiwesen: Entgegen der Auffassung der in Ihrem Brief erwähnten Linguistikforscher und -forscherinnen gingen die Verfasser des Passtextes davon aus, dass die gewählte Formulierung ‚geschlechtsneutral‘ sei und dass besonders im Zeitalter der Gleich‐ berechtigung von Mann und Frau die Frau sich als ‚Inhaber‘ eines Passes nicht diskriminiert zu führen brauche. (zit.n. Studer 1989: 49) Erst mit der Neufassung des Schweizer Passes von 2003 verschwand diese Formulierung vollständig aus dem Dokument. In amtlichen Texten wurde generell das generische Maskulinum verwendet, wobei der Sprachgebrauch innerhalb eines Dokuments nicht immer einheitlich war. Das zeigt sich deutlich in verschiedenen Bestimmungen der Bundesverfas‐ sung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, die grundsätz‐ lich noch bis 1999 in Kraft war. 5 Je nach dem angesprochenen Bereich musste man vor 1971 aus dem Kontext erschließen, ob Frauen bei der Verwendung von Maskulina mitgemeint waren oder nicht. So galten die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 4 „Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich“) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 45 „Jeder Schweizer hat das Recht, sich innerhalb des schweizerischen Gebietes an jedem Orte niederzulassen, wenn er einen Heimatschein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift besitzt“) für beide Geschlechter, die Wehrpflicht (Art. 18 „Jeder Schweizer ist wehrpflichtig“) und die Wahrnehmung politischer Rechte dagegen nur für Männer. Die ersten Abschnitte von Artikel 43 lauteten: „Jeder Kantonsbürger ist Schweizer Bürger. Als solcher kann er bei allen eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen an seinem Wohnsitze Anteil nehmen“. Und Artikel 74 hielt fest: „Stimmberechtigt 120 Jürg Niederhauser <?page no="121"?> 6 Siehe Elmiger in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). bei Wahlen und Abstimmungen ist jeder Schweizer, der das 20. Altersjahr zurückgelegt hat“. In den Fünfzigerjahren des 20. Jh. hatte man übrigens versucht, das Frauenstimmrecht durch eine Uminterpretation der in der Bun‐ desverfassung stehenden Regelungen für die politischen Rechte einzuführen, und zwar mit dem Argument, die Bezeichnung jeder Schweizer schließe in zahlreichen anderen Artikeln der Verfassung auch Frauen ein; diese Vorstöße wurden aber von führenden Juristen abgewiesen (vgl. Trömel-Plötz 1982: 201 f.). Das Frauenstimmrecht wurde schließlich durch die Volksabstimmung vom 7. Februar 1971 eingeführt, bei der eine revidierte Fassung des oben zitierten Artikels 74 angenommen wurde: „Bei eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen haben Schweizer und Schweizerinnen die gleichen politischen Rechte und Pflichten. Stimm- und wahlberechtigt bei solchen Abstimmungen und Wahlen sind alle Schweizer und Schweizerinnen, die das 20. Altersjahr zurück‐ gelegt haben.“ 4 Erste Regelungen zur sprachlichen Gleichbehandlung und politische Reaktionen Die Ungereimtheiten beim Gebrauch des generischen Maskulinums und bei der unsystematischen Nennung der beiden Geschlechter, die bei den Debatten um den Schweizer Pass und bestimmte Artikel der Bundesverfassung zu Tage traten, nutzten frauenpolitische und feministische Gruppierungen, um das Thema weiter zu politisieren. In Parlamenten, sei es auf Gemeindeebene, auf kantonaler (was in Deutschland und Österreich der Ebene der Bundesländer entspricht) und eidgenössischer (also nationaler) Ebene, brachten politische Gruppierungen Vorstöße ein, um den geschlechtergerechten Sprachgebrauch in offiziellen Texten des jeweiligen Gemeinwesens durchzusetzen. Diese Forde‐ rungen wurden zum Teil aufgenommen, wie die Erarbeitung zahlreicher Leit‐ fäden zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch bzw. zur Gleichbehandlung von Mann und Frau in Texten durch Verwaltungen der verschiedensten Gemein‐ wesen zeigt. Aufgrund des stark föderalistischen Aufbaus der Schweiz erstellten Städte, Kantone und öffentliche Institutionen (Hochschulen, Universitäten und auch Schulen) ihre eigenen Leitfäden, auch wenn die Bundesverwaltung auf nationaler Ebene einen Leitfaden erarbeitet hatte (vgl. unten). Dies hatte zur Folge, dass die Zahl der in der Schweiz veröffentlichten Leitfäden deutlich höher liegt als in den Nachbarländern. 6 Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz 121 <?page no="122"?> 7 Erst in den 2000er Jahren wurde der geschlechtergerechte Sprachgebrauch zu einem auch in der Schweiz eingehender behandelten sprachwissenschaftlichen Gegenstand, in erster Linie durch die Arbeiten von Daniel Elmiger (vgl. etwa Elmiger/ Wyss 2000 und Elmiger 2008). Wie die Entwicklung von Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter zeigt, ging es bei den Diskussionen um einen geschlechter‐ gerechten Sprachgebrauch in der Deutschschweiz nicht in erster Linie um theoretische Fragen, sondern um pragmatische, anwendungspraktische Aspekte wie die geschlechtergerechte Formulierung von Verwaltungs- und Rechtstexten. Das Thema des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs wurde bis Ende der Neunzigerjahre von den Linguistinnen und Linguisten an Schweizer Universi‐ täten nicht groß aufgegriffen, weshalb diese behördlichen Sprachregelungen ohne fachwissenschaftliche Unterstützung ausgearbeitet werden mussten (vgl. Albrecht 2000: 16-22). 7 Die Regelungen für den geschlechtergerechten Sprachgebrauch wurden hin und wieder auch zum Gegenstand politischer Debatten, bei denen der zweisprachige Kanton Bern eine Vorreiterrolle spielte. So hatte der Grosse Rat (das Parlament) des Kantons Bern 1987 eine Richtlinie zur Abfassung ge‐ schlechtergerechter Gesetzestexte erlassen, in der festgehalten wurde: „Stehen keine ‚geschlechtsneutralen‘ Formulierungen zur Verfügung, ist kumulativ die weibliche und die männliche Form aufzuführen.“ Zwei Jahre später hieß der Grosse Rat gegen den Antrag der Kantonsregierung einen Vorstoß gut, mit dem der Verzicht auf Doppelnennungen wie Bürgerinnen und Bürger gefordert wurde, weil „die Verständlichkeit höher zu bewerten sei als emanzipatorische Absichten“ (Berner Zeitung 1989). Die Regierung des Kantons Bern verwies dann darauf, dass sie Änderungen erst vornehmen werde, wenn auf nationaler Ebene geklärt sei, ob und wie Gesetzes- und Verwaltungstexte geschlechterge‐ recht formuliert werden sollten (vgl. Albrecht 2000: 15). Aufsehen erregte 1993 die Abstimmung über die Revision der Gemeinde‐ ordnung der Gemeinde Wädenswil im Kanton Zürich. Bei der Vorbereitung hatte sich eine Kommission des Gemeindeparlaments bei der Fachstelle für Gleichberechtigungsfragen des Kantons Zürich danach erkundigt, wie die neue Gemeindeordnung geschlechtergerecht formuliert werden könne. Der Vorschlag der Fachstelle lautete, für Personen- und Berufsbezeichnungen Beid‐ nennung (Einwohnerinnen und Einwohner) zu verwenden. Die Kommission erachtete diese Lösung als zu schwerfällig und entschied sich stattdessen dafür, in einer Präambel festzuhalten, aus Gründen der Lesbarkeit seien nur männliche Formen zu verwenden, Frauen seien aber selbstverständlich mitgemeint. Bei der Beratung der Gemeindeordnung im Gemeindeparlament machte eine Parla‐ 122 Jürg Niederhauser <?page no="123"?> mentarierin den Vorschlag, diese Präambel auf umgekehrte Weise anzuwenden, das heißt, ausschließlich weibliche Personenbezeichnungen zu verwenden und festzuhalten, dass Männer mitgemeint seien. Schließlich sei die männliche Form optisch in der weiblichen Form enthalten (Einwohnerinnen). Das Parlament schloss sich dieser Argumentation an. Nach der parlamentarischen Beratung wurde die Gemeindeordnung den Wädenswiler Stimmberechtigten zur Abstim‐ mung vorgelegt. Der Abstimmungskampf wurde unerwartet heftig geführt. In‐ haltlich war die revidierte Gemeindeordnung unstrittig, allein die durchgängig feminisierten Personenbezeichnungen gaben zu Diskussionen Anlass. Nach der Ablehnung der revidierten Gemeindeordnung wurde sie unter Verwendung von Beidnennungen umformuliert und in dieser überarbeiteten Fassung ein halbes Jahr später mit großem Mehr angenommen (vgl. dazu Fachstelle 1994). 5 Leitfaden der Schweizerischen Bundeskanzlei Die sprachliche Gleichbehandlung wurde mithin auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene zu einem wichtigen Thema. Mit erfolgreich vorgebrachten politischen Vorstößen wurde eine Überprüfung der Gesetze im Hinblick auf eine möglicherweise ungleiche Behandlung von Mann und Frau durchgesetzt und ein Programm zur Beseitigung allfälliger diskriminierender Bestimmungen geplant. Im Bericht des Bundesrates über das Rechtsetzungsprogramm („Gleiche Rechte für Mann und Frau“) heißt es: „Geschlechtsspezifische Begriffe in der Gesetzgebung tragen mit dazu bei, dass Männer und Frauen wenn nicht recht‐ lich, so doch faktisch auf je bestimmte Verhaltensweisen festgelegt werden.“ (Bundesblatt 1986: 1153). Daraufhin wurde in der Bundesverwaltung eine mehrsprachige interdeparte‐ mentale (d. h. ministeriumsübergreifende) Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit der Frage der sprachlichen Gleichbehandlung in Gesetzes- und Verwaltungs‐ texten befasste (Arbeitsgruppe Rechtssprache 1990) und 1991 einen Bericht vorlegte („Sprachliche Gleichbehandlung von Frau und Mann in der Gesetzes- und Verwaltungssprache“; Bundeskanzlei 1991). Darin wird bereits darauf hin‐ gewiesen, dass das Thema für die verschiedenen Amtssprachen unterschiedlich behandelt werden könne: „Auch die Vorschriftensprache soll dem Grundsatz der sprachlichen Gleichbehandlung folgen, wobei jede der drei Amtssprachen ihre spezifischen und zum Teil beschränkten Möglichkeiten zur Umsetzung der Forderung anwenden kann“ (Bundeskanzlei 1991: 75). Ein Jahr später wird das unterschiedliche Vorgehen in den Schweizer Amtssprachen in einem Bericht der Redaktionskommission des Parlaments ausführlicher thematisiert: Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz 123 <?page no="124"?> 8 Siehe auch Elmiger in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Es scheint, dass sich die kreative Lösung [vgl. die Ausführungen dazu auf der nächsten Seite, J.N.] im Deutschen verwirklichen lässt, ihre Umsetzung aber im Französischen und Italienischen zu unüberwindbaren Schwierigkeiten führt. Nach Meinung der Kommission kann die kreative Lösung im Deutschen auch dann verwirklicht werden, wenn sie im Französischen und im Italienischen nicht angewandt wird. Solche Unterschiede sind durchaus zulässig. […] Die Beibehaltung des generischen Masku‐ linums im Französischen und im Italienischen hat keinerlei Einfluss auf die Bildung weiblicher Amts- und Berufsbezeichnungen. (Bundesblatt 1992: 133) Das Thema geschlechtergerechte Sprache wurde „in den verschiedenen Sprachen offenbar recht unterschiedlich wahrgenommen und für die Umset‐ zungen in den einzelnen Sprachen verschieden beurteilt“ (Elmiger/ Tunger/ Schaeffer-Lacroix 2017: 11). 8 Von Seiten des Parlaments und der Bundesverwal‐ tung wurde den unterschiedlichen Sensibilitäten in den Sprachgemeinschaften der Amtssprachen Rechnung getragen, weshalb zunächst Vorschläge für die deutsche Sprache erarbeitet wurden. So erschien bereits 1996 der „Leitfaden zur sprachlichen Gleichbehandlung im Deutschen“ (Bundeskanzlei 1996), eine 140-seitige Broschüre, die eine eingehende Erörterung der sprachlichen Mög‐ lichkeiten zur Umsetzung der sprachlichen Gleichbehandlung in Verwaltungs‐ texten aller Art sowie Modellformulare, Formulierungsvorschläge und ein Wörterverzeichnis enthält. Zusammenfassend wird darauf hingewiesen, dass es kein allgemeingültiges Rezept für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch gebe, weshalb es bei jedem Text abzuwägen gelte, welche sprachlichen Mittel sich zur geschlechtergerechten Formulierung eines Sachverhalts am besten eignen. Die Nachteile der verschiedenen Formulierungsmöglichkeiten ließen sich mit der „kreativen Lösung“ vermeiden: „Die kreative Lösung, d. h. das Aus‐ schöpfen verschiedener sprachlicher Möglichkeiten im gleichen Text, kann die Nachteile einzelner Ausdrucksweisen weitgehend ausschalten“ (Bundeskanzlei 1996: 36). Diese Lösung wurde in der vollständig überarbeiteten Zweitauflage des Leitfadens ausführlicher dargelegt und mit 15 Faustregeln erläutert: „Kreative Lösung bedeutet: die vorhandenen sprachlichen Mittel kombinieren und sie so verwenden, dass ihre Vorteile voll zum Tragen kommen und ihre Nachteile minimiert werden“ („Geschlechtergerechte Sprache. Leitfaden zum geschlech‐ tergerechten Formulieren im Deutschen“, Bundeskanzlei 2009: 41-54; hier S. 41). Besonders hervorgehoben wird darin, wie wichtig es sei, die sprachliche Gleichbehandlung bereits bei der Konzeption von Texten zu berücksichtigen, nicht zuletzt, weil „eine Umgestaltung nach der kreativen Lösung immer auch 124 Jürg Niederhauser <?page no="125"?> Auswirkungen auf die französische und die italienische Fassung haben“ könnte (Bundeskanzlei 2009: 42). Eine Spielart der kreativen Lösung, die Alternierung von männlichen und weiblichen Personenbezeichnungen bei Aufzählungen, ist fast nur in der Deutschschweiz zur Anwendung gekommen: „Wenn alle Wintersporttreib‐ enden wie Snowboarder, Skifahrerinnen, Snowbiker und Rodlerinnen Helme tragen würden…“, „Ärztinnen und Krankenpfleger sind dabei besonders gefor‐ dert“. Derartige Formulierungen lösen in der Regel in Deutschland und Öster‐ reich Nachfragen aus und werden eher nicht als sprachlich korrekt akzeptiert. 6 Intensivierung der politischen Diskussion um Genderzeichen In der politischen Debatte kam dem Leitfaden der Schweizerischen Bundes‐ kanzlei die Rolle einer Orientierungshilfe bzw. eines Referenzwerks zu. Für weiterführende Fragen wurde in den meisten Anleitungen zur Handhabung der sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter, häufig kurz gehaltenen Merkblättern, die auf kommunaler oder kantonaler Ebene und in den verschie‐ densten staatlichen und staatsnahen Institutionen erarbeitet wurden, auf diesen Leitfaden verwiesen. Sprachpraktische Aspekte standen auch bei den Überlegungen zu Unter‐ schieden im Kommunikationsverhalten von Frauen und Männern und bei den Reaktionen auf bestimmte Kommunikationsmuster im Vordergrund. Die Kommunikation zwischen Frauen und Männern im Berufsalltag wurde zum Ge‐ genstand von beruflicher Weiterbildung und Sensibilisierungsmaßnahmen. So entwickelten etwa das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement und das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (also das schweizerische Justiz- und das Verteidigungsministerium) Lehrmate‐ rialien zur Sensibilisierung insbesondere von Führungskräften: „Dabei geht es vor allem um die unterschiedliche Beurteilung und Behandlung von Frauen und Männern im Berufsalltag […]. Diskriminierung findet in Gesprächssituationen subtil und oft auf einer von den Anwesenden nicht bewusst wahrgenommenen Ebene statt.“ (Baitsch/ Steiner 2000: 3). Ab Mitte der Zehnerjahre macht sich in der Debatte um den geschlech‐ tergerechten Sprachgebrauch wieder eine stärkere Politisierung bemerkbar, wobei auch neue Aspekte und Begrifflichkeiten ins Spiel kommen. Vermehrt ist nun von Gendergerechtigkeit die Rede; damit ist gemeint, dass es bei der sprachlichen Gleichbehandlung nicht nur um Männer und Frauen geht, sondern auch um weitere Geschlechterbzw. Genderidentitäten. Es tauchen allmählich Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz 125 <?page no="126"?> 9 Siehe auch Elmiger in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). neue sprachliche Realisierungsformen mit Genderzeichen auf: Genderstern, -doppelpunkt und -unterstrich, deren Anwendung in aktivistischen postfemi‐ nistischen Kreisen gefordert wird, während sprachkonservative Sprecherinnen und Sprecher sie vehement ablehnen. Die Schweizerische Bundeskanzlei reagiert auf diese Diskussionen, indem sie ihre Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache erneut gründlich überar‐ beitet. Im Januar 2023 erscheint die dritte Auflage ihres Leitfadens für die deutsche Sprache, wenige Monate später folgen diejenigen für Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. 9 Es geht der Bundeskanzlei nicht darum, zu laufenden Diskussionen pointiert Stellung zu beziehen; vielmehr wird bei den zuständigen Sprachdiensten darauf geachtet, dass der Leitfaden seine Funktion als Orientierungshilfe für die in der Bundesverwaltung tätigen Per‐ sonen erfüllt. Auf diesen klar fokussierten Anspruch verweist nicht zuletzt der geänderte Untertitel der dritten Auflage („Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren in deutschsprachigen Texten des Bundes“). Im Leitfaden wird unmissverständlich festgehalten, dass die Bundesbehörden verpflichtet sind, die gesetzliche Vorgabe einer geschlechtergerechten Sprache in den deutsch‐ sprachigen Texten des Bundes umzusetzen, und klargestellt, dass Kurzformen mit Genderzeichen, wie Genderstern oder Genderdoppelpunkt, in Texten des Bundes nicht zulässig sind (vgl. Bundeskanzlei 2023: 1). Zur Begründung wird angeführt, dass Genderzeichen der amtlichen deutschen Rechtschreibung widersprechen, Schreibweisen mit Genderzeichen „nicht aus sich selbst heraus verständlich“ sind und „zu grammatisch falschen Strukturen“ führen. Zudem bleibt ungeklärt, „welche Formen Artikel, Adjektive und Pronomen annehmen sollen, die sich auf Personenbezeichnungen mit Genderzeichen beziehen“, und es „bleibt unklar, was Personenbezeichnungen mit Genderzeichen im Einzelfall bedeuten; ist die Personenbezeichnung Richter*in geschlechtsspezifisch oder generisch gemeint? “ (Bundeskanzlei 2023: 15-16). Von aktivistischer Seite wurde diese neue Fassung deswegen teilweise stark kritisiert. Mit Blick auf die Funktion des Leitfadens als eines praxisorientierten Referenzwerks sind die Entscheidungen der Schweizerischen Bundeskanzlei jedoch richtig und angemessen, zumal im neuen Untertitel deutlich gemacht wird, dass dieser Leitfaden nur für deutschsprachige Texte der Bundesbehörden gilt. In der politischen und massenmedialen Debatte wurde der Leitfaden der Bundeskanzlei übrigens nicht groß thematisiert; stärkere Beachtung fanden dagegen bestimmte Regelungen von Hochschulen. Bildungsinstitutionen, ins‐ besondere Hochschulen, gehören aufgrund ihrer Affinität zu gleichstellungspo‐ 126 Jürg Niederhauser <?page no="127"?> 10 Vgl. zum Beispiel den Leitfaden für einen inklusiven Sprachgebrauch der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW 2022) oder die Empfehlungen für eine gender- und diversitygerechte Sprache der Berner Fachhochschule von 2020 (BFH 2020). litischen Anliegen auch in der Schweiz zu den Institutionen, die schon früh begonnen hatten, Leitfäden zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch zu erstellen. Diese wurden entsprechend den aktuellen Diskussionen überarbeitet. In manchen Leitfäden wurde festgehalten, dass die Verwendung geschlechter‐ gerechter Formulierungen bei der Bewertung von Qualifikationsarbeiten als Kriterium zu berücksichtigen sei. 10 Die Möglichkeit von Punkteabzügen wurde auch zum Gegenstand politischer Vorstöße, bei denen die Frage aufgeworfen wurde, ob Hochschulen als Institutionen, die Vielfalt und akademische Freiheit als zentrale Werte ansehen, das Recht haben, Studierenden einen bestimmten Sprachgebrauch vorzuschreiben (vgl. NZZ 2022a/ b). Heftige Diskussionen lösten sprachliche Vorgaben im Parlament der Stadt Zürich aus, das seit Ende der Neunzigerjahre eine linksgrüne Mehrheit hat. Im Jahr 2018 verabschiedete das Büro des Parlaments Sprachregeln, in denen die Verwendung geschlechtergerechter Formulierungen für seine Mit‐ glieder zwingend vorgeschrieben wurde. 2019 weigerte sich das Büro des Zürcher Stadtparlaments (bis jetzt übrigens das einzige Parlament einer grö‐ ßeren Deutschschweizer Stadt mit verbindlichen Sprachregeln), einen nicht geschlechtergerecht formulierten Vorstoß einer rechtskonservativen Parlamen‐ tarierin - Susanne Brunner von der Schweizerischen Volkspartei SVP - ent‐ gegenzunehmen. Auch die überarbeitete Version ihres Vorstoßes mit einer Generalklausel (d. h. dem Hinweis, das generische Maskulinum umfasse stets auch Frauen) wurde zurückgewiesen. Nachdem das Parlament in einer von Susanne Brunner geforderten Debatte den Rückweisungsentscheid seines Büros bestätigt hatte (vgl. Tages-Anzeiger 2019, NZZaS 2023), engagierte sich die Par‐ lamentarierin politisch gegen die Bestrebungen für eine geschlechtergerechte Sprache. Als die Stadt Zürich 2022 für die Verwaltung ein neues Reglement für geschlechtergerechten Sprachgebrauch erließ, durch das die Verwendung des Gendersterns verpflichtend vorgeschrieben wurde, lancierte Susanne Brunner eine städtische Volksinitiative mit dem Titel „Tschüss Genderstern! “ (vgl. Tschuess-Genderstern 2022). Die Initiative kam zustande; die Abstimmung darüber steht noch aus. Ihr Kampf gegen gendergerechten Sprachgebrauch verhalf Susanne Brunner auch zu einer gewissen Bekanntheit, jedenfalls wurde sie anfangs 2023 auch ins kantonale Parlament gewählt (vgl. NZZaS 2023). Von verschiedener Seite wurde der gendergerechte Sprachgebrauch auch 2023 bei den Wahlen für das nationale Parlament thematisiert. So wurde eine Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz 127 <?page no="128"?> 11 Das reicht von einer Erwähnung in einem Kommentar zur politischen Diskussion in Hessen über ein mögliches Verbot bestimmter genderneutraler Schreibweisen (wochentaz 2023) bis zu einem Porträt der Linguistin Luise F. Pusch, in dem diese nachdrücklich hinweist auf „das Binnen-I, das übrigens eine Schweizer Erfindung“ ist (NZZaS 2024: 20). queere Aktivistin, Anna Rosenwasser, die sich unter anderem für genderge‐ rechte Sprache stark macht, ins Parlament gewählt. Manche Politikerinnen und Politiker der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) machten sich gegen „Gender-Gaga“ stark, mit Slogans wie „Gender-Wahn stoppen! “ und „Gender-Wahnsinn stoppen! “. In einem Kapitel des SVP-Parteiprogramms für den Zeitraum 2023-2027 geht es um „Gender-Terror und Woke-Wahnsinn“ (Parteiprogramm 2023). Allerdings stellt der Kampf gegen den Gebrauch von Genderzeichen nur ein Randthema in dieser Partei dar; hauptsächlich kämpft sie gegen Zuwanderung, gegen eine Annäherung der Schweiz an die EU und für eine möglichst strikte Auslegung der Schweizer Neutralität. 7 Besonderheiten der geschlechtergerechten Sprache in der Deutschschweiz 7.1 Das Binnen-I - eine Erfindung des Deutschschweizer Feminismus? Ab der ersten Hälfte der Achtzigerjahre tauchte im deutschen Sprachraum eine Form geschlechtergerechter Schreibweise auf, die sich die Groß- und Kleinschreibung des Deutschen zu Nutze machte: die Binnengroßschreibung mit I in Personenbezeichnungen. Mit der Zeit wurde sie auch von Behörden im amtlichen Schriftverkehr benutzt, was gegen Ende der Achtzigerjahre auch zu Diskussionen in deutschen Länderparlamenten führte. Als Argument gegen das Binnen-I wurde dabei unter anderem angeführt, dass es „eine ‚Wortvergewalti‐ gung‘ sei, wenn eine Erfindung des Schweizer Feminismus, das große I, in den weiblichen Endungen männlicher Wörter […] benutzt werde“ (SZ 1989b, vgl. auch SZ 1989a). Auch in aktuellen Artikeln zum Thema Gendersprache wird immer wieder auf die Schweizer Herkunft des Binnen-I verwiesen. 11 Stammt also eine Form gendergerechten Schreibens ausgerechnet aus der Schweiz, dem Land, in dem erst 1971 das Stimmrecht für Frauen eingeführt worden ist? Die Verwendung des Binnen-I ist erstmals 1981 belegt, in einem Buch des deutschen Journalisten Christoph Busch über freie Radios (vgl. Ludwig 1989). Eine gewisse Rolle bei der Verbreitung des Binnen-I hat die linke Zei‐ tung WoZ Die Wochenzeitung gespielt, die Deutschschweizer Entsprechung zur 128 Jürg Niederhauser <?page no="129"?> 12 Diese Ausgabe der Wochenzeitung führte zu teilweise heftigen Reaktionen bei einigen sich als progressiv und linksalternativ verstehenden Männern (vgl. Studer 1988a: 5 und 1988b: 3 f.). 13 Persönliche Mitteilung an den Verfasser. Dass die Anrede Fräulein in der Deutsch‐ schweiz noch länger im Sprachgebrauch blieb, bestätigt auch Bernadette Calonego, die damalige Schweiz-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung (SZ 1992). deutschen tageszeitung (taz), nur eben als Wochenzeitung konzipiert. Nachdem die Schreibung zwei Jahre später in einem Inserat eines Zürcher Lokalradios erstmals in der WoZ aufgetaucht war, wurde sie gut einen Monat später auch im redaktionellen Teil verwendet und verbreitete sich von dort aus im deutschen Sprachraum, vor allem über die taz. Im September 1987 publizierte die WoZ übrigens als Experiment „eine total feminisierte“ Ausgabe, in der statt der Binnengroßschreibung das generische Femininum verwendet wurde: „Liebe Leserinnen (Männer sind natürlich mitgemeint) - es wird ernst. In dieser Nummer probierte die WoZ - nicht den Aufstand, aber die ‚totale Feminisierung‘ der Sprache“ (WoZ 1987: 2). 12 7.2 Das Fräulein lebt etwas länger Dass eine Deutschschweizer Zeitung eine Rolle bei der Verbreitung des Binnen-I im deutschen Sprachraum gespielt hat, heißt nicht, dass die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache und die Umsetzung geschlechtergerechten Spre‐ chens und Schreibens in der Deutschschweiz in allen Belangen weiter fortge‐ schritten gewesen wäre als in Deutschland. So blieb etwa die Anrede Fräulein in der Deutschschweiz länger gebräuchlich. Der zuvor in Münster und Kiel lehrende Sprachwissenschaftler Willy Sanders, 13 der 1979 an der Universität Bern eine Stelle als Professor für deutsche Sprache angetreten hatte, war es gewohnt, die Anrede Fräulein nicht mehr zu verwenden. Er berichtete, dass er es zu Beginn seiner Berner Zeit in einzelnen Fällen noch erlebt habe, dass er, wenn er jemanden mit „Frau X“ angeredet habe, korrigiert worden sei: „Fräulein X“. Nach zwei, drei Jahren sei dies aber nicht mehr passiert. Tatsächlich verschwand die Anrede Fräulein in der deutschen Schweiz um 1983, als verschiedene Kantone sie in der offiziellen Korrespondenz und in Formularen abschafften. Einzig im Gastgewerbe war Fräulein als Anrede für die Bedienung noch länger zu hören: „Fräulein, noch ein Bier bitte! “ Bereits 1953, als Frances Elizabeth Willis als erste Frau zur Botschafterin der USA in der Schweiz ernannt wurde, hatte die Anrede Fräulein übrigens sogar die schweizerische Landesregierung, den Schweizer Bundesrat, beschäftigt. Die korrekte Bezeichnung der Botschafterin in der Presse und in amtlichen Verlaut‐ Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz 129 <?page no="130"?> 14 Mit Ausnahme des Walliserdeutschen, in dem auch auf Männer mit neutralen Perso‐ nalpronomina verwiesen werden kann. barungen bereitete offenbar Probleme; die häufig verwendete Formulierung „Der Botschafter der USA, Miss Willis“ zog viel Spott auf sich. Daraufhin erteilte der Bundesrat dem Innenminister den Auftrag, sich um eine angemessene An‐ rede zu kümmern. Dieser empfahl dann seinen Regierungskollegen die Lösung: „die Botschafterin, Fräulein Willis“, und als direkte Anrede „Frau Botschafterin“ (vgl. NZZ 2021). 7.3 Neutrale Frauen- und Verwandtschaftsnamen im Dialekt Die Anwendung gendergerechter Sprache ist zuallererst eine Frage, die schrift‐ liche Kommunikation, und damit standarddeutsche Texte betrifft. Die Sprach‐ situation in der Deutschschweiz ist gekennzeichnet durch ein klares Nebenein‐ ander der beiden Sprachformen Mundart und Hochdeutsch, eine Situation der medialen Diglossie (vgl. Haas 2000: 81-87 und Niederhauser 2011: 35-36). In der Regel wird Mundart gesprochen, außer in formellen öffentlichen Vorträgen oder Reden, in formellen Unterrichtssituationen oder im Kontakt mit Sprecherinnen und Sprechern, die schweizerdeutsche Mundarten nicht verstehen. Geschrieben wird Hochdeutsch; nur informelle, konzeptionell mündliche Texte werden in der Mundart geschrieben, vor allem von Jüngeren. Insofern ist das Thema geschlechtergerechtes Formulieren im mundartlichen Sprachgebrauch eigentlich kaum relevant. Allerdings ist eine Eigenheit der schweizerdeutschen Mundarten aus der Perspektive der sprachlichen Gleich‐ berechtigung in die Kritik geraten, nämlich die neutrale Genuszuweisung bei weiblichen Personen- und Verwandtschaftsnamen (vgl. Christen 1998, Baum‐ gartner/ Christen 2019). Statt die Rita, die Heidi, die Mutti kann es das Rita, das Heidi, das Mutti oder genauer (auf Mundart) ds/ s Rita, ds/ s Heidi, ds/ s Mueti heißen. Auch bei den Personalpronomina zeigen sich Abweichungen; in fast allen schweizerdeutschen Dialekten gibt es für Männer und Knaben nur das Personalpronomen er respektive är, 14 während bei Frauen und Mädchen sowohl das feminine Personalpronomen sie/ sii als auch die neutrale Form es/ äs verwendet werden kann. Untersuchungen zeigen, dass die Wahl des Genus bei weiblichen Namen stark von der Beziehung zwischen den Beteiligten abhängt: Nähe und Vertrautheit führen zu einem stärkeren Gebrauch des Neutrums (vgl. Baumgartner/ Christen 2019: 15-18). Weiblichen Personennamen kann „das neutrale Genus durchaus in liebevoller Absicht zugewiesen werden“ (Christen 1998: 280). Die Verwendung 130 Jürg Niederhauser <?page no="131"?> des Neutrums bei weiblichen Vornamen und bei auf Frauen referierenden Personalpronomina wird vermehrt kritisiert, weil sie als „Versächlichung“ des weiblichen Geschlechts und damit als abwertender oder rückständiger Sprachgebrauch empfunden wird. Das hat zu einem tendenziellen Rückzug des Neutrums für weibliche Namen oder Personenbezeichnungen geführt; heute ist es allenfalls noch im engsten Familien- und Freundeskreis gebräuchlich. 8 Schlussbemerkungen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Thema gendergerechte Sprache in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre auch in der politischen Diskussion und der Medienberichterstattung der Deutschschweiz verstärkt aufgegriffen wird. Die Debatte wird hier aber nicht in der Vehemenz geführt, wie das teilweise in Deutschland der Fall ist. Die politischen Kontroversen um das Thema werden sich bei dem anstehenden Abstimmungskampf um die oben erwähnte Volksinitiative zur Abschaffung von Genderzeichen im Sprachgebrauch der Zürcher Stadtverwaltung sicher noch weiter verstärken; dennoch bleibt bei aller Politisierung in der Deutschschweiz eine Tendenz zur pragmatischen Behandlung des gendergerechten Sprachgebrauchs erhalten. Bibliographie Albrecht, Urs (2000): ‚Unsere Sprache ist verbildet durch einen Maskulinismus‘. Die deutsche Schweiz auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Sprache. In: Elmiger, Daniel/ Wyss, Eva Lia (Hrsg.): Sprachliche Gleichstellung von Frau und Mann in der Schweiz. Ein Überblick und neue Perspektiven. Université de Neuchâtel (=-Bulletin Vals-Asla. Bulletin suisse de linguistique appliquée 72), 11-46. Baitsch, Christof/ Steiner, Ellen (2000): Zwei tun das Gleiche. Kommunikation zwischen Frauen und Männern im Berufsalltag. Hrsg. vom Eidgenössischen Justiz- und Polizei‐ department EJPD und dem Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölke‐ rungsschutz und Sport VBS Zürich: vdf Hochschulverlag. Baumgartner, Gerda/ Christen, Helen (2019): Von männlichen Männern und sächlichen Frauen. Sprachspiegel 75 (1), 2-23. Bickel, Hans/ Schläpfer, Robert (Hrsg.) (2000): Die viersprachige Schweiz. Aarau etc.: Sauerländer. Christen, Helen (1998): Die Mutti oder das Mutti, die Rita oder das Rita? Über Beson‐ derheiten der Genuszuweisung in Personen- und Verwandtschaftsnamen in schwei‐ zerdeutschen Dialekten. In: Schnyder, André et al. (Hrsg.): Ist mir getroumet mîn Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz 131 <?page no="132"?> leben? Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag. Göppingen: Kümmerle, 267-281. Elmiger, Daniel (2008): La féminisation de la langue en allemand et en français. Querelle entre spécialistes et réception par le grand public. Paris: Honoré Champion (= Bibliothèque de grammaire et de linguistique 30). Elmiger, Daniel/ Tunger, Verena/ Schaeffer-Lacroix, Eva (2017): Geschlechtergerechte Behördentexte. Linguistische Untersuchungen und Stimmen zur Umsetzung in der mehrsprachigen Schweiz. Genf: Université de Genève. Elmiger, Daniel/ Wyss, Eva Lia (2000): La féminisation de la langue en Suisse. Bilan et perspectives. Bulletin de linguistique appliquée 72 (Bulletin VALS-ASLA), 63-79. Haas, Walter (2000): Die deutschsprachige Schweiz. In: Bickel, Hans/ Schläpfer, Robert (Hrsg.), 57-138. Ludwig, Otto (1989): Die Karriere eines Großbuchstabens - zur Rolle des großen „I“ in Personenbezeichnungen. Der Deutschunterricht 41 (6), 80-87. Niederhauser, Jürg (2011): Vier- oder vielsprachige Schweiz - Sprachen in der Schweiz. Historicum - Zeitschrift für Geschichte 105, 34-41. Pusch, Luise (1984): Das Deutsche als Männersprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Studer, Liliane (1988a): Brot für Brüder - Brösmeli für d’Schwösterli. Sexismus in der Alltagssprache. A-Bulletin 226, 1-5. —-(1988b): Was können wir weiter gegen Sexismus in der Sprache tun? A-Bulletin 227, 1-5. —-(1989): Eine Studentin ist kein Student, auch nicht ein weiblicher. Terminologie et traduction 2, 47-56. Trömel-Plötz, Senta (1982): Frauensprache: Sprache der Veränderung. Frankfurt am Main: Fischer. — (Hrsg.) (1984): Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen. Frankfurt am Main: Fischer. Quellen Arbeitsgruppe Rechtssprache (1990): Maskuline und feminine Personenbezeichnungen in der Rechtssprache. Bericht der Arbeitsgruppe Rechtssprache vom 17.01.1990. Bern. Berner Zeitung (1989): ‚Bürgerinnen‘ bleiben unerwähnt. Berner Zeitung, 30.08.1989, 31. BFH (2020): Empfehlungen für eine gender- und diversitygerechte Sprache. Berner Fachhochschule BFH. Bern. Bundesblatt (1986): Bericht über das Rechtsetzungsprogramm ‚Gleiche Rechte für Mann und Frau‘. Bundesblatt, 15.04.1986, 1144-1274. 132 Jürg Niederhauser <?page no="133"?> —-(1992): Sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter in der Gesetzessprache. Be‐ richt der parlamentarischen Redaktionskommission. Bundesblatt, 22.09.1992, 129- 134. Bundeskanzlei (1991): Sprachliche Gleichbehandlung von Frau und Mann in der Ge‐ setzes- und Verwaltungssprache. Bericht einer interdepartementalen Arbeitsgruppe der Bundesverwaltung. Schweizerische Bundeskanzlei. Bern. —-(1996): Leitfaden zur sprachlichen Gleichbehandlung im Deutschen. Bern. —-(2009): Geschlechtergerechte Sprache. Leitfaden zum geschlechtergerechten Formu‐ lieren im Deutschen. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Bern. —-(2023): Geschlechtergerechte Sprache. Leitfaden zum geschlechtergerechten Formu‐ lieren in deutschsprachigen Texten des Bundes. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Bern. Fachstelle (1994): Sprache macht Politik. Wie die ausschliesslich weiblichen Personen‐ bezeichnungen die Gemeindeordnung von Wädenswil zu Fall brachten. Fachstelle für Gleichberechtigungsfragen des Kantons Zürich. NZZ (2021): Kommt der Stardiplomat George F. Kennan? Nein, ein ‚Fräulein‘. Neue Zürcher Zeitung, 26.04.2021, 7. —-(2022a): Wer nicht gendert, wird bestraft. Neue Zürcher Zeitung 89, 16.04.2022, 16. —-(2022b): Die SVP trommelt gegen die Sprachpolizei. Neue Zürcher Zeitung 233, 06.10.2022, 13. NZZaS (2023): Winkelriedin im Wortstreit. NZZ am Sonntag 8, 19.02.2023, 15. —-(2024): Die GeisterInnen, die sie rief. NZZ am Sonntag 2, 07.01.2024, Magazin, 16-20. Parlamentsdienste (2021): Josi J. Meier, die Landesmutter, die ins Bundeshaus gehörte. URL: https: / / www.parlament.ch/ de/ über-das-parlament/ politfrauen/ portraets/ josi-m eier (25.09.2023). Parteiprogramm (2023): Für eine sichere Zukunft in Freiheit! Unser Parteiprogramm. Parteiprogramm der Schweizerischen Volkspartei 2023-2027. URL: https: / / www.svp. ch/ positionen/ parteiprogramme (10.10.2023). Ritter, Lara: Star Wars - Next Level. Wochentaz 2.-8.12.2023, 16. SZ (1989a): Kleinkrieg um ein ‚großes I‘. Süddeutsche Zeitung 235, 12.10.1989,-5. —-(1989b): „Das Streiflicht“. Süddeutsche Zeitung 238, 16.10.1989, 1. —-(1992): Das ‚Fräulein‘ ist noch immer gefragt. Zwei Drittel der jungen Frauen in Winterthur für alte Anrede. Süddeutsche Zeitung 96, 25.04.1992, 11. Tages-Anzeiger (2019): SVP-Parlamentarierin muss weibliche Endungen benutzen. Tages-Anzeiger, 29.08.2019, 17. Trüeb, Markus (2008): Meier, Josi. In: Historisches Lexikon der Schweiz. URL: https: / / hl s-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 006196 (25.09.2023). Diskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz 133 <?page no="134"?> Tschuess-Genderstern (2022): Tschüss Genderstern! Ja zu einer klaren und verständli‐ chen Sprache in der Stadtverwaltung Zürich. URL: https: / / tschuess-genderstern.ch (03.10.2023). WoZ (1987): Die Wochenzeitung 37, 11.09.1987. Wyss, Eva Lia (1996): Erst Provokation, dann Zeichen der Zeit - feministische Sprach‐ kritik in der Schweiz. Der Bund 182 (7), 1996, 2-3. ZHAW (2022): Leitfaden für einen inklusiven Sprachgebrauch. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Zürich. 134 Jürg Niederhauser <?page no="135"?> 1 Ich danke Anna-Alice Dazzi, Anna-Maria De Cesare, Aline Siegenthaler und Daniel Telli für ihre Kommentare zu einer ersten Version dieses Beitrags. 2 Neben dieser Bezeichnung sind viele weitere in Gebrauch: inklusive, nicht-sexistische, gendersensible, nichtdiskriminierende Sprache/ Kommunikation usw. Unter „inklusiver“ Sprachverwendung lassen sich verschiedene Arten von Einbezug zusammenfassen, Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen Französisch, Italienisch und Romanisch 1 Daniel Elmiger Zusammenfassung: In diesem Beitrag geht es um geschlechtergerechte Sprache in der so genannten „lateinischen Schweiz“, die die französisch-, italienisch- und romanischsprachigen Landesteile umfasst. Behandelt wird zunächst allgemein die Schweizer Sprachpolitik, die in dem offiziell vier‐ sprachigen, föderalistisch organisierten Land eine wichtige Rolle spielt. Dabei geht es um die politischen Grundsätze und die Entscheidungen, die auf eidgenössischer Ebene in den vier Amtssprachen seit den 1990er Jahren getroffen worden sind. Daraufhin werden die drei romanischen Sprachen und deren Rolle in den jeweiligen Landesteilen behandelt. Er‐ läutert wird jeweils, wie der Gegenstand (geschlechtergerechte, inklusive Sprache usw.) bezeichnet wird, welche Themen in den einzelnen Sprachen öffentlich diskutiert werden, zu welchen politischen Regelungen es in den einzelnen Kantonen gekommen ist und welche sonstigen Auswirkungen die Diskussion um Geschlecht und Sprache gezeitigt hat. Schlüsselbegriffe: Schweiz, Sprachpolitik, geschlechtergerechte Sprache, Leitfäden, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch 1 Einleitung In diesem Beitrag geht es um geschlechtergerechte Sprache 2 in der Schweiz, namentlich die sogenannte „lateinische Schweiz“, d. h. die französisch-, italie‐ <?page no="136"?> die nicht immer denselben Stellenwert haben: vor allem die Berücksichtigung von nichtbinären Geschlechtsidentitäten, aber auch von anderen Personengruppen (mit unterschiedlicher Herkunft, sexueller Orientierung usw.). 3 Siehe dazu auch Niederhauser in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). 4 Zu beachten ist, dass der Verfasser mit der Situation in der Deutschschweiz (in der er aufgewachsen ist) und in der französischsprachigen Westschweiz (in der er seit über dreissig Jahren lebt) besser vertraut ist als mit derjenigen in den italienisch- und romanischsprachigen Landesteilen, bei denen er sich vor allem auf offizielle Quellen beschränken wird. 5 Der Text folgt den in der Schweiz üblichen Konventionen der ss- (statt ß-)Schreibung. nisch- und romanischsprachigen Landesteile, die zusammen rund ein Drittel des Landes ausmachen. Auch die Situation in der Deutschschweiz 3 wird hier kurz erläutert. 4 In einem einleitenden Abschnitt geht es allgemein um die Schweizer Sprach‐ politik, die in dem offiziell viersprachigen, föderalistisch organisierten Land eine wichtige Rolle spielt (Abschnitt 3). Dabei sollen nicht nur die politischen Grundsätze vorgestellt werden, sondern es geht auch darum, welche Entschei‐ dungen auf eidgenössischer Ebene in den vier Amtssprachen seit den 1990er Jahren getroffen worden sind. Um die drei Sprachen Französisch, Italienisch und Romanisch und deren Rolle in den jeweiligen Landesteilen geht es in Abschnitt 4. Dabei soll jeweils erläutert werden, wie der Gegenstand (geschlechtergerechte, inklusive Sprache usw.) bezeichnet wird, welche Themen in den einzelnen Sprachen öffentlich diskutiert werden, zu welchen politischen Regelungen es in den einzelnen Kan‐ tonen gekommen ist und welche sonstigen Auswirkungen die Diskussion um Geschlecht und Sprache gezeitigt hat. In einem Fazit (Abschnitt 5) werden die wichtigsten Punkte der vorhergehenden Teile zusammengefasst und bilanziert. 2 Allgemeines In der Schweiz treffen verschiedene Sprachen aufeinander, in denen das Thema geschlechtergerechte Sprache seit längerem unterschiedlich diskutiert worden ist. Dabei spielen jeweils unterschiedliche Bezugsebenen mit. Zum einen fand bei den drei grossen 5 Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch die Auseinandersetzung immer auch mit Bezug zu anderen deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Ländern und Gebieten statt, denn die Schweiz parti‐ zipiert jeweils als Minderheit an diesen Sprachgemeinschaften. Dies gilt auch für das rätoromanische Gebiet, das zwar im Wesentlichen auf die Schweiz bezogen ist, in dem aber weitgehend Zweisprachigkeit herrscht (v. a. roma‐ nisch-deutsch), sodass auch hier geschlechtergerechte Sprache nicht losgelöst 136 Daniel Elmiger <?page no="137"?> 6 Zu den Zielen und zur Methodologie vgl. den Abschlussbericht (Elmiger et al. 2017: 6 ff.). Allgemein zur Schweiz vgl. auch Lobin (2015). vom Diskurs in der Deutschschweiz sowie in anderen deutschsprachigen Gebieten gedacht werden kann. Zum anderen führt das Zusammenleben in verschiedenen Sprachen auch dazu, dass sich in zwei- und mehrsprachigen Institutionen die Frage stellt, wie sehr die Bemühungen um eine geschlechter‐ gerechte Sprache jeweils einzelsprachlich oder koordiniert behandelt werden sollen. Dies spielt im Besonderen auf nationaler Ebene eine bedeutende Rolle, aber auch teilweise auf kantonaler Ebene, wo ganz unterschiedliche Wege gegangen worden sind. Die Frage, wie geschlechtergerechte Sprache in der (lateinischen) Schweiz gebraucht wird, kann in diesem Beitrag nur sehr eingeschränkt beantwortet werden. Einen Schwerpunkt bei der Darstellung wird die institutionelle Ebene bilden, die zuerst auf nationaler, dann auf sprachregionaler Ebene beleuchtet wird. Quellen dafür bilden Daten, die im Zusammenhang mit einem For‐ schungsprojekt zusammengestellt worden sind. Das Projekt Sprachpolitik und Sprachgebrauch in der mehrsprachigen Schweiz: Personenbezeichnungen in der Behördensprache hat für den Zeitraum von 2013 bis 2016 untersucht, wie geschlechtergerechte Sprache in Schweizer Behörden konzeptualisiert und umgesetzt wird. Dabei wurden die relevanten regulativen Texte (Gesetze, Wei‐ sungen, Leitfäden usw.) zusammengestellt, Gespräche mit Verantwortlichen für die Umsetzung dieser Texte auf Behördenebene geführt und - auf Bundesebene - anhand eines diachronen Korpus untersucht, welche Auswirkungen sich im Sprachgebrauch gezeigt haben. 6 Administrative Sprache bildet freilich nur einen beschränkten Teilbereich der Sprachverwendung, der für die meisten Menschen im Alltag wohl nur eine Nebenrolle spielt. Bedeutender ist der Sprachgebrauch in verschiedenen Bereichen des Alltags, ob privat, beruflich oder in anderen Kontexten. Was den schriftlichen Sprachgebrauch betrifft, so spielen Medien, elektronische Kommunikation, Werbung sowie verschiedene Formen von öffentlich sicht‐ barer Sprache eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache in diesen Kontexten existiert insgesamt, und im Speziellen zur Schweiz, nur wenig empirische Forschung. Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 137 <?page no="138"?> 7 Rätoromanisch ist seit 1939 eine der vier Landessprachen und seit 1996 Teilamtssprache des Bundes; es ist auch eine anerkannte Minderheitensprache (Conseil fédéral 2021, Council of Europe 2022), die aktiv gefördert wird. 3 Sprachpolitik: die Schweiz als viersprachiges, föderales Land 3.1 Grundlagen der Sprachenpolitik Die offizielle Viersprachigkeit des Landes gehört zum politisch-identitären Selbstverständnis der Schweiz. Die vier Landessprachen 7 werden in der schwei‐ zerischen Bundesverfassung genannt: Art. 4 Landessprachen Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Sie werden auch in einem weiteren Artikel als Amtssprachen des Bundes aufgeführt: Art. 70 Sprachen Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes. Während die Landessprachen eine eher identitäre Funktion haben, steht bei den Amtssprachen der kommunikative Aspekt im Vordergrund: Sie dienen zur Kommunikation zwischen der Bevölkerung und den Behörden sowie - in den Kantonen - auch als Schulsprachen. Diese offizielle Viersprachigkeit bildet die Sprachwirklichkeit freilich nur beschränkt ab. Neben den vier Landessprachen werden in der Schweiz sehr viele andere Sprachen gesprochen: So gibt etwa knapp ein Viertel der Bevölkerung (23 %) als Hauptsprache eine andere Sprache an, oft allerdings neben einer Landessprache (Bundesamt für Statistik 2022: 3). Nur wenige sprachliche Belange sind national und auf der Verfassungsebene geregelt, und es besteht üblicherweise auch relativ wenig Schriftverkehr zwi‐ schen den Bundesbehörden und der Bevölkerung. Aufgrund der föderalen Struktur des Landes werden die meisten konkreten sprachpolitischen Fragen auf der Ebene der Kantone geregelt. Dazu gehören etwa die Bestimmung der kantonalen Amtssprachen, das Schulwesen oder - was hier von besonderem Interesse ist - der Umgang mit geschlechtergerechter Sprache. 138 Daniel Elmiger <?page no="139"?> 8 Französisch: Chancellerie fédérale (1991), Italienisch: Cancelleria federale (1991). 9 In diesem Artikel entspricht die Formulierung ‚geschlechtsübergreifende Verwendung von (Maskulin-)Formen‘ dem, was sonst meistens als „generisches Maskulinum“ be‐ zeichnet wird. - Vgl. hierzu die terminologischen Überlegungen von Pettersson (2010). 10 Vgl. zur Entstehungsgeschichte auch Bonetti (2012). 3.2 Geschlechtergerechte Sprache als Politikum auf Landesebene Auf nationaler Ebene kann in der Schweiz die Frage der sprachlichen Repräsen‐ tation der Geschlechter nicht losgelöst von anderen gleichstellungspolitischen Themen gesehen werden. Zehn Jahre nach der Einführung des Frauenstimm‐ rechts im Jahre 1971 wurde per Volksentscheid ein Gleichstellungsartikel in die Verfassung aufgenommen. Bei der Diskussion um die Umsetzung stellte sich unter anderem die Frage, wie Gleichstellung auf sprachlicher Ebene erreicht werden kann. Diese wurde schon seit Ende der 1970er Jahre in (feministisch-)lin‐ guistischen Kreisen breit diskutiert. Auf Bundesebene hat sich eine interdepartementale Arbeitsgruppe mit dem Thema auseinandergesetzt: 1991 veröffentlichte sie den Bericht Sprachliche Gleichbehandlung von Frau und Mann in der Gesetzes- und Verwaltungssprache (Schweizerische Bundeskanzlei 1991 8 ): Darin wurden die Möglichkeiten und Grenzen geschlechtergerechter Sprache (damals noch sprachliche Gleichbehand‐ lung genannt) erläutert (Elmiger et al. 2017: 10). Angestrebt wurde eine für das Deutsche, Französische und Italienische vergleichbare Handhabung, die unter dem Stichwort „kreative Lösung“ bekannt geworden ist. Sie besteht in einer grundsätzlichen Vorgabe, nämlich der Vermeidung geschlechtsübergreifend ge‐ brauchter maskuliner Personenbezeichnungen, 9 und einer Reihe von Strategien, die dafür zur Verfügung stehen, namentlich Doppelformen, geschlechtsneutrale und -abstrakte Personenbezeichnungen, Kollektivbezeichnungen und Umfor‐ mulierungen. Der Entscheid des Bundesrates (d. h. der Landesregierung) zeigt jedoch, dass von einer engen Koordination unter den Sprachen abgesehen wurde: 1993 wurden die Empfehlungen des Berichts von 1991 nur für das Deutsche als verbindlich festgesetzt (Schweizerischer Bundesrat 1993), und zwar für die Verwaltungs- und Gesetzessprache sowie für neue Erlasstexte; in den romanischen Sprachen wurden sie als nicht gleichermassen umsetzbar erachtet (vgl. Elmiger 2009: 59). In der Folge erschienen für das Deutsche (Schweizerische Bundeskanzlei 1996, 2009), Französische (Chancellerie fédérale 2000) und Italienische (Cancel‐ leria federale 2012) 10 Leitfäden - und das Ziel der geschlechtergerechten Sprache Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 139 <?page no="140"?> 11 Deutsche Fassung: https: / / www.fedlex.admin.ch/ eli/ cc/ 2009/ 821/ de (abgerufen am 29.08. 2023). wurde 2007 auch gesetzlich festgelegt, nämlich im neuen Sprachengesetz. 11 Unter Artikel 7 (Verständlichkeit) wird dabei im ersten Absatz festgehalten: Deutsch: Die Bundesbehörden bemühen sich um eine sachgerechte, klare und bürger‐ freundliche Sprache und achten auf geschlechtergerechte Formulierungen. Französisch: Les autorités fédérales s’efforcent d’utiliser un langage adéquat, clair et compréhensible et tiennent compte de la formulation non sexiste. Italienisch: Le autorità federali si adoperano ad usare un linguaggio appropriato, chiaro e conforme alle esigenze dei destinatari; provvedono inoltre a un uso non sessista della lingua. Rätoromanisch: Las autoritads federalas sa stentan da duvrar ina lingua adequata, clera e chapaivla sco er formulaziuns na sexistas. Die Formulierungen entsprechen einander nicht genau, sowohl was die Verben betrifft (frz. tenir compte entspricht eher „berücksichtigen“ als „achten“; it. provvedere lässt sich als „sorgen um“ oder „versorgen mit“ übersetzen) als auch die Begriffe selbst: In keiner Sprache ist festgelegt, was unter geschlech‐ tergerechten Formulierungen, einer formulation non sexiste („nicht-sexistische Formulierung“) und einem uso non sessista della lingua („nicht-sexistischer Gebrauch der Sprache“) zu verstehen ist. Aus den Leitfäden des Bundes sowie aus den Gesprächen mit Vertreter: innen der Bundesverwaltung (Elmiger et al. 2017: 65 ff.) geht aber hervor, dass die grundsätzliche Ausrichtung je nach Sprache abweicht: Geschlechtsübergreifend gebrauchte Maskulinformen sind nur im Deutschen zu vermeiden; im Französischen und Italienischen werden sie durchaus toleriert - und für die Erlasssprache sogar als verbindlich festgelegt. In den letzten Jahren ist auch in der Schweiz die Diskussion um die rechtliche und sprachliche Berücksichtigung von nichtbinären Geschlechtsidentitäten vermehrt ins Blickfeld der Öffentlichkeit und der Politik geraten. Die Landesre‐ gierung hat sich Ende 2022 in einem Bericht grundsätzlich gegen die Einführung eines dritten Geschlechts und den Verzicht auf den Geschlechtseintrag im Personenstandsregister geäussert (Schweizerischer Bundesrat 2022). Begründet wird diese Entscheidung dadurch, dass damit „weitreichende Konsequenzen verbunden wären, die bislang kaum diskutiert worden sind. […]. Eine Änderung müsste sorgfältig geplant und umgesetzt werden, damit keine Rechtsunsicher‐ heiten entstehen. Das binäre Geschlechtermodell ist nach wie vor stark in der 140 Daniel Elmiger <?page no="141"?> 12 „Le genre non marqué inclusif permet de désigner des groupes mixtes sans introduire une binarité dans le discours qui a pour effet d’exclure les personnes non incluses dans le modèle femme/ homme. Il est de mise lorsque la question de l’identité de genre ne se pose pas.“ (Chancellerie fédérale 2023: 3). 13 „[…] l’uso della sola forma maschile non deve e non può essere ritenuto a priori discriminatorio, bensì fondamentalmente inclusivo di tutti i generi, posti in tal modo in uno stato di uguaglianza.“ (Cancelleria federale 2023: 9). Gesellschaft und im alltäglichen Leben verankert.“ (Schweizerischer Bundesrat 2022: 3). Im Anschluss an diese Entscheidung wurden im Frühjahr 2023 die bisherigen Sprachleitfäden des Bundes in einer neuen Version herausgegeben (Schweizeri‐ sche Bundeskanzlei 2023, Chancellerie fédérale 2023, Cancelleria federale 2023); erstmals erschien auch ein Leitfaden für das Rätoromanische (Chanzlia federala 2023), welcher die früheren, sehr allgemein gehaltenen Weisungen (Chanzlia federala 2014) ersetzt. In allen Sprachen wurden im Grundsatz die bisherigen Konventionen beibe‐ halten und prinzipiell auch für nichtbinäre Personen als geeignet erachtet. Im französischen Leitfaden steht etwa zur Verwendung des geschlechtsübergrei‐ fend intendierten Maskulinums, dass es Geschlechtervielfalt nicht verhindere, sondern geradezu ermögliche: ‚Das unmarkierte inklusive Genus erlaubt es, gemischte Gruppen zu bezeichnen, ohne eine Binarität in den Diskurs einzuführen, die zur Folge hat, dass Personen ausgeschlossen werden, die nicht in das Modell Frau/ Mann eingebunden sind. Es ist angebracht, wenn sich die Frage nach der Geschlechtsidentität nicht stellt.‘ 12 Ähnliches wird auch in der italienischen Fassung gesagt: ‚[…] die Verwendung der alleinigen männlichen Form darf und kann nicht von vornherein als diskriminierend angesehen werden, denn sie schliesst grundsätzlich alle Geschlechter ein und stellt damit ihre Gleichheit sicher.‘ 13 Der rätoromanischsprachige Leitfaden lehnt sich hingegen stärker am Deut‐ schen an und spricht sich im Grundsatz gegen geschlechtsübergreifende Mas‐ kulina aus - erlaubt sie jedoch dann, wenn die Lesbarkeit von Texten gefährdet ist: ‚Das generische Maskulinum zur Bezeichnung von Personen unterschiedlichen Ge‐ schlechts ist in rätoromanischen Texten des Bundes nicht zugelassen. Dies mit einer Ausnahme: Um zu verhindern, dass die Gesetze und Verordnungen des Bundes Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 141 <?page no="142"?> 14 „Il masculin generic per designar persunas da differentas schlattainas n’è betg admess en texts rumantschs da la Confederaziun. Quai cun ina excepziun: Per evitar che las leschas e las ordinaziuns federalas en lingua rumantscha daventian illegiblas, vegnan duvradas mo las furmas masculinas en quests texts.“ (Chanzlia federala 2023: 9). 15 Dabei handelt es sich um die wohl auflagenstärkste Publikation des Landes, die vor Volksabstimmungen (demokratische Volksbefragungen) an alle Stimmberechtigten verschickt wird (zweibis viermal pro Jahr). Darin sollen die jeweiligen Abstimmungs‐ themen für die Bevölkerung möglichst objektiv und ausgewogen dargestellt werden. in rätoromanischer Sprache unleserlich werden, werden in diesen Texten nur die maskulinen Formen verwendet.‘ 14 Diese insgesamt recht konservative Regelung hat zu einiger Widerrede geführt. So schreibt etwa die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF (2023) zur Beibehaltung des geschlechtsübergreifend intendierten Maskulinums im Französischen und Italienischen: Beide Lösungen schliessen einen Grossteil der Bevölkerung - namentlich die Frauen sowie non-binäre Personen - aus. (Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF 2023: 1) Auch der neue Leitfaden für das Deutsche wird kritisiert: Im Deutschen werden Paarformen als Lösung vorgeschlagen. Damit sind Frauen und Männer zwar sichtbar, non-binäre Personen bleiben aber weiterhin ausgeschlossen. Von einem Fortschritt kann keine Rede sein. (ebd.) Wie sehr sich die Texte, die in der Bundesverwaltung verfasst werden, an diese Vorgaben halten, ist bisher kaum untersucht worden. Im bereits erwähnten For‐ schungsprojekt zur Schweizer Behördensprache (Elmiger et al. 2017) konnten die meisten Untersuchungen nur fürs Deutsche durchgeführt werden; für manche geschlechtergerechte Alternativen wie etwa der geschlechtsabstrakte Ausdruck Person konnte allerdings auch für das Französische und Italienische nachgewiesen werden, dass sich deren Gebrauch in den vergangenen Jahr‐ zehnten stark erhöht hat. Für das Rätoromanische stand kein vergleichbares Korpus zur Verfügung. In einer früheren Untersuchung (Elmiger 2013) zu den „Erläuterungen des Bundesrates“ 15 zeigte sich, dass in dieser vielbeachteten Textsorte geschlechter‐ gerechte Sprache so umgesetzt wurde, wie es in den jeweiligen Amtssprachen vorgesehen war: im Französischen und Italienischen mit geschlechtsübergrei‐ fend gebrauchten Maskulinformen, die im Rätoromanischen (ebenso wie im Deutschen) vermieden wurden. 142 Daniel Elmiger <?page no="143"?> 4 In den Landesteilen 4.1 Französisch Französisch ist in der Schweiz nach Deutsch die verbreitetste Sprache. Sie wird vor allem in der sogenannten Westschweiz (in der Schweiz auch Romandie genannt) gesprochen. Dazu gehören die einsprachig französischsprachigen Kantone Genf (Genève), Jura ( Jura), Neuenburg (Neuchâtel) und Waadt (Vaud) sowie die französischsprachigen Teile der zweisprachigen Kantone Bern/ Berne, Freiburg/ Fribourg und Wallis/ Valais, neben Deutsch. Landesweit geben rund 23 % der Bevölkerung Französisch als Hauptsprache an, d. h. knapp 2 Millionen Personen (Bundesamt für Statistik 2022: 6). Die Westschweiz weist eine reich‐ haltige Presse- und Verlagslandschaft auf, die in vieler Hinsicht kulturell mit anderen frankofonen Gebieten (v. a. Frankreich) verbunden ist. Sprachlich zeigen sich regionale Unterschiede vor allem auf lexikalischer Ebene (Thibault 2012, 2017; Avanzi 2020) sowie auf der Ebene der Aussprachegewohnheiten (accents genannt). Sprache und Geschlecht Seit Ende der 1970er Jahre wird die Frage, welche Zusammenhänge und Un‐ gleichheiten bei der sprachlichen Repräsentation von Geschlechtern bestehen, im frankofonen Raum breit diskutiert. In der Schweiz fand diese Diskussion sowohl auf eidgenössischer (vgl. oben) als auch auf regionaler Ebene statt und betraf lexikalische Fragen (z. B. Bureau de l’égalité entre homme et femme 1990) sowie den Umgang mit geschlechtsübergreifend intendierten Formen. Beim Wortschatz ging es vor allem - unter der Bezeichnung féminisation (du lexique) („Feminisierung (des Wortschatzes)“) - um Personenbezeichnungen, die bislang vorwiegend in der maskulinen Form gebräuchlich waren (z. B. le chef, le ministre), oder für die keine eindeutige feminine Form vorlag (z. B. le sculpteur ‚Bildhauer‘ vs. la sculpteur, la sculptrice, la sculpteuse). Oft diskutiert wurden auch die Mehrdeutigkeit des Wortes homme (‚Mann‘; grossgeschrieben auch ‚Mensch‘) sowie eine Unausgewogenheit beim Gebrauch von Anredeformen: Während für Männer nur eine Form gebräuchlich ist (Monsieur), existieren für Frauen weiterhin zwei (Madame sowie Mademoiselle). Beim Gebrauch von Personenbezeichnungen - besonders bei generischer oder geschlechtsübergreifender Verwendung - stellen sich im Französischen ähnliche Fragen wie in anderen Sprachen: Wie kann bzw. soll Sprache ver‐ wendet werden, um Ungleichheiten bezüglich der Benennung der Geschlechter zu vermeiden? Traditionell werden verschiedene Bezeichnungen dafür ver‐ wendet, z. B. formulation non sexiste oder langue/ langage épicène (‚nicht-sexisti‐ Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 143 <?page no="144"?> 16 Zum Gendern im Französischen siehe Balnat in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). 17 Vgl. Elmiger (2021); im August 2023 waren in der Sammlung 2500 Leitfäden zu über 40 Sprachen enthalten. 18 Vgl. die Kantonsporträts in Elmiger et al. (2017: 184 ff.). sches Formulieren, Feminisierung (der Sprache), geschlechtsneutrale Sprache‘). Unter dem Einfluss der Diskussion in Frankreich, wo das Thema erst in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre öffentlich breit diskutiert worden ist (abgesehen von der Bildung und vom Gebrauch femininer Personenbezeichnungen), wird in den letzten Jahren auch in der Westschweiz vermehrt von écriture/ langue inclusive (‚inklusives Schreiben, inklusive Sprache‘) u. Ä. gesprochen. 16 Sprachpolitische Entscheidungen In der französischsprachigen Schweiz - ebenso wie in anderen frankofonen Gebieten (namentlich in der kanadischen Provinz Québec, aber auch in Belgien) - wurde das Thema früher und intensiver diskutiert als in Frankreich, dem Stammland der Frankofonie. Davon zeugen in der Schweiz zahlreiche Leitfäden: Bis 2015 gab es bereits 39 Exemplare für die Schweiz; in unserer Sammlung 17 sind für Frankreich nur 12 Dokumente enthalten. Die Schweizer Leitfäden stammen aus verschiedenen Bereichen (Behörden, Hochschulen, Medien usw.). In den sieben Kantonen mit französischer Amtssprache wird mit dem Thema geschlechtergerechte Sprache unterschiedlich umgegangen. 18 Teilweise wird die grundsätzliche Linie der Bundesverwaltung übernommen: Neben verschie‐ denen Alternativen sind geschlechtsübergreifend verwendete Maskulinformen nicht nur erlaubt, sondern für bestimmte Bereiche (etwa die Gesetzesredaktion) verbindlich (vgl. Elmiger et al. 2017: 110 f.). Anderswo werden sie generell vermieden, etwa im Kanton Bern, der in beiden Amtssprachen (Deutsch und Französisch) grundsätzlich eine gleiche Vorgehensweise vorsieht. In der deut‐ schen Version der Richtlinien wird dies so formuliert: „Erlasse sind von Grund auf so zu gestalten, dass sie in inhaltlicher, systematischer und sprachlicher Hinsicht der Gleichberechtigung von Frau und Mann Rechnung tragen“ (zit. in Elmiger et al. 2017: 186). Zur Anwendung kommen mehrheitlich ausgeschrie‐ bene Doppelformen (z. B. électrices et électeurs, „Wählerinnen und Wähler“); abgekürzte Formen werden eher vermieden oder gar abgelehnt. Sonstige Auswirkungen Für die französischsprachige Schweiz liegen mittlerweile (Stand: September 2023) 81 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache vor, von denen die Hälfte (42) nach 2015 erschienen ist (zum Französischen insgesamt sind 306 Leitfäden verzeichnet). Neunzehn Exemplare stammen aus dem Bildungsbereich: Mitt‐ 144 Daniel Elmiger <?page no="145"?> 19 Das Pronomen iel wurde 2021 zum Westschweizer „Wort des Jahres“ gewählt (https: / / www.zhaw.ch/ fr/ linguistique/ mot-suisse-de-lannee/ ). 20 Vgl. auch experimentellere Zugänge, wie sie beispielsweise in Demierre (2022) ange‐ wendet werden. lerweile verfügen alle grösseren Universitäten und Hochschulen über einen Leitfaden. Auch andere Bereiche wie Medien, Parteien und verschiedene Insti‐ tutionen haben sich Regeln für den Sprachgebrauch gegeben. Einige Diskussion hat der Leitfaden des öffentlichen Radios und Fernsehens (Radio Télévision Suisse RTS 2021) hervorgerufen, obwohl er keine sehr umstrittenen Formen vorschlägt (etwa solche mit Mediopunkt: étudiant·e ‚Student·in‘). Wie sehr diese Regelung in der Berichterstattung umgesetzt wird, ist derzeit nicht dokumen‐ tiert. Im Alltag kommen in der französischsprachigen Schweiz bezüglich ge‐ schlechtergerechter Sprache alle möglichen Formen vor, sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Sprachgebrauch. Während in konservativeren Medien wenige oder eher unauffällige Formen verwendet werden (wie etwa Kollek‐ tivbezeichnungen, geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen oder Doppel‐ formen), tauchen in progressiveren Texten auch andere Formen auf, z. B. • abgekürzte Formen mit Sonderzeichen (etwa mit Bindestrich oder Medio‐ punkt: habitant-es, habitant·e·s ‚Bewohner: innen‘) • Einfügen des Buchstabens x zur Symbolisierung von Nichtbinarität: Aux étudiant.e.x.s de la HEAD - Genève Aux collaborateur.trice.x.s de la HEAD - Genève (‚An die Studierenden der HEAD [eine Kunst- und Designhochschule] - Genf; An die Mitarbeitenden der HEAD - Genf ‘) • Verwendung von kontrahierten Formen (mit oder ohne Abkürzungszei‐ chen): les auditeur·ices, les auditeurices (statt: auditrices et auditeurs ‚Hörerinnen und Hörer‘) • das geschlechtsneutrale Pronomen iel  19 sowie andere Neopronomina Solche und weitere, experimentellere Formen 20 sind sehr unterschiedlich ver‐ breitet. Allgemein ist anzunehmen, dass geschlechtergerechte Sprache mittler‐ weile zwar bekannt, im Alltag der meisten Menschen jedoch noch wenig sichtbar ist. Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 145 <?page no="146"?> 21 Im Vergleich zu Italien (Bevölkerung 2020 rund 59 Millionen) entspricht dies ungefähr einem Prozent schweizweit. Zur Situation des Italienischen in der Schweiz vgl. Casoni et al. (2021). 22 Hierbei handelt es sich um einen Bericht der italienischen nationalen Kommission für Gleichstellung und Chancengleichheit von Frauen und Männern. Wichtig ist auch der 4.2 Italienisch Italienisch wird in der Schweiz von rund 8 % der Bevölkerung als Hauptsprache gesprochen, vor allem im Kanton Tessin (Ticino), wo es als alleinige Amts‐ sprache fungiert, sowie in Teilen des dreisprachigen Kantons Graubünden, wo das Italienische neben Deutsch und Rätoromanisch die dritte Amtssprache ist. Daneben ist das Italienische auch in anderen Landesteilen recht weit verbreitet, da in der zweiten Hälfte des 20. Jh. im Zuge der Arbeitsmigration zahlreiche Personen aus Italien in die Schweiz eingewandert sind. Insgesamt geben rund eine halbe Million Menschen in der Schweiz Italienisch als (eine oder alleinige) Hauptsprache an, darunter 90 % der rund 350 000 Personen, die im Kanton Tessin leben. 21 Aufgrund der relativ geringen Grösse und der kulturellen Dominanz des angrenzenden Mutterlandes weist das schweizerische und insbesondere das Tessiner Italienische zwar einige Besonderheiten auf (besonders in der regionalen Presse, im politischen Leben oder in Bereichen, die mehrsprachig gehandhabt werden); in vielen anderen Fällen (Medien, Verlagswesen usw.) steht das Tessiner Italienische jedoch in engem Kontakt mit demjenigen aus Italien (vgl. Egger 2019 zu den Eigenheiten des italiano federale (‚Bundesitalie‐ nisch‘) sowie Pandolfi/ Casoni 2009 zur Tessiner Alltags- und Pressesprache). Sprache und Geschlecht Ebenso wie im Französischen spielte auch im Italienischen in der Diskussion um Sprache und Geschlecht die Frage der Bildung und Verwendung einzelner Personenbezeichnungen für Frauen lange eine viel grössere Rolle als die Frage, wie mit geschlechtsübergreifend intendierten Maskulinformen umzugehen ist. Dies liegt vermutlich teilweise daran, dass letztere in den romanischen Sprachen (und mehr noch im Italienischen im Vergleich zum Französischen) sehr zahlreich sind und sich die femininen nicht nur im schriftlichen, sondern auch im mündlichen Sprachgebrauch deutlich von den maskulinen Formen (Nomina, Adjektive, Pronomina, Partizipien usw.) unterscheiden; zum Teil auch an der Tatsache, dass Frauen in Italien in vielen Bereichen unterrepräsentiert waren (bzw. noch sind). Zu den wichtigsten frühen Arbeiten im italienischsprachigen Raum gehören diejenigen von Alma Sabatini (1985, 1987 22 ). Darin geht es vorwiegend um 146 Daniel Elmiger <?page no="147"?> Leitfaden von Robustelli (2012), der in Zusammenarbeit mit der Accademia della Crusca erschienen ist. 23 Z. B. Lei fa l’architetto (‚Sie ist Architekt‘). 24 Vgl. auch althergebrachte Berufsbezeichnungen (Accademia della Crusca 2020). 25 Die daraus entstehenden morphosyntaktischen Inkohärenzen (z. B. avvocato incinta ‚schwangere Anwalt‘) sowie alternative Vorschläge werden in Mandelli/ Müller (2013) durchaus humoristisch behandelt. Unterschiede bei Personenbezeichnungen für Frauen, etwa in der Berufswelt, in der Politik und anderen Bereichen, in denen sie lange abwesend oder unterrepräsentiert waren. Dabei lässt sich feststellen, dass einer maskulinen Form häufig mehr als eine feminine Form gegenüberstehen: • l’architetto - l’architetto, 23 l’architetta (‚Architekt, Architektin‘) • l’avvocato - l’avvocato, l’avvocata, l’avvocatessa (‚Anwalt, Anwältin‘) Dabei geht es teils um die Verwendung femininer Formen an sich, aber auch um verschiedene Formen, die unterschiedlich konnotiert sein können (vgl. De Ce‐ sare 2022a für mit -essa suffigierte Formen wie professoressa). Widerstände und multiple Formen zeigen sich - wie auch im Französischen - bei sozial besonders hochgestellten Berufs- und Funktionsbezeichnungen; weniger prestigeträchtige Personenbezeichnungen führen zu weniger Unsicherheit und Ablehnung beim Gebrauch. 24 Andere Asymmetrien betreffen die Anredeformen (fem. Signora und Signo‐ rina vs. mask. Signore), den Gebrauch von uomo für ‚Mann‘ und ‚Mensch‘, die Verwendung des bestimmten Artikels bei Frauen (la Merkel, la Meloni vs. Scholz, Draghi), aber auch Klischees, negativ konnotierte Sprachformen sowie viele weitere Phänomene auf der Ebene des Sprachgebrauchs (für einen Überblick vgl. Formato 2019). In der Schweiz wird der Gebrauch von Personenbezeichnungen und anderen Genusformen seit längerem beobachtet. In einer Übersichtsarbeit hat Cleis (2000) die Situation im Kanton Tessin beleuchtet und mit derjenigen in Italien verglichen. Sie stellte fest, dass trotz vieler Widerstände und Schwierigkeiten die Verwendung femininer Formen (genannt femminilizzazione del linguaggio) in den Tessiner Medien schon gut belegt war - ausser bei Frauen in Spitzenpo‐ sitionen, für die immer noch des Öfteren maskuline Bezeichnungen gewählt wurden. 25 Empirisch besser abgestützt sind die Arbeiten von Pescia (2010, 2011) sowie Pescia/ Nocchi (2011), die zwei Zeitungskorpora (je eines mit Tessiner und ita‐ lienischen Zeitungstexten) miteinander vergleichen. Auch sie stellen fest, dass in der Tessiner Presse der Gebrauch von femininen Personenbezeichnungen viel Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 147 <?page no="148"?> 26 Zum Gendern im Italienischen siehe Robustelli in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). höher und konsistenter ist als in italienischen Zeitungen, wobei natürlich zu beachten ist, dass die Herkunft der Texte (bzw. der Verfasser: innen) nicht immer klar ist: Teilweise sind sie im Kanton selbst entstanden, teilweise stammen sie aus Italien oder aus einer mehrsprachigen Schweizer Institution. Im letzteren Fall sind sie oft übersetzt und weisen Spuren einer gemeinsamen schweizeri‐ schen Verwaltungssprache auf: Dann spricht man bisweilen von italiano tradotto (‚übersetztes Italienisch‘); vgl. Pescia/ Nocchi (2011: 526 f.). Bei der Verwendung geschlechtsübergreifend intendierter (maskuliner) Formen bzw. beim Gebrauch von Ersatzformen stellen sich im Italienischen grundsätzlich ähnliche Fragen wie in anderen Genussprachen. Verhandelt wurde das Thema früher unter der Bezeichnung uso non sessista della lingua (‚nicht-sexistische Sprachverwendung‘), parità (di genere) (‚Gleichstellung (der Geschlechter)‘), pari trattamento (‚Gleichbehandlung‘) und neutralità di genere (‚Geschlechtsneutralität‘). Eher neuere Bezeichnungen sind linguaggio di genere (‚Gendersprache‘) oder linguaggio inclusivo, comunicazione inclusiva (‚inklusive Sprache‘, ‚inklusive Kommunikation‘). 26 Sprachpolitische Entscheidungen Im Vergleich zu anderen romanischen Sprachen scheint es für das Italienische viel weniger Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache zu geben. Derzeit (Stand: August 2023) beziehen sich 85 Leitfäden in der Datenbank auf das Italienische (im Vergleich dazu sind zum Katalanischen, das rund fünfmal weniger Sprecher: innen hat, 100 Leitfäden verzeichnet). Davon haben 16 einen Bezug zur Schweiz. Dies ist vergleichsweise viel; früher war das Verhältnis indes noch deutlicher zugunsten der Randgebiete der italienischsprachigen Welt aus‐ geprägt (vgl. Elmiger et al. 2014): Nur 10 der 20 vor 2014 erschienenen Leitfäden stammen aus Italien selbst (davon drei aus der Grenzregion Südtirol/ Alto Adige, die restlichen aus der Schweiz (9) und dem Europäischen Parlament (1)). Dies bedeutet, dass das Thema der geschlechtergerechten Sprache in Ge‐ genden, in denen das Italienische in Kontakt mit anderen Sprachen steht, lange stärker beachtet wurde als in einsprachig italienischen Gebieten. Dies trifft vor allem auch auf die italienischsprachige Schweiz zu. Im Kanton Tessin gibt es für Verwaltungs- und Gesetzessprache seit 1995 Anweisungen für den Gebrauch von Personenbezeichnungen (Ufficio per il per‐ fezionamento professionale degli impiegati 1995): Sie betreffen allerdings mehr die Bezeichnung von Einzelpersonen, weniger den Umgang mit geschlechts‐ übergreifend intendierten Maskulinformen, die im Italienischen öfter als ma‐ 148 Daniel Elmiger <?page no="149"?> 27 Damit gemeint ist die Verwendung des Schwa-Zeichens (bzw. -Lautes) [ǝ], im Plural auch [(ɜ]) zur Vermeidung von Doppelungen wie Care tutte e cari tutti → Carǝ tuttǝ (Gheno 2020). 28 „Non sono ammesse le soluzioni che intaccano il sistema linguistico, quali l’inserimento di trattini o di punti mediani, e neppure altre scritture sperimentali come l’uso di aste‐ rischi, chiocciole o lo schwa in fine di parola.“ (Cancelleria federale 2023: „L’essenziale in breve“). schile inclusivo bezeichnet werden. Dazu fallen die Urteile unterschiedlich aus: „Die Gleichstellungsexpertinnen lehnen seine Verwendung ab. Das italienische maschile inclusivo wird jedoch von den Befragten aus dem Redaktions- und Terminologiebereich als ‚neutrale Form‘ qualifiziert, da es beide Geschlechter inkludiere (wie der Name bereits sage).“ (Elmiger et al. 2017: 111). Im Leitfaden des Bundes wird das geschlechtsübergreifende Maskulinum als eine neben anderen Möglichkeiten festgehalten, während andere Formen - namentlich solche, die zur Bezeichnung nichtbinärer Personen vorgeschlagen worden sind - untersagt werden: ‚Lösungen, die das Sprachsystem untergraben, wie z. B. das Einfügen von Bindestri‐ chen oder Mittelpunkten, sind nicht zulässig, ebenso wenig andere experimentelle Schreibweisen wie die Verwendung von Sternchen, At-Zeichen (@) oder Schwa am Wortende [27] .‘ 28 Geschlechtsübergreifend intendierte Maskulinformen spielen in der aktuellen Rechts- und Behördensprache weiterhin eine bedeutende Rolle. De Cesare (2022b/ c) hat den Gebrauch von Personenbezeichnungen in der italienischen Fassung der Bundesverfassung (aus dem Jahr 2000) untersucht (i termini che denotano entità umane (individui o gruppi di individui), S. 247, ‚die Begriffe, die menschliche Subjekte bezeichnen (Individuen oder Gruppen von Individuen)‘). In diesem für das politische Leben ausserordentlich wichtigen Text kommen einige geschlechtergerechte Formen wie Kollektivbezeichnungen popolo (‚Volk‘) und popolazione (‚Bevölkerung‘), geschlechtsabstrakte Ausdrücke wie persona (‚Person‘) und essere umano (‚Mensch‘), oder Pronomina wie chi (‚wer‘) vor; viel häufiger sind jedoch geschlechtsübergreifend gebrauchte Maskulinformen. Nur sehr wenige Doppelformen tauchen auf, z. B. wenn von der Gleichberechtigung von Frau und Mann (Uomo e donna hanno uguali diritti - ‚Mann und Frau sind gleichberechtigt‘) oder vom Schutz der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen die Rede ist (la protezione dei lavoratori e delle lavoratrici ‚der Schutz von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen‘). De Cesare weist auch darauf hin, dass der Gebrauch der Maskulinformen nicht erläutert wird, im Gegensatz zur Verfassung des Kantons Tessin: Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 149 <?page no="150"?> 29 „Nella Costituzione, nelle leggi e nell’attività dello Stato le parole che si riferiscono all’uomo in genere intendono comprendere sia le donne sia gli uomini.“ (Costituzione della Repubblica e Cantone Ticino, art. 7 par. 4). 30 „[…] l’attuale Costituzione svizzera in lingua italiana si muove tra due poli, con lieve spostamento verso il primo: implicitezza dei soggetti femminili (questi soggetti non sono nominati esplicitamente, ma sottintesi dal maschile inclusivo) e neutralizzazione del genere dei referenti.“ (De Cesare 2022c: 268). 31 Formato/ Somma (2023: 28) erwähnen auch weitere Zeichen wie -x, -+, -, -y sowie -æ. ‚In der Verfassung, in den Gesetzen und in der kantonalen Tätigkeit sind die Wörter, die sich auf Männer im Allgemeinen beziehen, so zu verstehen, dass sie sowohl Frauen als auch Männer einschliessen.‘ (Verfassung von Republik und Kanton Tessin, Art. 7 Abs. 4) 29 Sie hält zusammenfassend fest: […] ‚die aktuelle schweizerische Verfassung in italienischer Sprache bewegt sich zwischen zwei Polen, mit einer leichten Verschiebung in Richtung des ersten: Im‐ plizitheit der weiblichen Subjekte (diese werden nicht explizit genannt, sondern durch das einschließende Maskulinum impliziert) und Geschlechtsneutralisierung der Referenten.‘ 30 Umfangreiche Arbeiten über den Gebrauch von Personenbezeichnungen und anderen Formen der Personenreferenz im öffentlichen Sprachgebrauch stehen derzeit noch aus. Sonstige Auswirkungen Für das Italienische sind neben Formen, die auch im Deutschen und anderen Sprachen bekannt sind (Strategien der Sichtbarmachung oder der Neutralisie‐ rung), auch solche vorgeschlagen worden, welche sich nicht nur auf die Ge‐ schlechterbinarität (Frau/ Mann), sondern auf mehrere Geschlechtsidentitäten beziehen. Dazu gehören die bereits erwähnten Formen mit dem Schwa-Laut (vgl. Giusti 2022 und Thornton 2022), aber auch solche mit Stern, dem At-Zeichen oder mit der Endung -u (vgl. Formato/ Somma 2023), nachfolgend illustriert für alunna/ alunno (‚Schülerin, Schüler‘): 31 • alunnə, alunnз (Schwa ə (Sg.), langes Schwa з (Pl.)) • alunn* (Stern) • alunn@ (At-Zeichen) • alunnu (u) Solche Formen werden wohl eher in informellen Kontexten verwendet, wie etwa auf sozialen Netzwerken (vgl. Comandini 2021), wo sie auch Anlass zu 150 Daniel Elmiger <?page no="151"?> 32 Diese sind typologisch und historisch verwandt mit angrenzenden italienischen Varie‐ täten, die als Dolomitenladinisch und Friaulisch zusammengefasst werden können. kontroversen Diskussionen geben. Welche Verbreitung sie im Tessin haben und ob der Gebrauch in der Schweiz sich allenfalls von demjenigen in Italien unterscheidet, ist derzeit nicht bekannt. 4.3 Rätoromanisch Rätoromanisch (auch Bündnerromanisch oder Romanisch) ist eine Sammelbe‐ zeichnung für eine Reihe von regionalen Varietäten (oft Idiome genannt), die im Schweizer Kanton Graubünden gesprochen werden, nämlich Surselvisch (Sur‐ silvan), Sutselvisch (Sutsilvan), Surmeirisch (Surmiran), Oberengadinisch (Puter) und Unterengadinisch (Vallader). 32 Dabei handelt es sich jeweils um ausgebaute, standardisierte Sprachen mit langer Schrifttradition. Daneben existiert seit 1982 eine gemeinsame Standardsprache namens Rumantsch Grischun (vgl. Gross 2017), welche in manchen Kontexten verwendet wird (etwa für landesweite Informationen an Romanischsprachige, für überregionale News in den Medien), ohne die anderen Idiome zu ersetzen. Auf Landesebene spricht nur ein halbes Prozent der Bevölkerung Rätoromanisch; im Kanton Graubünden beträgt dieser Anteil 21 % (Bundesamt für Statistik 2022: 6-7). Dabei ist zu beachten, dass die Romanischsprachigen jeweils auch das Deutsche als Hauptsprache angeben (bzw. allenfalls andere Sprachen). Durch die Nähe mit dem Deutschen (und die Überdachung durch diese Sprache in vielen Lebensbereichen) ist es nicht erstaunlich, dass beim Thema geschlechtergerechte Sprache eine grosse Nähe zum Deutschen besteht: Fach‐ leute für Rätoromanisch sind in der Regel (auch) deutschsprachig und die meisten administrativen Texte und Medientexte, die in rätoromanischer Sprache veröffentlicht werden, beziehen sich auf Texte in deutscher Sprache oder sind Übersetzungen von solchen. Dies haben schon Dazzi Gross und Caduff in einem Übersichtsartikel (2000) vermerkt: „Somit kann man sagen, dass die sprachliche Gleichbehandlung im Rätoromanischen wohl nur deshalb ein Diskussionsthema wurde, weil sie im deutschen und schweizerdeutschen Sprachraum diskutiert wurde. In diesem Falle hat also die Mehrheitssprache durchaus positive Ein‐ flüsse auf die Minderheitssprache ausgeübt“ (S.-49). Sprache und Geschlecht Rätoromanisch ist typologisch eng verwandt mit anderen romanischen Spra‐ chen, besonders mit dem Italienischen. Die beiden grammatischen Genera Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 151 <?page no="152"?> Maskulinum und Femininum finden sich in Personenbezeichnungen, Artikeln, Pronomina und anderen Formen. Wie Dazzi Gross und Caduff (2000: 47) festgehalten haben, wurde „sprach‐ liche Gleichstellung […] vor allem im Zuge der Schaffung neuer rätoromani‐ scher Lehrmittel etwa ab Mitte der 80er Jahre in LehrerInnen-Kreisen vermehrt diskutiert“, wobei das Deutsche eine wichtigere Rolle spielte als andere roma‐ nische Sprachen, in denen die Diskussion weniger weit fortgeschritten war. Das Thema stand also von Beginn an unter besonderer Berücksichtigung der Kontrastivität und der Übersetzungen. Feminine lexikalische Formen werden schon seit 1983 in die linguistische Datenbank Pledari Grond aufgenommen (wenn auch zunächst in Klammern; vgl. Dazzi Gross/ Caduff 2000: 51). Im Hinblick auf Personenbezeichnungen in Texten stellten die Autorinnen unterschiedliche Ansätze fest: Neben dem Gebrauch von geschlechtsübergrei‐ fend intendierten (Maskulin-)Formen (manchmal mit erklärender Fussnote) fanden sie in Behörden- und Medientexten ähnliche Strategien wie im Deut‐ schen, etwa Doppelformen (las participantas ed ils participants ‚die Teilneh‐ merinnen und die Teilnehmer‘) oder solche mit Binnenmajuskel (scripturA ‚SchriftstellerIn‘), neben geschlechtsabstrakten, -neutralen oder Kollektivbe‐ zeichnungen. Was den Gebrauch betrifft, stellten Dazzi Gross und Caduff (2000: 56) fest: „Allerdings hängt es auch hier weitgehend von der Sensibilisierung der einzelnen Journalistinnen und Journalisten ab, inwieweit der sprachlichen Gleichstellung in den rätoromanischen Medien Rechnung getragen wird.“ Manche Formen geschlechtergerechter Sprache sind mit der Zeit gebräuch‐ licher geworden. So wurde etwa für die bereits erwähnte Textsorte Explicaziuns dal Cussegl federal (‚Erläuterungen des Bundesrates‘) gezeigt, dass neuere Ausgaben - neben anderen Strategien - konsequent auf Doppelformen setzen, und zwar nicht nur bei den Personenbezeichnungen, sondern auch auf der Ebene von Pronomina, Adjektiven usw., z. B. • ellas ed els (‚sie (fem.) und sie (mask.)‘) • Bleras e blers èn burgaisas svizras e burgais svizzers (‚Viele (fem.) und viele (mask.) sind schweizerische (fem.) Bürgerinnen und schweizerische (mask.) Bürger‘) Sprachpolitische Entscheidungen Erste Vorgaben für geschlechtergerechte Sprache im Rätoromanischen gibt es schon seit Beginn der 1990er Jahre (Lia Rumantscha 1991). Sie sind eng ans Deutsche angelehnt. 152 Daniel Elmiger <?page no="153"?> 33 Nicht berücksichtigt worden ist hier die Situation in angrenzenden Gebieten in Italien, in denen das verwandte Dolomitenladinische gesprochen wird (vgl. Videsott 2022 zu den Personenbezeichnungen sowie die Leitfäden in der zweisprachigen Provinz Bozen - Südtirol (Autonome Provinz Bozen - Südtirol/ Provincia autonoma di Bolzano - Alto Adige 2021a, 2021b). 34 Gemeint sind damit die Richtlinien für die Rechtsetzung aus dem Jahr 2010 (vgl. das Porträt zum Kanton Graubünden in Elmiger et al. 2017: 198-201). 35 „Il masculin generic è permess mo en cas da pleds cumponids (p. ex. cassa da malsauns).“ - In diesem Kompositum ist malsauns (‚Kranke‘) eine maskuline Pluralform. Aufgrund der geringen Grösse des rätoromanischen Sprachraums (insgesamt geben ca. 40 000 Personen in der Schweiz 33 Romanisch als Hauptsprache an) ist es nicht erstaunlich, dass sich nur wenige Personen regelmässig um Textarbeit und Übersetzungen kümmern. Je nachdem, für wen dies geschieht, werden unterschiedliche Vorgaben umgesetzt: Im Falle des Rätoromanischen praktiziert der Kanton trotz der in den Richtlinien zu Rechtsetzung  34 formulierten Vorbehalte zwei verschiedene Strategien. Während geschlechtergerechte Sprache in gesetzessprachlichen Dokumenten, die für den Bund auf Romanisch übersetzt werden, nicht angewendet wird (wobei der Übersetzungs‐ dienst der Standeskanzlei Graubünden dann als Auftragnehmer handelt), wird das Postulat bei den kantonalen Texten umgesetzt. (Elmiger et al. 2017: 103) Standen lange nur recht informelle Leitlinien zur Verfügung (Lia Rumantscha 1991), gibt es seit Anfang 2023 auch den bereits erwähnten (vom Bund heraus‐ gegebenen) Leitfaden (Chanzlia federala 2023). Im Vergleich zu den Versionen in den anderen Amtssprachen ist er kürzer gehalten. Auch er bezieht sich auf das Sprachengesetz; das dort aufgeführte Ziel (formulaziuns betg sexisticas ‚nicht-se‐ xistische Formulierungen‘) soll mit Mitteln erreicht werden, die denjenigen für das Deutsche ähneln: namentlich Doppelformen oder geschlechtsabstrakte Ausdrücke wie solche mit persunas (‚Personen‘). Zu den geschlechtsübergreif‐ enden Maskulinformen wird - neben der oben erwähnten Ausnahmeregelung - Folgendes geschrieben: ‚Das generische Maskulinum ist nur bei zusammengesetzten Wörtern zulässig (z. B. cassa da malsauns [Krankenkasse])‘ 35 Die Diskussion über das Thema geschlechtergerechte Sprache wurde in den letzten Jahren vor allem in den rätoromanischen Medien geführt. Dazu ge‐ hören die FMR (Fundaziun Medias Rumantschas ‚Stiftung romanische Medien‘), welche die Tageszeitung La Quotidiana herausgibt, sowie das lokale Radio und Fernsehen, das eine eigene Leitlinie erarbeitet hat (Radiotelevisiun Svizra Rumantscha RTR 2021), unter Mitarbeit der Fachfrau Anna-Alice Dazzi Gross. Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 153 <?page no="154"?> 36 Quelle: Nachricht von Daniel Telli, Mitarbeiter der Lia Rumantscha (September 2023). 37 „La Lia Rumantscha fa en sia communicaziun diever d’ina lingua inclusiva ch’è gista e gentila. Ella menziunescha omaduas schlattainas ina sper l’autra e resguarda identitads nunbinaras tut tenor project e persuna adressada. Questa directiva vala per tut ils texts da la Lia Rumantscha ed includa er e-mails, preschentaziuns, inscripziuns e la signaletica a chaschun d’occurrenzas. In’excepziun èn communicaziuns a las medias. En talas na vegn la nunbinaritad betg marcada graficamain. Plinavant emprova il persunal da la Lia Rumantscha d’applitgar la lingua inclusiva er en discussiuns, intervistas e referats.“ Die Lia Rumantscha, die zentrale Einrichtung zur Förderung der romanischen Sprache und Kultur in der Schweiz, erläutert ihren Sprachgebrauch wie folgt: 36 ‚Die Lia Rumantscha bedient sich in ihrer Mitteilung einer inklusiven Sprache, die gerecht und höflich ist. Sie erwähnt beide Geschlechter nebeneinander und berücksichtigt nichtbinäre Identitäten je nach Projekt und bezeichneter Person. Diese Richtlinie gilt für alle Texte der Lia Rumantscha und betrifft auch E-Mails, Prä‐ sentationen, Anschriften und die Ausschilderung an Veranstaltungen. Eine Ausnahme bilden Medienmitteilungen. In diesen wird die Nichtbinarität nicht grafisch markiert. Zudem versucht das Personal der Lia Rumantscha, die inklusive Sprache auch in Diskussionen, Interviews und Vorträgen anzuwenden.‘ 37 Wo Nichtbinarität keine Rolle spielt, werden weibliche und männliche Form verwendet; dabei werden Adjektive an das jeweils nächststehende Substantiv angeglichen: • las translaturas ed ils translaturs cumpetents (‚die kompetenten (mask.) Übersetzerinnen und Übersetzer‘) • las emprimas translaturas ed ils emprims translaturs (‚die ersten (fem.) Übersetzerinnen und die ersten (mask.) Übersetzer‘) Daneben werden geschlechtsneutrale Ausdrücke empfohlen: • las promoturas ed ils promoturs regiunals → la promoziun regiunala (‚die regionalen Förderinnen und Förderer → die Regionalförderung‘) • las collavuraturas ed ils collavuraturs → il persunal (‚die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter → das Personal‘) • las redacturas ed ils redacturs → la redacziun, squadra da redacziun (‚die Redakteurinnen und Redakteure → die Redaktion, das Redaktionsteam‘) Wenn Nichtbinarität relevant ist, verwendet die Lia Rumantscha den Stern (Asterisk): 154 Daniel Elmiger <?page no="155"?> • in*a autur*a, in*a autur*a rumantsch*a (‚ein*e Autor*in, ein*e romanische*r Autor*in‘) • autur*as, autur*as rumantsch*as (‚Autor*innen, romanische Autor*innen‘) Sonstige Auswirkungen Zur Verbreitung geschlechtergerechter Sprache sowie damit zusammenhän‐ gender Phänomene im rätoromanischen Sprachgebiet liegen derzeit keine Forschungs- oder dokumentarischen Arbeiten vor. Eine kommende Ausgabe der Zeitschrift Litteratura (herausgegeben von der Uniun per la litteratura rumantscha ‚Bund für romanische Literatur‘, unter Mitarbeit der nichtbinären kunstschaffenden Person Asa S. Hendry) soll dem Thema geschlechtergerechte Sprache gewidmet sein. 5 Fazit In der föderalistischen Schweiz ist die Sprachpolitik weitgehend eine Angele‐ genheit der Kantone. Auf der Ebene des Bundes ist im Sprachengesetz für alle Amtssprachen ein ‚Gendergebot’ verankert, das je nach Sprache unterschiedlich ausgelegt wird: im Deutschen und Rätoromanischen konsequenter als im Französischen und Italienischen. Dafür werden häufig sprachimmanente Gründe genannt, die in unserem Forschungsbericht zur Schweiz folgendermassen zusammengefasst wurden: In der Forschungsliteratur ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass es in Sprachen, die zwischen femininem und maskulinem Genus unterscheiden, mehr oder weniger viele Genusmarkierungen gibt, besonders im Bereich der Kongruenzphäno‐ mene (Pronomina, Adjektiv- und Partizipialformen usw.). Während beispielsweise im Englischen wenige Formen eine Genusmarkierung tragen (ausser bei gewissen Personenbezeichnungen geht es vor allem um die Pronomina he/ his vs. she/ her), werden in romanischen Sprachen viel mehr Formen markiert, etwa Artikel (rm. il/ la), Adjektive (fr. nouveau/ nouvelle) oder Partizipien (it. lui è arrivato/ lei è arrivata). Das Deutsche scheint hier eine Art Mittelstellung einzunehmen […]. Es stellt sich somit die Frage, wie sehr die Bereitschaft bzw. der Wille, geschlechtergerechte Sprache in die Schreibwirklichkeit umzusetzen, mit der jeweiligen Sprache zusammenhängt: Ist dies in Sprachen mit zahlreichen Genusmarkierungen schwieriger als in solchen mit weniger Markierungen? Und falls ja: In welchem Bereich liegen die Grenzen zwischen „möglich“, „schwierig“ und „unmöglich“? (Elmiger et al. 2017: 157-158) Die unterschiedliche Umsetzung geschlechtergerechter Sprache in den Amts‐ sprachen wird zum Teil mit solchen sprachimmanenten Unterschieden be‐ Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 155 <?page no="156"?> gründet. Gerade wenn es um Übersetzungen aus dem Deutschen geht, führt die Vermeidung geschlechtsübergreifend gebrauchter Maskulinformen in den romanischen Sprachen oft zu unerwarteten Schwierigkeiten. Dies ist womög‐ lich einer der Hauptgründe, weshalb im Französischen und Italienischen die sogenannten „generischen Maskulina“ weiterhin oft verwendet werden, auch in der offiziellen Behördensprache. Das Beispiel des Rätoromanischen zeigt indes, dass auch in einer romanischen Sprache geschlechtergerecht formuliert werden kann, wobei berücksichtigt werden muss, dass das Rätoromanische viel stärker vom Deutschen beeinflusst wird als die anderen romanischen Landessprachen der Schweiz. Insgesamt wird in der Schweiz das Thema geschlechtergerechte Sprache meist pragmatischer und weniger aufgeregt diskutiert als in anderen Ländern mit denselben Amtssprachen. Die in der öffentlichen Auseinandersetzung oft beschworene „Sprachpolizei“ wird von niemandem gewünscht, auch nicht von den Vertreter: innen der Behörden, die mit der Umsetzung geschlechtergerechter Sprache betraut sind. Deren Sprachgebrauch ist allerdings in gewisser Hinsicht konservativ, da beispielsweise Sonderzeichen - zur sprachlichen Berücksichti‐ gung nichtbinärer Geschlechtsidentitäten - in allen Amtssprachen abgelehnt werden. Auch weitere Entwicklungen wie etwa nichtbinäre Neopronomina kommen in der Behördensprache nicht vor - werden jedoch in anderen Kon‐ texten gebraucht und verhandelt. Bibliographie Accademia della Crusca (2020): Professioni e mestieri al femminile: il caso di falegname (e anche di legnaiolo, carpentiere, fabbro, muratore, controllore). https: / / accademiade llacrusca.it/ it/ consulenza/ professioni-e-mestieri-al-femminile-il-caso-di-falegname-e -anche-di-legnaiolo-carpentiere-fabbro-muratore-controllore/ 2821 (12.09.2023). Autonome Provinz Bozen - Südtirol/ Provincia autonoma di Bolzano - Alto Adige (2021a): Diretives por n’adoranza nia descriminënta dl lingaz aladô dl articul 8 dla lege provinziala di 8 de merz 2010, n. 5 (Lege sön la parificaziun y sön le sostëgn dles ëres dla Provinzia autonoma de Balsan); publicades tl Boletin ofizial dla Regiun n. 48 di 2 de dezëmber dl 2021, plata injuntada n. 2. Anwaltschaft des Landes, Amt für Sprachangelegenheiten/ Avvocatura della Provincia, Ufficio Questioni linguistiche (25 S.). —-(2021b): Diretives per n’adurvanza nia descriminënta dla rujeneda aldò dl articul 8 dla lege provinziela di 8 de merz 2010, n. 5 (Lege sun la parificazion y sun l sustëni dl'ëiles dla Provinzia autonoma de Bulsan); publichedes tl Buletin Ufiziel dla Region n. 48 di 2 de dezëmber dl 2021, plata njunteda n. 2. Anwaltschaft des Landes, Amt für 156 Daniel Elmiger <?page no="157"?> Sprachangelegenheiten/ Avvocatura della Provincia, Ufficio Questioni linguistiche (24 S.). Avanzi, Mathieu (2020): Comme on dit chez nous. Le grand livre du français de nos régions. Paris: Le Robert. Bonetti, Anna (2012): Il pari trattamento linguistico: quasi un’odissea. LeGes 2012 (2),-169-176. Bundesamt für Statistik (2022): Sprachenlandschaft in der Schweiz. Neuenburg: Bun‐ desamt für Statistik/ Office fédéral de la statistique (30 S.). Bureau de l’égalité entre homme et femme (1990): Dictionnaire féminin-masculin des professions, titres et fonctions électives. Genf: Bureau de l’égalité entre homme et femme. Cancelleria federale (1991): Parità tra donna e uomo nel linguaggio normativo e ammi‐ nistrativo. Rapporto di un gruppo di lavoro interdipartimentale della Confederazione. Bern: Cancelleria federale (85 S.). —-(2012): Pari trattamento linguistico. Guida al pari trattamento linguistico di donna e uomo nei testi ufficiali della Confederazione. Bern: Cancelleria federale (64 S.). — (2023): Linguaggio inclusivo di genere. Guida all’uso inclusivo della lingua italiana nei testi della Confederazione. Bern: Cancelleria federale (45 S.). Casoni, Matteo/ Christopher, Sabine/ Plata, Andrea/ Moskopf-Janner, Maria Chiara (2021): La posizione dell’italiano in Svizzera. Uno sguardo sul periodo 2012-2020 attraverso alcuni indicatori. Rapporto di ricerca commissionato dal Forum per l’italiano in Sviz‐ zera. Bellinzona: Osservatorio linguistico della Svizzera italiana OLSI, Dipartimento formazione e apprendimento SUPSI-DFA e Alta scuola pedagogica dei Grigioni PHGR (360 S.). Chancellerie fédérale (1991): La formulation non sexiste des textes législatifs et administ‐ ratifs. Rapport d’un groupe de travail interdépartemental de la Confédération. Bern: Chancellerie fédérale suisse (86 S.). —-(2000): Guide de formulation non sexiste des textes administratifs et législatifs de la Confédération. Bern: Chancellerie fédérale (28-S.; PDF: 14-S.). —-(2023): Pour un usage inclusif du français dans les textes de la Confédération. Guide de formulation. Bern: Chancellerie fédérale (13-S.). Chanzlia federala (2014): Directivas da la Chanzlia federala per la redacziun e translaziun da texts uffizials da la Confederaziun en rumantsch. Bern: Servetschs linguistics centrals, Secziun da terminologia (3-S.). — (2023): Per in diever inclusiv dal rumantsch en ils texts da la Confederaziun. Directivas per la formulaziun. Bern: Servetschs linguistics centrals, Secziun da terminologia (9 S.). Cleis, Franca (2000): ‚Anche la mia capa è stata apprendista‘. La sessuazione del discorso: lingua italiana e Canton Ticino. Bulletin suisse de linguistique appliquée (Bulletin VALS/ ASLA) 72, 81-106. Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 157 <?page no="158"?> Comandini, Gloria (2021): Salve a tuttə, tutt*, tuttu, tuttx e tutt@: l’uso delle strategie di neutralizzazione di genere nella comunità queer online. Ricerca sul corpus CoGeNSI. Testo e Senso 23, 43-64. Conseil fédéral suisse (2021): Rapport combiné de la Suisse sur la mise en œuvre de la Convention-cadre du Conseil de l’Europe pour la protection des minorités nationales et de la Charte européenne des langues régionales ou minoritaires. Bern. Council of Europe (2022): Eighth Evaluation Report on Switzerland. Committee of Experts of the European Charter for Regional or Minority Languages. Straßburg (38 S.). Dazzi Gross, Anna-Alice/ Caduff, Ester (2000): ‚La directura curaschusa…‘ oder Die sprachliche Gleichberechtigung im Rätoromanischen. Bulletin suisse de linguistique appliquée (Bulletin VALS/ ASLA) 72, 47-61. De Cesare, Anna-Maria (2022a): Sulla vicenda storico-linguistica del sostantivo profes‐ soressa. In: Barbereo, Muriel Maria Stella/ Vitale, Vincenzo (Hrsg.): Alla frontiera del testo. Studi in onore di Maria Antonietta Terzoli. Rom: Carocci editore, 601-621. —-(2022b): Sdoppiamenti nelle Carte costituzionali: tra italiano federale e cantonale. In: Ferrari, Aangela/ Lala, Letizia/ Pecorari, Filippo (Hrsg.): L’italiano dei testi costitu‐ zionali. Indagini linguistiche e testuali tra Svizzera e Italia. Alessandria: Edizioni dell’Orso, 483-498. —-(2022c): La codifica linguistica dei referenti umani nella Costituzione svizzera. Una valutazione in chiave di genere. In: Ferrari, Aangela/ Lala, Letizia/ Pecorari, Filippo (Hgg.). L’italiano dei testi costituzionali. Indagini linguistiche e testuali tra Svizzera e Italia. Alessandria: Edizioni dell’Orso, 245-270. Demierre, Carla (2022): Mrioir, Mioirr. Genf: HEAD Publishing (=-Manifestes 4). Egger, Jean-Luc (2019): A norma di (chi) legge. Peculiarità dell’italiano federale. Mailand: Giuffrè Francis Lefebvre. Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF (2023): Leitfäden „Geschlechterge‐ rechte Sprache“, de/ fr/ it/ rm. Bern. Elmiger, Daniel (2009): Féminisation de par la loi: la nouvelle ‘Loi sur les langues’ suisse et la formulation non sexiste. LeGes 2009 (1), 57-70. — (2013): The government in contact with its citizens: Translations of federal information in multilingual Swiss administration. Gender and Language 7 (1), 59-74. —-(2024): Sammlung Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache. Collection Guides de langue non sexiste/ inclusive. Collection Guidelines for non-sexist/ inclusive language / Colección Guías para un lenguaje no sexista / inclusivo. Version 3.0. Université de Genève: Département de langue et de littérature allemandes. Elmiger, Daniel/ Tunger, Verena/ Alghisi, Alessandra (2014): Les consignes de rédaction non sexiste françaises et italiennes. Quelle attitude face à la généricité du masculin? 158 Daniel Elmiger <?page no="159"?> Synergies Italie 10 (Les discours institutionnels au prisme du „genre“: perspectives italo-françaises), 49-60. Elmiger, Daniel/ Tunger, Verena/ Schaeffer-Lacroix, Eva (2017): Geschlechtergerechte Behördentexte. Linguistische Untersuchungen und Stimmen zur Umsetzung in der mehrsprachigen Schweiz. Genf: Université de Genève. Formato, Federica (2019): Gender, Discourse and Ideology in Italian. Palgrave Studies in Language, Gender and Sexuality. Cham: Palgrave Macmillan. Formato, Federica/ Somma, Anna Lisa (2023): Gender Inclusive Language in Italy: A Sociolinguistic Overview. Journal of Mediterranean and European Linguistic Anthro‐ pology Jomela 11 (3), 371-399. Gheno, Vera (2020): Lo schwa tra fantasia e norma. La Falla, 29.07.2020 (4 S.). Giusti, Giuliana (2022): Inclusività della lingua italiana, nella lingua italiana: come e perché. Fondamenti teorici e proposte operative. DEP Deportate, esuli, profughe. Rivista telematica di studi sulla memoria femminile 48. Cafoscarina (19-S.). Gross, Manfred (2017): Romansh. The Romansh Language in Education in Switzerland. Leeuwarden: Mercator European Research Centre on Multilingualism and Language Learning. Lia, Rumantscha (1991): Directivas per evitar sexissems en nossa lingua (resumaziun) (6 S.). Lobin, Antje (2015): Geschlechtergerechte Sprache zwischen „Viersprachenparalle‐ lismus“ und exonormativem Standard. Bulletin suisse de linguistique appliquée (Bulletin VALS/ ASLA), Sonderheft 3, 137-149. Mandelli, Francesca/ Müller, Bettina (2013): Il direttore in bikini et altri scivoloni lingu‐ istici tra femminile e maschile. Bellinzona: Edizioni Casagrande. Pandolfi, Elena Maria/ Casoni, Matteo (Hrsg.) (2009): Linguisti in contatto. Ricerche di linguistica italiana in Svizzera. Atti del Convegno (Bellinzona, 16-17 novembre 2007). Bellinzona: Osservatorio linguistico della Svizzera italiana. Pescia, Lorenza (2010): Il maschile e il femminile nella stampa scritta del Cantone Ticino (Svizzera) e dell’Italia. In: Sapegno, Maria Serena (Hrsg.): Che genere di lingua? Sessismo e potere discriminatorio delle parole. Rom: Carocci (=-Biblioteca di testi e studi 613), 57-74. —-(2011): Avvocato, avvocata o avvocatessa? La femminilizzazione dei titoli, delle cariche e dei nomi di professione nel linguaggio giornalistico ticinese. In: Albizu, Cristina/ Döhla, Hans-Jörg/ Filipponio, Lorenzo/ Sguaitamatti, Marie-Florence/ Völker, Harald/ Ziswiler, Vera/ Zöllner, Reto (Hrsg.): Anachronismen Anachronismes Anacro‐ nismi Anacronismos. Atti del V Dies Romanicus Turicensis (Zurigo 19-20 giugno 2009). Pisa: Edizioni ETS, 39-53. Pescia, Lorenza/ Nocchi, Nadia (2011): ‚Lo ha detto la cancelliera Angela Merkel‘. La femminilizzazione di titoli, cariche e nomi di mestiere nei quotidiani del Canton Ti‐ Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 159 <?page no="160"?> cino: tra italiano d’Italia e influsso elvetico. In: Massariello, Merzagora Giovanna/ Dal Maso Serena (Hrsg.): I luoghi della traduzione: le interfacce: atti del XLIII Congresso internazionale di studi della Società di linguistica Italiana (SLI), Verona, 24-26 settembre 2009. Rom: Bulzoni, 515-531. Pettersson, Magnus (2010): Generisch und geschlechtsübergreifend - einige termino‐ logisch-begriffliche Bemerkungen. In: Andersson, Bo/ Müller, Gernot/ Stoeva-Holm, Dessislava (Hrsg.): Sprache - Literatur - Kultur. Text im Kontext. Beiträge zur 8. Arbeitstagung schwedischer Germanisten in Uppsala, 10.-11.10.2008. Uppsala: Acta Universitatis Upsaliensis, 129-140. Radio Télévision Suisse RTS (2021): Guide du langage inclusif à l’adresse de toutes les rédactions de la RTS. Conseil de direction du programme CDP (6 S.). Radiotelevisiun Svizra Rumantscha RTR (2021): Diever da la lingua inclusiva en il program RTR. Cuira: Schefredacziun (1 S.). Robustelli, Cecilia (2012): Linee guida per l’uso del genere nel linguaggio amministrativo, Progetto genere e linguaggio. Parole e immagini della comunicazione. Florenz: Comune di Firenze (48 S.). Sabatini, Alma (1985): Occupational Titles in Italian: Changing the Sexist Usage. In: Hel‐ linger, Marlis (Hrsg.): Sprachwandel und feministische Sprachpolitik: Internationale Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, 64-75. —-(1987): Il sessismo nella lingua italiana. Commissione nazionale per la realizzazione della parità tra uomo e donna. Rom: Istituto poligrafico e zecca dello stato (Neuaufl. 1993) (114-S.). Schweizerische Bundeskanzlei (1991): Sprachliche Gleichbehandlung von Frau und Mann in der Gesetzes- und Verwaltungssprache. Bericht einer interdepartementalen Arbeitsgruppe der Bundesverwaltung. Bern: Schweizerische Bundeskanzlei (85-S.). —-(1996): Leitfaden zur sprachlichen Gleichbehandlung im Deutschen. Bern: Schweize‐ rische Bundeskanzlei (135-S.; PDF: 67-S.). —-(2009): Geschlechtergerechte Sprache. Leitfaden zum geschlechtergerechten Formu‐ lieren im Deutschen. In Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Bern: Schweizerische Bundes‐ kanzlei (192-S.). —-(2023): Geschlechtergerechte Sprache. Leitfaden zum geschlechtergerechten Formu‐ lieren in deutschsprachigen Texten des Bundes. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Bern: Schweizerische Bundeskanzlei (20-S.). Schweizerischer Bundesrat (1993): Beschluss des Bundesrates vom 7. Juni 1993. Die Gleichbehandlung von Frau und Mann in der Gesetzes- und Verwaltungssprache. Bern: Schweizerischer Bundesrat. — (2022): Einführung eines dritten Geschlechts oder Verzicht auf den Geschlechtseintrag im Personenstandsregister - Voraussetzungen und Auswirkungen auf die Rechts‐ 160 Daniel Elmiger <?page no="161"?> ordnung. Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate 17.4121 Arslan vom 13.12.2017 und 17.4185 Ruiz vom 14.12.2017 (25 S.). Thibault, André (2012): Dictionnaire suisse romand. Particularités lexicales du fran‐ çais contemporain: une contribution au trésor des vocabulaires francophones. Ca‐ rouge-Genève: Éditions Zoé (1. Aufl. 1997). —-(2017): „9 Suisse“. In: Reutner Ursula (Hrsg.): Manuel des francophonies. Berlin: De Gruyter, 204-225. Thornton, Anna M. (2022): Genere e igiene verbale: l’uso di forme con ə in italiano. AION-L 11, 11-54. Ufficio per il perfezionamento professionale degli impiegati (Hrsg.) (1995): Tecniche di redazione. Bellinzona: Cancelleria dello Stato. Videsott, Ruth (2022): Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache. Die Bildung und der Gebrauch von Personenbezeichnungen im Dolomitenladinischen aus einer sprachvergleichenden Perspektive. In: Becker, Lidia/ Kuhn, Julia/ Ossenkop, Christina/ Polzin-Haumann Claudia/ Prifti, Elton (Hrsg.): Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven. Romanistisches Kolloquium XXXV. Tübingen: Narr Francke Attempto, 161-187. Geschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen 161 <?page no="163"?> Epicene references in British English before second-wave feminism: A diachronic perspective Laure Gardelle Abstract: English is one of many languages with a history of male bias in its gender system and grammatical descriptions of gender. Beyond this fact, the present chapter seeks to better understand the relationship between grammar, prescriptivism and speaker perceptions, focusing on Britain from the 16 th century to the 1960s and second-wave feminism. In addition to a male bias, the study shows a major influence of Latin in Early Modern England. It also reconsiders the exact meaning of they (a low degree of individuation, rather than just a pronoun unmarked for “male” or “female”), showing that it had to be extended in the 20 th century to accommodate definite antecedents. The chapter also shows that the debate over epicene reference was sometimes not driven by feminist ideals, but by a search for efficacy and grammatical correctness. As for grammatical descriptions, it was a growing attention to data that led to some important changes. Finally, the chapter considers why finding solutions can prove difficult at a given time in society. Important obstacles are found to be attachment to the norm set by language authorities, and possibly resistance to having one’s day-to-day uses politicised. Keywords: (linguistic) gender, Modern English, prescriptivism, gramma‐ tical correctness, grammars, personal pronouns, they, individuation, no‐ minal morphology Zusammenfassung: Englisch ist eine der vielen Sprachen, deren Ge‐ nussystem und Beschreibung des Genus in der überlieferten Gramma‐ tikschreibung eine Vorrangstellung des Maskulinums aufweist. Im vor‐ liegenden Beitrag werden darüber hinaus die komplexen Beziehungen zwischen Grammatik, Präskriptivismus und Wahrnehmung der Sprecher <?page no="164"?> 1 These uses have been given a variety of names, among which “common gender” in early grammars of English (see below), “gender-neutral” (Baron 2020), “indetermi‐ nate gender” (Newman 1992), “sex-indefinite” (Bodine 1975) or “gender-indifferent” (see Coady in this volume) - for a more exhaustive overview, see Baron (2020: 11- 12). “Sex-indefinite” has been avoided here because it reflects a perception of gender identity restricted to biological sex, even though it would have corresponded better to perceptions of the period under study. “Gender-inclusive” would have given a rather anachronistic prism. I more generally chose to avoid phrases based on the word “gender”, in order to avoid a confusion between reference to gender identity and reference to the grammatical category. He, for instance, is a gendered pronoun even when its reference does not include just males. As for “generic”, even though it is a für den Zeitraum vom 16. Jh. bis zu den 1960er Jahren und der zweiten Welle des Feminismus in Großbritannien weiter erhellt. Abgesehen von der Dominanz des Maskulinums erweist sich in der Frühen Neuzeit, wie bedeu‐ tend der Einfluss des Lateinischen auf das Englische war. Sodann wird die genaue Bedeutung von they untersucht (geringer Grad von Individuierung, nicht lediglich ein im Hinblick auf „männlich/ weiblich“ unmarkiertes Pronomen) und gezeigt, dass im 20. Jh. eine Bedeutungserweiterung erfor‐ derlich wurde, damit they auch auf definite Personen referieren konnte. Des Weiteren wird erläutert, dass die Debatte über epizene Referenz nicht durchgängig von feministischen Idealvorstellungen angestoßen wurde, sondern auch von dem Bestreben um Effizienz und korrekte Grammatik geleitet war. Die zunehmende Berücksichtigung von Belegen führte zu wichtigen Veränderungen in der grammatischen Beschreibung. Schließ‐ lich wird die Frage aufgeworfen, weshalb es sich in bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung als schwierig erweist, Lösungen zu finden: Die Berufung auf die von offizieller Seite etablierte sprachliche Norm und womöglich auch der Widerstand gegen die Politisierung des eigenen alltäglichen Sprachgebrauchs sind bedeutende Hindernisse sprachlicher Veränderung. Schlüsselbegriffe: (grammatisches) Genus, Neuenglisch, Präskripti‐ vismus, grammatische Korrektheit, Grammatiken, Personalpronomina, they, Individuierung, Nominalmorphologie 1 Introduction It is a well-established fact that English, like many other languages, has a long history of male bias in its use of pronominal gender and gender-marking nominal morphology, as well as in grammatical descriptions of it. “Generic” or, more generally, “epicene” he  1 has been shown to make men (males) the 164 Laure Gardelle <?page no="165"?> common label, it excludes specific contexts such as Somebody phoned, but they didn’t leave their name. In using “epicene”, I follow Newman (1998), among others, but the term is more learned, less transparent than others, and has been used in this sense only from the 20 th century. 2 The evolution in the United States was largely similar. For an overview focused on the American context, see for instance Baron (1981, 1982, 1986) and Curzan (2003, 2014). best representatives of humans (for an overview, see for instance Newman 1992); similarly with -man compounds (occupational terms such as fireman). In addition, in a number of gender-marked pairs such as poet/ poetess, the feminine tends to take negative connotations. Great emphasis is placed today - with good reason - on the idea that a major, and successful, proponent of nonsexist language reform was second-wave feminism (e.g. Curzan 2003: 117, Coady in this volume), starting in the late 1960s-early 1970s. The aim of this chapter is to look further back at gender use and gender descriptions in Britain, especially in Modern English (that is, English since the 16 th century) before second-wave feminism, in order to get a refined understanding of the relationship between the grammar of a language, prescriptivism and speakers’ perceptions. 2 In retrospect, they appears as the obvious solution for epicene references. Curzan (2003: 72) points out that “some form of generic they has been in use in the written language since Old English (ca. 700-1100), as a natural solution to the generic pronoun problem.” They is all the more convenient as it can also accommodate reference to non-binary persons, if they choose it as their pronoun - which prompted the American Dialect Society to make they its Word of the Year 2015 and Word of the Decade 2020, and the Merriam-Webster Dictionary its Word of the Year 2019. The British press widely reported these awards, and the Oxford English Dictionary now records this sense, starting with its 2019 edition (Armitstead 2022). Looking back at the past, however, raises more complex questions. For example, once a problem was acknowledged with so-called epicene he, even in grammars and usage books, why did it take so long for it to decline? Why didn’t speakers who were convinced that gender equality mattered recommend generalising they straight away, even though it had been in use for centuries? How much can be ascribed to feminists in the evolution of gender use, and how much to other factors? In order to answer those questions, Section 2 first considers the weight of the grammatical tradition - which goes much further back than grammars of English - in perpetuating male-biased cultural representations. Section 3 then looks into the consequences for epicene references, showing how prescriptivism Epicene references in British English before second-wave feminism 165 <?page no="166"?