eBooks

Italienische Literaturwissenschaft

Eine Einführung

1028
2024
978-3-3811-2412-1
978-3-3811-2411-4
Gunter Narr Verlag 
Maximilian Gröne
Rotraud von Kulessa
Frank Reiser
10.24053/9783381124121

Der Band bachelor-wissen Italienische Literaturwissenschaft richtet sich speziell an die Studierenden und Lehrenden in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Modulen der italienzentrierten Bachelor-Studiengänge. Er bietet eine präzise Einführung in die Verfahren der formalen Textanalyse im Kontext unterschiedlicher Medien. Darüber hinaus vermittelt er einen Überblick über die relevanten literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze, Fragestellungen und Theorien. Zahlreiche Übungen ermöglichen die rasche Anwendung und Überprüfung des Gelernten und unterstützen einen nachhaltigen Kompetenzerwerb.

<?page no="0"?> MIT ZUSATZMATERIAL Italienische Literaturwissenschaft Eine Einführung Maximilian Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser 3., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="1"?> Italienische Unbenannt-1 1 16.03.2023 14: 02: 40 Unbenannt-1 1 16.03.2023 14: 05: 31 <?page no="2"?> PD Dr. Maximilian Gröne ist Akademischer Oberrat für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Prof. Dr. Rotraud von Kulessa ist ordentliche Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Dr. Frank Reiser ist Akademischer Oberrat am Romanischen Seminar der Universität Freiburg i. Br. Idee und Konzept der Reihe: Johannes Kabatek, Professor für Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der iberoromanischen Sprachen an der Universität Zürich. narr BACHELOR-WISSEN.DE ist die Reihe für die modularisierten Studiengänge ▸ die Bände sind auf die Bedürfnisse der Studierenden abgestimmt ▸ das fachliche Grundwissen wird in zahlreichen Aufgaben vertieft ▸ der Stoff ist in die Unterrichtseinheiten einer Lehrveranstaltung gegliedert ▸ auf www.bachelor-wissen.de finden Sie begleitende und weiterführende Informationen zum Studium und zu diesem Band <?page no="3"?> Maximilian Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser Italienische Literaturwissenschaft Eine Einführung 3., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="4"?> 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2024 2., aktualisierte Auflage 2012 1. Auflage 2007 DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381124121 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Elanders Waiblingen GmbH ISSN 1864-4082 ISBN 978-3-381-12411-4 (Print) ISBN 978-3-381-12412-1 (ePDF) ISBN 978-3-381-12413-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 1 13 1.1 14 1.2 25 2 31 2.1 32 2.1.1 33 2.1.2 35 2.1.3 37 2.1.4 39 2.2 39 2.3 43 2.4 44 2.5 46 2.6 48 3 51 3.1 52 3.2 54 3.3 56 3.4 57 3.5 66 71 4 73 4.1 74 4.2 77 4.3 85 4.4 86 Inhalt Kompetenz 1: Literaturwissenschaftlich denken und arbeiten . . . . . . . . . Begriff ‚Literatur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur ,an und für sich‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur medial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Poetik des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilarten und Ständeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Italienische Renaissancepoetiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Questione della lingua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thema, Stoff, Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturwissenschaftliches Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzen aus italoromanistischen Studiengängen . . . Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Wissenschaftsbegriff der Geisteswissenschaften . . . . Wissenschaftliche Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenz 2: Literarische Texte analysieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen - Analysieren - Interpretieren . . . . . . . . . . . . . . Ebenen der Strukturanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturanalyse: Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattung Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 5 93 5.1 94 5.2 101 5.3 105 6 111 6.1 112 6.2 115 6.3 118 6.4 119 6.5 123 6.5.1 123 6.5.2 125 6.6 127 6.6.1 127 6.6.2 127 6.6.3 128 6.7 129 6.7.1 130 6.7.2 133 7 137 7.1 138 7.1.1 138 7.1.2 140 7.1.3 140 7.1.4 142 7.1.4.1 142 7.1.4.2 144 7.2 145 7.2.1 145 7.2.2 146 7.2.3 148 7.2.4 150 8 155 8.1 156 8.2 163 8.2.1 163 8.2.2 166 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petrarkistische Sonette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die literarische Dekadenz: Gabriele D’Annunzio . . . . . . . . Die hermetische Lyrik der Moderne: Eugenio Montale . . . Dramenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dramatische Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drama als Text und Aufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen der Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewichtung von Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Untergliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Offene‘ und ‚geschlossene‘ Form des Dramas . . . . . . . . . . . Übungen zur Dramenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La locandiera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carlo Goldoni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Goldonis Theaterreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsangabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse ausgewählter Passagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein überheblicher Verächter der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . Die gewitzte Herbergswirtin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sei personaggi in cerca d’autore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luigi Pirandello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pirandellos meta-teatro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsangabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispielanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epik und Erzähltextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattung Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählerische Gestaltung oder Diskurs (discorso narrativo) Stimme (la voce narrante) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 8.2.3 168 8.2.4 170 8.3 171 8.3.1 172 8.3.2 173 9 177 9.1 178 9.2 187 197 10 199 10.1 200 10.2 202 10.3 205 10.4 211 10.4.1 212 10.4.2 213 10.4.3 214 10.5 216 10.5.1 217 10.5.2 218 11 223 11.1 224 11.1.1 225 11.1.2 227 11.1.3 230 11.2 232 11.2.1 233 11.2.2 234 11.2.3 238 12 243 12.1 244 12.2 249 12.3 252 12.4 257 12.4.1 257 12.4.2 261 Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur des Erzählten oder der fabula . . . . . . . . . . . . . . . . . Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlung, Geschehen und ‚Plot‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epik analysieren - Beispiele und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manzoni und seine Promessi sposi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elio Vittorini und der Neorealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenz 3: Literarische Texte methodenorientiert interpretieren . . . . Text, Autorschaft und Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze . Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marxistische Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungen als ‚Sitz im Leben‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feldtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rezeption literarischer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptions- und Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptionsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturalismus und Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff ‚Struktur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der strukturalistische Umgang mit Texten . . . . . . . . . . . . . Semiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poststrukturalistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur, Macht und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies . . Postkoloniale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung und Zeugenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung . . . . . . . . . . Life writing und Testimonial-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 12.5 263 12.6 265 271 13 273 13.1 274 13.2 279 13.3 284 13.4 287 13.5 290 14 295 14.1 296 14.2 297 14.2.1 297 14.2.2 298 14.2.3 299 14.3 305 14.3.1 305 14.3.2 306 311 315 Mediale Simulakren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ecocritica, Ecopoetica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenz 4: Texte in anderen Medien analysieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Methoden der Filmtranskription . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tonebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exemplarische Filmanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverfilmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel einer Literaturverfilmung: Il gattopardo von Luchino Visconti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Romanvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luchino Visconti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roman und Film im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roberto Rossellini und der italienische neorealismo . . . . . . Neorealismo in Literatur und Kino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roma, città aperta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?>   Vorwort zur dritten, überarbeiteten und erweiterten Auflage Die modularisierten Studiengänge der Italoromanistik an den deutschsprachi‐ gen Universitäten haben in den letzten Jahrzehnten eine konzeptuelle Umge‐ staltung erfahren. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der sog. Bologna-Reform, die auf eine größere Vergleichbarkeit der Studienanforderungen abzielt, vor allem aber auch eine Entwicklung von fachlichen Wissensständen hin zu einem kompetenzorientierten Lehren und Lernen einfordert. Dem entspricht der Grundgedanke der Reihe bachelor-wissen, die auf die Vermittlung der grundle‐ genden wissenschaftlichen Theorien und Analysemethoden ausgerichtet ist. Der Stoff ist in 14 thematischen Einheiten auf die Kernlänge eines Semesters abgestimmt und ermöglicht die Strukturierung entsprechender universitärer Lehrveranstaltungen. Die Herangehensweise setzt auf eine fachlich-anspruchs‐ volle, zugleich jedoch verständliche Darstellung, die auf anschauliche Bei‐ spiele zurückgreift. Dabei sollen das Verständnis für zentrale fachliche Leitfra‐ gen und Problemfelder hervorgerufen werden, Techniken im Umgang mit literarischen und filmischen Texten vermittelt und eingeübt werden und durch die Möglichkeit der Selbstkontrolle ein nachhaltiger Effekt erreicht werden. Einen besonderen Stellenwert haben in diesem Zusammenhang die zahlrei‐ chen Aufgaben in den einzelnen Abschnitten, welche mit den zugehörigen und auf der website www.bachelor-wissen.de abrufbaren Musterlösungen einen in‐ teraktiven Zugang zu den Themen des Bandes eröffnen. Die vier textanalyti‐ schen und gattungsspezifischen Einheiten 4, 6, 8 und 13 werden zudem jeweils durch spezielle Übungs- und Vertiefungseinheiten ergänzt, welche die vorge‐ stellte Methodik exemplarisch anwenden und intensiviert Übungsgelegenhei‐ ten anbieten. Eine weitere Vertiefung der behandelten Aspekte findet sich in Form von Zusatzmaterialien ebenfalls auf www.bachelor-wissen.de. Der vorliegende Band der Reihe bachelor-wissen eignet sich gleichermaßen für den akademischen Unterricht wie für das Selbststudium. Er versteht sich als eine möglichst universell einsetzbare Einführung in die analytische Methodik der italoromanistischen Literatur- und Filmwissenschaft. Darüber hinaus werden wesentliche literatur- und kulturwissenschaftliche Theorien erläutert und bilden die Grundlage für den fachwissenschaftlich kompetenten Umgang mit Texten in den weiteren Studienabschnitten. Die vorliegende dritte Auflage wurde sorgfältig aktualisiert, überarbeitet und um umfangrei‐ che Partien erweitert. Augsburg/ Freiburg i.Br., August 2024 Rotraud v. Kulessa, Maximilian Gröne und Frank Reiser <?page no="11"?> Kompetenz 1: Literaturwissenschaftlich denken und arbeiten <?page no="13"?> Überblick 1 Begriff ‚Literatur‘ Inhalt 1.1 Literatur ‚an und für sich‘ 1.2 Literatur medial In diesem ersten Kapitel beschäftigen wir uns mit der Definition von ‚Literatur‘ als Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft. Wir ziehen dazu Beispieltexte aus der italienischen Literatur heran und suchen not‐ wendige oder typische Eigenschaften von Literatur. Anschließend lernen Sie einige medientheoretische Grundlagen von Literatur als Schrift-Kunst kennen. <?page no="14"?> Etymologie des Wortes ‚Literatur‘ ‚Schöne Literatur‘ Ästhetik Sprache Roman Jakobson Literarizität Aufgabe 1.1 Text 1.1 Benedetto Croce: La poesia (1936) 1.1 Literatur ,an und für sich‘ Zu Beginn unserer Ausführungen wollen wir uns dem Gegenstand unseres Studiums zuwenden. Was ist eigentlich Literatur? Diese Frage, die auf den ersten Blick geradezu banal erscheinen mag, stellt sich auf den zweiten Blick als überaus komplex dar. Widmen wir uns in einem ersten Schritt der Ety‐ mologie (Herkunft) des Wortes: Literatur, it. letteratura, stammt aus dem La‐ teinischen: litteratura = das Geschriebene, Schrifttum. Halten wir fest: Ur‐ sprünglich bezeichnet der Begriff ‚Literatur‘ alle schriftlichen Äußerungen und schließt mündliche Äußerungen dagegen aus. Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich der Begriff von einer materiellen Dimension hin zu einer qua‐ litativen. Unter Literatur wurde zunehmend die ‚schöne Literatur‘ verstan‐ den, die wiederum mit dem Begriff der ‚Dichtung‘ konkurrierte. Diese beiden Begriffe ihrerseits implizieren Definitionskriterien: so beinhaltet der Begriff ‚schöne Literatur‘ den Aspekt der Ästhetik; Dichtung wird mit der Dichte der Sprache in Zusammenhang gebracht. Ein weiteres Kriterium wäre so der Umgang mit der Sprache. In diesem Sinne stellte der Linguist Roman Jakobson 1921 folgende Frage: „Was macht aus einer sprachlichen Nachricht ein Kunst‐ werk? “ Der Unterschied zwischen Literatur bzw. Dichtung und umgangs‐ sprachlichen Texten liegt also laut Jakobson in ihrem ‚Kunstwerkcharakter‘, der mit dem Begriff der ‚Literarizität‘ umschrieben wird. Wir wollen unsere Überlegungen zum Literaturbegriff nun fortsetzen, indem wir uns einer Reihe von Texten zuwenden. ? Lesen Sie folgende Texte kurz an und überlegen Sie, welche von ihnen Sie zur Literatur im engeren Sinne zählen würden. Überlegen Sie sich weitere Unterscheidungskriterien neben den bereits angeführten. 1 - - - 5 - - - - 10 Ma che cosa è poi la letteratura? Quale è la sua definizione, ossia la sua natura, nascimento o genesi nello spirito umano, e con ciò stesso, l’ufficio suo? Ho cercato in molti libri, e in quasi tutti quelli di estetica, di poetica e di retorica, e (sarà stato per non aver cercato bene) non ho trovato risposta alla domanda, o non l’ho trovata soddisfacente; […] E affinché, d’altra parte, l’indagine procedesse con la debita avvedutezza e correttezza, ho cominciato col domandarmi se l’espressione letteraria sia da identificare con uno degli altri quattro modi di espressione […] sentimentale o immediata, la poetica, la prosastica e la pratica od oratoria; per passare poi a ricercare, nel supposto che non s’identifichi, quale sorta di relazione abbia con queste. (Croce: 1953, 1 f.) 14 1 Begriff ‚Literatur‘ <?page no="15"?> Text 1.3 Filippo Tommaso Marinetti: Marcia futurista (1916) Text 1.2 Italo Calvino: Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) 1 - - - 5 Ho riflettuto sul mio ultimo colloquio con quel Lettore. Forse la sua intensità di lettura è tale da aspirare tutta la sostanza del romanzo all’inizio, cosicché non ne resta più per il seguito. A me questo succede scrivendo: da qualche tempo ogni romanzo che mi metto a scrivere s’esaurisce poco dopo l’inizio come se già vi avessi detto tutto quello che avevo da dire. (Calvino: 1979, 197) 1.1 Literatur ,an und für sich‘ 15 <?page no="16"?> Text 1.5 Luigi Pirandello: Sei perso‐ naggi in cerca d’autore (1921) 1 Se, così come sono abietta e vile - donna, posso portar sì alto foco, - perché non debbo aver almeno un poco - di ritraggerlo al mondo e vena e stile? - 5 S’Amor con novo, insolito focile, - ov’io non potea gir, m’alzò a tal loco, - perché non può non con usato gioco - far la pena e la penna in me simile? - - 9 E, se non può per forza di natura, - pollo almen per miracolo, che spesso - vince, trapassa e rompe ogni misura. - - 12 Come ciò sia non posso dir espresso; - io provo ben che per mia gran ventura - mi sento il cor di novo stile impresso. - (Stampa: 1995, 71 f.) 1 - - - - 5 - - - - I L S U G G E R I T O R E (leggendo c. s.). “Scena Prima. Leone Gala, Guido Venanzi, Filippo detto Socrate.” Al Capocomico: Debbo leggere anche la didascalia? - I L C A P O C O M I C O . Ma si! si! Gliel’ho detto cento volte! - I L S U G G E R I T O R E (leggendo c. s.). “Al levarsi della tela, Leone Gala, con berretto da cuoco e grembiule, è intento a sbattere con un mestolino di legno un uovo in una ciotola, Filippo ne sbatte un altro, parato anche lui da cuoco. Guido Venanzi ascolta, seduto.” 10 - - - I L P R I M O A T T O R E (al Capocomico). Ma scusi, mi devo mettere proprio il berretto da cuoco in capo? - I L C A P O C O M I C O (urtato dall’osservazione). Mi pare! Se sta scritto li! - Indicherà il copione. - (Pirandello: 1937, 26 f.) 16 1 Begriff ‚Literatur‘ Text 1.4 Gaspara Stampa: Rime (1530) Abb. 1.1 Gaspara Stampa (1523- 1554) <?page no="17"?> Text 1.6 Corriere della Sera (16.04.2024) Suche nach Kriterien Paratext Text 1.7 Giovanni Boccaccio: De‐ cameron, 1,3 (ca. 1335- 1355) Dacia Maraini: “Segnali di intolleranza. Preoccupa il modo in cui esponenti politici attaccano il libro di Valentina Mira” 1 - - - 5 - - - - 10 - Che strazio sentire i politici prendersela con un libro che racconta una storia d’amore in un tempo di conflitti sociali e punta la lente sui fatti di Acca Larenzia, quartiere in cui l’autrice ha abitato per anni. Parlo di Valentina Mira e del suo bel libro dal sapore pasoliniano che si intitola Dalla stessa parte mi troverai. […] Il libro racconta la storia dell’amore fra Mario Scrocca, il giovane che dieci anni dopo il fatto, viene accusato di avere partecipato al delitto politico e una sua compagna di scuola del quartiere. Scrocca viene denunciato, arrestato e incarcerato. Ma in prigione, in una cella antisuicidio, muore in circostanze poco chiare, e il caso è chiuso come suicidio. La sua innamorata Rossella, poi diventata sua moglie, continua a sostenere che Scrocca è stato suicidato, come si usava sotto Stalin, e come si usa oggi sotto Putin. (Corriere della Sera, martedì 16 aprile 2024, p.-55) 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 E fattolsi chiamare, e familiarmente ricevutolo, seco il fece sedere e appresso gli disse: - Valente uomo, io ha da più persone intese che tu se’ savissimo e nelle cose di Dio senti molti avanti; e per ciò io saprei volentieri da te quale delle tre Leggi tu reputi la verace, o la giudaica o la saracina o la cristiana. Il giudeo, il quale veramente era savio uomo, s’avvisò troppo bene che il Saladino guardava di pigliarlo nelle parole per dovergli muovere alcuna quistione, e pensò non potere alcuna di queste tre più Luna che l’altra lodare, che il Saladino non avesse la sua intenzione; per che, come colui il qual pareva d’aver bisogna di risposta per la quale preso non potesse essere, aguzzato lo ’ngegno, gli venne prestamente avanti quello che dir dovesse; e disse: - Signor mio, la quistione la qual voi mi fate è bella, e a volervene dire ciò che io ne sento, mi vi convien dire una novelletta, qual voi udirete. Se io non erro, io mi ricordo aver molte volte udite dire che un grande uomo e ricco fu già, il quale, intra l’altre gioie più care che nel suo tesoro avesse, era uno anello bellissimo e prezioso; […] (Boccaccio: 2001, 62) Ein erster Blick auf die sieben Texte führt dazu, dass wir einige spontan, ohne sie überhaupt eingehend zu lesen, in die Kategorie Literatur einordnen, so die Texte 1.4 und 1.5, die uns aufgrund ihrer Anordnung und des Schriftbildes sofort an ein Gedicht (1.4) und ein Drama (1.5) denken lassen. Diese spontane Einordnung verdanken wir wiederum unserem Vorwissen (vgl. hermeneuti‐ scher Zirkel, Einheit 4.1), das unser Bewusstsein für literarische Gattungen (vgl. Einheit 2.2) beeinflusst. Ähnlich verhält es sich mit Text 1.6. Hier verrät uns die Quellenangabe, dass es sich um einen Zeitungsartikel handelt, den wir spontan nicht zur Literatur zählen würden. Unsere Entscheidung wird in allen drei Fällen durch textexternes Wissen bestimmt bzw. durch eine Form von Paratext (vgl. 11.2.1), d. h. in diesem Fall einen für sich sprechenden Titel, nämlich den einer bekannten italienischen Tageszeitung. Es stellt sich natür‐ 1.1 Literatur ,an und für sich‘ 17 Abb. 1.2 Giovanni Boccaccio (1313- 1375) <?page no="18"?> Zweck/ Funktion Inhalt Futurismus Abb. 1.3 Vordere Umschlagseite des Buchs Zang Tumb Tumb (1914) von Filippo Tom‐ maso Marinetti Sprache lich die Frage, warum ein Presseartikel für uns nicht zur ‚Literatur‘ zählt. Entscheidend ist hier wohl der Aspekt der Erwartung der Leserschaft, die mit der Presse vor allem den Zweck der Information verbindet. Ein weiteres Un‐ terscheidungskriterium wäre also der Zweck oder die Funktion einer schrift‐ lichen Äußerung bzw. eines Textes. Um diesen für die einzelnen Texte zu klären, müssen wir uns nun jeweils ihrem Inhalt zuwenden. In allen sieben Texten geht es im weiteren Sinne um die Literatur selbst, um das Schreiben, das Lesen, das Erzählen. Der Inhalt ist als Unterscheidungskriterium also erst einmal nicht sachdienlich. Es kommt hinzu, dass sich der Sinn der Texte 1.3 und 1.4 nicht beim ersten Lesen enthüllt. Erkennen wir Text 1.4 zwar aufgrund formaler Kriterien und aufgrund des Paratextes, nämlich des Titels (Rime), sofort als Literatur, erweist sich Text 1.3 als Problem. Nur vor dem Hinter‐ grund des Titels in Zusammenhang mit literaturhistorischem Wissen er‐ schließt sich der Sinn bzw. Unsinn und damit der Zweck dieses Textes. Der Titel sowie die Nennung des Autors weisen auf die Bewegung des Futurismus hin, der über die Literatur hinaus alle kulturellen Bereiche der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jh. umfasst. Als Begründer der Bewegung gilt Filippo Tom‐ maso Marinetti (1876-1944), der in Paris mit der französischen Avantgarde- Kultur in Berührung kam. Die Futuristen setzten sich vor allem mit der mo‐ dernen technischen Entwicklung auseinander und versuchten, Gegenstände und Figuren in Einzelteile zu zerlegen und in ihrer Bewegung darzustellen, wobei die formale Neuerung im Vordergrund stand. Der Titel unseres Textes sowie der Paratext weisen auf die Verbindung zur Musik hin, insbesondere zur Marschmusik, wodurch der Text einen militärischen Charakter erhält. In der Tat haben wir es mit einer Art literarischem Manifest zu tun, das vor allem den Zweck der Provokation erfüllt. Schauen wir uns nun Text 1.4 an. Auch hier handelt es sich um einen Text über die Dichtung selbst. Gaspara Stampa (1523-1554) verteidigt, wenn auch verschlüsselt, ihre Dichtung und vor allem die Tatsache, dass sie als Frau dichtet. Beide Texte haben eines gemeinsam: die Sprache steht im Mittelpunkt und verweist gleichsam auf sich selbst. Das Gedicht der Gaspara Stampa ist in hohem Maße komponiert bzw. strukturiert. Zunächst durch die Verse, die die Sätze in gleich lange metrische Einheiten (hier Elfsilbler, it. endecasillabo) teilen, dann durch die Strophen (2 Quartette und 2 Terzette, also ein Sonett, it. sonetto), schließlich durch den Reim, der die Worte an den Versenden durch ihren Gleichklang ab der letzten betonten Silbe assoziiert, wodurch sich für den Gesamttext das Schema / abba abba cdc dcd/ ergibt (zur lyrischen Form siehe 4.4). Weiter fallen Besonderheiten in der sprachlich-stilistischen Ge‐ staltung auf. Schon im zweiten Vers wird der reguläre Rhythmus unterbro‐ chen, indem das Substantiv „Donna“, das eigentlich in Bezug auf die Syntax (Satzbau) und den Inhalt noch in den ersten Vers gehört, in den zweiten Vers herübergezogen wird. Dieses Phänomen bezeichnet man als Enjambement. 18 1 Begriff ‚Literatur‘ <?page no="19"?> Poetizität Abweichung Deviationsstilistik im For‐ malismus ! Formalismus (‚Formale Schule‘): zwischen 1914 und 1930 in Moskau und Leningrad tätige Gruppe von Sprach- und Literatur‐ wissenschaftlern Das in den folgenden Vers übergehende Element wird damit besonders be‐ tont. ,Donna‘, die Frau, erscheint so als ein Schlüsselbegriff für das Verständ‐ nis dieses Gedichtes. In der Tat geht es um die Frau als Dichterin. Ebenso begegnen wir Metaphern wie „alto foco“ für die Liebe und Leidenschaft oder Wortspielen (Paronomasien) wie in Vers 8 („la pena et la penna“). Auf der Satzebene werden Verfahren wie das Asyndeton (unverbundene Reihung) eingesetzt, die eine verstärkende Funktion auf den Inhalt ausüben. Allen die‐ sen Eigenheiten ist gemeinsam, dass der Text eine eigentümliche, von der ‚Normalsprache‘ abweichende Sprache verwendet, die sich nicht darauf be‐ schränkt, den Inhalt des Textes darzustellen, sondern auch eine gewisse Auf‐ merksamkeit auf die Art und Weise dieser Darstellung lenkt. Diese Eigen‐ schaft von Texten bezeichnet man üblicherweise mit dem Begriff Poetizität (poeticità). Der Grad der Abweichung von der Normalsprache wird in Text 1.1 zwei‐ felsohne noch stärker akzentuiert. Der Sinn tritt hier vollkommen hinter die Sprache zurück, die als Einzelsprache nicht mehr zuzuordnen ist. Es handelt sich vielmehr um ein Spiel mit sprachlichen Phänomenen, d. h. mit Buchsta‐ ben und Lauten, die in ihrer Kombination aus Lautmalerei (Onomatopöie) und Wortspiel (Paronomasie) den Titel Marcia futurista illustrieren. Der Selbstbe‐ zug der Sprache hat hier ein sehr hohes Maß erreicht. Dasselbe gilt für den Grad der Abweichung von der Normalsprache. Das Moment der Abweichung als Kennzeichen literarischer Texte ist durch‐ aus naheliegend. Es begegnet uns in der verbreiteten Vorstellung, ‚Literatur‘ sei im Gegensatz zu alltäglicher Sprachverwendung eine Form stilistisch an‐ spruchsvollen, ‚guten‘ Schreibens - insgesamt gesehen zumindest, wobei es freilich auch ‚minderwertige‘ Literatur gibt, die diesen Anspruch zwar nicht einlöst, aber dennoch an ihm gemessen werden kann und wird. Auch Litera‐ turwissenschaftler haben auf diesen Gesichtspunkt abgehoben, am nachhal‐ tigsten die russischen Formalisten. Für sie war es die wesentliche Aufgabe von Literatur, ästhetische Wahrnehmung zu ermöglichen und zu schulen, den Leser ein ‚neues Sehen‘ zu lehren. Voraussetzung dafür war, die eingeschlif‐ fenen, gewohnten, ‚automatisierten‘ Wahrnehmungsmuster mit gezielter Verfremdung und Erschwerung der Form zu durchbrechen. Unter weitgehen‐ der Absehung vom Inhalt verstanden die Formalisten literarische Texte als Summe der ‚Verfahren‘, d. h. (verfremdender) Bearbeitungen des sprachlichen Ausdrucks (was Klang, Bildlichkeit, Rhythmus, Reim ebenso einschließt wie Metaphorik, Satzbau und Erzähltechniken). Dahinter steckt der Gedanke, dass man ein Medium - also hier Sprache, aber die Theorie galt auch etwa für die bildende Kunst und ihre Wahrnehmung - ‚spürbar‘ macht, wenn man von der Ökonomie des praktischen Gebrauchs abweicht, also etwa Sprache nicht so verwendet, wie sie im Alltag benutzt wird, sondern anders, neu - wie dies Stampas Gedicht und Marinettis Manifest tun. Innovation und Abweichung 1.1 Literatur ,an und für sich‘ 19 <?page no="20"?> Problematik der ‚Abwei‐ chung‘ ‚Imaginatives‘ Schreiben: Fiktionalität wird so zum entscheidenden Wesensmerkmal ‚poetischer‘ Sprache und damit der Literatur. Wissen wir nun, was Literatur kennzeichnet? Das Kriterium der Abwei‐ chung und Innovation besitzt den bereits erwähnten Vorteil, literarische Texte mit einem formalen Anspruch zu assoziieren, und entspricht zudem einer Menge insbesondere lyrischer Texte; indes hat es Schwächen, die nicht über‐ sehen werden dürfen. Wenn nämlich die Formalisten die innovative Über‐ bietung gewohnter sprachlicher Muster - und das heißt: der jeweils vorher‐ gehenden, etablierten literarischen Verfahren - als Wesen und Auftrag der Literatur bestimmen, dann wird deutlich, dass wir erst dann entscheiden können, ob ein Text ‚literarisch‘ ist, wenn wir wissen, ob und worin er sich von vorhergehenden literarischen Texten unterscheidet, deren Literarizität wir dann wiederum erst in Abgrenzung zur Tradition vor ihnen zu bestimmen haben und so weiter - man kommt so, streng genommen, an kein Ende. Zieht man stattdessen die ‚Alltagssprache‘ als Vergleichsgröße heran, so wird das Sprachempfinden des jeweiligen Lesers der Gegenwart zum ausschlaggeben‐ den Kriterium. Im Falle Calvinos, dessen Texte in relativer zeitlicher Nähe zu uns stehen, mag die dadurch bedingte Verzerrung noch gering sein, bei sehr alten Texten aber zeigt sich rasch, dass der Leser der Gegenwart sehr viel schwerer zu entscheiden vermag, ob ein Text von der damaligen ‚Normal‐ sprache‘ abweicht, also ‚poetisch‘ ist oder nicht (wie z. B. im Fall von Text 1.7) - ganz zu schweigen von anderen Variablen einer jeden Sprache, in der Terminologie der Linguisten etwa diatopische (d. h. regionale), diastratische (sozial-schichtenspezifische) oder diaphasische (anlassabhängige) Varietäten, die es schwer machen, eine ‚Norm‘ und damit die ‚poetische‘ Abweichung festzustellen. Und selbst wenn es ginge, macht einerseits manche Abwei‐ chung noch keine Literatur (Dialekte beispielsweise), andererseits gibt es auch Literatur, die keine wesentliche sprachliche Verfremdung erkennen lässt, wie zum Beispiel Text 1.1 und Text 1.2. Wer diese Texte liest, wird bei hinreichender Kenntnis des Italienischen zunächst kaum jenen sprachlichen oder formalen Widerstand, jene Verfrem‐ dung spüren können, die unser erster Ansatzpunkt auf der Suche nach Lite‐ rarizität gewesen war. Wenn wir Text 1.1 und 1.2 miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass die Texte sich inhaltlich beide mit der Literatur befassen. Der Text 1.1 behandelt gar die Fragestellung dieser Einheit „Was ist Litera‐ tur? “, während Text 1.2 von der Beziehung zwischen LeserIn und Schriftstel‐ lerIn handelt. Nur beim Weiterlesen von Calvinos Text bemerken wir nach gewisser Zeit den Unterschied. Der Roman bzw. die Romananfänge, von de‐ nen in dem Werk Se una notte d’inverno un viaggiatore die Rede ist, existieren in der außersprachlichen Wirklichkeit nicht. Im Gegensatz dazu behandelt Text 1.6 ein real existierendes literarisches Werk, das den LeserInnen der Ta‐ geszeitung vorgestellt wird. Mit Text 1.7 assoziieren wir dagegen spontan eine 20 1 Begriff ‚Literatur‘ <?page no="21"?> Definition Fiktivität und Fiktionalität: nicht immer identisch Fiktionalität als nur relative Kategorie erfundene - und damit literarische - Geschichte. Dies wird vor allem in dem Augenblick offenkundig, als der Jude seine Geschichte als novelletta, also als literarische Gattung, ankündigt. Auch der Text Boccaccios ist im strengen Sinne ‚unwahr‘, erfunden, wie viele andere literarische Texte, die wir übli‐ cherweise lesen. Ihr Kennzeichen ist Fiktionalität. Fiktionalität (it. fizionalità; Adj. fiktional, it. fizionale) bezeichnet die Darstellungsweise eines Textes, der seinen Inhalt als nicht real existierend präsentiert bzw. seinen Gegenstand erst im Sprechakt (z. B. der Erzäh‐ lung) selbst schafft. Fiktionalität kennzeichnet den Status einer Aussage. Fiktivität (it. fìttizietà; Adj. fiktiv, it. fittizio) bezeichnet die Existenzweise von erfundenen, nicht in der Wirklichkeit existierenden Gegenständen. Fiktivität kennzeichnet den Status des Ausgesagten. Boccaccios Text mit dem Titel Decameron ist fiktional, da die von ihm erzählte Welt nicht unabhängig von ihm existiert, er ist aber nicht fiktiv, denn den Text gibt es schließlich in unserer Realität. Die Hauptfiguren in dieser Novelle, der Jude und Saladin, hingegen sind fiktiv. Diese Unterscheidung ist wichtig, da zwar die meisten fiktionalen Texte auch ausschließlich fiktive Figuren dar‐ stellen, aber eben doch nicht alle: Historische Romane etwa lassen - teilweise oder durchgehend - realgeschichtliche, also nicht-fiktive Personen auftreten, erzeugen aber die erzählte Welt mehrheitlich selbst, sei es in Gestalt nicht verbürgter Handlungsdetails, sei es durch psychologische Innenansichten ei‐ ner historischen Person, sie sind also fiktional. Umgekehrt ist nicht jeder Text, in dem fiktive Personen eine Rolle spielen, deswegen gleich fiktional - eine literaturwissenschaftliche Studie, z. B. Text 1.1, etwa versteht sich natürlich als Sachtext, d. h. als nicht-fiktionaler, referenzieller Text (testo referenziale), auch wenn in ihr fiktive Figuren eine wichtige Rolle spielen. Ein mögliches Kriterium für Literarizität eines Textes ist demnach allein seine Fiktionalität, nicht die Fiktivität seiner Bestandteile. Nun ist es nicht immer so einfach, Fiktionalität festzustellen. Meist ist die Entscheidung nicht textintern, sondern allenfalls unter Rückgriff auf textex‐ ternes Wissen über die historische Wirklichkeit oder zumindest auf erläu‐ ternde Rahmenteile eines Textes, sog. Paratexte (paratesto, m.) wie die klä‐ rende Angabe „Roman“ auf dem Titelblatt, zu treffen. Mitunter kann sich der Fiktionalitätsstatus eines Textes sogar ändern: Die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments etwa war über lange Zeit für den abendländischen Kultur‐ kreis zweifellos ein nicht-fiktionaler Sachtext, sogar die ‚Wahrheit‘ schlecht‐ hin, heute hingegen wird sie auch als Fiktion gelesen und wohl von der Mehrheit der Leser in westlichen Gesellschaften jedenfalls als nicht im wört‐ lichen Sinne ‚wahr‘ verstanden. (Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass die Ent‐ 1.1 Literatur ,an und für sich‘ 21 <?page no="22"?> Entpragmatisierung Funktionale statt essenzia‐ listischer Kriterien Ready-mades Abb. 1.4 Marcel Duchamp: Fountain (1917) scheidung über Fiktionalität oder Referenzialität, so schwierig sie sein mag, mitunter alles andere als ‚egal‘ ist.) Lassen Sie uns jetzt noch einmal einen Blick auf Text 1.3 werfen, den wir mit dem Kriterium der ‚Abweichung‘ gekennzeichnet hatten. Formal ist der Text von einem alltagssprachlichen Gebrauch extrem weit entfernt. Darüber hinaus drängt sich uns als Leser die Frage auf: „Was wird mit diesem Text eigentlich bezweckt? “ Der Text von Benedetto Croce hingegen entlarvt sich uns schnell als wissenschaftliche Abhandlung. Er möchte mittels literatur‐ wissenschaftlicher Überlegungen den Begriff ‚Literatur‘ definieren. Text 1.3 hat für uns dagegen, von einem gewissen provokativen Effekt einmal abge‐ sehen, erst einmal keinen ersichtlichen Zweck. Er ist ‚entpragmatisiert‘. Die Bestimmung von Literatur als Summe derjenigen Texte, die unmittel‐ baren pragmatischen, also Sach- und Handlungskontexten enthoben sind, stimmt in der Tat gut mit dem gewöhnlichen Verständnis von Literatur über‐ ein. Im Gegensatz zu einem Reiseführer über die vor Neapel gelegene Insel Procida würde wohl niemand Elsa Morantes Roman L’isola di Arturo heran‐ ziehen, um sich über die Insel zu informieren (wenngleich das durchaus denkbar wäre). Allerdings bedeutet dieser Ansatz, dass wir nicht mehr Merk‐ male am Text selbst angeben können, die ihn als literarisch kennzeichnen, sondern wir uns vielmehr auf etwas außerhalb seiner, nämlich den Ge‐ brauchskontext berufen, in dem er steht: Wir wechseln von essenzialisti‐ schen, also das Wesen eines Textes betreffenden, zu funktionalen Kriterien und erkaufen uns relative Trennschärfe um den Preis, nicht mehr am Text als solchem die Literarizität festzumachen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die letzte Feststellung sind sog. Ready-mades (it. ready-made, m.). Wie der Begriff bereits andeutet, handelt es sich hierbei um vorgefertigte bzw. vorgefundene Gegenstände, die - überar‐ beitet oder nicht, neu kombiniert oder völlig unverändert - aus dem prakti‐ schen in einen künstlerischen Kontext ‚verpflanzt‘ werden. Konjunktur hatte dieses Prinzip besonders zur Zeit der künstlerischen Avantgarden in den 1910er bis 1930er Jahren, aber es besteht beispielsweise als Objektkunst bis in die Gegenwart fort. Eines der berühmtesten Ready-mades der Kunstge‐ schichte, Fountain, zeigt ein Urinal, das, sieht man einmal von der möglicher‐ weise notwendigen Demontage ab, ohne erkennbare materielle Veränderung durch den Künstler Marcel Duchamp zur Skulptur umgewandelt wurde. Es ist klar, dass mit Erreichen einer Kunstauffassung, die diese Art von künst‐ lerischem Schaffen ermöglicht, die Vorstellung von im Kunstwerk inhärenten Wesensmerkmalen überholt wird, und das gilt für alle Kunstformen, auch die Literatur, die natürlich das Ready-made ebenfalls kennt. Die für Duchamps Fountain offensichtlich besonders zentrale Frage ist: Durch welche Faktoren (außer der Position des Urinals und dem Verzicht auf Anschlüsse, die einen 22 1 Begriff ‚Literatur‘ <?page no="23"?> Aufgabe 1.2 Auslösende Faktoren ‚äs‐ thetischer‘ Aufnahme Medialer und institutionel‐ ler Kontext ‚Autor-Funktion‘ (Michel Foucault) Abb. 1.5 Jesse Bransford: Head (Michel Foucault) ‚pragmatischen‘ Umgang wenig sinnvoll erscheinen lassen) wird eine ‚ästhe‐ tische‘ Aufnahme von Artefakten ausgelöst? ? Unterbrechen Sie für einen Moment die Lektüre und beantworten Sie für sich die zuletzt gestellte Frage in Bezug auf Literatur. Die erste und augenscheinlich banalste Antwort lautet, dass Texte als Litera‐ tur rezipiert werden, wenn die jeweilige Umgebung sie als solche kennzeich‐ net; im Falle von Texten macht beispielsweise der Buchdeckel, auf dem „Ro‐ man“ steht, den Unterschied, oder auch der mündliche Vortrag bei einer Lesung in einer Buchhandlung, die Aufführung in einem Theater usw. Es gibt also bestimmte mediale und institutionelle Kontexte, die gemäß einer (meist unausgesprochenen) kulturellen Vereinbarung Entpragmatisierung und äs‐ thetischen Umgang signalisieren. