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Kakanien revisited – Rückblick und Ausblick

2000–2024

1028
2024
978-3-3811-2402-2
978-3-3811-2401-5
A. Francke Verlag 
Marijan Bobinac
Wolfgang Müller-Funk
Clemens Ruthner
10.24053/9783381124022

Konzipiert ist dieser Band aus der Reihe 'Kultur-Herrschaft-Differenz' als Bilanz, Rückschau, Reflexion und Fortführung von Kakanien revisited als einem der erfolgreichsten kulturwissenschaftlichen Netzwerke, die mit großem internationalem Widerhall von Österreich aus initiiert wurden. Die Initiative, die Forschungsprojekte in Wien und Zagreb, internationale Symposien und Internet-Formate umfasst, basiert auf einigen Prämissen in Bezug auf die Habsburger Monarchie und deren Nachfolgestaaten, die in diesem Band noch einmal grundsätzlich und anhand exemplarischer Beispiele diskutiert werden sollen. Ein ganz wichtiger Nebeneffekt ist, dass in diesem Versuch einer kulturellen Gesamtschau des post-kakanischen Raumes Korrespondenzen zwischen den einzelnen Literaturen und Kulturen zutage treten, die durch die nationalliteraturgeschichtliche Betrachtung oft verschattet geblieben sind. Im Fokus steht ein geweiteter Begriff von Kultur, der um Medialität und Macht kreist und in dem das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, das Paradigma der Ähnlichkeit sowie das kollektive Gedächtnis eine zentrale Rolle spielen. Weiters geht dieser Band der Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Imperialität und Kolonialismus nach sowie der Methodologie der Kulturanalyse.

Zukunftsfonds der Republik Österreich
<?page no="0"?> 2000 - 2024 K U LT U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 30 Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk / Clemens Ruthner (Hrsg.) Kakanien revisited - Rückblick und Ausblick <?page no="1"?> Kakanien revisited - Rückblick und Ausblick <?page no="2"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Milka Car, Moritz Csáky, Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk, Clemens Ruthner, Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler Band 30 • 2024 Kultur - Herrschaft - Differenz ist eine peer-reviewed Reihe (double-blind). Kultur - Herrschaft - Differenz is a double-blind peer-reviewed series. <?page no="3"?> Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk / Clemens Ruthner (Hrsg.) Kakanien revisited - Rückblick und Ausblick 2000-2024 <?page no="4"?> Gedruckt mit Unterstützung der niederösterreichischen Landesregierung und des Zu‐ kunftsfonds der Republik Österreich DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381124022 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-381-12401-5 (Print) ISBN 978-3-381-12402-2 (ePDF) ISBN 978-3-381-12403-9 (ePub) Coverfoto: Schloss Drosendorf NÖ © Sabine Müller-Funk Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Dem Andenken an unsere Forschungspartner Anil Bhatti (1944-2023) und Heidemarie Uhl (1956-2023) gewidmet www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 19 29 45 63 81 95 109 125 Inhalt Vorwort der Herausgeber 25 Jahre Kakanien revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . English Abstracts of the Contributions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Herrschaftsformen in Zentraleuropa Pieter M. Judson Endet das Imperium nach seinem Ende? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marijan Bobinac Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Semiose von Imperien Susanne Frank Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? . Einige Überlegungen aus aktuellem Anlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Müller-Funk Das Reich (in) der Mitte. Semiose des (Post-)Imperialen im kakanischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Ruthner Realism Rules? Über einen möglichen Zusammenhang von Imperium, Nationalismus, Genre und Epoche in Kakanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Budňák Postimperiales im bürgerlichen Imperium der „prächtigen Menschen“. Ludwig Winders Roman Die rasende Rotationsmaschine (1917) . . . . . . . . . . . III. Nachleben von Zentrum und Peripherie Vahidin Preljević Die „Balkanisierung Europas“. Anmerkungen zum ‚inneren‘ Balkanismus und zu dessen postimperialem Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 139 155 169 179 197 209 229 Milka Car Die zentrale Peripherie. Eine Skizze zur postimperialen Konstellation in der Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gábor Schein Die Durchästhetisierung der kolonialen Sprachen der k. u. k. Monarchie im Roman von Ádám Bodor Das Schutzgebiet Sinistra (1994) . . . . . . . . . . . . . . . IV. Habsburg und (Mittel-)Europa Davor Dukić Das Konzept der Nostalgie aus imagologischer Sicht. Sechzig Jahre nach Magris’ Habsburgischem Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aleš Urválek Europa-Konzepte im postimperialen Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nikola Petković Mitteleuropa, revisited. Essay zur Wirklichkeit eines Traumes . . . . . . . . . . Jurko Prochasko Mitteleuropas grenzenlose Horizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basisbibliographie. Kakanien Revisited; Zentraleuropa; Habsburg postcolonial; Imperial Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 25 Jahre Kakanien revisited Vorwort der Herausgeber Im Jahr 2000 fand das erste Symposion des sich konstituierenden Forschungs‐ netzwerks Kakanen revisited in der Grenzstadt Raabs an der Thaya im Nord‐ osten Österreichs statt. Fünfzehn Kilometer davon entfernt blickten die Kaka‐ nier*innen 2022 im benachbarten Drosendorf, das übrigens in Franz Grillparzers Drama König Ottokars Glück und Ende zweimal Erwähnung findet, auf mehr als zwanzig Jahre transnationaler Zusammenarbeit zurück. Dass das Grillparzer- Stück nicht nur bei Claudio Magris als Grundstein für den „habsburgischen Mythos“ in der österreichischen Literatur gilt, sei hier nur angemerkt. Der lange Atem von Kakanien revisited, das inzwischen als ein kaum zu vernachlässigender Beitrag zu den Central European Studies angesehen werden darf, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der vorliegende Band in unserer Buchreihe Kultur-Herrschaft-Differenz die Nummer 30 trägt - wobei nicht alle Bände dieser Reihe im Rahmen unserer Forschung, sondern auch zu verwandten Themen erschienen sind. Dabei sind die Beiträge in der inzwischen nur mehr als Archiv zugänglichen digitalen Publikationsplattform Kakanien revisited noch gar nicht mit eingerechnet. Kakanien revisited als der inoffizielle Titel von und Rahmen für insgesamt drei Forschungsprojekte ist mehr als nur eine launige Referenz an Robert Musil und das achte Kapitel seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften, das eben diesen Titel trägt: Entfaltet doch der Autor hier, im Anschluss an seine früheren Aufsätze (Politik in Österreich, 1912; Politische Bekenntnisse eines jungen Mannes. Ein Fragment, 1913) einen überaus originellen Blickwinkel auf den durch die Habsburger Monarchie geprägten Raum in der Mitte Europas. Dabei verbindet sich die Diagnose einer retardierten Moderne, wie sie für Imperien des habsbur‐ gischen Typus charakteristisch ist, mit dem interessanten Befund, wonach die „Eigenschaftslosigkeit“ nicht bloß für den Protagonisten Ulrich, sondern eben auch für jene Monarchie gilt, die einmal mit großem K, einmal mit kleinem k und dann sogar mit einem großen und einem kleinen K. u. k. versehen wird, eben weil ihre Referenzen und Bezüge - kaiserlich-österreichisch, königlichungarisch, <?page no="8"?> k. u. k gesamtstaatlich) unscharf sind. Mit dieser Unschärfe geriet der habsburgische Vielvölkerstaat unvermeidlich in Konflikt mit all jenen, die auf Identität und Eigenschaften pochen, Nationalisten, Ideologen und Erlöser. Hinter all diesen fixierenden Etiketten und Prädikationen wird indes jene Leere sichtbar, die in der Moderne zum gar nicht so heimlichen Movens avanciert. (Ob Kakanien, wie Joseph Roth, ein Freundfeind Musils, einmal geargwöhnt haben soll, eine exkrementale Anspielung enthält, soll hier offenbleiben.) Damit leistet der Roman auch einen analytischen Beitrag zur Frage des Verhältnisses von pluri-identischen Imperien und mono-identischen ‚Völkern‘ bzw. Nationsprojekten. Gleichzeitig geraten in diesem Prozess die traditionellen Ordnungen ins Wanken, was der Roman anschaulich an jenen Menschen zeigt, die sich um die geplante sinnrettende und bedeutungsstiftende „Parallelaktion“ herum in Stellung bringen. Kakanien revisited steht nun für eine ganz bestimmte Sichtweise dieses so heterogenen und doch zugleich auch grenzüberschreitenden Raums - eine Sichtweise, die sich im Anschluss an Denker wie Georg Simmel, Sigmund Freud, aber eben auch an Robert Musil als Ambivalenz bestimmen lässt. Diese geht über das reine Weder-Noch - Völkerkerker vs. vorweggenommene europäische Union - hinaus, auch wenn sie dieses voraussetzt. Ambivalenz meint also, dass Anziehung und Ablehnung, Liebe und Hass, Hoffnung und Zweifel auf merkwürdige und untrennbare Weise zusammenfallen. (Um diese Ambivalenz zu beschreiben, bedient sich Musils Roman der unmöglichen rhetorischen Figur, die Ja sagt und Nein meint. Und umgekehrt.) So besehen ist der neue Blick auf die Monarchie, das revisiting, auch ein Wiedersehen alter Sichtweisen, die freilich lange Zeit nicht zum Zug gekommen sind. In gewisser Weise hat Musil einen wesentlichen Punkt herausgearbeitet, der in den meisten neueren Theorien über Nation und Nationsbildung unge‐ achtet aller Unterschiede von Belang ist: die Modernität der erfundenen Nation und ihrer identitätspolitischen Setzungen. Ebenso hat Musil deren bedenkliche Seiten aufgezeigt und zugleich das befriedete imperiale Selbstbild, das sich dem nationalistischen Symbolhaushalt entgegenstellt, kräftig ironisiert. Einen kulturwissenschaftlichen Blick, der tendenziell schon in Musils Roman obwaltet, kann auch das methodische Besteck, dessen sich das Netzwerk Kakanien revisited bedient, schwerlich verleugnen: die Bezugnahme auf be‐ stimmte Prämissen der britischen Cultural Studies, die Imperien- und Na‐ tion(alismu)sforschung, Postkolonialismus, die Dynamik von Zentrum und Pe‐ ripherie, medientheoretische Überlegungen, die kritische Reflexion von Fremd- und Selbstbildern oder die Einbeziehung psychoanalytischer, narratologischer und semiotischer Perspektiven. 8 Vorwort der Herausgeber <?page no="9"?> 1 LOTMAN, Juri (2010): Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Berlin: Suhrkamp. S.-174. Im vorliegenden Sammelband werden nun die Ergebnisse des Symposiums präsentiert, das unter dem Titel Kakanien revisited. Rückblicke und Ausblicke auf Mitteleuropa vom 22. bis zum 24. April 2022 stattgefunden hat. Diese Dro‐ sendorfer Veranstaltung wurde von den Organisatoren als Bilanz, Rückschau, Reflexion und Fortführung des Projektes Kakanien revisited konzipiert, welches zu den erfolgreichsten kulturwissenschaftlichen Forschungsvorhaben gehört, die von Österreich aus initiiert wurden und einen großen internationalen Widerhall gefunden haben. Kakanien revisited begann als ein FWF-Forschungs‐ projekt sowie als ein vom österreichischen Wissenschaftsministerium finan‐ ziertes Internet-Pilotprojekt; es folgten zwei weitere von staatlichen funding agencies finanzierte Forschungsprojekte in Wien und Zagreb, an denen sich viele Human- und Sozialwissenschaftler*innen aus verschiedenen Herkunftsländern beteiligt haben. Parallel dazu liefen auch mehrere bilaterale Kooperationen zwischen Österreich auf der einen sowie Tschechien, Ungarn, Rumänien und Kroatien auf der anderen Seite. Hinzuzufügen wäre auch, dass Kakanien revisited zu zahlreichen Partnerschaften und Initiativen führte, die von den theoretischen und thematischen Fokussierungen der Forschungsgruppe beeinflusst worden sind; darüber hinaus hat es in den universitären Alltag vieler Länder Eingang gefunden. Die seit der Gründungstagung in Raabs 2000 erschienenen Sammelbände und Monographien im Rahmen von Kakanien revisited kreisen jedenfalls um die kulturelle Beschaffenheit eines so faszinierenden Raumes, wie ihn eben jener mittlere Teil des Kontinents darstellt, in dem die Geschichte des 20. Jahrhunderts - Erster Weltkrieg, Zusammenbruch der Doppelmonarchie, Zwischenkriegszeit, Zweiter Weltkrieg, Genozide, Kalter Krieg der Systeme und der Zusammen‐ bruch der totalitären Regime in Mittel- und Osteuropa - vielfältige Spuren hinterlassen haben. Auf diese post-kakanische Region trifft zu, was Jurij Lotman generell über den semiotischen Raum gesagt hat: dass er „sowohl ungleichmäßig und asymmetrisch als auch einheitlich und homogen“ ist. 1 Kakanien revisited operiert bis heute grosso modo mit einem Konzept von Kultur, dass diese durch Phänomene wie Differenz und Macht gezeichnet sieht. Dabei spielen und spielten Begriffe wie ‚postimperial‘ und die Frage der An‐ wendbarkeit postkolonialer Ansätze eine maßgebliche Rolle in der Suche nach einem dritten Weg jenseits von historischer Nostalgie und der Fortschreibung national(istisch)er Identitäts- und Opferkonzepte. Ein ganz wichtiger Nebenef‐ fekt ist, dass in diesem Versuch einer kulturellen Zusammenschau des post- 25 Jahre Kakanien revisited 9 <?page no="10"?> kakanischen Raumes (Österreich und die „Nachfolgestaaten“) Korrespondenzen zwischen den einzelnen Literaturen und Kulturen zutage treten, die durch die Betrachtungsweise nationaler Literatur- und Kulturgeschichten oft verschüttet oder zumindest verschattet geblieben sind. Dies soll sich nun auch im Aufbau des vorliegenden Jubiläumsbandes spiegeln. * Die erste Sektion des vorliegenden Buches stellt unter dem Titel Herrschafts‐ formen in Zentraleuropa die Habsburger Monarchie in den methodischen Rahmen der Imperienforschung. Dabei kommt auch die Bedeutung des Postim‐ perialen zur Sprache. In seinem Eröffnungsbeitrag vertritt Pieter Judson (Florenz) die anregende These, dass der Übergang vom Imperium zu den Nationalstaaten in Zentraleu‐ ropa in vieler Hinsicht fließend sei: Die Nationen, deren Entstehungsprozess sich innerhalb des habsburgischen Vielvölkerreichs im 19. Jahrhundert vollzog, waren zwar nicht formal anerkannt, konnten aber ihre Existenz durch die Grün‐ dung ihrer wichtigsten Institutionen durchaus behaupten - ein Umstand, der die oft vorgetragene Annahme dementiere, die Donaumonarchie wäre ein „Völker‐ kerker“ gewesen. Auf der anderen Seite lasse sich nicht übersehen, dass die Na‐ tionalstaaten, die aus der Konkursmasse der k. u. k.-Monarchie hervorgegangen sind, viele Kennzeichen imperialer Praktiken behalten und daher wie eine Art ‚kleiner Imperien‘ ausgesehen haben: In der post-kakanischen Zeit lassen sich zwar, so Judson, einige wichtige Brüche, insbesondere in der binnenstaatlichen Beweglichkeit sowie im Wirtschafts- und Bildungssektor festhalten; weitaus bedeutender zeigen sich aber die Kontinuitäten zur imperialen Vergangenheit, etwa in den Bereichen von Jurisprudenz, Verwaltung und Militär, die einen funk‐ tionierenden Übergang zum neuen, nationalstaatlichen Rahmen ermöglichten. Die Machtkontinuität sollte daher, wie Judson an mehreren Beispielen zu zeigen sucht, viel mehr als Regel denn als Ausnahme angesehen werden. So seien etwa die Versprechen neuer Machthaber, die anvisierten Nationalstaaten auf demokratische Grundlagen zu stellen, am imperialen Charakter neuer staatli‐ cher Gebilde, an der nationalen Differenz ihrer Bürger*innen und der damit zusammenhängenden Ungleichheit gescheitert. Judson kommt zum Schluss, dass eine begriffliche Unterscheidung zwischen Imperium und Nationalstaat unter nationalistischem Vorzeichen unmöglich sei; ihren heuristischen Wert könne sie vielmehr nur durch eine analytische Verwendung erhalten, bei der konkrete soziale, politische und kulturelle Praktiken berücksichtigt würden. Wie sich die theoretischen Schwerpunkte der - ansonsten lose verbundenen - Forschungsgruppe Kakanien revisited seit dem Beginn der 2000er Jahre 10 Vorwort der Herausgeber <?page no="11"?> von einem ursprünglich überwiegend postkolonialen zu einem zunehmend postimperial orientierten Ansatz verlagerten, was die jeweiligen Herangehens‐ weisen charakterisierte und wie sie sich in der Forschungsarbeit fruchtbar miteinander kombinieren ließen, sucht Marijan Bobinac (Zagreb) in seinem Beitrag zu skizzieren. Während das postkoloniale Deutungsmuster seinen Fokus auf Differenzen setze und dabei namentlich asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Zentren und Peripherien sowie deren jeweiligen Ausdrucksformen und Realisierungen in den Vordergrund rücke, wenden postimperiale Studien ihr besonderes Augenmerk den Formen der Integration zu. Aus der postimpe‐ rialen Frageperspektive, die repräsentativ durch die new imperial history ver‐ treten werde, erscheinen nämlich Herrschaftsgebilde wie die Donaumonarchie nicht nur als Orte der Ungleichheit und Unterdrückung von Individuen und Kollektiven, sondern auch als Schauplatz kreativer kultureller Interaktionen und Produktionen. Mit diesem analytischen Instrumentarium gehe, so Bobinac, die Forschungsgruppe Kakanien revisited an verschiedene Kulturprodukte und -praxen des Habsburger Reiches und seiner Nachfolgestaaten heran, um Auf‐ schluss darüber zu gewinnen, wie nationale Homogenisierungsprozesse und imperiale Geltungsansprüche nebeneinander funktionierten und welche Nach‐ wirkungen sie in der postimperialen Zeit hatten. Mit dem Schwerpunkt einer semiotisch informierten Betrachtung traditio‐ neller Imperien betritt dann der zweite Abschnitt unseres Sammelbandes (Se‐ miose von Imperien) methodisches Neuland. Wie es heute, vor dem Hintergrund des Angriffskrieges, den das imperiale Russland gegen die Ukraine führt, um die Aktualität von Denkpositionen Juri Lotmans stehe, überprüft in ihrem Beitrag Susanne Frank (Berlin). Im Mittelpunkt ihrer Analyse figuriert die Frage, inwiefern sich Lotmans Modell der Semiosphäre - wie etwa von Albrecht Koschorke suggeriert - als kon‐ vergent mit den modernen Imperientheorien zeigt: Semiosphären wie auch Imperien entstehen durch „Überwindung des Raumwiderstands“, wobei „es semiotisch um Übersetzerketten und den dadurch bedingten informationellen Verschleiß“ gehe, „imperialpolitisch“ wiederum „um Logistik und Machtrelais auf den Verkehrswegen, die die Distanz zwischen Zentrum und Peripherie überwinden“. Aufschlussreich ist, dass sich Lotmans Begriff der Grenze als Kontaktzone, die für imperiale Herrschaftsräume charakteristisch ist, vom nationalstaatlichen Grenzbegriff als Trennlinie abhebe. Frank erinnert daran, dass Lotman das zaristische Russland und dessen Übergang zur Sowjetunion in seinen kulturhistorischen Studien nicht hinsichtlich imperialer Strukturen untersuchte; dennoch, wie sie hinzufügt, ließen sich sehr wohl auch „Modifi‐ kations- und Anwendungsmöglichkeiten von Lotmans Ansatz auf imperiale 25 Jahre Kakanien revisited 11 <?page no="12"?> Kontexte“ festhalten. Der späte Lotman, so Frank, habe erkannt, dass sich für Russland, das historisch von einem bipolaren Kulturmodell gekennzeichnet war, mit dem Zerfall der Sowjetunion die Chance ergeben habe, diese imperiale Binärität zu überwinden und eine semiotische Dynamik zwischen Zentrum und Peripherie zuzulassen - und damit eine europäische Kultur zu werden. Es ist nach Frank kein Zufall, dass sich Lotmans Hoffnung im Russland Putins nicht erfüllen könne: „Das Imperium erträgt keine peripheren Semiosen und muss sie mit aller Macht bekämpfen.“ Nach Lotman’schen Konzepten greift in seiner Analyse der Semiose im (post-)imperialen habsburgischen Kontext auch Wolfgang Müller-Funk (Wien). Vor dem theoretischen Hintergrund des Semiotischen - die die Pe‐ ripherie normierende Selbstbeschreibung des Zentrums sowie die Grenze - lässt er „das Netzwerk Kakanien revisited und seine einzelnen Forschungs‐ projekte in Wien und Zagreb Revue passieren“, deren Ergebnisse - wie er mit Nachdruck zeigt - das nationalistische Narrativ vom zwangsläufigen Ver‐ fall der Donaumonarchie ins Wanken bringe. Mit dem „semiotische[n], an Lotman geschulte[n] Blick“ auf die Habsburger Monarchie nach dem Ausgleich 1867 ergebe sich - so Müller-Funk - ein kakanisches Kulturmodell, dessen Charakteristika folgendermaßen beschrieben werden können: „die verhaltene Expansionskraft“, „die Pluralität semiotischer Mikroräume“, die „Existenz an‐ derer Zentren“, die selbst normierende Instanzen werden, sowie das schwache Gesamtzentrum Wien, das die österreichische Reichshälfte zwar als Nationali‐ tätenstaat entwarf, sein normierendes Zentrum aber selbst im Deutschen Reich suchte - genauso wie die zweite Habsburger-Metropole Budapest, die Ungarn am Vorbild Deutschlands als Nationalstaat konzipierte. Indem die meistens na‐ tional definierten urbanen Zentren in Konkurrenz zueinander standen, könnte die Doppelmonarchie nach Müller-Funk als ein Konglomerat unterschiedlicher, sich überlappender semiotischer Sphären verstanden werden - als ein Musil’‐ sches „Reich (in) der Mitte“ zwischen Fortschritt und Rückständigkeit, und als „peripheres Zentrum“ in Europa. Von der These ausgehend, dass sich kulturelle Epochen und Genres „äs‐ thetischen und medienhistorischen ebenso wie ideengeschichtlichen und so‐ zioökonomischen Konstellationen“ verdanken, versucht Clemens Ruthner (Dublin) mit Berufung auf Edward Saids Buch Culture and Imperialism, den „Zusammenhang von Literatur und Imperium“ - bzw. der postimperialen Situation - in Bezug auf die Habsburger Monarchie weiterzudenken. Für die Veranschaulichung seiner - wie er betont: skizzenhaften - Thesen wählt er einige markante Stationen in der literarischen Produktion der Donaumonarchie und ihrer Nachfolgestaaten in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahr‐ 12 Vorwort der Herausgeber <?page no="13"?> hundert aus. Im 19. Jahrhundert ließen sich für die imperiale Legitimierungs‐ funktion, so Ruthner, insbesondere der Realismus mit seinen unterschiedlichen narrativen Genres (im k. u. k.-Kontext verweist er auf Autoren wie Adalbert Stifter, Ferdinand von Saar und Mór Jokai) sowie das historische Drama mit Franz Grillparzer als seinem markantesten Vertreter heranziehen. In der in habsburgischen Ländern besonders ertragreichen literarischen Produktion der Zeit um 1900 sieht der Verfasser wichtige Formen der anti-imperialen Kritik, so z. B. in der kakanischen Abart des Naturalismus (Philipp Langmann, Ivan Cankar) und namentlich im Modernismus der Jahrhundertwende, wobei hier der deutschsprachigen Frühmoderne (Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke) auch die nicht-deutschsprachige Produktion von Autoren wie Jaroslav Hašek oder Miroslav Krleža gegenübergestellt wird. Als ein besonderes, epochenübergrei‐ fendes Werkkorpus betrachtet Ruthner die vom Magris’schen ‚habsburgischen Mythos‘ geprägte literarische Produktion, die sich vor 1918 weitgehend auf „dem supranationalen (Ver-)Einigungsmantra des Imperiums“ gründet, danach aber „nostalgische Züge einer retrospektiven Utopie“ annimmt. Jan Budňák (Brünn) geht in seinem Beitrag von Ludwig Winders Roman Die rasende Rotationsmaschine (1917) aus, um auf soziale und kulturelle Erosionspro‐ zesse im habsburgischen Imperium während des Weltkriegs am Beispiel eines skrupellosen Medienmoguls hinzuweisen. Die Praktiken „des Chefredakteurs und Alleinherrschers“ Glaser werden vom Verfasser „als ein Angriff gegen das späthabsburgische bürgerliche Subjektkonzept“ analysiert, das im Roman abwertend als der österreichische „prächtige Mensch“ bezeichnet wird und sich weitgehend mit dem bürgerlichen „hybriden Subjekt“ (Andreas Reckwitz) bzw. der „bürgerlichen Denk- und Lebensform“ (Panajotis Kondylis) deckt. Dabei speise sich - wie Budňák bemerkt - „das postimperiale Moment des Romans gleichermaßen aus radikal modernen (Technik, Kapital, fragmentiertes Subjekt, Krise der Repräsentation) und aus zutiefst vormodernen Quellen (jüdische Mystik, ländliche Peripherie).“ Im Anschluss daran enthält der dritte Abschnitt unseres Bandes Fallstudien zum Nachleben von Zentrum und Peripherie - ein Thema, das das Kakanien revisited von Anfang an beschäftigt und bestimmt hat. Welchen Stellenwert nun die postimperiale Konstellation - verstanden als „eine spezifische Möglichkeit der literarischen Aushandlung verschiedener nationaler und transnationaler Identitätskonstruktionen“ - in der Gegenwartsliteratur habe, sucht in ihrem Beitrag Milka Car (Zagreb) in Augenschein zu nehmen. Die unterschiedlichen Formen der Literarizität werden von der Autorin anhand theoretischer Entwürfe wie Hybridität sowie Zentrum und Peripherie analysiert, um den Entstehungs‐ bedingungen und Funktionen der Gegenwartsliteratur auf die Spur zu kommen. 25 Jahre Kakanien revisited 13 <?page no="14"?> Die literarischen Repräsentationen werden dabei nicht nur ausschließlich aus der nationalliterarischen Perspektive, die auf der Fiktion einer kulturellen Einheit beruhe, sondern auch im Lichte der Globalisierungs- und Migrations‐ prozesse untersucht. Dass die postimperiale Landschaft Kakaniens nicht nur zu politisch-kultu‐ rellen, sondern auch zu popkulturellen Analysen einlädt, zeigt der Beitrag von Vahidin Preljević (Sarajevo), der in der eigentümlichen musikalischen New- Wave-Kultur im Jugoslawien der 1970er und 1980er Jahre das Konzept einer künstlerischen ‚Balkanisierung‘ auszuloten sucht. Das seinerseits sehr populäre gesamtjugoslawische Phänomen stellt der Verfasser auch in den Kontext älterer Balkan-Diskurse, etwa des avantgardistischen Entwurfs des Zenitismus aus den 1920er Jahren - eine Konstellation, die aufschlussreiche Verbindungslinien zwi‐ schen stereotypen zentraleuropäischen Balkan-Vorstellungen und modernen, grundsätzlich ironisch-subversiven künstlerischen Konzepten offenlegt. Anknüpfend an die These Oskar Jászis von den südöstlichen habsburgischen Territorien als „inneren Kolonien“ Wiens und Budapests sowie an Homi Bhabhas Konzept der „liminalen Spannungen“ nimmt Gábor Schein (Budapest) „dehumanisierende Diskursformen“ in der literarischen Thematisierung der „kolonialen Peripherie“ in den Blick und sucht dieses „koloniale Erbe der Donaumonarchie“ am Beispiel des Romans Das Schutzgebiet Sinistra (1992, dt. 1994) des ungarischen Schriftstellers Ádám Bodor darzustellen. Es zeige sich, so Schein, „dass der Roman die Sprache der Dehumanisation durchästhetisiert“, d. h. „die Ambivalenz der kolonialen Entmenschlichung sichtbar macht“, für die „eine eigenartige Paradoxie des Ironischen und des Nostalgischen, des Erotischen und des Dystopischen charakteristisch“ sei. In einem solchen Umfeld „gehen die Naturbilder und die Darstellungen der Macht in einander ironisch auf “; es könne „keine Heimat“ sein und „nur sehr wenige“ könnten es „lebendig verlassen“. Der Fokus des letzten thematischen Blocks, Habsburg und (Mittel-)Europa, liegt dann, wie schon der Titel nahelegt, auf der europäischen Dimension des ‚unmöglichen‘ Reiches in der Mitte des Halbkontinents. Bei seinen Überlegungen zum Begriff der „kulturellen/ historischen Nost‐ algie“ aus imagologischer Perspektive geht Davor Dukić (Zagreb) wie schon Ruthner von den Thesen Claudio Magris‘ im weit verbreiteten Buch Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (1963, dt. 1966) aus. Dukić schlägt eine deskriptive Definition des Begriffes vor, „wonach die ‚imagotypi‐ sche Nostalgie‘ eine Variante des imagotypischen Zeitraums in der Funktion des Selbstbildes, ein Ausdruck eskapistischer, kritischer oder subversiver Unzufrie‐ denheit mit dem aktuellen Stand der Dinge“, implizit auch eine „kontrafaktische 14 Vorwort der Herausgeber <?page no="15"?> Sehnsucht nach einem vergangenen Zeitraum bzw. nach einigen Attributen dieses Zeitraums“ sei. In diesem Zusammenhang stellt sich der Verfasser die Frage, ob sich nicht auch Musils Der Mann ohne Eigenschaften trotz seines grund‐ sätzlich ironisch-kritischen Grundtons als ein k. u. k.-nostalgisches Werk lesen lasse; er kommt zum Schluss, dass Musil von Magris zu Recht zu den Mitbegrün‐ dern des ‚habsburgischen Mythos‘ in der Literatur zwischen den Weltkriegen gezählt werde. Dukić konkludiert, dass Magris mit seinem Erstlingsbuch „eine solide imagologische Studie zum österreichischen Zwischenkriegs-Selbstbild“ vorgelegt habe. Ebenso rückt Aleš Urválek (Brünn) drei folgenreiche Europa-Konzeptionen der unmittelbaren postimperialen Zeit in den Mittelpunkt seines Beitrags, wobei er Tomáš Garrigue Masaryks Buch Das neue Europa (1918) vor dem Hintergrund des „Kulturbund“-Projekts von Karl Anton Rohan und der paneu‐ ropäischen Bestrebungen von Richard Coudenhove-Kalergi zu durchleuchten versucht. Da ihm die Kategorien demokratisch und nicht-demokratisch für seine Analyse „unzureichend“ erscheinen, wählt Urválek „eine post-imperiale Perspektive“, mit der sich „das Ausmaß an Übereinstimmung und Differenz als auch eine Beschreibung von Kontinuität und Diskontinuität zu imperialen Zeiten und imperialen Techniken besser“ erfassen lasse. Von einer Präzisierung der Europa-Vision Masaryks ausgehend, sucht der Verfasser „verschiedene Transformationen imperialer und postimperialer Semantiken“ in den beiden darauffolgenden europäischen Konzeptionen aufzuzeigen. Abgeschlossen wird unser Sammelband in Sektion IV von zwei essayistischen Beiträgen, dem ersten aus der Feder des ukrainischen Germanisten und Pu‐ blizisten Juri Prochasko, der zweite vorgelegt vom kroatischen Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Nikola Petković. In beiden Essays, mit denen sich auch der thematische Kreis des Bandes schließen soll, wird eines der zentralen Themen des Projektes Kakanien revisited wieder aufgegriffen und variiert. Im Rahmen unseres Forschungsnetzwerks - und namentlich in seinen An‐ fängen um die Jahrtausendwende - stand nämlich die ‚Mitteleuropa-Frage‘ wie‐ derholt zur Diskussion; mit der Zeit begann sie aber Ermüdungserscheinungen zu zeigen und wurde schließlich von Betrachtungen über die postkolonialen und postimperialen Implikationen der habsburgischen Vergangenheit in den Hintergrund gedrängt. Man besann sich dieses Komplexes zwar gelegentlich, seine Erörterung schien aber im Wesentlichen ausgeschöpft zu sein. Die geo‐ politischen Verwerfungen der letzten Jahre, die nicht nur eine immer tiefere Kluft zwischen liberalen Demokratien und autoritär regierten Staatsgebilden, sondern auch das Aufkommen neuer-alter imperialer Machtstrukturen deutlich werden ließen, haben aufs Neue auch den Blick für die Mitteleuropa-Thematik 25 Jahre Kakanien revisited 15 <?page no="16"?> geschärft. Spätestens mit der Aggression des neurussischen Imperiums auf die souveräne Ukraine - und damit auch auf den östlichen Rand des zentraleuro‐ päischen Raums - bekam die Frage eine neue Aktualität. Die nachdrückliche Entgegensetzung Mitteleuropas gegen die Sowjetunion, die ostmitteleuropäi‐ sche Intellektuelle in den 1980er Jahren, allen voran Milan Kundera in seinem berühmten Essay Un occident kidnappé ou la tragédie de l'Europe centrale (1983), postuliert haben, erschien nicht mehr als veraltetes Gedankengut des Kalten Kriegs, obsolet geworden durch die Erweiterung der EU, sondern als food for thought angesichts der geopolitischen Repositionierung der baltischen Länder und der Ukraine sowie der neoimperialen Gewalt, die diese auslöste. Eine Art Vorgeschichte zur Entstehung von Kunderas Animosität gegen die sowjetisch-russische „koloniale Präsenz in Mitteleuropa“ (so Czesław Miłosz) bringt der Essay von Nikola Petković (Rijeka). Der Autor geht von Joseph Brodskys niederschmetternder Kritik an Kunderas Mitteleuropa-Thesen aus dem Jahr 1983 aus, die wiederum von mehreren namhaften Autor*innen, allen voran von Susan Sontag als eine „entsetzlich imperialistische und unmoralische Position“ zurückgewiesen wurde. Eine weitere Verschärfung - wie Petković berichtet - erfuhr diese Polemik bei der west-östlichen Schriftstellerkonferenz in Lissabon 1988, als sich die russischen Teilnehmer*innen weigerten, auf die von den Verfechtern der Mitteleuropa-Idee aufgeworfene Frage nach der militärischen Präsenz der Sowjetunion in Ostmitteleuropa einzugehen, und stattdessen eine substanzlose Debatte über ewige ästhetische Grundsätze in den Vordergrund zu rücken suchten. Ihr Schweigen, spitzt Petković seine These zu, gleiche „der Sicht hypothetischer Bösewichte“: Indem sie sich weigerten, „ihre Gedanken zu dekolonisieren“, haben die sowjetischen Vertreter ihre „Kollabo‐ ration mit dem Kolonisator“ bekräftigt. Den Autoren wie György Konrád und Danilo Kiš, die selbst wichtige Beiträge zur Mitteleuropa-Diskussion geliefert haben, sei es hingegen gelungen, die Problematik des mitteleuropäischen Kolo‐ nialismus und Postkolonialismus überzeugend der Weltöffentlichkeit zu präsen‐ tieren. Die Lissabon-Konferenz sollte daher, so Petkovićs Fazit, „als Meilenstein für jede künftige Analyse Mitteleuropas aus kolonialer und postkolonialer Sicht betrachtet werden“. In seinem in unseren Band aufgenommenen Essay berichtet dann der Literaturwissenschaftler und Autor Jurko Prochasko (Lemberg) von der Schockwirkung, die auf ihn und gleichgesinnte Ukrainer die um ein Jahrzehnt verspätete Rezeption der Mitteleuropa-Diskussion der 1980er Jahre hatte, verursacht insbesondere durch die Exklusion ehemals habsburgischer, stark mitteleuropäisch geprägter Regionen wie Galizien oder Bukowina: „In Kunderas Auffassung von uns“ wiederholte sich - so Prochasko - „genau dasselbe, was 16 Vorwort der Herausgeber <?page no="17"?> er dem Westen in Bezug auf sich selbst vorwarf und übelnahm: er zählte uns nicht zu Europa, zu keinem Europa dazu, und er gab uns einem Reich als hoffnungslos preis - dem sowjetischen“. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine erinnert Prochasko daher an die Doppelidentität seiner Heimatregion Galizien, an deren gleichzeitig „altösterreichische“ und die „neuukrainische“ Eigenart. Doppelt kodiert waren übrigens auch - woran Prochasko ebenso erinnert -die meisten Menschen der Donaumonarchie: Sie alle waren „Teile der habsburgischen Zivilisation und Träger je ihrer partiku‐ lären und Nationalideen“, eine „Kombination von imperialer Erfahrung und nationalen Bestrebungen“, die seiner Meinung nach auch „die Grundlage für die Entstehung Mitteleuropas“ war. Die ukrainischen Ereignisse der letzten Jahre brächten, so Prochasko, auch ein erweitertes Verständnis des Mitteleuropa- Konzeptes mit sich - ein Umstand, der auch die Ukraine „zu Mitteleuropa hat werden lassen: die Revolution der Würde“. Gerade die Annahme aller „klassi‐ schen, großen mitteleuropäischen Tugenden“ (Identität, Pluralität, Solidarität, Freiheit, Liberalität, Antiimperialität, etc.) habe die Ukraine an (Mittel-)Europa angenähert, was nicht unwesentlich auch das „letzte Imperium“ zu einem brutalen Aggressionskrieg provoziert habe - der immer wieder thematisierte zeitgeschichtliche Hintergrund der Tagung in Drosendorf 2022. Mit ihrem entschlossenen Widerstand - so Prochasko abschließend - sei die Ukraine „jetzt Mitte Europas in jeder Hinsicht“ geworden. * Für das Zustandekommen dieses Buches sei jedenfalls unseren Geldgebern - dem Amt der Niederösterreichischen Landesregierung und dem Zukunftsfonds der Republik Österreich - herzlich gedankt, ebenso wie der Stadtgemeinde Drosendorf für die unentgeltliche Überlassung der Tagungsräume sowie Bern‐ hard Heiller (Wien) und Raleigh Whitinger (Edmonton) für ihr Lektorat. Die Herausgeber des vorliegenden Kakanien-Jubiläumsbandes wünschen eine in‐ spirierende Lektüre dieser Rück-, Zusammen- und vielleicht auch Vorschau, insofern sich hier für uns, unsere Netzwerk-Partner*innen, aber gerne auch interessierte Dritte künftige Arbeitsvorhaben abzeichnen. Gewidmet ist diese Publikation dem Andenken an Anil Bhatti (1944-2023) und Heidemarie Uhl (1956-2023), die wir nicht nur in diesem Kontext vermissen. 25 Jahre Kakanien revisited 17 <?page no="19"?> English Abstracts of the Contributions PIETER M. JUDSON, Does Empire End after its End? When the Habsburg Monarchy collapsed at the end of 1918, the societies over which it had ruled became sites of a massive political and ideological rejection of this empire. Subsequent historians have analyzed it in the context of the allegedly successful nation states that replaced it. More than a century later, we can see how this rejection of empire (and of everything for which it stood) has failed in many respects. A transnational Kakanien is still very much with us today. Would this apparent contradiction make better sense if we abandoned the belief that everything changed at the end of 1918? What might we learn if today’s nation-state histories could re-think and re-claim their societies’ roles in their own imperial pasts? This essay explores questions of continuity across the 1918 divide to argue for a different approach to the history of the region. An approach that recognizes significant continuities could render visible many dynamics and people that national historical traditions have hidden for too long. It might also help us to re-think how we use categories such as ‘empire’ and ‘nation state’ as analytic tools. MARIJAN BOBINAC, From ‘Habsburg, Postcolonial’ to ‘Habsburg, Postimperial’ The Viennese internet platform Kakanien revisited (founded in 2001) and the eponymous research group that emerged in this context, including a variety of scholarly activities such as conferences and publication, have set in motion a new dynamic in the study of the adjacent, often overlapping topics of Central Europe and the Habsburg Monarchy. The success of this network has been associated with its efforts to reinterpret cultural symbolization processes that were constitutive for the specific power structures of the multiethnic Habsburg empire and its successor states. Equally important in this context was the ambivalence inscribed in the project, recognizable even in the name Kakanien revisited, promising a new approach to the Habsburg complex in a Musilian, ironically critical sense. <?page no="20"?> This essay attempts to show how the theoretical focus of the - otherwise loosely connected - research group has, over the last twenty years, shifted from predominantly postcolonial to postimperial approaches. SUSANNE FRANK, Juri Lotman’s Semiotics of Culture: A Theory of Empire? This essay revisits Juri Lotman’s cultural semiotics from the perspective of 2022, when Russia’s full-scale war of aggression against Ukraine began to shake Europe and the world. It re-reads Lotman’s theory of ‘binary cultures’ and ‘explosion’ as the mechanism of dynamics inherent to this type of empire. This re-reading leads to the hypothesis that Lotman’s hope - as expressed at the end of his Culture and Explosion (1992, transl. 2009) - that, with Perestroika and the dissolution of the Soviet Union, Russia had overcome its binarisms, its arbitrary rule and its violent and unpredictable upheavals to join the European cultural type of continuous development, was premature. Putin’s policy, which operates with a rhetoric of tradition and continuity of values, actually breaks with the dynamics achieved at the end of the last century and re-establishes the binary mechanism of explosion. Otherwise, Lotman’s cultural semiotics proves to be an effective instrument of diagnosis. WOLFGANG MÜLLER-FUNK, ‚Middle Kingdom‘: The Semiosis of the (Post-)Imperial in the Habsburg Context This essay applies Juri Lotman’s cultural theory to show that the Habs‐ burg monarchy’s complex rule and its aftermath can be understood as a semiotic space. It applies essential concepts such as centre and periphery, heterogeneity and asymmetry. It also focusses on the centres paralleling Vienna, such as Prague and Budapest. In their complex semiotic structure, these cities resemble the central metropole not only in terms of their limited power of expansion, but also with regard to the fact that they house parallel semiotic worlds. Surrounded by invisible borders, their communication with and translation of the official centre is limited to the bare essentials. This reinforces phenomena such as non-simultaneity and competition, not least in the field of the arts. The competing centres behave in the same way that Lotman describes the periphery. Their modernist and avant-garde movements exhibit a resistance to the standardising power of 20 English Abstracts of the Contributions <?page no="21"?> the weak overall centre, Vienna, and often refer to the centres of other, extraterritorial semiotic spaces such as Paris, Moscow, and Berlin. CLEMENS RUTHNER, Realism Rules? On the Potential Context of Empire, Nationalism, Genre and Epoch in ‘Kakania’ The common sense in literary studies has it that epochs and genres owe as much to aesthetic questions and the surrounding history of ideas as they do to socio-economic constellations. But what role does the tension between empire, its opposing nationalisms and the resulting so-called successor states play in Central Europe in the late nineteenth and early twentieth century (Hobsbawm’s “Age of Empire”)? This essay considers the connection between literature and empire - or the post-imperial situation - specifically in relation to the Habsburg monarchy along the lines developed by Edward Said in his influential Culture and Imperialism (1993), also including the “Habsburg myth” postulated by Claudio Magris (1966). JAN BUDŇÁK, Post-Imperialism within the Bourgeois Empire of the ‘Magnificent Man’: Ludwig Winder’s Novel ‘Die rasende Rotationsmaschine’ (The Raging Rotation Press, 1917) Ludwig Winder’s first novel, Die rasende Rotationsmaschine (1917) is the “novel of a career”, namely the life story of the journalist and editor-inchief Dr Theodor Glaser, who runs Die Zeitung, an ambitious newspaper project in Vienna between 1900 and 1915. This essay analyses the novel’s depiction of the failure of this initially modern, liberal and capitalistoriented enterprise and its autocratic boss - who comes from the periphery of the monarchy (Brody, Galicia) - as an attack on the late Habsburg bourgeois concept of the subject, which is pejoratively referred to in the novel as the Austrian “magnificent man”; this coincides with the bourgeois “hybrid subject” (Andreas Reckwitz) or the “bourgeois way of thinking and living” (Panajotis Kondylis). In this respect, Glaser’s antihumanist management contains a post-imperial moment that counteracts the practices of bourgeois subjects in the monarchy in the years shortly before and after 1914. Remarkably, Glaser’s attack on them is fed equally from radically modern sources (technology, capital, fragmented subject, English Abstracts of the Contributions 21 <?page no="22"?> crisis of representation) and from genuinely pre-modern ones ( Jewish mysticism, rural periphery). VAHIDIN PRELJEVIĆ, The ‘Balkanization of Europe’: Notes on an ‘Internal’ Balkanism and its Post-Imperial Character In the textual world of the West, the term ‘the Balkans’ is used to denote not only the image of a land of ‘pure barbarism’, but also the recoding of that negative stereotype. Those imaginary Balkans then still appear as a place of raw vitality and masculinity, but as a counter-image to the ‘decadent’ West. Much the same occurs in Yugoslav discourses in the arts and sciences, where, since the 1920s, there have been efforts to give the ‘Balkans’ a positive significance. This tendency, which is also reflected in pop culture, has a clearly post-imperial and occasionally imperial character. This essay attempts to reconstruct the main features of this tendency as it evolves from the founding of the Yugoslav state around 1920 to its demise in the late 1980s. MILKA CAR, Central Periphery: Sketching the Postimperial Constellation of the Present The paradigm of national literature is becoming increasingly fragile. At‐ tempts to define the post-imperial constellation in contemporary literature must take into account the complex repercussions of globalization as well as transnational migration processes. The long-influential notion of the ‘national’ can no longer be regarded as the primary characteristic of contemporary literature. Rather, post-imperial narrative should be consi‐ dered as the possibility of negotiating different national and transnational constructions of identity. Related to this are the following questions: What forms of literariness can be attributed to the centre/ periphery constella‐ tion? How are literary spaces of experience modelled in this dynamic and relational field? In this essay’s attempt to answer these questions, hybridity functions as the concept central to the understanding of postmodern and postnational forms of representation that consistently evade monocultural attributions and situate contemporary literature between the poles of pe‐ ripheralization and centralization; this also questions traditional concepts of literary studies such as canon and national literature. 22 English Abstracts of the Contributions <?page no="23"?> GÁBOR SCHEIN, Aestheticizing the Colonial Languages of the Habsburg Monarchy in Ádám Bodor’s Novel ‘Das Schutzgebiet Sinistra’ (The Sinistra Zone, 1992) Ádám Bodor’s novel, The Sinistra Zone, is set on the border of Romania and Ukraine during the early 1990s. It describes a landscape profoundly shaped by dehumanizing colonial approaches that prevailed during the Austro- Hungarian monarchy’s administration of the South-Eastern and Eastern part of the Empire, and later, during the second part of the twentieth century, in the way the West discussed the Eastern borders of Europe. While Bodor’s prose is profoundly influenced by those colonial discourses, he redefines and elevates the language of dehumanization to an art form. This results in a prose in which the horrific and the erotic constantly clash and transmute into each other; the sources of both are physical. Thus, as the long-standing tradition of colonialist discourse is translated into playful literature, it can be unravelled, revealing its underlying ambivalence. DAVOR DUKIĆ, The Concept of Nostalgia from an Imagological Perspective: Sixty Years after Magris’ ‘Habsburg Myth’ This essay attempts to define the concept of ‘cultural/ historical nostalgia’ from an imagological perspective. It focuses on Claudio Magris’ The Habsburg Myth in Modern Austrian Literature (1963), which is compared in some respects to three recent books that investigate images of the Habs‐ burg Monarchy (Schmidt-Dengler 2002; Kożuchowski 2013; Moos 2016). This leads to a descriptive definition according to which ‘imagotypical nostalgia’ is a variant of the imagotypical period functioning as a selfimage, an expression of escapist, critical or subversive dissatisfaction with the current state of affairs, and an implicit counterfactual longing for a past period, i.e. for some attributes of that period. The essay concludes that Magris wrote a solid imagological study of the Austrian self-image during the interwar period, at the time when imagology was founded. ALEŠ URVÁLEK, Concepts of Europe in Post-Imperial Context during the Great War and the Interbellum This essay attempts a comparative interpretation of three European pro‐ jects of the interwar period, namely Thomas G. Masaryk’s New Europe English Abstracts of the Contributions 23 <?page no="24"?> (1918), Karl Anton Rohan’s ‘Kulturbund’ (1922) and his journal European Review (1925-1944), and, as a contrasting foil to those projects, the pan- European endeavours of Richard von Coudenhove Kalergi. In contrast to the previous, analytically insufficient distinction between democratic and non-democratic, which would merely contrast these projects, this essay chooses a post-imperial perspective that allows for a better grasp of the degrees of coincidence and difference, as well as for a description of continuity and discontinuity with respect to imperial times and techniques. It aims both to refine the interpretation of Masaryk’s aspirations for a new Europe after 1918 and to point out the various transformations of imperial and postimperial semantics in the chosen European concepts, especially in the interwar period. NIKOLA PETKOVIĆ, Central Europe Revisited: Essay on the Reality of a Dream This essay’s point of departure is Joseph Brodsky’s devastating criticism of Milan Kundera's 1983 claim of a ‘kidnapped’ Central Europe, which in turn was rejected by several authors - above all Susan Sontag - as an ‘appallingly imperialist and immoral position’. It recalls how this polemic was further exacerbated at the West-East Writers’ Conference in Lisbon in 1988, where the Russian participants refused to address the question of the Soviet Union's military presence in East-Central Europe raised by the advocates of the Mitteleuropa idea; instead, they sought to focus on an irrelevant debate about eternal aesthetic principles. Their silence, this essay points out, resembles the view of hypothetical villains, suggesting that, by refusing to ‘decolonize their thoughts’, the Soviet literary representatives reaffirmed their ‘collaboration with the colonizer’. In contrast, authors such as György Konrád and Danilo Kiš, who them‐ selves made important contributions to the concept of ‘Central Europe’, succeeded in convincingly presenting the problems of Central European colonialism and post-colonialism to the world public. The essay closes by proposing that the Lisbon conference should be seen ‘as a milestone for any future analysis of Central Europe from a colonial and post-colonial perspective’. 24 English Abstracts of the Contributions <?page no="25"?> JURKO PROCHASKO, Central Europe’s Borderless Horizons In this essay, the Ukrainian author reviews the numerous and hetero‐ geneous forms and manifestations of the concept of ‘Central Europe’ (Mitteleuropa) as an idea, myth and suggestive fantasy over the past forty years of his life. He surveys the development from Galician nostalgia to the political and pragmatic design of the affiliation of former Habsburg territories of today’s Ukraine, and on to the notion of Central Europe as stand-in, guarantor, signpost and roadmap in the EU integration process after the fall of the Soviet Union, thus as a normative ideal of the domestic and foreign policy development of an envisioned new Ukraine. It also recalls transnational proposals, such as the notion of Central Europe as a mediator between the increasingly alienated West and the increasingly neo-imperial ambitions of Russia, and it looks at internal European designs, which focused on alienation, radicalization or extremism within the new EU, or which saw the centre of Europe as a mediator between the Old and New Europe, and thus between the right and left extremes within Europe itself. After the Ukrainian emancipatory revolutions of the 2000s - which the author sees as a direct expression of ‘Central Europe’ and which were largely ignored by many European societies - and after the war unleashed by Russia against a Ukraine that had become Central European, the author tends to deterritorialize the concept of Central Europe: i.e, to see it only as a spiritual state freed from any local attributions. Accordingly, Central Europe can emerge wherever there are adherents to this view, and anyone who is willing to see Europe as their intellectual and political centre can become a Central European. English Abstracts of the Contributions 25 <?page no="27"?> I. Herrschaftsformen in Zentraleuropa <?page no="29"?> 1 Der Begriff ‚informal empire‘ wird häufig verwendet, um Formen imperialer Praktiken zu bezeichnen, die nicht an den Staat gebunden sind, sondern an denen Einzelpersonen, Organisationen oder Unternehmen beteiligt sind. So können Missionare, Entdecker, Bergbaugesellschaften, eine beliebige Anzahl von Akteuren imperial sein, ohne Teil eines Staates zu sein. Vgl. SAUER, Walter (2012): Habsburg Colonial. Austria-Hungary’s Role in European Overseas Expansion Reconsidered. In: Austrian Studies 20. S.-5-23. Endet das Imperium nach seinem Ende? Pieter M. Judson (EUI Fiesole) Die Arbeit von Kakanien revisited hat das Feld der Österreich-Studien weltweit verändert, indem das informelle Netzwerk eine Reihe kreativer neuer Fragestel‐ lungen und Ansätze in die historische und kulturwissenschaftliche Forschung zum habsburgischen Mitteleuropa einbrachte. Diese neuen Zugangsweisen hinterfragten viele im Fachgebiet vorherrschende Denkmuster und ließen die meisten von ihnen weit hinter sich. Sie überwanden die Grenzen zwischen den nationalen Schulen und internationalisierten die Erforschung jenes Raumes und seiner Zeit. So hielt Kakanien revisited unter anderem der Geschichte der Habsburger Monarchie in Zentraleuropa einen postkolonialen Spiegel vor und veröffentlichte einige der innovativsten Arbeiten zur Kultur und Geschichte dieses Reiches und seiner Hinterlassenschaften. Um letztere geht es auch mir. In diesem Sinne sollen sich die folgenden Über‐ legungen auf das seltsame Beharrungsvermögen des Imperiums konzentrieren, das sich über das gesamte Thema legt und von uns immer wieder verlangt, dass wir „Kakanien“ neu betrachten: War doch dieses Reich in vielerlei Hinsicht ein Ort, an dem wichtige kulturelle, politische, soziale und wirtschaftliche Praktiken des Imperiums florierten. Es war auch der Ort dessen, was ich als ‚kaiserliche Innovation‘ bezeichnen würde, sogar als radikale Innovation, trotz des scheinbar konservativen Charakters jenes Sozialgefüges. Die Bürger Kakaniens praktizierten auch verschiedene Formen des ‚informellen Imperiums‘ auf der ganzen Welt und in Südosteuropa. 1 Als die Monarchie Ende 1918 offiziell verschwand, wurden die Gebiete und Gesellschaften, über die es geherrscht hatte, zu Schauplätzen einer massiven <?page no="30"?> 2 Zwei alte, aber noch oft zitierte Beispiele sind SCHORSKE, Carl E. (1980): Fin de Siècle Vienna. Politics and Culture. New York: Knopf; JANIK, Allen / TOULMIN, Stephen (1973): Wittgenstein’s Vienna. London: Weidenfeld & Nicolson. 3 Dies fand seinen Höhepunkt beispielsweise in den Arbeiten Moritz Csákys und seiner Schüler. politischen und ideologischen Ablehnung des Imperiums und all dessen, was mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte. Für viele Historiker nach 1918 bedeutete dies, dass es auf den Müllhaufen der Irrelevanz oder seltsamen Kuriosität verbannt war und nur im Kontext der erfolgreichen Nationen, die es ersetzten, analysiert wurde. Es bedurfte mutiger Initiativen wie Kakanien revisited, um den Charakter und die Bedeutung der post/ imperialen Kulturen zu erforschen, die aufgrund jener historischen Ablehnung verloren gegangen waren oder einfach ignoriert wurden. Mehr als ein Jahrhundert später können wir im Rückblick sehen, dass diese Verdrängung des Imperiums und all dessen, wofür es angeblich stand, in vielerlei Hinsicht gescheitert ist. Trotz der lautstarken Behauptungen der politischen Ideologen und Historiker der Nachfolgestaaten haben das Reich und die mit ihm verbundenen Ideen überlebt und wurden für spätere Wissenschaftler sogar zu Verkörperungen oder Symbolen für entscheidende Elemente der Kulturen der Region. Dazu gehörte für viele Wissenschaftler die bekannte Vorstellung, dass Kakanien als ‚Laboratorium der Moderne‘ gedient hatte. 2 Für andere war es ein Ort, an dem sie genau die Art von kultureller Vermischung und Hybridität untersuchten, die die Wortführer des Nationalismus zu verbannen hofften. 3 Es war also klar, dass Kakanien revisited werden musste - und zwar mehrfach. Andererseits war die lautstarke Ablehnung des Kaiserreichs nach 1918 auf ihre Weise erfolgreich. So wurde die ethnische Nation - wenn auch nicht die Demokratie - zum unbestrittenen Maßstab für politische Staatlichkeit in der Region, von der Gründung der Nachfolgestaaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Zerfall Jugoslawiens und der Tschechoslowakei an dessen Ende. Natio‐ nalistische Ideologen taten alles in ihrer Macht Stehende, um die Geschichte der Habsburger Monarchie als untauglich und den Erfordernissen der historischen Epoche unangemessen neu zu erzählen. Sie tun dies auch heute noch. Ihre nachdrückliche Ablehnung des Imperiums und ihre Neuinterpretation dessen, was es gewesen war, machten 1918 zu einer unüberbrückbaren Lücke in der Geschichte. Das Imperium konnte vielleicht durch nostalgische Sehnsüchte als verlorene „Welt von gestern“ wiederentdeckt werden. Aber das Reich und seine Kulturen können und sollen nicht neu erschaffen werden. Die Welt von gestern wurde entschieden abgelehnt, denn sie hatte den Welten von heute und morgen 30 Pieter M. Judson <?page no="31"?> 4 HEALY, Maureen (2004): Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I. Cambridge, New York: Cambridge Univ. Press; KUČERA, Rudolf (2016): Rationed Life. Science, Everyday Life, and Working-Class Politics in the Bohemian Lands, 1914-1918. New York: Berghahn. wenig oder nichts zu sagen. Nach Ende Oktober oder Anfang November 1918 (bezeichnenderweise haben wir kein definitives Datum) gehörte das Empire plötzlich zu einer mythischen Welt, die endgültig geendet hatte. Diesem Mythos zufolge war die Welt für immer radikal verändert worden. Es sind die Historiker und vor allem Journalisten, die gerne diesen chrono‐ logischen Brüchen wie jenem von 1918 große Bedeutung beimessen. Diese Zäsuren helfen uns nämlich, die Dinge zu ordnen und Erzählungen zu erstellen, die leicht verständlich sind. Geschichte bedeutet Veränderung im Lauf der Zeit, und wir sagen gerne: „Nichts war mehr so, wie es einmal war.“ Aber wenn sich die Welt damals tatsächlich verändert zu haben schien, so hatte dies meiner Ansicht nach viel mehr mit den radikalen und radikalisierenden sozialen Veränderungen und dem Leid zu tun, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte - und nicht mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs. Im Vergleich zu der Herausforderung, Hunger, Krankheit und militärische Gewalt zu überleben, erscheint das letztgenannte Ereignis fast trivial - wie es den meisten Menschen, die all dies erlebt haben, vorgekommen sein muss. Selbst wenn man die tiefgreifenden Veränderungen der Lebensweise, der sozialen Organisation, der geschlechtsspezifischen Erwartungen oder des Verhältnisses zur Technologie berücksichtigt, die der Krieg mit sich brachte, 4 lebten die Menschen dennoch ihr Leben, überlebten von einem Tag auf den anderen, ohne einen deutlichen Bruch zu bemerken. Wie sich nun unschwer aus meinem Titel ersehen lässt, befasst sich dieser Aufsatz mit Fragen der Kontinuität. Hinzuzufügen wäre freilich, dass ich auch einige kritische Brüche hätte untersuchen können: Vor allem in drei Bereichen - Migration, Wirtschaft und Wissensproduktion - erlebte die Region tiefgreifende Diskontinuitäten, die auch die Lebensgestaltung der Menschen prägten. Tausende von Kilometern neuer Grenzen hinderten die Menschen daran, jene Art von Mobilität zu praktizieren, die innerhalb des Reiches möglich und einfach gewesen war. Die Pariser Vorortverträge von 1919 zerstörten die größte Freihandelszone Europas. Die Handelshemmnisse führten nicht nur zu einer kostspieligen Neuausrichtung von Unternehmen und Infrastrukturen (wie z. B. Eisenbahnen), sondern zerstörten auch die Lebensgrundlage derjenigen, denen der Zugang zu den gewohnten Märkten oder Ressourcen verwehrt wurde - und dies waren nicht die Großindustriellen und Hersteller. Diesen ging es trotz der neuen Grenzen bemerkenswert gut, wie die jüngste Studie von Máté Endet das Imperium nach seinem Ende? 31 <?page no="32"?> 5 RIGÓ, Máté (2023): Capitalism in Chaos. How the Business Elites of Europe Prospered in the Era of the Great War. Ithaca NY: Cornell Univ. Press 2023; ZAHRA, Tara (2023): Against the World. Anti-Globalism and Mass Politics Between the Wars. New York: W.W. Norton. S.-105-108. 6 SURMAN, Jan (2018): Universities in Imperial Austria 1848-1918. A Social History of a Multilingual Space. West Lafayette: Purdue Univ. Press; COEN, Deborah (2006): Scaling Down. The ‚Austrian‘ Climate Between Empire and Republic. In: Dies. / FLEMMING, James R. / JANKOVICH, Vladimir (Ed.): Intimate Universality. Local and Global Themes in the History of Weather and Climate. New York: Science History Publ. Rigó zeigt: Kleinere Unternehmen jedoch, Händler, Handwerker, Hausierer, wenn sie sich bis hierher hatten durchschlagen können, waren jetzt definitiv in ihrer Existenz bedroht. 5 Weiters setzte auch, was die Wissensproduktion und -zirkulation anlangte, das Ende des Kaiserreichs den Trend zur Nationalisierung des Wissens an den regionalen Universitäten fort und verschloss die traditio‐ nell interregionalen Wege der Forschung und Bildung. 6 Diese Brüche waren eindeutig signifikant. Doch während diese bedeutenden Zäsuren die Menschen von ihren früheren Nachbarn, Märkten und Schulen trennten, sind es nicht sie, die uns von der imperialen Vergangenheit trennen. Wenn es um unsere Entfremdung davon geht, sollten wir stattdessen unseren Blick auf die kulturelle und politische Normalisierung der Nationalität in jedem Aspekt unseres Lebens und unserer Wissenschaft richten - was erfordert, dass wir das Imperium als eine grundle‐ gend andere und verlorene Welt betrachten. Doch wenn dies wirklich der Fall wäre, warum sind uns dann so viele Elemente Kakaniens dennoch so vertraut in Familiengeschichten und Traditionen, dass sie kaum wieder aufgegriffen werden müssen? Hat uns Kakanien jemals wirklich verlassen? Ich bin freilich ein Historiker, der sich mit Menschen, Gesellschaften und ihrer Politik befasst, und weniger ein Kulturwissenschaftler. Aber da es in Kakanien revisited vor allem um Kultur im weitesten Sinne geht, sei meine Diskussion über das Fortbestehen des Imperiums und seine Bedeutungen mit Zitaten aus einer Kurzgeschichte von Joseph Roth begonnen. Es handelt sich um eine sehr bekannte Erzählung, die 1935 zunächst auf Französisch und erst danach auf Deutsch veröffentlicht wurde. Sie ist fast so etwas wie ein nostalgisches Klischee geworden, denn sie drückt auf berühmte Weise Roths Ansichten über das Überleben des Habsburger Reiches nach 1918 in mentaler, psychologischer, emotionaler und, ja, auch in kultureller Hinsicht aus. Sie formuliert auch Roths ablehnende Meinung über die gesellschaftlichen Kräfte, die das Imperium untergraben und später ersetzt haben. So könnte man diese Geschichte als eine Allegorie dessen lesen, was verloren gegangen ist und nie mehr zurückgewonnen werden kann. Ich ziehe es jedoch vor, sie als eine 32 Pieter M. Judson <?page no="33"?> 7 ROTH, Joseph (1976): Die Büste des Kaisers. In: Ders.: Werke. 4 Bde., hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bd. III, S.-172-192, zit. S.-172. 8 Ebd. S.-185. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. S.-185f. 12 Ebd. S.-186. Geschichte der Kontinuität zu lesen, über die kleinen Siege der Verlierer, eher von unten als von oben gesehen. Es ist, wie unschwer zu erraten war, Die Büste des Kaisers (1935), deren Schauplatz ein kleines Dorf im habsburgischen Galizien ist, das nach dem Ersten Weltkrieg „zur [zweiten] polnischen Republik gehört[e]“. 7 Roth hat viel über die Konturen dieser angeblich ,post-imperialen‘ Welt zu sagen. Seine Ansichten bejahen und hinterfragen zugleich das Ende des Imperiums. Er tut dies, indem er sich darauf konzentriert, wie die Menschen in der traditionellen Dorfgemein‐ schaft den weltgeschichtlichen Wandel vom Imperium zum Nationalstaat im Jahr 1918 erlebten. Roth argumentiert, es sei „einer der größten Irrtümer der neuen - oder wie sie sich gerne nennen: modernen - Staatsmänner, daß das Volk (die ‚Nation‘) sich ebenso leidenschaftlich für die Weltpolitik interessiert wie sie selber“. 8 „Das Volk“, erklärt er, „lebt keineswegs von der Weltpolitik - und unterscheidet sich dadurch angenehm von den Politikern. Das Volk lebt von der Erde, die es bebaut, vom Handel, den es treibt, vom Handwerk, das es versteht.“ 9 Roth räumt ein, dass das Volk „trotzdem bei den öffentlichen Wahlen abstimmt, es stirbt in den Kriegen, es zahlt Steuern den Finanzämtern“. 10 Aber er argumentiert auch, das Ende des Reiches und die anschließende Schaffung neuer Nachfolgestaaten hätten die Gesinnung des Volkes […] nicht verändert. Der gesunde Menschenverstand der jüdischen Schankwirte, der ruthenischen und der polnischen Bauern wehre sich gegen die unbegreiflichen Launen der Weltgeschichte. Ihre Launen sind abstrakt: die Neigungen und Abneigungen des Volkes aber sind konkret. 11 Für Roth sind ‚nationale Gemeinschaften‘ also fremde Abstraktionen, „Launen der Weltgeschichte“, die für das tägliche Leben wenig Bedeutung haben: Nachdem sie Zeitungen gelesen, Reden gehört, Abgeordnete gewählt, selber mit Freunden die Vorgänge in der Welt besprochen haben, kehren die braven Bauern, Handwerker und Kaufleute - und in den großen Städten auch die Arbeiter - in ihre Häuser und Werkstätten zurück. 12 Endet das Imperium nach seinem Ende? 33 <?page no="34"?> 13 ZAHRA, Tara (2010): Imagined Non-Communities. National Indifference as a Category of Analysis. In: Slavic Review 69. H. 1. S.-93-119. Vielleicht nimmt Roth hier Tara Zahras Konzept der „nationalen Gleichgültig‐ keit“ um fast ein Jahrhundert vorweg und untergräbt den Glauben, dass diese neue Welt das Produkt von Selbstbestimmung oder Demokratie ist. 13 Wenn sie das Produkt der Selbstbestimmung ist, dann sind es die Politiker und Aktivisten, die hier das „Selbst“ konstituieren, nicht jedoch die Individuen, die die Gesellschaft ausmachen. Meines Erachtens schwelgt Roth hier nicht in einer Art konservativer Nost‐ algie, so sehr dies auch der Fall zu sein scheint. Die Juden, Ukrainer und Polen, die das Dorf bevölkern, behandeln einander in dieser Geschichte mit einer Art gewohntem - oder üblichem - Respekt. Das liegt nicht so sehr an einer konservativen Ehrerbietung gegenüber der Obrigkeit - auch wenn diese vorhanden ist -, sondern vielmehr daran, dass sie es einfach gewohnt sind, im normalen Kontext des täglichen Lebens in einem Reich Seite an Seite zu leben. Diese gemeinsame Erfahrung des Zusammenlebens führt aber nicht unbedingt dazu, dass Konflikte aus der Geschichte verschwinden. Roths Kakanien ist keine friedliche Idylle der menschlichen Verständigung, und gewiss gibt es in seinem Werk reichlich Kritik am verlorenen Imperium. Nichtsdestotrotz entlarvt der galizische Autor in seiner vernichtenden Beschreibung der Welt nach 1918 auch geschickt die totalisierende, nationalisierende und nationalistische Welt, die von den Politikern der Nachfolgestaaten, die das Kaiserreich ablösten, geschaffen wurde. Roths Bild der Menschen und ihres ambivalenten Verhältnisses zur ihrer plötzlichen Nationalität ist meines Erachtens auch ein hochpolitisches. Seine Beobachtung, dass die Menschen in ihre Häuser und an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, mag eine Art unpolitische Resignation suggerieren. Ich denke jedoch, dass diese Schilderung die wachsende Kluft zwischen den neuen Macht‐ habern und den Menschen, die sie regieren, deutlich macht. Deren scheinbare Resignation gegenüber der offiziellen Politik könnte auch bedeuten, dass sie die Art und Weise ablehnen, in der die neuen Regime versuchen, ihre Loyalität für eine abstrakte Logik der Nationalität zu mobilisieren. Die Menschen in dieser Geschichte sind zu menschlich, um zuzulassen, dass Abstraktionen ihr Leben beherrschen, und sie lehnen sie ab. Wir alle wissen, dass die Nationalisten aktive Proselyten schaffen wollen, wahre Gläubige, deren Nationalismus jede ihrer Handlungen und Lebensent‐ scheidungen bestimmt, vom Einkaufen bis zur Heirat. Passive oder gleichgültige Nationalisten nützen solchen Politikern nicht viel, wie sie selbst als erste 34 Pieter M. Judson <?page no="35"?> 14 ZAHRA (2010); vgl. JUDSON, Pieter M. (2016): Nationalism and Indifference. In: FEICHTINGER, Johannes / UHL, Heidemarie (Hg.): Habsburg Neu Denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte. Wien: Böhlau. S. 148-55. Der Begriff der „nationalen Indifferenz“ oder „Gleichgültigkeit“ wurde übrigens im späten 19. Jahrhundert von den Nationalisten in Böhmen selbst erfunden. 15 MASARYK, Thomas Garrigue (1941): The Problem of Small Nations and States. In: MUZNER, Zdenka & Jan (Hg.): We Were and We Shall Be. The Czechoslovak Spirit Through the Centuries. New York: Unger. S.-153. zugeben mussten: Das Schlimmste, was man einem Nationalisten antun kann, ist, ihn passiv zu ignorieren. Roth erklärt nun jene nationalistischen Politiker und lokalen Aktivisten - für die die Abstraktion der Nation wichtiger ist als die menschlichen Beziehungen im täglichen Leben - zu sozialen Versagern. Natio‐ nalisten werden zu krassen Opportunisten, die ihr Heil außerhalb der humanen Welt der sozialen Beziehungen suchen. Auf der anderen Seite der Medaille stehen die Menschen, die sich weigern, für die Nation mobilisiert zu werden. Zahras Konzept der nationalen Gleichgültigkeit 14 bedeutet keine Ablehnung der Politik, sondern vielmehr eine geschickte Anpassung an die wechselnden politi‐ schen Anforderungen der Politiker und ihrer Nationalstaaten. Diese Indifferenz, so Zahra, sei keine passiv traditionalistische Reaktion auf die Anforderungen der modernen Gesellschaft, sondern vielmehr eine sorgfältig durchdachte und recht moderne Strategie, um den durch diese Anforderungen auferlegten Zwängen zu entkommen. Indem sie Wege finden, sich nicht an den hohlen Ritualen der nationalistischen Politik der Nachkriegszeit zu beteiligen, reagieren die Menschen politisch auf die Anforderungen dieser neuen Welt. Roth nähert sich dem nation-building gewissermaßen von unten nach oben. Die meisten Leute haben es jedoch von oben nach unten betrachtet, aus der Perspektive von Politikern und Ideologen: Ende 1918 schrieb etwa Tomáš Ma‐ saryk mit Begeisterung, das Zeitalter der Reiche sei nun vorbei und Demokratie und Nation würden an die Stelle der strengen Autorität und der materiellen Gewalt des alten Regimes treten. 