> 3 Bullokar and Jonson, following descriptions of Latin, actually identify six genders, adding epicene and common/ doubtful genders, and “common of three” for adjectives, which reflects the fact that they “agree” with nouns of any gender. evolved. Finally, section 4 considers factors in the decline of gender morphology in nouns. 2 The weight of tradition in perpetuating male-biased descriptions of Modern English gender 2.1 So-called natural gender and the prevalence of sex-based distinctions It can be easy to underestimate the weight of tradition in accounts of English gender as sex-based, “natural” gender. The idea that grammatical gender ori‐ ginates in sex distinctions is in fact found from the very first accounts of gender in Antiquity, even though Greek and Latin had largely formal gender systems (though with a semantic core, as in all formal gender systems, see Meiser in this volume). The first Greek grammarian to isolate the category, Protagoras, classified names as masculine, feminine and inanimate depending on sex or lack of sex of the referents. He unsuccessfully advocated changing the gender of menis (anger) and peleks (helmet) from feminine to masculine because he felt they referred more appropriately to males (Robbins 1971, Baron 1986: 92). Even though Aristotle drew a distinction between natural gender (a reflection of sex) and grammatical gender (independent of reproductive physiology), the natural gender view prevailed in Latin grammars (e.g. Priscian’s Institutiones Grammaticae, the standard European treatise on Latin grammar from the 6 th to the 11 th century; Thomas of Erfurt’s Grammatica Speculativa, ca. 1300, the most widely reproduced and discussed Latin grammar in the Middle Ages) (Baron 1986: 93). The very labels “masculine”, “feminine” and “neuter” (‘neither’) reflect this view, which was transferred to grammars of English in the 16 th -17 th centuries, at a time when the vernaculars were described in as close a way to Latin as possible (Bullokar 1977 [1586]: 10-11, Jonson 1909 [1640]: 80, 3 Harris 1751: 43). From the very first grammar of English (Bullokar 1977 [1586]), the association of masculine with males, feminine with females and neuter with “neither male nor female” is the definition. The association between gender and sex was so tight that later on, some grammarians, such as Priestley (1761: 5), concluded that there were only two genders in English: “the M A S C U LIN E , to denote the male kind, and the F E MININ E , to denote the female” (see also Morrison 1888: 72, for whom nouns 166 Laure Gardelle <?page no="167"?> 4 This four-gender description is also found in some dictionaries, such as Nugent (1817: xvi). But Hunter (1848: 36), for instance, considers the notion of common gender “improper”, and writes instead that the nouns that do not specify sex are masculine or feminine if “the context enables us to determine the gender”, and “indefinite for gender” elsewhere. 5 Later on, the notion of natural gender might have been further promoted by ideology: in 19 th and 20 th century Britain, English was praised for its superiority over other European languages (French in particular) in having done away with arbitrariness. For instance, Baugh and Cable (1978: 10) write: “English enjoys an exceptional advantage over all other major European languages in having adopted natural in place of grammatical gender.” Curzan (2003: 37) finds an instance as recently as 1990. 6 See Viennot in this volume for a study of French gender. in the neuter are “of no gender”). Others, such as Nesfield (1898: 12, 1957: 13), identified four genders: the masculine and the feminine for male and female sex, the neuter for “things without sex”, and the “common gender” for words that apply to “both sexes alike”. 4 Others still identify three genders (Fisher 1968 [1750]: 72, Gill 1874: 34) or four (Smith 1816: 30, Bain 1891: 115), but then state that “logically”, “properly speaking” or “strictly speaking”, there are only two (masculine/ feminine). Lowth (1764: 27) considers the neuter to mean of “neither” gender, “the exclusion of all consideration of gender” (see also Yates 1873: 21). This view was probably favoured by a focus on nouns, again due to the Latin tradition, rather than pronouns like today. The notion of “pronominal gender” only appears in the 20 th century. Before that, gender is addressed in the chapter on nouns, with a focus on morphology (-ess, etc.) - and then possibly further addressed as “concord” in the section on syntax. For instance, Lindley Murray’s immensely popular grammar (1795: 25) states that “gender is the distinction of sex”, and describes four main ways of distinguishing sex in English: different words (boy/ girl), different terminations (duke/ duchess), addition of an adjective or a pronoun (male/ female child, he-/ she-goat), or addition of another substantive (cock-/ hen-sparrow) (Baron 1986: 97). In English, such gender morphology always indicates sex. 5 More generally, the tradition was so pervasive that it transferred even to French, a language with a formal gender system: in the 8 th edition of Le Bon Usage (Grevisse 1964: 169, 1 st edition 1936), the section on gender still opens with “Le genre est la propriété qu’ont les noms de désigner le sexe des êtres” (‘gender is the property that nouns have to designate the sex of beings’), before it goes on to show discrepancies and cases of arbitrariness. 6 Such a description of Modern English gender as correlating with sex goes against the facts of usage: there are (and were throughout modern English) many Epicene references in British English before second-wave feminism 167 <?page no="168"?> 7 The notion of “worth” does not concern just gender: about the grammatical category of person, Lily (1719: 49) similarly writes: “The first person is more worthy than the second, and the second more worthy than the third”. gender variations for animals - see for instance Huddleston/ Pullum (2002) or Gardelle (2023). It was at the turn of the 20 th century that the idea of a strict gender/ sex correlation started to be challenged. The first author I was able to find that mentions discrepancies is Bain (1863: 74, 1891: 116), who simply notes the existence of “a few exceptions”. Sweet (1892, vol. 1: 53) writes more forcefully that “gender and sex don’t always agree”, even though he still defines gender as “the expression of sex distinctions by means of grammatical forms”. Jespersen (1965 [1942]: 174) is the first to explain at length that gender “cannot be defined as the grammatical expression of sex”, as gender and sex are largely unrelated in a number of languages. An incorrect description in terms of sex is not, by itself, necessarily synony‐ mous with male bias. What was problematic was the additional assumption that among the sexes, males were superior. 2.2 From “natural” gender to the notion of the masculine as “worthier” Grammars of English transferred the Latin rule of the masculine as the “worthier” gender, which governed the agreement of adjectives with nouns of different genders. For instance, Lily (1719: 50) reads: “The Masculine gendre [sic] is more worthy then [sic] the Feminine, and the Feminine more worthy then the Neuter.” Today the linguistic term for “more worthy” would be “marked”, and for “less worthy”, “unmarked” or “default”. 7 The notion of worth, however, assumes a form of hierarchy, which places the masculine at the top. In the context of natural gender, this easily comes to reflect an idea that males (especially among humans) are superior. Harris (1751: 54), for instance, states that God is “in all languages Masculine, in as much as the masculine Sex is the superior and the more excellent; and as He is the Creator of all, the Father of Gods and Men”. This representation of men as superior to women is also pervasive in descriptions of the use of he/ she for inanimates, treated as “metaphorical gender” down to at least the end of the 18 th century. For instance, Harris (1751: 44-45) considers that the masculine was ascribed to entities which were “conspicuous for the Attributes of imparting or communicating; or which were by nature active, strong, or efficacious, and that indiscriminately whether to good or ill; 168 Laure Gardelle <?page no="169"?> or which had claim to Eminence; either laudable or otherwise”. In comparison, the feminine was chosen as the gender for such, as were conspicuous for the Attributes either of receiving, of containing, or of producing and bringing forth; or which had more of the passive in their nature, than of the active; or which were peculiarly beautiful and amiable; or which had respect to such Excesses, as were rather Feminine, than Masculine. For example, the earth is feminine because it is a receiver, a container; time and death are masculine because they are irresistible powers. “The Fancies, Caprices, and fickle Changes of Fortune […] make a very natural Female” (Harris 1751: 57) - see also, for instance, Hunter (1848: 35), and more generally Baron’s overview (1986: 101-106). This view became challenged at the turn of the 19 th century, some time before the first wave of feminism, as greater attention was given to cross-linguistic variation. Crombie (1830 [1802]: 39) concludes that “of these and such specula‐ tions it may be truly said […] that they are at best but ingenious conjectures”, while Bain (1891: 122) is cautious (the motives for each gender “are supposed to be” those above) - see similarly Beattie (1788: 137), who mentions analogy with Greek and Latin, or Cardell (1825: 49), who is extremely critical of the traditional view. The typical school grammar, however, such as Smith (1816: 31) or Gill (1874: 37), retains the traditional description, though there are exceptions, such as Yates (1873: 22). It is in the 20 th century that this description disappears in favour of the idea of conventions in personifications, and the criterion of emotional involvement in spoken English (first found in Bain 1891: 122 - see an overview in Gardelle 2016 or Baron 1986). The idea of a superiority of males over females crops up in places, however, for instance in a remark by Jespersen (1905: 2), not in his grammar but in another volume in which he gives his foreigner’s view of English: “the English language […] seems to me positively and expressly masculine, it is the language of a grown-up man and has very little childish or feminine about it. […] an English lady will nearly always write in a manner that in any other country would only be found in a man’s hand.” In sum, in grammatical descriptions down to the 19 th century, there is a full convergence between male-biased cultural representations and the tradition inherited from the model language, Latin. The focus on nouns and nominal morphology, again directly inherited from Latin descriptions, may well have favoured the perpetuation of tradition. The challenge to the overall description of the gender system in English does not seem to have come from feminist movements, but from a greater attention to data: diverging views appeared first for inanimates, as a result of cross-linguistic observations, and nearly a century Epicene references in British English before second-wave feminism 169 <?page no="170"?> 8 The focus will be on adults: for young children and babies, grammars mention it as well (e.g. Yates 1873: 91, Bain 1891: 26). The neuter was possible because they were not fully recognized as persons. 9 English down to the Norman conquest in the 11 th century. In Old English, the gender system was a formal one, with, as in all formal gender systems (Corbett 1991), a semantic core for most nouns that denote humans (cf. present-day German). 10 In addition, in the formal gender system of Old English, the nouns mann (‘person’, cf. German Mann), hwa se (‘whoever’), and other generic terms were grammatically masculine (Curzan 2003: 70). 11 Example cited by Curzan (2003: 65), taken from Alfred’s Cura Pastoralis, 9 th century. The Modern English translation is borrowed from Curzan as well. 12 In its Old English form hie, as they is a borrowing from Early Scandinavian, found gradually from the 12 th century (OED 2024: entry they). 13 Example and Modern English translation borrowed from Curzan (2003: 71). Extract from Alfred’s Introduction to Laws, 9 th century. later, the core of the system (gender/ sex correlation) was challenged through observation of gender use for animals, which showed variations. 3 Consequences for epicene references to humans 3.1 Records of actual usage Actual usage 8 can only be judged from the written texts available. Based on the Helsinki Corpus, Curzan (2003: 65) has shown that in Old English, 9 generic terms such as hwa, sum, hwilc and oðer (Mod. Eng. who, some, which, other) take masculine anaphoric pronouns, even when the two sexes are mentioned in the context. An example is (1), which provides advice to both spouses for maintaining proper marital “sexual distance”. 10 1. Ne fornime incer noðer oðer ofer will butan geðafunge, ðæm timum ðe he hine wille gebiddan, ac geæmtigeað ince to gebedum. ‘Do not, neither of you, deprive the other against [their (his? )] will without consent, at the times when he wants to pray, but have time to yourselves for prayers.’ 11 The plural personal pronoun 12 is used, but only in some cases of disjunctive coordination, with therefore only “quasi-singular” reference, as in (2). 2. Gif oxa ofhnite wer oððe wif, þæt hie dead sien, sie he mid stanum ofworpod […] ‘If an ox gores a man or a woman, so that they be dead, may he [the ox] be killed with stones’ 13 170 Laure Gardelle <?page no="171"?> 14 Example and Modern English translation borrowed from Curzan (2003: 68). Extract from Ancrene Wisse, 13 th century). The same author also uses he elsewhere. 15 OED 2023, entry they. 16 Example borrowed from Curzan (2003: 72). Extract from The Statutes of the Realm IV, 16 th century. In Middle English (approx. 1100-1500), the “generic person” (mann, hwa or other indefinite pronouns) “still generally appears with masculine anaphoric pronouns” (Curzan 2003: 68), but Curzan finds occasional coordination of masculine and feminine pronouns (he or she), as in (3), a discussion of the sins associated with backbiting. 3. weila he seið wa is me þt he oðer heo habbeð swuch word icaht […] þt is muchel sorhe. For i feole oðer þing he oðer heo is swiðe to herien […] ‘Oh dear, he [the backbiter] says, Woe is to the one that he or she has caught such talk […] that is a great sorrow, for in many other ways he or she is greatly to be praised […] 14 They, as in Old English, is again recorded for some cases of disjunctive coordi‐ nation in Middle English, e.g. in Metham’s Physiognomy (15 th century), which has man or woman… thei (‘a man or woman… they’), or with the antecedent whoso (Curzan 2008: 71). But Wyss (1983: 184) also finds it with the antecedents every one/ man, (a) man, a person, a creature, which may also take epicene he. The oldest example in the OED (2023) with a form in thdates back to ca. 1350, with antecedent eche wiȝt… þei ‘each creature [each one]… they’. The OED also has one occurrence with antecedent the person from ante 1450, which shows that they could be used with a definite, though theoretical/ virtual, antecedent (see (4)). 4. If þou sall lofe, þe person fyrste, I rede, þou proue Whether þat thay be fals or lele. ‘If you shall praise the person first, I read, you prove whether they are false or loyal.’ 15 In Early Modern English (1500-1700), the three forms he, he or she, and they continue to coexist. He is common. Curzan (2003: 72) finds the conjoined pronouns (he or she, his or her) in “the careful wording” of legal documents, as in (5). 5. or take up any dead man woman or child out of his her or theire grave, or any other place where the dead bodie resteth. 16 Epicene references in British English before second-wave feminism 171 <?page no="172"?> 17 The first edition was probably published in 1745, but no copy has survived. So which one of them first stated the rule is a matter of debate (Curzan 2014: 118). As for they, it is also attested in Shakespeare’s writings ((6a), 16 th century) as well as throughout Modern English (1700-1950), even in the writing of renowned or upper-class authors. For example, Warenda (1993: 100, 106) records it in the works of Addison, Austen, Fielding, Ruskin, Scott, or Lord Chesterfield ((6b), 18 th century). 6. (a) God send everyone their heart’s desire (b) If a person is born of a gloomy temper… they cannot help it Bain (1891: 310), too, lists examples from Austen, Defoe or Byron, all with quantified antecedents (everyone, every considering Christian, every person, anybody). Fowler/ Fowler (1908: 67) note that “They, them, their, theirs, are often used in referring back to singular pronominals (as each, one, anybody, everybody), or to singular nouns or phrases (as a parent, neither Jack nor Jill)”, as in the writings of Samuel Richardson (18 th century) or Susan Ferrier (19 th century). This overview of usage shows two key elements. First, as Curzan (2003: 72) concludes, they “clearly has not been the only option” in usage. Secondly, they seems to have been used first with disjunctive coordination, then quantified antecedents (each, neither, etc.), which all involve a plurality of referents in total (cf. Curzan’s notion of “quasi-singular” reference mentioned above), and later on extended to generic references (a person etc.). As will be seen further down, this is probably important for understanding part of the resistance to its use in the 20 th century. What must be examined now is the position of language authorities with regards to epicene reference, in particular they. Leading grammars proscribed it from the 18 th century, while the 20 th century showed a slow process of acceptance. In-between, an Act of Parliament enforced he as the correct pronoun. We examine these key stages chronologically. 3.2 Proscription of they in grammars from the 18 th century The rule that he should be used for epicene reference has been traced back to the 18 th century - thus not to the first grammars of English, which do not mention epicene reference. It is attested first in Kirby (1746: 117) and Fisher (1968 [1750]: 117fn), 17 the first grammar of Modern English written by a woman, which has the same passage: “The Masculine person answers to the general name, which comprehends both male and female; as Any person, who knows what he says.” 172 Laure Gardelle <?page no="173"?> 18 It could be seen as somewhat of a paradox that in a gender system described as strictly correlated with sex, he should be considered acceptable for epicene reference. 19 By the end of the 18 th century, agreement with one in British English is further prescribed by grammarians and, later on, specialists of good usage. As one is an indefinite pronoun, the pronoun should be one as well, not he (Baker 1770: 23, Bain 1891: 32, Wight Duff 1897: 270, Fowler/ Fowler 1908: 67, Butt 1970: 234). This does not have to do directly with gender, even though he is affected, but shows an attention to rules of agreement in prescription regardless of male bias. This principle was already valid for law, apparently: Ayliffe (1734: 57) writes that “The masculine gender very often includes the feminine […] by extension”, as with Homo ‘man’. But with Kirby (1746) and Fisher (1968 [1750]), it is apparently the first time that the rule is proposed in a grammar, and I was unable to find any similar rule in Latin grammars or any other grammar of the time. The actual proscription of they in epicene references also dates back to the 18 th century, when some language authorities, especially Joseph Priestley, Lindley Murray and Hugh Blair, campaigned against irregularities of agreement between the pronoun and its antecedent (Baron 1986: 191). Curzan (2003: 73) traces back the first explicit condemnation of they to Lindley Murray’s grammar (1 st edition 1795, no less than 44 editions by 1830, on both sides of the Atlantic). His fifth rule of syntax states that “[p]ronouns must always agree with their antecedents, and the nouns for which they stand, in gender, number, and person” (Murray 1795: 95). Murray thus rejects Can any one, on their entrance into the world, be fully secured that they will not be deceived! , recommending instead: […] on his entrance […] that he will not be deceived. 18 It should be noted that just as for the concept of “worthiness”, the fifth rule of syntax extends beyond gender: Murray also addresses agreement with one (proscription of one shouldn’t think too favourably of ourselves, in favour of […] one’s self) 19 and agreement of relative pronouns with plural antecedents (proscription of what, as in All fevers, except what are called nervous, recommending instead: those which are-…). This rule of pronominal agreement is found in other, later grammars as well, such as Smart (1841: 169), who merely gives an example of he for “concord of common gender” (Every person knows that he is mortal) and notes that the feminine pronoun can never be of common gender. Prescription is different from actual usage, though: Murray (1795: 96) points to “many violations” to the fifth rule of syntax, which suggests that they might have been quite common. The first grammar I was able to find that licenses they is again Bain (1891: 310). He notes that with the “distributive adjectives each, every &c.” (that is, quantified antecedents), they is “allowable” when both genders are implied, even though “grammarians frequently call this construction an error”, because it is “equally an error to apply his to feminine subjects.” This is a bold recognition Epicene references in British English before second-wave feminism 173 <?page no="174"?> that he is not gender-neutral. In the chapter on pronouns, however, Bain (1891: 26) does not mention they, even though he is critical of he. He defines he as the pronoun for the “male sex” (only), and mentions it when the sex is unknown (with the convenient example of reference to a child: It’s a healthy child). About “concord of the common gender” (p. 122), he writes that he “may” be used in its “representative sense”, and that “[t]he most correct form, although somewhat clumsy, is to say ‘he or she’”. With quantified antecedents, Bain (1891: 310) similarly notes that “[s]ometimes strict grammar is preserved” through he or she (similarly his or her), as in Everybody called for his or her favourite remedy, but that it is “too cumbrous” if it has to be repeated. Bain does not make any explicit reference to feminist ideas, but given the time of publication, first-wave feminism may have had an influence. School grammars of the time are more conservative. A number of them do not mention epicene references at all (e.g. Smith 1816, Yates 1873, Gill 1874). Morrison (1888: 107) does not give rules, but implicitly follows the tradition: one of his parsing exercises includes the sentence Every person, whatever be his station, is bound by the duties of morality and religion, and an exercise containing errors that have to be corrected has Let each of them in their turn, receive the benefits to which they are entitled (they is therefore considered erroneous). 3.3 The 1850 Act for shortening the Language used in Acts of Parliament Epicene reference with he found its way into law in 1850, in an attempt to shorten legal language in British Acts of Parliament (see the long phrasing of reference to a person in (5) above). Again, gender is only one of its objects, as evidenced in the passage below, which gives the whole of section IV of the Act: Be it enacted, That in all Acts Words importing the Masculine Gender shall be deemed and taken to include Females, and the Singular to include the Plural, and the Plural the Singular, unless the contrary as to Gender or Number is expressly provided; and the Word “Month” to mean Calendar Month, unless Words be added showing Lunar Month to be intended; and “County” shall be held to mean also County of a Town or of a City, unless such extended Meaning is expressly excluded by Words; and the Word “Land” shall include Messuages, Tenements, and Hereditaments, Houses and Buildings, of any Tenure, unless where there are Words to exclude Houses and Buildings, or to restrict the Meaning to Tenements of some particular Tenure; and the Words “Oath,” “swear,” and “Affidavit” shall include Affirmation, Declaration, 174 Laure Gardelle <?page no="175"?> 20 United Kingdom Parliament (1850). 21 As summed up by Curzan (2003: 79), the status of they moved from “an ‘error’ to be corrected”, to “a ‘colloquial’ feature relegated to the spoken language”, and finally to “a potential generic pronoun option in the written language”. affirming, and declaring, in the Case of Persons by Law allowed to declare or affirm instead of swearing. 20 The Act not only perpetuated a male bias, but involuntarily proved that he was ambiguous and definitely not epicene. Baron (2020: 41-63) provides compelling evidence that in subsequent interpretations of the law, he was not always understood to have epicene reference. There was an attempt to repeal the Act as early as 1851, for fear it might give women too many rights. Similar ambiguity appeared in the interpretation of man as epicene. In 1867, during the debate for the Second Reform Act, which enfranchised men who previously did not have the vote (part of the urban working class of England and Wales), Chancellor of the Exchequer Benjamin Disraeli replied to suffragist MP George Denman that man could not be understood as including women for suffrage (Baron 2020: 43). Once the Act had been passed, the Court of Common Pleas ruled that man did not include women for suffrage, after 5,346 women had attempted to register to vote (Smith 2002: 200). In Britain, women over thirty who owned property were eventually enfranchised in 1918, all other women in 1928. 3.4 The long path towards solving the problem of he in grammars and usage books In the course of the 19 th century, the idea emerged that English was somehow deficient in not having a genderless third-person pronoun, and it spread well into the 20 th century. For instance, Jennings (1822: 493), before first-wave femi‐ nism, describes the use of they as “an extreme instance of the straits to which we are driven by the lack in English of a pronoun of common gender meaning both he and she, his and her.” Later on, Fowler/ Fowler (1908: 67) consider this lack a “deficiency”, while Jespersen (1965 [1942]: 204) notes that “the want of a both-sex pronoun in the third person sg is often felt” (see similarly Baron 1981: 87, 202 for an overview of American references, such as Butler 1846: 150). This, however, did not immediately translate into accepting they. 21 Authors of grammars or usage books at a given period sometimes provided slightly different recommendations. The difficulties are captured by Fowler’s description of all three possibilities - he or she, he and they - as “makeshifts” (1965: 635). Epicene references in British English before second-wave feminism 175 <?page no="176"?> 22 “[U]ngallant as it may seem, we shall probably persist in refusing women their due here as stubbornly as Englishmen continue to offend the Scots by saying England instead of Britain.” (Fowler/ Fowler 1908: 67). See similarly A.A. Milne’s introduction to The Christopher Robin Birthday Book in 1930: “if the English Language had been properly organized by a Business Man or Member of Parliament”, there would be a word which meant both ‘he’ and ‘she’, but as there is not, he concludes that in his book, mottos in “he …” can be read as “she …” if necessary (Baron 2020: 109). 3.4.1 A slow evolution in prescriptions from the turn of the 20 th century In 19 th and 20 th -century grammars and usage books, there is a consensus that he or she, while correct, cannot constitute a general solution. It is “to the last degree pedantic” ( Jennings 1822: 493), “clumsy” ( Jespersen 1965 [1942]: 204), “awkward” (Wood 1962: 107, Quirk et al. 1985: 770, Weiner 1983: 150), awkward “if repeated” (Leech/ Svartvik 1994: 57), unless “legal precision is necessary” (Fowler/ Fowler 1908: 67). For the most part of the 20 th century, the dominant position is to endorse he as the only grammatically correct option and therefore the best compromise, with sometimes a fatalistic attitude towards the “deficiency” of the English pronominal system 22 (e.g. Jennings 1822: 493; Fowler/ Fowler 1908; or the usage books of Wood 1962: 87 and Partridge 1965: 342, which focus on quantified antecedents). As noted by Curzan (2003: 58), the debate was framed in terms of grammar (number agreement), where feminists fought instead to move the debate to “the semantic and social implications of those rules.” Three works, however, note that he is awkward with disjunctive coordination (not naming the phenomenon), and recommend avoiding pronouns altogether: Fowler/ Fowler (1908: 67), who suggest rephrasing Neither John nor Mary knew his own mind as … were alike irresolute; Fowler (1965: 635), with the antecedent the individual boy or girl; and Wood (1962: 107), with every man and woman. It is no coincidence that disjunctive coordination should be deemed awkward with he: as mentioned above, it is the pattern that has the closest association with plural reference. Another position is to acknowledge they, but only for informal registers. It is found as early as in Sweet (1892, vol. 2: 72), who mentions its use “in the spoken language” with antecedents such as every man or woman, every one, any one and a person, and later on in Fowler (1965: 635). Acceptance of they in other registers only comes later, extremely gradually, and obviously through the influence of second-wave feminism. Butt (1970: 191) corrects an Everyon … the … to h … in her entry Number; but in her entry They (p. 302), she simply acknowledges that they is “often used instead of a third person singular pronoun”, as in Everyone learnt to their disma …, even though “in writing, his is more often used in 176 Laure Gardelle <?page no="177"?> 23 This label is not accepted by all. It is often pointed out that they had a reflexive form themself, in addition to themselves, but the OED (2023, entry themselves) notes that “while themself is now most often found in reference to a singular antecedent, evidence for this use is particularly rare between mid-16th and mid-19th centuries”. It should be noted that even when they is labelled “singular they”, it is only its reference that is concerned. It remains morphologically plural, so that verb agreement is in the plural. The reflexive, in this respect, is a special case, and the -self form is extremely uncommon. such cases.” In the 1980s, Quirk et al. (1985: 770) write that they was restricted to informal usage “at one time”, but that it is now “increasingly accepted in formal usage”, especially in American English. Weiner (1983: 150) notes that they is “entirely acceptable in informal speech”, and “by no means uncommon in more formal contexts”. Collins Cobuild (1990: 31) gives they as their first option, but adds that it is “sometimes thought incorrect”. Leech/ Svartvik (1994: 57), however, still note that they is restricted to informal style, because of the “ungrammatical” mixing of singular and plural - similarly, see Swan (1997: 220). What this brief overview shows is that grammars and usage books do not provide just one means for epicene reference, but several options. In this respect, Weiner (1983: 150) stands out as the only author (to our knowledge) who explicitly evokes an influence of context on pronoun choice: “There are some contexts in which neither he nor they will seem objectionable. In others, where he and they both seem inappropriate for the reasons given, it may be necessary simply to recast the sentence.” This, I think, is important to bear in mind in thinking of epicene reference, because personal pronouns carry meaning. This is what we now turn to. 3.4.2 Simply a matter of doing away with prescription? Looking back now, they is readily described as “a natural solution” for epicene references (Curzan 2003: 72), and the whole debate about the correct use of pronouns as “essentially a debate about prescription” (Newman 1992: 449). The concept of “singular they” was coined to account for its grammaticality in epicene references (e.g. Bodine 1975, McConnell-Ginet 1979), 23 and this extension to singular reference is sometimes said to be similar to the evolution of you in the paradigm of the second person (Bodine 1975: 142, Curzan 2014: 129): you used to be the plural form of thou, but extended its singular reference from the honorific sense (as in French plural and honorific vous vs. singular and informal tu) when thou gradually fell into disuse during the standardisation of English in the 17 th century. Epicene references in British English before second-wave feminism 177 <?page no="178"?> 24 McConnell-Ginet (1979: 198). It is absolutely true that without the prescription of he, they would most probably have been widely used earlier in formal writing. But what I would like to stress here is that part of the spread of they for epicene reference at the end of the 20 th century required a novel extension of its value. Until then, with singular antecedents, it did not mean just “epicene” or “sex-indefinite”, but rather “low degree of individuation” - in this respect, its use by some non-binary people as their pronoun represents yet a further extension of its value, which retains the non-specification for “male” or “female” but excludes low individuation. That there were new uses of they at the end of the 20 th century is first suggested by a remark from the feminist linguist Sally McConnell-Ginet (1979: 198-200). Even though she was all in favour of “singular they”, she notes at the time that its use depends on the antecedent. With “indefinite pronouns”, such as anyone, “all but the most determined purists use they”. Examples with “distributive quantifiers” (every, each, any) are “readily” found in the works of Austen, Shakespeare and other major authors. They is just as common for vague specific reference, as in Somebody phoned you this afternoon, but they wouldn’t give their name (Bodine’s cases of “sex-unknown” or “sex-concealed” reference, Bodine 1975: 131fn). They is also “possible” with singular indefinite generics (e.g. When a person eats too much, they get fat). But McConnell-Ginet notes an “apparent lack of they as anaphoric replacement for the singular definite generic”, citing example (7), where “[t]he asterisk denotes the anomaly that many speakers associate with this particular kind of they anaphora”. 7. *The child produces many utterances that they could not have heard. 24 She notes that “[s]entences like [this one] have appeared in the writings of people adopting a policy of promoting singular they as a sex-indefinite pronoun just as generic she in contexts where he is the norm have begun to appear, but such sentences are still highly marked.” Her explanation is that with a singular definite antecedent, the referent is too “vivid or concrete” to allow for they. Newman (1992: 469), discussing these remarks, notes that they is in fact found with a singular definite antecedent (see example (4) above as well), but that it is unusual, and adds: “in my experience, [McConnell-Ginet] is certainly not the only one to report negative intuitions about such constructions. There is certainly at least potential for conflict between a definite determiner, which tends to signal increased referential solidity, and they, which does just the opposite.” From a corpus-based study of epicene references, Newman (1998) concludes that in 1990s usage, when the reference is not primarily to males, 178 Laure Gardelle <?page no="179"?> 25 Cf. Weidmann’s notion of “non-assertive” use of they, as in an example where the antecedent is a Barbara Wassman: If there is a Barbara Wassman on board, could they make themselves known to the cabin? (Weidman 1984: 65). 26 Newman (1998: 375). 27 ABC 20/ 20, 2010 in: Gardelle (2015: 83). they is used either with plural “notional” number (quantified antecedents) or with a low degree of individuation (a rather generic perspective, or concealing a person’s identity). 25 Conversely, he is favoured in cases of high individuation, that is, when the specific identity of the person is important. For instance, (8) would be unacceptable, which is evidence that unknown sex is not sufficient to license they. 8. I have a sixteen-year-old that thinks it’s the greatest thing in the world. - Does he? (*Do they? ) 26 When either he or they is possible, as in A teenager often thinks he is/ they are immortal, Newman concludes that he stresses the idea of a single individual (albeit not a specific one), whereas they downplays individuation in favour of an interpretation of the teenager as a type. The role of degree of individuation is confirmed by a corpus-based study of anaphoric pronouns in epicene references with the antecedent your child (Gardelle 2015). For instance, they would be difficult in (9), in which the anchor seeks to trigger sympathy and engagement on the part of the audience, or in magazines for young parents, when detailing the stages of handcraft activities parents can do with their child. 9. What’s the first thing you do if your child were having trouble breathing? Would you help him yourself ? Or would you call 9-1-1? That question is at the heart of our next story. A mother under suspicion, under arrest for failing to pick up the phone. 27 These two studies focus on American English, but there is no evidence that usage differs in British English. In sum, beyond issues of prescriptivist preferences, the meaning of the pro‐ noun, especially the relationship between its prototypical value and extensions, is important to understanding usage. 3.4.3 A radical, marginal solution: coining a pronoun An overview of solutions to the problem of he for epicene references would not be complete without a brief mention of a more radical proposal: coining a gender-neutral pronoun. This seems to have been a largely American enterprise Epicene references in British English before second-wave feminism 179 <?page no="180"?> 28 Cited in Baron (1986: 199). In the US, the epicene pronoun became “a popular topic” in 1884, when concrete proposals were discussed in literary journals (Baron 1982: 200), and when Charles Crozat Converse, a lawyer who aimed at efficiency and grammatical correctness, proposed thon (acc. thon and poss. thons), a contraction of that+one. Thon entered the Standard Dictionary of the English Language in 1897 (Funk et al. 1897), where it remained until at least 1964, and Webster’s Second New International Dictionary (Neilson 1934), though it does not appear in the 3 rd edition in 1961 (Baron 1986: 201, 2020: 96-98). (see the list of over 200 pronouns in Baron 1981: 87 and Baron 1982: 192, 199). It is important to note that the early coiners “didn’t care much about politics” (Baron 2020: 8), but were looking for efficacy. For example, conservative language critic Richard M. Bache (1869: 78) notes that “a personal pronoun which should be non-committal on the question of sex would be a great convenience.” 28 Feminists then discussed other pronouns as well. In Britain, Baron (2020: 107-111) only lists two later cases (and I was unable to find more). The first, in 1929 - one year after all British women got the vote -, was started by a letter to the Times by the prominent suffragist Lady Annette E. Matthews, arguing that Prime Minister Stanley Baldwin’s use of generic he in a radio address demonstrated the need for a “bi-sex” pronoun. This letter received a lot of replies, nearly all from men, which ranged from a few proposals of gender-neutral pronouns (e.g. coinages vey, su, and tu; hesh and hier; generalisation of they; and even generic her common in one local dialect) to mostly rejections of any changes to existing pronouns. The second case was Arthur L. Dakyns, in 1932, who was awarded second prize in a Manchester Guardian Saturday Competition for his list of ten most-needed words, which included the “personal pronouns of indefinite gender” ha/ ham/ shas. The proposed pronouns never spread to standard usage, but they helped fuel the debate over gender equality. 4 Gender-marking morphology on nouns Early Modern English had a broader set of morphological markers than today, for both humans and animals. They include compounds in he-/ she- (he-ass, she-lion) and borrowed suffixes (executrix). The suffixes are only for females (-ess, pejorative -ette, -ine, -trix), and among them, -ess is the “preferred marker of feminine gender in human nouns” in most of the history of English (Bauer/ Huddleston 2002: 1680). Some nouns in -ess have counterparts for males (e.g. abbess/ abbot), whereas others are added to a form that can also be used generi‐ cally (e.g. authoress/ author: an authoress is an author). The suffix -trix, which is 180 Laure Gardelle <?page no="181"?> found only in a handful of legal terms, has corresponding gender-neutral -tor, as in executrix/ executor (Bauer/ Huddleston 2002: 1681). Issues of gender equality concern primarily the nouns marked for women for which the other noun in the pair may be used both for men and for sex-in‐ different reference. It is difficult to assess usage quantitatively, but there seems to be some discrepancy between part of the descriptions by grammars of the 18 th and 19 th centuries and actual usage. The typical grammar of the time draws sometimes long lists of masculine and feminine pairs, including for instance traitor/ traitress, arbiter/ arbitress and man-servant/ maid-servant, because, as was seen in Section 2, gender is treated in the chapter on nouns, and only secondarily, in relation to concord, in the chapter on pronouns (e.g. Smith 1816: 31-32, Gill 1874: 34-38; Morrison 1888: 22-23; Davidson/ Alcock 1894: 24-27). But in the 18 th century, Priestley’s grammar (1761: 72) states that feminine gender marking “extends to not many words”, even when it could be expected. For instance, “[w]e do not call a female author an authoress; and if a lady writes poems, she is, now-a-days, called a poet, rather than a poetess, which is almost obsolete”. Baron (1986: 121) reports a “noticeable” decrease in the coining of new -ess forms since the mid-19th century (see also Stefanowitsch/ Middeke 2023), and “frequent” criticism of -ess in 19 th -century usage books. My own data confirm that authors who comment on suffixes criticise them, a fact which, however, also suggests that a number of sex-specific terms were used. Some nouns also appear to be more accepted than others. First-wave feminism obviously played a part in the debate - probably also the fact that women reached new areas of public life (Baron 2020: 72). For example, Alford (1874: 122-123), setting aside a handful of words for which the feminine has to be used (e.g. governor/ governess, which refer to different occupations), considers that a feminine termination “savours of pedantry”, as in an advertisement for “The Wanderings of a pilgrimess” or when public establishments invite to apply to the portress. He advocates using the “masculine” appellation, which is the rule when applying to both sexes. Fowler (1926: 175, entry “feminine designations”) reports protests from women in those professions that authoress, poetess, paintress and sometimes patroness and inspectress are derogatory because they imply inequality between the sexes; he also reports “hesitation” in coining doctress. In the 1960s, Wood (1962: 94) begins his entry “Feminine forms” with the statement that “[t]he use of unnecessary feminine forms should be resisted”, because “sex is irrelevant” unless the roles are slightly different (e.g. actress, who plays female parts, mayoress or hostess, which correspond to “a social rôle [sic] complementary to” that of a mayor or a host). He rejects nouns such as directrice, benefactress, Epicene references in British English before second-wave feminism 181 <?page no="182"?> murderess, as well as poetess and authoress which “nowadays have a depreciatory suggestion about them”. Exceptions are waitress and manageress, which “are probably too firmly established to be uprooted now” - note that in the 21 st century, in fact, manageress is hardly used anymore. This principle of using the word that applies to men for both sexes converges with the rationale for using he for epicene reference. But there is one major dif‐ ference: the word that applies to men is not marked for gender morphologically (e.g. poet, conductor), whereas sex-indifferent reference with he is an extension from a prototypical value of / reference to a male/ . This probably explains the divergence among feminists between proponents of a feminisation strategy (suffixes) to make women visible in what were male-dominated professions, and advocates of a neutralisation strategy (nouns unmarked for gender, e.g. conductor), because specifying the sex only for women can prove to add derogatory connotations, lower prestige, and a perpetuation of the “sex-role dichotomy” (Stanley 1977: 52/ 74, see also Stannard 1977: 349). This was a major debate among feminists of the second wave. Neutralisation is what now prevails. The lack of male-only suffixes probably explains why there has never been a move towards creating pairs of masculine-only and feminine-only nouns. As for supposedly sex-indifferent man, “a man” remained the typical alter‐ native to “somebody” until the turn of the 20 th century. As was seen in Section 3.3 above with the aftermath of the 1850 Act of Parliament, it never proved truly epicene. Feminists had a major influence in generalising the decline of the word. In the first half of the 20 th century, Jespersen (1924: 231) notes that the confusing reference to either a male or a human being has led to a “recent” tendency to use unambiguous human being or human. But Baron (1986: 150) notes that “many people sought an alternative like people or human being long before generic man became a feminist issue” - I will add person. It was only second-wave feminism that led to the elimination of man-compounds (such as fireman -> firefighter). Another source of gender inequality was the condescending use of lady (instead of woman) as the counterpart of man. Here again, it was second-wave feminism that played a decisive part in its decline, which took place in the second half of the 20 th century (for a detailed study, see Curzan 2014: 130-136). 5 Conclusion This chapter sought to shed light on the relationship between the grammar of the English language (more specifically its gender system), grammatical descriptions and speaker representations. Beyond the major fact that society was male-biased, the study showed a role of factors such as (i) the prestige of 182 Laure Gardelle <?page no="183"?> Latin compared with English and other vernaculars in Early Modern England, which prompted a transfer of Latin descriptions of gender; (ii) the resulting focus on nouns and nominal morphology, which is more strongly based on sex than pronominal agreement and probably favoured the perpetuation of traditional descriptions; (iii) the role of the actual meaning of the pronouns (low degree of individuation for they, rather than just a pronoun unmarked for “male” or “female”); (iv) the extension of the value of they that was required for some definite antecedents. The chapter also showed how crucial feminists were in bringing about changes to language use, as they fought to move the debate away from gram‐ matical correctness to semantic and social implications of gender. But beyond that fundamental influence, the debate over epicene reference was not just the domain of feminists. Another driving force was a search for efficacy without abandoning grammatical correctness; doing away with metaphor to account for the use of he/ she for inanimates had to do with awareness of cross-linguistic differences; and challenges to a sex-based explanation of the gender system came partly from a growing attention to data, in particular variations in gender for animals. What the debates and discussions also show is how difficult it can be to find solutions at a given time in society, even for speakers who believe in gender equality and identify problems in current usage. This is due to a number of factors. One is attachment to the norm set by language authorities - for instance, Curzan (2014: 129) reports that a number of non-linguists around her accuse her of “promoting bad usage” with epicene they. Prescriptions hold fast over time even for strictly formal rules, such as the notion that a sentence should not end with a preposition in English, which was just a transfer from grammars of Latin but is still a notion “widely held” today (Aitchison 2001: 11). For some speakers, this attachment to prescription originates in a feeling of linguistic insecurity: looking for guidance on how to use language “properly” matters because “failing to do so has real consequences”, owing to other people’s perceptions (Straaijer 2016: 233). Beyond linguistic insecurity, the attachment to prescriptions among the general public stems from the fact that the common attitude to language is a puristic one, “the idea that there is an absolute standard of correctness which should be maintained” (Aitchison 2001: 13). This regularly causes vehement responses to a number of natural evolutions or interventionist proposals, and laments that the language is on the decline, despite massive evidence of linguistic change (Aitchison 2001: 13). In addition to this general attachment to the norm set by language authori‐ ties, Cameron (1995: 119) suggests that for epicene references, there may be Epicene references in British English before second-wave feminism 183 <?page no="184"?> resistance to having one’s language and day-to-day uses politicised. Once a word is singled out as problematic, a speaker’s unintentional use may be interpreted by addressees as a political act, and not being sure of what is currently correct can become disconcerting or even frustrating. The speed of change can increase that frustration (Curzan 2014: 115). Having said that, the evolution of world views for humans, and the many debates about language, meant that he, man etc. were increasingly felt to be jarring in their reference, and in retrospect, linguistics can identify a logic to the general evolution. As Baron (2020: 154) notes, “[t]he fact is that there don’t seem to be any other viable options besides singular they for that long-sought third-person singular, gender-neutral pronoun”. As for morphology, the fact that few nouns carry gender morphology makes the trend towards neutralisation a logical evolution as well. Bibliography Aitchison, Jean (2001): Language Change: progress or decay? 3 rd edition. Cambridge: Cambridge University Press. Alford, Henry (1874): The Queen’s English. A manual of idioms and usage. 4 th edition. London: W. Isbister & Co. Armitstead, Claire (2022): “‘It’s complicated - but you can’t shy away from it’: everything you wanted to know about pronouns (but were afraid to ask)”. The Guardian, 26.11.2022. https: / / www.theguardian.com/ world/ 2022/ nov/ 26/ pronouns-gendered-la nguage-revolution-britain (30.01.2024). Ayliffe, John (1734): A New Pandect of Roman Civil Law. London: T. Osborne. Bache, Richard M. (1869): Vulgarisms and Other Errors of Speech. Philadelphia: Claxton, Remsen & Haffelfinger. Bain, Alexander (1863): An English Grammar. London: Longman, Green, Longman, Roberts and Green. —-(1891): A Higher English Grammar. Revised edition. London: Longmans and Co. Baker, Robert (1770): Reflections on the English Language. London: J. Bell. Baron, Dennis (1981): “The epicene pronoun: the word that failed”. American Speech 56 (2), 83-97. — (1982): Grammar and Good Taste: Reforming the English Language. New Haven: Yale University Press. —-(1986): Grammar and Gender. New Haven, London: Yale University Press. —-(2020). What’s Your Pronoun? Beyond He & She. New York, London: Liveright. 184 Laure Gardelle <?page no="185"?> Bauer, Laurie/ Huddleston, Rodney (2002): “Lexical word formation”. In: Huddleston, Rodney/ Pullum, Geoffrey K. (eds.). The Cambridge Grammar of the English Language. Cambridge: Cambridge University Press, 1621-1722. Baugh, Albert C./ Cable, Thomas (1978): A History of the English Language. 3 rd edition. London: Routledge & Kegan Paul. Beattie, James (1788): The Theory of Language. Revised edition. London: Strahan, Cadell and Creech. Bodine, Ann (1975): “Androcentrism in prescriptive grammar: singular they, epicene he, and he or she”. Language in Society 4 (2), 129-146. Bullokar, William (1977): Book at Large (1580) and Bref Grammar for English (1586), with an introduction by Diane Bornstein. Delmar, New York: Scholars’ Facsimiles and Reprints. Butler, Noble (1846): A Practical Grammar of the English Language. Harvard: John P. Morton & Co. Butt, Margot (1970): English Usage. Collins Gem. London: Collins. Cameron, Deborah (1995): Verbal Hygiene. London, New York: Routledge. Cardell, William S. (1825): Essay on Language, as Connected with the Faculties of the Mind and as applied to things in Nature and Art. New York: Charles Wiley. Collins Cobuild (1990): English Grammar London: Harper Collins. Corbett, Greville G. (1991): Gender. Cambridge: Cambridge University Press. Crombie, Alexander (1830 [1802]): The Etymology and Syntax of the English Language Explained and Illustrated. 3 rd edition. London: John Taylor. Curzan, Anne (2003): Gender Shifts in the History of English. Cambridge: Cambridge University Press. —-(2014): Fixing English. Prescriptivism and language history. Cambridge: Cambridge University Press. Davidson, William/ Crosby Alcock, Joseph (1894): English Grammar and Analysis. 2 nd edition. London: Allman & Son. Fisher, Ann (1968 [1750]): A New Grammar. 2 nd edition. Facsimile. Menston: Scolar Press. Fowler Henry W. (1926): A Dictionary of Modern English Usage. Oxford: Clarendon Press. — (1965): A Dictionary of Modern English Usage. 2 nd edition. Revised by Ernest Gowers. New York, Oxford: Oxford University Press. Fowler Henry W./ Fowler, Francis G. (1908): The King’s English. 2 nd edition. Oxford: Clarendon Press. Funk, Isaac et al. (eds.) (1897): A Standard Dictionary of the English Language, vol. 2: M-Z. New York, London, Toronto: Funk & Wagnalls Company. Gardelle, Laure (2015): Epicene references to human beings in American English: effective uses and pragmatic interferences. A case study of your child. In: Gardelle, Epicene references in British English before second-wave feminism 185 <?page no="186"?> Laure/ Sorlin, Sandrine (eds.). The Pragmatics of Personal Pronouns. Amsterdam: John Benjamins, 69-92. —-(2016): “An epistemological approach to English gender: a grammar-based perspec‐ tive”. In: Zovko Dinković, Irena/ Mihaljević Djigunović, Jelena (eds.). English Studies from Archives to Prospects. Vol. 2: Linguistics and Applied Linguistics. Cambridge: Cambridge Scholars Publishing, 2-18. —-(2023): Pronoun activism and the power of animacy. In: Paterson, Laura (ed.): The Routledge Handbook of Pronouns. London: Routledge, 394-408. Gill, George (1874): The “Oxford and Cambridge” Grammar and Analysis of the English Language. London: John Kempster & Co. Grevisse, Maurice (1964): Le Bon Usage. Grammaire française avec des remarques sur la langue française d’aujourd’hui. 8 th edition. Paris: Duculot & Gembloux. Harris, James (1751): Hermes: or, a Philosophical Inquiry Concerning Language and Universal Grammar. London: H. Woodfall. Harvey, Thomas W. (1977 [1878]): A Practical Grammar of the English Language. New York: Scholars’ Facsimiles and Reprints. Huddleston, Rodney/ Pullum, Geoffrey K. (2002): The Cambridge Grammar of the English Language. Cambridge: Cambridge University Press. Hunter, John (1848): Text-Book of English Grammar. London: Longman, Brown, Green & Longmans. Jennings, James (1822): The Family Cyclopaedia. Being a manual of useful and necessary knowledge, alphabetically arranged. London: Sherwood, Gilbert & Piper. Jespersen, Otto (1905): Growth and Structure of the English Language. Leipzig: B. G. Teubner. —-(1924): The Philosophy of Grammar. Chicago, London: University of Chicago Press. —-(1965 [1942]): A Modern English Grammar on Historical Principles. Vol. 7: Syntax. London: George Allen & Unwin. Johnson, Samuel (1755): A Dictionary of the English Language. 2 vols. London: W. Strahan. Jonson, Ben (1909 [1640]): The English Grammar. Edited with introduction and notes by Alice Vinton Waite. New York: Sturgis & Walton. Kirby, John (1746): A New English Grammar, or Guide to the English Tongue. London: R. Manby & H.R. Cox. Leech, Geoffrey/ Svartvik, Jan (1994): A Communicative Grammar of English. 2 nd edition. London: Longman. Lily, William (1719): A Short Introduction to Grammar. London: Roger Norton. Lowth, Robert (1764): A Short Introduction to English Grammar: with critical notes. New edition. London: A. Millar & R. and J. Dodsley. 186 Laure Gardelle <?page no="187"?> McConnell-Ginet, Sally (1979): Prototypes, pronouns, and persons. In: Mathiot, Made‐ leine (ed.): Ethnolinguistics. Boas, Sapir and Whorf revisited. The Hague: Mouton, 63- 84. [repr. in McConnell-Ginet, Sally (2011): Gender, Sexuality and Meaning. Linguistic practices and politics. Oxford: Oxford University Press, 185-206]. Morrison, Thomas (1888): English Grammar for the Use of Schools. London: T. Nelson & Sons. Murray, Lindley (1795): English Grammar. York: Wilson, Spence & Mawman. Neilson, William A. (ed.) (1934): Webster’s Second New International Dictionary. Spring‐ field, Massachusetts: Merriam-Webster. Nesfield, John-C. (1898): English Grammar Past and Present. London, New York: Mac‐ millan & Co. —-(1957): Modern English Grammar. Revised edition. London: Macmillan & Co. Newman, Michael (1992): “The stubborn problem of singular epicene antecedents”. Language in Society 21 (3), 447-475. —-(1998): “What can pronouns tell us? A case study of English epicenes”. Studies in Language 22 (2), 353-389. Nugent, Thomas (1817): The New Pocket Dictionaries of the French and English Languages in Two Parts. 2 nd American edition, taken and corrected from the 1 st London edition. New York: E. Duyckinck. OED = Oxford English Dictionary (2023). Oxford: Oxford University Press. https: / / doi.or g/ 10.1093/ OED/ 1194337021; https: / / doi.org/ 10.1093/ OED/ 8208290940; https: / / doi.org / 10.1093/ OED/ 1112012175 (24.02.2024). Partridge, Eric (1965): Usage and Abusage. A guide to good English. 6 th edition. London: Hamish Hamilton. Priestley Joseph (1761): The Rudiments of English Grammar. London: R. Griffiths. Quirk, Randolph/ Greenbaum, Sidney/ Leech, Geoffrey/ Svartvik, Jan (1985): A Compre‐ hensive Grammar of the English Language. London: Longman. Robbins Robert H. (1971 [1951]): Ancient and Mediaeval Grammatical Theory in Europe. Reprint. Port Washington, New York: Kennikat. Smart, Benjamin H. (1841): The Accidence and Principles of English Grammar. London: Longman & Co. Smith, Hilda (2002): All Men and Both Sexes. Gender, politics, and the false universal in England, 1640-1832. University Park, Pennsylvania: University of Pennsylvania Press. Smith, John (1816): A Grammar of the English Language. 2 nd edition. Norwich: Bacon, Kinnebrook & Co. Stanley, Julia Penelope (1977): “Gender-marking in American English: Usage and refe‐ rence”. In: Pace, Nilsen Alleen et al. (eds.). Sexism and Language. Urbana, Illinois: NCTE, 43-82. Stannard, Una (1977): Mrs. Man. San Francisco: Germainbooks. Epicene references in British English before second-wave feminism 187 <?page no="188"?> Stefanowitsch, Anatol/ Middeke, Kirsten (2023): “Gender-marking -ess: The suffix that failed”. Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 71 (3), 293-319. Straaijer, Robin (2016): “Attitudes to prescriptivism: an introduction”. Journal of Multi‐ lingual and Multicultural Development 37 (3), 233-242. Swan, Michael (1997): Practical English Usage. 2 nd edition. Oxford: Oxford University Press. Sweet, Henry (1892): A New English Grammar Logical and Historical. 2 vols. Oxford: Clarendon Press. United Kingdom Parliament (1850): An Act for shortening the Language used in Acts of Parliament. PrimaryDocuments.ca database. https: / / primarydocuments.ca/ an-act-for -shortening-the-language-used-in-acts-of-parliament-uk-1850 (30.01.2024). Warenda, Amy (1993): “They”. Writing across the Curriculum 4, April 1993, 99-108. Weidmann, Urs (1984): “Anaphoric they for singular expressions”. In: Watts, Richard J./ Weidmann, Urs (eds.). Modes of interpretation: essays presented to Ernst Leisi on the occasion of his 65 th birthday. Tubingen: Narr, 59-68. Weiner, Edmund S.C. (ed.) (1983): The Oxford Guide to English Usage. Oxford: Clarendon Press. Wight Duff, John (1897): “Common errors in grammar and composition.” The British Printer vol.10. London: Raithby, Lawrence & Co., 269-271. Wood, Frederick T. (1962): Current English Usage. A concise dictionary. London: Mac‐ millan. Wyss, Simone (1983): Genre et pronoms du vieil-anglais à l’anglais moderne. Amiens: Association des Médiévistes de l’enseignement supérieur. Yates, W.V. (1873): The Civil Service English Grammar. London: Lockwood & Co. 188 Laure Gardelle <?page no="189"?> Gender-inclusive language debates in the UK: From feminist to trans linguistics Ann Coady Abstract: This article traces the evolution of gender-inclusive language debates in the UK since Second Wave feminist linguistic initiatives in the 1960s to current debates about making English inclusive for trans and non-binary people. It begins with a short explanation of how grammatical, lexical and semantic gender work in English, arguing that the concept of notional gender is more productive than natural gender. This is followed by a summary of the sociolinguistic landscape in the UK and the social conditions that have favoured the adoption of gender-inclusive language, compared to many other European countries. The main body of the article deals with three current points of tension over language and gender in the UK: asymmetrical language use (such as Sir and Miss or the Lions and the Lionesses), the meaning of the term woman, and finally non-binary pronouns and the pronoun round. The concept of notional gender as well as semantic prototype theory are used to help explain some current disagreements. Keywords: notional gender, semantic prototype theory, feminine suffixes, language authorities, Ms and Mx, generic he and man, singular they, woman, pronoun sharing Zusammenfassung: In diesem Beitrag geht es um die Debatte über geschlechtergerechte Sprache in Großbritannien von den 1960er Jahren (zweite Welle der feministischen Bewegung) bis zu der gegenwärtigen Diskussion über Mittel und Wege, das Englische zu einer Trans- und nicht‐ binäre Personen einschließenden Sprache zu machen. Eingangs wird kurz erläutert, wie grammatisches, lexikalisches und semantisches Geschlecht im Englischen funktionieren; hier wird argumentiert, dass es zielführender ist, statt von dem Konzept eines natürlichen Geschlechts von einem <?page no="190"?> „begrifflichen“ Geschlecht auszugehen. Anschließend wird ein Überblick über die soziolinguistische Lage in GB und die gesellschaftlichen Faktoren gegeben, die im Vergleich mit vielen anderen europäischen Ländern die Aneignung eines genderinklusiven Sprachgebrauchs begünstigt haben. Im Hauptteil des Beitrags geht es um drei aktuell kontrovers diskutierte Aspekte: den asymmetrischen Sprachgebrauch (Sir/ Miss, Lions/ Lionesses), die Bedeutung des Ausdrucks woman und schließlich die Frage der non-bi‐ nären Pronomina inkl. der sog. pronoun round. Auf der Grundlage des Konzepts ‚begriffliches‘ Geschlecht und der Prototypensemantik wird eine Klärung gegenwärtig kontrovers diskutierter Fragen versucht. Schlüsselbegriffe: ‚begriffliches‘ Geschlecht, Prototypensemantik, Femi‐ ninmovierung, sprachnormierende Instanzen, Ms und Mx, generisches he und man, singulares Pronomen they, Gebrauch von woman, Pronoun Sharing 1 Introduction Debates over language and gender in English have been raging since the 1960s when Second Wave feminists drew attention to inequalities in language, such as the use of generic he, or terms like mankind. Feminist linguistic initiatives have dramatically changed the linguistic landscape of the UK. For instance, generic he has become so rare today that it is surprising to come across it in material produced after the 1990s. This is not to say that male-biased language has disappeared and that people in the UK live in a world of linguistic equality. However, when compared to the situation in the 1960s, it is undeniable that enormous progress has been made, at least as regards linguistic equality between women and men. Recently, the debate has centred on the inclusion of trans and non-binary people, which has significantly changed the direction of the conversation. Just as in any debate over language, what is at stake is “more than ‘mere words’; it is controlling the contours of the political world, it is legitimizing policy, and it is sustaining power relations” (Fairclough 2001: 75). This is why debates about language, and in particular about language and gender, provoke such strong reactions. What is at the centre of the debate is power relations (who has the power to decide what words mean and how they should be used) and how we understand sex and gender (what these concepts mean to different people, and their relative importance in society). And of course, gender is inextricably linked to power relations. 190 Ann Coady <?page no="191"?> 1 The terms gender-inclusive, gender-neutral and non-sexist will be defined in more detail in section 4. In this article I propose a brief explanation of how gender works in English, advocating for its gender system to be understood as notional gender rather than natural gender. I then give a quick summary of how the linguistic landscape in the UK has changed since the 1960s, with a gradual change in focus from linguistic equality between women and men to linguistic equality between all genders. This is followed by an overview of language authorities in the UK, suggesting that gender-inclusive language 1 has taken hold thanks to the absence of any single official language authority. The bulk of the article will then focus on recent controversies over language and gender in the UK, putting them in the context of wider changes in society and using the concept of notional gender and semantic prototype theory to help explain some current disagreements. 2 Problematising “natural” gender English is rather unique compared to its Indo-European siblings in that it lost the system of grammatical gender that it used to have in Old English (approximately 750 CE-1150 CE). Its once healthy system of grammatical gender has now shrunk to three third person singular pronouns (he, she and it). Modern English is commonly described as a language with a natural gender system, in which the (“natural”) biological sex of the referent is reflected in three ways: (1) grammatically in third person singular pronouns (she for human females, he for human males and it for inanimate objects), (2) lexically in certain suffixes (e.g., actress) and compounds (e.g., sportsman) and (3) semantically in many kinship terms (e.g., sister, brother, mother, father, aunt, uncle) as well as certain titles (e.g., Mrs, Ms, Miss, Mr, Lord, Lady, Earl). Nevertheless, describing English as having a natural gender system suggests an uncomplicated one-way relation between reality and language. As recent research in gender and language, and in linguistics more generally, has shown, this is not the case. Lakoff and Johnson (1980: 159) “do not believe that there is such a thing as objective (absolute and unconditional) truth [because] truth is always relative to a conceptual system”. Humans have a conceptual system that is shaped by our human bodies as well as our cultural environment. This conceptual system shapes how we interact with and understand the world around us. The English language has divided the world into animate beings and inanimate beings, dividing animate beings into further subcategories: humans (male and female), animals, plants etc. But this truth is relative to our conceptual Gender-inclusive language debates in the UK 191 <?page no="192"?> system. It is safe to say that cats or dogs do not have the same cognitive categories as humans. In addition, not all humans share the same cognitive categories, and so not all cultures conceptualise sex and/ or gender in the same way: for Native Hawaiians and Tahitians, there is an intermediary state between man and woman, called Māhū, and the Hijras of South Asia are often described as a third gender. This is not to say that there is no such thing as reality or biological facts, but the way that we create categories based on those facts (e.g., men, women, Māhū, third gender, etc) is dependent on our human cognitive systems as well as our human cultures (Lakoff 1987). If the term natural gender is too simplistic, notional gender (Nevalainen/ Raum‐ olin-Brunberg 1994) better captures the way that gender works in Modern English, as it also takes into account how we conceptualise the world around us, our attitudes and cultural prototypes. The system of gender in English is not a simple reflection of biological sex. It is a system in which “concepts and ideas about biological sex matter at least as much as sex itself ” (McConnell-Ginet 2014: 3). In this respect, there is nothing “natural” in the English gender system - if we take natural to mean an objective (absolute and unconditional) truth - or indeed in any language, if linguistic gender is a reflection of speakers’ understanding of biological differences in a certain time and place, rather than a simple reflection of those biological differences themselves. For example, it is possible to refer to a baby of unknown sex as it. Nonetheless, as soon as the sex is known, it is she or he that is then employed. In addition, ships have traditionally been referred to as she, although this practice is becoming less common. These anomalies demonstrate that linguistic gender in English is not simply a reflection of biological sex onto language. The world is filtered through our conceptual systems, attitudes and cultural concepts, which we then label and project back onto the outside world. The conceptualisation of gender as notional rather than natural also fits in well with third and fourth wave feminist understandings of social gender as something that is not stable over time and space, and as something that can only be fully understood in its historical and cultural context. 3 The relative success of gender-inclusive language in the UK Feminist linguistic interventions have been very successful in the UK (Curzan 2014: 114-136; Mills/ Mullany 2011: 156-159; Paterson 2011: 82). As a matter of fact, Curzan (2014: 117) observes that “it can be easy to lose perspective on the surprisingly rapid success of nonsexist language reform”. Despite some small 192 Ann Coady <?page no="193"?> pockets of resistance, the most overt forms of linguistic sexism in English have decreased dramatically since the 1960s. As I discussed in the introduction, it is relatively rare to find examples of generic he or man in journal articles, books, university documents, or newspaper articles. Earp (2012) even goes so far as to say that masculine generics are on the verge of extinction in English. While this may be a little exaggerated, it is certainly true that the use of masculine generics has greatly decreased since the 1960s. 3.1 Grammatical gender: The fall of generic he and the rise of singular they Grammatical gender in Modern English has survived only in the three pronouns he, she and it. Like in most other Indo-European languages, he has been promoted as a generic pronoun, meant to include both men and women. However, numerous studies (e.g., Noll et al. 2018) have demonstrated that he is primarily processed as a referring to men and slows down the processing of nouns referring to women. Three main solutions have been proposed as alternatives to generic he: generic she, combined pronouns he and she, and singular they. Generic she never really took off in the UK. It has been used in certain contexts as a “defamiliarising device” (Cameron 2016a) to draw attention to the usual invisibilisation of women. But unlike singular they, which often goes unnoticed, generic she is a strategy that explicitly draws attention to itself. Combined pronouns are also relatively rare. Paterson (2020) notes that after a peak in their frequency in the 1990s, by the 2000s, they were almost four times less frequent: “despite the endorsement of combined pronouns as a viable option for referring to men and women, the attested use of combined pronouns is relatively rare” (Paterson 2014: 55). On the other hand, one technique that has become fairly common today in academic writing and science popularisation books is alternating between generic he in one paragraph or chapter and generic she in the next. It is, in fact, singular they that has emerged as the most popular choice for generic reference (e.g., somebody called but they didn’t leave a message), despite the fact that for decades it was described in grammar books as either informal, or simply grammatically incorrect because, although it can be semantically singular or plural, it is syntactically plural. Since the end of the 20 th century, it has, however, been gradually accepted by many style guides as standard English. Many universities publish guides for their students recommending singular they rather than combined pronouns (e.g., The University of Oxford’s 2016 guide Gender-inclusive language debates in the UK 193 <?page no="194"?> cited in Grove 2021). Despite the fact that singular they is more and more accepted, there are still some style guides that recommend alternative strategies, such as rewording the sentence to avoid pronouns altogether. 3.2 Lexical gender: The demise of generic man and feminine suffixes Generic man has also decreased over the years, although it has far from disappeared. Earp’s study (2012) examined the frequency of the term mankind over a thirty-year period (1970-2000) in academic articles and found that the use of the term fell significantly, while at the same time the gender-neutral term humankind rose dramatically. Baker (2014: 98) also noted a drop in the use of generic man, but is careful to add that this does not mean that it is rare. For instance, in a corpus of business English, Fuertes-Olivera (2007: 227-228) found that although the majority of generic references used person compounds (e.g., sales person) or dual gender references (salesmen and women), over a third of the occurrences of man were used generically. In sum, gender-inclusive terms seem to have become the default option, even if the generic masculine has not disappeared. Lexically gendered terms ending in the suffixes -ette and -ess have also become much less frequent as they are seen by many as “both unnecessary and demeaning” (Cameron 2015b). Sigley and Holmes (2002) found that the use of these suffixes (as well as generic man) dropped between the early 1960s and the early 1990s. The suffix -ess has survived in many terms of nobility (e.g., princess, duchess, countess) with no obviously negative connotations, but is rapidly disappearing from most other areas. Terms such as authoress and poetess are no longer used seriously to refer to women authors and poets and the term actress seems to be heading the same way. Today, many women in the acting profession prefer to use the term actor instead of actress. For example, Australian actor Cate Blanchett explained her choice of actor rather than actress by highlighting the negative connotations of actress: “I am of the generation where the word actress was used almost always in a pejorative sense. So I claim the other space.” (Guardian 2020). 3.3 Semantic gender: the modest success of Ms and Mx Concerning semantically gendered terms, as far as I am aware, studies have only been carried out on the titles Mr, Mrs, Ms and Miss, as other terms such as sister, 194 Ann Coady <?page no="195"?> brother, mother or father have only very recently been seen as problematic in the context of non-binary people. The title Ms (usually pronounced / mɪz/ ) was first recorded in 1698 (Erickson 2014). However, as Erickson explains, before the 19 th century, only women of higher social status were addressed as Mrs or Miss (both abbreviations of mistress), neither of which indicated marital status. In the 1698 example that Erickson refers to, one instance of Ms is used to refer to a married woman, and the other, to a woman whose marital status is unclear. It was in 1901 that Ms was proposed as a marriage-neutral option for the first time (Baron 2010), becoming more popular from the 1960s. The aim of Second Wave feminists was to replace Miss and Mrs in order to have a symmetrical system of honorifics for men and women (Mr and Ms). However, instead of replacing them, Ms has simply been added to the system, resulting in three options for women, while men are not obliged to make any decision at all, they are simply Mr. In addition, as Mills points out, “[a]lthough Ms is still very much used by feminists in Britain, and is available widely as an option on official forms, for many it is often treated with some suspicion, as a title used only by divorced women and feminists” (Mills 2003: 95). Schwarz (2006) also found that for some of her respondents, these connotations still lingered. On the other hand, for many, it has become a fairly unremarkable choice of title (Crawford/ Stark/ Renner 1998). Despite the availability of Ms, Baker remarks that “it still has a long way to go before it breaks through as the favoured female term of address” (Baker 2010: 143). In his corpus study of British English dating from 1931 to 2006, he found that although the use of Ms has increased over time, both Miss and Mrs were still much more frequent. In the 2006 corpus, Ms was only used 10.9% of the time when people wanted to use a female term of address, meaning that Miss and Mrs were used 89.1% of the time. The title Mx, a gender-neutral title, appeared around 1977 (Baron 2020) and has been gaining ground in the UK since around 2010. The first official recognition of the title was in 2013 by Brighton and Hove City Council in England, who voted to allow its use on council forms. Other institutions quickly followed: the Royal Bank of Scotland in 2014, the Royal Mail, and the DVLA (Driving and Vehicle Licensing Agency) in 2015. Whereas Ms was intended to replace Miss and Mrs, Mx was invented for people who did not identify with the other gender-binary titles. Its purpose was to provide an option for non-binary people, rather than replace the existing titles. The success of both Mx and Ms is perhaps somewhat dampened by the fact that titles in general are used less and less frequently in English (Baker 2010). Gender-inclusive language debates in the UK 195 <?page no="196"?> 2 These are distinctions that I make for the purposes of this article. They are not “official” distinctions used by scholars in the field of gender and language. 4 From non-sexist language to gender-neutral language So far, I have used the terms gender-neutral and gender-inclusive. Before conti‐ nuing, it is worth clarifying these terms. From the 1960s until the early 2000s, feminists were primarily concerned with linguistic equality between women and men. They focused on eliminating the asymmetrical treatment of men and women in language by, for example, using combined pronouns (he or she) rather than generic he or referring to businessmen and women. This is what I will call non-sexist language. Another strategy involved neutralising gender when it was felt to be irrelevant (e.g., chair instead of chairman or using singular they instead of combined pronouns for generic reference). This is what I will call gender-neutral language. Finally, I will use the term gender-inclusive language as an umbrella term to cover both of these strategies. 2 Since the early 2000s, a growing recognition of trans and non-binary people has significantly changed the linguistic landscape. Language practices aimed at making women more visible have been criticised as an “epistemological cul de sac” (Chetcuti/ Greco 2012: 11) in which the gender binary was simply reified rather than being challenged. For instance, with regard to combined pronouns (he or she), Paterson (2020) notes that the aim “was not to directly challenge the gender binary but rather to oppose gender stereotypes and wider male-as-norm worldviews”. There has thus been a move towards gender-neutral language in order to include all genders, not just men and women. Recent linguistic practices have focused on questioning the gender binary with strategies including neologisms such as gender-neutral neopronouns like ze or hir, or with avoiding previously unproblematic terms such as pregnant women in order to include trans men and non-binary people. In fact, most guides on inclusive language published today in the UK recommend gender-neutral language when possible, including the use of singular they rather than he or she. There are, of course, very many points of convergence between these two kinds of linguistic practices (e.g., the use of singular they for an unknown referent). On the other hand, there are several points of conflict that I will focus on later (e.g., avoiding the term women in contexts such as pregnant women in part 6.2). These recent language practices in English have indeed posed a much greater challenge to traditional beliefs about sex and gender than the initiatives of Second Wave feminism. The inclusion of trans and non-binary identities into the equation has greatly complicated the question of language and gender. The goal of these kinds of practices is to challenge the idea of gender itself as a stable 196 Ann Coady <?page no="197"?> 3 https: / / www.local.gov.uk/ lga-inclusive-language-guide binary. It is a much more radical project than simply making women visible in language and has thus resulted in push back, not only from more traditional conservative quarters, but also from some of the very feminists who campaigned for non-sexist language. The rest of this article will examine some of the current points of tension regarding gender and language in the UK. Before doing so, it is important to say a few words about the lay of the linguistic landscape and in particular about language authorities in the UK. 5 Language authorities in the UK Once again, the UK is rather unusual compared to its European neighbours in that it does not have an official language academy. Despite calls for one (Curzan 2014: 5), there is no single centralised official body that offers guidelines or enforces any sort of linguistic rules in the UK. Its absence is striking when compared to other European countries, such as the Académie française [French Academy] in France, or the Real Academia [Royal Academy] in Spain, the Accademia della Crusca [Academy of the Bran] in Italy, or the Rat für deutsche Rechtschreibung [Council for German Orthography] in Germany. English spea‐ kers have “relied on a network of authorities or ‘language mavens’, [which] have historically been lent authority through the power of publication: creating grammar books and style guides; editing books and dictionaries; opining on language in newspaper columns” (Curzan 2014: 5). In the absence of an official language body in the UK, feminist linguistic reform has been rather grassroots in its nature (Mills/ Mullany 2011: 156-158, Liddicoat/ Baldauf 2008; Pauwels 1998: 11). But as Curzan points out, these ‘lang‐ uage mavens’ have enjoyed a certain amount of authority. Pauwels (2011: 15) argues that this grassroots movement initially faced “immense opposition from the ‘language establishment’ (e.g., language academies, style councils, etc.)”. It is perhaps because there has been no single source of language authority in English that it has been easier to ignore opposition. There have been some top-down decisions, for example, the Sex Discrimination Act (1975) required job advertisements to make it clear that positions were open to both men and women, but most non-sexist reforms have been carried out on a more local level. For instance, the Local Government Association (LGA) in the UK issued an inclusive-language guide in 2022. 3 This is simply a guide with no power to be enforced, and each local council votes on their own constitution, which may or Gender-inclusive language debates in the UK 197 <?page no="198"?> 4 Sixth Form college is an educational institution for children from 16 to 18 years old where they study for A-levels (Advanced level exams). The equivalents in France are lycée and baccalauréat and in Germany Kollegstufe/ Oberstufe/ Sekundarstufe II and Abitur. may not include gender-inclusive language. The LGA can only offer guidelines, it cannot impose usage. These more dispersed changes may have been an advantage for non-sexist language when compared to more centralised countries where language reform is more top-down. In the UK, if one institution makes changes, affecting only a restricted group of people, it may be reported in the local press, but might not make national headlines, thus instigating less controversy. This piecemeal approach has perhaps allowed non-sexist and gender-inclusive language to gain ground institution by institution. 6 Recent debates 6.1 Asymmetrical language use: Sir vs Miss & the Lions vs the Lionesses As previously mentioned, the most overt forms of sexist language and asym‐ metrically gendered terms are being used less and less often in British English. Nonetheless, there remain some asymmetrical usages that could be perceived as sexist. In primary and secondary education, pupils traditionally refer to teachers as Sir (for a man) or Miss (for a woman). One of the first targets of Second Wave feminist linguistic initiatives was precisely asymmetrical usages such as these. The equivalent of Sir would be Madam or Ma’am (but see Cameron 2021a for problematisation of Madam), not Miss. For whatever reason, the use of Sir and Miss has remained common in schools in the UK. Every few years, a school will decide to encourage its pupils to use other forms of address, resulting in media attention and a few articles in the press. When asked for their opinion on the matter, feminist linguists, Professors Jennifer Coates and Sara Mills, argued that “Sir is a knight … but Miss is ridiculous - it doesn’t match Sir at all” and that “calling teachers Sir and Miss is depressing and sexist” (BBC 2014). The most recent controversy was in June 2023, when Harris Westminster Sixth Form College in London (a very highly ranked Sixth Form college) 4 decided to ask its students to no longer use Sir and Miss, but teacher, or title + surname. This said, not all women teachers agree on (or even care about) the use of Miss (see Cameron’s 2021a Twitter poll). 198 Ann Coady <?page no="199"?> Another recent controversy was over the name of the England women’s football team, the Lionesses, during the 2023 World Cup (the men’s team is called the Lions). Some fans perceived the suffix -ess as pejorative, whereas others thought that the suffix was a source of pride as it highlighted the achievements of women in a heavily male-dominated and notoriously sexist field. As Mills notes, “[t]hese terms pose something of a dilemma for feminist analysis; for most theorists, these are terms which should be avoided because they have trivializing connotations” (Mills 1995: 70). However, during the 2023 World Cup, Lionesses seemed to be taking on positive connotations. Linguist and columnist for the Wall Street Journal, Zimmer (2022) remarked that “[t]he fact that ‘lioness’ continues to be used in English is an unusual case, historically speaking, since the feminine suffix -ess has been on its way out for a while now”. No doubt the positive connotation of -ess in this particular context is linked to the recent successes of the England women’s football team rather than the suffix itself. As mentioned above, other terms in -ess have been gradually disappearing from the English language for decades. In a 2016 report on language, gender and sport, researchers found that overt gender marking is more common for sportswomen (e.g., woman golfer) than sportsmen (golfer), and that some sports are more likely to be marked for women’s participation than others: “gender marking for some Olympic sports is much more common than others: football, snowboarding, cycling, rugby and swimming are all far more likely to be marked for women than men” (Language, Gender and Sport n.d., 7). Whether this is done in order to draw attention to women’s participation in these sports in a positive way, or in a way that marks their participation as somehow deviant, men’s sport being the norm, is impossible to say. It is also impossible to say how these practices are perceived by spectators and readers. 6.2 The woman question A similar debate took place after the death of architect Zaha Hadid in 2016. Cameron (2016b) describes public reactions to how the press referred to Hadid (female architect, woman architect, or simply architect). Premodifying a noun to specify the gender of the referent was one of the first targets of feminist linguistic intervention in the 1960s, as it was seen as drawing unnecessary attention to gender in contexts where it wasn’t (or shouldn’t be) relevant. Some people did, in fact, consider that referring to Hadid as a great female or woman architect was belittling as it implied that she was only to be judged as great within the subcategory of female/ women architects and not within the wider category of all architects. Others, however, consciously referred to Hadid as a Gender-inclusive language debates in the UK 199 <?page no="200"?> 5 https: / / www.cancerresearchuk.org/ health-professional/ screening/ cervical-screening female/ woman architect to highlight her success in a field dominated by men. Here is perhaps a good place to remind readers that feminist language practices have never enjoyed universal agreement, even amongst proponents themselves, and that the language choices we make are highly context dependent - in one context, a speaker may wish to draw attention to gender, and in another they may wish to avoid gendered language altogether. The term woman has also recently been at the centre of heated debates around the inclusion of trans and non-binary people. In an effort to include trans and non-binary people, particularly in the health sector, some medical services have replaced the term women with gender-neutral terms (e.g., pregnant people, people who menstruate). These practices have been welcomed by some as being gender-inclusive but rejected by others as making women invisible in contexts where biology and/ or gender matters. For instance, Cancer Research UK informs people that “[c]ervical screening is available to anyone with a cervix between the ages of 25 to 64 in the UK”. 5 Zimman argues that, although phrases like anyone with a cervix can seem unnecessarily complex or even silly, they achieve two things: firstly, they are technically more accurate than simply using men or women, allowing “for specific recognition that, for instance, cisgender women who do not have cervixes do not need access to cervical cancer scree‐ nings”, and secondly, they “manage to express normative expectations about gender without delegitimising or erasing trans individuals”, adding that “[t]his approach requires a rehauling not only of the lexicon, but of the way people think and talk about gender” (Zimman 2017: 100). As mentioned previously, current practices such as these have a much more radical project than Second Wave feminist linguistic initiatives in that they seek to destabilise the whole idea of gender being a stable, binary concept. On the other hand, Cameron argues that the problem is not just about exclu‐ ding trans and non-binary people. She points out that rather than avoiding the word women, speakers can simply use “the ‘add on’ approach (e.g., ‘we provide advice and support to pregnant women, trans men and nonbinary people’)” (Cameron 2021b). Zimman also mentions a similar approach of hedging all generalisations about gender with utterances such as “Women typically need access to cervical cancer screenings” (Zimman 2017: 99). The problem for Cameron is the idea that women has once again become a dirty word. Second Wave feminists fought to reclaim the term woman, which was seen by many to be too coarse, and was replaced by the term lady, felt to be more polite (also see Mills 1995: 84-85). However, as Cameron argues, “‘[l]ady’ is a euphemism, a 200 Ann Coady <?page no="201"?> 6 The bill would allow the prime minister the power to appoint a replacement to cover a minister on maternity leave without exceeding the legal limits on the number of ministers. veil drawn over the grossness of female physicality, sexuality and reproduction” (Cameron 2015a). Once again, woman seems to have become an offensive word, albeit for different reasons. Cameron also highlights the asymmetry involved in the use of the terms men and women in these current practices. She notes that the term men is not avoided to the same extent as women: […] we are seldom if ever exhorted to replace ‘man’ with terms like ‘mxn’, ‘ejaculator’ and ‘everyone who has a penis’. That’s another reason why some feminists resist analogous W-word substitutes like ‘womxn’ and ‘menstruator’. Whatever else it may be, a gender revolution that does not challenge the default status of men is not a feminist revolution. (Cameron 2019) The current Conservative government in the UK has also been involved in the debate. In 2021, the House of Lords rejected the Ministerial and other Maternity Allowances Bill  6 because of the gender-neutral language used in it (in this case pregnant people). Conservative peer Baroness Noakes said the phrasing contributed to “the erasure of women in society” (Hansard 2021). The House of Commons agreed to remove pregnant people and replace it with mothers and the bill was passed. The controversy around the word woman is complicated further in that although it is claimed by trans women, not all cis women accept sharing this label unconditionally with them. For instance, author and feminist Chimamanda Ngozi Adichie sparked outrage in 2017, when she was asked in an interview on Britain’s Channel 4 whether trans women were real women. Adichie replied by saying “my feeling is trans women are trans women […] I don’t think it’s a good thing to talk about women’s issues being exactly the same as the issues of trans women” (Channel 4 2017). Although Adichie did accept the label women for trans women, she did not do so unconditionally. The debate around the term woman crystallises the major point of tension in gender-inclusive language practices at the moment between some feminist groups and some trans and non-binary groups, as well as the ongoing struggle over the definition of words. For some, woman refers to an innate identity (if you identify as a woman, you are a woman), for others it cannot be disassociated from the biological characteristics associated with human females (having XX chromosomes, breasts, ovaries, a uterus, etc). Cameron (2019) describes an incident in 2018 in which Gender-inclusive language debates in the UK 201 <?page no="202"?> activists campaigning against a proposed change in the law (if enacted it will allow individuals to be legally recognized as men or women on the basis of self-identification) sponsored a billboard displaying a dictionary definition of the W-word: ‘Woman. Noun. Adult female human’. This was immediately reported as transphobic hate speech; the company that owned the billboard took it down, and the message was subsequently removed or pre-emptively banned from several other sites. While the campaigners’ response (‘how can it be offensive to quote the dictionary? ’) was disingenuous - they must have known that what offended their critics was not the quotation but the political statement they were using it to make - to many onlookers it did seem extraordinary that feminists could be threatened with prosecution for expressing the belief that only female humans can be women (Cameron 2019). At this juncture, I would like to go back to the concept of notional gender that I discussed at the beginning of this article to help explain these current disagreements. If notional gender is an approach in which “concepts and ideas about biological sex matter at least as much as sex itself ” (McConnell-Ginet 2014: 3), it is easier to explain these disagreements. Some people understand gender as an innate identity and perceived biological differences as being secondary to gender identity. For them, there is therefore nothing illogical in using woman to refer to somebody assigned male at birth. If, on the other hand, gender is understood as being a system of oppression that should be eradicated and perceived biological differences as being intrinsically linked to that oppression, referring to somebody assigned male at birth as a woman will be jarring. This demonstrates that the concepts and ideas we have about what biological sex is, about its social relevance, and about what gender is, determine the definition we give words like woman. A related theory to the idea of notional gender is semantic prototype theory, which is a useful tool in explaining how words are defined. Traditional semantic theories have relied on binary feature analysis such as woman = [+HUMAN] [+ADULT] [−MALE]), which, as Curzan notes, has often “been sexist in the assumption of the masculine or male as the unmarked semantic feature” (Curzan 2003: 136). On the other hand, in prototype theory, categories such as woman have prototypical members or “best examples” at the centre, with other more peripheral members radiating outwards (Lakoff 1987). Thus, a prototypical woman will have XX chromosomes, breasts, ovaries, and a uterus; a less prototypical woman might have XX chromosomes, but small breasts, and no ovaries or uterus; and an even less prototypical woman might have XY chromosomes and a penis (see also Fox 2011). For some speakers, trans women are women, even if they may not be prototypical examples. But for others they are too far from the prototypical members to be part of the category. 202 Ann Coady <?page no="203"?> 7 In a similar vein, this term was used by Rishi Sunak (UK Prime Minister 2022-2024) to describe the use of pregnant people instead of pregnant women (Guardian 2022). 8 The term “culture wars” was popularised by sociologist James Davison Hunter, with the publication of his book Culture Wars: The Struggle to Define America (1991). The term is used today in anglophone countries to refer to disagreements about cultural and social values such as one’s stance on abortion, or LGBTQI+ rights. 6.3 Non-binary pronouns and the pronoun round Another controversial development focuses on pronouns, in particular singular they (or gender-neutral neopronouns like ze) for a non-binary referent, and pronoun sharing practices such as adding pronouns on your email signature. As previously discussed, singular they for generic reference (someone called but they didn’t leave a message) has been accepted more and more over the past few decades (Paterson 2014: 51). Paterson remarks that in some style guides, singular they as a non-binary pronoun (Max called but they didn’t leave a message) is actually more accepted than as a generic pronoun: “Noll, Lowry, and Bryant (2018: 1059) note that the Chicago Manual of Style now endorses singular they ‘when referring specifically to a person who does not identify with a gender-specific pronoun’ but is less enthusiastic for singular they for ‘referring to a person of unspecified gender’” (Paterson 2020). Along with the traditional criticisms of singular they as too informal or as syntactically plural, the use of they as a singular non-binary pronoun adds another layer of complexity to the situation: Merriam-Webster’s choice of non-binary singular they as word of the year in 2019 was hailed by some as a step forward for the inclusion of non-binary people, and by others as “woke nonsense”. 7 The backlash has come as non-binary singular they has become associated with new pronoun sharing practices, such as adding pronouns on your email signature, wearing a pronoun badge, or introducing yourself with your pro‐ nouns (e.g., “Hi, my name is Max and my pronouns are they/ them”). These practices have become part of the larger “culture wars” 8 in the UK and many other English-speaking countries. Pronoun sharing practices are much more than a way to tell people how you would like to be referred to: research has shown that these practices reliably indicate wider political allegiances. Tucker and Jones (2023) found that people indicating their pronouns on Twitter (now called X) tended to be on the political left, suggesting that this practice has become a kind of code for liberal/ left-wing in the English-speaking world. King and Crowley (2024: 82) point to this politicisation of pronouns as an example of what can go wrong: Gender-inclusive language debates in the UK 203 <?page no="204"?> 9 MAGA is an acronym for Donald Trump’s 2016 and 2024 presidential campaigns slogan Make America Great Again. Online discourses about pronouns have led to a creation of a specific characterological figure of a “woke liberal” who displays “pronouns”, while other “regular” people do not do so” and cite examples of mockery such as “My preferred pronouns are MAGA. 9 Although these practices of disclosing one’s pronouns originated in trans and non-binary communities as a way to inform others about how to refer to them appropriately, they quickly spread to the mainstream. Many cis people use these practices as a way to show their allegiance with trans and non-binary people. On the other hand, when these practices have been taken up by companies and high-profile politicians, many have questioned whether it is an example of real allyship or simply “virtue-signalling”, a performance of transgender inclusion that does little to advance transgender rights (Manion 2018). Whatever the reason that speakers have for disclosing their pronouns, whether it is for trans and non-binary people to tell others how they would like to be referred to, whether it is true allyship on the part of cis people, or simple virtue-signalling or because of peer pressure, it has drawn attention to the role of language in political struggles. 7 Conclusion Gender-inclusive language practices have come a long way over the past 60 years in the UK. This is in great part thanks to the relative simplicity of English, compared to other Indo-European languages with much more complex systems of linguistic gender. However, as discussed at the beginning of the article, gender in English is not as simple as it seems at first glance. Since the 1960s, practices have evolved and expanded from those aiming at linguistic equality between men and women (e.g., he or she), and at neutralising gender (e.g., police officer, fire fighter), and depending on the context, at explicitly making women visible (e.g., generic she, woman architect), to more recent practices aimed at the inclusion of trans and non-binary people (e.g., pregnant people). Strategies aiming at linguistic equality between men and women have been largely accepted and are no longer deemed controversial. Generic singular they has become the epicene pronoun of choice, replacing generic he and terms like mankind are now facing strong competition from inclusive terms such as humankind. Even if Miss and Mrs are still used more frequently than Ms, Ms is a widely available and fairly unremarkable choice of title today. Words with 204 Ann Coady <?page no="205"?> feminine suffixes like actress are on a downward slope, although as we saw with the Lionesses, depending on the context, they can be reclaimed as a source of pride for women’s achievements. The voices of trans and non-binary people have been added to the debate and have significantly changed the shape and direction of gender-inclusive language practices since the early 2000s. Current language controversies in the UK focus on practices aimed at including trans and non-binary people rather than linguistic equality between women and men. These practices are controversial today for two main reasons: in some contexts, they are perceived as being in conflict with the interests of cis people, but more precisely cis women. Feminists fought hard to be made visible in language and many see terms such as pregnant people and everyone with a uterus as once again making them invisible and turning woman into an offensive word. The second reason is that, like in many other countries at the moment, disagreements about gender-inclusive language and, in particular, language that seeks to destabilise binary notions of gender, have become embroiled in wider societal debates about wokeism. This has resulted in many language practices being categorically rejected as woke, without any real debate. Debates around gender-inclusive language have never simply been a struggle over the meaning of words. They have always been part of a much wider debate about power and equality and have always included conflicting ideas about what gender is and about the relevance of biological factors to gender. They have always been, deep down, a struggle to shape language in order to shape society. Bibliography Baker, Paul (2010): Will Ms Ever Be as Frequent as Mr? : A Corpus-Based Comparison of Gendered Terms across Four Diachronic Corpora of British English. Gender and Language 4 (1), 125-149. —-(2014): Using Corpora to Analyze Gender. London: Bloomsbury Academic. Baron, Dennis (2010): What’s in a Name? For ‘Ms.’, a Long History. Ms Magazine (blog), 27.08.2010. http: / / msmagazine.com/ blog/ 2010/ 08/ 27/ whats-in-a-name-for-ms-a-long -history/ (28.11.2023). —-(2020): What’s Your Pronoun? Beyond He & She. New York: Liveright Publi‐ shing Corporation.BBC (2014): Who, What, Why: How Did It Come to Be Sir and Miss? 14.05.2014. https: / / www.bbc.com/ news/ blogs-magazine-monitor-27407789 (28.11.2023). Gender-inclusive language debates in the UK 205 <?page no="206"?> Cameron, Deborah (2015a): Call Me Woman. Language: A Feminist Guide (blog). 16.05.2015. https: / / debuk.wordpress.com/ 2015/ 05/ 16/ call-me-woman/ (28.11.2023). —-(2015b): Ette-Ymology. Language: A Feminist Guide (blog). 16.08. 2015. https: / / debuk. wordpress.com/ 2015/ 08/ 16/ ette-ymology/ (28.11.2023). —-(2016a): The Pronominal Is Political. Language: A Feminist Guide (blog). https: / / debu k.wordpress.com/ 2016/ 05/ 16/ the-pronominal-is-political (28.11.2023). —-(2016b): To Gender or Not to Gender? (Thoughts Prompted by the Death of Zaha Hadid). Language: A Feminist Guide (blog). 4 March 2016. https: / / debuk.wordpress .com/ 2016/ 04/ 03/ to-gender-or-not-to-gender-thoughts-prompted-by-the-death-of-za ha-hadid (28.11.2023). —-(2019): The Year of the War of the W-Word. Language: A Feminist Guide (blog). 03.01.2019. https: / / debuk.wordpress.com/ 2019/ 01/ 03/ 2018-the-year-of-the-war-of-th e-w-word (28.11.2023). —-(2021a): Hit or Miss. Language: A Feminist Guide (blog). 17 May 2021. https: / / debuk. wordpress.com/ 2021/ 05/ 17/ hit-or-miss (28.11.2023). — (2021b): Unspeakable. Language: A Feminist Guide (blog). 05.10.2021. https: / / debuk.w ordpress.com/ tag/ women (28.11.2023). Channel 4 (2017): Chimamanda Ngozi Adichie Interview. https: / / youtu.be/ KP1C7VXUf ZQ? si=0js6dhKwogNUkfkX (28.11.2023). Chetcuti, Natacha/ Greco, Luca (2012): La face cachée du genre. Langage et pouvoir des normes. Paris: Presses Sorbonne Nouvelle. Crawford, Mary/ Stark, Amy C./ Renner, Catherine H. (1998): The Meaning of Ms: Social Assimilation of a Gender Concept. Psychology of Women Quarterly 22 (2), 197-208. Curzan, Anne (2003): Gender Shifts in the History of English. Cambridge: Cambridge University Press. —-(2014): Fixing English: Prescriptivism and Language History. Cambridge: Cambridge University Press. Earp, Brian D. (2012): The Extinction of Masculine Generics. Journal for Communication and Culture 2 (1), 4-19.Erickson, Amy Louise (2014): Mistresses and Marriage: Or, a Short History of the Mrs. History Workshop Journal 78 (1), 39-57. Fairclough, Norman (2001): Language and Power. 2 nd ed. London: Longman. Fox, Melodie J. (2011): Prototype Theory: An Alternative Concept Theory for Categori‐ zing Sex and Gender? In: Smiraglia Richard P. (ed). Proceedings from North American Symposium on Knowledge Organization. Toronto, 151-159.Fuertes-Olivera, Pedro A. (2007): A Corpus-Based View of Lexical Gender in Written Business English. English for Specific Purposes 26 (2), 219-234. Grove, Kenna (2021): ‘Where Is They? ’: The Globalization of English and Gender-Inclu‐ sive Language. The English Languages: History, Diaspora, Culture 7, 10-21. 206 Ann Coady <?page no="207"?