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Instanz des Urhebers, des Autors, für die Kategorisierung eines Textes. Mit „Autor“ meinen wir üblicherweise dasjenige Individuum, das einen Text geschrieben hat, aber auf diesen objektiven Zusammenhang beschränkt sich der Begriff nicht, wie der Philosoph Michel Foucault (1926-1984) in seinem berühmten Aufsatz „Was ist ein Autor? “ von 1969 ausführt. Ihm geht es in kritischer Absicht darum zu zeigen, wie der ‚Autor‘ zur abstrakten Instanz mit grund‐ legender Bedeutung für die Beurteilung eines Textes wird. So ist es für einen Text nicht ohne Belang, ob er, sagen wir: Petrarca, Calvino oder einem an‐ onymen Autor zugeschrieben wird, selbst wenn sich der Text ‚objektiv‘ da‐ durch nicht ändert. Denn er ordnet sich damit in ein (typischerweise stim‐ miges oder in seiner Entwicklung erklärbares) Gesamtwerk ein, das einem vernunftbegabten und spezifisch motivierten Individuum entspringt. Der ‚Autor‘ ist nicht nur diese reale Person, sondern ein Konstrukt der Leserschaft, das auf einen Text bezogen wird, seine Einordnung, Gruppierung und Inter‐ pretation ermöglicht und die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Text‐ sinns vereinfacht (was Foucault die „Verknappung des Diskurses“, d. h. der Menge des Sagbaren, nennt). Diese ‚Autor-Funktion‘ als wesentlicher Be‐ standteil literarischer Texte ist ein Phänomen der Neuzeit - im Mittelalter waren literarische Texte ohne Autorzuschreibung gültig (man fragte nicht nach dem Individuum, das einen Text verfasst hatte), im Unterschied zu an‐ deren Textsorten, etwa medizinischen Traktaten, die sich zumindest auf eine (meist antike) Autorität berufen mussten, um als gültig anerkannt zu werden. Für unsere Fragestellung lässt sich diesen Überlegungen entnehmen, dass zum ‚literarischen Werk‘ wird, was von einem ‚Autor‘ kommt - und nicht nur umgekehrt jemand zum Autor wird, weil er ein literarisches Werk geschrieben hat. Ein banaler Text, ein kurzer handschriftlicher Tagebucheintrag etwa, wie Sie und ich ihn verfasst haben könnten, kann literarische Weihen erhalten, 1.1 Literatur ,an und für sich‘ 23 <?page no="24"?> Aufgabe 1.3 Text 1.8 Umberto Eco: Opera aperta (1962) Abb. 1.6 Umberto Eco (1932-2016) Leerstelle/ Unbestimmtheit Offenheit wenn man feststellt, dass er von Luigi Pirandello stammt: Er wird dann ediert und in dessen Gesamtausgabe publiziert, eventuell von Literaturwissen‐ schaftlern kommentiert und so fort. Selbst wenn wir nicht biographisch, son‐ dern beispielsweise textimmanent an literarische Texte herangehen, bleibt der Autor - nicht die reale Person, sondern das Konstrukt, die ‚Funktion‘ - unter Umständen für die Frage entscheidend, was überhaupt unser Gegen‐ stand ist. ? Lesen Sie nun folgenden Text von Umberto Eco und versuchen Sie ein weiteres Kriterium für die Literarizität von Texten anzuführen. […] un’opera d’arte, cioè, è un oggetto prodotto da un autore che organizza una trama di effetti comunicativi in modo che ogni possibile fruitore possa ricompren‐ dere (attraverso il gioco di risposte alla configurazione di effetti sentita come sti‐ molo dalla sensibilità e dall’intelligenza) l’opera stessa, la forma originaria imma‐ ginata dall’autore. In tal senso l’autore produce una forma in sé conchiusa nel desiderio che tale forma venga compresa e fruita cosi come egli l’ha prodotta; tut‐ tavia nell’atto di reazione alla trama degli stimoli e di comprensione della loro relazione, ogni fruitore porta una concreta situazione esistenziale, una sensibilità particolarmente condizionata, una determinata cultura, gusti, propensioni, pregiu‐ dizi personali, in modo che la comprensione della forma originaria avviene secondo una determinata prospettiva individuale. In fondo la forma è esteticamente valida nella misura in cui può essere vista e compresa secondo molteplici prospettive, manifestando una ricchezza di aspetti e di risonanze senza mai cessare di essere se stessa. […] In tale senso, dunque, un’opera d’arte, forma compiuta e chiusa nella sua perfezione di organismo perfettamente calibrato, è altresì aperta, possibilità di essere interpretata in mille modi diversi senza che la sua irriproducibile singolarità ne risulti alterata. (Eco: 1972, 26) Kehren wir noch einmal zurück zu Text 1.1 und versuchen wir Ecos Überle‐ gungen darauf anzuwenden. In der Tat erscheint das Werk formal unseren Lesegewohnheiten gegenüber zwar als abweichend, ist jedoch in sich ge‐ schlossen. Nur der Sinn offenbart sich uns nicht spontan; jeder und jede von uns könnte aus dem Text etwas anderes herauslesen. Wolfgang Iser spricht in diesem Zusammenhang von den ‚Leerstellen‘ bzw. der ‚Unbestimmtheit‘ eines Textes. Ein weiteres Kriterium für die Literarizität eines Textes wäre also sein Gehalt an Leerstellen (siehe Einheit 10.5.2) bzw. sein Grad an Inter‐ pretierbarkeit. Umberto Eco spricht in diesem Zusammenhang von der Of‐ fenheit (apertura) des Kunstwerkes. Dieses Kriterium gilt laut Iser vor allem für moderne Literatur, doch auch Gedichte der Renaissance lassen sich un‐ terschiedlich lesen. Das Sonett Gaspara Stampas wurde zu ihrer Zeit höchst‐ wahrscheinlich als Imitation Petrarcas angesehen, während wir unsere Lek‐ 24 1 Begriff ‚Literatur‘ <?page no="25"?> ‚Literatur‘: Kategorie mit klarem Zentrum und un‐ scharfen Rändern Abb. 1.7 Carlo Gozzi (1720-1806) Aufgabe 1.4 Intensiver vs. extensiver Literaturbegriff türe heute eher auf die Autoreferenzialität weiblichen Schreibens richten (Einheit 12.2). Im Text sind beide Möglichkeiten angelegt. Unsere Beispiele haben gezeigt, dass ‚Literatur‘ eine Kategorie mit recht unscharfen Grenzen ist. Die provisorischen Charakteristika, die wir anhand der Textbeispiele vorgeschlagen haben, liefern keine absoluten Kriterien in dem Sinne, dass die Zugehörigkeit eines Textes zum Bereich des Literarischen überzeitlich und unabhängig von den verschiedenen Gesellschaften, die ihn gelesen haben oder lesen werden, feststünde: Was ‚poetische‘ Sprache ist, hängt von einer schwer zu bestimmenden, zudem historisch, sozial und sogar individuell variierenden ‚Normalsprache‘ ab. Fiktionalität und Referenzialität sind, wie wir sahen, keine unveränderlichen Eigenschaften, und selbst wenn sie es wären, schiene es höchst problematisch, Fiktionalität zur Voraussetzung für Literarizität zu machen. Wie gehen wir beispielweise mit der Autobio‐ graphie, etwa Carlo Gozzis Memorie inutili (1780-98), oder den zahlreichen Dialogtraktaten der Renaissance, die häufig wissenschaftliche oder gesell‐ schaftliche Sachverhalte bzw. Fragestellungen veranschaulichen, um? Heute sind sie in allen Literaturgeschichten verzeichnet. Dieser Umstand weist ein‐ mal mehr darauf hin, dass die Beurteilung von Texten und ihrer Wichtigkeit sehr davon abhängt, was bestimmte Leser mit diesen bezwecken, warum und wie sie sie lesen - ein Kontextfaktor außerhalb des Textes selbst, wie wir im Zusammenhang mit Text-Beispiel 1.3 bereits sahen. So klar die Kategorie ‚Li‐ teratur‘ im Alltagsgebrauch auch sein mag und so sehr die erwähnten Cha‐ rakteristika auch auf viele ‚große‘ Werke (die ‚Klassiker‘) zutreffen mögen, so durchlässig zeigt sie sich an den Rändern (d. h. an untypischen Texten). Dies gilt umso mehr ab der Moderne (ungefähr ab der Mitte des 19. Jh.), wo weniger ein klares Regelsystem im Sinne von Gattungspoetiken (siehe Einheit 2) als der Anspruch permanenter Neuerung zum Kennzeichen von Literatur wird und sich damit notwendigerweise auch die Grenzen des Literarischen immer wieder verschieben. ? Suchen Sie weitere - imaginäre oder Ihnen bekannte reale - Beispiel‐ texte, die gegen die Kriterien der Poetizität und der Fiktionalität zur Bestimmung von Literatur sprechen. 1.2 Literatur medial Bisher haben wir versucht, Literatur anhand bestimmter Eigenschaften von anderen, nicht-literarischen Schriftstücken abzugrenzen. Wir haben damit einen sog. intensiven Literaturbegriff vertreten. Manche Schwierigkeit lässt sich umgehen, wenn man dagegen einen extensiven, also ausgedehnten Lite‐ raturbegriff zugrunde legt, zu unserer Eingangsdefinition zurückkehrt und 1.2 Literatur medial 25 <?page no="26"?> ! Extensiv verstanden: Li‐ teratur ist geschriebene Sprache Medium Datenträger Zeichensysteme Aufgabe 1.5 Medialität jeder Wahrneh‐ mung Literatur gemäß der Ursprungsbedeutung des Wortes als geschriebene Sprache versteht. Diese Definition umfasst ein ungleich größeres Textvolumen und freilich eine Unmenge von Schriftstücken, die gemeinhin kaum ‚Literatur‘ genannt würden (dabei, wie wir sahen, jedoch als Ready-made relativ leicht Literatur werden könnten), lenkt zugleich aber die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der bisher nicht erwähnt wurde und auch sonst häufig stillschwei‐ gend oder gar nicht beachtet wird: die Medialität von Literatur. Hier ist gleich ein klärendes Wort zum Begriff ‚Medium‘ angebracht. Er wird in zweierlei Bedeutung gebraucht. Wir bezeichnen (1) Datenträger wie Zellu‐ loidfilme, Videobänder oder DVD als „Medium“. Einen Spielfilm kann ich, die entsprechenden technischen Apparaturen vorausgesetzt, mit Hilfe aller ge‐ nannten Datenträger rezipieren, ohne dass sich der Inhalt (das, was ich sehen und hören kann) deswegen ändert. Allerdings kann der Datenträger indirekt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Inhalt ausüben: so wurden durch Publikation von Literatur in Massenmedien wie den auflagenstarken Tageszeitungen des 19. Jh. neue Leserschichten mit ihren spezifischen Erwar‐ tungen erreicht und die schriftstellerische Produktion beschleunigt und auf die Erhöhung der Verkaufszahlen ausgerichtet. Der Roman am Ende des 19. Jh. ist ohne die Massendistribution in Tageszeitungen nicht denkbar. - Wir bezeich‐ nen (2) Zeichensysteme als Medien. Das Medium des Films beispielsweise sind bewegte Bilder und Töne, das von Literatur ist die geschriebene Sprache. Im Unterschied zur Bedeutung (1) ist hier der Inhalt nicht ohne Weiteres vom Me‐ dium abkoppelbar: Während es möglich ist, einen Roman ohne Informations‐ verlust als Text auf CD-ROM zu übertragen und statt auf Papier auf dem Bild‐ schirm zu lesen (Datenträgerwechsel), kann man ihn nicht eins zu eins ins Medium (Zeichensystem) des Films überführen (es sei denn, man würde das Quellmedium selbst übernehmen, indem man alle Seiten des Buchs abfilmte). Literaturverfilmung geht zugleich mit Informationsverlust und -zugewinn ein‐ her, ist Interpretation, und zwei Verfilmungen ein und desselben literarischen Textes werden stets deutlich voneinander abweichen (siehe Einheit 14). ? Versuchen Sie vor dem Weiterlesen, einige medienspezifische Grund‐ eigenschaften von Literatur zu nennen. Der Vergleich mit anderen Me‐ dien (Zeichensystemen) wird Ihnen bei der Suche helfen, ebenso Ihre evtl. bereits erworbenen Grundkenntnisse der Linguistik. Auch wenn es uns bei der Lektüre eines fesselnd geschriebenen Romans oder bei der Betrachtung eines detailrealistischen Films so vorkommen mag, als ob wir dem Dargestellten unmittelbar begegnen, mitunter gleichsam ‚eintau‐ chen‘ könnten - worin nach wie vor einer der Hauptreize der Rezeption ge‐ rade von Literatur und Film liegt -, so bleibt es ein unhintergehbares Faktum, 26 1 Begriff ‚Literatur‘ <?page no="27"?> Linearität, Abstraktheit und Arbitrarität des sprachlichen Zeichens (Ferdinand de Saussure) Signifikant und Signifikat dass zwischen uns und diesen Inhalten ein Medium steht und stehen muss: ‚Unmittelbar‘ dringt nichts in unsere Psyche ein (lassen wir religiöse oder parapsychologische Erlebnisse einmal beiseite), und das dazwischen liegende Medium ist nie völlig transparent. Für die Literatur als ‚Wortkunst‘ liegt das mediale Apriori, die vor jeder Poetik liegenden Ausdrucksbedingungen, zunächst einmal in der Bindung an Sprache. Die Eigenschaften dieses Zeichensystems bestimmen die Eigen‐ schaften von Literatur mit. Der Begründer der strukturalistischen Sprach‐ wissenschaft, Ferdinand de Saussure (1857-1913), hat als zentrale Merkmale sprachlicher Zeichen ihre Linearität, ihre Abstraktheit und ihre Arbitrarität herausgestellt. Linear ist Sprache, weil ihre Ausdrucksseite (der Signifikant, it. significante, m., also Laute oder Buchstaben) aus aufeinanderfolgenden, nicht gleichzeitig übermittelten Zeichen und Zeichenelementen besteht - ich vernehme einen Satz normalerweise eindimensional Laut für Laut, selbst wenn ich u. U. den durch ihn übermittelten Inhalt (die Bedeutung, das Signi‐ fikat, it. significato) oder auch die grammatische Struktur des Satzes kognitiv nicht linear, sondern ganzheitlich erfasse. Literatur ist demnach eine Kunst‐ form, die in der Linearität des Nacheinanders eine Bedeutung entwickelt, im Gegensatz etwa zum Film, der zwar auch linear abläuft, aber stets gleichzeitig einen zwei- oder dreidimensionalen Bildraum eröffnet und diesen mit einer großen Bandbreite von Geräuschen, Musik oder Stimmen überlagern kann. Abstrakt ist ein sprachliches Zeichen, weil es nach de Saussure zunächst auf ein Konzept im Kopf des Sprechers oder Hörers und (noch) nicht auf ein kon‐ kretes Objekt (Referent) aus der Umwelt verweist. Ein literarischer Text lässt demnach notwendigerweise eine relativ große Unbestimmtheit vor allem in Bezug auf Konkretes - was der Leser bei dem Wort „Haus“ denkt, ist indivi‐ duell unterschiedlich, während ein Film eben dies sehr viel konkreter und detailgenauer steuert, wenn er „Haus“ ‚sagt‘, d. h. ein solches zeigt. Umgekehrt hat Literatur durch ihre mediale Grundlage eine besondere Stärke eben in der Darstellung von Abstrakta - ein Text kann „Friede“ sagen, ein Film muss, will er sich nicht seinerseits der Sprache bedienen, sondern auf sein Zeichensys‐ tem rekurrieren, Bilderfolgen entwickeln, die dem Zuschauer diese Bedeu‐ tung suggerieren, mit einem freilich viel höheren Aufwand auf der Aus‐ drucksseite und einer Fülle nicht relevanter Informationen. Arbiträr (willkürlich) sind sprachliche Zeichen in der Regel, weil zwischen ihrem Si‐ gnifikanten und ihrem Signifikat keine Motivation, d. h. natürliches Verhält‐ nis (Ursache-Wirkung, Urbild-Abbildung o. ä.), besteht, sondern Ausdruck und Bedeutung nur durch Konvention aneinander gebunden werden - es ist nicht zwingend, ein Gebäude variabler Größe mit Fenstern und Türen mit der Lautfolge <haus> zu bezeichnen, man kann es auch <casa>, <maison> oder beliebig anders nennen, wenn sich eine Sprechergemeinschaft im Gebrauch darauf einigt. Literatur ist unmittelbar abhängig von der Konvention eines 1.2 Literatur medial 27 <?page no="28"?> Kultureller Code Literatur in verschiede‐ nen ‚Aufschreibesystemen‘ (Friedrich Kittler) Aufschreibesystem von 1800 Abb. 1.8 Dichtung im Aufschreibe‐ system von 1800 Codes - ein Text in einer unbekannten Sprache ist noch nicht einmal hin‐ sichtlich des Wortlauts verständlich, von symbolischen Bedeutungen ganz abgesehen -, während der Film zunächst einmal seinen Ausdruck jenseits eines Codes vom gefilmten Objekt selbst erzeugen lässt, das Zeichen also hö‐ her motiviert ist, abbildet - was nicht heißt, dass im Film nicht auch kulturelle Codes eine zentrale Rolle spielen und ein Film nicht jenseits der unmittelbaren Bildinhalte völlig unverständlich sein kann. Die Funktion, die eine Kunstform für eine bestimmte Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt übernimmt, liegt dabei nicht allein in ihren eigenen medialen Möglichkeiten begründet, sondern ergibt sich auch aus dem Ver‐ hältnis zu konkurrierenden Kunstformen mit anderen medialen Grundlagen. Für dieses mediale Umfeld hat der Literatur- und Medienwissenschaftler Friedrich Kittler (1943-2011) den Begriff ‚Aufschreibesystem‘ geprägt. Er ver‐ steht darunter „das Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevan‐ ter Daten erlauben“ (Kittler: 2003, 501), also sowohl die zu einem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Medien (Datenträger und Zeichensysteme) als auch Einrichtungen wie Schulen oder Verlage, die den Umgang mit und den Zu‐ gang zu ihnen regeln. Die Rolle des Aufschreibesystems für ein Medium und die auf ihm beruhende(n) Kunstform(en) veranschaulicht Kittler eindrücklich in der Gegenüberstellung zweier historischer Momente: 1800 und 1900. Um 1800 hatte die Schrift das Monopol serieller Datenspeicherung. Es war das einzige Medium, das Vorgänge in ihrer Prozesshaftigkeit für die Nachwelt festhalten konnte. Diese Speicherung funktioniert nur über menschliches Be‐ wusstsein: keine Aufzeichnung ohne jemanden, der sie durchführt, nieder‐ schreibt. Insbesondere Sprache ist nur durch Schrift speicherbar. Die ent‐ scheidende Voraussetzung dafür, dass Schrift als das Universalmedium begriffen wurde, war eine millionenfache Alphabetisierung, bei der erstmals laut gelesen, Schrift an Stimme gekoppelt wurde. Im Gegensatz zu bisherigen Lernmethoden, die auf dem stummen Auswendiglernen von Wortgestalten bzw. (Bibel-)Versen beruhten, und zur mittelalterlichen Schriftkultur, wo Schreiber oft lediglich Kopisten waren und das von ihnen Kopierte gar nicht lesen konnten, sich also nur mit dem Zeichenträger (Buchstaben) ohne Be‐ deutung befassten, wurde nun dieser gleich hin zu den Lauten übersprungen, d. h. zur gesprochenen Sprache, die, so die implizite Annahme, das Denken selbst repräsentierte. Schrift wurde dadurch nach Kittler immateriell, da man die Materialität der Sprache (Tinte auf Papier, Sprechen als Körpertechnik) aus dem Blick verlor. Und sie wurde universal, weil sie das einzige serielle Speichermedium war, nunmehr von großen Teilen der Bevölkerung benutzt und zudem als Verkörperung des Denkens selbst aufgefasst wurde. Für die Dichtung als sprachliche Kunstform bedeutete dies: Da Denken und Vorstel‐ lungskraft die Grundlage aller menschlichen Produktion und insbesondere 28 1 Begriff ‚Literatur‘ <?page no="29"?> Aufschreibesystem von 1900 Abb. 1.9 Literatur im Aufschreibesys‐ tem von 1900 Zusammenfassung der Kunst ist, ging man davon aus, alles sei in Sprache überführbar, also auch Malerei und Bildhauerei, die im Gegensatz zur Dichtung an Materie (Lein‐ wand, Stein usw.) gebunden schienen, d.-h. jedes beliebige Artefakt sei letzt‐ lich ohne Informationsverlust in Dichtung zu übersetzen. So wie Schrift ‚Uni‐ versalmedium‘ war, war Dichtung ‚Universalkunst‘. Die technischen Neuentwicklungen des 19. Jh., insbesondere das Grammo‐ phon und der Film, verändern diese Situation grundlegend und führen zum Aufschreibesystem von 1900. Sie ermöglichen nun serielle Datenspeicherung ohne menschliches Bewusstsein und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Grammophon und Film speichern dabei das Reale selbst (Schallwellen auf Wachswalze, Lichtwellen auf chemisch behandeltem Papier) und nicht mehr symbolische Repräsentation (etwa in Buchstaben, die Laute verschriften) oder Bedeutung. Da gesprochene Sprache in ihrer individuellen Gestalt (Stimme) konservierbar wird und äußere Wirklichkeit durch detailreiche bewegte Bilder gespeichert werden kann, ist klar, dass Schrift und mit ihr Literatur nun nicht mehr universal sind. Zudem führen die neuen Aufzeichnungssysteme vor Au‐ gen, dass auch geschriebene Sprache von einem materiellen Zeichenträger ab‐ hängig ist - sie verliert ihren Status als quasi immaterielles Medium. Neue Me‐ dien und die entsprechenden Kunstformen ersetzen alte nicht, aber sie weisen ihnen neue Systemplätze zu, wie Kittler betont: Die ehemalige Universalkunst ‚Dichtung‘ weicht einer Schriftkunst ‚Literatur‘, die ihre Aufgaben neu zu be‐ stimmen hat. Ihr bleiben mehrere Möglichkeiten. Sie kann sich (1) auf den Be‐ reich konzentrieren, der von den konkurrierenden Medien nicht oder unzurei‐ chend erfasst wird. Dazu gehört, wie wir oben bereits sahen, alles, was nicht konkret (‚real‘) oder bildhaft (‚imaginär‘), sondern abstrakt (‚symbolisch‘) ist; so werden sprachliche Zeichen nicht mehr in den Dienst einer Wirklichkeits‐ abbildung gestellt, die von anderen Künsten wie der Photographie besser zu leisten ist, sondern absolut gesetzt - eines der poetologischen Hauptmerkmale des bereits erwähnten Futurismus. Sie kann (2) die Wiederentdeckung der ma‐ teriellen Zeichen feiern, indem sie mit Buchstaben statt (oder zusätzlich zur) Bedeutung spielt; ein Beispiel hierfür sind die Collagen von Marinetti. Oder sie ordnet sich (3) den (zunehmend erfolgreichen) Konkurrenzmedien unter, in‐ dem sie Medienwechsel (z. B. Verfilmung) bereits in der Machart des Textes einkalkuliert. Mitunter sind etwa filmische Verfahren auch in Hinblick auf eine selbstbewusste Erneuerung für Literatur adaptiert worden, z. B. in Gestalt ei‐ ner Nachahmung von Schnitt und Größeneinstellungen in der Erzähltechnik von Romanen (siehe die Einheiten 8, 9 und 13). Ausgehend von repräsentativen Beispielen aus der italienischen Literatur konnten wir im zurückliegenden Kapitel eine Reihe von literarischen Merkmalen beschreiben, die durchaus dem Allgemeinverständnis vom Wesen und Anspruch der Literatur entsprechen und dieses konkretisie‐ 1.2 Literatur medial 29 <?page no="30"?> Aufgabe 1.6  ren. Zugleich stellten wir fest, dass es keine absoluten Kriterien für Lite‐ rarizität gibt, sondern dass die Zurechnung eines Textes zur ‚Literatur‘ sehr durch den Kontext und den jeweiligen Umgang einer Gesellschaft oder eines Individuums mit ihm bestimmt wird. Charakterisiert man sehr allgemein Literatur als geschriebene Sprache, so richtet sich der Blick auf ihre medienspezifischen Funktionsbedingungen, die anhand einer histo‐ rischen Gegenüberstellung 1800 vs. 1900 illustriert wurden. ? Erstellen Sie ein graphisches Resümee der Ausführungen zum Li‐ teraturbegriff. Rubrizieren Sie dabei die verschiedenen Eingrenzungs‐ vorschläge und notieren Sie, farblich abgesetzt, jeweils Einwände und Gegenbeispiele. Eine Möglichkeit hierfür wäre eine Baumstruktur: Literatur Giovanni Boccaccio: Decameron. Milano: Mursia 2001. Italo Calvino: Se una notte d’inverno un viaggiatore. Torino: Einaudi 1979. Corriere della Sera, 16.04.2024. Benedetto Croce: La poesia. Bari: Laterza 5 1953. Umberto Eco: Opera aperta. Milano: Bompiani 1972. Michel Foucault: Was ist ein Autor? , in: Ders., Schriften zur Literatur. Frank‐ furt/ Main: Suhrkamp 2003, 234-270. Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte: Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverlag 4 1974. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900. München: Fink 4 2003. Filippo Tommaso Marinetti: Marcia Futurista, 1916, in: Giovanni Lista (Hg.), Marinetti et le futurisme. Lausanne: L’Age d’Homme 1977, 48. Luigi Pirandello: Sei personaggi in cerca d’autore, in: Ders., Maschere nude. Band III. Milano: Mondadori 9 1937. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2016. Gaspara Stampa: Rime. Milano: Fabbri 1995. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 30 1 Begriff ‚Literatur‘ <?page no="31"?> Überblick 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle Inhalt 2.1 Poetik 2.1.1 Die Poetik des Aristoteles 2.1.2 Stilarten und Ständeklausel 2.1.3 Italienische Renaissancepoetiken 2.1.4 Die Questione della lingua 2.2 Gattungen 2.3 Epochen 2.4 Literaturgeschichte 2.5 Thema, Stoff, Motiv 2.6 Kanon In Einheit 2 wird der Begriff ‚Poetik‘ in Abgrenzung zur Literaturge‐ schichte und Literaturkritik vorgestellt. Wichtige poetologische Schriften werden als Wegmarken des historischen Entwicklungsverlaufs hervor‐ gehoben. Ein spezielles Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang den literarischen Gattungen, Epochen, thematischen Elementen und dem Ka‐ non. <?page no="32"?> Der Literaturbegriff im zeit‐ lichen Wandel ! Poetik ist die Lehre von der Dichtkunst Definition Der Begriff ‚Literatur‘, das hat die vorangehende Einheit 1 verdeutlicht, ist inhaltlich nur schwer eingrenzbar und bleibt in seinen jeweiligen Definiti‐ onsversuchen abhängig von seiner Position in einem historischen und kul‐ turellen Gefüge. Insofern kann man Texte immer nur für ihren bestimmten geschichtlichen Augenblick und unter dem Gesichtspunkt des jeweiligen Li‐ teraturverständnisses auf ihre Literarizität hin prüfen. 2.1 Poetik Unter Poetik (la poetica) versteht man die Lehre von der Dichtung, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen befasst sie sich mit dem Wesen von Dichtung, ihrer Bestimmung, ihrer Einteilung in Gruppen gleichartiger Texte und ihrem ästhetischen Wert. Zum anderen will sie in vielen Fällen auch eine Anleitung zum Dichten geben, sei es, dass sie bereits vorliegende bekannte Werke in ihren Vorzügen und Mängeln kritisch betrachtet (deskriptives, d. h. beschrei‐ bendes Vorgehen), sei es, dass sie konkrete Hinweise bzw. Vorschriften für das Verfassen von Werken enthält (normativer Anspruch). Neben den expli‐ ziten Poetiken, die sich als eigenständige Abhandlungen zur Literatur dar‐ bieten, existieren zahllose aussagekräftige sog. immanente (auch: implizite) Poetiken (poetica implicita), welche Autorinnen und Autoren in ihren Vor‐ worten oder Vorreden, Nachworten oder Selbstaussagen (z. B. Interviews) formuliert haben und die über ihr persönliches Literaturverständnis Auskunft geben. Im Falle von ‚Metapoesie‘ bzw. ‚Metapoetik‘ handelt es sich schließlich um Literatur, die selbst Auffassungen und Funktionen von Literatur betrach‐ tet. Literatur und Dichtung: Im Gegensatz zum allgemeinen Literaturbe‐ griff (siehe Einheit 1) geht der emphatisch, d. h. bedeutungsschwer auf‐ geladene Dichtungsbegriff von vornherein nur von literatur- und menschheitsgeschichtlich ‚wertvollen‘ Texten aus, wobei eine Nähe zu lyrischen Formen anklingt. Insgesamt betrachtet, können Poetiken oder poetologische Ausführungen (das Adjektiv ‚poetologisch‘ zielt auf die Poetik, das Adjektiv ‚poetisch‘ auf das dichterische Werk ab) eine Reihe von Funktionen erfüllen: ▶ die Beschäftigung mit der Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Dichtung und ihre Abgrenzung von den anderen Künsten; ▶ eine Auseinandersetzung mit dem ‚Schönen‘ und ‚Wahren‘ in der Litera‐ tur (Ästhetik, Literaturphilosophie); ▶ die Erörterung richtiger Rede (Grammatik) und 32 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="33"?> Text 2.1 Aristoteles: Poetik ▶ ebenso kunstwie wirkungsvoll ausformulierter Rede (Rhetorik); ▶ das Studium stilistischer Besonderheiten bzw. stilistischer Angemessen‐ heit (Stilistik); ▶ die Beschreibung literarischer Gattungen; ▶ die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung einer Sprache (dia‐ chrone Sprachwissenschaft); ▶ die kritische Sichtung literarischer Beispiele (Literaturkritik), oftmals unter ▶ Einordnung in literaturhistorische Zusammenhänge (Literaturgeschichte) und ▶ Ableitung allgemeiner Aussagen zu literarischen Phänomenen (Literatur‐ wissenschaft); ▶ Aussagen zu sozio-kulturellen Implikationen bestimmter Textsorten (Li‐ teratursoziologie, Rezeptionsforschung [vgl. Einheiten 10.4 und 10.5]). Das Selbstverständnis von Poetiken und ihre tatsächliche Bedeutung für die Abfassung literarischer Texte sind ihrerseits wiederum starken epochalen Schwankungen unterworfen. So lassen sich viele der antiken ‚Poetiken‘ als Versuche einer Inventarisierung und Kommentierung der gegebenen litera‐ rischen Phänomene deuten, die als Dichtungslehren bereits grundlegenden Charakter für alle nachfolgenden Abhandlungen hatten. Aus heutiger Sicht aber erscheinen sie womöglich als unvollständig und episodisch, da sie allzu sehr dem persönlichen Blick des jeweiligen Verfassers verpflichtet sind. Ohne einen vollständigen Abriss der poetologischen Entwicklung geben zu wollen, seien im Folgenden unter den zahllosen theoretischen Auseinan‐ dersetzungen mit der Literatur einige wenige hervorgehoben, die entweder auf Grund ihrer bedeutsamen Rezeptionsgeschichte oder aber wegen ihrer Syntheseleistung einen besonderen Rang eingenommen haben. 2.1.1 Die Poetik des Aristoteles 1 5 Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muss, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu dem selben Thema gehören, wollen wir hier handeln […] (Aristoteles: 1994, 5) 2.1 Poetik 33 <?page no="34"?> Abb. 2.1 Aristoteles (384-322 v.-Chr.) Mimesis-Begriff Hierarchie der Gattungen  Zusatzmaterial zur Ars poetica des Horaz finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Die nur zum Teil erhaltene Poetik des Aristoteles, die ungefähr um das Jahr 335 v. Chr. entstanden ist, zählt zu den bedeutsamsten kunsttheoretischen Texten der abendländischen Kultur. Sie steht an der Seite einer Rhetorik, ver‐ lässt aber deren auf die Redekunst zugeschnittene Betrachtung, um sich - nicht zuletzt anhand der Diskussion wichtiger Referenztexte - allgemeinen Fragen der wichtigsten zeitgenössischen literarischen Gattungen zuzuwen‐ den. Dazu zählen in erster Linie die Epik, die tragische Dichtung und die Komödie (jener der Komödie gewidmete Teil ist leider nicht überliefert, ein Umstand, der Umberto Eco zu seinem Roman Il nome della rosa [1980] inspi‐ rierte). In Abwendung von Platon, der in dichtungskritischen Passagen seiner Schriften (vor allem Politeia, X 595a-602b) die Dichtung bezichtigt, der Wahr‐ heit der ursprünglichen ‚Ideen‘ in ihrem verzerrten Abbild nicht zu entspre‐ chen, und sie einer rigiden Staatsmoral unterwerfen möchte, führt Aristoteles die dichterische Schaffenskraft des Menschen auf ein geradezu anthropolo‐ gisches Bedürfnis zurück, nämlich den Drang zur Nachahmung (Mimesis, ital. mimesis, f.). Demgemäß stelle die Dichtung nichts anderes dar als die Nach‐ ahmung gesellschaftlichen Handelns, d. h. eine Abbildung der vom Menschen erlebbaren Wirklichkeit. Dass hiermit aber keineswegs ein ungebrochener Realismus gemeint ist, verdeutlichen die weiteren Ausführungen: nicht die Wahrheit im Sinne von faktengetreuer Wiedergabe, sondern die Wahrschein‐ lichkeit im Sinne einer tief gründenden Einsicht in die menschliche Natur sei das Verdienst der Dichtung, die damit philosophische Qualitäten aufweise und die Aussagekraft der oftmals unwahrscheinlich wirkenden historischen Ereignisse (und damit der Geschichtsschreibung) hinter sich lasse. Von grundlegender Bedeutung für das Literaturverständnis nahezu jegli‐ cher Epoche ist die von Aristoteles thematisierte Verknüpfung von Gattung, kulturellem und sozialem Prestige. So ordnet er der Tragödie und dem Epos die Nachahmung edler Menschen zu, die es wiederum nachzuahmen gilt, während die schlechten Menschen in ihren Lastern von der Komödie aufge‐ griffen werden, die sie der Lächerlichkeit preisgibt und somit gewissermaßen abschreckend wirkt. Im Übrigen werden die Gattungen nach dem Kriterium der Rede unterteilt: Spricht im Drama der Schauspieler, so ist davon die be‐ richtende Rede eines Erzählers zu unterscheiden - ein Gedanke, der in der weiteren Literaturgeschichte immer wieder aufgegriffen und modifiziert wer‐ den sollte. Die Aristotelische Poetik geriet zunächst für das gesamte abendländische Mittelalter in Vergessenheit, da die Überlieferung abriss, und wurde erst ab dem ausgehenden 15. Jh. wieder entdeckt, um dann für lange Zeit einen besonders intensiven Einfluss auf das Literaturverständnis auszuüben. 34 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="35"?> Aufgabe 2.1 Abb. 2.2 Quintilian (35-ca. 96 n. Chr.) ? Welche Auffassung von Literatur steht hinter dem Bemühen, Poetiken zu verfassen? 2.1.2 Stilarten und Ständeklausel Die bei Aristoteles (und Horaz) geforderte ‚Angemessenheit‘ in der Behandlung eines vom Dichter gewählten Stoffes mündet in ein im Laufe der Zeiten variabel gehandhabtes System, welches jeder Gattung bestimmte Themen, Zielsetzungen, Figuren und eine eigene Stilart zuschreibt. Eine wichtige Mittler‐ funktion bei der Überlieferung und der Anpassung der antiken Dichtungslehre spielten unter anderem die römischen Rhetoriker Cicero (106-43 v.-Chr.) und Quintilian (35-ca. 96 n. Chr.), letzterer insbesondere dank seines Lehrwerks Institutio oratoria. Im Mittelalter erlangte beispielsweise das sog. ‚Rad des Vergil‘ großen Einfluss, in dem die wichtigsten Werke dieses antiken Autors zu modellbildenden Vorgaben für die zeitgenössische Literatur ausgedeutet wurden. Abb. 2.3 Das sog. Rad des Vergil, das jeder Stilart bestimmte inhaltliche Elemente zuordnet 2.1 Poetik 35 <?page no="36"?> Stilarten Ständeklausel Die Grundlage bildete die in den antiken Rhetoriken ausgearbeitete Lehre von den drei Stilarten (genera dicendi), welche für öffentliche Reden je nach Anlass spezifische Leitlinien formulierten. Dabei handelte es sich zunächst einmal um Vorgaben, die eine Orientierung dafür boten, welches Thema auf welche Art und Weise vor welchem Publikum bzw. zu welchem Anlass angemessen behandelt werden sollte. Ähnliche Vorschriften wurden im Weiteren auch für den Bereich der Dichtung in entsprechenden Poetiken erstellt. Ein vereinfa‐ chender Überblick kann verdeutlichen, welche Erfordernisse mit den einzel‐ nen Gattungen verbunden wurden: - stilistische Merkmale Figuren‐ personal Zielset‐ zung Vorbildli‐ che Werke Vergils erhabener Stil (genus grande/ sublime) sehr anspruchsvoll in Konstruktion und Rede‐ schmuck (Verwendung entsprechender rhetori‐ scher Mittel) zur Behand‐ lung erhabener Themen Helden von Vor‐ nehmer Herkunft Erregung des Ge‐ müts Aeneis (Hel‐ denepos) mittlerer Stil (genus mediocre) eine kunstvolle, jedoch gut verständliche Sprach‐ verwendung Bauern Unterhal‐ tung und Erfreuen Georgica (Lehrge‐ dicht) niederer Stil (genus hu‐ mile) einfach und schmucklos, an der Alltagssprache ori‐ entiert Einfaches Volk Beleh‐ rung, Be‐ weise Bucolica (Hirtendich‐ tung) Abb. 2.4 Die drei Stilarten nach dem sog. ‚Rad des Vergil‘ des Johannes de Garlandia (ca. 1195-1272) Mit der Forderung, die Literatur müsse auf angemessene Art und Weise auf ihr Sujet abgestimmt sein, ging zudem eine Zuordnung von Stilart, Gattung und sozialem Stand der behandelten Hauptfiguren einher. In diesem Sinne wurde die volkssprachliche Lyrik noch in der Renaissance von vornherein nur dem niederen Stil zugerechnet. Für die angesehene Tragödie forderte bereits Aristoteles, nur Personen von besonderem sozialem Rang dürften mit einem tragischen Geschick konfrontiert werden, da bei ihnen die Wendung von Glück in Unglück eine besonders beeindruckende ‚Fallhöhe‘ auszeichne. Wenn also ihr Streben in einer ‚Katastrophe‘ (als dem tragischen Ausgang der Tragödie) ende, so erschüttere dies die Zuschauerschaft sehr viel mehr, als das Unglück einer Figur aus einer niederen sozialen Schicht, die dem Elend von vornherein näher stehe. Eine solche emotionale Erschütterung sowie die dadurch bewirkte innere Reinigung (Katharsis; ital. catarsi, f.) galten ihm als wichtige Ziele der Tragödie. 36 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="37"?> Aufgabe 2.2 Cinquecento = XVI secolo Aristoteles-Rezeption Abb. 2.5 Iulius Caesar Scaliger (1484-1558)  Zusatzmaterial zu den italienischen Renais‐ sance-Poetiken finden Sie im Internet auf www.bachelor-wissen.de ? Welches Menschenbild lässt sich an diesen poetologischen Bestim‐ mungen ablesen? 2.1.3 Italienische Renaissancepoetiken Die Wirkungsgeschichte der antiken Poetiken setzte sich in einer großen Anzahl von Schriften v. a. des Cinquecento fort. Nur wenige seien im Weiteren beispielhaft genannt. In der Nachfolge von Horaz steht Marco Girolamo Vida (1485-1566) mit seinen Poeticorum libri tres (1527), die sich zumal der epischen Gattung annahmen. Die Wiederentdeckung der Aristotelischen Poetik voll‐ zog sich über die 1498 veröffentlichte lateinische Übersetzung durch Giorgio Valla, eine Ausgabe, die 1536 verstärkte Aufmerksamkeit erhielt. Lodovico Castelvetro ist schließlich die erste, 1570 in Wien erschienene volkssprachli‐ che Fassung zu verdanken, die Poetica d’Aristotele vulgarizzata et sposta, wel‐ che zugleich einen ausführlichen italienischsprachigen Kommentar enthält. Zu den wichtigsten Poetiken des Seicento gehören die Poetices libri Septem (Sieben Bücher über die Dichtkunst, 1561) von Iulius Caesar Scaliger (1484- 1558). Sie fassen die an der griechischen und römischen Antike orientierten Regeln für die literarischen Gattungen im Überblick zusammen. Rhetoriken und Poetiken versuchten seit der Antike, die von ihnen be‐ trachteten literarischen Formen mit stilistischen und sozialen Kategorien in Beziehung zu setzen, woraus ein hierarchisch gestuftes System der Gattungen entstand. Sie erhoben einen normierenden Anspruch und stellten verbindliche Leitsätze für die einzelnen literarischen Gattungen auf. Eine besonders intensive Auseinandersetzung mit den antiken Auf‐ fassungen zur Literatur erfolgte durch die humanistischen Gelehrten des Cinquecento, die auf der Grundlage der Überlieferung die eigene zeitge‐ nössische Literatur stärken wollten. Die weitere literaturgeschichtliche Entwicklung führte indes zu einer sich allmählich vollziehenden und heute nicht mehr revidierbaren Herauslösung der Literatur aus dem fest definierten Kunstverständnis der Regelpoetiken. 2.1 Poetik 37 <?page no="38"?> Text 2.2 Alessandro Manzoni: Let‐ tera sul romanticismo (1823) Abb. 2.6 Francesco Hayez: Portrait des Alessandro Manzoni (1841) Europaweit vollzieht sich am Wendepunkt vom 18. zum 19. Jh., v. a. aber in der Literatur der Romantik, der Bruch mit den überlieferten klassizis‐ tischen Normvorgaben. Stellvertretend für den italienischen Kontext sei daher noch eine aufschlussreiche Passage aus einem Brief von Alessandro Manzoni angeführt, dessen Argumentation auf eine Eigenständigkeit der modernen dichterischen Schaffenskraft ausgerichtet ist, die gemeinhin unter dem Schlagwort der ‚Genieästhetik‘ gefasst wird: 1 - - - 5 - - - - 10 Quello che i Romantici combattevano, è il sistema d’imitazione, che consiste nell’adottare 1 e nel tentare 2 di riprodurre il concetto generale, il punto di vista dei classici, il sistema, che consiste nel ritenere in ciascun genere d’invenzione il modulo 3 , ch’essi hanno adoprato 4 , i caratteri che ci hanno impressi, la disposi‐ zione, e la relazione delle diverse parti; l’ordine e il progresso de’ fatti, ecc. Questo sistema d’imitazione, dei quale ho appena toccati alcuni punti; questo sistema fondato sulla supposizione 5 a priori, che i classici abbiano trovati tutti i generi d’invenzione, e il tipo di ciascheduno 6 , esiste dal risorgimento delle lettere 7 ; forse non è stato mai ridotto 8 in teoria perfetta, ma è stato ed è tuttavia applicato in mille casi, sottinteso 9 in mille decisioni, e diffuso in tutta la letteratura. (Manzoni: 1981, 169) - 1 adottare sich anverwandeln - 2 tentare versuchen - 3 modulo hier: Norm - 4 adoprare/ adoperare verwenden - 5 la supposizione hier: Sinnzuschreibung 38 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="39"?> Aufgabe 2.3 Abgrenzung gegenüber an‐ deren Sprachen Volgare  ! Die Einteilung der literarischen Formen ent‐ spricht der wissenschaftli‐ chen Notwendigkeit von Analyse und Klassifikation - 6 ciascheduno = ciascuno - 7 risorgimento delle lettere hier: Literatur der Renaissance - 8 ridurre hier: zusammenfassen - 9 sottintendere voraussetzen ? Was versteht Manzoni unter dem von ihm angeführten „sistema d’imitazione“? 