15 Er und andere Nachkriegspolitiker - vor allem in den neuen Nachfolgestaaten Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien - behaupteten oft, dass es nationale Revolutionen gewesen seien, die das Kaiserreich beendet hätten. Für sie stellte das Kaiserreich das Gegenteil von Demokratie und Nationalität dar; nationale Revolutionen versprachen ein neues goldenes Zeitalter des Wohlstands und der Demokratie. Der Laibacher Historiker Rok Stergar zitiert etwa einen typisch slowenischen Zeitungsartikel aus dem Oktober 1918, verfasst von Ivan Hribar, einem Lokalpolitiker. Darin verspricht dieser ehemalige nationalistische Bürgermeister von Ljubljana nicht nur eine vage Freiheit und Unabhängigkeit im neuen Jugoslawien, sondern vor allem reichlich Nahrung, einen Reichtum an natürlichen Ressourcen und Endet das Imperium nach seinem Ende? 35 <?page no="36"?> 16 STERGAR, Rok (2024): ‘Yugoslavia is worthless … You can get neither sugar nor kerosene.‘ Food Supply and the Legitimacy of the new Yugoslav State. In: Austrian History Yearbook 55. S.-1. 17 MORELON, Claire (2023): Streetscapes of War and Revolution. Prague 1914-1920. Cam‐ bridge: Cambridge Univ. Press. 18 STERGAR (2024). S.-10. 19 Ebd. S.-14. eine bedachtsame Verwaltung. 16 Denn natürlich waren Lebensmittel und eine bürgernahe Verwaltung genau das, was unter der grausamen Militärdiktatur, die Österreich-Ungarn während des größten Teils des Krieges beherrschte, gefehlt hatte. Doch trotz dieser utopischen Verheißung von Politikern, die ihre neuen Staaten legitimieren wollten, brachten die Bedingungen in den Nachfolge‐ staaten für die meisten Menschen keine Veränderung oder auch nur eine leichte Verbesserung - ja, jene Versprechen klangen in den Ohren der von mehr als vier Jahren totalem Krieg erschöpften Bevölkerung oft zunehmend hohl. Da sich die alltäglichen Lebensbedingungen in den Ländern des ehemaligen Kaiserreichs in den ersten Nachkriegsjahren kaum änderten, stellte diese Kontinuität oft die Legitimität der neuen Staaten in Frage, wie einige aufschlussreiche Beispiele zeigen. Wie Claire Morelon in Bezug auf Prag und Böhmen darlegt, konnte die Kluft, die sich in den Kriegsjahren zwischen Staat und Gesellschaft des Kaiser‐ reichs aufgetan hatte, von den Nachfolgestaaten kaum überwunden werden. 17 Die Begeisterung für eine nationale Revolution sorgte weder für Nahrung noch für Treibstoff, noch für eine Linderung der weltweiten Grippe-Pandemie. Wie Stergar berichtet, musste die Polizei am ersten Jahrestag der nationalen Revolution in Ljubljana Plakate entfernen, auf denen zu lesen war: „Heute, am Jahrestag, gibt es kein Mehl, kein Weißbrot und keine Kartoffeln, keine Bohnen! Wir sind nackt und barfüßig! Auf die Barrikaden! “ 18 Im Dezember 1920, zwei Jahre nach den angeblichen Umwälzungen durch die nationale Revolution, berichtete wiederum ein Bezirkshauptmann in Maribor (Marburg/ D.), dass „die schlechte wirtschaftliche Lage alle intensive Arbeit [der Regierung] zunichte macht“. „Jugoslawien ist schuld! “ war hier ein beliebter Ausruf. 19 Im Jahr 1918 behaupteten nationalistische Politiker, eine neue Welt ge‐ schaffen zu haben. Doch unter den hohlen Slogans der nationalen Selbstbestim‐ mung setzten sich im täglichen Leben die Kontinuitäten aus dem Kaiserreich fort, die häufig die Bemühungen überschatteten, etwas Neues zu schaffen. Dieses Scheitern lag nicht unbedingt an der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Treibstoff, denn bis Mitte der 1920er-Jahre waren zumindest diese Fragen weitgehend geklärt. Aber da waren noch die institutionellen Kontinuitäten: 36 Pieter M. Judson <?page no="37"?> 20 Vgl. https: / / 1918local.eu/ nepostrans und https: / / www.unlikely-refuge.eu. 21 EGRY, Gábor (2019): Negotiating Postimperial Transitions. Local Societies and Natio‐ nalizing States in East Central Europe. In: MILLER, Paul / MORELON, Claire (Hg.): Embers of Empire. Continuity and Rupture in the Habsburg Successor States After 1918. New York: Berghahn. Gesetzbücher, Verwaltungen, Regierungspersonal, der Militärdienst - vieles davon wurde vollständig und unverändert aus dem Reich in die neuen Staaten übernommen. Bis vor kurzem neigten die Historiker dazu, diese Kontinuitäten als unbedeutende, vorübergehende Phänomene zu behandeln, die schließlich umgestaltet wurden, als die Nationalstaaten ihre eigenen Verfassungen und neuen Gesetzbücher entwickelten. Doch neuere Arbeiten von Historikern aus der Region - wie die Arbeiten von Gábor Egrys ERC-Projekt „Nepostrans“ (Ne‐ gotiating Post-imperial Transitions) oder Michal Frankls Projekt Unlikely Refuge? On Refugees and Citizens in East-Central Europe in the 20th Century - zeigt, dass seltsame und unerwartete institutionelle Kontinuitäten die Welten des Kaiserreichs und des Nationalstaats während der gesamten Zwischenkriegszeit miteinander verbanden. 20 Historiker wie Egry enthüllen nicht nur die Art und Weise, wie die Menschen vor Ort die Zeit nach 1918 erlebt und gesehen haben. Während der November 1918 für die Politiker eine ‚Stunde Null‘ in der Weltgeschichte darstellte, wurde diese Bedeutung von vielen Menschen, die ums Überleben kämpften, oft gar nicht wahrgenommen. Doch Egry zeigt auch weitere komplexe Aspekte dieser uneingestandenen Kontinuitäten auf. Einige davon haben mit der Schaffung und Aufrechterhaltung von lokaler Ordnung und Stabilität zu tun, denn die Stabilität erforderte oft unausgesprochene Kompromisse mit früheren Eliten. 21 Andere Kontinuitäten hatten mit der Komplizenschaft der nationalistischen Politiker selbst zu tun: Viele der Männer, die die neuen Staaten ausriefen, hatten natürlich als Regional- oder Parlamentspolitiker im alten Reich gedient und waren so mit dessen Institutionen und Verwaltungsformen bestens vertraut. Einige von ihnen hatten sogar aktiv eigene Machtzentren innerhalb des Groß‐ reichs aufgebaut. Nach 1918 waren sie nicht unbedingt bereit, ihre Macht den radikaleren Männern und Frauen zu überlassen, die diese Institutionen gänzlich zerstören wollten. Stattdessen bewahrten jene althergebrachten Politiker ihre institutionelle Macht, indem sie diese in die Institutionen und Praktiken der von ihnen gegründeten neuen Staaten übertrugen. Ein bekanntes wie offensichtliches Beispiel für diese Art von Machtkontinu‐ ität war das erste allgemeine Gesetz, das vom tschechischen Nationalausschuss in Prag erlassen wurde. Darin hieß es: „Alle bisherigen provinziellen und kaiserlichen Gesetze und Verordnungen bleiben bis auf Weiteres in Kraft.“ Wie Endet das Imperium nach seinem Ende? 37 <?page no="38"?> 22 Beides zit. nach COHEN, Gary B. (2007): Nationalist Politics and the Dynamics of State and Civil Society in the Habsburg Monarchy. In: Central European History 40. H 2, S. 278. 23 JUDSON, Pieter M. (2017): Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740-1918. Übers. von Michael Müller. München: C.H. Beck. S.-534f. der tschechische Nationalistenführer Alois Rašín später erklärte, bestand ein Zweck dieses Erlasses darin, die Ordnung gegen die mögliche Anarchie der Revolution aufrechtzuerhalten. Ein anderer Zweck war jedoch, „dass unsere gesamte Staatsverwaltung so bleibt und weiterläuft […], als ob es überhaupt keine Revolution gegeben hätte“. 22 Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, 23 zeigt diese Aussage, wie sehr die tschechischen Nationalisten eigentlich die böhmische Verwaltung des Reiches als ihre eigene Kreation betrachteten: Es handelte sich nicht um eine fremde Verwaltung, die einem unwilligen Volk mit Gewalt aufgezwungen worden war, sondern sie war zu einem großen Teil eine Schöpfung der Nation. Das böhmische Beispiel mag extrem sein, aber es illustriert die Haltung vieler Nationalisten, die lange Zeit regionale Macht im Reich ausgeübt hatten. Hier wird besonders deutlich, wie das Kaiserreich selbst jene Nationen hervor‐ gebracht hatte, die später an seine Stelle treten sollten. Es scheint also, dass das Kaiserreich der Nationalität nicht ganz so feindlich gesinnt war, wie die Nationalisten nach 1918 gerne behaupteten. Dieser Punkt bezieht sich auf ein weiteres Problem der Ungleichmäßigkeit und Asymmetrie (im Gegensatz zur Homogenität) in den Nachfolgestaaten. Und er bezieht sich auf eine Art von Kolonialismus in Haltung und Recht, der in mehreren Teilen des alten Reiches, insbesondere in Ungarn, erkennbar war: Wie Ungarn unterschieden sich auch die Nachfolgestaaten dadurch von Cisleithanien, dass sie sich jeweils um eine oder mehrere Hauptnation/ en herum organisierten. Die Gesetze und Verwaltung in jedem Nachfolgestaat privilegierten die Mitglieder der herrschenden Nationen und benachteiligten diejenigen, die nicht dazugehören wollten (nationale Minderheiten) oder oft auch nicht konnten ( Juden, Roma). Der Unterschied zum Kaiserreich bestand nun darin, dass die Fragen der nationalen Zugehörigkeit, Zuschreibung und Unterschiede in der Verwaltungspraxis wie im Recht kodifiziert wurden. Das Gesetz - und nicht etwa persönliche Präferenzen - wies den Menschen eine Nationalität auf der Grundlage angeblich objektiver, von außen bestimmter Merkmale zu. Dies war vielleicht der bedeutendste Sieg der Nationalisten in der Welt nach 1918. Ironischerweise konnten sich diese nationalistischen Formen des Quasi- Kolonialismus auch gegen Angehörige der sogenannten herrschenden Nationen in den neu erworbenen Gebieten richten, was oft geschah. In „Großrumänien“ 38 Pieter M. Judson <?page no="39"?> 24 LIVEZEANU, Irina (1995): Cultural Politics in Greater Romania. Ithaca: Cornell Univ. Press. S.-155-166. 25 PERGHER, Roberta (2012): Staging the Nation in Fascist Italy’s ‚New Provinces‘. In: Austrian History Yearbook 43. S.-98-115. 26 HOLUBEC, Stanislav (2020): New State Borders and (dis)loyalties to Czechoslovakia in Subcarpathian Rus, 1919-1925. In: European Review of History / Revue européenne d’histoire 27. H. 6, S.-732-762. 27 CIANCIA, Kathryn (2021): On Civilization’s Edge. A Polish Borderland in the Interwar World. New York: Oxford Univ. Press. 28 Vgl. GREBLE, Emily (2021): Muslims and the Making of Modern Europe. Oxford: Oxford Univ. Press. (oder dem „Rumänischen Reich“, wie ich es lieber nenne), insbesondere in Siebenbürgen, ärgerten sich die örtlichen rumänischen Nationalisten über die Macht, die den rumänischen Verwaltern eingeräumt wurde, die aus dem Regat kamen, um die Region 1919 von Ungarn zu übernehmen. 24 Im Trentino hielt der italienische Staat die lokalen italienischen Nationalisten für weniger vertrauenswürdig für Verwaltungspositionen und beraubte sie der Macht, die sie nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs ausüben wollten. 25 In der Slowakei ärgerten sich viele Nationalisten über die Art und Weise, wie die tschechischen Verwaltungsbeamten sie behandelten, obwohl die Slowaken einen Teil der Staatsnation darstellten. 26 Apropos Kolonisierung: Die Tschechoslowakei erhielt ihre eigene europäi‐ sche Kolonie im subkarpatischen Rus. In einer vielleicht ironisch zu nennenden Wendung der Ereignisse reproduzierte die Tschechoslowakei damit die an‐ gebliche zivilisatorische Mission, die Österreich-Ungarns Herrschaft über die ehemals osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina so oft gerechtfertigt hatte. Polen war enttäuscht, dass die Großmächte ihm nicht das Recht zuge‐ stehen wollten, einige der ehemaligen deutschen Überseekolonien zu verwalten; aber es hatte sein eigenes koloniales Projekt vor Augen, als es versuchte, die angeblich unzivilisierten Völker Ostgaliziens und der Kresy zu kolonisieren. 27 Im südslawischen SHS-Königreich kam es nicht nur zu Konflikten zwischen kroatischen Politikern und ihren zentralistischen serbischen Amtskollegen, sondern es wurden auch Gruppen wie Muslime, Ungarn, Mazedonier, Albaner, Deutsche und Roma selbst zum Ziel neuer Kolonisierungsbemühungen. 28 Dies bringt uns zum Kern der Sache: Wenn wir nämlich den älteren Begriff des Imperiums als per definitionem antinational und undemokratisch ablehnen und eine aktuellere Begriffsbestimmung annehmen, die dieses als Staat bzw. Gesellschaft sieht, die um Differenz und Hierarchie (Asymmetrie und Ungleich‐ heit) herum organisiert sind - was sollen wir dann von den Nachfolgestaaten halten? In welcher Hinsicht waren sie anders? Haben sie sich von imperialen Endet das Imperium nach seinem Ende? 39 <?page no="40"?> 29 ZAHRA, Tara (2008): The ‚Minority Problem‘ and National Classification in the French and Czechoslovak Borderlands. In: Contemporary European History 17. H. 2, S. 137-165. Praktiken abgewandt? Ihre eigene Propaganda definierte sie als Nationalstaaten, als den demokratisch politischen Ausdruck nationaler Gemeinschaften. In einem abstrakten oder ideellen Sinne waren ihre Bevölkerungen kulturell homogen. Polen war der Staat der Polen, Rumänien der Staat der Rumänen, Italien der Staat der Italiener, Jugoslawien der Staat der Südslawen usw. Aber in Wirklichkeit hat keiner von ihnen jene Art von nationaler Homogenität verwirklicht, die in ihren Behauptungen zum Ausdruck kommt. Was sollten diese Staaten tun? Wie sollten sie systematisch mit Unterschieden umgehen, wenn ihre eigene Existenz die Möglichkeit dieser Unterschiede ausschloss? Selbst die Schaffung von Minderheitenrechten, die international durchgesetzt werden sollten, widersprach in keinster Weise der grundlegenden Annahme der nationalen Einheit, die der Gründung oder territorialen Vergrößerung der Nachfolgestaaten zugrunde lag. Im Gegenteil: Die meisten Gesellschaften in den Nachfolgestaaten betrachteten von außen durchgesetzte Minderheitenrechte als eine Verletzung ihrer nationalen Souveränität. In Rumänien zum Beispiel führte die Zustimmung der Regierung zu einem derartigen Vertrag zu gewalttätigen Ausschreitungen und Protesten. Die Tatsache, dass Minderheitenrechte im Osten garantiert werden sollten, im Westen jedoch nicht, machte das neue System nur noch mehr zum Ärgernis. 29 Diskussionen über Minderheitenrechte erinnerten die Nationalisten lediglich an den Makel, die solche Minderheiten dem abstrakten Volkskörper zufügten. Dies wurde sofort zu einem Problem, das irgendwie gelöst werden musste, da es der eigentlichen Logik des Nationalstaates widersprach. Warum sonst hätte die internationale Gemeinschaft den barbarischen, aber euphemistisch als „Bevölkerungsaustausch“ bezeichneten Vertrag von Lausanne (1923) zwi‐ schen Griechenland und der Türkei gebilligt? Warum sonst hätten die meisten Nachfolgestaaten zunächst versucht, die Minderheitenbevölkerung zu nationa‐ lisieren, wo sie nur konnten? Als dies nicht gelang, wandten sie andere Strate‐ gien an, die später in Vertreibungen, wie sie in Lausanne rechtens geworden waren, gipfelten. Diese abstrakte Forderung nach nationaler Homogenität - eine Forderung, die eine einzige Nationalkultur imaginierte - trennte die Nachfolge‐ staaten in der Tat vom Kaiserreich - obwohl genau diese Logik der Nationalität innerhalb des Kaiserreichs entwickelt worden war. Man könnte argumentieren, dass das rechtliche, administrative und institutionelle Beharren auf der Natio‐ nalität sogar die sozialen Konflikte im täglichen Leben verschärfte und die extreme politische Gewalt im Europa des 20.-Jahrhunderts hervorbrachte. 40 Pieter M. Judson <?page no="41"?> 30 Im Jahr 2006 untersuchte ich die gängigen Definitionen von Imperien und kam zu dem Schluss, dass keine von ihnen für Österreich-Ungarn passen. Heute bin ich der Meinung, dass die Kategorie des Imperiums selbst zu sehr von den Ideologien seines angeblichen Gegenteils, des Nationalstaats, bestimmt ist, um von großem Nutzen sein zu können. Vgl. JUDSON, Pieter M. (2008): L’Autriche-Hongrie - était-elle un Empire? In: Annales. Histoire, Sciences Sociales 63. H. 3, S.-563-596. Aber, um auf die vorhin gestellte Frage zurückzukommen: Wie sollen wir über diese Nachfolgestaaten denken, die so eindeutig einen imperialen Charakter hatten? Sollten wir sie weiterhin vollständig von dem Imperium unterscheiden, das sie hervorgebracht hat? Die Antwort auf diese Frage wird die Art und Weise prägen, wie wir Begriffe wie ‚postimperial‘ oder ‚postkolonial‘ in einem mitteleuropäischen Kontext verwenden. Natürlich haben der Zusammenbruch des Imperiums oder offizielle Dekolonisationen die imperialen Praktiken und Einstellungen in der Welt des 20. Jahrhunderts nicht unbedingt beendet oder gar verändert. ‚Postimperial‘ und ‚postkolonial‘ beziehen sich letztlich auf politische und kulturelle Dynamiken, in denen das imperiale Erbe weiterhin eine wichtige Rolle spielt, allerdings oft mit neuen Akteuren. Zu diesem späten Zeitpunkt muss ich zugeben, dass ich meine eigene Frage vielleicht beantworten könnte, wenn ich eine angemessene Bestimmung des Begriffs ‚Imperium‘ anbieten könnte. Aber ich glaube nicht, dass irgendeine der uns zur Verfügung stehenden Definitionen sinnvoll auf die breite Palette von Staatsformen anwendbar ist, die man im Europa des frühen 20. Jahrhunderts als Imperium bezeichnen könnte. 30 Ich denke eher, dass wir bestenfalls von imperialen, kolonialen oder nationalstaatlichen Praktiken sprechen können und sollten. Wenn wir dies tun, müssen wir jedoch anerkennen, dass ein breites Spektrum von Staaten an jeder dieser Praktiken beteiligt sein kann. In diesem engeren Sinne spezifischer Praktiken können Begriffe wie ‚imperial‘ oder ‚national‘ von analytischem Nutzen sein, da sie unsere Aufmerksamkeit eher auf praktische Kategorien als auf ideologische Ansprüche lenken. Aber für sich genommen bleiben die Begriffe ‚Imperium‘ bzw. ‚Nationalstaat‘ eher Behauptungen als real wahrnehmbare Dinge in der Welt. Ungeachtet dessen, wie sie sich selbst nennen wollen, oder wie sie von ihren Führern, Bürgern, Untertanen oder Feinden genannt werden, ist ihnen im Grunde ihre staatliche Wirklichkeit gemeinsam, nicht aber ihre Kategorisierung. Mein Argument mag seltsam erscheinen, wenn man bedenkt, wie sehr sich die abstrakten Begriffe ‚Imperium‘ und ‚Nationalstaat‘ im akademischen und populären Diskurs des 20. Jahrhunderts als Gegensätze definiert haben. Überall auf der Welt bezeichneten Imperien Regimes, die auf sozialen, kulturellen und politischen Asymmetrien und Hierarchien beruhten. Sie galten als Anachro‐ Endet das Imperium nach seinem Ende? 41 <?page no="42"?> nismus, der durch Nationalstaaten ersetzt werden sollte, die die Asymmetrien beseitigen und eine universelle Gleichheit ihrer Bürger ermöglichen - oder aufzwingen - würden. Der Nationalstaat sollte für das Volk (d. h. für die nationale Gemeinschaft) da sein. Mehr als ein Jahrhundert lang verknüpften nationalistische Aktivisten ihre Staaten selbstbewusst mit Werten wie Gleich‐ heit, Fortschritt und Modernität. Gleichzeitig betrachteten sie Imperien als multinationale und hierarchisch geordnete Staaten, die historisch gesehen dem Untergang geweiht waren. Sollten wir, die wir das 19. und 20. Jahrhundert erforschen, unsere Arbeit aber weiterhin um eine begriffliche Dichotomie herum organisieren, die möglicherweise von so geringem Nutzen ist? * Abschließend möchte ich auf einige Fragen eingehen, die Putins Einmarsch in der restlichen Ukraine im Februar 2022 aufgeworfen hat: Während die Welt zusah, erlebten die Ukrainer täglich brutale imperiale Praktiken in der Region. Das ist ein entscheidender Beweis dafür, dass wir immer noch in einem Zeitalter des Imperiums leben, auch wenn dieses oft nicht wie Kakanien aussieht. In unserem imperialen Zeitalter sind es - ironischerweise? - gerade nationalisti‐ sche Argumente, die die Rechtfertigungen für imperiale Expansion dominieren. Putin rechtfertigt seinen Angriff auf einen Nachbarstaat mit Argumenten, die vor allem dessen historische Nationalität leugnen. Und leider interpretieren auch einige Putin-Kritiker außerhalb der Region diesen Krieg als das Ergebnis tiefer nationaler oder sogar zivilisatorischer Differenzen, die außerhalb der Geschichte liegen. An diese Kritiker richte ich die Frage: Reicht es denn nicht aus, dass der Krieg ein Produkt der grausamen Aggression eines Staates gegen einen anderen ist? Putins nationalistische Rechtfertigungsversuche für seinen imperialen Krieg sind indes voller logischer Widersprüche, was für die meisten nationalistischen Argumente typisch ist. Einerseits argumentiert er, dass eine ukrainische Nation getrennt von einer russischen Nation nicht existiert. Auf der anderen Seite begehen ukrainische Nationalisten (oder ‚Nazis‘) einen Völkermord an ihren russischen Nachbarn. Alle diese Argumente berufen sich auf die Geschichte als Richter - und schon aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir Wissen‐ schaftler darauf hinweisen, wie imperiale Praktiken heute mit spezifisch natio‐ nalistischen Argumenten gerechtfertigt werden. Als Österreich, Russland und Preußen im späten 18. Jahrhundert Polen aufteilten, führten sie viele Argumente an, um ihre Handlungen zu rechtfertigen (die meisten davon hatten mit einer angeblich herrschenden Unordnung zu tun), aber nationalistische Argumente 42 Pieter M. Judson <?page no="43"?> 31 Vgl. BERGER, Stefan / MILLER, Alexei (Hg.) (2015): Nationalizing Empires. Budapest: CEU Press. 32 JUDSON, Pieter M. (2022): Is Nationalism the New Imperialism? In: American Historical Review History Lab: Rethinking Nationalism (March 2022). S.-336-341. waren nicht darunter. Der Nationalismus ist in der Tat der neue Imperialismus, und dies nicht nur in Russlands Invasion der Ukraine. Wie die jugoslawischen Kriege der 1990er-Jahre zeigt auch dieser jüngste europäische Konflikt die Unfähigkeit, mit Begriffen wie ‚Imperium‘ oder ‚Na‐ tion‘ die Geschichte der letzten zweihundert Jahre sinnvoll zu analysieren. Ich vertrete seit langem die Auffassung, dass im 20. Jahrhundert alle selbster‐ nannten Nationalstaaten in Europa imperiale Praktiken ausübten, auch wenn sie versuchten, dies unsichtbar zu machen oder als normal erscheinen zu lassen. Andere Historiker prägten dafür den Begriff „nationale Imperien“, um diese Staaten und ihre Praktiken zu beschreiben. 31 Wenn wir jedoch diesen Terminus verwenden, warum machen wir uns dann überhaupt noch die Mühe, zwischen Imperium und Nation zu unterscheiden? Es ist eine Besonderheit von Kakanien revisited, diese Fragen aufgeworfen zu haben, ohne sich dabei auf den nutzlosen Gegensatz von Nation und Imperium zu stützen, um den herum ich meinen Vortrag aufgebaut habe. Ein transnationales Kakanien ist immer noch sehr präsent, aber vielleicht würden seine offensichtlichen inneren Widersprüche mehr Sinn ergeben, wenn wir uns von der Vorstellung lösen würden, dass sich Ende 1918 plötzlich alles geändert hat. Wir würden auch davon profitieren, wenn die heutigen nationalstaatlichen Geschichtsschreiber die Rolle ihrer Gesellschaften in ihrer eigenen ‚imperialen Vergangenheit‘, also der Zeit vor und nach 1918, überdenken und neu definieren würden. Dies würde viele Phänomene sichtbar machen, die von nationalisti‐ schen Geschichtstraditionen zu lange verborgen wurden. Im Moment leben wir aber nicht in einer Ära, in der dies leicht möglich wäre. In unserem Zeitalter bestehen die Regierungen selbst - oft mit einem gewissen Grad an Hysterie - darauf, einen extremistischen Nationalismus und Ideen von nationaler Differenz zu fördern. Selbst wenn Wissenschaftler heute transnationaler und globaler arbeiten (siehe Kakanien revisited! ), verlangen viele Geldgeber eine andere Art von Geschichte. 32 Mit der Erkenntnis, dass historische Epochen öfter enden und beginnen, als wir zugeben, kann ich nur hoffen, dass wir also bald ein anderes Zeitalter herbeiführen werden. (Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Clemens Ruthner) Endet das Imperium nach seinem Ende? 43 <?page no="45"?> 1 Das Selbstverständnis und die Zielsetzung der Plattform waren folgendermaßen fest‐ gelegt: „Kakanien revisited ist eine Plattform für interdisziplinäre Forschung und Vernetzung im Bereich Mittelostbzw. Zentral- und Südosteuropas; sie besteht seit 2001 und wird vom BMWF [österr. Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung] und der Universität Wien gefördert. Aufsätze, Studien, Essays und Rezensionen stehen dauerhaft als zitierbare PDF-Dokumente - online oder für den Download - zur Verfügung.“ (www.kakanien-revisited.at) Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial Marijan Bobinac (Univ. Zagreb) 1. Dass von der Internetplattform Kakanien revisited  1 und der in ihrem Umfeld ent‐ standenen Forschungsgruppe mit ihren diversen wissenschaftlichen Tagungs- und Publikationsaktivitäten eine neue Dynamik im Studium der angrenzenden und sich vielfach überschneidenden Themenkreise ‚Mitteleuropa‘ und ‚Habs‐ burger Monarchie‘ bewirkt wurde, steht heute, fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Gründung, außer Zweifel. In der Entstehungszeit war allerdings nicht abzusehen, dass das Projekt einen so starken Anklang finden würde, hatte sich doch zeitgleich die akademische Beschäftigung mit der mitteleuropäischen Problematik auf einem Höhepunkt befunden und eine Vielfalt konkurrierender theoretischer und kulturhistorischer Ansätze geboten. Der Erfolg der Plattform war - wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird - mit ihrem Bemühen um eine kulturwissenschaftliche Neuinterpretation kultureller Symbolisierungs‐ prozesse verbunden, die für die spezifischen Machtkonstellationen des habs‐ burgischen Vielvölkerreichs und seiner Nachfolgestaaten konstitutiv waren. Nicht unwichtig war in diesem Kontext auch die dem Projekt eingeschriebene Ambivalenz, ersichtlich schon im Namen Kakanien revisited, der im Vorhinein Habsburg-nostalgisch und nationalistisch geprägte Diskurse verwarf und eine neuartige Annäherung an den ‚kakanischen‘ Komplex in einem Musil’schen, ironisch-kritisch geprägten Sinne versprach. <?page no="46"?> 2 Im Buch Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna (1963; deutsche Über‐ setzung: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, 1966) wird von Magris das habsburgisch-nostalgische Narrativ eines multiethnischen und multikultu‐ rellen Staatsgefüges als Gegenentwurf zum ‚Völkerkerker‘-Narrativ partikularistischer Nationalismen vorgeschlagen. 3 Hinzuweisen sei vor allem auf folgende Werke: KUNDERA, Milan (1983): Un occident kidnappé ou La tragédie de l’Europe centrale. In: Le Débat. H. 5/ 1983. S. 3-23; KONRÁD, György (1985): Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; BUSEK, Erhard / BRIX, Emil (1986): Projekt Mitteleuropa. Wien: Ueberreuter. Wie grenz‐ übergreifend und zeitgleich sich die Mitteleuropa-Diskussion in den 1980er-Jahren verbreitete, kann auch am Beispiel der Zagreber Kulturzeitschrift Gordogan gezeigt werden, die 1985 einen Themenschwerpunkt der mitteleuropäischen Problematik widmete, in dem Übersetzungen von Kunderas und Konráds Texten neben einigen ein‐ heimischen, sehr unterschiedlich argumentierenden Beiträgen veröffentlicht wurden (Gordogan 17/ 18. S. 212-305). - Zusammenfassend zur Mitteleuropa-Diskussion der 1980er-Jahre aus zeitgenössischer Perspektive vgl.: KŘEN, Jan (1990/ 91): Die Mitteleu‐ ropa-Diskussion historisch betrachtet. In: Wissenschaftskolleg Jahrbuch. S. 253-268; BELLER, Steven (1992): Reinventing Central Europe. In: Working Papers in Austrian Studies 92-5. Veränderungen im ‚Mitteleuropa‘-Diskurs waren allerdings schon davor, in den 1980er- und 1990er-Jahren, deutlich vernehmbar. Damals rückte dieses - in der Nachkriegszeit vergleichsweise vernachlässigte - Themenfeld in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte, die sowohl im akademischen Milieu wie auch in Schriftsteller- und Journalistenkreisen geführt wurde und beachtliche Ergebnisse zeitigte. Von besonderer Bedeutung zeigten sich dabei Konzepte eines neu, d. h. transnational gedachten mitteleuropäischen Raums, Konzepte, die von namhaften zeitgenössischen Intellektuellen als Gegenentwürfe zu den bis dahin dominierenden nationalistischen und kommunistischen, in der Regel antihabsburgisch geprägten Diskursen auf den beiden Seiten des ‚Eisernen Vorhangs‘ vorgelegt wurden. Richtungsweisende Thesen - in vieler Hinsicht von Claudio Magris’ Buch Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna (1963) 2 inspiriert - wurden in den 1980er-Jahren von namhaften Intellektuellen wie Milan Kundera und György Konrád auf der einen oder Emil Brix und Erhard Busek auf der anderen Seite formuliert. 3 Ihr konstitutives Merkmal - ein neues Bewusstsein für kulturelle Differenzen - teilten diese Denkentwürfe mit zahlreichen, parallel dazu entstehenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Studien zu mitteleuropäischen bzw. ös‐ terreichisch-habsburgischen Themen. Aus der Vielzahl der Forschungserträge ragten zum einen geschichtswissenschaftliche Arbeiten wie das mehrbändige, im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften seit 1973 er‐ 46 Marijan Bobinac <?page no="47"?> 4 WANDRUSKA, Adam / URBANITSCH, Peter u. a. (Hg.) (1973-2000). Die Habsburger Monarchie 1848-1918. 7 Bände. Wien: Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften. scheinende Geschichtswerk Die Habsburgermonarchie 1848-1918 hervor; 4 einen genauso hohen Stellenwert nahmen in diesem Kontext auch die Bemühungen zahlreicher Literaturwissenschaftler in der Erforschung der Literatur und Kultur der Wiener Moderne ein, deren methodologische Ansätze sich mit der Zeit immer mehr von einer überwiegend philologischen auf eine kulturwissenschaft‐ lich geprägte Orientierung verlagerten. Im Rahmen dieser Neuausrichtung im Zugang zur Wiener Moderne, die mit dem zeitgleich stattfindenden cultural turn in den Geistes- und Sozialwissen‐ schaften einherging, sind auch zahlreiche multidisziplinäre Werke entstanden, die literaturwissenschaftliche mit historischen, soziologischen und politologi‐ schen Herangehensweisen verknüpften und in vieler Hinsicht zukunftswei‐ sende Maßstäbe setzten - eine bahnbrechende Rolle spielte in diesem Zusam‐ menhang Carl Schorskes Studie Fin-de-siècle Vienna (1981). In den 1990er-Jahren folgten weitere bedeutende Publikationen und Forschungsprojekte, in denen die Wiener Kultur der Jahrhundertwende immer häufiger in kulturwissenschaft‐ liche und multidisziplinäre Kontexte eingebunden wurde - als schlagende Beispiele hierfür können Jacques Le Riders Studie Modernité viennoise et crises de l’identité (1990) sowie das großangelegte, in Graz situierte Forschungsprojekt Moderne - Wien und Zentraleuropa um 1900 unter Leitung von Moritz Csáky angeführt werden. Aus diesem Umfeld ging auch die Initiative hervor, die eher neutral klingende Bezeichnung ‚Zentraleuropa‘ dem durch nostalgische und hegemoniale Diskurse vielfach vorbelasteten ‚Mitteleuropa‘ vorzuziehen. (Ins Visier kamen zunehmend auch kulturgeschichtliche Parallelen zwischen zentraleuropäischen Metropolen, wie z. B. in Péter Hanáks Buch The Garden and the Workshop. Essays on the Cultural History of Vienna and Budapest, 1998.) An der Wende zum neuen Jahrtausend, als der zentraleuropäisch-habsburgi‐ sche Kulturkomplex immer mehr von der Frage nach Differenz und Herrschaft bestimmt wurde, kam auch eine intensive Debatte über die Anwendbarkeit von damals sich in hoher Konjunktur befindlichen postkolonialen Theorien auf binneneuropäische Verhältnisse, wie auch auf die Habsburger Monarchie, in Bewegung. Maßgebende Akzente setzten in diesem Zusammenhang zwei österreichische Forschungsteams: Neben der anfangs erwähnten, um die Inter‐ netplattform Kakanien revisited und das Wiener Forschungsprojekt Herrschaft, ethnische Differenzierung und Literarizität versammelten Gruppe, mit Wolfgang Müller-Funk und Clemens Ruthner an der Spitze, handelte es sich um die Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichi‐ Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial 47 <?page no="48"?> 5 FEICHTINGER, Johannes (2003): Habsburg (post)-colonial. Anmerkungen zur In‐ neren Kolonisierung in Zentraleuropa. In: FEICHTINGER, Johannes / PRUTSCH, Ur‐ sula / CSÁKY, Moritz (Hg.) (2003): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollek‐ tives Gedächtnis. Innsbruck: Studienverlag. S.-13-31, hier S.-17. 6 Vgl. insbes. MÜLLER-FUNK, Wolfgang / PLENER, Peter / RUTHNER, Clemens (Hg.) (2002): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke; FEICHTINGER, Johannes u. a. (2003). Eine zusammenfassende Darstellung bei BOBINAC, Marijan (2017): Habsburg postkolonial. In: GÖTTSCHE, Dirk / DUNKER, Axel / DÜRBECK, Gabriele (Hg.): Handbuch Postko‐ lonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler. S.-89-91. 7 RUTHNER, Clemens (2002): „K.(u.)k. postcolonial“? Für eine neue Lesart der österrei‐ chischen (und benachbarten) Literaturen. In: MÜLLER-FUNK u. a. (2002). S. 93-103, hier S.-99. schen Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Moritz Csáky. Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen der beiden Arbeitsgruppen - die erstere wollte „kulturelle Symbolisierungsprozesse im Kontext der spezifischen Macht‐ konstellationen zwischen den ‚Völkern‘ Österreich-Ungarns […] aus literatur- und kulturwissenschaftlichem Blickwinkel“ zu untersuchen, die zweite setzte sich wiederum die Analyse der „spezifische[n] Mehrdeutigkeit des kulturellen Gedächtnisses in Zentraleuropa“ 5 zum Ziel - gab es in ihrer Forschungstätig‐ keit viele Berührungen und Überschneidungen: So haben sie - mit Unterstüt‐ zung gleichgesinnter Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland - theoretische Vorgaben eines postkolonialen Zugangs zum Forschungsfeld des Habsburger Vielvölkerreiches formuliert, dessen Möglichkeiten und Grenzen ausgelotet sowie an einer Reihe von Fallstudien erprobt. Die Erträge, die bei einigen Tagungen präsentiert und in daraus hervorgegangenen Sammelbänden veröffentlicht wurden, machen den Kern des Forschungsparadigmas Habsburg postcolonial aus 6 und haben sich darüber hinaus als richtungsweisend auch für kulturwissenschaftlich inspirierte Forschungen auf dem Gebiet der Zentral-, darüber hinaus auch Ost- und Südost-Europa-Studien gezeigt. Von der Grundannahme der cultural studies ausgehend, wonach „Kultur als symbolische Ordnung, d. h. als Supersystem von Narrativen, auch der Ort ist, wo Herrschaft sich ausdrückt […]“, 7 also primär als Raum von Machtstrukturen aufgefasst wird, schließt Habsburg postcolonial konsequent jegliche imperialnostalgischen bzw. national-exklusivistischen Deutungen aus. Für eine postko‐ loniale Analyse solch komplexer Verhältnisse - deren Voraussetzung nach Hei‐ demarie Uhl „die Legitimierung politischer Hegemonie […] mit dem Argument der kulturellen Überlegenheit gegenüber ‚unterentwickelten‘, ‚rückständigen‘ 48 Marijan Bobinac <?page no="49"?> 8 UHL, Heidemarie (2003): Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post)-Kolonia‐ lismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Mo‐ derne. In: FEICHTINGER u.-a. (2003). S.-45-54, hier S.-48. 9 MÜLLER-FUNK, Wolfgang (2002): Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herr‐ schaft und Kultur. In: MÜLLER-FUNK u.-a. (2002). S.-14-32, hier S.-18. 10 STACHEL, Peter (2003): Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnogra‐ phischen Popularliteratur der Habsburger Monarchie. In: FEICHTINGER u. a. (2003). S.-259-275, hier S.-261. 11 Ebd. 12 PRUTSCH, Ursula (2003): Habsburg postcolonial. In: FEICHTINGER u. a. (2003). S. 33- 43, hier S.-40. Nationen und Ethnien“ 8 sei - bieten sich insbesondere „die Verquickung von Sprache, Kultur und Politik, das heimliche ranking zwischen ihren einzelnen ‚Völkern‘ bzw. ‚Nationalitäten‘, die Fremd- und Selbstbilder in diesem kultu‐ rellen Raum, die Dynamik von Partikularismus und Universalismus“ 9 an. Die hegemoniale Stellung des imperialen Zentrums wird zumeist im Ver‐ hältnis zu dessen Widerpart, dem Nationalismus der kleineren Nationen, be‐ trachtet - ein Umstand, bei dem im Zuge der nation building-Prozesse „an die Stelle eines dominanten, zentralistischen ‚Kolonisierungsdiskurses‘ vielfach miteinander verschränkte regionale ‚Mikrokolonialismen‘“ treten und zu einer „Aufsplitterung der Träger der normierenden Definitionsmacht kultureller Hegemonie“ 10 führen. Dass sich dieses spezifisch habsburgische Phänomen in vieler Hinsicht auch auf die für Kolonisierungsprozesse typische Dichotomie von Zentrum und Peripherie auswirkt, liegt auf der Hand: „Für die Magyaren beispielsweise“, wie Peter Stachel argumentiert, „war Wien bis 1867 […] ein po‐ litisches Zentrum, das als gleichsam ‚äußere Autorität‘ bekämpft wurde, für die Kroaten als Untertanen der ungarischen Krone hingegen war Budapest dieses als zwangsweise empfundene Zentrum, demgegenüber Wien ein Gegengewicht darstellte“; einen Sonderfall, wie Stachel hinzufügt, stelle Bosnien und Herze‐ gowina dar, bei dem „in der Tat von einem einheitlichen Kolonisierungsdiskurs gesprochen werden [könne], der mit handfesten politischen und strategischen Zielsetzungen verbunden war“. 11 Von Anfang an wurden in der Debatte auch Einschränkungen hinsichtlich der Anwendung eines für maritime Kolonialreiche entwickelten Analyse-In‐ strumentariums auf ein multiethnisches Landimperium ohne Kolonien in der Übersee empfohlen, denn „nicht jede regionale Nachrangigkeit beziehungs‐ weise Abhängigkeit“ bedinge „eine kolonialistisch-postkoloniale hybride Iden‐ tität“. 12 Gewarnt wurde auch davor, Edward Saids Vorstellung vom Verhältnis Okzident/ Orient, bei der der kulturelle Einfluss nur vom Zentrum zur koloni‐ sierten Peripherie verläuft, auf die viel komplexere Situation der Donaumonar‐ Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial 49 <?page no="50"?> 13 SIMONEK, Stefan (2003): Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literatur‐ theorie aus slawistischer Sicht. In: FEICHTINGER u.-a. (2003). S.-129-140, hier S.-132. 14 Ebd. S.-133. 15 STACHEL (2003). S.-259. 16 Vgl. insbes. HECHTER, Michael (1975, 2 2017): Internal Colonialism. The Celtic Fringe in British National Development, 1536-1966. Berkeley, Los Angeles: Univ. of California Press. 17 MÜLLER-FUNK (2002). S.-19. chie zu übertragen, in der es einen flächendeckenden ‚Kulturkolonialismus‘ nicht gegeben habe. Vereinzelt wurde auch auf die fehlende Kohärenz postko‐ lonialer theoretischer Ansätze hingewiesen, insbesondere in Homi Bhabhas „unausgesetztem Herumhantieren mit dem Lacanschen Begehren und der Derrida’schen différance“ 13 bei der Bestimmung seines zentralen Konzepts der Hybridität, das - wie von Stefan Simonek angemerkt - anhand von Werken „eine[r] schmale[n] Schicht kosmopolitischer, privilegierter Intellektueller“ aus‐ gearbeitet wurde, die schon längst dem „eurozentrischen literarischen Kanon“ angehören und daher nicht „für die […] Diskurse des Marginalisierten und Minoritären einzustehen vermögen“; im Gegensatz dazu könnte sich „für die kulturelle Konstellation der Monarchie als fruchtbar“ - so Simonek - „der destabilisierende Impetus“ erweisen, „der vom Ansatz der Hybridität und der ‚DissemiNation‘ in bezug auf Vorstellungen einer in sich geschlossenen Nationalliteratur mit klar gezogenen Grenzen ausgeht“. 14 Die Fokussierung auf die Kultur der (vor allem britischen) Kolonisatoren aus dem Blickwinkel der Kolonisierten, die für die frühen postkolonialen Studien konstitutiv war, wurde in der Folgezeit durch neue Fragenperspektiven erweitert und bot um die Jahrtausendwende „ein weites und heterogenes Feld unterschiedlicher theoretischer und methodischer Zugänge“, in dem auch eine „strikte begriffliche Scheidung von Kolonisatoren und Kolonisierten als klar bestimmbaren sozialen ‚Einheiten‘“ 15 problematisch wurde. In diesem Zusam‐ menhang konnte für Kakanien revisited auch die sich zeitgleich entfaltende Diskussion über den ‚binneneuropäischen Kolonialismus‘ anregend sein, bei der im Vordergrund allerdings Kolonialismusvorwürfe gegen England im britischen und gegen Russland bzw. die Sowjetunion im osteuropäischen und kaukasischen Kontext standen. 16 Folgerichtig erschien es daher, dass man das Habsburger Reich als einen „quasi-koloniale[n] Herrschaftskomplex“ 17 zu begreifen suchte, denn - wie Müller-Funk 2002 zu bedenken gab - wäre es in diesem Kontext „genauer, den Begriff Kolonialismus nicht auf alle Phänomene im Bereich von Kultur, Herr‐ schaft und Differenz auszuweiten […], sondern vielmehr umgekehrt den Kolo‐ nialismus als eine ganz bestimmte historische Version von symbolisch codierter, 50 Marijan Bobinac <?page no="51"?> 18 MÜLLER-FUNK (2002). S. 22. 19 RUTHNER, Clemens (2003): K. u. k. Kolonialismus als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: FEICHTINGER u. a. (2003). S. 111-128; neulich auch in: RUTHNER, Clemens (2018): Habsburgs ‚Dark Continent‘. Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke. 20 Ebd. S.-111. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Vgl. SAUER, Walter (2017): Österreich. In: GÖTTSCHE, Dirk / DUNKER, Axel / DÜR‐ BECK, Gabriele (Hg.) (2017): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler. S.-418-420. politischer Unterwerfung zu bestimmen“. 18 Trotz dieses Vorbehalts ging man davon aus, dass postkoloniale theoretische Konzepte (wie Transnationalismus und Hybridität, Relativierung der Dichotomie von Peripherie und Zentrum, Third Space und Positionen des ‚Dazwischen‘) durchaus in der Lage seien, soziokulturelle Phänomene multinationaler Staatsgebilde wie der Donaumon‐ archie zu beschreiben. Hervorgehoben wurde dabei die Eigentümlichkeit der postkolonialen Studien, Ambivalenzen erkennbar und auf symbolische Formen als Legitimation für ökonomische und politische Interessen aufmerksam zu machen. Schon früh, 2003, gab es einen Vorschlag von Clemens Ruthner, die For‐ schungsergebnisse des Paradigmas Habsburg postcolonial  19 in drei Bereichen zu systematisieren: „Kolonialismus“ als „Befund“, „Befindlichkeit“ und „Metapher“. Die erste Art der Anwendung ist historisch-sozialwissenschaftlich inspiriert und sieht Österreich-Ungarn als Pseudo-Kolonialmacht an, „die sich andersspra‐ chiger Territorien imperialistisch bemächtigt hat, um sie zu beherrschen und ökonomisch auszubeuten (innerkontinentaler Kolonialismus)“. 20 Beim zweiten Deutungsmuster wird anerkannt, dass die Habsburger Monarchie „keine Kolo‐ nialmacht im engeren Sinne war, dass aber ihre spezifischen symbolischen Formen ethnisch differenzierender Herrschaft […] Ähnlichkeiten zu jenen überseeischer Kolonialreiche aufweisen (Imagologie und Identitätspolitik)“. 21 Schließlich wird der Donaumonarchie wie im ersten Fall „unterstellt, eine Ko‐ lonialmacht zu sein, jedoch geschieht dies in rhetorischer Form im Rahmen eines jeweils zeitspezifischen Diskurses (als Metapher)“. 22 Unberücksichtigt bleiben in diesem Zusammenhang vorübergehende habsburgische Bestrebungen, Über‐ seekolonien zu erwerben bzw. sich an multinationalen Interventionen zu betei‐ ligen (z.-B. in China). 23 Zu keiner eindeutigen Antwort ist man auf die Frage nach dem historischsozialwissenschaftlichen Kontext eines vermeintlichen oder tatsächlichen habs‐ Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial 51 <?page no="52"?> 24 Vgl. RUTHNER, Clemens u. a. (Hg.) (2015): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegowina and the Western Balkans, 1878-1918. New York: Lang. In diesem Sammelband vgl. insbes. Robert Donias Charakterisierung des habsburgischen Bosnien als „proxymate colony“: DONIA, Robert: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule. In: ebd. S. 67-82. Vgl. auch RUTHNER, Clemens (2018): Habsburgs ‚Dark Continent‘. Postkoloniale Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke. 25 Vgl. MANER, Hans-Christian (2003): Zum Problem der Kolonisierung Galiziens. Aus den Debatten des Ministerrates und des Reichrates in der zweiten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts. In: FEICHTINGER, Johannes u.-a. (2003). S.-153-164. 26 Vgl. RUTHNER (2003). S.-119-120. 27 KEREKES, Amália (2002): Kolonialismusdebatte in Ungarn und Fredric Jamesons Theorie über die nationalen Allegorien der Dritten Welt. In: Kakanien revisited, www. kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ AKerekes1.pdf. 28 RUTHNER (2003). S.-116. burgischen Kolonialismus gekommen. So vertrat Ruthner die Auffassung, die Donaumonarchie könne als Kolonialmacht vor allem im Falle Bosnien-Herze‐ gowinas betrachtet werden: Einerseits wiesen die militärische Okkupation der bis dahin osmanischen Provinzen (1878) sowie die darauffolgende Verwaltungs- und Kulturpolitik (semi-)koloniale Züge auf, andererseits habe man die habs‐ burgische Bosnien-Politik bereits im zeitgenössischen Diskurs öfters als Kom‐ pensation für fehlende Überseekolonien angesehen. 24 Ähnlich argumentierende Studien liegen auch für Galizien und die Bukowina vor. 25 Damit verbunden ist der dritte Verwendungsfall nach Ruthner, bei dem der Kolonialismus als „heuris‐ tische Metapher“ auftritt: Es handelt sich um Kolonialismusvorwürfe, die gegen das deutschsprachige, aber auch gegen das ungarische Zentrum der Monarchie seitens der sich als ‚kolonialisiert‘ empfindenden Völker bzw. ihrer Eliten „im Rahmen nationalistischer Diskurse seit dem 19. Jahrhundert“ 26 erhoben wurden. Hinzuzufügen wäre allerdings, dass trotz einiger Fallstudien (z. B. Amalia Kerekes‘ Studie zur Kolonialismus-Debatte im Ungarn des 19. Jahrhunderts 27 ) zu diesem Forschungsgebiet immer noch einschlägige Untersuchungen fehlen. Umso mehr hat man die kulturwissenschaftliche Dimension des Phänomens Habsburg postcolonial („Kolonialismus als Befindlichkeit“) zum Schwerpunkt der Analyse gemacht: Im Vordergrund stand nicht die Donaumonarchie als „Ko‐ lonialmacht sensu stricto“, sondern „die Frage nach dem kulturellen Ausdruck […] von Dominanzverhältnissen zwischen Herrschaftszentren und beherrschten, andersethnischen Peripherien“, wobei „der Kultur […] eine zentrale Rolle bei der Formulierung, Vermittlung und Interpretation solcher Herrschaftsverhältnisse zukommt“. 28 Obwohl sich Analysen asymmetrischer Verhältnisse nicht nur auf die kulturelle Ebene beschränkten, sondern öfters auch durch Hinweise auf ökonomische, soziale und politische Asymmetrien ergänzt wurden, blieb das 52 Marijan Bobinac <?page no="53"?> 29 In der beim Francke Verlag erscheinenden Reihe Kultur - Herrschaft - Differenz wurden in den letzten beiden Jahrzehnten insgesamt dreißig Sammelbände und Monographien veröffentlicht, die aus der wissenschaftlichen Produktion der um die Plattform Kaka‐ nien revisited versammelten Forscherinnen und Forscher hervorgegangen sind. 30 Aus einer Vielfalt von Monographien und Sammelbänden, die den Imperiendiskurs der letzten Jahrzehnte bestimmt haben, sei auf folgende Titel hingewiesen: BARKEY, Karen / HAGEN, Mark von (Hg.) (1997): After Empire. Multiethnic Societies and Nationbuilding. The Soviet Union and the Russian, Ottoman and Habsburg Empires. Boulder: Westview Press; HARDT, Michael / NEGRI, Antonio (2000): Empire. Cambridge: Har‐ vard University Press; LIEVEN, Dominic (2001): Empire: The Russian Empire and Its Rivals. New Haven: Yale Univ. Press; MÜNKLER, Herfried (2005): Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt; DARWIN, John (2007): After Tamerlane. The Rise and Fall of Global Empires 1400-2000. London: Bloomsbury; BARKEY, Karen (2008): Empire of Difference. The Ottomans in Hauptaugenmerk auf die eigentümliche Verflechtung von Kultur, Herrschaft und Differenz gerichtet, eine Konstellation, die von Anfang an als gemeinsamer Nenner der von Habsburg postcolonial inspirierten Untersuchungen galt und deswegen auch bewusst als Titel der beim Francke Verlag erscheinenden Publikationsreihe gewählt wurde. 29 2. Mit der Einstellung der öffentlichen Finanzierung markiert das Jahr 2010 eine wichtige Zäsur im institutionellen Status der Internetplattform Kakanien revisited, die seitdem nur noch als wissenschaftliches Online-Archiv mit den darauf bis dahin gespeicherten Inhalten existiert. Ungeachtet dessen hat die im Umfeld der Plattform versammelte Forschungsgruppe ihre wissenschaftlichen, akademischen und publizistischen Aktivitäten auch in den 2010er-Jahren fort‐ gesetzt. Nach wie vor auf Distanz zu den nostalgischen Potenzialen imperialer Traditionen (‚habsburgischer Mythos’) bzw. zu ihrer politisch-ideologischen Verdammung (‚Völkerkerker’) verharrend, bleibt sie thematisch auch in der zweiten Dekade ihres Bestehens auf kulturelle Prozesse in ihrer Verflechtung mit Macht- und Differenzstrukturen fokussiert. Zu bedeutenden Akzentverschiebungen ist es allerdings - und davon wird im Folgenden mehr die Rede sein - in den theoretischen Positionen der Forschungsgruppe gekommen, namentlich in einer immer stärkeren Orientie‐ rung an den postimperialen Studien - einem Forschungsansatz, dessen analy‐ tisches Instrumentarium neue, differenziertere Perspektiven im Studium der zentraleuropäisch-habsburgischen Problematik zu eröffnen versprach. Dieses theoretische Konzept - eng mit der im angelsächsischen Raum entstandenen geschichtswissenschaftlichen Disziplin new imperial history verbunden 30 - Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial 53 <?page no="54"?> Comparative Perspective. Cambridge: Cambridge University Press; OSTERHAMMEL, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: C.H. Beck; BURBANK, Jane / COOPER, Frederick (2010): Empires in World. History. Power and the Politics of Difference. Princeton: Princeton University Press; LEONHARD, Jörn / HIRSCHHAUSEN, Ulrike von (2010): Empires and Nationalstaaten im 19. Jahr‐ hundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; OSTERKAMP, Jana (2018): Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 31 HOWE, Stephen (2002): Empire. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford Univ. Press 2002. S. 14-17, insbes. S. 14: “[…] an empire is a large political body which rules over territories outside its original borders. It has a central power or core territory - whose inhabitants usually continue to form the dominant ethnic or national group in the entire system - and an extensive periphery of dominated areas.” 32 Zur Wende in der Imperienforschung vgl. BURDEN, Antoinette (Hg.): (2003) After the Imperial Turn. Thinking with and through the Nation. Durham, London: Duke Univ. Press; COOPER, Frederick (2004): Empire Multiplied. A Review Essay. In: Comparative Studies in Society and History 46. H. 2, S. 247-272; HOWE, Stephen (Hg.) (2010): The New Imperial Histories Reader. London, New York: Routledge; GHOSH, Durba (2012): Another Set of Imperial Turns? In: The American Historical Review 117. H. 3, S. 772-793; HIRSCHHAUSEN, Ulrike von / LEONHARD, Jörn (2012): Zwischen Historisierung und Globalisierung. Titel, Themen und Trends der neueren Empire-Forschung. In: Neue politische Literatur LVI. H. 3, S. 389-404; LEONHARD, Jörn (2013): Imperial Projections and Peacemeal Realities. Multiethnic Empires and the Experience of Failure in the Nineteenth Century. In: REINKOWSKI, Maurus (Hg.): Helpless Imperialists. Imperial Failuire, Fear and Radicalization. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 21-46; HAU‐ STEINER, Eva Marlene / HUHNHOLZ, Sebastian (2019): Ordnungen imperialer Macht. Eine Bestandsaufnahme. In: HAUSTEINER, Eva Marlene / HUHNHOLZ, Sebastian: (Hg.): Imperien verstehen. Theorien, Typen, Transformationen. Baden-Baden: Nomos. S.-9-38. fasste immer mehr Fuß seit den 1990er Jahren, zunächst in den historischen Forschungen, danach in der Politologie, Soziologie und schließlich auch in den Kultur- und Literaturwissenschaften. Zwar mangelte es auch in früheren Zeiten nicht an Forschungsarbeiten zu diesem Gegenstand, in der Regel vertraten sie aber - wie von Protagonisten der neuen Studienrichtung hervorgehoben - eine grundverschiedene Auffassung. Das neuerwachte Interesse an Imperien der letzten Jahrzehnte hing wesentlich mit einer modifizierten Einstellung zu diesen weiträumigen, multiethnischen und multikonfessionellen Staatsgebilden zusammen 31 - einer Einstellung, die die lange tonangebende Herangehensweise, wonach die imperiale Herrschaftsordnung zu Recht von einer für die Mo‐ derne viel adäquateren, dem Nationalstaat, abgelöst wurde, durch neueröffnete Fragenkomplexe in der Nationalismus- und Imperienforschung immer mehr in Defensive drängte. 32 Von einer Überholtheit und Hinfälligkeit imperialer Herrschaftsstrukturen war nicht mehr die Rede - im Gegenteil, sie werden nun wertfrei als ein „transhistorisches, sich unter anderen Vorzeichen auch 54 Marijan Bobinac <?page no="55"?> 33 HAUSTEINER / HUHNHOLZ (2019). S.-14. 34 HIRSCHHAUSEN / LEONHARD (2012). S.-401. in der Gegenwart fortsetzendes Ordnungsmodell“ 33 begriffen. Hinzuzufügen wäre allerdings, dass von der new imperial history - trotz ihres diametral veränderten Imperiendiskurses, insbesondere ihrer Hervorhebung von integra‐ tiven Möglichkeiten multiethnischer und multikonfessioneller Gesellschaften - keineswegs die für die imperiale Herrschaftsordnung konstitutiven Asymme‐ trien und die damit verbundenen Unterdrückungs- und Gewaltmechanismen ausgeblendet werden. Im Gegenteil, dieser Aspekt imperialer Staatsgebilde, der in einer besonders exzessiven Form auch im aktuellen Angriffskrieg des neuerwachten russischen Imperiums gegen die Ukraine zum Vorschein kommt, wird nach wie vor zu den zentralen Kennzeichen imperialer Machtstrukturen gezählt. Als Leitmotiv der neuen Imperiengeschichte lässt sich insbesondere „der Umgang mit Differenz und Vielfalt“ herausstreichen, ein Aspekt, in dem sich „der Blick auf die historischen Empires mit den besonderen Problemen der Gegenwart“ 34 verbindet. Wenn in diesem Kontext von der Globalisierung und neuen politischen Konfigurationen - wie etwa der supranationalen Europäi‐ schen Union - in einer nationalstaatlich dominierten Welt die Rede ist, so schwingt dabei oft auch der Imperienbegriff mit. Als ein weiterer wichtiger Aspekt kann in diesem Zusammenhang auch das problematische Erbe der europäischen Kolonialmächte und deren Beziehung zu den ehemaligen über‐ seeischen Besitzungen genannt werden; besonders brisant zeigt sich die Frage nach dem - wie auch immer unterschiedlich gestalteten - imperialen Status der heutigen Weltmächte und ihren Bemühungen um die Errichtung einer neuen Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges - einem Fragenkomplex, bei dem primär vom US-amerikanischen Imperium mit liberal-demokratischen Vor‐ zeichen und den beiden sich immer mehr autoritär gebärdenden Großreichen China und Russland die Rede ist. Eine wichtige Rolle im Begriffsapparat der neuen Imperiengeschichte spielen auch die Konzepte des ‚Nationalismus‘ und der ‚Nationalstaatlichkeit‘, ohne jedoch darin - im Unterschied zur älteren Forschungsrichtung - in die Falle einer dichotomischen Denkart zu geraten. Obwohl wichtige nationalstaatliche Errungenschaften wie Demokratisierung und Egalisierung moderner Gesell‐ schaften durchaus gewürdigt werden, wird in diesem Rahmen auch die Kritik an der homogenisierenden und nivellierenden Struktur des Nationalstaates, die wenig Platz für ethnische, religiöse oder sprachliche Differenzen duldet, deutlich vernehmbar. Hinzu kommt, dass mit dem veränderten, mehr ausgewo‐ Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial 55 <?page no="56"?> 35 Vgl. LEONHARD / HIRSCHHAUSEN (2010). 36 HAUSTEINER / HUHNHOLTZ (2019). S.-16. 37 Ebd. genen Blick auf das Verhältnis von Imperien und Nationalstaaten in den beiden Staatstypen auch analoge Prozesse sichtbar werden, zum Beispiel der Umstand, dass im 19. Jahrhundert - wie Jörn Leonhard und Ulrike von Hirschhausen zeigen - ausgeprägte „Nationalisierungstendenzen“ in den Imperien wie auch „Imperialisierungstendenzen“ in den Nationalstaaten nebeneinander verlaufen. Eine solche Differenzierung trägt seitdem den fließenden Übergängen zwischen Imperien und Nationalstaaten Rechnung und ermöglicht darüber hinaus eine genauere Beschreibung staatlicher Modelle in der modernen Welt. 35 Dass sich das analytische Instrumentarium der neuen Imperienstudien so attraktiv für Studienrichtungen wie Kakanien revisited erwies, hängt nicht nur mit seinem ausdifferenzierten Verständnis der beiden dominanten Herrschafts‐ modelle, insbesondere mit seiner wesentlich veränderten Imperienauffassung zusammen; gewichtiger zeigt sich dabei seine grundsätzliche Umorientierung von den weitgehend politischen und ökonomischen Aspekten, die für die tra‐ ditionelle Imperienforschung konstitutiv sind, auf kulturelle Fragenkomplexe innerhalb imperialer Staatsformation. Imperien selbst werden nun als komplexe Herrschaftsstrukturen betrachtet, bei deren Untersuchung - wie Hausteiner und Huhnholtz hervorheben - die „imperial konstitutiven Praktiken jenseits der klassischen Politik- und Institutionengeschichte“ und darin namentlich „kulturgeschichtliche Perspektiven“ 36 den Vorrang haben. Vor diesem Hinter‐ grund sind inzwischen zahlreiche Studien entstanden, die wichtige integrative Leistungen imperialer Symbole, Feste, Rituale wie auch anderer kultureller Formate zum Gegenstand haben - Manifestationen, die sich (was insbesondere für das 19. Jahrhundert gilt) parallel zu vergleichbaren ethnisch-nationalen Projekten zu behaupten suchten. In ihrer Ausrichtung auf kulturelle Phänomene sind die new imperial history und die postimperialen Studien durchaus den postkolonialen Studien verwandt, die seit ihren Anfängen „nicht mehr vorrangig politische und ökonomische, son‐ dern primär kulturelle Dimensionen des Kolonialismus in den Blick nehmen“; die neue Imperiengeschichte - wie Hausteiner und Huhnholtz zeigen - geht al‐ lerdings „weniger von einer Dichotomie zwischen Herrschern und Beherrschten in getrennten politischen Räumen aus als von einem komplexen Herrschaftsge‐ webe, aus dem sich Imperien konstituieren“. 37 Überhaupt hat sich das Verhältnis der Imperiengeschichte zu den postkolonialen Studien sehr spannungsvoll und widersprüchlich gestaltet. So wurden von der new imperial history Vorwürfe gegen die sprachlich-begriffliche Formatierung der Postcolonial Studies, gegen 56 Marijan Bobinac <?page no="57"?> 38 Vgl. insbes. KENNEDY, Dane (2018): The Imperial History Wars. Debating the British Empire. London u.a.: Bloomsbury Academic: „What, then, does postcolonial theory offer to British imperial history? With its mind-numbing jargon, its often crude essentializations of the West and the Other as binary opposites, and, above all, its deeply ingrained suspicion of historical thinking, one might well wonder if it has anything to offer.“ (S. 17f.) Und: „It has raised provocative, often fundamental questions about the epistemological structures of power and the cultural foundations of resistance, about the porous relationship between metropolitan and colonial societies, about the construction of group identities in the context of state formation, even about the nature and uses of historical evidence itself.“ (S.-18) ihren - wie des Öfteren moniert wurde - hermetischen ‚Jargon‘ erhoben; Vor‐ würfe kamen auch gegen den postkolonialen Zugang zur Historie, der - aus der Perspektive der grundsätzlich empirisch ausgerichteten neuen Imperienstudien - von einem Misstrauen gegenüber dem historischen Denken gekennzeichnet sei; und, last but not least, wurden der postkolonialen Lesart auch die Essen‐ zialisierungen des Westens und des Anderen als binärer Oppositionen vorge‐ worfen. 38 Auf der anderen Seite hat sich die neue Imperiengeschichte aber sehr wohl auch zur Tradition der postkolonialen Studien bekannt, vor allem in Bezug auf die Machtstrukturen in imperialen Staatsgebilden, auf die durchlässigen Beziehungen zwischen metropolitanen und peripheren Gesellschaften, auf die Konstruktion von Gruppenidentitäten im imperialen Rahmen. Die new imperial history, die im Kontext einer kritischen Repositionierung innerhalb der angelsächsischen Imperienforschung aufgekommen und thema‐ tisch daher primär auf das Studium überseeischer Kolonialreiche, vor allem des Britischen Empire fokussiert war, begann sich sehr bald auch auf die Erforschung europäischer Landimperien fruchtbar auszuwirken. Inzwischen ist eine Reihe neuer historiographischer, aber auch soziologischer, politologischer sowie kultur- und literaturwissenschaftlicher Werke entstanden, in denen nicht nur die Geschichte einzelner Kontinentalreiche ins Visier genommen wird, sondern auch deren Verhältnis untereinander oder aber zu den maritimen Imperien aus einer komparativen und/ oder multidisziplinären Perspektive aus‐ gelotet wird. Als frühe Beispiele des komparativen historischen Zugangs zur Geschichte europäischer Landimperien seien der von Karen Barkey und Mark von Hagen herausgegebene Sammelband After Empire (1997) sowie Karen Barkeys Monographie Empire of Difference: The Ottomans in Comparative Perspective (2008) genannt. In der Forschung zur Habsburgischen Monarchie wiederum sollte in diesem Zusammenhang vor allem das inzwischen zum Standardwerk gewordene Buch Pieter Judsons The Habsburg Empire. A New History (2016) herausgestrichen werden. Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial 57 <?page no="58"?> 39 Vgl. BOBINAC, Marijan / CHOVANEC, Johanna / MÜLLER-FUNK, Wolf‐ gang / SPREICER, Jelena (Hg.) (2018): Postimperiale Narrative im zentraleuropäischen Kontext. Tübingen: Francke; CHOVANEC, Johanna / HEILO, Olof (Hg.) (2021): Narrated Wie anfangs bereits angedeutet, haben sich die postimperialen Theoriean‐ sätze als prägend auch in der neueren wissenschaftlichen Produktion der Forschungsgruppe Kakanien revisited gezeigt, ein Umstand, der sich ebenso in ihrer Anbindung an das in Zagreb situierte Forschungsprojekt Postimperiale Narrative in den zentraleuropäischen Literaturen der Moderne (2015-2019) doku‐ mentiert. Die Annäherung an die neuen Imperienstudien hängt wohl auch mit ihrer Kritik an einigen Aspekten der postkolonialen Theorie zusammen, hat sich die Forschungsgruppe doch von Anfang an für historische und be‐ griffliche Exaktheit sowie gegen Essenzialisierungen und Dichotomisierungen ausgesprochen. Aufschlussreich ist es, dass ihre Aktivitäten auch unter dem postimperialen Vorzeichen auf die Berührungspunkte im kulturellen Gedächtnis und den Konstruktionsprinzipien kultureller Strukturen im zentraleuropäischhabsburgischen Raum der letzten beiden Jahrhunderte fokussiert bleiben. Als Untersuchungsbasis dient insbesondere die Literatur, darüber hinaus auch andere mediale Dispositive, wobei mit Nachdruck der Frage nachgegangen wird, wie nationale Homogenisierungsprozesse und imperiale Geltungsansprüche in den unterschiedlichen kulturellen Formaten funktionieren, wie sie miteinander und gegeneinander in Berührung geraten und wie sie für konkrete (politische, ideologische, ästhetische) Zwecke instrumentalisiert werden. Der Aspekt des (Post-)Imperialen wird von der Forschungsgruppe als ein viel‐ schichtiges Netz wechselseitiger Beziehungen in der Donaumonarchie, ihren Nachfolgestaaten und darüber hinaus im (süd-)osteuropäischen Kontext ver‐ standen, ein Netz, das sich durch kulturelle, politische sowie soziale Differenzen und Gemeinsamkeiten, sehr oft auch durch asymmetrische Machtverhältnisse konstituiert. In diesem Zusammenhang wird das ‚Imperium’ in einer erzählthe‐ oretisch bestimmten Perspektive als ein komplexes Narrativ analysiert, als eine Art Erzählkonstrukt, das in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Formen annimmt und zur Beschreibung oder Erklärung unterschiedlicher Sachverhalte herangezogen wird. Die narratologische Herangehensweise ermöglicht einen genaueren Blick auch auf vielfältige Unternarrative, die sich mit der Zeit durch gemeinsame Erfahrungen entwickelt und in den Erinnerungskulturen festgesetzt haben; narratologisch lässt sich die übernational-imperiale Sphäre auch als ein Raum erweiterter Kommunikationsmöglichkeiten begreifen, ein Raum, in dem sich oft divergierende Narrative und Erzählstrategien bilden und sich in vielfach veränderter Form bis in unsere Gegenwart perpetuieren. 39 58 Marijan Bobinac <?page no="59"?> Empires. Perceptions of Late Habsburg and Ottoman Multinationalism. Cham/ Schweiz: Palgrave Macmillan. 40 Vgl. BOBINAC, Marijan / MÜLLER-FUNK, Wolfgang / SPREICER, Jelena (Hg.) (2019): Mehrsprachigkeit in Imperien / Multilingualism in Empires. Zagreb: Leykam. 41 Vgl. BOBINAC, Marijan / MÜLLER-FUNK, Wolfgang / SEIDLER, Andrea / SPREICER, Jelena / URVÁLEK, Aleš (Hg.) (2021): Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Kolla‐ bierende Imperien, Staatenbildung und politische Gewalt. Tübingen: Francke. In ihren Analysen kultureller Konzepte ist die Forschungsgruppe Kakanien revisited vor allem am Widerspiel zwischen den übernationalen und den einzelnen nationalen Sphären wie auch zwischen den nationalen Sphären untereinander interessiert; nach wie vor wird ihre Aufmerksamkeit auch auf das Ineinandergreifen kultureller und politisch-sozialer Phänomene im impe‐ rialen Kontext, auf die Dynamik von zentrifugalen und zentripetalen Kräften, von nationalem Partikularismus und imperialem Universalismus gerichtet. Ein wichtiger thematischer Komplex, den die Forschungsgruppe mit der neuen Imperiengeschichte teilt und bei ihren diversen Veranstaltungen und Publika‐ tionen zur Diskussion stellt, ist das für imperiale Staatsgebilde konstitutive Phänomen der Multilingualität. 40 In den Vordergrund wird dabei einerseits die Frage nach der Produktivität kultureller Transfers in mehrsprachigen Re‐ gionen gerückt, zum anderen auch sprachliche Konflikte, und darin namentlich Konflikte an inneren imperialen Sprachgrenzen, Konflikte um die Einführung neuer Standardsprachen oder aber um ihre Reflexe in Literatur und Kultur. Als aufschlussreich zeigen sich in diesem Zusammenhang auch Fragen nach der Mehrsprachigkeit in repräsentativen kulturellen Institutionen, die im Kampf um nationalsprachliche Literatur- und Theaterkonzepte heftigen sozialen und politischen Erschütterungen ausgesetzt waren. Abschließend soll noch auf zwei weitere, eng miteinander zusammenhän‐ gende Themenfelder der new imperial history hingewiesen werden, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch in den Aktivitäten der Forschungsgruppe Kakanien revisited eine herausragende Stellung einnehmen: zum einen die Frage nach dem vermeintlich unaufhaltsamen Verfall imperialer Staatsformen in der Kon‐ frontation mit dem Ordnungsmodell des Nationalstaates, zum anderen auch die Frage nach dem Zusammenbruch europäischer Landimperien, insbesondere Österreich-Ungarns, und den gleichzeitig stattfindenden tiefgreifenden, mit einer intensiven Gewaltanwendung verbundenen gesellschaftlichen Verände‐ rungen. 41 Von der geschichtswissenschaftlichen Umdeutung der markanten historischen Ereignisse angeregt, hat die Forschungsgruppe nicht nur die Frage nach der Auflösung imperialer Herrschaftsstrukturen zum Gegenstand zahlrei‐ cher Kulturanalysen gemacht; auch die Frage nach der Fortführung imperialer Von Habsburg postkolonial zu Habsburg postimperial 59 <?page no="60"?> Strukturen in der postimperialen Zeit erscheint nun in einem neuen Licht und regt zu vielfältigen neuen Deutungsversuchen an. Mit dem veränderten Blick auf den Niedergang der Imperien ist aufs Engste auch die Frage nach dem mühsamen Übergang vom Krieg zum Frieden zwischen 1917 und 1923 verbunden, einer Zeit, in der kontinentale Großreiche zugrunde gehen und neue, in vieler Hinsicht problematische Nationalstaaten - auch selbst häufig ‚kleine Imperien‘ - gegründet werden. Das Interesse der Forschungs‐ gruppe Kakanien revisited an drastischen territorialen, sozial-politischen und kulturellen Veränderungen im Schatten des Ersten Weltkriegs - und dazu gehören Entstehung radikaler politischer Bewegungen, Revolutionen, Gegenre‐ volutionen, Gründung neuer Nationalstaaten, oft von gewaltsamen Konflikten begleitet - hängt wohl auch damit zusammen, dass in dieser kurzen Zeitspanne viele verhängnisvolle Ereignisse der darauffolgenden Zeit vorweggenommen wurden. Als Basis für die Analyse dieses einzigartigen Phänomens- selbstver‐ ständlich am Beispiel vielfältiger kultureller Produkte aus zentraleuropäischen Kulturkreisen - dient der Forschungsgruppe nach wie vor die Verflechtung von Kultur, Herrschaft und Differenz. 60 Marijan Bobinac <?page no="61"?> II. Semiose von Imperien <?page no="63"?> 1 Vgl. https: / / www.severreal.org/ a/ za-chto-snyali-portret-yuriya-lotmana-v-rnb/ 3178 6404.html. Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? Einige Überlegungen aus aktuellem Anlass Susanne Frank (HU Berlin) In die Zeit der Vorbereitung auf diesen Vortrag fielen zwei einschneidende Ereignisse. Eines hat direkt mit der Kultursemiotik zu tun, über die wir hier reden, das andere ist mutmaßlich von welthistorischer Bedeutung: Jurij Lotmans 100. Geburtstag am 27. Februar 2022 und der umfassende Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar desselben Jahres. Obwohl diese Koinzidenz natürlich vollkommen kontingent ist, inspiriert sie neues Nachdenken über den Ansatz der Tartuer Kultursemiotik in besonderer Weise und macht einiges noch deutlicher, worüber ich mir früher noch nicht ganz im Klaren war. 1. Russland ist dabei, einen seiner wichtigsten Kulturtheoretiker zu vergessen: eine Anekdote. Lotman hat sein ganzes Leben als Kultur-/ Literaturhistoriker der Erforschung der russischen Kultur gewidmet, aber er konnte - obwohl selbst gebürtiger Leningrader - aufgrund des verdeckten sowjetischen Antisemitismus keinen Lehrstuhl in einer der Metropolen bekommen. Heute wird seine Zugehörig‐ keit zum Kanon der ‚vaterländischen‘ Forschergemeinde massiv in Zweifel gezogen, was sich u.a. so manifestiert: Als vor Kurzem die langjährige Mitarbeiterin der Petersburger Nationalbibliothek anlässlich des Tags des Kulturarbeiters ein Porträt von Jurij Lotman ans Schwarze Brett hängte, wurde sie vom Sicherheitsdienst angezeigt. 1 Der Mann hatte Lotman mit Mark Twain verwechselt und zeigte Olga Katanovskaja - die Verantwortliche der Bibliothek für Kulturprogramme, zu deren Aufgaben auch die Bestückung <?page no="64"?