> Guardian (2020): Cate Blanchett Says She Would Rather Be Called an Actor than an Actress, 03.09.2020. https: / / www.theguardian.com/ film/ 2020/ sep/ 03/ cate-blanchett-s ays-she-would-rather-be-called-an-actor-than-an-actress (28.11.2023). — (2022): Rishi Sunak Seeks to Revive Faltering No 10 Bid by Attacking ‘Woke Nonsense’, 29.07.2022. https: / / www.theguardian.com/ politics/ 2022/ jul/ 29/ rishi-sunak-liz-truss-c ulture-war-woke-nonsense (28.11.2023). Hansard (2021): Ministerial and Other Maternity Allowances Bill. https: / / hansard.parlia ment.uk/ lords/ 2021-02-22/ debates/ EF8A7974-0A9C-4F17-B9DC-B7D26E52D52F/ Min isterialAndOtherMaternityAllowancesBill (28.11.2023). King, Brian/ Crowley, Archie (2024): The Future of Pronouns in the Online/ Offline Nexus. In: Paterson, Laura Louise (eds.): The Routledge Handbook of Pronouns. London: Routledge,-74-85. Lakoff, George (1987): Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal about the Mind. Chicago/ London: The University of Chicago Press. Lakoff, George/ Johnson, Mark (1980): Metaphors We Live By. Chicago: University of Chicago Press. ‘Language, Gender and Sport’. n.d. Part of the Cambridge Papers in ELT Series. Cambridge: Cambridge University Press. https: / / www.cambridge.org/ elt/ blog/ wp-c ontent/ uploads/ 2016/ 08/ Cambridge_Papers_in_ELT_Language_Gender_and_Sport.p df (28.11.2023). Liddicoat, Anthony J/ Baldauf Jr., Richard B. (2008): Language Planning in Local Contexts: Agents, Contexts and Interactions. In: Liddicoat, Anthony J./ Baldauf, Richard B. Jr. (eds.): Language Planning in Local Contexts. Clevedon: Multilingual Matters, 3-17. Manion, Jen (2018): The Performance of Transgender Inclusion: The Pronoun Go-Round and the New Gender Binary. Public Seminar. https: / / publicseminar.org/ essays/ the-pe rformance-of-transgender-inclusion (28.11.2023). McConnell-Ginet, Sally (2014): Gender and Its Relation to Sex: The Myth of ‘natural’ Gender. In: Greville G. Corbett (ed): The Expression of Gender. Berlin: De Gruyter, 3-38. Mills, Sara (1995): Feminist Stylistics. London: Routledge. —-(2003): Caught Between Sexism, Anti-Sexism and Political Correctness: Feminist Women’s Negotiations with Naming Practices. Discourse & Society 14 (1), 87-110. Mills, Sara/ Mullany, Louise (2011): Language, Gender and Feminism: Theory, Methodo‐ logy and Practice. Oxford, London: Routledge. Nevalainen, Terttu/ Raumolin-Brunberg, Helena (1994): It’s Strength and the Beauty of It: The Standardization of the Third Person Neuter Possessive in Early Modern English. In: Stein, Dieter/ Tieken-Boon van Ostade, Ingrid (eds.): Towards a Standard English, 1600-1800. Berlin/ New York: Mouton de Gruyter, 171-216. Gender-inclusive language debates in the UK 207 <?page no="208"?> Noll, Jane/ Lowry, Mark/ Bryant, Judith (2018): Changes over Time in the Comprehension of He and They as Epicene Pronouns. Journal of Psycholinguistic Research 47, 1057- 1068. Paterson, Laura Louise (2011): The Use and Prescription of Epicene Pronouns: A Corpus-Based Approach to Generic He and Singular They in British English. UK: Loughborough University. —-(2014): British Pronoun Use, Prescription, and Processing: Linguistic and Social Influences Affecting ‘They’ and ‘He’. New York: Palgrave Macmillan. — (2020): Non-Sexist Language Policy and the Rise (and Fall? ) of Combined Pronouns in British and American Written English. Journal of English Linguistics 48 (3), 258-281. Pauwels, Anne (1998): Women Changing Language. London, New York: Longman. —-(2011): Planning for a Global Lingua Franca: Challenges for Feminist Language Planning in English(Es) around the World. Current Issues in Language Planning 12 (1), 9-19. Schwarz, Juliane (2006): “Non-Sexist Language” at the Beginning of the 21 st Century: Interpretative Repertoires and Evaluation in the Metalinguistic Accounts of Focus Group Participants Representing Differences in Age and Academic Discipline. PhD thesis, Lancaster University.Sigley, Robert/ Holmes, Janet (2002): Looking at ‘Girls’ in Corpora of English. Journal of English Linguistics 30 (2), 138-157. Tucker, Liam/ Jones, Jason (2023): Pronoun Lists in Profile Bios Display Increased Preva‐ lence, Systematic Co-Presence With Other Keywords and Network Tie Clustering Among US Twitter Users 2015-2022. Journal of Quantitative Description: Digital Media 1, 1-35. Zimman, Lal (2017): Transgender Language Reform: Some Challenges and Strategies for Promoting Tran-Affirming, Gender-Inclusive Language. Journal of Language and Discrimination 1 (1), 84-105. Zimmer, Ben (2022): Lioness: A Feminine Suffix Comes Roaring Back. Wall Street Journal, 04.08.2022. https: / / www.wsj.com/ articles/ lioness-a-feminine-suffix-comes-roaring-b ack-11659650032 (28.11.2023). 208 Ann Coady <?page no="209"?> 1 Aus dem Niederländischen übersetzt von Roland Duhamel. | „M/ v/ x“ ist das niederländische Äquivalent von dt. „m/ w/ d“; es wird einer Personenbezeichnung hinzugefügt, um anzugeben, dass Personen aller Geschlechter angesprochen sind. Gendern im Niederländischen: „m/ v/ x“ 1 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra Zusammenfassung: Die Genderfrage ist in den Niederlanden in sprach‐ licher und gesellschaftlicher Hinsicht von großer Relevanz. Dieser Bei‐ trag behandelt zum einen grammatische und lexikalische Aspekte des Genderns, zum anderen die aktuelle gesellschaftliche Debatte über einen gendergerechten Sprachgebrauch. Zunächst wird ein Überblick über die Entwicklung der Genusmarkierung im Niederländischen gegeben, gefolgt von einer Darstellung der pronominalen Genderreferenz und der Gender‐ markierung bei Berufs-, Rollen- und Funktionsbezeichnungen. Nach einer Darstellung der Debatte über Genderneutralisierung und Genderdifferen‐ zierung in den 1970er Jahren wird auf die gegenwärtige Diskussion eingegangen, in der fortschrittliche Kräfte für eine sprachliche Inklusion eintreten, die über die binäre Norm hinaus auch andere geschlechtliche Orientierungen einschließt und u. a. für die Einführung nichtbinärer Pronomina plädiert. Schlüsselbegriffe: Niederländisch, grammatisches Genus, genusneutrale Pronomina, Sprachwandel, Gesellschaft 1 Einleitung Verändert sich die Gesellschaft, ändert sich auch die Sprache. Ein großer Wandel in der niederländischen Gesellschaft betrifft gegenwärtig die Geschlech‐ terrollen: Immer mehr Frauen fordern Gleichberechtigung. Darüber hinaus wird in den letzten Jahren zunehmend die Binarität der Geschlechter in Frage gestellt: Die statische Gegenüberstellung von Mann und Frau wird zunehmend als inadäquat und irrelevant angesehen. Die sprachlichen Auswirkungen dieser <?page no="210"?> 2 Ausführlicher hierzu siehe Abschnitt 3.2. 3 „Geschlecht“ steht hier für das biologische Geschlecht (samt den dazugehörigen anatomischen Merkmalen), während „Gender“ die soziokulturellen Implikationen der Begriffe „Mann“ und „Frau“ meint. Die sprachwissenschaftlichen Termini „grammati‐ sches Geschlecht“ bzw. Genus bezeichnen eine grammatische Kategorie von Nomina. Veränderungen sind zum einen die Neutralisierung der expliziten Geschlechts‐ kennzeichnung - etwa bei den Niederländischen Eisenbahnen, deren Ansagen seit 2017 mit „beste reizigers“ (‚Sehr geehrte Fahrgäste/ Reisende‘) statt mit „dames en heren“ beginnen 2 - und zum anderen die verstärkt erhobene Forde‐ rung nach neuen Pronomina, um unterschiedlichen Genderidentitäten gerecht zu werden. Wer sich für sprachliche Neuerungen einsetzt, strebt also zugleich nach Neutralisierung (Gender spielt keine Rolle) und Konkretisierung (Recht auf Identität). Wie alle (Sprach-)Änderungen stößt diese Entwicklung auf Widerstand. „Woke“-Anhänger (stark abwertende Bezeichnung für linke, vermeintlich po‐ litisch überkorrekte Millennials) und Boomer (gleichermaßen abwertender Ausdruck für ältere Generationen, die das alles für Unsinn halten) stehen einander in der - äußerst lebhaft geführten - Debatte gegenüber. Die eine Seite argumentiert, soziale Ungleichheit, etwa zwischen den Geschlechtern, sei in der Alltagssprache verankert; indem die Sprache verändert und geschlechterge‐ rechter gestaltet werde, ließe sich zugleich Einfluss auf die Gesellschaft nehmen. Vertreter der anderen Seite wenden sich gegen diese Auffassung; sie berufen sich gern auf ihre Meinungsfreiheit, halten die eigene Ausdrucksweise keineswegs für repressiv und lehnen es ab, ihren Sprachgebrauch einer ihrer Ansicht nach quengelnden Minderheit unterzuordnen. In diesem Beitrag erörtern wir zunächst die Art und Weise, wie Geschlecht und Gender 3 in Genusmarkierungen, Personalpronomina und Personenbezeich‐ nungen im Niederländischen zum Ausdruck kommen (Abschnitt 2). Anschlie‐ ßend geht es um die gesellschaftliche Debatte über Sprache und Gender von den 1960er Jahren bis heute: Wie dachten und denken verschiedene gesellschaft‐ liche Gruppen darüber (Abschnitt 3)? Sodann wird der Stand der Dinge bei der Implementierung von Genderneutralisierung und -differenzierung in der Sprachpolitik, der Behördenkommunikation und der Gesellschaft allgemein be‐ handelt (Abschnitt 4). Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit (Abschnitt 5). 210 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="211"?> 2 Gendermarkierung im Niederländischen 2.1 Grammatisches Geschlecht Bis weit in das Mittelalter hinein kannte das Niederländische für „zelfstandige naamwoorden“ (‚selbständige Nennwörter‘; Substantive) noch drei Genera: Maskulinum, Femininum und Neutrum (Audring 2009: 33). Die Markierung des grammatischen Geschlechts erfolgte an dem selbständigen Nennwort, dem „lidwoord“ (Artikel) und ggf. dem „bijvoeglijk naamwoord“ (‚unselbständigen Nennwort‘; Adjektiv). Die nachstehende Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Deklinationsformen, die im Mittelniederländischen (12.-15. Jh.) noch in Gebrauch waren. Kasus Genus Bestimmter Artikel ‘de’ Adjektiv ‘goed’ Substantiv (starke Dekli‐ nation) Substantiv (schwache Deklination) Nominativ M FN die die dat goede goede goede gast daet hof mensche siele herte Genitiv M FN dies/ des dier/ der dies/ des goets/ goeden goeder goets/ goeden gast(e)s daet/ dade hoves menschen siele(n) herten Dativ MFN dien/ den dier/ der dien/ den goeden goeder goeden gaste daden hove mensche siele(n) herte Akkusativ M FN dien/ den die dat goeden goede goede gast dade hof mensche siele herte Tab. 1: Deklination der Substantive und Adjektive im Mittelniederländischen (nach Mooijaart/ van der Wal 2008: 40) Zu bemerken ist hier, dass damals von einer einheitlichen Nationalsprache noch keine Rede sein konnte: Sowohl in der Schriftsprache als auch in der gesprochenen Sprache bestanden große regionalsprachliche und dialektale Un‐ terschiede. Zudem war die grammatikographische Tradition jahrhundertelang stark präskriptiv orientiert, weshalb viele Grammatiker bei ihrer Beschreibung des niederländischen Genussystems nicht darauf abzielten, den tatsächlichen Sprachgebrauch getreu wiederzugeben. Es ging ihnen vielmehr darum, die niederländische Sprache präskriptiv als einheitliches System darzustellen und es auf diese Weise dem prestigeträchtigeren Lateinischen anzugleichen. Die Frage, Gendern im Niederländischen 211 <?page no="212"?> 4 „Moreover, most of the case and gender markers on the noun, the determiner and the adjective contained or consisted entirely of / n/ or / ə/ , two sounds that were very vulnerable for apocope.“ (Audring 2014: 36-37). 5 Innerhalb der Sprachgemeinschaft kann die Zuweisung des Genus (m/ w) bei dieser Gruppe von Nomina variieren (Haeseryn et al. 1997). wie die niederländische Alltagssprache im Zeitraum 15.-19. Jh. tatsächlich aussah, ist demnach nicht mehr vollständig zu klären (Audring 2009: 33-34). Mit der Zeit wurde es zunehmend schwieriger, zu erkennen, welches Ge‐ schlecht einem bestimmten Substantiv zukommt. Das lag zum einen daran, dass nicht jeder Kombination von Genus und Kasus eine eigene Ausdrucksform entsprach; so war die Form des Artikels für Maskulina und Feminina im Nominativ identisch (die), und die Adjektivendung war für alle drei Geschlechter dieselbe (-e). Wie Audring (2014: 13-16) ausgeführt hat, erschwert das Fehlen eindeutiger Genusmarkierungen den Erwerb des Niederländischen in diesem Bereich, was letztlich dazu führen kann, dass diese Markierungen ganz ver‐ schwinden. Dazu kommt noch, dass die ‚meisten Kasus- und Genusmarkie‐ rungen für das Substantiv, den Artikel und das Adjektiv die besonders häufig apokopierten Laute / n/ oder / ə/ enthielten bzw. nur aus diesen bestanden‘. 4 Dieser Reduktionsprozess führte seinerseits zu einem weiteren Rückgang der Genusmarkierungen, der den Spracherwerb noch zusätzlich erschwerte. Letztendlich verschwand die Differenzierung zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht dann auch vollständig aus der Sprache: Nach dem Erscheinen der amtlichen Rechtschreiblehre, des sog. „Groene Boekje“, im Jahre 1954 galt die Markierung -n, mit der bislang zwischen der weiblichen und der männlichen Form des Substantivs im Akkusativ (den goeden gast) unterschieden worden war, nur noch als optional, und das bedeutete das Ende der Genusdifferenzierung (van der Sijs 2004: 445). Maskulines und feminines Genus gingen in einer Genuskategorie auf, ‚zijdig‘ (Utrum) oder auch ‚commuun‘ (Commune) genannt. Das dritte Genus, ‚onzijdig‘ (Neutrum), blieb dagegen erhalten, vermutlich aufgrund des differenzierenden hörbaren t im Auslaut des Artikels. Im gegenwärtigen Niederländischen sind Substantive demnach entweder Utrum (mit dem Artikel de) oder Neutrum (mit dem Artikel het). In den Dialekten, die in Nordbrabant und Flandern gesprochen werden, wird bei Nomina wohl noch zwischen Maskulina und Feminina unterschieden, doch ist in dieser Hinsicht auch dort eine rückläufige Entwicklung zu beobachten. 5 Ein Gespür für diese in der älteren Sprache übliche Differenzierung von männlichen und weiblichen Wörtern haben Sprecher des Standardniederländischen heute nicht mehr (Haeseryn et al. 1997). 212 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="213"?> In der Regel lässt sich das grammatische Geschlecht der Substantive nicht aus der Form ableiten, abgesehen von einigen Ausnahmen: Diminutiva sind stets Neutra (het meisje ‚das Mädchen‘), Wörter auf -de gehören immer der ersten Gruppe an (de liefde ‚die Liebe‘). Es gibt demnach keine Eins-zu-Eins-Ent‐ sprechung von grammatischem und biologischem Geschlecht, wie etwa das Neutrum meisje (‚Mädchen‘) zeigt, auf das gemeinhin mit weiblichen Pronomina referiert wird. In der Praxis ist, jedenfalls bei pronominaler Referenz, das biolo‐ gische Geschlecht von Lebewesen maßgeblich gegenüber dem grammatischen Geschlecht des Bezugsworts. Die Rolle des grammatischen Geschlechts wurde in der Diskussion um das Verhältnis von Sprache und unserer Wahrnehmung der Welt bereits eingehend untersucht. So wiesen Boroditsky et al. (2003) in ihrer viel diskutierten Studie nach, dass Spanisch- und Deutschsprachige den Referenten auf Grund des jeweiligen Genus bestimmte Genderstereotype zuschreiben. Deutschsprachige assoziierten etwa „Brücke“ mit Adjektiven, die auf typisch weibliche Eigen‐ schaften wie „elegant“ referieren, während Hispanophone für das in ihrer Sprache männliche Wort stereotypisch männliche Attribute wie „robust/ solide“ und „stark“ anführten. Derartige Studien sind auf Kritik gestoßen, und ihre Ergebnisse sind inzwischen von anderen Forschern relativiert worden (Samuel, Cole/ Eacott 2019). Einen gewissen Zusammenhang zwischen grammatischem Geschlecht und Gender scheint es gleichwohl zu geben. 2.2 Pronomina Auf Unbelebtes wird in der Regel verwiesen, indem das Nominalgenus heran‐ gezogen wird: weibliche oder männliche Pronomina für die erste Gruppe bzw. het, hem und zijn für Neutra; so steht es wenigstens in den Schulbüchern. Im alltäglichen Sprachgebrauch wirft die pronominale Referenz bei Wörtern, die der Genuskategorie Utrum zugeordnet sind, allerdings Probleme auf, weil Muttersprachler kein Gefühl mehr dafür haben, ob ein Substantiv männlich oder weiblich ist (siehe 2.1). Bei Verweisen auf Menschen oder Tiere erfolgt die Zuordnung dann nach dem biologischen Geschlecht. Außer dem Genus spielt auch Individuierung eine Rolle: Für zählbare Objekte werden häufig männliche Pronomina verwendet, bei Stoffnamen eher „het“ (Audring 2009: 123-129). Bei Verweisen auf Lebewesen, vor allem Menschen, wird, wie gesagt, nach dem biologischen Geschlecht differenziert: in der 3. Person Singular hij für einen Mann bzw. zij für eine Frau. Die maskulinen Pronomina hij, hem und zijn referieren nicht nur auf eine bestimmte männliche Person, sondern verweisen Gendern im Niederländischen 213 <?page no="214"?> 6 „Zo maak je na toiletten ook taal genderneutraal“ (‚Nach den Toiletten wird jetzt auch die Sprache genderneutral gestaltet‘), Transgender Netwerk Nederland, 10.06.2016, https: / / www.transgendernetwerk.nl/ non-binair-voornaamwoord-uitslag/ . auch generisch, allgemein, auf eine Person, deren biologisches Geschlecht nicht bekannt oder im Kontext irrelevant ist. So betrifft die Aussage De student dient de opdracht tijdig in te leveren als hij wil afstuderen (‚Der Student, der sein Studium abschließen möchte, hat die Aufgabe fristgemäß einzureichen‘) alle Studenten, unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht. Dieser Gebrauch des ‚generischen‘ hij ist für Niederländischsprachige offenbar unproblematisch, wie auch in verschiedenen Sprachratgebern dokumentiert ist (vgl. etwa Taalunie 2022a). Redl (2021) konnte indessen nachweisen, dass generisch gebrauchte maskuline Pronomina namentlich von Männern vornehmlich als auf Männer bezogen interpretiert werden. Für ihre Studie wurden Muttersprachlern Aus‐ sagen mit generischem hij vorgelegt, von denen einige auf einen Mann, andere auf eine Frau referierten. Für Verweise auf eine Frau benötigten die Probanden eine deutlich längere Verarbeitungszeit; das deutet darauf hin, dass sie ihre erste Interpretation revidieren mussten: Offenbar wird das generische hij doch weniger eindeutig genderneutral interpretiert als zuvor angenommen. Das Fehlen genderübergreifender Pronomina ist auch in anderer Hinsicht problematisch. Neuerdings wird die Forderung nach einem besonderen Pro‐ nomen für die 3. Person Singular erhoben, um auf nonbinäre Menschen zu ver‐ weisen, d. h. Personen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren. Das Transgender Netwerk Nederland (TNN) organisierte 2016 eine Abstimmung über den Gebrauch genderneutraler Pronomina; die Mehrheit der rund 500 Befragten entschied sich für hen als Personalbzw. hun als das entsprechende Possessivpronomen: Sascha stapt op hun fiets. Hen wil naar de stad fietsen (‚Sascha steigt aufs Fahrrad. [‚genderneutrales Pronomen‘] will mit dem Rad in die Stadt fahren‘). TNN propagiert den Gebrauch von hen und hun für nonbinäre Menschen, nicht dagegen für Transgender-Personen, die sich als Mann oder Frau verstehen. 6 Als genderneutraler Verweis könnte hen im Prinzip auch das generische hij ersetzen, doch diese Möglichkeit wurde vom TNN nicht in Betracht gezogen, weil das nicht seinem Anliegen entsprach. So wird hen als Subjektpronomen de facto ausschließlich bei der Referenz auf nonbinäre Personen verwendet (Coornstra 2023). Gegen den Gebrauch von hen und hun beim Verweis auf nonbinäre Personen wird vielfach eingewendet, diese Formen würden schon seit langem als Per‐ sonal- und Possessivpronomina der 3. Person Plural gebraucht; mit hen nun auch auf eine einzelne Person zu verweisen, sei verwirrend und daher abzulehnen. 214 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="215"?> 7 Siehe auch Ängsal in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). 8 Ein früher Beleg für diese generische Dimension von „they“ ist schon bei Geoffrey Chaucer („The Canterbury Tales“, 1395) zu finden. 9 Siehe Gardelle in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Dass die Entscheidung dennoch zugunsten von hen ausfiel, ist möglicher‐ weise der Analogie mit dem schwedischen hen zuzuschreiben, das als genderneutrale Alternative für hon (sie) und han (er) fungiert (Renström/ Lindqvist/ Gustafsson/ Sendén 2018). 7 Zudem erinnert hen an die Entwicklung des englischen they, das ursprünglich ebenfalls ein Pronomen für die 3. Person Plural war und heute auch als nonbinäres Pronomen zur Bezeichnung einer einzelnen Person verwendet wird. Allerdings ist they seit jeher ein Subjektpronomen, während das niederländische hen als Objektpronomen fungiert; auf Grund der Homonymie mit der weiblichen Singularform ist zij, die wörtliche Entsprechung von they im Niederländischen, als genderneutrale Verweisform ungeeignet. Ein weiterer Unterschied zwischen they und hen besteht darin, dass they im Englischen schon seit Jahrhunderten als geschlechtsneutrales Pronomen für einzelne Personen 8 verwendet wird. 9 Auch das entsprechende Possessivpro‐ nomen kann heute generisch gebraucht werden: In dem Satz It’s painful for any parent to watch their child mess up verweist their auf einen Elternteil, unabhängig von dessen biologischem Geschlecht (Redl 2021: 15). Dass Anglophone mit dem geschlechtsneutralen Gebrauch von Pronomina bereits seit Langem vertraut waren, hat die Verwendung von they als Verweisform für nonbinäre Menschen vermutlich gefördert. Während sich das nonbinäre they im generischen Sinne inzwischen im Englischen durchgesetzt hat, wird sein niederländisches Pendant hen in der Praxis eher selten verwendet, da viele Muttersprachler es als ungrammatisch und unnatürlich empfinden, damit auf eine Person zu referieren. Dennoch bleibt dieses Pronomen die gängigste Variante für den Verweis auf eine nonbinäre Person, obwohl es durchaus andere Möglichkeiten gibt, so die (auch von TNN erwähnte) Verwendung des Demonstrativpronomens die als Subjekt: Daar loopt die (‚Da läuft die‘). Denkbar wären weiter diegene und degene, mit dem entsprechenden Possessivpronomen diens: Diegene komt vanavond voor het eerst (‚Diese Person kommt heute Abend zum ersten Mal‘) (Taalunie 2022c). Für diese Alternativformen spricht, dass sie sämtlich bereits generisch verwendet werden und von vielen Sprechern daher im Unterschied zu hen eher als grammatisch korrekte Formen empfunden werden. Als eher akzeptabel gilt auch die Wiederholung des Personennamens anstelle des Pronomens: Sascha stapt op Sascha’s fiets (‚Sascha steigt auf Saschas Fahrrad‘). Gendern im Niederländischen 215 <?page no="216"?> In der queeren Community werden die nonbinären Pronomina hen, hun, die und diens jedenfalls verwendet (Vriesendorp i.Dr.). Die Wahl des Pronomens hängt weitgehend von der Funktion im Satz ab: Die wird als Subjekt-, hen als Objektpronomen vorgezogen, diens und hun fungieren als Possessivpronomina. Es trifft also nicht zu, dass Sprachbenutzer sich entweder für hen in Verbindung mit hun oder für die in Kombination mit diens entscheiden. Weiter ist vorgeschlagen worden, für nonbinäre Personen ganz neue Prono‐ mina, sog. „neopronouns“, etwa hin bzw. xij als Subjektpronomina und z’r als Possessivpronomen, einzuführen (Meulskens 2020; Van Wingerden 2021). Diese Neologismen haben den Vorzug der deutlichen Bezeichnung neuer Phänomene und werden unter Umständen zudem als weniger ‚ungrammatisch‘ empfunden als bestehende Pronomina, denen eine neue Funktion beigelegt wird. Dennoch sind diese Optionen wohl noch zu wenig bekannt, als dass sie sich durchsetzen könnten. 2.3 Rollen, Berufe und Funktionen Im Niederländischen sind Substantive, die auf Rollen (moeder ‚Mutter‘), Berufe (loodgieter ‚Klempner‘) oder Funktionen (voorzitter ‚Vorsitzender‘) verweisen, hinsichtlich des biologischen Geschlechts oft explizit markiert. Das Genus von Personenbezeichnungen wie moeder und vader ist stets eindeutig als weiblich bzw. männlich festgelegt; die eindeutige Markierung kann auch durch Genus‐ wechsel bei der Suffigierung von Basiswörtern erfolgen: prins kann nur auf einen Mann verweisen, prinses nur auf eine Frau. Bei den Personenbezeichnungen lassen sich maskuline bzw. feminine und genderübergreifende Ausdrücke unterscheiden (Taalunie 2022b). Manche Mas‐ kulina wie politieman verweisen ausschließlich auf Männer, andere wie journa‐ list können auf Männer, Frauen oder nonbinäre Personen referieren. Feminine Bezeichnungen wie verpleegster (‚Krankenschwester‘) oder journa‐ liste können grundsätzlich nur auf Frauen verweisen. Ausgenommen sind Bil‐ dungen wie secretaresse (‚Verwaltungsangestellte‘), zu denen es keine maskuline Entsprechung gibt; hier ist eine generische Verwendung zwar möglich, doch für viele Sprachbenutzer nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Geschlechtsübergreifende Nomina sind unmarkiert und gelten damit als ‚genderneutral‘: politiepersoon, toneelspelende, verpleegkundige und leerkracht. Doch selbst geschlechtsübergreifende Personenbezeichnungen sind insofern nicht unbedingt ‚neutral‘ im engeren Sinn, als sie Assoziationen mit einem bestimmten Geschlecht hervorrufen können. Wie Untersuchungen gezeigt haben, wird mit dem vielfach neutral gemeinten Ausdruck leraar häufig 216 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="217"?> 10 Androzentrismus ist übrigens ein Phänomen, das sich nicht nur in der Sprache manifestiert, sondern etwa auch in der Medizin (Merone et al. 2021). ein Mann assoziiert, mit secretaresse hingegen eher eine Frau (Everts et al. 2021). Bei generischen Maskulina und einigen geschlechtsübergreifenden Be‐ zeichnungen überwiegt die Tendenz, sie auf Männer zu beziehen: Wörter wie wetenschapper (‚Wissenschaftler‘), loodgieter (,Klempner‘), arts (‚Arzt‘) und directeur (,Direktor‘) werden oft männlich interpretiert, obwohl jeder weiß, dass sie sich ebenso gut auf weibliche oder nonbinäre Personen beziehen können. Dies hängt auch mit dem Androzentrismus 10 zusammen: Die eigentlich neutrale Bezeichnung mens (‚Mensch‘) wird häufig als männlich interpretiert. Dass dieses Bias nicht ohne Folgen bleibt, hat etwa die Untersuchung von Vervecken et al. (2013) gezeigt: Wird mit einer Stellenanzeige ein loodgieter bzw. loodgieter (m/ v) gesucht, fühlen sich weniger Frauen angesprochen, als wenn es loodgieter/ loodgietster heißt. Und Mädchen, die gefragt wurden, ob sie später directrice werden möchten, beantworteten diese Frage öfter mit „ja“, als wenn sie gefragt wurden, ob sie später directeur werden wollten. Um ein solches Bias zu vermeiden, plädieren manche für die Verwendung spezifisch maskuliner bzw. femininer Formen. Das Niederländische kennt eine Reihe von Morphemen, um Rollen-, Berufs- und Funktionsbezeichnungen als Maskulina (-aar, -er, -is, -man) oder Feminina (-e, -es, -ster, -in, -egge, -vrouw) zu kennzeichnen. Manche davon sind nicht mehr produktiv, und eine genderspezifische Markierung ist nicht bei allen Basiswörtern möglich; so gibt es weder eindeutig männliche bzw. weibliche Formen von minister, deskundige (‚Sachverständige/ r‘) oder consul. Manche Basiswörter können genderspezifisch markiert werden, doch das Ergebnis sind, gerade bei femininen Suffixen, gekünstelt klingende Formen wie ombudsvrouw (‚Ombudsfrau‘) oder burgemeesteres (‚Bürgermeisterin‘). Einige abgeleitete Feminina bezeichnen eine andere Funktion als das Basiswort, vgl. secretaresse (‚Verwaltungsangestellte‘) vs. secretaris (‚Sekretärin‘). Der generische Charakter „fest gegenderter“ Wörter kann in der Schrift‐ sprache durch den Zusatz „m/ v“ („m/ w“) hervorgehoben werden, vermehrt auch mit „m/ v/ x“ bzw. „v/ m/ x“ (um „male firstness“ zu vermeiden), damit auch nonbinäre Personen einbezogen sind (Taalunie 2022a). Im Van Dale, dem bekanntesten Wörterbuch, sind sämtliche Einträge zu Personenbezeichnungen, die als solche nicht auf ein biologisches Geschlecht verweisen, inzwischen mit dem Zusatz ‚m/ v/ x‘ versehen. Damit soll signalisiert werden, dass diese Wörter auf beliebige Personen verweisen können, unabhängig von ihrem biologischen oder sozialen Geschlecht. Zur Begründung dieses Verfahrens heißt Gendern im Niederländischen 217 <?page no="218"?> 11 „De nieuwe Dikke Van Dale wordt genderinclusief “, https: / / www.vandale.nl/ de-nieuw e-dikke-van-dale-wordt-genderinclusief (letzter Aufruf: 08.03.2024). 12 Siehe Günthner und Balnat in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). es im Wörterbuch, es sei dies ‚eine Folge sich verändernder Auffassungen in der Gesellschaft, durch die sich auch der Sprachgebrauch verändert‘. 11 Bei Wörtern, deren Gender explizit gemacht werden kann, werden in der Schriftsprache z. T. auch Klammern verwendet: student(e) referiert auf alle Studierenden. Manche Schreibweisen erweisen sich als recht umständlich, so kunstena(a)r(es) oder gar kunstena(a)r(e)(sse)(n) (etwa ‚Künstler(in)(nen), KünstlerInnen‘). Völlig unge‐ bräuchlich sind im Niederländischen andere Genderzeichen wie das Sternchen im Deutschen (Student*innen) oder im Französischen der Punkt (directeur.rice.s) bzw. Mediopunkt (directeur·rice·s). 12 3 Die gesellschaftliche Debatte 3.1 Die zweite feministische Welle: Genderneutralität vs. Genderinklusivität In den 1960er Jahren wurde die Forderung nach einem genderneutralen Sprach‐ gebrauch vor allem von Seiten der Frauen erhoben. Eine zentrale Rolle hat dabei der Artikel „Het onbehagen bij de vrouw“ (‚Das Unbehagen der Frau‘; 1967) gespielt, in dem Joke Smit die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen thematisiert. Smit begründete 1968 zusammen mit Hedy d’Ancona die feminis‐ tische Bewegung „Man-Vrouw-Maatschappij“ (‚Mann-Frau-Gesellschaft‘), die sich für die Verwendung neutraler Berufsbezeichnungen einsetzte (Gerritsen 2002). Die eigentliche gesellschaftliche Diskussion über Gender und Sprache wurde durch einen Artikel ausgelöst, in dem der vermeintlich neutrale androzentrische Sprachgebrauch in Frage gestellt wird (Romein-Verschoor 1975). Die Autorin erörtert eine Reihe von Situationen, in denen gesellschaftliche Ungleichheit zwischen Männern und Frauen sprachlich zum Ausdruck kommt, etwa in ge‐ schlechtsspezifischen Berufsbezeichnungen wie koopman vs. koopvrouw (‚Kauf‐ mann‘ vs. ‚Kauffrau‘) oder beim generischen Gebrauch männlicher Pronomina. Sie vertritt die Auffassung, Genderneutralität lasse sich in der Sprache nicht ausdrücken; vermeintlich neutrale, beide Geschlechter umfassende Bezeich‐ nungen wie arts (‚Arzt‘) würden eher als auf Männer referierend interpretiert werden. Wie bereits erwähnt, haben später erschienene psycholinguistische Untersuchungen diese Annahme bestätigt. 218 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="219"?> 13 „vorm van ‘gelijkstelling’ … nu juist als zodanig een discriminatie inhoudt“ (Romein- Verschoor 1975: 6-7). 14 „liever negatief benoemd en zichtbaar, dan geheel ontkend“ (Van Alphen 1983: 309). Romein-Verschoor wendet sich in ihrem Aufsatz auch gegen die Notwen‐ digkeit, Gender jeweils eigens zu benennen. Bei den vorliegenden Ansätzen zu einem inklusiven Schreiben kritisiert sie die Feminisierung von Berufsbe‐ zeichnungen (wie psycholo(og)(ge) oder direct(eur)(rice)) und den Gebrauch der Pronominalkombinationen vom Typ hij/ zij, weil gerade diese ‚Form der ‚Gleich‐ stellung‘ […] als solche eine Diskriminierung bedeute‘: 13 Die durchgängige Nennung der Frau verstärke die Vorstellung, der Mann sei die Norm. Eigene Vorschläge zur Lösung der von ihr aufgezeigten Probleme macht die Autorin nicht; ihr Verdienst besteht darin, das Thema angesprochen zu haben. 1980 wurde ein Gesetz zur Gleichbehandlung von Mann und Frau bei der Arbeit erlassen; darin wurden für Stellenausschreibungen Formulierungen verpflichtend, die sich explizit sowohl an Männer als auch an Frauen richten (Gerritsen 2002). In vielen Unternehmen war man sich daraufhin unsicher, wie Stellenangebote neutral ausgeschrieben werden könnten. 1982 wurde vom Ministerium für Arbeit und Soziales eine „Werkgroep Wijziging Beroepsnamen“ (‚Arbeitsgruppe Reform der Berufsbezeichnungen‘) eingesetzt, die sich dieser Frage annahm und zu dem Ergebnis kam, die Neutralisierung von Berufsbe‐ zeichnungen sei die beste Lösung. Deren Feminisierung sei nicht zielführend, weil mit dem weiblichen Begriff ein niedrigeres Sozialprestige assoziiert werde. So ließen sich Berufsbezeichnungen wie timmerman (‚Zimmermann‘) zu timmer abkürzen und werkster (‚Putzfrau‘) durch huishoudelijke hulp (‚Haushaltshilfe‘) ersetzen. Wo neutrale Bezeichnungen nicht möglich seien, sollte der männliche (und damit prestigeträchtigere) Ausdruck beibehalten werden. Die Arbeits‐ gruppe verwies weiter auf die Tatsache, dass die vorgeschlagenen Anpassungen der Entwicklung der Suffigierung im Niederländischen entsprechen: Die Pro‐ duktivität vieler Nominalsuffixe wie -ice und -es(se) hat seit dem Mittelalter nachgelassen (Romein-Verschoor 1975). Die Gegenposition hat u. a. Ingrid Van Alphen (1983) vertreten; sie kritisierte den Ansatz der Arbeitsgruppe und plädierte stattdessen für ‚Differenzierung‘, d. h. den Gebrauch sowohl femininer als auch maskuliner Berufsbezeichnungen. Das Argument, die weibliche Form erhalte durch diese Differenzierung einen negativen Beiklang, und insofern sei es besser, nur eine einzige Form, die männ‐ liche, zu verwenden, ließ sie nicht gelten: ‚lieber negativ und sichtbar als gänz‐ lich verleugnet‘. 14 Nach ihrer Auffassung bestätigt ein ‚geschlechtsneutraler‘ Gebrauch des Maskulinums bei Funktionsbezeichnungen stets die männliche Norm: Die bezeichnete Person wird so lange als männlich interpretiert, bis Gendern im Niederländischen 219 <?page no="220"?> 15 „vanuit feministies oogpunt inakseptabel“ (Van Alphen 1983: 312). 16 Die Nederlandse Taalunie ist die für die gesamte Sprachpolitik des Niederländischen zuständige Organisation und zugleich eine wichtige Quelle für die Sprachberatung, wenn auch nicht die einzige. Ausführlicher hierzu siehe Abschnitt 4.1. dieses Verständnis durch den Kontext widerlegt wird. Van Alphen beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Sapir-Whorf-Hypothese, der zufolge Sprache das Denken beeinflussen kann, und betrachtet die neutrale Verwendung des Maskulinums als ‚aus feministischer Sicht inakzeptabel‘. 15 Ab 1995 beteiligte sich auch die Niederländische Sprachunion an der De‐ batte. 16 Sie hielt eine eindeutige Stellungnahme ihrerseits für unmöglich, da die Entscheidung zwischen den Optionen Feminisierung und Neutralisierung in‐ zwischen allzu komplex und politisch stark aufgeladen sei, und beauftragte eine Niederländerin, Ariane van Santen, und einen Belgier, Johan De Caluwe, eine Untersuchung zu diesem Thema zu erarbeiten. Das - vor allem als Anleitung zu einem wohlbegründeten Gebrauch genderinklusiver Sprache konzipierte - Buch erschien 2001 unter dem Titel Gezocht: Functiebenamingen (M/ V): weg‐ wijzer voor vorming en gebruik van Nederlandse functiebenamingen (‚Gesucht: Funktionsbezeichnungen (M/ W): Anleitung zur Bildung und Verwendung von Funktionsbezeichnungen im Niederländischen‘). 3.2 Neu erwachtes Interesse an der Genderfrage Nachdem das Interesse am Thema Sprache und Gender im ausgehenden 20. Jh. etwas zurückgegangen war, wurde es in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jh. im Zusammenhang mit der Frage nach der Referenz auf nonbinäre Personen erneut zum Gegenstand lebhafter Debatten (Transgenderinfo 2022). Immer mehr nonbinäre Menschen wollten nicht länger mit männlichen bzw. weiblichen Pronomina und Nomina, sondern mit nicht gegenderten Formen an‐ gesprochen werden. Wie in Abschnitt 2.2 dargelegt, stehen dafür verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, von denen hen, die, hun und diens die gängigsten sind. Wie wohl jede gesellschaftliche Entwicklung stieß auch die Forderung nach einer „genderneutralen“ Sprache auf Widerstand. Der eingangs erwähnte Be‐ schluss der Niederländischen Eisenbahnen, ihre Durchsagen nicht mehr mit „dames en heren“ anzufangen, sondern mit dem neutraleren „beste reizigers“, führte zu entrüsteten Reaktionen von Kunden, die bei den Durchsagen wie bisher als Mann oder Frau angesprochen werden wollten bzw. es für abwegig hielten, dass die Eisenbahngesellschaft sich einer Minderheit anpassen sollte. Dieses Argument wird auch in Diskussionen über genderneutrale Pronomina 220 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="221"?> 17 Zu ähnlichen Kontroversen siehe Coady in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). 18 „Assigned Female at Birth“, d.-h. mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren. für nonbinäre Personen herangezogen: Es gebe zu wenig nonbinäre Menschen, um eigens für sie ein neues Wort einzuführen. Schwierigkeiten bereite vor allem die Verwendung von hen, das als Pluralform empfunden werde und in der Subjektposition zudem schlecht platziert wirke. Manche Gegner der genderneutralen Sprache bestreiten auch einfach die Existenz von Nonbinarität oder sehen darin lediglich eine Modeerscheinung. Die unterschiedlichen Positionen („Woke“-Anhänger vs. „Boomer“) sind in‐ zwischen politisch stark aufgeladen. Wer für einen genderneutralen, -inklusiven oder -bewussten Sprachgebrauch eintritt, wird von vielen als Vertreter der jüngeren Generationen (Millennials, Generation Z) angesehen, der vermeint‐ lich überempfindlichen Generationen, die mit Rückschlägen nicht umzugehen wissen, angeblich leicht verletzt seien und sich permanent selbst analysieren. Zu den stereotypen Ansichten über diese Gruppe gehört weiter, dass ihre Angehörigen links wählen, vegan und klimabewusst leben und mehrheitlich hochqualifizierte Frauen sind. Gegenstand der Kritik sind ihre Identitätspolitik und ihre übertrieben moralisierende Haltung: Wer nicht das „richtige“ Pro‐ nomen gebraucht, wird „gecancelt“. Auf der anderen Seite stehen die älteren Generationen, deren Vertreter den Klischeevorstellungen zufolge gefühllos, rechts und reich sind; zudem mangele es ihnen an Empathie, und ihnen wird vorgeworfen, sie gingen nicht mit ihrer Zeit. Wie die Teilnehmer sich in der Debatte positionieren, wird von vornherein deutlich an ihrer Wahl der Pronomina bei der ersten Begegnung oder bei Stellungnahmen in den sozialen Medien. Wer hier etwa zij/ haar verwendet, signalisiert: Mir liegt daran, dass die Genderidentität eines jeden Menschen anerkannt wird, und das möchte ich zur Diskussion stellen. Relativ neu ist die Diskussion über die Personenbezeichnungen für die unterschiedlichen Gender. So ist es vorgekommen, dass statt von vrouwen von mensen die menstrueren (‚menstruierende Menschen‘) gesprochen wurde (WOMEN Inc. 2023). 17 Die Wahl solcher Ausdrücke wird mit der größeren Präzision begründet: In dem jeweils gegebenen Kontext werde die Gruppe nicht unbedingt durch das Gender definiert, vielmehr seien möglicherweise alle Menschen mit einer Gebärmutter im fruchtbaren Alter gemeint, also auch Transgender-Männer und nonbinäre „AFAB“-Menschen. 18 Gegner halten das für Haarspalterei und meinen, ihnen werde damit das Recht abgesprochen, die ihnen vertrauten Bezeichnungen zu verwenden. Gendern im Niederländischen 221 <?page no="222"?> 19 Sowie in Aruba, Curaçao und auf St. Martin. Genderneutrale Personenbezeichnungen sind weiterhin vielen ein wichtiges Anliegen. Inzwischen liegen zahlreiche Lehrbücher der Stilistik und der Medi‐ endidaktik vor (s. Abschnitt 4.2), in denen generische bzw. genderübergreifende Ausdrücke wie schrijver und verpleegkundige empfohlen werden, zumal diese meist als prestigeträchtiger empfunden werden: Manche Frauen, die eine Sen‐ dung präsentieren, ziehen es vor, als presentator bezeichnet zu werden, denn damit werde eine seriöse Tätigkeit assoziiert, während man bei presentatrice eher an eine Show denke. 4 Bestandsaufnahme: Wo werden welche Strategien angewendet? 4.1 Sprachpolitik (der Sprachunion) Zunächst werden einige Erläuterungen zur Sprachvariation im niederländi‐ schen Sprachraum und zum Grad der Anerkennung dieser verschiedenen Varietäten gegeben, bevor näher auf die Sprachpolitik der Sprachunion einge‐ gangen wird. Niederländisch ist Amtssprache in den Niederlanden, Belgien und Suriname. 19 Die Zahl der Sprecher wird auf insgesamt 24 Millionen geschätzt, von denen ca. 17 Millionen in den Niederlanden leben, weitere 6,5 Millionen Niederländischsprachige in Belgien, überwiegend in Flandern, dem nordwest‐ lichen Teil des Landes; in Suriname gibt es 400.000 Niederländischsprachige (Taalunie o.D.). Sowohl in der Aussprache als auch in der Grammatik und im Wortgebrauch gibt es Unterschiede zwischen dem Niederländischen, wie es in Suriname, Belgien und den Niederlanden gesprochen wird. Diese Abweichungen sind jedoch insofern relativ gering, als Niederlandophone dieser Länder sich mü‐ helos untereinander verständigen können. Die Variation besteht vor allem in einer für Niederlandophone wahrnehmbaren regionalen Färbung. Wenngleich Niederländer ihre Variante häufig als den Standard ansehen, sind alle drei Varianten offiziell als vollständig gleichwertig anerkannt. Da Niederländisch in mehreren Ländern Standardsprache ist, wird es auch als plurizentrische Sprache bezeichnet (de Belder/ Hiemstra 2022: 135). Die 1980 gegründete Niederländische Sprachunion (NTU), die die Verantwor‐ tung für die Sprachpolitik in diesen Ländern übernommen hat, beschloss in den 1990er Jahren, von einer Stellungnahme oder gar verbindlichen Empfehlungen zum genderbewussten Sprachgebrauch abzusehen. Wie in 3.1. ausgeführt, erhielten zwei Forscher den Auftrag von der NTU, eine Publikation zu diesem 222 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="223"?> Thema zu erarbeiten (de Caluwe/ van Santen 2001). Angesichts neuerer For‐ schungsergebnisse und der aktuellen Diskussion über Nonbinarität berief die NTU zwei Jahrzehnte später einen Expertenausschuss ein, die „Werkgroep Genderinclusief taalgebruik“ (‚Arbeitsgemeinschaft Genderinklusiver Sprach‐ gebrauch‘). Der Ausschuss wurde damit beauftragt, bestehende Ansätze zu einem genderinklusiven Sprachgebrauch zusammenzustellen und zu evaluieren (Taalunie 2022d). Der erste, im August 2022 erschienene Teil der Empfehlungen sollte es den Sprachbenutzern ermöglichen, eigenverantwortliche, wohlbegrün‐ dete Entscheidungen im Sinne eines „genderbewust taalgebruik“ zu treffen. Die Entwürfe für diese Empfehlungen wurden in der Erarbeitungsphase jeweils einer eigens berufenen Beratergruppe vorgelegt, der auch Personen angehörten, die mit der Genderproblematik vertraut sind, darunter Experten und Vertreter von Organisationen für Transrechte. Abgesehen von der Sprachunion gibt es noch weitere sprachberatende Instanzen; die wohl bekannteste ist der „Taaladviesdienst“ (‚Sprachberatungs‐ stelle‘) der „Genootschap Onze Taal“ (‚Gesellschaft Unsere Sprache‘), die auf diesem Gebiet weitgehend an den Richtlinien der Sprachunion orientiert ist und in erster Linie praktische Ratschläge erteilt. Eine weitere Instanz ist das „Team Taaladvies“ (‚Team Sprachratschläge‘; vormals „Taaltelefoon“ ‚Sprachtelefon‘), das vor allem in Flandern sehr bekannt ist. Die genannten Instanzen arbeiten regelmäßig zusammen und waren auch an der Entstehung von Empfehlungen zur Gendersprache beteiligt. 4.2 Behörden, Instanzen und Printmedien Wie oben ausgeführt, besteht die Sprachpolitik der niederländischen Behörden hinsichtlich der genderbewussten Sprache in der Erarbeitung entsprechender Empfehlungen. Für das Niederländische wird weder von staatlichen noch von lokalen Behörden vorgeschrieben, ob und ggf. wie Gender markiert werden soll. In der „Emancipatienota“ des niederländischen Unterrichts-, Kultur- und Wissenschaftsministeriums für den Zeitraum 2018-2021 taucht das Wort taal (‚Sprache‘) gar nicht auf, und zum Gendern ist darin zu lesen: Gendern im Niederländischen 223 <?page no="224"?> 20 „De term genderneutraliteit, die soms wordt gebruikt, kan de suggestie wekken dat mensen zich geen man of vrouw meer zouden mogen voelen, of zich zo zouden mogen gedragen. Het kabinet gebruikt daarom de term genderdiversiteit: het doel is niet eenvormigheid, maar juist ruimte voor meer keuzes.“ (Van Engelshoven 2018). ‚Der zuweilen verwendete Terminus Genderneutralität könnte nahelegen, dass Per‐ sonen sich weder als Mann noch als Frau fühlen bzw. sich nicht entsprechend ver‐ halten könnten. Die Regierung gibt daher dem Terminus Genderdiversität den Vorzug: Das Ziel ist nicht Gleichförmigkeit, sondern Raum für mehr Wahlmöglichkeiten‘. 20 Dennoch gibt es auch Behörden, die für ihren Zuständigkeitsbereich eigene Richtlinien erlassen. So veröffentlichte die Amsterdamer Gemeindeverwaltung 2017 für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die „Regenboog Taaltips“ (‚Re‐ genbogen-Sprachtipps‘) als eine „handreiking voor respectvolle en inclusieve communicatie“ (‚Handreichung für respektvolle und inklusive Kommunika‐ tion‘). Darin wird z. B. empfohlen, Beste Amsterdammers (‚Liebe Amsterdamer‘) statt beste dames en heren als Anrede zu verwenden und anstelle von homosek‐ suelen von lhbti personen zu sprechen. Auch von anderer Seite wurden Stillehren für den Umgang mit Sprache und Gender vorgelegt, so vom Branchenverband des kreativen Sektors (Samuel 2022) und von WOMEN Inc. (2022). Beiträge zu Stilfragen in Printmedien greifen das Thema ebenfalls auf. Die Online-Stillehre der Tageszeitung de Volkskrant geht relativ ausführlich auf Gender und pronominale Verweise ein: Auf nonbinäre Personen ist vorzugsweise mit hen zu verweisen, denn die kann als zu demonstrativ verstanden werden, und generische Verweise mit männlichen Pronomina sind zu vermeiden. In der Stillehre der Volkskrant wird für Berufsbezeichnungen die „neutrale variant“ propagiert, d. h. gender‐ übergreifende (leerkracht) oder generisch männliche Formen (loodgieter), und weibliche Endungen sind zu vermeiden. Auch andere Zeitungen nehmen sich des Themas in ihren Stillehren an; sämtliche großen Blätter empfehlen für nonbinäre Verweise hen oder die (keine Neologismen wie xij). Ungeachtet der leicht variierenden Formulierungen in diesen Stillehren geht der allgemeine Trend in Richtung größtmöglicher Neutralität mit Hilfe genderübergreifender Bezeichnungen, wo immer das möglich ist. 5 Fazit Dass sich die Ansichten zur Genderfrage in der niederländischen Gesellschaft verändert haben und das Interesse an der (Gender-)Gleichheit gestiegen ist, wird auch in der Sprache greifbar. Während es früher vornehmlich um die 224 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="225"?> Sichtbarkeit von Frauen und einen weniger androzentrischen Sprachgebrauch ging, richtet sich die Aufmerksamkeit heute stärker auf die vielschichtige Thematik der Inklusion für alle. Dieses Ziel erfordert eine neue sprachliche Kreativität. Trotz der sehr unterschiedlichen Einstellungen zu dieser Frage zeichnet sich in der gesamten Gesellschaft der Wunsch nach größtmöglicher Inklusivität ab. Um das zu erreichen, stehen verschiedene sprachliche Mittel zur Verfügung; ratsuchende Sprachbenutzer können inzwischen auf eine Vielzahl einschlägiger Publikationen zurückgreifen. In der Sprachpraxis geht es in mancher Hinsicht nur sehr schleppend voran; dennoch hat es den Anschein, als ob der Sprachgebrauch mit der Zeit inklusiver würde. Bibliographie Audring, Jenny (2009): Reinventing Pronoun Gender. Dissertation. Vrije Universiteit. —-(2014): Gender as a complex feature. Language Sciences 43, 5-17. Boroditsky, Lera/ Schmidt, Lauren A./ Phillips, Webb (2003): Sex, syntax and semantics. In: Gentner, Dedre/ Goldin-Meadow, Susan (Hrsg.): Language in Mind: Advances in the Study of Language and Thought. Cambridge/ London: MIT Press, 61-79. Coornstra, Ludmilla (2023): Genderneutrale voornaamwoorden - gebruiken we die al? De productie van neutrale verwijswoorden in modern Nederlands. Masterarbeit. Universiteit van Amsterdam. De Belder, Marijke/ Hiemstra, Andreas (2022): Creating Awareness of Pluricentricity at University Language Departments: A Case Study of Dutch. In: Callies, Marcus/ Hehner, Stefanie (Hrsg.): Pluricentric Languages and Language Education Pedagogical Implications and Innovative Approaches to Language Teaching. London: Routledge, 132-147. De Caluwe, Johan/ Van Santen, A. (2001): Gezocht: Functiebenamingen (M/ V): wegwijzer voor vorming en gebruik van Nederlandse functiebenamingen. Den Haag: SDU. Everts, Daniël/ Muis, Iris/ van Es, Karin/ van Santen, Marieke/ Vankan, Arthur/ Cornelisse, Daphne (2021): Een verkenning van zoekalgoritmen op vacaturewebsites en het effect op gelijke kansen. https: / / publicaties.mensenrechten.nl/ publicatie/ 60653d031e0fec03 7359cb0e (07.03.2024). Gerritsen, Marinel (2002): Towards a more gender-fair usage in Netherlands Dutch. In: Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (Hrsg.): Gender Across Languages: The Linguistic Representation of Women and Men. Bd.-2. Amsterdam: John Benjamins (=-Impact: Studies in Language and Society 10), 81-109. Haeseryn, Walter/ Romijn, Kirsten/ Geerts, Guido/ de Rooij, Jaap/ van den Toorn, Maarten (1997): Mannelijke en vrouwelijke de-woorden. e-ANS. https: / / e-ans.ivdnt.org/ topics / pid/ ans030303lingtopic (07.03.2024). Gendern im Niederländischen 225 <?page no="226"?> Merone, Lea/ Tsey, Komla/ Russell, Darren/ Nagle, Cate (2021): Sex and Gender Gaps in Medicine and the Androcentric History of Medical Research. Australian and New Zealand Journal of Public Health 45 (5), 424-426. Meulskens, Milfje (2020): Schema voor het kiezen van een genderneutraal persoonlijk voornaamwoord. De Taalpassie van Milfje (blog), 9.10.2020. http: / / milfje.blogspot.co m/ 2020/ 10/ schema-voor-het-kiezen-van-een.html (07.03.2024). Mooijaart, Marijke/ van der Wal, Marijke (2008): Nederlands van Middeleeuwen tot Gouden Eeuw: cursus Middelnederlands en Vroegnieuwnederlands. Nijmegen: Van‐ tilt. Muhr, Rudolf (2012): Linguistic dominance and non-dominance in pluricentric languages: A typology. In: Ders. (Hrsg.): Non-dominant varieties of pluricentric languages: Getting the picture. Frankfurt a.M./ Wien: Peter Lang, 23-48. Redl, Theresa (2021): Masculine Generic Pronouns: Investigating the Processing of an Unintended Gender Cue. Dissertation. Radboud Universiteit. Renström, Emma/ Lindqvist, Anna/ Gustafsson Sendén, Marie (2018): Hen. Bakgrund, attityder och användande. Psykologiska rapporter från Lund 8 (1), 1-34. Romein-Verschoor, Annie (1975): Over taal en seks, seksisme en emancipatie. De Gids 138 (1-2), 3-36. Samuel, Mounir (2022): Waarden voor een nieuwe taal. https: / / codedi.nl/ wp-content/ up loads/ 2021/ 04/ WAARDEN_VOOR_EEN_NIEUWE_TAAL.pdf (07.03.2024). Samuel, Steven/ Cole, Geoff/ Eacott, Madeline J. (2019): Grammatical Gender and Lin‐ guistic Relativity: A Systematic Review. Psychonomic Bulletin & Review 26 (6) (01.12.2019), 1767-1786. Smit, Joke (1967): Het onbehagen bij de vrouw. De Gids 130 (9-10), 267-281. Taalunie (o.D.): Feiten & cijfers. https: / / taalunie.org/ informatie/ 24/ feiten-cijfers/ (08.03.2024). Taalunie (2022a): Taal en gender (algemeen). https: / / taaladvies.net/ taal-en-gender-alge meen/ (07.03.2024). — (2022b): Taal en gender: beroeps-, functieen rolbenamingen (algemeen). https: / / taala dvies.net/ taal-en-gender-beroeps-functie-en-rolbenamingen-algemeen/ (07.03.2024). —-(2022c): Taal en gender: verwijswoorden voor vrouwen, mannen en non-binaire personen (algemeen). https: / / taaladvies.net/ taal-en-gender-verwijswoorden-voor-vr ouwen-mannen-en-non-binaire-personen-algemeen/ (07.03.2024). —-(2022d): werkgroep Genderinclusief taalgebruik. https: / / taaladvies.net/ werkgroep-ge nderinclusief-taalgebruik/ (28.06.2023). Transgender Netwerk Nederland (2016): Zo maak je na toiletten ook taal gender‐ neutraal. https: / / www.transgendernetwerk.nl/ non-binair-voornaamwoord-uitslag/ (07.03.2024). 226 Sterre C. Leufkens/ Ludmilla Coornstra <?page no="227"?> Transgenderinfo (2022): Wat is non-binair? https: / / www.transgenderinfo.be/ nl/ identitei t/ transgender/ non-binair/ wat-non-binair (07.03.2024). Van Alphen, Ingrid (1983): Een vrouw een vrouw, een woord een woord. Over de gelijke behandeling van vrouwen en mannen en de konsekwenties daarvan voor beroepsbenamingen in het Nederlands. Tijdschrift voor Vrouwenstudies 4 (2), 307- 315. Van Engelshoven, Ingrid (2018): Kamerbrief over de Emancipatienota 2018-2021. 29.03.2018. https: / / open.overheid.nl/ documenten/ ronl-282419dc-cd9a-40b1-8383-f53 587b4b781/ pdf (07.03.2024). Van der Sijs, Nicoline (2004): Het woordgeslacht van de zelfstandige naamwoorden en wat daarmee samenhangt. In: Dies. (Hrsg.): Taal als mensenwerk: Het ontstaan van het ABN. Den Haag: SDU Uitgevers, 434-457. Van Wingerden, Wouter (2021): Die z’r genderneutrale voornaamwoorden. https: / / doet ietsmettaal.nl/ 2021/ 01/ die-zr-genderneutrale-voornaamwoorden/ (07.03.2024). Vervecken, Dries/ Hannover, Bettina/ Wolter, Ilka (2013): Changing (S)expectations: How gender fair job descriptions impact children’s perceptions and interest regarding traditionally male occupations. Journal of Vocational Behavior 82 (3), 208-220. Vriesendorp, Hielke (i.Dr.): Die/ diens of hen/ hun? Non-binaire voornaamwoorden in het Nederlands. Erscheint in: Nederlandse Taalkunde. WOMEN Inc. (2022): De Incomplete Stijlgids. WOMEN Inc. https: / / www.womeninc.nl/ a ctueel/ de-incomplete-stijlgids-van-women-inc (07.03.2024). WOMEN Inc. (2023): Tweede Kamerleden ervaren menstruatiekrampen. https: / / www. womeninc.nl/ actueel/ tweede-kamerleden-ervaren-menstruatiekrampen (07.03.2024). Gendern im Niederländischen 227 <?page no="229"?> Gender in Norwegian: Gendered Language Structures and Language Reform Heiko Motschenbacher Abstract: This contribution presents an overview of how gender surfaces at the structural level in Norwegian. The various linguistic gendering mechanisms relevant to Norwegian (lexical, social, referential, and gram‐ matical gender) are presented and illustrated. In addition, a range of language structures that can be used to express gender information are outlined (agreement, pronominalization, word-formation, and personal names). A brief review of psycholinguistic studies on the perception of Norwegian personal nouns and gender-related language policy issues in the Norwegian context complements the discussion of gendered language structures with usage-based insights. It is concluded that language reform efforts have, despite the presence of a masculine-feminine grammatical gender contrast in many varieties of Norwegian, prioritized neutralization (rather than gender specification) as a remedy strategy. Keywords: gendered language structures, Norwegian, grammatical gender, lexical gender, social gender, referential gender, agreement, word-formation, language reform, language policy Zusammenfassung: Dieser Beitrag präsentiert einen Überblick, wie Geschlecht sich auf struktureller Ebene im Norwegischen manifestiert. Die verschiedenen sprachlichen Genderisierungsmechanismen, die für das Norwegische von Relevanz sind (lexikalisches, soziales, referenzielles und grammatisches Geschlecht), werden vorgestellt und illustriert. Da‐ neben wird eine Reihe von sprachlichen Strukturen beschrieben, die zum Ausdrücken von Geschlechtsinformation verwendet werden können (Kongruenz, Pronominalisierung, Wortbildung und Personennamen). Ein kurzer Überblick über psycholinguistische Studien zur Wahrnehmung norwegischer Personenbezeichnungen und geschlechtsbezogene Aspekte <?page no="230"?> der Sprachpolitik im norwegischen Kontext ergänzt die Diskussion genderisierter Sprachstrukturen mit Erkenntnissen zum Sprachgebrauch. Es wird resümiert, dass Sprachreforminitiativen trotz des Vorhandenseins eines Maskulin-Feminin-Genuskontrasts in vielen Varietäten des Norwe‐ gischen eine Neutralisierung (statt einer Geschlechtsspezifizierung) als Lösungsstrategie priorisieren. Schlüsselbegriffe: genderisierte Sprachstrukturen, Norwegisch, Genus, lexikalisches Geschlecht, soziales Geschlecht, referenzielles Geschlecht, Kongruenz, Wortbildung, Sprachreform, Sprachpolitik 1 Introduction Norwegian forms a part of the North Germanic dialect continuum and is, therefore, mutually intelligible with the neighboring varieties Danish and Swedish. It comprises two official written standards. The first one, Bokmål, is closely related to Danish. It represents a default standard that is used nationwide and predominates in the teaching of Norwegian as a foreign language. The second standard variety, Nynorsk, by contrast, has been developed from Western Norwegian dialects and, therefore, has a strong regional connection to Western Norway. It is used by about 15 % of the Norwegian population as a standard and thereby forms a minority variety whose ethnolinguistic vitality is supported by the Norwegian state in its official language policy. In Norway, language policy efforts have primarily concentrated on regulating the use of linguistic varieties, i.e., on the promotion of Nynorsk against the predominance of Bokmål, and on the protection of Norwegian against domain loss to English, which plays a strong role in certain sectors of Norwegian society, such as the economy, education, and media ( Jahr 2018). Gender-related language policies have in general stood back behind these issues, which is remarkable for a society that boasts itself to be highly egalitarian. Gender obviously surfaces in Norwegian language structures and language use. However, as will be shown in this article, linguistic gender representation is often not fully equal (see also Uri 2022 for a more extensive treatment of the subject). The description of linguistic gender mechanisms in Norwegian is, here, based on (conservative) Bokmål by default. Many of the mechanisms outlined are equally valid for Nynorsk. Gender-related aspects in which Nynorsk differs from Bokmål are specifically pointed out. The article first outlines the various lingu‐ istic gender categories that we find in Norwegian (lexical, social, referential, and grammatical gender) and then describes the structures in which gender distinc‐ tions surface in the language (agreement, pronominalization, word-formation, 230 Heiko Motschenbacher <?page no="231"?> personal names). This is followed by a summary of the psycholinguistic evidence on the gendered perception of Norwegian personal nouns and a section devoted to language reform in light of gender equality and the inclusion of non-binary people. 2 Categories of gender Norwegian is a language with a grammatical gender system, which means that all four linguistic gender categories - lexical, social, referential, and grammatical gender (Hellinger/ Bußmann 2001; Motschenbacher 2015) - are relevant for the expression of gender. Lexical gender Lexical gender is a semantic feature at the denotational level. Forms that are le‐ xically gendered carry a semantic component “female” or “male” as part of their denotation. Most personal nouns in Norwegian are lexically gender-neutral (e.g., menneske “human being”, person “person”, lærer “teacher”, lege “physician”), which means that their basic meaning is neither female nor male. As in most languages, there are various sub-fields of the personal lexicon that are likely to contain lexically gendered field members. These are illustrated in Table 1. Lexical field Female nouns Male nouns General terms for female and male people kvinne “woman” jente “girl”, pike “girl” dame “lady” kvinnfolk “woman” mann “man” gutt “boy” herre “gentleman” fyr “guy”, kar “guy” mannfolk “man” Kinship terms mor “mother” datter “daughter” søster “sister” tante “aunt” niese “niece” kusine “female cousin” far “father” sønn “son” bror “brother” onkel “uncle” nevø “nephew” fetter “male cousin” Nobility titles dronning “queen” prinsesse “princess” grevinne “countess” baronesse “baroness” konge “king” prins “prince” greve “count” baron “baron” Nouns deno‐ ting romantic partners kone “wife”, hustru “wife” brud “bride” enke “widow” ektemann “husband” brudgom “bridegroom” enkemann “widower” Gender in Norwegian 231 <?page no="232"?> Nouns deno‐ ting sexual roles hore “whore”, ludder “whore” elskerinne “mistress” skjøge “harlot” tøs “slut” domina “domina” horebukk “whoremonger” casanova “Casanova” playboy “playboy” don juan “Don Juan” hallik “pimp” Occupational titles barnehagetante “female kinder‐ garten teacher” [lit. “kindergarten aunt”] forkvinne “female leader” sjøkvinne “female sailor” [lit. “sea‐ woman”] jordmor “midwife” [lit. “earth mo‐ ther”] helsesøster “nurse” [lit. “health sister”] barnehageonkel “male kinder‐ garten teacher” [lit. “kinder‐ garten uncle”] formann “male leader” sjømann “seaman” postmann “postman” brannmann “fireman” talsmann “spokesman” Table 1: Lexically gendered personal nouns in Norwegian Besides nouns that denote female and male people in general, lexical gendering is common with kinship terms, nobility titles, nouns denoting romantic partners and nouns denoting sexual roles. Within the latter field, one finds a higher number of terms for promiscuous women than for promiscuous men. Moreover, while the female forms tend to possess negative connotations (e.g., hore, ludder, skjøge), the male forms even have slightly positive connotations and enhance rather than question a man’s masculinity (e.g., playboy, casanova, don juan). Similar patterns were detected in a study of the English loanwords that are today commonly used by Norwegian adolescents to talk about girls and boys (Swan 2007). While the forms used for girls mainly have negative or sexualized connotations, characterizing girls as sexually available, promiscuous, stupid, or otherwise unpleasant (babe, bitch, chick, bimbo), the terms used for boys were less common and neutral or positive in their evaluation (dude, guy, hunk, player). Interestingly, the study also showed that these English terms are not just frequently used by young people but also in Norwegian newspapers. In the lexical field of occupational titles, lexical gendering is the exception. Where such forms exist, they are today often viewed as inadequate due to their gender specificity. This is why, for some of these nouns, parallel opposite-gender nouns have been created (e.g., sjømann “seamann” < sjøkvinne lit. “seawoman”; barnehagetante “female kindergarten teacher” < barnehageonkel “male kin‐ dergarten teacher”), while for others a gender-neutral alternative has been created (e.g., barnehagetante “female kindergarten teacher” < førskolelærer lit. “pre-school teacher”; formann/ forkvinne “fe-/ male leader” < leder “leader”; postmann “postman” < postbud “mail carrier”). 232 Heiko Motschenbacher <?page no="233"?> As can be seen in Table 1, lexically gendered nouns tend to come in female-male pairs and, therefore, significantly contribute to the conceptualiza‐ tion and discursive construction of gender as binary. However, the meanings of such paired forms are not always fully symmetrical and, where this is the case, this usually works to the detriment of the female side. There may be a tendency for the female form in such a pair to develop more negative or less desired meanings - a phenomenon called semantic derogation (Schulz 1975; Sunderland 2020). One such asymmetrical pair can be found in the terms denoting unmarried people in a gendered fashion: gammeljomfru “old maid” vs. ungkar “bachelor” [lit. “young guy”]. The female form possesses negative connotations of being left on the shelf, while the male form has positive connotations and expresses a desirable identification for some men. To counter this asymmetry, the new female term ungkarskvinne (lit. “bachelor woman”) has been created. However, even if parallel terms are available, this does not necessarily mean that this is also borne out in actual language use. For example, a well-known asymmetrical pattern is that adult women are more likely to be referred to as “girls” than men are to be designated as “boys”. This may lead to unequal pairings like mennene og jentene “the men and the girls”, which may have a trivializing or sexualizing effect for the representation of women (Uri 2022: 98-100). Other personal reference forms besides personal nouns that can carry lexical gender are pronouns and personal names. These forms will be discussed in more detail in the section on gendered language structures. Social gender Forms possess a social gender value when they are lexically gender-neutral but nevertheless associated with gendered stereotypes that affect their meaning at the connotational level. Typical cases can be found across languages within the lexical field of occupational titles. As certain professions are viewed as stereotypically female or male in a given society, the personal nouns that are used to designate job performers may carry such biased associations. Thus, role names like pilot “pilot”, ingeniør “engineer”, sjef “boss”, or dataekspert “computer specialist” are perceived as socially male, while designa‐ tions like hudpleier “beautician”, kasserer “cashier”, danser “dancer”, or syke‐ pleier “nurse” are viewed as stereotypically female (Gabriel/ Gygax 2008: 454). Besides shaping our mental images of who counts as a typical member of social categories, social gender may also have consequences for how we use language. Two linguistic phenomena are likely to be shaped by social gender. On the one hand, gender specification may be deemed contextually necessary to Gender in Norwegian 233 <?page no="234"?> 1 The following abbreviations for grammatical gender categories are used in this article: F for feminine; M for masculine; N for neuter; C for common gender. overcome the stereotype. For this reason, phrases like kvinnelig rørlegger “female plumber” and mannlig barnehagelærer “male kindergarten teacher” are more likely to occur than their counterparts because plumbers and kindergarten teachers are by default assumed to be male and female, respectively, which makes a gender specification in accordance with the stereotype (mannlig rørlegger; kvinnelig barnehagelærer) almost tautological. On the other hand, the social gender of personal nouns may affect the selection of anaphoric pronouns in non-specific contexts. For example, when discussing the professional life of a plumber or a kindergarten teacher in general, indefinite singular noun phrases headed by occupational nouns are likely to be pronominalized with stereotype-conforming pronouns (en rørlegger “a plumber” - han “he”; en barnehagelærer “a kindergarten teacher” - hun “she”), even though individual representatives of these professional categories do not conform to the stereotype. Referential gender The referential gender of a certain form depends on whether it is contextually used to refer to female people, male people, or a mixed-gender group. As referential gender is a contextually determined mechanism, it can be considered a pragmatic aspect of language use. In contexts of specific reference, the gender of the referent can easily outweigh the social gender of a personal noun and trigger referentially based pronominalization against the stereotype (denne rørleggeren “this plumber” - hun “she”; denne barnehagelæreren “this kindergarten teacher” - han “he”). Referential gender also determines pronoun choice after epicene nouns, i.e., personal nouns that have a specific grammatical gender value but can take female or male pronouns depending on the gender of the referent. Most such nouns (e.g., occupational titles such as tannlege “dentist”, professor “professor”) are masculine in Nynorsk and common gender in Bokmål (but are pronomina‐ lized by han “he” or hun/ ho “she”, depending on referential gender). Recent evidence suggests that these role nouns are also starting to be used by some speakers with noun-phrase internal agreement according to referential gender so that a noun phrase like ei lærer “a.F teacher.C”, 1 which would traditionally be considered incorrect, can be used to refer to a female teacher (Enger 2015). Grammatically feminine epicenes in Nynorsk (like nattevakt “night guard” or kjempe “giant”) are much less frequent than masculine epicenes. 234 Heiko Motschenbacher <?page no="235"?> Cases in which lexical and referential gender do not correspond are rare, and they are often associated with contexts in which derogatory messages are meant to be conveyed. When, for example, lexically female forms are contextually used to refer to male people, this may be done to question their masculinity or as a form of teasing or bullying, especially among men (For en kjerring! “What a woman! ”, Bull/ Swan 2002: 242). In certain gay male communities of practice, similar inverted appellation practices may surface in referring to men with female forms. In such contexts, they have an in-group bonding function. One type of mismatch between lexical and referential gender that occurs more systematically across languages is the use of lexically male nouns when referring to people in general (so-called male generics). For example, the royal couple is referred to as kongeparet “the king couple”, even in cases where the monarch is a queen. More examples of male generics are discussed in the sections on word-formation and pronominalization. Grammatical gender Grammatical gender constitutes a system of nominal classification and repre‐ sents an inherent grammatical property of nouns. Grammatical gender lang‐ uages typically possess a small number of noun classes, such as feminine, masculine, and neuter. As all nouns in such languages are affected, grammatical gender is not restricted to personal nouns. With non-personal nouns, gramma‐ tical gender assignment is notoriously arbitrary, which can be deduced from the fact that nouns with the same meaning possess different grammatical gender values in different languages. This may even be the case across historically related languages. For example, the noun denoting “sun” is feminine in German (Sonne), masculine in French (soleil), and neuter in Croatian (sunce), even though all three languages are Indo-European languages. One lexical field that flouts the trend of arbitrary gender assignment to some degree is personal nouns. In languages with a grammatical femininemasculine contrast, there is a strong tendency for lexically female nouns to be grammatically feminine and for lexically male nouns to be grammatically masculine (as in German: Frau “woman” is grammatically feminine, Mann “man” is grammatically masculine). In Norwegian, grammatical gender occurs in various configurations. Some Norwegian dialects possess three grammatical genders (feminine, masculine, and neuter), while others show a two-gender system distinguishing common gender and neuter gender. Language users with a stable two-gender system can mainly be found in Oslo, Bergen (i.e., the two largest Norwegian cities), and Northern Norway. In the cities of Tromsø and Trondheim, one finds predomi‐ Gender in Norwegian 235 <?page no="236"?> nantly unstable users of both systems, while the rest of Norway outside of these larger cities tends to have a stable three-gender system (Lundquist/ Klassen/ Westergaard 2022: 50-52). In other words, we see a city hopping effect through which the two-gender system first starts to spread across urban areas before it can reach more rural regions. For reasons of simplicity, Bokmål will be treated herein as a two-gender variety (which is strictly speaking only the case for conservative Bokmål), and Nynorsk as a three-gender variety, even though both exhibit internal variability in this respect. There is also a historical dimension to this variability, as the category “common gender” is a result of the two earlier categories “feminine” and “masculine” becoming formally indistinct, and ongoing language change supports the loss of the feminine gender category and a development toward a two-gender system (Rodina/ Westergaard 2021). As the feminine forms are moving out, they become increasingly marked from a sociolinguistic point of view (Opsahl 2021). This enables language users to employ them to index various identifications. Since the use of feminine forms is connected to Nynorsk as a historically less prestigious standard variety, their use indexes values such as traditional, rural, peripheral, local, or old-fashioned (in contrast to indexical values such as modern, urban, and superregional, which are linked to the use of Bokmål as a more prestigious variety; Opsahl 2021: 128). A non-use of feminine forms, by contrast, plays a stronger role among adolescents and speakers of non-Norwegian ethnicity. In general, gender assignment in Norwegian is a complex process that poten‐ tially can be influenced by phonological, morphological, and semantic aspects (Enger 2009). However, for personal nouns more specifically, the following dominant patterns can be identified. In Nynorsk, lexically male personal nouns show a strong tendency to be grammatically masculine; lexically female nouns tend to be grammatically feminine, and lexically gender-neutral personal nouns tend to be masculine. In Bokmål, personal nouns tend to be common gender, regardless of what their lexical gender status is. From the point of view of gender-related linguistic representation, the move toward a two-gender system can be deemed positive, as the presence of a common gender category facilitates treating female and male people on an equal footing while also including non-binary people - aspects that would be more complex to achieve in a gender system that distinguishes feminine and masculine as grammatical categories. Here, a gendered asymmetry operates merely at the historical level, as the Norwegian common gender forms over‐ whelmingly go back to masculine (rather than feminine) forms. In Nynorsk, the 236 Heiko Motschenbacher <?page no="237"?> representational situation is less ideal because it is in most cases grammatically masculine personal nouns that are used generically. In Bokmål, most personal nouns are common gender, which means that lexically male and female nouns do not trigger different types of grammatical agreement. There is a limited number of personal nouns that are grammati‐ cally neuter. Most of these are lexically gender-neutral (e.g., barn “child”, nurk “baby”, søsken “sibling”, menneske “human being”, individ “individual”, medlem “member”), but the two lexically gendered nouns mannfolk “man.N” and kvinnfolk “woman.N”, which tend to be restricted to spoken language use and are slightly derogatory, are also grammatically neuter. Neuter gender is more common for collective personal nouns (e.g., par “couple”, lag “team”, politi “police”, folk “people”, publikum “audience”, parti “(political) party”). 3 Gendered language structures Agreement Most Bokmål personal nouns are grammatically common gender and show different agreement patterns from neuter nouns. Grammatical gender distinc‐ tions surface in three types of satellite forms: determiners, adjectives, and pronouns. Furthermore, there are different forms of the definite article, which is in Norwegian attached as a suffix to the noun. The following sample sentences illustrate these patterns. 1. Grammatical gender agreement with personal nouns in Bokmål a. En ung kvinne kom inn. Kvinn-en/ hun var pen. INDEF.ART.C young.C woman.C came in. woman-DEF.C/ she was good-looking.C “A young woman came in. The woman/ she was good-looking.” b. En ung mann kom inn. Mann-en/ han var pen. INDEF.ART.C young.C man.C came in. man-DEF.C/ he was goodlooking.C “A young man came in. The man/ he was good-looking.” c. Et ung-t barn kom inn. Barn-et/ det var pen-t. INDEF.ART.N young-N child.N came in. child-DEF.N/ it was goodlooking-N “A young child came in. The child/ it was good-looking.” With non-personal nouns, the agreement patterns are the same, except that the inanimate pronouns den (common gender) and det (neuter gender) would be used. Gender in Norwegian 237 <?page no="238"?> 2. Grammatical gender agreement with personal nouns in Nynorsk a. Ei ung kvinne kom inn. Kvinn-a/ ho var pen. INDEF.ART.F young.C woman.F came in. woman-DEF.F/ she was good-looking.C “A young woman came in. She was good-looking.” b. Ein ung mann kom inn. Mann-en/ han var pen. INDEF.ART.M young.C man.M came in. man-DEF.M/ he was goodlooking.C “A young man came in. The man/ he was good-looking.” c. Eit ung-t barn kom inn. Barn-et/ det var pen-t. INDEF.ART.N young-N child.N came in. child-DEF.N/ it was goodlooking-N “A young child came in. The child/ it was good-looking.” We see in (2) that, even in Nynorsk, the adjectival inflection in general only shows a two-gender distinction. Instead of specific masculine and feminine forms, the adjective takes a common-gender inflection. However, the adjective liten (M)/ lita (F)/ lite (N) “small” has retained its tripartite adjectival inflection as an exception, which affects both attributive (et lit-e barn “a.N small-N child.N”) and predicative uses (Barn-et er lit-e “child-DEF.N is small-N”, “The child is small”). Determiners and suffixed definite articles show a tripartite gender distinction in Nynorsk. The complex system of marking definiteness is illustrated with personal nouns in Table 2 for Nynorsk and in Table 3 for Bokmål. - indefinite article sg. indefinite pl. suffix definite sg. suffix definite pl. suffix masculine ein gut “a boy” gut-ar “boys” gut-en “the boy” gut-ane “the boys” feminine ei jente “a girl” jent-er “girls” jent-a “the girl” jent-ene “the girls” neuter eit barn “a child” barn “children” barn-et “the child” barn-a “the children” Table 2: Definiteness markers in Nynorsk 238 Heiko Motschenbacher <?page no="239"?> indefinite article sg. indefinite pl. suffix definite sg. suffix definite pl. suffix common gender en gutt “a boy” en jente “a girl” gutt-er “boys” jent-er “girls” gutt-en “the boy” jent-en “the girl” gutt-ene “the boys” jent-ene “the girls” neuter et barn “a child” barn “children” barn-et “the child” barn-a “the children” Table 3: Definiteness markers in (conservative) Bokmål When comparing the two varieties, it becomes evident that only Nynorsk maintains a systematic formal distinction between grammatically feminine and masculine forms that affects both definite and indefinite as well as singular and plural forms. Pronominalization In Norwegian, the third-person singular personal and possessive pronouns are lexically gendered (Bokmål hun “she”, henne “her”, hennes “her(s)”; han “he”, ham “him”, hans “his”; see Table 4). All other pronouns are gender-neutral. - male female inan‐ imate common inan‐ imate neuter animate genderneutral subject case han hun/ ho* den det hen object case ham/ han*/ honom* henne/ ho* den det hen genitive case hans hennes/ hennar* dens dets/ dess* hens Table 4: Third-person singular pronouns in Norwegian (* marks Nynorsk-specific forms) In dialects with three grammatical genders, pronoun choice is triggered by the grammatical gender of the controller noun (both for personal and non-personal nouns). In Nynorsk, inanimate nouns are pronominalized with han or ho as a result of grammatical gender agreement. Bokmål, by contrast, shows a system in which the lexical, referential, or social gender of a personal noun may potentially affect pronoun selection in the third person singular. The reason for this is that a lexically female (hun) and a lexically male pronoun (han) are available for personal nouns, which are today joined by a new pronoun hen Gender in Norwegian 239 <?page no="240"?> as a gender-neutral option. This new form originates from Finnish (a language without a gender contrast in third person pronouns - the form hän is used for female and male referents) and was first taken over into Swedish, with Norwegian following suit (see Ängsal and Niedling/ Raitaniemi in this volume). The Norwegian Language Council started to endorse hen in 2022 (Språkrådet 2024a), and so we are likely to see an increased use of this neo-pronoun, including in official contexts, in the near future (see Bugge, Bukve & Myklebust 2023). The male third-person singular pronoun (han) is traditionally used as a male generic in non-specific contexts where the gender of a referent is unclear or irrelevant: 3. En student må stå opp tidlig fordi han har mye å gjøre. “A student has to get up early because he has a lot to do.” Such male generic constructions as illustrated in Example (3) can be replaced by alternative constructions that treat women and men on an equal footing. These include split constructions that specify both female and male referents (han eller hun “he or she”; hun eller han “she or he”), pluralization (studenter - de “students - they”), use of de “they” as a singular pronoun (imitating singular they in English), use of the form vedkommende “the [person] concerned” instead of a pronoun, and use of the new gender-neutral third-person singular pronoun hen. All of these alternatives, except for split constructions, are also adequate for including non-binary people. Which pronominal forms are selected often tells us something about the attitudes of a language user. Users of generic han are often people who are unlikely to be disadvantaged by this form or people who have no interest in changing the social status quo. Using female pronouns in combination with male pronouns expresses an egalitarian ideology that aims to treat women and men equally. Uri (2022: 45) reports on a Swedish study that found that those who were asked to use hen in an experiment scored higher in diversity tolerance in a post-experiment test. Word-formation Norwegian uses two major word-formation processes to create lexically gendered personal nouns: derivation and compounding. Female derivation with the suffix -inne (e.g., lærer “teacher” - lærerinne “female teacher”; skuespiller “actor” - skuespillerinne “actress”, prest “priest” - prestinne “female priest”) used to be a productive word-formation process. However, today it is falling out of use, and gender-related language policies generally discourage 240 Heiko Motschenbacher <?page no="241"?> its use. The female forms are invariably derived from masculine (Nynorsk) or common gender (Bokmål) personal nouns as bases. In the field of occupational titles, the underived base forms have been declared to be gender-neutral, with the Norwegian Language Council (Språkrådet) recommending their use to include both female and male referents. In 2019, the Norwegian Parliament (Stortinget) issued a resolution that requires all institutions of the state to adhere to this practice (Språkrådet 2024b). In most contexts, female specification is perceived as unnecessary. Still, there are some formations that remain fairly common to date (e.g., flyvert-inne “female flight attendant”, venn-inne “female friend”). Other female suffixes only occur in few or individual nouns, but most of them are derived from masculine personal nouns as base forms (e.g., sykepleier-ske “female nurse”, baron-esse “baroness”, abbed-isse “prioresse”, kokk-e “female cook”, mass-øse “masseuse”; Bull/ Swan 2002: 231). Overall, female suffixes are disappearing from the language. Male-specific suffixes do not exist, thus pointing to an asymmetry that sees female representatives more often as being marked as the special case, while male representatives are viewed as the default. Furthermore, while the base forms are ambiguous in that they can be used to refer to men or to people in general, the suffixed forms are invariably female-specific and block generic uses. In the area of compounding, lexically gendered nouns are commonly used as heads in personal compounds. Prominent examples are nordmann “Norwegian” [lit. “north man”], landsmann “compatriot” [lit. “country man”], likemann “peer” [lit. “equal man”] and sidemann “neighbor” [lit. “side man”], which incorporate the noun mann “man” but are used to refer to Norwegians, compatriots, peers, and neighbors in general. Even a specific Norwegian woman is commonly called nordmann, which contrasts markedly with the situation in English, where compounds like Englishman or Frenchman would nowadays no longer be used for female reference. Alternatives that do not contain male forms are not well established in these cases. Instead of nordmann, gender-conscious language users may draw on nominalized adjectival uses (e.g., en norske lit. “a Norwegian [person]”; which parallels the terms for Dane [en danske] and Swede [en svenske] in Norwegian). A similar situation pertains to various occupational titles like sjømann “sailor” (lit. “seaman”), tillitsmann “union representative” (lit. “trust man”), or brann‐ mann “fireman”, which were traditionally used as male generics. Parallel formations with the noun kvinne either do not exist or are recent creations and, therefore, still fairly uncommon (e.g., sjøkvinne). An inclusion of women in these professions has been achieved through a declaration of these nouns as gender-neutral. As this may not be fully convincing, alternative, lexically Gender in Norwegian 241 <?page no="242"?> gender-neutral forms are sometimes preferred (e.g., brannkonstabel “firefighter”, tillitsvalgt lit. “trust elected [person]”, matros “sailor”). In a few cases, originally female professional compounds have also officially been claimed to be gender-neutral (e.g., jordmor “midwife”, helsesøster “nurse”). However, it is unclear how far such regulations can change people’s perception of these nouns. Compounds involving the component -mann are also quite common in the lexical field of criminals, where these forms suggest that representatives of cri‐ minal categories are normally men (e.g., gjerningsmann “perpetrator” [lit. “deed man”], voldsmann “assailant” [lit. “violence man”], overfallsmann “attacker” [lit. “attack man”], ransmann “robber” [lit. “robbery man”]; gender-neutral alternatives are, for example, gjerningsperson and raner). Besides mann-compounds, Norwegian knows some other formations in which lexically male forms are used in a generic sense: fedreland “fatherland”, byggherre “builder-owner” (lit. “build-lord”), bemanne “to man, to staff ”, over‐ manne “to overpower”, mannskap “crew”, mannen i gaten “the man in the street”, å dele broderlig “to share brotherly”, å ha baller “to have balls” (meaning “to be brave”). All of these examples express a male-as-norm thinking and are value-neutral or positive in their connotations. Expressions incorporating female nouns, by contrast, tend to have negative connotations (e.g., jentete “girly, sissy-like”, å kjøre som en kjerring “to drive like a woman”). Personal noun compounds incorporating female lexical items tend to be archaic and often denote professions that used to be performed by women exclusively (e.g., vaskekjerring “cleaning lady”, kontordame “female clerk, typist” [lit. “office lady”], stuepike “housemaid” [lit. “parlor girl”]. Other forms like karrierekvinne “career woman” and yrkeskvinne “working woman” point back to times when it was not yet normal for women to work outside the house. None of these formations has a male counterpart, as it was seen as normal for men to be breadwinners. The use of female lexical items as the specifying component in a compound regularly indicates that the concept denoted by the head of the compound is stereotypically male (e.g., damefotball “lady football”, kvinne‐ fotball “woman football”, contrasting with the use of the form fotball “football” for men’s football). An exception is the compound morsmål “mother tongue”, in which a female personal noun is used generically. Norwegian also has two compounds that flout the trend of female refe‐ rents being openly marked. In the formations enkemann “widower” (from enke “widow”) and brudgom “bridegroom” (from brud “bride”), it is the male form that is morphologically more complex than the female form. 242 Heiko Motschenbacher <?page no="243"?> In the field of kinship terms, compounding with lexically gendered forms is used to distinguish maternal from paternal relatives. Therefore, the mea‐ ning “grandmother” can be expressed by the noun bestemor or by the more specific forms mormor “maternal grandmother” (lit. “mother mother”) and farmor “paternal grandmother” (lit. “father mother”); for “grandfather”, there are three parallel options: bestefar, morfar and farfar. Similarly, to express the meaning of “uncle”, Norwegian possesses three forms: the general noun onkel as well as farbror (lit. “father brother”) and morbror (lit. “mother brother”) to denote paternal and maternal uncles. For the meaning “aunt”, the general term is tante, while the more specific terms faster and moster are blended compounds (far “father” + søster “sister”; mor “mother” + søster “sister”). Even beyond the specification of the maternal and paternal side, compounding is a common word-formation process that is used to create symmetrical, lexi‐ cally gendered kindship terms (e.g., stemor “stepmother”, stefar “stepfather”, stesønn “stepson”, stedatter “stepdaughter”; svigermor “mother-in-law”, svi‐ gerfar “father-in-law”, svigerdatter “daughter-in-law”, svigersønn “son-in-law”, svigersøster “sister-in-law”, svigerbror “brother-in-law”; the latter two are rarely used, as there are common alternatives: svigerinne “sister-in-law”, svoger “bro‐ ther-in-law”). Personal names Norwegian given names are in general gender-specific. Very few names can be used for women and men (e.g., Tore, Inge). The Norwegian naming law (Lov om personnavn, 2000) allows parents to give their children unisex or gender-ambiguous names. However, it is not allowed to give female babies male-specific names and vice versa (Schmidt-Jüngst 2014: 896). Despite the overall tendency in Norwegian to develop a higher degree of linguistic gender neutralization, Norwegian given names show an interesting development that seems to run counter to this overall trend. As Schmidt-Jüngst (2014) has shown, historical evidence of first-name development since the beginning of the 20 th century indicates that female and male names have become formally more distinct from each other, thereby evincing the effect of an increasing gender distinction in given names. This gender distinction can be observed in various phonological features, with female names becoming more sonorant, ending more frequently in open syllables, becoming shorter in terms of syllable number, and containing more vowels and fewer consonantal clusters than male names over time (e.g., female Emma, Ida, Nora vs. male Alexander, Andreas, Kristian). Morphologically, female given names are more likely to be derived from male names than vice versa - a situation that parallels the morphological patterns in Gender in Norwegian 243 <?page no="244"?> personal noun formation. Various suffixes can be used to turn male names into female names (e.g., Jakob-ine, Joakim-e, Anton-ie, Hans-y), and there is only one common suffix that can be used to create male names from other male or female names (e.g., Arnold-us, Dorthe-us; Alhaug 2002: 317-318). Norwegian surnames used to show a patronymic pattern according to which children were named as sons and daughters of their fathers. The children of a father whose first name was Erik, for example, would thus receive the surnames Eriksdatter [lit. “Erik’s daughter”] for girls and Eriksen [lit. “Erik’s son”] for boys. This naming practice was abandoned by law in 1923 (Norwegian Name Act) so that, from then on, children inherited the father’s surname (Alhaug 2002: 303). However, surnames with the suffix -sen are still quite common. Today, parents can choose whether their children should carry their father’s or their mother’s surname, or a combination of both surnames. Marital name choice traditionally showed a patriarchal pattern, with women (and their children) overwhelmingly taking on their husbands’ surnames in marriage. However, this has changed significantly, and today it is common for women to either keep their surnames or combine them as middle names with their husbands’ surnames. Men may also take over their wives’ names, but this is not a well-established pattern. Uri (2022: 61) discusses a recent study on heterosexual couples that showed that almost half of the Norwegian women in the dataset switched to their husband’s surname upon marriage, while only four percent of the men switched to their wife’s surname. Norwegian courtesy titles used to show similar asymmetries as in other European societies, with a twofold marital-status related distinction for women but just one term for men (fru “Mrs.”, frøken “Miss” vs. herr “Mr.”). The situation is more symmetrical when abbreviations are used in the written medium, as both fru and frøken can be abbreviated as fr., which can be interpreted as symmetrical to the male abbreviation hr. for herre. However, as part of Norway’s move toward greater social egalitarianism, the use of courtesy titles has almost fully disappeared. Quite to the contrary, it is highly common for people to address each other with given names, even in formal contexts. However, even in the absence of courtesy titles, women and men are often treated asymmetrically in naming practices, as there is a tendency to refer to female people by their given name only (Erna for former prime minister Erna Solberg), while men are more often referred to by their surname only or by a combination of their given name and surname(s) (Støre or Jonas Gahr Støre, the current prime minister of Norway; Uri 2022: 58-59). 244 Heiko Motschenbacher <?page no="245"?> 4 Psycholinguistic evidence on the comprehension of Norwegian personal nouns Psycholinguistic research on the comprehension of Norwegian role nouns shows that the perception of such nouns is affected by their gender stereotypical semantics and their grammatical gender. As morphologically feminized personal nouns are falling out of use in Norwegian, role nouns are in general common gender in Bokmål and masculine in Nynorsk. How these role nouns are per‐ ceived in reading and listening was tested in two studies (Gabriel/ Behne/ Gygax 2017; Gabriel/ Gygax 2008). The participants were presented with an initial sentence containing a role noun, and a following sentence, in which referential gender was made explicit (for example, I saw two students crossing the street. The women were in a hurry). Three sets of role nouns were used, depending on social gender: stereotypically female nouns (sykepleier “nurse”), stereotypically male nouns (pilot “pilot”), and gender-neutral nouns (fotgjenger “pedestrian”). The subjects were then asked whether the second sentence was a meaningful continuation of the first sentence. The responses and reaction times were documented. The findings indicated that, with stereotypically female and stereotypically male role nouns, stereotype conformity in the second sentence triggered more yes responses and shorter reaction times, which can be taken as evidence for the strong role that social gender plays in the perception of role nouns. Gender-neutral role nouns were more readily perceived as male-compatible by the participants. The researchers attributed this effect to grammatical gender, as role nouns are masculine in Nynorsk and used to be masculine in varieties of Norwegian that possess a two-gender system today. The interaction of semantic and grammatical factors in personal noun perception was summarized as “a male bias in the neutral condition due to the influence of the grammatical form used (namely the former masculine) that […] is amplified when the noun carries male stereotyped information but […] attenuated and even flipped into a female bias when the noun carries stereotypical information that opposes the grammatical information” (Gabriel/ Gygax 2008: 455). 5 Language reform In Norway, public awareness of linguistic gender biases increased in the 1970s. One milestone in this respect was Gerd Brantenberg’s (1977 [2020]) satirical novel Egalias Døtre (English translation: Egalia’s Daughters), in which the author linguistically creates a woman-centered society where a female-as-norm principle operates and the feminine is used in a generic fashion. These sub‐ Gender in Norwegian 245 <?page no="246"?> versive linguistic practices are meant to reverse common language use in Norwegian that treats men as the norm, for example, by using male or masculine forms generically. Among other feminocentric practices in Egalia, men’s names and male nouns are in general derived, often from women’s names and female nouns; the term for “human being” is not menneske (which could be argued to contain the form menn “men”) but kvinneske; and women are constructed as having sexual agency (for example, they are said to “take their orgasm” [å ta sin orgasme] rather than to “get an orgasm” [å få orgasme]; Flotow/ Solberg/ Les‐ singer 2021). Through the density of its gender-reversal, the novel reveals in a humorous fashion how male-biased ordinary Norwegian language use is. The Norwegian Language Council initiated a public discussion of gendered asymmetries in Norwegian language structures in 1980 (see Bull/ Swan 2002: 244-247). However, actual language policy efforts to address the identified problems became visible substantially later, when the Norwegian Language Council published its first guidelines for gender-fair language use (Norsk Språkråd og Kompetansesenter for Likestilling 1997). A major recommendation in these guidelines is to avoid gender specification as much as possible and to restrict it to contexts where a person’s gender needs to be made explicit for some reason. Gender specification is merely proposed for third-person pronominal usages (han eller hun/ ho/ ho/ hun eller han; to avoid male generic uses of han). Feminist linguists continue to raise awareness to the present day, pointing out many additional issues that bear witness to an asymmetrical treatment of women and men (Uri 2022). For instance, women are still more likely to be defined via men (e.g., as fotballfrue lit. “football wife” or komikerfrue “comedian wife” - terms used to describe women as wives of male football players and comedians) or to be linguistically constructed as a man’s possession (Lars og kona “Lars and his wife”). When referring to people as advokatsdatter “lawyer daughter” or sønnen til en regissør “the son of a director”, such terms are invariably perceived to talk about the person’s father rather than their mother, which supports traditional, patriarchal patterns of inheritance (Uri 2022: 111). Adjectival descriptions of female people show a tendency to focus more on women’s appearance, while men are more likely to be described in terms of their competences. Today, the awareness of linguistic gender bias and gender-related language reform remain marginal in Norwegian society, despite the fact that language and gender research has been conducted in Norway since the 1970s (see Bull 2021 for an overview of the various phases of this research field). Many Norwegians view Norway as a gender-fair society or think that language is irrelevant for achieving equality. Young women often do not perceive it 246 Heiko Motschenbacher <?page no="247"?> as a problem or misrepresentation when they are referred to as nordmenn. Admittedly, the historical development of Norwegian toward a grammatical two-gender system that no longer grammatically differentiates the feminine and masculine forms has caused fewer representational problems to surface at the level of language use. Therefore, it is not surprising that the latest push for gender-related language political actions, revolving around the introduction of the gender-neutral pronoun hen into Norwegian, is actually not driven by a motivation to make language more inclusive for women but rather to include non-binary people (Eide 2020). 6 Conclusion Norway has never been a society where gender-related language policies have been handled progressively. One reason for this may be a dominant focus on the protection of linguistic varieties on Norwegian soil (Nynorsk against Bokmål; Norwegian against English; minority languages like Sami against Norwegian), which has pushed gender issues to the background. Another reason may be that Norwegians tend to perceive their society as fully egalitarian and, therefore, they are not concerned about gender discrimination or bias, let alone linguistic gender representation. Gender-related language policy actions have generally followed rather than promoted ideological changes in society. They have not been trendsetting but rather inspired by progressive developments in other countries, with Norway merely following suit. Norwegian represents a special case for gender representation, as it includes both varieties with a grammatical feminine-masculine contrast and varieties without such a distinction. In contrast to other languages with a grammatical feminine-masculine contrast (such as French and German), which have tra‐ ditionally encouraged a specification of female and male referents (gender splitting), Norwegian language policies have overwhelmingly recommended using gender neutralization as a remedy strategy for linguistic gender bias. This recommendation has more recently received support from language policies that aim at including non-binary people, mainly through the adoption of the gender-neutral pronoun hen. Where (binary) referential gender has to be specified, a central recommendation is to treat female and male referents in a fully symmetrical way (Uri 2022). Foregrounding gender neutralization has become possible because Norwe‐ gian is in a process of language change in which the three-gender system is gradually replaced by a two-gender system. In this latter system, it is feasible to treat (or declare) common gender personal nouns as gender neutral, even Gender in Norwegian 247 <?page no="248"?> though they may have social gender biases at the connotational level and can historically be traced back to grammatically masculine nouns. Whether or not this strategy is successful cannot be assessed yet. The future will tell if Norwegian language users are able to overcome gender stereotypes and the historical heritage of the masculine grammatical gender in their perception of personal nouns. What distinguishes the Norwegian way from that of the French and German speech communities is that it is, in general, not the introduction of new, supposedly more inclusive forms that is viewed as key. It could be argued that it is impossible to find or create forms that are fully inclusive, as there will always be people who do not feel included by certain forms. Instead of trying to change linguistic forms, a more promising way forward may be to work with the forms that already exist, as an attempt to change their meaning potential. This corresponds to an understanding of language structures as discursively shaped (Motschenbacher 2016). Such an understanding also seems to underlie gender-related Norwegian language policies, whose central recommendation is to use (formerly) grammatically masculine nouns in a gender-inclusive way. Bibliography Alhaug, Gulbrand (2002): Personal names in North Norway. Onoma 37, 301-322. Brantenberg, Gerd (1977 [2020]): Egalias Døtre. Oslo: Aschehoug. Bugge, Edit/ Bukve, Trude/ Myklebust, Hege (2023): Pronomenet hen praktisk og politisk: Ei undersøking av meiningar blant høgskuletilsette om rettskrivingsendringa i 2022. Målbryting 14, 1-26. Bull, Tove (2021): Kjønna språk og språkbruk før og no. Målbryting 12, 1-24. Bull, Tove/ Swan, Toril (2002): The representation of gender in Norwegian. In: Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (eds.): Gender Across Languages: The Linguistic Repre‐ sentation of Women and Men. Vol. II. Amsterdam: John Benjamins, 219-249. Eide, Mari Lund (2020): Han, hun, men ikke hen - Hvorfor det, egentlig? Replikk 48, 20-27. Enger, Hans-Olav (2009): The role of core and non-core semantic rules in gender assignment. Lingua 119 (9), 1281-1299. —-(2015): When friends and teachers become hybrids (even more than they were). In: Fleischer, Jürg/ Rieken, Elisabeth/ Widmer, Paul (eds.): Agreement from a Diachronic Perspective. Berlin: De Gruyter, 215-234. Gabriel, Ute/ Behne, Dawn M./ Gygax, Pascal (2017): Speech vs. reading comprehension: An explorative study of gender representations in Norwegian. Journal of Cognitive Psychology 29 (7), 795-808. 248 Heiko Motschenbacher <?page no="249"?> Gabriel, Ute/ Gygax, Pascal (2008): Can societal language amendments change gender representation? The case of Norway. Scandinavian Journal of Psychology 49 (5), 451-457. Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (2001): Gender across languages: The linguistic representation of women and men. In: Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (eds.): Gender Across Languages: The Linguistic Representation of Women and Men: Vol. I. Amsterdam: John Benjamins, 1-25. Jahr, Ernst Håkon (2018): Two centuries of Norwegian language planning and policy: Why and how it all started, and how it is divided into three different periods. In: Jahr, Ernst Håkon (ed.): Perspectives on Two Centuries of Norwegian Language Planning and Policy: Theoretical Implications and Lessons Learnt. Uppsala: Kungliga Gustav Adolfs Akademien för Svensk Folkkultur, 9-14. Lundquist, Björn/ Klassen, Rachel/ Westergaard, Marit (2022): Dynamikken i en språkend‐ ringsprosess: Bortfall av hunkjønnsformer i norsk. Norsk Lingvistisk Tidsskrift 40, 27-56. Motschenbacher, Heiko (2015): Some new perspectives on gendered language structures. In: Hellinger, Marlis/ Motschenbacher, Heiko (eds.): Gender Across Languages: The Linguistic Representation of Women and Men. Vol. 4. Amsterdam: John Benjamins, 27-48. — (2016): A discursive approach to structural gender linguistics: Theoretical and metho‐ dological considerations. Gender and Language 10 (2), 149-169. Norsk Språkråd og Kompetansesenter for Likestilling (1997): Kjønn, Språk, Likestilling. Oslo: Norsk Språkråd. Opsahl, Toril (2021): Dead, but won’t lie down? Grammatical gender among Norwegians. Journal of Germanic Linguistics 33 (1), 122-146. Rodina, Yulia/ Westergaard, Marit (2021): Grammatical gender and declension class in language change: A study of the loss of feminine gender in Norwegian. Journal of Germanic Linguistics 33 (3), 235-263. Schmidt-Jüngst, Miriam (2014): Gestern Ingeborg und Sigurd, heute Linnea und Mathias: Zur Profilierung sexusmarkierender phonologischer Strukturen in norwegischen Rufnamen. In: Tort i Donada, Joan/ Montagut i Montagut, Montserrat (eds.): Names in Daily Life: Proceedings of the XXIV ICOS International Congress of Onomastic Sciences. Barcelona: Generalitat de Catalunya, 895-906. Schulz Muriel R. (1975): The semantic derogation of woman. In: Thorne, Barrie/ Henley, Nancy (eds.): Language and Sex: Difference and Dominance. Rowley, MA: Newbury House, 64-75. Språkrådet (2024a): Hen. https: / / www.sprakradet.no/ svardatabase/ sporsmal-og-svar/ he n/ . 16.01.2024. Gender in Norwegian 249 <?page no="250"?> Språkrådet (2024b): Kjønnsnøytrale yrkesbetegnelser: Hvordan er reglene for bruk av kjønnsnøytrale yrkestitler? https: / / www.sprakradet.no/ svardatabase/ sporsmal-og-sv ar/ kjonnsnoytrale-yrkesbenevnelser/ . 24.03.2024. Sunderland Jane (2020): Gender, language and prejudice: Implicit sexism in the discourse of Boris Johnson. Open Linguistics 6 (1), 323-333. Swan, Toril (2007): Babes, bimboer and hønker. In: Gunnarsson, Britt-Louise/ Entzenberg, Sonja/ Ohlsson, Maria (eds.): Språk och Kön i Nutida och Historiskt Perspektiv: Studier Presenterade vid den Sjätte Nordiska Konferensen om Språk och Kön. Uppsala: Uppsala Universitet, 264-272. Uri, Helene (2022): Han, Hun og Hen: Håndbok i Språk og Makt. Oslo: Gyldendal. von Flotow, Luise/ Solberg, Ida Hove/ Lessinger, Enora (2021): Laughing at ‘normality’: Gerd Brantenberg’s Egalias Døtre in translation. Lexis 17, 1-22. 250 Heiko Motschenbacher <?page no="251"?> Gendern im Schwedischen: Sprachsystematische, gebrauchsbezogene und metapragmatische Aspekte Magnus P. Ängsal Zusammenfassung: In diesem Beitrag werden Möglichkeiten und Her‐ ausforderungen des Genderns im Schwedischen ausgelotet. Auf sprach‐ historischer Grundlage werden sprachsystematische Voraussetzungen, Gebrauchsaspekte und metapragmatische Gesichtspunkte in Betracht ge‐ zogen. Die schwedische Grammatik ist durch ein Zwei-Genus-System und eine geringe Anzahl morphologischer Genusmarkierungen gekenn‐ zeichnet, weshalb Gendern aus sprachsystematischer Sicht hier nur ein begrenztes Problem darstellt. Im Hinblick auf das Ziel einer sprachlichen Gleichbehandlung wird tendenziell das Verfahren der Neutralisation ein‐ gesetzt. Die Auseinandersetzungen in der Genderfrage waren lange Zeit kaum ideologisch befrachtet. Seit ca. 2010 ist Gendern jedoch wiederholt zu einem sprachkritischen Streitthema geworden, auch in der Öffentlichkeit. Der Auslöser waren oft Vorschläge zur Einführung von Neologismen wie dem aus dem Finnischen entlehnten geschlechtsneutralen Pronomen hen. Mit solchen Ansätzen ist eine Kritik am binären Zweigeschlechtsmodell verbunden, weshalb sie als Ausdruck queerer Positionen einzuordnen sind. Schlüsselbegriffe: Schwedisch, Genus, Zwei-Genus-System, Gendern, Sprachkritik, Metapragmatik, queer, hen 1 Einleitung Das Schwedische fungiert als Amtssprache in zwei nordeuropäischen Ländern, die, gemessen an internationalen Kriterien, als hochgradig gleichgestellte Ge‐ sellschaften herausragen (World Economic Forum 2022: 10): in Schweden, wo es als Erstsprache der Bevölkerungsmehrheit die einzige offizielle Sprache ist, und <?page no="252"?> in Finnland, wo neben Finnisch auch Schwedisch als Minderheitensprache und Erstsprache für ca. 300000 Personen eine gesetzlich verankerte Amtssprache ist (Teleman/ Hellberg/ Andersson 1999a: 20-21). Dass politisch und ideologisch bedingte Diskurse zur Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, zum Femi‐ nismus, zu Sexismus, queeren Sichtweisen auf Geschlechterkategorien usw. in diesen beiden Ländern auch eine auf Sprache und Sprachgebrauch bezogene Dimension entfaltet haben, wundert vor diesem Hintergrund nicht. Grammati‐ sches Genus stellt in der schwedischen Sprache weniger als etwa im Deutschen, Isländischen oder Spanischen eine sprachsystemisch sichtbare Kategorie dar. Dennoch werden auch im Schwedischen Fragen der sprachlichen Gleichbe‐ handlung bzw. des Genderns und deren Verbindung zu sprachstrukturell und lexikalisch gegebenen Genusmarkierungen - zum Teil kontrovers - diskutiert. In diesem Beitrag wird anhand konkreter Beispiele ein Überblick über Möglichkeiten und Probleme des Genderns im Schwedischen gegeben. Zu‐ nächst erfolgt eine allgemeine, teilweise historisch verankerte Erläuterung des schwedischen Genussystems, die durch die Betrachtung einiger nordischer, typologisch und genetisch nahestehender Nachbarsprachen weiter kontextua‐ lisiert wird (Teil 2). Auf dieser sprachsystematischen Basis lassen sich sodann Rückschlüsse auf die konkreten Möglichkeiten von Gendern als sprachlichem Handeln ziehen. Mit Diewald/ Steinhauer (2017: 5) wird Gendern hier als „ein sprachliches Verfahren, um Gleichberechtigung, d. h. die gleiche und faire Behandlung von Frauen und Männern im Sprachgebrauch zu erreichen“, an‐ gesehen; der Begriff schließt somit auch andere sprachliche Ressourcen als das wie auch immer erfasste grammatische Genus im engeren Sinne mit ein. Auch im darauffolgenden Teil wird allgemein auf Genus als grammatische Kategorie Bezug genommen, doch treten hier verstärkt die Möglichkeiten sowie Probleme des Genderns als Sprachgebrauchsphänomen im heutigen Schwedisch im Kontext von Sprachpolitik und offiziell betriebener Sprachpflege in den Mittelpunkt. Anhand einiger zentraler Diskussionsthemen zu Sprache und Gendern im gegenwärtigen Schwedisch werden sodann metapragmatische bzw. sprachkritische Perspektiven auf einige zuvor vorgestellten Möglichkeiten des Genderns beleuchtet; dabei liegt der Schwerpunkt auf Fragestellungen, die in letzter Zeit von queeren und sprachaktivistischen Kreisen aufgeworfen wurden. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit und einem Ausblick. 252 Magnus P. Ängsal <?page no="253"?> 1 Das Genus commune wird in der schwedisch(sprachig)en Grammatiktradition häufig utrum genannt (vgl. Teleman/ Hellberg/ Andersson 1999b: 58). Auch Andersson (2000) verwendet in seinem englischsprachigen Beitrag zum Genus im Schwedischen den Begriff utrum. Im Folgenden wird in diesem Beitrag der Terminus grammatisches Genus gebraucht, das Andersson (2000) und viele andere lexikalisches Genus nennen. 2 Sprachsystematische Grundlagen: Genus und Gendern im Schwedischen Auch wenn sich mit gutem Grund darüber streiten lässt, wie viele Genuskate‐ gorien das Schwedische besitzt und auf welcher Grundlage diese zu erfassen sind (vgl. Källström 1995; Andersson 2000), lässt sich im Bereich des grammatischen, gelegentlich auch „lexikalisch“ genannten Genus im Anschluss an die Ausfüh‐ rungen von Audring (2006: 73; 2010) und Kürschner (2020: 261) zum Genus in den germanischen Sprachen festhalten, dass das heutige Standardschwedisch über zwei adnominale Genera verfügt, das Genus commune (Utrum) und das Neutrum. 