2.1.4 Die Questione della lingua Neben den erwähnten inhaltlichen und formalen Aspekten literarischer Texte hatte die dichtungstheoretische Auseinandersetzung gerade in Italien noch eine weitere, grundsätzliche Frage zu klären: die Suche nach einer literaturfähigen Hochsprache. Die volkssprachliche italienische Dichtung gewann erst im Verlauf eines langwierigen Emanzipationsprozesses eine gefestigte Gestalt (ca. 8. Jh.-13. Jh.), wobei zunächst einmal das volgare gegenüber der prestigeträchtigen al‐ ten Literatursprache Latein (auch in Form des Neulatein) sowie gegenüber dem einflussreichen zeitgenössischen Provenzalisch (und Französisch) an Ei‐ genständigkeit gewinnen musste. Eine besondere Relevanz erhielt die Aus‐ einandersetzung über die künftige Rolle und Form des Italienischen zudem aus dem Umstand, dass eine nationale Einheit auf der politischen, sozio-kul‐ turellen und sprachlichen Ebene (auf Grund der dialektalen Zerklüftung) lange Zeit fehlte und erst mit der Gründung des italienischen Einheitsstaates gegen Ende des 19. Jh. in Teilen erzielt werden konnte. (Ausführliches Zu‐ satzmaterial zur literaturgeschichtlichen Bedeutung der Questione della lin‐ gua finden Sie im Internet auf www.bachelor-wissen.de; vgl. auch Haase: 2 2013, 40 ff.) 2.2 Gattungen Unter den behandelten Kernanliegen von Poetiken ist noch einmal auf einen Aspekt zurückzukommen, der eine eingehende Problematisierung verdient. Der seit dem Altertum zu beobachtende Versuch, die Vielzahl der zeitgenös‐ sischen literarischen Formen nach gemeinsamen Merkmalen zu einzelnen Gruppen zu bündeln, stellte lange Zeit eines der grundlegendsten Anliegen in literaturtheoretischer und literaturgeschichtlicher Hinsicht dar, das sich seinerseits als aufschlussreich für das Literaturverständnis zu einem be‐ stimmten Zeitpunkt erweist. Vorrangige Aufgabe einer Einteilung in Gattun‐ gen ist dabei das Bedürfnis, Texte genau nach generalisierbaren Merkmalen zu beschreiben, sie somit zu klassifizieren sowie in epochale und literaturge‐ schichtliche Zusammenhänge einzuordnen. 2.2 Gattungen 39 <?page no="40"?> Gattungen als Konvention Vorbildcharakter ‚klassi‐ scher‘ Werke Text 2.3 Aristoteles: Poetik Kriterien für eine Zuordnung können dabei sein: ▶ Form (Vers- und Strophenform bzw. Aufbau und Struktur eines Textes [z. B. Fünfaktschema], Länge, verwendete Stilmittel, Verwendung sog. Paratexte [vgl. 11.2.1]); ▶ Stoff- und Motivkreis (z. B. in Heiligenlegenden oder im Kriminalroman); ▶ Figuren (bspw. die Ständeklausel); ▶ Redekriterium (wer spricht? der Dichter/ Erzähler - die handelnden Personen - beide Parteien im Wechsel); ▶ mediale Aspekte (gedruckter Text, mündlicher Vortrag, Inszenierung auf der Bühne, Vertonung, Film etc.). Die Definition von Gattungen bleibt bei all dem eine sozio-kulturelle Kon‐ vention, die auf besondere historische Umstände zurückgeführt werden kann, auch wenn für Gattungen ein normativer und überzeitlicher Anspruch erho‐ ben wird. Die normative Gattungslehre ist zumeist darauf angewiesen, sich auf eine gezielte Auswahl von Referenztexten zu stützen, die auf beispielhafte Weise als Vorbild für alle anderen, ähnlich kategorisierbaren Produktionen gelten können (imitatio). Neben für besonders wichtig gehaltene Werke früherer Epochen, die zumeist als ‚klassisch‘ erachtet werden (etwa im Falle von Vergil, der im Mittelalter als alles überragender Dichter der Antike rezipiert wurde), können durchaus auch die Werke von Zeitgenossen treten, z. B. bei Aristo‐ teles. Die von Aristoteles überlieferte Gattungseinteilung gibt zugleich ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr die Bemühungen um eine Systemati‐ sierung dem historischen Wandel ausgesetzt sind. 1 - - - 5 Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyramben‐ dichtung 1 sowie - größtenteils - das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht dieselbe Weise nachahmen. (Aristoteles: 1994, 5) - 1 Dithyrambendichtung antike lyrische Gattung mit musikalischer Begleitung Nicht nur der inzwischen erfolgte Wegfall der letztgenannten Gattungen ist zu bemerken, auch die Gattungsbegriffe selbst, z. B. derjenige der Epik, haben sich grundlegend verändert oder wurden nachträglich ersetzt. (Das moderne Lyrikverständnis umfasst z. B. nicht mehr notwendigerweise die musikalische Darbietung wie in der Antike; siehe Einheit 4.) 40 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="41"?> Aufgabe 2.4 ‚Naturformen‘ der Dichtung Text 2.4 Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Diwan (1819-1827) ? Inwiefern entspricht das von Aristoteles betrachtete antike Epos (z. B. Homers Ilias) nicht mehr dem heute geläufigen Gattungsbegriff ‚Epik‘? Der historische Abstand zum in Text 2.3 zitierten Beispiel lässt erahnen, wie schwierig es ist, allgemeingültige Gattungskategorien aufzustellen. Als besonders erfolgreich hat sich aus unserer heutigen Sicht wiederum die Einteilung der literarischen Formen in die drei Grundformen Epik - Dramatik - Lyrik, die sog. Gattungstrias, erwiesen. Sie reicht vom Ansatz her zwar auf bereits bei Aristoteles und Horaz formulierte Gedanken zurück, wurde aber erst im 18. Jh. zum poetologischen Gemeinplatz erhoben. Bedeutsam wurde in diesem Zusammenhang die Annahme, in den drei Hauptgattungen spiegelten sich gleichsam Wesenszüge der menschlichen Seele, was Goethe auf die für den deutschsprachigen Raum höchst einflussreiche Formel von den „drei Naturformen der Dichtung“ brachte: 1 - - - 5 Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthu‐ siastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswerten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. (Goethe: 1978, 187-f.) Relevant an dieser Deutung ist neben der ahistorisch-wesenhaften Zuschrei‐ bung von Gattungsmerkmalen, die zugleich auf eine wirkungsästhetische Charakterisierung abzielen, der Hinweis auf die Vermengung dieser Grund‐ tendenzen im einzelnen literarischen Text. Hinzu kommt der komparatisti‐ sche, auf eine Weltliteratur geweitete Blick Goethes. Noch der Schweizer Li‐ teraturwissenschaftler Emil Staiger entwarf 1946 in seinen Grundbegriffen der Poetik ein Modell, demzufolge aller Dichtung „Gattungsideen“ zugrunde lie‐ gen, welche im Sinne von typischen Stilqualitäten jeweils als ‚das Lyrische‘, ‚das Epische‘ und ‚das Dramatische‘ anzusehen seien. Der Ansatz, die Literatur in ‚Gattungen‘ aufzugliedern, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und ihrer wissenschaft‐ lichen Systematik des ausgehenden 19. Jh., als sich nach dem Vorbild der biologischen Erblehre das Modell des Stammbaums und der Ausdifferenzie‐ rung von Arten und Gattungen etablierte. Versucht man beispielsweise, die narrativen (erzählenden) Gattungen systematisch zu erfassen, so kann zunächst einmal eine schrittweise Unter‐ gliederung nach folgendem Schema vorgenommen werden: 2.2 Gattungen 41 <?page no="42"?> Aufgabe 2.5 Gattungstradition  Zusatzmaterial zur Gattungsgeschichte finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Aufgabe 2.6 Abb. 2.7 Ausdifferenzierung des Gattungssystems am Beispiel Erzählprosa ? Finden Sie anhand eines geeigneten Nachschlagewerks Untergattun‐ gen aus dem Bereich der Lyrik (z.-B. Sonett). Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die Trennschärfe der unterschiedlichen Gattungsdefinitionen zweifelhaft ist und nie dem literarischen Formenreich‐ tum gerecht werden kann. Der Versuch, eine global gültige Systematik zu erstellen, ist nur unter der Bedingung möglich, eine Vielzahl von Mischfor‐ men anzuerkennen (z. B. die Ballade als erzählendes Gedicht), auf welche mehrere Gattungszuschreibungen zutreffen. Zugleich werden weitere ‚Hauptgattungen‘ diskutiert (die Satire wie auch der Essay wurden als 4. oder 5. Gattung ins Gespräch gebracht, hinzu kommen aus heutiger Perspektive etwa die Gruppen der didaktischen Texte bzw. der Gebrauchsformen), auch wenn die moderne und postmoderne Literaturtheo‐ rie gerade den Gattungsbegriff radikal in Frage gestellt hat und ihn durch eine weitaus weniger idealisierende und systematisierende Auffassung von Text‐ sorten zu ersetzen sucht. Als literaturgeschichtliche Kategorien besitzen die Gattungen aber einen gewissen Erkenntniswert, da sie die Kommunikation über bestimmte Textgruppen erlauben - so unzureichend diese auch sein mag -, und auch historische Konventionen benennen, die bei den Litera‐ turschaffenden, im Bereich des literarischen Marktes und bei den Literatur‐ rezipienten als sinnstiftendes Vorverständnis wirken. ? Versuchen Sie für folgende Untergattungen bzw. Typen festzustellen, inwieweit mit dem Gattungsnamen bereits ein Vorverständnis in Bezug auf die Stilhöhe, den Aufbau und die Inhalte verbunden ist: Tragödie; Science-Fiction-Roman; Liebesgedicht. 42 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="43"?> Epochen als in sich möglichst homogene Zeit‐ räume Epochengrenzen Aufgabe 2.7 2.3 Epochen Neben der Gattungstypologie bildet die Einteilung der Literaturgeschichte in Epochen (ital. epoche, z. B. das Duecento, Trecento, Quattrocento etc.) einen festen Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Grundinventars, auch wenn sich zunehmend das Bewusstsein ob des Konstruktcharakters des Epochenbegriffs durchgesetzt hat. Zunächst einmal sollen die Epochenbezeichnungen den Fluss der Litera‐ turgeschichte in einzelne, in sich möglichst zusammenhängende Zeiträume unterteilen, in denen eine Vielzahl von Texten - oder aber eine kleine Gruppe literarisch besonders relevanter Texte (Kanon, siehe 2.6) - bestimmte ge‐ meinsame Merkmale aufweisen. Ermöglicht wird diese Einteilung im Weite‐ ren durch die Benennung literaturgeschichtlich bedeutsamer Schlüsselereig‐ nisse, die als Epochengrenzen (confini epocali, m.) Ende und Beginn der dominanten literarischen Entwicklung markieren. Eine derartige Unterglie‐ derung in literarische Epochen erlaubt es, die Veränderungen innerhalb des Gattungssystems bzw. jene der literarischen Formen zu beobachten. Außer‐ dem kann man sie mit anderen Periodisierungen vergleichen, z. B. mit Stil‐ richtungen der Kunstgeschichte oder mit der (oftmals an Herrscherpersön‐ lichkeiten oder Staatsformen orientierten) Politikgeschichte. Der Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin (1864-1945) verstand im Rahmen seiner stilgeschichtlichen Untersuchungen die Epochenmerkmale ‚barock‘ und ‚klassisch‘ sogar als überzeitliche Typusbegriffe, zwischen denen sich die sti‐ listischen Entwicklungen über die Jahrhunderte hinweg in einer Pendelbe‐ wegung entfalten. ? Im alltäglichen Sprachgebrauch haben sich die Begriffe ‚klassisch‘ - ‚modern‘, ‚aufgeklärt‘ - ‚romantisch‘ mit ebenso vagen wie umfas‐ senden Bedeutungen aufgeladen, die sich zum Teil aus literar- (und kunst-)historischen Konzepten ableiten. Versuchen Sie, diese landläufi‐ gen Begriffsverwendungen stichpunktartig zu umreißen, und vergleichen Sie daraufhin diese Zuschreibungen mit den Epochendarstellungen in einer italienischen Literaturgeschichte (siehe Einheit 3.4). Allen überzeitlichen Definitionsansätzen zum Trotz ist jedoch zu beachten, dass Epochenbezeichnungen erst aus dem nachträglichen, rückwärts gerich‐ teten Blick heraus an Kontur gewinnen, eine zeitliche Distanz zwischen Be‐ obachtendem und Beobachtetem für ein gewisses Maß an Überblick und Ob‐ jektivierung sorgen muss (als Beispiel hierfür sei die müßige, da zum gegenwärtigen Zeitpunkt unentscheidbare Diskussion angeführt, ob die sog. Postmoderne in den Künsten bereits ein Auslaufmodell darstellt). Das starre System aufeinander folgender Epochen kann durch die Berücksichtigung sog. 2.3 Epochen 43 <?page no="44"?> Epochenschwellen Aufgabe 2.8 Biographik Interpretation Kontextualisierung Innovationen oder Meister‐ schaft Epochenschwellen (soglie epocali, f.) oder Schwellenzeiten aufgelockert wer‐ den; unter ihnen versteht man Übergangsperioden mit Mischcharakter, bei‐ spielsweise zwischen dem Mittelalter und der sich herausbildenden Neuzeit. ? Betrachten Sie das Für und Wider des Konzepts literaturgeschichtli‐ cher Epochen. Welche Schwierigkeiten können bei dem Versuch auftre‐ ten, Epochen als idealiter in sich homogene Zeiträume zu bestimmen? Welche Gründe sprechen dennoch für die Aussagekraft von Epochenbe‐ griffen? 2.4 Literaturgeschichte Normative Poetiken verwiesen auf Autoren und Werke vergangener Zeiten vor allem unter dem Gesichtspunkt ihres Vorbildcharakters oder der zu meidenden Fehler, sie enthielten daneben aber bereits Auflistungen von Werktiteln und Namen. Literaturgeschichten (storie della letteratura) hinge‐ gen beabsichtigen, einen systematisierenden Überblick zumindest über die für wichtig erachteten Werke einer (meist) Nationalliteratur oder auch einer Gattung zu liefern. Als wesentliche Anhaltspunkte dienen dabei: ▶ Biographien ‚großer‘ Autorinnen und Autoren; ▶ bedeutende literarische Texte, die zumeist Teil des Kanons (s. u.) gewor‐ den sind und die nach Möglichkeit in ihre Entstehungs- und Wirkungs‐ zusammenhänge eingeordnet und auf dieser Grundlage interpretiert werden; ▶ mittel- und längerfristige Tendenzen der literarischen Entwicklung, z. B. in Bezug auf Gattungen und Epochen, die in ihren thematischen und formalen Aspekten aufgezeigt werden; ▶ die Verzahnung der literaturgeschichtlichen Prozesse mit den zeitglei‐ chen politik-, wirtschafts-, sozial-, ideen-, mentalitäts-, kultur- und me‐ diengeschichtlichen Kontexten, wobei - je nach Ansatz der Verfasser/ Verfasserinnen - eine Deutung globaler Zusammenhänge unternommen werden kann (z.-B. in sozialgeschichtlicher Perspektive); ▶ die individuelle Leistung einzelner Autoren/ Autorinnen bzw. die womög‐ lich für das Weitere wegweisenden Besonderheiten spezifischer Werke. Neben die genannten Kriterien sind im Laufe der letzten Jahrzehnte neue Gesichtspunkte getreten, die über den traditionellen Kanon hinausweisen und Textgruppen in einen eigenen geschichtlichen Zusammenhang stellen. Solche 44 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="45"?> Abb. 2.8 Schreibende Frauen blie‐ ben lange Zeit von der Lite‐ raturgeschichtsschreibung unberücksichtigt  Zusatzmaterialien zur Editionsphilologie finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Textphilologie  Zusatzmaterialien zum Philosophen und Li‐ teraturkritiker Benedetto Croce finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. ‚alternativen‘ Literaturgeschichten widmen sich vorrangig der Literatur von ‚Minderheiten‘, so der Geschichte des weiblichen Schreibens (vgl. Einheit 11.3) oder der postkolonialen Literatur; sie verfolgen thematisch/ motivische Leitfäden (bspw. eine Literaturgeschichte der Liebe) oder betrachten spezielle Untergattungen bzw. Literaturtypen (etwa eine Geschichte der Utopien). Dar‐ über hinaus können methodische Ansätze zur Abfassung eigener Literatur‐ geschichten führen. So verhält es sich mit der bspw. von Asor Rosa betriebe‐ nen regionalistischen Literaturgeschichtsschreibung. Aus komparatistischer Sicht schließlich kann der enge Rahmen der Nationalliteratur verlassen wer‐ den (vgl. z. B. die auf historische Kontinuität der literarischen Konzepte aus‐ gelegte Abhandlung von Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und la‐ teinisches Mittelalter [1948]). Bis in das 18. Jh. hinein wurde Literaturgeschichtsschreibung als wichtige Aufgabe der poetologischen Schriften wahrgenommen. Gerade in Italien, das erst spät zur nationalen Einigung fand, galt es, eine Traditionslinie der eige‐ nen Literatur aufzuzeichnen, die auf kultureller Ebene das nationale Identi‐ tätsempfinden festigen konnte. Auch die deutsche Romanistik, welche als wissenschaftliche Disziplin noch vor den romanischsprachigen Nachbarlän‐ dern deren literarische Monumente sichtete, leistete hierzu einen wichtigen Beitrag. Ihr Bemühen war es dabei zunächst, literarische Quellen aufzuspüren und unter philologischen Aspekten zu edieren, d.-h. die Überlieferung zu er‐ forschen und maßgebliche Textausgaben zu erstellen. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. bildete sich somit im Zeichen des Positi‐ vismus (siehe Einheit 10.2) eine ‚moderne‘ wissenschaftliche Beschäftigung mit der literarischen Überlieferung aus, deren Quellen nach überprüfbaren Daten und Kriterien systematisch erfasst, analysiert und zueinander in Be‐ ziehung gesetzt wurden. Diese einseitig auf die Überlieferungsgeschichte ausgerichtete Textphilologie wurde schließlich aus einer anderen, immer noch dem Positivismus unterstellten Perspektive erweitert, welche in den historischen Entstehungsbedingungen eines Textes den zentralen Angel‐ punkt für seine Interpretation erblickte. Im Zuge eines geschärften Ge‐ schichtsbewusstseins sollte die historische Entwicklung der einzelnen Nati‐ onalliteraturen aufgearbeitet werden, was nicht zuletzt zur Erstellung von Werk- und AutorInnenkatalogen führte. Eine wichtige Frage, die bis in die Mitte des 20. Jh. verfolgt wurde, beschäftigte sich zudem mit dem vom jewei‐ ligen ‚Volkscharakter‘ geprägten ‚Wesen‘ der Nationalliteratur. Die Kontextualisierung der literarischen Werke konnte später unter wech‐ selnden Leitideen fortgeführt werden, so unter der Berücksichtigung von Thesen der Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Volkskunde, der phi‐ losophischen Ästhetik, der Sprachwissenschaft, der Medienwissenschaften u.-v.-m. 2.4 Literaturgeschichte 45 <?page no="46"?> Stoff Heute hat die Literaturgeschichte unter dem Einfluss von poststrukturalis‐ tischer und dekonstruktivistischer Literaturtheorie (siehe Einheit 11.2) einen Punkt erreicht, an dem viele der für Poetik und Literaturgeschichtsschreibung grundlegenden Kategorien wie Autorschaft, Gattungen, Epochen, Kanon oder Wirkungsästhetik in ihrer Aussagekraft angezweifelt werden. Nichtsdestotrotz liefern Literaturgeschichten nach wie vor unerlässliche Leitfäden für die Annä‐ herung an übergreifende Entwicklungsprozesse und an einzelne Schlüsseltexte, wie immer sich deren Auswahl im Einzelfall auch legitimieren mag. (Eine Auswahl an Geschichten der italienischen Literatur finden Sie in Einheit 3.4.) Abb. 2.9 Literatur als Kommunikationsnetz 2.5 Thema, Stoff, Motiv Gleichsam ‚unterhalb‘ der allgemeinen Literaturgeschichte (und über natio‐ nalliterarische Abgrenzungen hinweg) lassen sich Entwicklungslinien wie‐ derkehrender Fragestellungen, Probleme und Geschichten nachzeichnen, die in der Literaturwissenschaft und in verwandten Disziplinen mit den Begriffen Stoff (materia), Motiv (motivo) und Thema (tema, m.) bezeichnet werden. Die Abgrenzung zwischen den drei Begriffen ist in der Forschung nicht in jedem Einzelfall einheitlich geregelt. Als Konsens lässt sich aber festhalten, dass der ‚Stoff ‘ eine bereits in ihren wichtigsten Grundzügen bestehende Handlung bzw. einen Plot (plot, m.; siehe Einheit 8.3.2) mit seinem Figureninventar be‐ zeichnet, wie er sich in der literarischen Überlieferung etabliert hat und z. B. in mythischen oder religiösen Erzählungen bzw. in den Legenden vorliegt, die bestimmte historische Persönlichkeiten umgeben. Ein Beispiel hierfür wäre der antike Daphne-Mythos, wie er von Petrarca in seinem Canzoniere 46 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="47"?> Motiv Thema Aufgabe 2.9 Nachschlagewerke Text 2.5 Das Zusammenspiel von Themen und Motiven verarbeitet wird (vgl. Einheit 5.1), oder die Pest, die Boccaccios Decameron (Einheit 8.1) als Rahmen dient und auch von Manzonis Promessi sposi (Einheit 9.1) aufgegriffen wird. Der Stoff ist stets eine charakteristische Kombination von Motiven, die mit den Personen und einer zugrunde liegenden Problematik eine Verbindung eingehen. Das Motiv selbst ist eine kleinere Einheit innerhalb des Handlungsgefüges, das mit anderen Motiven zusammen in den Gesamttext eingewoben ist und das Geschehen maßgeblich bestimmt oder in kondensierter Form enthält. Als Beispiele seien das Motiv der ‚Verwechslung‘, der ‚Reise‘ oder der ‚verlorenen Jugend‘ genannt. Relevante Motive für den in Einheit 9.2 behandelten Roman Conversazione in Sicilia von Elio Vittorini sind die Motive der Reise, des Essens und der Kindheit. Das Thema wiederum formuliert in ganz grundlegender und abstrakter Weise den Sinngehalt des Textes, wie er aus der Verknüpfung von Motiven, Handlungseinheiten und Charakteren entsteht; im Thema wird die zentrale Idee des Textes erfasst, die oftmals auf einer Konfliktsituation beruht und die Entwicklung der Charaktere beeinflusst. Im Falle der Conversazione in Sicilia (Einheit 9.2) wäre das Thema die menschlichen Grundhaltungen angesichts des Übels in der Welt. Für die Rime der Vittoria Colonna (Einheit 5.1) erscheint die Trauer über den Tod des geliebten Ehegatten als Thema, das sich wie ein Leitfaden durch die Gedichtsammlung zieht. 1 5 Themen und Motive haben einen entscheidenden Einfluß auf das Netz textinter‐ ner Beziehungen: Sie koordinieren Handlungsverläufe, verknüpfen diskursive Beziehungen, in denen sich das Geschehen zuspitzt, und integrieren das Textfeld. Darüber hinaus erschließt das Themenstudium die wechselseitige Abhängigkeit von Figurenkonzeption, Motiven und Themen. Ersichtlich wird das Problem eines bisher wenig beachteten Funktionszusammenhangs: Themen und Motive bestim‐ men häufig wiederkehrende Grundmuster literarischer Werke, die Aufschluß geben über ein unausgesprochenes Regelsystem, das der individuellen Formge‐ bung innerhalb einer unüberschaubaren literarischen Produktion zugrunde liegt. (Daemmrich: 1987, XI-f.) ? Klären Sie anhand eines literaturwissenschaftlichen Nachschlage‐ werks den Begriff ‚Leitmotiv‘. Für das Gebiet der Stoff- und Motivforschung liegen zahlreiche Nachschla‐ gewerke vor, welche bei der Analyse eines entsprechenden Textes eine wert‐ volle Hilfestellung geben (siehe hierzu die Zusammenstellung in Einheit 3.4). Für den deutschen Sprachraum sind an erster Stelle Elisabeth Frenzels Motive der Weltliteratur und Stoffe der Weltliteratur zu nennen. Sie führen in die we‐ 2.5 Thema, Stoff, Motiv 47 <?page no="48"?> Aufgabe 2.10 ! Ein Kanon verzeich‐ net überlieferungswürdige Werke Aufgabe 2.11 Abb. 2.10 Thalia, die Muse der Komö‐ die sentlichen Elemente des jeweiligen Gegenstandes ein und verfolgen ihn über die Grenzen der Nationalliteraturen hinweg. ? Überprüfen Sie anhand des erwähnten Bandes Motive der Weltliteratur (Stuttgart 6 2008) den Aufbau des Artikels „Frauenraub, Frauennötigung“. Welche Nationalliteraturen werden in die Darstellung einbezogen, inwie‐ weit werden die genannten Texte zueinander in Beziehung gesetzt? 2.6 Kanon Eine wichtige Funktion, die ergänzend zu den bereits genannten von Poetiken und Literaturgeschichten gleichermaßen übernommen wird, besteht in deren Beitrag zur Bildung eines Kanons. Unter Kanon versteht man dabei eine Zu‐ sammenstellung der wichtigen Werke für einen bestimmten Bereich, z. B. die ‚schöne‘ Literatur, durch die kompetenten Meinungsträger. Als Vorbild die‐ nen die ‚kanonischen‘ Texte des Alten und des Neuen Testamentes, d. h. jene Texte, die im Gegensatz zu den sog. apokryphen Schriften in die Bibel aufge‐ nommen wurden. Die Kanonbildung hängt direkt vom Literaturverständnis einer ausschlag‐ gebenden Trägergruppe ab, die ein Urteil über Wert und Unwert literarischer Texte fällt und unter ihnen diejenigen herausgreift, welche in Hinblick auf Form und Gehalt als mustergültig, als literaturgeschichtliche Meilensteine und als überlieferungswürdig gelten. Die dadurch zustande kommende Aus‐ wahl vereint daher die im weiteren Sinne gerne als ‚Klassiker‘ (classici, m.) oder im Deutschen als ‚Höhenkammliteratur‘ bezeichneten Texte. ? Nennen Sie unter Einbezug der bisherigen Ausführungen die mögli‐ chen Meinungsträger, d. h. Gruppen oder Institutionen, welche maßgeb‐ lich an der Bildung eines Kanons beteiligt sein können. Zu bedenken ist auch in diesem Zusammenhang wieder die Zeitgebundenheit der Kanones (Plural von ‚Kanon‘) und die gleichzeitige Existenz mehrerer rivalisierender Kanones. Im Zuge des kulturgeschichtlichen Wandels, der sich auch in der Verän‐ derung der an der Kanonbildung beteiligten Gruppen spiegelt, werden Texte letztendlich daran gemessen, ob sie eine wie auch immer geartete Aussage‐ kraft - und sei es nur im Sinne der literaturgeschichtlichen Tradition - be‐ sitzen. Kanonbildung ist demnach ein besonders eingängiges Phänomen der 48 2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle <?page no="49"?> Deutungskanon Aufgabe 2.12 Zusammenfassung  literarischen Rezeption, wobei mit der Auswahl bevorzugter Texte gleichzei‐ tig ihre Auslegung in weiten Teilen festgelegt wird (‚Deutungskanon‘). ? Welche äußeren Faktoren könnten im 20. Jh. auf deutscher Seite die Kanonbildung zur italienischen Literatur beeinflusst haben? In welcher Form kommen Studierende der Literaturwissenschaft heute mit Kanones der italienischen Literatur in Berührung? Wer beschäftigt sich in der Gegenwart beschreibend und wertend mit der Literatur? Die Bestimmungen, was Literatur ist, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sie funktioniert oder zu funktionieren habe, welche Kriterien über ihren Wert entscheiden und in welche traditionsbildenden Zusammenhänge sie ein‐ zuordnen ist, hat seit jeher die kritische Auseinandersetzung mit ihr ge‐ prägt und wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter den sich wan‐ delnden sozio-kulturellen Rahmenbedingungen verschieden beantwortet. Nur die Kenntnis der historischen Stufen dieses Meinungsbildungsprozes‐ ses erlaubt es, die einzelnen literarischen Texte auch angemessen hinsicht‐ lich ihrer Einordnung in gattungs- und epochenspezifische Kontexte zu beurteilen und die schwierige Frage nach ihrem ästhetischen Wert, ihren formalen wie inhaltlichen Besonderheiten und ihrer Bedeutung für das zeitgenössische Publikum oder spätere Generationen zu beantworten. Literatur Aristoteles: Poetik. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2 1994. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen: Narr Francke Attempto 11 2003. Johann Wolfgang v. Goethe: West-östlicher Diwan, in: Ders., Werke. Band II. Hg. Erich Trunz. München: C. H. Beck 11 1978, 7-270. Martin Haase: Italienische Sprachwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Narr 2 2013 (bachelor-wissen). Alessandro Manzoni: Sul romanticismo. Lettera al marchese Cesare d’Azeglio, in: Ders., Scritti di teoria letteraria. Hg. Adelaide Sozzi Casanova. Milano: Rizzoli 1981, 155-190. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwick‐ lung in der neueren Kunst. München: Bruckmann 1915. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 2.6 Kanon 49 <?page no="51"?> Überblick 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten Inhalt 3.1 Kompetenzen aus italoromanistischen Studiengängen 3.2 Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissen‐ schaftler 3.3 Zum Wissenschaftsbegriff der Geisteswissenschaften 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 3.5 Arbeitstechniken Die folgende Einheit bietet Ihnen einen Überblick über zwei praktische Dimensionen des wissenschaftlichen Arbeitens: Zunächst werden die zentralen Tätigkeitsbereiche vorgestellt, die sich an ein BA- oder MA- Studium anschließen können. Auch soll geklärt werden, inwiefern die im Studium erworbenen Kompetenzen im Umgang mit Literatur den An‐ spruch der Wissenschaftlichkeit erheben können. Nach diesem allgemei‐ nen Überblick kann in einem zweiten Abschnitt in die für das Studium relevanten Arbeitstechniken eingeführt werden, so in die Literaturre‐ cherche, das Verfassen einer wissenschaftlichen Hausarbeit oder die Be‐ nutzung bibliographischer Hilfsmittel. <?page no="52"?> Abb. 3.1 Der mittelalterliche Bakkalaureus als Vorläufer des modernen Bachelor-Grades; hier: mittelalterliche Vorlesung Wissen und Kompetenzen ! Schlüsselqualifikationen 3.1 Kompetenzen aus italoromanistischen Studiengängen Im Bereich der Romanistik im All‐ gemeinen und in der auf die italie‐ nische Sprache und Kultur bezoge‐ nen Italoromanistik gibt es im deutschen Sprachraum bereits eine große Anzahl von Bachelor- und Master-Studiengängen. In ihnen geht es - abgesehen von der grund‐ legenden fremdsprachlichen Kom‐ petenz! - einerseits um den Erwerb fachspezifischen Wissens, so auf den Gebieten der Literatur- (und Kultur-)Geschichte, der Landes‐ kunde, der Sprachwissenschaft, an‐ dererseits um das Erlangen maß‐ geblicher Kompetenzen, die als praktische Fähigkeiten zur Anwen‐ dung von Wissensinhalten definiert sind. Für die italienische Literaturwissenschaft, in die der vorliegende Band einführt, stehen folgende Kompetenzen im Vordergrund: ▶ eine kritisch-wissenschaftliche Lesehaltung und die objektivierbare Be‐ urteilung der Literarizität eines Textes; ▶ das Einordnen von literarischen Texten in literatur- und kulturgeschicht‐ liche Kategorien und Zusammenhänge; ▶ die Beherrschung der zentralen wissenschaftlichen Arbeitstechniken zur Informationsrecherche, -beurteilung und -verarbeitung und die Fähigkeit zur selbständigen Abfassung von nach gültigen fachlichen Standards argumentierenden und kohärenten Arbeiten/ Referaten; ▶ die Fähigkeit, lyrische, dramatische, narrative und andere Texte unter Verwendung der spezifischen Kategorien und Techniken zu analysieren; ▶ die Anwendung von literaturtheoretischen Modellen, Ansätzen und Me‐ thoden für die Interpretation von literarischen Texten; ▶ die Ausweitung der kritischen Analyse auf die verschiedenen medialen Repräsentationsformen von literarischen und nicht-literarischen Texten. Zu den genannten Kernkompetenzen des Studiengangs kommen im Wei‐ teren noch sog. Schlüsselqualifikationen (oder Schlüsselkompetenzen, Kernkompetenzen, soft skills) hinzu, die allgemeine, nicht-fachspezifische Fähigkeiten umfassen, die im Verlauf des Studiums vermittelt werden. Ge‐ rade den AbsolventInnen geisteswissenschaftlicher Studiengänge werden 52 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="53"?> Allgemeinwissen, Grundtechniken Verstehen Persönlichkeit Kommunikation auf diesem Gebiet gerne höhere Fertigkeiten zugesprochen als ihren natur‐ wissenschaftlichen KollegInnen, wobei es sich jedoch um ein Klischee han‐ delt, das von der im Umbruch befindlichen Hochschullandschaft bereits widerlegt wird. Nichtsdestotrotz ist der Erwerb von Schlüsselkompetenzen vor allem für GeisteswissenschaftlerInnen von besonderer Bedeutung, da von ihnen oftmals eine hohe Bereitschaft zur Einarbeitung in berufliche Fachgebiete verlangt wird, die nicht unbedingt auf der direkten Linie ihres ursprünglichen Ausbildungsweges liegen. Zu den Schlüsselqualifikationen zählen unter anderem: ▶ allgemeines Basiswissen und Arbeitstechniken ▷ Allgemeinbildung, ▷ EDV-Kenntnisse, ▷ Präsentationstechniken, ▷ Lerntechniken, ▷ Zeitmanagement; ▶ kognitive Kompetenzen ▷ Erkennen von Zusammenhängen (z. B. die rasche und bündige Zusammenfassung von Texten) und Transferfähigkeit, v. a. Pra‐ xisvermittlung (didaktisierte bzw. zielgerichtete Vermittlung des eigenen Wissens), ▷ logisches und abstraktes Denken; ▶ Persönlichkeitsmerkmale ▷ Eigeninitiative, ▷ Zielorientierung, ▷ Selbstsicherheit, ▷ Entscheidungsfähigkeit, ▷ Flexibilität; ▶ soziale/ kommunikative Kompetenzen ▷ schriftliche und mündliche Kommunikationsfähigkeit in Mutter- und Fremdsprache (versierter Ausdruck im Rahmen verschiedener Textsorten), ▷ Fähigkeit zur Moderation von Veranstaltungsrunden, ▷ Selbstmarketing (vorteilhafte Selbstdarstellung), ▷ Teamfähigkeit, ▷ Konflikt- und Kritikfähigkeit, ▷ Durchsetzungsfähigkeit. Über den Katalog der wichtigsten Schlüsselqualifikationen wird unter der Vielzahl der kursierenden Vorstellungen keine einhellige Meinung zu erzielen sein. Zugleich verdeutlicht die obenstehende Liste, dass viele der Fähigkeiten zwar über eine gezielte Didaktisierung des Hochschulunterrichts gefördert werden können (z. B. Bildung von Arbeitsgruppen, Einübung von Präsenta‐ 3.1 Kompetenzen aus italoromanistischen Studiengängen 53 <?page no="54"?> Praktikum und Volontariat tions- und Moderationstechniken, anwendungsorientierte Übungsaufgaben), sie aber gleichzeitig immer in Abhängigkeit von der charakterlichen Anlage der Person zu sehen sind, der es nicht zuletzt selbst obliegt, ihre Eigenschaften und Qualitäten zu schulen. 3.2 Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler Nach dem erfolgreichen Abschluss eines Bachelor-Studiums der Italianistik (bzw. der Italienischen Studien oder entsprechender anderer Studiengangs‐ bezeichnungen) stehen den Absolventinnen und Absolventen prinzipiell viel‐ seitige Orientierungsmöglichkeiten offen. Dabei ist jeweils zu beachten, ob ein direkter Berufseinstieg möglich ist oder ob noch eine zusätzliche Weiter‐ qualifikation, z. B. in Form eines spezialisierten Master-Studiums, benötigt wird. Ausschlaggebend ist das inhaltliche Anforderungsprofil der jeweiligen Tätigkeit (Stellenbeschreibung) bzw. der geforderte Grad des akademischen Abschlusses, häufig auch die vorberufliche Praxiserfahrung, die bei Praktika oder Volontariaten gesammelt wurde. Abgesehen von der Möglichkeit eines nicht studienspezifischen Querein‐ stiegs zeichnen sich in erster Linie folgende Tätigkeitsfelder ab: ▶ Bildungswesen Das - rein zahlenmäßig - bedeutendste Berufsziel von Studierenden der Italoromanistik ist die Tätigkeit als ItalienischlehrerIn an Sekun‐ darschulen. Für diesen Beruf ist in aller Regel ein an den Bachelor anschließender lehramtsbezogener Master (oder ein grundständiger fünf‐ jähriger Lehramtsstudiengang) sowie ein je nach Bundesland anderthalbbis zweijähriger Vorbereitungsdienst (Referendariat) an einer Schule erforderlich. Daneben bietet der Bildungssektor auch Tätigkeiten im Bereich der Erwachsenenbildung, etwa in Volkshochschulkursen oder spezialisierten Sprachschulen, oder auch die Übernahme von Aufgaben der innerbetrieblichen Weiterbildung (z. B. die Vermittlung der oben genannten Schlüsselqualifikationen). ▶ Forschung In diesem Bereich ist ein Aufbaustudium in Form eines Master- und meist auch eines anschließenden Promotionsstudiengangs Voraussetzung. ▶ Übersetzerdienste Neben der Vermittlung von Sprachkenntnissen oder Schlüsselqualifika‐ tionen können sprachpraktische Kompetenzen für Übersetzungstätigkei‐ ten in unterschiedlichsten beruflichen Kontexten genutzt werden; im Falle literarischer Übersetzungen kommen hier natürlich auch literatur‐ wissenschaftliche Kompetenzen besonders zum Tragen. Wiederum gilt, 54 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="55"?> Planungsunsicherheit Notwendigkeit der Speziali‐ sierung  Internet-Adressen zur Berufsorientierung auf www.bachelor-wissen.de dass ohne qualifizierende Zusatzausbildung bzw. vorberufliches Engage‐ ment nur schwer eine Anstellung zu finden sein wird; neben dem breiten italianistischen Studium gibt es Übersetzerstudiengänge mit sprachprak‐ tischem Fokus. Der Bereich des Dolmetschens ist immer Gegenstand spezialisierter Studiengänge. ▶ Archive, Bibliotheks- und Verlagswesen, Buchhandel Der Bachelorgrad kann auf diesem Sektor als Vorstufe für eine Lehre oder eine spezialisierte Master-Ausbildung dienen. Auch Praktika oder Volontariate können den Berufseinstieg nach dem Bachelor ermöglichen. ▶ Journalismus Analog zum letztgenannten Punkt gilt, dass eine über den Bachelorgrad hinausführende spezielle Qualifizierung in der Regel unerlässlich ist. ▶ Kulturabteilungen Eine Vielzahl von öffentlichen oder privatrechtlichen Institutionen leis‐ tet sich auch heute noch spezielle Kulturabteilungen, die ein breites Spektrum an Betätigungsfeldern bieten. Zu denken ist an die Kultur‐ abteilungen der Verwaltungen auf kommunaler, Landkreis-, Landes- oder Bundesebene (Kultus-/ Bildungsministerium). Zahlreiche Stiftungen beschäftigen spezialisierte GeisteswissenschaftlerInnen, ebenso die Ab‐ teilungen für Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit großer Konzerne. ▶ Sonstige privatwirtschaftliche Unternehmen Nicht zuletzt gibt es eine kaum einzugrenzende Vielzahl von privatwirt‐ schaftlichen Dienstleistern, in denen eine Tätigkeit angesiedelt sein kann, etwa im Bereich der Touristik oder des Eventmanagements. So groß und abwechslungsreich das Angebot der möglichen beruflichen Tä‐ tigkeiten für Bachelorbzw. Master-AbsolventInnen erscheinen mag, so we‐ nig können Studierende letztendlich den genauen Verlauf ihrer Karriere kon‐ trollieren. Dennoch ist eine genaue Planung des Studienverlaufs und der begleitenden anderen Formen von Ausbzw. Weiterbildung sinnvoll: Je früher Studierende sich ein geschärftes Ausbildungsprofil zulegen, desto aussichts‐ reicher sind die Chancen für den Erfolg im anvisierten Berufsfeld. Die Ge‐ staltungsmöglichkeiten reichen dabei von der Auswahl des Bachelorstudien‐ faches (bzw. der Fachkombination aus Haupt- und Nebenfach) über die Kombination der möglichen Module, das Engagement in Praktika, Volonta‐ riaten, studentischen oder akademischen Programmen und sonstigen ehren‐ amtlichen Tätigkeiten bis zur Spezialisierung in einem Master-Studiengang. Daraus folgt im Besonderen für die Entscheidung, sich in einen literatur‐ wissenschaftlichen Bachelor- oder Masterstudiengang der Italianistik einzu‐ schreiben, dass die Studierenden unbedingt ein ausgeprägtes Interesse an der Sprache und Kultur Italiens aufweisen sollen, dass sie außerdem gerne und viel lesen und dass sie die nötige Motivation und Fähigkeit zu selbständigem, teilweise ausdauerndem Arbeiten mitbringen. 3.2 Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler 55 <?page no="56"?> ‚Natur‘ vs. Geistestätig‐ keit Intersubjektivität  Zusatzmaterial zu den Geistes- und Kulturwissen‐ schaften finden Sie auf www.bachelor-wissen.de 3.3 Zum Wissenschaftsbegriff der Geisteswissenschaften Wer ein literaturwissenschaftliches Studium beginnt, vor allem wenn die‐ ses nicht auf eine Karriere im staatlichen Schuldienst abzielt, sieht sich mitunter einem gewissen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Dahinter steckt des Öfteren das gängige Vorurteil, die Beschäftigung mit Literatur sei aus gesamtgesellschaftlicher Sicht mehr oder minder überflüssig, ein Luxus für Schöngeister, die lediglich klug über Phantasiegebilde daherzureden wüss‐ ten. Hinter dieser Fehleinschätzung verbirgt sich zunächst eine schlichte Unkenntnis der Studieninhalte und v.