> 2 KOSCHORKE, Albrecht (2012): Zur Funktionsweise kultureller Peripherien. In: FRANK, Susi K. / RUHE, Cornelia / SCHMITZ, Alexander (Hg.): Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited. Bielefeld: transcript. S. 27-40, hier S.-35. von Aushängetafeln zu memorialen Zwecken gehörte - wegen „regierungs‐ feindlicher Aktivität“ an, da sie einen Anhänger liberalistischer Ansichten ehren habe wollen. Als er darauf hingewiesen wurde, um welches Portrait es sich handelte, gab Maksim Zuev an, trotz zweier abgeschlossener Hochschul‐ studien niemals von Lotman gehört zu haben, und fand Unterstützung bei der Bibliotheksdirektion. Polina Davydova, die Beraterin der Direktion, zeigte sich nicht nur empört, weil der Aushang nicht im Voraus mit ihr abgestimmt worden war, sondern auch weil Lotman aufgrund seines Sohnes Michail, von dem regimekritische Aussagen bekannt geworden seien (er habe gesagt, dass Putin Russland in eine Sackgasse gebracht hätte, aus der er nicht wieder selbst herauskäme, sondern herausgeführt - abgeführt - werden müsse), eine kritikwürdige Persönlichkeit sei. Schließlich - so die Direktionsmitar‐ beiterin - sei die Bibliothek eine „ideologische Institution“, die, da sie vom Staat gefördert werde, auch dem Staat „dienen“ müsste. Die Spez-služba, der Geheimdienst, müsse dies kontrollieren. Und wenn jemand ein Portrait von jemandem aufhänge, dessen Sohn in Estland lebe und von dort Kritik übe, dann müsse sich die Aufsicht fragen, „ob es in ganz Russland keine geeignetere Person gäbe, die geehrt werden könnte/ sollte.“ Olga Katanovskaja, die seit 25 Jahren in der Bibliothek gearbeitet hatte, wurde daraufhin entlassen. 2. Semiosphäre aus der Perspektive westlicher Imperientheorien (um 2010) Vor mehr als zehn Jahren haben westliche Forscher die Homologie von Lotmans Begriff der Semiosphäre mit Imperientheorien konstatiert und sein Konzept der Grenze und der Peripherie/ des Grenzraums auch teilweise in Fallstudien angewandt. 2012 konstatierte Albrecht Koschorke in seinem Beitrag Zur Funk‐ tionsweise kultureller Peripherien die Konvergenz von Lotmans Konzept der Semiosphäre mit aktuellen Imperientheorien. Imperien, wie sie allen voran vom britisch-amerikanischen Soziologen Michael Mann verstanden werden, entsprechen, so Koschorke, geradezu in idealtypischer Weise dem Lotmanschen Konzept der Semiosphäre. Semiosphären wie Imperien entstehen durch „Über‐ windung des Raumwiderstands“: 2 Geht es semiotisch um Übersetzerketten und den dadurch bedingten informationellen Verschleiß, so geht es imperialpolitisch um Logistik und Machtrelais auf den Verkehrswegen, die die Distanz zwischen 64 Susanne Frank <?page no="65"?> 3 FRANK, Michael (2012): Sphären, Grenzen und Kontaktzonen. Jurij Lotmans räumliche Kultursemiotik am Beispiel von Rudyard Kiplings ‚Plain Tales from the Hills‘. In: FRANCK u.-a. (2012). S.-217-246. 4 LOTMAN, Jurij (1984/ 1990): Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 12. H. 4, S.-287-305. 5 Ebd. S.-293. 6 Ebd. S.-294. 7 Ebd. S.-292. 8 Vgl. OSTERHAMMEL, Jürgen (2001): Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas. In: Ders.: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats: Studien zu Beziehungsge‐ Zentrum und Peripherie überwinden. Am Beispiel der Transformation des Christentums von einer zu unterdrückenden Marginalerscheinung zur Staats‐ religion, die in die offizielle Herrscherideologie integriert wurde, um schließlich den Ausgangspunkt für deren innere Zersetzung zu bilden, hat der Politologe Mann nicht zuletzt auch einen komplexen semiotischen Prozess zwischen Zen‐ trum und Peripherie aufgezeigt, der mit Lotmans Semiosphärenmodell präzise beschrieben werden kann. Wenn Koschorke abschließend drei Kernmomente benennt, die Lotmans Semiosphärenkonzept mit der auf Imperien bezogenen Machttheorie Michael Manns verbinden, nämlich Antiintentionalismus, Unvor‐ hersagbarkeit und Umkehrbarkeit der Entwicklungen zwischen Zentrum und Peripherie, so lässt er - absichtlich oder unabsichtlich - außer Acht, dass es je nach Standpunkt einen gap gibt zwischen dem Agieren mit Grenzen als imperialem Machtkalkül einerseits und der unkontrollierbaren semiotischen Dynamik des Grenzraums andererseits. Michael Frank machte die Unterschiede in der Differenzierung seines Bei‐ tragstitels Sphären, Grenzen und Kontaktzonen deutlich und erläuterte sie mit Bezug auf Lotmans Werkbiographie: 3 Von dem frühen Lotman, der den Grenzbe‐ griff v. a. in seiner Sujettheorie etabliert hatte, unterscheide sich der Lotman der „Semiosphäre“ (ab 1984) 4 vor allem durch drei Merkmale: das graduelle Gefälle in Hinblick auf semiotische Homogenität und Heterogenität zwischen Zentrum und Peripherie, die Opposition zwischen „innerer Organisation“ und „Nichtor‐ ganisiertheit“ der äußeren Umgebung, 5 die graduelle Differenz der Organisation vom Zentrum hin zum „zunehmend amorphen“ 6 Rand und schließlich die als durchlässig angenommene Außengrenze, die als eine Membran 7 metaphorisiert wird. So erscheint die Grenze des späten Lotman eher als „Kontaktzone“ (vgl. Marie Louise Pratt) denn als Trennlinie. Frank weist darauf hin, dass mit Lotmans Semiosphären-Grenzmodell die von Jürgen Osterhammel in seiner theoretischen Differenzierung der Raumordnung von Nationalstaaten und Imperien aufgeführten Grenztypen berücksichtigt worden sind: 8 die Trennlinie, die der nationalstaatlichen Terri‐ Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? 65 <?page no="66"?> schichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S.-203-239, hier S.-209ff. 9 OSTERHAMMEL (2001). S.-211. 10 Vgl. ebd. S.-213ff. 11 Vgl. TURNER, Frederick Jackson (1893): The Significance of the Frontier in American History. A paper read at the meeting of the American Historical Association in Chicago, 12 July 1893, during the World Columbian Exposition. In: https: / / national‐ humanitiescenter.org/ pds/ gilded/ empire/ text1/ turner.pdf. 12 OSTERHAMMEL (2001). S.-210f. 13 Vgl. ebd. S.-211. 14 LOTMAN (1984/ 1990). S.-292. torialgrenze als „Demarkationslinie zwischen zwei im Prinzip ähnlich organi‐ sierten politischen Gebilden“ 9 am nächsten kommt; die Erschließungsgrenze 10 nach dem Muster der amerikanischen frontier, 11 die als der bewegliche Rand europäischer Siedlungsgebiete im Kontext des neuzeitlichen Kolonialismus zu verstehen ist; und die „imperiale Barbarengrenze“, 12 die als fließende Außengrenze der Kultur an sich an der Peripherie von Imperien den Beginn des „Barbarentums“ markiert. Zwischen den beiden letzteren gibt es eigentlich keinen grundsätzlichen Unterschied, denn sowohl die frontier/ Erschließungs‐ grenze als auch die „Barbarengrenze“ sind für Imperien charakteristisch: weil sie a) bewegliche Expansionsgrenzen darstellen und dadurch Grenzzonen etablieren („Distanzierungszonen zwischen Imperien und ihren Umwelten“ 13 ), und weil sie b) in ihrem zugrundeliegenden Verständnis der Valenz der Differenz von Innen und Außen als absolute Grenzen aufgefasst werden: zwischen Kultur und Nicht-Kultur. Zielsicher findet Frank zwei Stellen - die zwei einzigen Stellen -, wo Lotman zur Illustration seines Modells historische Beispiele aus dem imperialen Kontext heranzieht. In beiden Fällen bezieht er sich auf das antike Römische Reich. Einmal, um die Grenze als Kontaktzone zu veranschaulichen: Alle großen Reiche, die an Nomaden grenzten, an die ‚Steppe‘ oder an die ‚Barbaren‘, siedelten an ihren Grenzen Stämme eben dieser Nomaden oder ‚Barbaren‘ an, die sie zum Schutz der Grenze in Dienst genommen hatten. Diese Siedlungen bildeten Zonen kultureller Zweisprachigkeit, die semiotische Kontakte zwischen den beiden Welten ermöglichten. 14 Und einmal, um die imperiale Grenze als Zone beschleunigter semiotischer Dynamik zu charakterisieren: Die Grenze hat noch eine andere Funktion in der Semiosphäre: Sie ist der Bereich beschleunigter semiotischer Prozesse, die immer aktiver an der Peripherie der kul‐ turellen Ökumene verlaufen, um von dort aus in die Kernstrukturen einzudringen 66 Susanne Frank <?page no="67"?> 15 LOTMAN (1984/ 1990). S.-293. 16 EBERT, Christa (2002): Kultursemiotik am Scheideweg. Leistungen und Grenzen des dualistischen Kulturmodells von Lotman/ Uspenskij. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 6. H. 2, S.-53-76, hier S.-66. 17 FRANK (2012). S.-230. und diese zu verdrängen. Am Beispiel der Geschichte des Alten Rom läßt sich gut eine allgemeinere Gesetzmäßigkeit illustrieren: Ein bestimmter Kulturraum, der sich stürmisch erweitert, zieht äußere Kollektive (Strukturen) in seinen Einflußbereich und verwandelt sie zu seiner Peripherie. Das löst einen stürmischen kultursemiotischen und ökonomischen Wuchs der Peripherie aus, die ihre semiotischen Strukturen ans Zentrum weitergibt, die kulturellen Führungspersönlichkeiten stellt und schließlich die Sphäre des kulturellen Zentrums im direkten Sinne erobert. 15 Schon Christa Ebert hatte darauf verwiesen, dass sich der Fokus in Lotmans Spätwerk sehr deutlich von der Statik auf die Dynamik verlagert - von einem Interesse für binär strukturierte Systeme auf die semiotische Dynamik an der Peripherie von als prinzipiell offen und durchlässig gedachten Semiosphären und zwischen Zentrum und Peripherie derselben: 16 „Im Vordergrund des Lot‐ manschen Modells steht nun nicht mehr die hartnäckige Wirkungsmächtigkeit kultureller Texte (‚Weltbilder‘), sondern die stete Umformung des semiotischen Raumes einer Kultur.“ 17 3. Lotmans ‚Ignoranz‘ gegenüber dem Imperialen Worauf weder Frank noch Ebert noch Koschorke aufmerksam machten, ist aber die Tatsache, dass Lotman sich jenseits dieser Hinweise und Fallbeispiele aus dem Alten Rom kaum explizit auf imperiale Kontexte bezog, dass er diesen Begriff in seinen tiefen kulturhistorischen Analysen der Kultur des Russischen Imperiums ziemlich außen vor gelassen hat. Praktisch nie bezog Lotman sich in seinen - ausschließlich dem 18. und 19. Jahrhundert gewidmeten literar- und kulturhistorischen Studien - auf die Frage der Diskontinuität oder Kontinuität imperialer Strukturen vom Russischen Imperium hin zur Sowjetunion - bis zu seinen allerletzten Arbeiten, die schon nach dem Ende der Sowjetunion entstanden. Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? 67 <?page no="68"?> 4. Unbemerkte Anwendungsmöglichkeiten von Lotmans Ansatz auf imperiale Kontexte Bevor ich einige Überlegungen zum Bezug zwischen dem Konzept der Semio‐ sphäre und Lotmans Theorie der „Explosion“ darlege, scheint es sinnvoll, einige Thesen zur Anwendbarkeit von Lotmans Konzept der Semiosphäre und der Dynamik der Peripherie in asymmetrischen kulturellen Kontexten zu formulieren und damit die mögliche Füllung gewisser Leerstellen anzu‐ deuten, die Lotman selbst in seinen Forschungen gelassen hat. Insbesondere Lotmans Konzeptualisierung der Grenze, bei der zwischen Grenzlinie und Grenzraum/ -zone/ Peripherie differenziert wird, lassen sich sehr produktiv auf kulturell asymmetrische Räume anwenden. Aber sowohl bei Lotman selbst als auch in der Rezeption in Hinblick auf die Anwendung auf imperiale Kontexte fällt auf, dass 1.) die Absolutheit imperialer Außengrenzen - bzw. ihr Absolutheitsanspruch und 2.) die Standpunktabhängigkeit in Hinblick auf die Funktion imperialer Grenzen/ Grenzräume zu wenig Berücksichtigung fand. Dazu ein paar Anmerkungen: Die (Außen-)Grenze ist - neben dem Zentrum - der symbolisch und po‐ litisch wichtigste Ort und die wichtigste Funktion eines Imperiums, sofern Imperien durch einen absoluten Machtanspruch des Zentrums charakterisiert und dabei prinzipiell expansiv und inklusiv sind. Sofern Imperien prinzipiell - und das würde ich ebenfalls als Definiens bzw. Konstitutivum verstehen - einen Anspruch auf Welt, d. h. auf Totalität, legen und daher Nachbarschaften im Sinne von Nationalstaaten, die auf gegenseitiger Anerkennung und prinzipieller Gleichstellung - also einem horizontalen Anerkennungsverhältnis - basieren, ausschließen, ist - so kann man in Anknüpfung an Osterhammel sagen - die dynamische, auf Expansion ausgerichtete Außengrenze von Imperien zwar beweglich, aber zugleich absolut gedacht, d. h. sie trennt nicht zwei Einheiten der prinzipiell selben Art, sondern Kultur von Nicht-Kultur, also prinzipiell Ungleiches, wobei nur der expandierende Innenraum anerkannt wird. Das hat auch Auswirkungen auf die Geschichte von Imperien und auf die Möglichkeit ihrer Koexistenz: Imperien schließen einander im Grunde aus und können daher nur miteinander konkurrieren. Ein Anerkennungsverhältnis ist nur dann möglich, wenn ein Imperium den Anspruch auf Nachfolge eines anderen erhebt. Mit einem solchen Anspruch der translatio imperii legitimiert es zugleich seinen eigenen Status als (neues) Welt-Reich. In Hinblick auf die Geschichte Russlands lässt sich diese Figur vielfach beob‐ achten, zuerst nach dem sogenannten Fall Konstantinopels, als in Anspielung auf die alttestamentarische Legende der Abfolge der Weltreiche die Formel von Moskau als Drittem Rom begründet wurde. Später unter Peter I., der als erster 68 Susanne Frank <?page no="69"?> 18 BURBANK, Jane / COOPER, Frederick (2010): Empires in World History. Power and the Politics of Difference. Princeton: Princeton Univ. Press. 19 KOSCHORKE (2012). S.-36. russischer Herrscher mit dem lateinischen Namen imperator bezeichnet wurde, fand eine Umorientierung nach Westen statt, und der Nachfolgeanspruch bezog sich parallel zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation auf das Römische Reich und den abendländischen Westen. Ähnliches lässt sich auch im 20. Jahrhundert beobachten: die Sowjetunion war idealiter als Weltreich gedacht, expansiv und inklusiv - stets natürlich im Sinne der von Jane Burbank konstatierten politics of difference  18 - in der Gegenwart und für die Zukunft, aber auch in Bezug auf die Vergangenheit, indem der Totalanspruch auf das Welterbe erhoben wurde. Was den zweiten Punkt, die Differenzierung zwischen Standpunkten in Hin‐ blick auf imperiale Grenzen, betrifft, so finden sich bei Lotman zwar Reflexionen zur Standpunktabhängigkeit: Sie bleiben aber ganz im Allgemeinen. Tatsächlich ist es essenziell zu unterscheiden zwischen der Grenze und der Asymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie (im Sinne einer politics of difference) als strategische Instrumente der imperialen (Symbol-)Politik auf der einen Seite und der Grenze, dem Grenzraum bzw. der Peripherie als kultu‐ rellem, semiotischem, symbolischem Phänomenen imperialer Ränder auf der anderen. Wenn Koschorke - sich dabei auf Michael Mann und Herfried Münkler beziehend - von der „Überwindung des Raumwiderstands“ oder „Strategien des Machtsortentauschs“ spricht, 19 dann ist das aus der Perspektive des impe‐ rialen Machtzentrums gedacht. Wenn er aber andererseits Antiintentionalismus, Unvorhersagbarkeit und Kreolisierung als analytisch produktive Elemente des Lotmanschen Konzepts der Semiosphäre hervorhebt und von „heißen Periphe‐ rien“ spricht, dann ist dies aus einer Metaperspektive gedacht, die die eminente Bedeutung der Peripherie für die semiotische Dynamik erkennt. Interessanterweise hat Jurij Lotman in seinen eigenen literatur- und kultur‐ historischen Forschungen weder die imperialen Kontextbedingungen, unter denen die von ihm untersuchten Autoren (fast nur Männer) schrieben, analy‐ siert, noch das Agieren dieser Autoren selbst als Akteure im Machtgefälle des Imperiums zwischen Zentrum und Peripherie. Peripherien im Sinne der von ihm beschriebenen semiotischen Dynamik haben ihn vor allem im Innen‐ raum der russischen Kultur interessiert - im Zusammenhang der literarischpoetisch-ästhetischen und kulturellen Innovationsdynamik, wie sie auch schon Jurij Tynjanov in seinem Konzept der „literarischen Evolution“ in den Blick genommen hatte. Alle größeren Studien Lotmans zum Schaffen einzelner Autoren beziehen sich auf die ‚Großen‘ der russischen Literatur: Karamzin, Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? 69 <?page no="70"?> Puškin, Lermontov, Dostoevskij, Tolstoj, Blok, Bunin und schließlich auch noch Brodskij. Gogol’, dem er einige wichtige Aufsätze gewidmet hat - über den Raum und den Realismus etwa -, wird von Lotman ganz klar in dieser Reihe der russischen Klassiker gesehen. Dass Gogol’ aus der Ukraine stammte und am Anfang seines literarischen Schaffens eine klare Entscheidung gegen das Ukrainische - das sein Vater, ein Komödienautor, geschrieben hatte - treffen musste, um im Zentrum des Imperiums als russischsprachiger Autor zu reüssieren, und dass die Wahl der ukrainischen Thematik in seinen frühen Erzählungen und ihre spezifische Profilierung im Sinne einer romantisierenden Folkloristik sehr viel mit dieser Positionierung zu tun hatte, damit hat Lotman sich nicht auseinandergesetzt, obwohl das Konzept der Semiosphäre im Grunde dazu eingeladen hätte. In einem Kontext, in dem die Rahmenbedingungen - insbesondere der Antisemitismus - ihn selbst gezwungen hatten, von Leningrad an die Tartuer Peripherie auszuweichen, fokussierte Lotman im Wesentlichen jene Literatur, die als ‚russische Klassik‘ jenseits jeder regionalen Zuordnung kanonisiert war. D.h., obwohl Lotman ein kultursemiotisches Modell entwi‐ ckelte, das in geradezu idealer Weise für die Beschreibung der semiotischen Asymmetrie in imperialen Kontexten zwischen Zentrum und Peripherie und die Analyse peripherer Dynamiken geeignet ist, und obwohl Lotmans Hervor‐ bringung des kultursemiotischen Modells selbst als exzellentes Beispiel der von ihm beschriebenen Peripherie-Situation gedeutet werden kann (Stellt es mit seiner kulturkonservativen und antirevolutionären Grundhaltung nicht ein hochgradig subversives Gegenmodell zum Ansatz des Marxismus-Leninismus dar? ), konzentrierte er sich in seinen literar- und kulturhistorischen Studien praktisch ausschließlich auf die russische Kultur und den innersten Kanon ihrer Klassik - auch wenn einige dieser Klassiker durchaus auch ganz anders im Kontext imperialer Bedingungen gesehen werden können. Dazu einige Beispiele: In Lotmans zahlreichen Studien zu Puškin und Lermontov bleibt die imperiale Problematik der Konzeptualisierung des Kaukasus als russischer Kolonialraum weitgehend außen vor, obwohl beide Autoren die dargestellten kulturellen Gegensätze in den Kontext imperialer Machtasymmetrien stellen. Weder Herkunftskontexte noch Orte/ Standpunkte des Schreibens spielen in Lotmans Analysen eine wichtige Rolle, obwohl ihre Berücksichtigung gerade aus der Perspektive der Kultursemiotik naheliegend schienen. So wäre im Falle der Entstehung und der späteren Entwicklung des Rea‐ lismus als Epochenpoetik eine Koinzidenz von geographischer Peripherie und literarischer Peripherie als Zonen der Innovation, die hernach ins Zentrum zurückwirkt, ganz entscheidend: Durch die Situation des Krimkriegs, in einer 70 Susanne Frank <?page no="71"?> Schreibsituation an der Peripherie, an der Front in Sevastopol‘, hat Lev Tolstoj die literarisch periphere Gattung der physiologischen Skizze (in Konkurrenz zur sich gleichzeitig formierenden journalistischen Gattung der Reportage) zum Laboratorium des Realismus gemacht (ebenso wie bereits zehn Jahre zuvor Nikolaj Nekrasov in den Petersburger Hinterhöfen). Im Fall des Epochenparadigmas des Futurismus und der Avantgarde - das Lotman insgesamt wenig beschäftigt hat - wäre die regionale/ kulturelle Herkunft der meisten Autoren aus der imperialen Peripherie eine für die Kultursemiotik gleichermaßen wichtige Forschungsperspektive gewesen, die erlaubt hätte zu sehen, bis zu welchem Grad die radikale Innovation der Ästhetik und Poetik des Futurismus, der von den Futuristen verkündete primitivistische Bruch, nicht nur bedingt, sondern motiviert und intendiert war als Widerstand einer jungen Generation aus der imperialen Peripherie gegen die Dominanz des klassischen Kanons und die hohe, abgehobene Kunst des Zentrums. Autoren wie Vladimir Majakovskij aus Bagdadi in Georgien, Aleksej Kručenych aus einem Dorf in der Nähe von Cherson, Velimir Chlebnikov aus Astrachan, oder die Brüder David und Vladimir Burljuk aus einem Dorf in der Nähe von Charkiv sprengten den Kanon und warfen das symbolistische Stilparadigma über den Haufen, indem sie sich als „Wilde“ inszenierten und dabei auch die Reste archaischer und volkstümlicher Kunst, die sie in ihren Herkunftsgegenden vor‐ fanden, zu Vorbildern der neue Ästhetik und Gegenständen avantgardistischer Inspiration machten. Gerade im Kontext des Russischen Imperiums scheint es bezeichnend, dass sie mit dieser geokulturell von der Peripherie ins Zentrum drängenden ästhetischen Revolution die tatsächliche, danach vom Zentrum ausgehende soziale Revolution vorwegnahmen. Da Lotman sich praktisch gar nicht mit sowjetischer Literatur beschäftigt hat, konnte er die insbesondere für die Periode des Tauwetters wichtige Ent‐ wicklung der multinationalen Sowjetliteratur in den peripheren Republiken nicht berücksichtigen. So z. B. die Tatsache, dass gerade von diesen Literaturen ausgehend - wie z. B. der kirgisischen, der čuvašischen oder gar der čukčischen - abweichende Varianten des sozialistischen Realismus entstehen konnten, die sich am lateinamerikanischen Magischen Realismus orientierten und ihre Inspiration den örtlichen, archaischen Mythologien entnahmen, die sie in die Poetik ihrer Texte verwoben: anti- und zugleich auch postkoloniale Tendenzen, die das Paradigma des Zentrums erschütterten, aber durch ihre Selbstpositio‐ nierung als periphere, im Rahmen der Asymmetrie zwischen der russischen als transnational gewerteten Literatur und den nationalen Literaturen eine bedingte/ untergeordnete Anerkennung des Zentrums erhalten konnten und dieses so mitstabilisierten. Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? 71 <?page no="72"?> Hier kann als letztes Beispiel auch noch der erste Roman von Juri Andrukho‐ vych eingereiht werden, Moskoviada: eine autobiographisch basierte Erzählung, die das - von Jurij Slezkine beschriebene - Bildungs-/ Zivilisierungsnarrativ des Weges aus der Peripherie ins Zentrum karnevalesk aufgreift und in der Tradition der subversiven Satire die Asymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie per‐ vertierend unterläuft. Zugleich jedoch knüpft Andrukhovych mit der Wahl der komischen Gattung für ein ukrainisches Sujet an die Tradition der ukrainischen Klassiker als Literatur des imperialen Randes an: an Kotljarevskij und Gogol’, die der klassizistischen Gattungshierarchie und der imperialen Asymmetrie von Zentrum und Peripherie entsprechend ukrainische Thematik und komisches Genre auf den unteren Rängen der Hierarchie miteinander verbunden und so zugleich die Ukraine salonfähig gemacht und die imperiale/ klassizistische Ordnung stabilisiert hatten. 5. Imperiale Kontexte als Klammer zwischen dem Konzept der Semiosphäre und den späten Studien Eine Frage, die mich seit langem beschäftigt hat, ist die Frage nach der Rela‐ tion zwischen Lotmans Modell der Kultur als räumlicher Dynamik zwischen Zentrum und Peripherie und dem in seinem letzten Büchlein Anfang der 1990er entwickelten Konzept der „Explosion“, als einer bestimmten Art der zeitlich-historischen Dynamik der Kultur, das er prototypisch in der russischen Kulturgeschichte verkörpert sieht. Wie hängen das Modell der Semiosphäre und das Konzept des vzryv, der „Explosion“, und die damit verbundene Kulturtypologie zusammen? Gelten die für die Semiosphäre angenommenen Gesetzmäßigkeiten gleichermaßen für die unterschiedenen Kulturtypen? Oder schränkt diese Typologie der Kulturen - in der Lotman stereotyp zwischen Russland und dem Westen unterscheidet - die universelle Gültigkeit der Gesetze der Semiosphäre ein? Ich glaube, dass man diese Frage (heute) sehr gut beantworten kann, und dass die Tatsache, dass Lotman auch diese Frage nicht selbst gestellt hat, wieder mit der Problematik des Imperiums zu tun hat - dessen endgültigen Zerfall Lotman zu beobachten meinte. Werfen wir einen Blick auf die beiden letzten theoretisch-kultursemiotischen Texte von Lotman, die aus heutiger Perspektive eine eigentümliche Aktualität haben: Kultur und Explosion und der Mechanismus der Wirren. Auf dem Weg zu 72 Susanne Frank <?page no="73"?> 20 LOTMAN, Jurij M. (1992): Kul’tura i vzryv, Moskau: Progress; dt.: LOTMAN, Jurij M. (2010): Kultur und Explosion. Übers. Von Dorothea Trottenberg. Berlin: Suhrkamp; LOTMAN, Jurij M. (2002): Mechanizm smuty [1992]. In: Ders.: Istorija i tipologija russkoj kul’tury. Sankt Peterburg: Iskusstvo. S.-33-46. 21 LOTMAN (1992). S.-14. 22 Ebd. S.-18. 23 Ebd. S.-176-189, hier S.-176. 24 Ebd. S.-186. 25 Ebd. S.-177. einer Typologie der russischen Kultur. 20 Wie gewöhnlich in seinen theoretischen Artikeln führt Lotman das Konzept der Explosion recht abstrakt und universa‐ listisch ein; aber nicht nur durch den Untertitel „Auf dem Weg …“, sondern auch durch die immer wieder zur Veranschaulichung und Erläuterung angeführten, ganz konkreten, historisch-punktuellen Beispiele wird deutlich, dass die we‐ sentliche Inspiration zur Entwicklung des Konzepts der „explosionsartigen“ historisch/ semiotischen Dynamik aus Lotmans Reflexionen über Russland und die russische Geschichte stammt. Kultur und Explosion beginnt - genau wie Über die Semiosphäre mit ganz allgemeinen Überlegungen: zur Kultur - die, angefangen von ihrer Keimzelle, der sprachlichen/ semiotischen Kommunikation, schlechthin als „dynamisch“ aufgefasst wird - und zwar im Sinne der mit der Metapher „Explosion“ ange‐ sprochenen Diskontinuität: Sprachliche Kommunikation - so Lotman - ist nie Verständigung innerhalb/ auf der Basis eines Codes, sondern immer ein Aufeinandertreffen zweier Codes und der Versuch der Übersetzung zwischen ihnen. 21 Im Weiteren entfaltet Lotman die Idee der „Explosion“ kommuni‐ kations-/ informationstheoretisch und geschichtstheoretisch als Metapher für gesteigerte Informativität/ Erkenntnis/ Erneuerung in der semiotischen Kom‐ munikation und als ereignistheoretische Metapher, mit der der Moment des Zusammentreffens, der Überschneidung von Unvereinbarem/ Unübersetzbarem bezeichnet wird, aus dem etwas unvorhergesehenes Neues entsteht. Explosion als ereignishafte Diskontinuität wird der Kontinuität gegenübergestellt und steht damit für (erhöhte) semiotische Dynamik in der Kultur. 22 Im Abschnitt „Die Logik der Explosion“ bringt Lotman „Explosion“ und „Semiosphäre“ explizit auf abstraktem Niveau zusammen: „neodnorodnost“ (Heterogenität) wird als Grundmerkmal jeder Semiosphäre bestimmt. 23 Daher ist Explosion ein Grund‐ modus der Dynamik jeglicher Semiosphäre und steht für eine zum Maximum - der Heterogenität und damit der Unvorhersagbarkeit - gesteigerte Dynamik. 24 Die meisten Systeme, so Lotman, zeichnen sich trotz der semiotischen Dynamik dank einem mehr oder weniger stabilen Gedächtnis durch Kontinuität aus. 25 Manche jedoch tendieren zu einer gesteigerten Dynamik und Unvorhersagbar‐ Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? 73 <?page no="74"?> 26 LOTMAN (1992). S. 257. 27 LOTMAN (2010), S. 218. Im Original: „Тернарные структуры сохраняют определенные ценности предшествующего периода, перемещая их из периферии в центр системы. Напротив того, идеалом бинарных систем является полное уничтожение всего уже существующего как запятнанного неисправимыми пороками. Тернарная система стремится приспособить идеал к реальности, бинарная - осуществить на практике неосуществимый идеал.“ (LOTMAN [1992]. S.-257) 28 LOTMAN, Jurij / USPENSKIJ, Boris (1986): Zum semiotischen Mechanismus der Kultur. In: EIMERMACHER, Karl (Hg.) Semiotica Sovietica 2. Aachen: Rader. S.-853-880. keit im Sinne der Explosion. Und dazu zählt Lotman zum einen ganz allgemein die Sphäre der Kunst und zum anderen - ebenfalls zunächst ganz allgemein - den sogenannten „binären Kulturtypus“: Beide erweisen sich als homolog durch die Dominanz von Willkür, die im Fall der Kunst im Typus künstlerischer Kreativität begründet liegt (Individualismus/ Freiheit künstlerischen Schaffens - Lotman reflektiert dieses Verständnis von Kunst an dieser Stelle nicht als historisch bedingt, sondern setzt es absolut). 26 Im Fall des binären Kulturtypus macht Lotman die Ursache nicht gleich transparent. Im abschließenden Kapitel von Kultur und Explosion, „Perspektiven“, heißt es: Ternäre Strukturen bewahren bestimmte Werte der vorhergehenden Periode, indem sie sie von der Peripherie ins Zentrum des Systems verlagern. Im Gegensatz dazu ist das Ideal binärer Systeme die völlige Zerstörung von allem Existierenden als etwas mit nicht zu behebenden Fehlern Behafteten. 27 Immer wieder bringt Lotman zur Veranschaulichung des binären Kulturtyps Beispiele aus der Geschichte der russischen Kultur - die er bereits in einem früheren Aufsatz gemeinsam mit Boris Uspenskij als binäre Kultur charakte‐ risiert hatte (Zur Typologie der russischen Kultur, 1975). 28 Damals hatten die Autoren diesen Charakter aus der Spezifik der Dogmatik des Orthodoxen Glaubens abgeleitet, in dem es - im Unterschied zu Katholizismus - kein Fegefeuer als dritte, vermittelnde Option zwischen Himmel und Hölle gebe: ein Argument, das in der Forschung inzwischen vielfach kritisiert und widerlegt wurde. In den späten Essays von Lotman findet sich dagegen kein Hinweis auf diese Begründung. Stattdessen deuten die zahlreich angeführten historischen Beispiele wie auch die Resümees der abschließenden Kapitel darauf hin, dass die Symptomatologie der „Explosion“ in den - von Lotman aus den expliziten Reflexionen stets ausgesparten - Machtfragen begründet liegt; denn immer wieder sind die angeführten Beispiele Exzesse autoritärer Willkürherrschaft (wodurch in Lotmans Typologie eine gewisse perverse Homologie zwischen Künstler und russischem imperialen Herrscher suggeriert wird). Letzteres wird 74 Susanne Frank <?page no="75"?> 29 LOTMAN (2010). S. 222. Im Original: Коренное изменение в отношениях Восточной и Западной Европы, происходящее на наших глазах, дает, может быть, возможность перейти на общеевропейскую тернарную систему и отказаться от идеала разрушать .старый мир до основанья, а затем. на его развалинах строить новый. Пропустить эту возможность было бы исторической катастрофой. (LOTMAN [1992]. S.-270) nur im letzten Abschnitt des Essays zur Explosion sowie im Traktat zum Mechanismus der Wirren explizit. Aus den letzten Absätzen beider Essays erhellt sich, dass Lotman die Ge‐ schichte Russlands von Ivan IV. bis zur spätsowjetischen Gegenwart als Konti‐ nuität einer Binarität, gekennzeichnet durch wiederkehrende Explosionen/ ra‐ dikale Umbrüche ansieht, und dass er im Angesicht des Endes der Sowjetunion hoffte, dass diese Binarität endlich - durch einen inneren Standpunktwechsel - überwunden werden könnte. Der letzte Absatz von Lotmans letztem Essayband Kultur und Explosion lautet: Die grundlegende Veränderung in den Beziehungen zwischen West- und Osteuropa, die sich vor unseren Augen vollzieht, bietet vielleicht die Möglichkeit, zu einem gesamteuropäischen ternären System überzugehen und abzugehen von dem Ideal, die alte Welt bis auf die Grundfesten zu zerstören, um danach auf ihren Ruinen eine neue zu bauen. Diese Möglichkeit zu versäumen, wäre eine historische Katastrophe. 29 Und die letzten Absätze des Essays zum „Mechanismus der Wirren“ lauten: Das Problem des Übergangs von einer binären zu einer ternären Sichtweise entstand, wie wir sehen, in der Zeit der ,Wirren‘ zu Beginn des 17. Jahrhunderts, aber jedes Mal stieß es auf unüberwindbare Hindernisse, erlebte eine Krise nach der anderen, und jedes Mal versuchte es, zum europäischen (oder ternären) System überzugehen, und jedes Mal endete der Versuch in einer neuen Krise. Diese Frage stellt sich in der Tat für die Entwicklung Russlands auch in unserer Gegenwart. Die Schwierigkeit des Übergangs, fast tödlich, wird durch die Tatsache bedingt, dass diese beiden Strukturen durch gegenseitige Unübersetzbarkeit gekennzeichnet sind. Aus der Sicht des binären Systems steht das Ternärsystem für Chaos und Zerfall (daher z. B. die systematisch wiederholte Vorstellung vom ,Verfall‘ des Westens). Aber vom Standpunkt des ternären Systems ist das binäre eine Katastrophe; daher wird der Übergang von einem System zum anderen psychologisch als Untergang erlebt. Die Krise, in der sich Russland derzeit befindet, ist einerseits dieselbe Krise, die sich in verschiedenen Formen, aber mit demselben Kern während der gesamten Zeit zwischen Peter dem Großen und unserer Gegenwart wiederholt hat. Andererseits erleben wir eine grundlegend neue Situation, denn die Frage des Übergangs zur Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? 75 <?page no="76"?> 30 Übers. SF. Im Original: „Проблема перехода с бинарной точки зрения на тернарную фактически возникла, как мы видим, в период «смуты» начала XVII в. Однако каждый раз она наталкивалась на непреодолимые препятствия, государство переживало один кризис за другим, мучительно рвалось перейти на европейский (то есть тернарный) строй и каждый раз эта попытка оканчивалась новым кризисом. Фактически перед этим вопросом стоит развитие России и в настоящее время. Трудность перехода, почти фатальная, обусловлена тем, что эти две структуры характеризуются взаимной непереводимостью. С точки зрения бинарной системы тернарная представляет собой хаос и распад (отсюда, например, систематически повторяющаяся идея о «гниении» Запада). Но с точки зрения тернарной системы бинарная представляет собой катастрофу, поэтому переход от системы к системе психологически переживается как гибель. В настоящее время переживаемый Россией кризис, с одной стороны, все тот же кризис, который в разных формах, но с единой сутью повторялся весь период между Петром и нашей современностью. С другой стороны, мы переживаем принципиально новую ситуацию, ибо сейчас вопрос о переходе к общеевропейской тернарной структуре приобрел гамлетовский характер — ‚быть или не быть‘. (LOTMAN [2002]. S.-46) gesamteuropäischen ternären Struktur hat nun Hamletschen Charakter angenommen - ,Sein oder Nichtsein‘. 30 6. Implizit anti-imperiale Normativität? Daraus ergibt sich für mich die These, dass der Mechanismus, den Lotman für die Semiosphäre beschreibt, und der von ihm anscheinend generalisiert wird, ein normatives Modell darstellt, welches Lotman in ternären Kulturen gegeben sieht, in binären jedoch nicht. Ternäre Kulturen bilden das Paradigma von Lotmans Konzept der Semiosphäre als Kulturmodell: Denn nur sie lassen der Dynamik an der Peripherie und zwischen Zentrum und Peripherie auf allen Ebenen, von der Mikrobis zur Makroebene, ihren Lauf, akzeptieren Diskontinuität und gewähren gerade dadurch - durch den mit der Dynamik der Semiosphäre verbundenen Gedächtnismechanismus - Kontinuität (und Stabilität). Binäre Kulturen, als deren Inbegriff Lotman die „russische“ sieht - dies erläutert er ausführlich im Essay Der Mechanismus der Wirren -, erscheinen dagegen als Störung oder Blockade dieses quasi „natürlichen“ Mechanismus. Lotman benennt - in der ihm eigenen imagologischen Sichtweise - bestimmte „Charaktereigenschaften“ der russischen Kultur als Ursachen: den radikalen „Idealismus“ und „Maximalismus“ der russischen Kultur, aber er beschreibt diese „Explosionen“ der binären Kultur vor allem am Beispiel usurpatorischer, autoritärer und imperialer Machtergreifungen: Von Ivan IV. über Peter I. bis zur Sowjetunion. Binarität und die ihr zugeschriebene radikale Bruchdynamik wird ganz offensichtlich prinzipiell an die Etablierung imperialer Machtverhältnisse 76 Susanne Frank <?page no="77"?> 31 LOTMAN (2002). S.-44. 32 Übers. SF. Im Original: Строгая нормированность, проникавшая и в частную жизнь человека империи, создавала психологическую потребность взрывов непредсказуемости. И если, с одной стороны, попытки угадать тайны непредсказуемости питались стремлением упорядочить неупорядоченное, то, с другой стороны, атмосфера города и страны, в которых ‚дух неволи‘ переплетался со ‚строгим видом‘, порождала жажду непредсказуемого, неправильного и случайного. (LOTMAN, Jurij M. [2021]: Besedy o russkoj kul’ture. Moskau: AST. S.-218) gekoppelt: „Die politische Umsetzung der binären Struktur ist ein hoffnungs‐ loser Versuch, aus dieser Welt ein Himmelreich zu errichten, das in Wirklichkeit nur extreme Formen von Despotismus hervorbringt“ - formuliert er ebenfalls in Mechanismus der Wirren. 31 Aufschlussreich diesbezüglich ist auch eine Stelle aus Lotmans Vorlesungs‐ zyklus zur russischen Kulturgeschichte Besedy o russkoj kul’ture, wo er einen kausalen Zusammenhang zwischen der Strenge totalitärer Machtverhältnisse und der damit verbundenen Kontrolle jedes einzelnen durch den Staat einerseits sowie der „Explosivität“ und der Tendenz zu „Unvorhersagbarkeiten“ anderer‐ seits sieht: Die strenge Normierung, die auch das private Leben des einzelnen im Imperium durchzog, schuf ein psychologisches Bedürfnis nach Explosionen der Unberechenbar‐ keit. Wenn einerseits die Versuche, die Geheimnisse des Unvorhersehbaren zu erraten, sich aus dem Wunsch speisten, das Ungeordnete zu ordnen, so schuf andererseits die Atmosphäre von Stadt und Land, wo sich der ,Geist der Unfreiheit‘ mit dem ,strengen Blick‘ kreuzte, einen Durst nach dem Unvorhersehbaren, der Subversion und dem Zufälligen. 32 7. Imperien/ „binäre Kulturen“ dulden keine Peripherien Daraus lässt sich, so scheint mir, eine wichtige Einsicht in Bezug auf das Funktionieren und den Machtmechanismus von Imperien gewinnen: Eingangs haben wir die im Anschluss an Lotmans Semiosphärenmodell vorgenommene Differenzierung zwischen Grenztypen und ihre Homologie zu Imperientheo‐ rien betrachtet und die Wichtigkeit der Rückbindung der Grenzbegriffe an bestimmte Perspektiven - speziell: vom Zentrum, von einem Metastandpunkt - betont. Vom Zentrum eines Imperiums aus betrachtet, ist die Peripherie als bewegliche Außengrenze, als frontier (im Gegensatz zur Abgrenzungsgrenze des Nationalstaats) entscheidend, mit der eine Strategie der imperialen Expansion und Inklusion verfolgt wird. Was dort an einschließender Umkodierung passiert, Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? 77 <?page no="78"?> 33 LOTMAN (1992). S.-257 ist von entscheidender Relevanz für das Zentrum. Daher liegt es im Interesse des Imperiums, freien Semiosen nach Möglichkeit keinerlei Entfaltungsmög‐ lichkeit zu lassen. Vor diesem Hintergrund der Differenzierung verschiedener Perspektiven auf den Grenzmechanismus, für den die referierten Ansätze eine Homologie zu Imperientheorien konstatiert haben, lässt sich erkennen: Dass Peripherien, die aus einer Metaperspektive typisch für Imperien sein mögen und generell für Semiosphären aller Art charakteristisch sind, aus der Innenperspektive des Zentrums eines Imperiums absolut inakzeptabel sind, weil es gerade an der Außengrenze, die neben dem Zentrum der symbolisch wichtigste Ort eines Imperiums ist, für die Machterhaltung essenziell ist, die Werte des Zentrums 1: 1 zu realisieren und damit keinen Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie zuzulassen. Lotmans Ausführungen machen - ohne dass er selbst dies so explizit gesagt hätte - deutlich, dass der von ihm als „binär“ beschriebene Kulturtyp eigentlich imperial ist, und dass Lotman die „russische Kultur“ (auch wenn er das nicht immer explizit gemacht hat) als imperiale beschrieben hat. Sein Bestreben und seine Hoffnung war es - das zeigen die letzten Absätze der beiden späten Essays -, dass 1991 für Russland zu der Chance würde, seinen „binären Charakter“ bzw. seine Imperialität zu überwinden, die für Kultur an sich typische semiotische Dynamik zwischen Peripherie und Zentrum zuzulassen und eine unter anderen europäischen Kulturen zu werden. Was wir jedoch heute erleben, kann als eine höchst merkwürdige Zuspitzung des von Lotman beschriebenen Mechanismus angesehen werden: Im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine (wörtlich: Rand, Peripherie) beobachten wir einen sprichwörtlichen und insgesamt einen der aggressivsten Versuche, den Mecha‐ nismus der Semiose an der Peripherie und zwischen Zentrum und Peripherie zu unterbinden, zu zerstören und auszumerzen, um die Gefahr einer Subversion oder gar einer Umkehrung der Werte des Zentrums durch die Peripherie zu verhindern. Auf der Ebene der Ideen und des Diskurses aber wird dieser Krieg legitimiert durch eine Argumentation, die sich den Anschein gibt, als würde sie Lotmans Forderung nach dem Übergang zu einer „ternären“ Kultur realisieren: Bewahrung der Kontinuität der „alten Welt“, von deren Rettung auch bei Lotman 33 die Rede war. Die Tatsache, dass heute, über dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjet‐ union und mehr als hundert Jahre nach der Oktoberrevolution, die von der russischen Regierung behaupteten kulturellen Kontinuitäten überhaupt nicht mehr gegeben sind, sollte deutlich machen, dass die Behauptung einer solchen fiktiven Kontinuität auf symbolischer Ebene tatsächlich genauso einen maxi‐ 78 Susanne Frank <?page no="79"?> malen Bruch darstellt wie der Angriffskrieg auf die Ukraine in der politischmilitärischen Realität unserer Tage. Die russische Kultur, deren historische Dynamik Lotman als imperiale beschrieben, aber nicht (ausreichend) explizit in Hinblick auf ihre Imperialität über Epochengrenzen hinweg untersucht hat, hat leider nach 1989 Lotmans Hoffnungen nicht erfüllt. Jetzt ist sie im schlimmstmöglichen Ausmaß zur binären Praxis, die nichts anderes als die imperiale Praxis ist, zurückgekehrt: Der Angriffskrieg selbst, wie auch die von russischer Seite formulierten Programmatiken der Aggression, die besagen, dass sich die Ukraine als Anti-Russland formiert hätte, dass es sie aber auch als unabhängige/ n Staat/ Kultur nicht geben dürfe und sie deshalb (angefangen von ihrem Namen selbst - also die Peripherie) de-ukrainisiert bzw. aufgelöst werden müsse, zeigen deutlich: Das Imperium erträgt keine peripheren Semiosen und muss sie mit aller Macht bekämpfen. Russland hat das Gesicht dieser Strategie jetzt enthüllt: Es will die Ukraine, die es als Peripherie wahrnimmt, auslöschen. Mit Jurij Lotman - den man heute in Russland so gern vergessen möchte - kann man jedoch hoffen, dass der semiotische Mechanismus der Kultur überleben wird, weil Peripherien die Zentren kultureller Dynamik und die Laboratorien des Neuen in der Kultur sind. Jurij Lotmans Kultursemiotik - eine Theorie des Imperiums? 79 <?page no="81"?> 1 BAL, Mieke (2000): Kulturanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S.-69. 2 Vgl. dazu auch JUDSON, Pieter M. (2020): Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740- 1918. München: C. H. Beck; sowie Judsons Aufsatz in diesem Band. Das Reich (in) der Mitte Semiose des (Post-)Imperialen im kakanischen Kontext Wolfgang Müller-Funk (Univ. Wien) In ihrem Buch Kulturanalyse hat Mieke Bal davon gesprochen, dass Texte und Themen, die einer Theorie ‚unterworfen‘ werden, ein Recht auf Einspruch besitzen. Sie zitiert Gerald Graff, der Theorie wie folgt bestimmt: Theorie […] ist das, was zum Ausbruch kommt, sobald etwas, worüber man in der betreffenden Gemeinschaft bis dahin stillschweigend einer Meinung war, umstritten wird und die Angehörigen dieser Gemeinschaft dazu zwingt, Annahmen zu formu‐ lieren und zu verteidigen, die ihnen bis dahin nicht einmal bewußt zu sein brauchten. 1 Diese Prämissen möchte sich der Verfasser dieses Aufsatzes zu eigen machen, wenn er sich an die semiotische Analyse jenes Raumes herantastet, der mit der habsburgischen Herrschaft verbunden ist und der bekanntlich im Anschluss an Musils Roman in einschlägigen Kreisen dem Kürzel k. (u.) k. folgend, ironisch als Kakanien bezeichnet wird. Zu fragen bleibt dabei, inwiefern Lot‐ mans Kulturtheorie auf Grund ihrer Vorgehensweise gängige Vorstellungen der Monarchie ins Wanken bringt, so etwa die Prämisse vom Niedergang und von ihrer beinahe zwangsläufigen Implosion. 2 Der Rückbezug auf Lotman macht es zudem noch einmal möglich, das Netzwerk Kakanien revisted und seine einzelnen Forschungsprojekte in Wien und Zagreb Revue passieren zu lassen. In meiner Lesart hat es das deterministische Narrativ von dem zwangsläufigen Zusammenbruch einer ‚dekadenten‘ Monarchie ins Wanken gebracht. Das zeigt auch ein semiotischer, an Lotman geschulter Blick auf ein Reich, das literarische Bewohner wie Musil, Roth, Broch, Doderer und viele andere als merk- und denkwürdig beschrieben haben, als ein Konglomerat, das eher verwaltet als <?page no="82"?> 3 DÜNNE, Jörg / GÜNZEL, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie aus Philosophie und Kul‐ turwissenschaften. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bd.-1, S.-9-15. 4 Vgl. MÜLLER-FUNK, Wolfgang (Hg.) (2000): Zeit. Mythos - Phantom - Realität. Wien, New York: Springer. regiert wurde und das eigenwillige, aber zukunftsträchtige kulturelle Komposi‐ tionsformen hervorgebracht hat. Die erste Verlegenheit, die Lotmans theoretisches Konzept bei seiner Anwen‐ dung auf den Komplex der Donaumonarchie auslöst, hängt mit der spatialen Wende zusammen, also mit der Frage, ob denn dieser Raum überhaupt nur einer ist und sich nicht besser als ein Zusammenklang oder auch als Dissonanz verschiedener semiotischer Räume beschreiben lässt. Dabei ist nicht nur an die Heterogenität des Territoriums zu denken, sondern auch an die verschiedenen Künste und Medien, die sich auf einem semiotisch gestalteten Territorium aus‐ machen lassen. Übrigens hat Lotman selbst keine Semiosphären untersucht, die mit territorialen Gebilden wie Nationalstaaten und Imperien korrespondieren, obschon seine Betonung der Bedeutung von „Grenzen“ mehr oder minder zu einer solchen Anwendung einlädt. Lotman nimmt diese semiotischen Räume als gegeben an (etwa wenn er die Genese eines durch Übersetzung russisch gewordenen Byron untersucht) und begreift demgegenüber die Romantik des 19. oder die Avantgarde des 20.-Jahrhunderts als eigene semiotische Sphären. Was Kulturanalyse generell so schwierig macht, ist jener mächtige und vieldeutige, an Bedeutungsumfang reiche Terminus „Raum“, der - das lässt sich an den einschlägigen Publikationen zum spatial turn zeigen 3 - zum einen eine leibliche, eine physische oder eine entsprechend kartographierte dreidimensionale Entität meint, zum anderen aber auch als Metapher wirksam ist, um die unsichtbaren kulturellen Phänomene, die im Zeitlichen angesiedelt sind, mittels der dem Raum eigenen Visualität anschaulich zu machen. Der Raum fungiert und funktioniert deshalb vornehmlich als metaphorischer Schirm für die Zeit, mit der er untrennbar verbunden ist, wie die folgende Wortreihe verrät: Zeitraum, Zeitpunkt, Epochenschwelle, Zeitfenster. Die traditionelle, vor-digitale Uhr macht Zeit nicht zuletzt durch eine Kreisbewegung sichtbar. 4 Der Begriff der Sphäre, der zunächst auf das Himmelsgewölbe verweist, wird bei Lotman nicht primär räumlich, sondern vielmehr als ein semiotischer Bereich verstanden, der das natürliche, soziale und kulturelle Leben des Men‐ schen medial durchzieht und verdichtet, und zwar dadurch, dass er die Welt in ‚bedeutende‘ und bloße, bedeutungslose Objekte einteilt. Insofern ist der se‐ miotische Raum, durchaus kantianisch gedacht, die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation und damit von Kultur. Was das Besondere an Lotmans Theorie ausmacht, ist also nicht so sehr die Fokalisierung auf den räumlichen 82 Wolfgang Müller-Funk <?page no="83"?> 5 LOTMAN, Juri (2010): Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Berlin: Suhrkamp. S.-174. Aspekt. Vielmehr ist diese Sphäre nicht primäre Eigenschaft des Raums - stabil, veränderungsresistent und statisch -, sondern von einer Dynamik bestimmt, die Veränderung und damit wie von selbst ein zeitliches Moment ins Spiel bringt. Die dritte Schwierigkeit hängt somit mit der Frage zusammen, ob es für die Kulturtheorie lediglich diese Semiosphäre gibt und nicht auch andere, wiederum räumlich gedachte und imaginierte Bereiche. Bekanntlich hat Lotman sein Konzept in Analogie mit der Biosphäre entwickelt und zwischen beiden strukturale bzw. formelle Ähnlichkeiten postuliert. Wie die beiden Sphären aufeinander bezogen sind, hat Lotman nicht systematisch ausgearbeitet. Es liegt nahe, über Lotman hinausgehend die Existenz einer weiteren Sphäre - als Phänomenkomplex wie als Analysekategorie - anzunehmen, die sich höchst provisorisch als Soziosphäre beschreiben lässt und ähnliche Merkmale aufweist, wie die beiden, die Lotman zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Dabei ginge es um Phänomene wie Position, Machtverteilung oder die stets relative und relationale Handlungsfähigkeit von Individuen, Gruppen und Klassen in einem Herrschaftsgebilde, das auf der einen Seite von einer semiotischen, auf der anderen Seite von einer sozialen Sphäre durchzogen ist. Es handelt sich um eine Sphäre, die üblicherweise in Textwissenschaften wie der Literaturwissenschaft ausgeblendet bleibt - oft mit dem unausgespro‐ chenen Hinweis, dass es sich dabei um Phänomene handelt, die man den Sozialwissenschaften überlassen sollte. Die drei hier angenommenen Sphären, Semiosphäre, Soziosphäre und Biosphäre, sind durch Kategorien wie Leben, Macht und Symbolik charakterisiert. Diese Zuschreibungen, die verschiedenen Bereichen angehören (kreatürliches Leben, Gesellschaft und Kultur) trennen sie voneinander und verbinden sie zugleich miteinander. Lotman zufolge ist jeder semiotische Raum bis zu einem gewissen Grad heterogen und asymmetrisch, sowie bipolar und letztendlich plural. Aber, wie betont wird, obwalten in semiotischen Räumen auch Gegentendenzen, woraus sich „widerstreitende Strukturen“ und Paradoxien ergeben: Der semiotische Raum wird im einschlägigen Kapitel seines posthum erschienenen Buches Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur als ungleichmäßig und asymmetrisch, aber auch als einheitlich und homogen charakterisiert. 5 Das gilt nicht zuletzt auch für solche semiotische Räume, in denen es scheinbar nur eine einzige natürliche Sprache gibt. Bei genauerem Hinsehen oder Zuhören wird indes offensichtlich, dass jedes Mitglied einer bestimmten Semiosphäre über einen eigenen, wenn oft auch nur minimal abweichenden Code verfügt. Das Reich (in) der Mitte 83 <?page no="84"?> 6 Die Internetplattform Kakanien revisited (www.kakanien.ac.at) ist nicht mehr aktiv, sondern ein digitales Archiv, das Beiträge von 2001-2013 enthält. 7 HÁRS, Endre / MÜLLER-FUNK, Wolfgang / REBER, Ursula / RUTHNER, Clemens (Hg.) (2006): Zentren peripher. Vorüberlegung zu einer Denkfigur, in: HÁRS, Endre / MÜLLER-FUNK, Wolfgang / REBER, Ursula / RUTHNER, Clemens (Hg.): Zen‐ tren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen: Francke. S. 2. Mit Blick auf Imperien lässt sich davon sprechen, dass diese widerstreitenden Strukturen verdoppelt und potenziert sind und damit eine neue Dimension und Dynamik erreichen. In diesem Zusammenhang sind zwei Begriffspaare aufschlussreich, die für die Beschaffenheit des Semiotischen bestimmend sind: Zentrum und Peripherie sowie interne und externe Grenze. Wenn man sich die Bände der Reihe Kultur - Herrschaft - Differenz, die im Zeitraum 2002-2022 erschienen sind, anschaut, dann sind es eben genau diese Begriffe, die zum Instrumentarium der ange‐ wandten Kulturanalyse der Forschungsprojekte und der Internetplattform von Kakanien revisited geworden sind. 6 In dem 2006 erschienen Band 9 der Reihe Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn steht etwa zur „Denkfigur“ von „Z + P“ zu lesen: Das ebenso oft verwendete wie kritisierte Gegensatzpaar von ‚Zentrum‘ und ‚Peri‐ pherie‘ kann als eine jener hierarchischen Leitdichotomien der westlichen Zivilisation gelten, die von poststrukturalistischen Denkern vorzugsweise dekonstruiert worden sind. Dennoch scheint dieses ungeachtet seiner Problematik auch weiterhin eine wesentliche Bedeutung innerhalb der Diskurse zukommen - es stellt sich nur die scheinbar unlösbare Frage, ob als Kategorie der internen Organisation der beobach‐ teten Phänomene oder als herangetragene Kategorie der externen Analyse. 7 Gewissermaßen eine Dekonstruktion der Dekonstruktion, zumindest aber eine Revision ist hier angedacht, die ganz nebenbei auch von der Unhintergehbar‐ keit von binären Oppositionen ausgeht, und sei es auch nur im Sinne eines methodischen Instruments. Lotmans Konzept, das eine solche These stützt, wird an dieser Stelle nicht erwähnt - seine nachgelassene Kulturtheorie war auch noch nicht auf Deutsch erschienen -, aber der in dem Abschnitt geäußerte Zweifel an der Durchschlagskraft der dekonstruktivistischen Überwindung des Binarismus passt zu einer Semiotik bzw. zu einem ganz anders gearteten ‚Poststrukturalismus‘, der ganz selbstverständlich von binären Oppositionen ausgeht, ohne sie auf Dauer zu stellen. Darüber hinaus besteht Lotman darauf, dass das Begriffspaar Zentrum und Peripherie sowohl „als Kategorie der internen Organisation der beobachteten Phänomene“ als auch im Sinne Kants „als herangetragene Kategorie der ex‐ 84 Wolfgang Müller-Funk <?page no="85"?> ternen Analyse“ zu begreifen ist. Wie das übrigens auch in dem zitierten Band aus dem Kakanien-Forschungsprojekt geschieht, der den Ähnlichkeiten zwischen außereuropäischen Kolonien und innereuropäischen Provinzen bzw. peripheren Räumen (Bukowina, Galizien, Istrien, der Balkan) nachgeht, den Zusammenhang zwischen ökonomischer ‚Rückständigkeit‘ und kultureller Pe‐ ripherisierung herausstellt, die Bilder peripherer Gebiete in Reiseberichten auf deren Fremdbildlichkeit untersucht, aber auch dem damals peripheren Raum der Frauenbewegung um 1900 nachspürt. Als selbstironischer Kommentar sei angefügt, dass der Raum, den das (zweite) Wiener Forschungsprojekt zum Thema Kakanien mit dem programmatischen Titel Zentren/ Peripherien. Kulturen und Herrschaftsverhältnisse in der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-1918 untersuchte, von außen betrachtet einen geographischen, staatlichen und kulturellen Raum darstellt, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher als peripher und nicht, wie der Name Mittel- oder Zentraleuropa suggeriert, als zentral begriffen werden kann. Insofern lässt sich die Donaumonarchie als ein soziales und symbolisches Gebilde beschreiben, das mehr oder minder aus Peripherien bestand, die oftmals an die Peripherien anderer Länder oder Imperien angrenzte: Mitteleuropa als ein peripheres Grenzland inmitten von Europa. Nicht zuletzt sein Machtverlust im Gefolge verlorener Kriege (1859, 1866) hat die einstige Zentralmacht in die zweite Reihe gerückt. Den Terminus Zentrum verwendet Lotman übrigens überaus schillernd und vielschichtig. Auf jeden Fall ist es ein relationaler und relativer Begriff, der wie alles Räumliche auf mehreren Ebenen angesiedelt ist, rein geographisch, politisch und auch kulturell. Das Zentrum wird insbesondere als normierende Instanz einer „metastrukturellen Selbstbeschreibung“ gesehen, die sich vom Zentrum einer Kultur auf den ganzen ihm zugehörigen Raum verbreitet. Die Peripherie wiederum ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in einem potenziellen Widerstreit zur Selbstbeschreibung des Zentrums steht, die die Vielfalt hin in Richtung Vereinheitlichung zu kanalisieren trachtet. Für die Peripherie eigen‐ tümlich ist auch, dass sie in den Einflussbereich eines anderen semiotischen Raumes gerät, der sich jenseits einer externen Grenze befindet. So spielen einige Romane Joseph Roths wie Das falsche Gewicht oder Hiob an der Grenze zweier Imperien. Der Eichmeister Eibenschütz, der aus der Zentrale an die galizische Peripherie geschickt wird, muss schon bald erkennen, dass die Gesetze, die Maße und „Gewichte“, die im Zentrum gelten, hier außer Kraft gesetzt sind und keine Geltung besitzen. Der innere wie äußere Abstand zum Zentrum ist beinahe gleichbedeutend mit dessen verringerter Geltungsmacht. Um aber Zentrum zu sein, bedarf es der Anerkennung seitens der umliegenden, aber auch der abgelegenen Regionen Das Reich (in) der Mitte 85 <?page no="86"?> 8 ROTH, Joseph (1984): Das falsche Gewicht. In: Ders.: Romane 2. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S.-207. 9 Ebd. S.-226. seines Herrschaftsbereichs, das gilt insbesondere auch für symbolische Bereiche wie Sprache, Bildung oder literarischer Kanon. Das setzt voraus, dass die Gesetze auch an den Rändern des betreffenden Staatsgebiets eingehalten werden. Beides wird in Roths Roman Das falsche Gewicht durch eine selbstläufige Sub‐ version der offiziellen und inoffiziellen Akteure an der Peripherie systematisch hintertrieben und unterlaufen. Vertreter der Staatsmacht wie Eibenschütz er‐ weisen sich demgegenüber als machtlos und müssen mit jenen kooperieren, die die Gesetze, die hier durch die geschickte Metapher der ,Gewichte‘ bezeichnet sind, hintergehen und sich eigene schaffen. Aber auch die kulturellen und gesellschaftlichen Normen verlieren in der Peripherie an Einfluss und Gewicht. Der Eichmeister Eibenschütz verliert nicht nur die Kontrolle über den ihm anvertrauten gesetzlichen Bereich, sondern büßt auch - Alkoholgenuss und sexuelle Hörigkeit sind dabei im Spiel - seine Ich- Kontrolle ein. Der gesetzlose Raum wird als gefährlich und zivilisationsfern, zugleich aber als anziehende Welt ohne Sicherheiten beschrieben. Diese erhält in der allegorischen Gestalt der schönen fremden ‚Zigeunerin‘ Euphemia, der femme fatale des kleinen Mannes, das entsprechende Format. Eibenschütz, der einstige disziplinierte Soldat der kaiserlichen Armee, verfällt in dieser fernen und brutal offenen peripheren Welt, der er nicht gewachsen ist. Dem symbolischen Tod folgt die physische Beseitigung des unliebsam gewordenen Mannes aus dem Zentrum: „Er, der Zeit seines Lebens so fleißig darauf bedacht gewesen war, sein Aussehen zu pflegen, begann jetzt, nachlässig zu werden, in der Haltung, im Gang, im Angesicht.“ 8 Am Ende wird er, wie alle anderen hier, die Gewichte des Zentrums im peripheren Raum fälschen: „Er ist kein Eichmeister mehr, er ist selbst ein Händler. Lauter falsche Gewichte hat er, tausend, zehntausend Gewichte. Er steht da hinter einem Ladentisch, die falschen Gewichte vor sich.“ 9 Nützen tut ihm das nicht mehr. So besehen ist das Verhältnis von Zentrum und Peripherie nicht bloß physisch, räumlich-geographisch zu verstehen. Diese Dimension wird bei Lotman eigentlich zumeist ausgeklammert; in seinem Werk dominieren vor allem die metaphorischen Räume. Wie er am Beispiel von Avantgarden und Modernismen anschaulich macht, kann sich das Verhältnis von Zentrum und Peripherie umkehren, entweder kontinuierlich und sukzessiv oder plötzlich und ,explosiv‘. Das Neue entsteht in der Peripherie, in der es Distanz zum Zentrum gibt, das stets in Gefahr ist, steril und erstarrt zu werden. Das zeigt 86 Wolfgang Müller-Funk <?page no="87"?> 10 LOTMAN (2010). S.-188. 11 Ebd. S. 189. Vgl. auch HARTMANN, Telse (2006): Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths. Tübingen: Francke. Eine postkoloniale Lesart entfaltet BITOUH, Daniel (2016): Ästhetik der Marginalität im Werk von Joseph Roth: Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus. Tübingen: Francke. 12 LOTMAN (2010). S.-187. 13 Ebd. sich auch am Paradigma der Mode. Was heute aktuell ist, kann morgen schon hoffnungslos veraltet sein. Lotman spricht in diesem Zusammenhang von der „Verlagerung der Peripherie einer Kultur in ihr Zentrum“. 10 Lotman spricht aber auch davon, dass jenseits der Grenze „das Chaos, die Antiwelt, ein von Ungeheuern, infernalischen Kräften und mit ihnen verbündeter Menschen bevölkerter, unstrukturierter Raum“ liegt. 11 Das Besondere an Joseph Roths literarischer Arbeit an liminalen Phäno‐ menen besteht nicht zuletzt darin, dass auch der diesseitige Grenzraum, der eigentlich noch zur eigenen Semiosphäre gehört, von dem unheimlichen und bösartigen jenseitigen Raum, der zu einem anderen Territorium gehört, affi‐ ziert ist. Aus dem Widerstreit von Zentrum und Peripherie erklären sich in Lotmans Theorie auch die unübersehbare Dynamik kultureller Entwicklung, Phänomene wie Ungleichzeitigkeit, das Paradigma konkurrierender Systeme und die unabschließbare Übersetzungsarbeit, die nicht erst bei der Translation einer natürlichen Sprache in die andere beginnt, sondern die ein unverzichtbares Element jedweder Kommunikation ist. Die Semiosphäre hat, wie Lotman selbst schreibt, „territoriale Züge“, 12 wes‐ halb sie sich auch auf ein Makrophänomen wie die Kultur eines semiimperialen Gebildes übertragen kann, wie es die machtpolitisch geschwächte Habsburger Monarchie nach dem Ausgleich von 1867 verkörpert. Sie stellt sich als eine vielfach geschichtete und überlappende Semiosphäre dar. 13 Ihr historisches Zentrum, Wien, der Ort der Selbstbeschreibung dieses semiotischen Raumes, hat eine verhaltene Expansionskraft, was sich aus vielen Faktoren ergibt: aus der Trennung des Reiches in zwei völlig verschiedene Reichshälften (Öster‐ reich/ Wien vs. Ungarn / mit der neuen, aus den zwei Städten Ofen [Buda] und Pest entstandenen Metropole Budapest), der Pluralität semiotischer Mikro‐ räume, die mit anderen Provinzen und Landesteilen interagieren, der Existenz anderer Zentren im semiotischen Raum der Monarchie, die selbst Instanzen nor‐ mierender Selbstbeschreibung für partiale Semiosphären sind - zu denken ist an Städte wie Prag, Krakau, Lemberg (Lviv), Triest, Laibach (Ljubljana) und Agram (Zagreb). Ihre Bedeutung geht weit über die sogenannter second cities hinaus, die es in diesem Reich ja auch gibt (z. B. Graz, Brünn, Preßburg, Czernowitz), die Das Reich (in) der Mitte 87 <?page no="88"?> im Hinblick auf ihre symbolische, aber auch sozioökonomische und politische Bedeutung aber niemals zu first cities avancieren können. Insofern ist Wien ein restringiertes Zentrum, das sich symbolisch und politisch nur im Hinblick auf seine Dachfunktion im Herrschaftsgewölbe der Monarchie über die gesamte Semiosphäre der Monarchie zu ergießen vermag. Interessant ist übrigens, dass sich die meisten neuen Metropolen auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie in der cisleithanischen Reichshälfte befinden, während Budapest sich in seiner Selbstbeschreibung als Zentrum der gesamten transleithanischen Reichshälfte zu präsentieren vermag. Das formale Zentrum der kakanischen Semiosphäre, Wien, weist aber noch eine weitere Eigenart auf, ist dieses kupierte Zentrum doch zugleich Peripherie eines mächtigeren territorialen Raumes und seiner Selbstbeschreibung in Ge‐ stalt des Zentrums Berlin. Seit 1866 ist das österreichische Kaiserreich eine Sekundarmacht im Schatten des von Preußen dominierten Deutschen Reiches, zu dem es staatlich nicht gehört, dessen normierende Selbstbeschreibung aber für einen Teil des kakanischen Zentrums, Wien und seine deutschsprachigen Peripherien, durchaus von Belang ist. Innerhalb der k. u. k-Monarchie ist Wien mitsamt seinen Peripherien also das einzige Zentrum, das sich direkt auf einen formal externen semiotischen Raum bezieht, während das bei all den anderen Epizentren des Reiches nur höchst indirekt der Fall ist. Wenden wir uns jetzt noch einen Augenblick der Entstehung der neuen Zentren innerhalb des Herrschaftsgebietes dieser Monarchie zu. In ihrer kom‐ plexen semiotischen Struktur ähneln sie nämlich durchaus der Residenzstadt, dem repräsentativen Zentrum, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer begrenzten Ausbreitungsmacht, sondern auch im Hinblick auf die Tatsache, dass die Städte semiotische Parallelwelten beherbergen, die sich auf jeweils ein anderes Zen‐ trum als das physische, in dem sie angesiedelt sind, beziehen. Von unsichtbaren Grenzen umgeben, ist ihre Kommunikation und Übersetzungsarbeit mit dem offiziellen Zentrum durchaus auf das Notwendigste beschränkt. Das verstärkt nicht zuletzt im Bereich der Künste Phänomene wie Ungleichzeitigkeit und Konkurrenz. Die konkurrierenden Zentren verhalten sich so, wie das Lotman für die Peripherie beschreibt. Sie widersetzen sich der normierenden Kraft des schwachen Gesamtzentrums und beziehen sich nicht selten auf die Zentren anderer, exterritorialer semiotischer Räume (Paris, Moskau, Berlin - wie im Fall der modernistischen und avantgardistischen Strömungen). Daneben gibt es aber auch häufig privilegierte Gruppen, die Bewohner verschiedener Räume sind, und zwar nicht nur im Hinblick auf die natürlichen Sprachen, sondern die hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Ästhetiken, Strömungen oder Lebensstile. Dieses semiotische Doppelleben lässt sich sehr gut am Beispiel 88 Wolfgang Müller-Funk <?page no="89"?> 14 HÁRS, Endre / KÓKAI, Károly / OROSZ, Magdolna (Hg.) (2017): Ringstraßen. Kultur‐ wissenschaftliche Annäherungen an die Stadtarchitektur von Wien, Budapest und Szeged. Wien: Praesens. Der die Donau überquerende Ringstraßenkomplex in Budapest spielt in Péter Nádas‘ Roman Parallelgeschichten eine tragende Rolle. Zur internen wie ex‐ ternen Architektur in diesem Roman vgl. MÜLLER-FUNK, Wolfgang / SCHEIN, Gábor (Hg.) (2020): Parallelperspektiven. Beiträge zu Péter Nádas‘ Roman ‚Parallelgeschichten‘. Tübingen: Francke. etwa der um die Zeitung Nyugat gescharten Budapester Moderne oder an so bedeutenden Theoretikern wie Béla Balázs (Herbert Bauer), György (Georg) Lukács oder Károly (Karl) Mannheim zeigen, die mühelos von einem nationalen semiotischen Raum in den anderen wechseln können. Den gebildeten Schichten in den Ländern und Regionen der Monarchie ist gemeinsam, dass sie, ungeachtet einer unübersehbaren Distanz zur Metropole Wien, mit dem Deutschen über eine lingua franca verfügen, die freilich im Gefolge der Nationsbildung als Fremdsprache verstanden und erfahren wird, was keineswegs mit einem geringen Sprachvermögen zu tun haben muss. Ganz im Gegenteil. Damit befinden sie sich durchaus im Gegensatz auch zu jenen Be‐ völkerungsgruppen, von denen sie durch die unsichtbare Grenze von Stadt und Land getrennt sind. Durch die Migration vieler Menschen aus den Peripherien des Reiches in seine Zentren verändern sich die sprachlichen und auch die se‐ miotischen Konstellationen grundlegend. Binnen zweier Generationen wird die neue Metropole Prag zu einer dominant tschechischsprachigen Stadt, mit einer eigenen kulturellen Infrastruktur wie Theater, Medien und Universität, während das einstige deutschsprachige Zentrum zu einer marginalisierten Peripherie wird. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch für andere Metropolen des zunehmend polyzentrischen Reiches dingfest machen. Diese Mimesis generiert in einem Atemzug Distanz sowie Nähe und Ähnlichkeit. Aus all diesen Asymmetrien und Binaritäten ergibt sich das Bild eines Bezugssystems von Zentren, bei dem die Epizentren höchst widersprüchliche Strukturen ausbilden. Sie stehen in einem prinzipiellen Konkurrenzverhältnis zueinander, woraus sich zwei polare Möglichkeiten ergeben: Mimesis und Abgrenzung. So ahmt Budapest das Ringstraßenmodell Wien bis zu einem gewissen Grade nach, während die breiten Avenuen doch viel eher auf ein anderes Stadtmodell verweisen (nämlich Paris), während das an der Donau ge‐ legene Parlament wiederum unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem englischen Parlament aufweist. 14 Das Aufeinanderstoßen partieller semiotischer Räume führt nicht zuletzt zu jener Ungleichzeitigkeit, die Lotman im Sinn hat, wenn er davon spricht, dass Zentren und Peripherien in unterschiedlichen Zeiten leben. Epizentren Das Reich (in) der Mitte 89 <?page no="90"?> 15 Vgl. hierzu auch folgendes Einführungswerk: KOKAI, Károly / MÜLLER-FUNK, Wolf‐ gang / FABER, Vera / UNTERKOFLER, Dietmar (Hg.) (2023): Avantgarden im zentraleu‐ ropäischen Kontext. Andere Räume, andere Bühnen. Tübingen: Francke/ UTB. zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der einen Relation der Logik des Zentrums, in der anderen der der Peripherie folgen. Daraus erklärt sich vielleicht auch, dass, ungeachtet gewisser Ähnlichkeiten zwischen dem Modernismus in Wien, Budapest und Prag, Ungleichzeitigkeiten zu vermerken sind, die auch nach dem Zusammenbruch der Monarchie manifest sind. So verfügen Prag und seine Peripherien über ausgeprägte avantgardistische Bewegungen, während Budapest vor und nach 1918 doch eher ein Nebenschauplatz der europäischen Avantgarden ist. Besonders tragisch - ich verweise hier auf Studien von Károly Kokai und Pál Dereky - ist das Schicksal des ungarischen Avantgardismus, der sich nach der blutigen Niederschlagung 1919 sehr bald in einer höchst unfreiwilligen Situation von Marginalisierung und Peripherisierung befindet. 15 Auch die Sonderbildung der Wiener Moderne, die kein Gegenstück in Deutsch‐ land besitzt, erklärt sich aus der untergeordneten Situation des europäischen wie deutschsprachigen Epizentrums Wien - ein kurzer Blick auf die eifrige Publikations- und Übersetzungstätigkeit von Hermann Bahr, dessen Blick stets zwischen Paris und Berlin oszilliert, macht das überaus plastisch. Einen Reflex auf die asymmetrische Situation wirft Robert Musil in seinem Mega- Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften in Gestalt einer Parallelaktion, in der die Rivalität zu der benachbarten politischen und semiotischen Sphäre eine dominante Rolle spielt, noch ehe der deutsch-preußische Industriemagnat Arnheim sich anschickt, im Wiener Projekt das Ruder zu übernehmen. So ließe sich ironisch - und das geschieht auch in dem berühmten (achten) Kapitel Kakanien - vom Zentrum der Peripherie und der Peripherie des Zentrums zugleich sprechen: So oft man an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extra‐ posten, die es nach all den Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus weißem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. Und was für Länder! Gletscher und Meer, Karst und böhmische Kornfelder gab es dort, Nächte an der Adria, zirpend von Grillenunruhe und slowakische Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wärmen. Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. 90 Wolfgang Müller-Funk <?page no="91"?