1 Es unterscheidet sich diesbezüglich von anderen germanischen Sprachen wie Deutsch, Isländisch und Jiddisch, die drei Genera - Maskulinum, Femininum und Neutrum - haben, sowie vom Englischen und Afrikaans, zwei weiteren germanischen Sprachen, die nur ein Genus kennen (vgl. Kürschner 2020: 261). Nach statistischen Berechnungen auf der Grundlage pressesprachli‐ chen Materials sind von den schwedischen Nomina etwa drei Viertel utral und die restlichen neutral, wobei die allermeisten Animata dem Genus commune angehören und nur wenige Lebewesen bezeichnende Substantive, insbesondere Personenbezeichnungen, neutral sind (vgl. Teleman/ Hellberg/ Andersson 1999b: 59). Zusätzlich zum grammatischen Genus ist mit Andersson (2000: 546) ein referenzielles oder semantisches Genus anzunehmen, das sich nicht aus wort‐ inhärenten Charakteristika, sondern aus Eigenschaften des Referenten ergibt. Während das grammatische Genus im Schwedischen vor allem durch den Artikel (definit oder indefinit) zum Ausdruck kommt, manifestiert sich das referenzielle Genus durch andere sprachliche Mittel, z. B. durch die Wahl des Personalpronomens in der dritten Person Singular (Mask: han ‚er‘ bzw. fem.: hon ‚sie‘). Zusammenfassend können wir mit Andersson (2000: 550) die schwedische Genusklassifikation, von ihm als „standard gender analysis“ ausgewiesen, nach der grundsätzlichen Differenzierung in grammatisches und referenzielles Genus folgendermaßen visualisieren: Gendern im Schwedischen 253 <?page no="254"?> Referenzielles Genus - - animat inanimat - - Maskulinum Femininum - Grammatisches Genus Utrum lärare ‚Lehrer‘ elev ‚Schüler‘ medborgare ‚Bürger‘ stadsbo ‚Stadtbewohner‘ stol ‚Stuhl‘ bok ‚Buch‘ pojke ‚Junge‘ make ‚Ehegatte‘ kung ‚König‘ flicka ‚Mäd‐ chen‘ fru ‚Ehegattin‘ drottning ‚Kö‐ nigin‘ ---bord ‚Tisch‘ häfte ‚Heft‘ Neutrum statsråd ‚Minister‘ affärsbiträde ‚Verkäufer‘ vittne ‚Zeuge‘ - fruntimmer ‚Frau‘ Tab. 1: Genusklassifikation im Schwedischen nach Andersson (2000: 550) Im Unterschied zum grammatischen Genus im Schwedischen, das wie gesagt le‐ diglich zwei Kategorien kennt, geht mit dem referenziellen Genus eine Reihe von Differenzierungen einher. So wird zwischen animat und inanimat unterschieden und bei den animaten, utralen Nomina eine weitere Differenzierung in Masku‐ linum und Femininum vorgenommen. Einige wenige Personenbezeichnungen mit femininem referenziellem Genus sind grammatisch neutral, z. B. fruntimmer ‚Frau‘. Man vergleiche hier das Deutsche, das in wenigen Fällen ebenso von dem Prinzip abweicht, dem zufolge referenziell weibliche Personenbezeichnungen grammatisch feminin sind, z. B. mit dem Wort Weib, das Nübling (2019: 35) zu den sogenannten „Genus-Sexus-Diskordanzen“ zählt. Zuletzt sei an dieser Stelle bemerkt, dass es auch inanimate Nomina gibt, die dem Genus utrum oder dem Neutrum angehören, wobei hier die Differenzierung maskulin-feminin entfällt. Das adnominale, grammatische Genus ist im Schwedischen vor allem durch den vorangestellten (indefiniten) und den synthetisch nachgestellten (definiten) Artikel markiert. Schematisch lässt sich das adnominale Zwei-Genus-System am Beispiel von person ‚Person‘ (Genus commune) und barn ‚Kind‘ (Neutrum) veranschaulichen. Aufgrund der durchgehend verwendeten nachgestellten Ge‐ nusmorpheme -en bzw. -et werden beide Genera übrigens einschlägig auch als n-Genus (Genus commune) bzw. t-Genus bezeichnet. 254 Magnus P. Ängsal <?page no="255"?> Genus commune Indef. Ar‐ tikel Nomen Def. Artikel en person ‚eine Person‘ (indef.) - - - - - Schw. en person - - Dt. eine Person - personen ‚die Person‘ (def.) - - - - - Schw. - person -en - Dt. - Person die Neutrum - - - - ett barn ‚ein Kind‘ (indef.) - - - - - Schw. ett barn - - Dt. ein Kind - barnet ‚das Kind‘ (def.) - - - - - Schw. - barn -et - Dt. - Kind das Tab. 2: Adnominale Genera im Schwedischen Im Bereich der Pronomina verfügt das Schwedische dagegen über weitere Genera, Maskulinum, Femininum und Neutrum sowie Genus commune (vgl. unten, Tab. 3). Andersson (2000) zufolge liegt hier ein kategorialer Verbund grammatischer und referenzieller Genera vor; diese Kombination pronominaler Genera hat das Schwedische nur mit Dänisch und Norwegisch (bokmål) gemein (vgl. Kürschner 2020: 261). Exemplarisch lassen sich die Genera im Schwedischen am Bestand der Personalpronomina im Nominativ demonstrieren. Die Genusdifferenz macht sich nur in der dritten Person Singular bemerkbar, charakterisiert jedoch auch die Objektsform des Personalpronomens sowie das Repertoire der Possessiv‐ pronomina der dritten Person (vgl. Teleman/ Hellberg/ Andersson 1999b: 296). Gendern im Schwedischen 255 <?page no="256"?> 2 Siehe außerdem Niedling/ Raitaniemi in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Schw. Genus Dt. Genus 1. Pers. Sg. jag - ich - - 2. Pers. Sg. du - du - - 3. Pers. Sg. han Mask. er Mask. - - hon Fem. sie Fem. - - den GC. - - - - det Neutr. es Neutr. - - hen geschlechtsindifferent - - - 1. Pers. Pl. vi - wir - - 2. Pers. Pl. ni - ihr - - 3. Pers. Pl. de - sie/ Sie - - Tab. 3: Pronominales Genus im Schwedischen am Beispiel der Personalpronomina im Nominativ Zu dem Pronomen hen, auf das weiter unten noch ausführlicher eingegangen wird, sei an dieser Stelle lediglich bemerkt, dass es sich um eine intendiert geschlechtsneutrale queere Neuerung handelt, die ursprünglich aus dem Finni‐ schen entlehnt wurde (vgl. Ängsal 2015: 86-89). 2 Trotz seines inzwischen recht weit verbreiteten Gebrauchs (vgl. Ledin/ Lyngfelt 2013; Milles 2013) und seiner Aufnahme in das prestigereiche Akademie-Wörterbuch Svenska Akademiens Ordlista (vgl. SAOL 2015) hat dieses Pronomen jedoch einen etwas diffusen Status: Ist hen neben Maskulinum (han), Femininum (hon) und Genus commune (den) als ein weiteres referenzielles, geschlechtsindifferentes Genus oder eher als Variante des Genus commune zu verstehen? Unter grammatischem Gesichts‐ punkt verhält es sich jedenfalls am ehesten wie das dem Genus commune zugehörige Pronomen den, mit dem Unterschied, dass hen in erster Linie Animata, hier vorwiegend Menschen, bezeichnet, den dagegen tendenziell nicht-menschliche Animata und Inanimata. 256 Magnus P. Ängsal <?page no="257"?> 3 Siehe Motschenbacher in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Zumindest für Schwedisch und Dänisch ist Braunmüllers Bemerkung (2000: 26), das Zwei-Genus-System sei typisch für die nordgermanischen Sprachen, zutreffend. Zwar hält auch das Norwegische (bokmål) weitgehend ein Zwei-Genus-System aufrecht, doch hat sich im Zuge bestimmter Sprach‐ planungsmaßnahmen in der ersten Hälfte des 20. Jh. sowie der ständigen Sprachkontaktsituation zur westnorwegischen Drei-Genus-Varietät nynorsk (Neunorwegisch) das Drei-Genus-System zum Teil erneut etabliert. 3 Van Epps (2019: 26) weist darauf hin, dass die drei Genera auch in einigen schwedischen Dialekten weiter Bestand haben. Die hochflektierenden Sprachen Isländisch und Färöisch zeichnen sich weiterhin durch ein stabiles Drei-Genus-System aus. Wenn wir eine historische Perspektive auf die gegenwärtige, hier bereits kurz skizzierte Genusordnung des Schwedischen einnehmen, so ist zunächst festzuhalten, dass Schwedisch sich wie andere germanische Sprachen von dem für indoeuropäische Sprachen charakteristischen Drei-Genus-System hin zu einem Zwei-Genus-System entwickelt hat. Im Altnordischen und Altschwedi‐ schen gab es immer noch drei Genera und ein weit ausgebautes Kasussystem. Wie Duke (2010) und van Epps (2019) hervorheben, hat die Entwicklung hin zu einem Zwei-Genus-System für das Schwedische wahrscheinlich bereits im 16. Jh. eingesetzt. Dieser Prozess ist vermutlich mit dem graduellen Abbau des Kasussystems im Schwedischen zu erklären: Mit immer weniger Kasusformen standen weniger Mittel zur Genusmarkierung zur Verfügung. Zur Anpassung des pronominalen Genus an die Vereinfachung des grammatischen Genussys‐ tems schreibt van Epps (2019: 28) zusammenfassend: After the loss of the three-gender distinction within the noun phrase, the pronominal system shifted to align with the new two-gender system. No longer backed by a rich inflectional system, the masculine/ feminine distinction in inanimate nouns eroded, and the pronominal system was restructured along semantic lines. Han ‘he’ and hon ‘she’ were still used as personal pronouns for referents with a specific biological sex, while the demonstrative den was recruited for non-human common gender referents. The neuter pronoun det was preserved for neuter referents. Duke (2010: 653) erklärt den Zusammenfall von Maskulinum und Femininum am klitisierten Definitheitsmarker ihrerseits mit zwei phonologischen Prozessen, dem Schwund des wortinternen maskulinen -r im Nominativ Singular und der Abschwächung langer finaler Konsonanten. Umstritten bleibt, inwiefern der Genusschwund im Schwedischen (auch) auf Sprachkontakt zum Niederdeut‐ schen zurückgeht. Der Einfluss des Niederdeutschen auf dänische, norwegische Gendern im Schwedischen 257 <?page no="258"?> und schwedische Dialekte ist zwar generell belegt, doch zweifelt Duke (2010: 654-657) die Sprachkontakthypothese mit der Begründung an, es habe keinen weiteren Fall von „structural borrowing“ aus dem Niederdeutschen in die betreffenden skandinavischen Sprachen gegeben; zudem seien Anzeichen eines Zusammenfalls von Femininum und Maskulinum im Dänischen schon für die Zeit belegt, für die man noch nicht von einem nennenswerten Sprachkontakt ausgehen kann. 3 Möglichkeiten des Genderns im gegenwärtigen Schwedisch Im Anschluss an diese Darstellung des schwedischen Genussystems ist nun aufzuzeigen, wie auf Schwedisch gegendert werden kann und wo mögliche Herausforderungen liegen. Im Schwedischen gibt es, wie wir gesehen haben, weniger Mittel der grammatischen Genusdifferenzierung als im Deutschen. Mit Bezug auf Nomina, insbesondere Personenbezeichnungen, ist resümierend festzuhalten: Die schwedische Sprache verfügt über zwei grammatische Genera, das Genus commune oder das Utrum, dem nahezu alle Personenbezeichnungen zuzuordnen sind, und das Genus neutrum, dem lediglich einige Personenbe‐ zeichnungen als Ausnahmen angehören. Sofern es zum Gendern als sprachli‐ ches Handeln zum Zwecke sprachlicher Gleichbehandlung kommt, bietet das grammatische Genus im Schwedischen demnach im Fall von Personenbezeich‐ nungen überhaupt keine Möglichkeiten. 3.1 Gendern und Personenbezeichnungen Viele, wenn auch nicht alle Personenbezeichnungen, die auf einheimischer Sprachbasis als Nomina agentis gebildet sind, enden mit dem Suffix -are, nach Ekberg (1995: 179) die schwedische Ausprägung eines gesamtgermani‐ schen Wortbildungssuffixes lateinischen Ursprungs, das im Deutschen als -er erscheint. Personenbezeichnungen wie lärare ‚Lehrer‘, skomakare ‚Schuhma‐ cher‘, bagare ‚Bäcker‘ machen dies deutlich. Wie im Deutschen ist die Pluralform dieser Nomina mit der Singularform identisch. Dieses Wortbildungsmorphem ist im Schwedischen produktiv und wird häufig auch für Wortbildungen zur Be‐ zeichnung von Unbelebtem herangezogen, wie bei vattenmätare ‚Wasserzähler‘ und svävare ‚Luftkissenfahrzeug‘ (vgl. Teleman/ Hellberg/ Andersson 1999b: 39). Auch mit Fremdsuffixen wie -ent (president), -ant (representant), -or (professor) und -ör (chaufför ‚Fahrer‘) lassen sich Personenbezeichnungen im Schwedischen bilden. 258 Magnus P. Ängsal <?page no="259"?> 4 Der Sprachenrat (Språkrådet, eine Abteilung der nationalen Behörde Institutet för språk och folkminnen) ist für die praktische Umsetzung des schwedischen Sprachgesetzes (2009: 600) und die Korpusplanung des Schwedischen, d. h. sprachpflegerische Maß‐ nahmen wie Normierung, Standardisierung und Terminologieentwicklung, zuständig. Der Geltungsbereich des Sprachgesetzes erstreckt sich auf den offiziellen Sprachge‐ brauch von Behörden sowie kommerziellen und weiteren privaten Akteuren, die Auf‐ gaben im Auftrag von Behörden wahrnehmen. Darüber hinaus kommt dem Sprachenrat im öffentlichen Leben eine allgemein ratgebende Rolle zu; so besteht beispielsweise für jede und jeden die Möglichkeit, auf der Homepage des Sprachenrats Sprachfragen zu stellen, deren Antworten durch die MitarbeiterInnen auch dort publiziert werden. Die MitarbeiterInnen des Sprachenrats beantworten auch in verschiedenen Medienka‐ nälen wie Tageszeitungen und Radiosendungen häufig Fragen, die von interessierten SprachteilhaberInnen gestellt wurden. Der Sprachenrat äußert sich auch öffentlich zu sprachlichen Zweifelsfällen und kontrovers diskutierten Fragen, beispielsweise im Bereich der Orthografie. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Sprachenrat neben der Schwedischen Akademie diejenige Institution in Schweden darstellt, der in puncto Sprachpflege am ehesten eine Expertenrolle zugesprochen wird. Von Seiten der offiziellen Sprachpflege in Schweden, durch den Sprachenrat, werden Personenbezeichnungen mit der ursprünglich maskulinen Endung -are gemeinhin als unproblematisch und geschlechtsneutral angesehen (Milles 2008; Svenska språknämnden 2005; Språkrådet 2022). 4 Ausgehend von der Auswer‐ tung einer Umfrage berichtet Milles (2008: 37-40), dass einige Befragte die Suffixe -are und -ör als nicht völlig geschlechtsneutral betrachten; auch in dem Sprachratgeber Språkriktighetsboken (Svenska språknämden 2005: 81) wird auf diese Vorstellung verwiesen. Umgekehrt lässt sich daraus schließen, dass es möglicherweise doch eine schwache Tendenz zur nicht-geschlechtsneutralen Interpretation ursprünglich maskuliner Ableitungssuffixe gibt, obwohl deren Geschlechtsneutralität offiziell propagiert wird. Verkomplizierend kommt hinzu, dass sich die allermeisten utralen Personen‐ bezeichnungen movieren lassen. Neben der vermeintlich geschlechtsneutralen Form gibt es somit zumindest potenziell eine movierte Form mit der Bedeutung [+ weiblich], die der deutschen Movierung ähnelt und häufig zudem Konsonan‐ tentilgung und Vokalwechsel veranlasst, ohne das grammatische Genus des Hauptwortes zu verändern. Bekannte Movierungssuffixe sind -inna, -ska, -essa, -ös, -a. Greifen wir auf die obigen Beispiele zurück, so lauten diese in ihrer movierten Form lärare > lärarinna ‚Lehrerin‘; bagare > bagerska ‚Bäckerin‘; sko‐ makare > skomakerska ‚Schuhmacherin‘; president > presidentska ‚Präsidentin‘; representant > representantska ‚Repräsentantin‘; professor > professorska ‚Profes‐ sorin‘; chaufför > chaufförska ‚Fahrerin‘. Das Movierungssuffix -essa kommt beispielsweise in baron > baronessa ‚Baronin‘, -ös in dansör > dansös ‚Tänzerin‘ Gendern im Schwedischen 259 <?page no="260"?> vor. Als Beispiel für die Movierung mit -a sei hier kock ‚Koch‘ > kocka ‚Köchin‘ angeführt. Dass es diese femininen Parallelformen überhaupt gibt, könnte zu der be‐ reits erwähnten Interpretation von -are und -ör als nicht geschlechtsneutral beitragen. Andererseits werden movierte Formen der Einschätzung in Språkriktighetsboken (Svenska språknämnden 2005: 85) zufolge immer seltener be‐ nutzt, im Kontrast zum Deutschen, das seit den Anfängen der feministischen Sprachkritik in den 1970er Jahren den entgegengesetzten Weg eingeschlagen hat (vgl. Ängsal 2020: 67). Bei Bezeichnungen für künstlerische Tätigkeiten werden movierte Formen wie skådespelerska ‚Schauspielerin‘ allerdings weiter häufig verwendet (vgl. Svenska språknämnden 2005: 84), ebenso gelegentlich bei Bezeichnungen für Sportlerinnen wie simhopperska ‚Wasserspringerin‘, was sich möglicherweise durch die geschlechtlich kodierte Aufteilung im Sport erklärt. Auch Lexeme zur Bezeichnung bestimmter sozialer Rollen kommen gelegentlich in der femininen Form vor; vgl. etwa värdinna ‚Gastgeberin‘ bei einem Empfang oder Fest oder das historisierende hjältinna ‚Heldin‘, doch insgesamt scheint der Gebrauch movierter Formen bei Berufsbezeichnungen, Gelegenheitsbildungen und weiteren Personenbezeichnungen zurückzugehen. Ähnlich wie im Deutschen und anderen europäischen Sprachen gibt es zudem Beispiele für das sog. matrimonielle Femininum, bei dem die movierte Form ‚Ehefrau von X‘ bedeutet, etwa doktorinna ‚Doktorin; Ehefrau des Doktors‘; derartige Personenbezeichnungen gelten jedoch als veraltet und werden immer seltener verwendet. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gegenläufigen Entwicklung im deut‐ schen Sprachraum stellt sich für das Schwedische daher die Frage, weshalb movierte Formen nicht häufiger in Anspruch genommen werden, um die sprachliche Sichtbarmachung von Frauen zu gewährleisten. Dafür gibt es vor allem zwei Erklärungen. Zum einen ist grammatisches Genus, wie oben ausgeführt, im Schwedischen nur selten eine overte Kategorie, weshalb einst maskuline Endungen wie -are und -ör in der Regel als geschlechtsneutral aufgefasst werden. In sprachpflegerischer und vermutlich auch psychologischer Hinsicht wäre der Weg einer sprachlichen Ausdifferenzierung und Hervorhe‐ bung von Genus mit weit größerem Aufwand als im Deutschen verbunden gewesen. So lässt sich erklären, dass movierte Formen im Schwedischen all‐ gemein im Kontext des Genderns als nicht notwendig oder gar überflüssig angesehen werden. Zum anderen hat die offizielle - auch von großen Teilen der Frauenbewegung seit den 1970er Jahren bevorzugte - Strategie zur sprach‐ lichen Gleichstellung den Schwerpunkt dezidiert auf Neutralisation und auf die Beseitigung der als irrelevant angesehenen Geschlechtsmarkierungen ge‐ 260 Magnus P. Ängsal <?page no="261"?> 5 „Men det finns möjligheter att undvika problemen [= med att skriva könsneutralt; Anm. des Verf.] med hjälp av formuleringar som inkluderar både kvinnor och män utan att i onödan lyfta fram kön“ (zit. n. Milles 2008: 35). legt (vgl. Edlund/ Erson/ Milles 2007: 191). Diese Linie wird prominent von der offiziellen Sprachpflege vertreten, die geschlechtsneutrale Bezeichnungen anstelle gegenderter Differenzierungen propagiert (vgl. Svenska språknämnden 2005, Språkrådet 2022). Eine Schlüsselformulierung in dem vom Sprachenrat herausgegebenen Sprachratgeber lautet: ‚Es gibt jedoch Wege, solche Probleme [= beim geschlechtsneutralen Schreiben] zu vermeiden, und zwar durch Formulierungen, die sowohl Frauen als auch Männer miteinschließen, ohne das Geschlecht unnötig hervorzuheben.‘ 5 Inwiefern die Hervorhebung von Geschlecht als erwünscht oder überflüssig angesehen wird, ist immer eine Frage der Angemessenheit bzw. der kommunika‐ tiven Relevanz. Wenn man aber die Geschlechtszugehörigkeit der ReferentInnen herausstellen möchte, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, der Personenbe‐ zeichnung ein attributiv gebrauchtes Adjektiv wie kvinnlig ‚weiblich‘ oder manlig ‚männlich‘ voranzustellen (vgl. Hornscheidt 2003: 353). Eine weitere Möglichkeit des Genderns besteht in Wortbildungen mit kvinno- ‚Frauen-‘ und, dies jedoch erheblich seltener, mans- ‚Manns-‘ als Determinans. Auf diese Weise ist laut Hornscheidt (2003: 353) beispielsweise kvinnopräst ‚weiblicher Pfarrer/ Pfarrerin‘ gebildet worden. Wie diese Wortbildung zeigt, kann die Markierung des Geschlechts eine kommunikative Relevanz besitzen, da die Ernennung weiblicher Pfarrer im Kontext der schwedischen (ehemals staatlichen) Kirche lange Gegenstand theologischer und politischer Auseinandersetzungen war. Wie das Deutsche verzeichnet das Schwedische eine Reihe frequenter Perso‐ nenbezeichnungen, die auf -man ‚Mann‘ oder (seltener) kvinna ‚Frau‘ enden, beispielsweise brandman ‚Feuermann‘, fackman ‚Fachmann‘, lekman ‚Laie‘, tjänsteman ‚Angestellte/ r‚ Beamte/ r‘ (vgl. Milles 2008: 44), idrottskvinna ‚Sport‐ lerin‘ und invandrarkvinna ‚Einwanderin‘; von besonderem politischem Belang ist riksdagsman ‚Bundestagsabgeordneter‘ (wörtlich ‚Bundestagsmann‘). Derar‐ tigen Nominalbildungen ist gemein, dass diese Bezeichnungspraxis historisch bedingt ist: In der Feuerwehr arbeiteten vormals nur Männer, und im Parlament gab es ausschließlich männliche Abgeordnete. Als immer mehr Frauen beruflich tätig wurden und das Bewusstsein für die sprachlichen Probleme, die mit den Bemühungen um Gleichstellung und Gleichbehandlung einhergingen, sich in‐ folgedessen verstärkte, erschienen die auf -man endenden Berufsbezeichnungen unzeitgemäß und wurden durch geschlechtsneutrale Formen bzw. in einigen wenigen Fällen alternativ geschlechtsspezifisch feminine Ausdrücke ersetzt. Gendern im Schwedischen 261 <?page no="262"?> Die offizielle Sprachpflege sieht Personenbezeichnungen auf -man ähnlich kritisch wie movierte Formen, weil sie männliche Referenten semiotisch her‐ vorheben; zudem laufe ein geschlechtsspezifisches Bezeichnungsverfahren der Strategie der Neutralisation zuwider, weshalb auch der Gebrauch movierter Parallelformen zu vermeiden sei. Vorgeschlagen wird stattdessen Folgendes (vgl. Milles 2008: 44): • brandman ‚Feuermann‘ kann durch brandsoldat ‚Feuersoldat/ in‘ oder brand‐ bekämpare ‚Feuerbekämpfer/ in‘ ersetzt werden; • fackman ‚Fachmann‘ kann durch expert ‚Expert/ in‘, specialist ‚Spezialist/ in‘ ersetzt werden; • lekman ‚Laie‘ kann durch amatör ‚Amateur/ in‘ oder icke-expert ‚Nicht-Ex‐ pert/ in‘ ersetzt werden; • tjänsteman ‚Angestellte/ r, Beamte/ r‘ kann durch anställd ‚Angestellte/ r‘ oder personal ‚Personal‘ ersetzt werden; • riksdagsman sollte vermieden und durch riksdagsledamot ‚Bundestagsabge‐ ordnete/ r‘ ersetzt werden (vgl. Språkrådet 2021). Gelegentlich findet sich auch die geschlechtsspezifische Bezeichnung riksdagskvinna ‚Bundestags‐ frau‘, vor allem wohl in historisierenden Darstellungen. Die Personenbezeichnung talman ‚Vorsitzender/ Sprecher im schwedischen Par‐ lament‘ ist eine Ausnahme von dem sprachpflegerischen Prinzip, Wörter auf -man zu vermeiden bzw. nicht zu empfehlen; der Sprachenrat verweist hierzu auf die mangelnde Verbreitung einer geschlechtsneutralen Alternativform (vgl. Språkrådet 2021). Neben dieser referenziell unikalen Personenbezeichnung gibt es die allgemeine Bezeichnung talesman ‚Sprecher‘, mit der SprecherInnen in allen möglichen Organisationen bezeichnet werden können. Hierzu empfiehlt der Sprachenrat, die Alternative talesperson ‚Sprechperson‘ zu bevorzugen. Zwei weitere Lexeme mit femininen Endungen, die auch im öffentlichen Sprachgebrauch weiterhin Verwendung finden, sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen (vgl. Milles 2008: 41). Dass die offizielle Sprachpflege just diese Personenbezeichnungen in einer vermeintlich neutralen Lesart beibehält, ist eine Ausnahme von der Neutralisationsstrategie. Es handelt sich erstens um eine Bildung mit dem femininen Movierungssuffix -ska, sjuksköterska ‚Kranken‐ schwester‘, wörtlich ‚Krankenpflegerin‘ (vgl. Edlund/ Erson/ Milles 2007: 191). Auch diese Wortbildung zeugt davon, dass ursprünglich nur Mitglieder einer Geschlechtergruppe den Beruf ausübten. Die Diskussion um die Bezeichnung sjuksköterska begann bereits 1964, als immer mehr Männer den Beruf erlernten und ausübten (vgl. Edlund 2004: 268). Eine Reihe alternativer Vorschläge standen zur Diskussion, doch die Gewerkschaft der Krankenschwestern bestand auf 262 Magnus P. Ängsal <?page no="263"?> 6 Einen Parallelfall zu sjuksköterska stellt die Berufsbezeichnung undersköterska ‚Kran‐ kenpflegehelfer/ in‘ dar, die gleichermaßen Männer bezeichnen kann. der traditionellen Bezeichnung, die seither fortlebt und gut 60 Jahre nach dem Beginn der Debatte kaum noch in Frage gestellt wird. sjuksköterska steht nun in dem offiziellen Namen des Studiengangs Sjuksköterskeprogrammet ‚Studiengang für Krankenschwestern‘. 6 Semantisch naheliegende Benennungen wie sjukskötare ‚Krankenpfleger/ in‘ und skötare ‚Pfleger/ in‘, die einst als Alter‐ nativen zu sjuksköterska vorgeschlagen worden waren, bezeichnen inzwischen andere Funktionen/ Rollen im Gesundheitswesen, die keinerlei medizinische Fachkompetenz voraussetzen und ähnlich wie KrankenpflegerInnen im deut‐ schen Gesundheitssystem eher unterstützend tätig sind. Das zweite Lexem, barnmorska ‚Hebamme‘, bezeichnet einen Beruf, in dem Frauen in Schweden noch sehr stark dominieren; Männer sind unter Kranken‐ schwestern viel häufiger vertreten als unter Hebammen. Das ist möglicherweise der Grund dafür, dass dieses Lexem keine ähnlich breit geführten Debatten wie zu sjuksköterska ausgelöst hat und barnmorska weiterhin die offizielle Berufs‐ bezeichnung ist. Darüber hinaus ist eine lange Reihe mehr oder weniger veral‐ teter femininer Berufsbezeichnungen wie sömmerska ‚Näherin‘ und kokerska ‚Küchenhelferin‘ zu erwähnen, für die es keine neutralen Synonymformen gibt. Allerdings besteht für solche Formen auch kaum Bedarf, weil Männer diese Berufe entweder nicht ausüben oder in einem ähnlichen Beruf tätig sind, dem ein höheres Ansehen zukommt (vgl. Callin 2016: 9). 3.2 Gendern bei attributiven Adjektiven und bei Pronomina Im Schwedischen übernehmen attributiv gebrauchte Adjektive nur selten eine Funktion beim Gendern, doch lässt sich in einem Fall eine Differenzierung in Femininum und Maskulinum vornehmen. Die einst feminine, im gegenwärtigen Sprachgebrauch weitgehend als neutral geltende Adjektivendung -a kann in der definiten Form Singular durch -e ersetzt werden, um die Bedeutung ‚männlich‘ zu signalisieren (vgl. Teleman/ Hellberg/ Andersson 1999b: 27). Es handelt sich somit um eine referenzielle Sexusflexion, die nur bei utralen Substantiven vorkommt und daher nicht mit dem grammatischen Genus des Hauptwortes korreliert. So kann an die Stelle von den nya prästen ‚der neue Pfarrer‘ eine ähnliche Nominalphrase mit eindeutiger männlicher Referenz treten: den nye prästen. Eine vergleichbare Variation findet sich bei Nominalphrasen, die durch ein Possessivpronomen eingeleitet sind: vår nya medarbetare ‚unser neuer Mit‐ arbeiter‘ bzw. vår nye medarbetare ‚unser neuer Mitarbeiter‘. Nach Bylin (2016: Gendern im Schwedischen 263 <?page no="264"?> 7 Zum Terminus geschlechtsübergreifend in der Bedeutung, dass ein sprachlicher Aus‐ druck konkret auf Personen beider Geschlechtergruppen referiert, und dessen Abgren‐ zung zu generisch siehe die Ausführungen in Pettersson (2011: 70). 70) ist die variable Sexusflexion mit -e oder -a auch bei adjektivisch gebrauchten Pronomina, Ordnungszahlen und Perfektpartizipien zu beobachten. Interessanterweise wird die maskuline e-Endung in vielen Ratgebern und Sprachrichtlinien, auch vom Sprachenrat, weder als Überbleibsel noch als Anomalie, sondern bei männlichen Bezugnahmen als normkonform betrachtet (vgl. Bylin 2017: 40-41). Insofern stellt das variable Flexionssuffix attributiver Adjektive im Schwedischen einen von sehr wenigen sprachlichen Bereichen dar, für den die offizielle Sprachpflege sich für eine explizite Differenzierung nach dem Geschlecht ausspricht. Das e-Suffix wird im Übrigen vor allem bei offiziellen Berufsbezeichnungen gebraucht und ist deswegen besonders stark in offiziellen, beispielsweise amtlichen Texten vertreten (vgl. Bylin 2017: 41). Zudem kommt die e-Endung nicht nur bei männlicher Referenz zum Einsatz; so hat Bylin (2016: 96) mit einer korpusbasierten Studie nachweisen können, dass Belebtheit das entscheidende Merkmal für Bezeichnungen ist, die sich mit einem auf -e endenden Adjektiv in attributiver Stellung vertragen. Bei Bezeichnungen mit unbelebter Referenz kommt die e-Endung im Korpus dieser Studie gar nicht vor, während das e-Suffix bei Bezeichnungen für nicht-männliche Animata, etwa Personen und Tiere, zu finden ist (vgl. Bylin 2016: 84). Aus quantitativer Sicht ist jedoch hervorzuheben, dass die allermeisten Nominalphrasen mit einem e-Adjektiv männliche Referenten haben. Genusdifferenzierung ist im Schwedischen auch bei Personal- und Posses‐ sivpronomina im Singular der dritten Person möglich. In diesem Fall spielt auch der Kasus insofern eine Rolle, als zwischen han (Nominativ) bzw. honom (Akkusativ/ Dativ) und hon (Nominativ) bzw. henne (Akkusativ/ Dativ) differen‐ ziert wird. Der Sprachenrat vertritt hierzu die Position, dass eine intendiert geschlechtsneutrale Bezugnahme weder durch geschlechtsübergreifendes han noch durch hon erfolgen soll, vor allem in Kontexten, in denen das Geschlecht inhaltlich irrelevant ist (vgl. Språkrådet 2014b: 66). 7 Historisch betrachtet fun‐ giert maskulines han, wie Milles (2008: 48-49) ausführt, als generisches oder geschlechtsübergreifendes Pronomen, doch wird diese Gebrauchsweise zumin‐ dest seit den 1970er Jahren stark kritisiert. Der Sprachenrat hat stattdessen eine Reihe alternativer Formen und Ausdrucksweisen vorgeschlagen, um einen Sprachgebrauch mit Männer-Bias in der behördlichen Kommunikation nicht weiter zu reproduzieren (vgl. Språkrådet 2014b: 66-67). Zum größten Teil sind diese Vorschläge identisch mit denen, die von Milles (2008: 51-54) vorgelegt wurden; die meisten davon zielen auf die Vermeidung von Pronomina im Sin‐ 264 Magnus P. Ängsal <?page no="265"?> 8 „Eftersom hen är ett nytt ord, får man ta ställning från fall till fall om det bör användas.“ https: / / www.isof.se/ download/ 18.17dda5f1791cdbd2873a99/ 1620030264840/ Mynd-skri vreg2014-1.pdf. gular ab: Wiederholung des Hauptworts, Passivierung mit Tilgung des animaten Subjekts, Umschreibung im Plural zur Vermeidung potenziell kontroverser Personalpronomina im Singular, Ausweichen auf das indefinite Pronomen man ‚man‘ zur Neutralisierung. Eine weitere Alternative besteht in der expliziten Nennung von han und hon, mithin einer Doppelnennung wie hon eller han ‚sie oder er‘ oder han och hon ‚er und sie‘. Dieses Verfahren ist infolge rezenter Entwicklungen im schwedischen Sprachgebrauch allerdings nicht unumstritten, weshalb der Sprachenrat auch den Gebrauch des alternativen geschlechtsneutralen Pronomens hen vorschlägt (siehe hierzu Abschnitt 4). Die Empfehlung des Sprachenrats, das eigentlich für nicht-menschliche Wesen und inanimate Referenten gebrauchte Pronomen den als Personal- und Demonstrativpronomen zu verwenden, dient ebenso der Vermeidung von Doppelformen. Vergleicht man nun die Ausführungen von Milles (2008) mit denen vom Sprachenrat (2014b) und später, beispielsweise in der Antwort auf eine Frage zu diesem Thema auf der Homepage des Sprachenrats, fällt bei Milles (2008) das Fehlen von hen als Alternativlösung ins Auge. Der Sprachenrat formuliert auch 2014 diesbezüglich vorsichtig: ‚Da hen ein neues Wort ist, ist von Fall zu Fall zu entscheiden, ob es verwendet werden soll.‘ 8 Aus dieser Gegenüberstellung ist zu schließen, dass sich zwischen 2008 und 2014 in Bezug auf hen offensichtlich etwas ereignet hat, was seine Aufnahme in offizielle Richtlinien rechtfertigt. Dieser Prozess soll im folgenden Abschnitt nachgezeichnet werden. Nach einer Darstellung der metapragmatischen Stellungnahmen zu hen wird auf kritische Auseinandersetzungen mit dem Indefinitpronomen man ‚man‘ und einigen Neologismen eingegangen, die ebenfalls als Ausdruck von „språkaktivism“ (‚Sprachaktivismus‘; vgl. Wojahn 2015) zu verstehen sind. 4 Metapragmatische Perspektiven 4.1 Metapragmatik im Kontext queerer Sprachkritik In angelsächsischen Ländern und im deutschen Sprachraum sind von der feministischen Sprachkritik Richtlinien zur Vermeidung nicht-sexistischen Sprachgebrauchs vorgelegt worden, die auf Gegenreaktionen stießen und auch in der Öffentlichkeit zu teilweise harschen Auseinandersetzungen führten. In Schweden blieb eine vergleichbare Entwicklung dagegen lange aus (vgl. Milles Gendern im Schwedischen 265 <?page no="266"?> 9 „mycket lågmält, närmast i viskande ton“ (Edlund/ Erson/ Milles 2007: 201). 2013: 114); zudem wurde die Debatte dort ‚sehr leise, beinahe flüsternd‘ geführt. 9 Hornscheidt hat kurz nach der Jahrtausendwende gefolgert: Sprachbezogene Debatten um Gleichstellung in Schweden „see[m] to indicate an adherence to the ideology that gender-fair language has already been achieved for Swedish“ (Hornscheidt 2003: 362). Wohl wurde in Kreisen der feministischen Sprach‐ wissenschaft und der Frauenbewegung im Rahmen der feministischen Sprach‐ planung auch über sprachliche Gleichstellung diskutiert, doch standen diese Bestrebungen anders als in deutschsprachigen Ländern nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte, bis das geschlechtsneutrale Pronomen hen 2012 zum Gegenstand einer ebenso kontroversen wie breitgefächerten Diskussion in der Öffentlichkeit wurde und die Genderfrage zu einem Thema der Metapragmatik avancierte (vgl. Spitzmüller 2013). Bevor wir uns hen im Einzelnen, seiner Geschichte und Rezeption in der schwedischen Öffentlichkeit zuwenden, sei betont, dass dieses Pronomen in einem Kontext von Sprachplanungsmaßnahmen und Sprachaktivismus (vgl. Wojahn 2015) aufkam, der politisch und sprachideologisch auffällige Parallelen zu den metapragmatischen Diskussionen im deutschsprachigen Raum über Unterstrichformen, Gendersternchen und andere Neuerungen aufweist. Diese sind im Rahmen der postfeministischen Sprachkritik interpretiert (vgl. Ängsal 2011) und als Ausdruck eines „schrägen Registers“ (Kotthoff 2017) gedeutet worden. Allgemein wird hier die ausdrückliche Abwendung von der Auffassung thematisiert, es gehe bei einem geschlechtersensiblen oder antidiskriminatori‐ schen Usus nur um die sprachliche Gleichbehandlung der beiden Geschlechter männlich und weiblich. Vielmehr sei eine Vielfalt und sprachliche Konstruiert‐ heit von Geschlechtsidentitäten anzunehmen (vgl. Ängsal 2020: 69-70). Damit ist erstens ein Verständnis von Sprache gemeint, in dem Sprache in erster Linie als Sprachgebrauch begriffen wird und Bedeutungen sowie deren Beziehung zum Bezeichneten als hochgradig dynamisch angesehen werden. Zweitens ist mit dem Verweis auf poststrukturalistische Ansätze auch ein neues Verständnis von Geschlecht gemeint: In einer poststrukturalistisch basierten Wortkritik jedoch stehen Geschlechtsidenti‐ täten jenseits „Frau“ und „Mann“ sowie deren sprachlich bedingte Konstruiertheit im Vordergrund. Dies steht auch im Einklang mit konstruktivistisch basierten nicht-lin‐ guistischen Ansätzen wie doing gender, undoing gender […] und gender performance […] (Ängsal 2020: 70; Hervorhebungen im Original). 266 Magnus P. Ängsal <?page no="267"?> In Schweden ist diese Perspektive - zeitlich gesehen nach der hen-Initiative - u. a. in metasprachlichen Diskussionen über die Indefinitpronomina en bzw. man zum Ausdruck gekommen. Während man (wie sein deutsches Pendant) generell, auch von Seiten der offiziellen Sprachpflege, als geschlechtsneutral betrachtet wird, wurde und wird weiterhin dafür plädiert, man mit dem ge‐ schlechtsneutralen en ‚ein‘ zu ergänzen bzw. dadurch zu ersetzen (vgl. Ängsal 2017). Der Gebrauch von en und die metapragmatische Debatte darüber sind queeren Kreisen zuzuordnen (vgl. Wojahn 2015 und Hagren Idevall 2011). Wie hen wird en - nach Hagren Idevall (2011: 45) subversiv - zum einen eingesetzt, um Geschlechtsneutralität zu signalisieren und/ oder die nach Mann und Frau ausgerichtete Geschlechterdichotomie in Frage zu stellen und somit ein offeneres Konzept von Geschlecht auch sprachlich zu erfassen, und zum anderen, um eine feministische Identität zum Ausdruck zu bringen (vgl. Milles 2019: 23). Nach der hen-Initiative gab es gelegentlich auch massenmediale Diskussionen über geschlechtsneutrales en und transgender-en, doch eine all‐ gemeine Normakzeptanz, wie sie durch die Haltung der offiziellen Sprachpflege oder der Aufnahme in Wörterbücher und Grammatiken zum Ausdruck käme, wurde nicht erreicht. Im Übrigen dürfte die Gebrauchsfrequenz von en viel geringer sein als die von hen (vgl. Ängsal 2017: 173). Das Präfix cis-, das aus anderen Sprachgemeinschaften wie der deutschen und der angloamerikanischen bekannt ist, wird auch im Schwedischen zur Versprachlichung einer Kontinuität der Normvorstellungen eingesetzt. Die Debatte zu cisin Schweden ist wie die zu en bzw. man im Kontext normenkri‐ tischer Metapragmatik zu sehen. So wird eine Person mit einer eindeutigen Geschlechtsidentität als Mann als cisman ‚cis-Mann‘ bezeichnet. Auch als Präfix bei dem Verb köna ‚gendern‘ tritt cisgelegentlich auf: cisköna ‚cisgendern‘, ciskönad ‚cisgegendert‘. Das Verb köna ‚gendern‘ geht wiederum auf eine nor‐ menkritische Denkweise zurück, nach der Geschlecht nicht als etwas Gegebenes aufzufassen sei, sondern primär ein sprachliches Konstrukt ist. Somit steht auch dieses Wort in einem ideologischen Kontext, in dem die sprachliche Konstruiertheit von Geschlecht prägend ist. Zuschreibungen mit cisdienen der sprachlichen Sichtbarmachung des Um‐ stands, dass das biologische - oder aus einer queeren Perspektive: das als bio‐ logisch konstruierte - Geschlecht im Einklang mit dem sozialen oder kulturellen Gender des Individuums steht und es somit keine Brüche in der Eigenwahrneh‐ mung der Geschlechtsidentität gibt. Aus der Perspektive des Genderns ist bei Wortbildungen mit cisbesonders interessant, dass hier nicht die wie auch immer erfasste Abweichung oder Subversion einer Norm versprachlicht wird, sondern die Norm selbst. Wenn wir im Sinne der Markiertheitstheorie davon Gendern im Schwedischen 267 <?page no="268"?> 10 Näheres zu den Korpusressourcen von Korp siehe https: / / spraakbanken.gu.se/ en/ tools / korp [14.10.22]. ausgehen, dass die Abweichung einer Norm häufiger als die Norm selbst zum Gegenstand sprachlicher Benennung wird, stellt ciseinen gegenteiligen Fall dar. Bei cisgeht es darum, eine als unsichtbar und wirkmächtig aufgefasste Norm sprachlich zu semiotisieren, was eine grundsätzlich andersartige Strategie als die sprachliche Sichtbarmachung unterdrückter oder unsichtbarer Gruppen ist. 2014 gelang den cis-Bildungen mit der Aufnahme von cisperson in die Neologismenliste des Jahres durch den Sprachenrat ein gewisser Durchbruch in der Öffentlichkeit, und im Jahr darauf ging diese Bezeichnung auch in die vierzehnte Auflage des Akademiewörterbuchs SAOL ein (vgl. Språkrådet 2014a). Unter den Neologismen des Jahres 2015 finden sich interessanterweise auch das Indefinitpronomen en und ein weiteres Wort, mit dem eine normenkritische Grundhaltung zum Ausdruck gebracht wird: rasifierad ‚rassifiziert‘. Dieses adjektivisch gebrauchte Partizip Perfekt von rasifiera ‚rassifizieren‘ bedeutet, dass einer Person eine - häufig auf äußeren Merkmalen basierende - ethnische Zugehörigkeit zugeschrieben wird. Ähnlich wie bei cisköna wird auch hier eine Prozesshaftigkeit zum Ausdruck gebracht; dieser Sichtweise zufolge sind Geschlechtsidentität und ethnische Identität keine ontologischen Kategorien, sondern Konstrukte, die aus sprachlichen Handlungen resultieren. rasifiera und die Nominalisierung rasifiering wurden 2015 ihrerseits in das Akademiewörter‐ buch aufgenommen. 4.2 Der Fall hen und seine Rezeption in der schwedischen Öffentlichkeit Das aus dem weitgehend geschlechtsneutralen finnischen Sprachsystem ent‐ lehnte Pronomen hen tauchte erstmals 1966 in der schwedischen Öffentlichkeit auf, in einer Sprachglosse von Rolf Dunås in der Tageszeitung Upsala Nya Tidning (vgl. Milles 2013: 108), erhielt anschließend jedoch nur geringe Auf‐ merksamkeit. Im Jahr darauf war es immerhin Gegenstand eines sprachwissen‐ schaftlichen Artikels (Dahlstedt 1967), und allmählich fand es vor allem unter Studierenden Verwendung (vgl. Milles 2013: 108). In den 2000er Jahren soll hen auch in LGBT-Kreisen aufgenommen worden sein (Milles 2013: 108), was Wo‐ jahn (2015: 110) in seiner metapragmatischen Analyse queerer communities in Schweden bestätigt und als Ausdruck von Sprachaktivismus deutet. Vereinzelte Belege in der Pressesprache der 2000er Jahre hat Ängsal (2015: 87) in einem einschlägigen Pressekorpus von Korp/ Språkbanken nachgewiesen. 10 268 Magnus P. Ängsal <?page no="269"?> Das Erscheinen eines Kinderbuches von Jesper Lundqvist, Kivi och Monster‐ hund, löste 2012 eine Debatte zu hen in der Öffentlichkeit aus (vgl. Ängsal 2015: 87-88): Der Autor hatte die geschlechtsspezifischen Personalpronomina in der dritten Person Singular (han und hon) in dem gesamten Buch durch hen ersetzt. Kurz danach beschloss die Redaktion von Nöjesguiden, einer Mo‐ natszeitschrift für Musik und Populärkultur, in einer Ausgabe konsequent hen zu verwenden. Damit war der Weg für eine Debatte geebnet, bei der nicht nur SprachwissenschaftlerInnen, sondern etwa auch viele JournalistInnen und andere Intellektuelle sich zu Wort meldeten. Die in den Diskussionen zugunsten der Verwendung von hen vorgebrachten Argumente lassen sich grob in drei Kategorien einteilen, die den grundsätzlichen Funktionen des Pronomens entsprechen. Erstens wurde argumentiert, „dass hen eine sprachliche Lücke schließt, und zwar so, dass es wegen seiner Kürze und morphologischen Ähnlichkeit zu den Personalpronomina han und hon entsprechenden geschlechtsneutralen Umschreibungen wie vederbörande (‚der/ die Betreffende/ Betroffene‘) überlegen zu sein scheint“ (Ängsal 2015: 89). Für diese Lesart des Pronomens sprach sich u. a. der Literaturkritiker Magnus Eriksson in der Tageszeitung Svenska Dagbladet aus (vgl. Ängsal 2015: 89); gemeint ist hier die geschlechtsneutrale Funktion, die in den Richtlinien zum Sprachgebrauch in Behörden hervorge‐ hoben wird (Språkrådet 2014b: 66-67) und in weiteren Studien zu hen untersucht worden ist (vgl. etwa Milles 2013; Ledin/ Lyngfeldt 2013; Lindqvist/ Gustafsson Sendén/ Bäck 2016). Dieser Aspekt ist von Bedeutung, wenn das Geschlecht einer Bezugsperson oder einer Gruppe von Bezugspersonen unbekannt ist oder wenn Referenzen vorliegen, bei denen das Geschlecht irrelevant ist. Eine solche Verwendungsweise von hen ist in unterschiedlichem Ausmaß vereinbar mit Referenztypen wie der spezifischen, der nicht-spezifischen und der generischen oder klassenbezogenen Bezugnahme (vgl. Diewald/ Steinhauer 2017; Pettersson 2011). Über diese Funktion hinaus wird hen auch das Potenzial zugeschrieben, die mit geschlechtsspezifischen Personalpronomina verbundenen Geschlechterste‐ reotype zu überwinden. Zwei Verlegerinnen des Queerverlags Olika Förlag (in dem das bereits erwähnte Kinderbuch erschienen war) und die Sprachwissen‐ schaftlerin Karin Milles haben diese Auffassung 2012 vertreten; sie greifen in ihrem Beitrag zu hen ausdrücklich auf eine zentrale sprachtheoretische These der feministischen Sprachkritik zurück, nach der Wahrnehmungen maßgeblich durch Sprache und Sprachgebrauch beeinflusst werden (vgl. Ängsal 2020: 68): ‚Die Wörter han und hon transportieren eine ganze Reihe von Vorstellungen über Eigenschaften mit, und Sprache und Wortwahl beeinflussen weitgehend unser Welt‐ Gendern im Schwedischen 269 <?page no="270"?> 11 „Orden hon och han bär med sig ett artilleri av föreställningar och egenskaper, och språk och ordval får stor betydelse för hur vi uppfattar världen. Ordet hen öppnar för friare tolkningar eftersom det inte är knutet till dessa föreställningar“ (zit. n. Ängsal 2015: 90). bild. Das Wort hen ermöglicht freiere Interpretationen, da es an diese Vorstellungen nicht gebunden ist.‘ 11 Das Pronomen hen kann schließlich als Weiterentwicklung der zuletzt ge‐ nannten These interpretiert werden; eher jedoch kommt ihm eine noch we‐ sentlichere Funktion zu, bedenkt man dessen Verankerung in queeren Kreisen (vgl. Wojahn 2015: 110): Die Verwendung von hen kann zur sprachlichen Überwindung des Zweigeschlechtermodells beitragen. Dieser Sichtweise liegt eine dezidiert normenkritische Haltung zugrunde; sie zielt nicht in erster Linie auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung ab, sondern eher auf den auch sprachlich gerahmten Identifikationsprozess von Individuen, die sich weder in einer männlichen noch einer weiblichen Identität zurechtfinden (vgl. Sjöström 2012: 22). Vor allem anfangs stieß die hen-Initiative auf ablehnende Reaktionen und Gegenargumente (vgl. Sjöström 2012: 38-39, der in der öffentlichen Debatte zwischen positiven, neutralen und negativen Diskurspositionen zu hen unter‐ scheidet; weiter Ängsal 2015; Wojahn 2015). Zu den negativen bzw. kritischen Auslegungen gehört u. a. die These, die Propagierung von hen sei eine Initiative der Elite, mit der JournalistInnen, AktivistInnen und ForscherInnen anderen Menschen vorzuschreiben versuchten, wie sie sich ausdrücken sollten. Zudem wird die Auffassung vertreten, hen könne bei Kindern zu einer unerwünschten Verwischung biologischer Geschlechterkategorien führen (vgl. Ängsal 2015: 93). Trotz der anfänglich polarisierten Debatte hat hen inzwischen bereits eine allgemeine Akzeptanz erreicht, und dies in erstaunlich kurzer Zeit, nicht zuletzt, wenn man bedenkt, dass es sich bei Veränderungen im Pronominalbestand einer Sprache im Allgemeinen um langwierige Prozesse handelt. Der Sprachenrat bezog anfänglich eine skeptische Haltung zu hen, änderte jedoch seine Emp‐ fehlung bereits 2015 dahingehend, dass das neue Pronomen zur Benennung von Personen zu benutzen sei, wenn dies von den Betreffenden gewünscht werde und keine weiteren sprachlichen Hindernisse dagegen sprächen (vgl. Bäck/ Lindqvist/ Gustafsson Sendén 2018: 5). Im selben Jahr wurde hen auch in das bereits mehrfach erwähnte Akademiewörterbuch SAOL aufgenommen. Die Frage ist nun, wie dieser Normalisierungs- und Konventionalisierungs‐ prozess von hen innerhalb so kurzer Zeit stattfinden konnte. Milles (2013: 117-123) erklärt den raschen Erfolg des Pronomens hen mit mehreren für das 270 Magnus P. Ängsal <?page no="271"?> Gelingen von Sprachplanungsmaßnahmen entscheidenden Faktoren, die für seine Übernahme sprachen. Der erste positive Faktor ist in den sprachlichen Eigenschaften von hen zu sehen: Ähnlichkeit zu han und hon und damit leichte Integrierbarkeit in den Pronominalbestand, ein zweiter im zeitgleichen Ein‐ treten zentraler Akteure (TransaktivistInnen, QueerfeministInnen, Genuspäda‐ gogInnen) für die Verwendung von hen. Über den gesamtpolitischen Kontext in der Zeit der hen-Initiative lassen sich nur schwer allgemeine Aussagen treffen. Milles (2013: 121-122) betont jedoch, dass die positive Einstellung zu hen in der Öffentlichkeit mit einer progressiven, modernen, aufgeschlossenen Sichtweise auf Geschlecht einherging, während die Gegenreaktion mit den seinerzeit von großen Teilen des politischen Establishments stark kritisierten Schwedendemo‐ kraten (einer rechtspopulistischen Partei) in Verbindung gebracht wurde. Sie vertritt sogar die Auffassung, das Bekunden einer positiven Einstellung zu hen ließe sich als symbolische Stellungnahme gegen die Schwedendemokraten deuten (Milles 2013: 121). Demnach hat die stark polarisierte Debatte über diese rechtspopulistische Partei, die 2010 in das schwedische Parlament Einzug hielt, möglicherweise die Übernahme von hen durch progressive Kreise begünstigt. Viertens dürfte sich die veränderte Einstellung der offiziellen Sprachpflege zugunsten von hen positiv ausgewirkt haben. Fünftens kam der kontroversen Diskussion um das Pronomen eine immense mediale Aufmerksamkeit zugute, was eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Sprachplanungsiniti‐ ativen darstellt (so Milles 2013: 124 in Anlehnung an Pauwels 1998). Wie bereits erwähnt, waren auch die Gegenpositionen zu hen medial präsent; viele SprecherInnen des Schwedischen hörten in den Medien jedenfalls zum ersten Mal von hen. 5 Fazit und Ausblick Wir können zusammenfassend festhalten, dass das schwedische Sprachsystem an sich wenige Möglichkeiten des Genderns bietet, besonders im Vergleich zum deutschen. Sprachsystematisch kann im Schwedischen mit der Verwendung von Personal- und Possessivpronomina im Singular sowie dem attributiven Gebrauch von Adjektiven im Singular gegendert werden. Movierte Formen von Personenbezeichnungen gelten mit wenigen Ausnahmen allgemein als veraltet und sind insofern keine landläufig akzeptierte oder normgerechte Strategie des Genderns; Personenbezeichnungen mit einst maskulinen Endungen wie lärare ‚Lehrer‘ werden generell als geschlechtsneutral angesehen, so dass Movierungen gemeinhin als entbehrlich gelten. Vor allem damit ist höchstwahr‐ scheinlich zu erklären, dass Gendern im Schwedischen eher darauf abzielt, Gendern im Schwedischen 271 <?page no="272"?> vom Geschlecht zu abstrahieren und es im Unterschied zum Deutschen nicht herauszustellen. Wenn in Schweden heftige Debatten zum Gendern ausgelöst werden, so haben sie allesamt mit Sprachformen zu tun, die zumindest nicht primär das binäre Geschlechterpaar männlich vs. weiblich, sondern andere Identitätskate‐ gorien erfassen sollen (vgl. Hornscheidt 2008). Eine maßgebliche öffentliche Debatte entstand erst mit dem geschlechtsneutralen Pronomen hen, für dessen Gebrauch queerfeministische Kreise und darüber hinaus weitere AkteurInnen plädierten. Die genderbezogene Sprachkritik wurde in Schweden erst verhält‐ nismäßig spät in der öffentlichen Debatte thematisiert, allerdings im Rahmen ideologischer Setzungen, die nicht unbedingt mit der Idee von Gleichstellung zwischen Mann und Frau oder mit anderen Vorstellungen des second-wave fe‐ minism (vgl. Thornham 2001) einhergehen, besonders in Anbetracht verwandter und etwa gleichzeitig aufgekommener Neologismen wie cisperson, cisköna und rasifiera. Diese Neologismen, die teilweise bereits Einzug in Wörterbücher gehalten haben, lassen sich vermutlich als sprachliche Manifestationen einer Identitäts‐ politik interpretieren, die sich dadurch auszeichnet, dass als sprachlich und sozial konstruiert definierte Identitätskategorien in den Vordergrund politischer und intellektueller Debatten gerückt werden. Zu einer Zeit, in der im Hinblick auf kulturelle und identitätsbezogene Werte auch in Schweden eine politische Polarisierung im Gange ist, ist es durchaus denkbar, dass weitere Debatten um die Benennung von Menschen sich an der Vielfalt von Identitätskategorien entzünden werden, die durch politische Konflikte entlang der sogenannten GAL-TAN-Werteskala (GAL: green/ alternative/ libertarian; TAN: traditional/ au‐ thoritarian/ nationalist; vgl. Solevid et al. 2021) kontinuierlich weiterbefeuert werden. Festzuhalten ist einstweilen, dass hen seinen Platz im Pronominal‐ system gefunden hat und allem Anschein nach weiter Bestand haben wird. 272 Magnus P. Ängsal <?page no="273"?> Bibliographie Andersson, Erik (2000): How many gender categories are there in Swedish? In: Unterbeck, Barbara/ Rissanen, Matti/ Nevalainen, Terttu/ Saari, Mirja (Hrsg.), 545-559. Audring, Jenny (2006): Genusverlies en de betekenis van voornaamwoorden. In: Hüning, Mattias/ Vogl, Ulrike/ van der Wouden, Ton/ Verhagen, Arie (Hrsg.): Nederlands tussen Duits en Engels. Handelingen van de workshop op 30 september en 1 oktober 2005 aan de Freie Universität Berlin. Leiden: Stichting Neerlandistiek Leiden, 71-88. —-(2010): Deflexion und pronominales Genus. In: Nübling, Damaris/ Dammel, Antje/ Kürschner, Sebastian (Hrsg.): Kontrastive germanistische Linguistik. Teilband 2. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms, 693-717. Ängsal, Magnus P. (2011): Der Unterstrich bei Personenbezeichnungen im Deutschen als Ausdruck einer postfeministischen Sprachkritik. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 7 (3), 270-287. —-(2015): Personenbezeichnungen mit Unterstrich und geschlechtsneutrale Pronomen: Zur queerfeministischen Sprachkritik in Deutschland und Schweden. In: Bücker, Jörg/ Diedrichsen, Elke/ Spieß, Constanze (Hrsg.): Perspektiven linguistischer Sprachkritik. Stuttgart: ibidem, 75-99. — (2017): Die geschlechtsneutralen Indefinitpronomen en und mensch im Schwedischen und Deutschen. Eine korpusgestützte Vergleichsstudie zu Sprachkritik und Gebrauch. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 90, 165-191. —-(2020): Wortkritik in der Feministischen Sprachkritik. In: Niehr, Thomas/ Kilian, Jörg/ Schiewe, Jürgen (Hrsg.): Handbuch Sprachkritik. Stuttgart: Metzler, 66-72. Bäck, Emma A./ Lindqvist, Anna/ Gustafsson Sendén, Marie (2018): Hen. Bakgrunder, attityder och användande. Lund: Lunds universitet. https: / / www.psy.lu.se/ sites/ psy.l u.se/ files/ plr_1801.pdf (14.10.2022). Braunmüller, Kurt (2000): Gender in North Germanic: A diasystematic and functional approach. In: Unterbeck, Barbara/ Rissanen, Matti/ Nevalainen, Terttu/ Saari, Mirja (Hrsg.), 25-53. Bylin, Maria (2016): Adjektivböjningens -a och -e. Ett seglivat variationstillstånd. Språk & Stil NF 26, 69-100. —-(2017): Den otidsenliga böjningen. Föreställningar om den adjektiviska aoch e-böj‐ ningen 2002-2014. HumanEtten 38, 40-50. Callin, Markella (2016): Den otidsenliga lärarinna. Feminina yrkesbeteckningar och feministisk språkplanering. Uppsala universitet [Masterarbeit]. http: / / uu.diva-portal. org/ smash/ get/ diva2: 1056041/ FULLTEXT01.pdf (14.10.2022). Dahlstedt, Karl-Hampus (1967): Språkvård och samhällssyn. In: Sturé, Allén (Hrsg.): Språk, språkvård och kommunikation. Uppsala: Verdandi, 93-112. Diewald, Gabriele/ Steinhauer, Anja (2017): Richtig gendern. Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Berlin: Dudenverlag. Gendern im Schwedischen 273 <?page no="274"?> Duke, Janet (2010): Gender reduction and loss in Germanic: The Scandinavian, Dutch, and Afrikaans case studies. In: Nübling, Damaris/ Dammel, Antje/ Kürschner, Sebastian (Hrsg.): Kontrastive germanistische Linguistik. Teilband 2. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms, 643-672. Edlund, Ann-Catrine (2004): Kan män vara sjuksköterskor och kvinnor brandmän? Om sambandet mellan yrkesbeteckningar och kön. In: Statens offentliga utredningar (Hrsg.): Den könsuppdelade arbetsmarknaden. Betänkande av Utredningen om den könssegregerade arbetsmarknaden. Stockholm: Fritze, 263-280 (=-Statens offentliga utredningar 2004: 43). Edlund, Ann-Catrine/ Erson, Eva/ Milles, Karin (2007): Språk och kön. Stockholm: Norstedts. Ekberg, Lena (1995): Ordbildningens gränser: om are-avledningar i svenskan. Arkiv för nordisk filologi 110, 179-198. https: / / journals.lub.lu.se/ anf/ article/ view/ 11547 (14.10.2022). Hagren Idevall, Karin (2011): Konstruktioner av queer. Interdiskursivitet och pendlande positioneringar i samtal om kön, sexualitet och relationer. Södertörns högskola [Magisterarbeit]. http: / / sh.diva-portal.org/ smash/ record.jsf ? pid=diva2%3A422082&d swid=-3155 (14.10.2022). Hornscheidt, Antje (2003): Linguistic and public attitudes towards gender in Swedish. In: Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (Hrsg.): Gender Across Languages. The Linguistic Representation of Women and Men. Bd. 3. Amsterdam/ Philadelphia: Johns Benjamins (=-Impact: Studies in Language and Society 11), 339-368. —-(2008): Gender resignifiziert: Schwedische (Aus)Handlungen in und um Sprache. Berlin: Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität. Källström, Roger (1995): Om svenskans genussystem. En diskussion av några analysal‐ ternativ. Göteborg: Göteborgs universitet. Kotthoff, Helga (2017): Von Syrx, Sternchen, großem I und bedeutungsschweren Strichen. Über geschlechtergerechte Personenbezeichnungen in Texten und die Kreation eines schrägen Registers. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 90, 91-117. Kürschner, Sebastian (2020): Grammatical Gender in Modern Germanic Languages. In: Putnam, Michael T./ Page, B. Richard (Hrsg.): The Cambridge Handbook of Germanic Languages. Cambridge: Cambridge University Press, 259-281. Ledin, Per/ Lyngfelt, Benjamin (2013): Olika hen-syn. Om bruket av hen i bloggar, tidningstexter och studentuppsatser. Språk & Stil NF 23, 141-174. Lindqvist, Anna/ Gustafsson Sendén, Marie/ Bäck, Emma (2016): Vem tycker om hen? Språk & Stil NF 26, 101-129. Milles, Karin (2008): Jämställt språk. En handbok i att skriva och tala jämställt. Stockholm: Norstedts/ Språkrådet. 274 Magnus P. Ängsal <?page no="275"?> —-(2013): En öppning i en sluten ordklass? Den nya användningen av pronomenet hen. Språk & Stil NF 23, 107-140. —-(2019): ‚Vi kan inte påstå oss vara feminister om vi inte tänker på hur vi pratar‘. Normkritiskt en - ideologiskt, identitetsskapande. Och inkluderande? Tidskrift för genusvetenskap 40 (1), 5-26. Nübling, Damaris (2019): Geschlechter(un)Ordnungen in der Grammatik: Deklination, Genus, Binominale. In: Eichinger, Ludwig M./ Plewnia, Albrecht (Hrsg.): Neues vom heutigen Deutsch. Empirisch - methodisch - theoretisch. Berlin/ Boston: De Gruyter, 19-58 (=-Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 2018). Pauwels, Anne (1998): Women changing language. Harlow: Longman. Pettersson, Magnus (2011): Geschlechtsübergreifende Personenbezeichnungen. Eine Referenz- und Relevanzanalyse an Texten. Tübingen: Narr. SAOL (2015): Svenska Akademiens Ordlista 14. https: / / svenska.se/ (14.10.2022). Sjöström, Hedvig (2012): Det tredje könet. En diskursanalys av debatten om „hen“ i fyra svenska dagstidningar under januari-mars 2012. Stockholms universitet [Ba‐ chelorarbeit]. https: / / www.diva-portal.org/ smash/ get/ diva2: 534766/ FULLTEXT01.pd f (14.10.2022). Solevid, Maria/ Wängnerud, Lena/ Djerf-Pierre, Monika/ Markstedt, Elias (2021): Gender gaps in political attitudes revisited: the conditional influence of non-binary gender on left-right ideology and GAL-TAN opinions. European Journal of Politics and Gender 4 (1), 93-112. Språkrådet (2014a): Myndigheternas skrivregler. 8. Aufl. Stockholm: Norstedts Ju‐ ridik/ Fritzes. https: / / www.isof.se/ download/ 18.17dda5f1791cdbd2873a99/ 1620030264 840/ Mynd-skrivreg2014-1.pdf (14.10.2022). —-(2014b): Nyordslistan 2014. https: / / www.isof.se/ download/ 18.5d2bf5ad1791d0816f4c2 67/ 1620582672119/ Nyordslistan%202014.pdf (14.10.2022). —-(2021): Språkfrågan: Varför riksdagsledamot och talesperson men talman? https: / / www.isof.se/ lar-dig-mer/ publikationer/ tidskrifter/ bulletinen-klarsprak/ artiklar-klar sprak/ 2021-09-20-sprakfragan-varfor-riksdagsledamot-och-talesperson-men-talman (14.10.2022). — (2022): Använd inkluderande språk. https: / / www.isof.se/ stod-och-sprakrad/ spraktjans ter/ klarsprakshjalpen/ skriv-klarsprak/ tank-pa-dina-lasare/ fordjupning-tank-pa-dina -lasare/ anvand-inkluderande-sprak (14.10.2022). —-(o.-J.): Frågelådan i svenska. Fråga: Hur gör jag för att referera till personer utan att behöva ange kön? https: / / frageladan.isof.se/ visasvar.py? sok=k%C3%B6nsneutral&sv ar=77439&log_id=797220 (14.10.2022). Svenska språknämnden (2005): Språkriktighetsboken. Utarbetad av Svenska språknämnden. Stockholm: Norstedts. Gendern im Schwedischen 275 <?page no="276"?> Teleman, Ulf/ Hellberg, Staffan/ Andersson, Erik (1999a, 1999b): Svenska Akademiens Grammatik. I: Inledning Register (1999a); II: Ord (1999b). Stockholm: Norstedts, Svenska Akademien. Thornham, Sue (2001): Second wave feminism. In: Gamble, Sarah (Hrsg.): The Routledge Companion to Feminism and Postfeminism. 2. Aufl. London: Routledge, 25-35. Unterbeck, Barbara/ Rissanen, Matti/ Nevalainen, Terttu/ Saari, Mirja (Hrsg.): Gender in Grammar and Cognition. Berlin/ New York: De Gruyter. Van Epps Briana (2019): Sociolinguistic, comparative and historical perspectives on Scandinavian gender: With focus on Jamtlandic. Lund: Lunds universitet [Diss.] https: / / portal.research.lu.se/ en/ publications/ sociolinguistic-comparative-and-historical-pe rspectives-on-scandi (14.10.2022). Wojahn, Daniel (2015): Språkaktivism. Diskussioner om feministiska språkförändringar i Sverige från 1960-talet till 2015. Uppsala: Uppsala universitet. [Diss.]. World Economic Form (2022): Global Gender Gap Report. Insight report. July 2022. https: / / www3.weforum.org/ docs/ WEF_GGGR_2022.pdf (14.10.2022). 276 Magnus P. Ängsal <?page no="277"?> 1 Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Kaltz. Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 1 Éliane Viennot Zusammenfassung: Der Beitrag behandelt die wesentlichen Bereiche, in denen das Französische seit dem Mittelalter ‚maskulinisiert‘ wurde. Zu‐ nächst wird dargelegt, wie das Maskulinum die Überreste des lateinischen Neutrums übernahm, das Femininum verdrängte und das bestehende Gleichgewicht zwischen beiden grammatischen Genera zerrüttete, das etwa in der Kongruenz mit dem nächststehenden Wort, in der Bezeichnung geschlechtergemischter Gruppen und im Bedeutungsumfang von homme zum Ausdruck gekommen war. Schwerpunktmäßig geht es dabei um die von den Sprachnormierern bevorzugte Begründung der Vorrangstellung des Maskulinums - das wirkungsmächtige Konzept des Maskulinums als ‚edleren‘ Geschlechts, wobei gelegentlich auch weitere Argumente bemüht wurden, etwa die Befürchtung, allzu ‚volksnah‘ zu erscheinen. Abschließend wird erläutert, dass die früher gebräuchlichen Ausdrucks‐ weisen allen Anstrengungen zum Trotz, sie in Verruf zu bringen, im Sprachgebrauch noch immer Bestand haben und sich daher mühelos wieder durchsetzen könnten, wenn die SprecherInnen es nur wollen. Schlüsselbegriffe: Französisch, Mittelalter, ‚Maskulinisierung‘, Kon‐ gruenz, Académie française, normative Grammatik, Femininsuffigierung, Neutrum, Pronomen 1 Einleitung Wie in allen romanischen Sprachen kommt dem Genus auch im Französischen erhebliches Gewicht zu. Substantive (bzw. Ausdrücke in substantivischer Funk‐ tion) bestimmen die Markierung sämtlicher damit verbundenen Elemente im <?page no="278"?> 2 Im Gegenwartsfranzösischen sind von den Personenbezeichnungen ein Drittel Epi‐ koina; bei den Adjektiven ist es mehr als die Hälfte: 43 % in der gesprochenen und in der schriftlichen Sprache (z. B. agréable) und in der gesprochenen Sprache nur 22 % (z. B. nul/ nulle). Fast alle Partizipien der Vergangenheit sind in der gesprochenen Sprache Epikoina (allée/ allé, sortie/ sorti): Die Unterscheidung von Femininum und Maskulinum ist - wenn überhaupt - lediglich bei manchen Verben der (wenig umfangreichen) dritten Verbklasse zu hören (pris/ prise); tatsächlich bleiben auch diese Formen immer häufiger unverändert, selbst bei gebildeten Sprechern und Sprecherinnen. - Vgl. hierzu bes. Larivière (2000: 112, 132). 3 Manche Forscher wie Alpheratz (2018) experimentieren mit einem Genus, das sie als ‚Neutrum‘ bezeichnen; dieses entspricht jedoch nicht wirklich dem dritten Genus, dem Neutrum in jenen Sprachen, die es als Kategorie unterscheiden. Es geht hier eher darum, die erwünschte ‚Neutralisierung‘ des sozialen Geschlechts sprachlich zum Ausdruck zu bringen, indem statt der Genusvariation allgemeingültige Formen wie al für das Subjektpronomen il vs. elle oder das Substantiv autaire für auteur vs. autrice eingesetzt werden | Siehe hierzu auch Balnat in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Satz: Artikel, Adjektive, Partizipien (heute nur noch der Vergangenheitsform) und Pronomina. Im Laufe der Jahrhunderte ist dieses - in den Grundzügen vom Lateinischen übernommene - Phänomen unter dem Einfluss von ungesteuerten Mechanismen und Normalisierungsbestrebungen seitens gesellschaftlich domi‐ nierender Gruppen zugleich komplexer und einfacher geworden. So hatte der Schwund vieler Endvokale zur Folge, dass das Genus weniger deutlich erkennbar war und andere Elemente mit der Zeit die Markierungs‐ funktion übernahmen, was wiederum zur Entstehung zahlreicher Endungen wie -eur/ -euse, -er/ -ère, -teur/ -trice, -ais/ -aise, -ant/ -ante führte, die gegenwärtig wieder in Gebrauch sind. Auch diverse Determinantien wurden verstärkt heran‐ gezogen, um das Genus zumindest im Singular eindeutig zu markieren (wie la/ le, un/ une, ma/ mon, ce/ cette…); dadurch wurde die nun fehlende Markierung der (im Französischen zahlreichen) Epikoina wenigstens einigermaßen kompensiert. 2 Ein weiteres Beispiel ist der Wegfall des Neutrums im Französischen. Der Verlust dieses Genus, der in der gegenwärtigen Debatte vielfach bedauert wird, führte indessen entgegen einer unter Laien verbreiteten Annahme keineswegs dazu, dass man nicht länger von Menschen sprechen konnte, ohne auf ihr soziales Geschlecht zu verweisen. Diese Funktion hatte das Neutrum auch im Lateinischen nie, denn es diente dazu, Unbelebtes zu bezeichnen, nicht Personen, ausgenommen Kinder und gewissermaßen als Objekte angesehene Personen wie Prostituierte (m/ w) und Sklaven (m/ w). Gäbe es das Neutrum im Französischen noch, so würde es dazu verwendet, über Gegenstände, Gefühle, Gedanken und das Wetter zu sprechen - vielleicht auch, wie im Englischen, über Babys, nicht aber über Erwachsene. 3 278 Éliane Viennot <?page no="279"?> Der Wegfall des Neutrums hat den Aufstieg des Maskulinums insofern gefördert, als dieses die Funktionen des Neutrums übernahm; später konnte es seine Vorrangstellung noch weiter ausbauen. In der gegenwärtigen Diskussion geht es um die zentrale Frage, wie das Machtverhältnis zwischen den beiden verbleibenden Genera ausgeglichen werden kann. Das ist ohne Weiteres mög‐ lich durch den Rückgriff auf die vielen Ausdrucksmittel, die im Französischen dafür von jeher zur Verfügung stehen. 2 Maskulinum versus Neutrum: zur Geschichte einer erfolgreichen Übernahme Das Neutrum als Kategorie war schon im klassischen Latein insofern recht angeschlagen, als Unbelebtes bereits weitgehend mit Feminina oder Maskulina bezeichnet wurde (vgl. Bate 2021). In der Sprache der Soldaten, die in den von den Römern eroberten Gebieten stationiert waren, spielte das Neutrum dann wohl kaum noch eine Rolle, weshalb es in sämtlichen romanischen Sprachen mit Ausnahme des Rumänischen verschwunden ist (vgl. Graur 1928). Da die Verna‐ kularsprachen der ehemals romanisierten Gebiete lange Zeit nur gesprochen wurden, ist über den zeitlichen Ablauf dieses Prozesses nur wenig gesichertes Wissen vorhanden. Für das Französische lässt sich diese Entwicklung ausgehend von den ältesten erhaltenen schriftlichen Zeugnissen aus dem 11. und 12. Jh. immerhin einigermaßen rekonstruieren; dieser Prozess wird in den späteren Texten dann noch besser verständlich. 2.1 Zu den Anfängen des Niedergangs Im Lateinischen waren neutrale Substantive in bestimmten Funktionen leicht mit Maskulina, in anderen mit Feminina zu verwechseln; schon sehr früh gingen sie in die beiden anderen Genera über, und bis zum Altfranzösischen waren sie ganz verschwunden. Dieser Entwicklung schlossen sich zwangsläufig die Determinantien an, ebenso wie die überwiegende Zahl der neutralen Ad‐ jektiv- und Partizipialformen, die ihre Funktion eingebüßt hatten. Die wenigen überlebenden Formen sind nur im Singular gebräuchlich, in unpersönlichen Ausdrücken, in Verbindung mit neutralen Pronomina und in meteorologischen Angaben. Die Demonstrativpronomina ce, ceci, cela, ça und die Interrogativpronomina que und quoi haben in wechselnder Gestalt überlebt und sind aus dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken. Diese neutralen Formen weisen jedoch insofern kein eigenes Genus auf, als sie sich nur noch mit Feminina Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 279 <?page no="280"?> 4 Ausführlicher hierzu vgl. Paris (1894). 5 À la claire fontaine, berühmtes französisches Volkslied. 6 De Pizan (1503, o.S.), Kap. 47 über die „femmes des mestiers“. Die Zeichensetzung im Zitat wurde hinzugefügt. (C’est ma chemise) oder Maskulina verbinden lassen (Et ça, c’est mon manteau), allenfalls auch miteinander (C’est quoi, ça? ). 2.2 Zur weiteren Ausbreitung der maskulinen Personalpronomina Die vermeintlichen Erben des Neutrums illud (vulgärlat. illum) wurden vermut‐ lich in der Zeit, als die neutralen Substantive entweder zu den Feminina oder den Maskulina wechselten, von den letzteren aufgenommen. Daher verwenden wir heute das maskuline Pronomen le, wenn wir uns auf Aussagen über Tatsachen oder Gedanken beziehen (Que le ciel soit gris, je le vois bien). Bis zum 12. Jh. stand das neutrale Subjektpronomen el zur Verfügung; wäre nicht das maskuline il an seine Stelle getreten, 4 so würden wir heute El y a longtemps que je t’aime singen. 5 In der Folgezeit etablierte sich das Maskulinum il als Subjektpronomen zuvor subjektloser (etwa meteorologischer) Verben; so ist in den Chroniques von Jean Froissart [14. Jh.] zu lesen: Et encoires plouvoit et neigoit, et ventoit et faisoit moult froit (in: Froissart 1966: 212). Doch bereits wenige Jahrzehnte später (1405) verzeichnete Christine de Pizan dieses Sprichwort : On dit que trois choses chassent lhomme de son hostel : femme rioteuse, cheminee qui tient fumee & maison ou il pleut. 6 2.3 Zum Ende der Kategorie Neutrum Auch bei der Kongruenz von Adjektiven und Partizipien mit Pronomina im Neutrum wird der Wechsel der Genuskategorie zum Maskulinum deutlich. Für unsere Vorfahren war die Form des prädikativen Adjektivs bon in der Aussage C’est bon ein Neutrum und kein Maskulinum, denn das Altfranzösische hatte Spuren des lateinischen Kasussystems bewahrt, in dem die meisten Ausdrücke nicht nur nach Genus und Numerus, sondern auch nach ihrer syntaktischen Funktion markiert waren. Von den sechs lateinischen Fällen kannte es noch zwei, den ‚Subjektkasus‘ (für die Funktionen des Subjekts und des Ausrufs) und den ‚Rektionskasus‘ (für alle anderen). Diese Unterscheidung erfolgte bei den meisten maskulinen Formen mit stimmhaftem s im Singular des Subjektkasus (bons), nicht dagegen beim Rektionskasus (bon), während es im Neutrum für beide Fälle nur eine Form (bon) gab, ebenso wie im Femininum (bonne). Dieses für maskuline Singularformen charakteristische s wurde dann im ausgehenden 280 Éliane Viennot <?page no="281"?> 7 Nur bei der Verwendung von Personalpronomina in der Funktion des direkten und indirekten Objekts wird weiter unterschieden (je la/ le vois ≠ je lui parle), ebenso bei der Verwendung von Relativpronomina in der Funktion des Subjekts und des direkten Objekts (celle qui parle ≠ celle que je vois). 8 Tatsächlich waren Maskulina an Stelle von Neutra schon seit langem gebräuchlich; vgl. hierzu Marchello-Nizia (1989). 9 Ausführlich hierzu vgl. Viennot (2006), Kap.-8. Mittelalter jedoch nicht mehr ausgesprochen; infolge der Ausbreitung der Formen auf s wurden auch die femininen und maskulinen Pluralformen verein‐ heitlicht. Das Kasussystem hat also im Französischen nicht überlebt, 7 ebenso wenig wie das Neutrum als Genuskategorie, das infolge des Verschwindens der neu‐ tralen Determinantien und Substantive sowie sämtlicher Pluralmarkierungen bereits stark an Boden verloren hatte, bevor das Maskulinum schließlich auch die letzten neutralen Partizip- und Adjektivformen in jenen Verwendungen verdrängte, in denen noch zwischen Maskulinum und Neutrum unterschieden wurde. 8 2.4 Wie die Vorstellung vom Maskulinum als dem ‚edleren Genus‘ entstand Die genannten Veränderungen erfolgten zeitgleich mit dem wachsenden Ein‐ fluss der Gelehrtenkreise in der mittelalterlichen Gesellschaft, der sich bereits in den Jahrzehnten vor der Gründung der ersten Universitäten (um 1200) abzeichnete. Diese ausschließlich von Männern und vom Christentum geprägte Welt sollte den Juden bis zur Zeit der Revolution und den Frauen sogar noch ein Jahrhundert länger verschlossen bleiben. Nachweise für bewusste Eingriffe in die Sprache jener Zeit, das Franzische, fehlen bislang; dennoch legt unser Wissen über dieses Milieu, dessen sexistischen, elitären Charakter und die Entschlossenheit, Widersacher auszuschalten, 9 eine solche Annahme nahe. Darauf deuten auch andere sprachliche Entwicklungen hin, die belegen, dass die seinerzeit führenden Köpfe sich Gedanken über die Sprache machten und bestrebt waren, ihre Vorstellungen umzusetzen. Davon zeugen zahlreiche Neubildungen mit lateinischen Elementen, die für gewöhnliche Sterbliche natürlich unverständlich waren, und orthographische Neuerungen, mit denen bereits verschwundene oder im Verschwinden begriffene Schriftzeichen unter Missachtung der Veränderungen in der Aussprache wieder eingeführt wurden (vgl. Englebert 2020). Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 281 <?page no="282"?> 10 Die hier zitierte Übertragung ins Französische besorgte der Verleger, Jean-Baptiste Behourt. ‚Das maskuline Genus […] ist edler als die beiden anderen […] und das feminine Genus ist edler als das Neutrum.‘ 11 „L’adjectif, [le] relatif, et [le] verbe mis avec plusieurs substantifs de divers genres, nombres et personnes s’accorderont avec le plus noble, or entre les genres, le masculin est le plus noble de tous, et après luy le feminin“ (Pélisson 1560: 238; ins Französische übersetzt von Jean Gardei Faget). Jedenfalls entstand in diesem Milieu vermutlich bereits im 15. Jh. ein Begriff, der eine sagenhafte Wirkungsmacht entfalten sollte. Jean Despautère († 1520) schrieb in seiner Lateingrammatik: Masculeum genus, le masculin genre, praestat reliquis generibus, est plus digne que les deux autres. Muliebre, et le féminin genre, neutri praestat, est plus excellent que le neutre. (Despautère 1627: 269). 10 Mehrere Kommentatoren beriefen sich auf dieses damals recht erfolgreiche Werk, um jene Regel vom Vorrang des Maskulinums gegenüber dem Femininum für die französische Sprache zu begründen, die jedes Schulkind später gelernt hat (siehe 3.3). Sie sahen allerdings darüber hinweg, dass es bei Despautère um das Lateinische geht, das bekanntlich drei Genera kennt. In seinem Kommentar zur Grammatik von Despautère formulierte Jean Pélisson 1560 für das Französische die nachstehende Regel: ‚Das Adjektiv, das Relativpronomen und das Verb in Verbindung mit mehreren Substantiven, die sich hinsichtlich Genus, Numerus und Person unterscheiden, kon‐ gruieren mit dem edleren Genus; unter den Genera ist nun aber das Maskulinum das edlere, und nach ihm das Femininum.‘ 11 2.5 Zum endgültigen Wandel Wie bereits erläutert, war il im Begriff, sich als Subjektpronomen der meteo‐ rologischen Verben zu etablieren, die zuvor ohne ein solches ausgekommen waren. Lange Zeit stand es dabei in Konkurrenz mit dem neutralen Pronomen ça, das eigentlich angemessener ist, da hier ein unpersönliches Subjekt vorliegt. Dass ihm diese Funktion durchaus eignet, zeigt schon das noch im gegenwär‐ tigen Französischen gebräuchliche Ça gèle, ce matin! Ihre Verwerfung dieses Sprachgebrauchs begründeten die Vertreter der normativen Grammatik mit sozialen Unterschieden; der Gebrauch von ça wurde später auch im Französisch‐ unterricht an öffentlichen Schulen als ‚umgangssprachlich‘ oder ‚volkstümlich‘ stigmatisiert. Ähnlich hatten die Verben falloir et valoir ursprünglich kein einleitendes Pronomen: Faut partir, Vaut mieux payer. Als sog. ‚Platzhaltersub‐ 282 Éliane Viennot <?page no="283"?> 12 So Alain Peyrefitte, Mitglied der Académie française, in der Tageszeitung Le Figaro (1984): „le masculin vaut pour le neutre“; „le masculin joue le même rôle que le neutre dans d’autres langues“. 13 Etwa von Abeillé/ Godard in ihrer Grande grammaire du français (2021: 382). jekt‘ wurde ihnen il zugewiesen, zumindest in der Schriftsprache, und den Sprachnutzern wurde nahegelegt, diese Regel auch beim Sprechen anzuwenden, wollten sie nicht als ‚ungebildet‘ gelten. Il muss des Weiteren an die Stelle von ce treten, wenn das neutrale Pronomen ein prädikatives Element nach sich zieht und dieses eine Ergänzung erhält: Aus C’est à craindre wird Il est à craindre que - und damit gilt der Satz als dem sog. ‚gehobenen‘ Sprachniveau angehörig. Entgegen aller Logik war der Gebrauch des Maskulinums selbst dann vorgeschrieben, wenn das Prädikatsnomen weib‐ lich ist: Quelle heure est-il? , die ‚vornehme‘ Version des umgangssprachlichen C’est quelle heure? Ganz zu schweigen von Il était une fois, dem einleitenden Satz aller Märchen, der ebenso wenig dem Volk zu verdanken ist; er stammt von Charles Perrault. Die o. g. Sprachregelungen beruhen auf der hinlänglich bekannten These, nach der im Französischen ‚das Maskulinum für das Neutrum‘ steht, und die - noch abwegigere - Annahme, ‚das Maskulinum [übernehme] die Rolle des Neutrums in anderen Sprachen‘. 12 Die Konzeption eines ‚Defaultgenus‘, die neu‐ erdings von manchen Grammatikerinnen und Grammatikern vertreten wird, 13 verstellt nicht nur den Blick auf diese sprachgeschichtlichen Entwicklungen, sie legitimiert auch Verwendungen, bei denen das Maskulinum keineswegs an die Stelle eines verschwundenen Neutrums tritt, sondern schlicht und einfach neutrale oder feminine Formen verdrängt, die in der Sprache durchaus noch gebräuchlich sind. 3 Maskulinum versus Femininum … oder: der unaufhaltsame Aufstieg des ‚edleren Genus‘ Das Maskulinum war demnach nicht nur dazu bestimmt, die Domäne des Neutrums zu übernehmen, es sollte sich auch in der Domäne des Femininums weitgehend ausbreiten. Bei den Bezeichnungen weiblicher Wesen gelang dies allerdings weniger gut als beim Neutrum. Wohl setzten die Sprachwächter ihre Kraft, ihren Einfallsreichtum und auch symbolische Gewalt in großem Stil ein, sie konnten ihre Ziele aber nicht so gut durchsetzen, weil sie auf Widerstand von Seiten der Frauen stießen. Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 283 <?page no="284"?> 14 „[A]u lieu du traditionnel il : lui - elle : li, on eut désormais la suite boiteuse il : lui - elle-: elle“ (Foulet 1935: 402). 3.1 Zu den Anfängen dieser Entwicklung Im 12. Jh. wurde zunächst das feminine Personalpronomen in der Funktion des indirekten Objekts li vom Maskulinum lui verdrängt: je li donne wurde ersetzt durch je lui donne. Diese Entwicklung ist durch nichts zu rechtfertigen und lässt sich anders als im Fall der neutralen Pronomina, die infolge des Verschwindens der Substantive mit neutralem Genus ihrerseits verschwunden waren, auch nicht mit der seltenen Verwendung dieser Form begründen. Das gilt umso mehr, als dieser Verlust bei betonten Pronomina kompensiert werden musste (Il est là, lui). Wie Lucien Foulet festgestellt hat, ‚war nun an die Stelle des traditionellen Paradigmas il : lui - elle : li die wenig überzeugende Abfolge il : lui - elle : elle getreten‘. 14 Manche Schriftsteller verbannten das feminine Subjektpronomen elles vollständig zugunsten seiner maskulinen Entsprechung: Où sont-ils [les neiges d’antan], Vierge souveraine? , schreibt Villon in seiner „Ballade des dames du temps jadis“ (aus den 1460er Jahren). Der Bereich der femininen Nomina blieb dagegen unangetastet. Dass das Suffix -eresse nicht länger produktiv war, lag in erster Linie daran, dass das entsprechende maskuline Suffix (-eres) zusammen mit den Subjektkasus auf -s verschwunden war; -eres/ -eresse wurden ersetzt durch -eur/ -euse (vgl. Khaznadar 2012). Es ist aber auch denkbar, dass die Spottreden über die doctoresses in den Évangiles des Quenouilles (um 1470) jenen Kreisen als Denkanstöße dienten, die sich nach der Erfindung des Buchdrucks verstärkt Gedanken über die französische Sprache machten. Gesichert ist jedenfalls, dass die Verwendung der Suffigierungen mit -esse, die mit dem Bereich der Bildung zu tun haben, als erste in Frage gestellt wurde. In der Renaissance wurden diese frühen Versuche, eine männlich dominierte Sprache durchzusetzen, indessen vorübergehend ausgebremst; sie verloren sogar an Boden, als Prinzessinnen in französischen Provinzen regierten, Frauen an den Höfen größeren Einfluss hatten, als erstmals Schriften von Autorinnen veröffentlicht wurden und die ersten Salons entstanden. In den gelehrten Kreisen war man nun abhängig von den regierenden Prinzessinnen und musste zudem den Einfluss anderer Frauen hinnehmen. In dieser Zeit etablierte sich das Subjektpronomen elles erneut im Sprachgebrauch; der Bereich der Bezeich‐ nungen prestigeträchtiger weiblicher Tätigkeiten wurde erweitert durch (un‐ mittelbar nach den lateinischen Feminina auf -trix gebildete) Neologismen auf 284 Éliane Viennot <?page no="285"?> 15 Ausführlicher hierzu siehe Viennot (2021a). 16 Vor Marie de Gournay war Christine de Pizan († 1431) die einzige Frau gewesen, die ein gewisses Prestige erlangt hatte, allerdings in einem völlig anderen Kontext; für die Zeit dazwischen siehe Viennot (2020). 17 Diese Praxis war offenbar auf Bezeichnungen von Unbelebtem beschränkt. 18 „Parce que le genre masculin est le plus noble, il prévaut seul contre deux ou plusieurs féminins, quoiqu’ils soient plus proches de leur adjectif “ (Dupleix 1651: 696). 19 „[…] parce qu’elle n’a point accoustumé de l’ouïr dire de cette façon“ (Vaugelas 1647: 83). Hier wird deutlich, dass die Genusfrage in diesen Kreisen von zentraler Bedeutung war: Eine Pluralform wurde hier gar nicht vorausgesetzt. -trice, und die Parität ‚weiblicher‘ und ‚männlicher‘ Reime wurde zum Dogma erhoben. 15 Im ausgehenden 16. Jh. änderte sich die Lage nochmals. Marie de Gournay gelang es in der ersten Hälfte des 17. Jh. als erster Schriftstellerin, Karriere zu machen, 16 und zahlreiche andere Frauen (Scudéry, Villedieu, Lafayette, Des‐ houlières, Aulnoy…) taten es ihr später nach. Nach der Gründung der Académie française (1635) wurden dann jedoch in weniger als einem Jahrhundert jene Änderungen in der Sprache durchgesetzt, für die frauenfeindliche Kreise das Terrain bereits seit dreihundert Jahren vorbereitet hatten. 3.2 Zum Dogma von der Kongruenz im Maskulinum Plural Das nunmehr auf das Französische übertragene Konzept eines ‚edleren Genus‘ diente zunächst einmal dazu, die alte Gewohnheit in Frage zu stellen, die Kongruenz bei Wendungen mit mehreren Nomina unterschiedlichen Genus und/ oder Numerus durch Markierung nach dem nächststehenden Nomen zu etablieren (den sog. ‚accord de proximité‘). 17 Als überzeugter Gegner dieser Praxis argumentierte Dupleix: ‚Weil das Maskulinum das edlere Genus ist, setzt es sich allein gegen zwei oder mehr Feminina durch, selbst wenn sie näher an dem betreffenden Adjektiv stehen‘. 18 1647 konzedierte Vaugelas, der führende Kopf bei der Redaktion des Dictionnaire de l’Académie, in seinen Remarques, das Ohr müsse sich erst noch an diese neue Regelung gewöhnen; dennoch trat er für Kongruenz mit dem Maskulinum Plural in all jenen Fällen ein, wo die Verbindung eines femininen Nomens mit einer maskulinen Adjektivendung für das Ohr nicht störend sein könne. 19 Und 1674 schrieb Dominique Bouhours: ‚Einer unserer berühmtesten Schriftsteller sagt in einem seiner besten Bücher: C’est un sentiment & une veuë qui n’est pas moins forte [Fem. Sing.] que tous les raisonnemens. Ein anderer, nicht minder bekannter, sagt: […] Ces peres & ces meres qui font profession d’estre Chrestiennes [Fem. Pl.]. Diese Fügungen erschienen mir bewundernswert, Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 285 <?page no="286"?> 20 „Un de nos plus celebres écrivains dit dans un de ses meilleurs livres : C’est un sentiment & une veuë qui n’est pas moins forte que tous les raisonnemens. Un autre, qui n’est pas de moindre réputation, dit: […] Ces peres & ces meres qui font profession d’estre Chrestiennes. Je trouverois ces constructions admirables, si je pouvois les accorder avec ce que dit M. de Vaugelas ; que deux substantifs de different genre demandent le pluriel au verbe qui les suit ; & que dés qu’on emploie le pluriel au verbe, il le faut employer aussi à l’adjectif, qui prend le genre masculin comme le plus noble, quoy-qu’il soit plus proche du feminin.“ (Bouhours 1674: 129-130). - Die Zitate sind Nicole (1687) bzw. de Royaumont (1670) entnommen. 21 Corneille, La mort de Pompée (1644), III. Akt,-2. Szene. 22 ‚Stadt‘: hier das gehobene Bürgertum und der Amtsadel (Anm. d. Übers.). wären sie vereinbar mit dem, was Vaugelas sagt, dass nämlich zwei Substantive unterschiedlichen Genus ein nachstehendes Verbum im Plural erfordern, und dass die Verwendung der Pluralform beim Verbum auch eine Pluralform für das Adjektiv nach sich zieht, und zwar im Maskulinum als dem edleren Genus, selbst wenn das Adjektiv näher beim Femininum steht‘. 20 Die fraglichen Sätze wurden von den hier inkriminierten Schriftstellern in einer späteren Ausgabe ihrer Schriften entsprechend abgeändert. Vor ihnen hatte schon Corneille die Singularform des Verbs in dem Vers Sans que ni vos respects, ni votre repentir, ni votre dignité vous en pût garantir  21 in der großen Ausgabe seiner Theaterstücke (1660) durch den Plural pussent ersetzt. 3.3 Benennung geschlechtergemischter Gruppen: im Maskulinum! Das Konzept des ‚edleren Genus‘ diente keineswegs nur zur Regelung von Kongruenzproblemen, es wurde bald auch zur Rechtfertigung jenes Begriffs herangezogen, für den später, im 20. Jh., in der Sprachwissenschaft die Bezeich‐ nung ‚generisches Maskulinum‘ geprägt wurde. Im Zusammenhang mit der (überaus lebhaften, immer wieder aufflammenden) Debatte über das feminine Genus des Wortes personne hatte Bouhours die Regel aufgestellt, das Genus des Personalpronomens müsse geändert werden, wenn auf gemischte Gruppen referiert werde: ‚Wenn ich von Männern und Frauen in einer Gesellschaft spreche, nachdem ich gesagt habe, dass darunter mehrere Personen des ‚Hofes und der Stadt‘ 22 sind, sage ich ils parlèrent des affaires de la guerre, und nicht elles; denn hier sind Männer und Frauen 286 Éliane Viennot <?page no="287"?> 23 „Si je parle des hommes & des femmes qui sont dans une compagnie, aprés avoir dit qu’il y avoit dans cette compagnie diverses personnes de la Cour et de la ville, je diray ils parlèrent des affaires de la guerre, & non pas elles ; car les hommes & les femmes sont la chose signifiée : & quand les deux genres se rencontrent, il faut que le plus noble l’emporte.“ (Bouhours 1675: 4). 24 „Le genre masculin est réputé plus noble que le féminin, à cause de la supériorité du mâle sur la femelle“ (Beauzée 1767: 358). 25 „Le masculin est toujours noble dans son emploi. Du reste, l’ancienne grammaire avait admis cette vérité, en lui donnant cette forme si connue : Le masculin est plus noble que le féminin.“ (Bescherelle 1847: 94). der bezeichnete Gegenstand, und wenn beide Genera aufeinandertreffen, so muss das edlere sich durchsetzen.‘ 23 Offenbar wurde diese Regelung nicht ohne Weiteres akzeptiert; manche Gram‐ matiker hielten jedenfalls nähere Erklärungen für erforderlich. 1767 erläuterte Nicolas Beauzée, der sich als Verfasser der Einträge „grammaire“ in der Encyclopédie einen Namen gemacht hatte und später in die Académie française aufgenommen wurde, in seiner Grammaire générale, ‚das Maskulinum [gelte] als das edlere Genus, denn das männliche Geschlecht sei dem weiblichen überlegen‘ 24 - eine Formulierung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Bescherelle konzedierte einhundertfünfzig Jahre später, auch er sei nicht in der Lage, ein besseres Argument vorzubringen: ‚Das Maskulinum ist in seinem Gebrauch stets edel. Diese Wahrheit hatte im Übrigen bereits die ältere Grammatik erkannt und in der wohlbekannten Weise ausgedrückt: Le masculin est plus noble que le féminin‘. 25 Bei Bescherelle klingt an, dass diese Formulierung im 19. Jh. als gesellschaft‐ lich überholt angesehen wurde. In der Tat wollte man in der Dritten Republik nichts mehr mit dem Adel zu tun haben, doch an der Vorrangstellung der Männer sollte nicht gerüttelt werden. Die Regel wurde daher von leitenden Beamten des Ministeriums für das öffentliche Schulwesen leicht umformuliert und lautete in dieser neuen Fassung, die uns noch heute geläufig ist: le masculin l’emporte sur le féminin [‚Das Maskulinum setzt sich gegenüber dem Femininum durch‘]. 3.4 Der Kampf gegen die femininen Bezeichnungen für prestigeträchtige Tätigkeiten Hier ging es um weit mehr als den Vorrang des maskulinen Genus gegenüber dem femininen: Es galt durchzusetzen, dass Frauen, die Tätigkeiten ausübten, die in diesen Kreisen als rein männliche Domänen galten, entgegen allen Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 287 <?page no="288"?> 26 „Je diray plustot que Mlle de Gournay est Poëte que Poëtesse, et Philosophe que Philosophesse. Mais je ne diray pas Si-tost qu’elle est Rhetoricien que Rhetoricienne, ni le Traducteur que la Traductrice de Virgile. […] je vous respondray, qu’en mon particulier, j’ay jusques icy suivi l’usage, et que je dis bien qu’une femme a esté conseillere d’une telle action, mais non pas jugesse d’un tel proces ; qu’elle a esté mon advocate, mais non pas qu’elle a esté mon orateur.“ (Schreiben an M. Girard vom 7. Mai 1634; Guez de Balzac 1665: 257). 27 „Il faut dire cette femme est poète, est philosophe, est médecin, est auteur, est peintre ; et non poétesse, philosophesse, médecine, autrice, peintresse, etc.“ (Andry de Boisregard 1689: 228). gesellschaftlichen und sprachlichen Traditionen mit der maskulinen Form bezeichnet werden mussten. In Briefwechseln hatte es nachweislich bereits ab Mitte der 1630er Jahre eine lebhafte Debatte über die Benennung jener Frauen gegeben, die sich nicht an die gesellschaftlichen Spielregeln hielten: ‚Ich würde eher sagen, Mademoiselle de Gournay ist Dichter, nicht Dichterin, und Philosoph, nicht Philosophin. Aber ich würde nicht ohne weiteres sagen, sie ist Rhetoriker und nicht Rhetorikerin, und ebenso wenig, sie ist Übersetzer und nicht Übersetzerin von Vergil […]. Ich antworte Ihnen, dass ich mich selbst bisher an den Gebrauch gehalten habe und daher von einer Frau wohl sage, sie war Ratgeberin in einer bestimmten Angelegenheit, nicht aber Richterin in einem bestimmten Prozess; dass sie meine Advokatin war, nicht aber mein Redner.‘ 26 Der Kampf gegen die Feminina war also im Gange, doch ihre Gegner waren sich untereinander nicht einig. Guez de Balzac war der Ansicht, man solle nur die Suffigierungen auf -esse vermeiden, d. h. jene Bezeichnungen, die durch den Wegfall der Suffixendung zu Epikoina werden - und damit den Blick darauf verstellen, dass auch Frauen kreativ sein, denken und urteilen können … Als Li‐ terat sprach er sich dennoch dagegen aus, Frauen mit Maskulina zu bezeichnen. Eben dies wurde jedoch schon wenige Jahrzehnte später eingefordert; so schrieb Andry de Boisregard 1689: ‚Es muss heißen, diese Frau ist Dichter, Philosoph, Arzt, Autor, Maler - und nicht Dichterin, Philosophin, Ärztin, Autorin, Malerin usw.‘ 27 Hier wird offensichtlich, dass die geächteten Bezeichnungen die Bereiche des Denkens, Urteilens, der öffentlichen Äußerung, des Wissens, des Schöpferischen betreffen. Feminina wie servante (‚Dienerin‘) oder tripière (‚Kuttlerin‘) wurden nie verworfen, ebenso wenig wie comtesse (‚Gräfin‘) oder duchesse (‚Herzogin‘). Deutlich länger wurde die Liste der geächteten Bezeichnungen ab dem Ende des 19. Jh., als Frauen Zugang zu den ihnen bislang verwehrten Berufen erhielten, die einen Hochschulabschluss voraussetzten: avocate (‚Rechtsanwältin‘), chi‐ 288 Éliane Viennot <?page no="289"?> 28 Titel zweier Komödien von Molière aus den Jahren 1659 und 1672. 29 Corneille, La mort de Pompée (1644), V. Akt, 2. Szene. 30 „Je dis que c’est une faute de dire quand je la suis, et qu’il faut dire quand je le suis. La raison de cela est que ce le, qu’il faut dire, ne se rapporte pas à la personne, car en ce cas-là il est certain qu’une femme aurait raison de parler ainsi, mais il se rapporte à la chose.“ (Vaugelas 1647: 28-29). 31 „Toutes les femmes aux lieux où l’on parle bien, disent la et non pas le.“ (Vaugelas, ibid.). rurgienne (‚Chirurgin‘), pharmacienne (‚Apothekerin’) u. a. Bei anderen inkri‐ minierten Berufsbezeichnungen ging es um stereotype Meinungen über die körperliche Kraft von Frauen: chauffeuse (‚Fahrerin‘), cochère (‚Kutscherin‘). Als die Frauen Mitte des 20. Jh. die vollen Staatsbürgerrechte erhielten, wurde die Liste der weiblichen Berufsbezeichnungen durch Neuprägungen wie conseillère (‚(Stadt)rätin‘), magistrate (‚Staatsanwältin‘) und haute fonctionnaire (‚Beamtin im höheren Dienst‘) noch umfangreicher. 3.5 Der Kampf gegen das Pronomen la Die außergewöhnlich starke öffentliche Präsenz der Frauen im Ancien Régime - am Hof, in den Salons und in literarischen Kreisen - führte wohl dazu, dass die Ausdrucksweise der Frauen in den Kreisen der Literaten bekannt wurde und diejenigen, die sich besonders daran stießen, zu kritischen Reaktionen veranlasste. Schon lange vor den Spottreden gegen die Précieuses ridicules und die Femmes savantes  28 lancierten einige Grammatiker einen Angriff gegen das Pronomen la in prädikativer Funktion. Corneille legte einer seiner Heldinnen den Satz Vous êtes satisfaite et je ne la suis pas  29 in den Mund - angesehene Autoren hielten diesen Gebrauch also offensichtlich für korrekt. Vaugelas war da anderer Meinung: ‚Ich sage, es ist falsch, zu sagen quand je la suis, und dass es heißen muss quand je le suis. Der Grund ist, dass dieses le, das man hier verwenden muss, sich nicht auf die Person bezieht, denn in diesem Fall hätte eine Frau gewiss recht, sich so auszudrücken, doch hier bezieht es [das Pronomen] sich auf die Sache‘. 30 Hier irrt Vaugelas indessen: la drückt wie das vorausgegangene Adjektiv satisfaite einen Zustand aus, für den es steht, und das Pronomen unterliegt hier der Genusvariation. Es hagelte Proteste, umso mehr, als Vaugelas selbst konzedierte, dass ‚sämtliche Frauen überall dort, wo man sich einer gepflegten Sprache bedient, la sagen und nicht le‘. 31 Madame de Sévigné ließ Ménage, mit dem sie befreundet war, auflaufen, als er ihr diesen Sprachgebrauch vorhielt: Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 289 <?page no="290"?> 32 „Vous direz comme il vous plaira, mais pour moi, je croirais avoir de la barbe si je disais autrement“ (in: Ménage 1694: 27-28). 33 „Animal raisonnable. En ce sens, il comprend toute l’espèce humaine, & se dit de tous les deux sexes.“ (Dictionnaire de l’Académie 1694: 566). 34 Mit der Ordonnance du 21 avril 1944 portant organisation des pouvoirs publics en France après la Libération wurde in Frankreich das allgemeine Wahlrecht für Frauen eingeführt; ‚Sie können das so sagen, wie es Ihnen beliebt, aber ich für meinen Teil würde meinen, ich hätte einen Bart, wenn ich es anders sagte‘. 32 3.6 Zum Bedeutungsumfang des Wortes homme Auf das Konzept des ‚edleren Genus‘ ist schließlich auch die Vorstellung zu‐ rückzuführen, homme könne die Menschheit als solche bezeichnen - entgegen der sprachlichen Entwicklung im Französischen, die schon seit dem Ende des Mittelalters abgeschlossen war, und entgegen dem juristischen Sprachgebrauch, der bis Mitte des 20. Jh. unantastbar blieb. Dieses Substantiv ist bekanntlich aus dem lat. homo hervorgegangen, dessen ursprüngliche Bedeutung ‚irgendjemand‘ im Laufe des ersten Jahrtausends auf ‚männliche Person‘ eingeschränkt wurde. Um 1360 vertrat Nikolaus von Oresme, der erste Übersetzer von Aristoteles’ Ethik ins Französische, die Auf‐ fassung, im Lateinischen könne man mulier est homo sagen, im Französischen dagegen nicht femme est homme (Chaurand 1977: 42). Wieder einmal war es die Académie française, die sich gegen diese doch fraglos zutreffende Feststel‐ lung wandte. In dem sehr ausführlichen Eintrag zu homme im Dictionnaire de l’Académie wird das Wort eingangs wie folgt definiert: ‚Vernunftbegabtes Tier. In dieser Bedeutung bezeichnet das Wort die gesamte Menschheit und schließt beide Geschlechter mit ein‘. 33 Anschließend ist allerdings nur noch vom männlichen Geschlecht die Rede. Es ist durchaus denkbar, dass die Bezeichnung in sehr allgemeinen Aussagen auch das andere Geschlecht sowie Kinder, Sklaven, Schwarze und Arme ein‐ schließt; diese Aussagen stammten (und stammen auch heute noch häufig) indessen von Männern, die weit davon entfernt waren, auch andere mensch‐ liche Wesen zu berücksichtigen. Letztere wurden von den Verfassern in ihren Schriften nur benannt, wenn sie besonders in den Blick genommen wurden. In den Texten des öffentlichen und Privatrechts war die Bezeichnung homme stets ausschließlich auf Männer bezogen; das trifft sogar noch auf jene Rechtstexte zu, die in Frankreich das Ende der Ungleichheit von Frauen und Männern besiegelten und beide Geschlechter explizit benannten (Erlass vom 21. April 1944; Präambel zur Verfassung vom 27. Oktober 1946). 34 290 Éliane Viennot <?page no="291"?> in der Präambel zur Verfassung von 1946 wurden den Frauen explizit dieselben Rechte wie den Männern in sämtlichen Bereichen zugestanden. (Anm. d. Übers.). 35 Siehe auch unten Kap. 4.3. Ausführlicher hierzu vgl. Viennot (2021b). Erst nachdem die zuständigen Behörden in Frankreich es abgelehnt hatten, die Bezeichnung Universal Declaration of Human Rights (1948) angemessen zu übersetzen, kam die Argumentation auf, das Wort homme habe zwei Bedeu‐ tungen, eine extensive (umfassende) und eine spezifische, zu deren grafischer Unterscheidung die Großschreibung des Allgemeinbegriffs eingeführt wurde. 35 3.7 Weitere Sprachregelungen zugunsten der Dominanz des männlichen Geschlechts Von den zahlreichen kleineren Maßnahmen, die die Vorherrschaft des männli‐ chen Geschlechts in der Grammatik des Französischen verstärkt haben, seien hier nur einige wenige genannt. Einige Adjektive wie fort, grand und die Formen des Partizips Präsens der drei Klassen von Verben bezogen sich im Französischen (wie im Lateinischen) lange Zeit auf beide Geschlechter; später wurden sie auf Grund ihrer Endung als maskulin angesehen. Erst seit der Renaissance variieren diese Adjektive und Partizipien nach dem Genus des jeweiligen Substantivs. Diese Entwicklung war hinsichtlich der Adjektive zwingend; für das Partizip Präsens wurde dagegen die Unveränderlichkeit als Regel eingeführt, genauer gesagt, als zulässig galt ausschließlich die Form des Mask. Sing. Von dieser neuen Regelung war auch das Partizip der Vergangenheit betroffen, soweit es dem Substantiv vorangestellt ist; entgegen der Logik der Kongruenz, doch im Sinne der Höflichkeit galt nun also: Excepté ma sœur, aber: ma sœur exceptée. Der im 16. Jh. sehr häufige Rückgriff auf Elisionen zur Vermeidung eines Hiatus wurde mit eher willkürlichen Bestimmungen verworfen: Elidierte Pos‐ sessivpronomina im Femininum wie m’amie waren nunmehr durch die masku‐ line Form mon zu ersetzen; bei der Konjunktion si konnte der Vokal vor dem maskulinen Personalpronomen weiter elidiert werden (s’il veut), nicht aber vor dem femininen, so dass es nun statt s’elle veut heißen musste si elle veut; den Hiatus nahm man dabei in Kauf. Auch bei dem seit langer Zeit femininen Genus der Buchstaben f, h, l, m, n, r, s wurden Änderungen vorgenommen, die vom Dictionnaire de l’Académie in der vierten Ausgabe (1762) abgesegnet wurden: ‚F. Feminines Substantiv gemäß der alten Aussprache Effe; nach der gegenwärtigen Aussprache Fe nunmehr Maskulinum. Diese naturgemäße Bezeichnung ist heutzutage die Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 291 <?page no="292"?> 36 „F. Substantif féminin suivant l’ancienne appellation qui prononçoit Effe-; & masculin suivant l’appellation moderne qui prononce Fe. Cette dénomination qui est la plus naturelle, est aujourd’hui la plus usitée.“ (Dictionnaire de l’Académie 1762: 705). 37 „Dans le lexique héréditaire - mots latins ou germaniques transmis par la voix populaire - les masculins sont minoritaires : 46 % contre 54 % de féminins. L’apport de l’ancien français respecte à peu près les mêmes proportions (47 %/ 53 %), mais, parmi les mots nouveaux apparus à cette époque, les formations proprement françaises (dérivés, composés) sont déjà majoritairement masculines : ce sont les très nombreux emprunts au latin, dont beaucoup de mots abstraits, qui font [encore] pencher la balance en faveur du féminin. En moyen français, le nombre encore important d’emprunts au latin continue à gonfler la part des féminins, mais les proportions s’inversent au X V Ie -siècle et la différence s’accentue au X V I Ie siècle : 61 % de masculins, 39 % de féminins.“ (Roché 1992: 113-114). gebräuchlichste‘. 36 Entsprechend wurde auch die Aussprache der anderen oben angeführten Buchstaben geändert (me, ne, se usw.). Ähnliches ist bei der Entwicklung der Bezeichnungen für Unbelebtes festzu‐ stellen: ‚Im Erbwortschatz, d. h. bei den Wörtern lateinischer oder germanischer Herkunft, die durch die Volkssprache überliefert sind, sind die Maskulina in der Minderheit: 46 % gegenüber 54 % Feminina. Bei den im Altfranzösischen hinzugekommenen Wörtern ist das Verhältnis noch sehr ähnlich (47 % bzw. 53 %), doch die zu dieser Zeit entstandenen Neologismen, die eigentlich französischen Neubildungen durch Ablei‐ tung und Zusammensetzungen, sind bereits mehrheitlich Maskulina; die zahlreichen Entlehnungen aus dem Lateinischen, darunter viele Abstrakta, sind wiederum (noch) überwiegend Feminina. Im Mittelfranzösischen steigt der Anteil der Feminina durch die nach wie vor zahlreichen Entlehnungen aus dem Lateinischen weiter; im 16. Jh. verschiebt sich das Zahlenverhältnis dann jedoch zugunsten der Maskulina, und der Unterschied vergrößert sich im 17. Jh. noch weiter: 61 % Maskulina, 39 % Feminina.‘ 37 Diese Tendenz zur Maskulinisierung manifestiert sich auch in anderen Phä‐ nomenen, die ich an anderer Stelle als ‚Kollateralschläge‘ bezeichnet habe (vgl. Viennot 2022, Kap. „frappes collatérales“), etwa in der Tradition, bei der Darstellung der Wortbildung für die Feminina in Lehrbüchern stets vom Maskulinum auszugehen - ungeachtet der Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der genusvariablen Substantive mittels unterschiedlicher Endungen gebildet wird. 4 Zur Langlebigkeit des überlieferten Sprachgebrauchs Im Zuge dieser Reformen wurde die Vorherrschaft des Maskulinums kontinu‐ ierlich weiter verstärkt, was sich natürlich umso mehr auf den Sprachgebrauch 292 Éliane Viennot <?page no="293"?> 38 „Noms qui expriment des états, des qualités qu’on regarde, en général, comme ne convenant qu’à des hommes“ (Bescherelle 1835-1836: 37). 39 Commission de terminologie relative au vocabulaire concernant les activités des femmes; Yvette Roudy war Ministerin für die Rechte der Frauen. auswirkte, als die Reformen von der gesellschaftlichen Gruppe getragen waren, die am stärksten an der Lehre, der öffentlichen Debatte, der Produktion von Schriften (namentlich solcher, in denen es um die Sprache ging) beteiligt war. Trotz regelmäßiger Proteste seitens der gebildeten Schicht änderte sich bis zur Einrichtung eines öffentlichen Schulwesens im 19. Jh. kaum etwas am überlieferten Sprachgebrauch. 4.1 Bezeichnungen für Frauen, die traditionell Männern vorbehaltene Tätigkeiten ausübten Widerstand wurde insbesondere den Neubildungen von Tätigkeitsbezeich‐ nungen entgegengesetzt, denn hier geht es um einen Kernbereich der Gram‐ matik romanischer Sprachen. Wenn es formatrices (‚Lehrmeisterinnen‘), souve‐ raines (‚Herrscherinnen‘) und danseuses (‚Tänzerinnen‘) gibt, dann darf es doch auch autrices (‚Autorinnen‘), écrivaines (‚Schriftstellerinnen‘) und défenseuses (‚Verteidigerinnen‘) geben! Praktisch alle Substantive, die verworfen, lächerlich gemacht und nicht in die Wörterbücher aufgenommen wurden, haben überlebt. Sie wurden gemieden, denn man wusste, sie waren von höchster Stelle verurteilt worden; dennoch waren sie allen bekannt - oder wurden zumindest von allen wiedererkannt, als sie erneut in Umlauf gesetzt wurden. Es ist auch durchaus möglich, dass die Bemühungen, diese Feminina zu verbannen, das Gegenteil erreichten: Um etwas zu verdammen, muss man es benennen. In den Begründungen der Grammatiker scheint jedoch stets das eigentliche Motiv ihrer Verwerfung auf. Noch ein Jahrhundert nach Beauzée hielt Bescherelle es für erforderlich, den ‚Nomina, die Zustände und Eigen‐ schaften ausdrücken, die üblicherweise nur für Männer schicklich sind‘, 38 einen besonderen Abschnitt in seiner Grammaire nationale zu widmen. Erst gegen Ende des 20. Jh. wurden noch andere, vermeintlich wissen‐ schaftlichere Begründungen für die Ablehnung dieser Frauenbezeichnungen vorgebracht; tatsächlich sind sie eher noch verworrener und zeugen von dem vergeblichen Bemühen, den zugrunde liegenden Sexismus zu kaschieren. Auch das führte nicht weiter, und ab den achtziger Jahren wurde der Ton der Debatte deutlich rauer, zunächst 1984, als Yvette Roudy die Einsetzung eines ‚Termi‐ nologieausschusses zur Beratung über die Berufsbezeichnungen von Frauen‘ verfügte, 39 dann 1997, als die weiblichen Regierungsmitglieder verlangten, nicht Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 293 <?page no="294"?> 40 Siehe hierzu auch Balnat im vorliegenden Band (Anm. d. Hrsg.). 41 Art. 6: „Tous les Citoyens étant égaux à ses yeux [aux yeux de la loi] sont également admissibles à toutes [Fem. Pl.] dignités, places et emplois publics [Mask. Pl.], selon leur capacité […]“. länger als Madame le ministre, sondern als Madame la ministre angesprochen zu werden. 40 4.2 ‚Gleichberechtigung‘ bei der Kongruenz Die Änderung der Regeln für die Genuskongruenz löste offenbar weniger Protest aus als die Verwerfung weiblicher Bezeichnungen jener Tätigkeiten, die als der männlichen Domäne zugehörig galten. Im Sprachgebrauch wurde unge‐ achtet dieser neuen Regeln weiterhin an der Genuskongruenz festgehalten, ins‐ besondere am ‚accord de proximité‘, der Kongruenz nach dem nächststehenden Wort. Selbst unter den Mitgliedern der Académie bestand in dieser Hinsicht Uneinigkeit. So lautet die Klage der Phèdre in Jean Racines gleichnamiger Tragödie: Mon repos, mon bonheur semblait etre affermi, nicht semblaient etre affermis, [Athènes me montra mon superbe ennemi] (1677, I. Akt, 3. Szene), und wegen des Reims war in den späteren Ausgaben auch keine Änderung möglich. Auch in seiner Tragödie Athalie verwendete Racine den ‚accord de proximité‘ (1691, I. Akt, 2. Szene): Surtout j’ai cru devoir aux larmes, aux prières,/ Consacrer ces trois jours et ces trois nuits entières - auch daran ließ sich nachträglich nichts ändern. Diesen Sprachgebrauch dokumentieren des Weiteren Belege verschiedener Textsorten, angefangen von offiziellen Schriftstücken wie der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen  41 über Romane, Essays, Schriften zur Geschichte usw. bis hin zu Grammatiken als spezifisch normativen Werken. Die Gramma‐ tiker waren bemüht, die Kongruenz nach dem nächststehenden Bezugswort mit dem Hinweis zu rechtfertigen, die Belege stammten von ‚anerkannten‘ Autoren. In den Schulen, wo der ‚accord de proximité‘ bis in die 1930er Jahre gelehrt wurde, wird er noch immer toleriert: 2014, als er in einem Diktattext bei den Prüfungen für das Brevet des collèges vorkam, wurden die Korrektoren angewiesen, darüber hinwegzusehen. Heutzutage taucht der ‚accord de proxi‐ mité‘ in spontanen Äußerungen am Beginn von Nominalgruppen auf (Qui pourrait m’indiquer un ou une bonne pédiatre? ). Man findet ihn jedoch auch in hochsprachlichen Kontexten; so geht es in juristischen Studiengängen um die Lehre der droits [mask.] et libertés [fem.] fondamentales [fem.]. 294 Éliane Viennot <?page no="295"?> 4.3 Homme Die Vorstellung, in Großschreibung schließe dieses Wort die Frauen mit ein, hat französische Muttersprachlerinnen und Muttersprachler in gewöhnlichen Gesprächssituationen zu keiner Zeit überzeugt. Frauen käme es nie in den Sinn zu erklären Je suis un homme, um ihrer Würde Ausdruck zu verleihen. Seit Jahrzehnten setzen sich Vertreter/ innen der führenden Verbände, die für die Rechte aller Menschen eintreten, dafür ein, dass endlich anerkannt wird, dass die Zeit der Droits de l’Homme vorbei ist und terminologische Änderungen erforderlich sind, um die herkömmlichen Diskriminierungen endgültig aus dem Weg zu räumen. Den meisten Verbänden ist das inzwischen gelungen: In naher Zukunft wird nur noch die französische Ligue des Droits de l’Homme übrigbleiben, und auch deren Tage sind gezählt - bereits Ende 2018 wurde die entsprechende Bezeichnung in Belgien geändert, die der internationalen Liga folgte 2021. Der amtierende französische Präsident spricht regelmäßig von den droits humains, ebenso zahlreiche Politikerinnen und Politiker. Auch in der Anthropologie sind Bezeichnungen wie humain érigé oder humain de Néandertal inzwischen häufiger zu finden (vgl. Techno-Science.net s.v. Hominidae). 5 Schlussbemerkungen In diesem kurzen Überblick über die maskulinisierenden Eingriffe, denen die französische Sprache jahrhundertelang ausgesetzt war, über das Ausmaß der Bemühungen, um diese Ziele zu erreichen und den Widerstand, der ihnen entge‐ gengesetzt wurde, wird deutlich, dass die Mittel für einen weniger sexistischen Sprachgebrauch im Französischen längst weitgehend vorhanden sind. Seit Jahr‐ hunderten stehen diverse Strategien zugunsten der sprachlichen Gleichstellung zur Verfügung; sie müssen lediglich besser bekannt gemacht, gelehrt, wieder mobilisiert werden. Im Hinblick auf eine bessere Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache gilt es nun, beiden Geschlechtern konsequent dasselbe Gewicht im Sprachgebrauch zu geben und insbesondere bei der Kongruenz die Gleichstel‐ lung von Frauen- und Männerbezeichnungen sicherzustellen. Neuerungen in diesem Kontext, wie Neologismen oder Abkürzungen, lassen sich ohne Weiteres in die Sprache integrieren: Die Hindernisse sind nicht sprachlicher, sondern politischer, kultureller, ideologischer Art. Schwieriger ist die Frage nach dem Raum, den das Maskulinum im Bereich des Neutrums für sich beansprucht hat; ob es sich lohnt, auch auf diesem Gebiet noch weitere Anstrengungen zu unternehmen, werden spätere Generationen zu entscheiden haben. Die von einigen LinguistInnen aufgestellte Hypothese, die Kategorie des Genus sei als solche entbehrlich, ist wohl kaum realistisch. Das Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 295 <?page no="296"?> Genus prägt die französische Sprache zu stark, es ist zu sehr in ihrer Struktur verankert und funktional von zentraler Bedeutung. Zudem ist die eng mit dem Genus verknüpfte Denkkategorie des biologischen Geschlechts zu fest in der französischen Gesellschaft und Politik etabliert, als dass das Genus je anders als von Zauberhand verschwinden könnte. Bibliographie Abeillé, Anne/ Godard, Danièle (Hrsg.) (2021): La grande grammaire du français. Bd.-1. Arles: Actes Sud. Académie française (1694, 4 1762): Le dictionnaire de l’Académie françoise, dédié au Roy. Bd.-1. Paris: la Veuve de Jean-Baptiste Coignard & Jean-Baptiste Coignard (1694), la Veuve de Bernard Brunet (1762). https: / / gallica.bnf.fr/ . Alpheratz (2018): Grammaire du français inclusif. Châteauroux: Éditions Vent Solars. Andry de Boisregard, Nicolas (1689 [1973]): Réflexions sur l’usage présent de la langue françoise, ou remarques nouvelles et critiques touchant la politesse du langage. Genf: Slatkine Reprints. Bate, Danny L. (2021): The Decline and Fall of the Latin Neuter. (15.03.2021) https: / / dan nybate.com/ 2021/ 03/ 15/ the-decline-and-fall-of-the-latin-neuter/ (06.05.2024). Beauzée, Nicolas (1767): Grammaire générale ou exposition raisonnée des éléments nécessaires du langage, pour servir de fondement à l’étude de toutes les langues. 2. Bd. Paris: Barbou. Bescherelle, Louis-Nicolas et al. (1835-1836, 1847): Grammaire nationale ou Grammaire de Voltaire, de Racine, de Fénelon, de J.-J. Rousseau, de Buffon, de Bernardin de St-Pierre, de Chateaubriand, de Lamartine, et de tous les écrivains les plus distingués de la France : Renfermant plus de cent mille exemples, qui servent à fonder les règles et constituent le code de la langue française [1834]. Paris: Bourgeois-Mazé (1835-1836); Paris: Simon (1847). Bouhours, Dominique (1674): Doutes sur la langue française, proposez à Messieurs de l’Academie françoise par un gentilhomme de province. Paris: Sébastien Mabre-Cra‐ moisy. — (1675): Remarques nouvelles sur la langue françoise. Paris: Sébastien Mabre-Cramoisy. Chaurand, Jacques (1977): Introduction à l’histoire du vocabulaire français. Paris: Bordas. Corneille, Pierre (1644): La mort de Pompée. Paris: A. de Sommaville et A. Courbé. - Le théâtre de Pierre Corneille, reveu et corrigé par l‘autheur. Paris: A. Courbé et S. de Luyne, 1660. https: / / gallica.bnf.fr/ . De Pizan, Christine (1503): Le tresor de la cite des dames, de degre en degre: et de tous estats selon dame cristine [auch unter dem Titel Le livre des trois vertus]. Paris: Michel Le Noir. https: / / gallica.bnf.fr/ . 296 Éliane Viennot <?page no="297"?> Despautère, Jean (1627): Despauterius minor, seu Joannis Despauterii Ninivitae Latinae grammatices epitome. Rouen: Jean-Baptiste Behourt. Dupleix, Scipion (1651): Liberté de la langue françoise dans sa pureté. Paris: Denys Béchart. Englebert, Annick (2020): Grammaire historique du français. http: / / histolf.ulb.be/ index. php/ grammaire-historique-du-francais Foulet, Lucien (1935): L’extension de la forme oblique du pronom personnel en ancien français. Romania 61 (244), 401-462. Froissart, Jean (1966): Chroniques. Bd.-14. Hrsg. v. Albert Mirot. Paris: Klincksieck. Graur, Alexandru (1928): Les substantifs neutres en roumain. Romania 54 (214), 249-260. Guez de Balzac, Jean-Louis (1665): Schreiben an M. Girard vom 7. Mai 1634. In: Conrart, Valentin (Hrsg.): Les Œuvres de Monsieur de Balzac divisées en deux tomes. Bd.-1. Paris: T.