-a. der im Studium erworbenen Kom‐ petenzen. Darüber hinaus spiegelt sie allerdings ein noch viel tiefer rei‐ chendes Problem: die naive Gleichsetzung von ‚Wissenschaftlichkeit‘ mit den ‚Naturwissenschaften‘. Doch auch, wenn sich nicht experimentell ‚beweisen‘ lässt, dass die höfi‐ sche Epik des ausgehenden Mittelalters mit einem Wandel der sozio-kultu‐ rellen Gegebenheiten in Einklang steht oder dass eine Erzählung von Italo Svevo ein neuartiges Bild auf die zwischenmenschlichen Beziehungen wirft, so können die beiden genannten Thesen doch im Rahmen der literaturwis‐ senschaftlichen Methodik belegt werden, und zwar im Sinne einer plausiblen Argumentation, die von anderen Kennern der Materie in der Diskussion ernst genommen werden kann (Intersubjektivität). Insofern haben die Geisteswissenschaften Teil an einem allgemeinen Wis‐ senschaftsbegriff, der mit folgenden Kriterien umrissen werden kann: ▶ die systematische Ordnung von Erkenntnissen auf einem bestimmten Gebiet, die in ihrem Aufbau den Gesetzen der Logik entspricht und auf der ein Lehrgebäude errichtet werden kann; ▶ die Verwendung einer wissenschaftlichen Fachsprache, deren genau definierte Terminologie eine eindeutige Beschreibung der untersuchten Gegenstände erlaubt; ▶ die Formulierung von rational begründbaren Thesen (Vermutungen), welche mit den bisherigen (am besten: gesicherten) Erkenntnissen des Wissensgebietes in einen systematischen Zusammenhang gebracht wer‐ den können, d. h. mit einer Theorie (wissenschaftlichen Modellen) erklärt werden können; ▶ die intersubjektive Stichhaltigkeit von Thesen und Theorien, d. h. ihre Nachvollziehbarkeit und rationale Überprüfbarkeit von Seiten kompeten‐ ter anderer WissenschaftlerInnen - Wissenschaft lebt deshalb von der kritischen Diskussion, welche Thesen stützt, ihren Geltungsbereich (neu) ermittelt oder verwirft. 56 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="57"?> Aufgabe 3.1 Primärtexte Textkritik  Zusatzinforma‐ tionen auf www.bachelor-wissen.de Historisch-kritische Ausga‐ ben Studienausgaben Leseausgaben Bekannte Primärtextreihen ? Verschaffen Sie sich anhand eines Vorlesungsverzeichnisses oder der Internet-Präsentation der von Ihnen besuchten (oder in Zukunft zu besuchenden) Universität einen Überblick über die Fachbereiche bzw. Fa‐ kultäten. Welche Disziplinen werden gelehrt, wie werden sie gruppiert? 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel Für die konkrete literaturwissenschaftliche Arbeit während des Studiums und danach steht eine unüberschaubare Zahl von Hilfsmitteln in Form von gedruckten oder digitalen Publikationen zur Verfügung, deren Gebrauch nicht nur das Verständnis, die Einschätzung und Interpretation literarischer Texte erleichtert, sondern mitunter erst ermöglicht. Die folgende Übersicht dient lediglich einer ersten Orientierung und muss nach und nach ausgeweitet und individuell angepasst werden. Das Untersuchungsobjekt liegt in der heutigen Literaturwissenschaft, da sehr viele Texte durch die Arbeit früherer Forschergenerationen erschlossen sind, meist in Gestalt gedruckter, zuverlässiger Ausgaben vor. Insbesondere bei älteren Werken, die mitunter bruchstückhaft oder in verschiedenen Ma‐ nuskriptfassungen überliefert wurden, bedurfte es hierfür der sog. Textkritik, die nach Sichtung der Fassungen und kritischem Vergleich sowie unter Rück‐ griff auf die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte eine verlässliche Aus‐ gabe erstellt und sämtliche Varianten in dem sog. kritischen Apparat festhält. Eine solche umfassende Referenzausgabe für alle wissenschaftlichen Zwecke, die freilich für eine einfache Lektüre schon aufgrund des Umfangs nicht sehr geeignet ist, heißt historisch-kritische Ausgabe. Eine Stufe schlichter ist die sog. Studienausgabe, die aber immer noch wissenschaftlich exakt ist, über die Quelle der abgedruckten Textfassung Rechenschaft ablegt und ausführliche Kommentare und ergänzende Informationen zu Entstehung und Rezeption bietet. Wie der Name andeutet, sind solche Ausgaben für das Studium ange‐ zeigt. Einfache Leseausgaben drucken lediglich eine Fassung des literarischen Textes ab, evtl. versehen mit einem Vor- oder Nachwort und gelegentlichen Anmerkungen. Solche Ausgaben sind allein normalerweise nur für eine erste Lektüre, nicht für die Arbeit am Text empfehlenswert, insbesondere nicht bei älteren oder sehr stark erforschten Texten. Bei neuerer Literatur stehen al‐ lerdings naturgemäß oft nur Leseausgaben zur Verfügung. Wichtige Primär‐ textreihen zur italienischen Literatur sind die folgenden: ▶ Die beim Mailänder Verlag Mondadori erscheinende Reihe I meridiani bietet ausführlich kommentierte und mit bibliographischen Angaben ver‐ sehene Referenzausgaben der kanonischen italienischen (und auch ein‐ zelner nicht-italienischer) AutorInnen aller Jahrhunderte. Manche Titel 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 57 <?page no="58"?> Online-Primärtext- Ressourcen Übersetzungen der Meridiani sind als Taschenbuchausgaben in der Reihe Oscar Grandi Classici verfügbar. Auch bei Mondadori gibt es mit den Classici contem‐ poranei italiani eine Standardreihe zum 20. Jh., die allerdings 1985 einge‐ stellt wurde. ▶ Unter den ebenfalls mit kritischem Apparat versehenen Studienausgaben verdient besonders die Reihe Letteratura italiana des Verlags Ricciardi Erwähnung. Manche ihrer Titel wurden bei Einaudi (Turin) in die etwas schlichtere, aber ebenfalls sehr bekannte Reihe Nuova universale Einaudi übernommen. ▶ Zu den chronologisch ersten großen Reihen, die aber, insbesondere hinsichtlich der Qualität des Textes, immer noch Referenzausgaben sind, gehören die Scrittori d’Italia (Laterza), die Classici italiani (UTET) sowie die Classici Rizzoli aus dem gleichnamigen Mailänder Verlag. ▶ Ältere Werke findet man in der Biblioteca scolastica di classici italiani (Sansoni). Eine beträchtliche Zahl kanonischer Texte der italienischen Literatur sind online als Volltexte verfügbar, die man herunterladen und durchsuchen kann, was je nach Untersuchungsziel sehr hilfreich bis unentbehrlich sein kann: ▶ Die Datenbank Biblioteca italiana Zanichelli (BIZ) bietet Zugriff auf über 1000 Volltexte vom Mittelalter bis zum frühen 20. Jh. Der Zugriff auf die Datenbank ist beschränkt; sehen Sie im Katalog der Bibliothek Ihrer Universität nach, ob diese ein entsprechendes Abonnement hat. ▶ Unter http: / / liberliber.it stehen Tausende gemeinfreie Werke der italieni‐ schen Literatur als Volltexte in verschiedenen Formaten bereit, sortiert nach Autorennamen, Werktitel und anderen Kriterien (z.-B. Gattung). ▶ Ebenso stellt die italienische Version von Wikisource, der Textdatenbank der Wikimedia Foundation, unter http: / / it.wikisource.org Volltexte zur Verfügung. Da sie in teilweise recht kleinschrittig getrennten Abschnitten vorliegen, kann die Handhabung dieser Texte, etwa zum Durchsuchen nach Schlüsselbegriffen, etwas unkomfortabel sein. ▶ Neben diesen allgemeinen Volltextdatenbanken gibt es solche, die be‐ stimmten Autoren oder Themen gewidmet sind, etwa das Decameron Web (www.brown.edu/ Departments/ Italian_Studies/ dweb), das eine digitale Ausgabe der berühmten Novellensammlung von Giovanni Boccaccio bietet, oder die kritische Online-Edition von Dantes Divina Commedia unter http: / / sd-editions.com/ AnaAdditional/ commediaonline/ home.html. Für die Lektüre solcher Primärtexte ist, zumal bei eingeschränkter Kenntnis des Italienischen zu Beginn des Studiums, der Gebrauch von Übersetzungen legitim, wenn sie nur als Verständnishilfe benutzt werden und berücksichtigt wird, dass Übersetzungen immer eine signifikante (auch inhaltliche) Abwei‐ chung vom Original, schlimmstenfalls eine entstellende Interpretation des‐ 58 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="59"?> Wörterbücher Enzyklopädien selben mit sich bringen. Bei literaturwissenschaftlichen Arbeiten ist der Re‐ kurs auf eine Originalausgabe unumgänglich und Übersetzungen sind nicht zitierfähig (es sei denn, es geht um Fragestellungen zu Übersetzung und Re‐ zeption eines Werks). Deutsche Übersetzungen von besonders kanonischen Texten nicht nur italienischer Sprache finden Sie im Portal des Projekts Gu‐ tenberg (www.projekt-gutenberg.org) oder bei www.zeno.org. Das erste Interesse gilt bei einem literarischen Werk natürlich dem Pri‐ märverständnis des Wortlauts. Hierfür gibt es eine Reihe von einsprachigen Wörterbüchern der italienischen Sprache: ▶ Der erste Griff geht üblicherweise zum Zingarelli. Dieses einsprachige Wörterbuch des Gegenwartsitalienischen, das aber auch ältere Sprach‐ stufen in Maßen berücksichtigt, sollte man immer verfügbar haben; es ist natürlich in Papierform, aber auch als e-Book sowie als App für iOS oder Android verfügbar. Eventuell hat Ihre Hochschule ein Abonnement für den Online-Zugriff, überprüfen Sie das im Bibliothekskatalog bzw. dem Datenbankportal. ▶ Wo schwierige Texte ein umfassenderes Wörterbuch erfordern, steht das 1961 begonnene, aber erst 2002 abgeschlossene Grande dizionario della lingua italiana in 21 Bänden (plus 2 Supplementbänden) zur Verfügung. Es zeichnet sich insbesondere durch die zahlreichen Verwendungsbeispiele aus der italienischen Literatur aus, die jeder Begriffsdefinition folgen. ▶ Für Texte älterer Epochen bietet sich der Rückgriff auf ein spezialisiertes Wörterbuch wie den online verfügbaren Tesoro della Lingua Italiana delle Origini (tlio.ovi.cnr.it/ TLIO) an - auch wenn das archaisch anmutende Nutzerinterface dies nicht vermuten lässt: er wird weiter aktualisiert. Geht es nicht um rein sprachliche Verständnisprobleme, sondern um fehlende Hintergrundinformationen allgemeiner Art, so ist zunächst ein Blick in enzyklopädische Nachschlagewerke angezeigt, zum Beispiel: ▶ Das Grande Dizionario Enciclopedico des Verlags UTET, 20 Bände, 4. Auf‐ lage 1989-93, ▶ die Enciclopedia Einaudi, 16 Bände 1979-84, teilw. erneuert 1992/ 93, ▶ oder der deutsche Brockhaus. ▶ Die inzwischen populärste Enzyklopädie überhaupt, Wikipedia, ist nicht nur umfangreich und oft sehr ausführlich und aktuell, sondern natürlich auch in italienischer Sprache verfügbar (http: / / it.wikipedia.org), für sie gilt aber derselbe Warnhinweis wie für andere offene Online-Quellen (s. am Ende dieses Abschnitts). Enzyklopädien sind, außer im erwähnten Fall historischen Interesses, nor‐ malerweise wirklich nur für Hintergrundinformationen und zur Orientierung verwendbar. Für detailliertere Informationen zu bestimmten Teilbereichen 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 59 <?page no="60"?> Fachlexika der Hilfswissen‐ schaften ! Enzyklopädien nicht für Fachfragen benutzen Literarische Lexika Literaturgeschichten (wie antike Mythologie, Philosophie, Theologie usw.), die je nach Text große Relevanz besitzen können, stehen Fachlexika der Hilfswissenschaften zur Verfügung, die Sie zumindest in den entsprechenden Institutsbibliotheken finden können. Eigentlich literaturwissenschaftliche Informationen (etwa zu Werken, Autoren, Gattungen) sollten unbedingt aus entsprechender Fachli‐ teratur und keinesfalls aus allgemeinen Enzyklopädien bezogen werden. Dazu gehören beispielsweise literarische Lexika, die überblicksartig und mit dem‐ gemäß geringer wissenschaftlicher Detailschärfe Informationen zu literari‐ schen Texten bieten: ▶ Kindlers Literatur Lexikon (im Print zuletzt 2009 in 18 Bänden erschie‐ nen, besser allerdings online per Abonnement Ihrer Universität unter www.kll-online.de konsultierbar) bietet zu Tausenden von Werken der Weltliteratur Inhaltsangaben, Kontextualisierung (Bezüge, Rezeption, Forschung), Primärtextausgaben, Übersetzungen, Verfilmungen und einige einschlägige Sekundärliteraturangaben. ▶ Alberto Asor Rosa (Hg.): Letteratura italiana. Turin: Einaudi 1982-2000, ist ein monumentales Nachschlagewerk zur italienischen Literatur in 20 Bänden, das in mehreren Teilen historische Darstellungen literari‐ scher Produktion und gesellschaftlicher Kontexte, gattungsgeschichtli‐ che Überblicke, Regionalliteraturen, biographische Einzeldarstellungen und von namhaften AutorInnen verfasste Essays zu ausgewählten Wer‐ ken der italienischen Literatur vereinigt. ▶ Darüber hinaus gibt es auf einzelne Epochen oder AutorInnen speziali‐ sierte Lexika wie die sechsbändige Enciclopedia dantesca (2. Auflage 1984) oder das Dizionario critico della letteratura italiana del Novecento von 1997. Zum Zwecke der Orientierung, weniger zu einzelnen Werken als zu ge‐ schichtlichen, sozialen und literarästhetischen Kontexten, sind literaturge‐ schichtliche Darstellungen hilfreich, beispielsweise: ▶ Eugenio Malato (Hg.): Storia della letteratura italiana. 14 Bände. Rom 1994ff. ▶ Volker Kapp (Hg.): Italienische Literaturgeschichte. Stuttgart/ Weimar 3 2007. ▶ Giuseppe Petronio: L’attività letteraria in Italia, Palermo 1993, in deut‐ scher Übersetzung unter dem Titel Geschichte der italienischen Literatur, Tübingen/ Basel 1992/ 93 verfügbar. ▶ Die oben bereits erwähnte, von Alberto Asor Rosa herausgegebene Gesamtdarstellung Letteratura italiana. ▶ Peter Brand (Hg.): The Cambridge Histor y of Italian Literature, Cambridge 1997, per Abonnement als Volltext zum Download verfügbar unter https: / / doi.org/ 10.1017/ CHOL9780521434928. 60 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="61"?> Aufgabe 3.2 Stoff- und themenge‐ schichtliche Wörterbücher ▶ Neben vielen anderen Gesamtdarstellungen unterschiedlicher Ausrich‐ tung gibt es zahllose monographische Epochendarstellungen, die je nach Einzelfall vertiefte Kontextinformationen bieten; so können z. B. im Pro‐ gramm der Cambridge University Press weitere, spezifischere Volltext- Nachschlagewerke zu einzelnen literaturgeschichtlichen Epochen oder Autoren heruntergeladen werden, etwa The Cambridge companion to the Italian novel oder The Cambridge companion to Petrarch; sehen Sie im Katalog Ihrer Hochschule nach. ? Konsultieren Sie zu einem italienischen literarischen Text, den Sie, wenn möglich, aus eigener Lektüre kennen, ein literarisches Lexikon wie den ‚Kindler‘ und eine Literaturgeschichte wie die von Volker Kapp herausgegebene. Zu welchen Aspekten des Textes erhalten Sie dort jeweils Informationen? Vergleichen Sie diese mit dem Textwissen, das Sie aus Ihrer Lektüre besitzen. Ein einzelnes literarisches Werk steht nicht nur in einem bestimmten epo‐ chalen Kontext, über den Überblicks-Literaturgeschichten Auskunft geben, sondern ist meist auch Teil einer thematischen Tradition, die eine (oft über die konstruierten Grenzen von Nationalliteraturen hinwegreichende) eigene Geschichte innerhalb der Literaturgeschichte bilden kann. Über sie informiert man sich in stoff- und themengeschichtlichen Nachschlagewerken wie: ▶ Die von der Komparatistin Elisabeth Frenzel erstellten Handbücher Stoffe der Weltliteratur ( 10 2005) und Motive der Weltliteratur ( 6 2008). ▶ Jean-Charles Seigneuret (Hg.): Dictionary of Literary Themes and Motives. 2 Bände. New York 1988. ▶ Frank N. Magill (Hg.): Cyclopedia of Literary Characters. 2 Bände. Engle‐ wood Cliffs, N.J. 1963. ▶ Valentino Bompiani: Dizionario Bompiani delle opere e dei personaggi di tutti i tempi e di tutte le letterature. Nuova ed. riv. e integrata. 12 Bände. Milano 2005. ▶ Das sehr umfassende Lexikon literarischer Figuren, Personen, Typen und Gruppen von Beatrix Müller-Kampel und Eveline Thalmann (Stuttgart: Hiersemann 2013), das zwar selbst unmittelbar keine Informationen zu den literarischen Figuren bereitstellt, dafür aber als ‚Meta-Nachschlage‐ werk‘ angibt, in welchen anderen stoff-, themen- und symbolgeschicht‐ lichen Lexika Informationen zum gesuchten Element und den Texten, in denen es vorkommt, zu finden sind; man erfährt also gleich, wo man nachschlagen sollte. Stellen sich im wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten dann Fragen zur Fachterminologie, zu (Gattungs-, Epochen-, Werk-)Konzepten 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 61 <?page no="62"?> Literaturwissenschaftliche Wörterbücher Suche nach Sekundärlite‐ ratur: Bibliographieren Bibliographische Hilfsmit‐ tel Thematische Literaturlis‐ ten in entsprechenden Mo‐ nographien sowie Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft, so bieten Fachwör‐ terbücher schnelle Orientierung - neben vielen anderen etwa die folgenden bekanntesten Vertreter: ▶ Rainer Hess/ Gustav Siebenmann/ Tilbert Stegmann: Literaturwissen‐ schaftliches Wörterbuch für Romanisten (LWR). Tübingen/ Basel 4 2003. Das Werk bietet v. a. Epochen- und Gattungsübersichten zu den romanischen Literaturen und ist hierfür erste Wahl der Romanistik-StudentInnen. ▶ Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 8 2013. Ein ‚klas‐ sisches‘ allgemeines Nachschlagewerk, brauchbar trotz der überwiegend germanistischen Ausrichtung. ▶ Zu literaturtheoretischen und methodischen Fragen bietet das von Ans‐ gar Nünning herausgegebene und auch als e-Book verfügbare Metzler- Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/ Weimar 5 2013, prägnante Kurzdarstellungen zu allen gängigen Konzepten und wichtigen Personen der Methodendebatten mit Verweisen auf Grundlagentexte. Allen genannten Informationsquellen ist gemeinsam, dass sie erste Orientie‐ rung und Überblick bieten. Für eine adäquate Beschäftigung mit und Teil‐ nahme an Forschungsdebatten sind sie zu oberflächlich und sollten daher auch in Aufsätzen und Seminararbeiten (siehe unten) nicht oder sehr sparsam zitiert werden. Eine Ermittlung und Sichtung der speziellen Sekundärliteratur zum jeweiligen Thema ist daher unerlässlich. Die unüberschaubare Zahl von Fachpublikationen macht es erforderlich, mit System nach einschlägigen Ar‐ beiten zu suchen, zu bibliographieren. Wie kann man hier vorgehen? ▶ Monographische Publikationen (d. h. ganze Bücher zu einem Thema) kann man über Online-Bibliothekskataloge finden, deren wichtigster der Karlsruher Virtuelle Katalog (KVK) ist (http: / / kvk.bibliothek.kit.edu). Es handelt sich um einen Meta-Katalog, der nationale wie internationale Bibliotheken durchsucht und die Ergebnisse zusammenstellt. Für eine thematische Suche empfiehlt sich insbesondere das Suchfeld „Schlag‐ wort“, das den Inhalt einer Publikation erfasst, auch wenn der entspre‐ chende Terminus nicht im Titel derselben auftaucht. Es empfiehlt sich, mit diesem Suchkriterium ein wenig zu experimentieren und bei bekann‐ ten ‚passenden‘ Publikationen ggf. nachzusehen, unter welchen Schlag‐ worten diese im Katalog rubriziert sind. In den gefundenen monographischen Publikationen finden sich meist weitere Literaturangaben zum Thema. Sie sind zwar u. U. selektiv, dafür aber rasch ermittelt und zudem meist hochgradig relevant für ein Thema. Insbesondere Überblicksdarstellungen jüngeren Datums können eine große Hilfe beim Bib‐ liographieren sein. Auch manche Primärtextausgaben beinhalten brauchbare 62 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="63"?> Fachbibliographien Bibliographien, jedenfalls für eine erste Einführung in die Forschung zum jeweiligen literarischen Werk. Abb. 3.2 Karlsruher Virtueller Katalog Einen verlässlichen Überblick über die Forschungslage bieten nur Biblio‐ graphien, die sowohl Bücher als auch Aufsätze eines Forschungsgebiets verzeichnen. Für die italienische Literaturwissenschaft gehören folgende Hilfsmittel zur ersten Wahl: ▶ Die Romanische Bibliographie, die 1961 als eigenständiges Publikations‐ verzeichnis aus den Supplementheften der Zeitschrift für Romanische Phi‐ lologie hervorging, verzeichnet jährlich mehrere tausend romanistische Fachpublikationen, ist also nicht auf das Italienische und auch nicht auf Literaturwissenschaft beschränkt. Wenn Sie im Katalog Ihrer Universi‐ tätsbibliothek nach den Titelwörtern „Romanische Bibliographie online“ suchen (und die Ergebnisse eventuell auf Online-Ressourcen einschrän‐ 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 63 <?page no="64"?> ken), sollten Sie relativ schnell den Zugang zur Datenbank (Abb. 3.3) fin‐ den. Bei einem Klick auf das Suchfeld öffnet sich die Suchmaske mit der Möglichkeit, differenzierte Suchkriterien auszuwählen und zu kombinie‐ ren: „Volltext“ für eine grobe Suche im Google-Stil über alle Felder, fili‐ graner und oft besser aber über die Felder „Titel“ (der wissenschaftlichen Publikation, nicht des Primärtextes), „Person“ (das ist der oder die Au‐ tor/ in des literarischen Werks, zu unterscheiden vom Feld „Autor“, mit der die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler gemeint ist, der die Publikation geschrieben hat) und vor allem „Schlagwort“. Abb. 3.3 Romanische Bibliographie (hier mit einer Suche nach Publikationen über Piran‐ dello-Verfilmungen) ▶ Online steht die auf Sprach- und Literaturwissenschaften allgemein ausgerichtete International Bibliography der Modern Language Associa‐ tion (MLA) zur Verfügung. Sie hat den Bequemlichkeitsvorteil einer differenzierten Suchmaschine für den Zeitraum ab 1926, dabei aber den Nachteil einer Konzentration auf amerikanische Forschungsbeiträge. Der Zugriff ist nicht frei, aber über die Hochschule normalerweise möglich - suchen Sie am besten im Bibliothekskatalog Ihrer Universität nach „MLA International Bibliography“. 64 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="65"?> ! Vorsicht bei Quellen im In‐ ternet Abb. 3.4 MLA International Bibliography ▶ Ein fachübergreifendes Verzeichnis von Zeitschriftenaufsätzen bietet die IBZ (Internationale Bibliographie der geistes- und sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur). Sie umfasst derzeit über 4 Millionen Datensätze zu geisteswissenschaftlichen Artikeln aus aller Welt. Mit Sicherheit stellt Ihre Hochschule einen Zugang bereit - suchen Sie im Katalog oder im Datenbank-Infosystem Ihrer Bibliothek nach „IBZ online“. ▶ Die bibliographische Datenbank Online Contents (OLC) stellt spezifische Zugänge zu sogenannten Sondersammelgebieten (SSG) zur Verfügung, also fach- oder regionenspezifische Teilauszüge des Gesamtkatalogs, die zudem um die Bestände bestimmter spezialisierter Bibliotheken in Deutschland ergänzt werden. Das Ergebnis sind passgenaue Datenban‐ ken zu den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen. Der Zugang ist an allen Hochschulen in Europa und den USA frei - suchen Sie im Katalog nach „OLC-SSG“. Das für uns relevante Sondersammelgebiet heißt „Italienforschung“. ▶ Eine beliebte, aber mit allergrößter Vorsicht anzuwendende Methode der Ermittlung von Sekundärliteratur ist die Websuche über Suchmaschinen. Man kann zwar auf Sekundärliteratur stoßen, etwa bei Homepages zu be‐ stimmten Autoren, aber dies in sehr unsystematischer und unsicherer Weise. Der Inhalt von Webseiten selbst sollte als Sekundärliteratur extrem 3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel 65 <?page no="66"?> Aufgabe 3.3 Schriftliche Abhandlung Rahmenvorgaben: Frage‐ stellung/ These Wissenschaftlichkeit kritisch gelesen und Aussagen über literarische Texte sollten stets auf Plausibilität überprüft werden. Zitier- und verwendbar sind in der Regel nur Seiten von akademischen Institutionen wie beispielsweise des Dokumenten‐ servers der Universität Freiburg i. Br. (www.freidok.uni-freiburg.de), auf dem nur Arbeiten publiziert werden, deren wissenschaftliches Niveau gesichert ist. Eine höhere Wahrscheinlichkeit, Suchmaschinentreffer dieser Art zu erhalten, hat man übrigens bei Nutzung des Spezialportals Google Scholar (scholar.google.de) - aber auch hier ist Vorsicht geboten. ? Beantworten Sie mit Hilfe der genannten literaturwissenschaftlichen Hilfsmittel folgende Fragen: ▶ Welche italienischen Dramatiker des 17. Jh. haben den Don-Juan-Stoff aufgegriffen? Welche anderen Texte dieser Stofftradition gibt es? ▶ Von wem wurde der Text La cognizione del dolore verfasst? Welcher Gattung wird er zugerechnet? Wo und wie ist er zuerst erschienen? In welchem Jahr erschien die erste deutsche Übersetzung? ▶ Wer hat wo im Jahr 2000 einen Aufsatz zu weiblicher Identität im Werk von Vittoria Colonna veröffentlicht? ▶ Wer oder was ist „Rondismo“? ▶ Ermitteln Sie zwei grundlegende Publikationen zum literaturwissen‐ schaftlichen Forschungsfeld Imagologie. 3.5 Arbeitstechniken Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Literatur findet normaler‐ weise über schriftliche Forschungsbeiträge statt; selbst die auf einer Tagung präsentierten Vorträge werden, wenn sie als wichtig erachtet werden, übli‐ cherweise anschließend als Aufsatz publiziert. Es ist daher eine zentrale Kom‐ petenz, Techniken und Standards der schriftlichen Darstellung wissenschaft‐ licher Befunde zu beherrschen, und sie wird aus diesem Grunde auch in Form von Seminararbeiten während eines Philologiestudiums mehrfach trainiert. Die Regeln einer solchen Arbeit entsprechen im Wesentlichen denen, die auch für ‚echte‘ Forschungsbeiträge (Aufsätze oder Bücher) gelten. Ein Aufsatz behandelt ein umgrenztes literaturwissenschaftliches Problem, das in einer klar formulierten Fragestellung und/ oder einer oder mehreren Thesen konkretisiert wird. Er richtet sich an eine fachkundige Person und setzt das entsprechende Grundwissen voraus. Das Thema wird wissenschaft‐ lich abgehandelt (siehe Einheit 3.3), d. h. die getroffenen Feststellungen wer‐ den argumentativ hergeleitet sowie nachvollziehbar und überprüfbar ge‐ macht. Hierzu sind durchgehend Verweise auf die untersuchten literarischen Texte, ggf. die theoretischen Prämissen und auf bereits vorliegende Arbeiten 66 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="67"?> Wahrnehmung von Vorar‐ beiten Vorgehensweise bei der Erarbeitung wissenschaftli‐ cher Aufsätze: Themenfin‐ dung Bibliographieren Lesen und Exzerpieren Überprüfung der Themen‐ stellung Gliederung Niederschrift (Sekundärliteratur) erforderlich. Letztere dokumentieren den jeweiligen Dis‐ kussionsstand, der teils aus kontinuierlicher persönlicher Fachlektüre, gerade am Anfang des Studiums aber meist aus Seminarinhalten und v.a. gezielter bibliographischer Ermittlung (siehe 3.4) bekannt ist. 1. Erster Schritt ist die Themenfindung. Bei Hausarbeiten kann man im Se‐ minar behandelte Inhalte aufgreifen oder ausweiten, wissenschaftliche Aufsätze schließen meist an offene Fragen der bisherigen Forschung an oder eröffnen, angestoßen von einer Beobachtung oder einem neuen theoretischen Ansatz, ein neues Forschungsfeld. Das Erkenntnisinteresse (Frage, These) muss in jedem Fall klar formuliert werden. 2. Es wird zum gewählten Thema ausführlich bibliographiert. Da die Menge des bereits Publizierten in vielen Fällen zu groß für eine extensive Lektüre ist, kommt der Auswahl der relevanten Sekundärliteratur zentrale Be‐ deutung zu: Persönliche Sichtung der augenscheinlich passendsten Pu‐ blikationen (Inhaltsverzeichnis, einzelne Kapitel oder Abschnitte querle‐ sen), Markierung (und bei entliehenen Büchern Fotokopieren oder Scannen) der relevanten Abschnitte. 3. Lesen und Exzerpieren der erhobenen Materialien. ‚Exzerpieren‘ bedeutet, wichtige Aussagen möglichst im Originalwortlaut, evtl. durch eigene Kommentare ergänzt, und mit genauem Verweis zu notieren, am besten bereits in einer Textverarbeitung mit einer Datei pro Publikation. Die ex‐ zerpierten Stellen sollten im Sekundärtext markiert und dieser bis zum Abschluss der Arbeit geordnet zur Verfügung gehalten werden. 4. Überprüfung der Themenstellung und Eingrenzung. Sind weitere Klärun‐ gen nötig, neue Fragen, Ansätze, Termini usw., die für die Befriedigung des Erkenntnisinteresses unabdingbar sind? Wenn ja, dann nochmals zu Schritt 2. 5. Nun wird die Arbeit gegliedert. Hier ist darauf zu achten, dass jeder Teil bedeutsam für die Fragestellung ist und die Arbeit eine (kausale, hierarchi‐ sche, logische …) Gedankenführung bekommt, die für die Leser jederzeit transparent ist. Meist formuliert eine Einleitung das Erkenntnisinteresse und ggf. den Forschungsstand, ein großer ‚Hauptteil‘ (der in der konkreten Arbeit nicht diese Überschrift tragen sollte) beantwortet die gestellte Frage und ein Abschluss resümiert und reflektiert die Ergebnisse, bietet einen verallgemeinernden oder einschränkenden Ausblick oder hält offene Fra‐ gen und Aufgaben (sog. Desiderate) für weitere Forschungen fest. 6. Für die Niederschrift wird es sinnvoll sein, die Exzerptnotizen auf die ein‐ zelnen Kapitel und Unterkapitel zu ‚verteilen‘ (etwa aus den Exzerptda‐ teien in verschiedene Kapiteldateien zu kopieren), so dass jeweils die Grundlage, von der aus man argumentiert, zur Hand ist und Verweise schnell eingefügt werden können. Denkbar ist auch, die Gliederung unter Nutzung geeigneter Software als elektronische Mind-Map abzubilden, die 3.5 Arbeitstechniken 67 <?page no="68"?> Mehrmalige Durchsicht Zitieren und Verweisen Beispiele für korrekte Se‐ kundärliteraturverweise zugehörigen Notizen und Gedanken an den jeweils passenden ‚Ast‘ an‐ zuhängen, zu ordnen und dann an der Mind-Map ‚entlangzuschreiben‘. 7. Ein gerne unterschätzter letzter Schritt ist die mehrmalige genaue Durch‐ sicht der Arbeit nach Stringenz und Stimmigkeit, Einhaltung wissen‐ schaftlicher Standards, formaler Einheitlichkeit, aber auch Sprache und Stil (an die gerade in philologischen Fächern zu Recht ein hoher Anspruch gerichtet wird) sowie typographischer Korrektheit (Tippfehler, Satzkon‐ ventionen). Zu den wissenschaftlichen Standards wurde oben schon Wesentliches gesagt. Eine besondere Bedeutung kommt hier dem Umgang mit fremden Erkennt‐ nissen zu. Generell ist jeder fremde Gedanke (ausgenommen Allgemeinwis‐ sen) als solcher zu kennzeichnen und so mit einer Quellenangabe zu versehen, dass er von der Leserschaft des Aufsatzes ohne großen Aufwand in der Ori‐ ginalpublikation zu finden ist. Korrekte Verweise haben beispielsweise fol‐ gende Form: ▶ Bei Monographien: VerfasserIn: Titel des Buchs. Untertitel. Ersch.ort: Verlag Auflage Jahr (Reihen‐ titel, Nummer), zitierte Seite(n). Z. B. Thomas Taterka: Dante deutsch. Studien zur Lagerliteratur. Berlin: Erich Schmidt 1999 (Philologische Studien und Quellen, 153), 155. ▶ Bei Aufsätzen in Sammelbänden und Lexika: VerfasserIn: Aufsatztitel, in: Herausg. (Hg.), Titel des Buchs. Untertitel. Ersch.ort: Verlag Auflage Jahr, Seite(Anf)-Seite(End), hier zitierte Seite(n). Z. B. Tobias Leuker: Schreiben im Umkreis der Mächtigen - vier quattro‐ centeske Beispiele aus Rom und Florenz (Campano, Naldi, Ammannati, Scala), in: Daniel Büchel/ Volker Reinhardt (Hg.), Modell Rom? Der Kir‐ chenstaat und Italien in der frühen Neuzeit. Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau 2003, 151-184, hier 160 f. ▶ Bei Zeitschriftenartikeln: VerfasserIn: Aufsatztitel, Name der Zeitschrift Nummer [entweder fortlaufende Heftnummer oder Jahrgangsnummer mit Heftnummer innerhalb des Jahres], Jahr [ggf. mit vorangest. Monatsangabe], Seite(Anf)-Seite(End), hier zitierte Seite(n). Z. B. Mario Moroni: La strategia della „cornice“ nel Decameron di Pier Paolo Pasolini, Forum Italicum 38/ 2004, 456-467, hier 456. ▶ Bei Online-Quellen: VerfasserIn, Aufsatztitel, URL (Konsultationsdatum). Z. B. Jan Meister/ Jonas Borsch: Idealisiert, sexualisiert, materialisiert, politisiert: Antike Körper und ihre Geschichte(n), www.hsozkult.de/ litera turereview/ id/ fdl-136870 (16.08.2024) 68 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="69"?> KI als Hilfsmittel ‚VerfasserIn‘ meint bei Sekundärtexten diejenige Person, die die zitierte Stelle geschrieben hat. Das bedeutet: Der Verweis auf einen Sammelband- oder Lexikonartikel trägt den Namen des Artikelautors (nicht des Herausgebers), der Verweis auf die Einleitung oder das Nachwort einer Primärtextausgabe den Namen des Verfassers dieser Einleitung oder dieses Nachworts, also in der Regel eines Literaturwissenschaftlers (nicht des Schriftstellers). Der Verweis erfolgt entweder in Fußnoten (beim ersten Mal ausführlich, ab dann kurz, z. B.: Spear: 1991, 360) oder im Fließtext (in Klammern, nur kurz). Alle zitierten Titel (und nur diese) werden am Ende der Abhandlung alphabetisch und nach Primär- und Sekundärliteratur getrennt im Literaturverzeichnis aufgeführt. Es gibt verschiedene, z. T. durch HerausgeberInnen oder, im Falle der Hausarbeit, möglicherweise durch DozentInnen vorgegebene Zitierfor‐ men; wichtig ist vor allem, dass eine Form konsequent durchgehalten wird. Hilfestellung in Sachen Zitieren und Verweisen bietet das Handbuch Arbeits‐ techniken Literaturwissenschaft der Germanisten Burkhard Moennighoff und Eckhardt Meyer-Krentler (München: Fink 16 2013, dort die Kap. 5 und 6). Das Zitieren wie insgesamt der Umgang mit Quellen kann im Übrigen mit Hilfe von Literaturverwaltungs-Software, z. B. dem (oft per Campuslizenz für Studierende kostenlosen) Citavi oder dem (frei zugänglichen) Zotero, sehr vereinfacht werden. Eine computergestützte Hilfestellung, die weit über derlei arbeitsorgani‐ satorische Aspekte hinausgeht, ist die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, insbesondere von Anwendungen auf Basis generativer Sprachmodelle wie ChatGPT. Da diese Technologie mit ihren Fähigkeiten Kernkompetenzen ei‐ nes philologischen Studiums (etwa Analysefähigkeit, Textstrukturierungs- und Formulierungskompetenz) berührt, zugleich aber intransparent in Bezug auf das Zustandekommen des generierten Outputs ist, ist der Einsatz von KI beim Abfassen wissenschaftlicher Texte grundsätzlich problematisch und kann unter Umständen als eine Form des Plagiats betrachtet werden. Ten‐ denziell bis sehr kritisch wird man in diesem Zusammenhang Anwendungen wie die Planung von methodischen Schritten, die Anfertigung von Gliede‐ rungen und die Ausformulierung ganzer Textpassagen sehen, weniger pro‐ blematisch eine rein unterstützende Nutzung bei der Korrektur und eventuell Kürzung von Texten, der Aufbereitung vorhandener Daten, der Auswertung elektronisch vorliegender Primärtexte im Hinblick auf präzise Detailfragen oder der flankierenden Zusammenfassung von für die jeweilige Fragestellung nicht zentraler Sekundärliteratur. Es empfiehlt sich, vor Nutzung von KI bei wissenschaftlichen Arbeiten die diesbezüglichen Standards der jeweiligen Hochschule oder des jeweiligen Publikationsorgans einzuholen und in der Arbeit, ähnlich wie bei herkömmlichen Quellen, an geeigneter Stelle auf den Umfang und die Art von erfolgter KI-Nutzung hinzuweisen. 3.5 Arbeitstechniken 69 <?page no="70"?> Typographisches Zusammenfassung  Für die typographischen Vorgaben (Schriftstile, Interpunktionszeichen etc.) schließlich ist es empfehlenswert, sich einmal genau eine neuere Fach‐ publikation anzusehen. Grundlegendes ist der Zusammenstellung von Chris‐ toph Bier unter http: / / bit.ly/ typokurz-cb zu entnehmen. Das Bachelor-Studium hat das Ziel, grundlegende Kompetenzen zu ver‐ mitteln, die dank der internationalen Harmonisierung der Studienab‐ schlüsse den Zugang zu einem der vielen geisteswissenschaftlichen Mas‐ terstudiengänge in Europa, aber auch zu zahlreichen außerakademischen Berufsfeldern öffnen. Die Qualifikation italianistischer Bachelor-Absol‐ ventInnen liegt in der vertieften Kenntnis der italienischen Kultur und der Fähigkeit, sie insbesondere anhand von Sprache und Literatur wis‐ senschaftlich zu beschreiben, aber auch in der allgemeinen Fähigkeit zu kritischer Erschließung gedanklicher Sachverhalte und deren adäquater (fremd-)sprachlicher Präsentation im Mündlichen wie Schriftlichen. Für den wissenschaftlichen Austausch über Phänomene wie Literatur sind fachbezogene Hilfsmittel und Arbeitstechniken erforderlich, unter ihnen insbesondere die systematische Ermittlung von Forschungsergebnissen anhand von Bibliographien und die Präsentation eigener Befunde im Rahmen einer wissenschaftlichen Abhandlung. Literaturhinweise zu den Abschnitten 3.1 bis 3.3 finden Sie auf www.bachelor -wissen.de. 70 3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten <?page no="71"?> Kompetenz 2: Literarische Texte analysieren <?page no="73"?> Überblick 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik Inhalt 4.1 Verstehen - Analysieren - Interpretieren 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 4.3 Strukturanalyse: Vorgehensweise 4.4 Gattung Lyrik Dieses Kapitel macht Sie mit verschiedenen Zugängen zu literarischen Texten im Allgemeinen vertraut, von denen der hier wichtigste derjenige der Strukturanalyse ist. Er bildet die Grundlage interpretatorischer An‐ sätze, die Sie ab Einheit 10 kennen lernen werden. Es werden die ver‐ schiedenen Ebenen und die praktische Vorgehensweise bei einer Struk‐ turanalyse sowie sachliche und terminologische Grundlagen zur Beschreibung lyrischer Texte vorgestellt. <?page no="74"?> Verstehen in den Geistes‐ wissenschaften Hermeneutik als Theorie des Verstehens 4.1 Verstehen - Analysieren - Interpretieren Geisteswissenschaften (scienze umanistiche) unterscheiden sich vor allem in‐ sofern von den Naturwissenschaften, als subjektives menschliches Verstehen ihr zentrales Moment ist, und dies in mehrfacher Hinsicht: Geisteswissen‐ schaftlerInnen sind um eigenes Verstehen bemüht, nehmen bei der Arbeit vom eigenen Verstehen ihren Ausgang und haben im menschlichen Verstehen selbst ihren Untersuchungsgegenstand, denn Literatur beispielsweise ist ent‐ scheidend durch den Prozess des Verstehens geprägt: Erstens werden Texte normalerweise für ein um Verstehen bemühtes Publikum geschrieben, so dass Texte immer schon den Verstehensvorgang zu steuern versuchen - sei es mit dem Ziel der Erleichterung oder der Irritation; zweitens reagieren Schrift‐ stellerInnen stets auf vorherige Texte, die sie selbst verstanden haben, so dass die subjektive Aufnahme von Literatur Teil späterer Texte und damit der Li‐ teraturgeschichte wird. Diesen Zusammenhang hat die Konstanzer rezep‐ tionsästhetische Schule systematisiert, von der in Einheit 10.5 die Rede sein wird. Wie aber vollzieht sich das Verstehen eines Textes? Diese Frage ist Gegenstand der philosophischen Hermeneutik (ermeneu‐ tica). Der Begriff bezeichnete von alters her zunächst die Ermittlung des ‚wahren‘ Schriftsinns insbesondere der Bibel und diente u. a. dazu, nicht mehr verständliche kanonische Texte wieder lesbar zu machen, mithin zu ‚über‐ setzen‘ und so die Kontinuität der Tradition zu gewährleisten. Seit dem Ende des 18. Jh. entwickelte sich Hermeneutik dann in einem ausgedehnteren Sinne zur Theorie menschlichen Verstehens noch vor jeglichem gezielten metho‐ dischen Zugriff, wobei das Augenmerk verstärkt dem verstehenden Subjekt und seiner Beteiligung am Sinnentstehungsprozess galt. Die Bedeutung eines Textes, so stellte man fest, wird nicht wie in einem Behälter vom Autor zum Leser transportiert und von diesem dann unverändert ‚entnommen‘, sondern Bedeutung entsteht erst im Leseakt, indem Signale des Textes auf das Wissen, die Erwartungen und die Fragen (den ‚Horizont‘) des jeweiligen Lesers treffen (vgl. Einheit 10.5.2). Menschliches Verstehen zielt generell auf die Erzeugung von Kohärenz, Widerspruchsfreiheit in einem Gesamtverständnis, das allen Teilen ihre Bedeutung zuweist. Stellen Sie sich vor, Sie beginnen einen Text zu lesen. In aller Regel wird der erste Satz, isoliert betrachtet, für Sie im Grunde kaum verstehbar sein: Wird beispielsweise ein Eigenname erwähnt, bleibt dieser Verweis völlig leer, da Sie über die fiktive Person, die sich da‐ hinter verbirgt, zunächst keinerlei Informationen haben. Ähnliches gilt etwa für eine einsetzende Handlung, über deren Motivation, Kontext, Folgen, Ziel, Situation Sie noch nichts wissen. Wenn Sie dennoch bei den meisten Texten den Eindruck haben zu verstehen, dann liegt das daran, dass Sie diese ersten Sätze auf einen vermuteten Gesamtsinn des Textes beziehen und all das, was nicht in der Bedeutung der Einzelwörter liegt, aus diesem Gesamtverständnis heraus ‚auffüllen‘. Im Bestreben zu verstehen - und das gilt nicht nur für 74 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="75"?