> 16 MUSIL, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte Werke in neun Bänden, hg. von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt. Bd.-1, S.-33. Man hatte keinen Weltwirtschaft- oder Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man wie etwas noch nicht Erprobtes. 16 Geographische und politisch-symbolische Mitte fallen hier auseinander. Auf‐ schlussreich ist zudem, dass Musil dem Begriff ‚Mitte‘ noch eine andere, gewissermaßen normative Bedeutung gibt. Die Monarchie ist ein Gebilde, das die Mitte zwischen den Extremen hält, etwa zwischen übereiltem Fortschritt und Rückständigkeit, zwischen Macht und Machtlosigkeit, zwischen Ordnung und Chaos. Auffällig ist nicht zuletzt die Dominanz bukolischer Bilder der so verschiedenen Landschaften, Meer und agrarischer Raum, alpine Regionen und flache Kornfelder - Bilder, die die Monarchie als ein retardierendes Gebilde erscheinen lassen, das vom Geist der Langsamkeit und Verhaltenheit bestimmt ist. Es dominiert im Gegensatz zur modernen amerikanischen Stadt das Bild des ländlichen Raums, der Berge und der Adria. Semiotische Räume sind heterogen, weil sie, wie der Verweis auf die verschie‐ denen Landschaften in Musils Roman zeigt, nicht nur Außengrenzen, sondern auch Binnengrenzen besitzen. Die meisten Grenzen sind überdies nicht sichtbar, sie bestimmen aber darüber, was dazu gehört und was nicht in eine bestimmte semiotische Sphäre gehört. Die liminalen Konstellationen sind in Kakanien ganz besonderer Natur. Zwar gibt es keine handfesten Trennlinien zwischen den Teilen des Reiches, zugleich haben diese Binnengrenzen jedoch die Tendenz, abweisender und unübersteigbarer zu werden. Das bedeutet Einschränkung der Kommunikation infolge mangelnder Bereitschaft zur Übersetzungsarbeit. Interne und externe Grenzen unterscheiden sich nicht zuletzt dadurch, dass letztere ein zumeist pejorativ bewertetes Draußen und Außen markieren. Das hat damit zu tun, dass auch demokratische Nationalismen dazu neigen, Fremdheit zu produzieren, um die interne Heterogenität einzuschränken und die Homogenität auf der Ebene der zentralen Selbstbeschreibung zu stärken. Insofern lässt sich sagen, dass sich die Veränderung der Semiosphäre in einem sich mehr und mehr föderalisierenden Staat vollzieht, der vornehmlich, wie Musil im Kakanien-Kapitel festhält, durch die Abneigung und das Misstrauen aller gegen alle auf paradoxe Weise zusammengehalten wird. Schon vor dem politischen Zusammenbruch besteht das habsburgische Staatsgebilde aus einer Ansammlung eigener semiotischer Sphären, die sich freiwillig auf vielfältige Weise überlappen und kreuzen. Das Reich (in) der Mitte 91 <?page no="92"?> Es wäre freilich voreilig, daraus den Schluss zu ziehen, dass dieses Staatsge‐ bilde wegen seiner komplexen Heterogenität zum Untergang verurteilt war. Einen solchen Determinismus schließt Lotmans semiotisches Modell übrigens programmatisch aus. Was er als Explosion beschreibt, als einen plötzlichen Bruch (im konkreten Fall den Zusammenbruch der Habsburger Monarchie), ist sehr viel weniger das Ergebnis der inneren Dynamik der kakanischen Semiosphäre, sondern vielmehr externen politischen und militärischen Ereig‐ nissen geschuldet. Das wird auch daran ersichtlich, dass sich das semiotische Netz Mitteleuropas durch das Entstehen sogenannter Nachfolgestaaten zwar verschoben hat, sich aber zunächst, in der Zwischenkriegszeit, eine ganze Reihe von Dynamiken und Mechanismen erhalten hat. Der Bruch ereignete sich erst im Gefolge von Nationalsozialismus, Shoah, Weltkrieg, Vertreibung und dem nachfolgenden Kalten Krieg. Um auf Joseph Roth zurückzukommen: In seinen Romanen und auch in seinen Essays aus dem Exil ist ein anti-deutscher und ein anti-ungarischer Zungenschlag unüberhörbar. Man mag dies als ein spezifisches Ressentiment eines Autors ansehen, der sich emotional mit den slawischen Völkern und dem Judentum solidarisiert. Seine negative Bewertung der dominanten Rolle der Mehrheit der Ungarn und Deutschösterreicher verrät indes einen gewissen Scharfsinn. Denn in der Tat stand jener spezifische österreichische Deutsch‐ nationalismus, der sein politisches und kulturelles Zentrum im benachbarten Deutschland sah, einer pointiert und programmatischen Heterogenisierung der kakanischen Semiosphäre ebenso im Wege wie der ungarische Nationalismus, der die Reichshälfte weniger als einen Teil eines multi-semiotischen Gebildes verstand, sondern als einen großungarischen, nach Homogenität strebenden Staat, der sich mit der anderen, nicht nationalstaatlich verfassten Hälfte in einer notgedrungenen Verstandesehe befand. Eine sukzessive Veränderung des semiotischen Raumes Kakaniens hatte die Schwächung dieser beiden Homoge‐ nisierungsstrategien zur Voraussetzung. Sie war nicht unmöglich, wurde aber vom Krieg und vor allem von seinem Ausgang zunichte gemacht. Zweifelsohne folgt auch die Zweite Republik in Österreich, ein Kleinbzw. Mittelstaat, durchaus den Dynamiken, die Lotman beschrieben hat. Insbeson‐ dere seit den 1960er-Jahren hat sich für eine ganze Weile das Verhältnis von Zentrum und Peripherie umgekehrt. Österreich wurde ein Land der Avantgarde und des Modernismus - und diese Bestrebungen einer neuen Generation kamen nach 1945, vor allem nach 1968, territorial betrachtet nicht selten aus dem ruralen Bereich bzw. aus den Epizentren des österreichischen Kernlandes. Überspitzt formuliert wurde das Zentrum Wien, einst die reale und symbolische Kaiserstadt, in dieser Periode zu einer musealisierten Peripherie. Das hat sich 92 Wolfgang Müller-Funk <?page no="93"?> durch die Ereignisse des Jahres 1989 und seine Folgen wiederum geändert. In mancher Hinsicht hat Wien im integrierten Europa (und damit auch in Mit‐ teleuropa) seine paradoxe Position eines peripheren Zentrums wiedererlangt. Aber das wäre eine andere Geschichte mitteleuropäischer Semiosis. Sie würde ein höchst widersprüchliches Bild ergeben. Einerseits klingen in ‚Mitteleuropa‘ noch immer die Erbschaften des kleinen kakanischen Imperiums nach, ande‐ rerseits sind die Entfremdungsprozesse, die durch die gewollten sprachlichen und politischen Trennungen seit 1918 stattgefunden haben, nicht zu übersehen - jene unsichtbaren Grenzen, die für die Analyse von Kulturen vermutlich wichtiger sind als Grenzbalken, Zollhäuser, Schilder und Grenzmarkierungen. Das Reich (in) der Mitte 93 <?page no="95"?> 1 Dieser Beitrag ist Veronika JIČÍNSKÁ (UJEP Aussig/ Ústí nad Labem) gewidmet. 2 EAGLETON, Terry (2000): The Idea of Culture. Malden, Oxford, Carlton: Blackwell. S. 62. 3 SAID, Edward ( 2 1994): Culture and Imperialism. London u.a.: Random House/ Vintage Books. S. 14. Vgl. WILLIAMS, Raymond (1977): Marxism and Literature. Oxford: Oxford Univ. Press. S.-128 ff. Realism Rules? Über einen möglichen Zusammenhang von Imperium, Nationalismus, Genre und Epoche in Kakanien 1 Clemens Ruthner (Trinity College Dublin) The national unity which is sealed by Culture is shattered by culture. 2 Epochen und Genres verdanken sich - so will es der literaturwissenschaft‐ liche common sense - ästhetischen und medienhistorischen ebenso wie ideen‐ geschichtlichen und sozioökonomischen Konstellationen. Welche Rolle spielt jedoch im Zentraleuropa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, jenem „Age of Empire“ Eric Hobsbawms, die Spannung zwischen dem k. u. k. Reich (bzw. dessen „Semiose“ in der Diktion der vorangegangenen Beiträge) und den ihm opponierenden Nationalismen sowie den daraus resultierenden sogenannten Nachfolgestaaten? Im Folgenden soll dazu eine kleine Arbeitsskizze präsentiert werden, mit der ich versuchen möchte, entlang von Thesen, die Edward Said in seinem einflussreichen Buch Culture and Imperialism (1993) entwickelt hat, den Zusammenhang von Literatur und Imperium - bzw. der postimperialen Situation - in Bezug auf die Habsburger Monarchie weiterzudenken, wobei auch der von Claudio Magris postulierte „habsburgische Mythos“ einzubeziehen ist. * Said schreibt: „[…] literature creates what Raymond Williams calls ‘structures of feeling’ that support, elaborate, and consolidate the practice of Empire“. 3 In <?page no="96"?> 4 SAID (1994). S.-27. 5 Ebd. S.-16. 6 Ebd. S.-75. 7 Ebd. S.-79. 8 MORETTI, Franco (1998): Atlas of the European Novel 1800-1900. London, New York: Verso. 9 Vgl. ebd. S. 17ff. Auf S. 20 heißt es etwa: „Readers needed a symbolic form capable of making sense of the nation-state.” 10 SAID (1994). S.-84. Genau das Gleiche behauptet Moretti indes vom Nationalstaat, vgl. MORETTI (1998). S.-17. 11 Vgl. SAID (1994). S.-92. weiterer Folge hieße das, dass der Imperialismus das gesamte System der kul‐ turellen Repräsentation im langen 19. Jahrhundert (im Sinne einer ‚imperialen Semiose‘) zu monopolisieren versucht hat. 4 Ebenso hätten laut Said die euro‐ päischen Eliten das Bedürfnis verspürt, „to project their power backwards in time“, 5 also das Imperium selbst zu historisieren, es auf geschichtliche Wurzeln zurückzuführen und damit zu legitimieren - was den zeitgenössischen Boom des historischen Romans erklären mag. Gleichermaßen, so eine verschmitzte Beobachtung Saids, sei das Empire aber in der Literatur der Epoche ähnlich sichtbar unsichtbar wie die Dienstboten zu jener Zeit. 6 Dementsprechend nahm sich der Vordenker des Postkolonialismus vor, jenen unsichtbaren imperialen Basso continuo in seiner legendären „kontrapunktischen“ Lektüre wieder zum Vorschein zu bringen; diese ‚schielt‘ quasi in zwei Richtungen gleichzeitig und macht damit auch den internen Widerstand gegen das Imperium sichtbar: „Contrapuntal reading takes account of both imperialism and resistance to it.“ 7 Man könnte nun diesen Ansatz durch Franco Morettis distant reading des europäischen Romans weiter ergänzen. 8 Allerdings stellt sich dabei das Problem, dass der italienische Komparatist eine „Affinität“ dieses Leitgenres nicht mit dem Imperium, sondern eher mit dem Nationalstaat gegeben sieht. 9 Diese Auf‐ fassungsdifferenz lässt sich freilich - zumindest im Fall Englands - dahingehend auflösen, dass dort die Vorstellung der Nation im fraglichen Zeitraum des langen 19. Jahrhunderts weitgehend deckungsgleich mit dem Konzept eines - englisch dominierten - Empire ist. Said schreibt jedenfalls: I am not trying to say that the novel - or culture in the broad sense - ‘caused’ imperialism, but that the novel, as a cultural artefact of bourgeois society, and imperialism are unthinkable without each other. […] The novel is an incorporative, quasi-encyclopedic cultural form. 10 Said spricht davon, wie der Roman die bestehende Herrschaft konsolidiert habe, 11 und nennt drei Faktoren, die ihm seine Durchschlagskraft in der Pro‐ 96 Clemens Ruthner <?page no="97"?> 12 SAID (1994). S.-93. 13 Ebd. S.-94. 14 Ebd. 15 Ebd. S.-95. 16 CASANOVA, Pascale (2004): The World Republic of Letters. Übers. M.B. DeBevoise. Cambridge MA, London: Harvard Univ. Press. S. xii. 17 Vgl. etwa ebd. S.-11 und 81: “literary relations of power are forms of political relations of power”. 18 Ebd. S.-4 u. 12. duktion wie Rezeption gegeben hätten: „The appropriation of history, the his‐ toricization of the past, the narrativization of society, all of which gave the novel its force, include the accumulation and differentiation of social space […].” 12 Die Art und Weise, wie der bürgerliche Roman seine Plots abschließe, so Said weiter, bestätige und betone im Allgemeinen „an underlying hierarchy of family, property, nation“. 13 Außerdem erzeuge er eine starke „Präsenz“ oder, wie Said wörtlich schreibt, „a very strong spatial hereness imparted on the hierarchy“; 14 der Roman verankere dies in der zentralen Autorität des bürgerlichen Subjekts - jenes ‚Ichs‘, wie es die westliche Philosophie seit der Aufklärung als identitäres Projekt ins Lebens gerufen habe: „such domestic enterprises as narrative fiction and history […] are premised on the recording, ordering, observing powers of the central authorizing subject, or ego“. 15 Diese Zentralperspektive kann durch die Erzählsituationen des Bürgerlichen Realismus und die Psychologisierung seiner Protagonist*innen als gegeben angenommen werden. Ergänzend zu den Ausführungen Saids und Morettis können auch die Ideen von Pascale Casanova für eine transnationale Betrachtung von Literatur im Zei‐ chen des Imperiums herangezogen werden. In ihrem Buch The World Republic of Letters (2004) formuliert sie aufbauend auf Fernand Braudel und Pierre Bourdieu die These, that there exists a ‚literature-world‘, a literary universe relatively independent from the everyday world and its political divisions […]. Exerted within this international literary space are relations of force and a violence peculiar to them - in short, a literary domination.  16 Die hier vorgefundene „Literatur-Welt“ ist relativ autonom von der Welt real politischer und ökonomischer Machtverhältnisse, steht aber dennoch in einer gewissen Relation dazu (die französische Komparatistin drückt sich hier etwas widersprüchlich aus 17 ). Auf jeden Fall ist diese Sphäre agonistisch, d. h. gekenn‐ zeichnet durch „incessant struggles and competition”. 18 Es gebe dominierende Realism Rules? 97 <?page no="98"?> 19 CASANOVA (2004). S.-83. 20 Dieser wäre dann gleichsam das Ausführungsprogramm von Stifters Anti-Revolutions‐ schrift Über Stand und Würde des Schriftstellers (1849). Ich verdanke diesen Hinweis wie einiges andere dem geschätzten Kollegen Primus-Heinz KUCHER (AAU Klagenfurt) 21 Worauf in einem kolonialen Kontext schon mehrfach hingewiesen worden ist; vgl. etwa ZANTOP, Susanne (1997): Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870. Durham, London: Duke Univ. Press. S.-4. versus dominierte literarische Räume, die “the many forms of antagonism” erzeugen “to which domination gave rise”. 19 All dies erscheint nun als Folie für das Folgende bedenkenswert, insofern es in die zweite Hälfte des 19. und in das frühe 20. Jahrhundert der österreichischungarischen Monarchie und später ihrer Nachfolgestaaten projiziert werden soll. Ich bitte um Nachsicht, dass dies vorläufig thesenhaft ausfallen muss. 1. Angesichts der Annahmen Saids sollte es uns jetzt nicht schwerfallen, die Epoche und Genres des bürgerlichen Realismus als die Mediatisierung der europäischen Imperien zu identifizieren. Man kann also diese historische Ära in Europa als Versuch verstehen, eine allgemeingültige, verbindliche, aber auch im Sinne des Imperiums kosmetisch redigierte Wirklichkeitssicht zu erstellen und so dessen Herrschaft zu legitimieren; dieses Projekt scheitert aber auch immer wieder, wie ich behaupten möchte, so wie die Ehe von Gustave Flauberts Madame Bovary (1856/ 57). Auf die Habsburger Monarchie übertragen, könnte man dann etwa die Prosa von Adalbert Stifter (1805-1868) als den Versuch lesen, gleichsam zu einer prästabilierten Harmonie des Gesamtstaates beizutragen (in der großartig gedie‐ genen Langeweile des Nachsommer-Romans von 1857 etwa 20 ), oder diesen in der spät wiederaufgeflammten Liebe der Eheleute in Brigitta (1843) auszusöhnen; oder, wie in Wittiko (1865-1867), jenem Ritter- und Schlachtenroman (der in zeitlicher Nachbarschaft von Flauberts Salammbô entstand! ), im oben beschrie‐ benen Sinne die historische Legitimität imperialer Herrschaft in Böhmen zu bestätigen. Generell gesprochen dienen ja Familienaufstellungen und Liebesge‐ schichten häufig dazu, mit der Macht amouröser Gefühle und häuslicher oder verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit imperiale Kohäsion herzustellen. 21 Besonders deutlich wird die imperiale Legitimierungsfunktion des Realismus auch anhand der Kurzprosa Ferdinand von Saars (1833-1906) oder Marie von Ebner-Eschenbachs (1830-1916), wo wohlmeinende Autoritäten eine durch individuelle Defizienz gefährdete kollektive Ordnung konsolidieren; so etwa der Oberst in Saars Novelle Die Steinklopfer (1874), der angesichts des in straf‐ rechtliche Not geratenen Liebespaares beschließt, „soweit dies von ihm abhinge, 98 Clemens Ruthner <?page no="99"?> 22 SAAR, Ferdinand von (1904): Die Steinklopfer. In: Ders.: Novellen aus Österreich. 2 Bde. Bd.-1. S.-109-159, hier S.-157. 23 In: EBNER-ESCHENBACH, Marie von (2015): Erzählungen und Aphorismen (= Leseaus‐ gabe Bd. 4). Hg. und mit einem Vorwort von Evelyne Polt-Heinzl, Daniela Strigl und Ulrike Tanzer. Salzburg: Residenz. S.-169-190, hier S.-190. 24 CASANOVA (2004). S.-325. 25 Vgl ebd. S.-305ff. 26 Ebd. S.-328. die beiden glücklich zu machen fürs ganze Leben“. 22 Noch klarer stellt Ebner- Eschenbachs Erzählung Er lässt die Hand küssen (1886) den Zusammenhang von Narration und (gerechter) Herrschaft heraus, die bei aller Skepsis doch immer wieder bekräftigt wird, wenn es am Ende der Geschichte des aufgrund grundherrlichen Missmanagements tragisch zugrunde gegangenen Subalternen heißt: ‚Fürchterlich! ‘, rief die Gräfin aus, ‚und das nennen Sie eine friedliche Geschichte? ‘ ‚Verzeihen Sie die Kriegslist‘, erwiderte der Graf. ‚Aber vielleicht begreifen Sie jetzt, warum ich den sanftmütigen Nachkommen Mischkas nicht aus dem Dienst jage, obwohl er meine Interessen eigentlich recht nachlässig vertritt.‘ 23 Besonders spannend wäre aber eine Überprüfung dieser These eines ‚impe‐ rialen‘ Realismus (die ja auch auf etliche andere Literaturen in Europa an‐ wendbar wäre) anhand des Fallbeispiels von Ungarn (z. B. mit Mór Jokai, 1825- 1904). Hier ließe sich die Zusatzthese einer ‚doppelten Optik‘ vertreten: Tritt der ungarische Realismus imperial-stabilisierend auf, aber nicht unbedingt im Sinne des k. u. k. Gesamtstaates, sondern i.S. der angepeilten Selbstverwaltung und Im‐ perialisierung der ungarischen Reichshälfte? (Dies würde dann vielleicht auch bedeuten, dass diese nationale Spielart quasi eine kontrapunktische Lesart schon verinnerlicht hätte.) Und wie wäre es um die späten Realismen in den anderen nicht-deutschsprachigen Literaturen bestellt? Als vorläufige Forschungsfrage ließe sich hier formulieren, ob diese entweder systemkonform operieren oder aber versuchen, sich des kulturellen Erbes zu bemächtigen 24 (auch in Form einer „invention of tradition“ 25 ) und so Handlungsmacht zumindest symbolisch herzustellen, to “transform the signs of cultural, literary, and often economic destitution into literary resources”. 26 2. Als wesentliches Genre jenes oben angesprochenen positiven Reichsge‐ danken wäre unbedingt das historische Drama mit einzubeziehen, wobei die ungeliebten Stücke von Franz Grillparzer (1791-1872) wohl am prominentesten figurieren, zumal man ihn durchaus „für einen Anhänger des imperialen Den‐ Realism Rules? 99 <?page no="100"?> 27 MĚŠTAN, Antonín (1995): Grillparzer, Böhmen und die Tschechen. In: Strelka, Joseph P. (Hg.): Für all, was Menschen je erfahren, ein Bild, ein Wort und auch das Ziel. Beiträge zu Grillparzers Werk. Bern u.a.: Lang. S.-137-150, hier S.-143. 28 Vgl. ebd. und HYRŠLOVÁ, Květa (1991): Grillparzer und Böhmen. Versuch einer Neube‐ wertung der Beziehung. In: Denscher, Bernhard / Obermaier, Walter (Hg.): Grillparzer oder Die Wirklichkeit der Wirklichkeit. Wien: Stadt-und Landesbibliothek. S.-90-95. 29 MAGRIS, Claudio ( 3 2000): Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [1966]. Übers. von Madeleine v. Pastory. Wien: Zsolnay. S. 10. Vgl. COLE, Laurence (2004): Der Habsburger-Mythos. In: Brix, Emil u.a.: Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten. München: Oldenbourg. S.-473-504. 30 MAGRIS (2000). S.-11. 31 BARTHES, Roland (2010) [1957]: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, übers. von Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp; BLUMENBERG, Hans (1979): Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 32 MAGRIS (2000). S.-10. 33 Ebd. S.-11. kens der Großmächte halten“ 27 kann. Ob nun mit Herrscherdramen (Ottokars Glück und Ende, 1825; Ein Bruderzwist in Habsburg, 1848), Gründungsmythen (Libussa, 1848) oder Humor (Ein treuer Diener seines Herrn, 1830) scheitert hier jedoch der literarische Versuch, ‚patriotische‘ Visionen in die Vergangenheit zurück zu projizieren - vor allem dort, wo diese Identifikationsvorlagen etwa in der tschechischen oder jungdeutschen Rezeption kaum auf Gegenliebe stießen, als die zentrifugalen Kräfte sich vor Ort formierender Nationalbewegungen immer stärker wurden. 28 (Als Gegengewicht zum historischen Drama lesbar wäre dann etwa das Wiener Volkstück des 19. Jahrhunderts mit Ferdinand Raimund und Johann Nestroy als Versuch einer konstruktiv humoristischen - systemstabilisierenden - Selbstkritik des Reiches ‚von unten‘.) 3. An dieser Stelle ist es unumgänglich, die einflussreiche These vom „habsbur‐ gischen Mythos“ mit einzubeziehen - das Lebensthema von Claudio Magris, der 1963 als Doktorand „die Geschichte einer Kultur“ schrieb, „die aus Liebe zur Ordnung die Unordnung der Welt entdeckt hat“, 29 um „dem Wirbel der Ereignisse und Erscheinungen eine solche sinnstiftende Totalität zu verleihen, vielleicht auch aufzuzwingen [! ]“. 30 Die von Magris vorgeschlagene Bestimmung der Grundlagen dieses Kom‐ plexes ist schlank und pragmatisch - und nimmt doch die Ansätze von Roland Barthes und Hans Blumenberg elegant vorweg bzw. in sich auf: 31 Wie der Triestiner Germanist und Autor in seinem Vorwort „Dreißig Jahre danach“ schreibt, sei „Mythos“ die „Art und Weise, wie eine Kultur sich bemüht, die Vielheit der Wirklichkeit auf eine Einheit zurückzuführen“. 32 Als Narrativ (ein Wort, das Magris selbst nie verwendet) sei der Mythos freilich nie einsinnig: Er ist in sich ambivalent, 33 ja dialektisch, ebenso wie er historische Lebenswelten 100 Clemens Ruthner <?page no="101"?> 34 MAGRIS (2000). S. 22. 35 BAUDRILLARD, Jean (1981): Simulacres et Simulation. Paris: Éditions Galilée. 36 MAGRIS (2000). S.-25. 37 Vgl. BARTHES (2010). S.-296. 38 MAGRIS (2000). S.-25. 39 Ebd. S.-26. 40 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. 24 Bde. Wien: k. k. Hof- und Staats-Druckerei / Hölder 1885-1902. Eine Auswahl daraus wurde von Christiane ZINTZEN herausgegeben (Wien u.a.: Böhlau 1999). Vgl. auch dies. (2006/ 07): Viribus unitis pour l’Œuvre du Prince Héritier ‚La Monarchie Austro-Hongroise par le texte et l’image‘. In: Chroniques allemandes [Grenoble] 11. S.-15-40. 41 MAGRIS (2000). S.-26. nicht nur politischen Bedürfnissen anverwandelt, sondern „eine historischgesellschaftliche Wirklichkeit vollständig durch eine fiktive, illusorische Rea‐ lität ersetzt“. 34 Damit ist der Mythos notabene auch - mit Jean Baudrillard 35 gesprochen - ein simulacrum, das freilich sogar widerständige Autor*innen in seinen Bann geschlagen hält. Das mythische Narrativ verleiht nämlich der kontingenten Historie den Anschein des Natürlichen, Notwendigen, Normalen und dient als „Waffe des habsburgischen Kampfes gegen die Geschichte“, 36 wie es in einer Formulierung heißt, die so auch beinahe vom semiotischen Mythologen Barthes stammen könnte 37 (wenn sich dieser bloß für die Donaumonarchie interessiert hätte). Im Zentrum des von ihm postulierten „habsburgischen“ Mythos stehe nun, so Magris, das „übernationale Ideal“, 38 also die „paternalistische“ 39 Fiktion der besten aller Welten (Leibniz quasi franzisko-josephinisch redigiert): einer prästabilierten Harmonie der ‚Völker‘, die einerseits - wenn wir etwa an das sogenannte Kronprinzenwerk  40 denken - in Zisleithanien zu einer Art von poli‐ tical correctness führte, die allen Beteiligten einen Ort in dieser idealen Ordnung zuweist, die andererseits aber völlig irreal ist: Sie ignoriert die im 19. Jahrhundert unerträglich werdenden Nationalitätenkonflikte in der k. u. k.-Monarchie, hinter denen sich häufig ein Klassenkampf verbarg - doch in sozialen Kate‐ gorien vermag der habsburgische Mythos nicht zu denken. Vielmehr stellt er in seiner „Verteidigung der geliebten, schwankend gewordenen Werte“ 41 gleichsam das epistemische Beharrungsvermögen des Habsburger Reiches dar, als Reaktion auf moderne Formen der Regierung (‚GouverneMentalität‘) nach der französischen Revolution, als die Donaumonarchie zunehmend zum Ana‐ chronismus wurde. In weiterer Folge zählt nun Magris die drei Leitmotive des habsburgischen Mythos auf, die jenes übernationale Ideal von Viribus unitis gleichsam narrativ ausarbeiten: Realism Rules? 101 <?page no="102"?> 42 MAGRIS (2000). S. 29f. 43 Ebd. S.-9f. 44 BOYM, Svetlana (2001): The Future of Nostalgia. New York: Basic Books. S.-13. 45 Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich in den frühen 1980er-Jahren bei Karl Wagner in Wien dazu eine Seminararbeit schreiben musste. • Die literarische Verherrlichung der habsburgischen Bürokratie, deren „Lieb‐ lingsheld“ „der fleißige alte Beamte“ sei, • die Mythisierung Franz Joseph I. und • „der sinnliche und genußfreudige Hedonismus“ der habsburgischen Kultur, die somit die preußisch-protestantische Rationalität und Nüchternheit op‐ poniere. 42 Dabei sei, wie Magris in einer interessanten Zuspitzung weiter meint, der „habsburgische Mythos“ als Krisennarrativ freilich grundlegend ambivalent, wenngleich gerade in seiner Kritik doch affirmativ. Er präsentiere sich als verführerisches Gesicht der Ordnung, der harmonischen Ganzheit, brachte aber eine Literatur hervor, die mit illusionsloser Klarheit die Leere der herrschenden Zivilisation demaskierte, den Nihilismus des modernen Wissens, jene abstrakte Konstruktion, die auf einem Vakuum beruht, vergleichbar der Loge des Kaisers, von der Broch spricht, die ständig leer bleibt und dennoch das Zentrum bildet, um welches die Realität sich ordnet. Die Geschichte des habsburgischen Mythos ist die Geschichte einer Kultur, die mit besonderer Intensität in der ihr eigentümlichen Form die Krise und die epochale Verwandlung einer Zivilisation mitgemacht hat […]. 43 Zu unterscheiden wäre hier m. E. allerdings zwischen einem habsburgischen Mythos als dem supranationalen (Ver-)Einigungsmantra des Imperiums, wie es sich einerseits in offiziellen Diskursen der Zeitgenossenschaft bis 1918 ausdrückt und in der Literatur mehr oder weniger kritisch widerspiegelt - und andererseits dem nostalgisch nachgereichten Narrativ der Zeit nach dem Zusammenbruch, insbesondere der Zwischen- und Nachkriegszeit in Zentral‐ europa, das nostalgische Züge einer retrospektiven Utopie annimmt: „a longing for a home that no longer exists or has never existed“, „yet the moment we try to repair ‘longing’ with a particular ‘belonging’“. 44 4. Doch zurück zur Literaturgeschichte: Der Naturalismus macht bekanntlich sichtbar, was der Bürgerliche Realismus ausblendete. Dies gilt für die Literatur des gesamten deutschsprachigen Raumes, wenngleich es hier den kakanischen Sonderweg zu berücksichtigen gilt. Wie früheren Literarhistorikern nämlich gerne auffiel, gab es keinen ausgeprägten Naturalismus in Österreich 45 - viel‐ 102 Clemens Ruthner <?page no="103"?> 46 Vgl. KRAPPMANN, Jörg (2013): Allerhand Übergänge. Interkulturelle Analysen der regionalen Literatur in Böhmen und Mähren sowie der deutschen Literatur in Prag (1890- 1918). Bielefeld: transcript. S.-163-229. 47 Vgl. RUTHNER, Clemens (2018): Wiener Jahrhundertwende andersrum. Ivan Cankar, down & under in Ottakring. In: KRIEGLEDER, Wynfrid / SEIDLER, Andrea / TANCER, Jozef (Hg.): Kulturelle Zirkulation im Habsburgerreich. Kommunikationsraum Wien. Wien: Edition Praesens. S.-288-297. 48 GAUSS, Karl Markus (1998): Ins unentdeckte Österreich. Nachrufe und Attacken. Wien: Zsolnay. S.-108ff. 49 BAHR, Hermann (2004): Die Überwindung des Naturalismus [1891] (= Kritische Schriften II). Weimar: VDG. S.-130 (S.-156 in der Erstausgabe). leicht aber insbesondere deshalb, weil man diese Strömung nur im Kernkanon gesucht hat und damit einer petitio principii erlag. Der Naturalismus in Österreich kommt jedoch nicht aus einer autochthon bürgerlichen Literaturproduktion des Zentrums (oder wird dort etwa mit Schnitzlers Der Sohn [1889] nur kurz rezipiert), sondern von den Rändern, etwa von deutsch-mährischen Schriftstellern, die rund um das ‚habsburgische Manchester‘ Brünn/ Brno aktiv waren, wie z. B. von Philipp Langmann (1862- 1931). 46 Weitere Einträge in eine habsburgische Spielart des Naturalismus kommen von Autoren, die vielfach unbemerkt in den Wiener Vorstädten auf Tschechisch, Slowenisch oder Jiddisch schrieben, wie etwa der im Folgenden behandelte Ivan Cankar, der von 1898 bis 1909 in ärmlichen Verhältnissen in Ottakring lebte. 47 Hier gälte es, literarhistorisch eine Anregung von Karl Markus Gauß aufzugreifen, der sich schon in seinem inspirierenden Essayband Ins unentdeckte Österreich von 1998 dafür ausgesprochen hat, das Metropolenbild der aristokratischen und bürgerlichen Wiener Moderne durch Stimmen vom Rand zu ergänzen: nicht nur durch das Schrifttum einer beginnenden Arbeiter‐ bewegung, sondern auch durch jene vergessenen allochthonen Autor*innen, die aus dem pseudo-national formatierten Kanon einer ,österreichischen‘ Literatur im engeren Sinne herausgefallen sind. 48 Hier hat man sicher zu viel Augenmerk auf die Texte des Zentrums und ihre „Überwindung des Naturalismus“ gelenkt, die 1891 von Hermann Bahr proklamiert wurde - jenem oberösterreichischen Edelfeuilletonisten, der sich gern als Zeitzeuge, ja als Hebamme (und Sterbe‐ helfer) beim Entstehen und Vergehen literarischer Bewegungen gerierte (und dabei eher nach West- und Norddenn nach Mitteleuropa schaute): Ich glaube also, daß der Naturalismus überwunden werden wird durch eine nervöse Romantik; noch lieber möchte ich sagen: durch eine Mystik der Nerven. Dann freilich wäre der Naturalismus nicht bloß ein Korrektiv der philosophischen Verbildung. Er wäre dann geradezu die Entbindung der Moderne: Denn bloß in dieser dreißigjährigen Reibung der Seele am Wirklichen konnte der Virtuose im Nervösen werden. 49 Realism Rules? 103 <?page no="104"?> 50 Wobei freilich die Thesen von Manfred Weinberg und Jörg Krappmann, die die Existenz einer dezidiert ‚Prager‘ Literatur in Zweifel ziehen, trotz der Inflation jenes Begriffs wohl auch einiges Befremden ausgelöst hat; vgl. BECHER, Peter u. a. (Hg.) (2017): Handbuch der deutschen [! ] Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart: Metzler. 51 BAHR, Hermann (1904): Dialog vom Tragischen. Berlin: S. Fischer. S. 60. Zit. in: WUNBERG, Gotthart (Hg.) (1981): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Reclam. S.-148. 52 MACH, Ernst (1886): Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena: G. Fischer.- Hier wäre besonders auf den von Bahr später po‐ pularisierten Abschnitt „Antimetaphysische Bemerkungen“ hinzuweisen. Vgl. KIESEL, Helmuth (2004, 2 2016): Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jh. München: C.H. Beck. S.-28ff. 53 Vgl. dazu das Standardwerk von KIESEL (2004). (Ebenso wäre hier die Rolle der Regionalliteraturen mit zu bedenken, die darauf verweisen, dass Literatur im Imperium nicht selten in mehrsprachigen Überlappungszonen existiert, wie etwa die böhmischen Länder zeigen. 50 ) 5. Nicht nur ästhetisch ist der Modernismus der Jahrhundertwende als entscheidender Wendepunkt anzunehmen, wofür uns nochmals Bahr mit seinen oft zitierten Sätzen als Kronzeuge dienen soll: Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie, auch uns zu vernichten. Da werden wir erkennen, daß das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion. Für mich gilt nicht, was wahr ist, sondern was ich brauche, und so geht die Sonne dennoch auf, die Erde ist wirklich, und ich bin ich. 51 Mit dieser geradezu sprichwörtlichen Identitäts- und Wahrheitskrise um 1900 - die etwa im Empiriokritizismus des Physikers Ernst Mach (1838-1916) 52 ihren Ausdruck findet und dann speziell im Werk Sigmund Freuds - werden Zentral‐ instanzen des Imperiums unterminiert, nämlich eine verbindliche ‚Wirklichkeit‘ und Sprache sowie das adelige und bürgerliche Ego/ Subjekt; dieses erweist sich als neurasthenisch, nervös, ja neurotisch und wird dadurch gewissermaßen zum Auslaufmodell. In unserem Sinne freilich ließe sich auch Freud durchaus imperial interpre‐ tieren: Das Ich als Spielball, als Kampfzone zwischen dem ‚imperialen‘ Über-Ich und dem Es, den Partialtrieben, zu denen man in meiner Meta-Interpretation auch den Nationalismus oder Antisemitismus rechnen könnte. Ebenso sind die anti-mimetischen Verfahrensweisen der programmatischen Moderne 53 um 1900 nicht nur als ästhetische Reaktion auf die gesellschaftliche Modernisierung zu verstehen, sondern auch als Projekte der ideologischen Infragestellung 104 Clemens Ruthner <?page no="105"?> 54 Vgl. RILKE, Rainer Maria (1987): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Sämtliche Werke. Bd. VI. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinne. Frankfurt/ M.: Insel. S.-709-946, hier S.-882ff. 55 CASANOVA (2004). S.-304. 56 Ebd. S.-104, vgl. S.-189ff. 57 Ich möchte mich hier auch etwa von den bekannten Thesen von Jameson absetzen; vgl. JAMESON, Frederic (1988): Modernism and Imperialism. In: Ders. u.a.: Nationalism, Colonialism and Literature. New York: Field Day. S. 43-66; vgl. auch CASANOVA (2004). S.-321. 58 Ich verweise hier auf das umfängliche Zagreber Krleža-Projekt, an dem zwei Pro‐ tagonisten unseres Kakanien-revisited-Netzwerkes, Marijan Bobinac und Milka Car, maßgeblich mitgearbeitet haben. zentraler Positionen des Imperiums. Nicht umsonst spricht Mach in dem oben wiedergegebenen Zitat auch vom Sturz der „alten Götter“. In diesem Sinne möchte ich die österreichische Moderne als imperiale Selbstkritik lesen (z. B. in den Dramen und Erzählungen Arthur Schnitzlers, prominent etwa in Leutnant Gustl, 1900). Deutlich wird dies auch in Malte Laurids Brigge, jener radikalen Roman-Reform Rainer Maria Rilkes von 1910, die sich oberflächlich von Österreich-Ungarn ab- und Frankreich zuwendet. In der Episode des guten, hedonistischen Herrschers (Karl des Kühnen von Burgund) und seines hässlichen Endes in der Schlacht von Nancy 1477 versteckt sich eine unterschwellige, kritische Reflexion auch der Frühgeschichte des Habsburger Reiches; 54 der Untergang des ehemaligen Mittelreiches verweist darauf, dass es in der Welt der Imperien keinen guten Mittelweg gibt. Fokussiert man wiederum auf die nicht-deutschsprachigen Modernismen der Habsburger Monarchie, so wird deutlich, dass sich hier neue Verfahren zur Wirklichkeitserfassung bzw. -konstruktion mit nationalen Projekten und natio‐ nalistischen Praktiken verbinden. Mit den Worten von Pascale Casanova geht es um “a rupture with the literature of the center”: 55 “literary spaces have been able to appear in the absence of a formally constituted state”. 56 Es handelt sich um eine dekoloniale wie national(istisch)e Bemächtigung und Umkodierung zentraler Formen des Imperiums, 57 also des Romans, der Erzählung etc. - aber vor allem um die Nutzbarmachung kleiner bzw. humoristischer Formen. Als Kronzeugen aufgerufen werden könnten hier: die tschechische Avantgarde und Jaroslav Hašeks Abenteuer des braven Soldaten Schwejk (als Theaterstück und Kurzgeschichten ab 1911; in Romanform 1920-1923); eine durchaus ähnliche satirische Hintertreibung des vorgeblichen Patriotismus des Imperiums und seiner Nachfolgestaaten a posteriori bei Miroslav Krleža (1893-1981), 58 die einen frühen Höhepunkt in dessen monumentalem Antikriegserzählband Hrvatski bog Mars (Der kroatische Gott Mars, 1922) findet; weiters etwa die soziale Realism Rules? 105 <?page no="106"?> 59 In der von Erwin Köstler übersetzten deutschsprachigen Werkausgabe sind erhältlich: CANKAR, Ivan (1994, 1998): Vor dem Ziel. Literarische Skizzen aus Wien. Klagenfurt: Drava; Ders. (1995): Pavliceks Krone. Literarische Skizzen aus Wien. Klagenfurt: Drava. 60 Vgl. KIESEL (2016). S.-50ff. 61 Vgl. dazu RUTHNER, Clemens (2017): Collateral Roadkill. The Conflicted Death of “Central Europe” en Route to Sarajevo and Brussels. In: Ders. / MÜLLER-FUNK, Wolfgang (Hg.): Narrative(s) in Conflict. Berlin, New York: De Gruyter. S.-165-186. Anklage der Wiener Novellen von Ivan Cankar (1876-1918), die die nichtdeutschsprachige working class der Stadt gleichsam auf einen Kalvarienberg kapitalistischer Leiden schicken. 59 Der progressiven Kritik dieser Modernismen stellt sich dann u. a. die regressive, ‚völkische‘ Heimatkunst in deutscher Sprache entgegen. 60 6. Die literarische Moderne nach dem Ersten Weltkrieg dreht sich glei‐ chermaßen um die retrospektive Kritik wie um eine melancholische Nostalgie des Imperiums. Ich denke hier vor allem an Robert Musil (1880-1942) und Joseph Roth (1894-1939), aber auch an Sándor Marai (1900-1989), dessen A gyertyák csonkig égnek (1942, dt.: Die Glut) ganz deutlich auch staatspolitisch zu lesen ist. Die 1930er-Jahre und danach sind denn auch wie bereits angedeutet die Blütezeit eines ‚habsburgischen Mythos 2.0.‘, der nicht mehr im Sinne des Staatsmottos Viribus unitis als Ideologie des Zusammenhaltens der Kleinen, sondern als rückwärts gerichtete Utopie von - häufig: jüdischen - Autoren dient, die dem Säurebad der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren: Ihre letzten Ausläufer finden sich in Milan Kundera (geb. 1929), György Konrád (1933-2019) und Danilo Kiš (1935-1989), die das kulturelle Gedächtnis der k. u. k.-Monarchie im so genannten ,Mitteleuropa-Diskurs‘ zum virtuellen Gegenprojekt gegen die staatskommunistische Diktatur und die territoriale Zersplitterung Zentraleuropas aufwenden. 61 7. Formen habsburgischer Nostalgie (mit Autoren wie Alexander Lernet-Ho‐ lenia, 1897-1976), des bewussten Ignorierens des imperialen Erbes wie auch dessen Kritik finden sich schließlich noch häufig in der österreichischen Gegen‐ wartsliteratur. Das Andauern dieser postimperialen Belastungsstörung lässt sich unschwer noch bis in die Tage der zentraleuropäischen Wende verfolgen, in den Texten der sogenannten Nachfolgestaaten sogar noch länger, wenn wir etwa an das Œuvre von Jurij Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk (beide 1960 geboren) denken, oder an Jaroslav Rudiš (geb. 1972). Während sich in der Geschichtsschreibung der Zweiten Republik zunächst eine kritische Sichtweise, dann aber, nach der Jahrtausendwende, mit anglophonen Historikern wie Chris‐ topher Clark, Pieter M. Judson oder Steven Beller eine gewisse Rehabilitierung 106 Clemens Ruthner <?page no="107"?> 62 Vgl. CLARK, Christopher (2013): Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München: DVA [engl. EA 2012]; JUDSON, Pieter M. (2017): Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740-1918. München: C.H. Beck [engl. EA 2015]; BELLER, Steven (2018): The Habsburg Monarchy 1815-1918. Cambridge: Cambridge Univ. Press. 63 BERNHARD, Thomas (1995): Heldenplatz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S.-96. 64 Dies sollte auch fokussierter geschehen als in der eher auf screenshots basierenden ostmitteleuropäischen Literaturgeschichte von CORNIS-POPE, Marcel u. a. (2004-2010): History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th centuries. Amsterdam u.a.: Benjamins. des k. u. k. Staatsgebildes durchsetzt (ein neuer ‚habsburgischer Mythos 3.0‘? ), 62 stoßen wir auch an unerwarteten Orten, in der literarischen Konfrontation mit dem zunehmend als problematisch empfundenen republikanischen Österreich auf Formen des imperialen Wiederholungszwanges. So heißt es beispielsweise in Thomas Bernhards Skandaldrama Heldenplatz (1988) ganz prominent in einer der Schmähreden des Professor Robert: Ich war nie ein Anhänger der Monarchie das ist ganz klar das waren wir alle nicht aber was d i e s e Leute aus Österreich gemacht haben ist unbeschreiblich eine geist- und kulturlose Kloake die in ganz Europa ihren penetranten Gestank verbreitet und nicht nur in Europa dieser größenwahnsinnige Republikanismus […] 63 * An dieser Stelle müssen meine kursorischen Thesen freilich aus Zeit- und Platz‐ gründen abbrechen. Es bedürfte eines transnationalen wie transdisziplinären Forschungsteams in der Grenzregion von Literatur und Geschichte, um die hier vorgetragenen Punkte auszuwerten, zu verifizieren und gegebenenfalls auch zu falsifizieren. Ein durchaus lohnendes Projekt, das der Beginn von etwas Größerem sein könnte: eine komparatistische Gesamtdarstellung der Geschichte(n) der habsburgischen Literaturen in ihrer wechselseitigen ästheti‐ schen und politischen Bedingt- und Bezogenheit (denn es versteht sich von selbst, dass dies eine ‚Nationalphilologie‘ nicht leisten kann). 64 Lobenswerte erste Schritte in dieser Richtung laufen bereits in der sogenannten Germano- Realism Rules? 107 <?page no="108"?> 65 Siehe www.ipsl.cz. Bohemistik an der tschechischen Akademie der Wissenschaften bzw. am Prager Institut für Literaturforschung. 65 Was dabei indes nie vergessen werden sollte, ist der ambigue Charakter kultureller Artefakte, den auch das eingangs als Motto dieses Aufsatzes wieder‐ gegebene Eagleton-Zitat umreißt: dass das, was z. B. in der Literatur affirmiert wird, sich in ihrer Polysemie gleichermaßen unterminiert sieht. Könnte es also nicht sein, dass das Imperium gerade deshalb der Belletristik als ästhetischinstabilem Schreiben grundlegend misstraut? 108 Clemens Ruthner <?page no="109"?> 1 Der Beitrag ist im Rahmen des Projekts „Dimensionen der Interkulturalität in der deutschsprachigen Kultur der Tschechoslowakei 1918-1939 am Beispiel ihres linken Segments“ entstanden. Das Projekt wird von der Forschungsagentur der Tschechischen Republik (GAČR, Nr. GA21-06511S) gefördert. 2 WINDER, Ludwig (1917): Die rasende Rotationsmaschine. Berlin, Leipzig: Schuster & Loeffler. 3 Ab 1918: Deutsche Zeitung Bohemia. 4 Der erste von ihm gezeichnete Text ist die Besprechung der Gedichte von Käte Cajetan- Milner, veröffentlicht in der Zeit am 8. 12. 1907 ( Jg. 6, Nr. 1871, S. 31). Parallel veröffentlicht er auch Gedichte, z. B. „Begegnung im Tal“ in der Wiener „humoristischen Wochenschrift“ Die Muskete (Nr.-116, 19. 12. 1907). 5 Dieser Eindruck wird auch von Kurt Krolop bestätigt, der beim Verfassen seiner Winder-Dissertation (1967 verteidigt, aber erst 2015 veröffentlicht) auch in diesem Punkt seinerseits noch auf Bestätigungen von Zeitzeugen zurückgreifen konnte, u. a. Postimperiales im bürgerlichen Imperium der „prächtigen Menschen“ Ludwig Winders Roman Die rasende Rotationsmaschine (1917) 1 Jan Budňák (Masaryk-Universität Brno) Ludwig Winders Romanerstling, der Wiener Presseroman Die rasende Rotati‐ onsmaschine, wurde mitten im Ersten Weltkrieg verfasst und bereits 1917 im Berliner und Leipziger Verlag Schuster und Loeffler aufgelegt. 2 Der damals 28-jährige Autor arbeitete seit Mitte 1914 als Kulturreferent und Feuilletonist der Prager deutschliberalen Tageszeitung Bohemia, 3 war aber trotz seines - berufstechnisch betrachtet - noch zarten Alters bereits ein erfahrener Zei‐ tungsmann. Journalistische Erfahrung sammelte Winder in den Zentren und an den Peripherien der Monarchie gleichermaßen. 1907-1909 war er in der Lokalredaktion der Wiener liberalen Tagezeitung Die Zeit beschäftigt, wo er nur wenige Monate nach dem Abitur an der Olmützer Handelsakademie seine journalistische Karriere begann. 4 Auf diese Erfahrung greift Winder auch bei der Schilderung der ambitionierten Zeitung und ihres als tyrannisch gezeichneten Herausgebers in der Rasenden Rotationsmaschine zurück. 5 Von der angesehenen, <?page no="110"?> von Winders Ehefrau Hedwig Winder oder jene des Bohemia-Redakteurs Ferdinand Deml; vgl. KROLOP, Kurt (2015): Ludwig Winder. Sein Leben und sein erzählerisches Frühwerk. [1967]. Olmütz: Palacký-Universität. S.-103ff. 6 Ab 1. 4. 1911, vgl. die Notiz im Mährischen Tagblatt vom 8. 3. 1911 ( Jg. 32, Nr.-55, S.-3). 7 Ebd. S.-29-38. 8 Gedichte. Dresden: Pierson 1906; Das Tal der Tänze. Bielitz: Schmeer 1910. 9 Bielitz: Schmeer 1910. 10 KROLOP (2015). S.-29-38. 11 Ebd. S.-53. 12 L. W. [Winder, Ludwig]: Karel Čapek †. In: Deutsche Zeitung Bohemia 111 (28. 12. 1938), Nr.-305. S.-1. 13 N. N.: Zum Abschied. In: Deutsche Zeitung Bohemia 111 (31. 12. 1938), Nr. 308. S. 1. Dort heißt es u. a.: „Der Pressechor der nächsten Zukunft wird bald nur noch die Fidelio-Melodie summen können: Sprecht leise, haltet Euch zurück, wir sind belauscht mit Ohr und Blick. Deshalb verzeichnen wir heute unsere Sterbestunde. Aber nur unsere Sterbestunde. Der kleine Funke der großen deutschen freiheitlichen Idee, der auch uns befeuerte, wird nie verlöschen.“ Das Ende der Deutschen Zeitung Bohemia steht somit im Zeichen von Liberalismus und Demokratie, man bekennt sich zur tschechoslowakischen Demokratie und zur deutschen Kultur gleichermaßen. 14 KROLOP (2015). S.-53. vom Programm sowie der Produktion und der Vermarktung her progressiven liberalen Zeitung, und aus der Reichsmetropole Wien wechselte Winder in eine diametral unterschiedliche Atmosphäre. Zwischen 1909 und 1911 arbeitete er in der Redaktion des Bielitz-Bialaer Anzeigers als Feuilletonist, von dort ging er im Frühling 1911 6 in das westböhmische Teplitz zur deutschliberalen Teplitzer Zeitung, und im August 1912 wanderte er für ein halbes Jahr noch nach Pilsen in die Redaktion des ebenfalls deutschliberalen Pilsner Tagblatts als Feuilleton‐ redakteur und Theaterkritiker. 7 In derselben Zeitspanne erschienen seine zwei Gedichtbände 8 und der Einakter Mittag  9 ; auch korrespondierte Winder mit wichtigen literarischen Persönlichkeiten wie Karl Kraus und Richard Dehmel, die er in der böhmischen Provinz auch vorstellte. 10 Somit stand Winder lediglich zwischen Frühjahr 1913 und Sommer 1914 außerhalb des Zeitungbetriebs. Der Prager Bohemia blieb Winder bis zu ihrer Einstellung Ende Dezember 1938 treu und publizierte dort an die 3.000 Beiträge. 11 Der letzte war sein bewegter Nachruf auf den tschechischen Schriftsteller Karel Čapek, 12 dem nur drei Tage später der ebenso bewegte, nicht namentlich unterzeichnete Nachruf auf die ganze Zeitung folgte. 13 Winders journalistisches Werk, das laut seinem Biographen Kurt Krolop „eine ziemlich lückenlose Geschichte der deutschsprachigen Literatur und der Prager deutschen Theater vom Ausbruch des ersten bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs ergäbe“, 14 wurde zwar 110 Jan Budňák <?page no="111"?> 15 STEINFELD, Patricia-Charlotta (2009): Ludwig Winder (1889-1946) und die Prager deut‐ sche Literatur. Erste vollständige Bibliographie zum Werk Ludwig Winders. Dettelbach: J. H. Röll. 16 BECHER, Peter (2016): Ludwig Winder als Kulturredakteur der Bohemia 1914-1918. In: HÖHNE, Steffen / LUDEWIG, Anna-Dorothea / SCHOEPS, Julius H. (Hg.): Max Brod. Die ‚Erfindung‘ des Prager Kreises. Köln: Böhlau. S.-303-316. 17 Ebd. S.-313. bereits bibliographisch erfasst, 15 ist aber sonst bis auf eine rühmliche Ausnahme von der germanistischen Forschung unbeachtet geblieben - den Aufsatz Peter Bechers zu Winders widerspruchsvoller wie tiefgreifender Auseinandersetzung mit der Monarchie und dem Ersten Weltkrieg 16 in der Bohemia. Überzeugend dokumentiert Becher den schrittweisen „Abschied von Österreich“ - so der Titel von Winders Feuilleton vom 17. Oktober 1918 - wie ihn der Kulturre‐ dakteur und Autor zwischen 1914 und 1918 erlebte. Der Kriegsverlauf spielt die entscheidende Rolle in der schnellen Ernüchterung Winders: „Aus dem Tonfall der Gewissheit und der Behauptung [zu Kriegsbeginn, JB] ist ein Tonfall der Unsicherheit und der Verzweiflung geworden.“ 17 Somit liegt auch nahe, Die rasende Rotationsmaschine, die zeitlich inmitten dieser Entwicklung steht, als eine Art „Abschied von Österreich“ zu lesen, zumal Winder diesen Roman auch in der Kriegserfahrung des Protagonisten gipfeln lässt, die seinem journalistischen Engagement endgültig den Boden unter den Füßen wegzieht und seine innere, vorher nicht reflektierte Ambivalenz zwischen modernen und vormodernen Lebenspraktiken bloßlegt. Im vorliegenden Beitrag wird auf die Frage eingegangen, in welches Licht die Endphase der österreichischen Monarchie durch Winders Rasende Rotationsma‐ schine gestellt wird. Im Roman wird natürlich nicht der politische Untergang der Monarchie dargelegt, der erst ein Jahr später erfolgte. Das Bild des Wiener Journalismus bzw. der Pressewelt, das die unterschiedlichsten Akteure in Szene setzt - einschließlich der kapitalistischen oder aristokratischen Mäzene und der Leserschaft - lässt sich vielmehr als ein kultureller und anthropologischer Gegenentwurf zur Lebenspraxis der späten Monarchie verstehen. Dieses post‐ imperiale Moment in Winders Roman wird wesentlich durch dessen Protago‐ nisten, den Zeitungsherausgeber Theodor Glaser, getragen, und bemerkenswert ist, dass sich darin das Periphere und Althergebrachte mit dem Progressiven und kulturell Zentralen die Hand reichen. Postimperiales im bürgerlichen Imperium der „prächtigen Menschen“ 111 <?page no="112"?> 18 [Der Name lässt möglicherweise Assoziationen mit dem vulgären kroatischen Wort für das Gesäß (dupe) zu, das auch in nordmährischen Dialekten existiert. Anm. der Hrsg.] 1. Translatio imperii in die kapitalistische Tschechoslowakei: Die nachgeholten Freuden (1927) Als Vergleichsfolie für die Analyse des postimperialen Moments in dem noch zu ‚Lebzeiten‘ des Imperiums entstandenen Roman Die rasende Rotationsma‐ schine sei zunächst der 1927 herausgegebene, bekanntere Roman Winders Die nachgeholten Freuden herangezogen. Mit der Rasenden Rotationsmaschine verbindet ihn am sichtbarsten der Typus des Protagonisten. Hier wie dort handelt es sich um einen aus der Peripherie kommenden Tyrannen, der einer ganzen Gemeinschaft seinen Willen aufzwingen will. Auch die Mittel, um das zu erreichen, sind durchaus vergleichbar: sie sind modern, sie machen von der neuesten Technik und der kapitalistischen (Konsum-)Wirtschaft Gebrauch. In beiden Fällen werden diese äußerlich progressiven Systemgegner von nur teilweise reflektierten kulturellen bzw. psychologischen Atavismen geleitet. Winders fünfter Roman Die nachgeholten Freuden ist im wahrsten Sinne ein kakanisch-tschechoslowakischer. Sein Protagonist, ein für Winder typischer rücksichtsloser Machtmensch, stammt aus der kroatischen Provinz: er heißt Dupic. 18 Dort ist er auch als Kind bzw. junger Erwachsener durch die ihm zuge‐ fügten Erniedrigungen sowie durch die Erkenntnis der triebhaften Veranlagung aller Menschen zu einem Menschenverächter und -herausforderer, zu einem Tyrannen, herangewachsen. In den letzten Vorkriegsjahren und noch stärker im Weltkrieg bringt es Dupic mit dieser skrupellosen Einstellung zu ungeheurem Reichtum, und zwar im Zentrum der untergehenden Monarchie, die er zumin‐ dest in finanzieller Hinsicht so gut wie beerbt. Der eigentliche Romanbeginn fällt mit dem Kriegsende zusammen. Ende Oktober 1918 übernimmt Dupic auf seine undurchschaubare, scheinbar respektvolle, aber in Wirklichkeit von Hass und Rache erfüllte Art ein adeliges böhmisches Gut samt der adeligen Familie, die er fortan raffiniert erniedrigt, und nach kurzer Zeit zwingt er diese Praxis der gesamten Bevölkerung der Kleinstadt auf. Diese hält er durch modernste konsumkapitalistische Maßnahmen in Abhängigkeit, ja er versklavt sie: durch Kredite, die er ihnen gewährt und die sie nicht zurückzahlen können, und durch aufmerksam dosierte Amüsements spielerischer und sexueller Natur, die er ihnen in Aussicht bzw. fast in Reichweite stellt. Somit findet in den Nachge‐ holten Freuden das österreichische Imperium, das diesen menschenverachtenden Tyrannen großgezogen hat, eine eigentümliche Fortsetzung im noch größeren, raffinierteren kapitalistischen Imperium, das von der Tschechoslowakei der 112 Jan Budňák <?page no="113"?> 19 Der zweite neusachliche Roman Winders Dr. Muff (1931, Neuaufl. 1990) bringt noch‐ mals eine ähnliche Konstellation in Szene. Die Herrschaft des Industriellen über eine - böhmische - Stadt und vor allem deren Menschen wird hier weniger dämonisch dargestellt als in den Nachgeholten Freuden. Sie sieht selbstverständlich aus und funk‐ tioniert emotions- und reibungslos. Dieses System wird aus humanistischen Gründen vom jungen Lehrer im Ort angegriffen. Diese Herausforderung ist jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Zwischenkriegszeit genauso hofiert wird wie vordem von der Regierung der Monarchie. Nun könnte man sagen: der belesene Journalist Winder, dem es an Beispielen dieser modernen Art von Beherrschung und Versklavung durch Geld und Genuss gewiss nicht mangelte, hat 1927 sozusagen ,leicht schreiben‘. Im tsche‐ choslowakischen Zusammenhang bräuchte er sich nur das Beispiel des Zlíner Schuhimperiums Baťa anzuschauen, des industriellen Flaggschiffes der jungen Republik. 19 Ein wenig anders steht es aber um den Romanerstling Winders Die rasende Rotationsmaschine, auf dessen imperiale sowie postimperiale Aspekte im Hauptteil des Beitrags eingegangen wird. Das habsburgische Imperium wird in diesem Roman vor allem als die soziale Ausformung eines bürgerlichen Wertesystems dargestellt, das mit einer entsprechenden Subjektform, dem „prächtigen Menschen“, rechnet und diese auch ‚produziert‘. Postimperial wäre in diesem Zusammenhang die Herausforderung dieser bürgerlich-humanisti‐ schen Subjektform, die im journalistischen Feld vom Romanprotagonisten, dem Chefredakteur Glaser, vorangetrieben wird. 2. Postimperiales im Imperium: Die rasende Rotationsmaschine (1917) Die Handlung von Winders Romanerstling ist zwischen die Jahre 1900 und 1915 platziert, der Roman selbst ist ein Jahr vor dem Untergang der Monarchie erschienen. Das Postimperiale lässt sich hier somit nicht als die Schilderung dessen verstehen, was nach dem Untergang des Imperiums folgt bzw. historisch folgte. Das Postimperiale soll im vorliegenden Beitrag vielmehr als dasjenige deutlich gemacht werden, was auf das Ende des Imperiums hin- oder über es hinausweist, in ihm aber bereits enthalten bzw. mit ihm strukturverwandt ist, sei es auch als Kontrastbild, in der Kultur, im Zentrum-Peripherie-Verhältnis, in an‐ thropologischen „Subjektformen“, usf. Als postimperial werden im vorliegenden Beitrag somit die Gegenentwürfe zu dem analysiert, was als das Bestehende des Imperiums, d. h. in diesem Fall der habsburgischen Monarchie, literarisch repräsentiert wird. Postimperiales im bürgerlichen Imperium der „prächtigen Menschen“ 113 <?page no="114"?> 20 So lautete auch der Titel der ersten Fassung des Romans; vgl. KROLOP (2015). S.-105. 21 Auch der Hass gegen die österreichischen Adeligen verbindet die beiden Romanpro‐ tagonisten. Glaser Lieblingsbeschäftigung ist es z. B., den jungen, verarmten Grafen Karst, der in der Zeitung als Lokalreporter arbeitet, zu demütigen. Glasers Verachtung der elitären Aristokraten ist zu Beginn des Romans seiner (jüdischen) Herkunft aus der Peripherie geschuldet: „In der Gesellschaft von Aristokraten kam er sich noch immer wie ein hausierender Judenjunge vor.“ (WINDER [1917]. S. 77) Am Romanende, d. h. kurz vor Beginn des Weltkriegs, als Glaser sich zunehmend von der ‚realen Welt‘ isoliert, ändert sich seine Wahrnehmung, die aber auch vom heterodiegetischen Erzähler korrigiert wird: „Er haßte die Bürger so sehr, daß er die Aristokraten nun beinahe lieben konnte. Er übersah, dass die Aristokraten Bürger geworden waren, daß der Typus des [elitären, JB] Aristokraten, den er ehemals glühend gehaßt hatte, nur noch in wenigen vereinsamten Exemplaren fortlebte. […] Graf Karst war der einzige Mitarbeiter der ‚Zeitung‘, der vom Chefredakteur gut behandelt wurde.“ (ebd. S.-222) 22 Vgl. WINDER (1917). S. 77: „Er öffnete das Fenster und hörte dem Sausen der Maschinen, das aus der Unterwelt zu kommen schien, wie einem Konzert großer Meister zu. Er betrachtete lächelnd die blanken Reihen der weißen Glockenknöpfe, deren jeder einen Sklaven bedeutete. Er war im Vollgefühl der Macht; seine stahlgrauen Augen leuchteten irrsinnig. Er nahm eine Nummer der ‚Zeitung‘ zur Hand und dachte: mir gehört die Welt.“ Genau wie in den Nachgeholten Freuden steht also schon in der Rasenden Rotationsmaschine ein Tyrann im Mittelpunkt: 20 Dr. Theodor Glaser ist Chef‐ redakteur der neuen Wiener Tageszeitung, die ihren absoluten - und abso‐ lutistischen - Anspruch bereits durch den eigentlich unverschämten Titel zur Schau stellt: sie heißt Die Zeitung. Neben der menschenverachtenden Skrupellosigkeit verbindet Glaser und den „Dämon Dupic“ aus den Nachgeholten Freuden vor allem der Umstand, dass beide nahezu als Apostel der ‚neuen Zeit‘ auftreten und auch so wahrgenommen werden. Genauso wie Dupic die böhmisch-österreichische adelige Familie in der Stadt Boran überrumpelt, will Glaser die ganze österreichische Zeitungslandschaft übernehmen. 21 Dazu verwendet er ausgesprochen moderne Instrumente: das Kapital (er besorgt sich einen Blankoscheck beim Millionär Isidor Herzfeld), die neueste Technik - Leitmotiv ist die ununterbrochen arbeitende Rotationsmaschine, die Glasers fanatisches Arbeitskonzept und zugleich sein automatisiertes Menschenbild veranschaulicht 22 -, und vor allem ist es sein Umgang mit Informationen, der sich vom landesüblichen Journalismus völlig abheben soll. Einmal gefragt, welches Ziel er mit der Zeitung verfolgt, antwortet er: Das lässt sich nicht in einem Wort sagen. Zunächst will ich mir und meiner Zeitung Geltung verschaffen. Die Folgen dieses Erfolges, … das wäre mein Ziel. Ich möchte aus der Welt eine Schmiere machen und den Schmierendirektor spielen. Ich möchte in dieser Schmiere schalten und walten, wie es mir beliebt. Große klein und Kleine 114 Jan Budňák <?page no="115"?> 23 WINDER (1917). S.-68. 24 Ebd. S.-15f. groß machen, je nach Neigung und Laune, und solange auf alles pfeifen, bis alles nach meiner Melodie tanzt. 23 Diese Sätze Glasers machen deutlich, dass die Zeitung, das Geld und die Technik, und eigentlich auch die Informationen nur als Mittel für einen anderen Zweck dienen sollen. Glasers Ziel ist es, einen universalen Zustand des Chaos, der Orientierungs- und Ordnungslosigkeit hervorzubringen, und seine Erwartung liegt darin, in diesem Zustand seine Macht uneingeschränkt ausüben zu können. Es geht ihm im Grund nicht um Ideen, um Werte, um Propaganda - er will geradezu das Gegenteil davon erreichen: Dann wären ihm, dem potenziell allei‐ nigen Informations- und Wissensverwalter, all die von dieser Desorientierung Betroffenen ausgeliefert. Die bestehende Episteme will er nicht durch eine an‐ dere ersetzen, vielmehr will er sie mit seinem Machtinstrument destabilisieren. Es geht ihm nicht um die Umwertung, sondern um die Entwertung aller Werte. Damit wäre ein wertleerer Raum geschaffen, in dem die Willkür seiner Macht, des von ihm kontrollierten ‚Wissens‘, uneingeschränkt herrschen kann. Aus diesen Sätzen Glasers geht aber auch hervor, dass seine destruktiven Absichten sich bei weitem nicht nur auf die Presse beschränken. Er erklärt - natürlich nicht öffentlich - dem gesamten gesellschaftlichen System der Monarchie den Krieg, zunächst einmal deswegen, weil Wien umzukippen ihm als eine größere Herausforderung erscheint als etwa Berlin: Der unbekannte Kantorssohn aus Brody erlebte, ohne es jemanden ahnen zu lassen, einen Machtrausch, der von der Wirklichkeit unmöglich überboten werden konnte. Er wollte ein europäischer Machtfaktor werden und den Mächtigen seinen Willen aufzwingen. […] Daß die Zeitung in Wien und nicht in einer anderen Großstadt erscheinen sollte, gab ihm den höchsten Ansporn. In Berlin - o Gott, in Berlin konnte jeder tüchtige Mensch was Imposantes werden. In Berlin brauchte man nur Frechheit, Tüchtigkeit, Fleiß, Ausdauer, starke Ellenbogen und ein wenig Glück. […] In Wien hingegen … nein, in Wien war das nicht so einfach. Diese Stadt, die die Schwächlinge verhätschelte und die Starken abstieß, war nicht leicht zu erobern. Hier, wo alles Tradition, Erinnerung, Vergangenheit war, wo jeder Kutscher seinen Ahnenstolz hatte, hier wo man dem Schweigen der Steine andächtig lauschte, hörte man unwillig eine robuste Stimme aus der Fremde. […] Feindseligkeit, Mißtrauen war in allen Lagern sprungbereit: Dr. Theodor Glaser wußte es und freute sich. Die Gewißheit, auf Schritt und Tritt kämpfen zu müssen, beseligte ihn. 24 Postimperiales im bürgerlichen Imperium der „prächtigen Menschen“ 115 <?page no="116"?> 25 WINDER (1917). S.-87f. 26 Ebd. Die Stoßrichtung von Glasers Frontalangriff ist somit kulturell-anthropolo‐ gischer Art; sie gilt eigentlich dem von ihm als spezifisch österreichisch empfundenen „prächtigen Menschen“, wie es im Roman heißt. Für Winders Protagonisten bildet das Konzept des „prächtigen Menschen“ den Grundstein seiner Gesellschaftskritik: Ein prächtiger Mensch ist ein Kerl, der sich immer tadellos benimmt, eine Stütze der Gesellschaft sein will und dieselbe Korrektheit, die er äußerlich und innerlich zur Schau trägt, von allen Menschen ohne Unterschied verlangt. Der prächtige Mensch ist tüchtig in seinem Beruf, gemessen in seinen Bewegungen, streng gegen sich und gegen andere. Er genießt nur in kleinen Zügen und ist stolz darauf, jederzeit zum Aufhören bereit zu sein. […] Der prächtige Mensch ist das Gottesgericht, das die Philister über sich selbst verhängt haben. 25 Und Theodor Glaser soll dieser ‚richtende Gott‘ sein, möchte man hinzufügen. In heutige Terminologie übersetzt, besagt das Zitat so viel, dass der österreichi‐ sche „prächtige Mensch“ eine Subjektform darstellt, die sich zugleich durch Praktiken der Disziplinierung bzw. der Selbstdisziplinierung auszeichnet und über eine Disposition zur Kunst, zu Geschmack und Wahrnehmung von Schön‐ heit („prächtig“) verfügt. Diese Subjektform hat somit nicht nur eine äußere Dimension, d. h. ihre „Korrektheit“ lässt sich nicht als Produkt von äußeren Zwängen verstehen. Vielmehr hat sie als Subjektform und Handlungspraxis ein inneres Zentrum bzw. ist davon überzeugt, ein solches zu haben, und ist „stolz“ darauf. Sie als Lebenspraxis umzusetzen stellt eine enorme Herausforderung dar, da sie in ständiger Spannung zwischen Selbsterleben und Selbstbeherrschung steht, und zwar in allen Praktiken: vornehmlich in der Arbeit, aber auch in Körper- oder Familienpraktiken. Zugleich wirkt aber diese - explizit bürgerliche - Subjektform stark normativ. So kann sie auch ihre Rolle als „Stütze der Gesellschaft“ in der Monarchie erfüllen. Mit dem Soziologen und Anthropologen Andreas Reckwitz könnten wir diese Subjektform einfach als bürgerlich bzw. bildungsbürgerlich festmachen, und Winders Beschreibung des „prächtigen Menschen“ - der zu werden der junge Glaser von seinem Onkel, dem einzigen Menschen, der ihm sympathisch war, nachdrücklich gewarnt wird („Schau nur, dass du kein prächtiger Mensch wirst“ 26 ) - deckt sich de facto mit dem von Reckwitz so bezeichneten bürgerli‐ chen hybriden Subjekt fast vollständig. 116 Jan Budňák <?page no="117"?> 27 RECKWITZ, Andreas (2000): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Überarbeitete Neuauflage. Berlin: Suhrkamp. S. 33: „Die Kultur der Moderne und in ihrem Zentrum die Form des Subjekts ist insgesamt […] hybride strukturiert. Jenseits aller analytischen Purifizierungen des rationalen, des disziplinierten, des individualisierten, patriarchalischen etc. Subjekts erweist sich ‚die‘ moderne Subjektordnung als ein Ort der unreinen Kreuzungen, Kombinationen, aufeinander bezogenen Differenzen und Verweisungen.“ 28 Ebd. S.-249-281. 29 Ebd. S.-274. Reckwitz bezeichnet das bürgerliche Subjekt des langen 19. Jahrhunderts deshalb als hybrid, weil es aus seiner Perspektive stets durch ein Spannungsver‐ hältnis von mehreren grundlegenden Faktoren bestimmt ist: u. a. der Innerlich‐ keit bzw. Subjektivität, die v. a. durch die Aufnahme- und Produktionsfähigkeit von Kunst und Literatur als der bürgerlichen Praktiken des Selbst gepflegt wird, und der Tüchtigkeit bzw. der (Selbst-)Disziplinierung etwa im Berufs-, aber auch im Ehebereich. 27 Laut Reckwitz geht beim bürgerlichen Subjekt nie eine dieser beiden Dimensionen verloren, sondern sie ergänzen einander stets - in jeweils unterschiedlicher Spielart, etwa als das moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt der Aufklärungsperiode (vor 1800), das ästhetisch-individuelle romantische Subjekt zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder das moderate, kultivierte und somit respektable Subjekt des späteren 19. Jahrhunderts. 28 Diese Subjekt- und Praxisform kommt dem „prächtigen Menschen“ des Romans am nächsten, der in der Folge die Zielscheibe von Glasers ‚engagiertem‘ Journalismus darstellt. Weder bei Winder/ Glaser noch bei Reckwitz wird etwa die Borniertheit des ‚Kleinbürgers‘ dekonstruiert. Beide weisen vielmehr auf das Prekäre des an sich respektablen, bildungsbürgerlichen Lebens der Wiener Eliten hin. Reckwitz fasst dieses Prekäre im Begriff des bürgerlichen „Doppel-Lebens“ 29 zusammen: Das Risiko eines bürgerlichen Doppel-Lebens zwischen Moralisierung und Ökono‐ misierung sowie zwischen latenter Sexualisierung [an anderer Stelle ‚moralischemotionale Fundierung‘ genannt, die die Kunstwahrnehmung mit einschließt, JB] und manifester Sexualitätskontrolle, darüber hinaus der prekäre Dualismus zwischen Öffentlichem und Privatem bzw. zwischen den Geschlechtern bewirken zusammen genommen, dass eine zentrale Vorstellung, welche der bürgerlichen Lebensordnung seit dem 18. Jahrhundert als Fundament dient, unterminiert wird: die Grundannahme einer natürlichen Transparenz und benevolenten Balance der harmonischen bürger‐ lichen Welt im Gegensatz zum undurchsichtigen Spiel von Sein und Schein des Ancien Régime. Die bürgerliche Lebensform entwickelt nämlich nun selbst unintendiert und systematisch doppeldeutige Strukturen und instabile Sinngrenzen von ‚Schein‘ und ‚Sein‘, von Vorderwelt und Hinterwelt: eine Strategie des Statusstrebens ‚hinter‘ der Postimperiales im bürgerlichen Imperium der „prächtigen Menschen“ 117 <?page no="118"?> 30 RECKWITZ (2000). S.-280f. 31 Kondylis schreibt der bürgerlichen Gesellschaft des 19.-Jahrhunderts die „synthetischharmonisierende Denkfigur“ zu; vgl. KONDYLIS, Panajotis ( 3 2010): Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne [1991]. Berlin: Akademie Verlag. 32 Olga Feuermann ist als junges Mädchen dem aufstrebenden Glaser blind hingegeben, und er bringt sie als eine jederzeit erreichbare Zerstreuung mit nach Wien. Nach dem anfänglichen Erfolg der Zeitung wird sie von Glaser, der sie nicht mehr braucht, verlassen, wird aber nach einiger Zeit selbst weltberühmt als Opernsängerin. Ihre Laufbahn ist der von Glaser entgegengesetzt: Während sie als Operndiva einzig für ihr eigenes (körperliches wie sexuelles) Glück lebt, das sie als die Bedingung ihrer Kunst versteht, und somit im Prinzip ein genauso egozentrisches Lebenskonzept wie Glaser verfolgt, bringt Respektabilitätsfassade, eine interessierte Sexualisierung hinter der sexuellen Kon‐ trolle, ein Hin- und Herverschieben der eigentlichen bürgerlichen Identität zwischen männlichem und weiblichem Subjekt, auch eine Doppeldeutigkeit des Natürlichen als unhintergehbar und als primitiv zugleich. […] Das bürgerliche Subjekt […] erscheint nicht mehr natürlich, sondern artifiziell, als Ausdruck einer ‚unauthentischen‘, un‐ echten Künstlichkeit. 30 In einem mit Reckwitz kompatiblen 31 Modell bürgerlicher Subjektordnungen - dem von Panajotis Kondylis - werden wiederum die Berechenbarkeit, die Vorhersehbarkeit, der stabilisierende Anspruch dieser „Denk- und Lebensform“ betont - d. h. das genaue Gegenteil der „Schmiere“, deren unberechenbarer und gerade deshalb allmächtiger „Direktor“ Glaser zu sein vorgibt. Das postimperiale Moment von Glasers öffentlicher Aktivität im journalistischen Feld Wiens und der Monarchie besteht also darin, den die ‚hohe‘ Kultur konsumierenden bzw. produzierenden und zugleich sich selbst stark normierenden Bildungsbürger, die „Stütze der Gesellschaft“, Lügen zu strafen. Das System von Wissen und Praktiken, die „Denk- und Lebensform“ (Kondylis) der bürgerlichen Monarchie soll durch Glaser zerrüttet, in ein Chaos verwandelt werden, in dem er sein Informations- und damit auch Machtmonopol ausüben wird. 3. Tradition der Peripherie und Innovation der Moderne gegen das Imperium Den angeführten Zitaten ist unter anderem auch Theodor Glasers Ursprung aus dem galizischen Brody zu entnehmen - bekannt auch als Geburtsort von Joseph Roth und Inbegriff der kakanischen Peripherie. Dem müsste hinzugefügt werden, dass auch die weibliche Protagonistin des Romans, die Sängerin Olga Feuermann, die im Verlauf des Romans immer stärker zu Glasers Antagonistin 32 wird, ebenfalls dem ärmsten jüdischen Milieu Ostgaliziens entstammt. Die öster‐ 118 Jan Budňák <?page no="119"?> sie der Weltkrieg zum aktiven Mitmenschentum. Sie wird Pflegerin im Soldatenspital und kann schließlich auch ihre Kunst aus dieser Quelle ‚ernähren‘. 33 WINDER (1917). S.-17. 34 Der Romanaufbau sowie der heterodiegetische Erzähler tun dies im größeren Ausmaß. Gleich die Einstiegsszene betont den galizischen Ursprung von Glaser und Olga Feuer‐ mann, besonders die Zähigkeit und die Willenskraft der jungen Provinzmenschen in Wien, vgl. WINDER (1917). S.-6ff. 35 MÜLLER-FUNK, Wolfgang (2020): Ludwig Winders Psychogramm und seine Bezug‐ nahme auf die Psychoanalyse in Der Thronfolger und Die nachgeholten Freuden. In: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik 34. H. 2, S.-187-198. 36 WINDER (1917). S.-71. 37 Ebd. S.-6. reichische Provinz spielt im Roman insgesamt eine große Rolle, ja sogar das Znaimer Theater kommt vor. Trotzdem reflektiert Glaser, der sich zunächst auch als „konfessionslos“ 33 bezeichnet, wie es zu Beginn heißt, seinen ostjüdischen Ursprung fast nicht. 34 Das Wort „Kindheit“ erscheint im Roman das erste Mal genau neunzehn Seiten vor dem Ende, was einen unerwarteten Gegensatz etwa zu den Nachgeholten Freuden ausmacht, deren Lesart als kindheitsbedingtes Psycho‐ gramm vom Romantext und vom Protagonisten selbst durchgehend nahegelegt wird. 35 Wenn Glaser über seine jüdischen Landsleute spricht, ist das stets im Ton von „überhaupt muß man mit Jüdinnen vorsichtig sein“ 36 oder „Ich bin einmal aus Brody, da kann man nichts machen. Aber du - du bist tausendmal aus Brody.