-Jolly. Khaznadar, Edwige (2012): Heurs et malheurs de la suffixation -eur/ -euse. Le français moderne 2, 220-245. Larivière, Louise L. (2000): Comment en finir avec la féminisation linguistique-? ou les mots pour LA dire. Éditions www.00h00.com. Marchello-Nizia, Christiane (1989): Le neutre et l’impersonnel. Linx 21, 173-179. Ménage, Gilles (1694): Menagiana, ou les bons mots, les pensées critiques, historiques, morales et d’érudition de Monsieur Ménage, recueillies par ses amis. 2., erweiterte Ausgabe. Paris: Delausne. Nicole, Pierre (1687): Discours contenant en abrégé les preuves naturelles de l’existence de Dieu et de l’immortalité de l’âme. Continuation des Essais de morale. II.1. Paris: G. Desprez. Paris, Gaston (1894): Le pronom neutre de la 3 e -personne en français. Romania 23 (90), 161-176. Pélisson, Jean (1560): Contextus universæ grammatices Despauterianæ […]. Lyon: Bar‐ thélemy Molin. Peyrefitte, Alain (1984): Gouvernement, Académie et féminisme. Le Figaro, 23.06.1984. Racine, Jean (1677): Phèdre. Paris: Barbin. Racine, Jean (1691): Athalie. Paris: D. Thierry. Roché, Michel (1992): Le masculin est-il plus productif que le féminin? Langue française 96, 113-124. Royaumont, Sieur de Fontaine, Nicolas (1670): Histoire du Vieux et du Nouveau Testa‐ ment […]. Paris: Le Petit. Techno-Science.net, s.v. Hominidae. Vaugelas, Claude Favre de (1647): Remarques sur la langue françoise utiles à ceux qui veulent bien parler et bien escrire. Paris: Veuve Jean Camusat & Pierre le Petit. Zur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht 297 <?page no="298"?> Viennot, Éliane (2006): La France, les femmes et le pouvoir. Bd.-1: L’invention de la loi salique (V e -XVI e -siècles). Paris: Perrin. —-(2020): La fin de la Renaissance. In: Reid, Martine (Hrsg.): Femmes et littérature. Une histoire culturelle. Bd.-1. Paris: Folio, 219-453. —-(2021a): Le temps de la “grand’cour des dames” (XV e -XVI e siècle): une première démasculinisation du français? In: Fagard, Benjamin/ Le Tallec Gabrielle (Hrsg.): Entre masculin et féminin. Français et langues romanes. Paris: Presses de la Sorbonne Nouvelle, 103-116. —-(2021b): En finir avec l’Homme. Chronique d’une imposture. Donnemarie-Dontilly: Éditions iXe. — (2022): Non, le masculin ne l’emporte pas sur le féminin ! Petite histoire des résistances de la langue française. 3. Aufl. Donnemarie-Dontilly: Éditions iXe. 298 Éliane Viennot <?page no="299"?> 1 Für die Durchsicht des Manuskripts und ihre wertvollen Anregungen danke ich Barbara Kaltz sehr herzlich. „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ Zum gegenwärtigen Gebrauch gendergerechter Sprache in Frankreich 1 Vincent Balnat Zusammenfassung: Dieser Beitrag gibt einen Überblick über den gegen‐ wärtigen Stand der Dinge in der Debatte um einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch („écriture inclusive“) in Frankreich. Zunächst werden die Mittel und Strategien dargestellt, die seit den 1980er Jahren im Fran‐ zösischen eingesetzt werden, um Frauen sichtbarer zu machen und den Gebrauch des generischen Maskulinums zu vermeiden. Auf der Grundlage einschlägiger Untersuchungen, gezielter Befragungen und persönlicher Beobachtungen wird dann gezeigt, dass der inklusive Sprachgebrauch in der politischen Kommunikation, in den Massenmedien (insbesondere in der Presse), in Behörden und im Hochschulwesen tendenziell zunimmt. Abschließend wird thematisiert, dass die derzeitige Debatte um einen in‐ klusiven Sprachgebrauch in Frankreich vergleichsweise etwas entspannter als in Deutschland geführt wird. Schlüsselbegriffe: Französisch, gendergerechte Sprache, „écriture inclu‐ sive“, Genus, Geschlecht, generisches Maskulinum, Movierung, Personen‐ bezeichnungen 1 Einleitung In den letzten Jahren haben zwei Zwischenfälle in der französischen National‐ versammlung für einige mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Barbara Pompili, <?page no="300"?> 2 Ausführlicher zu diesen Vorfällen siehe https: / / www.huffingtonpost.fr/ politique/ arti cle/ barbara-pompili-et-julien-aubert-s-echarpent-a-nouveau-a-l-assemblee-nationale_ 191659.html (26.01.2022). 3 Für die Protokolle der Parlamentssitzungen gilt seit 1998 die Anweisung, bei Amts‐ bezeichnungen das Genus zu gebrauchen, das dem biologischen Geschlecht der be‐ zeichneten Person entspricht (Instruction générale du bureau de l’Assemblée nationale, 14.05.1998). 4 Im Petit Larousse ist ministre seit 1999 lediglich als „nom“ (zuvor: „nom masculin“) gekennzeichnet. Im Petit Robert hieß es 2008: „Le féminin la ministre, grammaticalement correct, est couramment employé“; dieser Hinweis erscheint in der Ausgabe von 2021 nicht mehr. - Hervé Bohbot (Montpellier) hat mir freundlicherweise die Ergebnisse seiner Untersuchung zur Präsenz von ministre in den beiden Wörterbüchern zur Verfügung gestellt. 5 „[…] pour ce qui regarde plus particulièrement les charges confiées aux membres du gouvernement, la féminisation s’opère usuellement sans contrainte, les mots ministre et secrétaire (d’État) ne soulevant pas de difficulté particulière - l’article suffit à leur conférer la marque du féminin.“ (La féminisation des noms de métiers et de fonctions, Bericht der Académie française, Paris, 2019: 19) - Der Eintrag ministre in der jüngsten Ausgabe des Dictionnaire de l’Académie française enthält zwar einen Hinweis auf die zitierte Stelle im genannten Bericht, weist das Lemma jedoch weiter als „nom masculin“ aus. Noch 2018 war die Rede von einem ‚Kongruenzfehler‘, der auf der ‚Verwechslung von Person und Amt‘ beruhe (vgl. hierzu auch Cerquiglini 2018: 140). 6 Siehe Viennots Beitrag in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Ministerin für Ökologie und Umweltschutz, wurde von dem konservativen Abgeordneten Julien Aubert zweimal mit Madame le ministre, also dem Masku‐ linum (nachstehend Mask.) vor dem Titel, angesprochen. Diese reagierte darauf, indem sie ihn zunächst mit dem normwidrigen Femininum (Fem.) Monsieur la rapporteure ansprach und dann mit Monsieur la députée und der im Titel wiedergegebenen Warnung. 2 Die energische Reaktion der Ministerin erklärt sich nicht nur dadurch, dass die Verwendung feminisierter Titel im Parlament zur Norm geworden war. 3 Seit Mitte der 2000er Jahre ist la ministre auch im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus geläufig, wie die jährlich erschei‐ nenden Standardwörterbücher Petit Larousse und Petit Robert belegen. 4 Selbst die Académie française, die sich seit den 1980er Jahren gegen die Feminisierung von Berufs- und Amtsbezeichnungen gewehrt und noch 1998 in einem Protest‐ schreiben an den Staatspräsidenten Jacques Chirac Madame la ministre als ‚schweren Grammatikfehler‘ (‘contresens grammatical’; Le Monde, 08.01.1998) zurückgewiesen hatte, ließ 2019 öffentlich verlautbaren, der Ausdruck sei nun völlig unproblematisch. 5 Angesichts der lebhaften Debatten um eine bessere Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache 6 macht diese Anekdote deutlich, wie weit der Gebrauch weibli‐ cher Amtsbezeichnungen in der Politik inzwischen fortgeschritten ist. Dass Frauen, die immer häufiger politische Ämter ersten Ranges bekleiden, darauf 300 Vincent Balnat <?page no="301"?> 7 Bereits 2014 hatte er Sandrine Mazetier, damalige Vizepräsidentin des Parlaments, wiederholt mit Madame le président tituliert, was ihm einen Gehaltsabzug eingebracht hatte (www.lefigaro.fr/ …/ ; 07.10.2014). 8 „manipulation militante prenant la langue en otage“; „manœuvre d’intimidation idéo‐ logique“; „gardiens de prison“; „rééducation comportementale et mentale“ (Szlamowicz 2018, Klappentext). 9 Laut der bereits erwähnten Studie lehnten 61 % der Befragten den Gebrauch von Abkürzungspünktchen ab; im Fall von Neologismen wie lecteurices (lecteurs + lectrices) waren es sogar 79-% (Google/ Mots-clés 2022). 10 Vermutlich eine Erklärung dafür, dass sich 2021 63 % der Befragten ablehnend zur écriture inclusive äußerten (genauer: der Befragten, denen der Ausdruck bekannt war). Bemerkenswert ist hier, dass sich von den unter 35-Jährigen 60 % dafür aussprachen bestehen, als solche angeredet zu werden, ist für die breite Öffentlichkeit nun selbstverständlich. Bereits 2017 hatten sich in einer Meinungsumfrage rund 75 % der Befragten für eine bessere Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache ausgesprochen (Lévy/ Lancrey-Javal/ Hauser 2017), und eine 2021 im Netz durch‐ geführte Studie hat ergeben, dass 65 % der Befragten die Feminisierung der Berufs- und Amtsbezeichnungen für richtig halten (Google/ Mots-clés 2022). Aufschlussreich ist auch die Haltung des trotzigen Abgeordneten: 7 Wohl hat das sprachkonservative Lager heute an Einfluss verloren, doch eine Stimme hat es immer noch, und diese hat nichts an verbaler Schärfe eingebüßt. Mit Blick auf den zunehmenden Gebrauch geschlechtergerechter Sprache beklagte ein Sprachwissenschaftler 2018 eine ‚militante Manipulation, mit der die Sprache als Geisel genommen werde‘ und ein ‚ideologisches Einschüchterungsmanöver‘ von ‚Gefängnisaufsehern‘, die nichts weniger als eine ‚Verhaltens- und Geistes‐ umerziehung‘ anstrebten. 8 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, einen Überblick über den gegenwärtigen Umgang mit der sog. „écriture inclusive“ in Frankreich zu geben. Mit diesem Ausdruck, vermutlich einer Lehnübertragung von engl. inclusive writing bzw. (gender-)inclusive language, werden verschiedene sprachliche Prak‐ tiken bezeichnet, die keineswegs nur die Schrift betreffen. Im Wesentlichen geht es um die Feminisierung der Berufs- und Amtsbezeichnungen und um die Vermeidung des (traditionell als vorrangig betrachteten) ‚generischen‘ Mask. (siehe dazu Elmiger 2008: 105-153). Andere Praktiken, etwa der Gebrauch von Abkürzungspünktchen oder lexikalischen Neuerungen, die die Nichtbinarität der Geschlechter in der Sprache zu überwinden suchen, sind im allgemeinen Sprachgebrauch bislang eher marginal. 9 Dennoch hat die immer breitere Ak‐ zeptanz feminisierter Personenbezeichnungen dazu geführt, dass diese Aspekte von Kritikern nun verstärkt ins Visier genommen werden, wobei der Ausdruck „écriture inclusive“ nicht selten auf diese Aspekte reduziert wird. 10 „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 301 <?page no="302"?> (Ifop 2021). - Ausführlicher zum Begriff ‚écriture inclusive‘ sowie zu bedeutungsähn‐ lichen Ausdrücken siehe Elmiger (2022a). 11 Vermutlich aufgrund der lautlichen Nähe zu maîtresse bzw. fesses ‚Hintern‘ (Schafroth 1998: 156, 216). Siehe auch Cerquiglini (1999: 7, 15; 2018: 90) und Viennot in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Der Beitrag beginnt mit einer Darstellung der Mittel bzw. Strategien, die im Französischen eingesetzt werden, um Frauen sichtbarer zu machen bzw. den Gebrauch des generischen Mask. zu vermeiden. Anschließend wird ein kurzer Überblick über die wichtigsten Kämpfe und Errungenschaften der feministi‐ schen Sprachkritik von 1984 bis 2021 gegeben, um den gegenwärtigen Umgang mit der écriture inclusive zu kontextualisieren. Auf der Grundlage einschlägiger Untersuchungen, gezielter Befragungen und persönlicher Beobachtungen wird dann gezeigt, dass der inklusive Sprachgebrauch in der politischen Kommunika‐ tion, in Behörden und im Hochschulwesen tendenziell zunimmt. Abschließend wird thematisiert, dass die derzeitige Debatte um einen inklusiven Sprachge‐ brauch in Frankreich wohl etwas entspannter verläuft als in Deutschland. 2 Zum Ausdruck von Geschlecht im Französischen Es ist bemerkenswert, dass die Forderung nach Gleichstellung der Frauen im Beruf und in der Sprache in der populärsten französischen Comicserie Asterix thematisiert wird. In dem Heft La rose et le glaive (1991: 8) geht es um das recht angespannte Verhältnis der (männlichen) Gallier zu Maestria, einer aus Lutetia stammenden Bardin, die von den Gallierinnen ins Dorf gerufen wurde, um die musikalische Erziehung der Kinder zu übernehmen. Auf die Frage des etwas skeptisch blickenden Häuptlings, wie denn nun der weibliche Ausdruck für barde lautet (« Alors, c’est vous la…, comment dit-on? La barde, la bar‐ desse? -»), antwortet Maestria selbstbewusst-LE barde. Tatsächlich bevorzugten viele Frauen in höhergestellten Positionen bis in die späten 1990er Jahre die männliche Form, zumal das Fem. damals häufig die Ehefrau bezeichnete (la barde ‚Frau des Barden‘) und daher mit geringerem Sozialprestige verbunden war (siehe Schafroth 1998: 233-234; Cerquiglini 2018: 135-137; Burkhardt 2022: 268- 269). Die Suffixbildung auf -esse, die der Häuptling vorschlägt, lehnt Maestria wohl deshalb ab, weil sie von vielen als eher abschätzig empfunden wird. 11 2.1 Berufs- und Amtsbezeichnungen Neben rein lexikalischen Oppositionen wie confrère/ consœur stehen im Franzö‐ sischen verschiedene Verfahren zur Feminisierung von Personenbezeichnungen 302 Vincent Balnat <?page no="303"?> 12 Näheres zu den einzelnen Verfahren der Feminisierung siehe Houdebine-Gravaud (1989/ 1998), Grévisse/ Goosse (2008: 617-659), Elmiger (2008: 119-145), Schafroth (1998: 78-107; 2003: 101-107) sowie die Leitfäden zu einem inklusiven Sprachgebrauch (siehe unten). 13 Schafroth (1998: 24) spricht in diesem Zusammenhang von „ambigenen Nomina“. 14 In einigen Grammatiken bezieht sich der Terminus auf Personenbezeichnungen mit festem Genus, die auf beide Geschlechter referieren können: la personne, un individu, la victime, usw. (Grévisse/ Goosse 2008: 625-626). 15 „Une des membres emprisonnées de Pussy Riot hospitalisée“ (www.lexpress.fr/ …/ ; 01.02.2013). - „Vous avez la chance d’avoir été choisie pour être la témoin ou la demoiselle d’honneur de la mariée? “ (www.femmeactuelle.fr/ …/ ; 11.07.2022). 16 Befragungen aus den 1970er Jahren legen den Schluss nahe, die beiden Konstruktionen seien semantisch insofern unterschieden, als bei der ersten verstärkt auf die Frau, bei der zweiten auf die Berufsbezeichnung Bezug genommen werde (Boel 1976). Ob das heute noch zutrifft, ist fraglich. - Schafroth (1998: 89) weist darauf hin, dass das Muster in den Fällen blockiert ist, „in denen das Subjekt bereits als Frau identifiziert [ist], und […] die Prädikation elle est X als neue Information hinzutritt“: *elle a été ma femme professeur de seconde. 17 Komposita homme + Fem. sind aus naheliegenden Gründen selten: un homme sage-femme/ un(e) sage-femme homme. zur Verfügung. 12 Die Markierung kann am Pronomen, am Substantiv oder an beiden erfolgen. 1. Ein erstes Verfahren der Feminisierung ist die Verwendung sog. „noms épicènes“, d. h. geschlechtsindifferenter Substantive (Epikoina) 13 mit Diffe‐ rentialgenus, deren Bezug zum Sexus durch den Artikel verdeutlicht wird: definit le/ la, indefinit un/ une, demonstrativ ce/ cette, possessiv mon/ ma, ton/ ta, son/ sa. 14 Es handelt sich mehrheitlich um Wörter auf -e (cadre, juge, ministre), darunter auch zahlreiche mit gräkolateinischen Endungen wie -aire, -aste, -iatre, -logue und -iste: parlementaire, cinéaste, psychiatre, ar‐ chéologue, linguiste, spécialiste. Auch membre und témoin, die im Petit Robert und Petit Larousse online lediglich als „noms masculins“ verzeichnet sind, können grundsätzlich als épicènes verwendet werden, 15 ebenso Ausdrücke auf -eur, etwa docteur, ingénieur und professeur (neben docteure, ingénieure, professeure), wie umgangssprachlich markierte Kurzwörter: doc (docteur), kiné (kinésithérapeute), prof (professeur), psy (psychiatre/ psychologue). 2. Der Kompositionstyp ‚femme + männliches bzw. geschlechtsindifferentes Substantiv‘ (une femme écrivain [neben écrivaine], ministre), auch mit umgekehrtem Determinationsverhältnis (un [selten une] écrivain/ ministre femme), 16 dient dazu, ungebräuchliche bzw. als problematisch empfundene Fem. zu vermeiden oder bei geschlechtsunspezifischen Ausdrücken das weibliche Geschlecht zu markieren. 17 Aus sprachfeministischer Sicht sind „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 303 <?page no="304"?> 18 Im Fall deverbaler Bildungen ist umstritten, ob der Verbstamm oder aber die maskuline Form als Basis dient: présid+ente vs président+e. Siehe hierzu Elmiger (2008: 77-79). 19 Eine 2015 von der Tageszeitung Le Monde auf Twitter durchgeführte Meinungsumfrage zur Feminisierung von docteur hat ergeben, dass docteure deutlich vorne liegt, gefolgt von doctoresse (www.lequotidiendumedecin.fr/ …/ ; 17.07.2015). derartige Konstruktionen aufgrund des Mask. nicht wertfrei und daher nicht zu empfehlen (siehe Schafroth 1998: 88-89). 3. Die Suffigierung ist heute das produktivste Verfahren zur Bildung femi‐ niner Personenbezeichnungen. Im Unterschied zum Deutschen, in dem fast ausschließlich das Suffix -in zur Movierung dient, verfügt das Französische über eine große Vielfalt von Movierungssuffixen. Gibt man der Phonie den Vorrang, so lassen sich zwei Bildungstypen unterscheiden. Bei der additiven Suffigierung bleibt die Basis bzw. die männliche Endung unver‐ ändert, bei der suppletiven liegt eine Änderung der Basis vor: (i) Additive Suffigierung [-t] ‹e› avocat/ avocate, doctorant/ doctorante, expert/ experte, magistrat/ magistrate, président/ présidente  18 [-ε s ] ‹(e)sse› chef/ chef(f)esse (neben cheffe und cheftaine), docteur/ doctoresse (veraltend, neben docteure), 19 maître/ maî‐ tresse de conférences [-ε t ] ‹ette› flic/ fliquette (neben fliquesse), gendarme/ gendarmette [beides ugs. und leicht abschätzig] (ii) Suppletive Suffigierung [ɛ ̃ / ε n ] - ‹en/ enne› ‹ain/ aine› doyen/ doyenne écrivain/ écrivaine [iɛ ̃ / -i ε n ] ‹ien/ ienne› informaticien/ informaticienne [je/ j ε ʁ ] ‹ier/ ière› banquier/ banquière, chancelier/ chance‐ lière, chevalier/ chevalière de la légion d’honneur, conférencier/ conférencière [œʁ/ -œz ] ‹eur/ euse› chercheur/ chercheuse (neben chercheure), entrepreneur/ entrepreneuse (neben entre‐ preneure), influenceur/ influenceuse, pro‐ grammeur/ programmeuse 304 Vincent Balnat <?page no="305"?> 20 Diese Variante hat sich im Sprachgebrauch offenbar noch nicht ganz durchgesetzt: „Les femmes cheffes d’entreprises continuent à assumer plus que les hommes une grosse partie de la gestion familiale malgré leurs responsabilités.“ (www.lesechos.fr/ …/ ; 07.12.2021, Hervorhebung VB). 21 Dieses Kürzel kommt in 90 % der von Lobin untersuchten Stellenanzeigen vor (2017: 68-71). | In Frankreich werden - anders als in Deutschland - im Geburtenregister übrigens nur zwei Geschlechter offiziell anerkannt. [tœʁ/ -tʁis ] ‹teur/ trice› auteur/ autrice (neben auteure), directeur/ directrice, inspecteur/ inspectrice, recteur/ rectrice, sénateur/ sénatrice [Ausnahme: ambassadeur/ ambassadrice] An den Varianten auteure, chercheure, entrepreneure und cheffe  20 wird ersicht‐ lich, dass manche Suffigierungen auf -e lediglich an der geschriebenen Form erkennbar sind; hierher gehören auch chargée (de cours), députée, docteure, élue, ingénieure, principale (de lycée), professeure usw. Geschlechtsspezifikation erfolgt wie bei den mots épicènes durch den Artikel im Singular und durch genuskongruente Zusätze (la/ une/ cette grande députée; les professeures réputées). Um das Mask. bzw. sperrige Doppelnennungen zu vermeiden, kann man schließlich auf Verfahren der sog. „Neutralisierung“ (Elmiger 2015; 2017) zurückgreifen: Verbalsubstantive (la direction für le directeur/ la directrice, la présidence für le/ la président/ e), Kollektiva (le corps professoral für les professeurs, l’équipe enseignante für les enseignant/ es), nominale Syntagmen mit geschlechts‐ abstrahierenden Bezeichnungen (la personne candidate für le/ la candidat/ e) sowie Umformulierungen (chaque membre für chacun des membres, comment postuler? für qui peut être candidat/ e? ). 2.2 Syntax und Rechtschreibung Wie im Deutschen ist zur Bezeichnung geschlechtergemischter Gruppen auch Beidnennung möglich: Chers étudiants et chères étudiantes; Chers étudiants, chères étudiantes. Hinzu kommen sprachökonomische, nur schriftlich reali‐ sierte Varianten mit Schrägstrich (Cher/ e/ s étudiant/ e/ s), Bindestrich (Cher-e-s étudiant-e-s), Klammern (Cher(e)s étudiant(e)), untenstehenden bzw. mittleren Pünktchen (Cher.e.s étudiant.e.s; Cher·e·s étudiant·e·s) und seltener Binnenma‐ juskeln (les étudiantEs). Auch gemischte Formen kommen vor (Chers et chères étudiant/ e/ s, Cher-e-s étudiants et étudiantes). In Stellenanzeigen erscheint sehr häufig das Kürzel H/ F (homme/ femme). 21 „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 305 <?page no="306"?> 22 Siehe etwa Grévisse/ Goosse (2008: 555): „Si les donneurs ne sont pas du même genre, le receveur se met au genre indifférencié, c’est-à-dire au masculin“; Riegel/ Pellat/ Rioul (2014: 611): „Si les noms sont de genre différent, l’adjectif se met généralement au pluriel et au masculin (qui est la forme non marquée du point de vue du genre)“. 23 Zur Geschichte des Mask. als des ‚edleren‘ Geschlechts siehe Viennot (2017) und ihren Beitrag in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Im Französischen richten sich attributive bzw. prädikative Adjektive in Genus und Numerus nach dem jeweiligen Substantiv (le beau garçon/ la belle fille; le garçon est beau, la fille est belle). Ähnlich kongruieren Partizipialformen von Verben mit être im Passé composé mit dem Subjekt (Les étudiantes sont arrivées). Die standardsprachliche Norm schreibt bei gemischten Gruppen den Gebrauch des Mask. als ‚indifferentes‘ bzw. ‚unmarkiertes‘ Genus vor: 22 „Le masculin l’em‐ porte sur le féminin“ (‚Das Maskulinum hat stets Vorrang vor dem Femininum‘). Um dies an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Wer Eigenschaften einer Gruppe von 999 Frauen und einem Mann benennen will, muss Adjektive in der männlichen Form verwenden: Ces 999 femmes et cet homme sont beaux (und nicht belles). 23 Einige BefürworterInnen der écriture inclusive plädieren dafür, die Äußerungen stattdessen durchgängig zu gendern, etwa durch den systematischen Gebrauch von Doppelnennungen bzw. Kürzungszeichen oder aber durch den Rückgriff auf den (mindestens bis ins 18. Jh. noch geläufigen) „accord de proximité“ (siehe Viennot 2017: 64-69; 2018: 87-90). Nach dieser Regel ist das Genus des nächststehenden Substantivs maßgeblich: „Les hommes ou les femmes de religion sont protégées, mais pas les idées“ ( Joffrin, Libération, 03.02.2020; www.elianeviennot.fr/ Langue-proxi.html). Andere empfehlen die Verwendung des „accord de majorité“, bei dem der Sexus der Mehrheit in einer Gruppe ausschlaggebend ist: Les étudiantes et leur professeur sont bien arrivées. 2.3 Von der Feminisierung zu einem nichtbinären Sprachgebrauch Im Zuge der postfeministischen Sprachkritik sind sprachliche Neuerungen aufgetaucht, die darauf abzielen, die als soziales Konstrukt wahrgenommene Zweigeschlechtlichkeit zu überwinden und der Vielfalt von Geschlechteridenti‐ täten Ausdruck zu verleihen (siehe Alpheratz 2018a/ b, 2021). Diese „diaethische Variation“, die die Inklusion marginalisierter Geschlechteridentitäten mittels Sprache anstrebt (Alpheratz 2018b: 6-7), nimmt unterschiedliche Formen an. So kann das mittlere Pünktchen ähnlich dem Gendersternchen im Deutschen neben der Bezeichnung von Männern und Frauen auch als Symbol von Ge‐ schlechtervielfalt gedeutet werden. Als geschlechtsneutrales Pronomen wurde 306 Vincent Balnat <?page no="307"?> 24 Siehe Ängsals Beitrag in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). 25 „La variation en genre, qui concerne plus de la moitié des noms humains, suit une tendance générale à faire coïncider genre grammatical et genre social, c’est-à-dire le genre du nom et le sexe, ou le genre social, de l’individu désigné. Elle s’étend avec la féminisation des noms de métier“ (Abeillé/ Godard 2021: 389). - vermutlich nach dem Vorbild von schwed. hen  24 - iel (il + elle; Pl. iels) vorgeschlagen. Dieses Verfahren der Wortkreuzung wird in militanten Kreisen auch zur Bezeichnung nichtbinärer Menschen benutzt: ielles (ils + elles) bzw. ille (il/ lui + elle), celleux, ceulles bzw. ceuxes (celles + ceux), cellui (celle + celui), lea (le + la), man (ma + mon) usw. Anders geprägte Varianten sind etwa al, ol, ul und yo (jeweils mit s im Plural). Wie Bolter (2022) in ihrer Pilotstudie gezeigt hat, sind die aktuell eingesetzten Strategien zur sprachlichen Darstel‐ lung nichtbinärer Geschlechteridentitäten nicht nur vielfältig, sondern auch stark kontextabhängig. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich diese ‚Unisex-‘ bzw. ‚Neo-Pronomina‘ in einer im Hinblick auf Geschlecht durch und durch binär strukturierten Sprache wie dem Französischen verbreiten werden. Der kreative, spielerische Umgang mit den Sprachnormen zeugt jedenfalls von einem zuneh‐ menden Interesse, insbesondere der jüngeren Generationen, am Verhältnis von Sprache, Genderidentitäten und Selbstfindung (Swamy/ Mackenzie 2022). 3 Zur aktuellen Verbreitung der écriture inclusive In den letzten 20 Jahren ist der Gebrauch des generischen Mask. zur Bezeichnung von Frauen bzw. geschlechtergemischten Gruppen in der öffentlichen Kommu‐ nikation stark zurückgegangen, ebenso das matrimonielle Fem. (‚Frau von x‘). In den neueren Grammatiken wird die weitgehende Übereinstimmung von Genus und Sexus bzw. Gender bei Personenbezeichnungen hervorgehoben: ‚Die Genusvariation, die mehr als die Hälfte der Personenbezeichnungen betrifft, hat sich im Zuge der Feminisierung von Berufsbezeichnungen weiter verbreitet. Sie folgt dem allgemeinen Trend der Anpassung des Genus an Gender, d. h. des grammatischen an das biologische bzw. soziale Geschlecht der jeweiligen Person.‘ 25 Diese Entwicklung, die wohl auch eine Folge des zunehmenden Frauenanteils in Führungspositionen ist, erklärt sich weiter durch die dezidierte Sprachpo‐ litik der Zentralregierung zugunsten einer Feminisierung von Berufs- und Amtsbezeichnungen. Getragen und begleitet wurde dieser gesellschaftliche und sprachliche Wandel zudem durch die Tätigkeit zahlreicher Frauenbeauftragter in verschiedenen Institutionen und die Herausgabe von Empfehlungen und „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 307 <?page no="308"?> 26 Etwa Cerquiglini (1999), HCE (2015), Haddad (2016), Parlement européen (2018), Unsa éducation (2019), ONU (o.D.). - Zu den Leitfäden für eine geschlechtergerechte Sprache in der Romania siehe ausführlich Elmiger (2022b). 27 Etwa https: / / cafaitgenre.org/ 2013/ 12/ 10/ feminisation-de-la-langue-quelques-reflexion s-theoriques-et-pratiques (2013), www.relire-et-corriger.net/ ecriture-inclusive (2019), www.redacteur.com/ blog/ comment-pourquoi-utiliser-ecriture-inclusive (2020), www. unarticlepourleweb.fr/ règles-et-exemples-de-ecriture-inclusive (2021). 28 Seit 1635 wurde nur 10 Frauen die Aufnahme in die Académie gewährt; die erste, Marguerite Yourcenar, wurde erst 1980 aufgenommen. Heute sind von 35 Mitgliedern nur 6 Frauen. 29 Die 9. Ausgabe ist im November 2024 erschienen; die letzte Ausgabe erschien im Jahre 1935 (www.dictionnaire-academie.fr). 30 Die Stellungnahmen der Académie erscheinen inzwischen sowohl in der Presse als auch auf ihrer Webseite (www.academie-francaise.fr/ dire-ne-pas-dire). Leitfäden für einen inklusiven Sprachgebrauch. 26 Darüber hinaus bieten unzäh‐ lige Internetseiten und YouTube-Videos ratsuchenden SprecherInnen eine erste Orientierung und Hilfestellung. 27 Es kann hier nicht darum gehen, auch nur annähernd erschöpfende Aussagen zum Umgang mit der écriture inclusive in Frankreich zu machen. Bei den nachstehenden Ausführungen geht es um ausgewählte Akteure, die aufgrund ihres Ansehens eine gewisse Vorbildfunktion haben, nämlich die Académie fran‐ çaise, Politik und Behörden und das Hochschulwesen, deren Sprachgebrauch deshalb in Bezug auf gegenwärtige Entwicklungstendenzen als besonders aussagekräftig gelten kann. Dabei ist es wichtig, den Unterschied zwischen öffentlicher Kommunikation (etwa Stellungnahmen in den Medien, offizielle Berichte bzw. Erklärungen) und halböffentlicher Kommunikation (etwa unter KollegInnen einer Berufsgruppe) zu berücksichtigen. 3.1 Wer hat hier das Sagen? Sprache ist in Frankreich seit Jahrhunderten eine staatliche Angelegenheit. Seit ihrer Gründung 1635 wacht die Académie française über ihre Entwicklung. Die Hauptaufgaben ihrer Mitglieder, ganz überwiegend Männer, 28 sind heute die Arbeit am Dictionnaire de l’Académie française  29 und die Mitwirkung an staatlichen Ausschüssen zur offiziellen Terminologie, die damit beauftragt sind, französische Äquivalente für Anglizismen zu finden. In der breiteren Öffentlichkeit gilt die Académie auch heute noch als die Instanz, die normative Urteile über aktuelle Entwicklungen im allgemeinen Sprachgebrauch fällt. 30 Zum Genus von Berufs- und Amtsbezeichnungen hieß es jahrzehntelang, für prestigeträchtige Tätigkeiten oder Funktionen sei das Mask. zu gebrauchen. So entstanden „funktionale Dubletten“: Madame X ist ambassadeur, maître de 308 Vincent Balnat <?page no="309"?> 31 Circulaire du 11 mars 1986 relative à la féminisation des noms de métier, fonction, grade ou titre, Journal Officiel de la République française vom 16.03.1986. 32 Für eine detaillierte Darstellung dieser ersten Feminisierungskampagne siehe Houde‐ bine-Gravaud (1989), Burr (2003: 120-124) und Cerquiglini (2018: 23-43). Die öffentli‐ chen Erklärungen der Académie und die in der Presse erschienenen Stellungnahmen ihrer Mitglieder sind in Candea et al. (2015: 105-108, 123-152) nachzulesen. 33 Näheres zu dieser zweiten Feminisierungskampagne siehe Schafroth (1998: 250-255), Burr (2003: 128-132), Cerquiglini (2018: 156-160) und Viennot (2018: 64-66). Die damaligen Stellungnahmen der Académiciens und ihre Briefe an PolitikerInnen sind in Candea et al. (2015: 152-167, 175-192) wiedergegeben. 34 Schafroth (1998: 343-367) konnte für seine Untersuchung der feminisierten Personen‐ bezeichnungen in Le Monde keinen einzigen Beleg für (Madame) la ministre in den Jahren 1987-1989 ermitteln, und auch für die Folgezeit bis 1997 nur einige wenige, wes‐ halb er dieser Zeitung für den gesamten Zeitraum 1987-1997 einen „zurückhaltenden Umgang mit der sprachlichen Feminisierung“ attestiert (1998: 366). Zur Feminisierung in der französischen Tagespresse (1988-2001) siehe auch Fujimura (2005). 35 Eine Ausnahme bildete die sog. ‚Frauenpresse‘, in der bereits 1984 Formen wie avocate, députée, lieutenante, (la) maire et (la) ministre zu lesen waren (Galeazzi 1986: 90). 36 Für einen Forschungsüberblick zur sprachlichen Darstellung von Frauen in der fran‐ zösischen Presse siehe Endemann (2022: 235-237) und Burkhardt (2022: 270-275). conférences bzw. directeur du CNRS (Centre national de la recherche scientifique), dagegen Madame Y ambassadrice de mode, maîtresse d’école oder directrice de collège (Schafroth 1998: 203-210). Die Académie sprach sich konsequent gegen sämtliche Initiativen zur Feminisierung von Berufs- und Amtsbezeichnungen aus, zunächst 1984, als Yvette Roudy als Ministerin für die Rechte der Frauen einen Ausschuss ins Leben rief und die Feministin Benoîte Groult mit dessen Leitung betraute. Die 1986 aus den Beratungen dieses Ausschusses hervorgegangene Anweisung 31 scheiterte nicht zuletzt daran, dass die Académie sich medienwirksam gegen diesen ‚unzulässigen Eingriff in die Lexik und Grammatik‘ aussprach und der öffentliche Diskurs über die Feminisierung damals von Spott und Chauvinismus geprägt war. 32 Der Durchbruch gelang erst 1997, als vier Ministerinnen der neu gewählten sozialistischen Regierung, darunter Ségolène Royal, auf der Anrede mit feminisierten Bezeichnungen bestanden. Die Académie reagierte erwar‐ tungsgemäß mit scharfer Kritik, was das Institut national de la langue française nicht daran hinderte, zwei Jahre später einen Leitfaden zur Feminisierung der Berufs- und Amtsbezeichnungen mit einem Vorwort von Premierminister Lionel Jospin herauszubringen (Femme, j’écris ton nom). 33 Die Tageszeitungen Libération und Le Monde  34 übernahmen noch im selben Jahr die in dem Leitfaden empfohlenen Fem.; 35 deren Verwendung setzte sich dann in den ersten Jahren des 21. Jh. weitgehend in der Presse durch (einschließlich der konservativen Zeitungen wie Le Figaro). 36 2005 berichtete die gesamte Presse nach wenigen „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 309 <?page no="310"?> - Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass diese sprachliche Entwicklung in anderen französischsprachigen Ländern in den 1980er und 1990er Jahren ohne Weiteres angenommen worden war. Siehe hierzu Schafroth (1998: 278-315), Elmiger (2008: 167-177, 2022a: o.S.) und Cerquiglini (2018: 13-22). 37 Déclaration de l’Académie française sur l’écriture dite „inclusive“ adoptée à l’unanimité de ses membres dans la séance du jeudi 26 octobre 2017 (www.academie-francaise.fr). 38 „Écriture inclusive: malaise à l’Académie française“, Raphaëlle Rérolle, Le Monde, 13.12.2017. Wochen von la chancelière Merkel, und 2016 wurde Theresa May bald nach ihrer Ernennung in den Medien ganz selbstverständlich als Première ministre du Royaume-Uni bezeichnet. Schließlich sei noch Ursula von der Leyen genannt, die nach ihrer Wahl an die Spitze der EU-Kommission 2019 in Le Monde und Le Figaro als présidente tituliert wurde (vgl. Endemann 2022). Für den Zeitraum 2011-2019 zeigt Burkhardt (2022) auf, dass der Gebrauch der Fem. professeure, écrivaine, directrice und chercheuse/ chercheure in den Tageszeitungen Le Monde, Le Figaro, L’Humanité, Les Échos und La Tribune merklich angestiegen ist. Im März 2017, als diese Kontroverse sich weitgehend gelegt zu haben schien, gab das Erscheinen eines Schulbuchs, in dem bei Aussagen über ge‐ schlechtergemischte Gruppen Abkürzungspünktchen verwendet werden (Grâce aux agriculteur.rice.s, aux artisan.e.s et aux commerçant.e.s, la Gaule était un pays riche; Le Callennec et al. 2017), Anlass zu neuen Auseinandersetzungen. Diese Einführung der écriture inclusive in den Schulen der Republik löste heftige Reaktionen aus: Die Académie warnte vor einer ‚Lebensgefahr‘ („péril mortel“) für die Nationalsprache, die zur Zerstörung der sprachlichen Einheit der Nation führe und das Französische auf diese Weise zugunsten anderer Weltsprachen zu verdrängen drohe. 37 Mitglieder der Académie zogen sprach‐ ästhetische Argumente heran: Alain Finkielkraut sprach von ‚lächerlichem Gestotter‘ („bégaiement ridicule“), Michael Edwards von ‚einer Art Hautaus‐ schlag auf dem Papier‘ und sprachlichem ‚Gehumpel‘ („maladie qui couvre la page d’une sorte d’eczéma“, „boiterie“). 38 Le Figaro titelte am 6. Oktober 2017 „Féminisme: Les délires de l’écriture ‚inclusive‘“, die linksliberale Libération konterte am 5. November mit dem Bonmot „L’écriture inclusive touche l’accord sensible“ (zu toucher la corde sensible ‚einen Nerv treffen‘, accord hier in der Bedeutung von ‚Kongruenz‘). Die Schriftstellerin Christine Angot äußerte im Kontext dieser Auseinandersetzungen: „Je suis un écrivain, pas une invectiveuse publique“ (‚Ich bin ein Schriftsteller, keine öffentliche Beschimpferin‘; Le Monde, 18.07.2017). Gemäßigte Kritiker wendeten gegen diese abgekürzten Formen ein, sie erschwerten das Vorlesen und den Schrifterwerb. Ende November 310 Vincent Balnat <?page no="311"?> 39 Circulaire du 21 novembre 2017 relative aux règles de féminisation et de rédaction des textes publiés au Journal officiel de la République française. 40 „[…] cette orientation du Petit Robert serait le stigmate de l’entrée dans notre langue de l’écriture dite ‚inclusive‘, sans doute précurseur de l’avènement de l’idéologie ‚Woke‘, destructrice des valeurs qui sont les nôtres.“ ( Jolivet, Brief vom 16.11.2021 an Hélène Carrère d’Encausse). - „L’écriture inclusive n’est pas l’avenir de la langue française“ (Blanquer, Twitter, 16.11.2021). 41 Und wurde damit zur „première ‚Première‘ ministre“ (www.lepoint.fr/ …/ ; 17.05.2022). Elisabeth Bornes Amtszeit: Mai 2022-Januar 2024. 2017 untersagte Premier Edouard Philippe schließlich die Verwendung von Abkürzungspünktchen in amtlichen Texten. 39 2021 sorgte die Aufnahme des Pronomens iel (aus il + elle) in die online-Aus‐ gabe des Petit Robert für eine kurzlebige Kontroverse. Der Abgeordnete François Jolivet ersuchte die Académie umgehend um eine Stellungnahme; in seinem Schreiben an „Madame le secrétaire perpétuel de l’Académie française“ heißt es, die Aufnahme dieses Neologismus in das genannte Wörterbuch sei ‚ein Vorzei‐ chen für den Siegeszug einer Wokeness-Ideologie‘, die ‚unsere Werte‘ zerstören werde. Noch am selben Tag erhielt er Unterstützung von Bildungsminister Jean-Michel Blanquer, der in einem Tweet erklärte, die écriture inclusive sei ‚nicht die Zukunft des Französischen‘. 40 Die Académie zog es vor, der Sache nicht zu viel Bedeutung beizumessen; Madame le secrétaire perpétuel reagierte lediglich mit einem Wort: „absurde“ (www.neonmag.fr/ …/ ; 23.02.2022). 3.2 Politik und Behörden Die zunehmende Akzeptanz feminisierter Berufs- und Amtsbezeichnungen ist die Folge eines gesellschaftlichen Wandels, der in erheblichem Umfang auf die verstärkte Präsenz der Frauen in der Politik zurückzuführen ist. 1995 waren lediglich 5,3 % der Abgeordneten Frauen, zwei Jahre später bereits rund 10 % und 2021 um die 40 %. Im Unterschied zu Edith Cresson, die 1991 darauf bestanden hatte, mit dem Titel im Mask. (Madame le premier ministre) angesprochen zu werden, entschied Elisabeth Borne sich 2022 für die weibliche Anrede. 41 In ihrer öffentlichen Kommunikation haben sich die politischen Parteien diesem Sprachwandel nach und nach angepasst. Waren es Ende der 1980er Jahre noch in erster Linie die Grünen und die sozialistische Partei, die Wert legten auf die Feminisierung von Berufs- und Amtsbezeichnungen, machten 2004 auch die konservativen Parteien vermehrt Gebrauch von Fem.; nur die rechtsextreme ‚Front national‘ zeigte sich damals noch zögerlich (siehe Dister/ Moreau 2006). Heute werden Doppelnennungen von sämtlichen Parteisprecherinnern und -sprechern verwendet. Gleichstellung, Inklusion und Chancengleichheit sind „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 311 <?page no="312"?> 42 Vor der Wahl hatte Valérie Pécresse angekündigt, sie werde als Staatspräsidentin die écriture inclusive verbieten, da sie die ohnehin schon komplizierte französische Sprache noch weiter verkompliziere. Vgl. „Écriture inclusive: qu’en pensent les candidats à l’élection présidentielle? “ (www.lefigaro.fr/ …/ ; 26.01.2022). 43 Nur die kleine Partei NPA (Nouveau Parti anticapitaliste) verwendet Formen wie salarié·e·s, agriculteurs·trices und étranger·e·s. inzwischen zu Schlüsselwörtern der öffentlichen Debatte geworden; daher ist es für alle Parteien unumgänglich, sich gleichermaßen an beide Geschlechter zu wenden und um ihre Unterstützung zu bitten (siehe Dister/ Moreau 2021). Wie meine Durchsicht der per Post versandten Wahlprogramme für die Präsident‐ schaftswahl 2022 und die kurz darauf stattfindenden Parlamentswahlen ergeben hat, werden Frauen überwiegend als solche angeredet (Madame, Monsieur; citoyen, citoyenne; travailleuses, travailleurs, etc.; bei Parlamentswahlen auch: chères habitantes et chers habitants); das gilt auch für die Partei ‚Rassemblement national‘ (zuvor ‚Front national‘), deren Vorsitzende Marine Le Pen sich auf der Titelseite in großen Lettern selbst als „femme d’État“ ausgibt. Auffällige Ausnahmen bilden die Programme der konservativen Präsidentschaftskandi‐ datin Valérie Pécresse („Les Républicains“; der Parteiname ist wohlgemerkt ein generisches Mask.) und Emmanuel Macron („La République en marche“), die beide auf das Epikoinon compatriotes zurückgriffen: Mes chers compatriotes (‚Liebe Mitbürger‘), eine Anrede, die mündlich auf beide Geschlechter bezogen werden kann, schriftlich jedoch nur im Mask. (chers) erscheint. 42 Stein des Anstoßes ist heute in erster Linie der Gebrauch ungewöhnlicher schriftlicher Abkürzungen, der die politische Landschaft grob in ein ‚progres‐ sives‘ (Grüne und linksorientierte bzw. sozialdemokratische Parteien) und ein ‚sprachkonservatives‘ Lager (konservative und rechtsextreme Parteien) teilt. Die Verwendung dieser Sonderzeichen ist auch in der öffentlichen und halböf‐ fentlichen Kommunikation von Gewerkschaften, sozial engagierten Vereinen und Interessengruppen festzustellen. In den Wahlprogrammen der Grünen und der Sozialdemokraten von 2022 tauchen sie interessanterweise nicht auf. 43 Ob dies mit politischem Pragmatismus bzw. Opportunismus zusammenhängt, sei hier dahingestellt. Festzuhalten ist jedoch, dass Pünktchen und andere Abkürzungszeichen trotz des besagten Verbots bislang nicht ganz aus der öffentlichen Kommunikation staatlicher Institutionen verschwunden sind und gelegentlich selbst bei Gegnern der écriture inclusive begegnen. So übersah Marine Le Pen, als sie im November 2021 die Verwendung von Bindestrichen durch den Conseil constitutionnel (un-e candidat-e) als ‚Frevel‘ bezeichnete, 312 Vincent Balnat <?page no="313"?> 44 www.liberation.fr/ politique/ le-rn-pratique-ce-sacrilege-quest-lecriture-pseudo-inclusi ve/ …/ (18.11.2021). 45 Während Grundschullehrerinnen in der Alltagssprache ohne Weiteres als maîtresses d’école bezeichnet werden. 46 www.sorbonne-universite.fr („formation“ > „réussir ses études“; „vie étudiante“; „re‐ cherche et innovation“ > „le doctorat“). 47 „Écriture inclusive: un quart des étudiants y sont exposés à l’université“ (lepoint.fr/ …/ , 20.01.2023). dass derartige Zeichen auch auf der offiziellen Webseite ihrer eigenen Partei vorkamen. 44 3.3 Hochschulwesen Bis in die 1970er Jahre waren die Präsidenten von Hochschulen und Ober‐ schulämtern in Frankreich ausnahmslos Männer; diese waren auch bei dem Lehrpersonal deutlich stärker vertreten als Frauen. Erst in den 1990er Jahren nahm der Frauenanteil bei den verbeamteten Lehrkräften allmählich zu. 2020 waren es bei den ‚maîtres de conférences‘ (Mittelbau) und Professoren 40 %; stärker vertreten sind Frauen allerdings lediglich im Mittelbau (48 %), bei den Professoren sind sie weiter deutlich unterrepräsentiert (28 %). In den Geisteswissenschaften liegt der Anteil der Frauen höher als in den Natur-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (Ministère de l’enseignement supérieur et de la recherche 2021). Die zunehmende Präsenz von Frauen hat in den letzten Jahren die Verwen‐ dung von Fem. im akademischen Alltag begünstigt. Wie in der Politik werden Doppelnennungen, insbesondere in E-Mails (Chères et chers collègues, étudiant/ es), inzwischen sehr häufig verwendet. Auch die Feminisierung akademischer Titel (doyenne, professeure, présidente d’université, rectrice) ist trotz einiger Vorbehalte, insbesondere im Fall von maîtresse de conférences, 45 weit verbreitet. In ihrer offiziellen Kommunikation legen viele Hochschulen Wert darauf, beide Geschlechter gleichermaßen anzusprechen. So ist auf der Webseite der Sorbonne fast durchgängig die Rede von étudiantes et étudiants bzw. (membres de la) communauté étudiante, doctorantes et doctorants und chercheures/ chercheuses et chercheurs. 46 Vielfach werden auch Abkürzungszeichen eingesetzt: Im De‐ zember 2022 tauchten sie auf der Homepage von 27-% aller Universitäten auf. 47 In ihren Stellenausschreibungen sind Hochschulen im Übrigen angewiesen, Doppelnennungen (le candidat ou la candidate, l’enseignant ou l’enseignante), „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 313 <?page no="314"?> 48 „[…] je vous demande de recourir, dans les actes de recrutement et les avis de vacances publiés au Journal officiel, à des formules telles que ‚le candidat ou la candidate‘ afin de ne pas marquer de préférence de genre.“ Circulaire du 21 novembre 2017 relative aux règles de féminisation et de rédaction des textes publiés au Journal officiel de la République française. 49 Zur Verbreitung der écriture inclusive in französischsprachigen geisteswissenschaftli‐ chen Zeitschriften siehe die Pilotstudie von Loison-Leruste/ Samuel/ Théron (2022). Vgl. auch die einschlägigen Vorträge im Rahmen der Tagung „L’écriture inclusive: usages, débats et mobilisations“ (Videos verfügbar unter https: / / www.printemps.uvsq.fr/ ecritu re-inclusive). 50 Zum Sprachkonservatismus in der Justiz vgl. etwa die weitgehende Ablehnung der Straßburger Anwaltskammer, die Berufsbezeichnungen avocat und bâtonnier zu femi‐ nisieren (www.dna.fr/ faits-divers-justice/ 2022/ 11/ 02/ avocate-et-batonniere-strasbourg -dit-non-les-autres-barreaux-alsaciens-ne-se-prononcent-pas). 51 Die Dekanin der Fakultät für Fremdsprachen wurde im Oktober 2022 von einem Vizepräsidenten der Universität öffentlich wiederholt mit Madame le doyen angeredet, was sie als unverschämt empfand (pers. Mitteilung). 52 Jean-Paul Meyer danke ich herzlich dafür, dass er mir seine Daten und Unterlagen zur Verfügung gestellt hat. Die Ergebnisse der Meinungsumfrage sollen veröffentlicht werden. 53 Insgesamt 750 an der Zahl, darunter ca. 50 % Frauen, 45 % Männer und 1,7 % Nichtbinäre (sonst ohne Angabe). Lehrkräfte und sonstige MitarbeiterInnen sind fast zu gleichen Teilen vertreten. Etwa 50 % waren zwischen 30 und 50 Jahre alt, 19 % unter 30 und 31 % über 50. Eine Aufschlüsselung der Ergebnisse nach Geschlecht, Alter bzw. Berufsgruppe liegt leider noch nicht vor. geschlechtsindifferente Formulierungen (la personne candidate, la personne recrutée) oder Paraphrasen (l’enseignement portera sur…) zu verwenden. 48 Auf Grund unterschiedlicher Diskurstraditionen variiert der Gebrauch der écriture inclusive je nach Fachbereich. Während feminisierte Bezeichnungen und Abkürzungszeichen in den Geisteswissenschaften häufig begegnen, 49 kommen sie in den traditionell eher von Männern dominierten Natur- und Rechtswis‐ senschaften seltener zum Einsatz. So wird die Dekanin der Fakultät für Fremd‐ sprachen an der Universität Straßburg selbstverständlich als Madame la doyenne angesprochen, während ihre Amtskollegin bei den Rechtswissenschaften auf der Anrede Madame le doyen besteht. 50 Der Gebrauch der ‚falschen‘ Anrede kann unter Umständen als Fauxpas gelten. 51 2022 wurde an der Straßburger Universität, die einen eher konservativen Ruf hat, eine Meinungsumfrage unter den MitarbeiterInnen zu ihrem Umgang mit der écriture inclusive durchge‐ führt. 52 Die bisherigen Auswertungen zeugen von einer breiten Akzeptanz der Feminisierung: 80 % der Befragten 53 gaben an, das Fem. Madame la ministre zu bevorzugen, und 65 % empfinden feminisierte Formen wie écrivaine und maîtresse de conférences keineswegs als unästhetisch. 53 % passen konsequent das Genus von Berufs- und Amtsbezeichnungen an das Geschlecht an und/ 314 Vincent Balnat <?page no="315"?> 54 Die für Migranten spezifischen Lernschwierigkeiten finden hier keinerlei Erwähnung. 55 „Une ‚écriture excluante‘ qui ‚s’impose par la propagande‘: 32 linguistes listent les défauts de l’écriture inclusive“ (www.marianne.net/ …/ ; 18.09.2020). 56 „Au-delà de l’écriture inclusive: un programme de travail pour la linguistique d’au‐ jourd’hui“ (blogs.mediapart.fr/ …/ ; 25.09.2020). Siehe hierzu auch die Stellungnahme der „linguistes atterrées“ (www.tract-linguistes.org/ nos-analyses/ point-9; 12.06.2023). oder verwenden nach Möglichkeit geschlechtsindifferente Ausdrücke; obwohl sie dieses Prinzip grundsätzlich gutheißen, gaben weitere 17 % zu, es nicht unbedingt anzuwenden. Über das generische Mask. gingen die Meinungen auseinander: Nur die Hälfte der Befragten stimmte der Aussage zu, das Mask. könne für beide Geschlechter stehen. Knapp ein Drittel gab an, regelmäßig Abkürzungspünktchen zu verwenden. In sprachwissenschaftlichen Kreisen hat die écriture inclusive für eine heftige Kontroverse gesorgt. 2020 erschien in der konservativen Zeitschrift Marianne eine Kolumne von 32 LinguistInnen, die sich gegen eine ‚écriture excluante‘ (ausschließende Schreibung) wandten, weil sie das Schreiben erschwere und so zur Ausgrenzung von Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten beitrage. 54 Für bedenklich hielten sie zudem, dass die Befürworter der écriture inclusive versuchten, diese ‚durch Propaganda durchzusetzen‘. Das in der Forschung häufig vorgebrachte Argument, das Französische sei seit dem 17. Jh. von Grammatikern ‚maskulinisiert‘ worden, sei nicht stichhaltig, denn Sprache sei immer eine natürliche Folge des Sprachgebrauchs. 55 Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: 65 FachkollegInnen äußerten ihr Bedauern darüber, dass die UnterzeichnerInnen der Kolumne die Sprache ‚unabhängig von ihrem so‐ zialen, politischen und medialen Umfeld‘ betrachten und damit eine Auffassung der Sprachwissenschaft vertreten, die ‚nicht in der Sprachwirklichkeit ihrer Zeit verankert ist‘; für problematisch hielten sie zudem, dass die UnterzeichnerInnen dieser Kolumne ‚ihre eigene ideologische Position als Neutralität ausgeben‘. 56 4 Zusammenfassung und Ausblick SprecherInnen des Französischen verfügen über vielfältige Mittel zur Femini‐ sierung von Personenbezeichnungen, épicènes (Epikoina), Komposita mit femme und insbesondere eine Reihe produktiver Derivationssuffixe (-e, -euse, -ière, -ienne, -trice usw.). Auffällig ist, dass in manchen Fällen mehrere Ausdrücke koexistieren: une (femme) auteur/ un auteur femme, auteure, autrice; une (femme) docteur, docteure, doctoresse; (femme) chef, cheffe, chef(f)esse. Die Schwierig‐ keiten bei der Feminisierung liegen demnach nicht in der französischen Sprache begründet, sondern sind auf sozialökonomische und kulturhistorische Faktoren „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 315 <?page no="316"?> 57 Dass diese Haltung nicht dazu angetan war, die KritikerInnen der écriture inclusive zu besänftigen, zeigt die Geschichte der Feminisierung von Personenbezeichnungen hinlänglich. zurückzuführen, in erster Linie auf die gesellschaftliche Stellung der Frauen, die bis in die 1990er Jahre in der Politik kaum eine Rolle spielten, und die Vor‐ machtstellung der Académie française in sprachpolitischen Fragen. Zu Beginn des 21. Jh. haben sich feminisierte Bezeichnungen zunächst in der Presse und dann auch im allgemeinen Sprachgebrauch weitgehend durchgesetzt, während in einigen Berufsgruppen mit konservativen Diskurstraditionen der Gebrauch des generischen Mask. zur Bezeichnung von Frauen weiterhin Bestand hat. Galt die Feminisierung von Personenbezeichnungen bis in die 1990er Jahre als Symbol für sprachfeministischen Aktivismus, so ist heute nicht die femini‐ sierte Form auffällig (oder, um einen in der Debatte zum generischen Mask. häufig bemühten Terminus aufzugreifen, die „markierte“ Form), sondern die männliche, mit der Sprecher (seltener auch Sprecherinnen) sich zu einer Art Sprachkonservatismus bekennen und damit zugleich als Gegner des - negativ besetzten - „Mainstreams“ ausweisen. Insgesamt scheint mir der derzeitige Umgang mit der Frage nach einem geschlechterbzw. gendergerechten Sprachgebrauch in Frankreich entspannter zu sein als in Deutschland. Die Ursachen für diesen unterschiedlichen Umgang sind vielfältig; ein möglicher Grund mag in der „Wohltemperiertheit“ (Schafroth 1998: 52) weiter Kreise der feministischen Bewegung in Frankreich liegen. Für Ozouf (1995: 390-392) steht der französische, vom Universalitätsprinzip geprägte Feminismus einer radikalen Geschlechterkonfrontation stärker ab‐ lehnend gegenüber als der Feminismus im angelsächsischen Kulturraum. 57 Des Weiteren spielt die berufliche und gesellschaftliche Situation der Frauen eine erhebliche Rolle, denn für französische Frauen sind Familienleben und Beruf nach wie vor besser vereinbar als für deutsche; Französinnen haben vergleichsweise weniger prekäre Jobs und die Kinderbetreuung ist in Frankreich seit langem deutlich besser als in Deutschland (siehe Luci 2011). Insofern ist verständlich, weshalb sprachdekonstruktive Ansätze aus Nordamerika (history > herstory) in Frankreich auf geringere Resonanz stießen als in Deutschland, wo einige Feministinnen bzw. feministisch orientierte Sprachwissenschaftlerinnen schon vor Jahrzehnten bestrebt waren, die männliche Dominanz in der Sprache systematisch zu untersuchen und Vorschläge für eine geschlechtergerechte Sprache zu machen, etwa durch die Einführung der alternativen Form frau für das Indefinitpronomen man, oder den Einsatz alternativer Formen des definiten Artikels: der/ die/ das Lehrer (Pusch 1984: 61-63, 86-90). 316 Vincent Balnat <?page no="317"?> 58 Siehe Günthners Beitrag in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Sprachsystemische Unterschiede zwischen dem Französischen und dem Deutschen fallen hier ebenso ins Gewicht. So führt die Kongruenz von Sub‐ jekt bzw. Objekt und attributiv gebrauchten Adjektiven bzw. Partizipien im Französischen dazu, dass die (ausschließlich) weibliche Referenz häufiger zum Ausdruck kommt als im Deutschen. Schriftlich oder auch mündlich realisierte weibliche Endungen können in Äußerungen wiederholt vorkommen: Ravie, elle est venue aussitôt; je la voyais vraiment heureuse. Im Plural ist das Fem. zudem durch das Subjektpronomen eindeutig markiert: Elles sont blessées vs Sie sind verletzt; Elles sont intelligentes vs Sie sind klug. Schnitzer (2021: 59) und Elmiger (2022a: o.S.) schließen zu Recht daraus, dass die systembedingte Kongruenz im Französischen den genderneutralen Sprachgebrauch in gewisser Weise erschwert. Umgekehrt lässt sich jedoch fragen, ob durch diese mehrfache Markierung des Fem. im Französischen nicht auch eine bessere Sichtbarkeit der Frauen gewährleistet ist. In Frankreich mögen Sprachinteressierte sich über die Wahl eines Movie‐ rungssuffixes, eines ungewöhnlich klingenden Ausdrucks oder den zweckmä‐ ßigen Einsatz von - nur schriftlich auftretenden - Pünktchen streiten; die Struktur der Sprache bleibt von diesen Neuerungen jedoch im Wesentlichen un‐ berührt. Manche der für das Deutsche vorgeschlagenen Änderungen zugunsten einer geschlechtergerechten Sprache fallen demgegenüber weit stärker auf und lösen entsprechend heftigere Gegenreaktionen aus. Das gilt etwa für die Verwendung des Partizips I und II als eines genderneutralen Ausdrucks (die Radfahrenden, Geflüchteten) und des ursprünglich nur schriftlich realisierten Gendersternchens (Bürger*innen) auch im Mündlichen, insbesondere in be‐ stimmten Fernsehsendern und zunehmend auch an der Universität. 58 Bibliographie Abeillé, Anne/ Godard, Danièle (Hrsg.) (2021): La grande grammaire du français. Bd.-1. Arles: Actes Sud. Alpheratz (2018a): Grammaire du français inclusif. Châteauroux: Éditions Vent Solars. —-(2018b): Français inclusif: conceptualisation et analyse linguistique. SHS Web of Conferences 46, 6 e Congrès Mondial de Linguistique Française (CMLF). https: / / doi. org/ 10.1051/ shsconf/ 20184613003 (26.11.2023). —-(2021): Le genre neutre en français, expression d’enjeux du XXI e siècle. In: Fagard, Benjamin/ Le Tallec, Gabrielle (Hrsg.), 221-246. „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 317 <?page no="318"?> Becker, Lidia/ Kuhn, Julia/ Ossenkop, Christina/ Polzin-Haumann, Claudia/ Prifti, Elton (Hrsg.) (2022): Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven. Tübingen: Narr Francke Attempto (=-Romanistisches Kolloquium 35). Boel, Else (1976): Le genre des noms désignant les professions et les situations féminines en français moderne. Revue romane 11, 16-73. Bolter, Flora (2022): ‚Le masculin l’emporte‘: stratégies linguistiques et politiques de genre dans les associations LGBT+ en France. In: Swamy, Vinay/ Mackenzie, Louisa (Hrsg.), 21-43. Burkhardt, Julia (2022): Aktuelle Tendenzen beim Gebrauch femininer und maskuliner Personenbezeichnungen - eine quantitative Untersuchung. In: Becker, Lidia et al. (Hrsg.), 259-292. Burr, Elisabeth (2003): Gender and language politics in France. In: Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (Hrsg.), 119-139. Candea, Maria et al. (2015): L’Académie contre la langue française. Le dossier „féminisa‐ tion“. Donnemarie-Dontilly: Éditions iXe. Cerquiglini, Bernard (Hrsg.) (1999): Femme, j’écris ton nom… Guide d’aide à la féminisa‐ tion des noms de métiers, titres, grades et fonctions. Paris: La documentation française. —-(2018): Le La ministre est enceinte; ou la grande querelle de la féminisation des noms. Paris: Seuil. Dister, Anne/ Moreau, Marie-Louise (2006): ‚Dis-moi comment tu féminises, je te dirai pour qui tu votes‘. Les dénominations des candidates dans les élections européennes de 1989 et de 2004 en Belgique et en France. Langage et société 115 (1), 5-45. —-(2021) : Madame l’Administrateur, c’est presque fini. La dénomination des candidates lors des élections : étude diachronique. In: Fagard, Benjamin/ Le Tallec, Gabrielle (Hrsg.), 31-54. Elmiger, Daniel (2008): La féminisation de la langue en français et en allemand. Querelle entre spécialistes et réception par le grand public. Paris: Honoré Champion (=-Bibli‐ othèque de grammaire et de linguistique 30). —-(2015): Masculin, féminin: et le neutre? Le statut du genre neutre en français contemporain et les propositions de ‚neutralisation‘ de la langue. www.implications -philosophiques.org/ masculin-feminin-et-le-neutre (26.11.2023). — (2017): Binarité du genre grammatical - binarité des écritures? Mots. Les langages du politique 113, 37-52. https: / / journals.openedition.org/ mots/ 22624 (26.11.2023). —-(2022a): Geschlechtergerechte Sprache im Französischen: nicht-sexistische, ge‐ schlechtsneutrale oder inklusive Sprache? https: / / www.sprache-undgendern.de/ beitraege/ geschlechtergerechte-sprache-im-franzoesischen (26.11.2023). — (2022b): Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit. Tendenzen in den romanischen Sprachen. In: Becker, Lidia et al. (Hrsg.), 67-106. 318 Vincent Balnat <?page no="319"?> Endemann Friederike (2022): „Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente. Zur sprachlichen Darstellung der EU-Kommissionspräsidentin in der französischen Presse 2019“. In: Becker, Lidia et al. (Hrsg.), 225-258. Fagard, Benjamin/ Le Tallec, Gabrielle (Hrsg.) (2021): Entre masculin et féminin. Français et langues romanes. Paris: Presses Sorbonne Nouvelle. Fujimura Itsuko (2005): Politique de la langue: la féminisation des noms de métiers et des titres dans la presse française (1988-2001). Mots. Les langages du politique 78, 37-52. https: / / journals.openedition.org/ mots/ 355 (26.11.2023). Galeazzi, Catherine (1986): Les dénominations des femmes dans deux corpus de presse féminine (1974 et 1984). Cahiers de lexicologie 49 (2),-53-94. Google/ Mots-clés (2022): L’écriture inclusive en France en 2021: observatoire de l’opinion et des interrogations. https: / / www.motscles.net/ etude-ecriture-inclusive (26.11.2023). Grévisse, Maurice/ Goosse, André (2008): Le bon usage. 14. Auflage. Brüssel: de Boeck; Louvain-la-Neuve: Duculot. Haddad, Raphaël (Hrsg.) (2016): Manuel d’écriture inclusive. Faites progresser l’égalité femmes/ hommes par votre manière d’écrire. Mots-clés. https: / / www.univ-tlse3.fr/ me dias/ fichier/ manuel-decriture_1482308453426-pdf (26.11.2023). HCE = Haut Conseil à l’égalité entre les femmes et les hommes (2015): Guide pratique pour une communication publique sans stéréotype de sexe. Paris: La documentation française. Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (Hrsg.) (2003): Gender Across Languages: The Linguistic Representation of Women and Men. Bd.-3. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins (=-Impact: Studies in Language and Society 11). Houdebine-Gravaud, Anne-Marie (1989): Une aventure linguistique: la féminisation des noms de métiers, titres et fonctions en français contemporain. Terminologie et traduction 2, 91-145. — (Hrsg.) (1998): La féminisation des noms de métiers en français et dans d’autres langues. Paris: L’Harmattan. Ifop (2021): Notoriété et adhésion aux thèses de la pensée «-woke-» parmi les Français. Sondage pour l’Express, 04.03.2021. https: / / www.ifop.com/ publication/ notoriete-et-a dhesion-aux-theses-de-la-pensee-woke-parmi-les-francais (26.11.2023). Le Callennec Sophie et al. (Hrsg.) (2017): Questionner le monde. CE2 cycle 2. Paris: Hatier (= Magellan et Galilée). Lévy, Jean-Daniel/ Lancrey-Javal, Gaspard/ Hauser, Morgane (2017): L’écriture inclusive. La population française connaît-elle l’écriture inclusive? Quelle opinion en a-t-elle? Studie im Auftrag der Werbeagentur Mots-clés. https: / / harris-interactive.fr/ opinion_ polls/ lecriture-inclusive (26.11.2023). „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 319 <?page no="320"?> Lobin, Antje (2017): ‚Exigeant(e) et convivial(e). Doté d’un leadership affirmé‘: Herausfor‐ derungen der geschlechtergerechten Formulierung von Stellenanzeigen. Zeitschrift für romanische Philologie 133 (1),-57-81. Loison-Leruste, Marie/ Samuel, Olivia/ Théron, François (2022): L’écriture inclusive et ses usages dans les revues de sciences humaines et sociales. Revue des sciences sociales 68. https: / / journals.openedition.org/ revss/ 8888 (26.11.2023). Luci, Angela (2011): Les femmes sur le marché du travail en Allemagne et en France. Pour‐ quoi les Françaises réussissent mieux à concilier famille et emploi. Friedrich-Ebert-Stif‐ tung. https: / / library.fes.de/ pdf-files/ bueros/ paris/ 08107.pdf (26.11.2023). Ministère de l’Enseignement supérieur et de la Recherche (Hrsg.) (2021): La situation des femmes universitaires dans l’enseignement supérieur en 2020. Schreiben der DGRH vom 04.04.2021. https: / / www.enseignementsup-recherche.gouv.fr/ fr/ la-situation-des -femmes-universitaires-dans-l-enseignement-superieur-en-2020-82318 (26.11.2023). ONU (o.D.): Rédaction inclusive. Promotion de l’égalité des sexes par le biais du langage. https: / / docplayer.fr/ 150474078-Redaction-inclusive-promotion-de-l-egalite-des-sexe s-par-le-biais-du-langage.html (26.11.2023). Ozouf, Mona (1995): Les mots des femmes. Essai sur la singularité française. Paris: Fayard. Parlement européen (2018): Utilisation d’un langage neutre du point de vue du genre au Parlement européen. https: / / www.europarl.europa.eu/ cmsdata/ 187098/ GNL_Guideli nes_FR-original.pdf (26.11.2023). Petit Larousse (1998-): Le petit Larousse illustré en couleurs. Paris: Larousse. Petit Robert (1998-): Dictionnaire de la langue française. Paris: Éditions le Robert. Pusch, Luise F. (1984): Das Deutsche als Männersprache: Aufsätze und Glossen zur feministischen Linguistik. Frankfurt: Suhrkamp. Riegel Martin/ Pellat Jean-Christophe/ Rioul, René (2014): Grammaire méthodique du français. 5. Auflage. Paris: Presses Universitaires de France. Schafroth, Elmar (1998): Die Feminisierung von Berufsbezeichnungen im französischen Sprachraum. Mit einem vergleichenden Blick auf das Deutsche und andere Spra‐ chen. Universität Augsburg. Unveröffentlichte Habilitationsschrift. https: / / urlz.fr/ oD Tl (26.11.2023). —-(2003): Gender in French. Structural properties, incongruences and asymmetries. In: Hellinger, Marlis/ Bußmann, Hadumod (Hrsg.), 87-117. Schnitzer, Nathalie (2021): Le langage inclusif en français et en allemand: une tempête dans un verre d’eau? Revue de l’Institut des langues et cultures d’Europe, Amérique, Afrique, Asie et Australie (ILCEA) 42, 48-65. https: / / journals.openedition.org/ ilcea/ 1 1623 (26.11.2023). Swamy, Vinay/ Mackenzie, Louisa (Hrsg.) (2022): Devenir non-binaire en français con‐ temporain. Le Manuscrit. Genre(s) et création. https: / / hal.science/ hal-03562909/ docu ment (26.11.2023). 320 Vincent Balnat <?page no="321"?> Szlamowicz, Jean (2018): Le sexe et la langue. Petite grammaire du genre en français, où l’on étudie écriture inclusive, féminisation et autres stratégies militantes de la bien-pensance. Paris: Intervalles. Unsa éducation (Hrsg.) (2019): Guide d’écriture inclusive. https: / / www.unsa-education. com/ magazines/ guide-decriture-inclusive (26.11.2023). Viennot, Éliane (2017): Non, le féminin ne l’emporte pas sur le féminin: Petite histoire des résistances de la langue française. 2. Auflage. Donnemarie-Dontilly: Éditions iXe. —-(2018): Le langage inclusif: pourquoi, comment. Petit précis historique et pratique. Donnemarie-Dontilly: Éditions iXe. „Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre-…“ 321 <?page no="323"?> 1 Ins Deutsche übersetzt von Barbara Kaltz. Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 1 Cecilia Robustelli Zusammenfassung: Gegenstand des Beitrags sind die Überlegungen zum Verhältnis von Sprachgebrauch, biologischem Geschlecht und Genus, die in Italien in den 1980er Jahren eingesetzt haben. Es wird ein Überblick über die Weiterführung dieser Studien geboten, angefangen von Alma Sabatinis ersten, bahnbrechenden Studien zum sprachlichen Sexismus bis hin zu den jüngsten Vorschlägen zur Sichtbarmachung nicht-binärer Geschlechtsidentitäten durch Eingriffe in die italienische Sprache. Es geht dabei namentlich um die nach und nach zunehmende Sensibilisierung für die diskriminierende Funktion, die der Sprachgebrauch haben kann, und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf den konkreten Sprachge‐ brauch. Die in Italien erschienenen sprachgeschichtlich und theoretisch orientierten linguistischen Arbeiten nehmen inzwischen eine bedeutende Stellung innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Thematik ein; im Bereich der Institutionen, der Bildung und der Medien zeugen zahlreiche Initiativen von den konkreten Auswirkungen der Be‐ mühungen um eine geschlechtergerechte Sprache. Schlüsselbegriffe: Sexismus, Genus/ Geschlecht, Feminismus, Italienisch, Diskriminierung, Inklusion, Stereotype 1 Zu den Anfängen der Diskussion über die Genderproblematik in Italien Das Verhältnis von Sprachgebrauch, Geschlecht und Genus avancierte in Italien in den 1980er Jahren zu einem Untersuchungsgegenstand, im Anschluss an die internationale, vornehmlich US-amerikanische und feministisch orientierte <?page no="324"?> 2 Inzwischen liegen überaus zahlreiche Forschungsarbeiten zu diesem Thema vor; ich beschränke mich hier darauf, an die beiden wichtigen Beiträge von Labov (1966) und Trudgill (1972), den Wegbereitern des soziolinguistischen Ansatzes, zu erinnern. 3 In Italien hatte man hauptsächlich die phonetischen Merkmale des Sprachgebrauchs von Frauen untersucht, und zwar aus dialektologischer Perspektive; vgl. etwa Tagliavini (1938), Merlo (1952) und Tropea (1963). Das Thema ist mit der weit deutlicher artiku‐ lierten Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit verbunden. In diesem Zusammenhang sei auch an die Arbeiten von Giorgio Raimondo Cardona (1943-1988) erinnert, zumal sie in dem betreffenden Zeitraum erschienen. 4 „la differenza sessuale sia una dimensione fondamentale della nostra esperienza e della nostra vita, e che non esista sfera della nostra attività che non ne sia in qualche modo marcata, segnata, attraversata“ (Violi 1986: 9). Forschung zum linguistic sexism. 2 Für die italienische Sprachwissenschaft, die sich bis zu dieser Zeit nur sporadisch mit der Frage des geschlechtsspezifischen Sprachgebrauchs befasst hatte, war dies ein wesentlich neuer Ansatz. 3 Die Diskussion darüber hatte jedoch schon vorher in den Kreisen des ‚radikalen‘ amerikanischen Feminismus und in jenen des materialistischen Feminismus eingesetzt, wie er sich in Frankreich entwickelt hatte. Für die linguistische Forschung grundlegend ist nach wie vor der Beitrag Language and Woman’s Place (Lakoff 1973), in dem eine sprachliche Diskriminierung der Frauen durch die Männer postuliert wird: „‚Woman’s language‘ has as foundation the attitude that women are marginal to the serious concerns of life, which are pre-empted by men“ (1973: 45). Lakoff hatte darauf hingewiesen, dass den nachweisbaren sprachlichen Unterschieden zwischen den beiden Geschlechtern eine Unterord‐ nung der Frauen durch die Männer zugrunde liegt, die sich sowohl in der Sprechweise der Frauen als auch in der Art, wie Männer über sie sprechen, manifestiere und ihre Unterordnung in der Gesellschaft widerspiegele. Zur Rezeption von Lakoff (1973) heißt es bei Eckert/ McConnell-Ginet (2003: 1): This publication brought about a flurry of research and debate. […] over the following years, there developed a separation of these two claims into what were often viewed as two different, even conflicting paradigms - what came to be called the difference and the dominance approaches. Im Kontext der Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Geschlecht in der italienischen Sprachwissenschaft kommt dem 1986 von Violi vorgelegten Beitrag zentrale Bedeutung zu. Die Autorin geht von der Annahme aus, ‚der Ge‐ schlechterunterschied stelle eine grundlegende Dimension unserer Erfahrung und unseres Lebens dar, und es gebe keinen Bereich unseres Handelns, der nicht auf irgendeine Weise davon geprägt, gezeichnet, durchzogen sei‘. 4 Daraus ergibt sich die Frage, ob die Sprache als solche „neutral“ ist und der Geschlechterunter‐ 324 Cecilia Robustelli <?page no="325"?> 5 Vgl. Meillet (1921: 212): „Or, le genre grammatical est l’une des catégories grammaticales les moins logiques et les plus inattendues“ (‚Das grammatische Geschlecht ist eine der am wenigsten logischen und am unerwartetsten grammatischen Kategorien‘). 6 Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women. schied nur aus dem Sprachgebrauch der Sprachteilhaber resultiert oder aber in der Sprache selbst symbolisiert ist. Nach dieser zweiten Hypothese, von der Violi ausgeht, wäre die sprachliche Kategorie des grammatischen Geschlechts mit der außersprachlichen Wirklichkeit des Geschlechterunterschieds verknüpft - eine Interpretation, die indessen nicht unumstritten ist, wie Violi selbst betont: Das grammatische Geschlecht kann auch als arbiträres Phänomen interpretiert werden, d. h., es lässt sich auch ausschließlich als Resultat rein sprachlicher Ursachen und Kräfte betrachten. 5 In Italien stieß die von der Frauenbewegung ausgelöste Diskussion über die möglicherweise diskriminierende Funktion des Sprachgebrauchs und vor allem der Darstellung von Frauen in der Sprache auf großen Widerhall, allerdings weniger in akademischen Kreisen als in der Politik, wo sie im Zuge der Bemühungen um die Gleichstellung von Frauen und Männern, die seinerzeit in zahlreichen Ländern erfolgten, unmittelbar große Bedeutung erlangte. Das Thema der Gleichberechtigung und der Chancengleichheit von Frauen in der Gesellschaft implizierte zwangsläufig eine endgültige Anerkennung der Tatsache, dass das traditionelle Modell der ‚Homologisierung‘ von Frauen nach dem männlichen Paradigma ausgedient hatte, ebenso wie die davon geprägte überlieferte Sprache. Es ging darum, eine Sprache zu verwenden, die die Präsenz von Frauen in der Gesellschaft angemessen repräsentiert und traditionelle diskriminierende Stereotype vermeidet. 1979 hatte auch Italien die Frauenrechtskonvention (CEDAW 6 ) unterzeichnet; der internationale Vertrag über Frauenrechte, der von der Uno-Plenarversamm‐ lung angenommen worden war, trat am 3. September 1981 in Kraft. Mit den ersten drei UN-Weltfrauenkonferenzen (Mexico City 1975; Kopenhagen 1980; Nairobi 1985) hatte die Auseinandersetzung mit der Frage der Gleichberechti‐ gung von Frauen und Männern weltweit eingesetzt. In den achtziger Jahren stand die Förderung einer ‚effektiven Gleichstellung von Mann und Frau‘ im Mittelpunkt des Regierungsprogramms, das Ministerpräsident Bettino Craxi am 31. Juli 1985 dem Parlament vorstellte. Bereits 1983 war die ‚Nationale Kommission für die Umsetzung der Gleichstellung von Mann und Frau‘ einge‐ richtet worden, deren vorrangige Zielsetzungen im Abbau sämtlicher noch vorhandenen Vorurteile gegenüber Frauen und der Anregung und Förderung eines Wandels in der Denk-, Handlungs- und Ausdrucksweise bestanden. Die erste Studie zum Sexismus in der italienischen Sprache entstand in dieser Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 325 <?page no="326"?> 7 Vgl. hierzu Somma/ Maestri (2020); zu Alma Sabatinis Leben und Werk siehe Dove batte la lingua oggi? (2021). 8 „La lingua che si usa quotidianamente è il mezzo più pervasivo e meno individuato di trasmissione di una visione del mondo nella quale trova largo spazio il principio dell’inferiorità e della marginalità sociale della donna“ (A. Sabatini 1987: 11). 9 http: / / www.herstory.it/ movimento-femminista-romano (letzter Zugriff am 08.06.2024). 10 Das Internationale Dokumentationszentrum Alma Sabatini im Internationalen Haus der Frauen (Rom) verfügt über eine umfangreiche Sammlung bibliographischer Mate‐ rialien; https: / / www.casainternazionaledelledonne.org/ associazioni/ centro-document azione-internazionale-alma-sabatini/ (letzter Zugriff am 08.06.2024). politisch-kulturellen Atmosphäre: 1987 veröffentlichte der vom Präsidenten des Ministerrats eingesetzte öffentliche Ausschuss die Ergebnisse der Forschungen zum Sexismus im Italienischen, die die Sprachwissenschaftlerin Alma Sabatini als Mitglied der Kommission unter Mitarbeit von Marcella Mariani und mit der Beteiligung von Edda Billi und Alda Santangelo erarbeitet hatte (A. Sabatini 1987); 7 die Studie gilt noch immer als das wichtigste Referenzwerk für Arbeiten zu diesem Thema im Italienischen. In ihrem Vorwort zu Sabatinis Werk schrieb Elena Marinucci, die damalige Vorsitzende des Ausschusses: ‚Die Sprache, die wir täglich verwenden, ist das allgegenwärtigste und am wenigsten erkannte Mittel der Tradierung eines Weltbilds, das weitgehend auf dem Prinzip der Minderwertigkeit und der sozialen Ausgrenzung von Frauen beruht‘. 8 Und wie die Ergebnisse dieser Untersuchung bestätigen (siehe Abschnitt 2), ist das sprachliche Universum in der Tat um den Mann herum organisiert, während die Frau weiter mit stereotypen und herabsetzenden Bildern dargestellt wird, die der Wirklichkeit einer sich wandelnden Gesellschaft nicht mehr entsprechen. Die Verfasserin des Bandes war eine feministisch orientierte, ursprünglich als Anglistin ausgebildete Sprachwissenschaftlerin, die sich in den USA weiter‐ gebildet hatte und Mitbegründerin der Società di linguistica italiana war. Sie engagierte sich im Kampf gegen sexuelle Unterdrückung, war Vorsitzende der ersten Frauenbewegung in Italien, des Movimento di Liberazione della Donna (1970), des Kollektivs Lotta femminista und des Movimento Femminista Romano  9 und trat für Selbsterfahrungsgruppen ein, an denen ausschließlich Frauen teilnehmen konnten. Schließlich hielt sie auch die Verbindung zwischen dem Feminismus in Italien und Nordamerika aufrecht. Auf Grund ihres besonderen Interesses am sexistischen Sprachgebrauch im Italienischen 10 hatte A. Sabatini mit einer Untersuchung über die Berufsbezeich‐ nungen im Italienischen zu dem Sammelband Sprachwandel und feministische Sprachpolitik: Internationale Perspektiven (Hellinger Hrsg. 1985) beigetragen. Der Band enthält eine Reihe von Artikeln über mögliche sprachliche Alterna‐ 326 Cecilia Robustelli <?page no="327"?> 11 Lepri war ein sehr bekannter Journalist und seinerzeit Direktor der Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA). tiven zum traditionellen Sprachgebrauch, um die sprachliche Gleichbehandlung von Männern und Frauen in einigen europäischen Sprachen zu erreichen (Deutsch, Niederländisch, Dänisch, Norwegisch, Spanisch, Italienisch und Grie‐ chisch). Mit dieser Arbeit hatte A. Sabatini sich in die bereits lebhafte Debatte in Europa und den USA eingebracht, die in Italien noch kaum bekannt war. Sie selbst verwies darauf, dass the significance and the full cultural and political implications of sexist language have not yet been recognized in Italy and are just slowly gaining ground even in feminist circles […]. Studies are now being published about differences in the written style of women and men, about the whole symbolical apparatus of our man-made culture, about the importance of metaphors and especially of sexual metaphors. But what is still to be recognized is the importance of the one all-pervasive metaphor built into our language: I mean the metaphor of gender itself (1985: 64). 2 Über nicht-sexistische Sprache in Italien: Alma Sabatini und ihr Werk Il sessismo nella lingua italiana Das Werk beinhaltet eine Auswertung der Durchsicht verschiedener Printme‐ dien in der Zeit vom 01. November bis 15. Dezember 1984 (Tageszeitungen: Il Messaggero, Il Tempo, Il Corriere della Sera, Il Giornale, Il Paese Sera, Il Mattino; Zeitschriften: L’Espresso, Gente, Anna e Amica) und eine Reihe von Vor‐ schlägen, wie der Sprachgebrauch des Italienischen verändert werden könnte, um die als sexistisch empfundenen Sprechweisen zu verdrängen. Den drei einleitenden Texten (Elena Marinucci, Presentazione; Francesco Sabatini, Più che una prefazione ‚Mehr als ein Vorwort‘; Sergio Lepri, 11 Ammissione di colpa e chiamata di correo ‚Eingeständnis der Schuld und Aufruf zur Richtigstellung‘) folgt eine gründliche ‚Einleitung in die Forschung‘, in der die Autorin näher erläutert, weshalb sie diese Arbeit unternommen hat. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf denjenigen Sprachverwendungen, die als diskriminierend empfunden werden. Hier tauchen Begriffe und Termini wie Stereotyp, seman‐ tische Asymmetrie, grammatische Asymmetrie auf, die später zu einem festen Bestandteil der Fachsprache werden und in sämtlichen Arbeiten zum Thema auftauchen sollten. Im ersten Teil (‚Untersuchungen zur Pressesprache‘) werden die gesammelten Daten analysiert; im zweiten (‚Untersuchungen zur Formulie‐ rung von Stellenausschreibungen‘) werden Überlegungen zur unzureichenden Umsetzung des italienischen Gesetzes Nr. 903 vom 09.12.1977 (Parità tra uomini Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 327 <?page no="328"?> 12 Durch das betreffende Gesetz wurde die EWG-Verordnung Nr. 76.207 vom 9. Februar 1976 vollständig umgesetzt, mit der Hinweise auf das Geschlecht von Arbeitnehmern in Stellenausschreibungen und -anzeigen untersagt worden waren. e donne in materia di lavoro, ‚Gesetz über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Arbeit‘) angestellt, 12 mit dem „qualsiasi discriminazione fondata sul sesso“ (‚jedwede Diskriminierung auf Grund des Geschlechts‘) in Stellenanzeigen untersagt wurde. Der dritte Teil enthält Raccomandazioni per un uso non sessista della lingua italiana (‚Empfehlungen für einen nicht-sexistischen Sprachgebrauch im Italienischen‘). Der Band schließt mit einer Bibliographie, in der seinerzeit in Italien so gut wie unbekannte Arbeiten nachgewiesen sind, die später zu einschlägigen Referenzen in diesem Bereich werden sollten. Hier wird insbesondere auf den ersten und den dritten Teil eingegangen, in denen die Ergebnisse der Forschung und die zur Vermeidung eines sexistischen Sprachgebrauchs vorgeschlagenen Strategien behandelt werden. Zunächst wird die Analyse der erhobenen Daten im Hinblick auf das Vorkommen grammati‐ scher und semantischer Asymmetrien zusammengefasst: Grammatische Asymmetrien Verwendung des unmarkierten Maskulinums • Verwendung von uomo - uomini (‚Mann/ Mensch‘ - ‚Männer‘) in generi‐ scher Bedeutung, z.-B. L’uomo delle nevi (‚Der Schneemensch‘) • männliche Personenbezeichnungen in generischer Bedeutung, z. B. I ragazzi americani (‚die amerikanische Jugend‘) • Substantiv: fratello, fraternità, fratellanza, padre (‚Bruder‘, ‚Brüderlichkeit‘, ‚Bruderschaft‘, ‚Vater‘ etc., z.-B. I lavoratori dei campi (‚die Feldarbeiter‘) • Vorrang des Männlichen in Oppositionspaaren Mann/ Frau, z. B. Padri e madri (‚Väter und Mütter‘) • Absorption des Femininums durch das Maskulinum: Kongruenz nach dem Männlichen in Reihungen weiblicher und männlicher Substantive (+menschlich), selbst wenn die weiblichen in der Überzahl sind, z. B. Tre padovani. Due fanciulle e un maschietto (‚Drei Paduaner. Zwei Mädchen und ein Junge‘) • Referenz auf Frauen als besondere Kategorie, z. B. Napoli: operaia, ma anche studenti, donne, disoccupati, pensionati (‚Neapel: Arbeiter, aber auch Studenten, Frauen, Arbeitslose, Rentner‘) 328 Cecilia Robustelli <?page no="329"?> 13 A. Sabatini spricht hier von doppelter Valenz des Maskulinums. 14 Dass die Frage der Verwendung von signorina immer noch aktuell ist, belegen meh‐ rere Nachfragen beim Servizio di Consulenza linguistica (der Sprachberatung) der Accademia della Crusca: https: / / accademiadellacrusca.it/ it/ consulenza/ signora-o-signo rina/ 1253 (letzter Zugriff am 08.06.2024). - Die Accademia della Crusca, heute einer der wichtigsten Orte der Forschung zum Italienischen in Italien und der Welt, wurde 1582- 1583 von einigen florentinischen Gelehrten gegründet, die ein Kulturprogramm für die Kodifizierung der Sprache in die Wege leiten wollten. Der Name ist eine Anspielung auf die Trennung der Spreu vom Mehl, eine Metapher für die Arbeit der ‚Sprachreinigung‘. Das erstmals 1612 erschienene Vocabolario degli Accademici della Crusca, das bis 1923 vielfach erweitert und nachgedruckt wurde, ist das erste Wörterbuch einer lebenden europäischen Sprache; es diente als Vorbild für große Wörterbücher des Französischen, Spanischen, Deutschen und Englischen. • semantische Einschränkungen des Weiblichen, während das Maskulinum stets auf weibliche und männliche Personen referieren kann, 13 wie in molti [Mask.] hanno cercato di avere i biglietti. Tra i primi a riuscirci sono stati [Mask.] Maria Pia Fanfani e Marta Marzotto (‚Viele haben versucht, Karten zu bekommen. Unter den ersten, die es geschafft haben, waren Maria Pia Fanfani und Marta Marzotto‘) Agensbezogene Asymmetrien • Titel im Maskulinum, z. B. Marisa Bellisario è l’amministratore unico dell’I‐ taltel (‚M. B. ist der einzige Geschäftsführer von Italtel‘) • Verstöße gegen Kongruenzregeln, z. B. Il premier si è incamminata (‚Der Premierminister ist aufgebrochen‘) • Zusatz von donna, z.-B. donne arbitro (wörtlich: ‚Frauen-Schiedsrichter‘) • Suffix -essa, z.-B. Protestano le vigilesse (‚Die Politessen protestieren‘) Zur asymmetrischen Verwendung von Namen, Nachnamen und Titeln • Gebrauch des Vornamens/ Kosenamens, z. B. Maggie attacca i minatori (‚Maggie greift die Bergleute an‘) • Verwendung von signora an Stelle des Titels, z.-B. La signora Gandhi (‚Frau Gandhi‘) • Verwendung von signorina, 14 z. B. Centinaia di signore e signorine fanno la fila (‚Hunderte von Damen und Fräulein stehen Schlange‘). Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 329 <?page no="330"?> Semantische Asymmetrien Gebrauch von Adjektiven, Substantiven, veränderten Formen und Verben • Adjektive, die auf Schwäche hinweisen, z. B. Tutti questi baldi ragazzotti, tutte queste svenevoli fanciulle (‚All diese hübschen Jungen, all diese zarten Mädchen‘), oder auch auf gutes Aussehen, selbst wenn es im Kontext nicht erforderlich ist, z. B. Hanno vinto quelle sei graziose ragazze romane che lavorano negli uffici (‚Gewonnen haben diese sechs anmutigen römischen Mädchen, die in den Büros arbeiten‘) • Verwendung von Diminutiven mit ‚reduktivem Wert‘ in Hinsicht auf die ‚Spezies Frau‘: mammina, mogliettina, donnina (‚Mamachen‘, ‚Frau‐ chen/ Weibchen‘, ‚kleines Frauchen‘) • semantische Polarisierung zwischen der männlichen und der weibli‐ chen Form von Adjektiven und Substantiven, z. B. uomo libero/ donna libera (‚freier Mann/ freizügige Frau‘); il governante/ la governante (‚Staats‐ chef/ Gouvernante‘) • Verben mit idiomatischem Wert gemäß dem Postulat der vermeintlichen Passivität der Frau bzw. der dem Mann zugeschriebenen Initiative, z. B. Portare all’altare (‚zum Altar führen‘) • semantische Asymmetrie zwischen den Ausdrücken uomo und donna, entweder hinsichtlich des Wertes und der Reichweite des Bezeichneten, infolge der zugrunde liegenden mentalen Vorannahmen und kulturellen Muster oder aber auf Grund der Zweideutigkeit von uomo; dasselbe gilt für die Ausdrücke maschilità (‚Männlichkeit‘) und femminilità (‚Weiblichkeit‘), mascolino (‚maskulin‘) und effemminato (‚weibisch‘). Einsatz von Bildern und Tonfall • Synekdochen, in denen eine stereotype körperliche Eigenschaft für die gesamte Person steht, z.-B. La bella in questione (‚Die betreffende Schöne‘) • Stereotype Stilmerkmale, z. B. Il sesso debole/ il sesso forte (‚das schwache Geschlecht‘/ ‚das starke Geschlecht‘) • Ähnlichkeiten und stereotype Metaphern aus dem Tierreich und der Pflan‐ zenwelt, z. B. Una puledrina di razza (‚Ein reinrassiges [weibliches] Fohlen‘); una che non fa la mammola (wörtlich: ‚eine, die nicht das Veilchen macht‘; ‚eine, die sich nicht ziert‘) • Herabsetzung des Weiblichen bei bestimmten Rollen, die weibliche Ste‐ reotype sind, z. B. lucciola (‚Straßenmädchen‘), mondana (‚Lebedame‘), passeggiatrice (‚Strichmädchen‘), puttana (‚Hure‘) 330 Cecilia Robustelli <?page no="331"?> 15 „alternative compatibili con il sistema della lingua per evitare alcune forme sessiste della lingua italiana per […] dare visibilità linguistica alle donne e pari valore linguistico a termini riferiti al sesso femminile“ (Sabatini 1987: 101). • herablassender, spöttischer, wenn nicht offen beleidigender Tonfall, der auf weibliche Personen herabsetzend wirkt, z. B. Contestate dalle donne vigile le uniformi tanto attese (‚Von den weiblichen Polizisten [wurden] die lang erwarteten Uniformen bemängelt‘) Identifikationsweisen der Frau durch den Mann, das Alter, den Beruf und die Rolle • Ausdrücke, die die Frau durch ihre Beziehung zum Mann identifizieren, z. B. figlia/ moglie/ fidanzata di (‚Tochter/ Ehefrau/ Verlobte von‘), oder als signora/ donna di (‚Ehefrau/ Frau von‘), weil sie zu einem Mann gehören, z. B. La figlia di Nehru (‚die Tochter von Nehru‘; Dapporto e signora (‚Dapporto und Gattin/ Ehefrau‘); la donna del capo (‚die Frau des Chefs‘). Im dritten Teil geht es um ‚Empfehlungen‘ von ‚mit dem Sprachsystem ver‐ einbaren Alternativen zur Vermeidung sexistischer Formen des Italienischen, um die sprachliche Sichtbarkeit von Frauen zu erreichen und Ausdrücken, die sich auf das weibliche Geschlecht beziehen, denselben sprachlichen Wert zu verleihen‘. 15 Ein besonderer Abschnitt ist den Agensbezeichnungen (Titel, Ämter, Berufe, Handwerksberufe) gewidmet; hier lautet die Empfehlung, bei Verweisen auf Frauen den Gebrauch des Maskulinums zu vermeiden und die entsprechende feminine Form zu bilden, soweit sie nicht bereits zur Verfügung steht; die als reduktiv empfundenen Formen auf -essa sind zu vermeiden. Die Modalitäten dieser femininen Neubildungen sind im Folgenden kurz zusammengefasst; sie setzen voraus, dass bereits eine lexikalisierte maskuline Form existiert: • Ausdrücke auf -o, -aio/ -ario, -iere erhalten die Endungen -a, -aia/ -aria, -iera, z. B. appuntata, architetta, avvocata, capitana, chirurga, colonnella, critica, marescialla, ministra, prefetta, primaria, rabbina, notaia, segretaria, infermiera, pioniera, portiera (‚Oberstabsgefreite, Architektin, Rechtsan‐ wältin, Kapitänin, Chirurgin, Oberstin, Kritikerin, Marschallin, Ministerin, Präfektin, Chefärztin, Rabbinerin, Notarin, Sekretärin, Krankenschwester, Pionierin, Hausmeisterin‘) • Ausdrücke auf -sore erhalten die Endung -sora, z. B. assessora, difensora, eva‐ sora, oppressora (‚Stadträtin/ Referentin, Verteidigerin, Steuerhinterzieherin, Unterdrückerin‘). Feminina auf -essa zu den Maskulina auf -sore sind durch Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 331 <?page no="332"?> 16 „interessante prospettiva di indagine sulle strutture della nostra lingua, così fortemente caratterizzata dalla morfologia e così ricca di pluralismi formali e semantici dovuti alla sua lunga […] diacronia“ (F. Sabatini in A. Sabatini 1987: 19). neue Formen auf -sora zu ersetzen, Z. B. professora (‚Professorin‘) an Stelle von professoressa • Ausdrücke auf -tore erhalten die Endung -trice, z. B. ambasciatrice, amminist‐ ratrice, direttrice, ispettrice, redattrice, senatrice, accompagnatrice (‚Botschaf‐ terin, Geschäftsführerin, Direktorin, Inspektorin, Redakteurin, Senatorin, Begleiterin‘). Vor allem aus phonetischen Gründen wird in manchen Fällen statt des etymologischen Suffixes -trice das analoge, eher umgangssprach‐ liche Suffix -tora verwendet, z.-B. pretora statt pretrice. In den folgenden Fällen lässt sich keine morphophonetisch adäquate Entspre‐ chung im Femininum bilden; die Empfehlung lautet hier auf Voranstellung des femininen Artikels: • Ausdrücke auf -e oder -a, z. B. caporale, generale, maggiore, parlamentare, preside, ufficiale, vigile, custode, interprete, sacerdote, presidente; poeta, pro‐ feta (‚Unteroffizier, General, Major, Parlamentarier, Rektor, Standesbeamter, Polizist, Wächter, Dolmetscher, Priester, Präsident; Dichter, Prophet‘) • italianisierte Partizip-I-Formen des Lateinischen, z. B. agente, inserviente, cantante, comandante, tenente (‚Agent/ Vertreter/ Polizist, Diener, Sänger, Kommandant, Leutnant‘) • Komposita mit capo-, z. B. capofamiglia, caposervizio, capo ufficio stampa, (‚Familienoberhaupt, Ressortleiter, Leiter der Pressestelle‘) 3 Reaktionen auf die Vorschläge für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch im Italienischen 3.1 Im Bereich der Linguistik Wie es F. Sabatini in seinem Vorwort vorhergesagt hatte, stießen weder das Werk noch dessen Thematik in sprachwissenschaftlichen Kreisen auf unmittelbares Interesse. Er befürchtete, die Arbeit würde nur oberflächlich gelesen werden, so dass bestimmte Aspekte der Problematik wie jene mit dem ‚interessanten Ansatz der Untersuchung der Strukturen unserer Sprache verknüpften, einer so stark morphologisch geprägten und auf Grund ihrer langen […] geschichtlichen Entwicklung an formalen und semantischen Pluralismen so reichen Sprache, außer Acht bleiben würden‘. 16 Statt sprachwissenschaftlicher Überlegungen sollte es von Seiten der Presse reichlich billige Ironie und politische Sticheleien 332 Cecilia Robustelli <?page no="333"?> 17 Alma Sabatini hätte aller Wahrscheinlichkeit nach später in wissenschaftlich fundierten Arbeiten das Material, das sie in diesem schmalen Band nur kurz beschrieben hatte, weiter bearbeitet und mit vertiefenden Studien sowie bibliographischen Hinweisen ergänzt, wäre sie nicht 1988 bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. 18 Lepschy (1989: 61): „L’ipotesi generale è che la lingua non solo manifesta, ma anche condiziona il nostro modo di pensare: essa incorpora una visione del mondo e ce la impone. Siamo noi ad essere parlati dalla nostra lingua, anziché essere noi a parlarla“ (‚Die allgemeine Hypothese lautet, dass die Sprache unsere Denkweise nicht nur ausdrückt, sondern sie auch prägt: Sie beinhaltet eine Weltsicht und zwingt sie uns auf. Wir sind es, die von unserer Sprache gesprochen werden, und nicht wir, die sie sprechen‘). 19 Siehe hierzu auch Jespersen (1922). geben, die der Autorin sprachlichen Präskriptivismus im Namen des politically correct vorwarfen. Alma Sabatinis kleine Schrift vermittelt in der Tat den Eindruck, der Autorin sei es eher um konkrete Vorschläge für einen veränderten Sprachgebrauch gegangen als um wissenschaftlich fundierte theoretische Überlegungen zum Thema: Die Formulierungen zu den einzelnen Vorschlägen sind eher dürftig ausgefallen, und den linguistischen Überlegungen mangelt es etwas an Tiefe, weshalb der Arbeit der wissenschaftliche Wert fehlte, der Voraussetzung für eine Rezeption in den akademischen Kreisen in Italien war. Zudem deutete die gra‐ phische Darstellung insbesondere in dem Abschnitt mit zweispaltigen Tabellen und Ja-/ Nein-Überschriften, mit denen die Verwerfung bzw. der empfohlene Gebrauch von Ausdrücken angezeigt wurde, auf eine dirigistische Interpretation der Vorschläge hin. 17 Die erste fundierte Studie zu A. Sabatini (1987) ist Giulio Lepschy zu ver‐ danken; er brachte insbesondere die Frage des ‚sprachlichen Sexismus‘, die bis zu diesem Zeitpunkt nur in der feministischen Linguistik thematisiert worden war, in die sprachwissenschaftliche Debatte in Italien ein. Seine Studie erschien zunächst als Rezension des Werks in englischer Sprache (Lepschy 1987) und zwei Jahre danach in einer aktualisierten Fassung mit dem Titel Lingua e sessismo (Lepschy 1989). 18 Lepschy hat die einzelnen Vorschläge der Autorin im Lichte wohlbekannter Fragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft (Sapir-Whorf-Hypothese über das Verhältnis von Sprache und Denken, 19 Begriff der Markiertheit, Verhältnis von Sprache und Kultur/ Gesellschaft, von Norm und Gebrauch, Herausbildung der Kategorie des grammatischen Genus) erneut gelesen - und damit ihre Arbeit in den Kontext der internationalen Forschungsperspektive zum Verhältnis von Sprache und Geschlecht gestellt. Lepschy stimmt der Empfehlung zu, nach der Frauen die femininen Formen verwenden und die männlichen vermeiden sollen. Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 333 <?page no="334"?> 20 Hier sei besonders auf die umfangreiche Bibliographie in diesem Artikel hingewiesen, die einen guten Überblick über die Forschung in den 2000er Jahren liefert. 21 „Nel dominio italiano, come è noto, la questione si è sviluppata attraverso due orientamenti (secondo alcuni studiosi, come si vedrà, comunque correlati) nei quali il genere è rispettivamente inteso come categoria grammaticale, confluito nel dibattito sul sessismo, o come variabile sociolinguistica, con discussioni relative alla (effettiva o presunta) differenza d’uso dello strumento linguistico da parte dei due sessi“ (Fresu 2008: 176). 22 Für weitere neuere Studien zu diesem Thema sei hier verwiesen auf die Ausgabe 2024/ 1 der Online-Zeitschrift Lingue e Culture dei Media, die sich mit Geschlechterfragen in der Sprache der Medien befasst (https: / / riviste.unimi.it/ index.php/ LCdM, letzter Die theoretische Grundlage der Arbeit hält er dagegen für unzureichend und befürchtet, die Vorschläge könnten auch als ein Beispiel von puristischem Präskriptivismus verstanden werden - ein Vorwurf, der noch lange auf A. Sabatinis Vorschlägen lasten sollte, wenngleich die Autorin selbst klargestellt hatte, sie habe mit ihrer Schrift keine derartigen Absichten verfolgt. Von den seltenen, doch wichtigen anderen wissenschaftlichen Reaktionen in den unmittelbar darauf folgenden Jahren ist hier an Marcato (1988) zu erinnern, die A. Sabatini (1987) in ihrem Beitrag erwähnt, in dem erstmals der Untersuchung der mit der Variable Geschlecht korrelierenden Unterschiede im Sprachgebrauch Raum gegeben wurde, was die Verbreitung in akademischen Kreisen förderte; sodann an die Besprechung von Cardinaletti/ Giusti (1991), in der die Reflexions- und Forschungslinien aufgezeigt werden, die sich aus A. Sabatinis Werk ergeben. Schon wenige Jahre später zeigten die Beiträge zu den Akten der Konferenz Donna & linguaggio (Marcato Hrsg. 1995) die zahlreichen Forschungslinien auf, die sich im Zusammenhang mit der Thematik des sprachlichen Sexismus eröffneten. Die Frage der Agensbezeichnungen, der Stewart (1987) bereits eine gründliche Untersuchung gewidmet hatte, hat Burr (1995) erneut aufgegriffen; es folgte eine lange Reihe von Arbeiten zum Thema, die sich bis heute fortsetzt. Wie Fresu zwei Jahrzehnte später erläutert hat, sollte dies indessen nicht die einzige Forschungslinie bleiben: 20 Im italienischen Sprachraum hat sich die Frage bekanntlich in zwei Richtungen weiterentwickelt (die nach Auffassung einiger Forscher allerdings miteinander ver‐ bunden sind, wie noch zu zeigen sein wird), in denen Genus entweder als grammati‐ sche Kategorie verstanden wird, die in der Debatte über den Sexismus aufgegangen ist, oder aber als soziolinguistische Variable, mit Diskussionen über den (tatsächlichen oder angenommenen) Unterschied im Sprachgebrauch der beiden Geschlechter. 21 Und dank der technologischen Entwicklung stehen uns heute noch erheblich verbesserte Möglichkeiten zur Verfügung, um das Thema weiter zu erforschen. 22 334 Cecilia Robustelli <?page no="335"?> Zugriff am 24.08.2024). - Heute ermöglicht die technologische Entwicklung auch die Untersuchung automatisch generierter, von AI-Systemen produzierter Texte, so dass auch mit umfangreichen Sprachmodellen (Large Language Models) gearbeitet werden kann, was wiederum neue Forschungsperspektiven eröffnet. - Zum Italienischen vgl. etwa De Cesare (2023). 3.2 Presse und Fernsehen Die Printmedien sorgten, wie gesagt, dafür, dass A. Sabatinis Arbeit in den Vordergrund gerückt wurde. Das Interesse wurde zum einen durch den Umstand geweckt, dass das von der Autorin formulierte Urteil über den sprachlichen Sexismus auf ihrer Durchsicht von Tageszeitungen und Zeitschriften beruhte, zum anderen durch die Tatsache, dass Sergio Lepri eines der Vorworte zu dem Werk verfasst hatte (vgl. oben, 2.). Die Presse suchte sich die ‚griffigsten‘ Vorschläge aus und brachte sie ohne jede theoretische Kontextualisierung einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis. Das Ansehen, in dem die Tageszeitungen seinerzeit standen, dürfte erheblich dazu beigetragen haben, die zugrunde lie‐ gende Botschaft zu verbreiten, d. h. die Notwendigkeit eines Sprachgebrauchs, der die Darstellung der Frau stärker in den Blick nimmt; es förderte zudem die Verbreitung und allmähliche Stabilisierung der entstehenden Neologismen. Der Tonfall und die Titel der Artikel schwankten jahrelang zwischen Spott, Ironie und Argwohn: E alla pretora parlerà un’avvocata (‚Und eine Anwältin wendet sich an die Prätorin‘, La Stampa 06.12.1986); Quando l’italiano va contro la donna (‚Wenn sich das Italienische gegen die Frau richtet‘, Ivi 13.04.1987); I diritti della pretora (‚Die Rechte der Prätorin‘, Ivi 02.08.1987); Questori e questrici (‚Quästoren und Quästorinnen‘, la Repubblica 22.03.1987); bis hin zu Tanta fatica e poi ti chiamano dottora (‚Ein so großer Aufwand, und nun nennen wir dich Doktorin‘, La Repubblica 31.08.2000). Der Vorschlag, das weibliche Geschlecht generell für auf Frauen referierende Amts- und Berufsbezeichnungen zu verwenden und zu diesem Zweck neue Formen zu bilden (bzw. in Vergessenheit geratene Bildungen wieder in Umlauf zu bringen), wurde durch die Presse in der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Ausführlich erörtert wurden der Gebrauch von ministra, sindaca, pretora, questora, assessora, medica, chirurga, ingegnera, architetta (‚Ministerin, Bürgermeisterin, Referentin, Polizeipräsidentin, Stadträtin, Ärztin, Chirurgin, Ingenieurin, Architektin‘) und die Frage der Zweckmäßigkeit, dottora und pro‐ fessora durch dottoressa und professoressa zu ersetzen, ein Vorschlag, der in der Praxis eher geringe Auswirkungen hatte (vgl. Motolese 2005). Die Accademia della Crusca wurde geradezu überschüttet mit Anfragen, ob es angemessen sei, die weiblichen Formen zu verwenden - die Frage war 2013 Gegenstand der Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 335 <?page no="336"?> 23 „gli stereotipi connessi al sesso nella pubblicità e nei mezzi di comunicazione costitu‐ iscono uno dei fattori di ineguaglianza che influenzano gli atteggiamenti nei confronti dell'uguaglianza tra uomini e donne“. - Zu den hauptsächlichen Maßnahmen zur Darstellung und Stellung der Frau in den Massenmedien, die von der EU seit der Entschließung des Rates vom 12. Juli 1982 gefördert wurden, siehe die Präambel der oben zitierten Entschließung des Rates vom 5. Oktober 1995: https: / / eur-lex.europ a.eu/ legal-content/ IT/ TXT/ ? uri=CELEX%3A41995X1110%2801%29 (letzter Zugriff am 08.06.2024). Seite „Il tema del mese“ (‚Thema des Monats‘; vgl. Robustelli 2013). Auch heute noch gehen dazu zahlreiche Anfragen bei der Accademia della Crusca ein. Die komplexen linguistischen Überlegungen, die A. Sabatinis Schrift ausgelöst hatte, wurden ohne den wissenschaftlichen Kontext, in dem ihr Werk entstanden war, mit der Zeit auf das Dilemma reduziert, das schließlich zur Nagelprobe des nicht-diskriminierenden Sprachgebrauchs avancierte: Soll eine Frau nun als ministro oder als ministra angesprochen werden? Im Übrigen war es in einer Gesellschaft, die in der Bezeichnung von Frauen mit einem maskulinen Titel wie avvocato oder ingegnere den Beweis sah, dass die Frauen endlich denselben beruflichen Status wie Männer erreicht hatten, schwer zu vermitteln, dass feminine Entsprechungen akzeptiert werden sollten, wenngleich es auf politischer Ebene dieselben Institutionen waren, die für eine der Position und der Rolle von Frauen angemessenere Benennung eintraten. Auf internationaler Ebene hatte die Entschließung des Rates vom 5. Oktober 1995 zur Darstellung des Mannes und der Frau in Werbung und Medien anerkannt, dass ‚geschlechtsspezifische Stereotype in der Werbung und den Medien einen der Faktoren von Ungleichheit darstellen, die Einfluss auf die Einstellungen gegenüber der Gleichstellung von Männern und Frauen nehmen‘. 23 Die Grün‐ dung der Commissione Pari Opportunità della Federazione Nazionale Stampa Italiana (Cpo-FNSI) 1998 (‚Kommission für Chancengleichheit des italienischen Presseverbands‘) verstärkte die Bestrebungen, jede Art von direkter und indi‐ rekter sprachlicher Diskriminierung in der journalistischen Berichterstattung abzuschaffen, das Bild der Frau in den Medien zu revidieren und geschlechtsbe‐ zogene Stereotype zu überwinden. Doch sollten noch viele Jahre vergehen, bis die Sprache italienischer Journalisten sich endlich in einigen Punkten verändert hatte, etwa im Gebrauch femininer Personenbezeichnungen (abgesehen von den noch heute sehr zahlreichen Ausnahmen). Die Förderung der Veröffentlichung von Donne, grammatica e media (Robustelli 2014a) durch den Verband GiULiA (Giornaliste Unite Libere Autonome, ‚Verband freier und autonomer Journa‐ listinnen‘) unter der Schutzherrschaft des italienischen Journalistenverbands, des gesamtitalienischen Presseverbands und der Accademia della Crusca war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Es handelt sich um einen in erster 336 Cecilia Robustelli <?page no="337"?> 24 „a una informazione attenta, corretta e consapevole del fenomeno della violenza di genere e delle sue implicazioni culturali, sociali e giuridiche“; „la descrizione della realtà nel suo complesso, al di fuori di stereotipi e pregiudizi, è il primo passo per un profondo cambiamento culturale della società e per il raggiungimento di una reale parità“; https: / / www.fnsi.it/ varato-il-manifesto-di-venezia-per-una-corretta-informazione-contro-la -violenza-sulle-donne (letzter Zugriff am 08.06.2024). 25 Ihr Monolog wurde später im Netz aufgegriffen und weiter verbreitet; vgl. https: / / ww w.youtube.com/ watch? v=4WjhLSkXqTk (letzter Zugriff am 08.06.2024). 26 Siehe https: / / www.raiplay.it/ video/ 2020/ 06/ maestri-cecilia-robustelli-il-genere-femmi nile-nell-italiano-di-oggi-655af35e-df25-420d-ad73-e727586a22b9.html (letzter Zugriff am 08.06.2024). Linie für Journalistinnen und Journalisten konzipierten Sprachratgeber mit konkreten Vorschlägen, um Zweifel und Unsicherheit hinsichtlich der Verwen‐ dung femininer Berufs- und Amtsbezeichnungen zu überwinden, damit die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Presse durch den Rekurs auf einen angemessenen Sprachgebrauch anerkannt, widergespiegelt und respek‐ tiert werden. Wenige Jahre später (2017) wurde das Manifesto delle giornaliste e dei giornalisti per il rispetto e la parità di genere nell'Informazione (‚Manifest der Journalistinnen und Journalisten für den Respekt und die Gleichstellung der Geschlechter in der Presse‘) in Venedig vorgestellt mit der Verpflichtung zu einer ‚achtsamen, korrekten und bewussten Berichterstattung über das Phänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt und seiner kulturellen, sozialen und juristischen Implikationen‘ und in der Überzeugung, dass ‚die Beschreibung der komplexen Wirklichkeit ohne Stereotype und Vorurteile ein erster Schritt in Richtung eines grundlegenden kulturellen Wechsels in der Gesellschaft und der Erreichung einer tatsächlichen Gleichstellung ist‘. 24 Selbst das staatliche Fernsehen (RAI) zeigt sich trotz seiner im wesentlichen konservativen Einstellung offen für manche Initiativen zugunsten einer anderen Sprache über die Frauen als der traditionellen: 2018 wurde von dem Sender RAI1 an einem Abend mit hohen Einschaltquoten ein Monolog von Paola Cortellesi, einer bekannten Schauspielerin, ausgestrahlt, in dem just die für sexistische Sprache charakteristischen semantischen Asymmetrien hinterfragt wurden. 25 2020 war eine ‚Lektion‘ von #maestri, einer beliebten Sendung von RAI Cultura, die in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Bildung produziert wird, dem Thema Il genere femminile nell’italiano di oggi (‚Das weibliche Geschlecht im heutigen Italienisch‘) gewidmet. 26 Dennoch sind weiter Schwankungen zu beobachten, nicht nur im Gebrauch femininer Ausdrücke, sondern allgemein bei den Rollen, die Frauen übertragen werden, und in der Sprache, die zur Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 337 <?page no="338"?> 27 Vgl. https: / / whomakesthenews.org/ wp-content/ uploads/ 2021/ 07/ GMMP2020.ENG_.FI NAL20210713.pdf (letzter Zugriff am 08.06.2024). 28 Die vollständige Liste der beteiligten Institutionen ist in Voto (2023: 13) nachzulesen. Beschreibung von Frauen verwendet wird; dies bestätigt auch das Global Media Monitoring Project 2021. 27 Laut einer Mitteilung der RAI von 2023 hat das staatliche Fernsehen die Absicht, entschlossen zur Verwirklichung der Gleichberechtigung als einem unverzichtbaren Bestandteil der nachhaltigen Entwicklung beizutragen (Robus‐ telli 2023: 137-150). Die RAI unterstützt daher die Kampagne „No Women No Panel“, die Mariya Gabriel als EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Unterricht und Jugend 2018 lanciert hatte. An dieser Kampagne ist eine Reihe von Institutionen beteiligt, darunter die für Chancengleichheit zuständige Abteilung der Ratspräsidentschaft, die Konferenz der Regionen und der autonomen Provinzen sowie die Vertretung der Europäischen Kommission in Italien. 28 Ziel der Kampagne ist es, die Präsenz von Frauen unter den bei öffentlichen Veranstaltungen und Konferenzen eingeladenen Experten zu gewährleisten und auf diese Weise Modelle und Botschaften zu propagieren, die den Grundsatz einer gleichberechtigten Vertretung der Geschlechter fördern und die Gleichstellung im Hinblick auf den Zugang zum öffentlichen Raum sicherstellen. Dazu ist es unumgänglich, bei der Abfassung der Texte und der Auswahl der Bilder auch auf eine nicht-sexistische Sprache zu achten, die inklusiv ist und ohne Stereotype auskommt. 3.3 Institutionen Auf Grund ihrer Publikationsgeschichte war Sabatinis Schrift in den Institu‐ tionen sehr bekannt, und anfänglich wurden ihre Vorschläge in der institu‐ tionellen Kommunikation auch durchaus umgesetzt. Zu Beginn der 1990er Jahre erschien der von Sabino Cassese (1993), dem damaligen Minister für den öffentlichen Dienst, geförderte Codice di stile delle comunicazioni scritte ad uso delle amministrazioni pubbliche, mit einem besonderen Kapitel zum Uso non sessista e non discriminatorio della lingua (‚Nicht-sexistischer und nicht-diskri‐ minierender Sprachgebrauch‘), das die Umsetzung dieser Vorschläge empfahl. Allerdings wurde der gerade erst begonnene Sprachwandelprozess in der Folge‐ zeit wieder ausgebremst, trotz einer Fülle von Richtlinien und amtlichen Rund‐ schreiben zum laufenden Prozess der ‚Vereinfachung‘ der Verwaltungssprache. Auf Landesebene blieb die Richtlinie vom 23. Mai 2007, Misure per attuare parità e pari opportunità tra uomini e donne nelle amministrazioni pubbliche (‚Maßnahmen zur Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau und 338 Cecilia Robustelli <?page no="339"?> 29 „(le amministrazioni pubbliche devono) utilizzare in tutti i documenti di lavoro (relazioni, circolari, decreti, regolamenti, ecc.) un linguaggio non discriminatorio come, ad esempio, usare il più possibile sostantivi o nomi collettivi che includano persone dei due generi (es. persone anziché uomini, lavoratori e lavoratrici anziché lavoratori)“. - Diese Richtlinie wurde vom Minister für den öffentlichen Dienst und der Ministerin für Chancengleichheit erlassen, um die Richtlinie 2006/ 54/ CE des Europäischen Parlaments und des Europarats zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Angelegenheiten der Arbeit und Beschäftigung umzusetzen; https: / / www.funzionepubblica.gov.it/ sites/ funzionepubbli ca.gov.it/ files/ documenti/ Normativa%20e%20Documentazione/ Dossier%20Pari%20opp ortunit%C3%A0/ report_pari_opp_2013.pdf (letzter Zugriff am 08.06.2024). der Gleichbehandlung im öffentlichen Dienst‘), mit der die Verwendung einer nicht-diskriminierenden Sprache im öffentlichen Dienst vorgeschrieben wurde, im Wesentlichen unbeachtet: ‚[in allen öffentlichen Verwaltungen ist] in sämtlichen Arbeitsunterlagen (Berichten, Rundschreiben, Erlassen, Verordnungen usw.) eine nicht-diskriminierende Sprache zu verwenden; es sind wo immer möglich Substantive oder Kollektivbezeichnungen zu gebrauchen, die Personen beider Geschlechter einschließen (wie persone statt uomini, lavoratori e lavoratrici statt lavoratori).‘ 29 Anders sieht es dagegen in den Verwaltungen auf lokaler Ebene aus; dort ist eine stetig wachsende Bereitschaft zur Verwendung nicht-diskriminierender Sprache zu beobachten, die sich in konkreten Amtshandlungen niederschlägt, vornehmlich in Beschlüssen zur Umsetzung der neuen Vorschläge für einen nicht-diskriminierenden Sprachgebrauch und zur Einrichtung von Schulungen für das Personal. Die Ermächtigung der lokalen Verwaltungen, selbstständig derartige Entscheidungen zu treffen, beruht auf einer Reform von Titel V der italienischen Verfassung, die die Kompetenzen und den Handlungs- und Interventionsbereich der Provinzen und Gemeinden erweitert hatte, so dass auch die letzteren dank der neu gewonnenen Autonomie in der Organisation und Verwaltung Beschlüsse fassen konnten, um Veränderungen der Verwal‐ tungssprache herbeizuführen, einschließlich solcher, die die Abschaffung aller Diskriminierung auf Grund des Geschlechts zum Ziel haben. Die in jenen Jahren vielfach diskutierte Frage der Vereinfachung der Verwaltungssprache hängt mit der Frage zusammen, ob jede Form der Diskriminierung in der institutionellen Sprache zu vermeiden ist. Bereits 2009 hatte die Accademia della Crusca damit begonnen, das Problem der Vereinfachung und Klarheit der Verwaltungssprache in Angriff zu nehmen; 2011 gab sie gemeinsam mit dem Istituto di teoria e tecniche dell’informazione giuridica (ITTIG, ‚Institut für Theorie und Techniken der juristischen Information‘) den Guida alla redazione degli atti amministrativi Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 339 <?page no="340"?> 30 „professioni e funzioni che sono state per anni di esclusivo dominio maschile (…) sono invece oggi rivestite da uomini e donne indifferentemente“; „doveroso che anche il linguaggio che comunemente usiamo esprima questa nuova realtà“. 31 „[…] linguaggio giuridico ad accogliere proposte ragionevoli dettate dal mutamento dello status sociale e professionale femminile“ (Robustelli 2011: 10). 32 Siehe hierzu auch Elmiger und Niederhauser in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). (2011) heraus, an dessen Ausarbeitung auch Wissenschaftlerinnen der Univer‐ sità di Modena e Reggio Emilia (C. Robustelli) und Catania (G. Alfieri) beteiligt waren. Die Publikation, die auch einige Abschnitte über die Wahl einer im Hin‐ blick auf die ‚Geschlechtsidentität achtsamen Sprache‘ („rispettoso dell’identità di genere“) enthält, wurde anlässlich einer Tagung an der Accademia della Crusca zum Thema La redazione degli atti amministrativi: linguisti e giuristi a confronto (‚Zur Abfassung von Verwaltungsakten: Linguisten und Juristen im Austausch‘) vorgestellt. Angesichts der Tatsache, dass ‚Berufe und Ämter jahrelang eine ausschließ‐ lich männliche Domäne gewesen sind, während sie heute unterschiedslos von Männern und Frauen ausgeübt werden‘, und in der Überzeugung, ‚diese veränderte Wirklichkeit müsse nun auch in der Gemeinsprache zum Ausdruck kommen‘, 30 lancierte der Ausschuss für Chancengleichheit der Gemeinde Flo‐ renz 2011 in Zusammenarbeit mit der Accademia della Crusca das Projekt Genere e Linguaggio. Parole e immagini della comunicazione (‚Gender und Sprache. Worte und Bilder der Kommunikation‘). Das Projekt bestand aus einer Reihe von Seminaren, in denen über die theoretischen und methodologischen Probleme, die Auswahl und Analyse von Unterlagen, die in der Verwaltung verwendet wurden, und die Umformulierung dieser Dokumente diskutiert wurde. Zudem wurde im Rahmen dieses Projekts ein kleines Handbuch mit dem Titel Linee guida per l’uso del genere nel linguaggio amministrativo veröffentlicht, das sehr weite Verbreitung finden sollte (Robustelli 2011). Als das erste Hilfsmittel für die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung konzipiert, sollte das Handbuch eine Unterstützung bei der Überwindung der zahlreichen Schwierigkeiten bieten, die die ‚Rechtssprache gegenüber der Akzeptanz vernünftiger Vorschläge aufweist, die eine notwendige Folge des Wandels im sozialen und beruflichen Status der Frauen sind‘. 