> Abb. 4.1 Der hermeneutische Zirkel als Kreismodell Unhintergehbare Subjekti‐ vität Hermeneutische Differenz Texte, sondern für Verstehen schlechthin - bilden wir permanent Hypothe‐ sen, die wir in der Begegnung mit dem Einzelnen überprüfen. Am Beginn einer Lektüre wird die Bedeutungshypothese nicht dem Text entspringen, den Sie ja noch nicht kennen, sondern Ihrem allgemeinen Weltverständnis, Ihrem kulturellen Hintergrund, Ihrer Biographie und Ihrer Leseerfahrung. Im Laufe der Lektüre wird sich dieses Verständnis ändern, nämlich dann, wenn der Text Informationen liefert, die nicht in Ihr momentanes Gesamtverständnis passen und eine Modifikation, vielleicht auch radikale Umkehrung desselben erfor‐ derlich machen. Geschieht dies, so werden Sie nicht nur die folgenden Ein‐ zelheiten des Textes anders verstehen, sondern Sie werden auch rückblickend das bereits Gelesene neu bewerten, manches als irrelevant erkennen, was Ih‐ nen zunächst bedeutsam schien, und umgekehrt sowie neue Zusammenhänge herstellen. Verstehen ist kein linearer Vorgang, der sich vom ersten bis zum letzten Satz vollzieht, sondern ein ständiges Hin- und Hergehen zwischen einem vorläufigen Gesamtverständnis, das der Leser permanent, dabei meist unbewusst, konstruiert, und den Einzelheiten, d. h. einzelnen Sätzen, Motiven, Figuren, Handlungsepisoden, die nur innerhalb eines solchen Gesamtver‐ ständnisses verstehbar sind. Dieses Modell nennt man den hermeneutischen Zirkel (circolo ermeneutico). Dieser ist prinzipiell unabschließbar: Ein ‚abso‐ lutes‘ Verständnis von Literatur gibt es nicht, da Texte niemals den Sinn voll‐ ständig festlegen, sondern auch bei wiederholter Lektüre ein zwar durch den Text mitgestaltetes, aber immer auch subjektiv bestimmtes Gesamtverständ‐ nis besteht. Diese Wirkungsweise von Literatur zu begreifen ist von grund‐ legender Bedeutung, da sich zeigt, dass ein literarisches Werk eigentlich erst im Dialog mit den Lesenden und seinem subjektiven Welt- und Textvorver‐ ständnis entsteht. Hier liegt der Grund dafür, dass auch Texte längst vergan‐ gener Epochen der heutigen Leserschaft etwas sagen können, da sie sie im Verstehensakt ein Stück weit in ihren persönlichen Horizont integriert. Die Kehrseite des hermeneutischen Zirkels und der Wiederaneignung von Texten durch die Leser ist der Umstand, dass es damit keinen ein für allemal geschlossenen Textsinn gibt, an den man sich annähern könnte, sondern die Subjektivität des jeweiligen Betrachters unhintergehbarer Bestandteil des li‐ teraturwissenschaftlichen Objekts ist. Anders formuliert: In den auf Verste‐ hen gründenden Geisteswissenschaften ist die untersuchende Person immer Teil dessen, was sie untersucht - es ist beispielsweise schlichtweg nicht mög‐ lich, restlos den ‚Sinn‘ zu ermitteln, den ein Text zum Zeitpunkt seiner Ent‐ stehung gehabt hat, da die damaligen subjektiven Verstehensbedingungen (wessen überhaupt? ) nicht vollständig ermittelbar sind und wir jeden Text notwendigerweise vom Standpunkt eines heutigen Betrachters aus wahrneh‐ men. Zwischen früheren Rezeptionen und heutigen sowie zwischen diesen und künftigen Lesarten liegt eine hermeneutische Differenz, die interpreta‐ 4.1 Verstehen - Analysieren - Interpretieren 75 <?page no="76"?> Ansatzpunkte der Objekti‐ vierung Strukturanalyse Abb. 4.2 Strukturanalyse (Schritt 1 und 2) Abstraktes Modell textinterner Funktionen Prinzipien der Strukturana‐ lyse torisch annähernd beschrieben (siehe Einheit 10.5.2), aber nicht aufgelöst werden kann. Der Natur literarischer Kommunikation Rechnung zu tragen heißt indes nicht, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen und das Ziel einer überindivi‐ duellen Verständigung über Literatur ins Reich der Utopie zu verbannen. Wenngleich es absolute Objektivität nicht geben kann, so stehen uns doch an beiden Polen des hermeneutischen Zirkels Ansatzpunkte für eine Objektivie‐ rung zur Verfügung: 1. Der Text ist, sobald durch kritische Edition (siehe Einheit 3.4) eine gesicherte Textgrundlage erarbeitet wurde, objektiv gegeben. 2. Der hermeneutische Hintergrund, vor dem ein Text verstanden wird, kann seinerseits annähernd transparent gemacht und entsubjektiviert und der Weg (gr. methodos, also die Methode) zur jeweiligen Ermittlung des Textsinns systematisiert und begründet werden. Eine auf den erstgenannten Ansatzpunkt bezogene Herangehensweise an li‐ terarische Texte ist die Strukturanalyse (anàlisi strutturale, f.). ‚Struktur‘ (struttura) bedeutet allgemein die Gesamtheit aller Teile eines Ganzen und ihre Beziehung untereinander (siehe Einheit 11.1.1). Der Begriff ‚Analyse‘ geht in dieselbe Richtung: Er bezeichnet in der Philosophie die logische Auf‐ lösung, Zerlegung eines Begriffes in seine Merkmale, eines Bewusstseinsin‐ halts in seine Elemente; in Naturwissenschaften wie der Chemie etwa die Bestimmung der Einzelbestandteile eines Stoffs. Im Gegensatz zu letzterer kann eine literaturwissenschaftliche Strukturanalyse nicht bei den ermittel‐ ten Bestandteilen stehen bleiben, sondern besteht, um mit der Struktur die Beziehung der Teile zueinander deutlich zu machen, aus einer Zerlegung und Wieder-Zusammenfügung, was im Übrigen dem hermeneutischen Wechsel‐ spiel von Teil und Ganzem entspricht. Ziel einer Strukturanalyse ist es, ein Modell herauszuarbeiten, das zeigt, wie der Text ‚funktioniert‘, wie er unter‐ teilt ist, mit welchen sprachlichen und formalen Mitteln er Bedeutung erzeugt. Der Versuch, Strukturen eines Textes aufzudecken, ist nicht frei von Subjek‐ tivität, da es beispielsweise von der Fragestellung und dem Interesse des Be‐ trachters abhängt, was als ‚relevanter‘ Bestandteil im Hinblick auf die Ge‐ samtbedeutung gelten kann und welche Strukturen man überhaupt erkennt; man erreicht aber größtmögliche Objektivität, wenn zwei Prinzipien befolgt werden: 1. Die Analyse von Textstrukturen sollte textimmanent bleiben, d. h. von allem Außertextuellen wie AutorIn, Realitätsbezug usw., sofern nicht in‐ nerhalb des Textes explizit darauf verwiesen wird, absehen. Hinsichtlich der Inhaltsebene beschränkt sie sich auf nachweisbare (etwa in Wörter‐ büchern verzeichnete) Wortbedeutungen und Konnotationen (Nebenbe‐ deutungen). 76 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="77"?> Analyse als erster Schritt zur Interpretation Aufgabe 4.1 Ausdrucksseite vs. Inhalts‐ seite 2. Eine Strukturanalyse sollte interpretatorische Offenheit bewahren, also ein notwendiges anfängliches Leseverständnis nicht als zu erreichenden Zielpunkt setzen, sondern anhand der Sinn- und Formstrukturen des Textes kritisch hinterfragen und auch eine mögliche Widersprüchlichkeit oder Mehrdeutigkeit des Textes in Rechnung stellen. Eine solche Ermittlung der Textstrukturen ist Grundgerüst und Vorbereitung einer Interpretation (interpretazione, f.). Dieses Objektivierungsverfahren be‐ zieht sich vor allem auf den zweiten der oben genannten Ansatzpunkte der Objektivierung: die Offenlegung des ‚hermeneutischen Hintergrunds‘ sowie der spezifischen Methode. Dahinter steckt der Gedanke, dass ich mein Text‐ verständnis objektivieren und damit wissenschaftlich validieren (gültig ma‐ chen) kann, wenn ich (a) eine nicht von meinem subjektiven Weltverständnis abhängende Grundlage angebe, also z. B. mein Textverständnis in der nach‐ weisbaren Biographie des Autors (produktionsästhetisch) oder der Erwar‐ tungshaltung der Leserschaft (rezeptionsästhetisch) verankere, und (b) die Methode angebe, der ich beim Textverstehen gefolgt bin, so dass andere meine Vorgehensweise nachvollziehen und ggf. kritisieren können. Eine korrekte Strukturanalyse steckt den Bedeutungsspielraum ab, den anschließende In‐ terpretationen haben, da sie offenkundigen Sinnstrukturen des Textes natür‐ lich nicht widersprechen dürfen; oft aber erschließen sich literarische Texte nicht rein strukturell und textimmanent, so dass die Interpretation eine wich‐ tige literaturwissenschaftliche Arbeitstechnik für ein adäquates Textver‐ ständnis darstellt. Wir werden in den Einheiten 10-12 näher darauf eingehen. ? Grenzen Sie in Ihren eigenen Worten nochmals die Begriffe ‚Verste‐ hen‘, ‚Analyse‘, ‚Interpretation‘ voneinander ab. Wie ist es zu begründen, dass trotz wissenschaftlicher Objektivität verschiedene und nicht selten konträre Interpretationen zu einem Text existieren? Können Sie sich Kriterien vorstellen, aufgrund derer man Interpretationen qualitativ beurteilen kann? 4.2 Ebenen der Strukturanalyse Sie haben im Zusammenhang mit der Medialität von Literatur als besondere Form geschriebener Sprache (Einheit 1) bereits Ferdinand de Saussures Ge‐ genüberstellung von Ausdrucksseite (Signifikant) und Inhaltsseite (Signifi‐ kat) kennengelernt. Als Grundkomponenten jeglicher Art von Zeichen ste‐ cken diese beiden Begriffe natürlich Ebenen auch der literarischen Kommunikation und damit der Strukturanalyse literarischer Texte ab. Die 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 77 <?page no="78"?> Abb. 4.3 Sprachzeichen: Ausdrucks- und Inhaltsseite ! Ausdrucksseite: sprachli‐ che Realisierung vom Laut bis zu formalen Gattungs‐ regeln Beschreibung der Aus‐ drucksseite Rhetorische Stilmittel I: Gestaltung des Ausdrucks Dichotomie von Ausdrucks- und Inhaltsseite ist, bezogen auf Einzelerschei‐ nungen, keine absolute: Ein Element, sagen wir: das Konzept ‚Hund‘, ist der Inhalt (Signifikat) der it. Zeichenfolge / ka: ne/ (Signifikant), kann aber zu‐ gleich als Ausdruck (Signifikant) für andere Konzepte wie ‚Unterwürfigkeit‘, ‚Treue‘ u. Ä. dienen. Hier zeichnet sich bereits ab, wie komplex sprachliche und insbesondere literarische Bedeutungsstrukturen sein können (und meis‐ tens auch sind). Bedenken wir dies mit, wenn wir im Sinne einer ersten An‐ näherung und eines Wegweisers für die Textbeschreibung dennoch sagen: Eine Strukturanalyse hat sich auf zwei Ebenen zu beziehen, die Ausdrucks‐ ebene mit der sprachlichen und gattungspoetischen Form und die Inhalts‐ ebene mit dem Thema, den Motiven und Figuren, die ein Text entwickelt. Sehen wir uns das näher an. Sprachliche Äußerungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine be‐ grenzte Zahl kleiner sprachlicher Einheiten (etwa Phoneme, also Laute) zu größeren (etwa Morpheme, d. h. Wörter bzw. ihre bedeutungstragenden Teile) kombinieren und diese wiederum zu noch größeren (Sätze, Texte), wobei die Zahl der verfügbaren Ausdrucksmittel jeweils exponentiell ansteigt. Eine Be‐ schreibung der sprachlichen Form (Ausdrucksseite) eines Textes berücksich‐ tigt idealerweise jede dieser Ebenen, wobei freilich nicht alle möglichen Be‐ funde auch relevant für das Funktionieren des Textes sind, auf das wir ja hinauswollen. In umgekehrter Reihenfolge formuliert gilt das Interesse der Formbeschreibung also ▶ der Verknüpfung von Sätzen und Absätzen zum Gesamttext, ▶ dem Satzbau (Syntax), d.-h. der Komposition von Satzteilen, ▶ der Wortwahl und Wortbildung (Lexik, Morphologie), ▶ der Lautung. Die antike Rhetorik (Theorie der Redekunst) hat zur Beschreibung und Vermittlung schmuckvoller Rede ein begriffliches Raster entwickelt, das als Hilfsmittel zur Beschreibung auch literarischer Texte als Sonderfall von ‚Rede‘ dienen kann und das Ihnen sicherlich teilweise bereits bekannt ist. Wenn wir an dieser Stelle ausführlicher auf dieses Raster eingehen, dann liegt dies nicht allein an der Notwendigkeit, sich innerhalb einer Fachwissenschaft terminologisch korrekt ausdrücken zu können, sondern auch daran, dass man erfahrungsgemäß leichter einen Sachverhalt erkennt, wenn man einen Begriff dafür hat. Die wichtigsten ausdrucksbezogenen rhetorischen Stilmittel - geordnet von der Lautüber die Wortbis hin zur Satz(teil)ebene: Alliteration (allitterazione, f.): gleicher Anlaut aufeinanderfolgender Wörter. Bei‐ spiel: Amor, ch’a nullo amato amar perdona. (Dante, Divina commedia, I, V, 103) Anapher (anàfora, f.): Wiederholung des gleichen Wortes oder mehrerer gleicher Wörter am Anfang mehrerer Sätze oder Satzteile (Gegenteil Epipher). Beispiel: Per 78 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="79"?> me si va ne la città dolente,/ per me si va ne l’eterno dolore,/ per me si va tra la perduta gente. (Dante, Divina commedia, I, III, 1-3) Assonanz (assonanza, f.): Gleichklang von Vokalen, bedeutsam insbesondere am Versende als assonantischer Reim. Beispiel: Altissimi, omnipresente Signore,/ Tue so’ le laude, la gloria et l’honore et onne/ benedictione. (D’Assisi, Cantico di frate sole) Homoioteleuton (omotelèuto, m.): gleichklingender Wortauslaut (Vorform des Reims). Beispiel: Ma sedendo e mirando. (Leopardi, L’infinito) Paronomasie (paronomasia, f.): Zusammenstellung von gleich oder ähnlich klingen‐ den Wörtern unterschiedlicher Bedeutung. Beispiel: Dalle stelle alle stalle, Volente o nolente. (Sprichwörter) Onomatopöie (onomatopèa, f.): adj. onomatopoetisch: klangnachahmende, lautma‐ lende Wörter. Beispiele: fruscio, ticchettio, rimbombo, zanzara. Anagramm (anagramma, m.): Buchstabenumstellung. Beispiel: navi/ vani (Pascoli), valva/ lava (Montale). Häufig bei Pseudonymen. Beispiel: Neri Tanfucio (= Renato Fucini). Akkumulation (accumulazione, f.): Worthäufung; Nennung mehrerer Unterbegriffe anstelle eines Oberbegriffs. Beispiel: Dovete compatire: si è ragazze di campagna […] fuor che funzioni religiose, tridui, novene, lavori dei campi, trebbiature, vendemmie, fustigazioni di servi, incesti, incendi, impiccagioni, invasioni d’eserciti, saccheggi, stupri, pestilenze, noi non s’è visto niente. (Calvino, Il cavaliere inesis‐ tente) Bei geordneter oder vollständiger Aufzählung spricht man auch von einer Enumeration (enumerazione, f.). Anadiplose (anadiplosi, f.): Wiederholung des letzten Wortes oder der letzten Wortgruppe eines Verses oder Satzes am Anfang des folgenden Verses oder Satzes zur semantischen oder klanglichen Intensivierung. Beispiel: Ma la gloria non vedo,/ Non vedo il lauro […] (Leopardi, All’Italia) Asyndeton (asìndeto, m.): Aneinanderreihung ohne Konjunktionen (vgl. → Poly‐ syndeton). Beispiel: Bravi, don Rodrigo, Renzo, viottole, rupi, fughe, inseguimenti, grida, schioppettate […] (Manzoni, I promessi sposi) Polysyndeton (polisìndeto, m.): Aneinanderreihung mit stetiger Setzung der Kon‐ junktion (vgl. auch → Asyndeton). Beispiel: E pianto, ed inni, e delle Parche il canto. (Foscolo, Dei sepolcri) Pleonasmus (pleonasmo, m.): übertriebene und unnütze (redundante) Anhäufung von Wörtern gleicher oder ähnlicher Bedeutung, die keine neuen Merkmale hinzufügen. Beispiel: noi amiamo; di questo non ne voglio saper nulla; Le tue parole io l’ho sentite. (Manzoni) Heute meist gleichbedeutend gebraucht, dabei aber positiver konnotiert ist der Begriff Tautologie (tautologìa, f.). Figura etymologica (figura etimològica, f.): Verbindung zweier oder mehrerer Wörter gleicher Wortherkunft (vgl. auch → Polyptoton). Beispiel: E li ’nifiammati infiammar sì Augusto […] (Dante, Divina commedia, I, XIII, 68) 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 79 <?page no="80"?> Aufgabe 4.2 Aufgabe 4.3 Inhaltsebene Polyptoton (polittoto, poliptoto, m.): Wiederholung desselben Wortes in verschie‐ denen Flexionsformen (Abart der → Figura etymologica). Beispiel: Cred’ì’o ch’ei credette ch’io credesse che […] (Dante, Divina commedia, I, XIII, 25) Chiasmus (chiasmo, m.): Überkreuzstellung der Konstruktion zweier Sätze oder Verse: Im zweiten Satz oder Vers stehen die inhaltlich und/ oder grammatikalisch dem ersten entsprechenden Wörter in umgekehrter Reihenfolge. Beispiel: […] soave in terra, in Ciel felice nodo. (Colonna, Rime amorose) Parallelismus (parallelismo, m.): Wiederkehr der gleichen Wort- oder Satzteilrei‐ henfolge. Beispiel: […] né Sdegno il rallentò, né Morte il sciolse; la Fede l’annodò, Tempo lo strinse. (Colonna, Rime amorose) Inversion (inversione, f., anastrofe, f.): Umstellung der regelmäßigen Wortfolge (Abart des → Hyperbatons). Beispiel: Allor che all’opre femmenili intenta/ sedevi, assai contenta […] (Leopardi, Canti) Hyperbaton (ipèrbato, m.): Sperrung, künstliche Trennung einer syntaktisch zusam‐ mengehörenden Wortgruppe (vgl. auch → Inversion). Beispiel: O belle agli occhi miei tende latine. (Tasso) Anakoluth (anacoluto, m.): Herausfallen aus der Satzkonstruktion. Beispiel: Quelli che muoiono, bisogna pregare Iddio per loro. (Manzoni) Ellipse (ellissi, f.): Auslassung eines Wortes oder Satzteiles; das Fehlende ist jedoch leicht ergänzbar. (vgl. auch → Aposiopese). Beispiel: Anemico che fugge, ponti d’oro. (Sprichwort) Aposiopese (aposiopesi, f.): bewusstes Abbrechen der Rede vor der entscheidenden Aussage, wobei entweder die syntaktische Konstruktion abgebrochen oder der Gedanke (in einem vollständigen Satz) nicht zu Ende geführt wird (Abart der → Ellipse). Beispiel: E questo padre Cristoforo, so da certi ragguagli che è un uomo che non ha tutta quella prudenza, tutti quei riguardi … (Manzoni, I promessi sposi) ? Ordnen Sie die genannten signifikanten bezogenen Figuren ver‐ suchsweise nach Wiederholungsfiguren, Umstellungsfiguren und Aus‐ lassungsfiguren, wobei Sie die Kategorien in verschiedenen Ecken eines Papierbogens zusammenstellen (nicht neben- oder untereinander schrei‐ ben) und evtl. farblich unterscheiden. Wiederholen Sie die Übung, ohne in obiger Zusammenstellung nachzusehen. ? Erfinden Sie frei deutsche Beispiele zu jeder der Figuren. Die zweite Hauptebene der Strukturanalyse ist die Inhaltsbeschreibung. Was aber ist ‚Inhalt‘? Man könnte einfach sagen: Das, wovon der jeweilige Text spricht, das ‚Was‘ des Textes - im Gegensatz zum ‚Wie‘ der Darstellung, dem Ausdruck, um den es uns eben ging. Für das so Umschriebene gibt es zunächst 80 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="81"?> Makrostrukturell: Thema, Stoff Mikrostrukturell: Motiv, Iso‐ topie ! Isotopie: mehrmaliges Auftreten von Bedeutungs‐ merkmalen den Terminus Thema (tema, m.; zu Thema, Stoff, Motiv siehe auch Einheit 2.5). Analog zum alltäglichen Sprachgebrauch meint der Begriff den gedank‐ lichen Kern, das Problem des Textes innerhalb der Fiktion. Davon zu unter‐ scheiden ist das, was der Text vom außerfiktionalen Standpunkt aus behandelt, was er also beispielsweise für uns heute bedeutet - die Bedeutung oder Si‐ gnifikanz eines Textes, die Sache der Interpretation ist und in diesen Zusam‐ menhang gehört (siehe Einheiten 10-12). Ein Thema, das bereits vor dem untersuchten Text in weitgehend fixierter Form (mit bestimmter Handlung, Personen, Orten usw.) besteht, nennt man Stoff (materia). Ein besonders altes und berühmtes Beispiel wäre der Ödipusstoff. Thema und Stoff betreffen Texte als ganze: Sie sind makrostrukturelle Kategorien. Unterhalb dieser Ebene, im Bereich der Mikrostruktur, haben wir mit den sog. Motiven (mo‐ tivi, Sg. motivo) zu tun. Damit sind in handlungsbetonten Texten einzelne Situationen oder Vorgänge und ihre Kausalverkettung (beispielsweise die Trennung der Liebenden, die Ankunft des Helden), in nichterzählenden Tex‐ ten in Anlehnung an die Photographie bildhafte Vorstellungen gemeint. Diese Kategorien werden uns im Weiteren noch öfter beschäftigen, Handlungsana‐ lyse in den Einheiten 6.5 (Drama) und 8.3.2 (Epik). Wegen ihrer besonderen Relevanz hinsichtlich lyrischer Texte bereits hier zu vertiefen ist eine noch unterhalb des Motivs angesiedelte Ebene der In‐ haltsstruktur: die Isotopie (isotopia). Der auf den litauisch-französischen Strukturalisten Algirdas Julien Greimas zurückgehende Begriff bezeichnet das mehrmalige Auftreten von semantischen (d. h. Bedeutungs-)Merkmalen in einem Text. Eine Isotopie bilden alle Wörter eines Textes oder Textaus‐ schnitts, die mindestens ein gemeinsames Bedeutungsmerkmal (ein ‚Sem‘ in der Terminologie der Linguistik) besitzen. Dabei gibt es normalerweise immer mehrere solcher Isotopien, die sich auch überschneiden können, d. h. sich einzelne Wörter teilen. Ein Beispiel: Die Wortmenge „Reiter“, „rachsüchtig“, „Pferd“, „Zofe“, „Marmor“, „gefiedert“, „Schwert“, „lügen“ weist die Isotopien ‚menschlich‘ (Reiter, rachsüchtig, Zofe, lügen) und ‚tierisch‘ (Pferd, gefiedert) auf, die zusammengenommen als Isotopie ‚belebt‘ der Isotopie ‚unbelebt‘ (Marmor, Schwert) gegenübergestellt werden können: Abb. 4.4 Beispiel für Isotopien 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 81 <?page no="82"?> Opposition, Äquivalenz Rhetorik und gedankliche Seite der Rede Rhetorische Stilmittel II: Gestaltung des Inhalts Es wären weitere Isotopien, etwa ‚Rittertum‘ (Reiter, Pferd, Schwert), denkbar. Die Bedeutungsmerkmale sind zwar nicht willkürlich, sondern weitgehend vom Gehalt und Kontext der Wörter bedingt - aber die Isotopien zu konstru‐ ieren und ihre Relevanz zu beurteilen, obliegt den Lesenden im Zuge ihrer Analyse. Hierbei spielt, wie sich an unserem Beispiel andeutet, auch das Ver‐ hältnis der möglichen Isotopien untereinander eine Rolle. Die Isotopie ‚Rit‐ tertum‘ ist isoliert, während die Isotopien ‚belebt‘ und ‚unbelebt‘ sowie, eine Ebene tiefer, ‚menschlich‘ und ‚tierisch‘ einander gegenübergestellt werden können, Oppositionen bilden. Wie Sie sich erinnern, hatten wir oben Struktur als Gesamtheit aller Teile eines Ganzen und ihre Beziehung untereinander definiert; damit wird deutlich, dass diejenigen Isotopien eines Textes, die in Opposition zueinander treten können und damit eine sehr klare Beziehung aufweisen, grundsätzlich interessant für eine Strukturanalyse sind, wenn‐ gleich eine Letztentscheidung über die Bedeutung einer Isotopie freilich auch von ihrer Aussagekraft für das ermittelte Thema abhängt. Unser Beispiel zeigt, wie auf der untersten semantischen Ebene, nämlich anhand der Bedeu‐ tung einzelner Wörter, Strukturen ausgemacht werden können: Der Leitfaden ist hier die Suche nach Äquivalenzen und Gegensätzen. Dies kann auf größere Einheiten, etwa Sätze, ausgeweitet werden. Idealerweise treten so Sinnbezüge und ihre Entwicklung auch in Texten hervor, die auf den ersten Blick kaum Entwicklung, Handlung oder Kohärenz erkennen lassen, und machen sie ‚les‐ bar‘. Von der praktischen Arbeit mit Isotopien und Oppositionen werden Sie in der nächsten Einheit anhand der Strukturanalyse lyrischer Texte einen Eindruck bekommen. Natürlich hatte nicht erst die strukturalistische Sprach- und Literaturwis‐ senschaft des 20. Jh. (vgl. Einheit 11.1) die Idee, inhaltliche Strukturen in Tex‐ ten zu systematisieren, sondern auch die antike Rhetorik hat sich für die ge‐ dankliche Seite der Rede, die logischen Verbindungen zwischen Textteilen interessiert und wiederum ein terminologisches Raster entwickelt, das Sie nun als literaturwissenschaftliches Hilfsmittel in Grundzügen kennenlernen. Die wichtigsten inhaltsbezogenen rhetorischen Stilmittel: Allegorie (allegoria, f.): Veranschaulichung eines Begriffes durch ein rational fass‐ bares Bild, oft in Form der → Personifikation. Beispiel: […] ma non sì che paura non mi desse / la vista che m’apparve d’un leone. / Questi parea che contra me venisse / con la testa alta e con rabbiosa fame […] [Löwe = Hochmut und Gewalt‐ tätigkeit] (Dante, Divina commedia) Personifikation (personificazione, f.): Übertragung einer menschlichen Eigenschaft oder Tätigkeit auf eine Sache, ein nichtmenschliches Wesen. Beispiel: […] più chiaro si ascolta il susurro/ dei rami amici nell’aria […] (Montale, Ossi di seppia) Periphrase (perìfrasi, f.): allg. Umschreibung eines Begriffs (vgl. auch → Antono‐ masie). Beispiel: il romanziere milanese für Alessandro Manzoni. 82 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="83"?> Antonomasie (antonomàsia, f.): Umschreibung eines Eigennamens durch bestimmte Züge seines Trägers oder einen anderen Eigennamen (Sonderform der → Peri‐ phrase). Beispiel: la Rotonda für das Pantheon in Rom. Euphemismus (eufemismo, m.): verhüllende Umschreibung (→ Periphrase) einer unangenehmen, anstößigen oder unheilbringenden Sache durch einen mildernden oder beschönigenden Ausdruck. Beispiel: Il nonno non è più tra noi = Der Opa ist gestorben. Metapher (metàfora, f.): Übertragung. Das eigentlich gemeinte Wort wird ersetzt durch ein anderes, das eine sachliche oder gedankliche Ähnlichkeit oder dieselbe Bildstruktur aufweist. Quintilian definierte die Metapher als verkürzten Vergleich, bei dem die Vergleichspartikel weggefallen sei. Eine der wichtigsten und häufigsten Sinnfiguren überhaupt. Beispiel: Un evidenza cristallina. - Es existiert eine große Bandbreite von metaphorischen Redeweisen, von konventionellen oder verblass‐ ten Metaphern, die durch häufigen Gebrauch kaum als solche wahrgenommen werden (la prima radice del male), bis zu sog. absoluten Metaphern, bei denen die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den Bildbereichen durch die Metapher selbst erst gesetzt ist. Beispiel: […] di scoprire uno sbaglio di Natura, il punto morto del mondo, l’anello che non tiene/ […] (Montale, Ossi di seppia) Metonymie (metonimia, f.): Ersetzung des eigentlich gemeinten Wortes durch ein anderes, das in einer realen geistigen oder sachlichen Beziehung (wie räumliche Nachbarschaft, Urheberschaft usw.) zu ihm steht (→ Synekdoche). Beispiel: gua‐ dagnarsi il pane con il sudore. Synekdoche (sinèddoche, f.): Ersetzung des eigentlichen Begriffes durch einen zu seinem Bedeutungsfeld gehörenden engeren oder weiteren Begriff, z. B. Teil für das Ganze (pars pro toto) oder umgekehrt (totum pro parte), die Art für die Gattung, Singular für Plural. Sonderform der → Metonymie. Beispiel: „la vela“ für „la nave“. Synästhesie (sinestesia, f.): Verschmelzung verschiedenartiger Sinnesempfindungen. Beispiel: Là, voci di tenebra azzurra. (Pascoli, Canti di Castelvecchio) Litotes (litote, f.): Abschwächung des Ausdrucks, die inhaltliche Verstärkung sugge‐ riert, häufig durch Verneinung des Gegenteils. Beispiel: non è un genio [= è un cretino]. Hyperbel (ipèrbole, f.): Übertreibung. Beispiel: Lo amo da morire. Antithese (antìtesi, f.): pointierte Zusammenstellung entgegengesetzter Begriffe oder Aussagen. Beispiel: Pace non trovo e non ho da far guerra. (Petrarca) Klimax (gradazione, f., climax, m.): Anordnung einer Wort- und Satzreihe nach stu‐ fenweiser Steigerung im Aussageinhalt. Beispiel: vai, corri, fuggi. - Entsprechend: Antiklimax (degradazione, f.). Oxymoron (ossimoro, m.): Zusammenstellung zweier sich widersprechender Be‐ griffe, die in pointierender Absicht eng miteinander verbunden werden. Liegt der Widerspruch im Beiwort, spricht man auch von Contradictio in adiecto. Beispiel: un reo buon uomo. (Manzoni, I promessi sposi) 4.2 Ebenen der Strukturanalyse 83 <?page no="84"?> Aufgabe 4.4 Aufgabe 4.5 Hypallage (ipàllage, f.): Verschiebung der Wortbeziehung, insbesondere eines Ad‐ jektivs oder einer adverbialen Ergänzung. Beispiel: Il divino del pian silenzio verde. (Carducci) Hendiadyoin (endìadi, f.): Verbindung zweier inhaltlich benachbarter Begriffe zu einem Konzept (siehe auch → Pleonasmus). Beispiel: Amaro e noia/ La vita, altro mai nulla (Leopardi). In der Antike oft Verbindung verschiedener Ausdrücke für einen Sachverhalt. Beispiel: timor et opinio (für: eingebildete Furcht). Zeugma (zèugma, m.): Zuordnung eines Wortes zu zwei semantisch oder syntaktisch verschiedenen Satzteilen, oft mit komischer Wirkung. Beispiel: parlare e lagrimar vedrai insieme. (Dante, Divina commedia) Apostrophe (apòstrofe, f.): Abwendung des Sprechers oder Erzählers vom Leser oder realen Publikum, (emphatische) Hinwendung zu anderen, meist abwesenden Personen, Gegenständen oder Abstrakta. Beispiel: Ahi serva Italia, di dolore ostello (Dante, Divina commedia) Ekphrasis (ecfrasi, f.): ausführliche, exkursartige Schilderung von etwas Sichtbarem. Im engeren Sinne: Beschreibung eines Bildkunstwerks im Text. Rhetorische Frage (domanda retorica, f., interrogazione, f.): Frage, auf die keine Antwort erwartet wird. Beispiel: E tu degnasti assumere/ questa creata argilla? (Manzoni, Inni sacri) Praeteritio, auch Paralepsis (preterizione, f., paralessi, f.): ausdrückliche Übergehung eines Gegenstandes, der dabei jedoch gerade genannt und u. U. hervorgehoben wird. Beispiel: Non ti dico cosa mi è successo … ? Versuchen Sie, die genannten inhaltsbezogenen rhetorischen Stilmittel zu Klassen zu ordnen. ? Benennen Sie die unterstrichenen rhetorischen Figuren des Gedichts „Meriggiare pallido e assorto“ von Eugenio Montale. Meriggiare pallido e assorto presso un rovente 1 muro d’orto ascoltare tra i pruni e gli sterpi schiocchi 2 di merli, frusci 3 di serpi. Nelle crepe del suolo o su la veccia spiar le file di rosse formiche ch’ora si rompono ed ora s’intrecciano a sommo di minuscole biche. Osservare tra frondi 4 il palpitare lontano di scaglie di mare 84 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="85"?> Kein Patentrezept Vorschlag: Vorgehensweise bei der Strukturanalyse Erste Beobachtungen Le‐ sehypothese Inhaltsseite: Thema, Mo‐ tive, Isotopien, Entwick‐ lung Äquivalenzen, Oppositio‐ nen mentre si levano tremuli scricchi 5 di cicale dai calvi picchi. E andando nel sole che abbaglia 6 sentire con triste meraviglia com’è tutta la vita e il suo travaglio in questo seguitare una muraglia che ha in cima cocci 7 aguzzi di bottiglia. (Montale: 2002, 40) 1 rovente glühend heiß - 2 schiocchi Schnalzen - 3 fruscio Rascheln - 4 frondi Laubwerk - 5 scricchi hier: Zirpen - 6 abbagliare blenden - 7 coccio Scherbe 4.3 Strukturanalyse: Vorgehensweise Es gibt keine eindeutige und für die gesamte Breite literarischer Texte glei‐ chermaßen anwendbare Vorgehensweise bei einer Strukturanalyse. Nicht nur, dass verschiedenartige Texte unter Umständen andere Anforderungen an die Strukturanalyse stellen, es spielt gemäß den Grundsätzen der Herme‐ neutik auch eine Rolle, was ich als Leser/ Leserin bereits verstehe, mit welchen Fragen ich an den Text herantrete. Hierin liegt der erste Schritt, auch bei einer Strukturanalyse, die textfundierte Objektivität anstrebt. Die folgende Vorge‐ hensweise soll der allgemeinen Orientierung im Umgang mit Texten dienen. Sie ist zunächst nicht gattungsspezifisch; mögliche Besonderheiten im Um‐ gang mit Lyrik kommen gleich im Anschluss zur Sprache. 1. Lesen Sie den Text oder Textauszug mehrmals. Klären Sie dabei evtl. un‐ bekannte Wortbedeutungen und markieren Sie, ohne jeden systemati‐ schen Anspruch, inhaltliche und formale Eigenheiten, die Ihnen auffallen. 2. Formulieren Sie eine Hypothese zum Thema des Textes und stellen Sie (schriftlich oder gedanklich) die vorkommenden Motive zusammen. Wenn möglich, formulieren Sie den mutmaßlichen Inhalt des Textes, d. h. die dargestellten Vorgänge und/ oder Zustände, wie Sie sie aus den ersten Lektüren entnehmen. 3. Untersuchen Sie, welche Teile des Textes (Motive, Wortbedeutungen) zu Ihren inhaltlichen Hypothesen passen und welche nicht. Lassen sich et‐ waige Widersprüche in einer modifizierten Hypothese aufheben? 4. Suchen Sie die Isotopien des Textes und ordnen Sie sie nach Relevanz (Häufigkeit des Vorkommens im Text, Bezug zum Thema). Wo gibt es Überschneidungen (Elemente, die zwei oder mehreren Isotopien zugehö‐ ren), wo Brüche (Elemente, die die Isotopie wechseln, also eine andere 4.3 Strukturanalyse: Vorgehensweise 85 <?page no="86"?> Ausdrucksseite: Ein‐ schnitte, Wiederholungen, Äquivalenzen, Oppositio‐ nen Zusammenführung von In‐ halt und Ausdruck Rückkehr zur Lesehypo‐ these Rolle der Gattung für die Strukturanalyse Definitionen von ‚Lyrik‘ Innerlichkeit Bedeutung annehmen)? Welche der Isotopien entsprechen einander (Äquivalenz), sei es durch lebensweltlichen Zusammenhang, sei es durch gemeinsame Elemente? Welche stehen zueinander in Gegensatz (Oppo‐ sition)? 5. Teilen Sie, wenn möglich, den Text vor diesem Hintergrund in inhaltliche Etappen ein und/ oder beschreiben Sie die Entwicklung des Themas/ der Themen. 6. Ermitteln Sie die formalen Einschnitte auf makro- und mikrostruktureller Ebene (Kapitel, Absätze, Sätze, Verse). 7. Suchen Sie nach Wiederholungen, Äquivalenzen und Oppositionen auf den verschiedenen Ausdrucksebenen: Syntax (z. B. Satzwiederholungen oder Parallelismen), Lexik (z. B. Wortverknüpfungen, Wortlänge), Lau‐ tung (z.-B. Reim, Paronomasien oder Lautoppositionen). 8. Setzen Sie die formalen Betrachtungen in Beziehung zum Inhalt des Tex‐ tes. Welche Inhalte werden durch formale Mittel aneinandergekoppelt (z. B. Reimwörter) oder einander gegenübergestellt? Stützen die formalen Eigenschaften die Befunde der Inhaltsanalyse oder stehen sie ihnen ent‐ gegen? 9. Kehren Sie zu Ihrer Lesehypothese zurück. Lässt sich durch die ermittelte Struktur des Textes dieser Leseeindruck erklären? Wenn nötig, ergänzen oder korrigieren Sie die erste Beschreibung. 4.4 Gattung Lyrik So sehr sich die Schritte für eine erste Strukturanalyse, die textintern bleibt und von historischen Faktoren, Werkzusammenhängen u. Ä. absieht, bei ver‐ schiedenen Texten wiederholen: Die Unterscheidung von Gattungen ist auch hier relevant, denn die Kategorisierung von Texten in Form von Gattungs‐ zuordnung geschieht notwendigerweise auf der Basis wiederkehrender in‐ haltlicher oder formaler Eigenschaften (siehe Einheit 2.2). Diese bilden na‐ turgemäß ein Orientierungsraster für die inhaltliche und formale Strukturanalyse und erfordern häufig ein in eine bestimmte Richtung verfei‐ nertes terminologisches Instrumentarium der Textbeschreibung. Fragen wir uns also: Was ist für Lyrik (lirica) kennzeichnend? Es fehlt nicht an Versuchen, lyrische Texte oder gar eine hinter diesen ste‐ hende lyrische ‚Haltung‘ zu definieren. Goethe hatte, wie Sie in Text 2.4 sahen, Lyrik als die „enthusiastisch aufgeregte“ Form bezeichnet. Tatsächlich deckte sich diese heutzutage vielleicht etwas merkwürdig anmutende Formulierung mit der immer noch typischen Vorstellung, Lyrik drücke Innerlichkeit, Emo‐ tionen aus: Die Praxis, die Geliebte mit Gedichten zu umwerben, mag heute nicht mehr verbreitet sein, fest steht, dass der Ausdruck von Gefühlen lite‐ rarhistorisch das mit Abstand wichtigste Thema lyrischer Texte darstellt. 86 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="87"?> Poetizität und Strukturiert‐ heit des Ausdrucks Verdichtung Vers und Strophe Poema in prosa Feste Gedicht- und Stro‐ phenformen Doch schon hier kommen Schwierigkeiten ins Blickfeld, die wir von der Dis‐ kussion des Literaturbegriffs in Einheit 1 her kennen, denn der Ausdruck von Emotionen ist nicht nur ‚das‘ lyrische, sondern ‚das‘ literarische Thema schlechthin und keineswegs nur in Gedichten präsent. Wie beim Literatur‐ begriff gibt es besonders typische Formen, die sich dann in Definitionen wie der Goethes wiederfinden, daneben jedoch eine Vielzahl von - je nach Epoche keineswegs randständigen - weniger typischen oder Mischformen: Auch Ly‐ rik kann erzählen (etwa in der Untergattung Ballade), auch epische Texte wie Romane können eine Innerlichkeit des Sprechers ausdrücken (z. B. Briefro‐ man), die einem Gelegenheitsgedicht völlig fehlt. Mehr Aussicht auf Stimmigkeit als die inhaltliche Bestimmung von Lyrik scheint indessen eine formbezogene Definition zu bieten. Wenn man ein Ge‐ dicht (it. poesìa) etymologisch auf poetisches Sprechen/ Schreiben und Poeti‐ zität zurückbezieht, dann wäre Lyrik mehr als andere literarische Gattungen durch einen besonderen Sprachgebrauch gekennzeichnet, welcher der Aus‐ drucksseite ebenso viel oder sogar mehr Bedeutung einräumt als dem ‚Inhalt‘ (siehe Einheit 1.1, Poetizität). In der Tat gehen lyrische Texte häufig neue Wege der Sprachverwendung - etwa weil komplexe Inhalte in meist kurzen Texten ausgedrückt und damit verdichtet werden -, streben bei teils sehr festgefügtem und konventionalisiertem Inhalt (z. B. dem Frauenlob in der Renaissance) gerade nach Originalität des Ausdrucks oder sind Schauplatz für Sprachexperimente (z. B. im Futurismus, vgl. Einheit 1.1). Leichter festzustel‐ len - dieser Punkt wird Ihnen wahrscheinlich gleich als Merkmal von Ge‐ dichten eingefallen sein - ist freilich eine hochgradige Strukturiertheit des Ausdrucks im Vers und in Strophenformen. Auch Vers und Strophe (verso, strofa) sind weder notwendiges noch hinreichendes Kriterium für Lyrik: Das Drama des 17. Jh. etwa ist häufig in (freien) Versen verfasst, während im 19. Jh. die Gattung des Prosagedichts (poema in prosa) entwickelt wurde. Diese u. a. von D’Annunzio sehr gepflegte Form zeichnet sich nicht mehr durch Verse, sondern durch eine weniger festgefügte, aber nachweisbare Struktu‐ rierung des Signifikanten und gedankliche Verdichtung aus. Wenn Lyrik also schwerlich über eindeutige Kriterien zu definieren ist, dann empfiehlt es sich, von typischen lyrischen Untergattungen und konventionellen Formen aus‐ zugehen. Zunächst einige wichtige feste Gedichtformen - zu Vers und Reim gleich mehr. 1. Sonett (sonetto): Wichtigste Form vom 13. bis zum 16. Jh., wird dem Sizi‐ lianer Giacomo da Lentini (13. Jh.) zugeschrieben, hat sich aus der Kan‐ zonenstrophe entwickelt (zweigeteilter Aufgesang, zweigeteilter Abge‐ sang): Zwei Quartette (= Oktave), zwei Terzette (= Sextine). Das Reimschema (bei dem sich reimende Verse mit dem gleichen Buchstaben bezeichnet werden) der früheren Form ist der Kreuzreim in den Quartet‐ ten (abab) und der fortführende (cde cde) bzw. alternierende Reim (cdc 4.4 Gattung Lyrik 87 <?page no="88"?>  Aufgabe 4.6 Vers und Strophe als Form- und Sinnebene dcd) in den Terzetten. Im dolce stil nuovo kommt es zu anderen Reimva‐ rianten wie abba abba cde dee. Das Sonett besteht gewöhnlich aus einer einheitlichen Versart (isometrisch), nämlich dem Elfsilbler (endecasil‐ labo). Ein Beispiel hierfür ist Text 1.4. In der folgenden Einheit wird das Sonett eingehender behandelt. 