“ 37 Umso überraschender ist seine Hinwendung zur Religiosität, zu einem kalt leidenschaftlichen, spekulativen Mystizismus, die sich kurz vor und während des Weltkriegs vollzieht, den Glaser 1914 noch als die Erfüllung seiner Wünsche vom Untergang der Welt und den endgültigen Sieg des Chaos begrüßte: den definitiven Sieg des Chaos in der bürgerlichen Welt, von dem er überzeugt war und auf den er nach Leibeskräften hingearbeitet hat. Dies stellt sich schließ‐ lich auch als die eigentliche Basis für seinen scheinbar modernen, berechnenddestruktiven Umgang mit Informationen heraus. Glasers Wunschziel, mit der Zeitung aus der Welt eine „Schmiere“ zu machen, um den „Schmierendirektor“ spielen zu können, was am Anfang des Romans als ein Angriff eines skrupellosen Zeitungsunternehmers auf die ‚alte‘ Welt der normsicheren Aristokratie und des arrivierten Bürgertums verstanden werden muss, entpuppt sich in dieser Phase als eine Art Hinterlassenschaft des ostjüdischen Mystizismus: Er widersprach sich, ohne eine Blamage zu fürchten, und übte seine Sophistik Tag für Tag, Nacht für Nacht an jedem Stoff, der ihm zuflog. Er verwandelte sich in einen Ghettojuden zurück, dem alles zu einem schwierigen Talmudproblem wurde. Hirnverbrannte Kombinationen jagte er durch Leitartikel, jedes Wort wendete und drehte er zehnmal um, und die Schlußfolgerungen schrieb er mit einem pfiffigen Postimperiales im bürgerlichen Imperium der „prächtigen Menschen“ 119 <?page no="120"?> 38 WINDER (1917). S. 216f. 39 Ebd. S.-216ff. 40 Ebd. S.-221. 41 Ebd. S.-226. 42 Ebd. S.-225. 43 Ebd. S.-238. Lächeln nieder, das er bei seinem Großvater gesehen hatte, der sich durch die Lösung schwieriger Talmudprobleme in Brody in den Ruf großer Weisheit gebracht hatte. Diesem Talmudisten glich Theodor nun auch äußerlich. […] Sein Redaktionszimmer war seine Welt. Hier richtete er wie ein Gott die Menschen, die die Öffentlichkeit beschäftigten. Er ahnte nicht, daß sein Blatt längst keine Bedeutung mehr hatte; über die Wirkung seiner Artikel dachte er nicht mehr nach, er brauchte sie nicht. 38 Trotzdem trifft sich diese ostjüdische, religiöse Determinierung, die in der Spätphase von Glasers Karriere und Leben kurz vor und nach dem Ausbruch des Weltkriegs an die Oberfläche kommt, auf eine merkwürdige Art mit der modernen Befindlichkeit von Welterfahrung und Wissen. Beide - so unter‐ schiedlich sie auch sind - gehen von einer grundlegenden Unwirklichkeit von Erfahrung, Sprache und dem menschlichen Subjekt aus. Beiden wird die Welt zur „Einbildung“, werden die Menschen zu „Traumgestalten“ und die Sprache zur „Vision“ und „Dichtung“. 39 Glaser kann jedoch in dieser fragmentierten, undurchsichtigen und nicht mehr selbstverständlichen Welt, die immerhin aus ihm selbst hervorgeht und ihm gehört, kein Zuhause mehr finden, denn auch er ist bzw. empfindet sich als ein Produkt dieses entessenzialisierten und enthumanisierten Raums. Er ist weder ein kompaktes Subjekt mehr („Er war ein geistreich ersonnener Automat, der mechanisch Gedanken formte, wenn eine Anregung eingeworfen wurde.“ 40 ), noch kann er in der unwirklichen Welt Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen. Er wird mit Ahasver verglichen: Er kann weder leben noch sterben, er „verlernt die Sprache der Menschen“ 41 , er ist „der Flüchtling vor sich selbst, der Ekel vor der Welt empfand, und fluchend, ohnmächtig hassend weiterlebte.“ 42 Winder lässt keinen Zweifel daran, dass die Entwicklung Glasers hin zu einem „grundlosen Pessimisten“ 43 als ein Ergebnis eines Hervortretens von dessen ver‐ schütteten (ost-)jüdischen Erfahrungsreminiszenzen verstanden werden kann. Unter den Kriegsflüchtlingen aus Galizien trifft Glaser in Wien einen „Rabbiner aus der Gegend von Brody“ und fragt ihn: ‚Werden die Flüchtlinge nicht genügend unterstützt? ‘ ‚Genügend! Was heißt genügend! Man verhungert nicht, das ist richtig. Aber schlimmer ist die seelische Not, mein Herr! Wer kümmert sich um die seelische 120 Jan Budňák <?page no="121"?> 44 WINDER (1917). S. 233. 45 Ebd. S.-248. Not? ! ‘ […] ‚Vertrauen Sie auf Gott‘ - „Wir vertrauen auf Gott, mein Herr. Aber unser Gott ist ein Gott der Rache: jetzt rächt er sich an uns, weil wir oder unsere Väter oder unsere Großväter Sünder waren. Die Welt muß zugrundegehen. Leben Sie wohl, mein Herr.‘ Theodor ging in die Redaktion. Dieser einfältige Mensch ist zu demselben Resultat wie ich gelangt … dachte er. Wozu die vielen Wege und Wirrnisse … 44 Auch Glasers definitiver Ausstieg aus dem journalistischen Betrieb ist durch diese religiöse Epiphanie des Bösen bedingt. Ihm wird klar, dass seine journa‐ listische Tätigkeit keine Bedeutung hat, solange ihr oberstes Ziel nicht gelingt - d. h. die Welt ganz böse, ganz chaotisch zu machen. Interessant ist der Grund dafür: Glaser gesteht sich, dass der Journalismus letzten Endes doch abhängig von der Welt ist - und nicht umgekehrt. Glasers Weltbild wird dadurch jedoch nicht im Geringsten erschüttert, da es religiöser, a-rationaler Art ist - ihm wird nur klar, dass er als Journalist prinzipiell zu schwach ist, dieses Ziel zu erreichen. Glasers Pläne zur Vergewaltigung des österreichischen Imperiums und dessen Menschen durch Kapital, Technik und Wissensverwirrung erweist sich in der Rasenden Rotationsmaschine als eine Verzweiflungstat eines verhinderten jüdischen Erlösers und dessen Bildes vom bösen Gott: Von euch allen bin ich abhängig: deshalb bin ich schwach, schwächer als alle, so stark ich auch bin. In euren Taten nur lebe ich, niemals in meinen. Wenn der Diplomat sich verträgt, der Kaufmann sich nicht rührt, der Verbrecher streikt und das Gefängnis die weiße Fahne hißt, wenn der Erfinder versagt, der Kurzsichtige nicht stolpernd ein Bein bricht, der Mörder nicht mordet, der Dieb nicht stiehlt, der Betrüger nicht betrügt, der Verzweifelnde nicht zum Revolver greift, bin ich verloren. Denn ich lebe von euren Morden und Diebstählen und Betrügereien und Listen und Verzweiflungstaten, von euren Erfindungen und Einfällen, von euren Lastern und Schicksalsschlügen -: wenn ihr euch nicht rührt, liege ich brach! Deshalb wollte ich Bewegung in euch faule Menge bringen, eure Dummheit verspotten, damit ihr klug werdet und große Taten vollbringt, deshalb wollte ich das Böse, Verbrechen und Teufeleien, ich wollte euch größer, temperamentvoller, interessanter haben - und ihr habt mich nicht verstanden und habt mich schwach gemacht, bis ich ein armer Spatz geworden, ein armer Spatz! 45 Postimperiales im bürgerlichen Imperium der „prächtigen Menschen“ 121 <?page no="122"?> 4. Fazit Bereits mitten im Ersten Weltkrieg formuliert Winder in der Figur Theodor Glasers eine radikale Skepsis gegenüber der bildungsbürgerlichen Sphäre der österreichisch-ungarischen Monarchie. Glaser agiert zwar noch auf dem Grund‐ riss von Österreich-Ungarn und passt sich dessen kulturellem Milieu äußerlich sehr gut an, wird aber vom extremen Antagonismus diesem Gesellschafts-, Kultur-, Subjekt- und Wissensmodell gegenüber angetrieben. Mit ihm bricht das Imperium einige Jahre vor seinem tatsächlichen politischen Ende zusammen - und es scheitert nicht etwa an nationalen Reibereien, auch nicht an erster Stelle an der Inkompatibilität mit dem kapitalistischen Wirtschaftsmodell - das von Glaser ja ‚nur‘ als Werkzeug verwendet wird. In Glasers Fall scheitert die Mon‐ archie in erster Linie als spätbürgerliche Subjektpraxis und Wissensform. Dieser gilt der vehementeste Angriff des Zeitungsmenschen Glaser. Paradoxerweise - oder vielleicht auch nicht - ist dieser Angriff durch den Nexus mit vor- und nachbürgerlichen Subjektmodellen motiviert. Die lange nicht ausgesprochene und noch länger von Glaser nicht reflektierte ostjüdische Determiniertheit wird durch radikal moderne, nietzscheanische Machtphantasien überlagert. So kann letzten Endes geschlussfolgert werden, dass in Winders Rasender Rotationsmaschine das Imperium durch das Zusammenwirken von verdrängten, vormodernen Handlungspraktiken ostjüdischer Peripherie einerseits und den spätbürgerlichen Praktiken des imperialen Zentrums von 1914 andererseits, die durch die Funktionsweise der kapitalistischen Massenpresse repräsentiert werden, ihrer Existenzgrundlage beraubt wird. Wir dürfen uns auch nicht damit trösten, dass in der Rasenden Rotationsmaschine diese unlautere Allianz noch einmal schiefgegangen ist - Theodor Glaser endet schließlich abseits des Pressebetriebs und begeht am Ende des Romans ein symbolisches Selbstbe‐ gräbnis. In der Geschichte wird der Fall des Menschen Glaser vorgeführt, aber durchaus nicht der Fall seines Verständnisses vom menschlichen Subjekt in der kapitalistischen Moderne. Viel aussagekräftiger ist, dass Winder ähnliche Szenarien wie in der Rasenden Rotationsmaschine auch in seinen späteren Romanen aufgegriffen hat. Theodor Glaser bleibt also - zumindest bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs - als Typus eines Machtmenschen, der die prekäre bürgerliche Subjektform der Humanität bloßstellt, immer wieder präsent, er bleibt relevant und als solcher beunruhigend: sei es in der Gestalt des Kapitalisten Dupic aus Winders Nachgeholten Freuden oder des ebenfalls jeder Humanität entbehrenden Thronfolgers Franz Ferdinand. 122 Jan Budňák <?page no="123"?> III. Nachleben von Zentrum und Peripherie <?page no="125"?> 1 Eine gute Übersicht über die Geschichte der jugoslawischen Pop/ Rock-Szene, auch für interessierte Laien, gibt IVAČKOVIĆ, Ivan (2013): Kako smo propevali. Jugoslavija i njena muzika. Belgrad: Laguna. 2 Zur Verwestlichung der jugoslawischen Kultur und Gesellschaft siehe VUČETIĆ, Radina (2012): Koka-kola socijalizam. Amerikanizacija jugoslovenske popularne kulture šezdesetih godina XX veka. Beograd: Službeni glasnik. 3 Grundsätzlich zur Entstehung der „Neuen Welle“ und zur produktiven Phase der alternativen Musik in Jugoslawien: VESIĆ, Dušan (2020): Bunt dece socijalizma. Belgrad: Laguna. 4 Zur Band Azra siehe IVAČKOVIĆ, Ivan (2019): Između krajnosti, Belgrad: Laguna. Die „Balkanisierung Europas“ Anmerkungen zum ‚inneren‘ Balkanismus und zu dessen postimperialem Charakter Vahidin Preljević (Univ. Sarajevo) 1. Balkan als Zwischenraum: eine popgeschichtliche Einführung Das Ende der 1970er- und der Anfang der 1980er-Jahre standen im Zeichen einer zunehmenden Verwestlichung der jugoslawischen Kulturszene, insbesondere in der Sphäre der populären Musik 1 - ein Prozess, der schon Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. 2 Impulse aus Europa, insbesondere aus Großbritannien und den USA aufgreifend, formierte sich in dieser Zeit eine eigenständige jugoslawische popkulturelle Bewegung, die sich in verschiedenen Varianten manifestierte, als die „Neue Welle“ in Ljubljana, Zagreb und Belgrad oder als „New Primitivism“ in Sarajevo. 3 Zu den wichtigsten Repräsentanten dieser neuen Subkultur, die immer mehr in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rückte, zählt auch die Band Azra rund um den legendären Songwriter und Sänger Branimir „Johnny“ Štulić (geb. 1953), eine charismatische Figur der Rockszene in Jugo‐ slawien in den 1980er-Jahren. 4 Ihre Debütsingle von 1979, die sie schlagartig populär machte, obwohl sie nur mittelmäßig produziert war, trug den Titel Balkan. Das Rocklied, das starke musikalische Ethnoelemente des ,Balkan-Folk‘ <?page no="126"?> 5 Songtexte von Azra werden hier nach der Fan-Webseite https: / / forum.krstarica.com/ t hreads/ azra-tekstovi-pesama.819109/ zitiert. Übersetzung VP. 6 IVAČKOVIĆ (2019). S.-46f. 7 Die Evokation dieses Zwischenweltenstatus, der Nichtzugehörigkeit Jugoslawiens zu großen geopolitischen Blöcken im Kalten Krieg gehört zum Standardrepertoire der außenwie innenpolitischen Rhetorik im jugoslawischen Sozialismus. Siehe program‐ matisch dazu die Bücher des Diplomaten und Politikwissenschaftlers Leo Mates, zum Beispiel: MATES, Leo (1970): Nesvrstanost. Teorija i praksa. Belgrad: Institut za međunarodnu politiku i privredu. Insbes S.-183 u.ff. aufweist, beginnt zunächst im Zeichen des autoreferenziellen und autofiktio‐ nalen Motivs eines unverstandenen und verkannten Rockers, der in der Szene noch eine Outsider-Position hat und sich nach Anerkennung und der großen Bühne sehnt, um dann im Refrain den „Balkan“ als Figur einzuführen: „Balkan, mein Balkan/ sei mir gewaltig und richte dich gut auf “; in der dritten Strophe wird dann die Kollektivsemantik noch zusätzlich unterstrichen: „Wir Leute sind Zigeuner, vom Schicksal verdammt / Immer ist da jemand um uns herum, der kommt und uns bedroht“. 5 Sofort waren unterschiedliche Interpretationen dieser Zeilen im Umlauf: Den „Balkan“ deutete man auf Grund erotischer Kon‐ notationen auch als eine Chiffre für die Maskulinität und den Phallus. Dennoch steht diese vitalistische Semantik, auf die wir noch ausführlicher eingehen sollen, nicht im Widerspruch zur politischen Referenz auf die Lage Jugoslawiens zwischen zwei verfeindeten geopolitischen Blöcken: „Das individuelle Schicksal wurde hier meisterhaft mit dem Schicksal des Balkans verbunden“, der dauernd von äußeren Feinden belauert und belagert sei, schreibt der Musikkritiker Ivan Ivačković. 6 Die Kombination von fast melancholischem Beklagen der fatalen Be‐ drohung und der Selbstermutigung zu Kampf und Widerstand („sei gewaltig! “) ist, wie sich später zeigen wird, eine Denkfigur, die oft in jugoslawischen politischen und kulturellen Selbstbeschreibungen vorkommt. Die politische Deutung des Songs scheint auch werkgeschichtlich schlüssig, da Štulićs spätere Arbeiten ebenso immer wieder politische Allusionen enthalten, die im Rückblick sogar prophetische Dimensionen annehmen, wie zum Beispiel das Lied Krivo srastanje („Schlechtes Zusammenwachsen“) von 1983, das auch den Titel für Azras fünftes Album lieferte. Die Rhetorik der geschichtlichen und geostrategischen Zwischenlage wird in der jugoslawischen Popkultur oft bemüht: So wird in einem Song von Đorđe Balašević (1953-2021), dem populären jugoslawischen Chansonnier aus Novi Sad, das Intermediäre Jugoslawiens (und des Balkans) nicht nur politisch, sondern auch ideologisch verbrämt. 7 Und im Song Virovitica, dessen Titel auf eine Stadt im kroatischen Slawonien verweist, wird ein jugoslawischer 126 Vahidin Preljević <?page no="127"?> 8 Alle Liedertexte werden hier nach der Webseite https: / / www.balasevic.info/ tekstovi/ zitiert. Übers. VP. 9 Zur Vorgeschichte der Balkanisierungsmetapher siehe die Standardstudie von TOD‐ OROVA, Maria (1997): Imagining the Balkans. New York: Oxford Univ. Press. Hier wird Provinzort als Gegenbild inszeniert, als ruhige Oase zwischen den beiden Lagern - dem westlichen und dem östlichen. Das westliche kapitalistische System, um das es im Lied über die USA geht, hat zwar eine attraktive Popkultur hervorgebracht, darunter auch die Figur Donald Duck - doch: „nicht jeder ist wie Donald“ heißt es da im Lied und: „ich fürchte mich vor jenem Ronald“ 8 , wobei sich hier „Ronald“ auf den amerikanischen Präsidenten Reagan bezieht. Die im Lied unterstellte aggressive Rhetorik der amerikanischen Außenpolitik der Zeit findet ihre Entsprechung in der fehlenden inneren Ordnung im Land und der überall dort grassierenden Kriminalität und Gewalt: „Dass mich irgend ein Typ totschlägt - für zwei Dollar oder drei / Ich habe dafür keine Nerven“, obwohl das lyrische Subjekt natürlich „gerne Kalifornien sehen würde“. Das Fazit: „So sorry USA, vielleicht bist du OK / Vielleicht stimmen die Geschichten nicht / Doch ich würde lieber hierbleiben.“ Die Sowjetunion wird ebenfalls ambivalent dargestellt: „Ich war nie in der Sowjetunion / Und habe keine Absicht dazu“, denn „ich wäre in dieser Union wie in einem Käfig“. Zwar gibt es eine tiefe kulturelle Verbindung nach Russland: „Dostojewski haut mich einfach um“, aber „nicht jeder ist Dostojewski, ich fürchte mich vor jenem Sibirewski / der ist ein wenig zu kalt“, womit auf die stalinistischen Verfolgungen und den Gulag angespielt wird. Mit Amerika verbindet sich also die negative Assoziation der Unsicherheit, mit der Sowjetunion die der Unfreiheit, und das lyrische Ich würde lieber davon absehen, in diese Länder auszuwandern. Nach Virovitica, in jenen para‐ digmatischen Ort der jugoslawischen Idylle, wiederum würde es immer wieder gerne kommen, denn hier „gibt es keinen Druck / es leben alle friedlich wie Hippies“. Der balkanisch-jugoslawische Zwischenraum, der sich dem Zugriff der großen Imperien entzieht, wird hier zwar als ein Gegenraum zu den beiden geopolitischen Formationen inszeniert, aber nicht unbedingt auch als ein Isolationsraum, sondern eher als eine Sphäre des Intermediären und der Vermittlung, in dem kulturelle Impulse aus dem Westen und dem Osten zwar gleichermaßen akzeptiert werden, zugleich aber die Extreme abgelehnt werden. Balašević wird jedoch in seinem späteren Lied Requiem (1988), das auf dem Höhepunkt der politischen Krise im Land und am Vorabend der jugoslawischen Kriege entstanden ist, auch die negativ besetzte Balkanisierungsmetapher 9 im Sinne einer Auflösung der Ordnung bemühen: „In Büchern wird auch eine Die „Balkanisierung Europas“ 127 <?page no="128"?> auch auf die mit einem neuen Vorwort versehene serbische Ausgabe zurückgegriffen: TODOROVA, Maria (2006): Imaginarni Balkan. Belgrad: XX vek. 10 Zur Kritik des inneren Balkanismusdiskurses vgl. die einschlägige Studie von LUKETIĆ, Katarina (2013): Balkan. Od geografije do fantazije. Zagreb: Algoritam. 11 TODOROVA, Maria (2009): Imaging the Balkans. Oxford: Oxford Univ. Press; Diess. 2005: Spacing Europe. What is a Region? In: East-Central Europe-32. H. 1-2, S.-59-78. 12 GOLDSWORTHY, Vesna (1998): Inventing Ruritania. The Imperialism of the Imagination. New Haven: Yale Univ. Press. 13 JEZERNIK, Božidar (2007): Wild Europe. The Balkans in the Gaze of Western Travellers. London: Saqui Books. Serbische Ausgabe: Divlja Evropa. Belgrad: XX vek. 14 Zu Balkankonstruktionen in Mitteleuropa siehe auch den Sammelband ENDREVA, Maria u. a. (Hg.) (2020): Der Donauraum als Zivilisationsbrücke Österreich und der Balkan. Perspektiven aus der Literatur- und Geschichtswissenschaft.Würzburg: Königshausen & Neumann; darin auch mein Aufsatz zum Balkanismus als Identitätsfalle. Geschichte über uns bleiben / Der Balkan am Ende eines Jahrhunderts / Jeder Stamm zeichnet seine Grenzen / Jeder will eine eigene Seite im Buch haben.“ Und im Refrain wird angesichts dieser neuen balkanischen Zersplitterung die Frage aufgeworfen, ob denn das Jugoslawentum, das immerhin siebzig Jahre in einer Staatsform Ausdruck fand, nicht eine Art Illusion war: „Und wo sind wir Naiven, die zum Hej Slaveni [die jugoslawische Hymne] aufstanden / als wären wir mit diesem Lied selbst erfunden worden“. Was hier mit einigen Beispielen aus der jugoslawischen Pop-Musik illustrativ abgesteckt werden sollte, ist eine Imaginationssphäre, in der sich vorwiegend der innere selbstidentifikatorische Balkandiskurs  10 bewegt. Diese Sphäre wird, wie wir vorläufig feststellen können, von einigen Denkfiguren und Metaphern umrissen, die einander zum Teil auch widersprechen können. Zunächst sei auf die Figur des Rohen, Urwüchsigen, Authentischen und Vitalen (im zitierten Balkansong von Azra auch als ,Phallus‘ konnotiert) verwiesen, die oft als Ge‐ gensatz zur Untergangsfigur und der Vorstellung von einem künstlichen, faulen und dekadenten Westen erscheint; dann von der Metapher eines zivilisations‐ geschichtlichen und geopolitischen Zwischenraums, der einen postimperialen Charakter hat, weil er selbst das Resultat konkurrierender imperialer Sphären ist, und der manchmal idyllische Züge trägt, aber auch oft einer Dauerbedrohung von außen ausgesetzt ist, oder eben vom bewährten Bild der Rückständigkeit, wilder Unordnung und Gewalt, wie wir es aus den westlichen aber auch aus einheimischen Quellen kennen, und wie es von Maria Todorova, 11 Vesna Goldsworthy 12 oder Božidar Jezernik 13 rekonstruiert wird. 14 Im Folgenden soll auf zwei entscheidende diskursgeschichtliche Momente hingewiesen werden, in 128 Vahidin Preljević <?page no="129"?> 15 Zu Balkanbildern im jugoslawischen Film sei hier auf folgende Studie verwiesen: LEVI, Pavle (2009): Raspad Jugoslavije na filmu. Belgrad: XX vek. 16 FUKUYAMA, Francis (2018): Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hamburg: Hoffmann und Campe. S.-34-42. 17 Vgl. dazu: TODOROVIĆ, Predrag (2021): Zenit kao platforma zenitodadaizma. In: Književna istorija 175. S.-187-219. denen diese in der Popkultur 15 dominant auftretenden Selbstbilder in gewisser Hinsicht vorbereitet werden. 2. Der Fall des Zenitismus: die „Balkanisierung Europas“ Die literarische Avantgardebewegung Zenitismus, die sich in den 1920er-Jahren in Zagreb und Belgrad entwickelte, ist wohl die erste geistige Strömung im jugo‐ slawischen Raum, die einerseits versucht hat, überhaupt ein Konzept eines post- und gegenimperialen kulturellen Balkans zu umreißen, andererseits aber ebenso die erste, die diesem Konzept sogar eine messianische Rolle zuwies. Interessant ist dieses Phänomen, weil es - mit Fukuyamas Terminologie gesprochen 16 - die balkanische Identitätskonstruktion nicht nur auf dem isothymischen Kampf um Anerkennung der Subalternen und Diskriminierten basiert, sondern sogar auf dem megalothymischen Streben nach Dominanz aufbaut. Der Zenitismus leitet sich von „Zenit“ - dem Namen des Publikationsorgans der Bewegung 17 - ab, das vom Februar 1921 bis Ende 1926 zunächst in Za‐ greb und dann in Belgrad erschien, bis es von Zensurbehörden, mit denen die Zeitschrift in ihrem kurzen Bestehen immer wieder zu kämpfen hatte, verboten wurde. Die treibende Kraft hinter Zenit war der Literat Ljubomir Micić (1895-1971), der sie zusammen mit dem Schriftsteller und Filmkritiker Boško Tokin (1894-1953) zu einem der bedeutendsten Medien der jugoslawischen Avantgarde machte. Dass die Zeitschrift auch international wahrgenommen wurde, ist unter anderem auch dem deutsch-französischen Expressionisten und Surrealisten Yvan Goll (1891-1950) zu verdanken, der als Mit-Redakteur fun‐ gierte und zusammen mit Tokin und Micić das Zenitistische Manifest verfasste und der im Übrigen eine wichtige Rolle als Vermittler in den deutschsprachigen Raum und in die französische Kulturszene spielte. Dass die Redakteure der Zeitschrift einen internationalen Anstrich verleihen wollten, zeigen auch die zahlreichen Beiträge in deutscher, russischer oder französischer Sprache. Im Mittelpunkt der zenitistischen Poetik und Weltanschauung steht der Begriff des „Barbarogenies“ (BKMS: barbarogenij), das als vitalistischer Geist die Fesseln der Zivilisation abwirft und sich auf seine ursprüngliche Kraft und Instinkte aus den barbarischen Untiefen der Vorgeschichte zurückbesinnt Die „Balkanisierung Europas“ 129 <?page no="130"?> 18 Zweifellos geht der entscheidende Impuls für die in einigen Avantgardebewegungen positive Umbesetzung der Barbarenfigur auf Nietzsches Betrachtungen zurück, in denen der Barbar mit seinen naturrohen Instinkten eine bestehende alte, aber lebens‐ müde Hochzivilisation überrollt und zerstört. Vgl. diese Stelle aus Jenseits von Gut und Böse: „Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Kulturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbnis verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen - es waren die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als ‚die ganzeren Bestien‘ -).“ (NIETZSCHE, Friedrich (1999): Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Neuausg. München: DTV. Bd.-5, S.-205-206) 19 MICIĆ, Ljubomir (1921): Čovek i Umetnost. In: Zenit. Internacionalna revija za umetnost i kulturu. H.1, S.-1-2. 20 GOLL, Yvan (1921): Der Mensch vor dem Meer. In: Zenit. H.1, S.-2-3. - ein verbreiteter primitivistischer Topos in der europäischen Avantgarde. 18 In der imaginären Geografie der Zenitisten hat das Barbarogenie zwar einen universalistischen und messianischen Anspruch, einen „neuen Menschen“ her‐ vorzubringen, aber als sein räumlicher Ausgangspunkt wird eben der Balkan bestimmt, in dem die dekadente westliche Zivilisation die Lebensenergie noch nicht erstickt hat. In den ersten Heften des Zenit und im Zenitistischen Manifest dominiert noch die universalistische, expressionistisch angehauchte Rhetorik vom Neuen Menschen; so wird der Zenitismus in der ersten Ausgabe als „abstrakter metakosmischer Expressionismus“ bezeichnet, der nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs „im Namen des Menschen“, einen „Neuen Geist“ und eine „Neue Kunst“ einfordert; es ist die Rede von einer kunstreligiösen „Sehnsucht“ nach einer „Offenbarung“ und nach einer zweiten „Wiedergeburt“. 19 Yvan Goll schickt der Redaktion sein Gedicht Der Mensch vor dem Meer, das im deutschen Original abgedruckt wird und mit den Zeilen endet: „Dichtet auch göttliche Revolutionen! / Arme Geschöpfe, / Uralt ist der Sand der Gesetze. / Winde und Wellen und Menschen / lieben die Freiheit, weil sie nicht ist.“ 20 Im Manifest, das im Juni 1921 erscheint, wird der Begriff des „Barbarogenies“ eingeführt. Es wird als ein Mensch vorgestellt, der „aus den nackten Tiefen des Selbst“ sich „über das mörderische Heute“ erhebt und einen astralen Charakter annimmt. Dann wird klar, dass dieses neue barbarische Genie einen aufrühre‐ rischen, ja revolutionären Zug hat: Die Ketten sollen gelöst, die „Vorstädte der verpesteten westeuropäischen Metropolen zerstört werden“, die polemische Spitze richtet sich gegen das kapitalistische System, gegen Banken, Börsen 130 Vahidin Preljević <?page no="131"?> 21 MICIĆ, Ljubomir / GOLL, Yvan / TOKIN, Boško (1921): Manifest zenitizma. Zagreb: Biblioteka Zenit. S.-3 22 Ebd. S.-11. 23 MICIĆ, Ljubomir (1926): Manifest varvarima dua i misli na svim kontinentima. In: Zenit. H. 38, S.-5. 24 Vgl. dazu die aufschlussreichen Ausführungen von PETZER, Tatjana (2007): Topogra‐ phien der Balkanisierung. In: Südosteuropa. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 02/ 03. S.-255-275. und die Freimaurer als „Seelenwucherer“. Das Barbarogenie steht als Kollektiv gegen diese Welt und „für den Menschen“ auf: „Schließt die Tore, ihr West-, Nord-, Mitteleuropa - es kommen die Barbaren. Schließt ruhig die Tore, aber wir werden reinkommen. Wir sind Kinder des Brandfeuers - wir die Seele des Menschen mit uns.“ Und dann wird schon die geographische Verortung des Zentrums dieser neuen Bewegung konkreter: „Wir sind Kinder des Barbaroge‐ nies des Südostens. 21 In einer kurzen zivilisationsgeschichtlichen Rekonstruktion wird im Mani‐ fest, dessen zitierter Ausschnitt von Micić stammt, darauf hingewiesen, dass der Balkan Geburtsort des „Zweiten Reichs“ (Griechenland und Mazedonien) ist, dessen Erneuerung der Zenitismus darstellt. Die anarchistische Kraft, die in der Figur des Barbaren verkörpert wird, ist auch in dem von Goll verfassten Teil des Manifests tonangebend: „Zerstören wir die Zivilisation mit der Neuen Kunst […] Kehren wir zurück zur Urquelle des Erlebnisses, zur Einfachheit des Worts, zur Barbarei […] Wir müssen wieder Barbaren der Poesie werden.“ 22 Das Barbarische, das sich gegen die europäische Zivilisation richtet, wird in den folgenden Jahren als noch dämonischer und destruktiver inszeniert und wird dazu auch immer deutlicher mit dem Balkan als seinem Ursprungsort iden‐ tifiziert, so dass sich die Dichotomie von Balkan und Europa weiter verschärft und ersterer zu einem „Anti-Europa“ mutiert. Diese Polarisierung gipfelt in der Forderung nach einer „Balkanisierung Europas“: Es lebe die neue kulturelle Barbarei im Namen des Barbarogenies. Denn das Barbaro‐ genie ist der Neue Mensch, bewaffnet mit Bomben des barbarischen Geistes und dem Feuerwerk reiner barbarischer Gefühle. Das Barbarogenie hat den Balkan zur Brücke für den Übergang barbarischer Legionen des neuen Geistes bestimmt. […] Im Namen dieses Barbarogenies und seines Geistes Zenitismus - wir sind heute Barbaren der Kultur - wir sind heute Barbaren der Zivilisation. Das ist die Balkanisierung Europas. 23 Diese „Balkanisierung Europas“ 24 bedeutet in der zenitistischen Forderung eine gegenkulturelle Rückkehr zu den Ursprüngen: „Wir schreien aus der uralten Wiege der Kultur. Wir vom Balkan schreien heraus: Antikultur! … Die „Balkanisierung Europas“ 131 <?page no="132"?> 25 MICIĆ u.a. (1921). S.-3. 26 MICIĆ, Ljubomir (1926): Aeroplan bez motora. Antievropska poema. In: Zenit. H. 40, ohne Seitenangabe. 27 KONSTANTINOVIĆ, Radomir (2016): Još jednom o Barbarogeniju. In: Ders.: Duh umetnosti. Sarajevo: University Press. S. 53-64, hier S. 52. Zu Konstantinovićs Analyse des Barbarogenie-Komplexes vgl. auch die Arbeit von ROMČEVIĆ, Branko (2023): Jendeci, krvavi đevreci (Konstantinovićevo čitanje Barbarogenija). In: Umjetnost riječi 67. H.1, S.-25-38. Antieuropa! …“ 25 Europa, „dieser alten Hyäne“, soll die „lügenhafte Maske des grausamen Humanismus“ abgestreift werden, „wir wollen keine heuchlerischen Christen mehr sein“, heißt es weiter im Text. Die einzig wahre, authentische Kultur „ruht auf den Schultern der Barbaren“, während Europa im Namen „des Imperialismus der Zivilisation […] unser Hirn vergewaltigt […] und auf Gräbern unserer Heiduckenahnen schamlos das Kleid hochzieht“. Die drastische Beschimpfung Europas, das hier als eine Art böser alter Blutsauger und Parasit erscheint, der sich hinter der Maske des Christentums und des Humanismus verbirgt, wird in diesem und auch weiteren programmatischen Texten der Zenitisten endlos weiter variiert. Zugleich werden die in der europäischen Wahrnehmung eher negativ besetzten Balkanbilder wie das „Heiduckentum“ als rohe Kraft einer neuen „barbarischen Revolution des Geistes“ und „Totalisator des neuen Lebens“ zu Mitteln einer Erneuerung umgewertet. Die balkanische Eroberung Europas wird dann in einem zum Teil zensierten „antieuropäi‐ schen Gedicht“ von Micić als eine topische Umbesetzung inszeniert, die eine (gegen)freudsche Wendung in sich trägt: „Überall dort, [wo das liegt], was ihr Europa nennt, soll Balkan werden“ 26 - was das Balkanische hier als das Unbewusste auftreten lässt, das das falsche und verlogene Ich von seinem Thron stürzt. Es lässt sich kaum übersehen und entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die zenitistische antieuropäische Balkan-Apologie ohne den breiteren europäi‐ schen Diskurshorizont der Moderne zwischen 1880 und 1920 nicht zu denken ist. Der Aufstand des balkanischen Authentischen gegen die westliche Künst‐ lichkeit wird fast ausschließlich mit rhetorischen Waffen eben jenes Westens geführt. Radomir Konstantinović, der bedeutendste liberale serbische Philosoph der jugoslawischen Ära, hat in einem Aufsatz von 1970 dazu angemerkt, dass das Barbarogenie, obwohl eine antieuropäische und antiwestliche Figur, „zweifellos eine Variante des ‚europäischen‘ Verständnisses des Balkans als dem Land der reinen Barbarei“ 27 darstelle. Die Figur des Barbaren ist bei Friedrich Nietzsche, der im Zenit auch häufig als Referenz genannt wird, vorgeprägt. Der Diskurs des naturrohen Vitalismus geht wohl auch auf den ebenfalls von Zenitisten häufig 132 Vahidin Preljević <?page no="133"?> 28 Siehe dazu AĆIMOVIĆ, Bojana (2013): Whitman’s Barbaric Yawp. Sounded in Serbian. In: Rocznik Komparatystyczny 4. S.-313-319. 29 Vgl. etwa dazu HECKEN, Thomas (2006): Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF. Bielefeld: transcript. 30 Vgl dazu JEZERNIK (2007). 31 Vgl etwa RUTHNER, Clemens (2018): Habsburgs ‚Dark Continent‘. Postkoloniale Lek‐ türen zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke. S.-203-312. 32 Siehe dazu JEZERNIK, Božidar (2018): Jugoslavija - zemlja snova. Belgrad: XX vek. 33 Eine gute Übersicht über die geografische Bestimmung des Balkans gibt MAZOWER, Mark (2002): The Balkans. A Short History. New York: The Modern Library. S.-1-36. 34 Siehe dazu ŽIVKOVIĆ, Andreja u. a. (Hg.) (2016): The Balkan Socialist Tradition and the Balkan Federation 1871-1915. London: Porcupine Press. zitierten Walt Whitman zurück. 28 Und die militante Rhetorik der Zenitisten ist grundsätzlich charakteristisch für die Avantgardebewegungen des frühen 20.-Jahrhunderts. 29 Doch ein Moment verdient hierbei Beachtung: Die Umkodierung des in den 1920er-Jahren bereits verbreiteten Balkanismus im Sinne von Maria Todorova funktioniert hier nach dem Prinzip der Umkeh‐ rung: die „negativen“ Balkanvorstellungen aus der westlichen Perzeptionsgram‐ matik werden nicht etwa dekonstruiert, sondern bestätigt, aber zugleich mit ‚positiven‘ Vorzeichen versehen. Eine ähnliche Umwertung des Balkans, wie sie die Zenitisten betreiben, findet man natürlich auch im Ansatz in westlichen Reiseberichten über das „wilde Europa“ 30 oder auch beispielsweise in der Kon‐ struktion des gezähmten „inneren Orients“ in der österreichisch-ungarischen Publizistik über Bosnien-Herzegowina 31 . Doch beim identifikatorischen Aufbau von Selbstbildern sind solche diskursiven Operationen bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eher selten. Es ist signifikant, dass die Identifikation mit dem Balkan - die, wie wir im letzten Abschnitt noch sehen werden, in den 1930er-Jahren noch eine wissenschaftliche Fundierung erhält, - mit der Gründung des ersten jugoslawischen Staates zusammenfällt und wohl eng an diesen politischen Rahmen gebunden ist. Das neue politische Gebilde hat zwar als Idee schon seit Generationen in Intellektuellenkreisen zirkuliert, 32 doch hier fanden sich postimperiale Räume und kulturelle Traditionen zusammen, die zwar eine sprachliche Verwandtschaft aufwiesen, aber kaum gemeinsame geschichtliche Erfahrungen hatten. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, ein kulturelles Fundament zu finden, das dem neuen Staat eine umfassende Iden‐ tität verleihen könnte. Der Balkan - obwohl er nach der üblichen Geografie weite Teile Kroatiens oder ganz Slowenien ausschloss, 33 - konkurrierte hier für die Position des kulturellen Meistersignifikanten, zumal die Idee einer Balkanföderation 34 , die jenseits offizieller jugoslawischer Grenzen auch andere Balkanstaaten umfasste, schon länger bestanden hatte, zunächst vorwiegend Die „Balkanisierung Europas“ 133 <?page no="134"?> 35 Zu Kulturkonzepten der jugoslawischen Balkanologie und Anthropologie siehe den Beitrag von MIHAJLOVIĆ, Vladimir D. (2013): Genius loci Balkani. Recepcija prošlosti i konstruisanje akademskog narativa o balkanskom nasleđu. In: Етноантрополошки проблеми 3. S.-779-803. 36 PAREŽANIN, Ratko (1980): Za balkansko jedinstvo. Osnivanje, program i rad Balkanskog instituta u Beogradu 1934-1941. München: Iskra. unter linken Intellektuellen, später in der Version des Balkanbundes von König Alexander Karađorđević 1934 und dann im kommunistischen Jugoslawien. 3. Der Balkan als kultureller Ursprung und primäre Zivilisation Systematische wissenschaftliche Versuche einer positiven Umkodierung des Balkans als selbstidentifikatorische Strategie, die eine gewisse Verwandtschaft mit der zenitistischen Balkan-Apologie aufweisen, finden sich in den 1930er- Jahren. Sie sind einerseits verbunden mit der Begründung der Balkanologie als einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, 35 andererseits mit einer neuen politischen Orientierung des Königreichs Jugoslawiens nach der Umbenennung des Staates und dessen Versuchen unter König Alexander, eine eigene Bündnis‐ politik in der Region zu betreiben. Die rege Tätigkeit des Balkan-Instituts in Belgrad zwischen 1934, als es auf Initiative von einigen Wissenschaftlern und mit Unterstützung von König Alexander gegründet wurde, und 1941, als das Institut von der deutschen Besatzungsmacht geschlossen und seine Bibliothek, sein Archiv und Inventar in das Deutsche Wissenschaftliche Institut in Belgrad verbracht wurde, steckt den zeitlichen Rahmen ab, in dem die wissenschaftliche Umkodierung des jugoslawischen Balkandiskurses stattfindet und derselbe auf ganz neue Grund‐ lagen gestellt wird. Im sozialistischen Jugoslawien wurde er im Rahmen dieses Paradigmas weitergeführt, auch wenn er immer wieder in Konflikt mit dem älteren „westlichen“ Balkandiskurs geriet. Anhand einiger programmatischen Schriften sollen entscheidende Elemente dieses neuen Paradigmas skizziert werden. Ratko Parežanin, einer der Mit‐ begründer des Balkan-Instituts, skizziert in seinen Memoiren unter dem bezeichnenden Titel Für die balkanische Einheit die Beweggründe, die zur Gründungsinitiative geführt haben. 36 Parežanin, der sich in den 1920er-Jahren als Presseattaché der jugoslawischen Botschaft in Wien aufhält, schreibt im Rückblick: In Wien fanden sich viele sogenannte Balkankenner und andere, die sich darauf vorbereiteten, das zu werden. Ich hatte oft den Eindruck, dass die balkanischen Völker 134 Vahidin Preljević <?page no="135"?> 37 PAREŽANIN (1980). S. 11. Übers. VP. 38 BUDIMIR (2021): Mi Balkanci. Belgrad: Gradac. S.-13. Übers. VP. 39 Ebd. 40 Ebd. S.-16f. eine Art Wechselgeld sind in Gott weiß welchen Kalkulationen der Rechnungsführer auf der ganzen Welt. 37 Die westlichen Korrespondenten in Wien, erinnert sich Parežanin, hätten sich im Zusammenhang mit dem Balkan nur für Sensationen interessiert, für „Attentate, Mordanschläge, Raubüberfälle“, doch keiner dieser „Balkankenner“ habe über die „vielen Werte des balkanischen Menschen, seine Seele, sein Leiden und seine Tragödien“ geschrieben. Die üblichen Balkanstereotypen über das „wilde Europa“ und die zivilisatorische Rückständigkeit, die sich über das ganze 19. Jahrhundert hindurch gebildet und zu Anfang des 20. Jahrhunderts stabilisiert haben, prägten die Wahrnehmung dieser Region. Ähnliche Ausgangspunkte finden sich auch bei anderen Pionieren des Balkan-Instituts, wie dem aus dem bosnischen Mrkonjić Grad stammenden Gräzisten Milan Budimir, der 1941 seine Rede unter dem programmatischen Titel Wir Balkanesen mit dem lapidaren Satz beginnt: „Wir Balkanesen haben keinen guten Ruf.“ 38 Dieser schlechte „Ruf “ herrsche, so Budimir, nicht nur in Europa, sondern auch „bei uns zu Hause“ vor, womit Budimir auf die Autostereotypisierung in den balkanischen Ländern selbst anspielt. „Für viele von uns beginnt Europa bei der Zemun- oder auf der Zvornikbrücke [innere Grenzen von Serbien mit der Vojvodina / Bosnien], und jenseits dieser Brücken, da liegt, wie unsere Europäer sagen, der wilde Balkan, allesamt Kleinbauern und Zinzaren, hinterlistige Byzantiner und ungläubige Schismatiker, dummer Balija, oder raubtierischer Albaner.“ 39 Indem er mit der stereotypen Vorstellung vom wilden und primitiven Balkan abrechnet, bietet Budimir in seiner historischen Rekonstruktion eine andere Sichtweise, die das verbreitete Bild der Rückständigkeit widerlegen soll: So sei der Balkan im Mittelalter dem restlichen Europa „einige Schritte voraus“ gewesen, insbesondere was das Streben nach nationaler Selbstständigkeit an‐ gehe, die sich etwa in der Gründung einer Volkskirche unter dem Heiligen Sava manifestiere. 40 Viel systematischer geht Budimir in einem ursprünglich gemeinsam mit dem Etymologen Petar Skok verfassten programmatischen Aufsatz vor, der Die „Balkanisierung Europas“ 135 <?page no="136"?> 41 Knjiga o Balkanu. Beograd: Balkanski institut 1936. Hier wird jedoch der Aufsatz nach dem Band mit gesammelten Aufsätzen Milan Budimirs zitiert: Mi Balkanci (2021), S.-22-34. 42 BUDIMIR (2021). S.-23. Übers. VP. 43 Ebd. S.-26. den bezeichnenden Titel Das balkanische Schicksal trägt, und erstmals 1936, als einleitende Studie im Buch vom Balkan des Balkan-Instituts, erschienen ist. 41 Die eingebürgerte Vorstellung, der Balkan sei natürliche Peripherie des europäischen Kontinents, wird hier abgewiesen und ins Gegenteil verkehrt: Der balkanische Raum sei, so Budimir und Skok, eigentlich Ursprung und Quelle der europäischen Kultur, aber auch darüber hinaus ein spezifisches Modell der Zivilisation, das dem westeuropäischen Modell eigentlich überlegen sei. Zwei strukturelle Elemente der balkanischen Zivilisation, die schon seit langer Zeit beständen, werden hier hervorgehoben: samosvojnost und zadružnost, einerseits das Streben nach eigentümlicher Individualität, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, andererseits zugleich auch die ausgeprägte Neigung zur Ge‐ meinschaftsbildung; diese zwei „balkanischen“ Eigenschaften, werden hier als „wichtigste Mitgift des Balkans zur kulturellen Entwicklung der Menschheit“ 42 ins Feld geführt. Dieses Fundament der balkanischen Identität sei, so die Autoren, in der Geschichte immer sichtbar gewesen, und habe zu einem ganz anderen Zivili‐ sationstypus geführt, den man als integrativ bezeichnen könne, und in dem Kulturfremdes respektiert werde. Ihr erster großer politischer Exponent sei Alexander der Große gewesen, die Tradition setze sich aber weiter fort, über Byzanz bis hin zum Osmanischen Reich. Diese Tradition trage die Idee eines Imperiums vielfältiger Einheit in sich, während das westliche Modell, das von Anfang an ein Konzept der Trennung und Teilung (etwa in Hellenen und Barbaren) darstelle, auf der Idee eines Imperiums als „einfältiger Einheit“ basiere. Die Autoren plädieren dafür, dass sich balkanische Intellektuelle auf diese Tradition zurückbesinnen, anstatt dem Westen nachzueifern. Sie stellen fest, dass sie seit der Aufklärung immer westlicher geprägt würden und sich immer mehr von ihrer kulturellen Basis entfernten, indem sie westliche Ideologeme, wie z. B. den Nationalismus importierten. „Kritik des Westens war selten in der balkanischen Literatur jener Zeit“ 43 ; anders als in Russland, wo es eine Teilung in pro-westliche und slawophile Intellektuelle gab, war das auf dem Balkan nicht der Fall, stellen die beiden kritisch fest. Diese Westorientierung der Eliten habe, so heißt es weiter, mit der steigenden Attraktivität der europäischen Zivilisation zu tun, die im Zuge der Auflösung des Osmanischen Reichs einen 136 Vahidin Preljević <?page no="137"?> 44 BUDIMIR (2021). S. 27. 45 Siehe JEZERNIK (2018). S.-221ff. 46 BUDIMIR (2021). S.-47. 47 Darüber ausführlicher siehe ŽIŽEK, Slavoj (1999): The Spectre of Balkan. In: The Journal of the International Institute 6. H. 2, http: / / hdl.handle.net/ 2027/ spo.4750978.0006.202 besseren Lebensstandard und bessere Gesetze, aber - so beeilen sich die beiden hinzuzufügen - keine „innere Kohäsion“ anbieten konnte, keine Befriedung und keine guten Beziehungen zwischen Entitäten, „mit einem Wort, samosvojnost und zadružnost“ - da sie über diese Traditionen nicht verfüge. 44 Dank der verwestlichten balkanischen Eliten, die nicht auf Gemeinschaftsbildung und Inklusion bauten, sondern auf Separatismus und Exklusion, komme es infolge dieses westeuropäischen Einflusses zur „Trennung der balkanischen Völker voneinander“ und auch zu ihrer Angleichung an die europäische Kultur - währenddessen verwandle sich der Balkan in das Sinnbild der „Unkultur“. Die Autoren bauen hier also eine Dichotomie auf, die dem Westen die Tendenz zu einer rationalen Unifizierung und damit auch zur Exklusion des Fremden und Anderen zuschreibt, während die balkanische Tradition eine der Inklusion sei, und sie appellieren dafür, dass dieses verschüttete Erbe wieder produktiv zu machen sei. Diese Variante der Selbstidentifikation mit dem Balkan, die Budimir und Skok anbieten, führt neben anderen bekannten Elementen auch ein neues politisches Moment, das seinen postimperialen Charakter verrät, ein: die kulturelle Heterogenität, die man auch hier als Umkodierung des Stereotyps von balkanischer chaotischer Unübersichtlichkeit verstehen kann. Und das Lob der kulturellen Integration, des Modells der ,Einheit in Vielfalt‘- auch das eine (post)imperiale Denkfigur - hängt freilich mit dem politischen Kontext des Jugoslawentums zusammen, das sich ebenfalls als eine Einheit der Vielfalt versteht. 45 Unschwer lässt sich also erkennen, dass hier das Jugoslawentum als natürliche Fortsetzung dieser balkanischen Tradition begriffen werden soll. Budimir wird noch im sozialistischen Jugoslawien an diesen Ideen festhalten. So schreibt er in einer Rede von 1967, dass „jeder Chauvinismus, sei es ein kroatischer oder ein serbischer, als eine irreale und unbalkanische Erscheinung“ zu werten sei, denn das Typische des „Balkans ist gerade seine Völker- und Sprachenmischung, und auch seine Rassenmischung“. 46 Angesichts dieser These Budimirs vom völlig „unbalkanischen“ Charakter des Chauvinismus kann man es als eine diskursgeschichtliche zynische Pointe verstehen, dass der militante Nationalismus, der dann in den 1990er-Jahren zur Auflösung Jugoslawiens und zu Kriegen führte, in den westlichen Medien häufig gerade als ein typisch balkanisches Phänomen dargestellt wurde. 47 Die „Balkanisierung Europas“ 137 <?page no="138"?> 48 Siehe dazu zahlreiche Beiträge im Sammelband von PRELJEVIĆ, Vahidin / RUTHNER, Clemens (Hg.) (2022): Peter Handkes Jugoslawienkomplex. Eine kritische Bestandsauf‐ nahme nach dem Nobelpreis. Würzburg: Königshausen & Neumann. 4. Ausblick Mit den postjugoslawischen Kriegen verliert der Signifikant ‚Balkan‘ jene utopischen Impulse, die man ihm in den in diesem Beitrag vorgestellten Konzepten noch zugeschrieben hat. Der mit dem Kriegsgeschehen einherge‐ hende diskursive Rückfall in den ‚negativen‘ Balkanismus, der am Anfang des 20. Jahrhunderts noch fest umrissen gewesen war, rief wieder die alte Hintergrundmetaphorik von Unordnung, Primitivismus und Rückständigkeit auf. Vereinzelte Versuche, wie etwa der von Peter Handke, das Balkanische uto‐ pisch wiederaufzuwerten, stellen sich bei genauer Lektüre als bloße Umkehrung bewährter stereotyper Vorstellungen mit einer Affinität für nationalistische Au‐ thentizitätskonstruktionen heraus. 48 Der Balkan - heute in der administrativen Sprache der europäischen Bürokratie als „Westbalkan“ bezeichnet - trägt wieder das Signum der Peripherie: Unter „Balkan“ wird im Rahmen der politischen Semantik eben jener Teil des europäischen Kontinents verhandelt, der noch nicht ‚integriert‘ ist. 138 Vahidin Preljević <?page no="139"?> 1 FULDA, Daniel (2018): Nationalgeschichte als Familienroman. 1870/ 71 bei Karl May und Émile Zola. In: DÉCULTOT, Élisabeth / FULDA, Daniel / HELMREICH, Christian Die zentrale Peripherie Eine Skizze zur postimperialen Konstellation in der Gegenwartsliteratur Milka Car (Univ. Zagreb) Das nationalliterarische Paradigma wird zunehmend zerbrechlich. Versucht man die postimperiale Konstellation in der Gegenwartsliteratur zu definieren, sind die komplexen Rückwirkungen der Globalisierungssowie der transna‐ tionalen Migrationsprozesse auf ihre Positionierung mitzudenken. Die lange Zeit prägende Vorstellung der Nationalliteratur (und des Kanons) kann in der postimperialen Situation nicht mehr als das primäre Merkmal literarischen Schreibens angesehen werden. Vielmehr soll das postimperiale Erzählen als die Möglichkeit der postmodernen Aushandlung verschiedener nationaler und transnationaler Identitätskonstruktionen betrachtet werden. Damit verbunden sind die folgenden Fragen: Welche Formen der Literarizität sind auf die Konstellation Zentrum/ Peripherie zurückzuführen? Wie werden literarische Erfahrungsräume in diesem dynamischen und relationalen Feld modelliert? I. Ein grundsätzliches methodologisches Problem muss analytisch erörtert werden, will man die postimperiale Konstellation in der Gegenwartsliteratur thematisieren, die die traditionellen literaturwissenschaftlichen Kategorien wie Kanon und Nationalliteratur in Frage stellt. Geht man stattdessen von historisch existenten Herrschaftsformen in Kontinentalimperien aus, die über lange Zeit Wahrnehmungsformen und Erfahrungshorizonte in Zentraleuropa geprägt und sich damit auch langfristig auf literarische Repräsentationsformen ausgewirkt haben, kann die prägende „Nationszentriertheit, -bedingtheit und -agonalität“ 1 <?page no="140"?> (Hg.): Poetik und Politik des Geschichtsdiskurses. Deutschland und Frankreich im langen 19.-Jahrhundert. Heidelberg: Winter. S.-163-189, hier S.-163. 2 Zum Begriff der Konstellation vgl. SCHÖSSLER, Franziska (2012): Konstellatives Lesen. Kanonliteratur und ihre populärkulturellen Kontexte. In: UERLINGS, Her‐ bert / PATRUT, Iulia-Karin (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld: Aisthesis. S.-135-153. 3 Vgl. dazu HITZKE, Diana / FINKELSTEIN, Miriam (Hg.) (2018): Slavische Literaturen der Gegenwart als Weltliteratur - hybride Konstellationen. Innsbruck: Innsbruck Univ. Press. 4 Vgl. APPIAH, Kwame Anthony (1991): Is the Postin Postmodernism the Postin Postcolonial? In: Critical Inquiry 17. S.-336-357. 5 „[T]he prefix ‘post-’ not merely indicates the gap, but at the same time stresses the ongoing influence of the former on the latter.“ (BITI, Vladimir [2014]: Reexamining the National-Philological Legacy. Quest for a New Paradigm? Amsterdam, New York: Rodopi. S.-1-20, hier S.-10) der Literatur nicht als das primäre Merkmal der Gegenwartsliteratur angesehen werden. In dieser Skizze sollen nicht nur die erwähnten Begriffe Kanon und Nationalliteratur in Hinblick auf die Gegenwartsliteratur in Frage gestellt werden, darüber hinaus soll die postimperiale Konstellation 2 in den Fokus genommen werden. Diese wird als spezifische Möglichkeit der literarischen Aushandlung verschiedener nationaler und transnationaler Identitätskonstruk‐ tionen betrachtet und bezieht sich hier vor allem auf den zentraleuropäischen Raum. Damit verbunden sind die bereits genannten Fragen: Wie werden literarische Erfahrungsräume im dynamischen Feld der Gegenwartsliteratur modelliert? Welche Formen der Literarizität sind auf die Konstellation Zen‐ trum/ Peripherie zurückzuführen? Dazu gehört auch die Frage: Wie verhält sich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zum beschleunigten Wandel der medientechnisch globalisierten Welt und wie sind die durch Exil und Migration ausgelösten transnationalen Befindlichkeiten zu beschreiben? Dabei soll Hybridität 3 als zentraler Begriff fungieren, um postmoderne, postnationale Repräsentationsformen zu fassen, die sich monokulturellen Zuschreibungen konsequent entziehen und die Gegenwartsliteratur zwischen Peripherisierung und Zentralisierung verorten. Hierfür wird der Begriff postimperial, ohne Bindestrich, 4 systematisch ge‐ braucht, d. h. es wird darauf hingewiesen, dass eine kritische und prozess‐ hafte Auseinandersetzung mit den postimperialen literarischen Repräsentati‐ onsformen angestrebt wird. Der damit zum Ausdruck gebrachte Hinweis auf die Persistenz des imperialen Erbes 5 in literarischen Repräsentationen setzt die trans- oder übernationalen Erfahrungen und Narrationen voraus. Um die post‐ imperiale Konstellation zu erfassen, bedarf auch der Begriff Gegenwartsliteratur der Klärung. Gegenwartsliteratur wird hier vor allem als ein relationaler Begriff 140 Milka Car <?page no="141"?> 6 HERRMANN, Leonhard / HORSTKOTTE, Silke (2016): Gegenwartsliteratur - eine Ein‐ führung. Stuttgart: Metzler. S.-1. 7 Ebd. S.-3. 8 VAN LAAK, Lothar (2013): Gegenwärtigkeit und Geschichte als Kategorien der Gegen‐ wartsliteratur. In: BRAUNGART, Wolfgang / VAN LAAK, Lothar (Hg.): Gegenwart. Literatur. Geschichte. Zur Literatur nach 1945. Heidelberg: Winter. S. 121-133, hier S. 122. 9 ERLL, Astrid / ROGGENDORF, Simone (2002): Kulturgeschichtliche Narratologie. In: NÜNNING, Ansgar / NÜNNING, Vera (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftl. Verlag. S.-73-115, hier S.-78. 10 FOHRMANN, Jürgen (2004): Grenzpolitik. Über den Ort des Nationalen in der Literatur, den Ort der Literatur im Nationalen. In: CADUFF, Corina / SORG, Reto (Hg.): Nationale Literaturen heute - ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Fink. S.-23-33, hier S.-23. verwendet, der „kenntlich macht, dass ein Text als literarisches Produkt der je eigenen ‚Jetztzeit‘ wahrgenommen wurde“, 6 wobei Gegenwart als eine „unab‐ geschlossene Epoche“ 7 mit variablem Anfang und offenen Ende aufzufassen ist. So verstanden ist Literatur von der Gegenwärtigkeit geprägt, d. h. von ihrem Beharren in der Aktualität, und als „ein Wahrnehmungsmodus, eine Form der Aufmerksamkeit auf die Erscheinungen, Sprechweisen und Äußerungsformen der Zeit“ 8 beschrieben. Zugleich wird davon ausgegangen, dass Literatur mit ihren grundsätzlichen Prämissen der Literarizität und Fiktionalität ein wichtiger Bestandteil eines „übergreifenden Wirklichkeits- und Selbstdeutungsprozesses einer Kultur“ 9 ist. Mit anderen Worten, es ist von der Notwendigkeit kultureller Einbettung und damit verbundener historischer Wandelbarkeit in Prozessen kollektiver Sinnstiftung auszugehen. II. Die literatur- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Gegenwarts‐ literatur hat das lange gültige Konzept der Nationalliteraturen aufgeweicht, indem die Vermittlungsbedingungen im Zeitalter der Globalisierung hinterfragt werden und das Konzept der Nationalliteratur als „Ergebnis einer vielfältigen Konstruktion“ 10 betrachtet wird. Sind die Texte der Gegenwartsliteratur eher auf nationale, monokulturelle und einsprachige Literaturtraditionen zu beziehen, oder bieten sie vielmehr die Möglichkeit der Grenzüberwindung? Diese Frage erweist sich als eine Herausforderung der traditionellen Literaturwissenschaft sowohl textintern als auch im exogenen literarischen und kulturellen Feld. Über das Potenzial der Literatur, die unterschiedlichen kulturellen Kontexte aufzurufen und sie zugleich zu dekonstruieren, schreiben Dieter Heimböckel und Iulia Patrut in ihrer Einleitung zu Poetiken der Interkulturalität: „Jene Sinnangebote literarischer Texte, die nicht zu den von ihnen thematisierten Dis‐ Die zentrale Peripherie 141 <?page no="142"?> 11 HEIMBÖCKEL, Dieter / PATRUT, Iulia (2021): Poetiken der Interkulturalität. Einfüh‐ rung in das Thema. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. H. 1, S. 9-1, hier S.-9. 12 Ebd. S.-11. 13 MARKOVIĆ, Barbi (2009): Ausgehen. Übers. von Mascha Dabić. Frankfurt a.M.: Suhr‐ kamp. 14 WUNDERER, Martina: Ausgehen/ Remix. Eine Rezension. In: Textfeld Südost, https: / / www.textfeldsuedost.com/ kritiken/ romane/ barbi-marković-ausgehen/ . 15 STARRE, Alexander (2013): Literaturwissenschaftliche Kanontheorien und Modelle der Kanonbildung. In: RIPPL, Gabriele / WINKO, Simone (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart, Weimar: Metzler. S. 50-66, hier S. 62. 16 MÜLLER, Kurt (2001): Zwischen kulturellem Nationalismus und Multikulturalismus. Zur literarischen Kanondebatte in den USA. In: KAISER, Gerhard R. / MATUSCHEK, Stefan (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Heidelberg: Winter. S. 119-216, hier S. 193. kursen gehören, aber dennoch mitgeteilt werden, verhalten sich sekundierend zu den aufgerufenen Diskursen, wie ein Schatten, in dessen Licht das kulturell Bekannte reflektierbar wird.“ 11 Es wird damit auf die ästhetische und kulturelle Alterität der Literatur hingewiesen, die stets darauf ausgerichtet ist, zu zeigen, „wie Weltbezüge und gesellschaftliche Konventionen in einer fremden Sprache aufgerufen werden, dazu, die Realitätskonstruktionen in der eigenen Sprache zu reflektieren“. 12 Sucht man nach einem Beispiel für ein solches Konzept in der Ge‐ genwartsliteratur, so ist etwa Barbi Markovićs Thomas-Bernhard-Remix-Roman Ausgehen  13 (Izlaženje) zu nennen: eine zweisprachige Auseinandersetzung mit dem kanonisierten Autor der österreichischen Literatur und „der kongeniale Versuch, Bernhards Text Gehen weiter-, fort- und umzuschreiben und zugleich eine implizite Reflexion über das Hervorgehen von Texten aus Texten. In einer spiralförmigen Bewegung mise en abyme münden Textrezeption und -produktion ineinander und produzieren so einen Überschuss an Bedeutung.“ 14 Auch in diesem Beispiel bleiben die Analogie- und Vergleichsbildungen mit dem nationalliterarischen Paradigma aktuell, obzwar das Konzept, das als das nicht mehr geltende Modell nationalstaatlich fundierter Wissensformen begründet wurde, im Zeitalter der transnationalen Arbeits-, Kommunikations-, und Lebensformen an Gültigkeit verloren hat. Es gilt jedoch nach wie vor: „nationale Zuordnungen von Autoren und Werken werden habituell vorge‐ nommen“. 15 Zu reflektieren ist dabei auch der Umstand, dass ausgerechnet die literaturwissenschaftlichen Ansätze in besonderem Maße zur Kanonbildung und Etablierung nationalliterarischer Konzepte beigetragen haben. Dabei ist der Begriff der Nationalliteratur hier im weitesten Sinne als „nationale Ein‐ heitsfiktion“ 16 zu verstehen, folgend dem historischen Argument von Monika Schmitz-Emans: „Nationalliteraturen waren stets kollektive Fiktionen, welche 142 Milka Car <?page no="143"?> 17 SCHMITZ-EMANS, Monika (2004): Ob es die Schweiz gibt? In: CADUFF, Co‐ rina / SORG, Reto (Hg.): Nationale Literaturen heute - ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Fink. S.-235-257, hier S.-235. 18 BITI (2014). S.-12. 19 „Both of these entities rely on the divided, embedded identity constitutively dependent upon the sovereign Other their Self can only resist to but not dissociate itself from.“ (ebd. S.-10) 20 EMERSON, Caryl (2006): Answering for Central and Eastern Europe. In: SAUSSY, Haun (Hg.): Comparative Literature in an Age of Globalization. Baltimore: The Johns Hopkins Univ. Press. S.-203-212, hier S.-204. 21 SCHMITZ, Helmut (2009) (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam, New York: Rodopi. 22 SIEBER, Cornelia (2005): Die Gegenwart im Plural. Postmoderne/ postkoloniale Strategien in neueren Lateinamerikadiskursen. Frankfurt a.M.: Vervuert. S.-10. die Existenz einer anderen kollektiven Fiktion namens ‚Nation‘ suggerierten. Ihre Funktion bestand explizit oder implizit darin, an der Realisierung dessen mitzuwirken, was sie als gegeben fingierten.“ 17 Dies heißt jedoch nicht ihre Existenz zu leugnen, sondern ihren diskursiven Konstruktionsmechanismen in synchroner und diachroner Sicht nachzugehen. Auf der Suche nach einem neuen Paradigma postuliert Vladimir Biti die Notwendigkeit eines „reexamining [of] the national-philological legacy“, indem „the fissured identity of literature“ thematisiert wird, 18 vor allem angesichts der Tatsache, dass die postimperiale Konstellation in der langen Kohabitation zur Internalisierung 19 der Herrscherbzw. Subordinationsnarrative beigetragen hat. Insbesondere in Zentraleuropa, einer postnationalen und postmultinatio‐ nalen Region, die nach Caryl Emerson „comparative by birth“ 20 ist, soll das beharrliche Weiterleben nationalliterarischer Zugänge mit einem dynamischen, am Konzept der Hybridität orientierten Literaturbegriff ergänzt werden. Kultu‐ relle Heterogenität und Pluralität ergeben sich im zentraleuropäischen Raum aus der Vielfalt vorhandener regionaler, sozialer, ethnischer und nationaler Perspektiven. Im Unterschied zum Konzept der Nationalliteraturen, das auf Homogenisierung im Zuge der nation-building-Prozesse ausgerichtet war, wird in der Gegenwartsliteratur auf deren heterogene Elemente hingewiesen, die eindeutige Zuschreibungen und eine wie auch immer geartete Bildung der Kohärenz vermeiden. Diese Gleichzeitigkeit der verschiedenen, parallel wirk‐ samen kulturellen Assoziationsräume zwingt zur analytischen Verzahnung un‐ terschiedlicher methodologischer Zugänge, 21 ähnlich wie in der „postkolonialen Kondition“, die „auf das Aufbrechen von Normen und hierarchischem Denken im Zuge der postmodernen und postkolonialen Umwälzungen“ 22 ausgerichtet ist und Formen der Interkulturalität und Postkolonialität untersucht. Nach Nesje Die zentrale Peripherie 143 <?page no="144"?> 23 VESTLI, Nesje (2016): Mein fremdes Deutsch. Grenzüberschreitungen in der deutsch‐ sprachigen Gegenwartsliteratur: Katja Petrowskajas Vielleicht Esther. In: BARSTAD, Guri Ellen u. a. (Hg.): Language and Nation. Crossroads and Connections. Münster: Waxmann. S.-143-160. S.-145. 24 Ebd. 25 FREIST, Dagmar u. a. (2019) (Hg.): Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhis‐ torisches Phänomen. Räume. Materialitäten. Erinnerungen. Bielefeld: transcript. 26 MECKLENBURG, Norbert (2009): Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als inter‐ kulturelle Literaturwissenschaft. München: Iudicium. 27 ETTE, Ottmar (2005): ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos. 28 HITZKE / FINKELSTEIN (2018). S.-15. 29 Ebd. S.-17. Vestli ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur „inzwischen eine vielfältige und vielstimmige Literaturlandschaft, die sich jeglicher Schubladisierung auf Grund von Erstsprache und Herkunft versperrt“, 23 denn „[e]ine Mehrzahl ihrer Werke thematisiert transitäre Erfahrungen, etwa im Rahmen der Migration und des Spracherwerbs, exploriert Grenzüberschreitungen, stellt herkömmliche Zuordnungen wie Nationalität, Muttersprache und Heimat in Frage. Auf diese Weise erhalten globale Themen Eingang in die deutschsprachige Literatur.“ 24 Für die transkulturellen literarischen Formen 25 der Gegenwartsliteratur wurden zahlreiche unterschiedliche Begriffe geprägt, die sich jedoch der eindeutigen Festlegung entziehen. Um diese Formen zu beschreiben, kommen Termini wie Migrantenliteratur, Minderheitenliteratur, inter-, 26 bzw. transkulturelle Li‐ teratur vor, aktualisiert wurde auch der Begriff der Weltliteratur, die Rede ist ebenso von „Literaturen ohne festen Wohnsitz.“ 27 Besonders die sogenannte Migrationsliteratur der Gegenwart ist „bereits im Entstehungsprozess von sprachlicher und kultureller Hybridität geprägt“. 28 Für die komplexen Erschei‐ nungsformen der Hybridisierung - verstanden als Prozesse der Fremdbegeg‐ nung, bzw. der kulturellen, ethnischen, religiösen Vielfalt - die die stilistische, sprachliche wie auch thematische Ebene der literarischen Texte prägen, sind auch neue literaturwissenschaftliche und -analytische Formen zu entwickeln. In diesem Sinne wurde „eine transareale (Literatur-)Wissenschaft“ vorgeschlagen, die „ebensowenig auf die nationalliterarischen Traditionslinien und auf die Ergebnisse der Regionalforschung, der Area Studies, verzichten“ 29 darf. Darin wird der Ansatz einer kulturwissenschaftlich inspirierten Literaturwissenschaft verfolgt, indem die Literarizität in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen als ein historisch entstandenes und sozial variables Phänomen konzeptualisiert wird. 144 Milka Car <?page no="145"?> 30 ERLL, Astrid / ROGGENDORF, Simone (2002): Kulturgeschichtliche Narratologie. In: NÜNNING, Ansgar / NÜNNING, Vera (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftl. Verlag. S.-73-115, hier S.-84. 31 BACHMANN-MEDICK, Doris (1994): Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive. In: DVLG 68. S.-585-612, hier S.-586. 32 BECK, Ulrich (2007): Was ist Globalisierung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S.-31. III. Wie ist Literatur - vor allem Gegenwartsliteratur - als postimperiale Kon‐ stellation zu verstehen? Erstens eignet sich offenbar ein offener, flexibler Literaturbegriff zur Beschreibung von komplexen postimperialen Räumen und Situationen, in dem Begriffe wie Hybridisierung, Polyphonie und Prozessualität eine wichtige Rolle spielen und zu den relevanten Kategorien kultureller Selbstdefinition und literarischer Repräsentationen gezählt werden. Obwohl die nationalen Zuschreibungen eine besondere Rolle zur Bildung von kollektiven Identitäten ausgeübt haben, nehmen die literarischen Figurationen der Erfah‐ rung der Gegenwart neue Formen an, die sich mit vorhandenen nationalen Dis‐ kursen verschränken und sie zugleich erweitern. Die Verbindung mit anderen kulturellen Diskursen, vor allem mit dem postkolonialen Ansatz geht von der Annahme einer aktiven Rolle der Literatur „bei der Herausbildung, Subversion und Transformation kultureller Machtverhältnisse“ 30 wie auch von den damit verbundenen ethischen oder ideologischen Auswirkungen der literarischen Texte aus. Genauso wie beim postkolonialen Ansatz ist in der postimperialen Konstellation von einem konstruktivistischen und zugleich kontextbewussten Literaturverständnis auszugehen - analysiert werden die kulturellen und sozi‐ alhistorischen Entstehungsbedingungen der Texte, womit versucht wird, den Modi kultureller Selbstverständigung und der Produktion gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen nachzugehen. Folgt man der These von Doris Bachmann-Medick, wonach die ökonomi‐ schen und politischen Globalisierungsprozesse „die differenzierten kulturellen Selbstdarstellungs- und Überzeugungsleistungen von (literarischen) Texten“ 31 erfordern, so eröffnet dies den Zugang zur postimperialen Konstellation. In diesem Sinne ist zu fragen, wie eine globale Gesellschaft oder eine „Weltgesell‐ schaft“ literarisch dargestellt werden kann? Eine Weltgesellschaft geht nach Ulrich Beck aus einem „durch Vielheit und Nicht-Integriertheit gekennzeich‐ nete[n] Welthorizont“ hervor, der „in Kommunikation und Handeln hergestellt und bewahrt wird“. 32 Mit anderen Worten: Für die Gegenwartsliteratur ist in dieser Vielfalt der Konzepte eine auf postimperialen Erfahrungen basierende Konstellation anzunehmen, die keinen konsistenten Neueinsatz einführen will, Die zentrale Peripherie 145 <?page no="146"?> 33 CSÁKY, Moritz (2002): Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Iden‐ tität. Das Beispiel Zentraleuropas. In: BOSSHART-PFLUGER, Catherine / JUNG, Jo‐ seph / METZGER, Franziska (Hg.): Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt. Frauenfeld, Stuttgart, Wien: Huber. S.-25-51, hier S.-41. 34 Ebd. S.-47. 35 CSÁKY, Moritz (2009): Mitteleuropa/ Zentraleuropa - ein komplexes kulturelles System. In: FASSMANN, Heinz / MÜLLER-FUNK, Wolfgang / UHL, Heidemarie (Hg.): Kulturen der Differenz - Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven. Wien: V&R unipress. S.-21-31, hier S.-25. 36 Ebd. S.-26. 37 CSÁKY (2002). S.-43. 38 Ebd. S.-47. 39 BURBANK, Jane / COOPER, Frederick (2010): Empires in World History. Power and Politics of Difference. Princeton, Oxford: Princeton Univ. Press. S.-17f. sondern im Gegenteil davon ausgeht, dass sie bereits heuristische Analysein‐ strumente für die Manifestationen einer pluralen und konfliktreichen zentraleu‐ ropäischen Region anbieten kann. Mit Moritz Csáky kann man von einem Raum der „endogenen und exogenen ethnisch-kulturellen Pluralität“ 33 im „Konzept polyphoner und hybrider Kulturen“ 34 sprechen. Dabei wird mit endogener Plu‐ ralität „die in der Region seit Jahrhunderten nachweisbare Dichte von Völkern, Kulturen und Sprachen“ 35 bezeichnet; als exogene Pluralität gilt „die Summe jener kultureller Elemente, die von außen hinzukamen“. 36 Als der „kulturelle Kommunikationsraum“ ist der zentraleuropäische Raum nach Csáky besonders „krisen- und konfliktanfällig“, 37 bzw. von „Dynamik“ und „Ambivalenz“ 38 im gleichen Maße geprägt. Daraus folgt, dass solche Erfahrungen in der Regel auch mit Fragen nach der Hierarchie kultureller Ordnungen verbunden sind. Vorausgesetzt wird damit, dass postimperiale Konstellation auf die histo‐ risch geprägten, komplexen kulturellen Kommunikationsräume zurückgeführt werden kann, die sich nicht auf binäre Oppositionen und Exklusions- und Inklusionslogiken reduzieren lassen (auch wenn diese relevant bleiben), denn ihre Überlagerung verschiedener kultureller, sprachlicher und lokaler Kontexte prägt die kulturelle Kommunikation bis in die Gegenwart. Versteht man den ehemaligen habsburgischen Raum - der sich mit dem zentraleuropäischen Raum in vielerlei Hinsicht deckt - mit Jane Burbank und Frederick Cooper als ein integrierendes Landimperium, unterschied er sich, was sich kulturell besonders niederschlägt, von nationalhomogenisierenden Diskursen vor allem in seiner Differenzpolitik (politics of difference), wie auch in der Verbindung von „Inkorporation und Differenz“, die zur Konstruktion eines „eigenen Anderen“ 39 führte. Bestätigt wird damit jedoch nicht die essenzialistische Annahme der Andersartigkeit, sondern es handelt sich um die Erkundung der rekurrenten 146 Milka Car <?page no="147"?> 40 Hier seien nur einige Beispiele angeführt: ARNAUTOVIĆ, Ljuba (2021): Junischnee. Wien: Zsolnay; GEIGER, Arno (2005): Es geht uns gut. München: Hanser; MENASSE, Eva (2005): Vienna. Wien: Zsolnay; TASCHLER, Judith W. (2022): Über Carl reden wir morgen. Wien: Zsolnay. 41 Vgl. dazu das Themenheft von CAR, Milka / LUGHOFER, Johann Georg (Hg) (2016): Repräsentationen des Ersten Weltkriegs (= Zagreber Germanistische Beiträge 25); insbes. die Beiträge von ŠLIBAR, Neva (2016): Der ,Große Krieg‘ in den Köpfen. Traumata, Heimkehr, ,Heilung‘ und Familie bei Christoph Poschenrieder, Bettina Balàka und Elena Messner. In: ebd. S. 291-315; KIRSCHSTEIN, Daniela (2016): Erinnern nach der Erinnerung. Der Erste Weltkrieg in der Gegenwartsliteratur. In: ebd. S.-315-329. 42 BRUBAKER, Rogers (2008): Nationale Minderheiten, nationalisierende Staaten und nationale Bezugsländer im neuen Europa. In: JAHN, Egbert (Hg.): Nationalismus im spät- und postkommunistischen Europa. Der gescheiterte Nationalismus der multi- und teilnationalen Staaten. Bd.-1. Baden-Baden: Nomos. S.-138-162, hier S.-140. Erzählkonstruktionen und kulturellen Wahrnehmungsmuster in literarischen Selbst- und Fremdrepräsentationen. Zu betrachten ist, wie sich Literatur als komplexe Form der Narration an sozialen und historischen Prozessen der Welt- und Wirklichkeitserzeugung in der Gegenwart beteiligt, wobei der Bezug zu Sedimenten der Vergangenheit herausgearbeitet wird. Diese Tendenz ist in zeit‐ genössischen historischen wie auch in transgenerationellen Familienromanen 40 zu beobachten, z. B. im Korpus von Romanen, die sich mit den Repräsentationen des Ersten Weltkrieges 41 auseinandersetzen. In einem solchen dynamischen Verständnis der Gegenwartsliteratur sind intersubjektive und -kulturelle Konstellationen keinesfalls neutral aufzufassen, sondern sie werden als Netzwerke von Hierarchisierungen und Machtstruk‐ turen beobachtet - es geht um die Frage nach den gegenwärtigen Macht‐ asymmetrien, die sich u. a. aus der parallelen Existenz von nationalen und imperialen Herrschaftsstrategien und Repräsentationsformen ergeben. Um der Verwobenheit und gegenseitigen Durchdringung der transkulturellen Identi‐ täten gerecht zu werden, wird anstelle der Identitätsbildung der Begriff der prozesshaften Identifizierung vorgeschlagen, denn die kulturelle Identität kann nur in einem Prozess der ständigen Neupositionierung ausgehandelt werden. Mit dem Soziologen Rogers Brubaker gesprochen, der in seinen Forschungen den Begriff der Nation wissenschaftstheoretisch analysiert hat, sind „Ethnizität, Rasse und Nationalität […] fundamentale Formen der Wahrnehmung, Deutung und Repräsentierung der sozialen Welt. Sie sind keine Dinge in der Welt, sondern Blickwinkel auf die Welt.