31 In diesen Jahren waren auch in anderen europäischen Ländern derartige Handbücher veröffentlicht worden, so in der Schweiz, die bereits eine Reihe von Aktionen eingeleitet hatte, um die sprachliche Gleichbehand‐ lung auch in der Verwaltungssprache durchzusetzen, in dem grundsätzlichen Bemühen, die Geschlechter auch in den offiziellen Landessprachen ausdrücklich zu benennen (Robustelli 2012). 32 340 Cecilia Robustelli <?page no="341"?> 33 „la tendenza in atto al peggioramento del linguaggio normativo e amministrativo italiano, nonostante il notevole impegno di molti soggetti fin dagli anni Ottanta e Novanta del secolo scorso nel campo del drafting e nonostante l’accresciuta attenzione alla qualità anche linguistica dei testi.“ (Maraschio 2011: X). 34 „sintatticamente contorta e inutilmente infarcita di tecnicismi superflui“ (Maraschio 2011: X). 35 „per intervenire sul linguaggio discriminante dei testi amministrativi non è sufficiente inserire automaticamente forme femminili accanto alle corrispondenti maschili, né sapersi districare nei meccanismi di assegnazione e di accordo di genere, ma è anche e soprattutto necessario conoscere quando, come e dove intervenire“ (Maraschio 2011: X). In ihrem Vorwort zu Robustelli (2011) erinnerte Nicoletta Maraschio, seiner‐ zeit Vorsitzende der Accademia della Crusca, an ‚die anhaltende Tendenz zur Verschlechterung der italienischen Rechts- und Verwal‐ tungssprache, ungeachtet der Tatsache, dass zahlreiche Personen seit den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jh. große Anstrengungen hinsichtlich der Abfassung von Texten unternommen haben und inzwischen auch verstärkt auf die sprachliche Qualität von Texten geachtet wird‘. 33 Maraschio hält Bemühungen um die bessere Lesbarkeit und Klarheit von Verwaltungstexten angesichts der langen Tradition der Niederschrift von ‚syn‐ taktisch verschachtelten und mit überflüssigen Floskeln überladenene Verwal‐ tungstexten‘ 34 für dringend erforderlich und zudem ohne Weiteres vereinbar mit den Bestrebungen für eine bessere Sichtbarkeit der Frauen in den neuen Berufen und den neuen öffentlichen Rollen. Allerdings sei es unumgänglich, dass solche Änderungen an den Texten nur von Personen vorgenommen werden, die über angemessene Kenntnisse der sprachlichen Mittel verfügen: ‚Um Eingriffe in die diskriminierende Sprache der Verwaltungstexte vorzunehmen, genügt es nicht, den männlichen Ausdrücken automatisch weibliche Formen hinzu‐ zufügen, und eben so wenig, die Mechanismen der Zuweisung des Geschlechts und der Genuskongruenz zu entwirren; notwendig ist es vor allem, zu wissen, wann, wie und wo Eingriffe erforderlich sind.‘ 35 Die Umsetzung der vielfältigen in Robustelli (2011) vorgeschlagenen Strategien und Lösungsmöglichkeiten erfordert in der Tat ein hohes Maß an Sprachbe‐ wusstsein und Sprachgefühl. Die lokalen Verwaltungen sind stärker als die Zentralverwaltungen bemüht um die Überarbeitung der Verwaltungssprache, sei es, um deren Klarheit und Transparenz zu verbessern, sei es, um ihr diskriminierendes Potential zu eliminieren. Die letztgenannte Maßnahme, die bei Fachsprachen wie dieser in der Verwendung weiblicher Formen und dem Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 341 <?page no="342"?> 36 https: / / demetra.regione.emilia-romagna.it/ al/ articolo? urn=er: assemblealegislativa: leg ge: 2014; 6. (letzter Zugriff am 08.06.2024). 37 http: / / webtv.camera.it/ archivio? id=9106&position=0 (letzter Zugriff am 08.06.2024). weniger häufigen Rekurs auf das generische Maskulinum besteht, ist nur ein Aspekt einer umfassenderen Maßnahme, die den Wandel soziokultureller Verhaltensweisen von Frauen und Männern und damit auch die Überwindung von Vorurteilen, Bräuchen, Traditionen und jedweder anderer kultureller Praxis fördern soll, die auf der vermeintlichen Unterlegenheit der Frauen oder auf stereotypen Rollenmodellen von Frauen und Männern beruhen. Wie das (von Italien am 01. August 2014 ratifizierte) Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbuler Konvention) von 2011 zeigt, haben diese Bestrebungen inzwischen internationale Bedeutung erlangt. In Italien mehren sich entsprechende Initiativen, die sich auch auf regionaler und zentraler Ebene auswirken. So sind ‚geschlechtsspezifische Sprache und Wortschatz der verschiedenen Geschlechtsidentitäten‘ (Linguaggio di genere e lessico delle differenze) Gegenstand des am 27. Juni 2014 verabschiedeten Rahmengesetzes für Gleichstellung und gegen Diskriminierung der Region Emilia Romagna (Art. 9 unter 6, Titel III). 36 Wenige Monate später, am 12. November 2014, veranstaltete die für Chancengleichheit zuständige Abteilung der Präsidentschaft des Ministerrats ein Treffen in Rom zum Thema Il linguaggio declinato secondo il genere - Dibattito e riflessione sull'utilizzo di un linguaggio non discriminatorio rispetto al genere (‚Sprache und Gender - Debatte und Überlegungen zu einer hinsichtlich des Geschlechts nicht-diskriminierenden Sprache‘). Ziel dieser Veranstaltung war es, die Bedeutung und die Dring‐ lichkeit der Bemühungen um eine nicht-diskriminierende Sprache auch in unserem Land stärker ins Bewusstsein zu rücken. Im März 2015 forderte Laura Boldrini als Vorsitzende der Kammer sämtliche männlichen und weiblichen Abgeordneten offiziell dazu auf, im Parlament eine der amtlichen, sozialen und beruflichen Rolle der Frauen angemessene Sprache zu verwenden, mit der die geschlechtliche Identität voll und ganz respektiert wird. Anlässlich des Interna‐ tionalen Frauentags 2015 veranstaltete Boldrini zudem ein Fortbildungsseminar für Journalisten im Palazzo Montecitorio zum Thema Genere femminile e media - L’informazione sulle donne può cambiare (‚Weibliches Geschlecht und Medien - die Berichterstattung über Frauen kann sich ändern‘). 37 Die Resonanz war nicht durchgängig positiv; es wurden viele Einwände vorgebracht, doch dank der institutionellen Unterstützung wurde das Interesse an der Darstellung der Frau in der Sprache schließlich ein wichtiges Thema in der alltäglichen wie der medialen Kommunikation, wo es im Mittelpunkt von Debatten in den 342 Cecilia Robustelli <?page no="343"?> 38 Ab dieser Zeit wendet die Mediensprache sich auch der Darstellung der Gewalt gegen Frauen zu und offenbart so die Funktion von Sprache bei der Ausübung geschlechts‐ spezifischer Gewalt, wie sie in Berichten über Feminizide deutlich wird (Robustelli 2017), die vielfach auch Beispiele von Hassrede enthalten; vgl. hierzu die Allgemeine Politik-Empfehlung Nr. 15 der ECRI (Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats) über die Bekämpfung von Hassrede vom 08. Dezember 2015, veröffentlicht im Abschlussbericht des „Jo-Cox“-Ausschusses zu Phänomenen des Hasses, der Intoleranz, der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus. - Ausführlicher zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in den Medien siehe Giomi/ Magaraggia (2017: 12-13). 39 „i risultati non sembrano essere ancora quelli sperati, né a livello delle pubbliche am‐ ministrazioni, né a livello delle sedi di produzione legislativa e normativa“ (Piemontese 2023: 13). 40 https: / / www.pariopportunita.gov.it/ it/ politiche-e-attivita/ parita-di-genere-ed-empow erment-femminile/ strategia-nazionale-per-la-parita-di-genere-2021-2026/ (letzter Zu‐ griff am 08.06.2024). 41 „Promozione trasversale del principio di parità di genere in ogni ordine e grado di istruzione e formazione nonché introduzione di nozioni di gender mainstreaming nell’attività didattica: Erogazione di conferenze o lezioni frontali in classe sulla tematica del gender mainstreaming, da tenersi durante le ore curricolari da parte di personale qualificato, angesehensten nationalen Zeitungen stand. Das reichte allerdings nicht aus, um den geschlechtergerechten Sprachgebrauch generell in der Journalistensprache durchzusetzen. Selbst über Chiara Appendino, die als frisch gewählte Bürger‐ meisterin von Turin ausdrücklich darum gebeten hatte, mit einem weiblichen Titel angesprochen zu werden und sich auf ihrer Webseite auch entsprechend präsentierte, war in der Presse abwechselnd „la sindaco“, „il sindaco“ oder „la sindaca“ (‚die Bürgermeister/ der Bürgermeister/ die Bürgermeisterin‘) zu lesen. 38 Obwohl offizielle Vertreter des Staates mehrfach intervenierten und sich auch die interfraktionelle Arbeitsgruppe für Frauen, Rechte und Chancengleichheit der Initiative von Boldrini anschloss, blieben infolge der rigiden normativen Kodifizierung, der vor allem die Verwaltungssprache unterworfen ist, und der nach wie vor vorherrschenden Praxis, das Maskulinum auch bei der Referenz auf Frauen zu verwenden, sämtliche Bemühungen um die Anpassung der Sprache an die raschen Veränderungen der Gesellschaft zwangsläufig mühsam und fragwürdig. Und auch heute noch ist die Lage in dieser Hinsicht nicht zufriedenstellend: ‚Die Ergebnisse entsprechen offenbar noch nicht den Erwartungen, weder in der öffentlichen Verwaltung noch bei den Gesetzgebungs- und Regulierungs‐ behörden‘. 39 Und dies, obwohl die nicht-sexistische und geschlechtergerechte Sprache in der Strategia nazionale per la Parità di genere 2021-2026 (‚Nationale Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2021-2026‘) 40 unter den spezi‐ fischen Maßnahmen zur Erreichung der Gleichstellung in der Erziehung 41 und Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 343 <?page no="344"?> con possibile valutazione del numero minimo di ore/ interazioni con gli studenti.“ (‚Transversale Förderung des Prinzips der Gleichstellung der Geschlechter auf sämtlichen Stufen der Unterweisung an Schulen und in der beruflichen Bildung sowie Einführung in die Grundgedanken des Gender-Mainstreaming während des Unterrichts: Vorträge oder Frontalunterricht in der Klasse zum Thema Gender-Mainstreaming, die während der Unterrichtszeit von qualifizierten Lehrkräften übernommen werden, wenn möglich mit einer Bewertung der Mindestanzahl von Stunden für die Interaktion mit den Lernenden.‘) 42 „Revisione dei requisiti dei libri di testo e dei materiali formativi per incentivare gli editori a garantire visibilità alle donne: Revisione dei requisiti per la pubblicazione e/ o la raccomandazione d'acquisto dei libri scolastici di scuole primarie e secondarie, per assicurarsi di non promuovere stereotipi di genere, ma al contrario di incoraggiare messaggi di parità ed uguaglianza e promuovere esempi di donne che hanno dato un contributo fondamentale nello sviluppo della conoscenza e della materia in ques‐ tione, pena la non autorizzazione alla diffusione di tali testi in ambito scolastico.“ (‚Überarbeitung der Anforderungen an Schulbücher und Lehrmaterial, um die Verlage zur Gewährleistung der Sichtbarkeit von Frauen in ihren Veröffentlichungen zu bewegen: Überarbeitung der Anforderungen an Veröffentlichungen und/ oder Empfehlungen von Schulbüchern für Grund- und Sekundarschulen, damit sichergestellt ist, dass diese keine Geschlechterstereotype fördern, sondern im Gegenteil Botschaften der Gleichstellung und Gleichberechtigung unterstützen und Beispiele von Frauen beson‐ ders hervorheben, die maßgeblich zur Entwicklung des Wissens und der Thematik beigetragen haben; andernfalls werden solche Texte nicht zur Verwendung an Schulen zugelassen.‘) 43 „Promozione di un linguaggio che favorisca il dialogo ed il superamento di espressioni o manifestazioni sessiste. Adozione di un protocollo per il linguaggio non sessista e discriminatorio in tutta la Pubblica Amministrazione e nei Pubblici Uffici, nonché sensibilizzazione degli organi di informazione e giornalismo tramite corsi di formazione sul linguaggio sessista e discriminatorio di genere.“ 44 https: / / www.funzionepubblica.gov.it/ articolo/ ministro/ 07-10-2022/ parit%C3%A0-gene re-brunetta-bonetti-firmano-linee-guida (letzter Zugriff am 08.06.2024). der beruflichen Bildung 42 ausdrücklich genannt und als eines der transversalen Instrumente für sämtliche Ziele angeführt wird: ‚Förderung einer Sprache, die den Dialog und die Überwindung sexistischer Ausdrücke oder Äußerungen begünstigt. Verabschiedung eines Protokolls für die Verwendung nicht-sexistischer und nicht-diskriminierender Sprache in der gesamten öffentlichen Verwaltung und in öffentlichen Behörden; Sensibilisierung der Medien und der Journalisten durch Fortbildungskurse zur Frage sexistischer und geschlechterdiskri‐ minierender Sprache.‘ 43 In den Linee guida sulla Parità di Genere nell’Organizzazione e Gestione del rap‐ porto di lavoro con le Pubbliche Amministrazioni (‚Leitlinien zur Gleichstellung der Geschlechter in der Organisation und Verwaltung von Arbeitsverhältnissen in der öffentlichen Verwaltung‘), 44 die am 7. Oktober 2022 von der damaligen 344 Cecilia Robustelli <?page no="345"?> 45 „sensibilizzazione all’utilizzo di un linguaggio inclusivo sotto il profilo del genere, per evitare formulazioni che possano essere interpretate come di parte, discriminatorie o degradanti, perché basate sul presupposto implicito che maschi e femmine siano desti‐ nati a ruoli sociali diversi. Si raccomanda l’uso delle forme femminili corrispondenti ai nomi maschili o l’uso di entrambe le forme in ambito professionale, ad esempio per titoli professionali, nomi di funzioni e ruoli riferiti a donne. In alternativa, è sempre più accettata la prassi di sostituire la forma generica maschile con l’esplicitazione della forma maschile e di quella femminile“ (2022: 26). 46 „la lingua riflette strutture di cinquant’anni fa, riflette una rigidità e un rifiuto di novità e compromessi cosicché rimane la lotta e la speranza che le donne che sono state omesse Ministerin für Chancengleichheit und Familie und vom Minister für öffentliche Verwaltung verabschiedet wurden, sind die Forderungen nach einer Stärkung der sozialen und wirtschaftlichen Stellung der Frauen, einer besseren Vertretung von Frauen in internen Führungspositionen der öffentlichen Verwaltung und dem Gebrauch einer geschlechtergerechten Sprache noch deutlicher artikuliert: ‚Sensibilisierung für die Verwendung einer aus der Genderperspektive inklusiven Sprache, um Formulierungen zu vermeiden, die als voreingenommen, diskriminierend oder herabsetzend interpretiert werden könnten, weil sie auf der impliziten Voran‐ nahme beruhen, dass Männer und Frauen für unterschiedliche soziale Rollen bestimmt sind. Empfohlen wird der Gebrauch der weiblichen Entsprechungen maskuliner Substantive oder die Verwendung beider Formen im beruflichen Bereich, etwa bei Berufs-, Amts- und Rollenbezeichnungen, die auf Frauen verweisen. Daneben setzt sich die Praxis, an Stelle des generischen Maskulinums jeweils explizit die männliche und die weibliche Form zu verwenden, immer stärker durch.‘ 45 3.4 Schulwesen Auf die Notwendigkeit, sexistischen Modellen in der schulischen Erziehung und der didaktischen Praxis entgegenzuwirken, wurde bereits in den 1970er Jahren hingewiesen (Gallino 1973), und 1986 wurde das Thema in einer Studie zu den (damaligen) Grundschulen wieder aufgegriffen (Pace 1986). Im Lichte der Arbeit von A. Sabatini (1987) hat Bonkewitz (1995) mit ihrer Analyse einiger Schulgrammatiken gezeigt, dass ‚die Sprache darin Strukturen von vor fünfzig Jahren widerspiegelt und von Erstar‐ rung und Ablehnung von Änderungen und Kompromissen zeugt, weshalb der Kampf und die Hoffnung weiter bestehen, dass die Frauen, die in den Grammatiken nicht vorkommen und in der Sprache unsichtbar sind, sich in der Gesellschaft und der Sprache sichtbar machen und gehört werden.‘ 46 Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 345 <?page no="346"?> nelle grammatiche, che sono invisibili nella lingua, si facciano vedere e sentire nella società e nella lingua“ (Bonkewitz 1995: 109). 47 Zu den Teilnehmern von italienischer Seite gehörten die Präsidentschaft des Minis‐ terrats, die Abteilung für Chancengleichheit, der italienische Verlegerverband, das Mailänder Forschungsinstitut Cisem, die Firma Poliedra Progetti Integrati (Turin) sowie als übernationale Partner die Federación de Gremios de Editores de España und die Comiss-o para a Igualdade e para os Dereitos das Mulheres del Portogallo. An dieser Einschätzung sollte sich trotz vieler Versuche, das Problem anzugehen und die Lehrbücher zu überarbeiten, lange kaum etwas ändern. Mit dem Projekt Pari Opportunità e Libri di Testo (POLiTe, ‚Chancengleichheit und Schulbücher‘), das im Rahmen der europäischen Politik zur Gleichstellung von Mann und Frau sowie des Vierten Aktionsprogramms der Gemeinschaft zur Förderung der Chancengleichheit durchgeführt wurde und sich den For‐ derungen der Vierten Weltfrauenkonferenz (Peking 1995) anschloss, wurde das Thema 2000 erneut aufgegriffen. 47 Dieses Projekt, das sich an Autoren und Autorinnen, Verlagshäuser und Lehrende richtete, sollte ein Überdenken des Wissens aus der Perspektive der geschlechtlichen Identität fördern, des‐ gleichen eine kritische Lektüre der Unterrichtsmaterialien - und das sich daraus ergebende Umschreiben derselben - mit dem Ziel, den Gebrauch einer nicht-sexistischen Sprache und die Bildung von Geschlechtsidentität zu ge‐ währleisten. Die Bemühungen um die Erneuerung von Bildern, Grafik und Inhalten mussten von einer Reflexion über die Sprache begleitet werden, um zur Entstehung eines kritischen Sprachbewusstseins beizutragen, damit die Schülerinnen und Schüler lernen konnten, Sprachverwendungen zu erkennen, die Geschlechterunterschiede nicht respektieren, Modalitäten geschlechtlicher Subjektivität negieren oder sogar unmittelbar diskriminierend sind. Die Er‐ gebnisse wurden in einer Reihe von Artikeln veröffentlicht, darunter die Studie Lingua e identità di genere (Robustelli 2000), die das Verhältnis von Sprache und Geschlechtsidentität untersucht und Vorschläge zur Überwindung des sprachlichen Sexismus im größeren Zusammenhang des Prozesses der Konstruktion geschlechtlicher Identität macht. Ein im Rahmen von POLiTe erarbeiteter Codice di autoregolamentazione (‚Selbstregulierungskodex‘) wurde von den Mitgliedern des italienischen Verlegerverbands übernommen; damit sollte sichergestellt werden, dass dieses Ziel im Mittelpunkt der konkreten Planung und Ausarbeitung von Lehrbüchern und didaktischen Materialien für die Schulen stand. Das Projekt wurde jedoch nur unzureichend umgesetzt, und die Appelle zugunsten eines geschlechtersensibleren Sprachgebrauchs wurden nur selten gehört - eine weitere Bestätigung der schon aus früheren Arbeiten bekannten Situation, die auch in der Folgezeit andauern sollte (vgl. Biemmi 346 Cecilia Robustelli <?page no="347"?> 48 „il tema di un’equa rappresentazione dei generi nei testi scolastici non è stato assimilato adeguatamente nel nostro paese neppure sotto la spinta del Polite“ (Biemmi 2006: 13). 49 „nella costruzione di un sapere critico apparirebbe oggettivamente rilevante che bambini/ e e giovani fossero aiutati/ e a prendere consapevolezza, tra l’altro, della differenza di genere e dei ruoli che ai due sessi vengono attribuiti nella nostra società, con un’analisi degli stereotipi e dei pregiudizi che li costringono fin da piccolissimi a comportarsi secondo schemi normativi, pena la marginalizzazione e l’esclusione“ (Sapegno 2014: 8). 50 Risoluzione del Parlamento europeo del 12 marzo 2013 sull'eliminazione degli stereotipi di genere nell'Unione europea; https: / / www.europarl.europa.eu/ doceo/ document/ TA-7-20 13-0074_IT.html - Zur Rolle der EU im Prozess der Durchsetzung der Rechte und der ‚Gleichstellungskulturen‘ unter Einbeziehung der Bildungspolitik siehe die Beiträge in Di Sarcina (2014). 51 Vgl. https: / / viva.cnr.it/ wp-content/ uploads/ 2019/ 08/ piano-azione-contro-violenza-sess uale-genere-2015-2017.pdf (letzter Zugriff am 08.06.2024). 2019). 2006 hatte Biemmi bereits eine Untersuchung zum Thema Geschlechter und Sexismus in Schulbüchern vorgelegt, die mit einer gründlichen Analyse von Lehrbüchern für die Grundschule einen genaueren Einblick in die tatsächliche Lage des Sprachgebrauchs in der schulischen Praxis und den Schulbüchern er‐ möglicht hatte. Ihr Fazit lautet: ‚Die Frage einer gleichberechtigten Darstellung der Geschlechter in Schulbüchern wurde in unserem Land bislang - nicht einmal durch die Impulse von POLiTe - nur unzureichend berücksichtigt‘. 48 Sapegno (2014) kommt zu dem gleichen Schluss; die Wissensvermittlung in italienischen Schulen sei immer noch an der männlichen Kultur orientiert, während die schulische Erziehung traditionell doch Frauensache sei: ‚Man sollte meinen, für die Herausbildung eines kritischen Wissens sei es objektiv relevant, dass Kindern und Jugendlichen beider Geschlechter dabei geholfen wird, ein Bewusstsein für die Geschlechtsunterschiede und die Rollen zu entwickeln, die beiden Geschlechtern in unserer Gesellschaft zugewiesen werden, indem die Stereotype und Vorurteile analysiert werden, die sie von klein auf zwingen, sich nach normativen Mustern zu verhalten, um nicht marginalisiert und ausgegrenzt zu werden.‘ 49 Der Aufruf der europäischen Institutionen zur Beseitigung von Geschlechter‐ stereotypen 50 führte in diesen Jahren zu einer (geringfügigen) Wendung in der Schulpolitik des italienischen Staates. 2014 wird eine Expertengruppe zur Gendersprache bei der Präsidentschaft des Ministerrats eingerichtet; ein Jahr später wird der Piano d’azione straordinario contro la violenza sessuale e di genere (‚Außerordentlicher Aktionsplan gegen sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt‘) verkündet, 51 der unter Berufung auf das Projekt POLiTe ausdrücklich auch die Frage der Schulbücher anspricht. Die Vorschriften für das Schulwesen werden mit dem Gesetz vom 13. Juli 2015 Nr. 107 überarbeitet, das sich der Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 347 <?page no="348"?> 52 Riforma del sistema nazionale di istruzione e formazione e delega per il riordino delle disposizioni legislative vigenti Vgl. weiter die Linee Guida Nazionali Educare al rispetto: per la parità tra i sessi, la prevenzione della violenza di genere e di tutte le forme di discriminazione (‚Nationale Richtlinien für die Erziehung zum Respekt: für Geschlech‐ tergerechtigkeit, Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt und allen Formen von Diskriminierung‘), 2017 https: / / www.miur.gov.it/ documents/ 20182/ 0/ Linee+guida+Co mma16+finale.pdf/ ; Piano nazionale per l’educazione al rispetto (‚Nationaler Plan für die Erziehung zum Respekt‘, 2017) https: / / www.miur.gov.it/ documents/ 20182/ 0/ Piano+Na zionale+ER+4.pdf/ 7179ab45-5a5c-4d1a-b048-5d0b6cda4f5c? version=1.0 sowie die Linee di orientamento per la prevenzione e il contrasto del bullismo e cyberbullismo (‚Richtlinien zur Prävention und Bekämpfung von Mobbing und Cybermobbing‘, https: / / www.n otiziedellascuola.it/ legislazione-e-dottrina/ indicecronologico/ 2021/ febbraio/ DOCUME NTO_MI_20210213_18 (letzter Zugriff am 08.06.2024). 53 „Art. 1 c. 16. Il piano triennale dell'offerta formativa assicura l'attuazione dei principi di pari Opportunità promuovendo nelle scuole di ogni ordine e grado l'educazione alla parità tra i sessi, la prevenzione della violenza di genere e di tutte le discriminazioni, al fine di informare e di sensibilizzare gli studenti, i docenti e i genitori (…).“ - Vgl. hierzu auch Robustelli (2018a/ b). 54 Hier ist anzumerken, dass zu ebendieser Zeit eine lebhafte Debatte in Frankreich und anschließend auch in Italien über eingetragene Lebenspartnerschaften und die Rechte der LGBTQI+-Community geführt wurde. In Italien wurde über den sog. Zan-Geset‐ zesentwurf (nach dem Namen des Initiators, des P[artito]-D[emocratico]-Abgeordneten Alessandro Zan) diskutiert („Misure di prevenzione e contrasto della discriminazione e della violenza per motivi fondati sul sesso, sul genere, sull’orientamento sessuale, sull‐ ’identità di genere e sulla disabilità“, ‚Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt auf Grund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität und Behinderung‘). Problematik von Geschlecht und Diskriminierung annimmt (L. 107/ 2015, c. 16, art.1) 52 und es vielen Schulen auf diese Weise ermöglicht, Projekte und Aktionen zur Sensibilisierung und Schulung in ihren Dreijahresplan für das Bildungsangebot aufzunehmen: ‚Der Dreijahresplan für das Bildungsangebot gewährleistet die Umsetzung der Grund‐ sätze der Chancengleichheit, indem die Erziehung zur Geschlechtergerechtigkeit, zur Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt und aller Formen von Diskriminierung in allen Schularten und auf allen Stufen gefördert wird mit dem Ziel, die Lernenden, Lehrenden und die Eltern zu informieren und zu sensibilisieren (…).‘ 53 Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes setzte in Italien eine Kampagne gegen die vermeintliche „Genderideologie“ ein, die von einigen reaktionären Gruppen ausging; Befürchtungen wurden geäußert, die Fokussierung auf ‚Gender‘ könnte die natürliche Ordnung der Gesellschaft, den Unterschied der Geschlechter, die traditionellen gesellschaftlichen Beziehungen usw. zerstören. 54 Nach Überzeugung dieser Gruppen liefen die Überlegungen zum biologischen 348 Cecilia Robustelli <?page no="349"?> 55 Vgl. etwa Serianni/ Della Valle/ Patota (2020). Geschlecht als einem sozialen und kulturellen Konstrukt (und mithin zu einer Entsprechung von Sexus und Genus) auf die Negierung der natürlichen, auf Heterosexualität gegründeten Familie hinaus. Sie reagierten damit in einer kon‐ fusen und verzerrenden Weise auf Diskussionen, die bereits seit Längerem über die Interpretation von ‚Gender‘ geführt wurden, insbesondere von Seiten trans‐ feministischer Strömungen und der LGBTQI+-Community, die im Anschluss an Butler (1990) die binäre Interpretation des Konzepts in Frage stellten. Von „No-Gender“-Elternvereinen wurde kontrolliert, ob die Schulbücher womöglich ‚Botschaften‘ enthielten, die auf die ‚Genderideologie‘ zurückzuführen waren; andere Vereine, die sich für Bildungsfreiheit einsetzten, lancierten ihrerseits eine Kampagne zur Sensibilisierung der Eltern, damit sie für ihre Kinder möglichst solche Schulbücher wählten, die bereits weitgehend im Sinne der Gender-Erzie‐ hung und eines geschlechtergerechten Sprachgebrauchs konzipiert waren. Im letzten Jahrzehnt hat sich somit die Bereitschaft zu einer kritischen Refle‐ xion über die Notwendigkeit verstärkt, den Inhalt der Lehrbücher dahingehend zu aktualisieren, dass nicht länger geschlechtsbezogene Stereotype vermittelt werden und eine angemessene Darstellung des Beitrags der Frauen zum Wissen in allen Bereichen gewährleistet ist; darüber hinaus sind für eine ausgewogene Darstellung von Rollen und Geschlechteridentitäten tiefgehende Eingriffe in den Sprachgebrauch erforderlich. In sämtlichen neueren Studien zu dieser Frage, u. a. Corsini/ Scierri (2016), Pizzolato (2020) und Urru (2021), ist allerdings die Rede von der ‚leider noch immer aktuellen Erfordernis, Lehrbücher auf dem Schulbuchmarkt zu haben, in denen die Geschlechtsidentität respektiert wird‘ („l’esigenza - purtroppo ancora attuale - di avere sul mercato dei manuali scolastici attenti e rispettosi dell’identità di genere“; Urru 2021: 80). Immerhin werden in neueren von Sprachwissenschaftlern verfassten Grammatiken des gegenwärtigen Italienischen, von denen einige als Schulgrammatiken konzi‐ piert sind, 55 bei der Behandlung des grammatischen Genus auch Überlegungen zur Funktion von Sprache in Bezug auf die Darstellung von Frauen und Männern und zur Bildung und Verwendung weiblicher Formen angestellt. Das hängt damit zusammen, dass die Genderthematik in der Sprachwissenschaft inzwischen größere Beachtung findet und auf theoretischer Grundlage unter‐ sucht wird; in diesem Fall wurde die traditionelle Abschottung zwischen dem akademischen und dem schulischen Bereich also überwunden. Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 349 <?page no="350"?> 56 https: / / nonunadimeno.wordpress.com/ wp-content/ uploads/ 2017/ 11/ abbiamo_un_pia no.pdf (letzter Zugriff am 08.06.2024). 4 Inklusiver Sprachgebrauch im Italienischen Die Spuren des Sexismus in der italienischen Sprache - in der Alltagssprache, der Werbung, den Schulbüchern, der Verwaltungssprache und den Medien - werden inzwischen seit über dreißig Jahren erforscht. Diese Forschungsak‐ tivitäten sind weiterhin lebhaft und fruchtbar, auch hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Sprache und ‚Gender‘ im Sinne einer soziokulturellen Konstruktion des biologischen Geschlechts. Die Kluft zwischen wissenschaftlichen Studien und Überlegungen von Nichtfachleuten, über die in der Presse und im Fernsehen diskutiert wird, ist größer geworden; in den (in der Regel) unwissenschaftlich verlaufenden Mediendebatten kommen die unterschiedlichsten persönlichen Meinungen zum Ausdruck. Die in eben diesem Kontext um 2020 entstandene Diskussion über eine nicht-binäre Interpretation des Geschlechtsbegriffs, der zufolge die Beziehung zwischen Geschlecht und Sexus nicht eineindeutig ist, sondern sich in einer Vielzahl subjektiver Identitäten manifestiert, wurde auch in der breiteren Öffentlichkeit bekannt. Nach diesem Verständnis ist der Gegensatz von männlichem und weiblichem Geschlecht hinfällig, und es entsteht das Problem, wie sich diese unterschiedlichen Identitäten in der Sprache abbilden lassen. Die Fragestellung erinnert an eine den Philosophen und Soziologen vertraute Debatte. Ein Piano femminista contro la violenza maschile sulle donne (‚Feministischer Plan gegen die männliche Gewalt gegenüber Frauen‘) wurde bereits 2017 über das transfeministische Netzwerk Non Una Di Meno (‚Nicht Eine Weniger‘) verbreitet. In diesem Plan wird auf die Unzulänglichkeit einer Sprache wie der italienischen hingewiesen, deren Sprachsystem über lediglich zwei grammati‐ sche Geschlechter verfügt, die den biologischen Geschlechtern entsprechen, die ihrerseits auf lediglich zwei Geschlechteridentitäten beruhen; außerdem wird darin der Gebrauch des ‚universalen und neutralen‘ Maskulinums kritisiert. 56 Um Abhilfe zu schaffen, wurde vorgeschlagen, an Stelle der traditionellen Genusmarkierungen das @-Zeichen zu verwenden: ‚Die Sprache ist nicht nur eine soziale Institution oder ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein zentrales Mittel der Konstruktion individueller oder kollektiver Identitäten. Die italienische Sprache ist eine sexualisierte Sprache, die schon in ihrer Grammatik einen rigiden Binarismus des Genus reproduziert und etabliert (bei Substantiven, Pronomina und Adjektiven, deren Form sich je nachdem, ob sie 350 Cecilia Robustelli <?page no="351"?> 57 „il linguaggio non è solo un’istituzione sociale o uno strumento di comunicazione, ma anche un elemento centrale nella costruzione delle identità, individuali e collettive. La lingua italiana è una lingua sessuata, che già dalla sua grammatica riproduce e istituisce un rigido binarismo di genere (tra nomi, pronomi e aggettivi che cambiano a seconda se maschili o femminili) e una specifica gerarchia, in cui predomina il maschile, presentato come universale e neutro. In questo Piano abbiamo scelto di svelare la non neutralità del maschile utilizzando non solo il femminile, ma anche la @ per segnalare l’irriducibilità e la molteplicità delle nostre differenze. Consapevoli che le lingue mutano e si evolvono, proviamo a rendere il nostro linguaggio inclusivo per avere nuove parole per raccontarci e per modificare i nostri immaginari.“ (Piano femminista contro la violenza maschile sulle donne) 58 Hier ist zu bemerken, dass Boschettos Gebrauch von „un“ ausgerechnet in dieser Aussage die Interpretation von „appassionatǝ“ als einem Adjektiv im Maskulinum (und allem, was daraus folgt) nahelegt. 59 „un appassionatǝ di temi relativi all’inclusività di genere e linguistica, che, dopo aver sperimentato di persona le modifiche recentemente utilizzate in lingua inglese per renderla inclusiva, si è resǝ conto che l’italiano aveva bisogno di un intervento più radicale, a causa della natura flessiva della lingua stessa, e che le soluzioni finora adottate (asterischi, chiocciole, alternanza, uso della u, di cui parliamo) non erano sufficienti“. https: / / italianoinclusivo.it/ nascita (letzter Zugriff am 08.06.2024). männlich oder weiblich sind, verändert), ebenso wie eine spezifische Hierarchie, in der das - als universal und neutral angesehene - Maskulinum dominiert. In diesem Plan haben wir uns dafür entschieden, die Nicht-Neutralität des Maskulinums zu enthüllen, indem wir nicht nur das Femininum, sondern auch das @-Zeichen verwenden, um den irreduziblen Charakter und die Vielfalt unserer Unterschiede aufzuzeigen. Wir sind uns bewusst, dass Sprachen sich verändern und entwickeln, und daher versuchen wir, unsere Sprache inklusiv zu gestalten, so dass wir neue Formen haben, in denen wir uns erzählen und unsere Vorstellungen verändern können.‘ 57 Das zentrale sprachpolitische Anliegen des NUDM-Netzwerks ist die Zurück‐ weisung der binären Auffassung von Geschlecht, mit der lediglich ein männli‐ ches und ein weibliches Geschlecht und ein zweigeschlechtliches Verhältnis anerkannt wird, wie es für eine heteronormative, oppressive Gesellschaft cha‐ rakteristisch ist (Pusterla 2019). Schon ab 2015 zirkulierte im Netz ein Vorschlag von Luca Boschetto, ‚einem 58 leidenschaftlichen Fürsprecher von Themen der sprachlichen und genderspe‐ zifischen Inklusivität, der sich nach seiner persönlichen Erfahrung der im Englischen erfolgten Veränderungen im Sinne von Inklusivität bewusst wurde, dass für das Italienische als einer flektierenden Sprache radikalere Eingriffe erforderlich waren und die bislang eingesetzten Mittel (Sternchen, @-Zeichen, Alternanz, Verwendung von u, von denen bereits die Rede war) nicht ausreichten.‘ 59 Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 351 <?page no="352"?> 60 „di temi quali le disuguaglianze di genere, la violenza di genere, i diritti delle persone intersex o con variazioni nello sviluppo sessuale, delle minoranze sessuali, delle persone omosessuali e transgender“ (Boschetto; vgl. Anm. 59). Boschetto hatte den Vorschlag gemacht, maskuline und feminine grammatische Endungen im Singular durch das in einigen italienischen Dialekten vorkom‐ mende Schwa (IPA: / ə/ ) und im Plural mit / ɜ/ zu ersetzen. Webseiten, die sich ‚mit Themen wie Geschlechterungleichheit, geschlechtsspezifische Gewalt, Rechte von intersexuellen Menschen und Menschen mit Unterschieden in der sexuellen Entwicklung, sexuelle Minderheiten, Homosexuelle und Trans‐ gender-Personen‘ 60 beschäftigen, hatten diesen Vorschlag seinen Angaben zu‐ folge positiv aufgenommen, und das neue Symbol war auch in der Übersetzung eines Videospiels (! ) verwendet worden. Boschettos Vorschlag basierte nicht auf akademischen, wissenschaftlichen ‚Studien‘ und ‚Kenntnissen‘, die auch in Italien zu dieser Zeit längst etabliert waren. Der sexuelle und geschlechtliche Binarismus, die Heterosexualität als die ‚normale‘ Eigenschaft, das Verständnis von Sexus als einer unabänderlichen biologischen Gegebenheit und nicht als Produkt sozialer, kultureller und dis‐ kursiver Praktiken waren bereits von den Queer Theories in Frage gestellt worden (De Lauretis 1991). Schon Jahrzehnte vorher hatte Rubin, der die Einführung des soziokulturellen Genderkonzepts in die Sprachwissenschaft zugeschrieben wird, die Auffassung vertreten, Gender sei eine Klassifikation menschlicher Wesen, die von der Gesellschaft auf der Grundlage ihrer sexuellen Eigenschaften festgelegt werde, die biologische Sexualität widerspiegele und mithin eine binäre Konstruktion sei, die, wie sie betont, eine von der Gesellschaft auferlegte Einteilung sei (Rubin 1975). Es geht hier um ein Produkt der sexuellen Beziehungen, die von dem gesellschaftlichen System geschaffen und bestätigt werden durch die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau, in der diese zu ihrer Vollständigkeit finden. In einer ausschließlich auf Gender beruhenden Identität sieht Rubin jedoch eine Unterdrückung natürlicher Ähnlichkeiten, die Repression impliziert: Bei den Männern betrifft diese sämtliche Eigenschaften, die als verweichlicht gelten; bei den Frauen alle Eigenschaften, die als maskulin gelten. Diese Frage wurde von Butler in ihrem Werk Gender Trouble erneut aufge‐ griffen: „There is no gender identity behind the expressions of gender; that identity is performatively constituted by the very ‚expressions‘ that are said to be its results.“ (Butler 1990: 33). Diese performative Interpretation von Gender, die Anerkennung der Möglichkeit, so zahlreiche unterschiedliche Identitäten auszudrücken, stellt das binäre Verhältnis zwischen Ausdruck und Anerken‐ nung von Gender und Sprachgebrauch in Frage, insbesondere bezüglich der 352 Cecilia Robustelli <?page no="353"?> 61 Diese beiden Aspekte werden in späteren Arbeiten wieder aufgenommen und vertieft; vgl. D’Achille (2021), Robustelli (2021), De Santis (2022a/ b), Giusti (2022) und Thornton (2022). 62 Eine Übersicht über die sprachlichen Alternativen ist in Kenda (2022) zu finden. Verwendung des grammatischen Genus, das in vielen europäischen Sprachen mit der Unterscheidung von M/ F oder M/ F/ N realisiert wird. In Italien verläuft die erste Phase der Debatte über nicht-binäre geschlecht‐ liche Identitäten vornehmlich innerhalb der militanten Bewegungen, in erster Linie der Bewegungen für sexuelle Befreiung und die Rechte der Homosexu‐ ellen, aus denen die Theorisierungen von Gender sich kontinuierlich speisten. In dieser Zeit war die Gesellschaft in Italien und in anderen Ländern aufgerufen, Wege zu einer besseren Inklusion und mehr Respekt für Identitäten zu finden, die zuvor im Hinblick auf die Norm als grenzwertig angesehen wurden; dies erklärt das Interesse an einem Vorschlag, der scheinbar eine Möglichkeit bot, ihnen über den Sprachgebrauch Sichtbarkeit und Anerkennung zu geben. So wurde das Schwa zum Symbol nicht-binärer Identität und der Möglichkeit, alle Subjektivitäten darzustellen und frei auszudrücken. Es überrascht daher nicht, dass seine Verwendung auch von Personen außerhalb des NUDM und anderer Bewegungen akzeptiert und rasch verbreitet wurde, die sehr angetan waren von der Aussicht, die Sprache nun endlich auf nicht-diskriminierende und geradezu inklusive Weise verwenden zu können. Das Erscheinen des Artikels Allarmi siam fascistǝ von Mattia Feltri in der Tageszeitung La Stampa im Juli 2020 löste in der breiteren Öffentlichkeit eine lebhafte Diskussion aus. Die Linguistik wendet sich der Frage ihrerseits zu; die ersten Beobachtungen, die in nachfolgenden Studien wieder aufgegriffen werden, gelten den Schwie‐ rigkeiten, die mit dem Gebrauch von Symbolen, gleich ob Sternchen oder Schwa, einhergehen, z. B. inkongruente Schreibweisen und Probleme bei deren Einsatz im Mündlichen (D’Achille 2021). Doch vor allem wird betont, dass die Vorschläge für eine nicht-binäre Deklination nur schwer mit dem Sprachsystem des Italienischen zu vereinbaren sind, weil sie mit dessen phonologischen und morphosyntaktischen Eigenschaften nicht übereinstimmen - z. B. lässt sich die morphologische Kongruenz nicht realisieren und infolgedessen auch nicht die erforderliche Textkohäsion erreichen -, und die Zurücksetzung der sexuellen Differenz und die Einführung einer Art ‚Neutrum‘ die Kämpfe der letzten vierzig Jahre um die Präsenz und die Anerkennung der Frauen in der Sprache zunichtemachen würden. 61 Die Forderung nach einer sprachlichen Repräsentation nicht-binärer Identi‐ täten bleibt dennoch bestehen; um darauf zu reagieren, muss eine Alternative zu der Verwendung von Symbolen gefunden werden. 62 Bisher sind im Wesent‐ Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 353 <?page no="354"?> 63 Wie die Geschichte der Sprachwissenschaft zeigt, sind derartige Initiativen im Allge‐ meinen allerdings gescheitert; ein Beispiel sind die Sprachreformbestrebungen des faschistischen Regimes (vgl. hierzu Klein 1986). lichen zwei Gegenvorschläge vorgelegt worden, die sich zusammenfassend als Ausweitung der Verwendung des nicht markierten Maskulinums (D’Achille 2021) bzw. als Rekurs auf die bereits hinlänglich bekannten geschlechtsver‐ schleiernden Strategien beschreiben lassen (Robustelli 2012: 21), die nunmehr als Strategien der Inklusion umgedeutet werden. Von den wichtigen neueren Arbeiten ist insbesondere Giusti (2022) zu nennen, die die verschiedenen im Italienischen möglichen Inklusionsstrategien analysiert und dabei von ihrer eigenen Überzeugung ausgeht, ‚es sei ein unveräußerliches Recht von Personen, Ausdrücke und Strukturen zu verwenden, in der sie ihre eigene geschlechtliche Identität repräsentiert sehen‘ („che sia un diritto inalienabile della persona utilizzare termini e strutture in cui senta rappresentata la propria identità di genere“; Giusti 2022: 13). Die Ergebnisse bestätigen jedoch, dass die nicht-binären Vorschläge aus den oben genannten Gründen nicht in das Sprachsystem des Italienischen integrierbar sind und dazu beitragen, dass die Unsichtbarkeit der Frau auf‐ rechterhalten wird, ebenso wie der Gebrauch des ‚Prestige-Maskulinums‘ und des unmarkierten Maskulinums (vgl. hierzu auch Lavinio 2021: 38). Im Anschluss an eine ausführliche Einleitung über die Genuskategorie und deren Stellenwert in der Grammatik des Italienischen untersucht Thornton (2022) einige besondere Fälle von Genuskongruenz, die alte Frage des generischen oder unmarkierten Maskulinums und spezifische grammatikalische Probleme hinsichtlich der Verwendung des Schwa durch den Verlag effequ, der dieses Symbol übernommen hat. Aus dem Vergleich mit der Einführung einer Strategie in das Schwedische, die der für das Italienische vorgeschlagenen ähnelt, ergibt sich unter anderem, dass derartige Verwendungen sämtliche nicht-binären Identitäten ebenso wie die Identität der Frauen verschleiern, was offenbar von Personen, die diese sprachliche Strategie übernommen haben, zumindest für das Italienische noch nicht hinreichend berücksichtigt worden ist. Die Frage nach der Möglichkeit, eine bewusst herbeigeführte sprachliche Veränderung (wie die aus dem Gebrauch des Schwa resultierende) zu ‚institutionalisieren‘, muss einstweilen offenbleiben. 63 354 Cecilia Robustelli <?page no="355"?> Bibliographie Biemmi, Irene (2006): Sessi e sessismo nei testi scolastici. La rappresentazione dei generi nei libri di lettura delle elementari. Florenz: Tipografia del Consiglio regionale della Toscana. ―-(2019): Il progetto POLiTe venti anni dopo: una ricognizione critica sulla situazione italiana. Ricerche storiche XLIX (2), 43-55. Bonkewitz von, Tatiana (1995): Lingua, genere e sesso: sessismo nella grammaticografia e in libri scolastici della lingua italiana. In: Marcato, Gianna (Hrsg.), 99-110. Burr, Elizabeth (1995): Agentivi e sessi in un corpus di giornali italiani. In: Marcato, Gianna (Hrsg.), 349-365. Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London: Routledge. Cardinaletti, Anna/ Giusti, Giuliana (1991): Il sessismo nella lingua italiana. Riflessioni sui lavori di Alma Sabatini. Rassegna Italiana di Linguistica Applicata XXIII, 169-189. Codice di stile delle comunicazioni scritte ad uso delle amministrazioni pubbliche (1993): Proposta e materiali di studio. Rom. Presidenza del Consiglio dei Ministri: Istituto Poligrafico e Zecca dello Stato. Corsini, Cristiano/ Scierri, Irene (2016): Differenze di genere nell’editoria scolastica. Indagine empirica sui sussidiari dei linguaggi per la scuola primaria. Rom: Nuova Cultura. D’Achille, Paolo (2010): L’italiano contemporaneo. Bologna: Il Mulino. ―-(2021): Un asterisco sul genere. Italiano digitale 18 (3), 72-82. De Cesare, Anna Maria (2023): Giorgia Meloni, Meloni, la Meloni? La codifica degli antroponimi in biografie generate da ChatGPT e pubblicate su Wikipedia. Lingue e Culture dei Media 7 (1-2), 1-20. De Lauretis, Teresa (1991): Queer Theory. Lesbian and Gay Sexualities. An Introduction. Differences 3 (2), iii-xviii. De Santis, Cristiana (2022a): L’emancipazione grammaticale non passa per una e rovesciata. https: / / www.treccani.it/ magazine/ lingua_italiana/ articoli/ scritto_e_parlato/ Schwa.html? fbcli d=IwAR10kqL5XIMEohVTXeQ94gCvbNx3USe62 nx55E5hbznuNSJAEc6wonGPUU (letzter Zugriff am 09.02.2022). ―-(2022b): Emancipazione grammaticale, grammatica ragionata e cambia‐ mento linguistico. https: / / www.treccani.it/ magazine/ lingua_italiana/ speciali/ Schwa/ 3_De_Santis.html (letzter Zugriff am 21.03.2022). Di Sarcina, Federica (Hrsg.) (2014): Cultura di genere e politiche di pari opportunità. Il gender mainstreaming alla prova tra UE e Mediterraneo. Bologna: Il Mulino. Dove batte la lingua oggi? (2021) I Quaderni del Centro di Documentazione Alma Sabatini. Rom: Iacobelli. Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 355 <?page no="356"?> Eckert, Penelope/ McConnell-Ginet, Sally (2003): Language and Gender. Cambridge: Cambridge University Press. Fresu, Rita (2008): Il gender nella storia linguistica italiana (1988-2008). Bollettino di italianistica, n.s., v/ 1, 93-100 (später in: Lingua italiana del Novecento. Rom: Edizioni Nuova Cultura, 173-200). Gallino, Tilde Giani (1973): Stereotipi sessuali nei libri di testo. Scuola e città 4, 144-147. Giomi, Elisa/ Magaraggia, Sveva (2017): Relazioni brutali. Genere e violenza nella comu‐ nicazione mediale. Bologna: il Mulino, 12-13. Giusti, Giuliana (2022): Inclusività della lingua italiana, nella lingua italiana: come e perché. Fondamenti teorici e proposte operative. Deportate, esuli, profughe. Rivista telematica di studi sulla memoria femminile 48, 1-19. Guida alla redazione degli atti amministrativi (2011): regole e suggerimenti, a cura del gruppo di lavoro promosso da Istituto di teoria e tecniche dell’informazione giuridica e Accademia della Crusca. Florenz: ITTIG-CNR. Hellinger, Marlis (Hrsg.) (1985): Sprachwandel und feministische Sprachpolitik: Interna‐ tionale Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag. Holtus, Günter (Hrsg.) (1988): Lexikon der Romanistischen Linguistik. Bd. IV: Italienisch, Korsisch, Sardisch. Tübingen: Max Niemeyer. Jespersen, Otto (1922): Language: Its Nature, Development and Origin. London: Allen & Unwin. Kenda, Jana (2022): Grammatica inclusiva in italiano: le alternative linguistiche offerte e il riscontro dell’opinione pubblica. Linguistica 62 (1-2), 205-222. Klein, Gabriella (1986): -La politica linguistica del fascismo. Bologna: Il Mulino. Labov, William (1966): The Social Stratification of English in New York City. Washington: Center for Applied Linguistics. Lakoff, Robin (1973): Language and Woman’s Place. Language in Society 2 (1), 45-80. Lavinio, Cristina (2021): Generi grammaticali e identità di genere. Testo e Senso 23, 38. Lepschy, Giulio C. (1987): Sexism and the Italian Language. The Italianist 7 (1), 158-169. ―-(1989): Lingua e sessismo. In: Lepschy Giulio C. (Hrsg.): Nuovi saggi di linguistica italiana. Bologna: il Mulino, 61-84. Maraschio, Nicoletta (2011): Prefazione. In: Robustelli, IX-XI. Marcato, Gianna (1988): Lingua e sesso. In: Holtus (Hrsg.), 237-246. ― (Hrsg.) (1995): Donna & linguaggio. Convegno internazionale di studi, Sappada/ Plodn (Belluno). Padova: CLEUP. Meillet, Antoine (1921): La catégorie du genre et le conceptions des Indo-éuropéens. Linguistique historique et comparée. Paris: Champion, 211-229. Merlo, Clemente (1952): L’elemento femminile nella graduale uniforme alterazione del linguaggio avito. Orbis 1, 12-13. 356 Cecilia Robustelli <?page no="357"?> Motolese, Matteo (2005): Appunti sul sessismo linguistico. Lid'O, Lingua italiana d’oggi, 101-106. Pace, Rossana (1986): Immagini maschili e femminili nei testi per le elementari. Rom: Commissione nazionale per la realizzazione della parità tra uomo e donna. Presidenza del Consiglio dei ministri, Direzione generale della informazioni, della editoria e della proprietà letteraria, artistica e scientifica. Piemontese, M. Emanuela (2023): Il dovere costituzionale di farsi capire. Rom: Carocci. Pizzolato, Mariagrazia (2020): A scuola di sessismo? Un’analisi di alcuni libri di testo delle primarie. In: Ondelli, Stefano (Hrsg.): Le italiane e l’italiano: quattro studi su lingua e genere. Triest: EUT, 15-48. Pusterla, Michela (2019): Parlare femminista: la lingua di „Non una di meno“. In: Adamo, Sergia/ Zanfabro, Giulia/ Sava, Elisabetta Tigani (Hrsg): Non esiste solo il maschile. Teorie e pratiche per un linguaggio non discriminatorio da un punto di vista di genere. Triest: Edizioni Università di Trieste, 109-115. Robustelli, Cecilia (2000): Lingua e identità di genere. In: Serravalle, Ethel Porzio (Hrsg.): Saperi e libertà - Maschile e femminile nei libri, nella scuola e nella vita. Mailand: Associazione Italiana Editori, 53-68. ― (2011): Linee guida per l'uso del genere nel linguaggio amministrativo. Progetto genere e linguaggio: parole e immagini della comunicazione, svolto in collaborazione con l'Accademia della Crusca. Florenz: Comune, Comitato pari opportunità, https: / / acca demiadellacrusca.it/ sites/ www.accademiadellacrusca.it/ files/ page/ 2013/ 03/ 08/ 2012_li nee_guida_per_luso_del_genere_nel_linguaggio_amministrativo.pdf (letzter Zugriff am 24.08.2024). ―-(2012): Pari trattamento linguistico di uomo e donna, coerenza terminologica e linguaggio giuridico. In: Zaccaria, Roberto (Hrsg.): La buona scrittura delle leggi. Rom: Camera dei deputati, 181-198. ― (2013): „Infermiera sì, ingegnera no? “, https: / / accademiadellacrusca.it/ it/ contenuti/ tit olo/ 7368 (letzter Zugriff am 08.06.2024). ―-(2014a): Donne, grammatica e media. Suggerimenti per l’uso dell’italiano. Rom: stampato da Associazione G.i.u.l.i.a. ―-(2014b): Genere, grammatica e grammatiche. In: Sapegno, Maria Serena (Hrsg.): La differenza insegna. La didattica delle discipline in una prospettiva di genere. Rom: Carocci. ― (2017): Linguaggio e feminicidio. In: Babini, Valeria (Hrsg.): Lasciatele vivere. Bologna: Pendragon, 121-129. ―-(2018a): Genere, grammatica e formazione linguistica. In: Pizzoli, Lucilla (Hrsg.): Nel mezzo del cammin di nostra scuola. Rom: Società Dante Alighieri, 38-48. ―-(2018b): Lingua italiana e questioni di genere. Rom: Carocci. Zur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch 357 <?page no="358"?> ― (2019): Robot umanoidi, genere e linguaggio. Lingue e culture dei media 3 (1-2). https: / / riviste.unimi.it/ index.php/ LCdM/ article/ view/ 12402 (letzter Zugriff am 24.08.2024). ―-(2021): Lo schwa al vaglio della linguistica. Micromega 5, 6-18. ―-(2023): Sostenibilità, lingua e genere. In: Biffi, Marco/ Dell’Anna, Maria Vittoria, Gualdo, Riccardo (Hrsg.): L’italiano e la sostenibilità. Florenz/ Rom: Accademia della Crusca - goWare, 137-150. Rubin, Gayle (1975): The Traffic of Women. Notes on the “Political Economy” of Sex. In: Reiter, Rayna R. (Hrsg): Toward an Anthropology of Women. NewYork/ London: Monthly Review Press, 157-210. Sabatini, Alma (1985): Occupational Titles in Italian: Changing the Sexist Usage. In: Hellinger, Marlis (Hrsg.), 64-75. ―-(1987): Il sessismo nella lingua italiana, con la collaborazione di Marcella Mariani e la partecipazione alla ricerca di Edda Billi, Alda Santangelo. Rom: Presidenza del Consiglio dei ministri-Direzione generale delle informazioni della editoria e della proprietà letteraria artistica e scientifica. Sabatini, Francesco (1987): Più che una prefazione. In: Sabatini, A., 13-19. Sapegno, Maria Serena (2014): Scuola ed educazione al genere. In: dies. (Hrsg.): La differenza insegna. La didattica delle discipline in una prospettiva di genere. Rom: Carocci, 7-11. Serianni, Luca/ Della Valle, Valeria/ Patota, Giuseppe (2020): La grammatica italiana. Mailand: Pearson - Bruno Mondadori. Somma, Anna Lisa/ Maestri, Gabriele (Hrsg.) (2020): Il sessismo nella lingua italiana: trent’anni dopo Alma Sabatini. Pavia: Blonk. Stewart, Dominic (1987): Forms for Women in Italian. In: The Italianist VII, 170-192. Tagliavini, Carlo (1938): Modificazioni del linguaggio nella parlata delle donne. In: Scritti in onore di Alfredo Trombetti. Mailand: Hoepli, 87-142. Thornton, Anna M. (2022): Genere e igiene verbale: l’uso di forme con ə in italiano. Annali del Dipartimento di Studi Letterari, Linguistici e Comparati. Sezione Linguistica-11, 11-54. Tropea, Giovanni (1963): Pronunzia maschile e pronunzia femminile in alcune parlate del messinese occidentale. L’Italia dialettale XXVI, 1-29. Trudgill, Peter (1972): Sex, Covert Prestige and Linguistic Change in the Urban British English of Norwich. Language in Society-1 (2), 179-195. Urru, Chiara (2021): Tra le righe delle grammatiche: il sessismo linguistico nei libri di testo. Italiano a scuola 3, 67-82. Violi, Patrizia (1986): L’infinito singolare. Considerazioni sulle differenze sessuali nel linguaggio. Verona: Essedue. Voto, Arianna (Hrsg.) (2023): Quando le donne contano. Rom: Rai Libri. 358 Cecilia Robustelli <?page no="359"?> 1 Aus dem Spanischen übersetzt von Barbara Kaltz. Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen (16.-21.-Jahrhundert) 1 Carmen Galán Rodríguez Zusammenfassung: Der erste Teil des Artikels bietet einen Überblick über die Behandlung des Genus in der traditionellen Grammatikografie des Spanischen, die auf die griechisch-lateinische Tradition zurückgeht. Anschließend geht es um den Ausdruck von Genus in der indoeuropäi‐ schen Ursprache mittels der Bildung von Heteronymen in sehr spezifi‐ schen Begriffsfeldern (Verwandtschaftsbeziehungen; Haustiere), die auf das biologische Geschlecht referieren und damit wohl schon von Beginn an ideologisch geprägt waren. Des Weiteren wird die Behandlung des Heteronymenpaars padre/ madre und davon abgeleiteter Ausdrücke in den Ausgaben von 2001 und 2014 des Wörterbuchs der Real Academia Española analysiert. Hier soll gezeigt werden, dass die Bedeutung dieser Ausdrücke insofern weitgehend ideologisch geprägt ist, als ihnen die Annahme der kulturellen und sozialen Überlegenheit des Maskulinums gegenüber dem Femininum zugrunde liegt. Schlüsselbegriffe: Genus, Geschlecht, Heteronymie (padre/ madre), Wör‐ terbücher und Ideologie 1 Einleitung Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die Behandlung des Genus in der Grammatikografie des Spanischen von den Anfängen im 16. Jh. bis zu den jüngsten Ausgaben der Akademie-Grammatik. Sodann geht es um den Ausdruck von Genus in der indoeuropäischen Ursprache und die Bildung von Heteronymen im Bereich der Verwandtschaftsbeziehungen und der Haustiere. Schließlich wird die Darstellung des Heteronymenpaars padre/ madre und davon abgeleiteter Ausdrücke in den Ausgaben des Akademie-Wörterbuchs von 2001 <?page no="360"?> 2 Die Definition der Genuskategorie beruht etwa in den Werken der griechischen Gram‐ matiker Dionysius Thrax und Apollonius Dyskolos sowie der römischen Grammatiker Varro und Donatus auf den Kongruenz-Markern; vgl. hierzu Ramajo Caño (1987: 95-104). 3 Verfasser der Institutiones grammaticae (6. Jh. n.-Chr.). 4 Vtil, y breve institvtion […] in spanischer, französischer und lateinischer Sprache; Gramatica de la Lengua Vulgar de Espaňa. 5 Weitere Informationen zu den genannten frühen Grammatiken des Spanischen finden sich im ersten Band des Corpus représentatif des grammaires et des traditions historiques (Colombat/ Lazcano 1998), S. 277-296; vgl. etwa S. 277-278 zu Nebrija (1492). Zu den Werken der griechisch-lateinischen Grammatiktradition siehe ebd., S. 15-109; zu der Lateingrammatik von Sanctius siehe den Eintrag Nr.-1254, S.-98-100. 6 Hierzu auch Colombat/ Lazcano (1998, I: 307-308). 7 „Nuestra lengua solo conoce dos géneros en los nombres, el uno masculino, y el otro femenino. El primero conviene á los hombres, y animales machos; y el segundo á las und 2014 eingehend analysiert und dabei herausgearbeitet, dass die Bedeutung dieser Lexeme insofern weitgehend ideologisch geprägt ist, als sie auf der Annahme einer kulturellen und gesellschaftlichen Überlegenheit des Mannes beruht. 2 Von einer grammatischen zu einer ideologisch begründeten Konzeption des Genus Das Genus wurde in der griechisch-lateinischen Grammatiktradition, worauf die Grammatiken der europäischen Volkssprachen zurückgehen, auf zwei Ebenen behandelt, der formalgrammatischen und der semantischen. Aus gram‐ matikalischer Sicht ist es eine Kategorie, die in der syntaktischen Erscheinung der Kongruenz 2 realisiert wird; aus der (für den vorliegenden Beitrag zentralen) semantischen Perspektive wird Genus schon seit Priscian 3 auf den Ausdruck der Geschlechtsunterschiede bezogen, wobei formale Kriterien ebenfalls berück‐ sichtigt werden. In dieser Tradition stehen auch die frühen Grammatiken des Spanischen: Nebrija (1492), Cristóbal de Villalón (1558), zwei anonym erschienene Werke (1555 bzw. 1559), 4 Bartolomé Jiménez Patón (1614), Juan de Luna (1623) und Correas (1626) sowie die Lateingrammatik von Sanctius (Francisco Sánchez de las Brozas, 1587). 5 Diesem Traditionsstrang ist auch die erstmals 1771 erschienene Gramática de la lengua castellana zuzuordnen, die von der Real Academia Española [‚Königlich Spanischen Akademie‘] herausgegeben wird. 6 Es werden darin lediglich zwei Genera - Maskulinum und Femininum - angesetzt, mit der Begründung, ‚deren Bedeutung unterscheide die beiden [biologischen] Geschlechter‘; 7 diese 360 Carmen Galán Rodríguez <?page no="361"?> mujeres, y animales hembras. Estos son los primitivos, y verdaderos nombres de género masculino, y femenino, porque su significación distingue los dos sexos“ (1771: 9-13). [Hervorhebung: CGR] 8 Die Unterscheidung der beiden letztgenannten Subkategorien geht auf die lateingram‐ matische Tradition zurück. ‚Epicoena‘ sind „Bezeichnungen für beide Geschlechter, wobei von der Unterscheidung des Sexus als belanglos abgesehen wird“; ‚Communia‘ sind Substantive mit identischer Form für Maskulinum und Femininum, „wobei nur aus dem Attribut das gemeinte Geschlecht ersehen werden kann“ (Leumann/ Hofmann/ Szantyr 1965: 6-7). 9 Bemerkenswert ist, dass das Wort hier zusammen mit Maskulina angeführt wird, die Unbelebtes bezeichnen, während es in späteren Ausgaben als Heteronym behandelt wird (siehe unten). 10 „Género masculino es el que comprehende á todo varón y animal macho, y otros que no lo siendo se reducen á este género por sus terminaciones, como hombre, libro, papel“ (1796: 7). 11 Genauere bibliografische Nachweise für diese Ausgaben findet man in Gaviño Rodrí‐ guez (2015). 12 „Como entre todos los seres y objetos en que puede fijarse la atención del hombre, tienen primacía las personas, é immediatamente después los animales, resultó una clasificación por sexos; y se distinguió el hombre (ó varón) de la mujer, y el macho, de la hembra, constituyendo dos géneros […] masculino y […] femenino“ (1874: 17). Auffassung wird auch in den Ausgaben von 1772 und 1781 vertreten. In späteren Ausgaben der Akademie-Grammatik (1796; 1852) wird das Genus nach semantischen und formalen Kriterien weiter differenziert; daraus resultieren die Subkategorien Maskulinum, Femininum, Neutrum, ‚Epicoenum‘ und ‚Com‐ mune‘. 8 Das Maskulinum wird etwa in der Ausgabe von 1796 als jenes Genus definiert, ‚das alle männlichen Personen und männlichen Tiere einschließt, desgleichen andere Wörter wie hombre, 9 libro, papel (‚Mann‘, ‚Buch‘, ‚Papier‘), die nur durch ihre Endungen hierher gehören‘. 10 Als weitere, kombinatorisch definierte Subkategorie wird in der Ausgabe von 1854 das ‚ambige‘ Genus eingeführt: el/ la frente (‚Front‘/ ‚Stirn‘). Diese Genusklassifikation nach sechs Subkategorien wird in den Ausgaben von 1858, 1862, 1864, 1865, 1866, 1867 und 1870 beibehalten. 11 Semantische und formale Kriterien werden auch in den Ausgaben von 1874 und 1878 herangezogen; maßgeblich bei der Unterscheidung von Maskulinum und Femininum ist die Bedeutung (einschließlich des außersprachlichen Be‐ zugs): ‚Von allen Wesen und Gegenständen, auf die sich die Aufmerksamkeit des Menschen richten mag, kommt den Personen, und unmittelbar danach den Tieren, der Vorrang zu; daraus ergab sich eine Einteilung nach den Geschlechtern; und so wurde hombre (oder varón) von mujer unterschieden, und macho von hembra, woraus zwei Genera resultierten, das Maskulinum und das Femininum.‘ 12 Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 361 <?page no="362"?> 13 „nombres de cosas que no tienen sexo, […] ciertas razones de semejanza, fundadas en ideas erróneas“ (1874: 18) 14 „singularidad, no sólo de nuestra lengua, sino de otras“ (1880: 9). 15 „Como entre todos los seres y objetos en que puede fijarse la atención del hombre, tienen primacía las personas […]“; „Género es el accidente gramatical que sirve para indicar el sexo de las personas y de los animales y el que se atribuye á las cosas, ó bien para indicar que no se les atribuye ninguno“ (1888: 9). 16 In der Akademie-Grammatik wird die nominale Kategorie des Neutrums erst 1973 abgeschafft (vgl. § 2.2.3). Diese Klassifikation korreliert mit der Kongruenz der Artikel, Pronomina, Adjektive und Partizipien. Die übrigen zuvor angeführten Subkategorien des Genus werden nun als ‚Anomalie‘ angesehen, ebenso wie die Zuordnung der ‚Namen von Dingen, die kein Geschlecht haben, zu dem einen oder anderen Geschlecht‘: Diese müssten auf Grund ihrer ‚Bestimmung‘ eigentlich Neutra sein; ‚gewisse Ähnlichkeiten, die auf irrigen Vorstellungen beruhen‘, 13 geben bei ihrer Zuordnung zum Maskulinum bzw. Femininum jedoch den Ausschlag. In den Ausgaben von 1880, 1883 und 1885 werden dieselben Kriterien zugrunde gelegt, wobei die ‚Anomalien‘ der Subkategorien ‚Epicoenum‘, ‚Commune‘ und ‚Ambig‘ hier als ‚Besonderheit nicht nur des Spanischen, sondern auch anderer Sprachen‘ 14 behandelt werden. Diese Darstellung wird in den Ausgaben von 1888, 1890, 1895, 1900, 1901, 1904, 1906, 1908 und 1909 beibehalten; hier fließen in die semantische Definition des ‚Genus‘ als Markierung des biologischen Geschlechts auch morphologische Kriterien (d. h. die Konkordanz -o für das Maskulinum, -a für das Femininum) ein. Die (in sämtlichen Ausgaben gleichlautende) Aussage zur Vorrangigkeit der Personen (‚Da von allen Wesen und Gegenständen, auf die sich die Aufmerksamkeit des Menschen richten mag, den Personen der Vorrang zukommt […]‘), wird nun durchgängig ergänzt mit der Erläuterung: ‚Genus ist das grammatische Akzidens, das dazu dient, das Geschlecht der Personen und der Tiere sowie dasjenige anzuzeigen, das den Dingen zugeschrieben wird, oder aber anzuzeigen, dass ihnen keines zugeschrieben wird‘ (1888: 9). 15 Von den erstmals in der Gramática von 1911 vorgenommenen Neuerungen, die in den Ausgaben von 1913, 1916, 1917, 1920, 1924, 1928 und noch 1931 beibehalten werden, gehört die Unterscheidung von Maskulinum, Femininum und einem neutralen Genus zu den bedeutendsten. Die Verfasser der früheren Ausgaben hatten das Neutrum wohl erwähnt, um eine gewisse Analogie zur griechisch-lateinischen Grammatiktradition aufrechtzuerhalten, es als Genus‐ kategorie des Spanischen jedoch weder explizit angenommen noch verworfen. 16 362 Carmen Galán Rodríguez <?page no="363"?> 17 Wenngleich nicht unter dieser Bezeichnung - der Terminus taucht erstmals 1973 auf (vgl. § 2.2.6.b). 18 „[…] lo común es que se aplique una misma denominación a personas y animales de diferente sexo, distinguiendo éste por medio de diversas terminaciones del mismo vocablo (niño-niña, pastor-pastora, perro-perra)“ (1911: 9). 19 „[se] acomodan el artículo, el adjetivo, el pronombre y el participio, para concordar o concertarse con el substantivo a que se refieren“ (1911: 10). 20 „[…] los sustantivos apelativos de persona carecen de una forma fija que esté en correlación con la diferencia de sexo“ (1973: § 2.2.6). 21 Hierzu heißt es bei Varro (1990: 372-374; IX, 56) [hier zit.n. der Ausgabe 1833; Anm. der Übersetzerin]: „ideo equos dicitur et equa: in usu enim horum discrimina; corvus Des Weiteren wird in der Gramática auf zwei Verfahren zur Differenzierung des biologischen Geschlechts eingegangen, die Heteronymie 17 und die Flexion: ‚Gewöhnlich wird ein und dieselbe Bezeichnung für Personen und Tiere unterschiedli‐ chen Geschlechts verwendet, wobei der Unterschied mittels verschiedener Endungen der betreffenden Bezeichnung zum Ausdruck kommt: niño-niña, pastor-pastora, perro-perra (‚Junge‘-‚Mädchen‘, ‚Hirte‘-‚Hirtin‘, ‚Hund‘-‚Hündin‘)‘. 18 Dies deutet darauf hin, dass das Genus hier als eine dem Substantiv inhärente und (wie im Lateinischen) unveränderliche Kategorie aufgefasst wird, wenn‐ gleich insofern eine äußerliche Kongruenz mit den Endungen -o (Maskulina) bzw. -a (Feminina) angenommen wird, als ‚der Artikel, das Adjektiv, das Pronomen und das Partizip angepasst werden, um mit dem Substantiv über‐ einzustimmen, auf das sie sich beziehen‘. 19 In der Akademie-Grammatik von 1973 wird dieser Gedanke erneut aufgegriffen (vgl. § 2.2.3, § 2.2.4) und im Zusammenhang mit dem Genus auch die Form der Namen diskutiert: ‚[…] den appellativen Personenbezeichnungen mangelt es an einer festen Form, die mit dem Geschlechtsunterschied korreliert‘ (§ 2.2.6). 20 Noch in der Akademie-Grammatik von 2009 (Nueva gramática de la lengua española (I: 83; nachstehend: NGLE) heißt es, bei Substantiven, die belebte Wesen bezeichnen, liefere das grammatische Genus semantische Informationen, da es in der Regel das ihnen gemäße biologische Geschlecht kennzeichne, sei es durch Hinzufügung von Endungen oder Suffixen an den Wortstamm oder Rückgriff auf unterschiedliche Wurzeln (wie im Fall von Heteronymen). Die traditionellen Subkategorien ‚Commune‘ und ‚Ambig‘ werden in der NGLE nicht mehr als Genera aufgefasst; an ihrer Stelle werden zwei Gruppen von Substantiven beschrieben, die sich hinsichtlich des Genus unterschiedlich verhalten. Ungeachtet dieser Beziehung zwischen der außersprachlichen Kategorie des biologischen Geschlechts und der grammatischen Genuskategorie ist das Genus weit davon entfernt, als motivierte Kategorie interpretiert zu werden. 21 In der Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 363 <?page no="364"?> et corva non, quod sine uso id, quod dissimilis naturae. Itaque quaedam aliter olim ac nunc: nam est tum omnes mares et feminae dicebantur columbae, quod non erant in eo usu domestico quo nunc, et nunc contra propter domesticos usus quod internovimus, appellatur mas columbus, femina columba“ (‚Daher sagt man equos [Pferd] und equa [Stute], denn hier ist die Unterscheidung (nach dem Geschlecht) gebräuchlich; jedoch nicht corvus [Rabe] und corva, denn hier ist der natürliche Unterschied ohne Nutzen. Daher unterscheidet sich zuweilen auch der heutige Gebrauch von dem älteren: Früher wurden die Männchen und Weibchen (von Tauben) unterschiedslos columbae genannt, weil sie anders als heute noch keine Nutztiere waren, und nun wird das männliche Tier columbus und das weibliche columba genannt.‘) 22 Ähnliche Ausführungen finden sich auch bei Huarte de San Juan (1575: bes. 627 f.). 23 „Mater dicitur, quod exinde efficiatur aliquid. Mater enim quasi materia; nam causa pater est.“ 24 Vgl. Isidor von Sevilla (1993: XI, 2: 17-19): „Vir nuncupatus, quia maior in eo vis est quam in feminis: unde et virtus nomen accepit; sive quod vi agat feminam. Mulier vero a mollitie, tamquam mollier, detracta littera vel mutata, appellata est mulier […] Vtrique enim fortitudine et inbecillitate corporum separantur. Sed ideo virtus máxima viri, mulieris minor, ut patiens viri esset; scilicet, ne feminis repugnantibus libido cogeret viros aliud appetere aut in alium sexem proruere.“ (‚Der Mann [vir] ist so benannt, weil bei ihm die Stärke [vis] größer ist als bei den Frauen, daher auch virtus [‚Mannhaftigkeit/ Tugend‘], oder weil er mit Gewalt eine Frau entführt. Dagegen ist die Frau [mulier] nach mollities [‚Weichheit‘], gleichsam ‚mollier‘, unter Verlust oder Veränderung eines Buchstabens, mulier benannt. … Beide werden durch die Stärke bzw. westlichen grammatikografischen Tradition hat es im Übrigen nicht an Versu‐ chen gefehlt, die Motivierung mit einer vermeintlich ‚natürlichen Ordnung der Dinge‘ zu begründen, in der ‚Geschlecht‘ und ‚Zeugung‘ gleichgesetzt werden. Auf dieser Grundlage konnte man das Maskulinum als das wertvollere, frucht‐ barere und aktivere Geschlecht ansehen und es der Schwäche und Passivität gegenüberstellen, die dem Femininum zugeschrieben wurde. Am deutlichsten heißt es hierzu bei Aristoteles (Hrsg. Drossart Lulofs 1965: IV, 728aff., 729a, 767a): ‚[…] bei der Zeugung liefert die Frau keinen Samen, ihre Rolle ist völlig passiv, die aktive, motorische Funktion kommt ausschließlich dem Mann zu‘. Daraus wurde der Schluss gezogen, der weibliche Logos sei unvollständig und es mangele ihm an Vernunft, was wiederum eine Erklärung für die Schwäche der Frauen lieferte. 22 So heißt es bei Isidor von Sevilla (1993: IX, 785): ‚Man spricht von mater, weil aus ihr etwas entsteht. Mater ist gewissermaßen die Materie, pater die Ursache.‘ 23 In dieser auf aktive bzw. passive Eigenschaften gegründeten Differenzierung von Maskulinum und Femininum ist womöglich der erste explizite Hinweis auf eine ideologisch begründete Beschreibung des Genus zu sehen. Weitere Eigen‐ schaften, die die Beziehung zwischen Genus (‚Zeugungsakt‘, ‚aktiv‘) und dem maskulinen Geschlecht noch verstärkten, wurden in späteren mittelalterlichen Abhandlungen erörtert. 24 Das Maskulinum wird insofern als das maßgebliche 364 Carmen Galán Rodríguez <?page no="365"?> Schwäche ihrer Körper voneinander geschieden. Der Unterschied zwischen Mann und Frau liegt in der Stärke und der Schwäche der Körper, denn der Mann ist stärker, die Frau schwächer, weshalb sie dem Mann unterworfen ist; natürlich damit nicht die Begierde, falls die Frauen sich ihnen widersetzen würden, die Männer zwänge, etwas anderes zu begehren oder sich einem anderen Geschlecht zuzuwenden.‘) - Die genannten Eigenschaften wurden in der Folgezeit beibehalten, bis hin zu Grimms animistischer Theorie im 19. Jh.; vgl. hierzu Galán (2020) und den Überblick in Rodríguez Díez (2005: § 3.2) zur Kritik an diesem animistischen Idealismus. 25 Von allen untersuchten Grammatikern ist Sánchez de las Brozas (der sich der Klassifika‐ tion Priscians anschließt) der einzige, der die Mitwirkung der Frau bei der Fortpflanzung erwähnt (1587/ 1995: 67): „[…] genera duo esse dicimus, quae sola nouit ratio naturae, nam quia per mares et foeminas propagarentur genera, genus dictum fuit.“ (‚Wir sagen, es gibt zwei Genera, die die Natur allein kennt, denn weil durch Männer und Frauen die Geschlechter fortgepflanzt werden, wurde es Genus genannt‘). - Auf vergleichbare Aussagen über die Rolle von Mann und Frau bei der Fortpflanzung wird in Galán (2020) eingegangen. 26 Karl Richard Lepsius zieht Beispiele aus dem Hamitischen heran, um zu begründen, dass die Unterscheidung zwischen den Genera natürlich ist, womöglich auch ein universaler Prozess. In dieser Sprache wird Lepsius zufolge das feminine Genus mittels Suffixen aus der männlichen Form geschaffen, vergleichbar mit der Schaffung der Frau aus einer Rippe Adams, weil der Mann der Schöpfer der Sprache ist: „Da der Mann die Sprache bildet, so geht die Unterscheidung der Geschlechter von der Aussonderung des Femininums aus, daher wir dieses vorzugsweise ausgebildet finden. Es ist eine Steigerung, wenn auch das Maskulinum seinen besondern Ausdruck erhält“ (1880: XXII). 27 Vgl. hierzu Meillet (1931: 29): „Si on veut se rendre compte de ceci que dans les langues qui ont une distinction du masculin et du féminin, le féminin est toujours dérivé du masculin, jamais la forme principale, on ne le peut évidemment qu’en songeant à la situation sociale respective de l’homme et de la femme à l’époque où se sont fixées ces formes grammaticales” [‚Wenn man sich bewusst macht, dass das Femininum in den Sprachen, die eine Unterscheidung von Maskulinum und Femininum haben, stets vom Maskulinum abgeleitet und niemals die Hauptform ist, dann muss man sich natürlich die jeweilige Stellung von Mann und Frau zu der Zeit, in der sich diese grammatischen Formen verfestigt haben, vor Augen führen‘]. Geschlecht angesehen, als es aktiv zur Zeugung beiträgt, 25 während das Femi‐ ninum als ein vom Maskulinum abgeleitetes, sekundäres Genus aufgefasst wird. 26 Wie die nachstehende Analyse der Heteronyme zeigt, sollte dies Anlass zu allerhand Kontroversen geben. 27 Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 365 <?page no="366"?> 28 Vgl. hierzu Leumann/ Hofmann/ Szantyr (1965: 6) „Der älteste Zustand liegt vor in der Bezeichnung des [natürlichen] Geschlechts durch lexikalisch verschiedene Wörter (Heteronymie): pater: mater.“ 29 Ich verwende diesen vereinfachenden Terminus speziell im Hinblick auf die Unter‐ scheidung, die sich im Urhethitischen und in den Sprachen der ältesten belegten Sprachfamilie, der anatolischen, etabliert hat. Die Differenzierung von Maskulinum und Femininum bei Bezeichnungen von Belebtem ist erst später erfolgt, in der dritten Entwicklungsstufe des Indoeuropäischen, aus dem die heutigen indoeuropäischen Sprachen hervorgingen. Siehe hierzu Rodríguez Adrados et al. (1995-1996) und García Calvo (2003) sowie Meiser und Stevanović im vorliegenden Band (Anm. d. Hrsg.). 30 Auch in Sprachen ohne Nominalgenus wie dem Englischen ist die lexikalische Diffe‐ renzierung des biologischen Geschlechts bei Animata-Bezeichnungen möglich, die als zentral angesehen werden: girl/ boy; bull/ cow; horse/ mare. In solchen Fällen korreliert das grammatische Genus mit einem spezifischen semantischen Merkmal; so kommen girl das semantische Merkmal [+ weiblich] und das grammatische Merkmal [+ Femi‐ ninum] zu und entsprechend boy das semantische Merkmal [+ männlich] und das grammatische Merkmal [+ Maskulinum]. 31 Vgl. Sánchez-Lafuente (2006: 949): „La indicación de sexo no tenía importancia en la mayoría de los casos, como se ve por el hecho de que los animales jóvenes son designados por masculino o por neutro. Sólo cuando se tiene necesidad de especificar para guardar a la hembra y dedicar el macho al sacrificio se indica por la forma de sexo femenino“ (‚In den meisten Fällen war die Angabe des Geschlechts unerheblich, wie etwa die Bezeichnungen von Jungtieren zeigen, die entweder Maskulinum oder Neutrum sind. Die weibliche Form wird nur dann herangezogen, wenn eindeutig ausgedrückt werden soll, dass es darum geht, das Weibchen überleben zu lassen und das Männchen zu opfern‘). 3 Heteronyme (oder die geschlechtliche Ordnung der Welt) 28 In der indoeuropäischen Ursprache 29 wurde lediglich nach den Merkmalen belebt (zur Bezeichnung lebender Wesen oder wirkender Kräfte) und unbelebt (für Gegenstände) unterschieden (Sánchez-Lafuente 2006); biologische Aspekte waren demnach irrelevant. Was heute mit genusdifferenzierenden Morphemen (unterschiedlichen Ausdrucksformen wie niñ-o/ niñ-a) bezeichnet wird, wäre in der indoeuropäischen Ursprache unterschiedslos als belebt markiert worden. Dass die Kategorie des biologischen Geschlechts nicht grammatikalisiert war, bedeutet indessen nicht, dass eine Unterscheidung der Geschlechter nicht er‐ folgen konnte, wenn das sinnvoll erschien, zumal bei der sprachlichen Erfassung der Rolle der beiden Geschlechter bei der Fortpflanzung. Dabei kamen zwei lexikalische Verfahren zum Einsatz, der Wechsel der Wurzel (Heteronymie; Bei‐ spiele sind etwa die lateinischen Wortpaare pater/ mater und frater/ soror) 30 und die Movierung eines unmarkierten Substantivs durch Hinzufügung eines ge‐ schlechtsmarkierten Substantivs wie *g w enā- (mujer ‚Frau‘; hembra ‚Weib‘), aus der die lateinischen Fügungen vom Typ agnus femina hervorgegangen sind. 31 Das führte wiederum zu einer weiteren Opposition zwischen Maskulinum 366 Carmen Galán Rodríguez <?page no="367"?> Die Movierung von Substantiven ist im Spanischen bei Epikoina gebräuchlich; bei den Tierbezeichnungen werden die Ausdrücke macho y hembra (perdiz macho/ perdiz hembra) verwendet; bei Personenbezeichnungen werden die Adjektive masculino oder femenino (personaje femenino/ masculino) hinzugesetzt. Im Englischen dient hingegen ausschließlich das feminine Pronomen als Marker: bear/ she-bear. Roca (2006: 398, Anm. 49) bestreitet (nicht als Einziger) die Existenz eines ‚epizenen‘ Genus und sieht darin lediglich ein Phänomen der Kongruenz im Femininum oder Maskulinum: „Sólo un puñado de nombres de animales (generalmente animales domésticos, de granja o salvajes familiares al hombre) presentan alternancia de género relacionada con el sexo: el perro ~ la perra, el cerdo ~ la cerda, el león ~ la leona, y otros pocos“ (‚Nur eine Handvoll Tiernamen (in der Regel Bezeichnungen für Haus- und Nutztiere sowie dem Menschen bekannte wilde Tiere) weist Genusalternanz mit Bezug auf das biologische Geschlecht auf: el perro ~ la perra, el cerdo ~ la cerda, el león ~ la leona und einige andere‘). 32 In der Forschung besteht Uneinigkeit über den Ablauf dieses Prozesses. Nach Brugmann (1905) setzte er mit den Substantiven ein, während unter anderem Meillet (1931) und Martinet (1956) annehmen, er sei von den Demonstrativpronomina ausgegangen (Sánchez-Lafuente 2006: 948-949). und Femininum (Bezeichnungen für Belebtes mit biologischem Geschlecht) einerseits und Neutrum (Unbelebtes ohne biologisches Geschlecht) andererseits. Zu diesen beiden lexikalischen Mitteln kam noch die Spezialisierung mancher Endungen auf die Bezeichnung des Femininums hinzu, die morphologische Movierung bei Wortstämmen auf *-ā, die dann zur Markierung der Kongruenz dienten. 32 Das erste Verfahren zur Markierung des maskulinen und femininen Genus bei Bezeichnungen von Belebtem ist indessen eindeutig kein morphologisches, sondern ein lexikalisches, gleich, ob es um Wechsel der Wurzel oder (seltener) Movierung des Substantivs geht. Damit lässt sich explizit auf Männer und Frauen bzw. deren Tätigkeiten referieren; wie Rodríguez Adrados et al. (1995) ausgeführt haben, ist der Ursprung des Genus aus dieser semantischen Sicht mit großer Wahrscheinlichkeit als kulturell begründet zu sehen. Zudem besteht hier ein enger Zusammenhang mit der patriarchalischen Verteilung der sozialen Rollen und Tätigkeiten bei den Völkern indoeuropäischer Sprache, die für sämtliche Mitglieder der Gesellschaft galt, ebenso wie für die Tiere, mit denen sie zusammenlebten. Auf dieser Grundlage bildeten sich für jede Gruppe un‐ terschiedliche Rechte, Räume, Verantwortlichkeiten, Einschränkungen, Strafen und Belohnungen heraus, was den Abbau dieser stereotypen Machtstrukturen sehr erschwerte. Ungeachtet der starken Motivation, die dem biologischen Geschlecht bei der Unterscheidung von Belebtem wohl zukommt, sind heteronyme Wortpaare sehr selten, denn Heteronymie ist im Unterschied zur Suffigierung ein und der‐ selben lexikalischen Basis (niñ- + -o/ -a) ein wenig ökonomisches lexikalisches Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 367 <?page no="368"?> 33 Das gilt auch für die Bezeichnung von Haustieren, die dem Menschen von Nutzen sind: toro/ vaca, caballo/ yegua, oveja/ carnero; darauf hatte für das Lateinische bereits Varro hingewiesen. Verfahren der Genusmarkierung. Andererseits ist dieses Verfahren insofern ein überaus bedeutender Parameter der Strukturierung des häuslichen und gesellschaftlichen Lebens, als es um menschliche Wesen im Allgemeinen, um die Spezies, geht (hombre/ mujer); Heteronymie organisiert insbesondere die Formalisierung der sozialen und familiären Beziehungen zwischen Männern und Frauen (padre/ madre). 33 Daher liegt die Annahme nahe, dass die entspre‐ chenden Ausdrücke ideologisch konnotiert sind und deren Konnotationen sich in den Wörterbuchdefinitionen widergespiegelt finden. Dass heteronyme Substantive in Wörterbüchern in gesonderten Einträgen und alphabetisch voneinander getrennt verzeichnet sind, hängt damit zu‐ sammen, dass sie eine Wahl zwischen geschlechtlich unterschiedlichen Refe‐ renten voraussetzen. Bezeichnungen für Frauen (mujer, madre) bzw. weibliche Tiere (yegua, vaca, oveja) wird feminines Genus zugeordnet, während Bezeich‐ nungen für Männer (hombre, padre) bzw. männliche Tiere (caballo, toro, carnero) Maskulina sind. ‚Hembra‘ und ‚macho‘ sind keine Spezifikationen des gramma‐ tischen Genus, sondern semantische Merkmale, Bestandteile der Bedeutung des jeweiligen Substantivs. Diese Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, als sie zunächst einmal impliziert, dass man bei Heteronymen nicht von Oppositi‐ onsbeziehungen des Genus sprechen sollte, sondern von der Opposition (oder besser gesagt Komplementarität) lexematischer Bedeutungen, die keinesfalls als ein formales Zeichen von Genus zu sehen ist. Heteronyme bilden mithin keine eigene Kategorie des grammatischen Genus, die von den Kategorien Maskulinum und Femininum unterschieden wäre; es sind vielmehr Zeichen, die auf das männliche (varón) bzw. weibliche (mujer) Individuum derselben Begriffsklasse (geschlechtliches Wesen) verweisen, und zwar nicht auf gram‐ matischer, sondern auf lexikalischer Ebene. Infolgedessen sind die nachstehend analysierten Ausdrücke hombre und mujer bzw. padre und madre nicht in einer Oppositionsbeziehung zu sehen. Sie verweisen auf unterschiedliche Referenten und beinhalten ein ausschließendes Sem ‚männlich‘ bzw. ‚weiblich‘, das in jedem Fall auf eine Auswahl außersprachlicher Referenten verweist. Begreift man sie als gegensätzlich, verwechselt man das grammatische Genus, d. h. eine morphologische Kategorie, mit einer ihr eigenen semantischen Besonderheit, mit dem biologischen Geschlecht, einer Begriffskategorie. Eine weitere Frage, auf die ich anhand von Beispielen näher eingehen werde, betrifft die Aufladung der Seme ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, die hombre bzw. mujer definieren, mit ideologischen Konnotationen; diese Konnotationen können wiederum in die 368 Carmen Galán Rodríguez <?page no="369"?> 34 Auf die Frage der Neutralisierung mancher Heteronyme durch das generische Masku‐ linum kann im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden. Gutiérrez Ordóñez (2020: 673-674) beschreibt das Heteronymenpaar padre/ madre als ein beide Ausdrücke umfassendes Kollektivum: Der Plural von padre (padres ‚Eltern‘) schließt beide Komponenten des Paars ein und hat demnach die Funktion eines Kollektivums, nicht die eines Epizens. Anders als das Epizen, in dem die Unterscheidung ‚männ‐ lich‘/ ‚weiblich‘ neutralisiert ist, sind die Begriffe ‚Vater‘ und ‚Mutter‘ in dem Kollek‐ tivum notwendig präsent. 35 Rodríguez Díez (2005: 129) zufolge ist die Beibehaltung dieser Heteronympaare im Lateinischen (und damit in den romanischen Sprachen) ‚unter anderem‘ („entre otras cosas“) darauf zurückzuführen, dass ‚das Genus im Lateinischen mit dem Lexem bzw. dem Stamm verbunden war, der die Deklination bestimmte, und nicht mit spezifischen Endungen oder Formantien‘ („en latín el género estaba ligado al lexema o tema que determinaba la declinación, no a desinencias o formantes específicos“). Nach meiner Auffassung sind diese ‚anderen Dinge‘ ideologisch begründet; vgl. hierzu bereits Rodríguez Adrados et al. (1995: Bd. II. Morfología nominal y verbal, 223). allgemeine Definition der betreffenden Heteronyme einfließen. Darüber hinaus müsste die Einbeziehung eines spezifischen Sems, das mit dem biologischen Geschlecht verbunden ist, grundsätzlich implizieren, dass ein Ausdruck unter keinen Umständen eine generische Bedeutung annehmen kann, die zugleich maskuline und feminine Referenzen beinhaltet; das trifft jedoch auf manche Substantive nicht zu, vgl. hombre(s) ‚Mensch(en)‘ (Mann/ Männer + Frau(en)) oder padres ‚Eltern‘ (Väter + Mütter); vgl. NGLE § 2.2l. 34 Heteronyme werden nach formalen Kriterien in zwei Gruppen eingeteilt (Ambadiang 1999: § 74.2.2.2): 1. Substantive, die eine referentielle Opposition und eine unterschiedliche lexikalische Basis haben, ohne Genusmovierung durch Suffigierung: padre/ madre, hombre/ mujer, marido/ mujer, varón/ mujer, patriarca/ matriarca, sor/ fraile (‚Vater‘/ ‚Mutter‘, ‚Mann‘/ ‚Frau‘, ‚Ehemann‘/ ‚Ehefrau‘, ‚Mann‘/ ‚Frau‘, ‚Patriarch‘/ ‚Matriarchin‘, ‚Schwester/ Mönch‘); 2. Substantive, die eine referentielle Opposition und eine unterschied‐ liche lexikalische Basis beibehalten, jedoch Genusmovierung durch Suffigierung aufweisen: macho/ hembra (‚Mann‘/ ‚Frau‘), yerno/ nuera (‚Schwiegersohn‘/ ‚Schwiegertochter‘), padrino/ madrina (‚Pate‘/ ‚Patin‘), padrastro/ madrastra (‚Stiefvater‘/ ‚Stiefmutter‘), caballero/ dama (‚Herr‘/ ‚Dame‘), jinete/ amazona (‚Reiter‘/ ‚Reiterin‘), toro/ vaca (‚Stier‘/ ‚Kuh‘), ca‐ ballo/ yegua (‚Pferd‘/ ‚Stute‘), oveja/ carnero (‚weibl. Schaf ‘/ ‚Hammel’). Bei den Substantiven der ersten Gruppe handelt es sich um Heteronyme im eigentlichen Sinne, die keine Variation von Endungen kennen, 35 sondern aus sich selbst heraus eine Substantivmovierung bilden, ähnlich derjenigen in der Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 369 <?page no="370"?> 36 Einige Bezeichnungen für Frauen sind semantisch konnotiert; diese Bedeutungsabwei‐ chungen sind in der Regel mit den Angaben peyorativo, irónico und despectivo (‚abwer‐ tend‘, ‚ironisch‘, ‚herabsetzend‘) gekennzeichnet. Von der umfangreichen Forschung zur Ideologie im Wörterbuch sei hier besonders auf Bengoechea (1988), Forgas et al. (2004), Guerrero Salazar (2019), Chávez (2019) und Calero (2021) verwiesen. indoeuropäischen Ursprache (vgl. oben). Substantive der zweiten Gruppe sind hingegen spätere Bildungen aus der Zeit des Übergangs vom Lateinischen zum Kastilischen. 4 Das Heteronymenpaar padre y madre: zur biologischen und sozialen Dimension des Ausdrucks von Geschlecht Diese ideologische Gleichsetzung von biologischem Geschlecht und Genus wird nun am Beispiel der lexikografischen Beschreibung der Heteronyme padre/ madre in den beiden letzten Ausgaben des Diccionario de la lengua española aufgezeigt, der Ausgabe von 2001 (nachstehend: DRAE; https: / / www. rae.es/ drae2001) und derjenigen von 2014 (DLE; https: / / dle.rae.es). Obgleich zahlreiche Definitionen im DLE aktualisiert wurden, sind manche noch immer insofern stark ideologisch geprägt, 36 als sie dem Männlichen (varón) den Vorrang gegenüber dem Weiblichen (hembra) geben und damit aufs Neue zeigen, dass die Interferenzen zwischen biologischem Geschlecht und Genus, die auf die biologistischen Vorurteile der Tradition zurückgehen (vgl. die oben zitierten Aussagen des Aristoteles), zu sprachlichen Asymmetrien in verschiedenen wichtigen lexikalischen Bereichen führen. Diese Asymmetrien lassen sich an dem Wortpaar padre/ madre veranschau‐ lichen; die erste Bedeutung der beiden Wörter ist jeweils auf biologischer Grundlage definiert: „1. m. Varón que ha engendrado uno o más hijos (https: / / dle.rae.es/ padre? m= form)“ (‚Männliches Wesen, das ein oder mehrere Kinder gezeugt hat‘) „1. f. Mujer que ha concebido o ha parido uno o más hijos“ (‚Weibliches Wesen, das ein oder mehrere Kinder empfangen oder getragen hat‘) (https: / / dle.rae.es/ madre? m=form) (kursive Hervorhebung: CGR). Demnach dürfte die Definition von engendrar („Dicho de una persona o de un animal: Dar vida a un nuevo ser“, ‚von einer Person oder einem Tier: einem neuen Wesen das Leben schenken‘; https: / / dle.rae.es/ engendrar? m=form) nicht ausschließlich dem Vater oder dem männlichen Tier zugeschrieben werden (die Rede ist von persona bzw. animal, ohne Spezifizierung des biologischen Geschlechts), doch geschieht eben dies auf indirekte Weise, indem der aktive Beitrag zur Fortpflanzung besonders hervorgehoben wird. Mit Ausnahme der 370 Carmen Galán Rodríguez <?page no="371"?> 37 Der Terminus matria ist alles andere als neu; er wird dem Historiker Plutarch zuge‐ schrieben, bei dem es heißt: „la tierra es madre y la matria, la nación emocional“ (‚Die Erde ist die Mutter, die matria die gefühlte Nation‘). Auch Virginia Woolf, die die Auffassung vertrat, als Frau habe sie kein Vaterland, hat ihn verwendet, ebenso wie Edgar Morin (la matria Europa), Miguel de Unamuno (la matria vasca) oder die spanische Philosophin María Zambrano; Angaben nach Sendón de León (2006: 239). Verwendung in übertragener Bedeutung wird mit den Verben concebir und parir dagegen auf weibliche Wesen referiert, weshalb die Hervorhebung des vorausgegangenen (männlichen) Zeugungsakts zu einer asymmetrischen Ver‐ teilung der Funktionen führt, die sehr an die aristotelische Auffassung erinnert. Bezeichnend ist auch, dass im Eintrag madre eine weibliche Entsprechung zur Bedeutungserläuterung Nr. 7 von padre fehlt: „Cabeza de una descendencia, familia o pueblo“ (‚Oberhaupt einer Nachkommenschaft, einer Familie oder eines Volkes‘). Es gibt im Eintrag madre auch keine Bedeutungsangabe zu lengua madre (deren Bedeutung das Sem ‚Nachkommenschaft‘ beinhaltet, das unter 7 bei padre genannt ist und auch zur Definition von lengua herangezogen werden könnte). Die Bedeutungsangabe Nr. 11 im Eintrag madre lautet: „Aquello en lo que figuradamente concurren circunstancias propias de la maternidad. La madre patria“ (‚Bezeichnung von etwas, auf das im übertragenen Sinne die der Mutterschaft eignenden Umstände zutreffen. Das Mutterland‘). Angesichts dieser Definition ist nicht nachvollziehbar, weshalb es nicht auch eine Bedeu‐ tungsangabe zu lengua madre geben sollte. Denkt man im Zusammenhang mit „maternidad“ an das Substantiv matria, so ist es nicht verwunderlich, dass in der spanischen Politik eine interessante Debatte darüber entstanden ist, inwieweit dieses Wort eine semantisch adäquate Entsprechung zu patria darstellt. 37 Auch heutzutage sehr geläufige Beispiele wie Ella es la madre de familia in der Bedeutung „responsable económica de una familia“ (‚für eine Familie finanziell verantwortliche Person‘) sind im Eintrag des DLE nicht angeführt, im Unterschied zu madre de familia bzw. madre de familias („Mujer que tiene una familia a su cuidado“, ‚Frau, die eine Familie in ihrer Obhut hat‘), wobei es hier ausschließlich um die ‚Sorgearbeit‘ im familiären Bereich geht. Aufschlussreich sind die in der Ausgabe 2014 vorgenommenen Änderungen: Während im DRAE von 2001 noch zu lesen war: „Mujer casada o viuda, cabeza de su casa“ (‚Verheiratete oder verwitwete Frau, die das Oberhaupt ihres Hausstands ist‘), fehlt der Bezug auf den Familienstand (verheiratet oder verwitwet) und auf die Führung des Haushalts oder der Familie in der Ausgabe 2014; dort ist die Rede von „cuidados“ (‚Pflege‘). Eine weitere ideologisch begründete Asymmetrie besteht zwischen der Be‐ deutungsangabe Nr. 9 zu padre („Origen y principio“ ‚Ursprung und Beginn‘) Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 371 <?page no="372"?> 38 Derartige asymmetrische Konnotationen von maskulinen und femininen Formen eignen auch anderen auf persona referierenden Heteronympaaren wie hombre/ mujer, varón/ mujer, macho/ hembra und deren nominalen Ableitungen, die im vorliegenden Beitrag außer Betracht bleiben müssen. und der Bedeutungsangabe Nr. 10 zu madre („Causa, raíz o origen de donde proviene algo“, ‚Ursache, Wurzel oder Ursprung, von dem etwas herrührt‘); die vermeintliche Synonymie ist insofern keine, als der Bedeutungsangabe zu madre das aufschlussreiche Beispiel La pereza es la madre de todos los vicios (‚Faulheit ist die Mutter aller Laster‘) hinzugesetzt wird. Aus der oben genannten Definition von padre erhellt, dass das Wort den andozentrischen Ausdrücken zuzuordnen ist. Dieser - auf Grund der Betonung der Vorherrschaft der männlichen Norm ideologisch bedingte - Androzent‐ rismus belegt, wie sich im Laufe der Jahrhunderte auf der Grundlage der männlichen Prototypizität jene ideologische Struktur etabliert hat, die mit bestimmten Bedeutungsfeldern wie Fortpflanzung oder Familie verbunden ist. 38 Er manifestiert sich auch in der Definition anderer bedeutungsverwandter Wörter, etwa derjenigen des Substantivs paternalismo, für das eine weibliche Entsprechung fehlt: „Tendencia a aplicar las formas de autoridad y protección propias del padre en la familia tradicional a relaciones sociales de otro tipo; políticas, laborales, etc.“ ; ‚Neigung, die dem Vater in der traditionellen Familie eignenden Verhaltensweisen der Autorität und des Schutzes auf andere Arten sozialer Beziehungen - im Bereich der Politik, der Arbeit usw. - zu übertragen‘ (https: / / dle.rae.es/ paternalismo? m=form). Ähnliches gilt für Ableitungen wie empadrarse („Dicho de un niño: Encari‐ ñarse excesivamente con su padre o sus padres“, ‚Von einem Kind: übermäßig an seinem Vater oder seinen Eltern hängen‘ (https: / / dle.rae.es/ empadrarse? m= form) und enmadrarse („Dicho de un niño: Encariñarse excesivamente con su madre“, ‚Von einem Kind: übermäßig an seiner Mutter hängen‘ (https: / / dle.rae. es/ enmadrarse? m=form) - die erste Erläuterung ist inklusiv, die zweite ist es nicht. Auch bei der Behandlung von compadre/ comadre fallen Asymmetrien ins Auge. Die Bedeutungserläuterung Nr. 4 zu compadre - „Amigo o conocido“, ‚Freund oder Bekannter‘ - und die 5. zu comadre - „Vecina y amiga con quien tiene otra mujer más trato y confianza que con las demás“, ‚Nachbarin und Freundin, zu der eine Frau mehr Umgang und Vertrauen hat als mit anderen Frauen‘ - sind kulturell markiert (https: / / dle.rae.es/ compadre? m=form; https: / / dle.rae.es/ comadre? m=form). Es finden sich darin bestimmte, mit maskulinen und femininen Stereotypen zusammenhängende Werte, denn nichts spricht dagegen, die betreffende Bedeutungserläuterung zu compadre auch auf comadre 372 Carmen Galán Rodríguez <?page no="373"?> 39 https: / / dle.rae.es/ comadrón. - Vgl. den Beleg zu Comadrón im CREA: „Cuando vino al mundo el duque de Borgoña, vemos como comadrón al doctor Clément“ (‚Als der Herzog von Borgoña zur Welt kam, sahen wir als Geburtshelfer den Dr. Clément Borgoña‘, Fisas Historias [Esp. 1983]). https: / / corpus.rae.es/ cgi-bin/ crpsrvEx.dll. anzuwenden. Ebenso wenig gibt es einen ersichtlichen Grund für das Fehlen einer Entsprechung zu der dritten Bedeutungsangabe von compadre („Padrino del hijo de una persona en el sacramento de la confirmación, según el rito católico“, ‚Pate des Kindes einer Person bei dem Sakrament der Firmung nach dem katholischen Ritus‘) im Eintrag comadre, dessen Bedeutungserläuterung auf „madrina de bautizo“ (‚Taufpatin‘) beschränkt ist. Ähnlich liegt der sechsten (veralteten) Bedeutungsangabe von compadre („Protector, bienhechor“; ‚Be‐ schützer, Wohltäter‘) sowie der vierten von comadre („Alcahueta“, ‚Kupplerin‘) eine Ideologie zugrunde, die traditionell bestimmte Männern (‚Schutz‘) bzw. Frauen (‚Vermittlerin von Liebesbeziehungen‘) zugeschriebene Rollen betont. Schließlich lautet die erste Bedeutungsangabe zu comadre: ‚partera‘ „mujer que sin estudios asiste a la parturienta“, ‚nicht zu dieser Tätigkeit ausgebildete Frau, die der Gebärenden behilflich ist‘), und zu diesem Femininum ist als nicht heteronymes morphologisches Pendant comadrón, -na entstanden, 39 dessen maskuline Form bei der Aufwertung der Definition fraglos eine Rolle gespielt hat: „m. y f. Persona con títulos legales que asiste a la parturienta“ (‚m. und f., Person mit beruflicher Qualifikation, die der Gebärenden behilflich ist‘). Anstelle dieser Berufsbezeichnung wird auch der Ausdruck partero (fem. partera) verwendet, der wie folgt definiert wird: „que asiste a la parturienta“ (‚der/ die der Gebärenden behilflich ist‘), gemäß den Ausführungen im Dicci‐ onario Panhispánico de dudas (DPD 2005): „‚Persona facultada para asistir a las parturientas‘. Aunque es profesión normalmente asociada a las mujeres, junto al femenino comadrona existe y es correcto el masculino comadrón […] Para denominar a estos profesionales, se usa también el término partero (fem. partera)“ (‚Wenngleich es sich hier um einen Beruf handelt, der gewöhnlich mit Frauen assoziiert wird, gibt es neben dem Femininum comadrona auch das - korrekte - Maskulinum comadrón. Für Angehörige dieser Berufe wird auch die Bezeichnung partero (fem. partera) verwendet‘; https: / / www.rae.es/ dpd/ comad rón). Hinsichtlich der verbalen Ableitungen comadrear („Chismear, murmurar“, „Contar algo con indiscreción o malicia“, ‚tratschen, klatschen‘; ‚etwas auf indiskrete oder boshafte Weise erzählen‘; https: / / dle.rae.es/ comadrear? m=fo rm) und compadrear („Hacer o tener amistad, generalmente con fines poco lícitos“, ‚eine Freundschaft haben oder pflegen, in der Regel zu zweifelhaften Zwecken‘; https: / / dle.rae.es/ compadrear? m=form) ist zu bemerken, dass beide Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 373 <?page no="374"?> 40 https: / / dle.rae.es/ padrazo? m=form; https: / / dle.rae.es/ madraza? m=form. 41 Der Zeitpunkt, zu dem die beiden Wörter in das Akademie-Wörterbuch aufgenommen wurden, ist ein sehr deutlicher Hinweis auf ihre sozialen Implikationen; madraza ist erstmals in der Ausgabe von 1803 verzeichnet, padrazo einige Jahre danach (1817). Es wäre sicher ein lohnendes Unterfangen, die weitere Entwicklung von madraza und padrazo in den Textkorpora zu untersuchen, um Genaueres über die sozialen Rollen zu ermitteln, die in der morphologisch begründeten Definition der beiden Wörter (vermeintlich pejoratives Suffix -azo/ a) anklingen. Vgl. hierzu die Ausführungen in Casares (1992: 120): „[…] hasta el apelativo de padrazo, que se suele emplear en son de elogio, lleva implícita una censura, puesto que caracteriza al interesado por su condición demasiado blanda, con mengua de otras virtudes paternales más estimadas.“ (‚[…] selbst das Appellativum padrazo, das ansonsten in positiver Bedeutung verwendet wird, enthält implizit einen Tadel, indem es die betreffende Person als übermäßig weich charakterisiert und andere, höher angesehene väterliche Tugenden in den Hintergrund drängt‘). Die Betonung mütterlicher Qualitäten bei Frauen hat dagegen offenbar keinen abwertenden Beiklang. Definitionen negativ konnotiert sind und bestimmte stereotype Verhaltens‐ weisen implizieren, die mit dem einen oder dem anderen Geschlecht assoziiert werden können. So werden Frauen als Tratschtanten, als indiskret oder ver‐ leumderisch dargestellt, während Männer ihre vermeintlich freundschaftlichen Beziehungen zu fragwürdigen Zwecken ausnutzen. Die Wortpaare padrazo/ madraza und padrastro/ madrastra stehen in engem Zusammenhang mit padre/ madre; sie etablieren ihrerseits eine referentielle Opposition mit jeweils unterschiedlicher lexikalischer Basis, jedoch mit dem Un‐ terschied, dass hier eine explizite Genusmovierung durch Suffigierung vorliegt. Sowohl im DLE als auch im DRAE sind die Einträge padrazo und madraza als ‚umgangssprachlich‘ markiert, doch lassen sich feine Unterschiede zwischen den beiden Ausgaben ausmachen. Die fraglichen Definitionen im DLE von 2014 sind symmetrisch und betonen die Hingabe, Sorge, Nachsichtigkeit und Zuneigung eines Vaters (padrazo) oder einer Mutter (madraza) ihren Kindern gegenüber. 40 Im DRAE von 2001 wurde dagegen jeweils auf unterschiedliche Eigenschaften für die beiden Elternteile Bezug genommen, die auf unterschiedliche affektive Verhaltensweisen schließen lassen. 41 So wurde bei der Erläuterung zu padrazo („Padre muy indulgente con sus hijos“, ‚mit seinen Kindern sehr nachsichtiger Vater‘; https: / / www.rae.es/ drae2001/ padrazo) auf ein Übermaß an Nachsicht abgehoben, d. h. auf die Bereitschaft, Fehler zu verzeihen oder zu bemänteln. Die Bedeutungserläuterung von madraza verweist hingegen auf übermäßige Nach‐ giebigkeit und Zärtlichkeit: „Madre muy condescendiente y que mima mucho a sus hijos“, ‚sehr nachgiebige Mutter, die ihre Kinder sehr verwöhnt‘; https: / / www.rae.es/ drae2001/ madraza. Während Nachsicht eine gewisse Autorität oder moralische Macht voraussetzt (man muss in der Lage sein, Fehler zu verzeihen), 374 Carmen Galán Rodríguez <?page no="375"?> 42 Die Ausgabe von 2001 enthält im Eintrag zu madrastra jedoch einen ausdrücklichen Hinweis darauf, dass es sich um eine Verbindung durch Heirat des Vaters handelt: madrastra (‚Stiefmutter‘), „Mujer del padre respecto de los hijos llevados por este al matrimonio“, ‚Ehefrau des Vaters in Bezug auf die vom Vater in die Ehe gebrachten Kinder‘; https: / / www.rae.es/ drae2001/ madrastra. 43 https: / / dle.rae.es/ padrastro? m=form; https: / / dle.rae.es/ madrastra? m=form. 44 https: / / dle.rae.es/ matriarca? m=form), (https: / / dle.rae.es/ patriarca? m=form). impliziert Nachgiebigkeit eine auf Gefühlen beruhende Unterordnung, wenn man der Definition im DLE folgt: „Acomodarse por bondad o conveniencia al gusto y voluntad de alguien“, ‚sich aus Gutmütigkeit oder Bequemlichkeit nach der Neigung und dem Willen von jemandem richten‘ (https: / / dle.rae.es/ condes cender? m=form). Für padrastro/ madrastra (‚Stiefvater/ Stiefmutter‘) stehen zwei Bedeutungs‐ angaben im DLE; die erste ist symmetrisch und nimmt Bezug auf die Hyper‐ onyme marido/ mujer (‚Ehemann‘/ ‚Ehefrau‘), ohne dass nähere Angaben zur Art der Verbindung erfolgen: 42 „Marido de la madre de una persona nacida de una unión anterior de aquella“, ‚Ehemann der Mutter einer Person, die aus einer früheren Beziehung der Mutter stammt‘ bzw. „Mujer del padre de una persona nacida de una unión anterior de este“, ‚Ehefrau des Vaters einer Person, die aus einer früheren Beziehung des Vaters stammt‘. 43 Die zweite, erstmals in der Ausgabe 2014 enthaltene Bedeutungserläuterung steht im Zusammenhang mit dem Wortpaar padre/ madre; während padrastro im DLE jedoch ohne weitere Angaben nur als „Mal padre“ (‚Schlechter Vater‘) definiert wird, lautet die Definition von madrastra „Madre que trata mal a sus hijos“ (‚Mutter, die ihre Kinder schlecht behandelt‘). Statt einer symmetrischen Definition mit Bezug auf padrastro werden auch hier wieder unterschiedliche affektive Verhaltens‐ weisen hervorgehoben und im Fall der weiblichen Referenten explizit markiert. Zudem ist ein (im Übrigen wenig aussagekräftiges) Beispiel einer übertragenen Verwendung angeführt: La naturaleza es madrastra de los hombres (‚Die Natur ist des Menschen Stiefmutter‘). Bei patriarca/ matriarca, dem letzten Beispiel eines Heteronymenpaars mit Bezug zu padre/ madre, fällt ins Auge, dass matriarca im DLE nur eine einzige Bedeutungsangabe erhält („Mujer que ejerce el matriarcado“, ‚Frau, die das Matriarchat ausübt‘), während für die maskuline Form fünf Bedeutungserläu‐ terungen angegeben sind, in denen jeweils positiv konnotierte Werte wie Alter, Weisheit, Autorität oder Würde betont werden. 44 Aufschlussreich ist weiter der inklusive Gebrauch der generischen Bezeichnung persona in der ersten Bedeutungsangabe von patriarca: „Persona que por su edad y sabiduría ejerce autoridad en una familia o en una colectividad“, ‚Person, die auf Grund ihres Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 375 <?page no="376"?> Alters und ihrer Weisheit die Autorität in einer Familie oder einer Gemeinschaft ausübt‘. Die unterschiedliche Referenz von matriarca und patriarca kommt hier explizit zum Ausdruck, weil diese Opposition auf der Heteronymie von pater/ mater beruht; gleichwohl spricht der zitierten Bedeutungsangabe zufolge nichts gegen eine Aussage wie „María es un patriarca“ (‚Maria ist ein Patriarch‘). Ebenso asymmetrisch ist der Verweis auf patriarcado/ matriarcado in beiden Einträgen: Die Erläuterungen zu patriarcado (https: / / dle.rae.es/ patriarcado? m =form) verweisen neben der erneuten Hervorhebung von Würde, Herrschaft und Autorität (in vier der sechs Bedeutungsangaben) in der fünften Bedeutungs‐ erläuterung mit der Markierung Sociol. (‚Soziologie‘) auf die „Organización social primitiva en que la autoridad es ejercida por un varón jefe de cada familia, extendiéndose este poder a los parientes aun lejanos de un mismo linaje“ (‚primitive Gesellschaftsform, in der die Autorität von einem Mann als dem Oberhaupt jeder Familie ausgeübt wird, der diese Macht auf Angehörige, auch entfernte, seines Stammes übertragen kann‘). In dem Eintrag matriarcado (https: / / dle.rae.es/ matriarcado? m=form) entfällt diese Markierung indessen: „Organización social, tradicionalmente atribuida a algunos pueblos primitivos, en que el mando corresponde a las mujeres“ (‚traditionell manchen primitiven Völkern zugeschriebene Gesellschaftsform, in der die Macht von Frauen aus‐ geübt wird‘). Während die beiden Definitionen scheinbar gleichwertig sind, ist die Erläuterung zu patriarcado in einer assertiven und generalisierenden Modalität formuliert, die man in den Ausführungen zu matriarcado nicht findet; man vergleiche „Organización social primitiva“ und „Organización social tradi‐ cionalmente atribuida a algunos pueblos primitivos“ (kursive Hervorhebung: CGR). Zudem enthält patriarcado eine Bedeutungskomponente ‚Autorität, die in einer patriarchalischen Gesellschaft ausgeübt und weitergegeben wird‘ („varón jefe de cada familia“), die im Eintrag zu matriarcado nicht auftaucht. Darin wird lediglich erläutert, dass die Macht den Frauen zukommt („el mando corresponde a las mujeres“), nicht aber, wie sie weitergegeben und aufrechterhalten wird. Schließlich ist patriarca Bestandteil der adverbialen Wendung como un patriarca (‚wie ein Patriarch‘), eine Anspielung auf die Annehmlichkeiten, die jemand genießt (Tiene una vida como un patriarca, ‚er führt ein Leben wie ein Patriarch‘); man beachte das Fehlen einer entsprechenden Wendung mit matriarca. Weit subtiler sind die Definitionen anderer, nicht heteronymer Wörter, die mit den ideologischen Konnotationen von padre und madre verknüpft sind. So lautet die Definition von hermano/ a carnal (‚leibliche/ r Bruder/ Schwester‘) im DLE „Persona que tiene el mismo padre y la misma madre que otra“, ‚Person, die denselben Vater und dieselbe Mutter wie eine andere hat‘; https: / / dle.rae.es/ hermano#5egl3aX); dagegen beschränkt sich der Eintrag zu hermano/ a consan‐ 376 Carmen Galán Rodríguez <?page no="377"?> 45 Die Definition von huérfano [Adj. und Subst.] (‚Waise‘/ ‚verwaist‘) und bastardo [Adj. und Subst.] (‚Bastard‘) im DRAE (2001) lautete bis 2014: „adj. Dicho de una persona de menor edad: A quien se le han muerto el padre y la madre o uno de los dos, especialmente el padre“ (‚Adj. Von einer minderjährigen Person, deren Vater und Mutter oder einer der beiden, insbesondere der Vater, verstorben sind‘; https: / / www.rae.es/ drae2001/ hue rfano); „m. y f. hijo ilegítimo de padre conocido“ (‚m. und f. uneheliches Kind, dessen Vater bekannt ist‘; https: / / www.rae.es/ drae2001/ hijo#hijo,_ja_bastardo,_da). guíneo/ a (m. und f.) ‚blutsverwandte/ r Bruder/ Schwester‘ auf die Erläuterung „hermano de padre“, ‚Bruder/ Schwester, der/ die denselben Vater hat‘, und die Definition zu hermano/ a bastardo/ a (m. und f.) lauten: „hermano nacido fuera de matrimonio, respecto de los hijos legítimos del mismo padre“, ‚außerehelich geborene(r) Bruder (Schwester) in Bezug auf eheliche Kinder desselben Vaters‘. 45 5 Schlussbemerkungen Festzuhalten ist, dass die lexikografische Beschreibung des Heteronymenpaars padre/ madre noch mit ideologischen Konnotationen behaftet ist, die von der Verwechslung von Genus und biologischem Geschlecht herrühren, namentlich in Bezug auf die Annahme einer kulturellen Überlegenheit des Männlichen gegenüber dem Weiblichen im Bereich der Fortpflanzung, der Familie und der gesellschaftlichen Beziehungen. Wenngleich einige Definitionen für die jüngste (23.) Ausgabe des Akademie-Wörterbuchs aktualisiert wurden, wird in anderen Einträgen weiterhin die überlieferte (inzwischen obsolete) Auffassung der ideologischen Strukturen tradiert, auf denen die Gesellschaft aufgebaut wurde. Die Heteronyme haben sich als die am besten geeignete Form erwiesen, eine Kategorisierung der referentiellen bzw. sozialen Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu etablieren und aufrechtzuerhalten und mit dieser sprachlichen Repräsentation der menschlichen Beziehungen eine besondere, asymmetrische ontologische Ordnung der Dinge und Menschen zu konstru‐ ieren. Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 377 <?page no="378"?> Bibliographie Liste der im Text und in der Bibliographie verwendeten Siglen: CREA Corpus de referencia del español actual DLE Diccionario de la lengua española DPD Diccionario panhispánico de dudas DRAE Diccionario de la lengua española GDLE Gramática descriptiva de la lengua española (Bosque/ Delmonte Hrsg.) NGLE Nueva gramática de la lengua española Ambadiang, Theophile (1999): La flexión nominal. Género y número. In: Bosque, Ig‐ nacio/ Demonte, Violeta (Hrsg.): Gramática descriptiva de la lengua española. Madrid: Espasa, 4843-4913. Aristoteles: De generatione animalium. Hrsg. von H. J. Drossaart Lulofs (1965). Oxford: Clarendon Press. Bengoechea, Bartolomé Mercedes (1988): Las miradas cruzadas: Ideología e intervención humana en la confección del DRAE. Ministerio de educación, Instituto de Tecnologías educativas. http: / / w3.cnice.mec.es/ recursos/ secundaria/ transversales/ instituto_muje r/ diccionario/ ideologia.zip (letzter Aufruf: 18.03.2022). Brugmann, Karl (1905): Abrégé de grammaire comparée des langues indo-européennes, d’après le précis de grammaire comparée de K. Brugmann et B. Delbrück. Paris: Klincksieck. Calero, Vaquera María Luisa (2021): Apuntes sobre lenguaje, poder y género. TSN (Transatlantic Studies Network). Revista de Estudios Internacionales 6.11: Mujeres y poder. Una mirada poliédrica a la sociedad actual, 45-55. Casares, Julio (1992): Introducción a la lexicografía moderna. Madrid: CSIC. Chávez, Fajardo Soledad (2019): Ginopia, silencio. Género, discurso, diccionario. Litera‐ tura y Lingüística 40, 393-429. Colombat, Bernard (Hrsg., unter Mitarbeit von Élisabeth Lazcano) (1998): Corpus repré‐ sentatif des grammaires et des traditions linguistiques (tome 1). Histoire Épistémo‐ logie Langage Hors-Série no 2. Forgas Berdet, Esther/ Ángeles Calero Fernández, María/ Lledó Cunill, Eulàlia (Hrsg.) (2004): De mujeres y diccionarios. Evolución de lo femenino en la 22a edición del DRAE. Madrid: Instituto de la Mujer. Galán Rodríguez, Carmen (2020): El género como ideología en las lenguas artificiales españolas del siglo XIX. In: Borja, Alonso/ Escudero, Francisco/ Villanueva, Carlos et 378 Carmen Galán Rodríguez <?page no="379"?> al. (Hrsg.): Lazos entre lingüística e ideología desde un enfoque historiográfico (ss. XVI-XX). Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca, 161-182. García Calvo, Agustín (2003): Estudio de gramática prehistórica. Zamora: Lucina. Gaviño Rodríguez, Victoriano (2015): Términos gramaticales de la Real Academia Espa‐ ñola (TerGraRAE). Madrid: Visor. Guerrero Salazar, Susana (2019): Las demandas a la RAE sobre el sexismo del diccionario: La repercusión del discurso mediático. Doxa Comunicación 29, 43-60. Gutiérrez Ordóñez, Salvador (2020): Género, sexo y formación de femeninos. Moenia 25, 655-685. https: / / revistas.usc.gal/ index.php/ moenia/ article/ view/ 6022 (letzter Aufruf: 09.07.2022). Huarte de San Juan, Juan (1575): Examen de ingenios para las ciencias. http: / / www.cervantesvirtual.com/ obra-visor/ examen-de-ingenios-para-las-ciencias- -0/ html/ feddd754-82b1-11df-acc7-002185ce6064_3.html#I_20_ (letzter Aufruf: 10.07.2022). Lepsius, Karl Richard (1880): Nubische grammatik, mit einer einleitung über die völker und sprachen Afrika’s. Berlin: Wilhelm Hertz. https: / / archive.org/ details/ nubischegr ammat00lepsgoog/ page/ n6/ mode/ 2up (letzter Aufruf: 05.06.2022). Leumann, Manu/ Hofmann, Johann Baptist/ Szantyr, Anton (1965): Lateinische Syntax und Stilistik. München: Beck. Martinet, André (1956): Le genre féminin en indo-européen: examen fonctionnel du problème. Bulletin de la Société de Linguistique de Paris 52 (1), 83-96. Meillet, Antoine (1931): Essai de chronologie des langues indo-européennes. La théorie du féminin. Bulletin de la Société de Linguistique de Paris 32, 1-28. Ramajo Caño, Antonio (1987): Las gramáticas de la lengua castellana desde Nebrija a Correas. Salamanca: Ediciones de la Universidad de Salamanca. Real Academia Española (Hrsg.) (1984 [1771]): Gramática de la lengua castellana. Neuausgabe von Ramón Sarmiento. Madrid: Editora Nacional (weitere behandelte Ausgaben: 1772, 1781, 1796, 1852, 1858, 1862, 1864, 1865, 1866, 1867, 1870, 1874, 1878). —-(1973): Esbozo de una nueva gramática de la lengua española. Madrid: Espasa Calpe. —-(2009): Nueva gramática de la lengua española (NGLE). Madrid: Espasa. Verweise im Text unter der Form (NGLE: § 2.1g, 2.3f). Real Academia Española/ Asociación de Academias de la Lengua Española (Hrsg): • CREA Banco de datos [Datenbank mit Kommentaren]. Corpus de referencia del español actual. http: / / www.rae.es (letzter Aufruf: 01.07.2022). • DRAE (2001): Diccionario de la lengua española. https: / / www.rae.es/ drae2001 (letzter Aufruf: 01.07.2022). • DPD (2005): Diccionario panhispánico de dudas: Madrid: Santillana. http: / / www.ra e.es/ recursos/ diccionarios/ dpd (letzter Aufruf: 01.07.2022). Genus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen 379 <?page no="380"?> • DLE (201423): Diccionario de la lengua española. https: / / del.rae.es (letzter Aufruf: 01.07.2022). Roca, Ignacio M. (2006): La gramática y la biología en el género en español (segunda parte). Revista Española de Lingüística 35 (2), 397-432. Rodríguez Adrados, Francisco/ Bernabé, Alberto/ Mendoza, Julia (1995-1996): Manual de lingüística indoeuropea. 2 Bd. Madrid: Ediciones clásicas. Rodríguez Díez, Bonifacio (2005): El género: del latín al español. Los nuevos géneros del Romance. León: Secretariado de publicaciones. Sánchez de las Brozas, Francisco (1995 [1587]): Minerva o de causis linguae latinae. Neuausgabe mit einer Übersetzung ins Spanische von Salor Eustaquio Sánchez und César Chaparro Gómez. Cáceres: Institución Cultural El Brocense/ Universidad de Extremadura. Sánchez-Lafuente, Ángela (2006): El género gramatical en latín: teorías ergativistas. In: Calderón, Esteban/ Morales, Alicia/ Valverde, Mariano (Hrsg.): Koinòs Lógos. Home‐ naje al profesor José García López. Murcia: Editum (= Ediciones de la Universidad de Murcia, Bd.-2), 945-952. Sendón de León, Victoria (2006): Matria: El horizonte de lo posible. Madrid: Siglo XXI de España Editores. Sevilla, Isidor von (1993): Etimologías. Neuausgabe mit einer Übersetzung ins Spanische von José Oroz Reta und Marcos Casquero. Madrid: BAC. Varro, Marcus Terentius (1833): De lingua latina. Leipzig: Weidmann. [Varró, Marco Terencio (1990): De lingua latina. Hrsg. von Manuel Marco Casquero. Barcelona: Anthropos.] 380 Carmen Galán Rodríguez <?page no="381"?> 1 Aus dem Spanischen übersetzt von Barbara Kaltz. - In diesem Beitrag wird auf einige inhaltliche Elemente und Ergebnisse der Monografie von Rodríguez Ponce zurückgegriffen (Mitologías de la lingüística. Reflexiones sobre comunicación no sexista y libertad discursiva. Madrid: Iberoamericana Vervuert 2022). Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch 1 María Isabel Rodríguez Ponce Zusammenfassung: Dieser Beitrag bietet einen Überblick über den ak‐ tuellen Stand der Dinge hinsichtlich einer gendergerechten bzw. nicht-se‐ xistischen Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch. Zunächst wird auf die wissenschaftliche Debatte eingegangen, in der stark polarisierte Positionen vertreten werden und die unter dem Einfluss der Real Academia Española, einer im Wesentlichen präskriptiv orientierten Institution, steht. Des Weiteren geht es um Einstellungen der Sprachgemeinschaft gegen‐ über einer gendergerechten Kommunikation, um offizielle sprachpoliti‐ sche Maßnahmen zugunsten von Geschlechtergerechtigkeit und um die sprachlichen Mittel, die für eine diskriminierungsfreie Kommunikation zur Verfügung stehen. Schlüsselbegriffe: inklusive/ nicht-sexistische/ gendergerechte Kommu‐ nikation im gegenwärtigen Spanisch, Hegemonie, Präskriptivismus, Sprachpolitik, Sprachplanung, Glottopolitik, diskriminierungsfreie Sprache <?page no="382"?> 2 In diesem Abschnitt wird verschiedentlich Bezug auf Rodríguez Ponce (2022) genommen: ‚gesetzgebende Macht‘ und vermeintliche Neutralität der Real Academia Española (83-85); Einfluss des politisch-sozialen Kontextes auf die RAE (138- 139), Präskriptivismus und Purismus (130-135) sowie die interventionistische und sprachplanerische Arbeitsweise der RAE (127-130); ‚notarielle‘ Funktion der RAE und deren ideologisch bedingte Ablehnung bestimmter sprachlicher Mittel (84- 86); sprachliche Ökonomie der Ressourcen für die inklusive Kommunikation (63); Konfrontation zwischen dem Feminismus und der Akademie (114-115); Auswirkungen des Berichts von Bosque (114-122); restriktive Einstellung der RAE (121); Zitat der vier Punkte von Guerrero Salazar (117); Verspottung der nicht hegemonischen Einstellung (100-108); sozial und diskursiv privilegierte Position der RAE in den Medien (84-85); RAE-Zitat zur Grammatikalität der inklusiven Sprachmittel und Freiheit aller Sprecher, ihre Ausdrucksmittel selbst zu wählen (197). 3 Die Real Academia Española (‚Königlich Spanische Akademie‘) besteht bereits seit 1713 (Anm. d. Übers.). 1 Zum gegenwärtigen Stand der Debatte in der Wissenschaft 2 Wer ausgehend von den theoretischen Vorannahmen der kritischen Diskurs‐ analyse den gegenwärtigen Stand der Debatte zur nicht-sexistischen bzw. inklusiven Kommunikation im Spanischen betrachtet, stößt zwangsläufig auf den Gegensatz zwischen einer hegemonialen und einer nicht hegemonialen Auffassung. Es steht außer Frage, dass die Debatte über den Sprachgebrauch vor allem im europäischen Spanisch maßgeblich durch das hohe Ansehen der Real Academia Española (nachstehend: RAE) beeinflusst wird. Diese Institution gilt in den spanischen Medien als die oberste Instanz zu sprachlichen Fragen (Rodríguez Barcia 2018: 113; Guerrero Salazar 2022: 1,2,15); dies hat zur Folge, dass all ihre Verlautbarungen erheblichen Einfluss auf die Sprachgemeinschaft ausüben, die diese nicht als bloße Empfehlungen, sondern - häufig unkritisch - als Vorschriften auffasst, die von einer ‚gesetzgebenden‘ Macht ausgehen (Castro Vázquez/ Martín Barranco 2020). Zudem ist auf einen weit verbreiteten, auf dem Immanentismus beruhenden Mythos hinzuweisen, dem zufolge Spra‐ chen, sprachwissenschaftliche Theorien und nicht zuletzt auch die RAE neutral und ideologiefrei seien. In der langen Geschichte der Akademie 3 hat der jeweilige politische und gesellschaftliche Kontext sich kontinuierlich auf ihre Tätigkeit ausgewirkt. Des Weiteren ist festzuhalten, dass die RAE eine deutlich ideologisch geprägte, normative und puristische Auffassung von Sprache vertritt (Díaz Salgado 2011: 77) und ihre Eingriffe in die Sprache und ihre Sprachplanung auf recht ungewöhnliche Art und Weise durchsetzt: Sie beansprucht für sich die Verant‐ wortung für die Dokumentation des Sprachgebrauchs, nimmt diese Funktion 382 María Isabel Rodríguez Ponce <?page no="383"?> 4 „ha contribuido a crear un determinado imaginario sobre feminismo y Academia como dos entidades ideológicamente enfrentadas“; zit. in Rodríguez Ponce (2022: 114-115). 5 Ausführlicher hierzu Rodríguez Ponce (2022: 114-122). jedoch eher unsystematisch wahr, indem nur solche Verwendungen wertfrei verzeichnet werden, die der Akademie genehm sind (Rodríguez Barcia 2018: 122). Entsprechen sie dagegen nicht dem Ideal eines gebildeten sprachlichen Standards, so werden sie nicht nur nicht verzeichnet, sondern mehr oder weniger verhüllt missbilligt. In ihren Stellungnahmen zu Vorschlägen für einen nicht-sexistischen Sprach‐ gebrauch hat die Akademie sich gewöhnlich auf grammatikalische bzw. sprach‐ wissenschaftliche Argumente berufen, die allerdings im Wesentlichen ideolo‐ gisch motiviert sind (Márquez Guerrero 2013: 141). Dies ist etwa der Fall, wenn gegen Vorschläge für eine geschlechtergerechte Sprache eingewendet wird, sie seien unökonomisch, ohne zu berücksichtigen, dass so gut wie alle sprachlichen Mittel der nichtsexistischen Kommunikation ebenso ökonomisch sind wie etwa das sog. generische Maskulinum, wenn nicht ökonomischer (Medina Guerra 2016: 193; Guerrero Salazar 2020b: 215). Dies gilt insbesondere für generische Substantive (persona statt hombre), Kollektiva (el alumnado für los alumnos) und Abstrakta (la presidencia an Stelle von el presidente), Metonymien (España statt los españoles), Wegfall des Subjektpronomens (cantamos an Stelle von nosotros cantamos), nicht genusmarkierte Substantive und Adjektive (feliz an Stelle von contento). Aus glottopolitischer Sicht hat Becker (2019: 5, 12) ausgeführt, im Diskurs der RAE werde gegen die Befürworter einer nicht-sexistischen Kommunikation das Ideologem des „adversario radical“ (‚des radikalen Gegners‘) eingesetzt. Die Institution hat, so Guerrero Salazar (2020a: 66), ‚dazu beigetragen, eine bestimmte Vorstellung zu etablieren, nach der der Feminismus und die Aka‐ demie ideologisch unvereinbare Positionen vertreten‘. 4 Deutlich zeigt sich dies in der Stellungnahme des Akademiemitglieds Ignacio Bosque zu den Richtlinien einer nichtsexistischen Sprache 5 (Bosque 2012) und in dem - auf Veranlassung der Staatsregierung im Jahr 2020 eher zögerlich erarbeiteten - Bericht der RAE zur geplanten Reform der spanischen Verfassung zugunsten einer geschlechtergerechten Sprache. In ihrer Analyse der Auswirkungen dieses Berichts weist Guerrero Salazar (2022: 15) nachdrücklich auf die Konfrontation zwischen beiden Einstellungen hin, zu deren Herausbildung die Schriftpresse beigetragen habe, indem sie den Meinungen der Akademie eine Vorrangstellung eingeräumt habe, während sprachwissenschaftlichen Experten der inklusiven Kommunikation ein weit geringerer Raum zugestanden worden sei. Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch 383 <?page no="384"?> 6 „1. El sexismo no es un problema del sistema de la lengua, sino del uso. - 2. No hay que confundir género gramatical y sexo. - 3. Las alternativas al masculino genérico vulneran el principio de economía lingüística. - 4. El masculino tiene un carácter no marcado que lo capacita para hacer una referencia global a ambos sexos.“ In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem immer weitere Forderungen nach Gleichstellung erhoben werden, verharrt die RAE als die von Amts wegen für die Verwaltung des Sprachgebrauchs zuständige Institution in immanentistischen, präskriptivistischen und restriktiven Positionen, die sich zusammenfassend wie folgt beschreiben lassen (Guerrero Salazar 2020a: 61; 2020b: 214): 1. Sexismus ist kein Problem des Sprachsystems, sondern eines des Sprach‐ gebrauchs. 2. Genus und Sexus dürfen nicht verwechselt werden. 3. Die Alternativen zum generischen Maskulinum verstoßen gegen den Grundsatz der Sprachökonomie. 4. Das Maskulinum ist als nicht markiertes Genus geeignet, auf beide Ge‐ schlechter zugleich zu referieren. 6 Abweichungen von diesen Grundannahmen lehnt die RAE in der Regel ab; dabei wird mit Vorliebe auf diskursive Strategien zurückgegriffen, die dazu dienen, nicht hegemoniale Einstellungen herabzusetzen und zu verspotten (Guerrero Salazar 2020a: 58-60), etwa indem als Plattform jene Kommunikationsmittel genutzt werden, die der Akademie eine eindeutig privilegierte diskursive Posi‐ tion gegenüber sämtlichen anderen Einstellungen in dieser Debatte einräumen (Rodríguez Barcia 2018: 133). Wie Castro Vázquez (2009) für einige Printmedien (u. a. ABC und El País Semanal) analysiert hat, kamen Anhänger der RAE darin häufig zu Wort (was übrigens noch immer der Fall ist). Das gilt etwa für renommierte Schriftsteller (darunter Javier Marías und Arturo Pérez-Re‐ verte, die später selbst in die Akademie aufgenommen wurden), die in ihren Artikeln die Verwendung von Ausdrücken wie persono statt persona, mujera für mujer und víctimo an Stelle von víctima verspotteten und versuchten, die spanischsprachige Gesellschaft mit rhetorischen Strategien so zu beinflussen, dass Feminisierungen von Wörtern fälschlich als inkorrekt oder unnatürlich wahrgenommen werden. In dem 2020 von der RAE vorgelegten Bericht zur geplanten Reform der spanischen Verfassung wird immerhin konzediert, die zugunsten einer sprachlichen Gleichstellung vorgeschlagenen Mittel verstießen nicht gegen das Sprachsystem und seien auch nicht grammatikalisch falsch; zudem sei 384 María Isabel Rodríguez Ponce <?page no="385"?> 7 RAE (2020: 29): „[…] forman parte de la libertad de los hablantes para elegir su forma de expresarse“; zit. in Rodríguez Ponce (2022: 197). 8 Auch in diesem Abschnitt wird auf Rodríguez Ponce (2022) Bezug genommen: Einfluss der institutionellen Macht der RAE auf die negative Bewertung der geschlechtergerechten Kommunikation seitens der Gesellschaft (12, 84); Forschung zur Akzeptanz der inklusiven Kommunikation im Bereich der Erziehung (97) bzw. zur vergleichsweise höheren Bewusstheit und Akzeptanz inklusiver Strategien bei Frauen (96-98); Pauwels (1998) zufolge unterschiedliche Wahrnehmung der Verknüpfung von Sprachgebrauch und anderen sozialen Verhaltensweisen bei Frauen und Männern ( 97-98, 145). es ‚Bestandteil der Freiheit von Sprechern, ihre Ausdrucksweise zu wählen‘. 7 Es ist wünschenswert, dass alle diese diskursive Freiheit in einem wertfreien soziokulturellen Umfeld ausüben können - und nicht in einem Kontext, in dem übermäßig polarisiert, verspottet oder abgewertet wird (Rodríguez Ponce 2022: 196). 2 Zur Bewertung der geschlechtergerechten Kommunikation in der Sprachgemeinschaft 8 Der große Einfluss der Akademie auf die öffentliche Meinung hat dazu geführt, dass die Gesellschaft mehrheitlich Einstellungen gegenüber den nicht-sexisti‐ schen Alternativen vertritt, die von Unwissenheit, Gleichgültigkeit oder gar völliger Ablehnung geprägt sind. Wenn maßgebliche Vertreter eines normativen Konzepts von Sprache nicht-sexistische Kommunikationsformen als ‚abwegig‘ oder ‚unsinnig‘ bezeichnen (aberración, tontería; zit. in Rodríguez Ponce 2022: 105), erweist es sich für diese sprachlichen Mittel als sehr schwierig, eine wenigstens in Ansätzen positive Bewertung in breiteren gesellschaftlichen Schichten zu erreichen (Hornscheidt 2011: 583). Die Studien von Jiménez Rodrigo/ Román Onsalo/ Traverso Cortés (2010, 2011), Bengoechea Bartolomé/ Simón (2014) und Peralta de Aguayo/ Báez/ Mar‐ tínez (2019), für die schwerpunktmäßig Sprecher mit Sekundarschul- oder Hochschulbildung befragt wurden, haben ergeben, dass die Akzeptanz und Bewertung der nicht-sexistischen Kommunikation und ihrer sprachlichen Res‐ sourcen in Teilen der Sprachgemeinschaft unterschiedlich ausfällt. Rodríguez Iglesias (2018, 2019) hat aus einer anderen Perspektive unter‐ sucht, wie Schüler und Studierende den Zusammenhang von grammatikali‐ schem und soziokulturellem Geschlecht wahrnehmen und zu welchen sprach‐ lichen Formen sie tendieren. In neueren Forschungsvorhaben wie dem Projekt DISMUPREN (Guerrero Salazar 2020c; 2021a: 18; 2021b: 1638-1639) werden diese Bemühungen mit einer Untersuchung über die Einstellungen der Studie‐ Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch 385 <?page no="386"?> 9 Für diese Untersuchung wurden Studierende in Mexiko befragt. rendenschaft zu der in den Kommunikationsmedien geführten Debatte über inklusive Sprache fortgesetzt. Diese Thematik steht auch im Zentrum der Arbeiten von Lomotey (2020) und Cremades/ Fernández-Portero (2022). In den meisten Fällen liegt es nicht an der mangelnden Kenntnis der Alter‐ nativen zugunsten der sprachlichen Gleichbehandlung, sondern an dem nach wie vor erheblichen Einfluss sexistischer und androzentrischer Vorurteile und Stereotype, wenn die Akzeptanz bei Männern geringer ist als bei Frauen. Ben‐ goechea Bartolomé/ Simón (2014) befragten 2009 fast 500 Studierende im Groß‐ raum Madrid schwerpunktmäßig zum Gebrauch nicht-sexistischer Ressourcen wie dem @-Zeichen, der Beidnennung und zur Feminisierung bestimmter Amts- und Berufsbezeichnungen; auch hier zeigte sich, dass diese Strategien eher von Frauen als von Männern akzeptiert werden. Neuere Arbeiten (Pesce/ Etchezahar 2019; Lundberg 2020 9 ) kommen zu demselben Ergebnis; in anderen Bereichen wie dem politischen Diskurs sind u. a. Moreno Benítez (2012) und Cuenca (2020) zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt. In diesem Zusammenhang sei auch an die Ausführungen von Pauwels (1998: 70) erinnert, nach denen Frauen und Männer sexistische Ausdrucksweisen auf Grund der Verknüpfung des Sprachgebrauchs mit anderen sozialen Verhaltens‐ weisen unterschiedlich wahrnehmen. So ist, wie Pauwels (1998: 55-56) erläutert, der Akt des Benennens und Definierens in Gesellschaften patriarchalischer Tra‐ dition ein vornehmlich Männern vorbehaltenes Privileg gewesen; infolgedessen kennzeichnen verdinglichende und animalisierende Metaphern für Frauen oder deren Körperteile, in denen eine eindeutig männliche Sichtweise zum Ausdruck kommt, den Geschlechterdiskurs in zahlreichen Sprachen. Generell scheinen Frauen ein stärkeres Bewusstsein für sexistische Sprache zu zeigen; das geht aus Studien zu verschiedenen anderen Sprachen (Englisch, Deutsch) hervor (Pauwels 1998: 74; Pesce/ Etchezahar 2019: 8). 386 María Isabel Rodríguez Ponce <?page no="387"?> 10 Auch in diesem Teil wird verschiedentlich auf Rodríguez Ponce (2022) Bezug genommen: Studien von Guerrero Salazar über die Situation an den Hochschulen (162); Gesetzgebung, Normen, Kommissionen und institutionelle Kontrolleinrichtungen zur inklusiven Sprache (161-163); Moreno Cabreras Analyse der Angriffe gegen die Leitfäden für einen nicht-sexistischen Sprachgebrauch (159-160); juristische Kontroverse über den obligatorischen/ verpflichtenden Gebrauch inklusiver Sprache (162); Behauptungen, die in der inklusiven Kommunikation eingesetzten sprachlichen Mittel seien ungrammatisch oder fehlerhaft (160); inklusive Kommunikation als prototypische Form einer erfolgreichen Sprachpolitik bzw. Sprachplanung und wissenschaftliche Nachweise ihrer Ergebnisse (94-95). 3 Institutionelle sprachpolitische Maßnahmen zugunsten eines geschlechtergerechten Sprachgebrauchs 10 Auf institutioneller Ebene wurden seit den 1970er Jahren im angelsächsischen Raum bzw. den 1980er Jahren in anderen Ländern zahlreiche Anstrengungen unternommen, um den geschlechtergerechten Sprachgebrauch durch glottopo‐ litische Maßnahmen durchzusetzen, die in verschiedenen Erklärungen und Verordnungen verankert wurden (Rodríguez Ponce 2022: 159). Auf internatio‐ naler Ebene waren namentlich die Vereinten Nationen (1996), die UNESCO (1987, 1989), die Europäische Union (1990, 2010), das Europäische Parlament (2003, 2008) und der Europarat (2007) involviert. In Spanien selbst sind außer dem Königlichen Erlass und der Ministerialverordnung von 1995, mit der die Bezeichnung akademischer Titel im Maskulinum und Femininum gemäß dem Geschlecht der jeweiligen Referenten festgeschrieben wurde, das Organgesetz von 2004 zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt und das Organgesetz von 2007 zur Gleichstellung von Frauen und Männern, insbesondere in Artikel 14, von entscheidender Bedeutung, ebenso wie das Gesetz 30/ 2003, mit dem für sämtliche politischen und öffentlichen Vorschriften ein obligatorischer Bericht über deren geschlechtsspezifische Auswirkungen eingeführt wurde, der auch die Analyse sexistischer Stereotype in der Sprache umfasste. Einen ausgezeichneten Überblick über sämtliche Regelungen und Gesetze, die das Verhältnis von Sprache und Gender betreffen, bieten die beiden Beiträge von Guerrero Salazar (2020b; 2021a). Auch auf der Ebene der autonomen Regionen und der Gemeinden wurden Regelungen getroffen, die an dem Geist der o. g. übergeordneten Gesetzgebung orientiert sind; seit den Nullerjahren des 21. Jh. gilt dies auch für den Hoch‐ schulbereich (Guerrero Salazar 2013; 2020b und 2021a). Des Weiteren wurden im Laufe dieser Jahre Beobachtungsstellen und Ausschüsse eingerichtet, um sich näher mit der Thematik des Genderns zu befassen und sie besser bekannt zu machen, darunter die Comisión de Igualdad del Consejo General del Poder Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch 387 <?page no="388"?> 11 Die Erarbeitung und Veröffentlichung dieser Leitfäden wurden seit den 1980er Jahren mit öffentlichen Mitteln gefördert. | Vgl. hierzu die Version 3.0 (2024) der Leitfaden‐ sammlung von Daniel Elmiger mit inzwischen über 3.000 Einträgen, https: / / www.un ige.ch/ lettres/ alman/ application/ files/ 2417/ 1075/ 6345/ 2024.03_Leitfadensammlung_V_ 3.pdf (Anm. d. Hrsg.). 12 Siehe hierzu die Beiträge von Gardelle und Coady in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Judicial (‚Gleichstellungsausschuss des Allgemeinen Rates für das Justizwesen‘) und NOMBRA, der Ausschuss für Sprachberatung am Instituto de la Mujer. Diese Einrichtungen dienen ebenso wie die beachtliche Zahl der Leitfäden für eine nicht-sexistische Sprache 11 dem Ziel, die Anwendung sämtlicher Gesetze und Regelungen durchzusetzen, deren obligatorischer Charakter umstritten ist (Guerrero Salazar 2020b: 207-209). Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich lediglich um Empfehlungen handelt, sollte deren Umsetzung im öffentlichen Raum eine unausweichliche Frage sein. Die Leitfäden für eine nicht-sexistische Sprache haben indessen als konkrete Umsetzung dieser in Kraft getretenen Regelungen und Gesetze bislang nur geringe Beachtung in der Gesellschaft gefunden (Rodríguez Ponce 2022: 161) und wurden zudem von der Akademie unverhältnismäßig hart beurteilt, wie etwa in dem 2012 von dem RAE-Mitglied Ignacio Bosque verfassten Bericht deutlich wird. Zu der in vieler Hinsicht unverdienten und ungerechtfertigten Kritik der Akademie an diesen Leitfäden hat Moreno Cabrera (2012; 2014: 207) ausgeführt, die Leitfäden für eine nicht-sexistische Sprache seien nicht als deskriptive Grammatiken des Spanischen zu betrachten, weil sie auf den Diskurs bezogen sind, auf einen bestimmten Sprachgebrauch. Zudem ist zu betonen, dass in diesen Leitfäden nichts vorgeschlagen wird, was ungrammatisch oder inkorrekt wäre, denn hier und da kann der Eindruck entstehen, dass von Seiten der Institutionen und Medien das Gegenteil behauptet wird (Medina Guerra 2016: 187). Was schließlich die Umsetzung dieser Maßnahmen in verschiedenen Berei‐ chen der Gesellschaft angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass die antisexistische Sprachpolitik zu den prototypischen Formen der Sprachplanung gehört, die weltweit am besten funktioniert haben (Pauwels 1998: 193-203), und dass die politischen Maßnahmen zur Veränderung der Lage im Laufe der Zeit auch zu nachweisbaren Ergebnissen geführt haben, wie in wissenschaftlichen Studien eindeutig belegt wurde (Pauwels 1998: 224; Hornscheidt 2011: 583). Offensichtlich sind im europäischen Kontext, vor allem im angelsächsischen Raum, Fortschritte erzielt worden, etwa hinsichtlich des rückläufigen Gebrauchs androzentrischer Generika wie he oder man und der gestiegenen Verwendung von they in generischer Funktion (Pauwels 1998: 564). 12 388 María Isabel Rodríguez Ponce <?page no="389"?> 13 Zur Entwicklung im Schulwesen siehe Abschnitt 2. 14 In diesem letzten Abschnitt wird wiederum verschiedentlich Bezug auf Rodríguez Ponce (2022) genommen: Leitfäden des Instituto Cervantes (176-177); Klassifizierung inklusiver Strategien nach Sprachebenen und Maximierung bzw. Minimierung generischer Ausdrücke (165-166, 177-179); bessere Sichtbarkeit der Frauen durch den Rekurs auf eindeutig feminine Formen (96-97, 104); korrekte Anwendung von Kriterien für das Splitting (179); „sprachliche Störung“ durch das generische Femininum und generischer Gebrauch von „Consejo de Ministras“ (‚Ministerrat‘) (188); vermeintliche „Entfremdung“ durch das generische Femininum und dessen Gebrauch bei gemischten Gruppen (189); Vorschlag, -e als ‚neues‘ generisches Maskulinum einzuführen (190); Bedenken und Kritik hinsichtlich der Eignung von -e als Generikum (190-191); ausschließliche Verwendung und Vorteile von -e (190); Reorganisation des Genusparadigmas (191); -e als Indiz ideologischer Dissidenz und Zeichen der Identität (191-192). Für das Spanische ist diese Entwicklung in verschiedenen Untersuchungen bestätigt worden (Rodríguez Ponce 2022: 95-97). Hier ist zunächst die Studie von Rodríguez Fernández (2009) zum Gebrauch des generischen Maskulinums in der spanischen Presse von 1976 bis 2006 zu nennen, in der die kontinuierliche Zunahme der Verwendung egalitärer Alternativen nachgewiesen wurde. Aus weiteren Arbeiten zu anderen Bereichen, darunter so bedeutsamen wie dem politischen Diskurs, geht hervor, dass die Akzeptanz alternativer nicht-sexisti‐ scher Formen gestiegen ist; siehe u. a. Moreno Benítez (2012) und Cuenca (2020), die vornehmlich das generische Maskulinum, die Kollektiva und Epikoina sowie das generische Femininum untersucht haben. 13 Aus all dem erhellt, dass die politischen Maßnahmen zugunsten einer ge‐ schlechtergerechten Sprache und deren Umsetzung in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft maßgeblich zu den Fortschritten im Hinblick auf die tatsäch‐ liche Gleichstellung beigetragen haben. Ohne diese Initiativen wäre es weitaus schwieriger gewesen, auf den Sexismus in der Sprache aufmerksam zu machen und die zugrunde liegende Ideologie zu entlarven (Rodríguez Ponce 2022: 98). 4 Sprachliche Ressourcen für eine geschlechtergerechte Kommunikation 14 Die Mittel, die im Spanischen für eine geschlechtergerechte Kommunikation zur Verfügung stehen, sind in den zuvor erwähnten Leitfäden dargestellt (vgl. Rodríguez Ponce 2022: 159-186). In der am Instituto de la Mujer erstellten Übersicht über die 120 wichtigsten bis 2018 erschienenen Leitfäden für Spanien sind auch diejenigen verzeichnet, die von dem institutseigenen Ausschuss für Sprachberatung (NOMBRA) erarbeitet wurden. Weiter ist hier auf die beiden am Instituto Cervantes erstellten Leitfäden (Quilis/ Albelda/ Montañez/ Carcelén Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch 389 <?page no="390"?> 15 Wörtlich: ‚Fuchs‘/ ‚Füchsin‘. Das Maskulinum hat auf Männer bezogen eine positive Konnotation (vgl. im Dt. etwa: „ein toller Hecht“), während das Femininum deutlich abwertend konnotiert ist (‚Hure‘). 2011; 2021) hinzuweisen, die als grundlegende Referenzen in diesem Bereich gelten können. Die Klassifizierung der nicht-sexistischen Strategien erfolgt in diesen Leit‐ fäden ganz überwiegend nach den Sprachebenen (Morphologie, Lexik, Syntax, Diskurs); bei generischen Ausdrücken wird weiter unterschieden nach dem Rekurs auf Minimierung oder Maximierung (‚gender neutralisation‘ vs. ‚gender specification‘ bei Pauwels 1998: 110-111). Morphologische Strategien tendieren offenbar zur Minimierung, wenn genusinvariante Substantive oder Adjektive verwendet werden (estudiante, inteligente) oder das Subjekt nicht realisiert wird, soweit diese Möglichkeit gegeben ist: „(Nosotros/ as) Luchamos por una sociedad más igualitaria“ (‚Wir kämpfen für eine Gesellschaft mit mehr Gleichberech‐ tigung‘ (Rodríguez Ponce 2022: 178). Von den syntaktischen Instrumenten tendieren einige zur Maximierung des generischen Ausdrucks, so das Splitting (niños y niñas statt nur niños). Dieses Verfahren ist in akademischen Kreisen unverhältnismäßig heftig kritisiert worden, obgleich Studien zu mehreren Sprachen (Nissen 2013: 111-113; Cuenca 2020: 255; Núñez Cortés et al. 2021: 48) hervorgehoben haben, dass die Sichtbarkeit von Frauen besser mit Strategien erreicht wird, die eindeutig feminine Formen beinhalten. Viele Leitfäden nennen Kriterien für ein aus diskursiver Sicht angemessenes Splitting, das kohärent und natürlich wirkt, ohne die Sprachökonomie zu beeinträchtigen (Quilis/ Al‐ belda/ Montañez/ Carcelén 2021: 123-135). Für die lexikalische Ebene lautet die generelle Empfehlung der Leitfäden, gemäß den jeweiligen Referenten das Maskulinum oder Femininum zu verwenden, insbesondere bei Berufs-, Funktions- und Amtsbezeichnungen (cajera/ cajero ‚Kassiererin‘/ ‚Kassierer‘, médico/ médica), sowie Epikoina, Kol‐ lektiva und abstrakte Personenbezeichnungen (víctima ‚Opfer‘, profesorado ‚Lehrkörper‘, pueblo ‚Volk‘, dirección ‚Leitung‘) angemessen zu verwenden und Asymmetrien (la señora de García, zorro/ zorra  15 ) zu vermeiden (Quilis/ Albelda/ Montañez/ Carcelén 2021: 96, 104-106). In orthografischer Hinsicht werden in diesen Leitfäden eher solche Mittel akzeptiert, die wie der Schrägstrich (sustituto/ a) bereits seit einiger Zeit in Gebrauch sind; Elemente wie @ oder x (querid@s compañer@s, queridxs com‐ pañerxs) werden in Spanien dagegen in akademischen Kreisen eher verworfen (Quilis/ Albelda/ Montañez/ Carcelén 2021: 49), während sie für den lateinameri‐ kanischen Raum vielfach belegt sind (Fundéu BBVA 2020: 3). 390 María Isabel Rodríguez Ponce <?page no="391"?> 16 Diese dient dazu, auf Personen zu referieren, die sich als nicht binär empfinden. Andere Strategien sind auf Grund ihrer vermeintlichen Verstöße gegen die Sprachnorm und ihrer ideologischen Motivation weitaus kontroverser diskutiert worden, so das generische Femininum als eine vergleichsweise aktuelle Variante, die sogar in die offizielle Bezeichnung einer politischen Partei eingegangen ist: Unidas Podemos (‚Vereint [Fem.] schaffen wir das‘). Derartige ‚sprachliche Störungen‘ (Pauwels 1998: 131) können extrem polemische Kon‐ troversen auslösen, wie es 2020 in Deutschland anlässlich eines ausschließlich im generischen Femininum formulierten Gesetzentwurfs oder 2018 in Spanien nach dem Amtsantritt der sozialistischen Regierung im Zusammenhang mit dem generischen Gebrauch von „Consejo de Ministras“ der Fall war (Aliaga Jiménez 2018: 58). Während die von dieser Form ausgelöste ‚Verfremdung‘ aus immanentisti‐ scher Sicht gewöhnlich negativ interpretiert wird (San Julián Solana 2017: 125- 126), wird sie aus pragmatischer und symbolischer Perspektive anders beurteilt; demnach werde ihre kommunikative Funktion nicht beeinträchtigt, ganz im Gegenteil. Es fehlt in der Tat nicht an Vorschlägen, das generische Femininum zu verwenden, wenn es um eine Gruppe geht, in der Frauen in der Mehrheit sind (Quilis/ Albelda/ Montañez/ Carcelén 2021: 50). Zudem ist die Möglichkeit, dass das generische Maskulinum eines Tages nicht mehr als die einzige Option gelten wird, um auf gemischte Gruppen zu referieren, auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen worden (Fundéu 2019). Ein weiteres umstrittenes Mittel ist die Endung -e (todes, nosotres, les niñes), deren Verwendung seit etwa zehn Jahren zunehmend beliebt geworden ist (Cabello Pino 2020: 7), insbesondere im lateinamerikanischen Spanisch. Bereits 1977 hatte García Meseguer vorgeschlagen, von dieser Endung Gebrauch zu machen, die als generisches Neutrum die Funktionen des so genannten gene‐ rischen Maskulinums übernehmen könne. Gegen diesen inklusiven Gebrauch von -e haben Wissenschaftler wie Demonte (1982: 221) indessen eingewendet, derartige Vorschläge verletzten womöglich den Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter: Das neue Generikum laufe Gefahr, mit der soziokulturell dominie‐ renden Figur assoziiert zu werden, so dass dieselbe oder eine parallele Situation entstünde wie im Fall des generischen Maskulinums. Gegenwärtig hat es den Anschein, dass der inklusive Gebrauch von -e gegenüber der ausschließenden Verwendung 16 an Gewicht verloren hat (Cabello Pino 2022: 60). Ungeachtet der lautlichen, morphologischen und sprachökonomischen Vor‐ züge der Endung -e (Álvarez Mellado 2017) ist deren Einsatz bezüglich der vermeintlich erforderlichen Reorganisation des Genusparadigmas (Menegotto Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch 391 <?page no="392"?> 2020; Fábregas 2022), namentlich hinsichtlich der Referenz auf Personen, skep‐ tisch beurteilt und deren Nutzen bezweifelt worden. Andererseits wirkt die Verwendung von -e sich vor allem auf der diskursiven Ebene aus: Wer auf diese Endung zurückgreift, erreicht die höchste Stufe der sprachlichen Dissidenz und demonstriert damit eine bestimmte politische oder ideologische Haltung (Tosi 2019: 12-13; García Negroni/ Hall 2020: 278). Gegenwärtig könnte das -e als Identitätsmarker jener Gruppen angesehen werden, die sich wie die Genderqueer-Community offenbar am stärksten für diese Tendenz einsetzen (so Papadopoulos 2019, in Cabello Pino 2020: 19). Wie es mit der Verwendung von -e weitergeht, ist abhängig von der weiteren Entwicklung der Sprache und der Gesellschaft. Auf jeden Fall ist hier festzuhalten, dass es von Seiten bestimmter hegemonialer Positionen Bestrebungen gibt, eine irreführende Überidentifizierung dieses einen Verfahrens mit der Gesamtheit der Strategien für eine nicht-sexistische Kommunikation zu suggerieren (Rodríguez Ponce 2022: 192-193). 5 Schlussfolgerungen Nicht-sexistische Ressourcen verstoßen offensichtlich nicht gegen das Sprach‐ system; sie sind auch nicht ungrammatisch - wie selbst die RAE konzediert hat (2020: 54, 55, 70, 73) - und zudem Bestandteil der diskursiven Freiheit aller Sprachteilhaber. Offensichtlich ist weiter, dass das Tempo des Sprachwandels von der gesellschaftlichen und geschichtlichen Entwicklung bestimmt wird und Sprachplanung seit jeher betrieben wird, auch im Rahmen der RAE. Der Widerstand seitens der hegemonialen Position gegen diese Veränderungen in der Sprache beruht auf der tiefen Kluft zwischen dem Sprachlichen und dem Außersprachlichen und der Vorherrschaft des Immanentismus, aus der eine institutionelle Banalisierung dieser egalitären Strategien resultiert, was wiederum zu negativen Auswirkungen wie Unkenntnis oder Ablehnung in der Gesellschaft führt. Es ist nicht angebracht, sich ohne ernst zu nehmende wissenschaftliche Argumente gegen die Ausübung der diskursiven Freiheit in der Sprachgemeinschaft auszusprechen. Außerdem sollte man sich dessen bewusst sein, dass Sprache lediglich eine Handlungsweise unter anderen ist und auch die illokutive Kraft von Diskursen zu Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen beitragen kann (Rodríguez Ponce 2022: 197-198). 392 María Isabel Rodríguez Ponce <?page no="393"?> Bibliographie Aliaga Jiménez, José Luis (2018): Lenguaje inclusivo con perspectiva de género. Gobierno de Aragón. URL: https: / / www.aragon.es/ documents/ 20127/ 186069/ Lenguaje+inclus ivo+con+perspectiva+de+g%C3%A9nero/ ca98fdb6-0d4c-563a-7f54-2ef933d5a60d? t=1 549448641684. Abrufdatum: 02.08.2024. Álvarez Mellado, Elena (2017): Todas, tod@s, todxs, todes: historia de la disidencia gramatical. Eldiario.es. URL: https: / / www.eldiario.es/ zonacritica/ Todas-todes-histori a-disidencia-gramatical_6_659044117.html. Abrufdatum: 02.08.2024. Becker, Lidia (2019): Glotopolítica del sexismo: ideologemas de la argumentación de Ignacio Bosque y Concepción Company Company contra el lenguaje inclusivo de género. Theory Now 2 (2), 4-25. Bengoechea Bartolomé, Mercedes/ Simón, José (2014): Attitudes of University Students to some Verbal Anti-Sexist Forms. Open Journal of Modern Linguistics 4 (1), 69-90. Bosque, Ignacio (2012): Sexismo lingüístico y visibilidad de la mujer. El País 04.03.2012. URL: https: / / www.rae.es/ sites/ default/ files/ Sexismo_linguistico_y_visibilidad_de_la _mujer_0.pdf. Abrufdatum: 02.08.2024. Cabello Pino, Manuel (2020): Esbozo de una bibliografía crítica sobre -xy -ecomo alternativas al masculino genérico en español (2014-2019). Tonos digital: Revista de Estudios Filológicos 39 (2), 1-26. ―-(2022): Los morfemas de género emergentes (-x y -e) y su tratamiento en la prensa española. Círculo de Lingüística Aplicada a la Comunicación 89, 57-70. Castro Vázquez, Olga (2009): Rebatiendo lo que otros dicen del lenguaje no sexista. Mujeres en Red. El Periódico Feminista. URL: http: / / www.mujeresenred.net/ spip.php ? article1734. Abrufdatum: 02.08.2024. Castro Vázquez, Olga/ Martín Barranco, María (2020): Contraargumentario feminista a la RAE: decálogo de incongruencias en su visión sobre el lenguaje inclusivo en la Constitución. Mujeres en red. El periódico feminista. URL: http: / / www.mujeresenred .net/ spip.php? article2363. Abrufdatum: 02.08.2024. Cremades, Raúl/ Fernández-Portero, Ignacio (2022): Actitudes del alumnado universitario ante el lenguaje inclusivo y su debate en los medios de comunicación. Círculo de Lingüística Aplicada a la Comunicación 89, 89-116. Cuenca, Maria Josep (2020): El lenguaje no sexista: más allá del debate. Discurso y sociedad 14 (2), 227-263. Demonte, Violeta (1982): Naturaleza y estereotipo. La polémica sobre un lenguaje femenino. In: Folguera, Pilar (Hrsg.): Nuevas perspectivas sobre la mujer: actas de las Primeras Jornadas de Investigación Interdisciplinaria: Universidad Autónoma de Madrid, 215-222. Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch 393 <?page no="394"?> Díaz Salgado, Luis C. (2011): Historia crítica y rosa de la Real Academia Española. In: Senz, Silvia/ Alberte, Montserrat (Hrsg.): El dardo en la Academia. Esencia y vigencia de las academias de la lengua española, Bd.-1. Barcelona: Melusina, 21-156. Fábregas, Antonio (2022): Hacia una caracterización sintáctica del género del sustantivo en español. Revista Española de Lingüística 52 (1), 39-96. Fundéu (2019): El masculino genérico. URL: https: / / www.fundeu.es/ lenguaje-inclusivo/ masculinogenerico.html. Abrufdatum: 02.08.2024. Fundéu BBVA (2020): Uso en Twitter de la x, la e y la @ para evitar la mención expresa del género. URL: https: / / fundeu.es/ documentos/ marcasinclusivastwitter.pdf. Abrufdatum: 02.08.2024. García Meseguer, Álvaro (1977): Lenguaje y discriminación sexual. Madrid: Cuadernos para el diálogo. García Negroni, M. Marta/ Hall, Beatriz (2020): Procesos de subjetivación y lenguaje inclusivo. Literatura y Lingüística, 42, 275-301. Guerrero Salazar, Susana (2013): Las guías de uso no sexista del lenguaje editadas en castellano por las universidades españolas (2008-2012). In: Palomares Perrault, Rocío (Hrsg.): Historia(s) de mujeres en homenaje a Mª Teresa López Beltrán. Málaga: Universidad de Málaga, 118-132. ― (2020a): Los dardos de Lázaro Carreter al lenguaje de género. Textos en Proceso 6 (2), 51-69. ―-(2020b): El debate social en torno al lenguaje no sexista en la lengua española. IgualdadES 2 (2), 201-221. ―-(2020c): El lenguaje inclusivo en la innovación docente. Del debate mediático al debate en el aula. In: VVAA (Hrsg.): Innovación docente e Investigación en Arte y Humanidades. Avanzando en el proceso de enseñanza-aprendizaje. Madrid: Dykinson, 1081-1092. ― (2021a): El lenguaje inclusivo en la universidad española: la reproducción del enfren‐ tamiento mediático. Círculo de Lingüística Aplicada a la Comunicación 88, 15-29. ―-(2021b): El discurso metalingüístico sobre “mujer y lenguaje” en la prensa española. Análisis del debate lingüístico y su repercusión social. In: Flores Borjabad, Salud Ade‐ laida/ Pérez Cabaña, Rosario (Hrsg.): Nuevos retos y perspectivas de la investigación en Literatura, Lingüística y Traducción. Madrid: Dykinson, 1630-1646. ― (2022): Repercusión mediática del informe de la RAE sobre el lenguaje inclusivo en la Constitución española. Círculo de Lingüística Aplicada a la Comunicación 89, 1-18. Hornscheidt, Antje L. (2011): Feminist language politics in Europe. In: Kortmann, Bernd/ Auwera, Johann van der (Hrsg.): The languages and linguistics of Europe: a comprehensive guide. Berlin: De Gruyter, 575-590. 394 María Isabel Rodríguez Ponce <?page no="395"?> Instituto de la Mujer (2018): Guías para el uso no sexista del lenguaje. URL: https: / / www.inmujer.gob.es/ servRecursos/ formacion/ GuiasLengNoSexista/ Gui as.htm. Ministerio de Sanidad, Servicios Sociales e Igualdad. Abrufdatum: 02.08.2024. Jiménez Rodrigo, M. Luisa/ Román Onsalo, Marisa/ Traverso Cortés, Joaquín (2010): Diagnóstico sobre la sensibilidad hacia el lenguaje no sexista por parte del alumnado universitario. In: Vázquez Bermúdez, Isabel (Hrsg.): Investigaciones multidisciplinare s en género: II Congreso universitario nacional „Investigación y Género“: Universidad de Sevilla, 567-585. Jiménez Rodrigo, M. Luisa/ Román Onsalo, Marisa/ Traverso Cortés, Joaquín (2011): Lenguaje no sexista y barreras a su utilización. Un estudio en el ámbito universitario. Revista de Investigación en Educación 9 (2), 174-183. Lomotey, Benedicta A. (2020): Exploring the adoption of gender-fair Spanish alternatives in school domains: an African university in focus. Sexuality and culture, 24, 1082-1106. Lundberg, Valeria (2020): Actitudes de un grupo de adolescentes mexicanos hacia el len‐ guaje inclusivo: alternativas al masculino genérico. Universität Dalarna (Schweden). Márquez Guerrero, María (2013): Género gramatical y discurso sexista. Madrid: Síntesis. Medina Guerra, Antonia M. (2016): Las alternativas al masculino genérico y su uso en el español de España. Estudios de Lingüística Aplicada 64, 183-205. Menegotto, Andrea (2020): Español 2G y español 3G: propiedades morfosintácticas y semánticas del lenguaje inclusive. Cuarenta naipes 2 (3), 207-232. Moreno Benítez, Damián (2012): Los alcaldes y las alcaldesas: referencia a personas y género en el lenguaje parlamentario andaluz. Discurso y Sociedad. 6 (1), 216-233. Moreno Cabrera, Juan Carlos (2012): «Acerca de la discriminación de la mujer y de los lingüistas en la sociedad». Reflexiones críticas de Juan Carlos Moreno Cabrera. URL: http: / / www.infoling.org/ informacion/ IG28.html. Abrufdatum: 02.08.2024. Moreno Cabrera, Juan Carlos (2014): El dominio androcéntrico. In: ders., Los dominios del español. Guía del imperialismo panhispánico. Madrid: Euphonía Ediciones, 203-224. Nissen, Uwe K. (2013): Is Spanish Becoming more Gender Fair? A Historical Perspective on the Interpretation of Gender-specific and Gender-neutral Expressions. Linguistik Online 58 (1), 99-117. Núñez Cortés, Juan et al. (2021): Actitud y uso del lenguaje no sexista en la formación inicial docente. Profesorado. Revista de currículum y formación del profesorado 25 (1), 45-65. Papadopoulos, Benjamin (2019): Morphological Gender Innovations in Spanish of Gender Queer Speakers. Berkeley: Department of Spanish and Portuguese, University of California. Pauwels, Anne (1998): Women changing language. New York: Longman. Gendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch 395 <?page no="396"?> Peralta de Aguayo, Estela M./ Báez, Nadia / Martínez, Raúl (2019): Estudio sobre la percepción del uso del lenguaje no sexista por parte de estudiantes universitarios paraguayos. Universidad del Cono Sur de las Américas: Paraguay. Pesce, Agustina/ Etchezahar, Edgardo D. (2019): Actitudes y uso del lenguaje inclusivo según el género y la edad. Búsqueda 6 (23), 1-11. Quilis, Mercedes/ Albelda, Marta/ Montañez, Pilar/ Carcelén, Andrea (2011): Guía de comunicación no sexista. Unter der Leitung von A. Briz. Madrid: Instituto Cervantes/ Aguilar. ―-(2021): Guía de comunicación no sexista. Unter der Leitung von A. Briz. Alcalá de Henares/ Barcelona: Instituto Cervantes/ Penguin Random House. RAE (2020): Informe de la Real Academia Española sobre el uso del lenguaje inclusivo en la Constitución Española, 2020. URL: http: / / revistas.rae.es/ bilrae/ article/ view/ 397 / 874. Abrufdatum: 02.08.2024. Rodríguez Barcia, Susana (2018): La representación de la mujer en el DEL (RAE y ASALE): repercusión social de la ideología académica. Hesperia. Anuario de filología hispánica 21 (2), 101-131. Rodríguez Fernández, María (2009): La evolución del género gramatical masculino como término genérico. Su reflejo en la prensa contemporánea. Madrid: Fundamentos. Rodríguez Iglesias, Adrián (2018): Estudio del uso de morfemas de género normativos y no normativos: preferencia, tolerancia y rechazo en la autoidentificación. Textos en proceso 4 (2), 123-158. ― (2019): La percepción de la asociación entre género gramatical y género sociocultural en adolescentes españoles. Universidad de Sevilla. Rodríguez Ponce, María Isabel (2022): Mitologías de la lingüística. Reflexiones sobre comunicación no sexista y libertad discursiva. Madrid: Iberoamericana Vervuert. San Julián Solana, Javier (2017): Consideraciones glotológicas sobre el femenino genérico. Verba Hispánica 25, 117-131. Tosi, Carolina (2019): Marcas discursivas de la diversidad. Acerca del lenguaje no sexista y la educación lingüística: aproximaciones al caso argentino. Álabe 20, 1-20. 396 María Isabel Rodríguez Ponce <?page no="397"?> Genus und Sexus im Russischen Svetlana Kibardina Zusammenfassung: Gegenstand des Artikels sind die - meist suffigierten - Frauenbezeichnungen (Feminitive) im Russischen. Im Zusammenhang mit dem sich verändernden gesellschaftlichen Status der Frauen wurden Feminitive im Laufe der Sprachgeschichte neu gebildet bzw. aus der Sprache verdrängt. Die russische Sprache des 20. Jh. ist von zwei gegensätz‐ lichen Tendenzen gekennzeichnet: Bildung und Verwendung von Femini‐ tiven; Rückgriff auf Maskulative als ‚geschlechtsneutrale‘ Bezeichnungen für Männer und Frauen. Die neue Welle feministischer Neologismen ist durch den Einfluss westeuropäischer Sprachen zu erklären. In der Lingu‐ istik und in der Gesellschaft wird vorwiegend über Feminitive im Singular diskutiert, weniger über geschlechterübergreifende Bezeichnungen. Die Einstellung gegenüber feministischen Neologismen in der Gesellschaft ist überwiegend reserviert: Die Sprache solle nicht mit ‚Gewalt‘ geändert werden. Offizielle Maßnahmen zur Einführung von Feminitiven gibt es nicht. Schlüsselbegriffe: Russisch, Genus, Sexus, Geschlecht, Feminitiv, Mas‐ kulativ, Suffigierung, Feminismus, Androzentrismus, Medien 1 Genus im Sprachsystem 1.1 Grammatisches Geschlecht (Genus) und biologisches Geschlecht (Sexus) Russisch ist eine flektierende synthetische Sprache, die auch einige Merkmale des analytischen Sprachbaus aufweist und über eine reichhaltige Flexions- und Wortbildungsmorphologie verfügt, bei der Präfigierung und Suffigierung überwiegen. Substantive werden in belebte (Bezeichnungen von Menschen und Tieren) und unbelebte (Bezeichnungen von Gegenständen und Phänomenen) unterteilt. <?page no="398"?> 1 Diese Abkürzungen stehen auch für die substantivierten Formen (und die entspre‐ chenden Adjektive) im Singular und Plural: Maskulinum/ a, Femininum/ a, Neutrum/ a. 2 Winogradow (1986) spricht auch von ‚männlich-weiblichem Geschlecht‘. Die in der nicht-russischsprachigen Fachliteratur vorkommenden Termini common gender, genus commune, utrum sind also keine vollständigen Äquivalente. Bei den Substantiven werden drei Genera unterschieden - Maskulinum, Femininum und Neutrum [nachstehend: Mask., Fem., Neutr.]; 1 eindeutig mar‐ kiert sind die Genera lediglich in der Nullflexion der Nominativform [Nom.] im Singular [Sing.], als mask. wie стол ‚Tisch‘, конь ‚Ross‘, музей ‚Museum‘, плащ ‚Mantel‘ oder fem. wie дверь ‚Tür‘, кровать ‚Bett‘, ночь ‚Nacht‘, рожь ‚Roggen‘. Ein System von -а(-я)-Flexionen im Nom. Sing. kennzeichnet Fem. (жена ‚Frau‘, карта ‚Karte‘, земля ‚Erde‘, свеча ‚Kerze‘) und (seltener) Mask. (юноша ‚Jüngling‘, мужчина ‚Mann‘, староста ‚Ältester‘, дядя ‚Onkel‘). Zwischen dem Genus von Substantiven und ihrer Zugehörigkeit zu den belebten bzw. unbelebten Subklassen besteht eine komplexe Beziehung. Bei belebten Nomina ist das Genus meist durch das biologische Geschlecht (Sexus) motiviert: Bezeichnungen männlicher Personen und Tiere sind Mask., dieje‐ nigen weiblicher Lebewesen Fem. Die - seltenen - neutralen Substantive für Belebtes bezeichnen Lebewesen ohne Bezug auf das Geschlecht (дитя ‚Kind‘) oder sind allgemeine Bezeichnungen (лицо ‚Person‘, существо ‚Wesen‘, животное ‚Tier‘, насекомое ‚Insekt‘, млекопитающее ‚Säugetier‘). Das Genus unbelebter Substantive ist nicht semantisch motiviert und wird nur durch das System der Kasusflexionen und syntaktische Faktoren markiert (Russische Grammatik 1980: 460-463). In der traditionellen russischen Linguistik wird auch die Kategorie „общий род“ (wörtlich: ‚gemeinsames Geschlecht‘; auch ‚doppeltes Geschlecht‘) dis‐ kutiert. 2 Dazu gehören Substantive, die je nach Kontext auf einen Mann oder auf eine Frau referieren können. Es handelt sich dabei um belebte Substantive mit der Flexion -а im Nom. Sing., die positive bzw. negative Eigen‐ schaften (умница ‚Pfundskerl‘, молодчина ‚Prachtmensch‘, работяга ‚Arbeits‐ mensch‘; пьяница ‚Trunkenbold‘, неумеха ‚Nichtskönner‘, грязнуля ‚Dreck‐ spatz‘, неженка ‚Weichling‘) oder auch Mängel verschiedener Art (сирота ‚Waise‘, калека ‚Krüppel‘) bezeichnen. Diese Substantive sind dadurch gekenn‐ zeichnet, dass ihre syntaktischen Merkmale vom Geschlecht des Referenten abhängen: Handelt es sich um eine Frau, verhält sich das Substantiv syntaktisch wie ein Fem.; ist der Referent dagegen männlich, verhält es sich syntaktisch wie ein Mask.: круглый сирота/ круглая сирота ‚Vollwaise ( Junge)‘/ ‚Vollwaise 398 Svetlana Kibardina <?page no="399"?> 3 In der Literatur der letzten Jahre wird die vermutliche Widersprüchlichkeit dieser Kategorie thematisiert. So hält Golew diesen Begriff für eine Fiktion der Grammatik; die Fähigkeit bestimmter Wörter, Personen beider Geschlechter zu bezeichnen, sei eine Frage der Nomination und der Semantik, nicht der Morphologie (Golew 2013: 19). Pawlowa (2010) ist der Meinung, diese Kategorie erscheine angesichts der unterschied‐ lichen Definitionen sowie der Widersprüche zwischen Lexikografie und Grammatik eher fragwürdig und beruhe eher auf der Tradition als auf objektiven linguistischen Fakten. 4 In diesem Zusammenhang zitiert Doleschal die Aussage von Jakobson (1971: 184), die in der modernen westlichen Linguistik in Frage gestellt wird: „The masculine is a twice unmarked gender. Contrary to the neuter, it signals neither the asexual character of the entity named, nor, in contradistinction to the feminine, does it carry any specification of the sex“. Auch sie vertritt die Meinung, dass in bestimmten Fällen „das männliche (Mädchen)‘. 3 Wörter, deren Genus unabhängig von der bezeichneten Person bei‐ behalten wird, gehören dieser Kategorie nicht an: врач ‚Arzt‘, адвокат ‚Anwalt‘, хирург ‚Chirurg‘ sind Mask., und маникюрша ‚Handpflegerin‘/ ‚Maniküre‘, нянечка ‚Kindermädchen‘, сиделка ‚Krankenpflegerin‘ sind Fem. (Russische Grammatik 1980: 464-466). 1.2 Genus und Personenbezeichnungen Die traditionelle Grammatik unterscheidet folgende Typen von Personenbe‐ zeichnungen: a) Mask. und Fem., die ein Wortpaar bilden: делегат ‚der Delegierte‘ - делегатка ‚die Delegierte‘, поэт ‚Dichter‘ - поэтесса ‚Dichterin‘, докладчик ‚Redner‘ - докладчица ‚Rednerin‘, москвич ‚Moskauer‘ - москвичка ‚Mos‐ kauerin‘; dieser Gruppe werden auch Nomina zugeordnet, zu denen es entspre‐ chende Fem. gibt, die umgangssprachlich, im Kontext meist abwertend, markiert sind: бригадир ‚Brigadier‘ - бригадирша ‚Brigadierin‘, врач ‚Arzt‘ - врачиха ‚Ärztin‘, доктор ‚Doktor‘ - докторша/ докторица ‚Doktorin‘ usw. b) Mask., die nicht mit Fem. gepaart sind: вожак ‚Anführer‘, воин ‚Krieger‘, гений ‚Genie‘, дирижер ‚Dirigent‘, предок ‚Vorfahr‘ sowie Substantive auf -a: вельможа ‚Würdenträger‘, воевода ‚Woiwode‘, слуга ‚Diener‘, старейшина ‚Ältester‘ (Russische Grammatik 1980: 465-466). Dass die Mask. in der Überzahl sind, ist sowohl auf außersprachliche soziohistorische Bedingungen als auch auf sprachliche Gründe zurückzuführen. In der modernen Sprache dienen Mask. in erster Linie dazu, eine Person im Allgemeinen bzw. ihre soziale oder berufliche Zugehörigkeit zu bezeichnen, unabhängig vom Sexus; man könnte hier auch von ‚generischem Maskulinum‘ sprechen. 4 Daher können sie sowohl auf eine männliche als auch auf eine weibliche Person referieren: композитор Д. Шостакович (‚Komponist D. Genus und Sexus im Russischen 399 <?page no="400"?> Geschlecht im Russischen keine Geschlechtsspezifikation signalisiert“ (Doleschal 1997: 136). 5 Die Reaktion auf einen solchen Gebrauch war und ist nicht eindeutig. Kryssin zitiert die Auffassung von Tschukowskaja, der zufolge die Sprache durch einen solchen Gebrauch verarme und erstarre: „произнести Моя врач велела - это все равно, что сказать; Моя грач прилетела […]“ (Kryssin 2000: 28). Schostakowitsch‘) und композитор А. Пахмутова (‚Komponistin A. Pakhmu‐ tova‘). In umgangssprachlichen Konstruktionen steht das mask. Substantiv in Verbindung mit einer fem. Verb- oder Adjektivform, z. B. врач пришла (‚der Arzt ist gekommen‘), бригадир уехала в поле (‚der Brigadier ist ins Feld gezogen‘; seltener новая бригадир wörtl. ‚[der] neue Brigadier‘, хорошая врач wörtl. ‚[der] gute Arzt‘); 5 dadurch wird deutlich, dass es um eine Frau geht. Diese Mask. gehören nicht zum ‚doppelten Geschlecht‘ (Russische Grammatik 1980: 466). 1.3 Weiblichkeit und ihre Ausdrucksmittel Die Vorstellung von Weiblichkeit ist nur bei wenigen (sehr alten) Wörtern im Wortstamm verankert: мать ‚Mutter‘, дочь ‚Tochter‘, сестра ‚Schwester‘, дева ‚Maid‘; ansonsten sind Frauenbezeichnungen zum großen Teil Suffigie‐ rungen. Das Standardwerk Russische Grammatik (1980) zählt zehn Movierungs‐ suffixe auf, von denen jedes seine eigene Geschichte hat: -к(а) (пассажирка ‚Fahrgästin‘), -иц(а) (любимица ‚Lieblingin‘), -ниц(а) (учительница ‚Leh‐ rerin‘), -их(а) (повариха ‚Köchin‘), -ш(а) (библиотекарша ‚Bibliothekarin‘), -|j|- (шалунья ‚ausgelassenes Mädchen‘), -н(а) (in Vatersnamen: Петровна ‚Peterstochter‘), -ин(я) (героиня ‚Heldin‘), -есс(а) (поэтесса ‚Dichterin‘), -ис(а) (актриса ‚Schauspielerin‘), Nullsuffix (супруга ‚Ehegattin‘, вожатая ‚Leiterin‘; Nachnamen wie Попова ‚Popowa‘). Die Wahl des Suffixes ist abhängig von dem jeweiligen mask. Wortstamm: An Stämme, die auf -тель bzw. -ник enden, wird meist -ницangehängt: учитель ‚Lehrer‘ - учительница ‚Lehrerin‘, художник ‚Maler‘ - художница ‚Malerin‘; bei Stämmen auf -ф und -г ist es das Suffix -ин-: граф ‚Graf ‘ - графиня ‚Gräfin‘, психолог ‚Psychologe‘ - психологиня ‚Psychologin‘; bei Stämmen mit Konso‐ nanten-Vokal-Wechsel ist es das Suffix -к-: студент ‚Student‘ - студентка ‚Studentin‘. Die solchermaßen gebildeten fem. Suffigierungen sind unterschied‐ lich geläufig: Während etwa студентка ‚Studentin‘ und пророчица ‚Prophetin‘ in der Standardsprache häufig begegnen, sind Bildungen wie президентка ‚Präsidentin‘ und игрокиня ‚Spielerin‘ viel seltener. Für einige Berufe kennt die Literatursprache keine fem. Bezeichnung (z. B. филолог ‚Philologe‘, прокурор ‚Staatsanwalt‘); in anderen Fällen ist die fem. Variante nur umgangssprachlich 400 Svetlana Kibardina <?page no="401"?> 6 Zu den unterschiedlichen Auffassungen zur Genuskategorie siehe Janko-Trinizkaja (1966) und Kempgen (1995). 7 Anhängerinnen der feministischen Linguistik wie Uljanizkaja (2021: 150) sehen in der feministischen Sprachkritik einen progressiven Trend in der modernen Linguistik, der die Aufmerksamkeit auf die drängendsten sprachlichen Probleme der Gesellschaft lenkt und Vorschläge zu deren effektiver Lösung macht. in Gebrauch: докторша ‚Ärztin‘; gelegentlich begegnen auch Konstruktionen wie первая [Fem.] женщина-космонавт [Mask.] ‚die erste Frau-Kosmonautin‘. Es gibt auch mit verschiedenen Suffixen gebildete, zuweilen unterschiedlich konnotierte Synonympaare: постоялка - постоялица ‚Bewohnerin‘, монашка/ монашенка - монахиня ‚Nonne‘, полковница - полковничиха ‚Oberstin‘ (ei‐ gentlich: ‚Ehefrau eines Obersten‘), учительница - учительша ‚Lehrerin‘, директорша - директриса ‚Direktorin‘, рабыня - раба ‚Sklavin‘ (Russische Grammatik 1980: 197-201). Diese komplexen Beziehungen zwischen Genus und Sexus im modernen Russisch sind in der Sprachwissenschaft seit langem Gegenstand von Untersu‐ chungen und Diskussionen. 6 In den letzten Jahrzehnten hat die russische Lin‐ guistik ihre eigene wissenschaftliche Richtung entwickelt, die „Genderologie“ oder „Genderlinguistik“, die sich von der feministisch orientierten Sprachwis‐ senschaft abgrenzt. 7 Erörtert werden insbesondere zwei Problemkreise: (1) Aus‐ druck von Geschlecht in der Sprache (im Wortbestand und der Grammatik); (2) kommunikatives Verhalten von Männern und Frauen: typische Strategien und Taktiken, Präferenzen bei der Wahl der sprachlichen Mittel usw. (Kirilina 1998; Kirilina/ Tomskaya 2005). Der Terminus „Feminitiv“ (феминитив, auch феминатив, феминутив), der sich in der russischsprachigen Linguistik inzwi‐ schen etabliert hat, bezeichnet die Wörter, die sich in unterschiedlicher Weise auf Personen des weiblichen Geschlechts beziehen, in erster Linie Berufsbe‐ zeichnungen (Berkutowa 2018: o.S.; Wikipedia). Der entsprechende Terminus für Mask. lautet ‚Maskulativ‘ (маскулятив). Bei den meisten Feminitiven, die in der modernen Sprache vorkommen und in Wörterbüchern verzeichnet sind, handelt es sich um Ableitungen von Mask. mit den oben genannten Suffixen. Nur eine kleine Anzahl von Feminitiven ist nicht von mask. Wörtern abgeleitet: прачка ‚Wäscherin‘ (zu dem veralteten Verb прать ‚waschen‘), маникюрша ‚Handpflegerin‘/ ‚Maniküre‘ (zu маникюр; die mask. Form маникюрщик entstand später); техничка ‚Reinigungskraft‘ (zu der Wortgruppe техническая служащая ‚technische Angestellte‘, nicht zu der Berufsbezeichnung техник ‚Techniker‘) (vgl. Gruntschenko 2019: o.S., Kubajewa 2020: 418-422). Genus und Sexus im Russischen 401 <?page no="402"?> 8 Siehe dazu Meiser und Stevanović in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). 9 Großfürstin Olga übernahm im Jahre 945 nach der Ermordung ihres Mannes, des Großfürsten Igor (Herrscher über die Kiewer Rus von 912 bis 945), die Regentschaft für ihren minderjährigen Sohn und erwies sich als kluge Herrscherin, aber auch als grausame Feldherrin. Ihr Ziel war die Christianisierung der gesamten Bevölkerung, die erst ihrem Enkelsohn, dem hl. Wladimir, im Jahre 988 gelang. 10 Bei den hier und weiter angeführten historischen Beispielen ist es unmöglich, in der Übersetzung alle semantischen und formalen Besonderheiten der russischen Wörter zu erhalten, weil diese vielfach Realien aus früherer Zeit bezeichnen, für die es in der deutschen Sprache keine Äquivalente gibt. 2 Historische Entwicklung 2.1 Von den Anfängen bis zum 19. Jh. A. Piperski (2019a: o.S.) datiert die Entstehung von Feminitiven in den indoeu‐ ropäischen Sprachen auf die Zeit der indoeuropäischen Ursprache, in der es die Kategorie Genus im heutigen Sinne vermutlich noch nicht gab und den beiden Klassen von Substantiven (‚aktive‘ und ‚inaktive‘ Nomina) ein ‚allgemeines‘ bzw. ‚neutrales Genus‘ zukam. 8 Nach und nach verbreitete sich das nominale Suffix -(e)h 2 mit der Bedeutung ‚Frau‘, wodurch eine neue Kongruenzklasse entstand: Nomina mit fem. Genus gehörten nicht mehr der Subklasse mit allgemeinem Genus an, und aus dem verbleibenden Teil entstand die Klasse der Mask. Dieses Suffix führte zu Bildungen mit -a in Substantiven wie жена ‚Frau‘, сестра ‚Schwester‘, трава ‚Gras‘ und in Adjektiven wie жива ‚lebendig‘, молода ‚jung‘. Das Russische hat demnach drei Genera geerbt: Mask., Fem. und Neutr. Feminitive hat es in der Geschichte der russischen Sprache schon immer gegeben; ihre Erfassung begann mit dem Aufkommen von Wörterbüchern im 11. Jh. Die Untersuchung der Feminitive gibt genaueren Aufschluss über die jeweilige Stellung der Frau in der Gesellschaft und ihren Niederschlag in der Sprache. Vor tausend Jahren war die Gesellschaft in Bezug auf die Geschlechterrollen weitaus stabiler als heute. Bei den Fem. wurde vermutlich nicht zwischen den Bedeutungen ‚Frau X‘ und ‚Ehefrau von X‘ unterschieden. Großfürstin Olga 9 wurde княгиня Ольга genannt, als sie noch die Ehefrau von Fürst Igor war; auch als unabhängige Herrscherin wurde sie genau so genannt: ‚Es wäre in der alten Rus kaum jemandem in den Sinn gekommen, князь Ольга ‚Großfürst Olga‘ zu sagen‘ (Piperski 2019a). Die Sprache der urrussischen Periode (6.-14. Jh.) zeichnet sich durch eine Vielzahl paralleler Wortbildungsmuster aus, von denen einige im Sprachsystem nicht fest etabliert waren. Die am weitesten verbreiteten Suffixe waren -ик/ -иц(а) und -ник/ -ниц(а): ключник ‚Beschließer‘ - ключница ‚Beschließerin‘, veralt. посадник ‚(hist.) Stadtverwalter‘ 10 - посадница ‚Stadtverwalterin‘. Sehr 402 Svetlana Kibardina <?page no="403"?> produktiv waren auch feminine Korrelate auf -иц(а) zu mask. Bezeichnungen auf -ец: кормилец ‚Ernährer‘ - кормилица ‚Ernährerin‘, старец ‚Greis‘ - старица ‚Greisin‘. Bezeichnungen von Frauen konnten auch ohne Suffix bzw. mit Nullsuffix von Mask. abgeleitet werden: дьяконица ‚Diakonin‘, злодеица ‚Schurkin‘, пророчица ‚Prophetin‘, лекарица ‚Heilerin‘. In der Buchsprache findet sich das unproduktive Suffixpaar -ин/ -ын(я): господин ‚Herr‘ - господыня ‚Herrin‘ (Berkutowa 2018). In der altrussischen Periode (14.-17. Jh.) entstehen fem. Entsprechungen zu bereits existierenden Mask., die nicht durch Suffigierung mit den üblichen fem. Endungen, sondern mit Hilfe anderer Wortbildungstypen gebildet sind: немчин‚ немец ‚der Deutsche‘ - немка ‚die Deutsche‘; турчин, турчанин, турок ‚Türke‘ - турчанка ‚Türkin‘; челядин, челядинец, челядник ‚Lakai‘/ ‚Diener‘ - челядинка ‚Dienerin‘. Nach Asarch (1979, 1984: 117, 123) deutet dies auf die Lockerung der für das Altrussische charakteristischen starren Verbindung spezifischer Wortbildungstypen für Bezeichnungen von Männern und Frauen hin (vgl. auch Berkutowa 2019: o.S.). Produktiv ist weiter die Bildung von Korrelaten mit dem Suffix -ниц(а): владетельница ‚Besitzerin‘, кормительница ‚Ernährerin‘, гадательница ‚Wahrsagerin‘, sowie mit den Suffixen -щиц(а)/ -чиц(а): помещик ‚Gutsbesitzer‘ - помещица ‚Gutsbesitzerin‘, банщик ‚Badediener‘ - банщица ‚Badedienerin‘. In der Umgangssprache er‐ scheinen Bildungen mit dem Suffix -их(а): бобылиха ‚alleinstehende Frau‘, колдуниха ‚Zauberin‘, вориха ‚Diebin‘. In der Geschäftssprache tauchen, ver‐ mutlich im Zusammenhang mit der Differenzierung in belebte und unbelebte Nomina, erstmals eigenständige Berufsbezeichnungen für Frauen auf, die mit den Suffixen -j(а) und -ниц(а) gebildet sind, wie ткалья ‚Weberin‘, прялья ‚Spin‐ nerin‘ und скатерница (wörtlich) ‚Tischtuchmädchen‘. So begann bereits in altrussischer Zeit die Herausbildung von Wortbildungstypen für Bezeichnungen ausschließlich des weiblichen Geschlechts. In urrussischer und altrussischer Zeit hatten abgeleitete Fem. zwei Bedeu‐ tungen: a) ‚Frau, der eine Eigenschaft zukommt, die mit dem jeweiligen Mask. ausgedrückt wird‘; b) ‚Ehefrau eines Mannes (mit einem bestimmten Beruf, einer bestimmten Position, einem bestimmten Rang u.ä.)‘. Im Urrussischen gab es zudem eine besondere Variante der Bezeichnung von Ehefrauen, die mit Hilfe der Suffixe -ов/ -ев gebildet wurde: дияконова(я) ‚Diakonin‘, королева(я) ‚Königin‘; in altrussischer Zeit war dieses Modell nicht länger produktiv (Ber‐ kutowa 2019). In der petrinischen Ära (18. Jh.) tauchte das Suffix -ш(а) auf, ursprünglich in der Bedeutung ‚Ehefrau‘. Wie Schanskij (1959: 65-67) erläutert, sind in der Grammatik von Lomonossov erstmals zehn solcher Ableitungen verzeichnet, Genus und Sexus im Russischen 403 <?page no="404"?> darunter генеральша ‚Generalin‘, бригадирша ‚Brigadierin‘, секретарша ‚Se‐ kretärin‘, капитанша ‚Kapitänin‘. Музыкантша ‚Musikantin‘ und богатырша ‚Hünin‘/ ‚Frau, die wie ein Mann für eine [gerechte] Sache kämpft‘. Diese weib‐ lichen Tätigkeitsbezeichnungen sind schon in den Wörterbüchern der zweiten Hälfte des 18. Jh. belegt. Das Suffix -ш(а), das zusammen mit Bezeichnungen von Ehefrauen wie Doctorsche, Generalsche erstmals im frühen 18. Jh. aus dem Niederdeutschen entlehnt wurde, wird meist mit dem Stamm von Entlehnungen auf -р, -л, -м, -н, -нт kombiniert. Im Zuge der Assimilation erhielten diese Entlehnungen im Russischen die Endung -a, und analog zu anderen Suffixen begann -ш(а) die Nische der Bezeichnung von Frauenberufen zu besetzen, wobei Wörter wie лекторша ‚Lektorin‘ eine neutrale semantische Färbung hatten. Fufajewa (2021) weist ergänzend darauf hin, dass das Suffix im Niederdeutschen und Russischen eine unterschiedliche Bedeutung hat: Komödiantsche bezeichnet einen Beruf, кастелянша ‚Kastellanin‘ ein Hofamt. Bereits im 19. Jh. stellte Gerasim Pawski, Erzpriester, Exeget und Bibel‐ übersetzer (1787-1863), bei seiner Untersuchung der Bezeichnungen von Ehe‐ frauen fest, dass für Frauen höheren Ranges das Suffix -ша verwendet wird (генеральша ‚Generalin‘, адмиральша ‚Admiralin‘, губернаторша ‚Gouver‐ neurin‘), während Bezeichnungen von Ehefrauen der niederen Stände mit dem Suffix -иха abgeleitet werden (купчиха ‚Kaufmannsfrau‘, дьячиха ‚Frau eines Djaken [Hofbeamten]‘, повариха ‚Köchin‘) (Gruntschenko 2019). Einige Berufsbezeichnungen wurden aus Ausdrücken für Tätigkeiten ge‐ bildet, die von Männern und Frauen ausgeübt wurden, während andere Tätig‐ keiten ausschließlich Frauen vorbehalten waren; mask. Korrelate zu ворожея ‚Wahrsagerin‘, плакальщица ‚Klageweib‘ oder zu Fem., die auf -уха endeten, wie etwa повитуха ‚Hebamme‘, waren ausgeschlossen, während die Ablei‐ tung von приживал zu приживалка ‚Person, die auf Kosten anderer wohnt‘ möglich war. Im 18. Jh. entstanden viele Fem. ohne mask. Korrelate, etwa выжижница ‚Lumpenhändlerin‘, веношница ‚Blumenmädchen‘, горничная ‚Zimmermädchen‘, бельемоя ‚Wäscherin‘, вольнодомка ‚Freifrau‘/ ‚Gastwirtin‘. Mask. Korrelate zu Feminitiva wurden nur selten gebildet. Im 18. Jh. waren es Frauen, die als Floristen und Handschuhmacher tätig waren: цветочница, перчаточница; die entsprechenden mask. Berufsbezeichnungen цветочник ‚Florist‘ und перчаточник ‚Handschuhmacher‘ entstanden erst später. In man‐ chen Fällen ist die mask. Variante nicht erhalten geblieben; das gilt etwa für die Maskulative швец, шевец, швей, шваль zu швея ‚Näherin‘ (Fufajewa 2021). Bis ins 19. Jh. wurde im Russischen mittels spezifischer lexikalischer Bezeich‐ nungen zwischen Männer- und Frauenberufen unterschieden. Die Gruppe der fem. Berufsbezeichnungen umfasste Ausdrücke für traditionell weibliche Tätig‐ 404 Svetlana Kibardina <?page no="405"?> keiten, die keine mask. Entsprechung hatten (няня ‚Kindermädchen‘, прачка ‚Wäscherin‘, кружевница ‚Klöpplerin‘), und solche, die von beiden Geschlech‐ tern ausgeübt werden konnten (наборщик ‚Schriftsetzer‘ - наборщица ‚Schrift‐ setzerin‘, гувернер ‚Hauslehrer‘ - гувернантка ‚Hauslehrerin‘/ ‚Gouvernante‘, лекарь ‚Heiler‘ - лекарка ‚Heilerin‘); diese Fem. sind demnach durch Suffigie‐ rung der mask. Berufsbezeichnungen entstanden. Für die ur- und altrussischen Sprachperioden sowie für das 18. und 19. Jh. sind Tendenzen zur Bildung ver‐ schiedener fem. Korrelate und zur Vervielfältigung von Wortbildungsmodellen festzuhalten. Historisch gesehen kennt das Russische keine Einschränkungen für die Bildung von Feminitiven (Berkutowa 2018). In der russischen Sprache des 19. Jh. gibt es eine breite Palette von Frau‐ enbezeichnungen, für die Jeremenko (1998) 14 thematische Gruppen unter‐ scheidet. Darunter finden sich Bezeichnungen nach dem Alter (девочка ‚Mäd‐ chen‘, девушка ‚junge Frau‘, отроковица ‚Jugendliche‘, старуха ‚alte Frau‘), den verwandtschaftlichen Beziehungen (мать ‚Mutter‘, свекровь ‚Schwieger‐ mutter‘, бабушка ‚Großmutter‘, свояченница ‚Schwägerin‘), der Herkunft bzw. Staatszugehörigkeit (англичанка ‚Engländerin‘, калмычка ‚Kalmykin‘), dem Wohnort (горянка ‚Gebirgsbewohnerin‘, горожанка ‚Städterin‘, парижанка ‚Pariserin‘), der religiösen Zugehörigkeit (католичка ‚Katholikin‘, лютеранка ‚Lutheranerin‘, христианка ‚Christin‘), dem sozialen Status (аристократка ‚Aristokratin‘, крепостная ‚Leibeigene‘), körperlichen Merkmalen (блондинка ‚Blondine‘, великанша ‚Riesin‘, горбунья ‚Bucklige‘), Charaktereigenschaften (смиренница ‚Demütige‘, эгоистка ‚Egoistin‘) und Weltansichten (нигилистка ‚Nihilistin‘). Besonders zahlreich sind die Berufsbezeichnungen (s. 2.2). In morphologischer Hinsicht sind zuerst Simplizia zu nennen, meist äl‐ teren Ursprungs - panslawische (баба ‚Weib‘, дочь ‚Tochter‘, жена ‚Ehe‐ frau‘, мама ‚Mutter‘), ostslawische (тётя ‚Tante‘, няня ‚Kindermädchen‘), russische (золовка ‚Schwägerin‘, прачка ‚Wäscherin‘, дура ‚Närrin‘). Sämt‐ liche Wortbildungsarten sind vertreten, jedoch mit unterschiedlicher Produk‐ tivität: Neben der Suffigierung sind es die Präfigierung (прабабушка ‚Urgroß‐ mutter‘, незнакомка ‚Unbekannte‘), die Zusammensetzung (домовладелица ‚Hausbesitzerin‘, единовластительница ‚Alleinherrscherin‘, мужеубийца ‚Ehemann-Mörderin‘), auch mit Suffigierung (двоемужница ‚Bigamistin‘, поломойка ‚Fußbodenwäscherin‘), und die Konversion (больная ‚Kranke‘, дежурная ‚Diensthabende‘, знакомая ‚Bekannte‘). Die überwiegende Zahl der Frauenbezeichnungen ist aus nominalen oder verbalen Basen gebildet (толстуха ‚Fette‘, смуглянка ‚Dunkelhäutige‘, сиделка ‚Krankenpflegerin‘), in erster Linie den entsprechenden Mask. (булочница ‚Bäckerin‘, купальщица ‚Badende‘, пивоварка ‚Bierbrauerin‘), selten auch aus Ausdrücken, die keine Genus und Sexus im Russischen 405 <?page no="406"?> Männerbezeichnungen sind (содержанка ‚Mätresse‘, zu содержать ‚[eine Ge‐ liebte] aushalten‘). Weiter sind hier phraseologische Fügungen (крестная мать ‚Patin‘, старая дева ‚alte Jungfer‘) und Entlehnungen aus verschiedenen Sprachen zu nennen, u. a. dem Französischen (актриса ‚Schauspielerin‘, куртизанка ‚Kurtisane‘), Deutschen (фрейлина ‚Hoffräulein‘, статс-дама ‚Staatsdame‘), Italienischen (дива ‚Diva‘, примадонна ‚Primadonna‘), Lateini‐ schen (императрица ‚Kaiserin‘) und selbst dem Japanischen (гейша ‚Geisha‘) ( Jeremenko 1998: 6-12). 2.2 Entwicklungen im 20. Jh. Manche Linguisten datieren die erste Welle der Bildung von Feminitiven im Russischen auf die Wende vom 19. zum 20. Jh., als Frauen viele Berufe ergriffen, die zuvor Männern vorbehalten gewesen waren. In dieser Zeit wurden suffragistisch, sozialistisch, liberal-feministisch orientierte Frauenor‐ ganisationen in Russland aktiv, die sich für die Emanzipation der Frauen einsetzten. Zur Bezeichnung von Frauenberufen dienten alte Fem. in Wortkom‐ binationen (сестра милосердия ‚barmherzige Schwester‘, классная дама ‚[hist.] Klassenlehrerin‘) und neue Ableitungen, von denen viele bis heute erhalten geblieben sind, etwa пианистка ‚Pianistin‘, телефонистка ‚Telefonistin‘, портретистка ‚Porträtistin‘, переводчица ‚Übersetzerin‘, гардеробщица ‚Gar‐ derobiere‘, директриса ‚Direktorin‘, инспектриса ‚Inspektorin‘, поэтесса ‚Dichterin‘. Andere verschwanden aus der Sprache, nachdem sie in der Gesell‐ schaft auf Widerstand gestoßen oder durch neue Bezeichnungen verdrängt worden waren, wie фабричная ‚Fabrikarbeiterin‘, композиторша ‚Kompo‐ nistin‘, педагогичка ‚Pädagogin‘, философка ‚Philosophin‘, обувщица ‚Schuh‐ macherin‘, живописица ‚Malerin‘, авиаторша, авиатриса ‚Fliegerin‘ ( Jere‐ menko 1998: 5-6; Sprache und Gesellschaft 1968: 193). Parallel dazu setzte eine gegenläufige Tendenz ein, die Verwendung von Mask. in einer generischen Bedeutung (автор ‚Autor‘, адвокат ‚Anwalt‘, архитектор ‚Architekt‘, секретарь ‚Sekretär‘ usw.), anfänglich mit ergän‐ zenden Erläuterungen zur Qualität, Position oder zum weiblichen Geschlecht: в качестве ‚als‘, в должности ‚in der Position‘, etwa Русские женщины делали попытки поступить в качестве добровольца в армию (‚Russische Frauen versuchten, sich als Freiwillige [Fem.] in der Armee zu melden‘; Berkutowa 406 Svetlana Kibardina <?page no="407"?> 11 Als Slawophilie wird eine im 19. Jh. entstandene Bewegung bezeichnet, die die Weiter‐ entwicklung des Russischen Reiches auf der Grundlage von Werten und Institutionen aus der frühen Geschichte Russlands anstrebte. Ihre Anhänger widersetzten sich dem Einfluss Westeuropas in Russland. 2018). Bereits 1880 hatte Aksakow, ein Vertreter der Slawophilie, 11 sich zur generischen Verwendung von Mask. geäußert: ‚Der männliche Ausdruck, der in seiner Bedeutung unbestimmt ist, bezeichnet das Geschlecht im Allgemeinen (die Art); die gesamte allgemeine Bedeutung des Wortes, weil das Geschlecht selbst nicht deutlich erscheint, ist im männlichen Ausdruck nicht definiert. Alle Bestimmtheit, Begrenztheit, Positivität und in Verbindung damit auch das Geschlecht, erscheinen im weiblichen Ausdruck‘ (Aksakow 1880: 66). Um die veränderte Stellung der Frau in der Gesellschaft auch sprachlich zu kennzeichnen, wurden im Russischen an der Wende vom 19. zum 20. Jh. zwei Verfahren gleichzeitig entwickelt, der Rückgriff auf das herkömmliche Verfahren, d. h. Prägung genuin femininer Bezeichnungen, und die Hinwendung zu dem neuen Verfahren der Zuweisung einer generischen Bedeutung zu mask. Bezeichnungen (Berkutowa 2018). Im Ersten Weltkrieg und in den Revolutionsjahren spielten Frauen eine maßgebliche Rolle in der Wirtschaft und in der Gesellschaft. -к(а), das bei der Bildung von Feminitiven produktivste Suffix, wurde an mask. Nomina und Suf‐ fixe angehängt: вузовка ‚Studentin‘, активистка ‚Aktivistin‘, интеллигентка ‚[die] Intellektuelle‘, милиционерка ‚Polizistin‘, кулачка ‚[hist.] Kulakin‘. Be‐ zeichnungen von Tätigkeiten in der Industrie wurden zumeist mit dem Suffix -щиц(а)/ -чиц(а) gebildet: вагонщица ‚Waggonarbeiterin‘, грузчица ‚Laderin‘, крановщица ‚Kranführerin‘, укладчица ‚Staplerin‘. Bedeutungsähnliche Femi‐ nitive, die mit unterschiedlichen Suffixen gebildet sind, können in der Presse- und Umgangssprache nebeneinander existieren: контролерка - контролерша ‚Kontrolleurin‘, комсомолка - комсомоловка ‚Komsomolzin‘, кустарка - кустарница ‚Heimhandwerkerin‘, санитарка - санитарница ‚Sanitäterin‘, буржуазка - буржуйка ‚Bourgeoise‘ (Berkutowa 2018). Nach der Oktoberrevolution, als der Aufbau des Sozialismus erfolgte, wurden Feminitive geschaffen, die im Zusammenhang mit der Idee der Gleichberechti‐ gung von Mann und Frau stehen; Männerberufe wurden nun auch für Frauen zugänglich (комбайнёрша ‚Kombineführerin‘, трактористка ‚Traktoristin‘). In den ersten Jahrzehnten des Bestehens der UdSSR wurden Feminitive künst‐ lich gebildet und eingeführt, ab den 1930er Jahren jedoch nur noch selten in offiziellen Dokumenten verwendet: Das Geschlecht der Person spielte in diesen Dokumenten keine Rolle, so dass die mask. Form zur ‚neutralen‘ Variante wurde. Genus und Sexus im Russischen 407 <?page no="408"?> In der sowjetischen Presse war das Wort ученая ‚Gelehrte‘ bis etwa in die 1940er Jahre zu lesen. Im selben Zeitraum war man bemüht, Maskulative zur Bezeichnung von Männern zu schaffen, die in ursprünglich nur von Frauen ausgeübten Berufen tätig waren, etwa переписчик на машинке ‚Mann, der mit einer Schreibmaschine arbeitet‘ (Gruntschenko 2019). In der Sprache der Gebildeten und bei der Bezeichnung hochqualifizierter Berufe oder gesellschaftspolitischer Aktivitäten setzte sich allmählich die Ten‐ denz zur Verwendung ‚geschlechtsneutraler‘ Mask. durch. Im Fall der Suffigie‐ rungen mit -тель (деятель ‚Funktionär‘, руководитель ‚Leiter‘, председатель ‚Vorsitzender‘, читатель ‚Leser‘) tritt die mask. Bedeutung stärker in den Hintergrund; bei diesen Bildungen wird die „Sichtbarkeit“ von Frauen weniger deutlich als etwa bei Suffigierungen mit -щик. Um die Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu unterstreichen, prägten die Bolschewiki den Ausdruck товарищ ‚Genosse‘, zu dem in der Allgemeinsprache und in der Literatursprache bereits die fem. Entsprechung товарка ‚Genossin‘ existierte (Sprache und Gesellschaft 1968: 197). Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre gab es einige Verände‐ rungen in der Sprache. Einige, meist mit unproduktiven Suffixen gebildete Fem. verschwanden nach und nach (архитектриса ‚Architektin‘, лектриса ‚Lektorin‘, авиатриса ‚Fliegerin‘, адвокатесса ‚Anwältin‘ u.ä.). Die Tendenz, zur Bezeichnung von Frauen Mask. zu verwenden, führte zu dem Kuriosum, dass einige davon (женкор ‚Korrespondent‘, женорг ‚Organisator‘) nun auch zur Bezeichnung ausschließlich von Frauen ausgeübter Tätigkeiten dienten. Schließlich tauchten auch die bereits erwähnten Konstruktionen инженер сказала (‚der Ingenieur sagte‘) [Subst. Mask. + Verb (Fem.)], наша новая врач (‚der neue Arzt‘) [Pron., Adj. Fem. + Subst. Mask.] auf (Berkutowa 2018). Ab den 1930er Jahren setzte sich die Tendenz, ‚geschlechtsneutrale‘ Mask. auch im Plural zu verwenden, allmählich durch (студенты ‚Studenten‘, кандидаты ‚Kandidaten‘, спортсмены ‚Sportler‘); Feminitive im Sing. spielten dagegen weiter eine bedeutsame Rolle bei der Bezeichnung von Berufen. Solange es darauf ankam, die Tätigkeit von Frauen in einem Beruf sichtbar zu machen, wurde die fem. Bezeichnung verwendet; sobald Frauen jedoch einen Tätigkeits‐ bereich beherrschten und den Männern darin gleichgestellt waren, hielt man es nicht mehr für erforderlich, die Sichtbarkeit von Frauen hervorzuheben, weshalb die mask. Berufsbezeichnung nun auch für Frauen verwendet wurde. Die Verdrängung der Feminitive aus der russischen Sprache ist auf kulturelle Faktoren der frühen Sowjetära zurückzuführen, die sich auch in visuellen Darstellungen von Frauen widerspiegelten (vgl. Berkutowa 2018). In den 1920er Jahren, als die revolutionäre, emanzipatorische Komponente noch im Vorder‐ 408 Svetlana Kibardina <?page no="409"?> 12 Abgesehen von älteren Fem. aus der Zeit vor dem 19. Jh. und einigen Ausnahmen. grund stand, war das vorherrschende Bild dasjenige der aktiven, eher asexuellen Frau, die in offiziellen Darstellungen in androgynen Zügen dargestellt wurde (vgl. Sacharowa 2005). Als in den 1930er Jahren neben der Produktion auch die demografische Komponente in den Vordergrund gerückt wurde, erschien neben dem Bild der Arbeiterin das Bild der ‚Frau und Mutter‘, und in den 1950er Jahren kehrten die traditionellen patriarchalischen Rollen der ‚Frau als Herrin des Hauses‘ und der ‚Frau als Verführerin‘ in das öffentliche Bewusstsein zurück, was auf die - nicht expliziten - politischen Bemühungen um die Stärkung von Ehe und Familie zurückzuführen ist. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen der stalinistischen Sowjetzeit erwies es sich als nicht mehr erforderlich, den Gegensatz zwischen männlicher und weiblicher Arbeit zu betonen und Frauen in beruflichen Tätigkeiten aus‐ drücklich hervorzuheben: Je sozialer, öffentlicher und höher qualifiziert der Beruf ist, desto eher wird die mask. Bezeichnung verwendet ( Janko-Trinizkaja 1966: 194; Sprache und Gesellschaft 1968: 202). Schon 1947 hatte Winogradow die Meinung vertreten, dass die mask. Form nicht länger in erster Linie die Idee des biologischen Geschlechts, sondern vielmehr die allgemeine Idee der Person, die Zugehörigkeit zur Kategorie ‚Mensch‘ bezeichnete (Winogradow 1986: 62). Gängige parallele Bezeichnungen für Männer bzw. Frauen und Fem. für ausschließlich weibliche Bereiche waren jedoch ebenfalls weiter in Gebrauch: сиделка ‚Krankenpflegerin‘, прачка ‚Wäscherin‘ usw. In den 1960er Jahren setzte sich in der russischen Literatursprache schließlich die bereits 1880 von Aksakow (s. o.) beschriebene Tendenz durch, Mask. auch zur Bezeich‐ nung von Personen ohne Geschlechtsangabe einzusetzen, während Fem. stets geschlechtsmarkiert sind. Mitte des 20. Jh. waren die Mask. auf diese Weise end‐ gültig als ‚universell‘ in der Sprache etabliert; die Verwendungshäufigkeit von Feminitiven und vor allem deren Neubildung nahmen in der Literatursprache 12 allmählich ab (Berkutowa 2018). Im 20. Jh. war die russische Sprache demnach von zwei gegensätzlichen Tendenzen gekennzeichnet: 1. Bildung und Verwendung von Feminitiven, 2. Rückgriff auf Maskulative als ‚geschlechtsneutrale‘ Bezeichnungen für Männer und Frauen (Berkutowa 2018). Diese Situation hielt im Wesentlichen bis zum Ende des 20. Jh. an. Unter dem Einfluss der feministischen Bewegung setzte in den 2010er Jahren dann eine neue Welle feministischer Neologismen ein, die durch den Einfluss westeuropäischer Sprachen zu erklären ist (siehe infra). Englisch als die weltweit einflussreichste Sprache gab dabei den Anstoß zum Gendern im Russischen, während die Techniken des Genderns vor allem Genus und Sexus im Russischen 409 <?page no="410"?> von anderen slawischen Sprachen sowie vom Deutschen und Französischen übernommen wurden (Piperski 2019b: o.S.). In sprachwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kreisen wurde zunehmend über die Bildung und den Einsatz von Feminitivеn diskutiert. Neben sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema sind inzwischen auch Verzeichnisse von Feminitiven erschienen (Kolesnikow 2002; Masikina 2018; Fufajewa 2020). 3 Zur gegenwärtigen Lage 3.1 Aktuelle Diskussion in der Sprachwissenschaft Den linguistischen Aspekten der Bildung und Verwendung von Feminitiven im zeitgenössischen Russisch hat Berkutowa (2019) eine ausführliche Unter‐ suchung gewidmet, in der sie die Gegenargumente analysiert (‚Feminitive sind redundant und widersprechen den Regeln der russischen Sprache‘) und auf die Tradition der Bildung von Feminitiven zu bereits vorhandenen Mask. (Korrelaten) hinweist, für die das Russische im Laufe seiner Geschichte beste‐ hende Wortbildungsmodelle aktualisiert, seltener auch neu geschaffen hat. Von den verschiedenen Einschränkungen bei der Bildung von Feminitiven sind allein stilistische und lexikalische maßgeblich; diese sind nicht etwa auf eine Inkompatibilität mit dem Sprachsystem, sondern auf außersprachliche Faktoren zurückzuführen, die sich je nach Epoche ändern und sich unterschiedlich auf die Wahrnehmung des Wortes auswirken können. Aus Korpusuntersuchungen geht hervor, dass es in der russischen Gegenwartssprache zahlreiche Feminitive mit unterschiedlicher Semantik gibt (vor allem Berufsbezeichnungen), die noch nicht in Wörterbüchern vertreten sind; davon sind einige umgangssprachlich und abwertend konnotiert. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass Feminitive eine produktive lexikalische Gruppe in der modernen russischen Sprache sind, die ständig durch Neubildungen erweitert wird; dabei kommen neben traditio‐ nellen Wortbildungsmodellen auch neue Wortbildungsarten und Bedeutungen von Suffixen zum Einsatz (Berkutowa 2019). Der Philologe Kolesnikow hat 2002 ein ‚Bedeutungswörterbuch der Frau‐ enbezeichnungen‘ („Толковый словарь названий женщин“) mit über 7000 Einträgen veröffentlicht, in dem u.-a. 500 Bezeichnungen von Einwohnerinnen und 60 Namen biblischer Heldinnen verzeichnet sind, darunter rund 180 deadjektivische Substantive. Sein Wörterbuch ist das bislang wohl umfas‐ sendste Verzeichnis der Frauenbezeichnungen, die im Laufe der russischen Sprachgeschichte entstanden sind; es zeigt zudem die Wortbildungsmöglich‐ keiten des Russischen auf und weist bei Feminitiven, die mit verschiedenen Suffixen gebildet sind, auf deren Synonymie hin. Das Werk enthält Bezeich‐ 410 Svetlana Kibardina <?page no="411"?> 13 Bezeichnung für eine Händlerin, die in der russischen Gesellschaft der 1990er Jahre regelmäßig ins Ausland, vor allem nach China, fuhr, um dort Waren einzukaufen, die sie dann in Russland gewinnbringend weiterverkaufte. - Weitere Beispiele sind ефрейторша ‚Gefreite‘, бомжиха ‚Obdachlose‘ und гангстерша ‚Gangsterin‘. nungen von Frauen nach ihrer Berufstätigkeit, ihren Interessen, ihrem Famili‐ enstand, Aussehen, Charakter und Verhalten sowie der Art und Weise ihrer Wahrnehmung durch die Gesellschaft im Allgemeinen und speziell durch Männer. Auch einige Archaismen aus verschiedenen Epochen sind darin verzeichnet, z. B. казначея ‚Schatzmeisterin‘, ткалья ‚Weberin‘, семьянка ‚Frau mit Familie‘, аржаница ‚Wöchnerin‘, гостинодворка ‚Frau eines Händ‐ lers mit einem großen Geschäft‘. Unter den als Neubildungen der letzten Jahrzehnte verzeichneten Bezeichnungen sind etliche inzwischen so fest in der Sprache verankert, dass sie als ältere Bildungen wahrgenommen werden; Beispiele sind горнолыжница ‚Skiläuferin‘, кинематографистка ‚Filmema‐ cherin‘, администраторша ‚Administratorin‘, интеллектуалка ‚Intellektu‐ elle‘ [Fem.], лучница ‚Bogenschützin‘, тележурналистка ‚Fernsehreporterin‘. Anlass der Entstehung von Neologismen sind auch Ereignisse, an denen Frauen erstmals beteiligt waren (wie etwa bei einer Flugzeugentführung авиаугонщица ‚Flugzeugentführerin‘), des Weiteren ihre Zugehörigkeit zu einer politischen oder sozialen Gruppe (сталинистка ‚Stalinistin‘, бандеровка ‚Bandenanhängerin‘, правозащитница ‚Menschenrechtsaktivistin‘), ihre Prä‐ senz im Sport (финалистка ‚Finalistin‘, синхронистка ‚Synchronschwim‐ merin‘), in der Wirtschaft und im Geschäftsleben (бизнесменша ‚Business‐ woman‘, инженериха ‚Ingenieurin‘, инкассаторша ‚Kassiererin‘, шоферка ‚Chauffeurin‘, компаньонша ‚(Geschäfts-)Partnerin‘, челночница ‚Händlerin, die ihre Ware im Ausland beschafft‘). 13 Wie Kolesnikow bemerkt, fehlen fem. Entsprechungen zu bestimmten Berufsbezeichnungen wie политик ‚Politiker‘, вождь ‚Führer‘, плотник ‚Zimmermann‘, кузнец ‚Schmied‘, слесарь ‚Schlosser‘, токарь ‚Drechsler‘, консул ‚Konsul‘, землекоп ‚Ausgräber‘, монтёр ‚Monteur‘, репортёр ‚Reporter‘, фотограф ‚Fotograf ‘, gegen deren Bildung phonetische Gründe und der Umstand sprechen, dass Frauen nur selten den Beruf des Schlossers, Schmieds usw. ergreifen. Weiter erläutert der Verfasser, die regel‐ mäßige Verwendung von Feminitiven könne dazu beitragen, Fügungen mit fem. Verbformen wie продавец ответила ‚der Verkäufer antwortete‘ und уполномоченный заявила ‚der Bevollmächtigte erklärte‘ (siehe 1.2) in Bezug auf Frauen zu vermeiden, die er im Unterschied zu vielen Linguisten für ungrammatisch hält. Es gelte lediglich, die psychologischen Hindernisse zu überwinden, die der Bildung und Verwendung von Feminitiven entgegenstehen (Kolesnikow 2002: 6). Genus und Sexus im Russischen 411 <?page no="412"?> 14 http: / / ucts.uniba.sk/ aranea_about/ _russicum.html. Die Meinung vieler Linguisten ist recht eindeutig: Der Androzentrismus des Russischen ist, wie bei vielen anderen Sprachen auch, durch die soziale Struktur der Gesellschaft zu erklären. Man müsse zwischen dem Kampf der Frauen um ihre Rechte in der Gesellschaft und der Veränderung der Sprache unterscheiden; die Struktur der Sprache und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung, insbe‐ sondere in Bezug auf die Semantik und die Kombinationsmöglichkeiten von Wortbildungselementen, aber auch Traditionen und Kommunikationsgewohn‐ heiten seien zu berücksichtigen. Gruntschenko (2019) sieht in dem Interesse an den Feminitiven in gewisser Hinsicht eine Modeerscheinung: Wer sich für die Einführung von Feminitiven einsetze, berufe sich dabei auf die bestehende Gewalt und Ungleichheit, versuche aber selbst, der Sprache Gewalt anzutun. Wie Piperski (2019b) anhand konkreter Beispiele zeigt, kann ein Stamm mit Hilfe verschiedener Suffixe viele Varianten mit unterschiedlichen Konno‐ tationen hervorbringen, deren Gebrauchshäufigkeit durch phonetische und morphologische Regeln bestimmt wird. Er weist darauf hin, dass sich die Verwendung von Feminitiven am besten anhand umfangreicher Textkorpora wie dem Araneum Russicum Maximum  14 untersuchen lässt; auf dieser Grund‐ lage könne ermittelt werden, inwiefern Suffixe mit verschiedenen Stämmen kompatibel sind. Nach seiner Auffassung ist es nicht Aufgabe der Linguistik, die Bildung von Feminitiven vorzuschreiben, sondern die von feministischer Seite vorgeschlagenen Änderungen unabhängig von ideologischen Einstellungen zu untersuchen. Im Kontext der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte um Binarität und Geschlechtsidentität wirft er die Frage auf, ob womöglich besondere Suffixe zur Bezeichnung nonbinärer Menschen benötigt werden. Bei der Diskussion über die Bildung neuer Feminitive geht es in erster Linie um das Suffix -к- (auch unter Bezugnahme auf andere slawische Sprachen wie Polnisch, Tschechisch und Ukrainisch, in denen Feminitive systematischer gebildet werden) und die Suffixe -ш und -х, die auf Grund ihrer Mehrdeutigkeit bislang nicht in der Literatursprache verankert sind. Das Suffix -кgilt als allgemeiner und neutraler, kann jedoch neben der Bedeutung von Weiblich‐ keit (комсомолец ‚Komsomolze‘ - комсомолка ‚Komsomolzin‘, стажер ‚Prak‐ tikant‘ - стажерка ‚Praktikantin‘) auch eine abwertende Bedeutung vermitteln (учительница ‚Lehrerin‘ - училка/ учителка ‚schlechte Lehrerin‘). Krongauz (2021: o.S.) bemerkt, das Suffix -ка sei mit auf -ер endenden Lehnwörtern wie режиссер ‚Regisseur‘, актер ‚Schauspieler‘ nur schwer kombinierbar; das gelte auch für Berufsbezeichnungen wie доктор ‚Arzt‘, адвокат ‚Anwalt‘, 412 Svetlana Kibardina <?page no="413"?> 15 Vgl. die Bezeichnungen von Männchen und Weibchen in der Tierwelt. Es wäre aufschlussreich, die Genus-Sexus-Problematik im Bereich der Tierbezeichnungen näher zu erforschen und Vergleiche zur Menschenwelt zu ziehen. Manche russischsprachige Tierbezeichnungen sind generische Fem.: кошка ‚Katze‘, собака ‚Hund‘, лиса ‚Fuchs‘. Vgl. hierzu das Video von Krongauz (2018). weshalb die Bildungen режиссерка, актерка, докторка und адвокатка eher als abwertend empfunden würden. Nach Piperski (2019b) neigen russische Sprecher dazu, Feminitive mit dem Suffix -к als natürlicher anzusehen, wenn die Betonung im Wortstamm auf die letzte Silbe fällt (студе́нт - студе́нт-к-а), dagegen als weniger natürlich, wenn die Betonung im Wortstamm auf anderen Silben liegt (а́втор - а́втор-к-а). Kaminskaja (in: Kommersant 2021) bemerkt ihrerseits, die aus anderen slawi‐ schen Sprachen entlehnten Feminitive авторка ‚Autorin‘, ректорка ‚Rektorin‘ und директорка ‚Direktorin‘ liefen den Wortbildungsgewohnheiten russischer Muttersprachler zuwider. Dieses Suffix führe zudem im Fall der Bildung von Diminutiven bzw. Abkürzungen von Wortkombinationen zu Homonymien (финка ‚Finnisches Messer‘/ ‚Finnin‘). Fufajewa meint, in den neuen Medien sei das Suffix -ша gebräuchlicher, weil es keine negativen Konnotationen hervorrufe; Wörter wie геймерша ‚Gamerin‘ und блогерша ‚Bloggerin‘ würden als ‚natürlich‘ empfunden. Nach ihrer Ansicht gehört die Zukunft dem Suffix -есса, das über Lehnwörter in die russische Sprache gekommen ist. Es ist unmittelbar als fem. Suffix erkennbar, nahezu frei von Konnotationen und ruft keine Missverständnisse hervor: ‚Wie bezeichnet man zum Beispiel eine Frau, die als Komikerin auftritt? - Комичка? … Man könnte natürlich стендаперша oder комикесса sagen […]. Zu Sowjetzeiten kamen einige Bildungen mit -есса plötzlich auf und verschwanden ebenso rasch wieder; in die Grammatiken schafften es nur wenige. Damals konnten sie sich nicht durchsetzen. Doch vielleicht gelingt es ihnen jetzt‘ (Fufajewa 2021). Manche Gegner feministischer Neologismen sind der Ansicht, die konsequente Verwendung von Feminitiven werde zum Verschwinden geschlechtsneutraler Berufsbezeichnungen führen. Gruntschenko zufolge ist das System der Sprache komplexer, als es Laien erscheint. Es gebe in der Sprache keine binäre Opposi‐ tion von Mann und Frau, 15 sondern ein dreigliedriges System von Personenbe‐ zeichnungen: Mask., Fem. und Wörter, die Menschen ohne Rücksicht auf das Geschlecht bezeichnen (Gruntschenko 2019). Für die Linguistin Bylkowa (2021: o.S.) verletzt die Grammatik der russischen Sprache in keiner Weise die Rechte von Feministinnen; andererseits sei es eine undankbare Aufgabe, sich gegen sprachliche Veränderungen zu wehren: Genus und Sexus im Russischen 413 <?page no="414"?> Die Sprecher würden immer nur das wählen, was sie benötigten und was den Realitäten ihrer Zeit am besten entspreche. Letztlich bliebe in der Sprache das erhalten, was von der Mehrheit der Sprecher übernommen worden sei. Über Jahrhunderte waren hauptsächlich Männer berufstätig; für Frauen, die im Laufe der Zeit neue Berufe erlernten, wurden dennoch weiter männliche Be‐ zeichnungen verwendet. Es gibt allerdings auch ursprüngliche Fem., die später geschlechtsneutral gebraucht wurden, etwa модель ‚Model‘; grammatikalisch gesehen war das Wort immer eine Bezeichnung für einen weiblichen Beruf, doch gibt es inzwischen auch männliche Models. In einigen Ausnahmefällen ist nur das Fem. standardsprachlich und konnotativ neutral; so hat in dem Wortpaar балерина ‚Balletttänzerin‘ - балерун ‚Balletttänzer‘ das Mask. eine ironische Bedeutungskomponente und ist nur umgangssprachlich in Gebrauch. Wie Piperski (2019b) erläutert, kann der Bezug auf das Geschlecht von Personen in bestimmten kommunikativen Situationen irrelevant sein: ‚Wenn wir uns ein Gebäude ansehen, sagen wir vielleicht: Какая интересная задумка архитектора! [‚Was für eine interessante Idee dieser Architekt hatte! ‘]. Wir können damit entweder einen Mann oder eine Frau meinen - auch wenn wir nicht aus‐ schließen können, dass in unserer Vorstellung eher ein Mann auftaucht. Aber in der veränderten Welt muss man sagen: Какая интересная задумка архитектора или архитекторки! [‚Was für eine interessante Idee dieser Architekt oder diese Architektin hatte! ‘]; eine geschlechtsneutrale Bezeichnung gibt es dann nicht.‘ Krongauz (2019) hält die Forderung des Feminismus, durchgängig auf Doppel‐ nennung zurückzugreifen und alle fragwürdigen Paare durch genderneutrale Ausdrücke zu ersetzen, für undurchführbar: Neubildungen wie авторка ‚Au‐ torin‘ und режиссерка ‚Regisseurin‘ (anstelle von авторша und режиссерша) werden nach seiner Meinung eher ironisch aufgefasst, da sie dem Sprachusus zuwiderlaufen. In der Einführung solcher Wörter sieht er einen Versuch, die Natur der Sprache umzukehren, indem der soziale und kulturelle Wandel antizipiert und zuerst in der Sprache vollzogen werde, um dann die Realität durch die Sprache zu beeinflussen: ‚Wir sprechen hier nicht von einzelnen Wörtern, denn es ist durchaus möglich, sich an президентка [‚Präsidentin‘] und sogar генералка [‚Generalin‘] zu gewöhnen. Es geht um etwas anderes. Der Feminismus fordert ja nicht nur die Einführung von Feminitiven, vielmehr sollen wir nur Feminitive verwenden, wenn wir über Frauen sprechen‘ (Krongauz 2019). Bei manchen Tätigkeiten sei es wichtig, zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden. So komme es in dem Paar певец ‚Sänger‘ und певица ‚Sängerin‘ 414 Svetlana Kibardina <?page no="415"?> darauf an, wer singt - eine Frau oder ein Mann, und das Wort певец beziehe sich nicht auf einen Menschen im Allgemeinen, sondern auf einen Mann, während певица auf eine Frau referiere. In vielen anderen Fällen spiele es keine Rolle, ob die Fachkraft ein Mann oder eine Frau ist. Krongauz (2021) meint, genderneutrale Mask. abzuschaffen und nur noch spezifische Bezeichnungen für Männer und Frauen zu haben, entspreche nicht den Bedürfnissen der Gesellschaft. Er wirft die Frage auf, ‚ob es für jeden Beruf, für jede Definition eines Menschen wichtig ist zu wissen, welches Geschlecht er oder sie hat. Und ist es nicht in manchen Fällen besser, auf die obligatorische Symmetrie zu verzichten und ein Wort als gemeinsame Bezeichnung zu belassen? […] Vielleicht ist es besser, die Sprache sich selbst entwickeln zu lassen, weil sie in gewissem Sinne weiser ist als wir und immer den Zustand der Welt, in der wir leben, widerspiegeln wird‘ (Krongauz 2021). Die Debatte über die Feminitive spiegele die Auseinandersetzung zwischen Feministen und Puristen wider, und es sei nicht absehbar, welches Lager sich am Ende durchsetzen werde. A. Baranow, der eine Abteilung am Forschungsinstitut für Russische Sprache der Akademie der Wissenschaften leitet, vertritt die Auffassung, es sei ‚durchaus vorstellbar, dass diese Wörter, wenn sie sich weiter verbreiten, eines Tages Teil der russischen Sprache sein werden. Das ist natürlich noch nicht so deutlich zu erkennen, vor allem, weil explizit feminine Ausdrücke wie редакторша, редакторка (‚Redakteurin‘) mit schon bestehenden Ausdrücken konkurrieren […]. Ich bin mir nicht sicher, ob dies ein guter Weg ist, die russische Sprache zu reformieren, und für einen großen Teil der Bevölkerung sind solche Formen in‐ akzeptabel. Werden diese Gruppen [diejenigen, die die Feminitive unterstützen - S. K.] zum Mainstream und bestimmen sie den Trend, können wir davon ausgehen, dass derartige Bildungen Teil der russischen Sprache werden. Aber im Moment scheint mir das eher eine Abweichung von der Norm zu sein als etwas, das eines Tages vielleicht zur Norm wird‘ (Baranow in: Umfrage 2023). 3.2 Pro und Contra in der öffentlichen Diskussion Die öffentliche Diskussion über die Notwendigkeit der Einführung von Femini‐ tiven wird vor allem von Medienvertretern wie Journalisten und Bloggern, aber auch von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Vertretern verschie‐ dener Berufsgruppen geführt, oft unter Beteiligung von Sprachwissenschaft‐ lern. Das Thema wird unter verschiedenen Gesichtspunkten erörtert: Struktur Genus und Sexus im Russischen 415 <?page no="416"?> des Russischen im Lichte der ‚Genderisierung‘ verschiedener europäischer Sprachen; Wahrnehmung in der russischen Gesellschaft; politische Korrektheit. Befürworter der Verwendung von Feminitiven argumentieren mit dem and‐ rozentrischen Charakter der Sprache, die Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließe, während der Einsatz von Feminitiven in großem Umfang die Frauen sichtbar mache, zu deren Gleichstellung mit den Männern führe und zur Bekämpfung der Mysogynie beitrage. Wie in westlichen Ländern wird die Einführung von Feminitiven für alle Berufe und Ämter gefordert. In der Dis‐ kussion geht es um eine eher begrenzte Palette von Wortbildungstypen, meist um Suffigierungen mit -ка wie авторка ‚Autorin‘, редакторка ‚Redakteurin‘, модераторка ‚Moderatorin‘ (vgl. etwa Chapugina/ Nasar 2020). Manche Frauen, die auf Grund ihres gesellschaftlichen Status einen gewissen Einfluss ausüben, haben sich für die Einführung von Feminitiven ausgespro‐ chen, so insbesondere die Politikerin und TV-Moderatorin Oksana Puschkina; andere wie die Schriftstellerin und TV-Moderatorin Tatjana Tolstaja und die Schriftstellerin und Hochschullehrerin Elena Tschernikowa sind dagegen. Na‐ talia Kisselnikova, die stellvertretende Direktorin des Psychologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, ist der Meinung, die Verwendung von Feminitiven mache Menschen sichtbar und stärke deren Identität; sie spricht sich jedoch auch deutlich gegen aggressive Reaktionen aus: ‚Die Sprache spiegelt soziale Prozesse wider, und es kommt unweigerlich zu Veränderungen, die sich durchsetzen […]. Im Gegensatz zu der Gruppe junger Fachkräfte stoßen Feminitive im akademischen Umfeld nur auf geringes Interesse‘ (in: Nossatow 2020: o.S.). Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa haben sich bekanntlich vehe‐ ment dagegen ausgesprochen, als поэт ‚Dichter‘ (statt поэтесса ‚Dichterin‘) bezeichnet zu werden, obwohl dieses Wort schon zu Beginn des 20. Jh. in der Sprache etabliert war. Gegenwärtig sind die Schriftstellerinnen und Dich‐ terinnen geteilter Meinung, was die Verwendung von поэт, поэтесса und поэтка (Letzteres ist ein feministischer Neologismus) angeht. Dies belegen zwei Umfragen: Von 19 befragten Frauen lehnten alle das Wort поэтка grundsätzlich ab; rund ein Drittel bestand auf der Bezeichnung поэт, ein weiteres Drittel auf поэтесса, und für die übrigen zählte nur die Professionalität, nicht aber eine konkrete Bezeichnung (Umfrage-Poet-1 und Umfrage-Poet-2 2019; vgl. auch Kotschetkowa 2008). Im Oktober 2020 führte die Stiftung für öffentliche Meinung (Фонд „Общественное мнение“) eine Umfrage unter 1.000 Erwachsenen über die russische Sprache im Allgemeinen durch. In Bezug auf das Gendern wurde den Befragten die Frage vorgelegt, ob ihnen Wörter wie авторка ‚Autorin‘, 416 Svetlana Kibardina <?page no="417"?> дипломатка ‚Diplomatin‘ und организаторка ‚Organisatorin‘ bekannt sind und welche Einstellung sie dazu vertreten. 68 % der Befragten waren diese Wörter völlig unbekannt; 30 % hatten sie schon gehört, und 2 % waren unent‐ schieden. 58 % hatten eine negative Einstellung zu solchen Wörtern, 33 % standen ihrer Verwendung gleichgültig gegenüber, und nur 7 % hatten eine positive Einstellung dazu (Umfrage 2020). Nach Meinung von Bylkova ist dieses Ergebnis mit der gesellschaftlichen Realität in Russland zu erklären, namentlich der Tatsache, dass russische Frauen bereits in den 1920er Jahren (im Gegensatz zu manchen anderen Ländern) zahlreiche Rechte erhalten hatten, darunter das Wahlrecht, das Recht zur Ausübung bestimmter Berufe, das Recht auf soziale Gleichstellung, auf freie Willensäußerung und auf sozialen Schutz. Im März 2021 legte die Zeitschrift Kommersant 20 Frauen und zwei Männern, sämtlich führende Fachleute in Organisationen, Unternehmen, Stiftungen, die Frage vor: ‚Inwieweit trägt Ihrer Meinung nach der Einsatz von Feminitiven (nicht доктор, sondern докторка, nicht автор, sondern авторка) zur Über‐ windung der Geschlechterungleichheit in der Russischen Föderation bei? ‘ Die große Mehrheit der Befragten sprach sich gegen den Einsatz von Feminitiven aus. Als Argumente zugunsten von Feminitiven führten die befragten Frauen an, deren Verwendung lenke die Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen und auf veraltete „patriarchalische“ Modelle der sozialen Hierarchie, die zwangsweise auf Frauen angewandt werden; außerdem wäre es fair, Feminitive zu verwenden, um auch die Aufmerksamkeit auf Bereiche zu lenken, in denen Frauen besser abschneiden als Männer. Die von Frauen vorgebrachten Argumente gegen den Gebrauch von Femini‐ tiven lauten, es gebe keinen Anlass, die Sprache zu verstümmeln; die Sprache sei ein lebendiger Organismus, der alle Veränderungen in der Gesellschaft in sich aufnehme; der Klang von Neologismen wie врачиха, докторка und докторша sei anstößig. Die Angemessenheit und die Notwendigkeit von Feminitiven sollten jeweils durch die Regeln der russischen Sprache und die individuellen lexikalischen Präferenzen bestimmt werden. Weiter wird darauf hingewiesen, dass Frauen und Männer traditionell unterschiedliche Positionen besetzten und diese Norm auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen sei, einschließlich solcher natürlicher Art. Der Einsatz von Fraueninitiativen trage nicht dazu bei, das Problem der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu lösen, sondern vergrößere und verschlimmere es noch. Feminitive betonten die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und spalteten die Frauen selbst in zwei Lager: Die einen seien dafür, die anderen dagegen. Spezielle Preise für Frauen, Frau‐ enverbände und -initiativen betonten lediglich die Ungleichheit von Männern und Frauen und die Notwendigkeit, Frauen besonders zu behandeln. Das Genus und Sexus im Russischen 417 <?page no="418"?> 16 Nach der traditionellen russischen Grammatik: doppeltes Geschlecht (männlich-weib‐ lich). Problem der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern müsse im rechtlichen, nicht im sprachlichen Bereich angegangen werden. Dringlichere Themen seien gegenwärtig häusliche Gewalt, Belästigung am Arbeitsplatz, nachweisliche Ungleichbehandlung bei der Einstellung und Unterbezahlung. In der Geschäftswelt wirkten Feminitive wie секретарша ‚Sekretärin‘, агентка ‚Agentin‘, консультантка ‚Beraterin‘, брокерка ‚Börsenmaklerin‘ unangemessen und seien zudem negativ und abwertend konnotiert; derartige Bezeichnungen wirkten beleidigend oder machten Frauen lächerlich. Die Ge‐ schlechterungleichheit sei nur durch den professionellen Einsatz der Frauen zu überwinden: In der Wirtschaft zählen allein die Erfüllung der beruflichen Auf‐ gaben, der Einsatz für die Entwicklung des Unternehmens und die Akzeptanz der Unternehmenswerte; im Gegenzug würden gleiche Chancen und Gehälter geboten, unabhängig vom Geschlecht. Das feministische Gerede sei nichts als ein von einem Blogger ausgelöster Hype, den andere aufgegriffen hätten, um trendy zu wirken; sie benutzen Feminitive nur, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ähnlich äußerten sich auch die männlichen Teilnehmer der Umfrage: Die Ver‐ wendung von Feminitiven habe keinerlei Auswirkungen auf die Überwindung der Geschlechterungleichheit in der Russischen Föderation. Im Munde eines erzkonservativen Mannes, für den Frauen grundsätzlich Männern unterlegen seien, müsse jeder Feminitiv wie Hohn klingen: ‚Im juristischen Bereich könnten Feminitive die Ungleichheit eher noch weiter verschärfen. Адвокатша [‚An‐ wältin‘], следачка [‚Ermittlerin‘], прокурорша [‚Staatsanwältin‘], юристка [‚Juristin‘], адвокатесса [‚Anwältin‘] - nur die beiden letztgenannten sind nicht offensichtlich negativ konnotiert. Dass cудья [‚Richter‘] ein Fem. 16 ist, stört keinen der Männer; zu dem Mask. нотариус [‚Notar‘] gebe es dagegen keinen Feminitiv‘ (Maximilian Burov, Rechtsanwalt; in: Kommersant 2021). 2023 führte der Arbeitsvermittlungsdienst „Superjob“ eine Umfrage zur Einstellung der Russen gegenüber Feminitiven durch; befragt wurden 1.600 Per‐ sonen in 377 Orten. Bei 63 % der Befragten lösen moderne Fem. wie режиссерка (‚Regisseurin‘), авторка (‚Autorin‘) und психологиня (‚Psychologin‘) negative Emotionen aus: ‚Es schneidet das Ohr ab‘; ‚es verzerrt die russische Sprache‘; ‚sie klingen abwertend und fast beleidigend. Je weniger auf das Geschlecht des Spezialisten geachtet wird, desto besser‘. Nur 4 % geben eine positive Bewertung ab: ‚Wenn es eine генеральша [‚Generalin‘], повариха [‚Köchin‘], ткачиха [‚Weberin‘] usw. gibt, warum dann nicht auch eine режиссерка 418 Svetlana Kibardina <?page no="419"?> [‚Regisseurin‘], авторка [‚Autorin‘]? ! ‘ Jedem Fünften war es egal: ‚Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wird die russische Sprache diese Feminitive akzeptieren, oder sie werden zusammen mit dem Hype um sie in Vergessenheit geraten.‘ Interessanterweise sind die meisten derjenigen, die sich über die Feminitive des 21. Jh. ärgern, Frauen: 67-% stehen den sprachlichen Anklängen des Feminismus negativ gegenüber, 74 % verwenden sie nie im Sprachgebrauch (Umfrage Superjob). Igor Beresin, der Chefredakteur der Moskauer deutschen Zeitung, stellt in seinem Vergleich der Situation in Russland und Deutschland wichtige Un‐ terschiede fest. Während sich die Diskussion in Deutschland um sprachlich korrekte geschlechterübergreifende Personenbezeichnungen drehe (Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, MitarbeiterInnen, Mitarbeiter*innen), gehe es in Russland vor allem um die Singularformen. Im Deutschen existiere praktisch nur ein Suffix (-in), während das Russische über ein großes Spektrum von Suffixen mit unterschiedlichen Bedeutungen verfüge: „Die russische Autorka ist nicht identisch mit der deutschen Autorin“ (2000). Beresin meint, manche feminine Varianten hätten einen schauderhaften Klang, so членкиня, das Fem. von член ‚Mitglied‘; für ihn klinge das so, wie wenn man Stoff zerreiße oder Glas zerkratze, oder wie wenn plötzlich jemand mitten in Schuberts Impromptu Nr. 2 auf dem Tamtam zu spielen beginne. Beresin bringt seine Unterstützung der Gegner von Feminitiven deutlich zum Ausdruck und kommt zu dem Schluss: „Europa sollten wir lieber bei der Ausmerzung häuslicher Gewalt auf den Fersen bleiben“ (2020). 3.3 Umsetzung des Genderns In Russland gibt es keine offiziellen Richtlinien, Anweisungen oder An‐ ordnungen, die für bestimmte Bereiche die Verwendung von Feminitiven empfehlen bzw. vorschreiben, wie z. B. in offiziellen Dokumenten oder Bil‐ dungseinrichtungen (wie in Deutschland oder Österreich), und es ist eher unwahrscheinlich, dass sich daran etwas ändern wird. Gegen Veränderungen sprechen sprachliche Gründe (Semantik des Genus, Vielfalt der Ausdrucksmög‐ lichkeiten für das biologische Geschlecht, negative Konnotationen, sprachlicher Habitus) und vor allem die weitgehend ablehnende Haltung gegenüber feminis‐ tischen Neologismen in der Gesellschaft, die überwiegend kritische Einstellung zum Feminismus und die Konzentration der Aufmerksamkeit auf andere As‐ pekte der Benachteiligung von Frauen. In offiziellen Dokumenten werden zur Benennung von Personen ohne Bezug auf das Geschlecht vorwiegend Mask. Genus und Sexus im Russischen 419 <?page no="420"?> 17 https: / / profstandart.rosmintrud.ru/ obshchiy-informatsionnyy-blok/ spravochniki-i-kl assifikatory-i-bazy-dannykh/ okpdtr (aufgerufen am 07.06.2023). verwendet, z. B. паспорт гражданина Российской Федерации ‚Pass des Bürgers der Russischen Föderation‘. Diese Vorrangstellung des Mask. kommt auch in dem ‚Gesamtrussi‐ schen Klassifizierungssystem der Berufe, Angestelltenpositionen und Lohn‐ sätze‘ („Общероссийский классификатор профессий рабочих, должностей служащих и тарифных разрядов“) 17 sehr deutlich zum Ausdruck: Von den 5.556 Einträgen sind nur 25 dem femininen Genus zuzuordnen, dar‐ unter акушерка ‚Geburtshelferin‘, вязальщица ‚Strickerin‘, медицинская сестра ‚Krankenschwester‘, кастелянша ‚Kastellanin‘, кружевница ‚Klöpp‐ lerin‘, маникюрша ‚Handpflegerin‘, педикюрша ‚Fußpflegerin‘, санитарка ‚Sanitäterin‘, швея ‚Näherin‘ (Piperski 2019b). Grafische Zeichen werden zur gleichzeitigen Bezeichnung von Männern und Frauen kaum verwendet; in linguistischen Studien werden lediglich vereinzelte Beispiele möglicher Kombinationen wie он/ а (‚er/ sie‘) und автор/ ка (‚Autor/ in‘) angeführt, und es wird auf Schwierigkeiten bei der Verwendung des Gendergap hingewiesen (Chapugina/ Nasar 2020: 4; Gusajerowa/ Kossowa 2017: 11). Zwar gibt es innerhalb der feministischen Bewegung zahlreiche Aktionen zugunsten einer besseren Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache; diese sind allerdings meist lokal begrenzt. So existierte in St. Petersburg eine Zeitlang ein von der Organisation „Ребра Евы“ (‚Eva’s Ribs‘) begründetes Frauencafé namens „Simona“ (zu Ehren von Simone de Beauvoir), mit einer speziellen ‚weiblichen‘ Speisekarte, auf der Feminitive wie американка ‚Americana‘, капучинесса ‚Cappucina‘, эспресска ‚Espressa‘ und латесса ‚Lattessa‘ zu lesen waren. 3.4 Gebrauch in den Medien In der Forschung wird auf zwei gegenwärtige Tendenzen der Feminisierung in den russischen Medien hingewiesen, den verstärkten Rückgriff auf be‐ stehende Bezeichnungen von Frauen und die Prägung neuer Feminitive anhand geeigneter Wortbildungsmodelle (Gusajerowa/ Kossowa 2017). Sauer (2020) zufolge haben Feminitive nur im russischsprachigen Internetraum ‚Wurzeln geschlagen‘; Gruppen wie „Sister to Sister! Europe“, „Eve’s Ribs“, „F-feminitives“, „DK Vrachey. Über Feminitive und nicht nur“ verwenden in ihren Internetbeiträgen ausschließlich Feminitive, sowohl literatursprachlich geläufige Formen (учительница ‚Lehrerin‘, воспитательница ‚Erzieherin‘, 420 Svetlana Kibardina <?page no="421"?> 18 Die umgangssprachliche Variante следачка, die in Krimiserien üblicherweise ver‐ wendet wird, ist dagegen nicht angeführt. няня ‚Kindermädchen‘) als auch Neologismen wie репетиторка ‚Nachhilfe‐ lehrerin‘, психологиня ‚Psychologin‘ und докторка ‚Ärztin‘, einschließlich der Varianten für bestimmte Berufsbezeichnungen: авторка/ авторесса ‚Au‐ torin‘, фотографка/ фотографиня ‚Fotografin‘ usw. Sauer kommt zu dem - in Fachkreisen eher umstrittenen - Schluss, ‚angesichts der Verbreitung von Feminitiven im Internet und der Tatsache, dass sie von vielen Tausend Menschen längst als Norm wahrgenommen werden, sei davon auszugehen, dass eine beträchtliche Anzahl von Feminitiven mit der Zeit in der lebendigen, sich wandelnden russischen Sprache zur lexikalischen Norm werden und in den massenmedialen Diskurs eingehen wird‘ (Sauer 2020: o.S.). Auf der anderen Seite verwenden namhafte Medien wie Коммерсант (Kommersant) und Ведомости (Wedomosti) überhaupt keine Feminitive (Beresin 2020). Wer den Trend zur Prägung neuer Feminitive unterstützen möchte, kann im Internet auf Феминизатор (‚Feminizer‘) zurückgreifen, einen Generator von Feminitiven, der 2017 von einem Ingenieur namens Maxim Lichachev erstellt wurde. Dieser Generator fügt einem Wort, das man eingibt, fem. Suffixe hinzu; für политик ‚Politiker‘ werden beispielsweise die fem. Neuprä‐ gungen политикесса, политикиня, политикица generiert, für игрок ‚Spieler‘ - игрокиня, игрокесса und für следователь ‚Ermittler‘ - следовательница, следователка, следователиха, следователиня und следователесса.  