2. Ballade (ballata): ursprünglich Tanzlied provenzalischer Herkunft. Sie besteht aus einem vorangestellten einbis fünfzeiligen Refrain (ripresa), gefolgt von einer oder mehreren identisch gebauten Strophen (strofa di ballata). Diese werden ihrerseits aus zwei gleichartigen, je einbis vierzeilige Verse umfassenden Teilen (mutazioni) sowie einem Schlussteil (volta) dem Umfang des Refrains entsprechend (ein bis fünf Verse) gebil‐ det. Im Trecento wurden nur Sieben- oder Elfsilbler oder eine Kombination aus beiden verwendet. 3. Kanzone (canzone): Die ältere Kanzone besteht meist aus fünf bis sieben Strophen mit einer Geleitstrophe (commiato, congedo). Ist die Gestaltung der Kanzonenstrophe in Bezug auf Umfang, Reimschema, Versart relativ frei, finden wir doch in der Regel Sieben- und Elfsilbler. Der Aufbau der Kanzonenstrophe ist traditionell zweigeteilt: in einen Aufgesang (fronte), bestehend aus zwei gleichgebauten Teilen (Stollen, it. piedi) und einem Abgesang (sirma oder coda), bestehend aus zwei gleichen oder freigebauten Gegenstollen (volte). 4. Sestine (sestina): Wurde aus der altprovenzalischen Kanzone entwickelt. Seit Dante besteht sie aus sechs isometrischen (gleich gestalteten) Stro‐ phen aus jeweils sechs Elfsilblern, deren sechs Reimwörter sich in allen Strophen wiederholen, und zwar nach der Ordnung 6-1-5-2-4-3. Am Ende steht eine dreizeilige Schlussstrophe (commiato, congedo), in welchem die Reimwörter in der Reihenfolge des ersten Sechszeilers wieder auftreten. Beispiele für die Gedichtformen ballata, canzone und sestina finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. ? Versuchen Sie, die genannten Strophenformen vereinfacht graphisch darzustellen (z.-B. Umrissform). Auch jenseits solcherlei historisch herausgebildeter und fixierter Gedichtfor‐ men bedeutet die Verwendung von Versen und festen Strophenformen eine höhere Strukturierung des sprachlichen Signifikanten und schränkt die Aus‐ drucksmöglichkeiten durch eine Reihe von Zwängen ein. So ist - von expe‐ rimentellen oder parodistischen Gedichten des 20. Jh. abgesehen - üblicher‐ weise der Versanfang auch ein Wortanfang, das Versende zugleich Wortende mit betonter Silbe, meist auch Satzteilende - ist es das nicht, d. h. geht die Syntax über den Vers hinweg, handelt es sich um einen Sonderfall, für den 88 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="89"?> Romanischer Vers durch Silbenzahl bestimmt eigens der Terminus Enjambement (it. enjambement, m.) eingeführt wurde. Die Vers- und Strophenstruktur bildet also eine weitere Ebene in Form - und Inhalt, denn es kann eine entscheidende inhaltliche Rolle spielen, wo im Vers oder in der Strophe ein Wort steht. Die Kenntnis des Versbaus, der Metrik, ist daher sehr relevant für die Strukturanalyse von Verstexten. Die Bedeutung metrischer Besonderheiten wird auch in der nächsten Einheit bei der Analyse eines Gedichts von Gabriele D’Annunzio (Text 5.5) deutlich werden. In den romanischen Sprachen ist der Vers allein durch die Zahl seiner Silben bestimmt (syllabierendes oder numerisches Prinzip), es wird also nicht, wie in der Antike, zwischen langen und kurzen Versen (quantitierendes Prinzip) unterschieden. Für den italienischen Vers ist damit die Silbenzahl entschei‐ dend, wenngleich die Position der Akzente für die Zählung der Silben eine Rolle spielt. Der Versakzent liegt entsprechend dem normalen Wortakzent der italienischen Sprache in der Regel auf der vorletzten Silbe des Verses. Bei längeren Versen kommt ein fester Versakzent vor der Zäsur (cesura) hinzu. Durch diese metrisch weitgehend unverplante Umgebung bleibt hier im Ge‐ gensatz etwa zur germanischen Metrik ein ‚freier Sprechrhythmus‘ erhalten, d. h. nicht jede Silbe ist charakterisiert. Zur Beschreibung des Rhythmus, nicht aber des Metrums, sind also antike Versmaßbegriffe wie Jambus oder Tro‐ chäus, die Ihnen wahrscheinlich bereits bekannt sind, durchaus verwendbar. Wie bestimmt man italienische Verse? Grundregeln der Silbenzählung: 1. Bei der Silbenzählung ist auf den Versschluss zu achten, denn je nach Wortakzent im letzten Wort eines Verses lassen sich im italienischen Versmaß drei Arten von Versen unterscheiden: ▷ normale Akzentstellung auf der vorletzten Silbe (vita, dura) = parole piane → versi piani, ▷ Akzent auf der letzten Silbe (città, trovò) = parole tronche → versi tronchi (eine Silbe fehlt im Vergleich zum verso piano), ▷ Akzent auf der drittletzten Silbe (intendevole, durabile) = parole sdrucciole → versi sdruccioli (eine zusätzliche Silbe). 2a. Bei Doppelvokalen (Diphthongen) ist der Normalfall die Synärese (it. sinèresi, f.), d. h. beide Vokale bilden eine einzige Silbe. Am Versende kommt es bei einem ‚fallenden Diphthong‘ (Diphthong, in dem der betonte Vokal vorangeht) zur Diärese (it. dièresi, f.), wobei jeder Vokal eine Silbe für sich bildet. Beispiel: Forse perché della fatal quï-ete. (Foscolo) 2b. Aufeinandertreffen zweier Vokale (Hiat, it. iato, z. B. in cre-are) wird beim Aufeinanderstoßen eines Auslautvokals mit dem Anlautvokal des folgenden Wortes als Missklang empfunden und deshalb mittels Synalöphe (it. sinalèfe, f.) umgangen. 4.4 Gattung Lyrik 89 <?page no="90"?> Aufgabe 4.7 ▷ Synalöphe = Normalfall, bei dem die Vokale zwar gesprochen, aber miteinander verschliffen werden, so dass nur eine Silbe gezählt wird. Beispiel: Voi ch’as-col-ta-te in ri-me spar-se il suo-no (Petrarca) --1-------2-----3---4-----5----6---7-----8-------9---10---11 ▷ Dialöphe (it. dialèfe, f.) = metrische Trennung der Vokale, ist jedoch selten. Beispiel: tant’e-ra pien di son-no a quel pun-to (Dante) -1-----2--3----4----5---6-----7--8----9----10---11 2c. Weitere metrische Sonderverfahren beruhen auf dem Prinzip der Til‐ gung ▷ Elision (it. elisione, f.) = Tilgung eines auslautenden Vokals vor Vokal. ▷ Aphärese (it. afèresi, f.) = Tilgung eines anlautenden Vokals nach Vokal. Beispiel: Che ’n contr’ al ciel non vai difesa umana (Petrarca) ▷ Synkope (it. sìncope, f.) = Tilgung eines Vokals im Wortinnern. Beispiel: Sempre caro mi fu quest’ ermo colle (Leopardi) (ermo für èremo = einsam) ▷ Apokope (it. apòcope, f.) = Tilgung eines auslautenden Vokals vor Konsonant. Beispiel: E pur mi giova […] (Leopardi) 3. Versarten Die Bezeichnung der verschiedenen Versarten richtet sich allein nach der Zahl ihrer Silben. Dabei unterscheidet man zwischen Versen mit ungerader Silbenzahl (versi imparisillabi): ternario, quinario, settenario, novenario, endecasillabo (dem im Italienischen am häufigsten verwende‐ ten Vers) und denen mit gerader Silbenzahl (versi parisillabi): quatenario, senario, ottonario, decasillabo. Darüber hinaus unterscheidet man Zäsur‐ verse (Verse mit fester Zäsur und zwei rhythmisch identischen Hälften): doppio quinario, doppio senario, doppio settenario, doppio ottonario. ? Trennen Sie mit einem senkrechten Strich die Silben dieser Gedicht‐ strophe aus den Rime der Gaspara Stampa: Voi, ch’ascoltate in queste meste rime, in questi mesti, in questi oscuri accenti il suon degli amorosi miei lamenti e de le pene mie tra l’altre prime […] (Stampa: 1995, 67) 90 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="91"?> Reim Weiblicher/ männlicher Reim Reimfülle Reimfolge Verse stehen normalerweise nicht allein, sondern werden an andere Verse gekoppelt. Neben der Syntax, also der grammatischen Verbindung zweier oder mehrerer Verse zu einem Satz, ist hier vor allem der Reim (la rima) von Bedeutung. Darunter versteht man im Italienischen wie im Deutschen den Gleichklang zweier Wörter zumindest ab dem letzten betonten Vokal (Bsp.: amore - dolore). Während der Vers, mit der eingeschränkten Ausnahme des poema in prosa, als Charakteristikum der Lyrik gelten kann, ist der Reim nicht immer gegeben, vor allem nicht in der sehr alten und der modernen Lyrik. Je nach Wortakzent unterscheidet man zwischen dem weiblichen Reim (rima piana): sole - parole, dem gleitenden weiblichen Reim (rima sdruc‐ ciola): dubito - subito und dem männlichen Reim (rima tronca): più - giù. Vorherrschend, vor allem bei den älteren Dichtern, ist die rima piana. Je nachdem, wie stark die Reimverse übereinstimmen, werden verschie‐ dene Grade der Reimfülle unterschieden. Je mehr Laute und Silben in einem Wort übereinstimmen, umso ‚reicher‘ ist der Reim. Darüber hinaus wird im Italienischen unterschieden: ▶ Homonymer Reim (rima equivoca) = klangliche Übereinstimmung der Reimwörter bei inhaltlicher Verschiedenheit: l’auro - lauro. ▶ Grammatischer Reim (rima derivata) = Ableitungen desselben Wort‐ stamms: intendi - attendi. ▶ Unsauberer Reim (rima imperfetta) = Reim, bei dem entweder nur die Vokale (Assonanz) oder nur die Konsonanten übereinstimmen: alto - pianto, stella - pupilla. ▶ Binnenreim (rimalmezzo, rima interna) = Fresca rosa novella, / piacente primavera, / per prata e per rivera / gaiamente cantando. (Cavalcanti, Rime) Zu guter Letzt werden in der Abfolge der Reimverse verschiedene Grundty‐ pen (collocazione delle rime) unterschieden, wobei sich reimende Versenden mit den gleichen Kleinbuchstaben notiert werden, Besonderheiten (wie un‐ saubere Reime) mit Großbuchstaben: ▶ Paarreim (rima baciata, rima accoppiata): aabbcc … Beispiel: Text zu Auf‐ gabe 4.5, Strophen 1 und 3. ▶ Umschlingender Reim (rima abbracciata): abba cddc … Beispiel: Text 5.1, Strophe 1 und 2. ▶ Kreuzreim (rima alternata): abab cdcd … Beispiel: Text 5.7, 1. Strophe. ▶ Kettenreim (rima incatenata): aba bcb cdc … Beispiel: Petrarca, Canzoniere 54, 1-10. ▶ Wiederholender Reim (rime ripetute): abc abc … Beispiel: Text 5.1, 3. und 4. Strophe. ▶ Blankverse (versi sciolti): Verse ohne Reim. Lieblingsverse des Klassizis‐ mus und der Romantik. 4.4 Gattung Lyrik 91 <?page no="92"?> Zusammenfassung Aufgabe 4.8  In der zurückliegenden Einheit haben Sie zunächst die allgemeinen Grundlagen der Strukturanalyse kennengelernt. Wie jeder Zugang zur Literatur geht auch sie vom Vorgang des Verstehens aus, der sich nicht linear, sondern vielmehr in Form eines hermeneutischen Zirkels vollzieht, bei dem die Subjektivität der Verstehenden entscheidend mitwirkt. Die Strukturanalyse strebt eine Objektivierung an, indem sie sich auf über‐ individuelle Bedeutungs- und Formmerkmale des Textes konzentriert und die textinternen Funktionen aufzeigt, die Sinn generieren. Zur Beschrei‐ bung der Ausdrucks- und Inhaltsseite stehen Begrifflichkeiten der anti‐ ken Rhetorik, aber v. a. auch eigentlich literaturwissenschaftliche Termini wie Thema, Stoff, Motiv und Isotopie zur Verfügung. In einem abschlie‐ ßenden Schritt wurde eine Annäherung an die Definition von Lyrik ver‐ sucht und es wurden spezielle Instrumente zur Analyse von Verstexten erarbeitet. ? Songtexte heißen auf englisch ‚lyrics‘. Inwiefern passt dies zu unserer Bestimmung von Lyrik? Literatur Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Braunschweig: Vieweg 1971. Eugenio Montale: Ossi di seppia. Milano: Mondadori 13 2002. Gaspara Stampa: Rime. Milano: Fabbri 1995. Dizionario di retorica e stilistica. Milano: TEA 1995. Jürgen Schutte: Einführung in die Literaturinterpretation. Stuttgart/ Weimar: Metzler 5 2005. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 92 4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel Lyrik <?page no="93"?> Überblick 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen Inhalt 5.1 Petrarkistische Sonette 5.2 Die literarische Dekadenz: Gabriele D’Annunzio 5.3 Die hermetische Lyrik der Moderne: Eugenio Montale Nach der theoretischen Auseinandersetzung mit Textanalysen bietet diese Einheit konkrete Anregungen für die Strukturuntersuchung von Gedichten. Anhand exemplarischer Texte werden Musteranalysen vor‐ gestellt und es wird die wissenschaftliche Herangehensweise an Lyrik eingeübt. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der literarhistorisch beson‐ ders wichtigen Gattung des Sonetts und seinen strukturellen Besonder‐ heiten. <?page no="94"?> Abb. 5.1 Francesco Petrarca (1304- 1374), Fresko von Andrea dal Castagno Il Canzoniere (1342-1374) Proemialgedicht Marienkanzone Laurasystem Daphne-Mythos aus den Metamorphosen von Ovid 5.1 Petrarkistische Sonette Zuerst einmal wollen wir uns einem Sonett Petrarcas zuwenden, der mit sei‐ nem Gedichtzyklus, dem Canzoniere, gleichsam modellbildend für Genera‐ tionen von Dichtern gewirkt hat. Francesco Petrarca wurde 1304 in Arezzo geboren und verbrachte einen Großteil seiner Jugend in Avignon, wo seit 1309 die Päpste residierten. Er kehrte zwar 1320 in die Toskana zurück, siedelte dann aber 1326, nach dem Tod seines Vaters, wieder nach Avignon über. Hier soll er 1327 in einer Kirche zum ersten Mal Laura begegnet sein, die er später in seinem Werk besang. 1341 wurde Petrarca in Rom zum Dichter gekrönt, doch kam er erst 1353 endgültig nach Italien zurück, wo er 1374 in Arquà starb. Petrarca verfasste Werke in Latein und im volgare. Von den Werken in der Volks‐ sprache ist der Canzoniere das mit Abstand bedeutendste. Der Canzoniere, mit dem Untertitel Rerum vulgarium fragmenta (dt. Bruchstücke in der Volkssprache), kann auch als ‚Liederbuch‘ übersetzt werden. Es handelt sich dabei um eine Lyriksammlung mit narrativer Komponente, die insgesamt 366 Gedichte umfasst, von denen 317 Sonette, 29 Kanzonen, 9 Sextinen, 7 Balladen und 4 Madrigale sind. In diesen Gedichten besingt Petrarca vor allem seine unerfüllte Liebe zu einer gewissen Laura, wobei der erste Teil des Zyklus der lebenden Laura (in vita di Laura) und der zweite der ver‐ storbenen Laura (in morte di Laura) gewidmet ist. Zu Beginn des Zyklus steht ein Eingangssonett (Proemialgedicht), in dem der Dichter sein Projekt und dessen Form („rime sparse“ in „Vario stile“) vorstellt und darüber hin‐ aus seine Erfahrungen rückblickend als Jugendirrtum stilisiert. Der Reue‐ gedanke und die religiöse Komponente erfahren am Ende, in der so ge‐ nannten Marienkanzone, ihren Höhepunkt. Laura, über deren tatsächliche Existenz im Leben Petrarcas Unklarheit herrscht, wird insgesamt nur ein‐ mal beim Namen genannt. Ansonsten kommt er als Paronomasie in der Form von Lauro = Lorbeer, L’aurora = Morgenröte, L’aura = Lufthauch, L’auro = Gold vor. Dieses so genannte Laurasystem ergibt sich unter ande‐ rem aus dem leitmotivisch eingesetzten Vergleich Laura = Daphne aus den Metamorphosen von Ovid. Insgesamt gehorchen die Gedichte der Dialektik der Zerrissenheit, d. h. die unerwiderte Liebe zu Laura bedeutet zugleich Freude und Leid, was sich häufig auch auf der strukturellen Ebene nieder‐ schlägt. Der Canzoniere kann auch als lyrische Autobiographie bezeichnet werden, da die Selbstdarstellung des Dichters immer wieder in den Vorder‐ grund rückt. Im Folgenden wollen wir kurz den Daphne-Mythos, wie er in den Meta‐ morphosen von Ovid erzählt wird, resümieren. Apollo hat sich unsterblich in die Nymphe Daphne verliebt, nachdem er von Amor mit dem goldenen Pfeil, dem Liebespfeil, getroffen wurde. Auf Daphne dagegen schoss Amor den bleiernen Pfeil, der die Liebe tötet. Daphne flieht deshalb vor Apollo und wird 94 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="95"?> Typisches Sonett Endecasillabo Anrufung auf ihr Flehen hin von ihrem Vater, dem Flussgott Peneios, in einen Lorbeer‐ baum verwandelt. Zum Andenken an Daphne trägt Apollo einen Lorbeer‐ kranz und eine mit Lorbeer geschmückte Leier, beides Attribute für den un‐ sterblichen Dichter. Wir wollen uns nun ein Sonett aus dem Canzoniere anschauen, in dem der Daphne-Mythos verarbeitet wird. 1 Apollo, s’anchor vive il bel desio - Che t’infiammava a le thesaliche onde, 1 - e se non ài l’amate chiome bionde, - volgendo gli anni, già poste in oblio: - - 5 dal pigro gielo et dal tempo aspro et rio, - che dura quanto ’l tuo viso s’asconde 2 , - difendi or l’onorata et sacra fronde 3 , - ove tu prima, et poi fu’ invescato 4 io; - - 9 et per vertù de l’amorosa speme 5 , - che ti sostenne ne la vita acerba, - di queste impressïon’ l’aere disgombra 6 ; - - 12 sì vedrem poi per meraviglia inseme - seder la donna nostra sopra l’erba, - et far de le sue braccia a se stessa ombra. - (Petrarca: 1996, 185) - 1 thesaliche onde Fluten in Thessalien, d. h. Fluss Peneios - 2 ascondere (lit.) = nascondere - 3 fronde Laub - 4 invescato hier: gefangen - 5 speme (poet.) Hoffnung - 6 disgombrare hier: wegnehmen Dieses sehr bekannte Sonett eignet sich in zweierlei Hinsicht für einen Ein‐ stieg in die Gedichtanalyse: Es veranschaulicht gut die Bauprinzipien der Gattung Sonett, der mit Abstand wichtigsten lyrischen Form des Canzoniere und des Petrarkismus. So ist dieses Sonett im für die italienische Literatur typischen endecasillabo (Elfsilbler) gehalten. In den ersten beiden Strophen, den Quartetten, finden wir den umarmenden Reim (abba) und in den beiden Terzetten den wiederholenden Reim (cdecde), entsprechend einer Standard‐ form der Gattung (vgl. 4.4). Darüber hinaus illustriert es exemplarisch die für Petrarca charakteristische Verbindung von Liebesklage und Selbstdarstellung des Dichters. Petrarca wendet sich mit seinem Sonett in Form einer Anrufung (Invokation) gleich zu Beginn der ersten Strophe direkt an Apollo und be‐ schwört dessen Erinnerung an seine Liebe zu Daphne. Der Rhythmus der Verse wird hier nach der dritten Silbe unterbrochen, um der Anrufung Nach‐ druck zu verleihen. Daphne wird allerdings namentlich nicht erwähnt, son‐ 5.1 Petrarkistische Sonette 95 Text 5.1 Francesco Petrarca: Sonett 34 (aus: Il Canzoniere) Abb. 5.2 Gian Lorenzo Bernini: Daphne und Apoll (Skulp‐ tur) <?page no="96"?> Metonymie Makroebene Unvergänglichkeit Apoll als Sonnengott Parallelisierung Laura/ Daphne Abb. 5.3 Petrarca und Apoll im Schatten eines Lorbeerbaums (Holzschnitt einer Canzo‐ niere-Ausgabe von 1513) dern mittels der Metonymie der „chiome bionde“ evoziert, die bei Petrarca auch für Laura stehen. Es wird damit sogleich in der ersten Strophe eine Pa‐ rallele zwischen Laura und Daphne zugrunde gelegt. An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass das Gedicht erst im Kontext des Canzoniere, also auf der Makroebene des Gesamtzyklus, seine volle Bedeutung entfaltet. Die Parallele zwischen Laura und Daphne und damit natürlich zwischen Petrarca und Apollo wird erst in Vers 8 („ove tu prima, et poi fu’ invescato io“) explizit. Schauen wir das Sonett nun Strophe für Strophe an. Die erste Strophe beginnt, wie bereits erwähnt, mit der Invokation Apolls und der Anspielung auf den Daphne-Mythos von Ovid. Insgesamt handelt es sich bei der Strophe um eine Art Rückblick, der mittels eines hypothetischen Satzgefüges die Unvergäng‐ lichkeit der Liebe evoziert („Apollo, s’anchor vive il bel desio […] et se non ài […] già poste in oblio“). In der zweiten Strophe wird nun das Bild Apolls um die Dimension des Sonnengottes vervollständigt. Der Parallelismus in Vers 5 („dal pigro gielo et dal tempo aspro et rio“) steht für das schlechte Wetter, das nur vertrieben werden kann, wenn die Sonne ihr Gesicht zeigt (Vers 6). In Vers 7 wird die Invokation von Vers 1 wieder aufgenommen, wenn Apollo durch den Imperativ „difendi“ dazu aufgefordert wird, das „ehrwürdige und heilige Laub“ zu schützen, „l’onorata et sacra fronde“ ist wiederum eine Me‐ 96 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="97"?> Abb. 5.4 Portrait von Laura Apoll als Medizingott Intertextualität tonymie für die zum Lorbeer gewordene Daphne. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Metonymie im 3. Vers der 2. Strophe parallelisiert werden kann mit der Metonymie „amate chiome bionde“, die im 3. Vers der ersten Strophe für Daphne/ Laura steht. Die erste Strophe handelt somit von der fliehenden Daphne bzw. der lebenden Laura, während sich die zweite Strophe auf die Daphne als Lorbeerbaum, bzw. die durch Petrarcas Dichtung unsterbliche Laura, bezieht. Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, scheinen beide Strophen sogar die Makrostruktur des Canzoniere widerzuspiegeln: in vita und in morte di Laura. Die Verschmelzung von Laura und Daphne wird am Ende der 2. Strophe explizit, wenn Petrarca sich mit Apollo gleichsetzt („Ove tu prima … “, 8). Das erste Terzett greift eine weitere Komponente des Gottes Apoll auf, nämlich seine Erscheinung als Medizingott (vgl. 11: „di queste im‐ pressïon’ … “). „Impressïon“ steht hier für den Pesthauch, den es zu vertreiben gilt. Im Zusammenhang mit der heilenden Kraft Apolls wird in den beiden vorangehenden Versen die Heil bringende Kraft der Liebe beschworen, die allein helfen kann, dem bitteren Leben standzuhalten. Das letzte Terzett greift nun ähnlich einer Zusammenfassung die Gleichsetzung von Petrarca und Apoll mit dem in der 1. Person Plural stehenden Verb „vedrem“ und dem Possessivpronomen „nostra“ wieder auf, wobei die letzten beiden Verse wie‐ derum das Bild der Daphne/ Laura in Gestalt des Lorbeerbaums evozieren. Der sich selbst Schatten spendende Lorbeerbaum kann natürlich als Anspielung auf die einseitige Liebe der beiden Männer gesehen werden. Der Schatten schützt Daphne/ Laura vor der Sonne, d.-h. vor Apollo/ Petrarca. Zusammenfassend können wir festhalten, dass Petrarca sich in diesem Sonett durch die Parallelisierung mit Apoll zum unsterblichen Dichter, zum „poeta laureato“, stilisiert. Das Besingen der Liebe wird damit zur unabding‐ baren Quelle der Dichtung. Darüber hinaus müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass sich uns die Gedichte Petrarcas ohne eine intertextuelle Verortung (s. Einheit 11.2.1) sowie ohne Einbettung in den Gesamtkontext des Canzoniere nicht in ihrer Gänze erschließen. Lesen Sie nun Sonett 60 des Canzoniere vor dem Hintergrund Ihrer bisheri‐ gen Kenntnisse über Petrarcas Canzoniere und beantworten Sie die folgenden Fragen. 1 L’arbor gentil che forte amai molt’anni, - mentre i bei rami non m’ebber a sdegno 1 - fiorir faceva il mio debil ingegno - a la sua ombra, et crescer negli affanni 2 . - - 5 Poi che, securo me di tali inganni 3 , - fece di dolce sé spietato legno, - i’ rivolsi i pensier’ tutti ad un segno, - che parlan sempre de’ lor tristi danni 4 . 5.1 Petrarkistische Sonette 97 Text 5.2 Francesco Petrarca: Sonett 60 (aus: Il Canzoniere) <?page no="98"?> Aufgabe 5.1 Aufgabe 5.2 Aufgabe 5.3 Definition: Petrarkismus Vittoria Colonna und der weibliche Petrarkismus 9 Che porà dir chi per amor sospira, - s’altra speranza le mie rime nove - gli avessir 5 data, et per costei la perde? - - 12 Né poeta ne colga mai, né Giove - la privilegi, et al Sol venga in ira, - tal che si secchi ogni sua foglia verde. - (Petrarca: 1996, 308) - 1 m’ebber a sdegno hier: mich verachteten - 2 affanni (pl.) Sorgen, Nöte - 3 securo … inganni während ich mich vor solchen Täuschungen sicher glaubte - 4 danni Schäden, Unglück - 5 avessir = avessero ? Analysieren Sie den Versbau und das Reimschema dieses Gedichtes. ? Wie wird oben beschriebener Daphne-Mythos von Petrarca formal und inhaltlich verarbeitet? ? Inwiefern unterscheidet sich dieser Text inhaltlich von Text 5.1? Petrarcas Canzoniere wurde in der bereits erwähnten Weise modellbil‐ dend für die gesamte europäische Lyrik. Der so genannte Petrarkismus folgt ihm insbesondere im Hinblick auf die Thematik (Liebesdichtung mit Überhöhung der körperlichen und geistigen Erscheinung der Geliebten, unerfüllbare Liebe und durch sie ausgelöster Schmerz und Todessehn‐ sucht bei ungebrochenem Verlangen), die Gattungen (Sonett und Kan‐ zone) sowie die verwendeten Ausdrucksmittel (Antithese, Oxymoron, Hyperbel, Anapher). Im 16. Jh. wird das Vorbild der petrarkistischen Liebeslyrik bevorzugt von Dichterinnen aufgenommen, die dieses Modell allerdings aus ihrer Position als Frau heraus umgestalten. Eine der bekanntesten italienischen Petrarkis‐ tinnen ist Vittoria Colonna (1490-1547). Nach dem frühen Tod ihres Ehe‐ mannes besingt sie diesen in ihren Rime amorose und begründet damit die Variante des Ehepetrarkismus. Ähnlich dem Canzoniere handelt es sich um einen Gedichtzyklus, analog zu Petrarca mit einem Proemialgedicht und einer Abschlusskanzone. 98 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="99"?>  Ehepetrarkismus Isotopien Knotenmetapher Gartenmetapher 1 Quando Morte fra noi disciolse 1 il nodo - che primo avinse 2 il Ciel, Natura e Amore, - tolse agli occhi l’obietto e ’l cibo al core; - l’alme ristrinse 3 in più congiunto modo. - - 5 Quest’è ’l legame bel ch’io prezzo e lodo, - dal qual sol nasce eterna gloria e onore, - non può frutto marcir 4 , né langue il fiore - del bel giardino ov’io piangendo godo. - - 9 Sterili i corpi fur, l’alme feconde - il suo valor qui col mio nome unito - mi fan pur madre di sua chiara prole 5 , - - 12 la qual vive immortal, ed io ne l’onde - del pianto son, perch’ei nel Ciel salito, - vinse il duol la vittoria ed egli il sole. - (Colonna: 1982, 18) - 1 disciogliere lösen - 2 avvincere binden - 3 ristringere zusammenschnüren - 4-marcire hier: verfaulen - 5 prole Nachkommenschaft Eine Übersetzung des Sonetts finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Wenn wir die Sonette Colonnas mit denen Petrarcas vergleichen, müssen wir schon auf der Inhaltsebene feststellen, dass nicht das Thema der einsei‐ tigen, unerfüllten Liebe im Mittelpunkt steht, sondern vielmehr die Ehebe‐ ziehung. Das Leid des lyrischen Ichs resultiert nicht etwa aus der mangelnden Erwiderung des Gefühls seitens des Ehegatten, sondern aus der Trennung der beiden durch den Tod. Dieser wird deshalb als Ursprung allen Übels allego‐ risch im 1. Vers unseres Sonetts erwähnt. Die Ehebeziehung wird in den ersten beiden Strophen durch zwei Isotopien beschrieben, während in den beiden Terzetten die Trauer und die Bewältigungsstrategien derselben angesprochen werden. Wir wollen uns nun erst einmal der Darstellung der Ehe zuwenden, einer Beziehung, die in der ersten Strophe mit der Metapher des unauflöslichen Knotens dargestellt wird. Die Elemente dieser Isotopie („disciolse“, „il nodo“, „avinse“, „ristrinse“) werden von Verben dominiert, die semantisch den Ge‐ gensatz von Auflösen und Verbinden unterstreichen („disciolse“, 1, „ristrinse“, 4). Löst der Tod diesen Knoten scheinbar auf, so wird er von der Seele nur noch fester gezogen. Die Ehe gilt damit über den Tod hinaus. In der zweiten Strophe wird die Ehe nun mittels der Gartenmetapher beschrieben („sol“, „frutto“, „marcir“, „langue“, „fiore“, „giardino“). Die anschließende antitheti‐ 5.1 Petrarkistische Sonette 99 Text 5.3 Vittoria Colonna: Sonett 30 (aus: Rime amorose) Abb. 5.5 Michelangelo Buonarroti: Vittoria Colonna (1490- 1547) <?page no="100"?> Biographischer Kontext Formale Struktur Zahlensymbolik Zusammenfassung sche Gerundiumskonstruktion in Vers 8 („piangendo godo“) verweist auf die Ambivalenz der Situation, in der sich das lyrische Ich befindet. Das Zerris‐ sensein zwischen Leid und Lust wird erst im letzten Terzett aufgelöst. Das erste Terzett ist metapoetisch zu lesen und bedarf darüber hinaus der biographischen Kontextualisierung. Die Ehe der Vittoria Colonna blieb kin‐ derlos, worauf die erste Hälfte des 9. Verses anspielt („Sterili i corpi fur […]“). Der körperlichen Fruchtbarkeit wird aber in Form eines Chiasmus sogleich die Fruchtbarkeit der Seele gegenübergestellt, eine Antithese, die in den fol‐ genden beiden Versen aufgelöst wird. Die Geburtsmetapher wird auf das dichterische Schaffen angewendet. Indem das lyrische Ich den verstorbenen Ehemann in der Dichtung preist, schenkt es ihm gleichsam Nachkommen‐ schaft und lässt ihn so unsterblich werden. Dem Dichten wird hier also nicht mehr nur eine trostspendende Funktion zugeschrieben, wie Colonna in ihrem Proömialgedicht vorgibt (Sonett 1, Vers 1: „Scrivo sol per sfogar l’interna doglia […]“), sondern hat auch die Ersatzfunktion für die unerfüllte Mutter‐ rolle. Das zweite Terzett schließt mit einer Relativsatzkonstruktion direkt an das erste an und dient dazu, die Antithese von Vers 8 („piangendo godo“) aufzulösen. Der Ehemann im Himmel tritt metaphorisch als Sonne in Erschei‐ nung und wird letztendlich die Trauer des lyrischen Ichs besiegen. Der hier angedeutete Hoffnungsschimmer bezieht sich natürlich im christlichen Sinne auf die Wiedervereinigung der Eheleute im Himmel. Für die formale Struktur der Verse können wir abschließend festhalten, dass diese häufig nach dem dualistischen Prinzip entweder der Antithese, wie in diesem Sonett mittels der Chiasmen in den Versen 3 und 9 („tolse agli occhi l’obietto e ’l cibo al core“, „Sterili i corpi fur, l’alme feconde“) und in Vers 7 („non può frutto marcir, né langue il fiore“) gebaut sind. Inhaltlich spiegelt die dualistische Struktur die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs wider. Häufig bedient Colonna sich aber auch der dreigliedrigen Aufzählung, wie hier in Vers 2 („il Ciel, Natura e Amore“), die auf das göttliche Prinzip der Trinität anspielt. Im Sinne dieser Symbolik ist ebenfalls die Anordnung der Chiasmen in diesem Sonett zu deuten, die sich jeweils in den durch drei teil‐ baren Versen befinden (3, 9). Zusammenfassend können wir festhalten, dass Colonna in diesem Sonett, wie auch in den anderen ihrer 89 Gedichte dieses Zyklus, die Ehe in ihrem christlichen Verständnis preist und sich selbst dabei als untadelige Ehe‐ frau inszeniert. Auch die Tatsache, dass sie als dichtende Frau eine Son‐ derposition in der Gesellschaft einnimmt, legitimiert sie über ihre Rolle als Ehefrau. 100 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="101"?>  Aufgabe 5.4 Aufgabe 5.5 Aufgabe 5.6 Literarische Dekadenz 1 Chi può troncar quel laccio 1 che m’avinse? - Se Ragion porse il stame 2 Amor l’avolse; - né Sdegno il rallentò, né Morte il sciolse; - la Fede l’annodò, Tempo lo strinse. - - 5 Il cor legò, poi l’alma, e intorno cinse 3 ; - chi più conobbe il ben più se ne tolse; - l’indissolubil nodo in premio volse - per esser vinta da chi gli altri vinse. - - 9 Convenne al ricco bel legame eterno - spreggiar 4 questa mortal caduca spoglia 5 - per annodarmi 6 in più mirabil modo; - - 12 onde tanto obligò lo spirto interno - ch’al cangiar vita fermerò la voglia; - soave in terra, in Ciel felice nodo. - (Colonna: 1982, 8) - 1 troncar quel laccio jenes Band kappen - 2 stame Garn, Faden - 3 cingere umschließen, umfassen - 4 spreggiare verachten - 5 caduca spoglia vergängliche Hülle - 6 annodare verknoten Eine Übersetzung des Sonetts finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. ? Analysieren Sie die Metaphorik dieses Sonetts vor dem Hintergrund Ihres bisherigen Wissens über den Gedichtzyklus Vittoria Colonnas. ? Welches syntaktische Strukturprinzip herrscht auf der Versebene vor? ? Versuchen Sie nun, den Inhalt des Sonetts in zwei Sätzen zusammen‐ zufassen. 5.2 Die literarische Dekadenz: Gabriele D’Annunzio Mit dem nächsten Textbeispiel vollziehen wir einen Sprung an das Ende des 19. Jh., in die Epoche der literarischen Dekadenz. Exemplarisch für diese Strö‐ mung, die die formale Erneuerung der modernen Lyrik begründet, steht der 5.2 Die literarische Dekadenz: Gabriele D’Annunzio 101 Text 5.4 Vittoria Colonna: Rime amorose, Sonett 10 <?page no="102"?> Abb. 5.6 Villa D’Annunzios in Gar‐ done Riviera Definition: Literarische De‐ kadenz und die crepusco‐ lari Poema paradisiaco (1893) Romancier, Dramatiker und Lyriker Gabriele D’Annunzio. Der 1863 in Pes‐ cara geborene Autor veröffentlichte bereits während seiner Schulzeit in Prato (Toskana) eine Gedichtsammlung mit dem Titel Primo vere (1879). Nach dem Abitur 1881 ließ er sich in Rom nieder, wo er sich als Journalist, Schriftsteller und Lebemann einen Namen machte. In seinem Werk versuchte er den Wi‐ derspruch zwischen Kunst und Leben zu überwinden. Sein mondäner Le‐ bensstil und seine ästhetisierende Lyrik ließen ihn zum Modeschriftsteller der besseren römischen Gesellschaft werden. Von seinen vielen Liebschaften ist vor allem die mit der berühmten Schauspielerin Eleonora Duse legendär, die er 1895 in Venedig kennen lernte. Aufgrund finanzieller Probleme begab D’Annunzio sich von 1910-1915 nach Paris in ein, wie er selbst formulierte, „freiwilliges Exil“. In Frankreich begann er Dramen in französischer Sprache zu verfassen. Nach dem Ausbruch des I. Weltkrieges kehrte der Dichter nach Italien zurück, um für das ‚Vaterland‘ zu kämpfen. Obwohl er bei einem Flug‐ zeugunglück ein Auge verlor, stellte er die Erfahrung des Krieges verherrli‐ chend dar und ließ sich in der Folge vom aufkommenden Faschismus ver‐ führen. Gegen Ende seines Lebens geriet D’Annunzio jedoch zunehmend in politische Isolation und zog sich ganz in seine Villa nach Gardone Riviera (Gardasee) zurück. Dort hatte er sich und seinem Werk bereits in den 1920er Jahren ein Denkmal in Form eines Mausoleums errichtet. 1938 starb er in seiner Villa. Neben seinen Romanen und Dramen hat er vor allem die Lyrik der Jahrhundertwende sowie die Nachfolgegeneration der crepuscolari maß‐ geblich geprägt. Die literarische Dekadenz kann als gesamteuropäisches Phänomen be‐ griffen werden, das als Reaktion auf die technische Entwicklung und den Positivismus (s. 10.2) der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu verstehen ist. Für Italien bezeichnet der decadentismo die Epoche der modernen Lyrik seit der Romantik, vor allem jedoch die Lyrik ab 1880, in der sich die Suche nach idealistischen Werten und ein praktizierter Ästhetizismus abzeich‐ nen. Formal ist diese Lyrik u. a. von den französischen Symbolisten be‐ einflusst, d. h. von der Auflösung des traditionellen Verses und der tra‐ ditionellen Metrik sowie einer verschlüsselten Sprache. Der Begriff crepuscolari wurde von Giuseppe Antonio Borgese (1882- 1952) geprägt und umfasst eine Gruppe junger Dichter, die sich u. a. an D’Annunzios Poema paradisiaco anlehnen, um ihr Unbehagen an der Moderne zum Ausdruck zu bringen. Wir wollen uns nun einem Gedicht aus D’Annunzios Poema paradisiaco zu‐ wenden, einer Gedichtsammlung, die erstmals zusammen mit den Odi navali im Juli 1893 in einer Luxusausgabe bei dem Verlag Fratelli Treves Editori in 102 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="103"?> Aufgabe 5.7 Aufgabe 5.8 Dualistisches Prinzip Mailand erschienen ist. Die 54 Gedichte des Zyklus waren bereits vorab in Zeitschriften veröffentlicht worden und erhielten erst im Nachhinein durch ihre Anordnung eine narrative Struktur. Am Ende des Poema ist das Sonett „O Giovinezza! “ eingeordnet, das wir nun näher betrachten wollen. 1 O Giovinezza, ahi me, la tua corona - su la mia fronte già quasi è sfiorita. - Premere sento il peso de la vita, - che fu sì lieve, su la fronte prona 1 . - - 5 Ma l’anima nel cor si fa più buona, - come il frutto maturo. Umile e ardita, - sa piegarsi 2 e resistere; ferita, - non geme 3 ; assai comprende, assai perdona. - - 9 Dileguan 4 le tue brevi ultime aurore, - o Giovinezza; tacciono le rive - poi che il tonante vortice 5 dispare 6 . - - 12 Odo altro suono, vedo altro bagliore 7 . - Vedo in occhi fraterni ardere vive - lacrime, odo fraterni petti ansare 8 . - (D’Annunzio: 1978, 198 f.) - 1 prona gebeugt - 2 piegarsi sich beugen - 3 gemere hier: leiden - 4 dileguan = si spengono - 5 vortice Strudel - 6 disparire (poet.) = sparire - 7 bagliore Schein, Licht - 8 ansare keuchen ? Auch bei diesem Gedicht handelt es sich um ein Sonett. Arbeiten Sie im Vergleich zu den Texten 5.1 bis 5.4 die formalen Neuerungen heraus. ? Analysieren Sie auf der Makrowie auf der Mikroebene, wie das Thema der Jugend in diesem Sonett behandelt wird. In diesem Sonett, das D’Annunzio mit Ende Zwanzig verfasste, setzt er sich ästhetisierend mit seiner sich dem Ende zuneigenden Jugendzeit auseinander. Strukturell gehorcht das Gedicht formal wie inhaltlich einem dualistischen Prinzip. Schon die Form des Sonetts beinhaltet eine Zweiteilung in Auf- und Abgesang (Einheit 4). Die beiden Quartette stellen die zwei Facetten der ver‐ flossenen Jugendzeit dar, während die beiden Terzette eine synthetisierende 5.2 Die literarische Dekadenz: Gabriele D’Annunzio 103 Text 5.5 Gabriele D’Annunzio: O Giovinezza (aus: Poema paradisiaco) <?page no="104"?> Syntax Parallelismus, Chiasmus Reimschema Invokation Isotopie Vergänglichkeit Reife Parallelismen Vitalität Funktion erfüllen. Die dualistische Struktur wird auch innerhalb der einzel‐ nen Strophen bzw. Verse wieder aufgenommen. So lassen sich die Quartette syntaktisch jeweils in zwei Teile, d. h. Sätze, gliedern. In der dritten Strophe wird die Zweiteilung insofern wieder aufgenommen, als der syntaktische Einschnitt in der Mitte der Strophe erfolgt: der 10. Vers ist syntaktisch und inhaltlich genau in zwei Halbverse geteilt. Im letzten Terzett nun wird der Dualismus spielerisch aufgehoben, indem Satzfiguren, die eigentlich auf einer dualistischen Struktur aufbauen, d. h. der Parallelismus und der Chiasmus, kunstvoll miteinander verflochten werden. Das Sonett beginnt mit einer Invokation der Jugend als Allegorie („O Gio‐ vinezza […]“), verstärkt durch den Klageruf „ahi me“, und entwickelt sich im Folgenden als Monolog des lyrischen Ichs, das sich an die Jugend richtet. In der ersten Strophe wird diese unter dem Aspekt der Vergänglichkeit behan‐ delt. Auf der Ebene der Verben dominieren die Vergangenheitstempora. Se‐ mantisch wird die Jugend mit der Metapher der Krone verbunden, aber mit der Isotopie der Vergänglichkeit kontrastiert („sfiorita“, 2, „il peso de la vita“, 3). Drückt die erste Strophe eher das Bedauern angesichts des Schwindens der jugendlichen Leichtigkeit aus, stellt die zweite Strophe nun den positiven Aspekt der Reife in den Vordergrund. Die antithetische Struktur dieser beiden Strophen wird durch das „Ma […]“ gleich zu Beginn der zweiten Strophe an‐ gekündigt. Mittels des Vergleichs der reifen Frucht („come il frutto maturo“, 6), der hier jedoch seiner ursprünglichen Bedeutung der Vergänglichkeit ent‐ hoben und damit positiv konnotiert ist, wird die Herzensgüte unterstrichen. Im Folgenden wird diese in Form einer asyndetischen Reihung von Paralle‐ lismen näher beschrieben, wobei die drei ersten Parallelismen wiederum an‐ tithetisch gestaltet sind. Diese Antithesen werden allerdings mit dem 4. Pa‐ rallelismus wieder aufgelöst. Im 2. Vers der dritten Strophe wird die Anrufung der ersten Strophe noch einmal aufgenommen und mit ihr in den Verben ebenfalls die Isotopie der Vergänglichkeit („dileguan“, „taccino“, „dispare“, 9-11). Der auf den ersten Blick auch hier negativ erscheinende Aspekt der Vergänglichkeit wird durch die nun einkehrende Ruhe relativiert, die im Bild des schwindenden Strudels („il tonante vortice dispare“, 11) verdeutlicht wird. In der letzten Strophe dominieren das lyrische Ich und seine Wahrneh‐ mung. Die Isotopie der Sinneswahrnehmungen („odo“, „vedo“, „bagliore“, „occhi“, 12-13) erzeugt einen Eindruck von Vitalität, der ganz im Gegensatz zur Vergänglichkeit in der ersten Strophe steht. Dieser Eindruck wird noch durch das Enjambement von Vers 13 zu Vers 14 verstärkt; die Tränen („ardere vive/ lacrime“) weisen auf noch vorhandene Leidenschaft hin. Diese erscheint durch das parallel geführte Adjektiv „fraterni“ wiederum als abgemilderte, gleichsam reife Leidenschaft. 