“ 42 Alternativ zum Identitätsbegriff werden demzufolge „Identifikation“ (identification), Selbstverständnis (self-understanding), soziale Verortung (social location), Kategorisierung (categorization) und „Gruppenzu‐ sammengehörigkeit“ als Analysekategorien vorgeschlagen. Brubaker führt damit die von den (in Zentraleuropa geborenen) Soziologen Peter L. Berger und Die zentrale Peripherie 147 <?page no="148"?> 43 BERGER, Peter L. / LUCKMANN, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Übers. v. Monika Plessner. Frankfurt a.M.: Fischer. S.-20. 44 Ebd. S.-39. 45 Ebd. S.-53. 46 Ebd. S.-104. 47 Ebd. S.-129. 48 Ebd. S.-72. 49 BIRK, Hanne / NEUMANN, Birgit (2002): Go-between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: NÜNNING & NÜNNING (2002). S.-115-153, hier S.-126. 50 Vgl. dazu: WEIERSHAUSEN, Romana (2011): Die Rückkehr des Erzählers im Roman. Vladimir Vertlibs Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur und Letzter Wunsch. In: SCHÖLL, Julia / BOHLEY, Johanna (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21.-Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann. S.-145-163. Thomas Luckmann eingeführte These zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit weiter. In ihrem gleichnamigen Buch gehen die beiden Autoren vom „Doppelcharakter der Gesellschaft als objektive[r] Faktizität und subjektiv gemeinte[m] Sinn aus, der sie zur ‚Realität sui generis‘ macht“. 43 Berger und Luckmann heben die notwendige Vermittlungsfunktion der Sprache hervor und beschreiben sie als einen „Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeu‐ tungen“. 44 Insbesondere im Kapitel über Gesellschaft als objektive Wirklichkeit werden die abstrakten Prozesse der „Bildung des Selbst“ 45 in der Gesellschaft untersucht, um der „Herauskristallisierung symbolischer Sinnwelten“ 46 nachzu‐ gehen. Diese Prozesse werden u.-a. von den so genannten „Welt-Spezialisten“ 47 durchgeführt, die die Funktion übernehmen, angesammelte „intersubjektive Erfahrungsablagerung“ 48 als Sedimente der Tradition und der Erfahrung zu vergegenständlichen und weiter zu tradieren. Auf diesem Wege entsteht - was für Gegenwartsliteratur von großer Bedeutung ist - […] eine offene flexible Identitätsformation […], die der Entstehung vielfältiger und dynamischer kultureller Mischformen den Weg ebnet. Solche dezentrierten, prozessualen Modelle wenden sich nachdrücklich gegen essentialistisch und antago‐ nistisch konstruierte Konzepte von Identität und betonen dagegen die ständigen potentiellen Neuformationen und Überlagerungen von Identität. Da Identität gemäß diesem Modell über einen vielschichtigen und ambivalenten Prozeß der Identifikation mit dem Anderen gebildet wird, läßt sich die vermeintlich monolithische westliche Identität nicht eindeutig von der des Anderen abgrenzen. 49 Damit wird auf die der postimperialen Konstellation inhärente Prozessualität der nationalen Zuschreibungen und Identitäten in der Gegenwart hingewiesen. Eine solche Konstellation ist in den erzählfreudigen Texten des österreichischrussischen Autors Vladimir Vertlib 50 zu verfolgen, im kurzen Roman Reibungs‐ 148 Milka Car <?page no="149"?> 51 DABIĆ, Mascha (2017): Reibungsverluste. Wien: Edition Atelier. 52 DINEV, Dimitré (2003): Engelszungen. Wien: Deuticke. 53 FOUCAULT, Michel (1981): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 54 OSTERHAMMEL, Jürgen (2006): Imperien im 20. Jahrhundert. Eine Einführung. In: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Comparative History 1. S.-4-13, hier S.-7. 55 Zur Auseinandersetzung mit dem „asymmetrisch strukturierte[n], deutschsprachige[n] ‚Diskursraum Mittel- und Osteuropa‘“ vgl. PATRUT, Iulia-Karin (2012): Kafkas ,Poetik des Anderen‘, kolonialer Diskurs und postkolonialer Kanon in Europa. In: UERLINGS, Herbert / PATRUT, Iulia-Karin (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld: Aisthesis. S.-261-289. 56 RIPPL, Gabriele / STRAUB, Julia (2013): Zentrum und Peripherie. Kanon und Macht (Gender, Race, Postcolonialism). In: RIPPL, Gabriele / WINKO, Simone (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart, Weimar: Metzler. S. 110- 119, hier S.-111. verluste der Übersetzerin und Autorin Mascha Dabić, 51 in dem sie das Übersetzen als eine kulturelle Vermittlungspraxis darstellt, oder in den postsozialistischen Texten des österreichisch-bulgarischen Schriftstellers Dimitré Dinev, 52 in dem Zentrum und Peripherie in einem spannungsvollen Verhältnis stehen, um nur einige Beispiele aus der Gegenwartsliteratur anzuführen. Als eine für die postimperiale Debatte zentrale Kategorie wird die relational verstandene Opposition Zentrum/ Peripherie betrachtet, die zugleich einen Kerngedanken der postkolonialen Theorie ausmacht und die hierarchischen Denk- und Herrschaftsstrukturen aufdeckt. Wird sie als eine dynamische und relationale Größe heuristisch konzeptualisiert, kann sie die Pluralität der postimperialen Erscheinungsformen erfassen. Im Sinne der Hybridisierung von kulturellen Identitäten ist diese in postimperialer Konstellation oft thematisierte Opposition von Zentrum/ Peripherie nämlich erst im Modus ihrer Überwindung zu verstehen, wie Michel Foucault 53 in seiner Analyse der historisch kontin‐ genten Diskursformationen zeigt: denn die Zentren sind nicht unabhängig von Peripherien, sondern verdanken ihnen zugleich ihre eigene Entstehung. Insofern sind in der historischen Forschungsrichtung new imperial history, die von Jürgen Osterhammel als die „Geschichte der Identitätsbildung“ eingestuft wird, gerade „Peripherien und die mit ihnen verbundenen ‚Hybriditäten‘ […] wichtiger als die zentralen Quellen imperialer Strukturierung“. 54 Dabei erweisen sich Peripherien mit ihrer politischen und kulturellen Unbestimmtheit, Durch‐ lässigkeit und diskursiver Offenheit als hybrid und wandelbar, mit anderen Worten als literarisch relevant 55 und mythopoetisch produktiv. Die Dichotomie Zentrum/ Peripherie umfasst darüber hinaus die „Dimensionen persönlicher, kollektiver und nationaler Identität“, 56 die insgesamt in Kanonisierungsproz‐ Die zentrale Peripherie 149 <?page no="150"?> 57 Die Tabelle wird hier vollständig übernommen aus RIPPL / STRAUB (2013). S.-111. essen eine zentrale Rolle spielen und von Gabrielle Rippl und Julia Straub 57 in ihrer Überblicksdarstellung zu Kanon-Macht-Fragen wie folgt dargestellt werden: Zentrum Rand/ Peripherie imperiales Zentrum koloniale Peripherie urbanes Zentrum (Metropole) koloniale Peripherie (Provinzen) politische Macht Subversion (weiße) Mittel- und Oberschicht Unterschicht Mann (als anthropologische Norm) Frau (Minus-Mann) männlich (masculine) weiblich (feminine) Subjekt Objekt Geist/ Logos Körper/ Pathos Kultur Natur Hochkultur Populärkultur Wort Bild Autor/ Genie „the damned mob of scribbling women“ (Nathaniel Hawthorne) Weiß schwarz/ ethnisch markiert weiße Frau schwarze Frau heterosexuell homosexuell/ lesbisch/ queer Text Kontext ästhetisch-formalistisch orientiert kontextsensitiv (Assmann [1998]) Innovation/ Originalität Imitation/ Epigonentum Rationalität/ Gestaltungswille Emotionalität/ Authentizität symbolische Macht/ Gesetz des Va‐ ters/ Phallus das Geschlecht, „das nicht eins ist“ (Iri‐ garay [1979]) Aus dieser Tabelle geht hervor, dass das Zentrum mit dem höher positionierten Wert des jeweiligen Oppositionspaars assoziiert wird, während Peripherie 150 Milka Car <?page no="151"?> 58 HÁRS, Endre / MÜLLER-FUNK, Wolfgang / REBER, Ursula / RUTHNER, Clemens (2006) (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tü‐ bingen, Basel: Francke. S.-1. 59 Ebd. S.-2. 60 Ebd. S.-4 61 KOSCHORKE, Albrecht (2013): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M.: Fischer. S.-128-134, hier S.-128. 62 LOTMAN, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 63 KOSCHORKE (2013). S.-121. in der Regel eine untergeordnete Position besetzt und somit in der Tat als „Gegenstand bzw. Setzung dieser Produktion“ 58 aufzufassen ist. Die einzelnen Einträge umfassen Werte und Normen einer Kultur, ausgehend von historischen und sozialen bis zu literarischen, bzw. symbolischen und imaginären Kategorien. Um diese Kategorien umzubauen und sie dezentrierend vorzustellen, sind sie als dynamische Größen zu denken. Im postimperialen Ansatz sind vor allem zentripetale Tendenzen an den Peripherien wie auch die Entwicklungen in den imperialen Zentren zu beachten, aus denen sich vielfältige transkulturelle Perspektiven ergeben, die auf die imperial vererbte kulturelle Heterogenität hinweisen. Um den Abbau hierarchischer Dichotomien in Prozessen von Zentrenbildung und Peripherisierung ging es auch im Sammelband Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn (2006) des Forschungsnetzwerks Kakanien revisited. Betont wird darin, dass die Begriffe Zentren und Peripherien im Plural verwendet werden, um diese Konstellation als eine „dynamische und relative Pluralität“ 59 zu analysieren, denn ein „Ort bzw. eine Position innerhalb eines Systems kann also sowohl Zentrum als auch Peripherie sein, je nachdem, wie man sich ihm/ ihr nähert […] der Gegensatz ist gemacht und existiert nicht außerhalb der sozialen Praxis“. 60 Mit der sozialwissenschaftlichen Denkfigur über bewegliche Zentren und Peripherien wird auch auf die narrativen Prozesse der Identitätsbildung eingegangen. In seinem Buch Wahrheit und Erfindung beschreibt Albrecht Koschorke im Kapitel mit dem Titel Zentren und Peripherien, kalte und heiße Zonen die Mecha‐ nismen ihrer gegenseitigen Einwirkung und geht von der ähnlichen Annahme über die ihnen inhärenten dynamischen Prozesse aus, wenn er von „Periphe‐ risierung“ und „Zentralisierung“ spricht. Koschorke hebt diese Mechanismen als solche hervor, die die „Ressourcenströme in einem Kulturraum ungleich verteilen“. 61 In Anlehnung an Lotmans Modell der kulturellen Semiosphäre 62 wird das Potenzial der Peripherie als „die Umschmelzung und Transformation des Codesystems selbst“ 63 beschrieben, indem sie sich „oft dynamisierend auf die Die zentrale Peripherie 151 <?page no="152"?> 64 KOSCHORKE (2013). S. 131. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Als Beispiele aus der inzwischen ausufernden Forschungsliteratur zu diesem Gebiet seien genannt: LUDWIG, Heinz Arnold (2009) (Hg.): Comics, Mangas, Graphic Novels. München: Text + Kritik; SCHMITZ-EMANS, Monika (2012): Literatur-Comics. Adaptati‐ onen und Transformationen der Weltliteratur. Berlin: de Gruyter; STEIN, Daniel / THON, Jan-Noël (2013) (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Berlin, Boston: De Gruyter; HESCHER, Achim (2016): Reading Graphic Novels. Genre and Narration. Berlin, Boston: De Gruyter; TABACHNICK, Stephen E. (2017): The Cambridge Companion to the Graphic Novel. Cambridge: Cambridge University Press. 68 LUST, Ulli (2009): Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens. Berlin: avant. 69 MAHLER, Nicolas (2021): Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie. Berlin: Suhrkamp. 70 HEYDEBRAND, Renate von / WINKO, Simone (1994): Geschlechterdifferenz und lite‐ rarischer Kanon. Historische Betrachtungen und systematische Überlegungen. In: IASL 19. H. 2, S.-96-172. 71 SAID, Edward (1993): Culture and Imperialism. London: Routledge. Prozesse im Zentrum“ 64 auswirkt. Auf den postimperialen Raum bezogen, heißt das, dass sich „dessen Zentren und Peripherien […] multiplizieren und unzählige Interferenzen erzeugen“. 65 Die Logik der dynamisch verstandenen Konstellation von Zentrum und Peripherie mit ihren dezentrierte[n] Sozialordnungen  66 impli‐ ziert, dass wir in der Gegenwartsliteratur sowohl mit peripher gewordenen Zentren als auch Peripherien mit zentralisierenden Tendenzen zu tun haben. Dies bezieht sich nicht nur auf die sogenannte Migrantenliteratur; zu denken ist etwa an die vorher marginalisierten oder nicht kanonisierten Gattungen wie die graphic novel, die ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. 67 Als Beispiel dafür sind etwa die Romane der in Berlin lebenden österreichischen Comiczeichnerin Ulli Lust 68 oder Literaturadaptationen des österreichischen Zeichners Nicolas Mahler 69 anzuführen. Auch die Kanonisierungsprozesse können auf die Konstellation Zentrum/ Pe‐ ripherie zurückgeführt werden: Ein Kanon konstituiert sich stets als hierarchische Unterscheidung von innen und außen, von gut und schlecht, von Zentrum und Rand, und er verführt dazu - selbst wenn das moderne Kanonprinzip der Innovation, der Differenz zum Vorausgehenden diese Verführung schon unterläuft -, ihn als substantielle Repräsentation von Werten zu verstehen. 70 In seinem Buch Kultur und Imperialismus  71 hat Edward Said die beweglichen Zentren thematisiert und sich in diesem Sinne für die notwendige Kanonrevi‐ sion eingesetzt. Die postkoloniale Theorie hat eine radikale Kritik am westlichen Kanon durchgeführt, wofür insgesamt die Strategien der repudation (Ableh‐ 152 Milka Car <?page no="153"?> 72 MARX, John (2004): Postcolonial Literature and the Western Literary Canon. In: LAZARUS, Neil (Hg.): The Cambridge Companion to Postcolonial Literary Studies. Cambridge: Cambridge Univ. Press. S.-83-96, hier S.-83. 73 HERRMANN, Leonhard (2014): Kanon und Gegenwart. Theorie und Praxis des lite‐ rarischen Kanons im Zeichen von Historizität, Dynamik und Pluralität. In: KARG, Ina / JESSEN, Barbara: Kanon und Literaturgeschichte. Facetten einer Literaturdiskussion. Berlin: Lang. S.-15-33, hier S.-20. 74 Ebd. S.-17. 75 HEIMBÖCKEL, Dieter / PATRUT, Iulia (2021): Poetiken der Interkulturalität. Einfüh‐ rung in das Thema. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12/ 01. S. 9-11, hier S.-11. 76 Ebd. 77 HERRMANN, Leonhard / HORSTKOTTE, Silke (2016): Gegenwartsliteratur - eine Ein‐ führung. Stuttgart: Metzler. S.-4. 78 Ebd. nung), revision (Berichtigung) und definition (Festlegung) 72 oder auch rewriting ausgearbeitet wurden. Die Fortexistenz des Kanons in der Gegenwartsliteratur kann nach Leonhard Herrmann nur „als zeit- und kontextbedingtes, plurales und dynamisches System“ 73 verstanden werden. Dafür verwendet er Begriffe wie „Historisierung, Pluralisierung und Dynamisierung“, 74 die sich in vielerlei Hinsicht mit der hier vorgeschlagenen postimperialen Konstellation decken. Plädiert wird für Zugänge zur Gegenwartsliteratur, die deren Verfahren der Intertextualität, -lingualität und -medialität gerecht werden können. Ihre postimperiale Konstellation ist angelehnt an Literaturformen, in denen „Nor‐ malitätserwartungen irritiert, Erkenntnisrahmen herausgefordert, axiologische oder moralische Fragen neu gestellt“ 75 werden. Es handelt sich um eine Heraus‐ forderung der Gegenwärtigkeit und sie „betrifft in radikaler Weise auch das eigene Selbst, sei es als Individuum oder als ,imaginäre Gemeinschaft‘: Denn ausgehend von dem, was augenscheinlich in der Welt ist, ausgehend von dem Unbekannten und Unvertrauten, welches nicht zu den eigenen Wahrnehmungs‐ gewohnheiten und (Selbst-)Gewissheiten passt, kann die Vorstellung von Welt und Gesellschaft revidiert werden.“ 76 Erst in einer solchen Intensität entsteht „Gegenwartsliteratur der Gegenwart“, 77 die „die unmittelbare Bezogenheit eines Textes auf Diskurse der eigenen Zeit unterstellt“ 78 und in diesem Sinne als Zusammenspiel textinterner und textexterner Faktoren aufzufassen ist. Die zentrale Peripherie 153 <?page no="155"?> 1 Vgl. RUTHNER, Clemens (2018): Habsburgs ,Dark Continent’. ‚Postkoloniale‘ Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke. S.-37. Die Durchästhetisierung der kolonialen Sprachen der k.-u.-k. Monarchie im Roman von Ádám Bodor Das Schutzgebiet Sinistra (1994) Gábor Schein (ELTE Budapest) Die Donau-Monarchie hat in Afrika, Amerika oder Asien keine staatliche Hoheit errichtet, aber am jahrhundertelangen Prozess der Destabilisierung von außereuropäischen Gesellschaften teilgenommen. Eine koloniale Denkweise äußerte sich auch gegenüber den eigenen Peripherien. Die institutionalisierte Sprachverwendung der Behörden, die symbolischen Formen der ethnischen und territorialen Diskriminierung bzw. die Rhetorik der österreichischen und ungarischen Identitätspolitik zeigen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Sprachverwendung des Kolonialismus. 1 Völker und Territorien werden durch Symbole der unzivilisierten Fremdheit und der Rückständigkeit bloßgestellt, und sie werden dabei nie als Opfer der kolonialen Gewalt wahrgenommen. Die Instrumentalisierung von Grundwerten der Aufklärung, Zivilisation, Fort‐ schritt, Recht und Humanität gab und sicherte die Rückendeckung für die dehumanisierende und abwertende Gewalt. Schon Oszkár Jászi und Ferenc Eckhart bemerkten, dass die östlichen und süd-östlichen Gebiete der Monarchie im Grunde als innere Kolonien von Wien und Budapest funktionierten. Das führte zu einer tiefen sozialen Unausgewogenheit, die unter den Umständen <?page no="156"?> 2 Vgl. JÁSZI, Oskar (1918): Der Zusammenbruch des Dualismus und die Zukunft der Donaustaaten. Wien: Manz. S. 7: „Die nationalen Staatsembryonen haben über den Ge‐ bieten der Monarchie, des Balkans und Rußlands die politische und soziale Atmosphäre mit andauernder Unsicherheit, Spannung, Mißtrauen und Reizbarkeit verschwült und geschwängert. Für diese schwere Lage macht man in der Regel ‚die Geschäftspolitiker chauvinistischer Schlagworte‘ verantwortlich. Doch entwächst dieser Typus nur als Wirkung den innerpolitischen Wirrungen und ist nicht deren Ursache. Es ist ja klar, daß die staatliche Vereinigung der zu nationalem Leben fähigen Nationalitäten von grund‐ bedingendem Entwicklungsinteresse und -wert ist, so in bezug auf die betreffenden Völker wie für die Menschheit. Nation heißt die politische Organisierung der durch Kultur, Wirtschaft, Traditionen Zusammengeschweißten; das Selbstbestimmungsrecht der Völker: daß die Zusammengehörigen sich frei zu den Zwecken organisieren können, welche sie zu ihrem geistigen, moralischen und wirtschaftlichen Vorwärtskommen als notwendig erachten. Es ist klar, daß alles, was diese Bestrebung mit Gewalt zu verhindern versucht, sich in der Seele derer, gegen die sich die Spitze solcher Maßregeln richtet, als verhaßter Zwang widerspiegelt.” 3 RUTHNER (2018), S.-54. 4 Der Sohn eines polnischen kaiserlichen Finanzbeamten und einer Siebenbürger Sächsin wurde 1856 geboren. Von 1875 bis 1879 studierte er Sprachwissenschaft an der Univer‐ sität Klausenburg, wo er seine Doktorarbeit angefertigt hat. Später beschäftigte er sich auch mit Ethnologie. In seinem besonderen Interessengebiet, der Tsiganologie, betrieb er eine intensive literarische Sammeltätigkeit sowie Feldstudien bei siebenbürgischen „Wanderzigeunern“. Er wurde selbst Mitglied eines Clans und heiratete eine Romni. Als Forscher erarbeitete er sich einen hervorragenden Ruf und galt europaweit als der Gelehrte, der am besten mit dem Leben und der Sprache der Roma vertraut war. Außerdem übersetzte er u. a. die Gedichte von Sándor Petőfi ins Isländische und übertrug Károly Szász und János Vajda ins Deutsche. des Dualismus sogar an Stärke gewann, später jedoch zur Dynamik des Zerfalls beigetragen hat. 2 Die Ausdifferenzierung von Zentrum und Peripherie produziert immer kul‐ turelle Unterschiede, die mit sozialer und wirtschaftlicher Marginalisierung einhergehen. 3 Es ist aufschlussreich, hier daran zu erinnern, wie der hervorra‐ gende Sprachwissenschaftler und Ethnologe Heinrich von Wlislocki 4 das Leben der ungarischen Gentry und der rumänischen Bauern in Siebenbürgen im Jahr 1889 wahrgenommen hat: Ziehen wir neben diesem Kastenunterschied [! ], der sich auch auf die Jugend erstreckt, noch einen gewissen Hang zum beschaulichen Leben, womöglich ohne Arbeit und Mühe, in Betracht, so dürfen wir uns nicht im geringsten darüber wundern, daß der transsilvanische Rumäne sich selten über die allerprimitivsten Lebensverhältnisse emporschwingt; denn wahr bleibt es immerhin, daß ihm der Wahlspruch gilt: Sitzen sei besser als Gehen, Liegen besser als Sitzen, Schlafen besser als Wachen, das Beste von allem aber ist das Essen! Auf diesen unleugbaren Umstand ist daher zurückzuführen die traurige Bemerkung mancher Philoromanen, daß der rumänische 156 Gábor Schein <?page no="157"?> 5 WLISLOCKI, Heinrich von (1890): Aus dem Leben der Siebenbürger Rumänen. In: WATTENBACH, Wilhelm / VIRCHOW, Rudolf K. V. / HOLTZENDORFF, Franz (Hg.): Sammlung Gemeinverständlicher Wissenschaftlicher Vorträge. Hamburg: Lüderitz. S. 603. 6 RUTHNER (2018), S.-56. 7 Ebd. 8 BHABHA, Homi K. (1994): The Location of Culture. London: Routledge. S.-75. Bauer, trotz aller Gleichheit vor dem Gesetze, noch immer in einer ärmlichen Hütte, der magyarische Herr und der sächsische Bürger aber in einer bequemen Stadt- oder Landwohnung lebt. Dieser Hang zu einem beschaulichen Leben muß auch auf seine Intelligenz übertragen werden; er ist begriffsstutzig und verhält sich abwehrend gegen jede neue Idee, die man ihm beibringen will. 5 Clemens Ruthner veranschaulicht dieses Momentum sehr plastisch, in dem die Sichtweise der österreich-ungarischen Machtprivilegien im Rahmen des ,Hy‐ giene-Diskurses’ eine rassistische Färbung gewinnt. Er zitiert einen Polizeitext aus dem Jahre 1916, den die k. u. k. Militärverwaltung in Montenegro ausge‐ geben hatte. In ihm wird der Geruch „zum selektiven Merkmal sozialer und ethnischer Differenz“: 6 Der Tischler riecht nach Firnis, der Maschinist nach Schmieröl, der Krankenwärter nach Karbol, der Pferdeknecht hat den bekannten Stallgeruch, die Zigeuner den lange in einem geschlossenen Raum wahrnehmbaren Zigeunergeruch etc. Schließlich wird auf den ganz eigenartigen Geruch [gefangener] serbischer Soldaten aufmerksam gemacht. 7 Im kolonialen Bezugssystem prallen keine stabilen Identitäten aufeinander. Die dynamische Logik der Identifikationen bestimmt ihre jeweilige Liminalität. Die Bedeutungen der kulturellen Differenzen produzieren keine objektiv gegebenen Grenzen und Trennlinien, sondern liminale Spannungen. Die Erfahrungen von Ähnlichkeiten und Unterschieden, von Sehnsucht und Abscheu beziehen sich brüchig aufeinander. Indem solche Spannungen das Bewusstsein des Kolonisierenden und des Kolonisierten tief durchdringen, stehen vermeintlich stabile Stereotype und stigmatisierende Repräsentationen im Vordergrund. „The stereotype is not simplification because it is a false representation of a given reality“, bemerkte hierzu Homi Bhabha. „It is a simplification because it is an arrested, fixated form of representation that, in denying the play of difference (which the negation through the other permits), constitutes a problem for the representation of the subject in significations of psychic and social relations.“ 8 Wenn wir danach fragen, inwieweit koloniale Reflexe im kulturellen Raum der Donaumonarchie aktiv gewesen sind, oder inwieweit sie auch heute noch zu den anregenden Motiven der kulturellen Verhältnisse von ,Ost-Mittel-Europa’ Die Durchästhetisierung der kolonialen Sprachen der k.-u.-k. Monarchie 157 <?page no="158"?> 9 WOLF, Norbert Christian (2019): Der ’habsburgische Mythos’ und die kakanische Tradition. Wie Claudio Magris’ Deutung die Wiener Moderne von dieser selbst geprägt ist. In: Prospero 24. S.-57-75 gehören, müssen wir berücksichtigen, dass Identifikationsbestrebungen immer dort am aktivsten sind, wo sie das Subjekt zum Erleben von größten Span‐ nungen zwischen Kongruenz und Differenz bzw. von Ausschließung zwingen können, wo also die kulturellen Bedeutungen nicht klar sind und sich nicht zu einer Homogenität fügen. Dürfen wir nun zu Recht annehmen, dass die Signifikationsverhältnisse der Donaumonarchie mehr als hundert Jahre nach ihrem Zusammenbruch Vorstellungen, die auch literarische Texte produzieren, aktiv mitbestimmen? Die österreichisch-ungarische Monarchie hat ihr Ende weitgehend überlebt und bestimmt die Architektur und die kulturelle Identität von Städten wie Wien, Triest, Großwardein/ Oradea, Preßburg/ Bratislava, Prag, Maria-Theresiopel/ Subotica und Budapest bis heute. Im Bereich des Tourismus, also am Frontispiz dieser Städte, das Fremden gezeigt wird, wird die Monar‐ chie nostalgisch wiederbelebt. Die Tropologie der Nostalgie war schon in Erzählungen, Theaterstücken und Romanen der österreichischen und ungari‐ schen Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts und in der letzten Periode der Donaumonarchie (man denke nur an Josef Roth, Arthur Schnitzler und Gyula Krúdy) maßgeblich zu erfahren. Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur hat eine markante Verbindung zwischen der wirtschaftlichen und kulturellen Kolonialisation von Ost-Europa und der nostalgischen Einstellung der österreichischen Literatur entdeckt; diese Diagnose von Claudio Magris wurde sehr schnell auf die österreichische Gegenwartsliteratur ausgeweitet. 9 Anhand der wahrgenommenen Wirkung lassen sich nicht nur die typischen Eigenartigkeiten zeigen, wie die Vorstellungsbilder des Kolonialismus die lite‐ rarischen Texte und die bildhaften Artefakte des Dualismus mehr oder weniger unbewusst durchdringen (in der ungarischen Literatur sind dazu die Werke von Kálmán Mikszáth oder die Szindbád-Erzählungen von Gyula Krúdy zu er‐ wähnen); aus den späteren Texten können wir auch darauf schließen, dass diese Vorstellungs- und Wunschbilder durch die Kanonisierung bestimmter Werke in den literarischen und kulturellen Geschmack der Region aufgenommen wurden und in der literarischen Produktion späterer Perioden weiterlebten. An der Wahrnehmung der östlichen und südlichen Regionen der Donau‐ monarchie - bzw. an der Perzeption ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse - waren auch Vorstellungen vom ,Balkan’ stark beteiligt, die Maria Todorova sehr prägnant zusammengefasst hat: „That the Balkans have been described as the ,other’ of Europe does not need special proof. What has been emphasized about the Balkans is that its inhabitants do not care to conform to the stan‐ 158 Gábor Schein <?page no="159"?> 10 TODOROVA, Maria (2009): Imaging the Balkans. Oxford: Oxford Univ. Press. S.-3. 11 Vgl. ebd. 13: „There is a widespread notion that the Balkans began losing their identity once they began to Europeanize. That this phrasing implies their difference from Europe is obvious. Far more interesting is the fact that the process of ,Europeanization’, ,Wes‐ ternization’ or ,modernization’ of the Balkans in the nineteenth and twentieth centuries included the spread of rationalism and secularization, the intensification of commercial activities and industrialization, the formation of a bourgeoisie and other new social groups in the economic and social sphere, and above all, the triumph of the bureaucratic nation-state. From this point of view the Balkans were becoming European by shedding the last residue of an imperial legacy, widely considered an anomaly at the time, and by assuming and emulating the homogeneous European nation-state as the normative form of social organization. It may well be that what we are witnessing today, wrongly attributed to some Balkan essence, is the ultimate Europeanization of the Balkans.“ 12 Vgl. ŽIŽEK, Slavoj (1999): The Spectre of Balkan. In: The Journal of the International Institute 6, H. 2: “This very alibi confronts us with the first of many paradoxes concerning Balkan: its geographic delimitation was never precise. It is as one can never receive a definitive answer to the question: ,Where does it begin? ’ For Serbs, it begins down there in Kosovo or Bosnia, and they defend the Christian civilization against this Europe’s Other. For Croats, it begins with the Orthodox, despotic, Byzantine Serbia, against which Croatia defends the values of democratic Western civilisation. For Slovenes, it begins with Croatia, and we Slovenes are the last outpost of the peaceful Mitteleuropa. For Italians and Austrians, it begins with Slovenia, where the reign of the Slavic hordes starts.“ dards of behavior devised as normative by and for the civilized world.“ 10 Die Entstehung dieser Stereotype bringt Todorova mit der europäischen Rezeption des zweiten Balkankrieges zwischen 1910 und 1913 in Zusammenhang. Die Motive des Balkan-Diskurses seien fixiert worden, als schon die europäische Modernisierung in der Identifikation der Völker vor Ort - wie immer man diesen topografisch bestimmen will - eine wesentliche, in die Zukunft weisende Rolle spielte. 11 Die funktionale Verwendung des balkanistischen Diskurses und die Verstärkung des europäischen Einflusses am Balkan sind Parallelerscheinungen, die einander gegenseitig unterstützen, und schon diese Tatsache rechtfertigt die Ambivalenzthese von Homi Bhabha. Die östlichen und südlichen Regionen der Donaumonarchie wurden immer mehr als Objekte einer ökonomischen Exploitation denn als Teile des europäi‐ schen Wirtschaftsraums angesehen, und das führte dazu, dass die Ambivalenz des kolonialen Diskurses hier noch stärker zur Geltung kam. Vor allem dies bestimmte den topografischen Hintergrund des ‚Balkan‘-Begriffs. Zum Balkan gehören immer die Anderen, er liegt immer anderswo, immer noch ein wenig weiter im Südosten 12 . Wobei der Balkan z. B. aus der Perspektive der Ungarn östlich und südlich von Siebenbürgen auf der Landkarte zu finden sei, d. h., er beginnt mit den orthodoxen Rumänen und Serben, man zitiert oft auch noch Die Durchästhetisierung der kolonialen Sprachen der k.-u.-k. Monarchie 159 <?page no="160"?> 13 Vgl. KÜRNBERGER, Ferdinand (1910): Asiatisch und Selbstlos. In: Ders.: Siegelringe. Eine ausgewählte Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons (= Werkausgabe. Band I). Hg. von O. E. Deutsch und Georg Müller. München, Leipzig: G. Müller. S. 196: „Denn als ich mein Wort (Wien ist eine ‚europäisch-asiatische Grenzstadt’) eines Tages einem Manne sagte, welcher Hauslehrer beim Fürsten Metternich gewesen, antwortete derselbe: Sie geben also dem alten Herrn recht, welcher zu sagen pflegte: Asien fängt auf der Landstraße an! ” [Anm. GS: Die ,Landstraße‘ war vor ihrer Eingemeindung Wiens die östlichste in Richtung Ungarn gelegene Wiener Vorstadt.] 14 BURTON, Isabel (1879): Arabia, Egypt, India. A Narrative Travel. London, Belfast: William Mullan. S.-43. heute den - dem Staatskanzler Metternich fälschlich unterschobenen - Satz, demzufolge der Balkan (Asien) „auf der Landstraße in Wien“ anfange. 13 Für die perspektivische Bestimmtheit der mentalen Landkarten gibt es ein schönes Beispiel: die Beschreibung Ungarns durch Isabel Burton, die Frau des englischen Konsuls in Triest, 1879. In den Jahren davor hatte sie mit ihrem Mann die arabische Halbinsel und einen großen Teil Indiens bereist. Sie fasste nun ihre Eindrücke über Ungarn wie folgt zusammen: Hungary is, as regards civilization, simply the most backward country in Europe. Buda-Pest is almost purely German, the work of Teutons, who, at the capital, do all the work; you hardly ever hear in the streets a word of Magyar, and the Magyars have only managed to raise its prices and its deathrate to somewhat double those of London. The cities, like historic Gran on the Danube, have attempts at public buildings and streets; in the country towns and villages the thoroughfares are left to Nature; the houses and huts, the rookeries and doggeries are planted higgledy-piggledy, wherever the tenants please; and they are filthier than any shanty in Galway or Cork, in Carinthia or Krain. The Ugrian or Ogre prairies have no roads, or rather they are all roads; and the driver takes you across country when and where he wills. The peasentry are ‘men on horseback,’ ‒ in this matter preserving the customs of their Hun and Tartar ancestors. 14 Im Folgenden konzentriere ich mich auf einen gemeinsamen Punkt im ko‐ lonialen Machtdiskurs der Donaumonarchie und in den Balkan-Texten. In der unterentwickelt und unzivilisiert vermeinten Peripherie scheint der Un‐ terschied zwischen Menschlichem und Tierischem viel kleiner zu sein als im zentralen Raum. Die Grenzen des Menschlichen sind auf der kolonialen Peripherie höchst ungewiss, dehumanisierende Diskursformen kommen voll in Gang. Maria Todorova liefert ein typisches Beispiel für dieses Phänomen: Ein englischer Journalist beschreibt einen Bulgaren als Bären. Diese aus dem Jahre 1869 stammende Beschreibung macht die Angst vor Russland, dem östlichen 160 Gábor Schein <?page no="161"?> 15 MURRAY, John (1877): Twelve Years’ Study or The Eastern Question in Bulgaria. London: Chapman & Hall. S.-14-15. Zit. in TODOROVA (2009). S.-101-102. 16 SCHÖPFLIN, Aladár (1935): Erdély. Móricz Zsigmond regény-trilógiája. In: Nyugat 28. Nr.-2. S.-90. [Übersetzung GS] 17 MÓRICZ, Zsigmond (1960): Tündérkert. Budapest: Szépirodalmi. S. 298. [Übersetzung GS] Kolonisator des Balkans, und den Respekt gegenüber ihm sehr deutlich. 15 Ich erwähne hierfür noch ein anderes Beispiel, aus einem klassischen Werk der ungarischen Literatur: Zsigmond Móricz (1879-1942) gehört zu denjenigen Autoren des 20. Jahrhunderts, die einen festen Platz im Schulkanon haben, und seine Siebenbürgen-Trilogie gilt auch heute noch als die ästhetisch hoch‐ wertigste Leistung des ungarischen historischen Romans der Moderne. Sie spielt im 17. Jahrhundert, zur Zeit der Fürsten Gábor Báthory und Gábor Bethlen. Móricz verstehe die Geschichte nicht als eine Bühne, sie sei für ihn „der Nährboden, aus dem das alltägliche Leben wächst“ 16 - so rühmt Aladár Schöplin, einer der führenden Kritiker der 1930er-Jahre, den neu erschienenen Roman. In der Schlussszene des ersten Bandes mit dem Titel Elfengarten fällt Báthory mit seinem Heer in Tergovistye (Tergovişte) ein. Der Erzähler stellt die rumänische Stadt dem von Sachsen bewohnten Szeben (Hammersdorf, Guşteriţa) gegenüber. Ohne Mitleid schildert er die Flucht der rumänischen Stadtbewohner. Er identifiziert sie metaphorisch mit Roma, dadurch werden auch diese in die abwertende Schilderung mit einbezogen. Als er in die Stadt einritt, empfing ihn niemand, nur der schlammige Schmutz auf den Straßen, soweit das Auge reichte. Sein Pferd stak bis zu den Knien im Kot. Die winzigen Hütten standen da - öde, ärmlich, verstreut und ohne Zäune, ganz wie Zigeunerbuden. Sie waren halb in die Erde gegraben, der obere Teil aus Holzbrettern zusammengeflickt. Wie anders war Hammersdorf - mit seinen Palais und Basteien, mit seinem Uhrturm … Eine große Menge kam auf ihn zu, sie wurden wie eine Herde fortgetrieben; die Einwohner wurden aus der Stadt gejagt, Rumänen mit langen Haaren, Zigeunerinnen, die nie einen Kamm gesehen hatten, alle barfuß, sie trugen ihre Kinder auf dem Rücken oder auf den Schultern, sie stolperten mit tierischen Gesichtern erschrocken durch den Schlamm, nur wenigen bedeckten Kleider den Körper, manche trugen ein klägliches Wams aus Fell, die meisten hatten ein schmutzig schwarzes, nie gewaschenes Leinenhemd, sie stanken, hatten Läuse; Schweine wirkten menschlicher als sie, sie flohen schreiend, rülpsend, weinend oder mit stummen, traurigen Blicken vor den gestiefelten, mit ihren Peitschen knallenden stolzen Ungarn. 17 Die Durchästhetisierung der kolonialen Sprachen der k.-u.-k. Monarchie 161 <?page no="162"?> 18 „‚Pass auf ‘, sagte er leise, ,Das alles wirst du bestimmt einmal satt haben. Dann gib Bescheid, ich nehme dich gerne mit auf den Balkan. Nach Saloniki, zu den Dardanellen oder auch nach Karadeniz boğazi. Ich stecke dich hinten zum Fleisch, dir wird nicht warm sein, aber du ziehst dich dick an.“ (BODOR, Ádám [1994]: Schutzgebiet Sinistra. Übers. von Hans Skirecki. Zürich: Ammann. S.-78f.) Der erste Teil der Siebenbürgen-Trilogie von Móricz erschien 1922. Die unappe‐ titlichen Akzente der Erzählung lassen sich mehr oder weniger durch die trau‐ matische Nähe des Friedensvertrags nach dem ersten Weltkrieg erklären. Die Bilder der kolonialistisch abwertenden Narration stammen aber aus früheren Zeiten. Sie boten sich offensichtlich als vererbte Vorstellungen im Nationalbe‐ wusstsein an. Für die Ohren der zeitgenössischen ungarischen Leser machte den Ton der Erzählung umso unheimlicher, dass die beschriebene Szene in ihrer Gegenwart genau umgekehrt stattgefunden hatte: Siebenbürgen gehörte nun zu Rumänien. Im zitierten Text nahm man dadurch keine Ambivalenz wahr. Die Rhetorik der Entmenschlichung wird hier mit extremer Rohheit zum Ausdruck gebracht. In der neueren ungarischen Literatur tritt der ‚Roman in Novellen‘ Das Schutzgebiet Sinistra (1994) von Ádám Bodor (geb. 1936) mit dem kolonialen Erbe der Donaumonarchie und mit der Tradition des Balkan-Diskurses ironisch in Verbindung. Die wichtigsten Metonymien der Landschaft werden im Roman durch die Namen seiner Akteure angezeigt. Die Kombination von ungarischen, rumänischen, serbischen, deutschen, armenischen, bulgarischen, polnischen und ukrainischen Vor- und Familiennamen verweisen nur ganz selten auf eine eindeutige ethnische Zugehörigkeit der Personen. Die ethnische Beset‐ zung des politisch-geografischen Raums im östlichen Europa und damit die Konsequenzen der Nationalstaatlichkeit verlieren ihre Gültigkeit innerhalb der ästhetischen Dimension wie auch auf der Ebene des dargestellten praktischen Alltagslebens. Auch die geografische Konstruktion lässt eine genaue Verortung dieses ‚Schutzgebietes Sinistra‘ nicht zu: Einige geografische Namen verweisen nachdrücklich auf die Nordostkarpaten, eine wichtige geografische Markierung gibt auch die rumänisch-ukrainische Grenze, mit dem dahinter liegenden Flachland der Bukowina. Die Landschaftsbeschreibungen verknüpfen das Geo‐ grafische und das Politische miteinander. So ist z. B. die Staatsgrenze sowohl ein politisches Phänomen als auch eine Naturerscheinung - für diejenigen, die sie nur aus der Distanz, per Fernrohr, beobachten können. Das Betreten ihrer direkten Nähe ist verboten. Nur Musztafa Mukkermann, der als Fernfahrer immer in Bewegung bleibt, kann die Grenze legal übertreten. Er vernetzt das ‚Schutzgebiet‘ mit dem südlichen Balkan, mit Saloniki und mit der Türkei. 18 Unter den Romanfiguren gibt es nur noch eine weitere, die die Grenze passiert 162 Gábor Schein <?page no="163"?> 19 BODOR (1994). S. 13. - sie tut dies aber illegal: Das ist der „roter Hahn“ genannte Fremde, der die tödliche Ansteckung mit der „Tungusischen Grippe“ aus der Bukowina mit sich schleppt. Das Geografische erweist sich im Roman nachdrücklich als chiastisches Spannungsfeld der naturgegebenen Landschaft und der politischen Territorialisierung. Die poetischen Beschreibungen von Flora und Fauna, und selbst die Tatsache, dass die Landschaftsbeschreibungen an vielen Stellen den Grundton der Narration übernehmen und das Erzählerische zeitweilig in den Hintergrund gedrängt wird, bilden einen Kontrapunkt zu den nachdrücklich dargestellten Machtbeziehungen. Die Dominanz der Natur über das Politische bzw. die Machtbeziehungen kommt im Schicksal der Leiche des „Oberst Borcan“ klar zum Ausdruck. Bajonette und Bandeisen können zwar verhindern, dass seine Leiche verschleppt wird und verschwindet, sie können sie aber nicht vor den Vögeln schützen, die den Leichnam in Besitz nehmen: Er [= Nikifor Tescovina, GS] war es auch, der alsbald die Nachricht brachte, man habe Oberst Borcan, dahingerafft, auf einer kahlen Anhöhe gefunden. Leider nicht recht‐ zeitig, in seinem offenen Mund nistete bereits ein Vogel. Später nagelte irgendwer den Toten fest ‒ es konnte nur ein als Gebirgsjäger verkleideter Abdecker gewesen sein ‒, er stach Bajonette durch die Hände in die Erde und spannte die Beine mit Bandeisen zwischen die Steine, damit ihn die Greife nicht wegholen. 19 Bevor ich auf das Problem der Entmenschlichung im Roman eingehe, unter‐ suche ich die Position des Protagonisten des Romans, Andrej Bodor, in Bezug auf seine Existenz im „Schutzgebiet“, denn die Perspektiven der Erzählung knüpfen sich vor allem an seine Figur. Wir wissen wohl, dass alle Personen im Schutz‐ gebiet einen neuen Namen bekommen. Auch ihm ist dieser Name nach seinem Eintreffen in Sinistra zugefallen. Die neuen Namen sind wiederum Chiasmen, in denen die gewaltsame Besetzung der Identität und die Zugehörigkeit zum Schutzgebiet zum Vorschein kommen. Die Macht, die für diese Unterdrückung und für die Systematisierung des politisch-geografischen Raums verantwortlich ist, kann jedoch nie direkt wahrgenommen werden. Oberst Borcan und Coca Mavrodin, die zwei Befehlshaber in diesem militärisch durchorganisierten Raum, sind selbst nur Vertreter der dehumanisierenden, unpersönlichen Macht. Der ursprüngliche Name wird unter Verbot gestellt. Wird jemandem der ei‐ gene Name entzogen, werden die Wahrnehmbarkeit und Anerkennung seines Ichs verunmöglicht. Dieses Verbot kann in Sinistra nicht rückgängig gemacht werden; die Ankunft im Schutzgebiet heißt, dass einem bzw. einer ein neuer Name aufgezwungen wird. Damit wird eine Grenzlinie überschritten, und dies Die Durchästhetisierung der kolonialen Sprachen der k.-u.-k. Monarchie 163 <?page no="164"?> 20 Vgl. DERRIDA, Jacques (2003): Die Einsprachigkeit des Anderen. München: Fink. S.-58. 21 „So daß ich, als in aller Frühe die Gebirgsjäger kamen und mir mitteilten, weil ich meine gemeldete Unterkunft, das Gasthaus, heimlich verlassen hätte, zögen sie meine Aufenthaltsgenehmigung ein und verwiesen mich für immer aus dem Rayon Sinistra aus, längst wach war und auf den Morgen wartete, um den Ort endlich verlassen zu können.“ (BODOR [1994]. S.-22) 22 BODOR (1994). S.-22. 23 Ebd. S.-7. 24 Ebd. 25 Ebd. S.-21. 26 Ebd. S.-28. 27 Ebd. S. 31: „‚Du siehst, unserseits herrscht volles Vertrauen‘, sagte Nikifor Tescovina wiederholt. ‚Kaum jemand wird dich fragen, woher du bist, woher du kommst. Erzähl’s auch von dir aus keinem. Und wenn zufällig doch jemand fragt und dir auf den Zahn fühlt, dann lüge.‘“ macht zugleich jede andere Überschreitung von Grenzlinien unmöglich, 20 indem das Schutzgebiet nur mit der Genehmigung der Befehlshaber verlassen werden kann. Jeder ist aber der Gefahr einer Ausbürgerung ausgesetzt, denn jeden Tag, ohne Verzug und ohne Papiere, kann man des Gebietes verwiesen werden. 21 Das Verbot gibt im Roman keinen Anlass zu „befremdlichen Zeremonien, zu geheimen und verschwiegenen Zelebrierungen“, also zu kryptischen Opera‐ tionen. 22 Das Bewusstsein darüber, dass hier etwas verboten wurde, verliert sich fast völlig. Es lässt nur noch Spuren der Fremdheit zurück. Gerade dieses Phänomen veranschaulicht den wichtigsten Charakterzug der politischen Ge‐ walt im östlichen Europa: Das Verbot lässt sich nicht als Verbot, als Gewalt, erfassen. Die Identität wird gestrichen. Der Raum ersetzt sie durch eine andere, ohne an die gestrichene Identität erinnern zu können oder zu dürfen. Andrej Bodor nennt sich einen „Waldfrüchtesammler“, 23 einen „Fremden“, 24 einen „Aus‐ länder“, 25 einen „einfachen Wanderer“. 26 Diese unumgängliche Fremdheit ist die übriggebliebene Spur seines ehemaligen Wesens. Er ist für seinen Stiefsohn, Béla Bundasian, ein Ausländer, der gerade deshalb den Kontakt nicht aufnehmen will, obwohl auch er nicht aus dem Schutzgebiet stammt. Der Unterschied ist nur, dass er etwas früher hier angekommen ist. Alle Personen, die hier leben, sind Einwanderer, ihre Abstammung ist un‐ wichtig, sie scheint für die Entfaltung der Erzählung keine Rolle zu spielen. Wenn es unvermeidbar ist, an sie erinnert zu werden, stehen sofort Lügen als Option im Raum. 27 Andrej Bodors Lebenssituation ist folglich genauso ambivalent wie die eines Migranten. Peter Leese beschreibt diese Situation wie folgt: 164 Gábor Schein <?page no="165"?> 28 LEESE, Peter (2012): Introduction. In: LEESE, Peter / MCLAUGHLIN, Carly / WITALSZ, Władisłav (Hg.): Migration, Narration, Identity. Frankfurt a.M.: Lang. S.-8f. 29 Ebd. S.-64. 30 Siehe NAGY, Péter H. (2005): Dezintegráció és identitászavar. In: SCHEIBNER, Tamás / VADERNA, Gábor (Hg): Tapasztalatcsere. Esszék és tanulmányok Bodor Ádámról. Budapest: L’Harmattan. S.-111. 31 BODOR (1994). S.-102. 32 Ebd. S.-72. To become a migrant is to enter into a life of continual jolts and tremors, a life of uncertainty, but willingly or not it is also to act out hope and a belief in the future. Every migrant is to some degree embattled, enclosed, and yet at the same time exposed. Every migrant is also able to look, to see in a way that is not available to a traveller or a resident who has only remained within the nearly invisible borders of a single culture. 28 Kann man aber in einem Raum über Migranten sprechen, wo alle Bewohner Zuwanderer sind, die jederzeit ausgebürgert werden können? Exterritorialität gehört zu ihrer Existenzform. Wir können daher auch die Frage stellen, ob ein politischer Raum denkbar ist, in dem Heimat keinen Platz hat. Das Phantas‐ magorische dieses Raums lässt sich nicht reduzieren. Weder ethische Normen noch Gesetze mildern hier den politischen Terror. Es gibt solche Räume: Das sind die Kolonien. In einer Kolonie ‒ „in Anbetracht all der kolonialen Zensur‐ maßnahmen […], in Anbetracht der sozialen Trennwände, der Rassismen einer Fremdenfeindlichkeit mit manchmal bedrohlich verzerrtem und manchmal wohlwollend lebenslustigem, manchmal sogar einladendem oder fröhlichem Antlitz“ 29 ‒ kann sich weder der Kolonisierende noch der Kolonisierte heimisch fühlen. Die Rhetorik der Dehumanisation durchdringt nachdrücklich den Text des Romans. Die Bewohner des Schutzgebiets werden paradoxer Weise oft durch ihre tierische Attribute personifiziert und abscheuliche, tierische Handlungs‐ formen oft mit menschlicher Körperlichkeit verknüpft. 30 Die Übergänge zwi‐ schen menschlichen, tierischen und pflanzlichen Existenzformen bekommen in der Darstellung der Figuren eine besondere Rolle: Nikifor Tescovina führt z.-B. ihre achtjährige Tochter Bebe, deren Augen in der Nacht wie die eines Luchses leuchten, an der Leine. Ihre Haare sehen aus „wie ein brennender Vogelbeer‐ strauch“. 31 Andrej wohnt in der aufgelassenen Wassermühle - zusammen mit Fledermäusen, Wühlmäusen und Schleiereulen. Von den Schultern von Coca Mavrodin kippte ein Vogel, er fiel „in den Schnee, steif, mit vereisten Flügeln“. 32 Vor Severin Spiridon „stolzierten stattliche Nebelkrähen, hinter ihm trottete Die Durchästhetisierung der kolonialen Sprachen der k.-u.-k. Monarchie 165 <?page no="166"?> 33 BODOR (1994). S.-57. 34 Ebd. 35 Ebd. S. 123. 36 Ebd. S.-125. 37 Ebd. S.-63. 38 Ebd. S.-51f. 39 Ebd. S.-151. 40 Ebd. S.-153. ein bunter Hund“. 33 Die Gebirgsjäger nennt Severin Spiridon metaphorisch „eitle Hirsche“. 34 Die Leiche von Puiu Borcan wird von Füchsen und Dachsen gefressen. Die Mitglieder der Leibwache von Coca Mavrodin nennt man „graue Gänseriche“, „allesamt langhalsige, knopfäugige Kerle, ihre Haut war dünn, um die Ohren durscheinendes, leichtes Spinnwebenhaar, die Gesichter ganz ohne Falten. […] Ihr Aussehen hatte tatsächlich etwas Gänseartiges.“ 35 Hamza Petrika begleitet den Doktor „wie ein seidenweicher kleiner Hund“. 36 Coca Mavrodin- Mahmudia erfriert im Wald reglos, „wie ein schlafender Falter“. 37 Ihre Augen waren, als sie noch lebte, „wie Leder, ihre Wimpern zuckten nicht, sie saß nur da, die schwarzen Nasenlöcher auf mich gerichtet, aus ihrem glanzlosen, filzigen Haar und den gelben Wattebäuschen in ihren Ohren dunstete Insektengeruch“. 38 Das Gesicht von Connoe Illafeld überzieht „seidiges, schwarzes Haar, zwischen den Zotteln glühten ihre grünen Augen“. 39 Über sie sagt Andrej Bodor, ihren Namen, der „einst einer lüsternen Fee gehört hatte, trug nun, wozu es leugnen, ein Tier“. 40 Diese Beispiele zeigen, dass der Roman die Sprache der Dehumanisation durchästhetisiert, d. h., dass sie die Ambivalenz der kolonialen Entmenschli‐ chung sichtbar macht. Für die so entstehende Prosasprache ist eine eigenartige Paradoxie des Ironischen und des Nostalgischen, des Erotischen und des Dys‐ topischen charakteristisch. Der Autor Bodor verleiht nicht nur der Erotik, sondern auch der Unheimlichkeit einen körperlichen Bezug. Die Traditionen der kolonialen Diskurse erweisen sich als durchaus labil, ihre Ambivalenz kommt jedenfalls an die Oberfläche. In der dystopischen, mit erotischen Anspielungen durchgedrungenen Sprache des „Schutzgebiets Sinistra“ gehen Naturbilder und Darstellungen der Macht ironisch ineinander ironisch auf. Diesem Raum kann sich niemand zugehörig fühlen, er ist sicher keine Heimat, und ihn können am Ende nur sehr wenige lebendig verlassen. 166 Gábor Schein <?page no="167"?> IV. Habsburg und (Mittel-)Europa <?page no="169"?> 1 MAGRIS, Claudio (2000): Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Zsolnay (deutsche Übersetzung der 3. ital. Aufl. von Madeleine von Pásztory). S.-14-15. 2 Ebd. S.-12. Das Konzept der Nostalgie aus imagologischer Sicht Sechzig Jahre nach Magris’ Habsburgischem Mythos Davor Dukić (Univ. Zagreb) Das im Jahr 1963 veröffentlichte Buch Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna des damals 24 Jahre jungen Autors Claudio Magris gilt als ein wegweisender Beitrag zur Erörterung des Konzepts ,Mitteleuropa‘. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass im Habsburgischem Mythos ein relevantes Korpus der zentralen literarischen Texte für die Rekonstruktion der österreichischen Vor‐ stellungen über die Donaumonarchie analysiert wurde, wie auch, dass der Autor einige der grundlegenden Attribute dieses österreichischen Selbstbildes über‐ zeugend rekonstruiert hat, und zwar in historischer Perspektive. Andererseits bekennt sich der Autor im Vorwort der zweiten Auflage aus dem Jahr 1996 dekla‐ rativ zu seiner eigenen Subjektivität - das Buch sei eine Art Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt Triest. 1 An gleicher Stelle weist Magris darauf hin, dass er das Thema seines Buches äußerst kritisch betrachtet habe. 2 Aber in dieser Kritik verwendet er keine Argumente, die eine neutrale Metaposition belegen würden, sondern er übernimmt die antirestaurativen Ideen, bzw. die Grundwerte der Französischen Revolution und des nachnapoleonischen „nationalen Denkens“. So werden dem, was Magris als „habsburgischer Mythos“ bezeichnet hat, die Attribute wie altmodisch (vecchiotto), überholt (sorpassato), feudal (feudale), paternalistisch (paternalistico), rückständig (retrivo), konservativ (conservatrice) <?page no="170"?> 3 Vgl. MAGRIS (2000). S. 35-40, 58f., 108, 301; im italienischen Original: MAGRIS, Claudio ( 3 2000): Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna: nuova edizione. Turin: Einaudi. S.-30, 52, 99, 275. 4 Das zeigt auch die Definition im ersten Satz des Zitats im nächsten Kapitel dieses Textes, freilich von Paul Valéry übernommen. Aber auch im Vorwort des Autors zur bereits erwähnten 2. Aufl. von 1996 wird der Mythos nicht näher definiert: „Mythos ist ein ambivalenter Begriff, der etwas mehr oder etwas weniger als die Realität angeben kann, er kann entweder eine Wesenheit, einen über die Schwankungen der Zeit hinaus gültigen Wert bedeuten oder eine wahrhaft positive, grundlegende Idee, aber auch eine Konstruktion oder eine ideologische Verfälschung.“ (MAGRIS [1996]. S.-11) 5 Dieser Text ist eine Art Ergänzung zu meinem Beitrag: DUKIĆ, Davor (2015): Imagotype Zeiträume. In: BLAŽEVIĆ, Zrinka / BRKOVIĆ, Ivana / DUKIĆ, Davor (Hg.): History as a Foreign Country: Historical Imagery in South-Eastern Europe. Bonn: Bouvier. S. 31-47. Auch der Begriff Nostalgie wurde in dieser Studie prägnant problematisiert, einschließlich der These von der prinzipiellen Möglichkeit der Sehnsucht/ Nostalgie nach alten, nicht erlebten Zeiten (ebd. S.-44f.). und reaktionär (reazionario) zugeschrieben. 3 Außerdem hat der Autor seine grundlegende analytische Kategorie - den „Mythos“ - nicht genau definiert, aber auch in den ungenauen deskriptiven Definitionen sind negative Werte zu erkennen. 4 Trotz dieser oder gerade wegen dieser kurz beschriebenen Unvoll‐ kommenheit, aber auch wegen seiner internationalen Rezeption und seines hohen Stellenwerts in der Fachliteratur kann Magris’ Buch als ein guter Aus‐ gangspunkt für die Diskussion um die analytische Anwendbarkeit des Begriffs Nostalgie dienen, die von einer imagologischen Herangehensweise ausgeht und die literarischen Repräsentationen der geokulturellen Räume analysieren will. 5 *** Das letzte Kapitel im Magris’ Buch - das sich mit literarischen Texten befasst, die nach der Auflösung Österreich-Ungarns entstanden sind - beginnt mit folgenden drei Sätzen: Wenn, nach einem Wort Paul Valérys, Mythos das ist, was nur im Wort existiert und folglich außerhalb des Verwandlungsvorgangs keine objektive Realität besitzt, so könnte man mit Fug und Recht von einem habsburgischen Mythos in der Literatur nach dem Ersten Weltkrieg und bei jenen Schriftstellern sprechen, die die österrei‐ chisch-ungarische Welt nicht mehr entsprechend ihrem tatsächlichen Aussehen, sondern aus ihrer Erinnerung und Sehnsucht beschrieben. Wenige Staatsgebilde und Kulturen haben sich dem Gedächtnis so tief und unauslöschlich eingeprägt; und in den Augen der heutigen Generationen scheint der Zauber des alten Österreich, wie er von Dichtern und Schriftstellern so überaus treffend heraufbeschworen wurde, das tatsächliche Bild dieser Welt verdrängt zu haben, so daß die Donaumonarchie nun mehr das Reich Werfels, Roths oder Musils, als jenes der Staatsmänner Berchtold 170 Davor Dukić <?page no="171"?> 6 MAGRIS (2000). S.-285. 7 Nostalgie, in: Duden, https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Nostalgie 8 nostalgia, in: dictionary.com, https: / / www.dictionary.com/ browse/ nostalgia und Tisza ist. Der habsburgische Mythos ist also nicht zugleich mit dem Reich untergangen, sondern damit erst in seine eindrucksvollste und interessanteste Phase getreten. 6 Das Zitat impliziert, dass es methodologisch wichtig ist, zwischen zwei Arten von Quellen zum „habsburgischen Mythos“ zu unterscheiden: jenen, die zur Zeit der Monarchie entstanden sind, und jenen, die nach deren Ende, d. h. nach 1918 geschrieben wurden. Während für Magris, also für die Genese und Verbreitung des habsburgischen Mythos, beide Quellenarten gleichermaßen wichtig sind, sind für meine Argumente nur die letzteren relevant, weil der Begriff Nostalgie nur für die Analyse und Bewertung letztgenannter Quellen verwendet werden kann. Die ursprüngliche medizinische Bedeutung des Begriffs Nostalgie („krank machendes Heimweh“) und die neuere psychologische Bedeutung („Sehnsucht nach einem vergangenen Leben“) konzentrieren sich auf eine individuelle Welt. Der Begriff Nostalgie erhält neue Konnotationen, wenn die persönliche, private Welt - Familie, Freunde, Kindheit und Jugend - durch einen breiteren politischen Kontext ersetzt wird. Wenn in diesem Kontext, und das heißt in einem bestimmten geokulturellen Raum, wesentliche Änderungen auftreten und der Nostalgiker sich nach den zwischenzeitlich veränderten Bestandteilen des vergangenen „Standes der Dinge“ sehnt, handelt es sich um eine Form von Nostalgie, die für diese Analyse interessant ist. Zwischen der individuellen psy‐ chologischen und der intersubjektiven, politisch-historischen Bedeutung des Begriffs Nostalgie besteht eine semantische Kontinuität, die auch in elementaren lexikalischen Definitionen zum Vorschein kommt. Als Beispiel können zwei populäre Internet-Quellen angeführt werden. Im Duden-Online-Wörterbuch findet man neben der (sekundären) medizinischen Bedeutung, „[krank machendes] Heimweh“, folgende Definition des Begriffs Nostalgie: „vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergan‐ genen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wieder belebt“. 7 Im englischen Wörterbuch Dictionary.com findet man eine etwas andere Definition: „a wistful desire to return in thought or in fact to a former time in one’s life, to one’s home or homeland, or to one’s family and friends; a sentimental yearning for the happiness of a former place or time“. 8 Die Unterschiede zwischen den beiden Definitionen sind symptomatisch: Die Das Konzept der Nostalgie aus imagologischer Sicht 171 <?page no="172"?> englische besteht auf persönlicher Erfahrung, die deutsche beinhaltet die Kom‐ ponente der Unzufriedenheit mit der Gegenwart, betont die mentale Essenz des definierten Begriffs („Vorstellung“) und impliziert seinen intersubjektiven Cha‐ rakter mit der Hervorhebung kultureller Phänomene („Mode, Kunst, Musik“). Mit anderen Worten, nur in der zitierten deutschen Definition begegnet man den semantischen Merkmalen einer kollektiven, historischen bzw. imagotypischen Nostalgie. *** Unter Berücksichtigung des bisher Gesagten möchte ich nun versuchen, den Begriff Nostalgie aus einer formal-imagologischen Perspektive zu definieren. Unter formaler Imagologie verstehe ich ein abstraktes und vereinfachtes me‐ thodologisches Modell, das für die Analyse verschiedener Textarten geeignet ist, in denen geokulturelle Räume repräsentiert werden. Die notwendigen Bestandteile einer imagotypischen Vorstellung von einem geokulturellen Raum sind: Name, Grenzen (oder begrenzte Domäne) und charakteristische, oft wertkonnotierte Attribute. In der Basisklassifikation werden imagotypische Vorstellungen in Selbstbilder und Fremdbilder unterteilt. Wenn der gemeinsame Bestandteil vieler lexikographischen Definitionen von Nostalgie die Sehnsucht nach der vergangenen Zeit ist, dann impliziert die imagologische Definition die Sehnsucht nach dem vergangenen Zeitraum, d. h. nach dem vergangenen Zustand eines geokulturellen Raums. Die emotionale Determinante ‚Sehnsucht‘ lässt sich im imagologisch-axiologischen Ansatz als ‚Zuschreibung positiver Attribute‘ übersetzen, so dass die vorläufige imagologische Definition von Nostalgie lauten kann: ‚Zuschreibung positiver Attribute an einen vergangenen Zustand eines geokulturellen Raums‘. Um das Konzept der imagotypischen Nostalgie genauer zu bestimmen, müssen folgende fünf Fragen berücksichtigt werden: 1. Ist die imagotypische Nostalgie eine Sehnsucht nach dem eigenen oder fremden geokulturellen Raum, handelt es sich um ein Selbstbild und/ oder ein Fremdbild? Die schnelle und intuitive Antwort - eine imagotypische Nostalgie ist nur eine Variante des Selbstbildes - ist im Grunde genommen richtig. Die semantische Komponente der ‚eigenen Erfahrung‘ bleibt auch im Konzept der kollektiven, intersubjektiven, historischen Nostalgie er‐ halten, die ich hier imagotypische Nostalgie nenne. Das gilt auch für die 172 Davor Dukić <?page no="173"?> 9 Die jüngsten mir bekannten Beispiele sind die Reportagereihe Unser Mallorca von Birgit Schrowange (SAT 1, 2022) und die Veranstaltungen Mallorca meets München im Rosengarten des Münchener Westparks ( Juli 2022). Zeitgenössische popkulturelle bzw. Konsum-Nostalgie („Retro“) als ein grundsätzlich anderes Phänomen als kulturelle bzw. historische Nostalgie (wie etwa in der österreichischen Literatur vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die 1960er-Jahre) ist nicht Gegenstand dieser Studie. 10 Adam Kożuchowski hinterfragt die Notwendigkeit einer aktiven Beziehung kultu‐ reller/ historischer Nostalgie zur gesellschaftlichen Realität: „Nostalgia, however, is not an active attitude toward the present. It may all the more easily be fueled by the belief that what is gone is gone forever.“ (KOŻUCHOWSKI, Adam [2013]: The Afterlife of Austria-Hungary. The Image of the Habsburg Monarchy in Interwar Europe. Pittsburgh: Univ. of Pittsburgh Press. S. 11). Kożuchowski weist auch darauf hin, dass die Sympathien für die Habsburgermonarchie eine gleichzeitige Kritik am untergegangenen Imperium nicht ausschließen (ebd. S.-16, 110-112). einzige Ausnahme - die kollektive touristische Nostalgie, etwa, wenn sich deutsche Touristen in ihrem Land an „unser Mallorca“ erinnern. 9 2. Welche gesellschaftlichen Wirkungen kann imagotypische Nostalgie haben? Ausgangspunkt für diese Frage ist die Komponente ‚Unzufrieden‐ heit mit der Gegenwart‘, die am Anfang der Definition von „Nostalgie“ im Duden-Wörterbuch angeführt wird. Grundsätzlich lassen sich - je nach Grad der Unzufriedenheit und des erklärten gesellschaftlichen Enga‐ gements - drei Fälle unterscheiden: a) Eskapismus als die Suche nach Lö‐ sungen in einem anderen (Zeit-)Raum, b) Gesellschaftskritik als impliziter Glaube an die Möglichkeit, den Zustand der Dinge verbessern zu können, ohne die grundlegenden Attribute des eigenen geokulturellen Raums in Frage zu stellen, c) Subversion als Infragestellung der grundlegenden Attribute des eigenen geokulturellen Raums. Die Grenzen zwischen den angeführten Fällen sind nicht immer scharf, so dass es dem Interpreten des Textes überlassen bleibt, seine Beurteilung zu argumentieren. 10 3. Ist das Zeitintervall zwischen dem positiv bewerteten vergangenen Zeit‐ raum und der Gegenwart für die Bestimmung der imagotypischen Nost‐ algie relevant? Das ist die zentrale Frage für die Begründung des Begriffs Nostalgie in der imagologischen Nomenklatur. Die semantische Kompo‐ nente der ‚eigenen Erfahrung‘ ist auch hier der Schlüssel zur Unterschei‐ dung der drei grundlegenden Möglichkeiten. Die imagotypische Nostalgie eines kollektiven Subjekts kann sich beziehen A) auf den Zeitraum der ei‐ genen Lebenserfahrung; B) auf den Zeitraum der Lebenserfahrung einiger (älterer) Mitglieder der sozialen Gemeinschaft; und C) auf einen älteren Zeitraum, der ohne lebende Zeugen vorstellbar ist. Die medizinisch-psy‐ chologische Definition der persönlichen Nostalgie impliziert ausschließlich den Fall A (eigene Lebenserfahrung). Die Verwendung des Begriffs Nost‐ Das Konzept der Nostalgie aus imagologischer Sicht 173 <?page no="174"?> algie in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts in Bezeichnungen wie DDR-Nostalgie (Ostalgie) und YU-Nostalgie, die auch die Phänomene der Be‐ geisterung junger Menschen (geboren in den 1990er-Jahren oder später) für die Kultur des Sozialismus bezeichnen, und sich nicht nur auf die Sehnsucht älterer Menschen nach ihrer Jugend und der sozialen Sicherheit beziehen, sind Beispiele für den Fall B (Koexistenz von lebenden Zeugen und ihren Nachkommen). Die Mehrheit der Autoren aus dem letzten Kapitel des Buches von Claudio Magris gehören zum Fall A, weil sie ihre Kindheit und/ oder Jugend in Österreich-Ungarn verbracht haben (Stefan Zweig, Robert Musil, Joseph Roth, Franz Werfel, Heimito von Doderer), aber mindestens ein für die Entstehung des habsburgischen Mythos relevanter Schriftsteller, nämlich der im Jahr 1914 in Czernowitz geborene Gregor von Rezzori, wäre ein Beispiel für den Fall B. Imagotypische Nostalgie kann jedoch nur dann ein relevanter imagologischer Begriff werden, wenn sie auch Phänomene bezeichnet, die sich auf ältere Perioden beziehen, für die keine lebenden Zeugen vorhanden sind (der Fall C). Für eine derartige Bedeutungserweiterung gibt es mehrere stichhaltige Argumente. Imagotypische Nostalgie ist eine mentale Kategorie (Vorstellung), für die die historische Distanz nicht relevant ist. Der Unterschied zwischen dem er‐ fahrenen und dem unerfahrbaren Zeitraum ist rein psychologischer Natur und keinesfalls eine Frage der Kompetenz: Es ist möglich, ausreichende Informationen über vergangene Zeiträume zu haben - die notwendig sind, um eine imagotypische Vorstellung zu generieren - genauso wie über den eigenen Zeitraum. Unabhängig davon, ob die Funktion der imagotypischen Nostalgie eskapistisch, kritisch oder subversiv ist, ist die historische Distanz nicht wichtig. Mit anderen Worten, es gibt keine Zeiträume, nach denen es unmöglich oder verboten wäre, sich zu sehnen. Schließlich können, dem Phänomen der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzei‐ tigen‘ entsprechend, auch die Spuren längst vergangener Zeiträume in der Gegenwart nachwirken. Für die Donaumonarchie liefert das Buch von Carlo Moos Habsburg post mortem einige interessante Beispiele für den Bereich des Rechts: die Beibehaltung des altösterreichischen Rechts in den Nachfolgestaaten (Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien und Rumänien), Scheidungsverbot bei deutschösterreichischen Katholiken von 1868 bis zum Anschluss 1938, Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächti‐ 174 Davor Dukić <?page no="175"?> 11 MOOS, Carlo (2016): Habsburg post mortem. Betrachtungen zum Weiterleben der Habs‐ burgermonarchie. Wien, Köln, Weimar: Böhlau. S.-105ff., 113 ff., 118f. 12 MAGRIS (2000). S. 346f., ebenso auf S. 11 u. S. 21f. Der Ausdruck „süße[s] Mädel“ wird von Magris selbst verwendet (ebd. S.-313). 13 Ebd. S.-346. gungsgesetzes von 1917 auf zahlreiche Notverordnungen in der Ersten Republik und im Ständestaat. 11 4. Sind alle Darstellungsmodi für imagotypische Nostalgie geeignet? Diese Frage wird von einem konkreten Fall ausgelöst. Claudio Magris zählt Robert Musil zu den Schöpfern des habsburgischen Mythos und betont dabei, dass trotz der Ironie in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften k.u.k.-Nostalgie zu finden ist: Der vorherrschende Ton bleibt aber die ironische Satire, die alle Gemeinplätze der österreichisch-ungarischen Kultur und ihres Mythos auf den Kopf stellt: die über‐ nationale Idee, die grandiose, ohnmächtige Statik, die lächelnde Oberflächlichkeit, die pedantisch-kleinliche Bürokratie, die geschraubte, papierene Amtssprache, die Lebensfreude und das süße Mädel. 12 Ich möchte hier nicht eine Polemik über die Interpretation dieses Romans entfachen, sondern eher das Problem grundsätzlich betrachten und die Ausgangsfrage neu formulieren: Wenn Ironie und Sarkasmus eine vor‐ wiegend negative Einstellung zu einem Gegenstand voraussetzen, sind sie in diesem Fall für die Darstellungen von imagotypischer Nostalgie überhaupt geeignet? Gemäß der zuvor vorgeschlagenen Definition der imagotypischen Nostalgie, die eine positive Bewertung ihres Objekts beinhaltet, sollte die Antwort auf diese Frage negativ sein. Sarkasmus und Ironie können zwar geduldet werden, wenn sie nur auf einige Attribute des betreffenden geokulturellen Raums bezogen werden, während die wichtigen imagotypischen Attribute dieses Raums positiv bewertet werden und damit eine asymmetrische, überwiegend positive Werte-Ambivalenz erreicht wird. Aber Magris behauptet genau das Gegenteil von Musils Roman: „Entschieden neigt sich die Waage in Richtung eines negativen Urteils, wie dies auch ein paar kleinere politische Aufsätze bezeugen.“ 13 Interessanterweise wird Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigen‐ schaften in Wendelin Schmidt-Denglers Buch mit dem symptomatischen Titel Ohne Nostalgie: Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit (2002) - im Unterschied zum Buch von Carlo Moos - weder eine eigene Studie noch eine eigene analytische Passage gewidmet (einige verglei‐ Das Konzept der Nostalgie aus imagologischer Sicht 175 <?page no="176"?> 14 Symptomatisch ist, dass weder Magris noch Moos sich eingehender mit Musils Roman auseinandersetzen. Magris widmet der Untersuchung von Musils Autorenprofil mehr Seiten als dessen Vorstellung von Kakanien. Die Schlüsselmerkmale von Musils Weltan‐ schauung für die Interpretation des Mannes ohne Eigenschaften sind „Ahistorismus“ und „Konservatismus“ (MAGRIS [2000]. S. 338ff.). Musils Figuren fungieren als Funktionen im Feld des ‚Soziologischen‘ und ‚Geistigen‘, daher markiert Magris die ontologische Bedeutung von Musils Roman mit dem Ausdruck „religiöse Soziologie“ (ebd. S. 342f.). Zugleich sind diese Figuren der österreichischen Literaturtradition entnommen und typisch für den habsburgischen Mythos, nur werden ihre traditionellen Eigenschaften, im Einklang mit Musils Poetik, auf die Spitze getrieben (ebd. S. 347-349). Andererseits ist das Kapitel in Moos’ Buch ein synthetischer Text über Musil und den Mann ohne Eigenschaften, ohne Analyse seiner ‚Nostalgie‘ (MOOS [2016]. S. 341-348). Kożu‐ chowski sieht in Musils Roman eine Mischung aus „Nostalgie, Mitleid und Sarkasmus“ (KOŻUCHOWSKI [2013]. S. 117), und fasst die Haltung des Schriftstellers gegenüber Kakanien mit diesem metaphorischen Vergleich zusammen: „It could apparently be compared to a sick person - Musil being a student of medicine rather than a family member.“ (ebd. S.-133) 15 Zu den wichtigeren Autoren in Schmidt-Denglers Buch Ohne Nostalgie: Zur österrei‐ chischen Literatur der Zwischenkriegszeit (Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2002), die im Habsburgischem Mythos ganz oder fast ganz vernachlässigt werden, gehören: Ödön von Horváth, Ernst Krenek, Franz Nabl, Rudolf Brunngraber, Hugo Bettauer, Mirko Jelusich, Theodor Kramer, Karl Hans Strobl. Die Gegenbeispiele sind Franz Theodor Csokor und Friedrich Schreyvogl, die im Buch Ohne Nostalgie nicht erwähnt werden. chende Bemerkungen nicht mitgerechnet). 14 Andererseits wird die bereits im Titel angedeutete Auseinandersetzung mit Magris in Schmidt-Deng‐ lers Buch mit einer ihm entgegengesetzten und ganz unterschiedlichen Autoren-, Text- und Themenwahl bestätigt. 15 Mit dem Problem des Darstellungsmodus ist die nächste Frage eng ver‐ bunden: 5. Was ist das Gegenteil von imagotypischer Nostalgie? Die Antwort ist intuitiv klar, direkt und kurz. Es gibt zwei Wege, die Möglichkeit auszu‐ schließen, sich nach einem vergangenen Zeitraum zu sehnen. Der erste ist die Selbstzufriedenheit mit dem aktuellen Stand der Dinge (Selbstbild), der zweite eine negative Einstellung gegenüber dem betroffenen vergan‐ genen Zeitraum. Gerade die Koexistenz solcher Ansichten mit historischer Nostalgie führt zu identitätspolitischen Auseinandersetzungen, einer Art Spaltung der Gesellschaft um die Interpretation der Vergangenheit. *** Imagotypische Nostalgie, insbesondere in ihrer gesellschaftskritischen oder subversiven Variante, zeigt den kontrafaktischen Charakter bzw. die potenzielle Integration im Gebilde kohärenter, logisch zusammenhängender historischer Annahmen. Die Formel der imagotypischen Nostalgie würde lauten: ‚es wäre 176 Davor Dukić <?page no="177"?