18 Auf der anderen Seite erscheint für eine Reihe von Wörtern, bei denen die Bildung von Feminitiven nur eingeschränkt zulässig ist (z. B. эксперт ‚Experte‘), der Hinweis: ‚Dieses Wort ist in Ordnung. Lassen wir es so, wie es ist.‘ Manche Autoren weisen darauf hin, dass der Trend zur aktiven Einführung von Feminitiven meist mit neuen Phänomenen zusammenhängt, die vor allem unter jungen Leuten verbreitet sind, bei denen fem. Bezeichnungen keine ne‐ gativen Konnotationen hervorrufen. Fufajewa nennt als Beispiel зож (Kurzwort für здоровый образ жизни ‚gesunde Lebensweise‘): Die schon kurz vor dem Mask. зожник belegte feminine Form зожница werde häufiger gebraucht, wahr‐ scheinlich, weil vor allem Frauen sich mit dem Thema befassten (Fufajewa 2021). An solchen Beispielen wird deutlich, dass wir es hier mit einer für Neologismen und Entlehnungen typischen Situation zu tun haben: Im Zusammenhang mit neuen Phänomenen tauchen neue Wörter auf, die sich ebenso lange halten werden wie die entsprechenden Berufe, Subkulturen und Hobbys. Nach Bylkowa (2021) werden moderne Bezeichnungen wie блогерка ‚Blog‐ gerin‘ und анимешница ‚Anime-Girl‘ nicht als abwertend oder herabsetzend Genus und Sexus im Russischen 421 <?page no="422"?> wahrgenommen, da Blogs oder Hobbys wie Anime ihrerseits nicht negativ konnotiert seien. Für junge Leute sei der Übergang trendiger Feminitive in den Mainstream unproblematisch, da ihre Lebenswirklichkeit darin zum Ausdruck komme; so werde ein Wort wie лайфхакерша ‚Lifehackerin‘ von ihnen nicht mehr als Neologismus wahrgenommen. Dieser Ansicht ist auch Krongauz: ‚Die neuen Feminitive sind bereits von jungen Menschen aufgegriffen worden und werden sowohl in der gesprochenen Sprache als auch in den für Jugendliche be‐ stimmten und den humoristischen Medien recht aktiv verwendet. Es ist schwer zu sagen, inwieweit sie sich durchsetzen und von allen akzeptiert werden, denn auch die Ablehnung ist groß, aber sie haben auf jeden Fall eine Chance, in die Sprache zu kommen, solange sie nicht grob gegen irgendwelche Regeln verstoßen. Ich denke also, dass wir uns allmählich, auch im Zuge dieser Diskussionen, an sie gewöhnen werden, und dass diese neuen Feminitive gar nicht so schlimm sind‘ (Krongauz in Umfrage 2023). 4 Fazit Feminitive sind keine Fremdkörper in der russischen Sprache; sie können zum Gebrauch in verschiedenen Bereichen ohne weiteres nach den gängigen Wort‐ bildungsmodellen gebildet werden. Die Einstellung gegenüber Feminitiven in vielen gesellschaftlichen Kreisen ist überwiegend reserviert; Suffigierungen von seit langem bestehenden mask. Berufsbezeichnungen werden eher abgelehnt, während Neubildungen im Zusammenhang mit neuen Phänomenen, vor allem der Internetkommunikation, eher positiv wahrgenommen werden. Offizielle Maßnahmen bzw. Empfehlungen zur Einführung von Feminitiven gibt es bislang nicht, und es sind auch keine in Sicht. Die überwiegende Mehrheit der Befragten ist der Meinung, man solle die Sprache nicht mit Gewalt ändern, sondern abwarten, wie sie sich nach ihren eigenen Gesetzen weiterentwickelt und welche neuen Wörter sich im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung durchsetzen. Bibliographie Aksakow (1880) = Аксаков, К. С.: Опыт русской грамматики [Versuch einer russischen Grammatik]. In: Aksakow, K.-S. (Hrsg.): Полн. соб. соч [Vollständige Sammlung]. Bd.-3: Сочинения филологические [Philologische Werke]. Teil 2. Moskau: Univer‐ sitätsdruckerei M. Katkow. Asarch (1979) = Азарх, Ю.-С.: Слова на -иха в русском языке [Wörter auf 422 Svetlana Kibardina <?page no="423"?> -иха im Russischen]. In: Общеславянский лингвистический атлас; Материалы и исследования [Gesamtslawischer Linguistischer Atlas; Materialien und For‐ schungen]. Moskau: Nauka, 176-195. Asarch (1984) = Азарх, Ю.-С.: Словообразование и формообразование существительных в истории русского языка [Wort- und Formenbildung der Substantive in der Geschichte des Russischen]. Moskau: Nauka. Beresin (2020) = Beresin, I.: Feminitive im Russischen: Umstrittene Formen von Sicht‐ barkeit. Moskauer Deutsche Zeitung 15.08.2020. https: / / mdz-moskau.eu/ umstrittene -formen-von-sichtbarkeit (07.06.2023). Berkutowa (2018) = Беркутова, В.-В.: Феминативы в русском языке: исторический аспект [Feminitive im Russischen: historischer Aspekt]. Филологический аспект [Philologischer Aspekt] 43 (11), 6-22, 26.11.2018]. https: scipress.ru/ philology/ article s/ Feminitivy-v-russkom-yazyke-istoricheskij-aspekt.html (07.06.2023). ― (2019) = Беркутова, В. В.: Феминативы в русском языке: лингвистический аспект [Feminitive im Russischen: linguistischer Aspekt]. Русский язык. Филологический аспект [Russische Sprache. Philologischer Aspekt] 45 (1), 11.01.2019. https: / / scip ress.ru/ philology/ articles/ Feminitivy-v-russkom-yazyke-lingvisticheskij-aspekt.html (07.06.2023). Bylkowa (2021) = Былкова, С. В.: Авторка, блогерка, стримерша - как феминитивы приживаются в русском языке [Autorin, Bloggerin und Streamerin - wie die Feminitive sich im Russischen etablieren]. https: / / donstu.ru/ news/ intervyu/ avtorka-b logerka-strimersha-kak-feminitivy-prizhivayutsya-v-russkom-yazyke/ (07.06.2023). Chapugina/ Nasar (2020) = Хапугина, А.-А./ Назар, Р.-Н.: Использование феминитивов в русском языке [Gebrauch von Feminitiven in der russi‐ schen Sprache]. In: Идеи. Поиски. Решения: сборник статей и тезисов XIV Международной научно-практической конференции преподавателей, аспирантов, магистрантов, студентов, Минск, 20 ноября 2020 [Ideen. Untersu‐ chungen. Lösungen. Artikel- und Thesenband der XIV. Internationalen wissenschaft‐ lich-angewandten Konferenz der Lehrenden, Aspiranten, Masterstudierenden, Stu‐ dierenden, Minsk, 20.11.2020]. Bd.-3. Minsk: Weißrussische staatliche Universität, 42-46. Doleschal (1997) = Долешаль, У.: -O взаимосвязи грамматической категории рода и пола [Über den Zusammenhang zwischen Genus und Geschlecht]. In: Holod, Alexander (Hrsg.): Вербальная и невербальная интерпретация половых характеристик [Verbale und nichtverbale Interpretation von Geschlechtscharakteris‐ tiken]. Kriwoj Rog: Internationales Forschungszentrum „Mensch-Sprache-Kultur-Er‐ kenntnis“, 134-155. Feminizer = http: / / feminism-russia.ru/ feminizator (07.06.2023). Frauencafé = https: / / www.spb.kp.ru/ daily/ 27262/ 4394993 (07.06.2023). Genus und Sexus im Russischen 423 <?page no="424"?> Fufajewa (2020) = Фуфаева, И. В.: Как называются женщины. Феминитивы: история, устройство, конкуренция [Wie werden Frauen bezeichnet. Feminitive: Geschichte, Struktur, Konkurrenz]. Moskau: ACT, CORPUS. ―-(2021) = Фуфаева, И.-В.: ‚Мы не замечаем, как употребляем феминитивы‘: лингвист Ирина Фуфаева об ‚авторках‘, ‚лекторшах‘ и ‚адвокатессах‘ [„Wir merken uns nicht, wie wir die Feminitive gebrauchen“. Die Linguistin Irina Fufajewa über ‚Autorinnen‘, ‚Lektorinnen‘ und ‚Anwältinnen‘], 26.02.2021. https: / / www.forbe s.ru/ forbes-woman/ 422099-my-ne-zamechaem-kak-upotreblyaem-feminitivy-lingvis t-irina-fufaeva-ob-avtorkah (07.06.2023). Golew (2013) = Голев, Н.-Д.: ‚Общий род‘ и гендерная семантика русских имен существительных: бигендерность или агендерность? [„Gemeinsames Ge‐ schlecht“ und Gendersemantik der russischen Substantive: Bigender oder Agender]. Вестник Томского государственного университета. Филология [Anzeiger der Tomsker staatlichen Universität. Philologie] 6 (26), 14-28. Gruntschenko (2019) = Грунченко, О. М.: Феминитивы в русском языке. Мы говорим ‚членесса‘ и улыбаемся [Feminitive im Russischen. Wir sagen „членесса“ ‚Mit‐ gliedin‘ und lächeln]. http: / / spr.fld.mrsu.ru/ 2019/ 01/ feminitivy-v-russkom-yazyke/ (07.06.2023). Gusajerowa/ Kossowa (2017) = Гузаерова, Р.-Р./ Косова, В.-А.: „Специфика феминитивов в современном русском медиапространстве“ [Spezifik der Femini‐ tive im heutigen russischen Medienraum]. Филология и культура [Philologie und Kultur] 4, 11-15. Jakobson (1971) = Jakobson, R.: The Gender Pattern of Russian. In: Roman Jakobson. Selected Writings. Bd. II: Word and Language. Den Haag/ Paris: Mouton, 184-186. Janko-Trinizkaja (1966) = Янко-Триницкая, Н.-А.: Наименования лиц женского пола существительными женского и мужского рода [Frauenbezeichnungen mit den weiblichen und männlichen Substantiven]. In: ders. (Hrsg.): Развитие словообразования современного русского языка [Entwicklung der Wortbildung der gegenwärtigen russischen Sprache]. Moskau: Nauka. Jeremenko (1998) = Еременко, О.-И.: Наименования лиц женского пола в русском литературном языке XIX века [Frauenbezeichnungen in der russischen Literatur‐ sprache des 19. Jh.]. Thesen der Dissertation, Woronesch, 21 S. Kempgen (1995) = Kempgen, S. Der Umbau des altrussischen Flexionssystems und seine synchronen Implikationen. Die Welt der Slaven XL (2),-201-219. https: / / www.acade mia.edu/ 2500962/ Der_Umbau_des_altrussischen_Flexionssystems_und_seine_synch ronen_Implikationen (07.06.2023). Kirilina (1998) = Кирилина, А. В.: Развитие гендерных исследований в лингвистике [Entwicklung der Genderforschungen in der Linguistik]. Филологические науки [Philologische Wissenschaften] 2, 51-58. 424 Svetlana Kibardina <?page no="425"?> Kirilina/ Tomskaja (2005) = Кирилина, А./ Томская М.: Лингвистические гендерные исследования [Linguistische Genderforschungen]. Отечественные записки. Журнал литературно-просветительский, политический, учёный [Vaterländi‐ sche Forschungen. Literarisch-aufklärerische, politische, wissenschaftliche Zeit‐ schrift] 2. https: / / magazines.gorky.media/ oz/ 2005/ 2/ lingvisticheskie-gendernye-issle dovaniya.html (07.06.2023). Kolesnikow (2002) = Колесников, Н.-П.: Толковый словарь названий женщин [Bedeutungswörterbuch der Frauenbezeichnungen]. Moskau: ACT Astrel. Kommersant (2021) = „Пусть это многих и раздражает. Ничего, потерпят! “ [„Das kann viele ärgern. Kein Problem, Sie müssen es sich gefallen lassen! “], 05.03.2021. https: / / www.kommersant.ru/ doc/ 4710731 (07.06.2023). Kotschetkowa (2008) = Кочеткова, Н.: Поэтессы объявляют войну ‚поэтессам‘ [Die Dichterinnen erklären Krieg den „Dichterinnen“]. https: / / iz.ru/ news/ 334609 (07.06.2023). Krongauz (2018) = Кронгауз, М.-А.: Проблема пола и экономия в языке [Die Frage des Geschlechts und der Sprachökonomie]. https: / / postnauka.ru/ video/ 83418 (07.06.2023). ―-(2019) = Кронгауз, Максим. Битва с серьезными последствиями. Лингвист Максим Кронгауз о феминитивах и русском языке [Schlacht mit ernsten Folgen. Linguist Maxim Krongauz zu den Feminitiven in der russischen Sprache]. Настоящее время [Heutige Zeit], 08.03.2019. https: / / www.currenttime.tv/ a/ 2981085 0.html (07.06.2023). ― (2021) = Кронгауз Максим. ‚Авторка‘, ‚нянь‘ и другие феминитивы. Интервью с лингвистом Кронгаузом [„Авторка“, „нянь“ und andere Feminitive. Interview mit dem Linguisten Krongauz]. https: / / nauka.tass.ru/ lyudi-i-veschi/ 6820376 (07.06.2023). Kryssin (2000) = Крысин, Л.-П.: Русский литературный язык на рубеже веков [Russische Literatursprache an der Jahrhundertswende]. Русская речь [Russische Rede] 1, 28-40. Kubajewa (2020) = Кубаева, О. В.: Новая волна феминитивов в современном русском языке [Eine neue Welle der Feminitive in der gegenwärtigen russischen Sprache]. https: / / cyberleninka.ru/ article/ n/ novaya-volna-feminitivov-v-sovremennomrusskom-yazyke/ viewer (07.06.2023). Masikina (2018) = Мазикина, Л.: Малый справочник феминитивов [Das kleine Lexikon der Feminitive]. Jekaterinburg: Ridero. Nossatow (2020) = Носатов, И.: Граница феминитива: когда россиянам перестанут резать слух „авторки“ [Die Grenzen des Feminitivs: Wann werden Wörter wie „авторка“ den russischen Menschen nicht mehr auf die Nerven gehen]. https: / / i z.ru/ 1053844/ ivan-nosatov/ granitca-feminitiva-kogda-rossiianam-perestanut-rezat-s lukh-avtorki (07.06.2023). Genus und Sexus im Russischen 425 <?page no="426"?> Pawlowa (2010) = Павлова, А.-В.: Категория общего рода в русском языке в свете гендерной лингвистики [Kategorie des doppelten Geschlechts in der russischen Sprache im Licht der Genderlinguistik]. Anzeiger für Slavische Philologie XXXVI, 75-88. Piperski (2019a) = Пиперски, А.: Коварные суффиксы. Как современные феминитивы меняют русский язык [Heimtückische Suffixe. Wie die heutigen Feminitive die russische Sprache verändern] (28.11.2019). https: / / nplus1.ru/ material/ 2019/ 11/ 28/ russian-feminitives (07.06.2023). ―-(2019b) = Пиперски, А.-Ч. Доисторические феминитивы. Что такое грамматический род и откуда он взялся? [Vorhistorische Feminitive. Was ist Genus und woher kommt es? ]. https: / / nplus1.ru/ material/ 2019/ 11/ 27/ grammatical-g ender (07.06.2023). Protschenko (1955) = Протченко, И.-Ф.: Об образовании и употреблении имен существительных женского рода - названий лиц в современном русском языке [Über Bildung und Gebrauch der Substantive weiblichen Geschlechts - der Personen‐ bezeichnungen in der gegenwärtigen russischen Sprache]. Thesen der Dissertation, Moskau, 20 S. Russische Grammatik (1980) = Шведова, Н.-Ю. (Hrsg.): Русская грамматика. T.-1: Фонетика. Фонология. Ударение. Интонация. Словообразование. Морфология [Russische Grammatik. Bd.-1: Phonetik. Phonologie. Betonung. Intonation. Wortbil‐ dung. Morphologie]. Moskau: Nauka. Sacharowa (2005) = Захарова, Н.-В.: Визуальные женские образы: опыт исследования советской визуальной культуры [Visuelle Frauenbilder: Versuch einer Untersuchung der sowjetischen visuellen Kultur]. Thesen der Dissertation, Moskau, 18 S. Sauer (2020) = Зауэр, А. А.: Феминитивы в русскоязычном интернет-пространстве [Feminitive im russischsprachigen Internetraum]. Ученые записки Новгородского государственного университета имени Ярослава мудрого [Forschungen der Nowgoroder Staatlichen Universität Jaroslaw der Weise] 27 (2). https: / / cyb erleninka.ru/ article/ n/ feminitivy-v-russkoyazychnom-internet-prostranstve/ viewer (07.06.2023). Schanskij (1959) = Шанский, Н.-М.: Из русского словообразования. О словообразовательных связях и происхождении суффикса -ша [Aus der russi‐ schen Wortbildung. Über Wortbildungsbeziehungen und der Herkunft des Suffixes -ша]. Русский язык в национальной школе [Russisch in der nationalen Schule] 4 (3), 65-67. Sprache und Gesellschaft (1968) = Русский язык и советское общество. Словообразование современного русского литературного языка [Russische 426 Svetlana Kibardina <?page no="427"?> und sowjetische Gesellschaft. Wortbildung der gegenwärtigen russischen Sprache]. Moskau: Nauka. Uljanizkaja (2021) = Ульяницкая, Л. А.: Критика гендерного языкознания с позиций феминистской лингвистики [Kritik der Genderlinguistik vom Standpunkt der feministischen Linguistik]. ДИСКУРС [Diskurs] 7 (2), 135-155. Umfrage (2020) = Опрос ФОМ: две трети россиян негативно относятся к словам типа ‚авторка‘, ‚дипломатка‘ и ‚организаторка‘ [Die Umfrage der Stiftung Öffentliche Meinung: Zwei Drittel der Menschen in Russland verhalten sich zu den Feminitiven negativ]. https: / / polit.ru/ news/ 2020/ 10/ 27/ feminitivy/ (07.06.2023). ―-(2023) = Опрос показал, что большинство россиян негативно относится к феминитивам [Laut Umfrage schätzen die meisten Menschen in Russland die Feminitive negativ ein]. https: / / www.bfm.ru/ news/ 518565 (07.06.2023). Umfrage-Poet-1 (2019) = Поэт, поэтка, поэтесса? Феминитивы. Отвечают современницы [Poet, Poetka, Poetessa? Feminitive. Die Antworten der Zeitgenos‐ sinnen]. Teil 1. https: / / godliteratury.ru/ articles/ 2019/ 03/ 13/ opros-poyetessa-ili-poyet (07.06.2023). Umfrage-Poet-2 (2019) = Поэт, поэтка, поэтесса? Феминитивы. Отвечают современницы [Poet, Poetka, Poetessa? Feminitive. Die Antworten der Zeitgenos‐ sinnen]. Teil 2. https: / / godliteratury.ru/ articles/ 2019/ 03/ 16/ poyet-poyetka-poyetessa -feminitivy-otve (07.06.2023). Umfrage Superjob = Новые феминитивы больше всего раздражают женщин [Neue Feminitive ärgern vor allem die Frauen]. https: / / www.superjob.ru/ research/ articles/ 1 13899/ novye-feminitivy-bolshe-vsego-razdrazhayut-zhenschin (07.06.2023). Winogradow (1986) = Виноградов, В.-В.: Русский язык (Грамматическое учение о слове) [Russische Sprache (Grammatische Wortlehre)]. In: Solotowa, G. (Hrsg.): Учеб. пособие для вузов [Lehrbuch für Hochschulen]. 3., überarbeitete Auflage. Moskau: Wysschaja Schkola. Genus und Sexus im Russischen 427 <?page no="429"?> Gendern im Tschechischen Jana Valdrová Zusammenfassung: Die Frage des geschlechtergerechten Sprachge‐ brauchs wurde in der tschechischen Bohemistik erst ab 1995 themati‐ siert. Nach der Wende vertraten manche LinguistInnen die Meinung, im Unterschied zu Deutsch oder Englisch sei das Tschechische auf Grund seines Drei-Genera-Systems „an sich“ geschlechtergerecht, und empfahlen für Personenbezeichnungen den Gebrauch des sog. generischen Maskuli‐ nums. Bis heute ist die Dominanz des Maskulinums in schriftlichen und mündlichen Äußerungen augenfällig, zumal das Maskulinum gemäß den Kongruenzregeln im Satz an fünf verschiedenen Wortarten markiert sein kann. Das Gendern im Tschechischen ist in sprachpolitischer Hinsicht nicht nur ebenso wichtig wie in anderen Sprachen, sondern auch durchaus realisierbar, wie die vorliegenden Empfehlungen für einen geschlechter‐ gerechten Sprachgebrauch zeigen. Weitere Studien zum gegenwärtigen Sprachgebrauch, zur sprachlichen Genderhierarchisierung und den Aus‐ wirkungen des inklusiven Sprachgebrauchs sind angesichts des weiter zunehmenden Interesses der breiten Öffentlichkeit wünschenswert. Schlüsselbegriffe: Tschechisch, geschlechtergerechter Sprachgebrauch, generisches Maskulinum, feministische Linguistik, Sprachpolitik in Tsche‐ chien, inklusive Sprache 1 Einleitung Sprache ist „die Grundlage jedes gesellschaftlichen Handelns. Damit sind die Sprache und ihr Gebrauch ein entscheidender Faktor für die Realisierung von Gleichstellung“ (Diewald/ Steinhauer 2020: 7). Die sprachlichen Strategien, die darauf abzielen, dass Menschen verschiedener Geschlechter und Geschlechts‐ identitäten sich gleichbehandelt fühlen, werden unter dem Begriff Gendern zusammengefasst. Mit der Bezeichnung inklusiver Sprachgebrauch, die inzwi‐ <?page no="430"?> 1 Cisgender (cis-Frauen bzw. cis-Männer) sind Menschen, die sich mit ihrem amtlich zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. 2 Etwa „vykropit hrobku“, „nasrat do komína“ (‚die Grabstelle besprenkeln‘; ‚in den Schornstein scheißen‘ in der Bedeutung „eine Frau schwängern“; S. 313). - Alle deutschen Übersetzungen in diesem Beitrag stammen von der Verf. 3 Siehe Buchumschlag. 4 Ausführlicher hierzu siehe Abschnitt 4 und Valdrová (2018: 65-91). 5 https: / / zpravy.aktualne.cz/ ekonomika/ prehled-vitezu-anticeny-sexisticke-prasatecko/ r~56b5126ad69311e8b295ac1f6b220ee8/ r~e9de8116683711e5a705002590604f2e/ (letzter Aufruf: 31.05.2024). schen auch in der öffentlichen Debatte geläufig ist, sollen zudem Menschen, die sich nicht als cisgender  1 identifizieren, sprachlich einbezogen werden. In der Regel wurden die verschiedenen Sprachsysteme in Gesellschaften herausgebildet, die von Männern dominiert waren. Dies führte zur Entstehung von Asymmetrien in der Sichtbarkeit und Repräsentation von Männern und Frauen auf lexikalischer, wortbildungs-, flexionsmorphologischer und syntak‐ tischer Ebene (Kotthoff/ Nübling 2018; Pober 2007; Doleschal 2002; speziell zum Tschechischen Valdrová 2018). Aus der Perspektive des Genderns ist der gegenwärtige Sprachgebrauch des Tschechischen als konservativ zu bezeichnen. Hunderte von sexistischen, zum Teil scherzhaft gemeinten Äußerungen im öffentlichen Raum sind in Valdrová (2018) dokumentiert; sie werden im Allgemeinen für harmlosen Humor gehalten. Das Šmírbuch jazyka českého (‚Schmierbuch der tschechischen Sprache‘) verzeichnet frauendiskriminierende Phraseologismen im Bereich der Sexualität (Ouředník 1992). 2 Zwei Bohemisten lobten das Werk allerdings vorbehaltlos als „zcela neocenitelný materiál“ (‚Material von unschätzbarem Wert‘; D. Šlosar) bzw. „geniální kniha o nekonvenční češtině“ (‚ein geniales Buch über unkonventionelles Tschechisch‘; P. Vybíral). 3 In der Bohemistik sind genderlinguistische Themen bislang kaum erforscht. 4 Es überwiegen ablehnende, auf einer unzureichenden theoretischen und empi‐ rischen Basis beruhende Einstellungen gegenüber der Genderproblematik. Für genderlinguistische Untersuchungen des Sprachusus, die wichtige Erkenntnisse über die Geschlechterhierarchien in der tschechischen Gesellschaft liefern können, bietet sich der Rückgriff auf vorliegende umfangreiche Text-Korpora an, etwa Sexistické prasátečko (‚Das sexistische Schweinchen‘). Diese auf Um‐ fragen aus dem Zeitraum 2009-2018 basierende Sammlung von sprachlichem und bildlichem Werbematerial erhielt für die Verbreitung sexistischer Inhalte jedes Jahr satirische Anti-Preise. Dank der zunehmenden Sensibilisierung der Öffentlichkeit fand die Kritik an diesem alltäglichen Sexismus ein breites Echo in den Medien, während Reaktionen von LinguistInnen ausblieben. 5 430 Jana Valdrová <?page no="431"?> 6 https: / / fhs.cuni.cz/ FHS-2138.html, https: / / is.muni.cz/ obory/ 6087 (letzter Aufruf: 31.08.2023). 7 Die vollständige Bezeichnung der Organisation lautet Ombudsman. Veřejný ochránce práv (‚Ombudsmann. Öffentlicher Verteidiger der Rechte‘): https: / / ochrance.cz (letzter Aufruf: 31.05.2024). 8 An tschechischen Schulen lernen über 14000 Trans-Schüler*innen. https: / / jsmetransp arent.cz/ vzdelavani/ pro-skoly/ (letzter Aufruf: 31.05.2024). 9 https: / / www.mastercard.com/ news/ europe/ cs-cz/ tiskove-centrum/ tiskove-zpravy/ cscz/ 2022/ cerven/ aktualni-pruzkum-true-name/ , https: / / www.vodafone.cz/ o-vodafonu/ o-spolecnosti/ pro-media/ tiskove-zpravy/ detail/ polovina-lgbt-lidi-v-cesku-skryva-v-pr aci-svou-sex/ (letzter Aufruf: 31.08.2023). In der Soziologie wird dagegen schon seit den 1990er Jahren zum gesellschaft‐ lichen Status von Frauen geforscht. An der Karls-Universität in Prag und der Ma‐ saryk-Universität in Brünn wurden Abteilungen für Gender Studies gegründet, deren thematisch breit angelegte Forschungs- und Publikationstätigkeit inter‐ national hoch angesehen ist. 6 Noch 2005 wurde im Vorbereitungsausschuss für die erste Konferenz der tschechischen und slowakischen feministischen Studien heftig darüber debattiert, ob die Selbstbezeichnung „feministisch“ sich womöglich negativ auf die Teilnahme auswirken könnte; tatsächlich wurden mit mehr als 80 Beiträgen und über 200 Teilnehmenden sämtliche Erwartungen übertroffen (Uhde 2005). Zu dem Stichwort jazyk a gender (‚Sprache und Gender‘) weist die Datenbasis der tschechischen Bakkalaureats- und Masterar‐ beiten in Soziologie, Pädagogik, Literatur, Philosophie, Medizin und anderen Fächern aktuell 927 Treffer auf; linguistische Arbeiten bilden eine sehr seltene Ausnahme. Die Schere zwischen den konservativen Einstellungen im Bereich der tsche‐ chischen Sprachwissenschaft und dem lebhaften Interesse von Sprachbenutze‐ rInnen an einem gegenderten Sprachgebrauch geht immer weiter auseinander (s. Abschnitte 3 und 4). Inklusiver Sprachgebrauch ist übrigens wirtschaftlich rentabel, wie die gestiegene Nachfrage nach Schulungen, Lehrveranstaltungen und Workshops mit Empfehlungen zum Gendern zeigt: Sie geht nicht nur von verschiedenen Institutionen aus, von tschechischen Organen der Europäi‐ schen Kommission in Luxemburg, von Studierenden, NGOs, der Organisation Ombudsman  7 und von Trans-Organisationen, 8 sondern auch von Berufsplatt‐ formen wie Prague Business Forum und Unternehmen wie Vodafone und Škoda Auto. Viele Unternehmen führen eigene Studien durch, die die Erkenntnisse über Nutzen und Relevanz inklusiver Sprache befördern (z. B. MasterCard, Vodafone). 9 2024 wurde erstmals die Akkreditierung für eine Lehrveranstaltung zur inklusiven Kommunikation an der Karls-Universität in Prag beantragt. Gendern im Tschechischen 431 <?page no="432"?> 2 Geschlecht im Tschechischen und das Konzept des generischen Maskulinums Wie in anderen slawischen Sprachen (vgl. Doleschal 2002) kommt das Ge‐ schlecht auch im Tschechischen auf der Ebene der Lexik, Wortbildungs- und Morphologie, Syntax sowie auf der Diskursebene zum Ausdruck (ausführlich dazu Valdrová 2018). Bei Verwandtschaftsbezeichnungen gibt es geschlechtsimmanente Lexeme wie matka-otec, dcera-syn, teta-strýc (‚Mutter‘-‚Vater‘, ‚Tochter‘-‚Sohn‘, ‚Tante‘-‚Onkel‘). Bei den Personal- und Demonstrativpronomina on, ona, ono und ten(to), ta(to), to(to) (‚er‘, ‚sie‘, ‚es‘ und ‚d(ies)er‘, ‚die(se)‘, ‚das/ dieses‘) werden auch im Plural drei Genera unterschieden: oni m , ony f , ona n und ti(to) m , ty(to) f , ta(to) n . Fünf Wortarten weisen geschlechtsspezifische grammatische Merkmale auf: Substantive (durch Suffixe und Endungen in den drei Genera), Adjektive in attributiver und prädikativer Funktion, Possessivpronomina, die Zahladjektive dva m / dvě f und oba m / obě f (‚zwei‘; ‚beide‘) und schließlich Verben in Vergangenheits- und Konjunktivformen: muži přišli m , ženy přišly f , děvčata přišla n (‚Männer kamen m ‘, ‚Frauen kamen f ‘, ‚Mädchen kamen n ‘; vgl. auch die beiden ersten nachstehend angeführten Beispielsätze). Die Kongruenzregel, der zufolge das Maskulinum bei mehreren Subjekten mit unterschiedlichen Genera immer Vorrang hat, verleiht der tschechischen Sprache einen deutlich maskulinen Charakter. Diese Vorrangstellung gilt selbst in Sätzen, in denen eines der Subjekte eine Bezeichnung für ein männliches Tier ist: 1. Královna a její psi m stáli m před palácem. (‚Die Königin und ihre Hunde standen m vor dem Palast.‘) Der folgende Satz könnte auf zwei Männer, zwei Frauen oder auf eine Frau und einen Mann referieren; maskuline Flexionsendungen erschweren hier jedoch eine Assoziation mit Frauenbildern: 2. Přišli m dva m naši m noví m kolegové m . (Wörtlich: ‚Es kamen m unsere m zwei m neuen m Kollegen m .‘) Dennoch ist es gut möglich, im Tschechischen zu gendern. Typologische Gegebenheiten - wie die 14 Deklinationstypen mit der Unterscheidung von belebten und unbelebten Maskulina und 7 Fällen im Singular und Plural, die geschlechtsspezifische Flexion der Adjektive im Prädikat etc. - spielen dabei nur eine geringe Rolle (Valdrová 2016). Wie im Deutschen können Frauen im Tschechischen durch Konkretisierung sichtbar gemacht werden: Das Maskulinum kolegové im Satz (2) kann durch Per‐ 432 Jana Valdrová <?page no="433"?> 10 So äußerte sich ein Teilnehmer im TV-Kanal ČT 24, 06.06.2023. 11 https: / / echo24.cz/ a/ HPtmk/ zpravy-domov-narodni-sportovni-agentura-zeny (letzter Aufruf: 31.05.2024). sonennamen ersetzt werden (3); die Teilnahme der Frau wird somit verbalisiert, auch wenn die Kongruenzregel eine maskuline Endung im Prädikat erfordert: 3. Přišli m Yvona a Xaver. (‚Es kamen m Yvona und Xaver.‘) Auch Neutralisierung ist ein bewährtes Mittel zur sprachlichen Gleichstellung: 4. Přišly f naše f dvě f nové f odborné f síly f . (‚Es kamen f unsere zwei f neuen Fachkräfte.‘) Die Dominanz des Maskulinums im traditionellen Sprachgebrauch führt dazu, dass Frauen und andere Geschlechter im öffentlichen Raum weitestgehend unsichtbar bleiben. Es werden weder Anwesenheit noch Spitzenleistungen von ihnen erwartet (Valdrová 2008): 5. V soutěži se setkalo více než čtyřicet mistrů brusičů [skla]. […] Docela nás překvapilo, že všechny tři ceny vyhrála n děvčata n . 10 (‚Bei dem Wettbewerb trafen sich mehr als vierzig Glasschleifermeister. […] Es hat uns doch überrascht, dass Mädchen n alle drei Preise gewonnen haben n .‘) Die Bezeichnung děvčata (‚Mädchen‘) für erwachsene Frauen, hier Fachfrauen, ist im Tschechischen durchaus geläufig (Valdrová 2005; 2018: 157-176, 256-269). In der Schriftsprache gibt es zwar männliche Pendants wie chlapec, hoch, mladík (‚Junge‘), die in diesem Kontext jedoch nie verwendet werden. Ein mit děvčata oder gar ohne Frauen konstruiertes Weltbild stößt inzwischen immer häufiger an seine Grenzen. So sorgte im Frühjahr 2023 ein Bericht über ein Treffen der Vertreter der weiblichen Sportarten für Aufregung quer durch das Internet. Während die geringere Präsenz von Frauen in der Leitung des Frauensports hinter den generisch gemeinten Maskulina verborgen bleibt, zeigt ein Foto von der Sitzung, dass die Teilnehmer fast ausschließlich Männer waren. 11 Schon im Grundschulalter wird tschechischen Kindern die vermeintlich ge‐ schlechtsabstrahierende Funktion des Maskulinums unkritisch beigebracht (vgl. Doleschal 2002: 183); diese wird zu einer durch Handbücher für tschechische Grammatik tradierten Norm. Kinder lassen sich bei der Entscheidung für einen Beruf durch die männerzentrierte Sprache und die geringe Sichtbarkeit von Frauen an exponierten Stellen beeinflussen. Als Mädchen im Grundschulunter‐ richt Geschichten von berühmten Erfinderinnen, Wissenschaftlerinnen und Herrscherinnen hörten und auf diese Weise verstanden, dass nicht allein die Gendern im Tschechischen 433 <?page no="434"?> 12 Persönliche Mitteilung von Babanová im Mai 2017; siehe Valdrová (2018: 172). 13 Bis 2022 war die Movierung der Nachnamen von Frauen bis auf sehr seltene Ausnahmen obligatorisch. Dass damit das weibliche oder männliche Geschlecht eindeutig erkennt‐ lich war, hatte gravierende Konsequenzen für nichtbinäre Personen. Männer die Welt regieren, zeigten manche Verwirrung und fingen fast zu weinen an. 12 Wie ein Assoziationstest ergab (Valdrová 2008), verbinden Kinder und Ju‐ gendliche selbst gängige Maskulina (žák ‚Schüler‘, divák ‚Zuschauer‘) mehrheit‐ lich mit Männerbildern. Der Titel dieser Studie, „Žena a vědec? To mi nejde dohromady“ (‚Eine Frau als Wissenschaftler? Passt für mich nicht zusammen‘), ist übrigens ein Zitat eines zehnjährigen Schülers, dem erst während der Debatte nach dem Test klar wurde, dass es auch Wissenschaftlerinnen gibt. Die insgesamt 572 Befragten im Alter von 10 bis 18 Jahren wurden in zwei Gruppen aufgeteilt; eine arbeitete mit einem Formular im generisch gemeinten Maskulinum, die andere mit Beidnennung. Die Befragten sollten Vornamen und lustige Nachnamen für 10 Personen in verschiedenen Berufen bzw. Rollen finden - eine Distraktor-Aufgabe, auf die sie sich vollständig konzentrierten, wobei sie sehr lustige Nachnamen erfanden. Tatsächlich ging es jedoch darum, zu ermit‐ teln, in welchem Umfang weibliche und männliche Personen vertreten waren. 13 Unter den insgesamt zehn Kategorien waren sechs Berufsbezeichnungen, drei für „typisch männliche“ (Arzt, Wissenschaftler, Computerexperte) und weitere drei für „eher weibliche“ Berufe (Koch, Lehrer, Verkäufer). Die restlichen vier konnten gleichermaßen mit Frauen- oder Männerbildern assoziiert werden (Schüler, Dieb im Supermarkt, Tierpfleger, TV-Zuschauer). In der Gruppe, die mit Beidnennung arbeitete (z. B. Arzt, Ärztin) war die Anzahl weiblicher Namen deutlich höher; daraus lässt sich mit Vorsicht schließen, dass die Beidnennung eine viel realistischere Einschätzung des Arbeitsmarkts ermöglichte. Auch Smetáčková (2016) stellte in Tests mit 642 Befragten derartige Zusammenhänge zwischen dem biologischen Geschlecht und dem höheren Status „maskuliner“ Berufe fest. 3 Empfehlungen zum Gendern im Tschechischen Es liegen inzwischen mehrere Empfehlungen für einen nichtsexistischen bzw. inklusiven Sprachgebrauch vor (Valdrová 2001; 2005; 2010; 2018; 2023). Die nachstehende Analyse authentischer bzw. leicht adaptierter Aussagen im In‐ ternet (www.google.com, Erhebungszeitraum: 2020-2023) zeigt, wie sich Äuße‐ rungen mit Hilfe unterschiedlicher sprachlicher Mittel und Strategien inklusiv umformulieren lassen. 434 Jana Valdrová <?page no="435"?> 14 Für den Ausdruck „Fachleute“ gibt es im Tschechischen keine Entsprechung; eine Mög‐ lichkeit wäre odborné autority ‚Fachautoritäten‘. Die Wortverbindung odbornice*odbor‐ níky wird gelesen als ‚Fachfrauen und Fachmänner‘, je nach Kontext mit der möglichen Ergänzung různých identit ‚verschiedener Identitäten‘. 3.1 Beidnennung (w, m) und Mehrnennung (w, m, divers) Weibliche und nichtbinäre Personenbezeichnungen lassen sich in expliziter Lautung bzw. gekürzt (in der Regel in Formularen) anführen: lektorka a lektor (‚Lektorin und Lektor‘), lektor/ lektorka, lektor/ ka, lektor/ -ka. Der (nicht obligato‐ rische) Bindestrich zeigt die Morphemgrenze an; Klammerlösungen (lektor(ka)) werden im Allgemeinen nicht empfohlen. Immer häufiger, vor allem in Stellen‐ angeboten, treten Mehrnennungen auf, die alle Geschlechter inkludieren sollen, meist mit Sternchen: lektor*ka, lektor*-ka. Diese gegenderten Personenbezeichnungen sind auch in einigen obliquen Kasus gut lesbar: zveme žáky/ ně bzw. …žáky*ně (‚wir laden Schüler/ innen bzw. … Schüler*innen ein‘). Nicht selten wird jedoch dagegen vorgebracht, das ästhetische Empfinden, die Textart und/ oder die Lesbarkeit könnten dadurch beeinträchtigt werden: zveme političky a politiky (‚wir laden Politikerinnen und Politiker ein‘) lese sich besser als zveme političky/ ky. Abgesehen von Stellenangeboten kommt Beidnennung in tschechischen Texten selten vor, wenngleich sie von Vorteil sein kann: Vollformen sind eindeutige Marker einer besseren Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache. Im Vergleich zu der generisch gemeinten Äußerung 6. Úřad se opírá o kvalifikované odborníky. (‚Das Büro stützt sich auf qualifi‐ zierte „Fachmänner“‘) haben Formulierungen mit Beidnennung wie …kvalifikované odbornice a od‐ borníky (‚…qualifizierte Fachfrauen und Fachmänner‘) bzw. Mehrnennung … kvalifikované odbornice*odborníky  14 den Vorzug der eindeutigen Einbeziehung von Frauen. 3.2 Umgehung des Maskulinums, Umformulierung durch direkte Rede Die Repräsentation der Geschlechter kann durch Umgehung der maskulinen Personenbezeichnung bzw. durch direkte Anrede symmetrisiert werden: 7. Chceme poskytnout občanům co nejlepší komfort. (‚Wir wollen den Bürgern den bestmöglichen Komfort bieten‘); stattdessen: Chceme vám nabídnout co nejlepší komfort. (‚Wir wollen Ihnen den bestmöglichen Komfort bieten‘) Gendern im Tschechischen 435 <?page no="436"?> 15 Zu dem Terminus Epikoinon siehe https: / / www.degruyter.com/ document/ doi/ 10.1515/ 9783110746396-005/ html (letzter Aufruf: 31.08.2023). 16 So begrüßte die Moderatorin einer Nachrichtensendung des Fernsehsenders ČT24 am 13.03.2023 eine Teilnehmende mit der Movierung hostka. 3.3 Neutralisierung mit Metonymien Maskuline Personenbezeichnungen lassen sich durch Bezeichnungen der Insti‐ tution, Tätigkeit etc. ersetzen: 8. Představitelé města XY zvou naši mládež… (‚Die Vertreter der Stadt XY laden unsere Jugend ein…‘); stattdessen: Město zve naši mládež… (‚Die Stadt lädt unsere Jugend ein…‘) 3.4 Konkretisierung durch Namen, Anzahl der Mädchen und Jungen, Frauen und Männer 9. Do ankety se zapojilo 327 respondentů. (‚327 Respondenten nahmen an der Umfrage teil.‘); stattdessen: Do ankety se zapojilo 180 žen a 147 mužů. (‚180 Frauen und 147 Männer nahmen an der Umfrage teil‘). Falls auch auf nichtbinäre Personen referiert werden soll, ist der Rekurs auf adäquate inklusive Sprachmittel angebracht. 3.5 Epikoina Sexusindifferente Personenbezeichnungen 15 wie děti, lidé, osoba, osobnost (‚Kinder‘, ‚Menschen‘, ‚Person‘, ‚Persönlichkeit‘) ermöglichen die sprachliche Inklusion aller Geschlechteridentitäten: 10. Do ankety se zapojilo 327 respondentů. (‚An der Umfrage nahmen 327 Respondenten teil‘); stattdessen: Do ankety se zapojilo 327 osob. (‚An der Umfrage nahmen 327 Personen teil.‘) Im Zuge der zunehmenden Sensibilisierung für Genderfragen in der breiten Öf‐ fentlichkeit ist derzeit eine Tendenz zur Movierung von Epikoina festzustellen; so ist neben host m (‚Gast‘) verstärkt auch hostka f (‚Gästin‘) anzutreffen. 16 3.6 Kollektiva Mit Hilfe des Suffixes -(s)tvo n können Gruppenbezeichnungen gebildet werden: žactvo ‚Schülerschaft‘, studentstvo ‚Studentenschaft‘, osazenstvo ‚Beleg‐ 436 Jana Valdrová <?page no="437"?> 17 Vgl. auch učitelstvo (‚Lehrerschaft‘). http: / / www.dobryslovnik.cz/ cestina? učitelstvo (letzter Aufruf: 26.08.2023) schaft/ Personal‘, členstvo ‚Mitgliedschaft‘, im Sport auch družstvo ‚Gruppe‘; 17 die Verwendung von Suffigierungen mit -stvo gehört gegenwärtig zu den bevorzugten Strategien des inklusiven Sprachgebrauchs. 3.7 Substantivierte Partizipien; attributiv gebrauchte Adjektive Ungeachtet geschlechtsspezifischer Endungen bei der Deklination (außer im Nominativ) werden vor allem an tschechischen Universitäten - ähnlich wie an Universitäten in deutschsprachigen Ländern - immer häufiger substantivierte Partizipien I für einen inklusiven Sprachgebrauch eingesetzt: 11. stipendium pro tři studující (,drei Studierende‘) statt … tři studenty m (‚drei Studenten‘). Eine weitere Möglichkeit ist der Rekurs auf die attributive Verwendung von Adjektiven, z. B. in Wortverbindungen wie žákovský tým (‚Schülerteam‘) statt tým z žáků (‚ein Team aus Schülern‘). 3.8 Umschreibung Durch den Rekurs auf Präpositionalgruppen bzw. Relativsätze lässt sich die Anzahl „generischer“ Maskulina wesentlich reduzieren: 12. mohou se zúčastnit jak děti - rybáři m , tak i nerybáři m . (‚es können alle Kinder - Fischer und Nichtfischer - teilnehmen‘); stattdessen: …děti se zkušenosti s rybařením nebo bez ní/ …všechny děti, které si chtějí vyzkoušet rybolov. (‚…Kinder mit oder ohne Erfahrung im Fischfang‘/ ‚…alle Kinder, die den Fischfang ausprobieren wollen‘). 3.9 Geschlechtsstereotypie im öffentlichen Sprachgebrauch Neben grammatikalischen dienen auch lexikalische Mittel zur Konstruktion einer stark von Stereotypen geprägten Realität, darunter zahlreiche Personen‐ bezeichnungen, Kollokationen und Idiome. So legt maminka (‚Mami‘) im allge‐ meinen Sprachgebrauch die Annahme nahe, die Kinderpflege sei Frauensache; der Ausdruck tatínek (‚Papi‘) erscheint in solchen Kontexten dagegen nicht. Die häufige Verwendung der Diminutivbildungen bříško und zadeček (‚Bäuchlein‘, wörtlich: ‚Hinterlein‘) ist auf Frauen und Kinder beschränkt. Gendern im Tschechischen 437 <?page no="438"?> 18 Der von der Verf. vorgelegte Änderungsvorschlag S námi doma (‚Mit uns zu Hause‘) wurde vom Tschechischen Fernsehen mit der Begründung abgelehnt, der Titel Sama doma habe sich inzwischen etabliert. 19 Die Verf. hat an der Ausarbeitung einer Broschüre zum nichtbinären Sprachgebrauch im Tschechischen mitgewirkt (Kleinhamplová Hrsg. 2023). - Besonders intensiv wurde in den Jahren 2022 und 2023 über den nichtbinären Sprachgebrauch debattiert; auch Seminare zum Thema fanden statt. 13. Co by měly dělat maminky, když děti bolí zoubky? (‚Was sollten Mamis tun, wenn Kindern die Zähnchen weh tun? ‘); stattdessen: Co dělat, když děti bolí zoubky? (‚Was tun, wenn…? ‘) 14. Sama doma (‚Allein f zu Hause‘, Titel einer TV-Sendung über Kinder-, Gesundheits-, Haushaltspflege und Elternkarenz im Tschechischen Fern‐ sehen). 18 Mit Frauen wird Zärtlichkeit assoziiert; besonders häufig ist die Kollokation něžné pohlaví (‚das zärtliche Geschlecht‘): 14. Jak si vedou příslušnice něžného pohlaví za volantem? Lépe než muži. (‚Wie verhalten sich die Vertreterinnen des zärtlichen Geschlechts am Lenkrad? Besser als Männer‘). 3.10 Nichtbinäre Identitäten im Sprachusus In letzter Zeit ist der nichtbinäre Sprachgebrauch verstärkt thematisiert worden. 19 Nichtbinäre Personen schaffen neue Flexionsendungen, etwa -u: mluvilu (‚redete nichtbinär ‘) an Stelle von mluvila f (‚redete f ‘) und mluvil m (‚redete m ‘). Manche greifen auf das Siezen im Plural zurück, um die geschlechtsspezifischen Endungen zu vermeiden, und manche kommunizieren auf Englisch. Ein geschlechtsneutrales Pronomen hat sich im Tschechischen auch des‐ wegen bisher nicht durchgesetzt, weil es die Satzkongruenz nicht aufhebt. Einige Personen identifizieren sich mit dem Pronomen ono (‚es‘); ansonsten wird der Gebrauch des Neutrums in der Regel vermieden, weil damit Unreife assoziiert wird, und Nichtbinäre kommunizieren meist im Femininum oder Maskulinum. Manche, die einen Geschlechtswechsel bereits vorgenommen haben bzw. planen, haben keinerlei Probleme damit, das ihrem neuen bzw. anvisierten Geschlecht entsprechende Genus zu verwenden; für andere ist es dagegen nur eine Notlösung. Im Schriftverkehr setzen sich ähnliche typografische Zeichen wie im Deut‐ schen durch. Die Form lektor/ ka wird als binär verstanden, während lektor*ka, lektor_ka, lektor: ka, lektor·ka sämtliche Geschlechteridentitäten bezeichnen. 438 Jana Valdrová <?page no="439"?> 20 https: / / ujc.avcr.cz/ o-ustavu/ poslani-a-cinnost.html (letzter Aufruf: 31.05.2024). In Stellenausschreibungen wird zunehmend das Sternchen verwendet. Ge‐ schlechter und Identitäten können zudem mit anderen typografischen Zeichen (Schrägstrich) bzw. mit Abkürzungen versprachlicht werden: ekonom/ ka (ž, m, x) (‚Ökonom/ in (w, m, x)‘). 15. Nabídka práce: obchodní ředitel m (‚Stellenangebot: Handelsdirektor‘); statt‐ dessen: Nabídka práce: obchodní ředitel: ka/ obchodní ředitelKa/ obchodní ředitel*ka/ obchodní ředitel_ka (‚Stellenangebot: Handelsdirektor: in/ Han‐ delsdirektorIn/ Handelsdirektor*in/ Handelsdirektor_in‘) Darüber hinaus finden sich in Stellenangeboten zunehmend auch Anglizismen wie sales manager in geschlechtsneutraler Verwendung; detaillierte Studien hierzu liegen noch nicht vor. 4 Inklusive Sprache aus der Sicht der bohemistischen Institute in Tschechien Zur Zeit der Herrschaft der sozialistischen Ideologie (1948-1989) durften gesell‐ schaftliche Ungleichheiten nicht thematisiert werden; auch nach der Wende blieben feministische Strömungen in der Gesellschaft ‚latent und privat‘ („la‐ tentně a soukromě“, Havelková 2019: 123), und es herrschte die ‚Angst vor dem Verlust letzter Gewissheiten‘ („strach před ztrátou posledních jistot“, 2019: 129). Doch gab es auch erste Ansätze zu einer ‚neuen [feministischen, J. V.] Weltsicht‘ („Nové čtení světa“, so der Titel von Chřibková et al. 1999). Die sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern wurde erst ab 1995 zum Gegenstand bohemistischer Forschung. Die Herausbildung der Gen‐ derlinguistik in Tschechien wurde maßgeblich von zwei sprachwissenschaftli‐ chen Instituten beeinflusst, „Ústav pro jazyk český“ (‚Institut für tschechische Sprache‘, nachstehend: ÚJČ) und „Ústav českého jazyka a teorie komunikace“ (‚Institut für tschechische Sprache und Kommunikationstheorie‘, nachstehend: ÚČJTK). 4.1 Das ÚJČ Seine Hauptaufgabe ist nach eigenen Angaben die ‚wissenschaftliche Erfor‐ schung der tschechischen Nationalsprache‘. 20 Als einzige bohemistische Arbeits‐ stelle bietet das ÚJČ eine Internet-Beratung für die Öffentlichkeit und eine Gendern im Tschechischen 439 <?page no="440"?> 21 Dieses Beispiel verwendet Čmejrková in ihrem Beitrag zu dem Sammelband Gender Across Languages (2003: 50). 22 ‚Leser/ Leserinnen werden (darum) gebeten m / gebeten f , dass [sie] … selber m / selber f entdecken m / entdecken f ‘. Im Tschechischen entfällt das Pronomen [Anm. der Verf.]. 23 Ihr Kollege Daneš schreibt unter Berufung auf Čmejrková (1995), der ‚gesunde Men‐ schenverstand‘ solle uns vor der feministischen Sprachforschung bewahren (1997: 259). Vgl. zu diesen und ähnlichen Stellungnahmen auch die Untersuchung von Valdrová in Kolek/ Valdrová (2017). Lexikon-Webseite an; die Abteilung für Onomastik erstellt gebührenpflichtige Gutachten im Namengebungsbereich. 4.1.1 Inklusive Sprache aus der Sicht des ÚJČ Die ersten Berichte über den nichtsexistischen Sprachgebrauch des Englischen bzw. Deutschen für die tschechische Öffentlichkeit wurden 1995 von zwei Mit‐ arbeiterinnen des ÚJČ vorgelegt (Hoffmannová 1995; Čmejrková 1995); beide äußerten sich sehr skeptisch gegenüber der feministischen Linguistik. Hoffman‐ nová berichtete von ‚groteske[n] Experimente[n]‘ im Deutschen und nannte dazu Belege wie „Männer als Verkäuferinnen“ und „männliche Kolleginnen“ (1995: 82). Čmejrková spricht im Zusammenhang mit den Empfehlungen für einen nichtsexistischen Sprachgebrauch im Englischen von einer ‚Schlacht zwischen he und she‘ bzw. einer ‚Bewegung‘, die ‚in einer Sprache angefangen und andere [Sprachen] befallen habe‘ (1995: 51). Des Weiteren äußert sie sich kritisch zu den für andere Sprachen entstehenden ‚Handbücher[n] für ein angepasstes Sprachverhalten‘, die dem ‚Malheur des sog. wörtlichen Sexismus‘ abhelfen sollten (S. 52). Ihre Annahme, im Tschechischen könne nicht gegendert werden, illustriert sie anhand eines komplizierten Beispiels (ibid.): 73. Čtenáři/ čtenářky jsou vyzýváni/ vyzývány, aby sami/ samy odhalili/ odha‐ lily… 21 (‚The readers are invited to find out for themselves …‘; Übersetzung von Čmejrková) 22 Dabei lässt sich der Inhalt durchaus anders ausdrücken, z. B. Čtenářská obec může sama odhalit … (‚Die Lesergemeinde kann selbst entdecken …‘). 23 Čmejrková (2003) versteht Geschlechtergerechtigkeit offenbar als Ge‐ schlechtlichkeit. Sie beruft sich hier auf den Essayisten und Übersetzer Pavel Eisner (1889-1958), der die slawischen Sprachen als důsledně pohlavní (‚bis ins kleinste Detail geschlechtlich markiert‘) charakterisiert hatte (Eisner 1946: 378); zur Begründung hatte er sich mit einem Verweis auf das Drei-Genera-Na‐ mensystem begnügt. Čmejrková interpretiert Eisners Auffassung irrtümlich als „sexist“: 440 Jana Valdrová <?page no="441"?> 24 Hier lässt Čmejrková allerdings außer Betracht, dass Frauen im tschechischen Parla‐ ment weiter deutlich unterrepräsentiert sind. 25 In Tschechischen drückt die Flexion des Verbs das Genus aus; das Pronomen entfällt. […] we can distinguish absolutely sexless languages like English, then languages with small degree of sexism like German […] and in the end thoroughly sexist languages, and in Europe these are the Slavic languages, including Czech (Eisner ibid.; englische Übersetzung zit. in Čmejrková 2003: 31). Čmejrková sieht in dem so verstandenen sprachlichen Sexismus demnach einen Vorzug der slawischen Sprachen. Aus ihrer Sicht sind generisch gemeinte Maskulina Bestandteil der Sprachnorm (2003: 46), was sie nur mit einem Hinweis auf das Tschechische Nationalkorpus begründet, das ungleich mehr Belege für die männliche Form poslanec (‚der Abgeordnete‘) als für die weibliche Form poslankyně (‚die Abgeordnete‘) enthält (4500 gegenüber 686). 24 Neben Čmejrková, Hoffmannová und Daneš haben sich weitere ÚJČ-Mit‐ glieder gegen einen inklusiven Sprachgebrauch ausgesprochen, darunter Prav‐ dová (2015), die die Leserschaft von MF Dnes, der zweitpopulärsten Tageszeitung in Tschechien, dazu aufrief, sich Gedanken über eine geschlechtergerechte Version des folgenden Abschnitts aus der Tschechischen Verfassung zu machen: 16. Dnem, kdy se poslanec m nebo senátor m ujal m úřadu prezidenta m republiky, nebo dnem, kdy se ujal m funkce soudce m nebo jiné funkce neslučitelné s funkcí poslance m nebo senátora m zaniká jeho m mandát poslance m nebo senátora m . (‚An dem Tag, an dem ein Abgeordneter oder ein Senator das Amt des Präsidenten der Republik übernimmt oder an dem Tag, an dem er das Amt des Richters oder ein anderes mit dem Amt des Abgeordneten oder des Senators unvereinbares Amt antritt, endet sein Mandat als Abgeordneter oder als Senator.‘) Als geschlechtergerechte Version schlägt Pravdová vor: 17. Dnem, kdy se poslanec m / poslankyně f nebo senátor m / senátorka f ujal m / a f úřadu prezidenta m / prezidentky f republiky, nebo dnem, kdy se ujal m / a f funkce soudce m / soudkyně f nebo jiné funkce neslučitelné s funkcí poslance m / poslan‐ kyně f nebo senátora m / senátorky f , zaniká jeho m / její f mandát poslance m / pos‐ lankyně f nebo senátora m / senátorky f . (‚An dem Tag, an dem ein Abgeord‐ neter/ eine Abgeordnete oder ein Senator/ eine Senatorin das Amt des Präsidenten/ der Präsidentin der Republik übernimmt m / f oder an dem Tag, an dem[er/ sie] 25 das Amt des Richters/ der Richterin oder ein anderes mit der Funktion des Abgeordneten/ der Abgeordneten oder des Senators/ der Gendern im Tschechischen 441 <?page no="442"?> 26 https: / / ssjc.ujc.cas.cz/ . 27 Der Terminus pediatra wird von der Öffentlichkeit viel weniger verwendet als dětská lékařka (‚Kinderärztin‘). 28 Ein Beispiel aus eigener Beratungstätigkeit: In einer Nachfrage ging es darum, ob das Wort občanka in der Bedeutung ‚Bürgerin‘ verwendet werden darf. Senatorin unvereinbares Amt antritt m / f , endet sein/ ihr Mandat als Abge‐ ordneter/ Abgeordnete oder Senator/ Senatorin.‘) Möglich wäre jedoch ebenso: Poslanecký nebo senátorský mandát zaniká dnem nástupu do prezidentské, soudcovské nebo jiné funkce, neslučitelné s tímto man‐ dátem. (‚Das Abgeordnetenbzw. Richtermandat endet mit dem Antritt des Präsidenten- oder Senatorenamts.‘) Obwohl die hier attributiv verwendeten Ad‐ jektive aus Maskulina abgeleitet sind (poslanec m -ký etc.), rufen sie in der adjek‐ tivischen Form kaum Assoziationen mit Männern hervor. Umformulierungen dieser Art können zu einer sprachlich gerechten Behandlung aller Geschlechter und Identitäten beitragen. Festzuhalten ist, dass die tschechische Rechts- und Amtssprache nach wie vor von maskulinen Personenbezeichnungen geprägt ist, obwohl keine rechtliche Norm dazu verpflichtet (vgl. hierzu Špondrová in Valdrová 2018: 407-415). 4.1.2 Personen- und Berufsbezeichnungen im Slovník spisovného jazyka českého (2011) Das im Internet abrufbare Slovník spisovného jazyka českého (‚Lexikon der tschechischen Schriftsprache‘, 2011; nachstehend: SSJČ), 26 mit dem Ratsuchende sich etwa zu Fragen der Femininmovierung von Personenbezeichnungen infor‐ mieren können, wird von dem lexikografischen Team des ÚJČ verwaltet. Die Bildung einiger weniger Feminina (selten auch Maskulina), etwa von pediatra f (‚Kinderärztin‘), kann in der Tat selbst Muttersprachler*innen Schwierigkeiten bereiten. 27 Eine andere mögliche Quelle der Verunsicherung ist die Homonymie: strážnice bedeutet neben ‚Wächterin‘ auch ‚Wachstube‘, und noch vor zwanzig Jahren wurde der Ausdruck občanka (‚Bürgerin‘) als Personenbezeichnung kaum verwendet, weil er zugleich eine Bezeichnung für ‚Personalausweis‘ ist. 28 Die meisten weiblichen Personen- und Berufsbezeichnungen werden mit Hilfe von Suffixen gebildet: student - studentka (‚Student‘ - ‚Studentin‘), ggf. mit für Muttersprachler*innen unkomplizierten Änderungen im Auslaut (Pala‐ talisierung, Silbentilgung etc.): politik - politička (‚Politiker‘ - ‚Politikerin‘). Viele dieser Formen tauchen allerdings in offiziellen Verzeichnissen von Berufs‐ bezeichnungen nicht auf; Beispiele sind die Verzeichnisse des Ministeriums für Arbeit und Soziales und die amtlichen Unterlagen für die berufliche Ori‐ 442 Jana Valdrová <?page no="443"?> 29 Der Eintrag zu homosexuální (‚homosexuell‘) enthält zudem die abwertende Erläute‐ rung stižený homosexualitou (wörtlich: ‚ein von der Homosexualität heimgesuchter [Mensch]‘); https: / / ssjc.ujc.cas.cz/ search.php? hledej=Hledat&heslo=homosexuál&sti= EMPTY&where=hesla&hsubstr=no, 22.06.2023. 30 „vzhledem ke své neobvyklosti [by tento výraz] mohl být chápán jako nežádoucí ironie“; https: / / ujc.avcr.cz/ jazykova-poradna/ dotazy/ 0035.html (letzter Aufruf: 07.06.2024). entierung von Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren. Als Berufswunsch geben Mädchen nur sehr selten automechanička oder truhlářka (‚Kfz.-Mechanikerin‘, ‚Tischlerin‘) an, weil sie diese Movierungen nie zuvor gehört haben. Einige wenige Berufsbezeichnungen haben übrigens bislang keine maskuline Entsprechung; so wird zu zdravotní sestra (‚Krankenschwester‘) im SSJČ lediglich zdravotnická pracovnice (‚Angestellte f im Gesundheitswesen‘) angegeben. Der britische Bohemist Dickins hat diesen unsystematischen Umgang mit Berufsbezeichnungen im SSJČ kritisiert. Verweise auf weibliche Äquivalente fand er in der Auflage von 1994 nur bei ca. 47 % der Maskulina; in einer norm‐ bildenden Publikation könne das zur sozialen Marginalisierung von Frauen beitragen (vgl. Dickins 2001: 244). Für Dickins ist diese Marginalisierung nicht etwa im Sprachsystem begründet, sondern in der Wahrnehmung des unterschiedlichen Status weiblicher und männlicher Varianten (2001: 246). Eine Reaktion tschechischer Bohemisten auf Dickins’ Studie blieb aus. Die Auflage 2023 des Lexikons enthält zwar einige neue Feminina, doch finden sich darin weiterhin maskuline Bezeichnungen wie manažer, leader, koordinátor, pediatr, für die keine feminine Entsprechung angegeben ist. Auch in anderer Hinsicht ist die Aktualisierung des Lexikons unsystematisch: Die veraltete Diminutivform lesbička (für ‚Lesbe‘) wurde getilgt, doch lesba, gay, trans gender, trans žena ‚Transfrau‘, trans muž ‚Transmann‘ fehlen nach wie vor. Homosexuelle werden generisch als homosexuál m (‚der Homosexuelle‘) bezeichnet. 29 In seiner Internetberatung sprach das ÚJČ sich gegen die Movierung hostka (‚Gästin‘) aus mit der Begründung, das Maskulinum host decke die Bedeutung des Wortes zur Genüge ab. Von der Form mažoret (männlicher Twirler, hier im Sing.) zu mažoretka wurde abgeraten, weil das Femininum in der Alltagssprache nicht vorkomme und ‚[dieser Ausdruck] auf Grund seiner Unüblichkeit als ungewollt ironisch verstanden werden könne‘. 30 Das Eintreten der Verf. für Kreativität im Bereich der Personenbezeichnungen stellt in der tschechischen Sprachwissenschaft bislang eine Ausnahme dar (Valdrová 2018: 381-389). Die ministeriellen Berufsverzeichnisse ISCO wurden 2020 im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Soziales von der Verf. dieses Beitrags Gendern im Tschechischen 443 <?page no="444"?> 31 https: / / ssjc.ujc.cas.cz/ search.php? hledej=Hledat&heslo=sestra&sti=EMPTY&where=h esla&hsubstr=no. Vgl. sestra, https: / / nsp.cz/ hledat? type=workUnit&q=sestra (letzter Aufruf: 31.05.2024). - Eine Aktualisierung der Verzeichnisse gehört offenbar nicht zu den Prioritäten der seit 2021 regierenden Koalition. durch mehr als 1800 überwiegend weibliche, seltener auch männliche Berufs- und Amtsbezeichnungen ergänzt. Obwohl u. a. der ‚Tschechische Schwestern‐ verband‘ (Česká asociace sester) auf das Fehlen eines männlichen Äquivalents zu sestra (‚Schwester‘) hingewiesen hatte, enthalten die Verzeichnisse nach wie vor keine Bezeichnung für Männer, die den Beruf einer Krankenschwester ausüben. 31 4.1.3 Der Einfluss des ÚJČ auf die Namengebungspraxis Ein wichtiger Aspekt inklusiven Sprachgebrauchs ist der geschlechtergerechte Umgang mit Namen. M. Knappová, die ehemalige Leiterin der Abteilung für Onomastik, legte in den 1970er Jahren Prinzipien der tschech(oslowak)ischen Namengebung vor, die u. a. die Pflichtmovierung von Familiennamen bein‐ halteten, und zwar unabhängig von der Herkunft des Namens oder der Na‐ mensträgerin. Nach der Umsetzung dieser Prinzipien in der standesamtlichen Praxis legten in Tschechien lebende Ausländerinnen beim Tschechischen Hel‐ sinki-Ausschuss im Jahr 2000 Protest gegen die Pflichtmovierung ein, die daraufhin schrittweise abgemildert und schließlich durch einen Erlass des Parlaments vom 01.01.2022 endgültig aufgehoben wurde. Die Zahl der Tschechinnen mit unmovierten Familiennamen hat inzwischen zugenommen. In den Medien werden Familiennamen von Ausländerinnen weiterhin mit Hilfe des Suffixes -ová tschechisiert. Dies kann zu paradoxen Situationen führen; so war in ein und derselben Sportsendung des Tschechi‐ schen Fernsehens die Rede von einer Tschechin namens Kateřina Nash und einer Kanadierin namens Maghalie Rochetteová. Dagegen arbeiten angesehene tschechische Zeitschriften wie Respekt, Deník N, Alarm und Deník Referendum seit ca. fünf Jahren ganz ohne Tschechisierung fremdsprachiger Familiennamen. Das erstmals 1976 von Knappová vorgelegte Lexikon Jak se bude Vaše dítě jmenovat (‚Wie Ihr Kind heißen wird‘; 2017 8 ) ist der Autorin zufolge als ‚Kodifikationshandbuch für Standesämter‘ konzipiert (1989: 106) und bis heute die einzige gedruckte Quelle für die Standesämter. Es enthält ab der Auflage 2006 auch Anweisungen für geschlechtsneutrale Namen, die für Transpersonen bestimmt sind. Auch Hypokoristika (z. B. Pája zu Pavel oder Pavla) sollten aus ihrer Sicht nur für Transpersonen amtlich zulässig sein. De facto wurden sie dadurch zu einem Identifikationsmarker; wohl aus diesem Grund (vgl. Analyse der Namengebungspraxis in Valdrová 2022) nahm der Academia-Verlag Abstand 444 Jana Valdrová <?page no="445"?> 32 https: / / sites.ff.cuni.cz/ ucjtk/ wp-content/ uploads/ sites/ 57/ 2015/ 11/ Koncepce-rozvoje- ÚČJTK-FF-UK-2008-2011.pdf (letzter Aufruf: 25.10.2023). 33 In zahlreichen persönlichen Gesprächen mit Studierenden wurde deutlich, dass Leh‐ rende ihre ablehnende Haltung mit folgenden Argumenten begründen: i) An ihrem Institut finde sich niemand, der mit der Thematik vertraut sei, ii) Die tschechische Gesellschaft sei noch nicht reif für dieses Thema. 34 https: / / www.ff.cuni.cz/ fakulta/ struktura-historie/ vedeni-fakulty/ dekan/ (letzter Aufruf: 25.10.2023). von der geplanten 9. Auflage des Handbuchs. Die Praxis der Namengebung bei Unisex-Namen änderte sich im Juli 2023, als das Innenministerium geschlechts‐ neutrale Namen für die breite Öffentlichkeit zugänglich machte. Unmovierte Familiennamen wie Procházka u. v. a., die vor 1945 in der multikulturellen Tschechoslowakei gebräuchlich waren, wurden am 1. Januar 2022 schließlich (wieder) als neutrale Formen zugelassen. 4.2 Das ÚČJTK ‚Die Wissenschaft, darunter auch die Geisteswissenschaften, soll nach meiner Überzeugung zur Erweiterung des menschlichen Wissens und zur Entwicklung des allgemeinen Wohles beitragen‘, schrieb 2008 der damalige ÚČJTK-Direktor R. Adam. 32 Zwei Jahre später organisierte er eine Petition gegen die vom Minis‐ terium für Schulwesen geplante Einführung des Themas ‚geschlechtergerechter Sprachgebrauch‘ in den Tschechischunterricht. Die im Auftrag des Ministeriums für das Schulwesen erarbeitete Methodik (Valdrová/ Knotková-Čapková/ Pac‐ líková 2010) sollte dazu dienen, die SchülerInnen über Möglichkeiten des Genderns in ihrer Muttersprache und die für das Englische und Deutsche bereits eingesetzten Strategien zu informieren. Nachdem vierzehn führende Mitglieder bohemistischer Abteilungen in ganz Tschechien diese Petition unterschrieben hatten, wurde die genannte Methodik von der Webseite des Ministeriums entfernt, und an mehreren Universitäten wurden Studierende davon abgehalten, Forschungsarbeiten zu diesem Thema zu verfassen. 33 In akademischen Kreisen sind gendersprachliche Praktiken weiterhin recht selten. In Qualifikationsarbeiten, Konferenzbeiträgen und öffentlichen Vor‐ trägen wird in der Regel noch das generische Maskulinum verwendet. Die Dekanin der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag führt den Titel děkan, der auf der offiziellen Seite der Fakultät insgesamt elfmal (inkl. der E-Mail-Adresse) erscheint; allein ihr Name signalisiert, dass es sich um eine Frau handelt. 34 Gendern im Tschechischen 445 <?page no="446"?> 5 Inklusiver Sprachgebrauch in Publikationen tschechischer AutorInnen 5.1 Artikel in bohemistischen Periodika und Sammelbänden Anregungen für eine feministische Sprachkritik sind in kontrastiven tsche‐ chisch-deutschen bzw. tschechisch-englischen Studien vorgelegt worden (Věší‐ nová 1998; Valdrová 2016; Kolek 2022). Věšínová (1998) stellt in ihrer Studie zum Wortschatz der Sexualität im Englischen und Tschechischen fest, Tschechinnen würde nur wenig Raum zugestanden, ihre Sexualität auch in der Sprache auszu‐ leben; sexuelle Aktivitäten von Frauen seien weitgehend verpönt oder würden als unangebracht angesehen. Den von Ouředník (1992) zusammengestellten 64 Synonymen für männliches Masturbieren stehen nach Věšínová (1998: 23) lediglich 11 Bezeichnungen für das Masturbieren von Frauen gegenüber, die zudem bis auf eine Ausnahme abwertend sind. Besonders aufschlussreich ist die Untersuchung von Homoláč (1996) zu Berichten über Vergewaltigungen in Tageszeitungen, in denen die Gewalttat nicht selten verharmlosend dargestellt wird. Als Tatmotive werden darin etwa nahromaděný nedostatek lásky (‚ein angestauter Mangel an Liebe‘) oder zjitřené sexuální pudy (‚verstärkte sexuelle Triebe‘) genannt (1996: 264), und in einem Fall heißt es, bei dem Gewalttäter handle es sich um einen ‚durch das Zölibat geplagten Jungen‘ (celibátem zmoženém chlapci). 5.2 Handbücher für Grammatik und Sprachgebrauch Akademische Handbücher, eine unentbehrliche Wissensquelle für Studierende der Bohemistik, sind im Hinblick auf den inklusiven Sprachgebrauch bislang (von Ausnahmen abgesehen, siehe unten) wenig hilfreich. In ihren Überlegungen zur Männer- und Frauensprache hatte Čmejrková vor der ‚Gefahr der Frauenlinguistik‘ gewarnt, die ‚ihren eigenen Illusionen über die eigene Überlegenheit und Privilegiertheit‘ zu erliegen drohe (in Kraus et al. 1996: 37-38). Ähnlich äußert sich die Autorin auch in dem Handbuch Český jazyk na přelomu tisíciletí (‚Tschechische Sprache um die Jahrtausendwende‘; Daneš et al. 1997), in dem sie ohne nähere Begründung die Meinung vertritt, die ‚Struktur der slawischen Sprachen‘ sei ‚kein guter Nährboden‘ für ‚linguistischen Femi‐ nismus‘ (1997: 148). Wie Eisner (s. oben 4.1.1.) sieht sie das Tschechische als ‚eine geschlechtlich stark markierte, geradezu erotische Sprache‘, die ‚mit ihrem geschlechtlich geprägten System von männlichen und weiblichen Endungen geradezu erotisiert‘ (Čmejrková 1997: 148). 446 Jana Valdrová <?page no="447"?> 35 Hervorhebung im Original. Eine Orientierung im Bereich Gender und Sprache bieten Karlík, Pleskalová und Nekula (2016) mit den Einträgen der Verf. zu feministická lingvistika, gender, genderová lingvistika, generické maskulinum und genderově vyvážené vyjadřování (‚geschlechtergerechter Sprachgebrauch‘). In Valdrová (2018) wird anhand von mehr als 800 Belegen aus dem öffentlichen Raum untersucht, mit welchen Mitteln traditionelle Frauen- und Männerrollen und -hierarchien sprachlich tradiert werden: unterschiedlicher Umgang mit Namen, übermäßiger Gebrauch des generisch gemeinten Maskulinums, sprachliche Stereotype und Clichés, Genderkonzepte von „Frau“, „Mädchen“, „Blondine“ (u. a. durch das Ab‐ sprechen von Fachkompetenzen), „Feministin“, „Karrieristin“, Attribuierungen wie „normal“, „ideal“, „typisch“ (Frau, Mann). An der Namengebungspraxis wird gezeigt, wie Namen als Sozio- und Genderonyme funktionieren. Der Band schließt mit Empfehlungen zum Gendern im Tschechischen (S.-403-406). VELKÁ  35 akademická gramatika spisovné češtiny (‚Große akademische Gram‐ matik der tschechischen Schriftsprache‘; Štícha et al. 2021), das neueste Hand‐ buch, verweist auf Höflichkeit als ein ‚Motiv, die Angehörigen [příslušníky; Mask. Akk.] eines Geschlechts nicht wegzulassen‘. Doch wird darin auch vor den negativen Folgen der Beidnennung gewarnt, die zu einer ‚Verdrängung bedeutungsmäßig übergeordneter Bezeichnungen [d. h. des Maskulinums] aus der Kommunikation‘ führen könne, und damit zum Verlust der ‚wertvollen hierarchischen Struktur der morphologischen Mittel, der Wortbildung und Lexik‘ (2021: 25). 6 Fazit und Ausblick Das stärkere Interesse an einem inklusiven Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit lässt sich zum einen mit der gestiegenen Ablehnung des sprachlichen Andro‐ zentrismus seitens vieler Sprachteilnehmer*innen erklären, zum anderen mit den gegenwärtigen Bemühungen um Diversity, Equity und Inclusivity (den sog. „DEI-Trends“, insbesondere in den Niederlassungen internationaler Großunter‐ nehmen). Diversity-and-Inclusion-Schulungen finden inzwischen auch in vielen Institutionen ein großes Echo. In der tschechischen Sprachwissenschaft galt das Thema des geschlech‐ tergerechten Sprachgebrauchs jahrzehntelang nicht als ernst zu nehmendes Forschungsgebiet. Die vermeintlich generische Funktion des Maskulinums wurde nie kritisch hinterfragt, die Funktion von Sprache als Instrument der Geschlechterhierarchisierung in der Forschung nicht thematisiert. Gegen die Gendern im Tschechischen 447 <?page no="448"?> Vorschläge für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch im Schriftlichen wurde vorgebracht, solche Texte seien zu kompliziert und zu lang, sie wirkten unnatürlich und beeinträchtigten das Sprachsystem. Um die Entwicklung der Genderlinguistik nun auch in Tschechien voranzu‐ treiben, wäre es wünschenswert, das Thema weiter zu erforschen und vor allem entsprechende Lehrveranstaltungen an den Universitäten einzurichten. Die eingehende Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der genderlinguistischen Forschung in anderen Ländern, namentlich den einschlägigen Arbeiten zum Gendern im Deutschen und Englischen, ist ein erster Schritt hin zu einem bes‐ seren Verständnis der Rolle von Geschlechterstereotypen im Sprachgebrauch und in der Gesellschaft. Bibliographie Chřibková, Marie/ Chuchma, Josef/ Klimentová, Eva (Hrsg.) (1999): Nové čtení světa. Prag: Selbstverlag. Čmejrková, Světla (1995): Žena v-jazyce. Slovo a slovesnost 56 (1), 43-55. Čmejrková, Světla (1997): Jazyk pro druhé pohlaví. In: Daneš et al. (Hrsg.), 146-158. Čmejrková, Světla (2003): Communicating gender in Czech. In: Hellinger, Marlis/ Buß‐ mann, Hadumod (Hrsg.): Gender Across Languages. The Linguistic Representation of Women and Men. Bd.-3. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins (= Impact: Studies in Language and Society 11), 27-57. Daneš, František (1997): Ještě jednou ‚feministická lingvistika‘. Naše řeč 80 (5), 256-259. http: / / nase-rec.ujc.cas.cz/ archiv.php? art=7412. Daneš, František et al. (Hrsg.) (1997): Český jazyk na přelomu tisíciletí. Prag: Academia. Dickins, Tom (2001): Gender Differentiation and the Contemporary Czech. The Slavonic and East European Review 79 (2), 212-247. Diewald, Gabriele/ Steinhauer, Anja (2020): Wie Sie angemessen und verständlich gendern. Berlin: Dudenverlag. Doleschal, Ursula (2002): Konzeptualisierung von Geschlecht und Sprachvergleich. Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 55. Wien: Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien, 177-186. Eisner, Pavel (1946): Chrám i tvrz. Kniha o češtině. Prag: Lidové noviny. Havelková, Hana (2019): Affidamento. In: Sokolová, Věra/ Kobová, Ľubica (Hrsg.): Odvaha nesouhlasit. Feministické myšlení Hany Havelkové a jeho reflexe. Prag: FHS UK, 118-134. Hoffmannová, Jana (1995): Feministická lingvistika? Naše řeč 78 (2), 80-91. http: / / nase -rec.ujc.cas.cz/ archiv.php? art=7234. 448 Jana Valdrová <?page no="449"?> Homoláč, Jiří (1996): Obraz znásilnění v-polistopadových černých kronikách. In: Mol‐ danová, Dobrava et al. (Hrsg.): Žena - jazyk - literatura. Sborník z-mezinárodní konference. Aussig: PF UJEP, 262-266. Karlík, Petr/ Pleskalová, Jana/ Nekula Marek (Hrsg.) (2016): Nový encyklopedický slovník češtiny. https: / / www.czechency.org/ slovnik/ . Kleinhamplová, Barbora (Hrsg.) (2023): Manuál kvíření jazyk českého. Prag: Institut úzkosti. http: / / www.institutuzkosti.cz/ front. Knappová, Miloslava (1989): Rodné jméno v jazyce a společnosti. Prag: Academia. ―-(2017). Jak se bude Vaše dítě jmenovat. 8. Aufl. Prag: Academia. Kolek, Vít (2022): Způsoby označování osob z hlediska ne/ binarity genderu: kvantitativní sonda do titulních stran vybraných českých periodk. Gender a výzkum/ Gender and Research 23 (2), 62-81. Kolek, Vít/ Valdrová, Jana (2017): Die tschechische sprachwissenschaftliche Geschlech‐ terforschung im Spiegel der bohemistischen Fachzeitschriften Naše řeč und Slovo a slovesnost. Reisigl, Martin/ Spieß, Constanze (Hrsg.): Sprache und Geschlecht. Band 2: Empirische Analysen. Rudolstadt: Harfe (= Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 91), 147-165. Kotthoff, Helga/ Nübling, Damaris (2018): Unter Mitarbeit von Claudia Schmidt. Gender‐ linguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr. Kraus, Jiří et al. (1996): Čeština, jak ji znáte i neznáte. Prag: Academia. Ouředník, Patrik (1992): Šmírbuch jazyka českého. Slovník nekonvenční češtiny. Prag: Bolvox Globator. Pober, Maria (2007): Gendersymmetrie. Überlegungen zur geschlechtersymmetrischen Struktur eines Genderwörterbuches im Deutschen. Würzburg: Königshausen & Neu‐ mann. Pravdová, Markéta (2015): Magazín MF Dnes 31/ 2015, 06.08.2015. Rychlík, Jan (2020): Esej historika Jana Rychlíka: Socialistické Československo jako součást našich dějin. Právo 01.10.2020. https: / / www.novinky.cz/ clanek/ kultura-salon -jan-rychlik-socialisticke-ceskoslovensko-jako-soucast-nasich-dejin-40337301. Smetáčková, Irena (2016): Femininní a maskulinní označení: vliv na hodnocení prestiže. Gender, rovné příležitosti, výzkum 17 (2). 81-92. https: / / www.genderonline.cz/ pdfs/ gav/ 2016/ 02/ 08.pdf. Štícha, František et al. (2021): VELKÁ akademická gramatika spisovné češtiny. II. Morfologie/ Flexe. Prag: Academia. Uhde, Zuzana (2005): První konference českých a slovenských feministických studií. Gender, rovné příležitosti, výzkum 6 (2), 46-49. https: / / www.genderonline.cz/ pdfs/ g av/ 2005/ 02/ 13.pdf. Valdrová, Jana (2001). Novinové titulky z hlediska genderu. Naše řeč 84 (2), 90-96. http: / / nase-rec.ujc.cas.cz/ archiv.php? lang=en&art=7614. Gendern im Tschechischen 449 <?page no="450"?> ― (2005): Jak jazyk zabíjí image odbornice. Gender a výzkum 6 (2), 1-2. https: / / www.ge nderonline.cz/ pdfs/ gav/ 2005/ 02/ 01.pdf. ―-(2008): Žena a vědec? To mi nejde dohromady. Naše řeč 91 (1), 26-38. http: / / nase-rec .ujc.cas.cz/ archiv.php? art=7976. ―-(2016): Typological Differences between Languages as an Argument against Gender-Fair Language? In: Jusová, Iveta/ Šiklová, Jiřina (Hrsg.): Czech Feminism. Perspectives on Gender in East Central Europe. Bloomington: Indiana University Press, 270-283. ―-(2018): Reprezentace ženství z-perspektivy lingvistiky genderových a sexuálních identit. Prag: Sociologické nakladatelství (SLON). (2. Aufl. 2023, Prag: Karolinum.) ― (2022): Genderově neutrální jména: současný stav a perspektivy. Gender a výzkum 23 (2), 21-39. https: / / genderonline.cz/ pdfs/ gav/ 2022/ 02/ 02.pdf. ―-(2023): Inkluzivní vyjadřování v češtině. Metodická doporučení, Gender a výzkum, 28.12, 1-13. https: / / www.genderonline.cz/ getrevsrc.php? identification=public&mag= gav&raid=294&type=fin&ver=1. Valdrová, Jana/ Knotková-Čapková, Blanka/ Paclíková, Pavla (2010): Kultura genderově vyváženého vyjadřování. Prag: MŠMT-Webseite. Nicht mehr zugänglich. Věšínová, Eva (1998): Úvaha na téma ‚Čeština a žena‘. Naše řeč 81 (1), 21-28. http: / / nas e-rec.ujc.cas.cz/ archiv.php/ archiv.php? lang=en& art=7418. 450 Jana Valdrová <?page no="451"?> Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland Christian Niedling/ Mia Raitaniemi Zusammenfassung: Finnland, ein Staat mit zwei offiziellen Landesspra‐ chen, präsentiert sich als Pionier der Geschlechtergleichheit. Der Beitrag bietet einen Überblick über die Gleichstellungspolitik in Finnland aus historischer, sprachlicher und gesellschaftlicher Perspektive. Aufgrund der Genuslosigkeit im Finnischen sind geschlechtsneutrale Ausdrucksweisen vergleichsweise unproblematisch, wie insbesondere an der Verwendung bestimmter Pronomina, der Movierung und des generischen Maskulinums gezeigt wird. Gesellschaftlich betrachtet nimmt Finnland hinsichtlich der Gleichstellung traditionell eine progressive Haltung ein; so führte es als erstes europäisches Land das Frauenwahlrecht ein, und Frauen sind in Parlament und Regierung stark vertreten. Auch die aktuellen Debatten und Entwicklungen hinsichtlich einer geschlechtsneutralen Sprache und der Gleichstellung, die Herausforderungen und die Erfolge Finnlands auf diesem Gebiet werden in dem Beitrag behandelt. Schlüsselbegriffe: Finnisch, Finnland, Gendern, Geschlechterdebatte, ge‐ nuslose Sprache, Gleichberechtigung, Gleichstellung, Schwedisch, Sprach‐ politik 1 Einleitung Finnisch ist als Teil der finno-ugrischen Sprachgruppe eine genuslose Sprache (vgl. Laakso 2001: 188). Als eine Gesellschaft mit zwei offiziellen Landessprachen (vgl. Schellbach-Kopra 2002: 647) verfolgt Finnland das Ziel, als weltweiter „Gender Equality Pioneer“ (Larsen/ Manns/ Östman 2022: 628) die Gleichstellung der Geschlechter auf allen Ebenen beispielhaft zu fördern. Die Frauenbewegung in Finnland ist älter als die Nation selbst und hat im internationalen Vergleich früh zu beachtlichen Erfolgen hinsichtlich der Gleichberechtigung von Männern und Frauen geführt. <?page no="452"?> 1 „Svenskar äro vi inte längre, ryssar vilja vi inte bli, låt oss alltså bli finnar.“ Vgl. hierzu Meinander (2020: 120 f.). Der vorliegende Beitrag möchte einen Überblick über die Sprach- und Gleichstellungspolitik in Finnland aus drei Perspektiven bieten. In einer histo‐ rischen Rückschau werden zunächst die gezielte Aufwertung des Finnischen im 19. Jh. und das damit verbundene Verhältnis zur traditionellen Amts- und Bildungssprache Schwedisch dargestellt. Anschließend werden Merkmale der finnischen Sprache betrachtet, die hinsichtlich der aktuellen Genderdebatte von Bedeutung sind; den Schwerpunkt bilden hierbei das Fehlen grammatischer Genera, die fehlende Unterscheidung von Maskulinum und Femininum bei den Pronomina und das Phänomen des generischen Maskulinums. Es wird gezeigt, welche sprachlichen Mittel für neutrale Formulierungen zur Verfügung stehen und zunehmend Anwendung finden. Vor dem Hintergrund der historischen Ent‐ wicklung und der Darstellung sprachlicher Besonderheiten werden schließlich ausgewählte Aspekte der aktuellen gesellschaftlichen Debatten näher erläutert. Hierbei finden die Diskussion über das generische Maskulinum, die Auseinan‐ dersetzung mit Tendenzen in der schwedischen Sprache, die Hän-Kampagne als Beispiel einer internationalen Image-Bildung und die Gleichberechtigung der Geschlechter in der heutigen finnischen Gesellschaft besondere Beachtung. 2 Geschichte und Gesellschaft Finnlands im Überblick Finnland war bis 1809 Teil des schwedischen Königreiches. Zwar sprach die Mehrheit der Bevölkerung Finnisch, doch diente Schwedisch traditionell als Sprache der Verwaltung und Bildung. In der Zeit von 1809 bis 1917, als Finnland autonomes Großfürstentum im Zarenreich Russland war, blieben die schwedischen Gesetze in Kraft; die veränderten politischen Verhältnisse führten jedoch in den - überwiegend schwedischsprachigen - gebildeten Kreisen zu einer Identitätskrise; es galt abzuwägen, ob man sich der russischen Kultur annähern oder mit der Sprache und Kultur der Mehrheit des Landes identifi‐ zieren wollte. Das geflügelte Wort des Historikers Adolf Iwar Arwidsson (1791- 1858) verdeutlicht diese Situation: „Wir sind keine Schweden mehr, Russen wollen wir nicht werden, lasst uns also Finnen sein.“ 1 Mit der auf Hegel gegrün‐ deten Ansicht, dass ein Staat nicht ohne Nation und eine Nation nicht ohne Sprache existieren könne, wurde das Fundament der so genannten Fennomanie geschaffen, „deren Ziel es war, die Stellung der finnischen Sprache als Träger einer genuin finnischen Kultur und Ausdruck einer finnischen Eigenständigkeit zu fördern“ (Niedling 2021: 163). Um 1860 brachte der Journalist, Philosoph 452 Christian Niedling/ Mia Raitaniemi <?page no="453"?> 2 Die zweite Landessprache, Schwedisch, wird von ca. 290 000 Menschen als Mutter‐ sprache gesprochen, vgl. Hekanaho (2020: 57). 3 Vgl. hierzu den Beitrag unter https: / / finland.fi/ de/ kunst-amp-kultur/ finnlands-erstes -feministin-warum-minna-canths-werk-noch-immer-wichtig-ist/ . Sämtliche Internet‐ quellen wurden zuletzt am 21.06.2023 abgerufen. 4 Aleksis Kivi (1834-1872) gilt als „der erste große finnische Dichter“ (Glauser 2016: 459); sein „epochemachender Roman“ Seitsemän veljestä (‚Die sieben Brüder‘, 1870), der erste in finnischer Sprache, schildert „die Geschichte eines Kultur- und Zivilisati‐ onsprozesses“ (Glauser 2016: 460). 5 Einen kurzen Überblick über die „Milestones of gender equality“ in Finnland bietet Statistics Finland (2021): Gender Equality in Finland, 3-9, hier S.-3. https: / / www.stat.fi / tup/ julkaisut/ tiedostot/ julkaisuluettelo/ yyti_gef_202100_2021_23461_net.pdf. und Staatsmann Johan Vilhelm Snellman (1806-1881) die enge Verbindung von Sprache und Nation mit dem radikalen Motto ‚Eine Nation, eine Sprache‘ zum Ausdruck (vgl. Marjanen 2021: 77). Er gehört zu den maßgeblichen Personen hinter dem Sprachenedikt von 1863, das Finnisch binnen zwanzig Jahren als gleichberechtigte Sprache neben dem Schwedischen etablieren sollte. 1892 wurde Finnisch der schwedischen Sprache gleichgestellt, 2 1906 wurde es die erste offizielle Landessprache. Eine Zeitgenossin Snellmans ist die Finnlandschwedin Minna Canth (1844- 1897), die heute als Vorkämpferin für die Emanzipation der Frau in Finnland gilt. 3 Bereits früh setzte die Schriftstellerin und Unternehmerin sich in Zeitungs‐ artikeln für die Erziehung von Mädchen ein und verfasste erste Bücher. Der unternehmerische Erfolg erlaubte ihr auch als alleinerziehender Mutter finan‐ ziellen Spielraum für weitere literarische Betätigung und soziale Aktivitäten. Neben Aleksis Kivi 4 zählt Canth zu den ersten bedeutenden finnischsprachigen Autoren. In ihrem Werk (u. a. in dem realistisch-naturalistischen Drama Ty‐ ömiehen vaimo ‚Die Frau des Arbeiters‘, 1885) kritisierte die Sozialistin die rechtlose Stellung der Frau in einer parochial geprägten Gesellschaft und andere soziale Missstände; ihr Haus in Kuopio wurde zu einem bedeutenden Treffpunkt junger Intellektueller, aufstrebender Künstler und zu einem Ort des Austauschs über soziale Angelegenheiten. Ihre journalistischen Tätigkeiten setzte sie mit zahlreichen Beiträgen für verschiedene Zeitungen fort und gab zeitweilig ein eigenes Journal (Vapaita aatteita ‚Freie Gedanken‘) heraus, in dem sie Artikel, die in verschiedenen Ländern Europas erschienen waren, auf Finnisch zugänglich machte. Die gesellschaftlichen Bedingungen des 19. Jh. ließen Minna Canth zur Vorkämpferin für Frauenrechte, Sozialismus und Pazifismus werden. Zehn Jahre nach ihrem Tod führte Finnland als erstes europäisches Land das Frauenwahl‐ recht ein und war weltweit das erste Land, das allen volljährigen Frauen das Recht einräumte, bei Parlamentswahlen zu kandidieren. 5 Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland 453 <?page no="454"?> 6 Hrsg. v. World Economic Forum: www3.weforum.org/ docs/ WEF_GGGR_2022.pdf. Finnland ist heute hinsichtlich der Gleichstellung der Geschlechter als pro‐ gressive Gesellschaft zu betrachten. Seit längerer Zeit ist die Anzahl von Frauen im Parlament und in der Regierung annähernd so hoch wie die der Männer. Tarja Halonen übte 2000-2012 als erste Frau das Amt eines finnischen Staatspräsidenten aus. Die im Zeitraum 2019-2023 unter der international bekannten Ministerpräsidentin Sanna Marin amtierende Regierung bestand aus einer Koalition von fünf Parteien, die alle von Frauen geführt wurden (SDP, Linksbündnis, Schwedische Volkspartei SFP, Grüne, Zentrum/ Keskusta). Bei den Wahlen 2023 verlor das Regierungsbündnis seine Mehrheit und wurde von einer bürgerlichen Regierungskoalition aus vier Parteien abgelöst (Nationale Sammlungspartei, SFP, Die Finnen, Christdemokraten), die mit Ausnahme der Sammlungspartei ebenfalls von Frauen geführt werden. Sieben der neun im Parlament vertretenen Parteien hatten 2023 eine weibliche Parteispitze; der Frauenanteil lag bei 46-% (Deutschland im selben Zeitraum: 34,8-%). Die Gleichberechtigung der Geschlechter in Finnland kann somit auf eine beachtliche Tradition zurückblicken. Im aktuellen Global Gender Gap Report (2022: 10, 168 f.) 6 belegt Finnland nach Island Platz 2 von 156 Ländern (zum Vergleich: Deutschland erreicht Platz 10). 3 Merkmale der finnischen Sprache 3.1 Allgemeines Die Sprachenverhältnisse in Finnland haben sich, wie oben erwähnt, zu einer Lösung mit zwei Landessprachen entwickelt: Schwedisch, das heute noch von ca. 5 % der Finnen als Muttersprache gesprochen wird, hat weiterhin den Status einer offiziellen Landessprache (ist also keine Minderheitensprache). Das Finnische ist Muttersprache von etwa 5 Millionen Menschen (vgl. Laakso 2001: 180). Außerhalb Finnlands wird Finnisch von größeren Migrantengruppen insbesondere in Schweden, aber auch im nördlichen Norwegen gesprochen (vgl. Laakso 2022: 154 f.). Finnisch ist eine der Amtssprachen der Europäischen Union. Wie alle Sprachen der finno-ugrischen Sprachfamilie ist das Finnische agglu‐ tinierend, d. h., die grammatischen Relationen werden durch entsprechende Markierungen am Wortstamm verdeutlicht (vgl. Schellbach-Kopra 2002: 654). Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Suffixe; Präfixe (wie epä-, das dt. unentspricht) sind Randerscheinungen (vgl. Laakso 2022: 263). 454 Christian Niedling/ Mia Raitaniemi <?page no="455"?> 7 https: / / kaino.kotus.fi/ visk/ etusivu.php (Ison suomen kieliopin verkkokoversio = Netz‐ version der Großen Finnischen Grammatik) 8 Die finnische Sprache lässt beim Verweis auf Personen die Alternation hän/ se zu, was auch in der Übersetzungspraxis zu berücksichtigen ist; vgl. hierzu exemplarisch Järventausta (2013). 3.2 Genus Bei den Nomina wird nicht nach Genera unterschieden, es gibt keine Artikel, und bei den Personalpronomina wird nicht zwischen maskulinen und femininen Formen unterschieden (s.-u., vgl. Karlsson 1999: 6, 22, 61). Semantisches Geschlecht wird in Substantiven realisiert, die wie nainen (‚Frau‘) und äiti (‚Mutter‘) ein bestimmtes (biologisches/ soziales) Geschlecht bezeichnen, und kommt prinzipiell in allen Sprachen vor, hat in genuslosen Sprachen wie Finnisch jedoch eine weitaus wichtigere Funktion. Der Begriff genuslos bezieht sich auf das Fehlen eines grammatischen Gendersystems oder einer anderen Art der Markierung von grammatischen Elementen (vgl. Hekanaho 2020: 57-59). Genusmarkierung ist optional bzw. sekundär und kann nach fremden Vorbildern gebildet werden, wie die untenstehenden Beispiele zeigen. 3.3 Pronomina Das System der Personalpronomina differenziert im Unterschied zum Deut‐ schen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Referenten. Somit um‐ fassen die auf Menschen bezogenen Personalpronomina lediglich die Formen hän im Singular und he im Plural; in der 3. Ps. referiert hän somit entweder auf eine Frau oder einen Mann, he entsprechend auf beide Geschlechtergruppen. Auf nichtmenschliche Lebewesen oder Dinge wird im Sg. mit den Demonstra‐ tivpronomina tämä, tuo und se verwiesen; die entsprechenden Pluralformen lauten nämä, nuo und ne (VISK, Ison Suomen kieliopin verkkoversio, §100-101). 7 Tämä entspricht im Deutschen ‚dieser/ dieses/ diese‘, tuo ‚jener/ jenes/ jene‘ und se ‚er/ es/ sie‘ (bei nicht-menschlichen Denotaten); demnach wird auch bei den Demonstrativpronomina nicht nach Geschlecht unterschieden. 8 Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland 455 <?page no="456"?> Personalprono‐ mina im Singular Demonstrativpronomina im Singular - - minä ich - - - - - - - sinä du - - - - - - - hän er - tämä dieser tuo jener se er sie - dieses jenes es es - diese jene sie - - - Personalprono‐ mina im Plural - Demonstrativpronomina im Plural - - - - - - me wir - - - - - - - te ihr - - - - - - - he sie - nämä diese nuo jene ne sie - - - - - - - - - Pronomina der höflichen An‐ rede - - - - - - - - - - - - - - - te Sie - - - - - - - Tab. 1: Personal-, Demonstrativ- und Anredepronomina im Finnischen mit deutschen Äquivalenten Äußerungen wie Hän tulee mukaan und Tuleeko hän mukaan? lassen demnach folgende Lesarten zu: ‚Er/ sie/ es kommt mit‘ und ‚Kommt er/ sie/ es mit? ‘. Das genusneutrale Nomen puoliso (‘Lebenspartner/ in‘) lässt sich in Kombination mit dem Pronomen hän nicht eindeutig zuordnen: Hän on minun puolisoni ‚Er/ Sie ist mein/ e Lebenspartner/ in‘. In derartigen Fällen ermöglicht es allein der Kontext, den Sexus zu identifizieren. 456 Christian Niedling/ Mia Raitaniemi <?page no="457"?> 3.4 Movierung Die Sprachstruktur des Finnischen lässt grundsätzlich die Movierung einzelner Agens-Substantive zu; movierte Formen gelten heute jedoch als obsolet (vgl. Shagal et al. 2022). Exemplarisch kann hier das Wort näyttelijä ‚Schauspieler‘ angeführt werden. Es verweist heute sowohl auf Männer als auch auf Frauen und verdrängt die heute als veraltet empfundene movierte Form näyttelijätär ‚Schauspielerin‘. Die im 19. bzw. 20. Jh. entstandenen Movierungssuffixe -tar/ -tär werden heute selten verwendet. Sie kommen in den femininen Ablei‐ tungen konekirjoittajatar ‚Stenotypistin‘ und opettajatar ‚Lehrerin‘ vor, nicht jedoch in *lääkäritär ‚Ärztin‘ oder *insinööritär ‚Ingenieurin‘. Die movierten Ausdrücke konekirjoittajatar und opettajatar sind mittlerweile von den unmar‐ kierten Formen konekirjoittaja und opettaja verdrängt worden, die auf beide Geschlechter verweisen (Engelberg 1998). Es gibt auch Wortpaare mit symme‐ trischer Markierung der Geschlechter, etwa leskivaimo und leskimies (wörtl. Witwe-Ehefrau, Witwer-Ehemann). Häufiger ist jedoch die Verwendung der unmarkierten Form leski für beide Geschlechter. Es gibt aber Hinweise darauf, dass bei vielen Bezeichnungen geschlechterspezifische Konnotationen und Geschlechterstereotype ins Spiel kommen; so ist bei den Berufsbezeichnungen kirurgi (‚Chirurg/ in‘) und sosiaalityöntekijä (‚Sozialarbeiter/ in‘) die Rollener‐ wartung tendenziell (männlicher) Chirurg und (weibliche) Sozialarbeiterin (vgl. Engelberg 2018: 31 f.). Für Finninnen und Finnen verursacht das Fehlen einer Geschlechtermarkie‐ rung keine pragmatischen Probleme; je nach Situation wird auf Personen mit Nomina oder Pronomina verwiesen. Nur bei Übersetzungen müssen gezielt pragmatische Lösungen für die Geschlechteridentifikation gesucht werden. Manche Äußerungen wie dt. Sie schaute ihn an lassen sich wie gesagt nicht wörtlich ins Finnische übertragen, sondern es muss eine Formulierung gewählt werden, bei der die Referenz der Pronomina deutlich wird, indem man das Subjektpronomen ersetzt und das Objektpronomen präzisiert, analog zu ‚die Frau schaute ihn/ sie an‘. In der öffentlichen Diskussion sind Übersetzungsprobleme jedoch kaum ein Thema. Stärkere Beachtung in der heutigen finnischen Gesellschaft finden die explizit männlichen Substantive, mit denen auch auf andere Geschlechter verwiesen wird. Die Ausführungen von Mila Engelberg (2002: 114-116) zu diesem Thema werden im Folgenden kursorisch zusammengefasst. Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland 457 <?page no="458"?> 3.5 Generisches Maskulinum Auch im Finnischen als genusneutraler Sprache werden für Berufsbezeich‐ nungen, Amts- und Funktionstitel und weitere Personenbezeichnungen durchaus generische Maskulina verwendet. Der Gebrauch generischer Masku‐ lina war früher stark ausgeprägt, wird gegenwärtig jedoch zunehmend als unangemessen bzw. überholt betrachtet. Viele davon sind mit dem lexikalisch maskulinen Element mies (‚Mann‘) gebildet, so • metsämies (wörtl. Wald-mann) > ‚Förster/ in‘/ ‚Jäger/ in‘ • tupakkamies (wörtl. Tabak-mann) > ‚Raucher/ in‘ • puhemies (wörtl. Sprech-mann) > ‚Vorsitzende/ r‘ • esimies (wörtl. Vor-mann) > ‚Vorgesetzte/ r‘. Auch Sammelbezeichnungen wie jokamies (wörtl. Jeder-Mann) und miehistö (wörtl. ‚Mann-schaft‘; ‚Besatzung‘), die es im Deutschen ebenso gibt, sind häufig, im Unterschied zu den generischen Feminina, die deutlich seltener gebraucht werden und vor allem auf den Bereich der Verwandtschaftsbeziehungen be‐ grenzt sind, vgl. sisarukset (zu sisko ‚Schwester‘) in der Bedeutung ‚Geschwister‘. Weibliche Berufsbezeichnungen werden, abgesehen von seltenen Ausnahmen, nicht generisch verwendet (vgl. Engelberg 2002: 114-116). Für neutralisierende Alternativen zu den generischen Maskulina stehen im Finnischen praktikable Mittel zur Verfügung (s.-u.). 4 Diskurse, Entwicklungen und Tendenzen 4.1 Umgang mit dem generischen Maskulinum Wie oben dargestellt, diente das lexikalische Element -mies des Öfteren zur Bildung generischer Maskulina für allgemeine (Berufs-)Bezeichnungen; hierzu gehört abgesehen von den bereits genannten Beispielen puhemies und esimies u. a. virkamies (wörtl. Amts-Mann, ‚Beamte/ r‘). Diese Nomenklatur wird seit drei Jahrzehnten mehr und mehr als sexistisch oder irreführend hinterfragt. Bereits die ersten Untersuchungen vom Beginn der 1990er Jahre lieferten evi‐ denzbasierte Hinweise darauf, dass generisch-maskuline Berufsbezeichnungen als sexistisch empfunden werden können; darüber hinaus wurden sie auch im Zusammenhang mit dem - in der Folgezeit weiter erhärteten - Argument her‐ angezogen, dem zufolge diese Ausdrücke von Frauen und Männern unterschied‐ lich bewertet werden: Nach Engelbergs Forschungsergebnissen interpretieren 458 Christian Niedling/ Mia Raitaniemi <?page no="459"?> 9 Vgl. auch Tiililä (1994: o.S.): „voidakseen lukea itsensä ihmiskuntaan kuuluviksi“. 10 KOTUS; aktualisierte Sammlung mit Beiträgen zur Beziehung von Sprache und Geschlecht: www.kotus.fi/ nyt/ kotus-vinkit/ viikon_vinkkien_arkisto_(20152019)/ viikon_vinkit_2017/ kielesta_ja_sukupuolesta.25512.news. 11 Vgl. https: / / www.kielikello.fi/ -/ miessuku-ja-kielenhuolto. Frauen generische Maskulina als ‚geschlechtsneutral, um ihre Zugehörigkeit zur Menschheit hervorzuheben‘. 9 Diese Untersuchungen fanden zunächst keinen Widerhall in der gesellschaft‐ lichen Debatte. Dies änderte sich nach der Jahrtausendwende, als der Rat der finnischen Sprachkommission des ‚Zentrums für die Landessprachen Finnlands‘ (KOTUS) 10 als Reaktion auf eine Bürgerinitiative am 22. Oktober 2007 ein Posi‐ tionspapier mit Empfehlungen zur Förderung des geschlechtsneutralen Sprach‐ gebrauchs veröffentlichte. In diesem Bericht wurden drei Bereiche sprachlicher Ungleichheit im Finnischen ausgemacht: • allgemein gültige Berufsbezeichnungen, die sich explizit auf ein Ge‐ schlecht beziehen: asiamies (wörtl. Sach-mann, ‚Vertreter/ -in‘), järjestysmies (wörtl. Ordnungs-mann, ‚Aufseher‘), aulaemäntä (wörtl. Raum-Betreuerin, ‚Pförtner/ in‘), lentoemäntä (wörtl. Flug-Betreuerin, ‚Steward/ ess‘) • asymmetrische geschlechtsspezifische Markierungen von Personenbe‐ zeichnungen: lääkäri (‚Arzt‘), naislääkäri (wörtl. Frau-Arzt für ‚Ärztin‘) • generische (allgemeingültige) Maskulinität in Wortschatz und Redewen‐ dungen wie Missä akka miehen edellä, siellä reki hevosen edellä (‚Wo Frauen vor Männern sind, sind Schlitten vor Pferden‘) oder Akaton mies on kuin hännäton koira (‚Ein Mann ohne Frau ist wie ein Hund ohne Schwanz‘). Die Kommission empfahl, neue Berufe künftig durch geschlechtsneutrale Aus‐ drücke zu bezeichnen, bestehende Bezeichnungen kritisch zu prüfen und bei Bedarf geschlechtsneutral umzuwandeln sowie in der Verwaltung allgemein auf geschlechtsneutralen Sprachgebrauch zu achten. Es wurden Empfehlungen für den offiziellen Sprachgebrauch und den Sprachgebrauch der Medien vorgelegt. In den vergangenen Jahren ist offensichtlich ein Wandel im Sprachbewusst‐ sein erfolgt, was auch an anderen Beispielen deutlich wird. Im Zuge einer Reform der finnischen Verfassung, die 1999 in Kraft trat, sollte auf Initiative von Sprachpflegern die bisherige Amtsbezeichnung des Staatspräsidenten, valtion päämies (wörtl. Staatshauptmann), durch die neutrale Form valtionpää (entspricht engl. head of state) ersetzt werden. Es konnte jedoch keine Einigung herbeigeführt werden; die Bezeichnung wurde schließlich ersatzlos gestrichen. 11 Zwei Jahrzehnte später wurden geschlechtsneutrale Berufsbezeichnungen bevorzugt: Ende 2019 veröffentlichte das Zentrum für die Landessprachen Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland 459 <?page no="460"?> 12 Die Liste findet sich unter https: / / duunitori.fi/ sukupuolineutraalit-ammattinimikkeet. 13 Diese Namensänderung ist auf der Internetseite des Vereins näher erläutert: https: / / www.lakimiesliitto.fi/ uutiset/ suomen-lakimiesliitto-kayttaa-jatkossa-nimea-ju ristiliitto/ . 14 Näheres hierzu siehe die Beiträge von Gardelle und Coady in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). 15 Zum aktuellen Gebrauch einer inklusiven Sprache im Schwedischen siehe Ängsal in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). Finnlands in Zusammenarbeit mit dem Jobportal Duunitori eine Liste mit über 100 Empfehlungen für den Ersatz bislang üblicher Berufsbezeichnungen, die ein generisches Maskulinum enthalten, durch bereits vorhandene geschlechtsneu‐ trale Bezeichnungen; dabei wurde auf allgemeine Verständlichkeit der Begriffe und deren Gesetzeskonformität geachtet. 12 Ein Beispiel für konkrete Folgen dieser Bestrebungen ist die 2022 erfolgte Namensänderung des finnischen Juristenverbands Lakimiesliitto zu Juristiliitto. 13 4.2 Das finnische Echo auf die Debatten über geschlechtsneutrale Pronomina in anderen Sprachen Im Englischen ist es immer üblicher geworden, zur geschlechtsneutralen Refe‐ renz auf Einzelpersonen anstelle von he das Pronomen they einzusetzen: 14 In present-day English, there are two big trends in 3PSPs (Conventional third person singular pronouns; CR+MR). With generic pronouns, there has been a shift from previously prescribed use of he towards inclusive use with singular they. (Hekanaho 2020: 5) Damit wird eine Inklusion aller Geschlechtergruppen angestrebt. Betroffen sind auch die Possessivpronomina: Neben standardspr. A child loves his mother ist die genusneutrale Alternative A child loves their mother inzwischen geläufig (ebd.). Obwohl Englisch im Arbeitsleben weit verbreitet ist, hat dieses Phänomen in Finnland keine breite Resonanz in der öffentlichen Debatte gefunden. Dagegen ist die etwas jüngere Tendenz in Schweden, statt des maskulinen han und des femininen hon das geschlechtsneutrale Neopronomen hen zu verwenden, ein bekanntes Thema der öffentlichen Diskussion in Finnland. 15 Der Grund dafür ist, dass Schwedisch die zweite offizielle Landessprache ist und auch die schwedischsprachigen Medien in Finnland diese Neuerung aufgenommen haben. Eine kurze, relativ polemische Debatte brach auch im finnischsprachigen Finnland aus, als die staatliche christliche Kirche in Schweden dazu überging, den Begriff Gott geschlechtsneutral zu verwenden. Eine der eingeführten sprachlichen Änderungen bestand darin, bei Verweisen auf Gott statt des mas‐ 460 Christian Niedling/ Mia Raitaniemi <?page no="461"?> 16 Vgl. hierzu auch die Pressemitteilung der finnischen Regierung zum Start der Kampagne im Juni 2019: https: / / valtioneuvosto.fi/ en/ -/ finland-wants-to-encourage-equality-and -give-the-world-a-word-their-all-inclusive-personal-pronoun-han. 17 Neben Deutsch sind es Englisch, Französisch, Schwedisch und Spanisch. kulinen han das genusneutrale Pronomen hen zuzulassen. Traditionsbewusste Finninnen und Finnen waren mit dieser Situation vermutlich insgeheim zu‐ frieden, weil in ihrer Sprache keine vergleichbaren Paradigmenwechsel denkbar sind. Im Zusammenhang mit hen ist im Übrigen auch darauf hinzuweisen, dass Schweden eher als Finnland mit der Einführung feministischer Sprachreformen zugunsten einer genusneutralen Sprache begonnen hat (vgl. Hekanaho 2020: 59). Zusammenfassend stellt also das schwedische hen eine Reaktion auf die Geschlechterdebatte dar, während das finnische nicht genusmarkierte hän eine natürliche Sprachentwicklung repräsentiert. 4.3 Die hän-Kampagne Das ‚geschlechtslose‘ Personalpronomen hän ist ein anderes Beispiel für die Rezeption der Diskurse um sprachliche Geschlechterneutralität. Seit 2019 wird es im Zuge einer internationalen Kampagne für Inklusion und Chancengleich‐ heit vermarktet (https: / / finland.fi/ han/ ). Ein Bestandteil dieser Kampagne 16 sind Hinweise auf Lehnwörter im Finnischen in Form einer Auflistung von Entlehnungen aus fünf Sprachen. 17 Das finnische hän gilt als ein Symbol für Gleichheit in allen Bereichen: Hän is the inclusive Finnish pronoun that stands for equal opportunity. It’s a symbol for a better world where people are not defined by their background, gender or appearance. […] In Finland, everyone is entitled to be treated equally, enabling them to belong, participate and achieve their full potential. (https: / / finland.fi/ han/ ) Weitere Bestandteile dieser Kampagne sind This is hän, ein emotionaler Image‐ film, die Hän stories, in denen das Pronomen auch mit Bildung, Kultur und anderen positiv konnotierten Bereichen Finnlands in Verbindung gebracht wird, weiter der Bereich Hän Honours, in dem internationale Persönlichkeiten mit gleichen Werten vorgestellt werden, sowie ein Questions-&-Answers-Bereich. Die Kampagne zielt also darauf ab, Finnland durch das genuslose Pronomen hän als zugleich traditionsbewusste („Est. [Established] 1543“), moderne und offene, auf Chancengleichheit ausgerichtete Gesellschaft darzustellen. Sie ist nach wie vor Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit des finnischen Außenministeriums für das Image des Landes. Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland 461 <?page no="462"?> 18 Finnisches Ministerium für Soziales und Gesundheit (Hrsg.) (2021): Government Action Plan for Gender Equality 2020-2023. Making Finland a Global Leader in Gender Equality. Helsinki. http: / / urn.fi/ URN: ISBN: 978-952-00-8666-4. 19 Informationen auf Englisch unter https: / / stm.fi/ en/ gender-equality/ legislation. 20 Vgl. zu diesen Angaben die Online-Informationen des Finnischen Instituts für Gesund‐ heit und Wohlfahrt THL unter https: / / thl.fi/ en/ topics/ gender-equality/ promoting-gen der-equality/ gender-equality-policy. 21 https: / / tasa-arvo.fi/ en/ quotas-and-the-equality-rule. 4.4 Aktuelle gesellschaftliche Situation Die zielstrebig und konsequent durchgeführten Bestrebungen, eine geschlechts‐ neutrale Sprache umzusetzen, sind Ausdruck einer umfassenden Gleichstel‐ lungspolitik in Finnland; der erste Regierungsbericht zu diesem Thema wurde 2010 vorgelegt. Diese Gleichstellungspolitik wird vom Finnischen Ministerium für Soziales und Gesundheit koordiniert (vgl. den aktuellen Aktionsplan Ma‐ king Finland a Global Leader in Gender Equality); 18 sie beruht auf dem Gleich‐ stellungsgesetz, 19 auf Regierungsprogrammen sowie auf internationalen bzw. EU-Verträgen und Gesetzen. Im Aktionsplan werden konkrete Ziele und Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Verwaltungsbereichen beschrieben. Dabei geht es im Wesentlichen um • Arbeitsleben und Entscheidungsfindung im Bereich Wirtschaft und Unter‐ nehmen • Vereinbarkeit von Arbeit und Beruf und gleichberechtigte Kinderbetreuung durch die Eltern • Bildung und frühkindliche Erziehung • Prävention von Gewalt gegen Frauen und Gewalt in Beziehungen • Status von geschlechtsspezifischen Minderheiten • Förderung von Gender-Mainstreaming. Das Gleichstellungsgesetz verpflichtet die Behörden, die Gleichstellung der Geschlechter zielgerichtet und systematisch zu fördern. 20 In einigen Bereichen sieht das Gleichstellungsgesetz eine Quotenregelung vor. Der Anteil von Frauen und Männern muss in den Planungs- und Ent‐ scheidungsgremien der zentralen und lokalen Verwaltung mindestens 40 % betragen. Diese Quotenregelung gilt u. a. für staatliche Ausschüsse, Beiräte und Arbeitsgruppen sowie kommunale Gremien. 21 Neben der staatlichen Ebene setzen sich auch halb- und nicht-staatliche Akteure für eine Gleichstellungspolitik in Finnland ein. Zu den einflussreichen 462 Christian Niedling/ Mia Raitaniemi <?page no="463"?> 22 https: / / nytkis.org/ ? lang=en. 23 https: / / naisjarjestot.fi/ . 24 https: / / tane.fi/ en. 25 https: / / eige.europa.eu/ gender-equality-index/ 2022/ compare-countries/ index/ table. 26 https: / / europeanwomenonboards.eu; https: / / europeanwomenonboards.eu/ wp-content / uploads/ 2022/ 01/ 2021-Gender-Diversity-Index.pdf. Frauenorganisationen zählen u. a. der 1988 gegründete Dachverband NYTKIS, 22 der nationale Frauenrat (Naisjärjestöjen keskusliitto) 23 und die Frauenverbände der politischen Parteien. TANE, 24 der Rat für die Gleichstellung der Geschlechter, ist im finnischen Parlament seit über 50 Jahren vertreten. Laut des aktuellen Gender Diversity Index des EIGE (European Institute for Gender Equality, 2022) belegt Finnland Rang 4 (Deutschland: Rang 11). 25 Auf der Vorstandsebene in Unternehmen und Aufsichtsräten finden sich 37 % Frauen; 24 % der finnischen Top-Manager sind Frauen, ihr Anteil bei den Vorsitzenden/ CEOs beträgt 6-%. 26 5 Zusammenfassung Finnisch ist wie die anderen Mitglieder der finno-ugrischen Sprachgruppe eine genuslose Sprache (Schwedisch als zweite offizielle Landessprache dagegen nicht). Das Pronomen hän kann auf ‚sie‘, ‚er‘ oder ‚divers‘ referieren. Insofern ist es im Finnischen - im Vergleich zu anderen Sprachen - einfach, sprachlich gleichberechtigt bzw. neutral zu formulieren. Gleichwohl lassen sich auch im Finnischen mit lexikalischen Mitteln gene‐ rische Maskulina bilden, die historisch gewachsene Geschlechterstereotype tradieren. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass genuslose Sprachen per se keineswegs eine Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft fördern (vgl. Hekanaho 2020: 58): Während Finnland im Global Gender Gap Report 2022 Platz 2 belegt, liegen andere Länder mit finno-ugrischen Sprachen auf den Plätzen 52 (Estland) und 88 (Ungarn). Offenkundig spielen auch andere Faktoren eine wesentliche Rolle bei einer effizienten Gleichstellung der Geschlechter. In Finnland gelangte die Genderdebatte erst nach und nach ins öffentliche Bewusstsein - hier ist Mila Engelbergs Forschungen seit den 1990er Jahren ein besonderes Verdienst zuzuerkennen (vgl. Engelberg 2016). Durch verschiedene Maßnahmen wird kontinuierlich eine genderneutrale Sprachregelung angeregt, die ohne hitzige Auseinandersetzungen auf Akzeptanz zu stoßen scheint. Es ist eine Tendenz erkennbar, dass Maßnahmen zur Neutralisierung gesellschaftlich akzeptiert werden und sich schnell durchsetzen. Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland 463 <?page no="464"?> Gegenwärtig verfolgen verschiedene staatliche und nichtstaatliche Institu‐ tionen das Ziel, Finnland zu einem Vorbild hinsichtlich der Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft zu machen (vgl. Larsen/ Manns/ Östman 2022). Dabei kann Finnland auf Traditionen und Ansätze zurückgreifen, die älter sind als die Eigenstaatlichkeit, wie das Beispiel von Minna Canth gezeigt hat. Im Jahr 2003 gab das finnische Innenministerium die Anweisung, zu Ehren der Gleichberechtigung am Geburtstag der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin die Flaggen zu hissen, und seit 2007 ist der Minna-Canth-Tag als der Tag der Gleichberechtigung einer der offiziellen Flaggentage in Finnland. Bibliographie Engelberg, Mila (1998): Sukupuolistuneet ammattinimikkeet. Virittäja 102(1), 74-92. https: / / journal.fi/ virittaja/ article/ view/ 39038 (letzter Aufruf 9.11.2024). —-(2002): The communication of gender in Finnish. In: Hellinger, Marlis/ Bußmann, Ha‐ dumod (Hrsg.): Gender Across Languages: The Linguistic Representation of Women and Men. Bd.-2. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins (=-Impact: Studies in Language and Society 10), 109-132. — (2016): Yleispätevä mies. Suomen kielen geneerinen, piilevä ja kieliopillistuva maskulii‐ nisuus. Diss. https: / / helda.helsinki.fi/ handle/ 10138/ 163013 (letzter Aufruf: 26.11.2023). —-(2018): Miehiä ja naisihmisiä. Suomen kielen seksismi ja sen purkaminen = Men and women folk: sexism in the Finnish language and how to fight it. Helsinki: Tasa-arvoasiain neuvottelukunta (=-TANE-julkaisuja 18). Glauser, Jürg (Hrsg.) (2016): Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler. Hekanaho, Laura (2020): Generic and Nonbinary Pronouns. Usage, Acceptability and At‐ titudes. Diss. Helsinki. https: / / helda.helsinki.fi/ handle/ 10138/ 321581 (letzter Aufruf: 26.11.2023). Järventausta, Marja (2013): Pronomen, Erzählen und Übersetzen - am Beispiel von Paavo Haavikkos Kullervon tarina. trans-kom 6 (1), 39-69. Karlsson, Fred (1999): Finnish. An Essential Grammar. London/ New York: Routledge. Laakso, Johanna (2001): The Finnic Languages. In: Dahl, Östen/ Koptjevskaja-Tamm, Maria (Hrsg.): Circum-Baltic Languages. Bd.-1: Past and Present. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, 179-212. —-(2022): Finnish, Meänkieli, and Kven. In: Bakró-Nagy, Marianne/ Laakso, Jo‐ hanna/ Skribnik, Elena (Hrsg.): The Oxford Guide to the Uralic Languages. Oxford: Oxford University Press, 254-269. Larsen, Eirinn/ Manns, Ulla/ Östman, Ann-Catrin (2022): Gender-equality pioneering, or how three Nordic states celebrated 100 years of women’s suffrage. Scandinavian Journal of History, 624-647. 464 Christian Niedling/ Mia Raitaniemi <?page no="465"?> Marjanen, Jani (2021): National Sentiment: Nation Building and Emotional Language in Nineteenth Century Finland. In: Kivimäki, Ville/ Suodenjoki Sami/ Vahtikari, Tanja (Hrsg.): Lived Nation as the History of Experiences and Emotions in Finland, 1800- 2000. Cham: Palgrave Macmillan, 59-83. Meinander, Henrik (2020): A History of Finland. Oxford: Oxford University Press. Niedling, Christian (2021): Eine versteckte Philologie: Zur Entwicklung der ‚nationalen Wissenschaften‘ Finnlands. Zeitschrift für deutsche Philologie 139, 147-163. Shagal, Ksenia et al. (2022): Gendered job titles in genderless languages: A case of Finno-Ugric. In: Bradley, Jeremy (Hrsg.): Tonavan Laakso: Eine Festschrift für Johanna Laakso. Wien: Praesens Verlag, 402-427. Schellbach-Kopra, Ingrid (2002): Finnisch. In: Okuka, Miloš (Hrsg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Klagenfurt: Wieser (=-Wieser Enzyklopädie des europäi‐ schen Ostens 10), 647-664. Tiililä, Ulla (1994): Kielenhuolto ja kielellinen seksismi. Pitäisikö puhemiehestä tehdä puheenjohtaja? Kielikello 2. https: / / www.kielikello.fi/ -/ kielenhuolto-ja-kielellinen-se ksismi-pitaisiko-puhemiehesta-tehda-puheenjohtaja- (letzter Aufruf: 26.11.2023). Gendern und Gleichstellungspolitik in Finnland 465 <?page no="466"?> Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Magnus P. Ängsal, Associate Professor für Deutsch am Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Göteborg magnus.pettersson.angsal@sprak.gu.se Vincent Balnat, Professor für deutsche Sprachwissenschaft an der Université de Strasbourg balnat@unistra.fr Dr. Ann Coady, Maîtresse de conférences für englische Sprachwissenschaft an der Université Paul-Valéry Montpellier 3 ann.coady@univ-montp3.fr Ludmilla Coornstra, M.A. ludmilla@onzetaal.nl Daniel Elmiger, Professeur associé für deutsche Sprachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik an der Université de Genève daniel.elmiger@unige.ch Carmen Galán Rodríguez, Ordentliche Professorin für allgemeine Sprachwis‐ senschaft an der Universidad de Extremadura, Cáceres cgalan@unex.es Laure Gardelle, Professorin für englische Sprachwissenschaft an der Univer‐ sité Grenoble Alpes Laure.Gardelle@univ-grenoble-alpes.fr Susanne Günthner, Seniorprofessorin für deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Münster susanne.guenthner@uni-muenster.de Dr. Karoline Irschara, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sprach‐ wissenschaft der Universität Innsbruck irschara.karoline@gmail.com Svetlana Kibardina, Professorin für Sprachwissenschaft und Deutsch an der Staatlichen Universität Wologda kibardinasm@vogu35.ru Dr. Sterre C. Leufkens, Assistant Professor für niederländische Sprachwissen‐ schaft an der Universiteit Utrecht s.c.leufkens@uu.nl <?page no="467"?> Gerhard Meiser, Professor (emer.) für Indogermanistik an der Martin-Lu‐ ther-Universität Halle-Wittenberg gerhardmeiser@hotmail.com Heiko Motschenbacher, Professor für Englisch als Fremdsprache an der Western Norway University of Applied Sciences in Bergen heim@hvl.no Dr. Jürg Niederhauser, Sprachwissenschaftler mit Schwerpunkt Deutsch in der Schweiz, Bern juerg.niederhauser@gmx.ch Dr. Christian Niedling, Universitätslehrer am Institut für Sprachen und Übersetzungswissenschaften der Universität Turku christian.niedling@utu.fi Dr. Mia Raitaniemi, Lecturer für deutsche Sprache am Centre for Languages and Business Communication, Hanken School of Economics, Helsinki mia.raitaniemi@hanken.fi Cecilia Robustelli, Professorin für italienische Sprachwissenschaft an der Università di Modena e Reggio Emilia cecilia.robustelli@unimore.it María Isabel Rodríguez Ponce, Professorin für allgemeine Sprachwissen‐ schaft an der Universidad de Extremadura, Cáceres mirponce@unex.es Tanja Stevanović, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für digitale historische Sprachwissenschaft, Institut für Germanistik, Universität Hamburg tanja.stevanovic@uni-hamburg.de Jana Valdrová, PhD, assoziierte wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Univer‐ sität Innsbruck (Forschungsgruppe Language and Gender) jana.valdrova@gmail.com Éliane Viennot, Professorin (emer.) für französische Literaturgeschichte an der Université Jean-Monnet, Saint-Étienne eliane-viennot@orange.fr 467 <?page no="468"?> Sprachvergleich Studien zur synchronen und diachronen Sprachwissenschaft Herausgegeben von Paola Cotticelli Kurras (Verona), Katrin Schmitz (Wuppertal), Joachim Theisen (Athen) und Carlotta Viti (Nancy) Die Reihe widmet sich in Monographien und Sammelbänden dem Sprachvergleich in seiner ganzen Bandbreite und will dabei bewusst über Grenzen gehen: Grenzen der Sprachfamilien, Grenzen der Theorien und Modelle, Grenzen in Zeit und Raum. Die Studien verbinden eine genaue Datenanalyse der jeweiligen Texte und Sprachen in ihren synchronen oder diachronen Aspekten mit den aktuellsten Erkenntnissen der linguistischen Theorie. Sie erkunden dabei die Möglichkeiten des methodischen Spektrums moderner Sprachwissenschaft und leisten einen Beitrag zu seiner Erweiterung. Die Reihe wird herausgegeben von Katrin Schmitz (Wuppertal), Joachim Theisen (Athen) und Carlotta Viti (Zürich). Publikationssprachen sind Deutsch und Englisch. Über die Aufnahme neuer Titel entscheidet das Herausgeberkollegium mit Unterstützung eines wissenschaftlichen Beirats nach eingehender Prüfung. Bisher sind erschienen: 1 Pauline Weiß Die innere Struktur der DP in den altindogermanischen Artikelsprachen Eine Analyse der Funktion und Verwendung der Artikeltypen 2018, 502 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8184-6 2 Chiara Zanchi Multiple Preverbs in Ancient Indo-European Languages A comparative study on Vedic, Homeric Greek, Old Church Slavic, and Old Irish 2019, 436 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8274-4 3 Barbora Machajdíková, L’udmila Eliášová Buzássyová (Hrsg.) Greek - Latin - Slavic Aspects of Linguistics and Grammatography 2023, 288 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8527-1 4 Juraj Franek, Daniela Urbanová, Ulrike Ehmig Performative Adjuration Formula in Greek and Latin Inscriptions 2024, 361 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8546-2 5 Carlotta Viti (Hrsg.) Ancient Greek and Latin in the linguistic context of the Ancient Mediterranean 2024, 459 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8585-1 6 Vincent Balnat, Barbara Kaltz (Hrsg.) Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen 2025, 468 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-381-12301-8 reihenseite.indd 2 reihenseite.indd 2 04.12.2024 10: 04: 44 04.12.2024 10: 04: 44 <?page no="469"?> ISBN 978-3-381-12301-8 Über einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch wird in Deutschland nun schon seit über 40 Jahren diskutiert. In Folge der Verbreitung gegenderter Formen (Wählende) und gra scher Sonderzeichen (Dozent*in) ist der Ton der Debatte deutlich rauer geworden; die beiden ‚Lager‘ stehen sich inzwischen nahezu unversöhnlich gegenüber und reden nicht selten aneinander vorbei. Dieser Sammelband vereint Beiträge zu elf europäischen Sprachen, in denen sprachgeschichtliche Aspekte und die gegenwärtige Debatte so wertneutral wie möglich und unter Vermeidung von Polemik behandelt werden. Ziel des Bandes ist es, Denkanstöße zum komplexen Verhältnis zwischen Genus und Geschlecht zu bieten und auf diese Weise zu einer gelasseneren und respektvolleren Debatte beizutragen. Einen Einstieg in das Thema bietet der erste Beitrag zum Gendern in der Antike; es folgen Untersuchungen zu den Sprachen Deutsch, Englisch, Niederländisch, Norwegisch, Schwedisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Tschechisch und Finnisch. Band 6 Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen Balnat / Kaltz (Hrsg.) Vincent Balnat / Barbara Kaltz (Hrsg.) Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen Geschichte und Gegenwart