104 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="105"?> Aufgabe 5.9 Abb. 5.7 Chiasmus der Verbformen „odo“ und „vedo“ Zusammenfassung Hermetismus Freier Vers Symbolik Poetologische Reflexion ? Bevor Sie weiterlesen, versuchen Sie den Gebrauch von Chiasmen und Parallelismen in der letzten Strophe zu analysieren und schematisch dar‐ zustellen. Im letzten Terzett werden die Parallelismen auf der Versebene verbunden mit dem Chiasmus der Verbformen „odo“ und „vedo“ auf der Strophenebene. Das dualistische antithetische System, das dem Gedicht inhaltlich und formal zu‐ grunde liegt, wird damit in einer Art Harmonie aufgelöst. Inhaltlich ließe sich diese Schlussfolgerung in etwa so formulieren: Der Verlust der Jugend steht zwar für die Vergänglichkeit, bedeutet aber nicht zwingend Verlust von Vi‐ talität und Lebensfreude. Vielmehr ist die sich mit zunehmendem Alter ein‐ stellende Reife als Chance zu begreifen. 5.3 Die hermetische Lyrik der Moderne: Eugenio Montale Die Zeit zwischen den Weltkriegen war von avantgardistischen Tendenzen in der Lyrik bestimmt. Das Interesse der breiten Leserschaft richtete sich zu‐ nehmend auf die Erzählliteratur, so dass die Dichter sich mit einer formal innovativen und inhaltlich sehr verschlüsselten Dichtung von diesem Publi‐ kum distanzierten. Zuweilen wurde dieser ‚Hermetismus‘ auch eingesetzt, um unbemerkt Kritik am aufkommenden Faschismus zu üben. Zu den Dich‐ tern des ‚Hermetismus‘ zählen Giuseppe Ungaretti (1888-1970), Umberto Saba (1883-1957) und Eugenio Montale. Letzterem wollen wir uns nun zu‐ wenden. Eugenio Montale wurde 1896 in Genua geboren und die Landschaft Ligu‐ riens wird für ihn und sein Werk zeitlebens eine fundamentale Rolle spielen. Geprägt ist seine Lyrik darüber hinaus von den Futuristen, den französischen Symbolisten und der gesamten Kunst und Literatur des späten 19. und des frühen 20. Jh. Spätestens nach seiner Teilnahme am I. Weltkrieg fühlte Mon‐ tale sich in ‚Disharmonie‘ mit der Welt. Dieses Lebensgefühl des male di vivere wird in seinem Werk immer wieder mit der Hoffnung kontrastiert, die Dis‐ harmonie zu überwinden. Stilistisch ist sein Werk geprägt vom Gebrauch des freien Verses, der Vermischung verschiedenster lexikalischer Ebenen und ei‐ ner Dingsymbolik, die die Landschaften und die zu ihnen gehörenden Dinge, vor allem die Tiere und Pflanzen, zum Symbol der Situation der Menschheit werden lässt. Sein Werk ist begleitet von einer vielfältigen Reflexion über die Funktion des Dichters und der Dichtung. 5.3 Die hermetische Lyrik der Moderne: Eugenio Montale 105 <?page no="106"?> Aufgabe 5.10 Ossi di seppia (1925) Text 5.6 Eugenio Montale: Confes‐ sioni di scrittori, Intervista con se stessi (Auszug) 1 5 L’argomento della mia poesia […] è la condizione umana in sé considerata: non questo o quello avvenimento storico. Ciò non significa estraniarsi da quanto av‐ viene nel mondo; significa solo coscienza, e volontà, di non scambiare l’essenziale col transitorio […]. Avendo sentito fin dalla nascita una totale disarmonia con la realtà che mi circondava, la materia della mia ispirazione non poteva essere che quella disarmonia. (Montale: 1976, 569) ? Wie beschreibt Montale in diesen Zeilen sein Verhältnis zur Welt und zur Realität? Belegen Sie Ihre Antwort. Wir wollen uns nun Montales erster größerer Lyriksammlung zuwenden, den Ossi di seppia, erstmals erschienen 1925. Schon der Titel der Sammlung, auf Deutsch Knochen des Tintenfischs, löst bei den LeserInnen unterschiedliche Assoziationen aus. Zum einen verbinden wir den Sepiaknochen mit dem Mit‐ telmeer, zum anderen handelt es sich um abgestorbene Materie. Der Titel steht also emblematisch für die Verschlüsselung der Texte. Exemplarisch wollen wir im Folgenden anhand der Lektüre des Gedichtes „Portami il girasole“ aus den Ossi di seppia versuchen, einen solchen hermetischen Text zu entschlüs‐ seln. 1 Portami il girasole ch’io lo trapianti - nel mio terreno bruciato dal salino, - e mostri tutto il giorno agli azzurri specchianti 1 - del cielo l’ansietà 2 del suo volto giallino. - - 5 Tendono alla chiarità le cose oscure - si esauriscono 3 i corpi in un fluire 4 - di tinte 5 : queste in musiche. Svanire 6 - è dunque la ventura 7 delle venture. - - 9 Portami tu la pianta che conduce - dove sorgono bionde trasparenze 8 - e vapora la vita quale essenza 9 ; - portami il girasole impazzito 10 di luce. - (Montale: 1991, 45) - 1 specchianti hier: sich spiegelnd - 2 l’ansietà Ängstlichkeit, Bangigkeit - 3 esaurirsi sich erschöpfen, sich verbrauchen - 4 un fluire Fließen - 5 tinte Farben - 6 svanire hier: sich verlieren - 7 la ventura Schicksal - 8 trasparenze Durchsichtigkeiten, Transparenz - 9 essenza Wesen - 10 impazzito verrückt geworden 106 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen Text 5.7 Eugenio Montale: Portami il girasole (aus: Ossi di seppia) <?page no="107"?> Aufgabe 5.11 Aufgabe 5.12 Isotopien Dingsymbol Oppositionen Assoziationen Auflösung Existenzielle Reflexion ? Arbeiten Sie im Sinne einer ersten Annäherung die Isotopien in Text 5.7 heraus. Lässt sich aus ihnen eine Struktur ermitteln? ? Versuchen Sie nun formale und inhaltliche Strukturmerkmale zu analysieren. Anhand einer detaillierten Lektüre des Gedichtes lassen sich vier dominie‐ rende Isotopien ausmachen: die der Pflanzen („girasole“, „trapianti“, „terreno bruciato“, „la pianta“), die der Farben („azzurri“, „giallino“, „tinte“, „bionde“, „trasparenze“, „il giorno“, „luce“, „chiarità“, „oscure“), die der Zustände („bru‐ ciato“, „l’ansietà“, „esauriscono“, „un fluire“, „svanire“, „vapora“, „impazzito“), die des im weitesten Sinne Existenziellen („le cose“, „i corpi“, „essenza“, „ven‐ tura“). Die Isotopie der Pflanzen enthält das Dingsymbol des Gedichtes: die Sonnenblume. Auf der semantischen Ebene lässt sich also das Strukturprinzip des Dualismus ausmachen: Wir erkennen Isotopien, die Konkretes zum Ge‐ genstand haben, und Isotopien, die vornehmlich abstrakte Elemente beinhal‐ ten. Wenn wir uns nun den einzelnen Isotopien zuwenden, so lässt sich an der der Farben eine Struktur der Opposition ausmachen. Es dominiert der Kontrast zwischen hell und dunkel, wobei quantitativ der Eindruck von Hel‐ ligkeit und Leuchten überwiegt. In Kombination mit der Isotopie der Pflanzen entsteht so der Eindruck von Lebendigkeit und Vitalität, der jedoch in Vers 2 („nel mio terreno bruciato dal salino“) sogleich untergraben wird, indem hier das Unbelebte, Abgestorbene in den Vordergrund rückt. In der ersten Strophe werden abwechselnd positive (Verse 1 und 3) und negative Assoziationen (Verse 2 und 4), die den Leser gleichsam verstören, geweckt. Auf die kontras‐ tive Wirkung von Vers 2 wurde bereits hingewiesen. Dieser bildet nun wieder eine Opposition zu Vers 4, in dem die Sonnenblume personifiziert wird, wenn von ihrem Gesicht und ihrer Ängstlichkeit die Rede ist. Besonders das Ele‐ ment „ansietà“ wirkt hier befremdend. In den beiden weiteren Strophen do‐ minieren nun die abstrakten Isotopien. So weisen die Elemente der Isotopie ‚Zustände‘ auf das Phänomen der Auflösung und des Zerfließens hin, das auch Gegenstand der zweiten Strophe ist. Hier vermischen sich Körper und Dinge und lösen sich in den Sinneseindrücken („tinte“, „musiche“, 7) auf. Am Ende der Strophe wird dann auch das Verschwinden, das Sich-Auflösen als positi‐ ves Schicksal in Form eines Superlativs („la ventura delle venture“, 8) formu‐ liert. Diese Idee wird in der dritten Strophe wieder mit dem Dingsymbol der Sonnenblume verknüpft. In dieser Strophe dominiert darüber hinaus die Iso‐ topie der Existenz, die gleichsam als Frage formuliert wird. 5.3 Die hermetische Lyrik der Moderne: Eugenio Montale 107 <?page no="108"?> Aufgabe 5.13 Symbolgehalt der Sonnenblume Abschließende Lesehypo‐ these  Aufgabe 5.14 Zusammenfassung ? Versuchen sie nun die Bedeutung des Symbols der Sonnenblume zu formulieren. Das lyrische Ich richtet sich an ein nicht näher definiertes ‚Du‘, das es bittet, ihm die Sonnenblume zu bringen, mit der der Leser positive Assoziationen wie Helligkeit und Leben verbindet. An der Sonnenblume lässt sich auch die Hoffnung festmachen, Antwort auf die Frage zu finden, was sich eigentlich hinter der menschlichen Existenz verbirgt. Den französischen Symbolisten ähnlich formuliert Montale die Frage nach einer höheren Wahrheit. Im Ge‐ gensatz zu ihnen scheint er jedoch keine Antwort zu finden. Durch die Ele‐ mente der Isotopie der Zustände, die hier mit der Sonnenblume in Verbindung gebracht werden, („l’ansietà“, 4, „impazzito“, 12) wird der existenzielle Hoff‐ nungsschimmer gleichsam zerstört. Wir wollen jetzt abschließend versuchen, eine Lesehypothese zu formu‐ lieren. Zugegebenermaßen ist dies für einen solchen Text, der vielerlei Asso‐ ziationen und damit auch Lesarten zulässt, nicht ganz einfach. Vor dem Hin‐ tergrund des oben angeführten Zitats von Montale (Text 5.6) lässt sich das Gedicht aber wohl, wie übrigens auch die meisten anderen seiner Gedichte, als Ausdruck der Empfindung der Disharmonie angesichts der Realität lesen, die der Dichter immer wieder zu überwinden sucht. Diese Versuche scheinen in Symbolen wie der Sonnenblume oder den Zitronen („I limoni“) gleichsam verdinglicht. Den Text von „I limoni“ finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. ? Ermitteln Sie nun selbständig im Vergleich mit den bereits behandelten Gedichten die formalen Neuerungen in diesem Text und arbeiten Sie in Bezug auf Strophenform, Metrik und Reimschema die formale Struktur heraus. Wie lässt sich diese in Zusammenhang zu unserer inhaltlichen Analyse bringen? Begründen Sie Ihre Antwort. In der zurückliegenden Einheit wurden die theoretischen Grundlagen der Lyrikanalyse anhand von fünf Beispielgedichten konkretisiert. Das be‐ sondere Augenmerk galt hinsichtlich des Sonetts zunächst der Gattungs‐ form und ihrer Beziehung zu inhaltlichem Bau und Logik. Bei allen Bei‐ spielanalysen wurde das Zusammenwirken von Ausdrucks- und Inhaltsseite vorgeführt. Die Texte von Francesco Petrarca und Vittoria Colonna stehen im Kontext der petrarkistischen Liebeslyrik, während die modernen Gedichte Gabriele D’Annunzios und Eugenio Montales sich stärker existenziellen Fragestellungen widmen. An den Texten, die den 108 5 Lyrik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="109"?>  Zeitraum vom Trecento bis zum 20. Jh. umfassen, lässt sich darüber hinaus die inhaltliche und formale Entwicklung der Gattung nachvollziehen. Literatur Vittoria Colonna: Rime. Hg. A. Bullock. Roma/ Bari: Laterza 1982 (Scrittori d’Italia). Gabriele D’Annunzio: Poesie. Hg. Federico Roncoroni. Milano: Garzanti 1978. Eugenio Montale: Ossi di seppia. Hg. Giorgio Zampa. Milano: Mondadori 2 1991 (Oscar Grandi Classici). Eugenio Montale: Sulla poesia. Milano: Mondadori 1976, 569-574. Francesco Petrarca: Canzoniere. Hg. Marco Santagata. Milano: Mondadori 1996 (I meridiani). Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 5.3 Die hermetische Lyrik der Moderne: Eugenio Montale 109 <?page no="111"?> Überblick 6 Dramenanalyse Inhalt 6.1 Dramatische Gattungen 6.2 Drama als Text und Aufführung 6.3 Raum und Zeit 6.4 Figuren 6.5 Figurenrede 6.5.1 Formen der Figurenrede 6.5.2 Funktionen der Figurenrede 6.6 Gewichtung von Figuren 6.6.1 Figurenkonzeption 6.6.2 Figurenperspektive 6.6.3 Figurenkonstellation 6.7 Handlung 6.7.1 Aufbau und Untergliederung 6.7.2 ‚Offene‘ und ‚geschlossene‘ Form des Dramas Die Besonderheiten der literaturwissenschaftlichen Betrachtung von dra‐ matischen Texten stehen im Mittelpunkt der beiden folgenden Einheiten. In Einheit 6 werden Ihnen zunächst die grundlegenden Gattungen vor‐ gestellt. Im Anschluss daran können zentrale Aspekte der Analyse erläu‐ tert werden, so die Untersuchung der im Stück vorkommenden Figuren, ihrer Interaktion und der Formen der dramatischen Rede. Sie werden mit typischen Strukturmerkmalen der Handlung sowie mit Konzeptionen zur Wirkungsweise des Dramas vertraut gemacht. <?page no="112"?> ! Drama bedeutet Hand‐ lung Lesedrama  Zusatzmaterial zur commedia dell’arte finden Sie auf www.bachelor-wissen.de 6.1 Dramatische Gattungen Der Begriff ‚Drama‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet Handlung. Zum Ausdruck kommt dabei die Vorstellung, dass das Drama menschliches Handeln nachahmt oder darstellt. Die Figuren treten direkt auf die Bühne und können sogar mit dem Publikum eine wechselseitige Kommunikation auf‐ nehmen. Die Präsenz der Figuren und ihre dialogische Rede steht somit im Gegensatz zur vermittelnden Erzählerfigur in der Epik. Nun liegen Dramen in der Regel in Form einer gedruckten Textvorlage vor, teilweise werden sie sogar in erster Linie nur für ein Lesepublikum verfasst (Lesedrama). Auf der anderen Seite gibt es Theaterstücke, denen überhaupt keine Textgrundlage vorausgeht und die eventuell auch nachträglich niemals schriftlich fixiert werden. Hierzu zählen die verschiedenen Formen des Stegreiftheaters, in dem der detaillierte Handlungsverlauf nicht im Vorfeld geplant wird, sondern auf der Bühne aus dem spontanen Agieren der Schauspieler und Schauspielerin‐ nen heraus entsteht. Die wichtigste literaturhistorische Vertreterin dieser Spielform ist die aus den mittelalterlichen Jahrmarktsspielen hervorgegan‐ gene commedia dell’arte, die vor allem in der italienischen Renaissance eine Blütezeit erlebte und bis ins 18. Jh. hinein gepflegt wurde. Abb. 6.1 Figuren der commedia dell’arte auf einem Stich von Jacques Callot (1621) 112 6 Dramenanalyse <?page no="113"?> Abb. 6.2 Das Martyrium der Heiligen als Schauspiel. Darstellung von Jean Fouquet (15. Jh.). Geistliches Schauspiel Die gelehrte Komödie Abb. 6.3 Niccolò Machiavelli (1469- 1527) Die Wurzeln des volkssprachigen italienischen Theaters liegen einer‐ seits im antiken Drama, andererseits in den mittelalterlichen Schauspie‐ len, die sich als eigenständige For‐ men ausprägten. Europaweit wur‐ den Mysterien- und Mirakelspiele (misterio, miracolo) zumeist zu be‐ sonderen Anlässen im Laufe des Kir‐ chenjahrs auf öffentlichen Plätzen oder Straßen inszeniert (in Italien in erster Linie ab dem Ende des 15. Jh.). Zur Aufführung gelangten biblische Stoffe oder Heiligenlegenden, etwa die Bekehrung oder das Martyrium vorbildlicher Figuren. Als sacra rap‐ presentazione wurde in Italien bspw. die Leidensgeschichte Christi im Passionsspiel auf die Bühne gebracht (Giulano Dati: La passione di Cristo, Ende 15. Jh.). Parallel dazu entstan‐ den aus Jahrmarktsaufführungen kurze komische Szenen oder Stücke (etwa als Farce, farsa). Ihre Komik trug Züge der sozialkritischen Satire, wobei der derbe Witz auf den ungehobelten Figuren niederen Standes, ihrer groben (dialekta‐ len) Sprache, pantomimischen Einlagen, eingeschobenen Liedern, Prügelsze‐ nen etc. beruhte. Von diesen künstlerisch eher einfach gehaltenen Formen setzte sich in der Renaissance unter dem Einfluss der erneut rezipierten antiken Überlieferung die commedia erudita ab, die auf Latein oder in der Volkssprache für ein gebil‐ detes Publikum gegeben wurde. Neben Ludovico Ariosto (La cassaria, 1508) ist bspw. Niccolò Machiavelli (La mandragola, 1518) als maßgeblicher Autor zu nennen. Der Begriff ‚Komödie‘ an sich bezeichnet im engeren Sinne eine der grundlegenden dramatischen Formen, ein Lustspiel mit einer meist auf Ver‐ wicklungen im Alltagsleben abzielenden komisch-persiflierenden Handlung, die ein glückliches Ende nimmt. Die Handlungsträger entstammen in der Re‐ gel mittleren oder niederen sozialen Schichten. Dem gegenüber steht die Tra‐ gödie, die u.-a. durch ein Figureninventar von gehobenem Stand mit kunstvoll geformter Sprache, einen klar strukturierten Aufbau, eine ernste Thematik mit tragischem Konflikt und tragischem Ausgang gekennzeichnet ist. 6.1 Dramatische Gattungen 113 <?page no="114"?> Hirtendrama Abb. 6.4 Torquato Tasso (1544- 1595) Libretto Tragödie Abb. 6.5 Giuseppe Giacosa (1847- 1906) Theater im 20. Jahrhundert Zwischen Komödie und Tragödie gibt es eine große Anzahl von Mischgat‐ tungen, etwa die Tragikomödie, ein dramatischer Konflikt, der ein glückliches Ende nimmt. Das Hirtendrama (dramma pastorale) stellte Liebeskonflikte mit gutem Ausklang in einem ländlich-idyllischen Ambiente vor (Torquato Tasso: L’Aminta, 1573; Battista Guarini: Il pastor fido, 1585). Von den realen Alltags‐ problemen losgelöst wurde hier eine Gegenwelt entworfen, die im Weiteren für die Entwicklung der Oper einflussreich werden sollte. Gerade in Italien spielt das melodramma als Musiktheater (auch: opera lirica, dt. Oper) in Form von Libretti (libretto, Textvorlage zu Singspielen, Opern etc.) ab dem ausge‐ henden Seicento ebenfalls für die Literaturgeschichte eine bedeutsame Rolle (so unter Pietro Metastasio, 1698-1782) und kann neben der bereits erwähn‐ ten commedia dell’arte als eine der großen Leistungen des italienischen Thea‐ ters gesehen werden. Viele der späteren Dramenformen lassen sich mit den genannten in Beziehung setzen. So führte Carlo Goldonis (1707-1793; vgl. Einheit 7.1) Werk zu einer Straffung der sprunghaften commedia dell’arte, während sein literarischer Kontrahent Carlo Gozzi (1720-1806) mit seinen fiabe teatrali (z.-B. L’amore delle tre melarance, 1761) ein weniger von Regeln eingeschränktes Märchentheater vertrat. Die Tragödie konnte als dramatische Gattung in der italienischen Literatur nur einen bescheidenen Platz einnehmen. Vittorio Alfieri (1749-1803) legte handlungsarme Tragödien vor, die unter strenger Beachtung der sog. drei Aristotelischen Einheiten (s. Abschnitt 6.7.2) vor allem einen in die Psyche der Figuren verlagerten Konflikt entfalten (Saul, 1782; Mirra, 1789). Alessan‐ dro Manzoni (1785-1873) stellte in historischen Dramen tragische Konflikte in geschichtlich zurückliegenden Epochen dar; der Einzelne und sein indivi‐ dudies Streben wird dabei zum Opfer übergreifender Konstellationen und des Egoismus der Mächtigen (Il conte di Carmagnola, 1816; Adelchi, 1822). Bei Gabriele D’Annunzio (1863-1938) schließlich werden in der Tragödie La città morta (1899; italienische Uraufführung 1901) Leidenschaft und Tod mythisch überhöht und zum Zeichen eines Dekadenz-Bewusstseins, das im Angesicht einer verfallenden Gesellschaft nach unwiderlegbaren Idealen sucht. Zuvor hatte der italienische Naturalismus, der verismo, sich darum bemüht, auch für das Theater die realitätsgetreue Darstellung einfacher Menschen und ihrer alltäglichen Nöte und Konflikte anzunehmen (z. B. Giuseppe Giacosa: Tristi amori, 1887). Ein innovativer Schub ging Anfang des 20. Jh. von der italienischen Bühne aus. Vor allem Luigi Pirandello (1867-1936; vgl. Einheit 7.2) setzte mit der Selbstthematisierung des Theaters neue Akzente. Zugleich konzipierte Pi‐ randello an anderer Stelle unter dem Vorzeichen des verismo Figuren, die rea‐ litätsnah in sizilianischer Mundart sprechen. Für die bis heute ungebrochene Anziehungskraft des italienischen Schauspiels steht nicht zuletzt Dario Fo (1926-2016), der in Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin Franca Rame 114 6 Dramenanalyse <?page no="115"?>  Zusatzmaterialien zu Inszenierung und Regie finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Haupt- und Nebentext (1929-2013) in seinen Produktionen immer wieder auf Stilelemente der anti‐ ken Komödie und der commedia dell’arte zurückgreift, die in den Dienst der politischen Satire gestellt werden. Ausgelöst von Dario Fos Mistero buffo (1969) entwickelte sich in den 1980er Jahren das teatro di narrazione als Absage an die Aufführung fiktionaler Handlungen durch künstlich geschaffene Figuren eine Art ausgeweiteter Mo‐ nolog, in dem die Auftretenden gleichsam unter eigenem Namen Geschichten erzählen, anstatt sie darzustellen (ein Vertreter der sog. ersten Generation ist bspw. Marco Paolini, *1956). 6.2 Drama als Text und Aufführung Dramen liegen wie gesagt in mindestens zweierlei medialen Kontexten vor, im Objekt Buch und in der individuellen Aufführung eines Stückes, welche noch ergänzt werden können durch die filmische Aufzeichnung einer Thea‐ terinszenierung, weiterhin die eigentliche Verfilmung einer dramatischen Textvorlage oder ihre Hörspielfassung. Sonderfälle betreffen reine Lesedra‐ men (testo teatrale da lettura), welche keine Umsetzung für die Bühne vorse‐ hen, oder diverse Formen des Stegreiftheaters (etwa die commedia dell’arte), welche ggf. spontan auf der Bühne improvisiert und eventuell nie verschriftet werden. Während sich die Literaturwissenschaft im Allgemeinen - aber nicht nur! - mit der Analyse des gedruckten Theaterstücktextes auseinandersetzt, ist die aus der Literaturwissenschaft hervorgegangene Theaterwissenschaft stärker mit den Aspekten der wechselnden Inszenierungen und der Auffüh‐ rungspraxis befasst. Der Unterscheidung von Printpublikation und Bühnendarbietung ent‐ spricht im gedruckten Text selbst gewissermaßen die Aufteilung in Haupt- und Nebentext. Der Haupttext (testo principale) umfasst dabei alle auf der Bühne geführten Redepassagen, d. h. in erster Linie die Dialogpartien und Monologe (s. Abschnitt 6.5). Der Nebentext (testo secondario) enthält Büh‐ nenanweisungen (didascalie), die sich entweder auf das Agieren der Schau‐ spielerInnen beziehen oder aber auf das Bühnenbild mitsamt den Requisiten, der Beleuchtung oder speziellen Effekten abzielen. Hinweise zur Inszenierung können im Übrigen aber auch im Haupttext selbst enthalten sein (implizite Inszenierungsanweisungen), wenn eine Figur auf ein Element der Inszenie‐ rung hinweist oder aber aus ihrer Äußerung geschlussfolgert werden muss, dass diese sich auf eine Aktion des Bühnengeschehens bezieht. Ein weiteres Mittel der erzählerischen Gestaltung liegt in der ‚Wortkulisse‘ (scenografia verbale) vor, die als sprachliche Äußerung einer Figur den Schauplatz des Ge‐ schehens beschreibt, etwa wenn im modernen Theater die minimalistische Kulisse bewusst keine entsprechende Anschaulichkeit aufweist. 6.2 Drama als Text und Aufführung 115 <?page no="116"?> Paratexte  Zusatzmaterial zu Raum und Zeit im Drama finden Sie auf www.bachelor-wissen.de Text 6.1 Dario Fo: Morte accidentale di un anarchico (1970) Zum Nebentext, der typographisch und im Layout vom Haupttext deutlich abgesondert wird, gehören: ▶ Angaben zum Schauplatz und Zeitpunkt der Handlung, ▶ Figurenverzeichnis, ▶ Bezeichnung oder Nummerierung der Handlungsunterteilung in Akte, Szenen etc. (s. Abschnitt 6.5.1), ▶ Nennung der auftretenden Figuren, evtl. mit kurzer Beschreibung, ▶ Bühnenanweisungen für die Gestaltung des Schauplatzes, ▶ Bühnenanweisungen für das schauspielerische Agieren. Über diesen Nebentext im engeren Sinne reichen noch zahlreiche weitere Elemente hinaus, welche eine Funktion der Kommentierung oder der Prä‐ sentation erfüllen und dadurch die Lektüre steuern. Gerard Genette hat sie als ‚Paratexte‘ bezeichnet (siehe auch Einheit 11.2.1). ▶ sog. Peritexte: ▷ Titel, ▷ Widmung, ▷ Motto, ▷ Vorwort, Nachwort, ▷ ggf. Kapitelbzw. Szenentitel, ▷ Anmerkungen/ Fußnoten, ▷ Umschlagtext; ▶ Illustrationen; ▶ Layout, Schrifttype, Buchformat; ▶ Kommentare zum Text durch AutorIn, HerausgeberIn o. Ä.; ▶ Zeugnisse zur Wirkungsgeschichte (Rezeption). Als Beispiel für die Bedeutung der Bühnenanweisung kann ein kurzer Auszug aus Dario Fos Morte accidentale di un anarchico (1970) angeführt werden. In dieser Farce taucht ein „Verrückter“ auf dem Polizeikommissariat auf, der sich als Psychoanalytiker ausgegeben hatte und unter krankhafter Schau‐ spielsucht leidet. Schließlich wird er in einem unbeaufsichtigten Augenblick vor Ort in die Rolle eines Richters schlüpfen, um den unzureichend geklärten Todesfall eines ‚zufällig‘ aus dem Fenster des Kommissariats gestürzten Anarchisten neu aufzurollen. 1 - - - 5 Si riaccende la luce e ci troviamo in un ufficio molto simile al primo. I mobili più o meno sono gli stessi, sono disposti solo diversamente. Sulla parete di fondo campegga 1 il ritratto del presidente, piuttosto grande. Ben evidente il requadro 2 di una finestra spalancata 3 . In scena c’e già il matto, in piedi, impalato, faccia alla finestra, porge le spalle all’ingresso da dove entra dopo alcuni istanti un commissario con giacca sportiva e maglione giro collo. 116 6 Dramenanalyse <?page no="117"?> 10 - - - - 15 - - - - 20 - - - - 25 30 - - - - 35 - - - - 40 - - - - C O M MI S S A R I O S P O R T I V O (sottovoce 4 all’agente che se ne sta immobile a lato della porta). E quello chi è? Che vuole! […] M A T T O (lo squadra 5 impassibile, fa appena il cenno con la mano a sollevare il cappello). Buon giorno. (Sofferma il proprio sguardo sulla mano che il commissario continua a massaggiarsi) Cosa s’è fatto alla mano? C O M M I S S A R I O S P O R T I V O . Ah, niente … chi è lei? M A T T O . Non s’è fatto niente? E allora perché si massaggia? Cosi, per darsi un contegno 6 ? Una specie di tic? Il commissario comincia a spazientirsi. C O M M I S S A R I O S P O R T I V O . Può darsi … le ho chiesto, con chi ho il piacere? ! […] M A T T O . Una volta ho conosciuto un vescovo che si massaggiava come lei. Un gesuita. C O M M I S S A R I O S P O R T I V O . Sbaglio o lei …! ? M A T T O . Certo che si sbaglia! Sbaglia di sicuro, se cerca di insinuare che io abbia voluto alludere alla proverbiale ipocrisia 7 dei gesuiti … Io, se non le spiace, tanto per cominciare, ho studiato dai gesuiti, e con questo? Lei ha forse qualcosa da obiettare? C O M M I S S A R I O S P O R T I V O (impacciato 8 , stordito 9 ). No, per carità … non … ma, ecco … M A T T O (cambiando tono all’istante). Però quel vescovo di cui le dicevo, quello si, era proprio un ipocrita … un bugiardone … infatti si massaggiava sempre una mano … C O M M I S S A R I O S P O R T I V O . Senta, ma lei … M A T T O (senza manco 10 considerarlo). Lei dovrebbe andare da uno psicanalista. Quel massaggiarsi in continuazione è oltretutto sintomo di insicurezza … senso di colpa … e insoddisfazione sessuale. Ha forse difficoltà con le donne? C O M M I S S A R I O S P O R T I V O (perdendo le staffe 11 ). Ah, ma allora! (Sferra 12 un pugno sul tavolo). M A T T O (indicando il gesto). Impulsivo! Ecco la controprova! Dica la verità, non è un tic … lei ha dato un pugno a qualcuno non più di un quarto d’ora fa, confessi! C O M M I S S A R I O S P O R T I V O . Ma che, confesso? Piuttosto, mi vuole dire una buona volta con chi ho l’onore … e mi faccia il piacere di togliersi il cappello, fra l’altro! M A T T O . Ha ragione. (Si toglie il cappello con studiata lentezza) Ma, mi creda non lo tenevo in capo per villania 13 … è solo per quella finestra spalancata, soffro le correnti d’aria … specie alla testa. Lei no? Senta, non si potrebbe chiuderla? (Fo: 4 1996, 18-ff.) - 1 campeggiare hier: hervor stechen - 2 requadro Rahmen - 3 spalancato sperran‐ gelweit offen - 4 sottovoce halb laut - 5 squadrare mustern - 6 contegno Haltung - 7 ipocrisia Scheinheiligkeit - 8 impacciato verlegen - 9 stordito verwirrt - 10 senza manco ohne überhaupt - 11 perdere le staffe aus der Fassung geraten - 12 sferrare versetzen - 13 villania Frechheit 6.2 Drama als Text und Aufführung 117 <?page no="118"?> Aufgabe 6.1 Aufgabe 6.2 Aufgabe 6.3 Aufgabe 6.4 ? Weshalb ist die Beschreibung der Kulisse wichtig für die weitere Dramenhandlung? Inwiefern erleichtern die Didaskalien für Regie oder Leserschaft das Textverständnis und inwiefern kommen dadurch komi‐ sche Effekte zustande? Welchen Hinweis enthält das Zitat darauf, dass es sich um eine Publikation in Buchform handelt? ? Wieso gibt es im Drama (normalerweise) keinen Erzähler? Wer könnte auf dem Theater dennoch seine Funktion einnehmen? ? Weshalb setzte sich die traditionelle Literaturwissenschaft mit ge‐ druckten Dramentexten, selten jedoch mit deren einzelnen Aufführungen kritisch auseinander? ? Überprüfen Sie anhand einer beliebigen Ausgabe, welche Informatio‐ nen der Nebentext in D’Annunzios La città morta bereithält. 6.3 Raum und Zeit Aus dem Nebentext gehen in der Regel wesentliche Informationen über die Gestaltung des Bühnenraums hervor. Es können aber auch die Figuren selbst sein, die in Form der bereits erwähnten ‚Wortkulisse‘ die von ihnen wahrgenommene räumliche Umgebung beschreiben (die für die Zuschauer‐ Innen oft so detailliert gar nicht zu erkennen ist). Je nachdem, wie viele Informationen der Dramentext über die Schauplätze der Handlung bereithält, kann eine Kategorisierung in einen neutralen, einen stilisierten (wenn er z. B. eine gezielte Wahrnehmungslenkung des Publikums beabsichtigt) oder einen konretisierten (d. h. detaillierten) Raum vorgenommen werden. Darüber hinaus ist beim realisierten Stück natürlich die Arbeit der Regisseurin oder des Regisseurs maßgeblich für die räumliche Gestaltung. Die Häufigkeit und Radikalität von Ortswechseln gibt schließlich Aufschluss über den Grad der Orientierung des Dramas an der Aristotelischen Einheit des Ortes. Die vom Stück vorgegebene zeitliche Struktur zerfällt in die Ebene der dargestellten Zeit (also die in der Handlung vorgeführte Chronologie der Ereignisse) und die Ebene der Darstellungszeit (also die Aufführungsdauer). Während das Aristotelische Theater von einem dargestellten Zeitraum mit der Dauer eines Sonnenumlaufs ausgeht, erlauben Auslassungen im Hand‐ 118 6 Dramenanalyse <?page no="119"?> Definition: Figur ! ProtagonistIn = Hauptfi‐ gur Sprechende Namen Abb. 6.6 Römische Theatermasken Abb. 6.7 Vittorio Alfieri (1749-1803) lungskontinuum und ggf. nicht der Chronologie gehorchende Zeitsprünge eine davon abweichende freie zeitliche Gestaltung (vgl. hierzu Einheit 8.2.2). 6.4 Figuren Handlungsträger in einem Stück sind die SchauspielerInnen, die als Dar‐ stellerInnen historische oder fiktive Personen verkörpern. Sie spielen eine Rolle und werden auf der Bühne zu Figuren (personaggio) innerhalb eines Stückes, die vom Autor bzw. der Autorin zumeist namentlich benannt wer‐ den (gerne spricht man aber auch von dramatischen Personen, wobei der Begriff ‚Person‘ jedoch auf das lateinische persona = ‚Maske‘ zurückgeht). Zu unterscheiden sind Neben- und Hauptfigur (ProtagonistIn/ protagonista, m./ f.), eine Unterteilung, die sich aus der Anzahl und Länge ihrer Auf‐ tritte, evtl. abweichend davon aber auch durch ihre besondere Funktion in‐ nerhalb des Handlungszusammenhangs ergibt. Erste Hinweise auf die An‐ lage und Deutung der einzelnen Figuren kann die Leserschaft eines Stückes in den Angaben des Nebentextes erhalten, falls entsprechende Hinweise vorliegen (und sei es nur die Beschreibung ihres Kostüms). Weitere Infor‐ mationen liegen häufig in der für die Figuren gewählten Namensgebung vor: Eindeutig sind die Kontexte im Falle von historischen Persönlichkeiten mit bekannter Biographie; ähnlich verhält es sich mit sprechenden Namen, die aus Berufsbezeichnungen oder Funktionen/ Rollen abgeleitet werden oder die eine metaphorische bzw. symbolische Auslegung ermöglichen; als Beispiel sei auf die oben erwähnte Passage aus Dario Fos Farce verwiesen, in der die Figuren als „commissario sportivo“ bzw. als „matto“ bezeichnet werden. Auch die Anonymität oder der alleinige Gebrauch von Vor- oder Nachnamen kann aussagekräftig sein. Der Haupttext eines Stückes hält seinerseits in Form der Figurenrede wich‐ tige Elemente für die Einschätzung der dargestellten Personen bereit: So sind es neben den Charakterisierungen aus dem Munde der anderen an der Hand‐ lung Beteiligten die Figuren selbst, die sich in Rede (z. B. Selbstreflexion im Monolog) und Handeln vorstellen. Bisweilen dient ein Monolog auch der Zusammenfassung von Geschehnis‐ sen, die nicht direkt auf der Bühne zur Aufführung gelangen können. Ein Beispiel hierfür gibt der Eingangsmonolog zum 5. Akt in Vittorio Alfieris Tragödie Mirra (1789). Mirras Vater, König Ciniro, blickt voller Schmerz auf den Tod seines Schwiegersohns Peréo, der sich aus Verzweiflung über die mangelnde Liebe Mirras das Leben nahm, und auf seine dem Wahnsinn (den Furien) verfallene Tochter. 6.4 Figuren 119 <?page no="120"?> Text 6.2 Vittorio Alfieri: Mirra (1789) Aufgabe 6.5 Figuren als Funktionsträger im Handlungsgefüge 1 C I N I R O . - Oh sventurato, oh misero Peréo! - Troppo verace 1 amante! … Ah! s’io più ratto 2 - al giunger era, il crudo acciaro 3 forse 5 tu non vibravi 4 entro al tuo petto. - Oh cielo! - Che dirà l’orbo 5 padre? ei 6 lo attendeva - sposo, e felice; ed or di propria mano - estinto 7 , esangue corpo, innanzi agli occhi - ei recar sel vedrà. 8 - Ma, sono io padre 10 men 9 di lui forse addolorato 10 ? è vita - quella, a cui resta, infra sue furie atroci, - la disperata Mirra? è vita quella, - a cui l’orrido suo stato noi lascia? […] (Alfieri: 1965, 849) - 1 verace wahrhaft - 2 ratto schneller - 3 il crudo acciaro der blanke Stahl - 4 vibrare hier: schmettern - 5 orbo blind - 6 ei = egli - 7 estinto verstorben - 8 recare sel vedrà wird er sehen, wie man ihn zu ihm bringt - 9 men = meno - 10 addolorato von Schmerzen heimgesucht ? Welche Ausdrucksmittel verwendet der Textauszug zur Kennzeich‐ nung von Ciniros Verzweiflung? Zu den im Text erwähnten Hinweisen auf die Anlage der jeweiligen Figur kommen schließlich noch die Interpretation durch RegisseurInnen (und in Ab‐ hängigkeit: durch KostümbildnerInnen und MaskenbildnerInnen) sowie durch SchauspielerInnen selbst in Betracht. Festzuhalten bleibt, dass jede Figur im übergeordneten Zusammenhang der Dramenhandlung eine ganz bestimmte Funktion besitzt, die es in der Analyse zu benennen gilt. Dabei geht es im All‐ gemeinen um Kriterien wie ihre Charaktereigenschaften, ihre Handlungsmäch‐ tigkeit, ihr Recht oder Unrecht im Handeln, ihre Beziehung zu den anderen Figuren des Stücks (s. Einheit 6.6). Die Anlage der Figuren ist nicht zuletzt im Hinblick auf ihre psychologische Komplexität und ihre Realität suggerierende Überzeugungskraft hin interes‐ sant. Zwei Pole rahmen die Bandbreite der Möglichkeiten: die schematische und einseitige Konzeption von Figuren als Typen oder aber ihre Ausgestaltung zu komplex veranlagten Individuen. 120 6 Dramenanalyse <?page no="121"?> Abb. 6.8 Die Figur des Pantalone in der commedia dell’arte Ständeklausel Tragische Fallhöhe Hybris Mittlerer Held Typen sind als festgelegte Rollen zu verstehen, denen ein ganz bestimmtes Charakterbild mit zugehörigen Verhaltensweisen, sozialem Status, spezifi‐ schem sprachlichen und gestischen Repertoire zugrunde liegen. Besonders die Rollen in der commedia dell’arte sind zum größten Teil als festgelegte Typen definiert, z. B. der gewitzte Diener, der geschwätzige Gelehrte, der prahlsüchtige Soldat oder der geizige Kaufmann. Eine zusätzliche Entindivi‐ dualisierung von Figuren kann z.-B. durch Masken erfolgen. Im Gegensatz zu den Typen sind Individuen zu einer inneren Entwicklung fähig, wobei meist eine Verlagerung des dramatischen Konflikts auf die Ebene der Psyche der ProtagonistInnen zu beobachten ist. Jedoch konnte bis zum ausgehenden 18. Jh. nicht beliebig mit den Figuren verfahren werden. Die aus der antiken Poetik tradierte und in der Renaissance wiederbelebte sog. Ständeklausel regelte das Figureninventar der Dramen hin‐ sichtlich ihres sozialen Status (s. 2.1.2). Der tragische Held blieb dem adligen Geblüt vorbehalten, denn seine Fallhöhe (altezza della caduta), das heißt der Umschwung vom Glück in die Katastrophe, verstärkte den tragischen Effekt in ganz besonderem Maße. Auch musste der tragische Held sich insgesamt be‐ trachtet ethisch untadelig verhalten, mit Ausnahme eines aus Verblendung und Überheblichkeit (Hybris, hybris, f.) gegenüber den Göttern bzw. dem Schicksal begangenen schweren tragischen Fehlers (Hamartia, f.), der das Verhängnis nach sich zieht. Im Sinne des Aristoteles handelte es sich daher um einen ‚mittleren Helden‘ (eroe medio), der weder zu edel noch zu schlecht angelegt war, z. B. die Figur Ödipus in Sophokles’ Tragödie König Ödipus (ca. 429-425 v.-Chr.). Dem Gelächter durfte im Gegenzug nur das einfache Volk bzw. später das sich formierende Bürgertum preisgegeben werden. Der sozialen Hierarchie entspricht insofern eine parallele Hierarchie der moralischen Qualitäten und zugleich eine Hierarchie der Gattungen, die sich bereits in der Aristotelischen Poetik abzeichnet. In ihr heißt es von Tragödie und Komödie: „Die eine ahmt edlere, die andere gemeinere Menschen nach, als sie in Wirklichkeit sind.“ Ein Beispiel für den Heldenmut im Angesicht des drohenden Untergangs findet sich in Manzonis historischem Drama Adelchi (1822; Uraufführung 1843). Der Protagonist Adelchi kämpft aus Sohnestreue mit seinem Vater, dem langobardischen Gewaltherrscher Desiderio, gegen die Franken unter Karl dem Großen. Dessen Heer hat unerwartet die Alpen überquert und überfällt die unvorbereiteten Langobarden in ihrem Lager. Während die Soldaten in Panik die Flucht ergreifen wollen, ruft Adelchi zur Gegenwehr: 6.4 Figuren 121 <?page no="122"?> Aufgabe 6.6 1 B A U D O . - -----Morte e sventura! Il campo - È penetrato d’ogni parte: al dorso 1 - Piombano 2 i Franchi ad assalirci. 5 D E S I D E R I O . - ----------I Franchi! - Per qual via? - B A U D O . - ----------Chi lo sa? 10 A D E L C H I . - -------------------------Corriamo; ei fia - Un drappello 3 sbandato 4 . - (in atto di partire) - B A U D O . 15 -------------------------Un’oste 5 intera: - Gli sbandati siam noi: tutto è perduto. - D E S I D E R I O . - Tutto è perduto? - A D E L C H I . 20 ---------------Ebben, compagni; i Franchi? - Non siam noi qui per essi? Andiam: che importa - Da che parte sian giunti? I nostri brandi 6 , - Per riceverli, abbiamo. I brandi in pugno! - Ei gli han provati: è una battaglia ancora: 25 Non v’e sorpresa pel 7 guerrier: tornate; - Via, Longobardi, indietro; ove correte, - Per Dio? La via che avete presa, è infame: - Il nemico è di là. Seguite Adelchi. (Manzoni: 1992, 132) - 1 al dorso von hinten - 2 piombare hier: herbeistürzen - 3 drappello Schar, Trupp - 4 sbandare auseinanderfallen, die Orientierung verlieren - 5 oste Heer - 6 brando Schwert - 7 pel = per il ? Welchen Vorteil könnte es aus Sicht des Autors/ der Autorin haben, in einem Drama historische Persönlichkeiten als Figur auftreten zu lassen? 122 6 Dramenanalyse Text 6.3 Alessandro Manzoni: Adel‐ chi (1822) <?page no="123"?