> 16 Es gibt sicherlich kein gescheitertes Regime, das niemand bereuen würde, aber Nost‐ algie als kulturelles Phänomen, das im öffentlichen Diskurs präsent ist, kennzeichnet nicht jeden Regimewechsel. So gibt es beispielsweise neben der habsburgischen Nost‐ algie auch eine Nostalgie für das kaiserliche Russland (Michail A. Bulgakow, Iwan A. Bunin, Vladimir Nabokov, Dmitri S. Mereschkowski, Sinaida N. Hippius, Alexei N. Tolstoi u. a.), aber keine Nostalgie für das kaiserliche Deutschland oder die Weimarer Republik. Ich danke meinen Kolleginnen Ivana Peruško und Jasmina Vojvodić sowie meinem Kollegen Svjetlan Lacko Vidulić für die Bestätigung dieser These und konkrete Beispiele. 17 MAGRIS (2000). S. 25-30. Laut Kożuchowski gibt es drei zentrale Attribute des habsburgischen Selbstverständnisses: ‚supranational‘, ‚semikolonialistisch‘ (mission civilisatrice) und ‚Großmacht‘; vgl. KOŻUCHOWSKI [2013]. S.-14f. 18 MAGRIS (2000). S.-316f. besser, wenn …‘. Deshalb irritiert sie historische ‚Gewinner‘ und den politischen Mainstream; deshalb ist der ‚Nostalgiker‘ im politischen Diskurs ein negatives Etikett. 16 Im Gegensatz dazu habe ich versucht, in diesem Referat ein analytisch anwendbares und wertneutrales Konzept der imagotypischen Nostalgie zu skizzieren. Nach der abschließenden deskriptiven Definition ist diese eine Variante des imagotypischen Zeitraums in der Funktion des Selbstbildes, ein Ausdruck eskapistischer, kritischer oder subversiver Unzufriedenheit mit dem aktuellen Stand der Dinge, sowie implizit kontrafaktische Sehnsucht nach einem vergangenen Zeitraum, genauer gesagt nach einigen Attributen dieses Zeitraums. Das sollte der methodologisch-imagologische Ausgangspunkt der Erforschung jedes imagotypisch-nostalgischen Materials sein. In diesem Sinne erweist sich das Buch des jungen Magris, genauer gesagt sein letzter Teil (VI. „Eine Welt von gestern - Ein Mythos von heute“), als eine solide imagologische Studie. Der Autor wollte zeigen, dass es in der österreichischen Zwischenkriegsliteratur eine Reihe von Texten gibt, die auf eine positive Haltung gegenüber dem Zeitraum Österreich-Ungarns zurückgeführt werden können. In der Analyse dieser meist fiktionalen Texte versucht Magris, die Schlüsselattribute des habsburgischen geokulturellen Raums zu identifizieren. Bereits in der Einführung hebt er drei Hauptattribute hervor: Übernationalität, Bürokratentum und den „sinnlichen und genußfreudigen“ Hedonismus, wobei mit der bürokratischen Komponente zwei weitere wesentliche Attribute des habsburgischen Mythos - Statik und Mittelmäßigkeit - verknüpft sind. 17 Der habsburgische Mythos offenbart sich am vollständigsten in der Erzählsammlung Aus der Dämmerung einer Welt (Twilight of a World, New York 1937) von Franz Werfel, 18 wird aber auf unterschiedliche Weise in allen analysierten Texten variiert. Das Konzept der Nostalgie aus imagologischer Sicht 177 <?page no="178"?> 19 SCHMIDT-DENGLER, Wendelin: Von Fahnen und Fanfaren. Zum Komplex ‚Militär‘ in der österreichischen Literatur zwischen den beiden Weltkriegen, in: Ders. [2002]. S. 65- 81. Der Autor selbst verbindet das Attribut „Militär“ mit dem Attribut „Bürokratentum“ aus der Studie von Claudio Magris (ebd. S. 66). Die zentralen Texte seiner Analyse sind der Roman Die Standarte (1934) von Alexander Lernet-Holenia (ebd. S. 71ff.; derselbe Roman wird von Magris kurz analysiert, jedoch mit einem Schwerpunkt auf dem Thema des Untergangs der Monarchie; vgl. MAGRIS [2000]. S. 296ff.) und die Romantetralogie (1937-1955) von Rudolf von Eichthal-Pfersmann (SCHMIDT-DENGLER [2002]. S. 74ff.). In Eichthals Romanen sieht er nicht nur eine „nostalgische Rückerinnerung an eine versunkene Welt; sie sind auch ein strategisch geschickt errichtetes Bollwerk gegen jeden Anspruch, den eine wie immer geartete Moderne erheben könnte“ (ebd. S. 78). Ein Gegengewicht zu Eichthals Antimodernismus (Subversion in meiner Nomenklatur) findet Schmidt-Dengler in Werken von Heimito von Doderer (Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, 1951; Der Grenzwald, 1967); vgl. SCHMIDT-DENGLER (2002) S. 78ff. Kożuchowski hingegen weist darauf hin, dass „Genauigkeit, Militarismus und Puritanismus“ Attribute der österreichischen Vorstellung von Preußen seien (KOŻUCHOWSKI [2013]. S.-123). Obwohl über die Rechtfertigung der für die Aufnahme in dieses Korpus bestimmten Texte wie Musils Roman, oder über das Fehlen einiger imagotypi‐ scher Attribute - wie der Komplex ‚Militär‘, was Schmidt-Dengler bemerkte 19 - diskutiert werden kann, bildet Magris’ Habsburgischer Mythos einen ganzheit‐ lichen und kohärenten Ausgangspunkt für die Erörterung des österreichischen Selbstbildes in der Zwischenkriegszeit. 178 Davor Dukić <?page no="179"?> 1 Die Studie entstand im Rahmen des von der GAČR geförderten Projekts GA23-05880S mit dem Titel „Interkulturní a interdisciplinární transfer na pomezí historických epoch: intelektuální biografie Joachima Morase.“ 2 HORVÁTH, Ödön von (1987): Der ewige Spießer (= Gesammelte Werke. Bd. 12). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S.-131. Europa-Konzepte im postimperialen Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 1 Aleš Urválek (Masaryk-Universität Brno) Gleich die erste Seite des 1930 erschienenen Romans Der ewige Spießer, 2 dessen Autor Ödön von Horváth in dieser Form einige Beiträge zur Biologie des neuen Philistertypus zu liefern gedachte, wartet mit einer überraschenden Zuschreibung auf: Herr Kobler, eine der Hauptfiguren, wird als ein angehender Paneuropäer bezeichnet, was alle, die Paneuropa mit dem (überaus) positiv kon‐ notierten Bild der paneuropäischen Bewegung Richard Coudenhove-Kalergis assoziieren, irritieren dürfte. Denn ein gut aussehender Ex-Automobilverkäufer, der stets lügt, Geld unterschlägt und sich mitunter von älteren Damen aushalten lässt, um gesellschaftlich aufzusteigen, will zu dem von Coudenhove-Kalergi (sowie der Mainstreamforschung) konstruierten Selbstbild einer vorbildhaft prädemokratischen und auf versöhnliche Zusammenarbeit der europäischen Länder hinarbeitenden paneuropäischen Bewegung nicht so richtig passen. Im Folgenden gilt es weniger, Horváths stark karikiert gezeichnetes Bild des Paneuropäismus im München der späten 1920er-Jahre zu analysieren, sondern zunächst dessen gewahr werden, wie virulent (insbesondere) im mit‐ teleuropäischen Raum der 1920er- und 1930er-Jahre Konzepte, Strategien und Visionen geworden sind, in denen - sei es in Zusammenarbeit oder in schärfster Konkurrenz - man die Zukunft des europäischen Kontinents mit dem Begriff Europa zu verbinden gedachte. Nicht nur im Rückblick dürfte es erstaunen, wie breit und vielfältig das Spektrum der damaligen Europakonzepte war, die, sieht man von den gut identifizierbaren Paneuropäern ab, vom Namen her kaum voneinander zu unterscheiden sind. So neu sich mancher dieser Europa‐ pläne und Europabegriffe gab, um der grundlegend veränderten europäischen <?page no="180"?> 3 Vgl. CONZE, Vanessa (2005): Abendland gegen Amerika! Europa als antiamerikanisches Konzept im westeuropäischen Konservatismus (1950-1970). In: BEHRENDTS, Jan (Hg.): Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Bonn: Dietz. S. 204-224, hier S. 205; Dies. (2005): Das Europa der Deutschen: Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970). München: Oldenbourg. S.-1. Konstellation nach 1918 adäquat (neu)zu begegnen, würde ich trotzdem für das Folgende vorschlagen, das analytische Instrumentarium um die Kategorie des Postimperialen zu erweitern. Das für die damaligen Europakonzepte zentrale Spannungsfeld scheint sowohl von Diskontinuitäten als auch von Kontinuitäten zur einst imperialen in der nun nachimperialen Konstellation geprägt gewesen zu sein. Der analytische Vorteil und Gewinn der Kategorie postimperial dürfte in Bezug auf den gegebenen Zeitraum darin liegen, Nuancen und Distinktionen zu erfassen, die unsichtbar bleiben, solange man die Europakonzepte der 1920er- und 1930er-Jahre auf die Achse ‚demokratisch versus antidemokratisch‘ projiziert. Insofern fügen sich die postimperialen Überlegungen recht gut in die Ana‐ lysen von Vanessa Conze ein, die bereits seit fünfzehn Jahren darauf hinweist, dass die für uns heute automatische Gleichsetzung von Europa und einem liberalen, pluralistischen, freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesen in der Zwischenkriegszeit gar nicht so gegeben gewesen war; nicht von einem einzigen demokratischen Europa sei auszugehen, sondern von mehreren Euro‐ pakonzepten mit entsprechender Pluralität von Werten. 3 In der postimperialen Sicht wären somit, solange man die Pluralität der demokratischen, elitären, neuadeligen, konservativen, abendländischen, antili‐ beralen und antimodernen Eliten Europas des gegebenen Zeitraums in den Blick nimmt, diese mitunter als Ausprägungen und Effekte der postimperialen Konstellation aufgefasst werden. Die postimperiale Sicht dürfte - an einigen klug ausgewählten Beispielen demonstriert - die analytischen Grenzen der Kategorien demokratisch und antidemokratisch hervortreten lassen, und zwar insbesondere hinsichtlich der historischen Transformationen, die manche in den 1920er-Jahren formulierten Europakonzepte in den 1930er-, 1940er- oder sogar in den 1950er-Jahren durchgemacht haben. Bleibt man im mitteleuropäischen Raum, ist evident, dass das imperiale Narrativ nach 1918 latent und womöglich aktivierbar geblieben ist, egal, ob dies im Namen des großdeutschen oder des großrussischen Imperiums, des pangermanischen oder panslawischen Reiches, des deutschen, neu-adeligen oder eines anders neuen Europas geschehen sollte. Wie ein im Folgenden ausgeführtes Beispiel zeigt, bediente man sich imperialer Argumente allerdings auch dort, wo man den postimperialen Raum durch die frisch entstandenen Nationalstaaten neu zu ordnen suchte. 180 Aleš Urválek <?page no="181"?> 4 GUSEJNOVA, Dina (2013): Adel als Berufung. Adlige Schriftsteller im deutschspra‐ chigen Europadiskurs 1919-1945. In: CONZE, Eckart u. a. (Hg): Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept, 1890-1945. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. S.-249-277, hier S.-256ff. 5 Coudenhove war von Masaryk fasziniert, wollte ihn für seine paneuropäischen Pläne einspannen, was Masaryk, dem Coudenhoves Pläne an sich behagten, gespürt haben wird, daher blieb er Coudenhove verbunden, ohne sich an seiner Kampagne direkt zu beteiligen. Dazu kann man viel bei Coudenhove (allerdings in autobiographischer Insbesondere das Beispiel einer imperialen Argumentation im Dienste post‐ imperialer Nationalstaatlichkeit legt die Notwendigkeit nahe, die analytische Tauglichkeit der postimperialen Sicht an möglichst kontrastiven Beispielen zu überprüfen, was angesichts der imponierenden Breite der Europakonzepte zunächst unproblematisch ist, weil deren Zahl - setzt man bei den Buch- und Zeitschriftentiteln an, die die Zukunftsfragen in einer postimperialen Konstel‐ lation nach 1918 europäisch zu beantworten suchten -, mindestens zweistellig ist. Dina Gusejnova nennt in ihrer bei weitem nicht vollständigen Auflistung insgesamt 40 in europäischen Verlagen herausgegebene Zeitschriften (1918- 1945), die das Wort „Europa“ im Titel führen oder einen programmatischem Eu‐ ropaschwerpunkt haben. Ihre Liste veröffentlichter Bücher enthält 63 Einträge. 4 Sieht man von den eher pessimistisch gestimmten Analysen Spenglers in seinem Untergang des Abendlandes (1918, 1922) ab, stellten die vielfach unterschiedlich gewichteten und einander konkurrierenden Buchtexte sowie die vielen gerade in dieser Zeit gegründeten Zeitschriftenprojekte überwiegend Gegenwartsdiag‐ nosen dar, die der im Ersten Weltkrieg kulminierenden und zugrunde gehenden imperialen Epoche eine Absage erteilt haben, um für die neue Epoche ein europäisches Bewusstsein zu schaffen. Die von Gusejnova angefertigte Liste umfasst - unsortiert - ideologisch rechtslastige Titel wie Giselher Wirsings Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft (1932), abendländische Europazeit‐ schriftenprojekte wie Abendland (1925-1945) oder Völkerbund und Völkerrecht (1934-1938), daneben geisteswissenschaftlich fundierte Krisendiagnosen wie Hermann Keyserlings Das Spektrum Europas (1928) oder Edmund Husserls Die Krise der europäischen Wissenschaften (1935), aber auch drei Exempla, die man sehr wohl kontrastieren könnte: Das erste Beispiel stellt das paneuropäische Projekt von Richard Couden‐ hove-Kalergi, dem dessen Initiator mit der Zeitschrift Pan-Europa (1924-1938) eine Bühne verschafft, die er mit etlichen Texten versorgt hat. Der demokrati‐ sche und humanistisch-pazifistische Standpunkt von Pan-Europa vermochte zu dieser Zeit viele Politiker anzusprechen, am stärksten wohl den ersten tschecho‐ slowakischen Präsidenten, Tomáš G. Masaryk. Die gegenseitige Sympathie von Coudenhove und Masaryk, die bis zum Tode Masaryks anhielt 5 - so wenig sie Europa-Konzepte im postimp. Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 181 <?page no="182"?> Form) nachlesen, oder bei Michal Topor, der diesem Verhältnis intensiv nachgeht und insbesondere Coudenhoves Lobgesänge auf Masaryk, in Coudenhoves Augen der größte Europäer, nachzeichnet; vgl. TOPOR, Michal (2016): „Das Wunder Europa“. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi a jeho idea Pan-Evropy na stránkách Prager Presse 1921-1926. In: Střed 1. S.-151-180. 6 „Es wäre falsch zu denken“, schreibt die (beste) Biographin der Paneuropäischen Bewegung, Vanessa Conze, Coudenhove hätte sich „grundsätzlich gegen ständische oder faschistische Systeme ausgesprochen“, er wandte sich „in den Jahren nach der Übernahme mehrfach an Mussolini, den er - vergeblich - im Mai 1933, im Mai und Juli 1936 sowie noch einmal im Mai 1940 von seinen Plänen einer „lateinischen“ Union in Form eines französisch-italienischen Bündnisses gegen Deutschland zu überzeugen versuchte. So rückte Coudenhove auch nach 1933 nicht von seinem konservativelitären Weltbild und seiner Neigung zur Macht und den Mächtigen ab.“ (CONZE, Vanessa [2004]: Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visonär Europas. Zürich: Muster Schmidt. S.-49) sich nachhaltig materialisieren und institutionalisieren ließ -, legt es nahe, als zweites Beispiel die bekannteste europäische Schrift Masaryks heranzuziehen, nämlich sein Buch Das neue Europa. Der slavische Standpunkt (1917, 1918, bzw. 1920). Am Rande angemerkt: Die sehr bedingte analytische Tauglichkeit der Kategorie ‚demokratisch‘ ist zunächst einmal der Intensität geschuldet, mit der sie Coudenhove als Selbstbeschreibung beansprucht, um das demokratische Fundament seiner Bewegung nachträglich (insbesondere in Ego-Dokumenten) auch für jene Jahre (von 1922 an bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus) zu reklamieren, in denen sie allerdings nachweislich nicht demokratisch agiert hatte. 6 Zu einer dezidiert demokratischen wurde diese Bewegung nach einer zeitweiligen Unterstützung des Ständestaats erst angesichts der NS-Gefahr, also nach dem Anschluss Österreichs. Abschließend wird in die Analyse Karl Anton Rohans „Kulturbund“ herange‐ zogen, der mit der Schrift Europa. Streiflichter (1924) eine programmatische Ausformulierung erfahren und mit seinem Periodikum Europäische Revue (1925-1944) eine in die Öffentlichkeit zielende Basis gewonnen hat. Ein Projekt, das von Anfang an mit dem paneuropäischen aufs Strengste konkurrierte, ja es bekämpfte, um in den 1930er und 1940er Jahren in einer unheilvollen, konservativen Allianz mit den Nationalsozialisten seinen Tiefpunkt zu erleben. Somit hätten wir als Vergleichsbasis mit Coudenhove-Kalergi und Masaryk zwei sich demokratisch gebende Europakonzepte - darüber hinaus in enger geistiger Verwandtschaft konzipiert - und mit Rohans „Kulturbund“ bzw. Europäischer Revue ein dezidiert antidemokratisches Konzept, das sich zu den erstgenannten als Konkurrenz profilierte. Ich stelle also Masaryks Das neue Eu‐ ropa, einem punktuellen Ereignis, zumal mit überaus spannender Entstehungs‐ geschichte, zwei europäische Bewegungen zur Seite, die längerfristig angelegt 182 Aleš Urválek <?page no="183"?> 7 BOCK, Hans Manfred (1999): Das Junge Europa, das Andere Europa und das Europa der weißen Rasse. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925-1939. In: GRUNEWALD, Michel/ Ders. (Hg.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939). Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939). Bern, Berlin: Lang. S. 311- 352; URVÁLEK, Aleš (2021): „Diagonallinie der goldenen Mitte“ zwischen Eigenem und Fremdem. Konstellationen der frühnachkriegsdeutschen Internationalisierung am Beispiel von „Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“. In: HEHL, Michael Peter / TOMMEK, Heribert (Hg.): Transnationale Akzente. Zur vermittelnden Funktion von Literatur- und Kulturzeitschriften im Europa des 20. Jahrhunderts. Berlin: Lang. S.-79-100. 8 PAUL, Ina Ulrike (2005): Einigung für einen Kontinent von Feinden? R. N. Coudenhove- Kalergis „Paneuropa“ und K. A. Rohans „Reich über Nationen“ als konkurrierende Europaprojekte der Zwischenkriegszeit. In: DUCHHARDT, Heinz / NÉMETH, István (Hg.) (2009): Der Europa-Gedanke in Ungarn und Deutschland in der Zwischenkriegs‐ zeit. Mainz: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 21-45; Dies.: Konservative Milieus und die Europäische Revue (1925-1944). In: GRUNEWALD, Michel / PUSCHNER, UWE (Hg.) (2003): Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890- 1960). Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netz‐ werke (1890-1960). Bern: Lang. S. 509-555; URVÁLEK, Aleš (2021): „Kulturbund“ und „Europäische Revue“ (1925-1944) - Europakonzepte ohne Zukunft? In: BOBINAC, Ma‐ rijan / MÜLLER-FUNK, Wolfgang / SEIDLER, Andrea / SPREICER, Jelena / URVÁLEK, Aleš (Hg.): Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Tübingen: Francke. S.-173-192. waren. Zum einen - doch nur als Hintergrund zu Masaryk - Coudenhove Kalergis Pan-Europa und zum anderen die 1925 von Rohan gegründete und an den europäischen „Kulturbund“ angedockte Zeitschrift Europäische Revue. Diese ist insbesondere ob ihrem für eine Zwischenkriegszeitschrift ungewöhnlich langem Bestehen (bis 1944) für die Beobachtung der Transformationen der postimperialen Staatsformen geeignet, machte sie doch in den fast 20 Jahren eine mehrmalige Wandlung ihrer Europa-Konzepte durch, inklusive einer An‐ lehnung an die Imperialform des „Tausendjährigen Reichs“ in den späten 1930er- und 1940er-Jahren, um sogar - mit zum Teil identischem Personal und auf nicht ganz unähnlicher konzeptioneller Grundlage - in einer völlig verwandelten Konstellation nach 1945, in der Zeitschrift Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken einen zweiten europäischen Anlauf zu nehmen, diesmal nach dem Ende des Dritten, „Tausendjährigen“ Imperiums Hitlers. Aus Platzgründen muss man es bei einem Verweis auf die Nachkriegsge‐ schichte dieser spannenden Transformationsstory bewenden lassen, die ja bereits anderswo zumindest ansatzweise beschrieben wurde. 7 Da auch die Ge‐ genposition von „Paneuropa“ und „Kulturbund“ bzw. Europäischer Revue sowie die uneingestandenen antidemokratischen Attitüden der Paneuropäer in der Frühphase der Bewegung bereits andernorts ausführlich dargestellt wurden, 8 Europa-Konzepte im postimp. Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 183 <?page no="184"?> 9 Vgl. SETON-WATSON, Robert u.a. (1995): R. W. Seton-Watson and His Relations with the Czechs and Slovaks. Documents 1906-1951. 2 Bde. Prag, Bratislava: Ústav T. G. Masaryka, Matica Slovenská. wird im Folgenden von der europäischen Konzeption Masaryks ausgegangen, die weitere komparatistische Beobachtungen nach sich ziehen wird. Bei dieser Publikation Masaryks muss mit ihrer Entstehungsgeschichte an‐ gefangen werden, die ihrerseits noch eine Vorgeschichte hat. Beide haben damit zu tun, dass Masaryks intellektuelle Aktivität eines Soziologen und politikwissenschaftlichen Diagnostikers keineswegs von der eines pragmatisch agierenden Politikers zu trennen ist, der als Verfasser von Das neue Europa. Der slavische Standpunkt seine Pläne und Visionen durchsetzen wollte. Über die Vorgeschichte informieren am besten die Dokumente der Zusammenarbeit zwischen Masaryk und Robert W. Seton-Watson, 9 einem mit dem west-, ost- und südslawischen Raum bestens vertrauten Historiker englischer Herkunft. Watson wird Masaryk später den Zugang zum britischen Außenministerium verschaffen, für den im Weltkrieg auf internationale Unterstützung angewie‐ senen Masaryk eine kaum zu unterschätzende Dienstleistung. Doch man hatte sich bereits lange vor dem Kriegsbeginn kennengelernt und war daher von Anfang an bemüht, im europäischen Sinne nicht nur politisch, sondern auch verlegerisch zusammenzuarbeiten. So kam es nach einigen Anläufen dazu, dass Masaryk die Ehre zuteil wurde, in dem ersten Jahrgang der von Seton-Watson mitherausgegebenen Zeitschrift The New Europe (1916-1920) gleich fünf wichtige Abhandlungen zu publizieren, in deren Themen (gleich mehrmals, in unterschiedlicher Ausprägung der „Pangermanismus“ sowie die „Frage der kleinen Nationen“) unschwer die Konturen des einige Monate später folgenden ersten Manuskripts von Das neue Europa. Der slavische Standpunkt zu erkennen sind. Die insgesamt zehn 1916 und 1917 auf Englisch geschriebenen - und von Seton-Watson korrigierten - Abhandlungen Masaryks umkreisen nicht nur die Themen, sondern nehmen bereits viele Argumente der bald daraufhin folgenden Schrift vorweg. Am stärksten räsoniert hier Masaryks offene und überaus pauschalisierende Kritik der deutschen Philosophie, die laut dem Autor immer schon historisch und vor allem geschichtsphilosophisch fundiert wäre. Sie tendiere somit dazu, die nationale Entwicklung philosophisch zu interpretieren. Eine Generalisierung, die man angesichts der von Masaryk scharfsichtig registrierten pangermani‐ schen Gefahr zwar nachvollziehen, aber mitnichten gelten lassen kann, führt sie doch zu fragwürdigen Verzerrungen, indem beispielsweise festgestellt wird, die wahre Natur der deutschen Philosophie könne man erst verstehen, wenn man im Blick behalte, dass deutsche Wissenschaft und deutsche Geschichte ent‐ 184 Aleš Urválek <?page no="185"?> 10 Im Original: “The nature of German philosophy will be understood if we remember that German science and German history are either Pangerman or lead up to Panger‐ manism”, zit. nach: https: / / en.wikisource.org/ wiki/ The_New_Europe/ Volume_1/ Pange rmanism_and_the_Eastern_Question; oder in tschech. Übersetzung: MASARYK, Tomáš Garrigue (2005): Válka a revoluce. Články - memoranda - přednášky - rozhovory. Prag: Masarykův ústav AVČR. S.-235. 11 „Now in my opinion there is only one person who can write the first article for the Review, and that is yourself […]. If you could possibly find time to write something, however short, followings upon the lines of your inaugural lecture of 1915 and your book (The New Europe) of 1918, we should not only be immensely grateful, but should feel that you were giving a notable help to our common cause.” (SETON WATSON u. a. [1995]. S.-317) 12 Vgl. das Vorwort von Jaroslav Šabata in: MASARYK, Tomáš Garrigue (1994): Nová Evropa. Stanovisko slovanské. Brünn: Doplněk bzw. in der Neuaufl. (Prag: Ústav T.G. Masaryka 2016). weder pangermanisch seien oder auf Pangermanismus hinauslaufen würden. 10 Nach dem Krieg erfuhr die überaus produktive Zusammenarbeit eine weitere Fortsetzung, indem sich Masaryk wiederum maßgeblich an dem verlegerischen Folgeprojekt von Seton-Watson beteiligen durfte, als er, nun schon als „My dear President“ auf eine überaus schmeichelhafte Art 11 gebeten wurde, durchaus in den Spuren der bisherigen europäischen Zusammenarbeit die erste Nummer des ersten Jahrgangs von Slavonic Review (1922) mit einem Text über „The Slavs after the War“ zu eröffnen. Doch auch ohne diese englische Vorgeschichte ist die Entstehungsgeschichte von Das neue Europa im wahrsten Sinne europäisch - allein schon vom Umstand her gesehen, dass mehrere Fassungen an unterschiedlichen Orten der Welt entstanden sind, mit unterschiedlichen Adressaten, Rhetoriken, Formen sowie Medien des Textes, der vielfach in unterschiedlichen Sprachen durch Europa „reiste“, oft ohne zu den Lesern zu gelangen, ja sogar ohne dass dessen Verfasser das Schicksal der jeweiligen Manuskripte bekannt gewesen wäre. Daher lieber der Reihe nach: 12 An dem Text geschrieben wurde im Frühsommer 1917, als Masaryk in Russland weilte und den tschechischen Legionären die sich im Umbruch befindende weltpolitische Situation erläutern wollte. Deshalb ist diese Fassung direkter im Benennen der Ziele, konkreter im Identifizieren des Feindes (lange antiösterreichische Schmähreden, die - anders als in späteren Fassungen - nicht ausgeglichen werden durch Kritik in den eigenen Reihen), doch weniger ausführlich im Darlegen etwa der geschichtsphilosophischen Grundlagen der deutschen Philosophie, weniger genealogisch im Konstruieren der unheilvollen ideologischen Traditionen (so wird etwa Herders Name noch bei weitem nicht so oft genannt wie später). Im Gefolge der Revolution brach Masaryk nach Amerika auf, um während der Reise die erste Fassung zu überarbeiten. Daher konnte er Europa-Konzepte im postimp. Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 185 <?page no="186"?> 13 Zit. wird nach der autorisierten deutschen Übersetzung der tschechischen Fassung aus dem Jahre 1920 von Emil Saudek: MASARYK, Tomáš Garrigue (1922): Das neue Europa. Der slavische Standpunkt. Berlin: C. A. Schwetschke. nicht wissen, dass - vom 16. April 1918 an - Teile dieser ersten Fassung in der westrussischen Stadt Pensa in der vom Tschechoslowakischen Rat und Bund der tschechoslowakischen Verbände herausgegebenen Zeitung Československý denník (Tschechoslowakisches Tagblatt) erschienen. Zu dieser Zeit war Masaryk schon damit befasst, die Fassung einem neuen Adressaten anzupassen, nämlich der internationalen politischen und diplomatischen Öffentlichkeit. Dies erklärt die Form, die eher einem politischen Memorandum ähnelt, sowie die Rhetorik, die nun den Kampf der kleinen, um ihre Unabhängigkeit ringenden Nationen gegen die Imperien und imperial sich gebenden Mächte als eine weltgeschicht‐ liche Notwendigkeit darstellt, die dem Modernen und Demokratischen Platz mache, weil es Signum einer neuen Zeit wäre. In Amerika angelangt, konnte Masaryk das Manuskript nun ins Englische und Französische übersetzen lassen, was erklärt, warum dieses Buch zunächst in Übersetzungen (englisch sowie französisch 1918) erschien und erst danach im Original den Weg zu seinen Lesern antrat. Als im Jahre 1920 die erste tschechischsprachige Auflage erschien, fühlte sich Masaryk bemüßigt zu legitimieren, warum ein inzwischen inaktueller Text überhaupt publiziert werden sollte, und rang sich zur Erklärung durch, dieser Text habe einen dokumentarischen Wert als Beleg für manche der tschechoslo‐ wakischen Außenpropaganda zugrundeliegenden Grundsätze. Insofern führt die Europakonzeption Masaryks, wenn man an seinem Das neue Europa. Der slavische Standpunkt ansetzt, eine Art Zwitterexistenz, wo ein prophetischer Gestus des Herbeiformulierens dessen, was die Politik womöglich bringen sollte, sich mit dem historisierenden vermählt, der nicht nur dokumentiert, was der Verfasser in den Irrungen und Wirrungen des Krieges gedacht hat, sondern auch - nicht ohne Stolz - festhält, den Politikern ein profundes europäisches Programm vorgegeben zu haben, das am Kriegsende weitgehend realisiert werden konnte. Was sind nun die Hauptthesen und -argumente des Textes in der Fassung aus dem Jahre 1920? 13 Wenn Masaryk diagnostiziert, tut er das deutlich aus der Perspektive einer zwar erst zu konstruierenden tschechoslowakischen Nation, deren Legitimität er allerdings durch historische Hinweise im Sinne der üblichen Praxis aller Nationalprojekte ohnehin bestätigt glaubt. Dieser Nation, nachdem mit dem Eintritt der USA sowie mit der massiven antideutschen Front (die Masaryk als eine ‚antiimperiale‘ identifiziert) dafür um 1917 überhaupt erst realpolitische Bedingungen geschaffen worden sind, solle nun das ihr in der 186 Aleš Urválek <?page no="187"?> 14 Diesbezüglich übernahm Masaryk die Optik Herders, wohl auch dessen Optimismus: „Wenn sich kleinere und kleine Staaten selbständig machen, so widerspricht das keineswegs der Tendenz der Entwicklung, die auf die Festigung einer immer engeren und innigeren zwischenstaatlichen und internationalen Verbindung gerichtet ist; es ist wahr, die Individuen und Völker haben geradezu das Bedürfnis, sich untereinander zu verbinden, und die Geschichte steuert der Organisation der gesamten Menschheit zu. […] Zwischen der Nationalität und Internationalität gibt keinen Widerspruch, im Gegenteil die Übereinstimmung; die Nationen sind die natürlichen Organe der Menschheit.“ (MASARYK [1922]. S.-48) 15 NOVÝ, Lubomír (1994): Filozof T. G. Masaryk. Probémové skici. Brünn: Doplněk. S.-147. Konstellation der Habsburger Monarchie nicht gewährte Selbstbestimmungs‐ recht zuerkannt werden. Masaryks Konzeption baut auf einer Geschichtsphilo‐ sophie auf, die sich dezidiert antiimperial verstand: Die Geschichte laufe auf ein neues Europa hinaus, in dem es von nun an kleinteiliger, gerechter, humaner, moderner, demokratischer zugehen solle, da diese Entwicklung die imperial theokratische Zeit hinter sich lasse. Diese Entwicklung wollte Masaryk immer schon als eine den Werten der Humanitas verpflichtete verstanden wissen; darum sein Bestreben, die dem neuen Europa auferlegten Ziele als demokra‐ tische und zugleich humanistische zu präsentieren. Jeder Schritt weg vom Imperium hin zu den zu gründenden kleinen Nationalstaaten müsse nämlich als ein moderner, gerechter, wie auch demokratischer deklariert werden. Anders gesagt: Die antiimperiale Tendenz, die ja Masaryk nicht anders als national‐ staatlich zu denken vermag, braucht eine antinationalistische Kompensation, sollte Masaryks Konzept nicht in ein Europa der vielen kleinen postimperialen Nationen ausarten, die weder Grund noch Willen hätten, ihre nationalen Interessen zugunsten des friedlichen Europa hintanzustellen. Dass Masaryk all diese Vorbehalte und Bedingungen in seiner Konzeption nicht nur genügend berücksichtigt, sondern auch politisch umgesetzt hat, kann ohne weiteres nicht vorausgesetzt werden. Ob sein Versuch ein geglückter war, die fragliche Konklusion „demokratisch gleich national“ durch eine dialektische Synthese auszubalancieren, der zufolge sich Nationalismus und Internationa‐ lismus nicht ausschließen würden, 14 sofern das Zusammenleben der kleinen Nationen immer schon kollaborative gesamteuropäische Bünde nach sich ziehe; an dieser Frage nämlich scheiden sich innerhalb der Masaryk-Forschung nach wie vor die Geister. Viele der diesem Buch gewidmeten Studien versuchen zumindest Masaryk zu ‚retten‘. Anstatt ihn gegen den Strich zu lesen, glätten sie ihn, sich an die hoffnungsvolle Annahme festklammernd, dass Masaryk „den nationalen Gedanken doch stets von den übernationalen Werten der Humanität und Demokratie abhängig gesehen hat“, 15 oder aber - nicht unproblematisch - glauben sie bei jenen, denen der evidente Riss zwischen dem humanistischen Europa-Konzepte im postimp. Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 187 <?page no="188"?> 16 Vgl. ŠOLLE, Zděnek (1992): Masarykova cesta k Nové Evropě. In: Masaryk a myšlenka evropské jednoty. Prag: Centrum pro Desk-Top Publishing filozofické fakulty UK. S. 40- 59, hier S.-43f. 17 Ihnen widmet Masaryk das Buch zuvorderst. Die deutsche Ausgabe aus dem Jahre 1922 druckt diese Widmung nicht ab. Denker und dem nationalistischen Politiker Masaryk zu groß erscheint, als dass man ihn weginterpretieren könnte, eine böswillige Absicht erkennen zu können, hinter der etwa westdeutsche Historiker ständen. 16 Anstatt sich dem einen oder dem anderen Lager anzuschließen, um Masaryk vor Kritik oder Glorifizierung zu schützen, versuche ich im Folgenden der Frage nachzugehen, ob das neue Europa, das Masaryk dezidiert von allen alten, unmodernen, mittelalterlichen, theokratischen, ungerechten, imperialen Denk- und Handlungsstrukturen abzukoppeln gedachte, entsprechend neu, modern, gerecht, nicht-imperial umgesetzt wurde. Berechtigt scheint es mir zu fragen, ob Masaryks europäisches Konzept, in dem insbesondere die post-habsburgischen Nationen im neuen postimperial-europäischen Rahmen zum geschichtlichen Telos und darum auch zu sich finden sollen, sich nicht einiger Argumente bediente, die man eher aus hegemonialen und imperialen Kontexten kennt (es geht zwar um kleine Nationen, aber ausschlaggebend seien Größe, eine Mehrheit, die Druck ausüben dürfe, die Unterwerfung aller Teile unter ein Prinzip, manichäische Argumentationsketten, im Sinne von entweder oder, etc.)? Wäre es also, anstatt Masaryk in seinen Argumentationen blind zu folgen, nicht eher ratsam, ihn danach zu befragen, wie Das neue Europa. Der slavische Standpunkt im Spannungsfeld zwischen „imperial Nicht-Mehr-Wollen‘ und doch ‚imperial Bleiben‘ zu lokalisieren ist? Als ein im Krieg redender und agierender Politiker setzt Masaryk bei den tschechoslowakischen Kriegsopfern an, 17 deren Opfer doch nicht umsonst hätten gebracht werden dürfen, um sie sogleich zu Wegweisern des Neuen Europa zu instrumentalisieren, das vom Imperialen weg hin zum Nationalstaat‐ lichen führen soll. Diesen in seinen Augen zwingenden Schritt auf das Neue Europa hin rechtfertigt er, indem er den weltgeschichtlichen und europäischen mit dem tschechoslowakischen Telos kurzschließt, also den erhobenen und deklarierten Anspruch einer Nation auf ihre Selbstbestimmung zum allgemein gültigen Prinzip der europäischen, ja gesamtmenschlichen Entwicklung erklärt. Diese nun an den Anfang einer postimperialen Zeit gestellte Forderung wird in eine plakativ historisch-politische Deutung eingebettet, in der alles, was nur annäherungsweise mit Imperium zu tun hat, endgültig der Vergangenheit überantwortet wird: dazu zählen die Zentralbzw. Mittelmächte, im Ersten Weltkrieg von Preußen-Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der 188 Aleš Urválek <?page no="189"?> 18 MASARYK (1922). S.-140. Türkei repräsentiert, also - überwiegend - Imperien. Am anderen Pol dieser plakativen Gegenüberstellung stehen nicht überraschend die republikanischen und demokratischen Prinzipien der das neue Europa repräsentierenden Staaten und Nationen der Entente (Alliierten) mit Frankreich, Großbritannien oder Russland; Russland habe es dank seiner Revolution, die Masaryk zunächst als eine republikanische verstanden hat, ‚geschafft‘, in Masaryks Konstruktion zumindest zeitweilig das imperiale Prinzip zu verlassen. Die bereits lange vor dem Krieg in Masaryks Schriften postulierte Opposition zwischen Theokratie und Demokratie wird hier problemlos in Einklang mit der Frontstellung des Ersten Weltkrieges gebracht. Undemokratisch, absolutis‐ tisch, dynastisch, unmodern regierte, militaristische, von sich aus aggressiv orientierte, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen missachtende imperiale Mittelmächte (insbesondere das Deutsche Kaiserreich, denn dass Österreich- Ungarn in der pangermanischen Sicht als nichts als ein Anhängsel oder eine Kolonie des deutschen Reiches betrachtet wurde, wusste der in der völkischen Literatur des Pangermanismus bewanderte Masaryk sehr gut, daher sah er in seinen Plänen für die „deutschen Provinzen Österreichs“ 18 die Existenz eines selbstständigen Staates vor) bilden einen absoluten Gegenpol zu den republikanischen, parlamentarischen, nationalstaatlichen und weitaus demo‐ kratischeren Akteuren der Entente, denen alle neutralen sowieso nachstreben würden oder sollten, die - für Masaryk zentral - die Herrschaft der Mehrheit (also Demokratie) stets über die Herrschaft einer Minderheit stellten. Anders ausgedrückt sei erstens im Neuen Europa der Nachkriegs- und nachimperialen Zukunft allen, die bereit seien, die Traditionen der parlamenta‐ rischen Demokratie zu pflegen - egal, wie groß oder klein sie bis jetzt waren oder sind - das Selbstbestimmungsrecht zu garantieren. Die Größe einer Nation ist für den hier humanistisch argumentierenden Masaryk irrelevant. Ein kleiner Mensch sei auch nicht weniger Mensch, nur weil er klein sei, vielmehr stellt für Masaryk die Unabhängigkeit der Kleinen (Menschen wie der Nationen) die wahre Realisierung der Humanität dar. Die durch das Selbstbestimmungsrecht kleiner gewordenen national geprägten Neustaaten des neu konzipierten Eu‐ ropas sollten zweitens auf Prinzipien der Gerechtigkeit und folglich Demokratie fußen. Da Demokratie in Masaryks Konzept als eine definitorische Mischung aus per negationem (Demokratie als Gegensatz zur Theokratie) und tertium non datur (Demokratie kann nicht nicht-nationalistisch sein) vorkommt, scheint der Verfasser von Das neue Europa. Der slavische Standpunkt nun allzu stark einen Aspekt der Demokratie, oder besser, Demokratismus zu betonen, nämlich Europa-Konzepte im postimp. Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 189 <?page no="190"?> 19 MASARYK (1922). S. 102. 20 Ebd. S.-53. die zahlenmäßige Stärke, also die Mehrheit. Das Mehrheitsprinzip lässt nun Masaryk in seinem Konzept als das ausschlaggebende Prinzip walten. Mit Masaryk gesagt, müsse das Neue Europa auf einer gerechten Applika‐ tion des Mehrheitsprinzips neugegründet werden, denn: „Was ist richtiger - daß mehr als 9 Millionen Tschechen und Slowaken unter der Herrschaft der Deutschen, oder daß drei Millionen Deutsche unter der Herrschaft der Tschechoslowaken seien? “ 19 Die absolute Applikation des demokratischen Mehrheitsprinzips überantwortet die Lösung der national nichthomogenen Nationen einfach der Zukunft: Im erneuten Polen oder in Böhmen wird es deutsche Minderheiten, in Böhmen recht beträchtliche, geben; aber die Zahl der deutschen Bewohnerschaft im freien Polen und freien Böhmen wird viel geringer sein als die Zahl der tschechischen und polnischen Bewohner in den polnischen und tschechischen Ländern unter deutscher und österreichischer Oberherrschaft. […] darum ist es gerechter, wenn in Polen und Böhmen freie Minoritäten bestehen bleiben, welche kleiner sein werden als die gegenwärtigen slavischen, von den Deutschen unterdrückten Gebiete. 20 Sich der schweren Frage der Mehrheiten und Minderheiten zwar bewusst, die mit dem Zerfall der Imperien bei weitem nicht verschwand und für die mittel-, ost- und südosteuropäischen Nachfolgestaaten nach wie vor zentral blieb, entschied sich Masaryk wohl deshalb dafür, alles auf eine Karte zu setzen (die zahlenmäßige Stärke sei ausschlaggebend), weil die an sich demo‐ kratischen Neustaaten, insbesondere der tschechoslowakische, das neue Europa vor der pangermanischen Rückkehr des alten Europa schützen sollten. Die Tschechoslowakei als Garant des irreversiblen Ganges auf das neue Europa hin: Dieses Sendungsbewusstsein dürfte Masaryk derart beflügelt haben, dass er sein demokratisches Europa einem einzigen Prinzip verschrieben hatte, obwohl ihm klar war, dass gerade in der Tschechoslowakei dessen Applikation keine nachhaltige Lösung darstellen mochte. Nur nebenbei bemerkt, doch für unsere Fragestellung nicht unwichtig, ist die Überlegung, ob Masaryk hierbei nicht das imperiale Herrschaftsprinzip (es herrscht die Minderheit, die das Zentrum bildet, und an den Rändern gibt es zwangsläufig Asymmetrien, Ungerechtigkeiten) übernommen und es in eine demokratische Form invertiert hat (es herrscht, gerade auch an den Rändern, die Mehrheit, die allerdings an den Rändern keine ist), ohne jedoch das Problem der Asymmetrien und Unge‐ rechtigkeiten zwischen Zentrum und Rand der Republik gelöst zu haben. Hinkt 190 Aleš Urválek <?page no="191"?> 21 [Eine Serie von antisemitischen Gerichtsverfahren gegen Leopold Hilsner aus Böhmen. In der Affäre, die großes Medieninteresse erregte, trat Masaryk öffentlich gegen die Ritualmordanschuldigungen auf. Anm. der Hrsg.] 22 [Hier geht es vor allem um den Streit um die sog. Königinhofer Handschrift, eine vermutlich von Václav Hanka im 19. Jh. gefälschte mittelalterliche Liedersammlung in alttschechischer Sprache, um deren Echtheit insbes. in den 1860er und 1880er Jahren erbitterte Debatten geführt wurden. Anm. der Hrsg.] sein neues Europa der ihr Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nehmenden Nationalstaaten nicht etwa auf dem postimperialen Bein, und dies genau deshalb, weil dieses Bein, so paradox es klingen mag, ein nationales, darum - laut und für Masaryk - ein demokratisches ist? Die Minderheiten geraten bei Masaryk in einen recht kolonisierenden Diskurs: Sie werden nicht hinter die Grenzen des Nationalstaates exkludiert, sondern insofern darin inkludiert, indem man ihnen erlaubt, sich am Projekt des neuen nationalen Staates aktiv zu beteiligen, der sich als Träger der modernen und demokratischen Humanitätsideale versteht. Eine tschechoslowakische Humanitäts-Umerziehung der deutschen Minderheit hält Masaryk für notwendig, um die, so Masaryk, chauvinistisch rückfälligen Teile der Deutschen sowohl vor der pangermanischen Tradition als auch vor Irredenta zu schützen. Angesichts dieser Radikalität einer politisch-pragmatischen Praxis darf es nicht verwundern, dass Masaryks Verteidiger immer wieder den ‚anderen‘, eben nicht-radikalen, jedem nationalen Chauvinismus abholden Humanisten Masaryk herbeizitieren, um die zwei Personen zumindest einander anzunähern und somit durch die Betonung der antinationalistischen Seite Masaryks seinem nationalistischen Alter Ego die Schärfe zu nehmen. Es ist auch in der Tat naheliegend, an den auch durch seinen biographisch imperialen Hintergrund (ein Mann zwischen Wien und Prag, zwischen Monarchie und Nationalstaat) zu einer politisch realistischen Position tendierenden und jenseits von Nationa‐ lismen stehenden Masaryk etwa in der „Hilsneriade“ 21 oder im Handschriften- Streit 22 zu erinnern, in Situationen also, in denen er sich als wahrer Dekonstruk‐ tivist der nationalistischen und religiösen Identitätsbestrebungen des Öfteren Spott und vor allem auch Wut der national-konservativen Kreise eingehandelt hatte. Dieser Masaryk, den man wohl zu Recht einen großen europäischen Humanisten nennen könnte, ist zwar als „Vermesser des Neuen Europa“ nicht ganz verloren gegangen, doch sind seine Spuren kaum noch zu sehen - allenfalls in der appellativ aufzufassenden Wunschäußerung, dass man den Minderheiten womöglich Bürgerrechte garantieren solle, damit sie der Republik - als Minderheit - erhalten blieben. Europa-Konzepte im postimp. Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 191 <?page no="192"?> 23 MÜNKLER, Herfried (2005): Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt. S.-219. 24 Vgl. Fußnote 7. So bleibt Masaryks Europakonzept letztlich auf eine weitere Instanz an‐ gewiesen, die die nationale Perspektive transzendiert. Und hiermit rücken wiederum die postimperialen Überlegungen in den Vordergrund, diesmal in Anlehnung an Herfried Münklers Großstudie über die Imperien. Darin fokussiert Münkler eben die Phase nach dem Zerfall der Imperien, in der die einst imperialen Räume ohne ihr ehemaliges Zentrum plötzlich auf eine stabilisierende Außeninstanz zurückgeworfen würden, die - vorübergehend - imperiale Ordnungs- und Machtfunktionen erfülle, ohne die Position des alten Imperiums einzunehmen. Wenn es stimmt, dass das postimperiale Zeitalter zwangsläufig und paradox „auf einen Akteur angewiesen [ist], den es den eigenen Voraussetzungen nach eigentlich gar nicht mehr geben darf “ 23 , dann dürfte diese Instanz in Masaryks Europakonzept der die Ordnung und Macht allerdings erst umkreisenden transeuropäischen Instanzen angedacht worden sein, wie sie eben der Genfer Völkerbund repräsentierte. Dieser wurde - zu‐ mindest temporär - von der paneuropäischen Bewegung Coudenhove Kalergis unterstützt, der ja Masaryk nachhaltig seine Sympathie entgegenbrachte. Das insbesondere in der ungenügend gelösten Frage der nationalen Minderheiten vorprogrammierte Scheitern der Pläne Masaryks, das sich zunehmend in den 1930er-Jahren anbahnte, resultierte - bleibt man nur im engen Kontext von Das neue Europa. Der slavische Standpunkt - wohl auch daraus, dass der Völkerbund sowie auch alle anderen europäisch agierenden übernationalen Instanzen dieser postimperialen Aufgabe nicht gewachsen waren. Folglich zerbröckelte das zerbrechliche Gleichgewicht der national gemischten Kleinstaaten Europas und der um Zusammenarbeit bemühten souveränen Staaten nach und nach und wich mächtigeren Instanzen, die wiederum unverblümt imperial zu agieren anfingen: Hitler und danach Stalin. Hitlers Imperium stellt ein tragisches, wenngleich kein definitives Ende auch der beiden zunächst von Wien aus postimperial agierenden europäischen Bewegungen dar: des „Paneuropa“ Coudenhove-Kalergis sowie des 1922 von Rohan ins Leben gerufenen „Kulturbundes“, der nach 1925 auf Seiten der von Rohan gegründeten und herausgegeben Zeitschrift Europäische Revue diskutiert und einer breiteren, am europäischen Thema interessierten Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde. Dem jeweils unterschiedlichen Maß an Kollaborati‐ onsbereitschaft mit den Nationalsozialisten wurden bereits mehrere Studien gewidmet, 24 daher soll nun abschließend das europäische Projekt von Rohan in den postimperialen Zusammenhang gestellt werden. 192 Aleš Urválek <?page no="193"?> 25 Vgl. zu Hofmannsthal: HEISSE, Tillmann (2019): „Schöpferische Restauration“ und Habsburg reloaded. Hugo von Hofmannsthals Europaideen der 1920er Jahre, Rohans Kulturbund und die Europäische Revue. In: BEßLICH, Barbara / FOSSALUZZA, Chris‐ tina (Hg.): Kulturkritik der Wiener Moderne (1890-1938). Heidelberg: Winter. S. 87-104 u. URVÁLEK (2021). S. 173-192. Zu E. R. Curtius in dieser kritischen Hinsicht: vgl. BOCK (1999). Dies geschieht, indem die Frage gestellt wird, ob bzw. inwieweit diese europäische Plattform eine Mittelposition zwischen Nationalismus und Interna‐ tionalismus zu gewährleisten imstande war, für welche Ernst Robert Curtius und Hugo von Hofmannsthal die intellektuelle Bürgschaft zu garantieren hätten, um ein übernationales Europa-Konzept formulieren zu können. Auch hier dürfte der Blick auf das Übernationale durch die mitunter auf bedenklichen Kategorien wie Substanz oder reiner Ausdruck der Nation fußender Sichtweise verstellt worden sein, ein Versehen, das allerdings schon bei Hofmannsthal und Curtius angelegt gewesen sein dürfte. 25 Berief sich Masaryk auf Herder, um die nationale Sicht in die allgemein menschliche münden lassen zu können, und suchte er sein mit einem moralischen Erziehungsprojekt identifizierten Europa als demokratisches Bollwerk der nationalen Staaten gegen die imperialen Bestre‐ bungen des Pangermanismus zu installieren, stellte Rohans Europakonzept ein ambitioniertes Programm eines übernationalen, neu-adelig und abendländisch fundierten, vom deutsch-französischen Versöhnungsgeist getragenen Europa‐ bewusstseins dar, das zwar von den Nationen her gedacht war, aber in ein übergreifendes Konzept von Europa einmünden sollte. Die nationalistische Ausrichtung dieses Programms, zunächst kaum er‐ kennbar unter dem recht kooperativen und bemüht dialogischen Ansatz der Zeitschrift, das von den kulturellen und politischen Eliten ins Auge gefasste und vom transnationalen Ethos des sogenannten geistigen Adels (Neuadels) getragene Europa anzustreben, gewann aber an Konturen, als die Europäische Revue im Orchester der europäischen Stimmen zunehmend die faschistischen zu privilegieren begann. Statt des ausbalancierten europäischen Dialoges wurden um 1930 sichtlich die antidemokratischen und autoritären Haltungen in den Vordergrund gerückt, bis die Zeitschrift nach 1933 ihre Seiten zunehmend der NS-Propaganda zur Disposition stellte. Die Herausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift bemühten sich zwar nach Kräften, diesen Absturz in den nationalis‐ tischen Keller mit Hinweisen auf die konzeptionelle Kontinuität der Zeitschrift wegzuinterpretieren - ein vergeblicher Versuch, denn der Absturz zeichnete sich bereits an den für die jeweiligen Phasen der Zeitschrift dominierenden Europakonzepten ab. Dabei gilt es zu betonen, dass alle von der Europäischen Revue anvisierten Europakonzepte recht anfällig für die Kollaboration mit dem Europa-Konzepte im postimp. Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 193 <?page no="194"?> 26 Dies ein in der Forschung bereits mehrmals festgestellter Befund, an den vorbehaltlos anzuknüpfen ist; am präzisesten ausgeführt bei BOCK (1999) u. PAUL (2003). 27 HEISE, Tilmann (2022): Konservative Revolution‘ transnational? Der Kulturbund und die Europäische Revue als Beispiel für einen europäischen Antiliberalismus der Zwi‐ schenkriegszeit. In: Brücken. Zschr. für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft. S. 59- 76, hier S.-69. zeitgenössischen antidemokratischen Denken der europäischen Rechten waren. Dies gilt bereits für „Das junge Europa“, das die Anfangsphase der Europäischen Revue prägende jungkonservative Konzept, ein revisionistisches Europa gegen die „Versailler Schmach“ gerichtet. Um 1933 änderte sich der Ton insofern, als nun nicht mehr vom jungen, sondern vom „anderen“ Europa gesprochen wurde, einem bereits vom völkisch und nationalsozialistisch geprägten Mittel‐ europabegriff kontaminierten Europa, das sich der Hegemonie Deutschlands im postimperialen zentraleuropäischen Raum verschrieb. Genau dieses Europa wäre ein Alptraum für Masaryk gewesen, gegen das er seine Europapläne konzipierte und auf das die ungewöhnliche Radikalität seiner Auffassung zurückgeführt werden kann. Das letzte Europakonzept der Europäischen Revue, das sich die Zeitschrift auf die Fahnen schrieb, musste der 1937 verstorbene Masaryk nicht mehr erleben, und das ist auch das einzig Relevante, was zu diesem „Europa der weißen Rasse“ zu sagen ist, das um 1940 die Zeitschrift zu dominieren begann. 26 An der Europäischen Revue sieht man, wie instabil und politischen Ände‐ rungen ausgesetzt postimperiale Europakonzepte jener Zeit waren, in denen - davon geben die zwanzig Jahrgänge ein klares Zeugnis - der Appell für Europa eine mehrmalige Wandlung durchmachte: Vom neu-adeligen Europa, das vom elitären transnationalen Standpunkt her zunächst ein geistiges europäisches Bewusstsein schaffen wollte (das alles andere automatisch nach sich ziehen würde), über ein Europa mit zunehmend stärkeren deutschen Interessen, bis zu einem Europa, dessen Grenzen mit dem von der NS-Soldateska zu erobernden Gebiet übereinzustimmen hätten. Die in der Akzentuierung der deutschen Rolle und deutscher Optionen in Europa kulminierende Tendenz war, wie schon erwähnt - wenn überhaupt - zunächst an subtilen Details sichtbar. Eines davon wurde unlängst von der Forschung bearbeitet: 27 Die Zeitschrift richtete sich ausdrücklich an ein deutsch‐ sprachiges Publikum. Nicht nur wurde sie in deutscher Sprache geschrieben, in Wien, dann in Berlin herausgegeben; es wurden auch alle fremdsprachigen Bei‐ träge konsequent ins Deutsche übersetzt - ungeachtet der im Titel signalisierten europäischen Mehrsprachigkeit. Die Übersetzung aus anderen europäischen Sprach- und Kulturräumen dürfte zwar einer besseren breiten Verständlichkeit 194 Aleš Urválek <?page no="195"?> 28 Diese Praxis hat auch das Nachfolgeprojekt Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken zumindest in seinen ersten Jahren beibehalten. 29 Vgl. etwa ROHAN, Karl Anton (1933): Vom Mythos der totalen Nation im dritten Reich. In: Europäische Revue. April 1933, S.-13. 30 MORAS, Joachim (1933): Die neue Epoche. In: Europäische Revue. Mai 1933, S.-379. 31 Die Reichsidee schien nach dem Krieg obsolet zu sein, darum hielt man auch im Merkur nach anderen Europamodellen Ausschau, die allerdings selten präzise ausformuliert wurden. 32 MASARYK (1922), S.-13. gedient haben, auch wäre eine mehrsprachige europäische Zeitschrift damals wie auch heute ein Ausnahmefall gewesen, dennoch scheint hier eine Strategie ablesbar zu sein. Denn die ursprünglich fremdsprachigen Beiträge wurden kaum je als ins Deutsche übersetzte Texte gekennzeichnet, etwa unterhalb des Titels oder am Ende des Beitrags. Vielmehr ‚versteckte‘ man, sofern überhaupt genannt, den Hinweis darauf, dass es sich um eine Übersetzung handelte, samt dem Namen des Übersetzers, erst am Ende des jeweiligen Heftes in einer knappen „Bemerkung der Redaktion“. 28 Die Europäische Revue vermittelte somit den Eindruck, dass es keinen Grund gab, die Anderssprachigkeit zu markieren, spiele sich doch der europäische Diskurs in und über Europa auf Deutsch ab. Somit blieb der fremdbzw. mehrsprachige Hintergrund dieser vermeintlich homogen auf Deutsch geführten Europadiskussion ausgeklammert, ein symp‐ tomatisches Merkmal der Hegemonie, die die interlingualen Differenzen und Transferumwandlungen für unerhebliche Größen hält. Abschließend kann nur angedeutet werden, dass die Europäische Revue gerade in den Momenten, als sie nolens volens zum NS-Propagandablatt wurde, ihre immer kleiner werdenden Freiräume dazu nutzte, um unter anderem die Europakonzepte durch postromantische Reichskonzepte zu ergänzen; auch dies eher hoffnungsarme Rettungsaktionen, da all diese Reichskonzepte zwangs‐ läufig in jenem des „Tausendjährigen“ der Nationalsozialisten aufgegangen sind. Denn die um 1933 in der Europäischen Revue entworfenen Reichsideen waren entweder den NS-Konzepten zum Verwechseln ähnlich 29 , oder im postroman‐ tischen Sinne so vage 30 formuliert, dass von einer tragfähigen Tradition zu sprechen, die nachhaltig zu verteidigen wäre, keine Rede sein kann. 31 Dennoch hat man es im vorliegenden Fall mit einem Übertragungsprozess, diesmal nicht mit der allgemein bekannten translatio imperii, sondern mit translatio Europae zu tun, denn es wird nicht ein Imperium auf das nächste übertragen, sondern Europa auf das Imperium. Um zum letzten Mal Masaryk ins Spiel zu bringen: Dessen Europapläne hatten das Ziel, Europa vor der vierten translatio zu schützen: Berlin dürfe einfach nicht zum vierten Rom werden, zum vierten imperialen Zentrum, „nach Rom, Byzanz, Moskau …“ 32 Europa-Konzepte im postimp. Kontext der späten Kriegs- und frühen Zwischenkriegszeit 195 <?page no="196"?> In der Europäischen Revue wurden, in ähnlich defensiver Absicht, wie mir scheint, einige Attribute der konservativen Europakonzeptionen auf die Reichs‐ idee übertragen. Europa und das ‚Reich‘ würden sich in diesem Falle durch folgende gemeinsame Merkmale auszeichnen: Homogenitätszwang nach innen, Heterogenitätszwang nach außen; organisch gewachsene und hierarchisch auf‐ gebaute Struktur; geistige Entität, der man nicht ohne weiteres durch politisches Handeln beikommt, also kein Menschenwerk, auf freier Vertragsbasis beruhend; Identität durch Verweis auf Übergreifendes und traditionell Stabiles; System, das auf ein Ausbalancieren der Gegensätze, Spannungen und Gegenkräfte abstellt. Die Europäische Revue nimmt also in den Jahren 1925-1944 abwechselnd postimperiale Formen des übernationalen Zusammenlebens (zunächst Europa, dann Europa getarnt als Reich) in den Blick, um deren Akzeptanz in grundlegend neuen politischen Konstellationen (1918 und 1933) auf die Probe zu stellen. Diesem Labor-Charakter scheint sie auch nach ihrem Ende treu geblieben zu sein, um diesen in einer erneut von Grund auf veränderten Konstellation nach 1945 im Folgeprojekt Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (1947-) einem weiteren semantischen Umstell-, Umbau-, Übertragungs- und Anpassungsprozess auszusetzen; diesmal unter dem Motto: zurück zum Europa, in dem die Deutschen wieder zu gleichwertigen Gesprächspartnern werden sollten. Wenn man sich diese Abfolge (von Europa über das Reich wieder zurück zu Europa) genauer ansieht, würde man vielleicht den Gedanken nicht für abwegig halten, in diesen Formen eine für das deutschsprachige konservative Denken insgesamt typische Übertragungsprozedur zu erblicken, die schon weit vor der Gründung der Zeitschrift gang und gäbe war. Vereinfacht gesagt: So wie man im 19. Jahrhundert im Zuge der Nationalisierung des konservativen Denkens die vormals wichtigsten Attribute des Staates zunächst auf die Nation, später auf das ethnisch definierte Volk übertragen hatte, werden diese nach 1918, in der postimperialen Zwischenkriegszeit, an Europa herangetragen, nach 1933 im Dritten Reich aufbewahrt, um sie - als nach 1945 der Reichsgedanke nachhaltig kompromittiert war - in einer freilich modifizierten Form an Europa zurückzubinden. 196 Aleš Urválek <?page no="197"?> 1 KUNDERA, Milan (1985): An Introduction to a Variation. Übers. von Michael Henry Heim. In: http: / / www.kundera.de/ english/ Info-Point/ Introduction_into_variaton/ intro duction_into_variaton.html. Mitteleuropa, revisited Essay zur Wirklichkeit eines Traumes Nikola Petković (Univ. Rijeka) Kurz nach der sowjetischen Besetzung der Tschechoslowakei im Jahr 1968 bat ein Prager Theaterdirektor Milan Kundera, unter seinem Namen - dem des Regisseurs, nicht des Autors - eine Adaption von Dostojewskis Der Idiot zu verfassen. Obwohl ihm zu dieser Zeit sein Lebensunterhalt als Schriftsteller kaum möglich war, lehnte Kundera ab und beschloss stattdessen, Jacques le Fataliste von Denis Diderot zu lesen. Laut seiner eigenen Aussage, die in Introduction à une variation (1985) dokumentiert ist, verstand Kundera anfangs seine eigene Abneigung gegen Dostojewski nicht. Später jedoch stellte er seine plötzlichen negativen Gefühle in Frage und versuchte, sie mit der russischen Besatzung in Verbindung zu bringen - aber die sowjetische Militärpräsenz war nicht die Antwort auf seine Abneigung gegen die Adaption von Der Idiot, die wohl auch nichts mit dem ästhetischen Wert der Schriften von Fjodor Michailowitsch zu tun hatte. Kundera, der seine Reaktion später immer noch nicht ganz verstand, stellte fest, dass seine Verärgerung keinen „Anspruch auf Objektivität“ erhob: “What irritated me about Dostoevsky was the climate of his novels: a universe where everything turns into feeling; in other words, where feelings are promoted to the rank of value and of truth.” 1 Erst in einer anderen Anekdote von 1968 wird deutlich, dass Dostojewski selbst nicht das Objekt von Kunderas Beunruhigung war, wenn er beschreibt, wie er am dritten Tag der Besatzung von Prag nach Budweis fuhr: All along the roads, in the fields, in the woods, everywhere, there were encampments of Russian infantrymen. At one point they stopped my car. Three soldiers began searching it. Once the operation was over, the officer who had ordered it asked me <?page no="198"?> 2 KUNDERA (1985). 3 Ebd. 4 Ebd. in Russian, ‘kak chuvstvuyes? ’that is, ‘How do you feel? What are your feelings? ’ His question was not meant to be malicious or ironic. On the contrary. ‘It’s all a big misunderstanding,’ he continued, ‘but it will straighten itself out. You must realize we love the Czechs. We love you! ’ The countryside ravaged by thousands of tanks, the future of the country compromised for centuries, Czech government leaders arrested and abducted, and an officer of the occupying army makes you a declaration of love. Please understand me: he had no desire to condemn the invasion, not in the least. They all spoke more or less as he did, their attitude based on the sadistic pleasure of the ravished but on quite a different archetype: unrequited love. Why do these Czechs (whom we love so! ) refuse to live with us the way we live! What a pity we’re forced to use tanks to teach them what it means to love! 2 Das Problem, das Kundera von Dostojewski fernhielt, ist also weder dessen Stil noch dessen ethnische Identifizierung mit den Besatzern, sondern vielmehr die schmerzliche Erinnerung daran, dass Dostojewskis Figuren die Art in sich tragen, wie sie Gefühle auf die Ebene einer operativen Rationalität heben. Kundera hat nichts gegen Emotionen - im Gegenteil, sie sind für ihn ,edel‘. Was ihn erschreckt, ist der vom Autor immer wieder demonstrierte Mecha‐ nismus, Gefühle als „values in themselves, criteria of truth, justifications for kinds of behavior“ außerhalb des realhistorischen Raums zu verstehen. 3 Wenn nun in einer solchen Ersetzung, wie sie durch das Verhalten von Dostojewskis Figuren vorgeschlagen wird, individuelle, nationale oder Klassen-Gefühle (oder eine Mischung aus allen) den fehlenden Raum der Rationalität ausfüllen dürfen, können sie zu einer theoretischen Rechtfertigung für soziale und politische Schrecken werden und so die Existenz einer Welt ermöglichen, in der „a man, his breast swelling with lyric fervor, commits atrocities in the sacred name of love“. 4 Ein Beispiel für einen solchen emotionalisierten Raum ist jener historische Ort, an dem die Russen den Tschechen begegnen und sie davon überzeugen, dass ihre militärischen Taten statt der jeder Besatzung innewohnenden Gewalt in Wirklichkeit ihre Liebe und Sorge um die Zukunft des besetzten Landes befördern. Nach der Renaissance, so Kundera, wurde diese Art von Gefühlsduselei im Westen durch Zweifel und Vernunft ausgeglichen - eine Verschiebung und Aneignung, die den zeitgenössischen liberalen Geist dazu getrieben habe, Relativität als grundlegenden Faktor für menschliche Handlungen im Westen 198 Nikola Petković <?page no="199"?> 5 KUNDERA (1985). 6 BRODSKY, Joseph: Why Milan Kundera Is Wrong About Dostoyevsky. In: The New York Times, 17. 2. 1985. 7 In: Cross Currents 9 (1990). S.-120. zu akzeptieren. Kundera zufolge ist das Fehlen eines solchen ausgewogenen humanistischen Konzepts des Zweifels und der Vernunft genau das, was die russischen Konzepte in Bezug auf Gefühle und reale historische Taten von jenen im übrigen Europa unterscheidet. Weil es die Renaissance versäumte, habe Russ‐ land „a different balance between rationality and sentiment“ aufrechterhalten 5 - ein (Un-)Gleichgewicht, in dem „das berühmte Geheimnis der russischen Seele“ zu finden sei. Kundera ist also der Meinung, dass diese rationale Irrationalität das Ergebnis eines fehlenden Paradigmenwechsels ist, bevor sie 1968 in der Tschechoslowakei gelandet sei, transportiert von russischen Panzern. Folglich missfällt ihm Dostojewski, der Gefühl und Vernunft nicht in Einklang bringt. Er verabscheut ihn wegen seiner verführerischen Erzählungen, die von großen Emotionen durchdrungen sind, von Gefühlsausbrüchen, die sich jenseits jeder Historisierung und Relativierung jeder Kontrolle entziehen. * Kundera brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten. Der russische Emigrant Josef Brodsky war der erste, der reagierte: Having lived for so long in Eastern Europe (Western Asia to some), it is only natural that Mr. Kundera should want to be more European than the Europeans themselves. Apart from anything else, this posture must have considerable appeal for him, because it endows his past with more logical links to the present than are normally available to an exile. It also places him at a good vantage point from which to chide the West for betraying its own values (what used to be called European civilization) and for surrendering certain countries that have tried to preserve that civilization against terrifying odds. 6 Susan Sontag, die sich mit György Konrád, Danilo Kiš, Derek Walcott, Salman Rushdie, Czesław Miłosz und anderen Befürwortern einer zumindest geistigen Entkolonialisierung Mitteleuropas verbunden fühlte, wandte sich gegen diesen russischen Katheder-Ton, der ihr zeigte, dass die sowjetischen Schriftsteller kein Interesse an den als ‚Mitteleuropa‘ bezeichneten Ländern hätten, weil sie der festen Überzeugung seien, dass die Probleme der Region gelöst sein würden, nachdem die Probleme der Sowjetunion gelöst worden waren. 7 In ihrem Essay Mitteleuropa, revisited 199 <?page no="200"?> 8 The Second Wheatland Conference on Literature brachte Schriftsteller aus verschiedenen Ländern (vor allem aus der Sowjetunion und Mitteleuropa) 1988 in Lissabon zusammen, um über die Probleme ihrer Literaturen im Zusammenhang mit den neuen Entwick‐ lungen in Europa zu diskutieren. Obwohl dies im Programm nicht vorgesehen war, wurde die Frage Mitteleuropas zum Schlüsselthema einer ziemlich hitzigen und sehr kontroversiellen Diskussion, die für eine Polarisierung zwischen den sowjetischen und osteuropäischen Schriftstellern sorgte. Diese Konferenz gilt als Wendepunkt für die Aufnahme Mitteleuropas in den Hauptdiskursraum der zeitgenössischen Analyse der Weltliteratur. Ein Transkript dieser Diskussion liegt in einem Jahrbuch vor: Cross Currents 9 (1990). S.-75-124. 9 BRODSKY (1990). S.-120. 10 Ebd. S.-121. zur legendären Lisbon Conference  8 (1988) prangerte Sontag eine solche Haltung als „entsetzlich imperialistische und unmoralische Position“ an, weil diese davon ausgehe, dass die Region in russischem Besitz sei, was die Möglichkeit einer parallelen Entwicklung Mittel- und Osteuropas negiere. Die schnellste Antwort darauf kam einmal mehr von Josef Brodsky, der in seinem Versuch, die Vorwürfe zu entkräften, schrieb: Of course, it’s not an imperial position. Well, it is simply the only realistic attitude that we Russians can adopt toward the problem. And to call it ‘imperialistic’, to charge us with a sort of colonialist attitude - colonialist disregard of the cultural and political realities … Well, I think it’s terribly myopic. I would add one more thing. As an anti-Soviet concept, the concept of Central Europe is not effective. 9 Später in seiner Antwort an Susan Sontag, versuchte Brodsky auch, Autoren und Intellektuelle auf eine ähnlich inakzeptable Weise zu unterscheiden. Er war der Ansicht, dass Schriftsteller im Allgemeinen und insbesondere diejenigen, die an der Konferenz von Lissabon 1988 teilnahmen und entweder Russland oder die Überreste der Sowjetunion repräsentierten, nicht durch ein politisches System bestimmt oder definiert würden. Was einen russischen Schriftsteller ausmache, so Brodsky, sei die russische Sprache, in der er schreibe. Als solcher sei er von den Anforderungen des politischen Systems befreit, indem er in ein kulturelles Feld eintrete. Ein russischer Schriftsteller, so Brodsky, sei kein Repräsentant des sowjetischen Staates, und so obliege es ihm nicht, die russische Militärpräsenz in Mitteleuropa oder Afghanistan zu kommentieren. 10 Seine mögliche Position heute könnte ich nicht einmal mehr erahnen. * Um einen kolonialtheoretischen Diskurs zur Analyse Mitteleuropas heranzu‐ ziehen, müssen nun einige Diskussionen erwähnt werden, die in der Regel 200 Nikola Petković <?page no="201"?> 11 MIŁOSZ, ebd. S.-123. 12 Dieser Terminus bedeutet eine Art Schreiben, bei dem der Autor nicht nur einem Thema Genüge tut, sondern auch Poiesis (kreatives Schaffen) mit Ethik verbindet; vgl. dazu PETKOVIĆ, Nikola (2003): A Central Europe of Our Own: Postmodernism, Postcolonialism, Postcommunism and the Absence of Authenticity. Rijeka: Adamić. S. 91- 98. unter Schriftstellern geführt wurden und in denen die Region explizit als Kolonie angesprochen wurde. In Central European Attitudes (1986) skizziert etwa Czesław Miłosz, wie die Länder Mitteleuropas in ihrer früheren Geschichte Perioden des Wohlstands durchliefen, aber dennoch alle einer Fremdherrschaft unterworfen waren und ihren Anspruch auf nationale Identität verloren. In seiner Kritik an der kolonialen Präsenz in Mitteleuropa spricht er von fremden Mächten wie den Türken, den Österreichern, den Deutschen und den Russen. 11 Die Suche nach einem von dieser kolonialen Präsenz befreiten Modell der mitteleuropäischen Identität hatte sich u. a. anhand von Föderationen zwischen Kleinstaaten entwickelt. So brachte das Ende des Ersten Weltkriegs, in dem nicht nur die Deutschen besiegt wurden, sondern auch zwei Imperien zusammenbra‐ chen (das habsburgische und das zaristische), zwei Staatenverbände hervor: einen der Tschechen und Slowaken und einen anderen, der aus den südslawi‐ schen Gebieten bestand. Leider währte die nationale ‚Unabhängigkeit‘ von den Großmächten nicht lange, denn nur zwanzig Jahre später unterzeichneten zwei der stärksten Nationen, die Deutschen und die Russen, einen Pakt, der sie aus der Poethik 12 jeder aktiven Facette der Geschichte ausschloss. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs versklavten Mitteleuropa erneut auf ähnliche Weise wie schon vor 1914. Obwohl die Deutschen als Supermacht ver‐ schwanden, kehrte die alte imperialistische Haltung Russlands zurück (diesmal im Gewand des bolschewistischen Kommunismus), das dann kleine Länder am Rand dessen besetzte, was geografisch als Westeuropa bekannt ist. Miłosz kommentiert diese Nachkriegsrealität 1986 wie folgt: In an era of anti-colonialism, at the very moment the British Empire and the French Empire were crumbling, independent states of half of Europe were converted into colonial satrapies controlled from the outside. Those satrapies send their delegates to the United Nations - more correctly, not united nations but disunited governments. The basic fact is the border of the empire and the garrisons of its army, while the mentality of the masters is felt by the subdued populations as alien, nearly incomprehensible and barbaric. Russian self-admiration, more than that, self-worship, goes beyond the habitually expected range of national vanity and bears the mark of a 19 th -century messianism which in that part of the world left no good memories. Similarly, Russian contemporary art and literature, obstinately clinging to cliches, Mitteleuropa, revisited 201 <?page no="202"?> 13 MIŁOSZ, Czesław: Central European Attitudes. In: Cross Currents 5 (1986). S.-101-108, hier S.-103. 14 [Das war zumindest meine Vorstellung vor dreißig Jahren, als ich mich mit diesen Themen beschäftigte, und es ist jetzt erschütternd und selbstzerstörerisch, überall eine ‚mittelalterliche‘ Wiederauferstehung kleiner und größerer faschistoider National‐ staaten zu sehen. NP] frozen by censorship, seems sterile and unattractive. Yet innumerable soldiers Svejk in their dealing with Russians must pretend their reverence and gratitude for Big Brother. 13 Diese zentripetalen Bewegungen, deren Dynamik von 1526 bis 1990 zu verfolgen ist, können als langsamer Prozess der mitteleuropäischen Kolonisierung und Dekolonisierung betrachtet werden, gefolgt von vorübergehender Auflösung nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990, die als ein Öffnungsmoment angesehen werden kann, der eine postkoloniale Situation entstehen ließ. Die problematische Neugründung von Nationalstaaten konnte eine solche postkoloniale Dynamik nicht fruchtbar machen, denn eine lang andauernde Kolonisierung ermöglicht kaum ein gesteigertes Bewusstsein unter den neuen, regionalen, aber festen Machtzentren. * Das Phänomen der Neuschaffung von Nationalstaaten wirft ein Schlaglicht auf zwei ernste Probleme. Das erste ist praktischer Natur und untergräbt die Demokratien ernsthaft in ihrer Entwicklung: Es ist nämlich schwierig, der An‐ nahme nicht zuzustimmen, dass der Nationalstaat trotz der jahrhundertelangen kolonialen Zustände in Mitteleuropa eine veraltete und archaische Form der Homogenisierung von Ethnien ist, die entweder durch ein subjektives, feudales ‚Gewissen‘ eines Hegemons oder durch hegemoniale Blindheit gegenüber den zeitgenössischen Anforderungen als Ergebnis des kolonisierten Geistes hervorgebracht wird. 14 Das zweite Problem wiederum ist ein theoretisches: Der langsame Prozess der Dekolonisierung innerhalb der Region müsste im Kontext der globalen Dekolonisierung verstanden und untersucht werden, die ein halbes Jahrhundert vor dem tatsächlichen Fall der Berliner Mauer stattfand. Als nämlich das französische und das britische Imperium im Niedergang begriffen waren und beide ihre Kolonien verloren (insbesondere nach 1939), wurden die unabhängigen Staaten Mitteleuropas erneut in „koloniale Satrapien“ (Miłosz) umgewandelt. Was für den Rest der Welt das Zeitalter der Dekolo‐ nisierung war, das den 1918 begonnenen Kolonialreformen folgte, war für Mitteleuropa eine weitere Kolonisierung, die 1945 in Jalta offiziell gemacht wurde. 202 Nikola Petković <?page no="203"?> 15 KONRÁD, György: The Lisbon Conference. In: Cross Currents 9 (1990). S.-107. Es scheint nun, als ob die Teilnehmer an der weiter oben beschriebenen Debatte in ihrem Bemühen, eine (neue) Handlungsfähigkeit im postkolonialen Mitteleuropa zu beschreiben, die folgende Frage stellten: Sind alle (historisch) postmodernen mitteleuropäischen Subjekte zu Schwejks Spiegeltaktik und seiner gespielten Dummheit verdammt, oder wäre es möglich, eine Form mitteleuropäischer Subjektivität zu nutzen, um nicht nur Widerstand zu leisten, sondern auch die historische Erzählung der Region neu zu schreiben? Diese Frage wurde gegen Ende der Lissabon-Konferenz 1988 besonders lästig, und der eigentliche Konflikt wurde durch eine Bemerkung von György Konrád an die Adresse seiner russischen Kollegen ausgelöst. Sein herausfordernder Ton war vor allem eine direkte Reaktion auf die russische Schriftstellerin Tatjana Tolstaja, die, nachdem sie wiederholt nach ihrer Meinung als Intellektuelle zur russischen Militärpräsenz in Mitteleuropa, 43 Jahre nach der Befreiung von den Nazis durch die Rote Armee, gefragt worden war, sich standhaft weigerte, eine Erklärung zu diesem Thema abzugeben. Konrád stellte fest: I would like to avoid a false conversation in which I have this unpleasant feeling that colleagues from the Soviet Union talk about eternity, about the cosmos, about the insignificance of the Soviet military presence. Moreover, they say that tanks are small climactic disturbances. I don’t believe that these are small climactic disturbances. I believe very strongly that your whole attitude, your whole ethos, your literature, reflects the fact that you are quite cautious with your own reality in the sense that you feel somehow unconnected to your tanks. But I believe that sooner or later, you will have to confront the role of your country in the world. First of all, you will have to think of the world which is closest to you, which is part of Europe and which did not want the presence of your tanks, but which would like to have your presence as tourists, or as friends who come and visit and then go home. In your change of climate, I believe that it’s not enough to speak only of the necessity to rehabilitate the Russian or Soviet past. It is also necessary to review Russian imperial politics, both of the past and as it manifests itself today. With regard to Europe there should be a withdrawal, at least a military withdrawal from Europe. Central Europe was indeed liberated from the Nazis’ Third Reich by the Soviet Armies, but this took place 43 years ago, and somehow this anomaly, this provisory situation, has lasted far too long. This war situation, this state of martial law, under which we live after all, must end in this century. So the question is whether our Russian colleagues will have enough moral stance and civility to confront these questions. 15 Mitteleuropa, revisited 203 <?page no="204"?> Dies ist eine klare Aufforderung an die sowjetischen Schriftsteller, sich zu fragen, welche Art von Subjektposition und - damit - welche Art von Hand‐ lungsfähigkeit sie (auch indirekt) als Teil der geopolitischen Einheit ausüben, die sowohl die Narrative der ‚russischen Seele‘ als auch der ‚sowjetischen Dominanz‘ umfasst. Konráds zornige Bemerkung fordert nicht nur die Deko‐ lonisierung Mitteleuropas und dessen historischer Narrative, sondern stellt auch die Frage nach der Rolle der Intellektuellen in diesem historisch unver‐ meidlichen Prozess. Was ihn und andere nicht-sowjetische Teilnehmer des Runden Tisches störte, ist die Vergesslichkeit, die die russischen Schriftsteller angesichts der Tatsache an den Tag legen, dass die sowjetische Armee damals noch in Mitteleuropa stand. Sie gehen nicht nur nicht auf diesen realen Zustand ein, sondern betonen immer wieder zeitlose ästhetische Kategorien wie die ‚Schönheit des literarischen Textes‘, die ‚Bedeutung des Individuums in einem kreativen Prozess‘ oder die ‚Idee und Größe einer Nationalliteratur‘. Obwohl Konrád weiß, dass weder Tatjana Tolstaja noch Lev Anninskij (die beiden prononciertesten Gegner der Idee eines Protests gegen die sowjetische Militär‐ präsenz im Ausland) diese Panzer besitzen, ist er dennoch erstaunt, dass sie die Bedeutung einer öffentlichen Verurteilung der Situation nicht erkennen, dass sie nicht die Notwendigkeit sehen, ihre Subjektivität angesichts dieser historischen Fakten zu erkennen und zu modifizieren. Da Tolstaja und Anninskij über Stimmen verfügten, die weit reichten, waren viele mitteleuropäische Schriftsteller der Meinung, dass sie die Rolle eines Intellektuellen als öffentli‐ cher Störenfried übernehmen und sich zu dieser anachronistischen kolonialen Situation im Herzen Europas äußern sollten. Die Russen hatten freilich während der Konferenz nicht nur zur Präsenz ihrer Armee in Mitteleuropa geschwiegen, sondern auch ständig die imperiale Haltung ihres Landes gegenüber dem reichhaltigen Kulturraum demonstriert, der von unterrepräsentierten Völkern bewohnt wurde, deren Kultur und Geschichte sie von ihren russischen Sojus- Satellitenstaat-bildenden Kosmonauten-Kolonisatoren stranguliert sahen. So ärgerte sich auch der jugoslawische Schriftsteller Danilo Kiš über den gepflo‐ genen „pädagogischen Ton“ seiner russischen Kollegen: I feel like a small child being taught elementary lessons by Tatyana Tolstaya and Lev Aninsky. Here we’re talking about literature, we’re talking about Central Europe, and they’re saying that from the Soviet point of view, Central Europe doesn’t exist. This pedagogical tone continues to irk me. It's a ‘Soviet’ manner of talking and I always feel it irritating. Contrary to what Lev Aninsky said, they’re talking to us not as individuals but as teachers to a group of students: ‘We Soviets are going to explain to you what literature is. Literature is something which is written by an individual.’ This is something so elementary that I’m wondering if I misunderstood something. 204 Nikola Petković <?page no="205"?> 16 KIŠ, Danilo. In: Cross Currents 9 (1990). S.-114. 17 WALCOTT, ebd. S.-115. Also, these other notions: Russia, Soviet Union, the number of deaths … (of the Soviet soldiers in liberating Europe from the Nazis). We know all this. Within this framework, there is the fact: Soviet tanks are in Central Europe … We agree that Lev Aninisky and Tatyana Tolstaya are not sitting in the tanks and aren’t driving them, but we’re interested to know whether the presence of these tanks enters into their consciousness at all. Or, is there a sort of Big Brother or Big Sister syndrome which condones the presence of these tanks? This is the problem before me. It isn’t simply a question of wanting to defend the concept of Central Europe as such; rather this idea is being promoted to counter the concept of Soviet Union so that Central Europe won't just be considered as a part of it and we will have a right to self-identity. There are small countries and small languages that don’t want to be homogenized and brought to order. 16 Auch Derek Walcott zeigte sich irritiert über das Gespräch: The imperial voice, in my opinion, dominates this conference and its range increases with every representation by European tribe, by European nation. This is not merely an historical posture of ancestry and tradition which goes under the general name of ‘civilization’. I am talking about tone. I think that is what Danilo Kiš is talking about: tone. About a linear concept of progress and experiment in literature which I find no different from the presumptions of the priest and the conquistador. 17 Das Problem mit dem sowjetischen Schriftsteller-Ehepaar Anninskij/ Tolstaja und ihrem emigrierten chaperon Brodsky war indes ganz einfach: Sie betrach‐ teten die Geschichte als eine Art fatum, das an Leo Tolstois Konzept der göttlichen Vorsehung erinnert und von dem man erwartet, dass es der kommu‐ nistischen Ideologie widerspricht - ein Schicksal, das den Völkern übergestülpt wird und als selbstverständlich vorausgesetzt werden muss. Trotz ihres prokla‐ mierten internationalistischen Kommunismus gingen die sowjetischen Schrift‐ steller weiterhin von ihrem messianischen Panslawismus aus - jener russischen Version, die im Gegensatz zur Akzeptanz anderer slawischer Kulturkreise steht. Ein Panslawismus, der, wie uns die grausame und bestialische Gegenwart ent‐ gegenschreit, seine Kontinuität in der Zeit hat, und der, während ich gerade diese Worte formuliere, seine universelle Sprache der Gewehre, der Bomben und aller Arten von Zerstörungswaffen spricht, die die Handschrift eines unbegreiflichen zaristischen Vernichtungswahns tragen. Jetzt ist offensichtlich die Ukraine an der Reihe; die Welt sollte besser aufpassen und reagieren, denn wir sind alle, wie Martin Luther King in seinem berühmten Brief aus dem Gefängnis von Mitteleuropa, revisited 205 <?page no="206"?> 18 KING, Martin Luther: Letter from Birmingham Jail [16.04.1963]. In: https: / / www.africa .upenn.edu/ Articles_Gen/ Letter_Birmingham.html. 19 HAŠEK, Jaroslav (2021): Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Gesamtausgabe des Originalmanuskriptes, übers. von Grete Rainer. Klagenfurt: Wieser. S.-1. Birmingham sagte, gefangen und verflochten in einem unausweichlichen Netz der Gegenseitigkeit. 18 Sie könnten nun zu Recht fragen: Warum sage ich das? Oder noch besser: Wer bin ich, dass ich so etwas sage? Da ich die Ungewissheit über den Nutzwert meiner Worte nachvollziehen kann, werde ich einen alten Freund von mir einladen - jemanden, den ich im Alter von fünf Jahren kennengelernt habe und mit dem ich fast ein halbes Jahrhundert lang in Kontakt geblieben bin. Eigentlich müssten Sie ihm irgendwann einmal begegnet sein. Lassen Sie mich ihn mit den Worten seines ,Vaters‘ vorstellen: Eine große Zeit erfordert große Menschen. Es gibt verkannte, bescheidene Helden, ohne den Ruhm und die Geschichte eines Napoleon. Eine Analyse ihres Charakters würde selbst den Ruhm eines Alexander von Mazedonien in den Schatten stellen. Heute könnt ihr in den Prager Straßen einem schäbigen Mann begegnen, der selbst nicht weiß, was er eigentlich in der Geschichte der neuen großen Zeit bedeutet. Er geht bescheiden seines Wegs, belästigt niemanden und wird auch nicht von Journalisten belästigt, die ihn um ein Interview bitten. Wenn ihr ihn fragen wolltet, wie er heißt, würde er euch schlicht und bescheiden antworten: ‚Ich heiße Schwejk …‘ Und dieser stille, bescheidene, schäbige Mann ist wirklich der alte, brave, heldenmü‐ tige, tapfere Soldat Schwejk, der einst unter Österreich im Munde aller Bürger des Königreichs Böhmen war und dessen Ruhm auch in der Republik nicht verblassen wird. Ich habe diesen braven Soldaten Schwejk sehr lieb und bin bei der Niederschrift seiner Abenteuer im Weltkrieg überzeugt, daß ihr alle für diesen bescheidenen, verkannten Helden Sympathie empfinden werdet. Er hat nicht den Tempel der Göttin von Ephesus in Brand gesteckt wie jener Dummkopf Herostrates, um in die Zeitungen und Schulbücher zu kommen. Und das genügt. 19 Sind wir das nicht alle von Zeit zu Zeit: Schwejks? Ich habe das Gefühl, dass ich das auch sein könnte, und deshalb sage ich Folgendes: Alles, was ich zur Verteidigung meiner Integrität habe, sind Worte, und in Tagen wie diesen zu schweigen, kommt der Unterstützung der grausamen Taten eines Massenmörders gleich. Worte können nicht viel ausrichten, aber sie können die oft unsagbare und unerträgliche Empörung oder Überraschung ersetzen, die unser Schweigen ausmacht - nicht als eine Form des Rückzugs und des Aus‐ 206 Nikola Petković <?page no="207"?> weichens, sondern ein Schweigen als direktes Ergebnis des unausgesprochenen Bewusstseins, dass die Sprache, die wir kennen und die uns zur Verfügung steht, nicht geeignet zu sein scheint, eine solche Bestialität zu benennen, und dass eine neue Sprache erfunden werden muss, um „Putin“ auch nur laut auszusprechen, ohne sich zu schämen. Nun, im Moment habe ich nur Englisch (und das Deutsch meines Übersetzers), und zwar die Segmente, die ich kenne. Diese Sprache ist nicht einmal meine, was mir eine gewisse Illusion von Trost gibt, während ich versuche, das überwältigende Gefühl der Hilflosigkeit und der irrationalen Schuld eines Komplizen des Nichtstuns hinunter zu schlucken. Aber wie gesagt, ich bin ein Schriftsteller, ein Dichter sogar, was auf der Liste der harmlosen Aktivitäten von Schwächlingen noch nutzloser ist. Genau wie Lev Anninskij und Tatjana Tolstaja und ihre unterrepräsentierten mitteleuro‐ päischen Intellektuellen, die nach einer halbwegs vergleichbaren Öffentlichkeit suchten, von der aus sie die Tragödie ihrer Länder kommentieren konnten, ist ihre Vorstellung von einer überlagerten Geschichte ganz anders als die der Unterdrückerkulturen in den 1980er-Jahren, als die Konferenz, die ich in diesem Essay wieder aufleben lasse, stattfand. Im Gegensatz zu mir verzichteten Tolstaja und Anninskij darauf, ihre Sprache zu aktivieren, die zu einer Schachtel von Briefen führte - den einzigen Werkzeugen, die uns zur Verteidigung unserer Würde geblieben sind, um Miroslav Krleža zu paraphrasieren: um die Partikel der Gegenseitigkeit zu teilen, die sie sicherlich mit ihren nichtsowjetischen Kollegen teilen hätten können. Stattdessen agierten die beiden Vertreter der Invasoren aus der Perspektive hypothetischer Bösewichte heraus, indem sie sich nicht mit den tatsächlichen kolonialen Praktiken ihrer politischen und militärischen Eigentümer auseinandersetzten und sich weigerten, ihre Gedanken zu dekolonisieren. Nicht, weil sie aktiv an militärischen Operationen teilnahmen, sondern einfach, weil sie die Pflicht hatten, das Fehlverhalten ihrer Regierungen zu kritisieren, und sich entschieden, dies nicht zu tun. Das Schweigen der Schriftsteller ist gleichbedeutend mit der Zustimmung zur sowjetischen Regierung; es wird als Opportunismus und Kollaboration mit dem Kolonisator gewertet. Das war damals der Fall. Und so ist es auch heute. * So viel nun als Fazit, interim: Die hier wiedergegebene Debatte ist der Grund, warum die Konferenz von Lissabon als Meilenstein für jede künftige Analyse Mitteleuropas aus kolonialer und postkolonialer Sicht betrachtet werden muss. Obwohl solche Dynamiken in Mitteleuropa seit Jahrhunderten existieren, wurden sie in Portugal von Intellektuellen aus der ganzen Welt benannt und dem Westen zur Kenntnis gebracht. Sobald nun eine solche Diskussion über Mitteleuropa, revisited 207 <?page no="208"?> mitteleuropäischen Kolonialismus und Postkolonialismus in die Öffentlichkeit gelangt ist und in der globalen Sprache der postkolonialen Befreiungs- und Kulturtheorie ihre eigene Sprache gefunden hat, könnten künftige Studien durchgeführt werden, in denen mitteleuropäische Autoren durch den Blick der kolonialen und postkolonialen Kritik interpretiert werden sollten, die bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich dazu verwendet wurde, jene Narrative zu untersuchen, die eng mit anglo- und frankophonen Formen der Kolonisierung verbunden sind. (Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Clemens Ruthner) 208 Nikola Petković <?page no="209"?> Mitteleuropas grenzenlose Horizonte Jurko Prochasko (Inst. für Literaturforschung, Lwiw) 1. Früh wurde mir eröffnet, wurde mir von meinen Eltern und Großeltern vermit‐ telt, nahegelegt und beigebracht, was eigentlich und wer wir sind. Von früh an nahm ich diese Kunde an, übernahm diese Identifizierung mit Ehrfurcht und Entzücken, früh ward es mir zu Glaube und Bekenntnis: wir sind Galizien. Galizien war der Name für unsre Eigenart, für diese Lebenswelt, für unser Anderssein in Sprache und Benehmen, unsere Genealogie und Tradition, unser Maßstab und Kanon, für unser Ideal und die Materie unseres Idealismus. Atlantis und Ambition. Ambiguität und Ambivalenz. Wollust und Widerstand, Verstand und Verlust. Verlustlust. Selten begegneten mir je im Leben Wörter, die mehr Welten enthielten als dieses: Galizien. Es war Archiv und Manifest zugleich, Arcanum und Programm, Standard und Etalon, Sacrum und Sanctum, Wehmut und Hoffnung, Sentiment und Schema, Methode und Modell. Dieses Galizien offenbarte und verdichtete sich in allem, was zu Hause war. Im Bauhaus der Zwischenkriegszeit, in der gewaltigen Bibliothek, in den goldimprägnierten Bänden mit Frakturschrift, meist in deutscher Sprache. In der Sezession der Möbel und Textilien. In den unierten, griechisch-katholischen Residenzen und Residuen vieler meiner priesterlichen Vorfahren. In ihren über ganz Ostgalizien verstreuten Pfarren und Pfarrhäusern. In der besonderen Sprache, dem Galizisch-Ukrainischen, und der spezifischen Aussprache, in den Redewendungen und im Aussehen der älteren Generation. In der Gepflegtheit ihrer Sitten und ihren Gepflogenheiten. In den schönen, seltenen Gegenständen, die es, wie ich damals glaubte, nur in unsrer Wohnung gab und, wie sich dann zeigte, noch in einer gezählten Reihe ähnlicher Wohnungen in meiner Heimatstadt Stanislau und in unserer provinziellen Metropole, wo ich von Kind an recht oft war, in Lemberg. Und auch am Lande, in der Provinz, in den bezaubernden und angeschlagenen Kleinstädten, wo Verwandtschaft und Bekanntschaft lebte und wo man ihnen gelegentlich Besuch abstattete. Diese Gegenstände, gesät und verweht über das ganze Land, aber spärlich, überlebte <?page no="210"?> und überlebende Reste, Reliquien des alten, nicht mehr bekannten, sehr wohl geahnten Lebens, einst. Artefakte zerstörter Lebenswelten, versunkenen Epo‐ chen. Und diese Menschen, nie mehr wird es diese Menschen geben, diese Typen, die ich als Kind die Gnade hatte, zu erleben. Mit ihren Akzenten und Aktentaschen aus der Vorwelt, Akzentuierungen, ihren Manieren und Marotten, mit ihrem Witz und, was wichtiger noch, Humor: dem unverwechselbaren, kostbaren Sinn fürs Komische und Skurrile, mitunter mit eigener Skurrilität, doch immer fröhlich, niemals nihilistisch, auch nicht zynisch. Recht häufig mit zerrütteten Nerven, aber niemals bösartig. Mit ihren Kleidern und Schuhen aus der Zweiten Moderne, immer wieder repariert und immer geliebkost, antiken Uhren und Rasiermessern, Gehstöcken und Regenschirmen, Muffen und Boas, Bürotischen und Broschen, Handtaschen und Halsketten, Resten seltener Düfte an Böden leerer Flakons. Und ihre Briefe und Postkarten, geschrieben mit herrlicher Handschrift, so zierlich, graziös, so klein und klar, so präzise in dieser unscharfen, verschwommenen sowjetischen Umgebung, Zeugnis einer Eleganz in der ästhetischen Grausamkeit des Heute. Und dieser Reichtum war nur die dürftigen Überreste einer untergegangenen, vernichteten, zerstörten und geschändeten Zivilisation. Viele dieser Menschen waren vor nicht so vielen Jahren vor meiner Geburt zurückgekehrt aus einer Gegenwelt, aus einem Jenseits der Bolschewiki und des NKWD. Von jenen Urgroßvätern und Großtanten, die für immer dort geblieben waren, denen kein Weg zurück gegönnt war, war nicht die Rede. Sie hab ich nicht gekannt, sie waren Mythos. Gulag-Gezeichnete, Galizien-Geprägte. Niemals umgekehrt. Auch dieser Mythos hatte einen Namen, und der hieß Austria. Mir wurde langsam deutlich, Galizien war dessen Derivat. Diese Liaison, diese Verquickung zwischen Galizien und Österreich war auch noch eine Sache, die ich sehr früh und tief begriff. Es gibt kein Galizien ohne Österreich, aber umgekehrt - so unsere Erzählung - wohl auch. O, armes Österreich, wenn du von unsrem provinziellen Größenwahn denn wüsstest! Es waren alles einzelne, aber nicht vereinzelte Zeichen, die aus der ausge‐ prägten und gnadenlosen Hässlichkeit der Nachkommenschaft sowjetischer Provenienz herausstachen, die sie umgaben. Auch die Architektur kakanischer Provenienz stand noch in Glied und Reihe da, entfremdet, aber nicht fremd, nicht nur nicht wegzudenken, sondern geradezu die eigentliche Produzentin lokaler Atmosphäre. Relikte und Reliquien versunkener Epochen. Doch zusammenge‐ nommen ergaben sie doch Systeme, so beschädigt sie in ihrem Zusammenhang auch waren, an Zusammenhalt mangelte es nicht. Denn selten je habe ich stärkeren, stureren, solidarischeren Zusammenhalt gesehen als unter den Re‐ präsentanten dieses Systems. Diese Menschen ergaben unterirdisch ein Rhizom, 210 Jurko Prochasko <?page no="211"?> ein Pilz-Rhizom lebenslanger Geltung, meistens auch transgenerationell. Sie besuchten sich, sie schrieben sich, sie telefonierten miteinander, sie sprachen sich in der Sprache an, die vor meinen Augen verschwand, die in meinen Ohren erstarb. Ich kann sie noch, nur fehlen mir diejenigen, die mir darin auch antworten, die sie unterhalten könnten, im Zwiegespräch. Schachteln und Schatullen voller Briefe, geschrieben in der gleichen Hand‐ schrift wie im 19. Jahrhundert. Photographien in Sepia mit Prägungen von Ateliers. Und Zeichenutensilien meines Großvaters, eine Reproduktion von Böcklin, Bleistiftetui aus Blech von Graf Castell. Medizinische Diplomrollen aus Pergament mit schweren roten Doppeladlersegeln auf bunten Schnüren und dem Schriftzug sub auspiciis Imperatoris meiner Großmutter und Großtanten. Chirurgische Instrumente in einem Kästchen aus Rotholz mit einem ovalen Emblem oben, mit dem gegossenen Jahr: 1895. Das Geburtsjahr der Psychoana‐ lyse, der Jahrgang meiner Großeltern. Das große schwarze Nilpferd eines Gustav Rösler im halbrunden Zimmer mit dem riesigen Balkon. Es war dies erste Junctum: Galizien und Österreich. Unser Galizien ist ein Produkt, ein Ergebnis, eine Idee, ein Überbleibsel von Österreich. Das lebende Galizien, ein Überrest Altösterreichs. 2. Die andere himmlische Vermählung, die andere Ideenhochzeit, war: Galizien und die Ukraine. Dass diese Menschen, meine Vorfahren, geboren, erzogen, ausgebildet, sozialisiert und studiert, doktoriert und promoviert, im Krieg gekämpft, in Gefangenschaft genommen, geheiratet und habilitiert und hono‐ riert, projiziert und praktiziert in Österreich, wie selbstverständlich von einer selbstständigen Ukraine gesprochen und geträumt, und auch dafür gekämpft und in den Krieg gezogen, und später von den Sowjets genau dafür verfolgt und abgestraft. Dass dies nicht nur kein Zufall, kein Widerspruch in sich war, sondern sich bestens paarte und verband: Das war die Revelation. Galizien zu sein war also zutiefst altösterreichisch und profund neuukrainisch auf einmal. Auch das war selbstverständlich kein Sonderfall. Die europäischen Natio‐ nalismen des 19. Jahrhunderts haben es zutage gefördert, dass irgendwann die meisten Menschen der Doppelmonarchie sich eben auch in dieser Dop‐ pelidentität sahen, Teile der habsburgischen Zivilisation und Träger je ihrer partikulären und Nationalideen, praktikable und praktizierende Agenten ihrer Nationalbewegungen. Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 211 <?page no="212"?> Genau das war damals die Grundlage für die Entstehung Mitteleuropas. Diese Kombination von imperialer Erfahrung und nationalen Bestrebungen. Die Er‐ fahrungsgemeinschaft souveräner Nationen mit einer gewaltigen gemeinsamen Erbmasse. Man wollte eben beides: die eigene Eigenart und Eigenständigkeit bewahren und exponieren, nicht zulassen, dass sie in einer großen verallgemeinernden Allgemeinheit aufgehen - und den Zugang zu den Vorteilen großer Kontexte und Zusammenhänge bewahren. Keine einfache Algebra, keine leichte Äquilib‐ ristik, keine klar scheinende Agenda. Unterwegs, im Hintergrund, lagen Jahrhunderte von Vielfalt und Zusammen‐ leben, dieser Erfahrung virtuosen Umgangs mit Vielfalt und Anderssein des Anderen und auch sich selbst, die Kompetenz der Komplexität, die nicht immer einfach auszuhalten war und sich wohl immer wieder nach Vereinfachung sehnte und in Simplifizierungsversuchen und -versuchungen durchbrach. Aber auch den Nutzen und das Nützen von Sich-Aufeinander-Beziehen, nicht nur Aufeinander-Angewiesen-Sein lehrte, am Ende wohl auch etwas vom Genießen dessen hatte. Denn selbst in einer kleinen Lebenswelt wurde es nie langweilig und eintönig, aufgrund und dank dieser Diversität, vielleicht auch dieser Vielfalt. Das Paradoxe und so schwer Vereinbare bei der Idee Mitteleuropas war ja, dass ihre Voraussetzungen nur unter den Bedingungen eines Imperiums, wenn auch eines verhältnismäßig und weitgehend liberalen, entstehen konnten. Denn Mitteleuropa bedeutet nicht allein ein Maximum an Vielfalt bei einem Minimum an Raum und Territorium, nicht nur das Können im Handhaben, nicht nur Aushalten dieser Vielfalt, sondern auch den Kontext, wieso es überhaupt zu dieser Diversität gekommen war und warum es darin nicht zum gegenseitigen Bekämpfen oder gar Ausmerzen kommt, was davon abhält, es zu tun. Ohne die Existenzberechtigung des Habsburgerreiches wäre es niemals zu dieser Vielfalt und ihrer Existenzberechtigung gekommen. Und der erste Untergang Mitteleuropas war genau das: die gegenseitigen Versuche, diese Vielfalt zu eigenen Gunsten zu reduzieren. Und der eigentliche Reiz und Zauber dieser ersten, der latenten, Idee und Praxis Mitteleuropas bestand gerade in diesem Ding der Unmöglichkeit: deut‐ liche Profile von jeweils eigenen Identitäten zu bewahren und zu zeigen, ohne gleichzeitig weder auf die Vielfalt zu verzichten noch in den Abgrund des gegen‐ seitigen Vernichtens abzurutschen. So war die Zwischenkriegszeit beschaffen in den meisten mitteleuropäischen Ländern, wenn auch die meisten von ihnen der Versuchung nicht standhalten konnten, die unifizierten Zustände eines monoethnisch reduzierten, die Minderheiten unterdrückenden oder bestenfalls 212 Jurko Prochasko <?page no="213"?> ignorierenden, mehr oder minder zentralisierten Nationalstaates zu erreichen und herbeizuführen. Schon das allein versetzte der Utopie Mitteleuropas einen mächtigen Stoß. Doch die alten Praktiken blieben noch erhalten, die althergebrachten Fertig‐ keiten des Miteinanders, der Achtung des Andersseins, der relativen Toleranz und der alltäglichen Solidarität, ja die Anerkennung dieser Komplexität und die Demut davor, bei allem Leiden daran. Sie blieben noch, trotz aller neuen Theorien, die schlagartig Fuß fassten und sich im Nu in allumfassende Ideo‐ logien verwandelten, die wiederum bei großen Teilen zu Gewissheiten und Gebrauchsanleitungen führten, eine Weile bestehen. Und gerade da setzte die paneuropäische Auffassung eines Grafen Couden‐ hove-Kalergi an: die mitteleuropäischen Fertigkeiten und Tugenden à la Altös‐ terreich als paneuropäische, ja als europäische schlechthin herüberzuretten und als neuen Standard, neues Ideal anzustreben. Das war eben der Musilsche Mann ohne Eigenschaften, der Mitteleuropäer mit vielen Perspektiven und Konnotationen, die viel zu oft zu viel schienen und so ermüdeten. Denn das Alte Europa, Alteuropa - aber auch Mitteleuropa in dieser Lesart - befanden sich gerade in äußerster Not. Denn die beiden totalitären Ideologien dieser Zeit, der Zwischenkriegszeit, der rechte, westliche Faschismus, der groß‐ deutsche Nationalsozialismus und der östliche Bolschewismus, der Stalinismus, die sowjetische Ausprägung des realen und praktischen Kommunismus, drohten nicht nur die Gesamtheit der Welt für sich in Anspruch zu nehmen, nicht nur die Vielfalt zugunsten der Einheit und als einzig unbeirrbare Einigkeit zu zerstören, sondern auch alle Halbtöne, alle Halbfarben, alle Schattierungen zugunsten des Entweder-Oder, nicht nur der Radikalisierung, sondern geradezu der Radi‐ kalität, die Mitte zugunsten der Extreme und des Extremismus aufzuheben und auszulöschen. Spätestens jetzt sollten wir diese Entwicklungen auch als Angriffe auf Mit‐ teleuropa auffassen und auslegen: Mitteleuropa als Raum der Vermittlung, der Mittler und der geistigen Mitte, des mittleren Maßes, das allzu oft als bestenfalls zu bemitleidendes Mittelmaß verachtet und verpönt wurde, als Mittelweg zwischen den Extremen, nicht nur als Vermittlung. Denn es zeigte sich schon sehr bald, dass es keine Vermittlung geben kann zwischen den Extremen, zwischen den Radikalitäten - Rivalität, Auseinandersetzung, Konfrontation, gegenseitige Bekämpfung, die unweigerlich zum Krieg führt und unumgänglich in den Krieg mündet. Die Paneuropäer hatten ein imperiales Modell als Vorgänger und Vorläufer im Auge, das sich in ein nichtimperiales, plurales und pluralistisches, tolerantes und liberales, nichtkriegerisches und solidarisches Nachfolgemodell transformieren Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 213 <?page no="214"?> sollte. Die beiden wichtigsten Kräfte hingegen, die dieses Modell nicht tolerieren wollten, waren eben Imperien, das Großdeutsche Reich und die großrussische Sowjetunion, die sich der Auslöschung dieses Zwischenkriegszeit-Dazwischen so inbrünstig annahmen. Zwar haben der Zweite Weltkrieg und die Folgen, der Kalte Krieg und die Aufspaltung Europas in zwei Lager, in Ost und West ohne Mitte, ohne ein Dazwischen, das verhindert. Das Entstehen dieses Gedankens und dieses Gedan‐ kengutes, sowie eines Typus Menschen, den man als Mitteleuropäer bezeichnen könnte, haben sie allerdings nicht zu verhindern vermocht. Nun musste der Mitteleuropäer im Geheimen, im Verborgenen, leben und überleben und seine Zeit abwarten, da er wieder aufkeimen, ja wieder notwendig gebraucht wird. 3. Auf diesen Typus Mitteleuropäer bezog ich mich seinerzeit, indem ich schrieb: Es gab Zeiten, da wusste man noch, was ein Mitteleuropäer ist. Und wenn man es nicht genau wusste, so ahnte man es doch. Jedenfalls war man der Ansicht, man könne einen Mitteleuropäer schon bei der ersten Begegnung erkennen, selbst wenn man diese Bezeichnung noch nie gehört hatte, selbst wenn man sich immer wieder irrte. Man wusste zwar nicht immer, und mit Sicherheit wussten nicht alle, was Mitteleuropa ist. Aber Mitteleuropäer an sich … Etwas war schon im Klima, in der Konstruktion des einstigen Europas vorhanden, was die Anwesenheit des Mitteleuropäers voraussetzte und seine Existenz notwendig und unentbehrlich machte. Er hatte zu existieren, daher gab es ihn, bedingungslos, und es brauchte nicht einmal den Begriff Mitteleuropas, damit es ihn gab. Er war selbst genügend, selbstgenügsam, selbstverständlich. Er beherrschte die Kunst der Selbstbegrenzung so vollkommen, dass er manchmal tatsächlich beschränkt wirkte. Nicht etwa, weil er wirklich beschränkt gewesen wäre, das war nicht der Fall, nein, weil er sich selber beschränkte. Weil er sich selber beschränken musste. Diese Selbstbeschränkung war so offensichtlich, dass er selbst längst zur Selbstverständlichkeit geworden war. Mit einem Wort: man wusste stets, dass es ihn immer geben würde. Worin bestand nun die Selbstverständlichkeit dieses seither fast verschwun‐ denen, jedenfalls existenziell akut bedrohten Menschentypus? In der langen Dauer einiger sich deutlich wiederholender Linien der europäischen Geschichte. In zahllosen Spielarten einiger deutlich erkennbarer Motive, zur Abwechslung zwar mit diversen Peripetien dekoriert - aber unbedingt vor einem unverän‐ derten Hintergrund. Damals wurden die Ganzheit und Einheit Europas von Spannungen und Rivalitäten der Ambitionen definiert, und Frieden oder Krieg 214 Jurko Prochasko <?page no="215"?> hingen von deren Gleichgewicht ab. Um dieses Gleichgewicht aufrechtzuer‐ halten, brauchte man Geiseln, Zeugen und potenzielle Opfer. Sowie Schuldige ex post. Man brauchte Missionen und Objekte dieser Missionen. Man brauchte Räume, die bald zu Zwischenräumen wurden, waren sie doch kein gemeinsamer Raum, sondern der Raum gemeinsamer und gegenseitiger Ansprüche. Das dauerte etwa 300 Jahre. So entstand Mitteleuropa. Es entstand deshalb, weil alle es brauchten. Letztendlich, viel später, stellte sich heraus, dass es auch sich selbst zugutekommt. Dass es sich auch selber brauchte. Daher kamen die Einschränkungen für Mitteleuropäer nur selten, und lange Zeit nicht von innen heraus. Und meistens handelte es sich dabei nicht um sich selbst auferlegte Imperative. Nicht immer wusste der Mitteleuropäer - ehrlich gesagt, meist wusste er es nicht -, dass er ein Mitteleuropäer ist. Trotzdem war er gerade deshalb eher noch mehr als weniger Mitteleuropäer. Die heutigen aus mitteleuropäischen Ländern stammenden Europäer sind davon überzeugt, Mitteleuropäer zu sein, aber in den meisten Fällen sind sie das nicht. Was macht nun diesen geheimnisvollen Menschentypus aus? Intuitiv ahnten seine Vertreter, dass sie zum Westen - zum Westen Europas, aber auch zum Westen schlechthin, Westen als Konstrukt - eher nicht gehören. Dazu war ihr Leben zu unbestimmt, statt bestimmend zu sein, zu unsicher, um überheblich oder zumindest selbstsicher zu werden, zu veränderbar, um von der Idee einer Teleologie überzeugt zu sein. Ihre Theologie bestand im Unglauben, im fehlenden Glauben an jegliche Teleologie. Dazu boten ihnen das Leben und die Geschichte zu wenig Kontinuitäten, dafür umso mehr Brüche und Risse. Ihre Anpassungsfähigkeit war enorm, aber eben nicht grenzenlos. Und genau dies unterschied den Mitteleuropäer vom Osteuropäer. Der Mitteleuropäer war nicht eingeschüchtert genug, um größenwahnsinnig zu werden. Historisch gesehen. Er war ehrgeizig, aber selten eitel, persönlich schon, aber historisch eher nicht. Tüchtig, aber nur selten eifrig. Denn der Mitteleuropäer wusste genau, dass es nicht er selbst war, der die Grenzen der ihm anvertrauten Territorien bestimmte, sondern dass er sich mit von Anderen bestimmten Grenzen begnügen und darin zurechtkommen musste, innerhalb derer er seine Kreativität entfalten konnte. Die Begrenztheit von außen wurde ausgeglichen durch einen grenzenlosen inneren Raum. Große politische Strategien blieben daher die Sache der Anderen. Sowohl im Westen als auch im Osten. Das machte sie so anders als Mitteleuropäer und so ähnlich für Mitteleuropäer. Wenn diese etwas Großes vollbringen wollten (was auch recht häufig geschah), dann gingen sie entweder in sich - oder in die Emigration. Beide Wege waren gut. Der dritte Weg - da zu bleiben, wo Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 215 <?page no="216"?> man ist - war, statistisch gesehen, der häufigste. Im Falle der Auswanderung entschied man sich meist lieber für den Westen als für den Osten. Vorausgesetzt, man emigrierte freiwillig. Denn die unfreiwillige Emigration führte dann doch meistens nach Osten. Diese historische Erfahrung saß im Mitteleuropäer so tief, dass er, wenn er sich freiwillig zur Emigration entschloss, unweigerlich nach Westen ging. Denn die eigentliche Stärke des Mitteleuropäers bestand darin, dass er aus seiner - nicht selbst gewählten, sondern ihm zugefallenen - Mitte heraus die beiden anderen Richtungen, Osten und Westen, in der Regel viel besser verstand, als sie oft sich selbst zu verstehen vermochten - oder auch getrauten. Osten und Westen verstanden sich zwar blendend in ihren historischen Ansprüchen. Darin waren sie sich ähnlich und einig, weil sie beide das Gleiche wollten. Nur eben von verschiedenen Seiten. Von verschiedenen Seiten Europas. Und obwohl das zwar strategisch im Gegensatz zu dem stand, was man selber wollte, war es doch philosophisch vollkommen nachvollziehbar, weil die Gelüste gleich groß waren. Diese Nachvollziehbarkeit suggerierte ein Gefühl von Ebenbürtigkeit. Und überhaupt: Respekt muss nicht immer ein Gegensatz zu Hass sein. Respekt muss ja nicht einmal immer das Gegenteil von Verachtung sein. Westen und Osten achteten und verachteten einander gleichermaßen und gleichzeitig. Nur missachten konnten sie einander nicht, weil sie nicht wagten, einander auch nur für einen Augenblick aus den Augen zu verlieren. Mitteleuropa hingegen wurde von beiden missachtet, die über es hinweg einander unentwegt im Auge behielten. Mitteleuropa wiederum konnte es sich nicht leisten, einen der beiden An‐ deren, Osten oder Westen, zu missachten. Vielmehr war es dazu verurteilt, die beiden genau zu fixieren, weil nie ganz klar war, was sie als Nächstes anstellen würden. Fest stand nur, dass sie auf jeden Fall etwas im Schilde führten. Und meistens wurden ihre gegenseitigen Ansprüche gerade in Mitteleuropa ausgetragen. So wurde Mitteleuropa zum Maß des historischen Erfolgs für den Westen und den Osten. Das Blöde war nur, dass das für beide gleichzeitig galt. Deshalb hatte Mitteleuropa nie genug Zeit, sich auf sich selber zu konzentrieren. Es war ständig gezwungen, auf Osten und Westen gleichzeitig zu achten. So sehr sich Osten und Westen in strategischen Angelegenheiten, in großen Fragen, prächtigen Entwürfen und großartigen Würfen gut verstanden, so wenig Verständnis zeigten sie für alltägliche Belange. Für den Westen war der osteuropäische Alltag Gegenstand des Hohnes und Spottes, für den Osten hin‐ gegen war der westliche Alltag ein Objekt der Bewunderung und Nachahmung. Des Neids. Mit der sogenannten Seele verhielt es sich gerade umgekehrt. Das heißt mit dem, was sie Seele nannten. Das war eine gegenseitige Bewunderung, 216 Jurko Prochasko <?page no="217"?> ein gegenseitiges Staunen: negativ in Richtung von Westen nach Osten, positiv umgekehrt. Oder anders herum. Beide waren für einander auf diese Weise exotisch. Dieser Exotismus aber war groß und allgegenwärtig. Man verstand sich blendend darin, was man wollte, missverstand sich dagegen vollkommen darin, wie man es wollte. Da kam man ohne Vermittlung oft nicht weiter. Und dieser Mittler und Vermittler war lange Zeit der Mitteleuropäer. Er konnte zwar seine zielstrebige Identität mangels der Aufmerksamkeit für sich selbst nicht genügend ausbauen, die der Anderen und der eigenen, umso stärker wurde ihm diese Mittleridentität von seinen Umständen und Verhältnissen imprägniert. Denn die lange und be‐ ständige Beobachtung von Osten und Westen, diese im Lauf der Zeit unglaublich verfeinerte, sublimierte Sensibilität, diese, lasst uns das so nennen, ‚historische Empathie‘ haben es dem Mitteleuropäer ermöglicht, Osten und Westen genau zu erkennen und zu verstehen, für sich selbst und für die jeweils Anderen. Zu verstehen in allen Feinheiten, auf die ständig zu achten war. So nähern wir uns einer ersten Deutung des Begriffs des Mitteleuropäers. Der Mitteleuropäer war ein Europäer der Mitte nicht bloß deshalb, weil er etwa in der Mitte stand, sondern weil er sich dazwischen befand, ein Vermittlereuropäer im großen Dialog und oft genug auch im großen Konflikt zwischen West und Ost. Zu vermitteln war die eigentliche Gabe und Berufung des Mitteleuropäers. Er vermittelte alles: Sprachen, Absichten, Akzente, Leidenschaften, Seelen und Seelenschattierungen, Ideen, ja auch Humor. Diese Vermittlung war so in‐ tensiv, dass der Mitteleuropäer Eigenschaften von Ost wie West verinnerlichte. Er beherrschte alle Sprachen, auch die Sprachen des Dazwischen. Auch die Sprachen der Zwischenräume, die Zwischensprachen. Er konnte zwar meistens kein Englisch, dafür aber konnte er wunderbar lachen über die Witze aus dem Osten und Westen. Ein Mitteleuropäer findet diese beiden Witzregionen witzig. Daher lacht er sozusagen doppelt. Oder sogar dreifach: das Verhängnis und die Gabe des doppelten Lachens führen unweigerlich zum Erweitern und Vertiefen des Humorraums, also auch der Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Darin beruhte seine unheimliche Überlegenheit und sein Reichtum. Daraus hat er auch ein Humoramalgam entwickelt, das ganz eigen ist, denn es erlaubt nicht nur, über Ost- und Westwitze zu lachen, sondern auch über den Osten und Westen selbst - mit dem Osten und Westen - und obendrein über sich selbst zu lachen, und das alles gleichzeitig. Oft war das Lachen seine einzige Waffe, wenn der Druck oder auch die Bedrängnis sehr zunahm, von der einen oder anderen Seite. Oder von beiden Seiten zugleich. Das Verstehen des Humors ist ein Schlüssel zum Verstehen des Wesens. Der Mitteleuropäer hatte den Vorteil, dass er verstand. Er verstand dreifach. Oft verstand er in Bezug auf Westen und Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 217 <?page no="218"?> Osten, was diese weder von sich selbst noch vom jeweils anderen verstanden. Nicht einmal ahnten. Der Mitteleuropäer verstand sie besser als sie sich selbst. So was wird selten verziehen. Denn das Verstehen dessen, was man selbst nicht versteht, erregt immer Verdacht und kostet Sympathie. Deswegen wurde der Mitteleuropäer nicht sonderlich geliebt. Seine Gefährlichkeit bestand nicht in seiner Stärke, sondern in seinem Vermögen zu verstehen. Der Mitteleuropäer war also kein Mann ohne Eigenschaften. Er war ein Mann von dreifachen, verdreifachten, von vielfachen Eigenschaften, daher so unglaublich flexibel in seinen Kompetenzen und Fertigkeiten. Da diese Fertig‐ keiten meist zu zahlreich waren, um einen kohärenten Charakter abzugeben, schien es, als wäre er ein Mann ohne Eigenschaften. Aber der Mitteleuropäer war auch keine bloße Summe aus Ost und West, aus Ost- und Westeigenschaften. Denn darüber hinaus war er etwas Drittes, etwas durch und durch Eigenes. Die vielfältigen und vieldimensionalen Horizonte von Erwartungen, Erinne‐ rungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die multiplen Perspektiven und man‐ nigfaltigen Erscheinungsformen machten die Atmosphäre seiner Intuitionen aus, das Klima seiner Kreativität. Die Wahrscheinlichkeit, dass überdurch‐ schnittliche Ideen gerade hier entstehen, war stets etwas größer als außerhalb dieser Mitte. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung aber reichte nie an die Möglichkeiten der Ränder. Ideen werden aus dem Ungefähren geboren, doch verwirklicht werden sie im Bestimmten. Ein Mitteleuropäer wusste aus eigener Erfahrung, dass jedes Ding, jede Sache, jede Angelegenheit mindestens drei unterschiedliche Dimensionen besitzt und daher nicht so einfach, nicht so gradlinig angegangen, behandelt und benannt werden kann. Er wusste ganz genau um die Inkonsequenz, Widersprüchlichkeit und Unvollkommenheit der Welt. Auch der Ideenwelt. Nicht selten oder - seien wir ehrlich - oft genug ließ er sich von vermeintlich einleuchtenden Ideen begeistern und verführen. Die größte Schwäche des Mitteleuropäers war seine Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Der sind die Mitteleuropäer auch immer wieder verfallen. Und das erscheint mehr als verständlich in diesem Reservoir der Komplexitäten und Reservat der Komplexe. Es kommt aber dennoch einem Selbstverrat gleich. Denn die bis zur letzten Konsequenz gedachte und umge‐ setzte Aufklärung gipfelte in den linken Diktaturen, die auf die Spitze getriebene praktische Romantik in den rechten. Im einen wie im anderen Fall zerbricht die Mitte und triumphieren die Ränder. Die Mitte geht zwischen den Rändern unter. Sie verschwindet unter den Extremen. Sie zerfällt. Mitteleuropa war keineswegs nur ein Opfer der Extremismen und Totalita‐ rismen. Auch nicht bloß ein missbrauchtes Laboratorium, in dem Ost und West ihre Experimente anstellten. Nein, so unschuldig war es nicht. Im Gegenteil: 218 Jurko Prochasko <?page no="219"?> vielleicht hat es sich besonders eifrig daran beteiligt, aus eigenem Willen. Und dieser Eifer rührte wohl gerade aus der Unklarheit, Komplexität und Vieldeu‐ tigkeit seiner inneren Welt. Aus einer Vieldeutigkeit, die schwer zu ertragen war. Und die es nicht aushalten konnte oder wollte. Vielleicht versuchte Mitteleuropa gerade deshalb so oft, sich davon loszusagen, sie von sich abzuschütteln, sich in Eindeutigkeit zu flüchten. Doch bevor Mitteleuropa in die Barbarei geworfen wurde oder auch selbst in sie verfiel, indem es in Ost und West zerfiel, also aufhörte zu sein, lebte es im Versuch eines Mittelwegs. Dieser mittlere Weg war von der Skepsis gegenüber allen umfassenden und alles erklärenden Ideologien gekennzeichnet. Er wurde vom Misstrauen in verführerisch schneidige Antworten bestimmt. Er wurde getragen von einem Lebensgefühl. Die Widersprüche, Ungereimtheiten und Inkonsequenzen sind nicht nur ein integrativer Bestandteil des Lebens, sondern auch sein genuiner Ausdruck. Kein Mangel, sondern Merkmal. Das Leben findet überhaupt erst in Widersprüchen statt. Und es geht nicht nur darum, diese anzuerkennen und zu ertragen, sondern sie vielleicht sogar zu genießen, sich an ihnen zu erfreuen, aus dem schieren Gefühl der Lebensfülle heraus. Natürlich meine ich ein Mitteleuropa, das es so nie gegeben hat. Ein ideali‐ siertes Mitteleuropa, dem ich darüber hinaus noch unterstelle, ein Vermittler und vielleicht Vorläufer der Postmoderne und Postheroik (Schwejk ist ein vollendeter Typus des Mitteleuropäers) zu sein. Natürlich wurden die großen Ideologien des Westens und die Praktiken des Ostens auch hier voll gelebt und ausgetragen. Oder vielleicht sogar noch mehr als im Westen. Natürlich hatte man auch hier verzweifelt nach eindeutigen Identitäten gesucht und gerungen, nach eigenen und fremden, um sie einmal und für immer festzustellen und festzulegen. Natürlich hatte man sich auch hier sehr um die Fragen nach dem Wer und nicht so sehr darum bemüht, wie man zusammenlebt und die gemeinsame Zukunft gestaltet. Doch wenn ein Mitteleuropa überhaupt Sinn haben soll, dann ein ideales Mitteleuropa. Schon deshalb, weil wir kein anderes haben. Dabei ist es heute irrelevant, welchem verschwundenen Mitteleuropa wir nachweinen und welches wir heraufbeschwören: ob eher die kakanisch ge‐ prägte, rückwärtsgewandte Utopie, die Mitteleuropa mit der Donaumonarchie gleichsetzt, oder eher das andere, das deutsche Modell, das Mitteleuropa als einen Raum zwischen den großdeutschen und großrussischen großflächigen Einflussbereichen und -formen sieht. Es ist nicht egal, weil das keinen Unter‐ schied in der Herkunft machte, sondern weil das Ergebnis dasselbe ist: es gibt heute kein Mitteleuropa mehr. Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 219 <?page no="220"?> 4. Erst viel später, erst Ende der 1980er, drang auch bis zu mir der Begriff Mitteleuropas vor, natürlich über Kundera und Co, aber indirekt und vermittelt, obwohl es damals unvermittelt schien. Ich wusste erst nicht, was das ist und wie es gemeint ist - und doch begriff ich es gleich intuitiv. Und der Begriff gefiel mir auch auf Anhieb, ohne dass ich genau wusste, was das ist, umso besser: denn klingen tat‘s bezaubernd. Und gleich konsolidierten sich darum die Bilder bei mir: die länglichen Gesichter mit dünnen Schnurrbärten meiner Opas, die runden Brillen meiner Omas, die kargen, stoischen Gestalten in grauen Staubmänteln und Zeitung unterm Arm. Edle Köpfe mit Baskenmützen und Barett. Kostbare Manuskripte, versteckt oder gerettet vor Durchsuchung, oder verbrannt und dann aus dem Gedächtnis wiederhergestellt. Und komplexe Landschaften, verunstaltet und verkrüppelt durch kommunistische Wahnsinns‐ ideen, mit hässlichen Neubauten und riesigen Industrien. Und dennoch voller Anmut und Sanftmut. Alte Städte mit überschaubaren Topographien und gemütlichen Hauptplätzen. Alte Burgen, vom Wein bewachsen, wunderschöne Villenkolonien, dunkle Kopfsteinpflasterung, heller Stuck, markante Bahnsta‐ tionen, dunkle Apotheken und durchleuchtete Buchhandlungen und Biblio‐ theken, Antiquare und Antiquitäten. Melancholie und Witz, dezente Tragik, Spuren der Vergangenheit und Aufbruchsstimmung. Patočka, der heimlich Phänomenologie lehrt, Traktate schreibt und zum Verhör geholt wird, aus dem er nicht mehr lebend zurückkommt, doch sein Nachlass lebt und wirkt. Überhaupt die ganze phänomenologische Tradition, verwurzelt in Husserl und Masaryk. Die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Dies war damals mein Bild Mitteleuropas. Charaktere des Widerstands, Kustoden der Opposition, Archivare von bedrohten Identitäten, Verwalter des Untergrundgedächtnisses. Ästhetisch raffiniert, auch mitten in den Trümmern. Fähig, diesen Kontrast von kontaminierten Landschaften und Ordnung in den Köpfen aus- und aufrecht‐ zuerhalten. Diesen Spagat zwischen Misere und Zuversicht, kaputtem Alltag und hohem Ideal. Geschichtsgeprüft und mit Zukunftsvisionen. Auf Bildung aus und voller Skepsis. Das war damals mein Zentraleuropa. Zentral war aber damals schon dieses Bewusstsein: wir sind es auch. Mit diesem kleinen Stück Altösterreichs, Europas und der Ukraine, das wir Galizien hießen, sind wir auch unbedingt ein Teil davon. Und es galt, diesen kostbaren Schatz nicht zu verlieren, aufzubewahren und auszubauen zu einer ideellen Einheit, die ihren Zweck noch sucht. Das wurde mir zur Sucht in kommenden Jahren. Und diese Sucht war doppelt ausgerichtet: regressiv und progressiv, rückblickend und voraus‐ schauend, rückwärts und vorwärts gewandt. Ja, auch wenn es Utopie ist. Zum einen ist mir jetzt bewusst geworden, meine geliebten Vorfahren waren richtige, 220 Jurko Prochasko <?page no="221"?> ja klassische, musterhafte Mitteleuropäer, und dieses halluzinatorisch betörende Galizien, diese Halluzination Galizien, genau das war auch Mitteleuropa. Zum anderen: das ist jetzt unser Weg, den wir als Ukrainer einschlagen sollten, um wieder aus dem Nichtsein zu erscheinen, um wieder Sichtbarkeit, Konturen zu gewinnen, vielleicht ernst, aber erst mal überhaupt wahrgenommen zu werden - als Mitteleuropa. 5. Die Mitteleuropa-Debatte, geprägt von Kundera und Miłosz, von Konrád und Kultura von Jerzy Giedroyc und Castel Gandolfo, Erhard Busek haben wir hier in der damaligen Sowjetukraine verpasst, sie war schlicht zu zu, zu geschlossen, um rechtzeitig, zeitgerecht etwas mitzubekommen davon. Außerdem wiederholte sich in Kunderas Auffassung von uns genau dasselbe, was er dem Westen in Bezug auf sich selbst vorwarf und übelnahm: er zählte uns nicht zu Europa, zu keinem Europa dazu, und er gab uns einem Reich als hoffnungslos preis - dem Sowjetischen. Und wollte keine Unterschiede mehr wahrnehmen und wissen. Die Mitteleuropa-Debatte wurde mir überliefert, sie musste ich nachträglich als Erbe und Nachkomme schon erkunden und erforschen. Kundera erkunden. So begann meine Kundera-Kunde, und seine Kunde, die er verkündete, traf mich ins Herz. Seine Logik und seine Argumente. Damals, mitten in der Perestrojka, ging es uns darum, unser Stück Mitteleuropa in der Ukraine vor Ignoranz und Überstürzung, und neuer Mauer, zu retten, die alles, was östlich von Przemyśl lag, pauschal für postsowjetisch zu erklären bereit war, heilfroh, dass man das alles subsumieren kann unter dem Motto: GUS. Wie quälte mich die Ignoranz, die an sadistische Arroganz grenzte, selbst der besten nicht nur deutschen, sondern auch mancher mitteleuropäischen Freunde, die ihre Briefe und Postkarten an mich, in die für uns so ersehnte und kostbare ukrainische Souveränität gleich noch genüsslich mit diesem souvenirhaften GUS versahen. Wie hochmütig, wie arrogant waren die neuen slowakischen, ungarischen und polnischen Grenzleute, die uns so unmissverständlich an den Übergängen zeigten, dass wir nicht wie sie sind und nicht dazu gehören und nichts zu suchen haben in diesem neuen Europa! Und wie eingebildet, lehrmeisterlich und sadistisch waren die Menschen an den Konsulaten, die ihre Visa an uns vergaben oder eben nicht vergaben, nach Belieben. Dadurch, auch dadurch, wurde mir unmissverständlich klar: alle unsere Hoffnung, dass auch der Ukraine, nach deren Unabhängigkeit, der von Kundera und Co vorge‐ zeichnete mitteleuropäische Weg nach Europa beschert sein könnte, ist naiv und kollidiert mit dieser unausgesprochenen, aber verbissenen Entschiedenheit, Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 221 <?page no="222"?> diesem neuen europäischen Konsens in diesem neuen europäischen Konzert: euch ist ein anderer Platz und auch ein anderer Weg beschieden und zugedacht, nicht einer, der von der Mitteleuropa-Logik sich leiten lässt, sondern von jener der „Nachfolgestaaten“. Da wurde Jalta eigentlich zum zweiten Mal beschlossen unter dem Anschein, ja dem Vorwand, Jalta zu überwinden. Auch da war kein Mitteleuropa. Gut, mag schon sein, dass es nicht so ganz bös gemeint war. Mag sein, dass das sich gerade neu konsolidierende Europa damals auch in Russland viel Hoffnung setzte, das Gefährliche an Russland für überwunden befand. Mag auch sein, dass es sich von dem Anschein der Länder wie Belarus, Moldawien, Georgien und die Ukraine täuschen ließ und in ihnen weniger Transformationsbereitschaft vermutete, als sie bereit waren, an den Tag zu legen. Gut möglich auch, dass auch die Ukraine sich damals noch nicht gut genug kannte und ihre Veränderungswut verkannte. Nichtsdestotrotz: das alles hatte Folgen. Vor allem, dass diese Länder a priori dem Postsowjetischen zugeschrieben wurden, ohne sich besonders zu scheren um die Potenziale und die Lust nach Emanzipation von Russland und die Annäherung an die EU. Jedenfalls hatten dann diese Länder, die in dieser neuen Lage ,neues Mitteleuropa‘ hätten werden können, ganz andere Integrationsvoraussetzungen, -aussichten und daher auch -anreize als die klassischen mitteleuropäischen Länder. Das heißt so gut wie keine. Und nachträglich heißt es immerhin ja: man war im Gegenteil nicht fähig, die Gefahren wahrzunehmen, die von diesem sich als demokratisch und refor‐ mierend tarnenden Russland ausgingen. 6. Es hat also nicht gegriffen, diesmal. Auf Mitteleuropa zu setzen, schien nicht nur verspätet, antiquiert, sondern vor allem: unzeitgemäß, nicht relevant. Der Eros schien diesen Begriff und diese Idee für immer verlassen zu haben. Erstens weigerte sich das sich im Begriff der neuen Einigung befindende Europa, uns nicht nur nicht als Teil Mitteleuropas anerkennen zu wollen, sondern auch als Teil dieses Neuen Europa überhaupt. Zwar wurde für unsereins der Begriff Ostpartnerschaft erfunden, es war aber klar: es handelte sich eher darum, uns im Postsowjetischen gären zu lassen. Uns waren die Gefahren ganz offensichtlich: es gibt nichts Postsowjetisches, was Russland nicht bald wieder als Neusowjetisches, erst als seinen nicht diskutierbaren Einflussbereich, dann aber als einen integralen Teil seines Imperiums wahrnehmen würde, und das würde rascher geschehen, als den meisten lieb war. Russland braucht sich nur etwas zu erholen, wieder etwas zu Kräften kommen, und dann wird es nach uns 222 Jurko Prochasko <?page no="223"?> greifen. Das war also auch ein Rennen um die Zeit, und die Idee Mitteleuropa war dazu berufen, zu ermöglichen, dieses Rennen zu gewinnen, schneller in die europäischen Strukturen aufgenommen zu werden, als Russland sich wieder groß genug empfindet, nach seinen ehemaligen Kolonien zu greifen, um sie wieder unter seinem Primat zu beherrschen. Zweitens hatte gerade das Modell Mitteleuropa à la Kundera, das ja seit Jahrzehnten das wichtigste Prinzip und die Hauptargumentation, ja Legitima‐ tion für die geographisch gesehen mitteleuropäischen Länder war, auf einmal ausgedient. Es hat sich offenbart: Mitteleuropa war bloß ein Mittel, um dort Einlass und Aufnahme zu finden, was jetzt unter dem Begriff Europa vereinnahmt wurde: die Europäische Union. Aus der Metonymie ist zunehmend Synonymie geworden. Sobald sie in diesem Best-Europa drinnen waren, verloren sie jegliches In‐ teresse an Mitteleuropa. Der Begriff Mitteleuropa war obsolet geworden, war auf einmal antiquiert, abgenutzt, entleert, verbraucht. Und Mitteleuropa als Raum ist verschwunden. Mitteleuropa war nirgends mehr. Trotz Višegrad, trotz einer Handvoll Marginale, Intellektuelle und Künstler, die noch nostalgisch daran festhielten. Mitteleuropa hat ausgedient und abgedankt. Das waren die schlechtestmöglichen Voraussetzungen, um weiterhin darauf zu setzen. 7. Und dennoch habe ich es auch weiterhin getan. Mir war Mitteleuropa nicht verleidet, im Gegenteil. Mir war es wertvoller denn je geworden. Und das nicht nur nostalgisch, nicht nur sentimental. Oder besser: gar nicht sentimental. Denn ich musste aufpassen, dass aus diesem Sentiment kein Ressentiment wird. Alle schienen den Begriff im Stich gelassen zu haben, schienen ihn zynisch abzuwerfen, ihm den Rücken zu kehren, nur nicht ich. Mir war er viel zu wertvoll, um auf ihn zu verzichten. Es wäre nicht nur einem Verrat an den Vorfahren und allem, was mir lieb war, gleichgekommen. Und es hätte auch bedeutet: sich selbst freiwillig der Möglichkeiten zu berauben, die immer noch bestanden, ihn wieder zum Leben erwecken zu können. Es galt also Mitteleuropa umzudenken, neu zu denken, neu zu formulieren, mit neuem Leben und Elan zu erfüllen. Dazu brauchte es aber vor allem eines: es einmal und restlos von allem Territorialen zu entkoppeln, zu entknüpfen, loszulösen. Zu exterritorialisieren. Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 223 <?page no="224"?> Dann dachte ich mir: jetzt erst recht. Die so befreite Idee Mitteleuropas wurde mir zum Programm. Demnach beschloss ich als erstes, die Teile der Ukraine, die früher einmal wirklich nicht nur zum klassischen Mitteleuropa gehörten, sondern es auch tatsächlich waren, also Ostgalizien, die Bukowina und Transkarpatien, für mich eben als klassisch zu bezeichnen und so für mich beizubehalten. Die sollen sich gerne darin gerieren, sich als Mitteleuropa zu sehen und daraus auch beliebig Kapital zu schlagen, wie es ihnen lieb ist, sei es nostalgisch, sei es narzisstisch (was meistens ein und dasselbe ist oder zumindest auf das Gleiche hinausläuft), das Mitteleuropäische zu zelebrieren, etwa in Form der (vergangenen) Multikulturalität. Ich aber will jetzt einen postklassischen Begriff entwickeln von Mitteleuropa, ja eine ganze Reihe, eine Serie von Auffassungen, die, vom Räumlichen ent‐ bunden, diese Idee in immer neuen Modifikationen und Implikationen nicht bloß noch ein wenig weiterleben lassen, sondern sie produktiv und aktuell werden lassen, immer wieder aufs Neue. Ich werde darin persistieren, aber keineswegs, um sich dessen als Mittel zu bedienen, einmal irgendwo Zulassung zu finden oder ein neues Mitteleuropa auf Erden zu errichten. Sondern mein Ansinnen ging viel weiter: anhand dieser Modifikationen werde ich versuchen, beides: die Ukraine, aber auch die EU mir anzueignen. Ich lasse die Versuche, die EU überzeugen zu wollen, dass auch wir Mittel‐ europa sind. Und ich lasse die Versuche, von Ostgalizien aus das alte Modell Mitteleuropas auf die gesamte Ukraine zu erweitern. Hingegen möchte ich sehr aufmerksam beobachten, wo ich das Salz Mittel‐ europas, seine Prinzipien, und schauen, wie diese dem heutigen Europa, ganz Europa, dienstbar werden können. 8. Das eine geschah früher, als ich es ahnen konnte: die EU hat Risse gezeigt. Vom Alten Europa und Neuen Europa war die Rede. Diese Spaltung tat sich entlang vieler bedeutender Linien auf und zeigte sehr deutlich, wie uneins die EU ist, und dass so viel zu Grundsatzdebatten ansteht. Und dass Manches kaum überbrückt oder auf einen gemeinsamen, tragfähigen Nenner gebracht werden kann. Die Fragen des Nationalen, der Souveränität, der Homogenität, der Migration und Säkularisierung standen einerseits zu Debatte. Andererseits die Auffassung von Russland. Und die Auffassung von Solidarität. Aber auch die Hybris der Alten, 224 Jurko Prochasko <?page no="225"?> die mangelnde Bereitschaft, die Neuen als ebenbürtig wahrzunehmen und zu behandeln. Andererseits oft der zynische Pragmatismus der Neuen (wie oft auch der Alten). Und alles in allem das Schlimmste: der Verlust der Lust auf Europa. Die Ent‐ fremdung davon. Das Schwinden des europäischen Geistes und noch schlimmer: des europäischen Eros. Europa war auf einmal irgendwo und überall, nur nicht hier und nur nicht wir. Da musste auch eine neue Auffassung von Mitteleuropa her: mitten in Europa, Mittendrin-Sein in europäischen Angelegenheiten. Es wurde rasch klar: die neue Vermittlung muss dringend her, also die ureigene mitteleuropäische Tugend, bevor sich die EU entfremdet. Dann war sehr deutlich zu beobachten, wie stark sich Europa wieder radikali‐ siert, nicht nur ganze Gesellschaften gehen entzwei, wie etwa in Polen, Frankreich oder Großbritannien, in Belgien wie in Spanien, in Ungarn wie in … etc. Und diese immer extremer werdende Radikalisierung vollzieht sich nicht nur entlang der Linien liberal - konservativ, demokratisch - populistisch, wahr‐ heitsbestehend - postfaktisch, vorwärtsversus rückwärtsgewandt, sondern auch rationalistisch - irrationalistisch. Auch das gefährdet Europa und benötigt eine Mitte, Besonnenheit, Vermitt‐ lungsfähigkeiten. Und schließlich (aber nicht endlich): das Schwinden der Fähigkeit, sich verteidigen zu wollen. Überhaupt, sich als aktiv und tätig zu verstehen. Über‐ haupt, fähig zu sein, die Gefahren wahrzunehmen und wahrzuhaben, die darauf gerichtet sind, dieses Europa zu vernichten. Und die Gleichgültigkeit oder Angst oder beides, die Herausforderungen wahrzunehmen, die auf Europa zukommen, wenn es das bleiben will, was es ist: eine Gemeinschaft liberaler Demokratien. Und dass sie übersehen hat, dass das, worauf sie als Sicherheitsfaktor setzte und Partner sich als ein Faktor erwies, der nicht nur Mitteleuropa, sondern auch die Mitte selbst - und übrigens auch Europa insgesamt - zu vernichten trachtet und darin seine höchste Priorität, Aufgabe und teleologische Berufung sieht. 9. Mitteleuropa hat sich also in jeder Hinsicht gänzlich aufgelöst. Und das Auftau‐ chen und Sich-Profilieren des Neuen Europa innerhalb der EU konnte dem nicht wirklich Paroli bieten, es ist nicht zur Alternative geworden. Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 225 <?page no="226"?> Wiederum nicht geografisch, sondern ,positionsmäßig‘ ist aber schon ein neues Dazwischen entstanden: die Länder Europas, die sich kategorisch als Europa sehen, auch die Annäherung an die EU suchten, von dieser aber nicht zugelassen wurden. So kam es, dass sie zunehmend in diese brandgefährliche Lage kamen - zwischen den Fronten, wie sich bald zeigen wird. Nur, dass es eben Fronten sind - auch das zu begreifen hat die EU versäumt. Denn die Front hat sich zwar immer stärker verhärtet, aber nur auf der einen, der russischen Seite, während die andere Seite sie nicht nur nicht bemerken wollte, sondern sich auch weigerte, sich überhaupt ,als Seite‘ zu sehen. Obwohl es so oft und viel vermittelt wurde, erklärt und gedeutet: man blieb blind und taub, weil man nicht gestört sein wollte. 10. Derweilen geschah etwas in der Ukraine, das sie wirklich zu Mitteleuropa hat werden lassen: die Revolution der Würde. Alle klassischen, großen mitteleuropäischen Tugenden waren da: Identität, Pluralität, Solidarität. Frei, liberal, antiimperial. Souverän, zukunftsorientiert, inklusiv. Damals schrieb ich: Wir sind eine vielfältige, heterogene Gesellschaft - durch und durch mitteleuropäisch. Der Euromaidan war auch eine polyphone und pluralistische Revolution. Es ging weder um Ethnien, noch um Religionen, noch um Sprachen, auch nicht um die Frage nach einer ukrainischen ,Leitkultur‘. Im Zentrum stand vielmehr die Frage, wie wir in unserer Vielfalt, mit unseren verschiedenen Sprachen und historischen Prägungen, unseren unzähligen Familiengeschichten gemeinsam eine vernünftige, solidarische Gesellschaft aufbauen können, in der wir alle leben wollen. Verständlich und folgerichtig, dass das letzte Imperium es zerstören wollte. Denn die Idee Mitteleuropas ist mit einem Imperium nicht mehr verträglich. Es war also auch eine antikoloniale, eine emanzipatorische Revolution, die die neue alte Großmacht nicht hinnehmen wollte und unmittelbar einen Krieg gegen die Ukraine entfesselte, den wir zwar immer, von Anfang an, von 2014 eben als Krieg verstanden und auffassten, der aber in vielen Teilen Westeuropas als solcher nicht gesehen und akzeptiert werden wollte. Es war aber ebenfalls ein Krieg, der gegen eine Möglichkeit entfesselt wurde, im postsowjetischen Raum, im vermeintlich ewigen imperialen Einflussbereich, eine lebende, lebendige und lebensfähige mitteleuropäische Alternative statu‐ 226 Jurko Prochasko <?page no="227"?> ieren zu können. Dies sollte von Grund auf vernichtet werden. Damals nannte ich es Angriff auf Mitteleuropa. 11. Tragisch war nicht nur, dass Europa diese Gefahr übersah, sondern auch, dass es nicht fähig war, die ukrainischen Veränderungen zu würdigen und einzuordnen als das, was sie waren: als Erneuerung Mitteleuropas, als Erneuerungsrichtung und bald schon als Imperativ für ganz Europa, wenn es überleben will. Missverstanden, missinterpretiert, verkannt. In dieser Verkennung offenbarte sich aber auch das zunehmende Unvermögen, das Europäische zu definieren. Eine beängstigende Entfremdung Europas von europäischen Qualitäten und Werten. Eine neue Bedeutung des Mitteleuropäers drängte sich mir auf: der Mittel‐ europäer von heute ist derjenige, der Europäern Europa wieder vermitteln und nahebringen, nicht nur nahelegen kann. Und das wurden zunehmend wir Ukrainer. Indem wir den weiter westlich gelegenen und stehenden Europäern erklärten, was eigentlich in der Ukraine geschah und vor sich geht, vermittelten wir ihnen, was eigentlich Europa sein sollte und worin ihre geistige Mitte besteht. 12. Jetzt ist die Ukraine Europa. Auf den Schlachtfeldern der Ukraine, in ihrer solidarischen Zivilgesellschaft, in ihrem Verantwortungssinn für die Zukunft von ganz Europa, in ihrer Bereitschaft, Europa zu sein, Europa zu werden und Europa zu verteidigen manifestiert sich und entscheidet sich derzeit auch das Europäische schlechthin. Die Ukraine ist jetzt Mitte Europas in jeder Hinsicht. Die Haltung der Ukraine nicht nur zu ihrer Freiheit, sondern auch zu ihrer Bereitschaft, diese Freiheit zu verteidigen, enthält ein enormes Erneuerungspo‐ tenzial für ganz Europa. Und das so verstandene Mitteleuropa ist jetzt Europa schlechthin. Ohne Mitteleuropa zu sein, in diesem Sinne, in diesen neuen, vom Räumlichen endgültig losgelösten Bedeutungen, wird Europa nicht überleben können. Das Europa der Zukunft ist nur als ein einziges Mitteleuropa möglich. Halten wir noch einmal fest: Mittendrin-Sein in europäischen Belangen, Angelegenheiten, in europäi‐ schen Interessen, im europäischen Pathos und Eros. Gegen die Entfremdung von Europa innerhalb von Europa vermitteln. Mitteleuropas grenzenlose Horizonte 227 <?page no="228"?> Geistige Mitte zu bewahren, Besonnenheit walten zu lassen zwischen den Extremen und Radikalen. Die Komplexität der Welt vermitteln zu können, ohne sich selbst zu ver‐ leugnen und zu verlieren. Ja, seine Mitte zu bewahren, heißt auch, wahrhaft wehrhaft zu werden, seine eigene Wahrheit, sich selbst und alles, was uns wirklich ausmacht, was uns wert und lieb und teuer ist, auch verteidigen zu können. Höchste Zeit, zu dieser Mitte zu gelangen, sie zu erlangen. Damit es sich gelohnt hat, dem Begriff Mitteleuropa so lange diese Treue zu halten. 228 Jurko Prochasko <?page no="229"?> Basisbibliographie Kakanien Revisited; Zentraleuropa; Habsburg postcolonial; Imperial Studies BABKA, Anna (2019): postcolonial-queer. 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Ein ganz wichtiger Nebeneffekt ist, dass in diesem Versuch einer kulturellen Gesamtschau des post-kakanischen Raumes Korrespondenzen zwischen den einzelnen Literaturen und Kulturen zutage treten, die durch die nationalliteraturgeschichtliche Betrachtung oft verschattet geblieben sind. Im Fokus steht ein geweiteter Begriff von Kultur, der um Medialität und Macht kreist und in dem das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, das Paradigma der Ähnlichkeit sowie das kollektive Gedächtnis eine zentrale Rolle spielen. Weiters geht dieser Band der Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Imperialität und Kolonialismus nach sowie der Methodologie der Kulturanalyse.