> Aufgabe 6.7 Aufgabe 6.8 Dreipersonenregel Redeanteil Stichomythie 6.5 Figurenrede Die Handlung entwickelt sich in der abendländischen Tradition des Sprech‐ theaters vornehmlich aus der Rede der Figuren. Ihnen stehen mehrere Möglichkeiten des Ausdrucks zur Verfügung, die im Weiteren um die nichtsprachlichen Kommunikationsweisen (Gestik, Mimik) ergänzt werden. Grundsätzlich kann zwischen gebundener und ungebundener Sprache, also zwischen Vers und Prosa, unterschieden werden. Text 6.3 gibt ein Beispiel für in freien (reimlosen) endecasillabi gehaltene Verse. ? Analysieren Sie die Verse aus Text 6.3 im Hinblick auf die Silbenzäh‐ lung. Welche Verfahren der Tilgung finden sich in dem Beispiel? ? Worin berühren und worin unterscheiden sich der Vortrag (die De‐ klamation) von Lyrik und das auf einem dramatischen Text beruhende Schauspiel? 6.5.1 Formen der Figurenrede Ungeachtet der diversen Untergattungen und Typen des Dramas stehen den Figuren verschiedene Formen der Rede zur Verfügung. ▶ Dialog Der weitaus größte Teil der dramatischen Produktionen ist durch Dialoge (dialogo) gekennzeichnet, welche von mindestens zwei Personen auf der Bühne gehalten werden. In Anlehnung an die antike Theaterkunst erlaubte die klassizistische Normpoetik (von Komparsen [comparsa, f.] einmal abge‐ sehen) sogar nur maximal drei gleichzeitig auf der Bühne präsente Hand‐ lungsträger, die einen Wortwechsel führen konnten. Unabhängig von der Anzahl der Dialogpartner ist es interessant zu verfolgen, welche Figur wie‐ viel Anteil an dem Dialog erhält und wie Handeln und Sprechen im Stück miteinander verwoben werden (vor allem die Inszenierungspraxis durch Regisseurin oder Regisseur findet hier großen Spielraum). Der Dialog kann ein reines Zwiegespräch (Duolog) oder ein Gespräch zwischen mehreren Beteiligten umfassen (Polylog). Ist der Dramentext in gebundener Rede ver‐ fasst, können Sprecherwechsel auch in rascher Folge stattfinden, wobei der Redeanteil der einzelnen Figuren auf einen oder zwei (maximal vier) Verse begrenzt ist. Dieses Verfahren, das sich vor allem zur Gestaltung einer er‐ regten Wechselrede eignet, nennt man Stichomythie (sticomitia, f.). Im Ex‐ tremfall kann sie sich sogar zur Antilabe (Sprecherwechsel innerhalb eines 6.5 Figurenrede 123 <?page no="124"?> Rollenbruch Botenbericht Verses; antilabé, f.) steigern (vgl. in Text 6.3 die Sprecherwechsel zwischen Baudo, Desiderio und Adelchi). Im Gegensatz dazu kann der Redeanteil eines Dialogpartners einen Umfang erreichen, der einem längeren Monolog ähnelt; hierbei spricht man von einer Tirade (tirata). ▶ Monolog Der Monolog (monologo) erfüllt zuerst die Aufgabe, in dramaturgisch effizienter Art und Weise über die Selbstbetrachtung einer Figur, ihre Analyse der sie umgebenden Situation oder über die Vorgeschichte der Handlung zu informieren. Begriffe wie ‚Reflexionsmonolog‘, ‚Entschei‐ dungsmonolog‘, ‚lyrischer Monolog‘ werden immer wieder herangezo‐ gen, um die entsprechende Selbstbetrachtung der Figur zu kategorisieren, auch wenn die terminologischen Abgrenzungen unscharf bleiben. In jedem Fall handelt es sich dabei um eine Konvention der Gattung Drama, da Menschen eher selten zu derartigen Selbstgesprächen neigen. Weitere Varianten des Monologs tragen eine vor allem strukturelle Funktion: sie bilden einen Übergang zwischen Szenen mit Wechsel der Figurengruppe (Brückenmonolog), bereiten als Auftrittsmonolog die darauffolgende Handlung vor (etwa über die Formulierung der Absichten einer Figur) oder fassen als Abgangsmonolog das vorherige Geschehen zusammen. Die rein kommentierende oder das Publikum informierende Intention eines Monologs kann als nicht-aktional bezeichnet werden, während die Vorbereitung einer darauffolgenden Handlung als aktionaler Monolog zu werten ist (Entscheidungsmonolog). Schließlich kann ein Monolog als Auftakt zu einem gesamten Drama dienen wie im Prolog Amors zu Torquato Tassos Aminta. ▶ Beiseite-Sprechen (Aparte) Wendet sich die Figur nur kurz von den anderen DarstellerInnen auf der Bühne ab, um eine meist witzige und an das Publikum gerichtete Bemer‐ kung ‚beiseite‘ zu sprechen (a parte), so durchbricht sie für einen Moment die Illusion des Schauspiels und macht das Publikum zum komplizenhaf‐ ten Mitwisser ihrer Gedanken (z.-B. in Goldonis Servitore di due padroni, worin der gewitzte Diener und die mit ihm verbündete Beatrice das Pu‐ blikum in ihre Verstellungen einweihen). ▶ Botenbericht und Mauerschau Die im Vergleich zum Film sehr eingeschränkten Möglichkeiten des Bühnenraums zur Darstellung von Ereignissen haben zwei Techniken hervorgebracht, die es erlauben, in der erzählenden Rede von Figuren ein für die ZuschauerInnen nicht sichtbares Geschehen zu beschrei‐ ben. Der Botenbericht (racconto del messaggero) dient der nachträgli‐ chen Bekanntgabe eines vergangenen und sich eventuell in weiterer Entfernung zugetragenen Geschehens, über das die auf der Bühne an‐ 124 6 Dramenanalyse <?page no="125"?> Mauerschau Diskrepante Informiert‐ heit wesenden Figuren in Kenntnis gesetzt werden. Gerne werden im Bo‐ tenbericht wichtige Auskünfte im Hinblick auf das Schicksal der Prot‐ agonistInnen mitgeteilt, so dass er an strategischen Punkten der Dramenhandlung (Schürzung oder Lösung des dramatischen Knotens, Höhepunkt der Handlung, s. Abschnitt 6.7.1) eingesetzt werden kann. Spielt sich das erzählte Geschehen hingegen gleichzeitig zur Bühnen‐ handlung ab, kann oder soll aber nicht auf der Bühne dargestellt wer‐ den (z.-B. aus Gründen der Schicklichkeit), so gestattet die sog. Mauer‐ schau (Teichoskopie/ teicoscopia) einer Figur, den anderen wie auch dem Publikum das nur von ihr Gesehene zu beschreiben. Beispielsweise fin‐ det im zitierten Auszug aus Manzonis Adelchi (vgl. Text 6.3) natürlich kein Schlachtengetümmel auf offener Bühne statt. Während über weite Teile des traditionellen Sprechtheaters neben der direk‐ ten Aktion die Dialoge als Rede und Gegenrede die Handlung bestimmen und vorantreiben, gibt es durchaus auch Partien, in denen den Figuren eine er‐ zählerische Funktion zukommt. Dies ist der Fall im Monolog, im Botenbericht, der Mauerschau, im Beiseite-Sprechen, kann aber auch über den Einsatz eines Chors, eingebetteter Liedtexte oder des Auftretens eines kommentierenden Spielleiters erfolgen, der Zusammenhänge sogar in direkter Hinwendung an das Publikum zu erläutern vermag. Der Botenbericht stellt insofern neben dem Beiseite-Sprechen eine von mehreren Möglichkeiten dar, eine ‚diskrepante Informiertheit‘ zwischen den Figuren und den ZuschauerInnen im Stück aufzuzeigen und sogar zu überbrücken. Zunächst einmal offenbart der Botenbericht einer oder meh‐ reren Figuren ein wesentliches inhaltliches Element der Handlung bzw. ih‐ rer Vorgeschichte, das sie bislang nicht kannten. Darüber hinaus kann die ‚diskrepante Informiertheit‘ aber auch das Verhältnis zwischen den Figu‐ ren und dem Publikum betreffen, indem die Figuren einer Vorgeschichte des Bühnengeschehens gewahr sind, die sich erst allmählich in Dialogen (oder evtl. in anderen Redeformen) offenbart, was somit den ZuschauerIn‐ nen ein besseres Verständnis der Zusammenhänge ermöglicht. Im Gegen‐ zug kann auch das Publikum über ein Mehrwissen verfügen, das sich auf die Unkenntnis einzelner oder mehrerer Figuren bezieht, die in einer ent‐ sprechenden Szene nicht zugegen waren und daher über bestimmte Infor‐ mationen nicht verfügen, wodurch sie eventuell eine Situation völlig un‐ terschiedlich beurteilen. 6.5.2 Funktionen der Figurenrede In der Figurenrede kann man in Anlehnung an das Kommunikationsmodell von Roman Jakobson (1896-1982) unterschiedliche Funktionen unterschei‐ den: die referenzielle Funktion vermittelt Informationen an das Gegenüber, 6.5 Figurenrede 125 <?page no="126"?> Explizite / implizite Selbst‐ darstellung wobei sogar im Falle von Erzählungen die Bühnenhandlung zugunsten eines Berichts zurücktritt und rein sprachlich vermittelt werden kann (bspw. im Botenbericht); in der Ausdrucksfunktion drückt eine Figur ihre persön‐ liche Sichtweise aus und schlägt sich auf expressive Art und Weise der Charakter der Figur nieder, den sie absichtlich oder unwillkürlich enthüllt (inhaltlich, stimmlich, mimisch-gestisch); in der Appellfunktion schließlich will eine Figur einen oder mehrere Redepartner beeinflussen, von ihrer eigenen Einstellung überzeugen oder zu einer Aktion bewegen. Lediglich der Aufrechterhaltung des Dialogs dient ferner die phatische Funktion der Rede, welche ohne die zuvor genannten Aspekte aufzuweisen inhalts- und ausdrucksarm signalisiert, dass die Figur ihrem Gegenüber noch zuhört. In einer selbstreferenziellen Funktion kann sich der sprachliche Ausdruck auf einer metasprachlichen Ebene selbst kommentieren, etwa wenn Repliken vorhergehende Formulierungen des Dialogpartners aufgreifen und ironisch kommentieren. Eventuell kann die Figurenrede auch eine poetische Funktion umfassen, wenn sie aufgrund ihrer offensichtlich kunstvollen Gestaltung vom Publikum als solche wahrgenommen wird. Wichtig bleibt dabei fest‐ zuhalten, dass die genannten Funktionen sich in der Regel ergänzen und überlagern. Unabhängig von der gewählten Redeart kann eine Figur sich in Dialog oder Monolog selbst charakterisieren, ihr subjektives Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Diese Eigenbeurteilung hat somit zumeist einen expres‐ siven Charakter, ist aber bewusst intendiert und kann auf absichtlicher Verdrehung oder unabsichtlicher Verkennung der von den ZuschauerIn‐ nen wahrgenommenen Eigenschaften der Figur beruhen. Im Gegenzug ent‐ hüllt eine implizite Selbstdarstellung von der Figur unbeabsichtigt ihre charakterliche und weltanschauliche Eigenart. Häufig sind es hier gerade paralinguistische, also den sprachlichen Ausdruck begleitende Aspekte, welche dem Publikum Hinweise auf die Persönlichkeit der Figur vermit‐ teln, so im Einsatz der Stimme (als Indiz einer Persönlichkeit), der Art der Dialogführung (Eingehen auf den Dialogpartner oder Tendenz zum Mono‐ logisieren), in der Wahl des stilistischen Ausdrucks der Formulierungen (Rückschluss auf Bildungsgrad oder sozialen Stand) oder in den verwende‐ ten Sprachvarietäten (Dialekt, Hochsprache, Fachsprache etc.) oder über die der Figur zugeordnete Kleidung, ihr Aussehen, die von ihr verwendeten Requisiten oder das Interieur des ihr zugeordneten Milieus (bspw. Wohn‐ raum). Im Gegenzug kann eine Figur auch durch andere Figuren charakte‐ risiert werden (Fremdcharakterisierung), in expliziten Beschreibungen (in Anbzw. Abwesenheit der fremdkommentierten Figur) oder implizit in der Weise der Reaktion auf sie. Als explizite Fremdcharakterisierung wären zuletzt auch Hinweise des Nebentextes oder einer erzählerischen Interven‐ tion (z. B. durch den Chor) zu werten. Sprechende Namen oder die konfi‐ 126 6 Dramenanalyse <?page no="127"?> statisch/ eindimensional vs. dynamisch/ mehrdi‐ mensional gurationsspezifischen Beziehungen zu anderen Figuren wiederum sind als implizite auktoriale Charakterisierungstechniken anzusehen. 6.6 Gewichtung von Figuren 6.6.1 Figurenkonzeption Innerhalb des Personals treten die einzelnen Figuren durch eine individuelle Charakterisierung hervor, die durch Selbst- oder Fremdcharakterisierung an‐ gezeigt wird. Dabei kann man statisch angelegte Figuren, die keinerlei sub‐ stanzielle Entwicklung durchlaufen, von dynamischen Figuren unterschei‐ den, die eine Entwicklung ihrer Persönlichkeit, einen Wandel ihres Identitätsverständnisses oder ihrer Weltsicht bzw. ihrer Haltung zum drama‐ tischen Konflikt demonstrieren. In ersterem Fall handelt es sich oftmals um eindimensionale Figuren, welche sich durch eine geringe Anzahl von per‐ sönlichen Merkmalen auszeichnen (‚Typen‘ mit einer klar umrissenen Funk‐ tion innerhalb der Figurenkonstellationen oder allegorische Personifikatio‐ nen von Werten, so im mittelalterlichen sakralen Drama/ Moralitäten, z. B. der superbia). Mehrdimensionale Figuren weisen hingegen eine charakterliche Komplexität von teils widersprüchlichen Eigenschaften auf. 6.6.2 Figurenperspektive Die Äußerungen der Figuren sind, solange es sich um ein um mimetische Glaubhaftigkeit bemühtes Drama handelt, Träger einer jeweils individuellen Perspektive, die sich aus ihrer Charakterdisposition (Zuneigung, Abneigung, Naivität, Misstrauen etc.), ihrer ideologischen oder religiösen Weltsicht und ihrem Grad der handlungsimmanenten Informiertheit (Kenntnis der Vorge‐ schichte, Mitwissen über das Agieren anderer Figuren u. Ä.) resultiert. Die vorgebrachten Perspektiven (punti di vista dei personaggi) können Überein‐ stimmungen aufweisen oder sich widersprechen, was sich in der Figuren‐ konstellation des Stückes niederschlägt (z. B. HelferInnen, AntagonistInnen). Den VerfasserInnen von dramatischen Texten ist dabei oft daran gelegen, den ZuschauerInnen durchaus zu verstehen zu geben, welche der von den Figuren vorgebrachten Deutungen des Geschehens zutreffen oder eine kritische Auf‐ merksamkeit verdienen (‚geschlossene Perspektivenstruktur‘). Nicht zuletzt der Verlauf der Handlung - zumal das Dramenende - bestätigt oder widerlegt ihre Äußerungen. Zugleich verfügt die Sichtweise hervorstechender Figuren (die ProtagonistInnen, mit besonderer Autorität ausgestattete Nebenfiguren wie Weise, Seher, Boten usw.) über ein stärkeres Gewicht. Moderne Dra‐ men können indes durchaus vom Fehlen einer eindeutigen Rechtfertigung bestimmter Figurenperspektiven charakterisiert sein: hier verweigert der 6.6 Gewichtung von Figuren 127 <?page no="128"?> Autor/ die Autorin bewusst eine Lenkung der Meinungsbildung im Publikum, das sich selbst überlassen bleibt und aus den von den Figuren angebotenen Positionen und deren Widersprüchlichkeit eigene Schlussfolgerungen ziehen muss (‚offene Perspektivenstruktur‘). 6.6.3 Figurenkonstellation Das im Drama auftretende Personal (Gesamtheit aller Figuren) kann im Allgemeinen anhand von Entsprechungen (Liebende, Helfer und Vertraute) oder Oppositionsbildungen (AntagonistInnen) untersucht werden. Zu diesen Gegensätzen zählen die geschlechtliche Zuordnung (i. d. R. männlich/ weib‐ lich), Unterschiede des Alters bzw. Generationszugehörigkeit (alt vs. jung), des sozialen Standes, ethisch-moralischer Rechtfertigung (‚gut‘ gegen ‚böse‘, HeldIn vs. AntagonistIn), der charakterlichen ‚Authentizität‘ (natürlich vs. gekünstelt/ verstellt, naiv gegen ‚verdorben‘), der nationalen oder Gruppen‐ zugehörigkeit (Ähnlichkeit vs. Fremdheit, Freund vs. Feind), eventuell des Bildungsgrades oder der Umgangsformen (Stadt oder Land) oder äußerlicherkörperlicher Attribute (schön oder hässlich). Derartige Merkmaloppositio‐ nen (oder -äquivalenzen) ermöglichen die Erstellung einer die Handlung vorantreibenden Figurenkonstellation von für die Handlungsentwicklung relevanten Figuren. Als elementare Funktionen innerhalb der Dramenhand‐ lung definierte Algirdas Julian Greimas HeldIn, HelferIn und WidersacherIn als typologische Grundmuster (vgl. Einheit 8.3.1). Innerhalb einer einzelnen Szene bilden diese in eine dynamische Interaktion eingebundenen Figuren eine spezifische Konfiguration, die sich im weiteren Verlauf des Stückes im‐ mer wieder ändert bzw. durch andere Konfigurationen abgelöst wird. Bezogen auf die besonders hervortretenden Haupt- und Nebenfiguren kann über den gesamten Dramenzusammenhang hinweg von einer Figurenkonstellation (sistema dei personaggi) gesprochen werden. Im Falle von Gabriele D’Annunzios La città morta sähe diese Skizze für die zentralen Figuren wie folgt aus: 128 6 Dramenanalyse <?page no="129"?> Aufgabe 6.9 Aufgabe 6.10 Abb. 6.9 Die Figurenkonstellation in D’Annunzios La città morta ? Welche Konflikte innerhalb des Dramas lassen sich bereits aus dieser Konstellation ablesen? ? Erstellen Sie eine Skizze der Figurenkonstellation zu Carlo Gozzis Il re cervo (1762) nach dem Muster in Abb. 6.9. Sie können sich dabei auf eine Zusammenfassung des Inhalts, beispielsweise in Kindlers Literatur‐ lexikon, stützen. 6.7 Handlung Aus der Charakteranlage der Figuren, aus ihrer Motivation und aus ih‐ rer Einbindung in ein Beziehungsgefüge mit anderen Figuren entwickelt sich die dramatische Handlung, die Intrige (trama, m.). Die Gattungsbe‐ zeichnung gibt hierbei einen ersten Hinweis auf ihren Verlauf: Tragödie, Komödie, Tragikomödie oder Hirtendrama geben bereits grundlegende Tendenzen vor. Von der Anlage eines Stücks her betrachtet, kann im Weiteren zwischen dem Konfliktdrama, das aus der Entwicklung eines Konfliktes heraus ent‐ steht (innerer Konflikt des Protagonisten, z. B. zwischen Pflicht und Nei‐ 6.7 Handlung 129 <?page no="130"?> Abb. 6.10 Gustave Moreau: Ödipus und die Sphinx (1864) Anagnorisis Jammer und Schaudern Katharsis ! In der antiken Tragödie begleitete der Chor als Gruppe von Schauspielern, TänzerInnen und SängerIn‐ nen die Handlung Akte und Szenen gung, oder Parteien-Konflikt zwischen Gruppen von Figuren), und dem analytischen Drama (auch: Urteilsdrama; dramma analitico) unterschieden werden. Das analytische Drama setzt mit einer problematischen Situation ein, deren Entstehung nachträglich aufgedeckt wird. Klassisches Beispiel für diesen Dramentyp ist König Ödipus von Sophokles (ca. 496-406 v. Chr.), in dem der Protagonist - im Gegensatz zu den ZuschauerInnen - erst all‐ mählich von seinem tragischen Los erfährt, das ihn dazu brachte, den Va‐ ter zu töten und die Mutter zu heiraten. Der Ausgestaltung und Lösung des Konflikts wurde in der antiken und in allen später sich auf sie berufenden Dramentheorien eine besondere Bedeutung zugemessen. Aristoteles, der die Literatur gegen Platons Vorwurf der Lügenhaftigkeit in Schutz nimmt, stellt speziell das Verdienst der Tragödie heraus. Hier erlebt der von Hy‐ bris geblendete Held den Umschwung (Peripetie/ peripezia) des Schicksals vom hoffnungsvollen Agieren in die unausweichlich werdende Katastro‐ phe; in der Szene der Wiedererkennung (Anagnorisis/ agnizione, f.) erlangt der Protagonist das zuvor fehlende Bewusstsein; am Ende steht sein Schei‐ tern (Katastrophe/ catastrofe, f. oder sciagura). Indem das Publikum die tra‐ gische Heldin oder den tragischen Helden bemitleidet und von seinem Schicksal erschüttert wird, durchläuft es während der Aufführung ‚Jam‐ mer‘ und ‚Schaudern‘ (auch: Furcht und Mitleid [paura e pietà]). Diese hef‐ tige emotionale Einbindung in das Bühnengeschehen übt laut Aristoteles auf die Psyche der Betrachter eine läuternde Wirkung aus: Sie erfahren eine Reinigung von ihren Affekten (Katharsis/ catarsi, f.), d. h. die angestaute emotionale Erregung wird abgeführt (‚Affektabfuhr‘) und das Publikum kann das Theater innerlich gelöster wieder verlassen. 6.7.1 Aufbau und Untergliederung Gewöhnlich weisen längere szenische Darbietungen eine innere Unterglie‐ derung auf, die Handlungseinheiten zusammenfasst. Sieht man einmal von der Sonderform des Einakters (atto unico) oder anderen kurzen Schauspiel‐ nummern ab, so orientierte sich der Großteil der dramatischen Texte an der bereits in der Antike angelegten Einteilung des Stückes in Akte, die vonein‐ ander durch Auftritte des Chors abgetrennt werden. Teilweise wurden zwi‐ schen Renaissance und Klassik derartige Akteinteilungen von den Heraus‐ gebern und Überarbeitern älterer Stücke sogar nachträglich eingefügt. Ein Akt (atto) ist demnach ein in sich geschlossener Handlungsabschnitt, der in sich noch einmal in Szenen (scena) untergliedert werden kann. Häufig entspricht den Aktgrenzen ein Schauplatzwechsel, der ggf. hinter einem her‐ untergelassenen Vorhang als Umbau des szenischen Dekors vorgenommen werden kann. Auch entsprechen Akte oftmals eigenen Schwerpunkten in der Figurenkonstellation eines Dramas, so dass im Verlauf des Stückes in den 130 6 Dramenanalyse <?page no="131"?> Fünfaktschema/ Dreiakt‐ schema Exposition Peripetie Dramenende/ Lösung einzelnen Akten unterschiedliche Konfrontationen durchgespielt werden. Üblich für die an der Antike orientierten Dramenformen sind Einteilungen in drei oder fünf Akte, wobei die Komödie vorzugsweise drei Akte, die Tragödie fünf Akte umfasst. Die Abfolge der Akte entspricht schließlich der Entwick‐ lung des Handlungsverlaufs. Der erste Akt liefert die Exposition (esposizione, f.), die in den thematischen Zusammenhang, die Kontexte des dramatischen Geschehens und die Figu‐ renkonstellation einzuführt. Dies kann auf mehrfache Weise erreicht werden: Die Informationen können gebündelt zu Beginn des Dramas vorgebracht werden oder sich erst im Laufe der ersten Szenen allmählich enthüllen. Oft‐ mals stehen die beiden Verfahrensweisen in Verbindung mit einem zeitlichen Rückblick, der die Vorgeschichte des Bühnengeschehens referiert, bzw. eines sich in der Gegenwart der dramatischen Handlung entwickelnden Gesche‐ hens, das die Informationen sukzessive einbringt. Schließlich kann noch zwi‐ schen einer monologischen Einführung in das Geschehen und deren allmäh‐ lichen Enthüllung in der Wechselrede von Dialogen unterschieden werden, wobei die relevanten Informationen in letzterem Falle oftmals von Nebenfi‐ guren (Vertrauten, Bediensteten) vorgebracht werden. Im Weiteren erhält der dramatische Konflikt seine eindeutige Form und wird entfaltet (‚erregendes Moment‘ als Auslöser der Handlung, bisweilen auch als ‚Schürzung des Kno‐ tens‘ (nodo drammatico) bezeichnet, wonach er eine Steigerung erfährt und in den folgenden Akten auf seinen Höhepunkt (climax, m.) zusteuert. Ab der Mitte des Stückes kann die Peripetie (peripezia), die Wende im Handlungs‐ verlauf, einsetzen. Auch eine Abfolge mehrerer Peripetien ist möglich. Ein oder mehrere sog. retardierende Momente (ritardazioni) zögern den Ausgang der Handlung hinaus. Im letzten Akt erfolgt schließlich die Lösung (risolu‐ zione, f.) des dramatischen Konflikts (bzw. des Knotens). Im Falle einer ‚ge‐ schlossenen‘ Bauform des Dramas (forma chiusa) wird am Ende des Stückes der dramatische Konflikt zu einem endgültigen Abschluss gebracht (siehe unten, Einheit 6.7.2). Alle zum Handlungsverständnis notwendigen Informa‐ tionen liegen spätestens jetzt dem Publikum vor. Damit einher geht zumeist auch eine von den AutorInnen vorgesehene ‚poetische Gerechtigkeit‘, welche den von den Figuren transportierten Wertekonflikt im Drama auflöst, die Handlungsweisen der ProtagonistInnen beurteilt und in den Augen der Zu‐ schauerschaft rechtfertigt oder widerlegt (Sympathie/ Bewunderung für die tragischen HeldInnen, Spott für das gesellschaftlich unstatthafte Verhalten der Hauptfiguren in der Komödie). Gemäß der Aristotelischen Forderung muss sich eine solche Lösung aus der Handlung heraus logisch wie psycho‐ logisch motiviert ergeben. Es finden jedoch auch jähe Handlungsum‐ schwünge am Ende von Dramen, etwa in der sprichwörtlichen Intervention eines ‚deux ex machina‘, dem aus der Bühnenmaschinerie auftauchenden Gott 6.7 Handlung 131 <?page no="132"?> Szenenverknüpfung und seiner abrupten Intervention (welche auch von anderen überraschenden Auftritten von Autoritäten geleistet werden kann). Im Gegenzug zu einer solchen geschlossenen Handlungseinheit stehen ‚offene‘ Dramenenden, die das Publikum einer Ungewissheit über den Aus‐ gang der Handlung oder über deren Bewertung überlassen (forma aperta). Damit kann der Anreiz zu einer eigenständigen intellektuellen oder ethischen Auseinandersetzung mit dem Dramenstoff einhergehen, es kann aber auch die pessimistische Weltsicht artikuliert werden, dass es für den dargestellten Konflikt schlicht keine befriedigende Lösung geben kann und die erzeugte Spannung als Unwohlsein an der Existenz unaufhebbar ist. Weitere Verfahren bestehen in der zyklischen Anlage des Geschehens, das einen Abschluss verhindert, oder im modernen Drama in der statischen Anlage von Bühnen‐ handlung und Figuren, die sich jeglicher Entwicklung widersetzen. Abb. 6.11 Idealtypischer Handlungsverlauf der klassischen Tragödie als Kurvendiagramm Die Handlungsentwicklung verläuft allerdings insgesamt betrachtet selten so schematisch, wie die obige, an Gustav Freytags Technik des Dramas (1863) angelehnte Skizze suggeriert: In der Realität setzt sie sich vielmehr aus einer ganzen Reihe ‚kleinerer‘ Peripetien zusammen, die für einen kontinuierlichen Wechsel der dramatischen Spannung sorgen. Die Szene (auch: der ‚Auftritt‘) als untergeordnete dramaturgische Einheit wird einerseits durch den Auftritt oder Abgang einer Figur begrenzt, kann aber zusätzlich auch durch einen Ortswechsel motiviert werden. Was die Verknüpfung der Szenenabfolge anbelangt (collegamento delle scene), so wurde andererseits ein Verbot der leeren Bühne verfügt, d. h. zwischen ein‐ zelnen Szenen (nicht zwischen Akten) durften nicht alle Figuren gleichzeitig den Schauplatz des Geschehens verlassen. Dadurch werden Übergangs‐ auftritte erforderlich, bei denen die Abgehenden und die Hinzukommenden für kurze Zeit vereint sind. 132 6 Dramenanalyse <?page no="133"?> Die drei Einheiten: Handlung, Ort und Zeit Aufgabe 6.11 Tektonischer und atektoni‐ scher Aufbau 6.7.2 ‚Offene‘ und ‚geschlossene‘ Form des Dramas Die klassizistische Regelpoetik verdichtete Strukturmerkmale der antiken Dramen und erhob eine auf ‚Geschlossenheit‘ und Symmetrie beruhende Bauform des Stückes zum Ideal, wie sie sich vor allem in der Tragödie verwirklichte. Hier sollte die Handlung nicht nur den Ansprüchen der Wahrscheinlichkeit und Schicklichkeit entsprechen, sondern sie sollte ein in sich geschlossenes Gesamtbild bieten. Dazu bedarf es eines ausgewogenen Dramenaufbaus mit Exposition, Hö‐ hepunkt und Lösung des Konflikts, einer überschaubaren und durchgängigen Figurenkonstellation, einer übergeordneten thematischen Einheitlichkeit des Stückes sowie seiner sprachlichen Stimmigkeit. Hinzu kommen grundlegende Vorschriften, die als Lehre von den drei Aristotelischen Einheiten ihren festen Platz in der Theatergeschichte eingenommen haben. In seiner Poetik stellte Aristoteles bereits die Forderung nach der Einheit der Handlung (unità d’azione), die sich nicht in Parallel- und Nebenhandlun‐ gen verlieren darf und eine schlüssige Entwicklung nehmen soll, und nach der Einheit der Zeit (unità di tempo) auf, wonach die dargestellten Ereignisse nicht die Zeitspanne eines Sonnenumlaufs überschreiten sollten. Sie ist unter anderem den Erfordernissen der Aufführungspraxis geschuldet, da ein Stück sich nicht endlos in die Länge ziehen durfte. Aus der Einheit der Zeit leitete man später auch die Einheit des Schauplatzes (unità di luogo) ab, welche dem festen Bühnenstandort entspricht und somit - wie die beiden anderen Einheiten - der Wahrscheinlichkeit des Dargestellten entgegenkommt. In der Theaterpraxis späterer Epochen genügte es jedoch oftmals, verschiedene Schauplätze innerhalb ein und derselben Stadt als Wahrung der Einheit des Ortes zu betrachten. ? Welchen Effekt ruft die Wahrung der Einheiten von Ort, Zeit und Handlung in den modernen Medien Film und Fernsehen hervor? Den Gegensatz zur ‚geschlossenen‘ Form (forma ‚chiusa‘ ), die wegen ihres fest gefügten Charakters auch als ‚tektonischer‘ Aufbau bezeichnet wird, bil‐ det nach Volker Klotz die ‚offene‘ Form bzw. der ‚atektonische‘ Aufbau (forma ‚aperta‘). Hier stehen die einzelnen Teile des Stückes nur in einem lockeren Zusammenhang, nicht in einem zwingenden Entwicklungsverlauf. Die strenge Abfolge der Akte und Verknüpfung der Szenen wird durchbrochen, die Handlung zerfällt in einzelne Fragmente und wird nicht mehr von einer grundlegenden Figurenkonstellation und Konfliktsituation getragen, der Dramenausgang bleibt offen. Auch die Hauptfiguren erhalten nur noch be‐ dingt eine Kontinuität innerhalb des Stückes aufrecht, da ihre Handlungs‐ 6.7 Handlung 133 <?page no="134"?> Aufgabe 6.12 Zusammenfassung motive und stilistischen Ausdrucksmittel wechseln können, wobei ohnehin auf die strenge metrische Form verzichtet wird. In Dario Fos Mistero buffo (1969) beispielsweise werden neun Bilder in lockerer Reihung vereint und nur durch die verknüpfende Erzählung des giullare, eines mittelalterlichen Gauklers, zusammengehalten. Auch gibt es mehrere Versionen unterschiedlichen Umfangs dieser Szenen, die als Gegen‐ modell zu den rappresentazioni sacre nun aus der Perspektive des gemeinen Volkes angelegt sind. ? Sind Einakter durch einen tektonischen oder atektonischen Aufbau gekennzeichnet? Da das Drama in erster Linie als Aufführungspraxis anzusehen ist, gibt die gedruckte Fassung eines Stückes aufgrund der ihr eigenen medialen Beschränkung die Vielschichtigkeit einer Inszenierung nur ungenügend wieder. Nebentexte können in dieser Hinsicht die Intentionen von Autor‐ Innen andeuten. Die Konzeption der Figuren, des Handlungsverlaufs oder die Inszenierung unterliegen epochenbedingten Konventionen, wie sie etwa in poetologische Schriften eingegangen sind (vgl. Einheit 2.1). Vor allem das klassizistische Theater versuchte über die Ständeklausel oder die Regel der drei Einheiten der Bühnenkunst ein hohes Niveau zu si‐ chern. Die Durchformung der Bühnenrede, v. a. in der sorgfältigen Aus‐ gestaltung der verwendeten Verse, muss in diesem Zusammenhang be‐ sonders berücksichtigt werden. Die Handlung eines Dramas beruht auf der Anlage der Figuren und ihrem Zusammenspiel im Rahmen des dramatischen Konflikts. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang die Frage der Gattung (Komödie, Tragödie, Tragikomödie etc.) und der gewählten ‚offenen‘ oder ‚geschlossenen‘ Form des Stückes, die ihrerseits dazu beitragen, dass es eine bestimmte dramatische Wirkung auf der Bühne entfalten kann, welche durch die interpretierende Leistung von RegisseurInnen und der SchauspielerInnen noch weiter ausgestaltet wird. Literatur Vittorio Alfieri: Mirra, in: Ders., Opere. Hg. Vittore Branca. Milano: Mursia 1965, 805-856. Aristoteles: Poetik. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Philipp Reclam jr. 2 1994. 134 6 Dramenanalyse <?page no="135"?>  Dario Fo: Morte accidentale di un anarchico, in: Ders., Le commedie di Dario Fo, Bd. VII. Torino: Einaudi 4 1996, 3-83. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Leipzig: Hirzel 1863. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München: Hanser 1960. Alessandro Manzoni: Adelchi. Hg. Gilberto Lonardi. Venezia: Marsilio 1992. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 6.7 Handlung 135 <?page no="137"?> Überblick 7 Übungen zur Dramenanalyse Inhalt 7.1 La locandiera 7.1.1 Carlo Goldoni 7.1.2 Goldonis Theaterreform 7.1.3 Inhaltsangabe 7.1.4 Analyse ausgewählter Passagen 7.2 Sei personaggi in cerca d’autore 7.2.1 Luigi Pirandello 7.2.2 Pirandellos meta-teatro 7.2.3 Inhaltsangabe 7.2.4 Beispielanalyse Die in Einheit 6 eingeführten Kriterien der Dramenanalyse sollen im Weiteren an zwei Beispielen zur Anwendung gelangen. Zur Veranschau‐ lichung werden dazu aufgrund ihrer besonderen literaturgeschichtlichen Bedeutung - auch im internationalen Vergleich - eine Komödie des The‐ aterreformers Carlo Goldoni (La locandiera) wie auch das bekannteste meta-theatralische Stück von Luigi Pirandello (Sei personaggi in cerca d’autore) herangezogen. <?page no="138"?> Abb. 7.1 Alessandro Longhi (1733- 1813): Portrait Goldonis Abb. 7.2 Gabriel Bella: Teatro San Samuele (18. Jh.) 7.1 La locandiera 7.1.1 Carlo Goldoni Goldoni (1707-1793), dessen Werk stellvertretend für die Erneuerung des italienischen Theaters im Settecento steht, hatte zunächst eine juristische Ausbildung und Laufbahn eingeschlagen. Seine Begeisterung für die Bühne wurde von einer Liebhabertätigkeit jedoch zur Hauptbeschäftigung, nachdem er sich 1734 - wohl in Folge einer heiklen Liebesaffäre - einer fahrenden com‐ media dell’arte-Truppe angeschlossen hatte. Für sie verfasste er libretti, also die Texte für gesungene Bühnenstücke, und canovacci, das sind skizzenhafte Vorlagen für Aufführungen des gesprochenen Stegreiftheaters. In Verona konnte er intermezzi (kurze, zwischen die Akte einer Aufführung eingescho‐ bene Zwischenstücke) verfertigen. Seinen ersten größeren Erfolg feierte er in Venedig mit Belisario 1734 am Theater San Samuele. Schließlich wurde er wiederum in Venedig am Opernhaus S. Giovanni Grisostomo engagiert, wo er die Textvorlagen für zahlreiche opere serie (opera seria: ernsthafte Oper) einzurichten half. Auch gelangten Goldonis eigene in der Tradition der commedia dell’arte verfasste Dramen zur Aufführung. 1743 musste Goldoni Venedig auf der Flucht vor seinen Gläubigern verlassen und wieder den Anwaltsberuf aufnehmen. Bald suchte er erneut die Zusammenarbeit mit einer Theatertruppe, diesmal dem Ensemble von Girolamo Medebac, mit dem 138 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="139"?> er im Jahr 1748 an das Teatro Sant’Angelo nach Venedig zurückkehrte. 1753 wechselte er an das Teatro San Luca. Mit einem Zehn-Jahres-Vertrag und einem Gehalt von jährlich 900 Dukaten gelang ihm nunmehr die Absicherung seiner Existenz als ‚Berufsautor‘. Insgesamt handelte es sich um eine höchst produktive Lebensphase, unter anderem entstanden in jenen Jahren die Komödien Il servitore di due padroni (1745), La bottega del caffè (1750) und Le baruffe chiozzotte (1762). Zudem verfasste er gemeinsam mit mehreren Komponisten erfolgreiche opere buffe (opera buffa: komische Oper), wie etwa mit Baldassare Galuppi das unterhaltsame Stück Il mondo della luna (1750). Als die Perspektiven sich indes für Goldoni in Italien allmählich wieder verschlechterten, folgte er einer Einladung nach Paris. Dort versorgte er ab 1762 die in der Tradition der commedia dell’arte stehende Comédie italienne mit Stücken, brachte eigene Dramen zur Aufführung (darunter französischsprachige wie Le bourru bienfaisant, 1771) und schrieb 1784-87 seine Memoiren nieder. Vom französischen König Louis XVI großzügig unterstützt, dessen Töchtern er Italienischunterricht erteilte, musste Goldoni auf dem Theater allerdings einem Publikumsgeschmack entgegenkommen, der an seinen eigenen Reformen oftmals nicht interessiert war. Durch die Revolution in Not geraten, starb Goldoni 1793 in Paris. Er hinterließ ca. 140 Komödien und 60 canovacci, die z. T. auch auf Adaptationen französischer Dramen oder Romane beruhten. Abb. 7.3 Die Comédie italienne wurde 1653 in Paris etabliert, 1697 zeitweilig vertrieben (hier im Bild), um erst 1716 zurückzukehren. 7.1 La locandiera 139 <?page no="140"?> La locandiera 7.1.2 Goldonis Theaterreform Das Kernstück von Goldonis Theaterschaffen bildete die Ablösung der wenig kultivierten, aber vom Publikum geschätzten Stegreifkomödie. An die Stelle der Improvisation traten vollständig ausformulierte Dialoge und festgelegte Auf- und Abtritte, eine Szenenfolge, die auch nicht mehr von ungeplanten Späßen und akrobatischen Einlagen unterbrochen wurde. Die Masken wur‐ den aufgegeben, an die Stelle der sich immer gleichbleibenden Figurentypen (Arlecchino, Pantalone etc.) traten SchauspielerInnen, deren Rollen zum Teil stark an der Alltagsrealität orientiert waren und psychologisch differenzierte Charakterzüge aufwiesen. Diese Ausrichtung an der gesellschaftlichen Wirk‐ lichkeit, die im weiteren Kontext der Aufklärung verortet werden kann, brachte Goldoni in Konflikt mit anderen zeitgenössischen Theaterautoren, die mit ihm um die Gunst des Publikums konkurrierten: Pietro Chiari (1711-1785) als Vertreter der herkömmlichen commedia dell’arte und Carlo Gozzi (1720- 1806), der sich am freien Spiel und an den schematischen Figurenzeichnungen dieser Theaterform orientierte und seine fiabe teatrali als märchenhafte Eskapaden jenseits der Alltagsrealität anlegte. 7.1.3 Inhaltsangabe La locandiera (1752) gilt als herausragendes Beispiel für das neue Theater Gold‐ onis. Bereits der Ort der Handlung ist Programm: Es handelt sich um einen in Florenz gelegenen Gasthof, der das Zusammentreffen von Reisenden unter‐ schiedlicher sozialer Herkunft ermöglicht. Im Mittelpunkt der Handlung steht die unverheiratete Herbergswirtin Mirandolina, die seit dem Ableben ihres Va‐ ters den Gasthof in eigener Regie führt. Der Wahl des Schauplatzes entspre‐ chend unterhalten sich die Figuren auf Florentinisch (die meist in Venedig spielenden Komödien Goldonis bevorzugen im Gegenzug das Venezianische). Die Herbergswirtin Mirandolina kann sich rühmen, von allen Männern be‐ gehrt zu werden. Dies trifft nicht nur für ihren Hausdiener Fabrizio zu, der ihr einst vom Vater als zukünftiger Ehemann anempfohlen wurde, sondern gerade auch für die Gäste. Zu ihnen zählen zwei Edelleute, die sich eigens im Hause einquartiert haben, um der hübschen Wirtin den Hof zu machen: Der Marchese di Forlipopoli ist ein verarmter Angehöriger eines ehrwürdigen Adelsgeschlechts, der nur noch stolz auf seinen Titel und seine Beziehungen verweisen kann, ansonsten aber aus finanziellen Nöten zur äußersten Spar‐ samkeit gezwungen ist und sich bei seinen Bekannten unter einem Vorwand immer wieder Geld zu leihen weiß. Sein Konkurrent ist der Conte d’Albafio‐ rita, der seinerseits zwar über keinen beeindruckenden Stammbaum, dafür jedoch über einen schier unerschöpflichen Reichtum verfügt. Während der Marchese also Mirandolina nur mit dem Versprechen seiner ‚Protektion‘ um‐ garnen kann, ist der Conte zu den luxuriösesten Geschenken bereit. Die Um‐ 140 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="141"?> Abb. 7.5 Eleonora Duse als Mirando‐ lina (1891) Abb. 7.4 Florenz um 1490 worbene lässt sich dies wohl gefallen, ist indes zu sehr auf die Wahrung ihrer Unabhängigkeit bedacht, als dass sie dem einen oder anderen nachzugeben bereit wäre. Als der Cavaliere di Ripafratta als neuer Gast in der Herberge absteigt, erweist er sich im Gegensatz zu den beiden präsenten Adeligen zu‐ nächst gegenüber Mirandolinas Reizen als unempfindlich, mehr noch, er be‐ kennt sich als überzeugter Frauenfeind, für den die eigene Freiheit das höchste Gut darstellt. Die abschätzige Behandlung, die er der jungen Wirtin zuteil‐ werden lässt, stachelt allerdings erst recht deren Ehrgeiz an. Sie beschließt, den misogynen (d. h. frauenverachtetenden) Gast eines Besseren zu belehren. Planvoll setzt sie die Verführung ins Werk: Sie lässt dem Cavaliere eine be‐ vorzugte Behandlung zuteilwerden, sucht seine Nähe und lobt ihn aufgrund seiner Selbstbeherrschung gegenüber der Liebe als einzig aufrichtigen, da in‐ teresselosen Gesprächspartner. Während der Cavaliere in der Folge zusehends dem Charme Mirandolinas erliegt, treffen gegen Ende des I. Aktes zwei Schauspielerinnen, Ortensia und Dejanira, im Gasthaus ein. Sie geben sich zunächst als feine Damen aus. Mirandolina durchschaut schnell ihr falsches Spiel, lässt sie aber gewähren, um die weiteren Entwicklungen abzuwarten, da sowohl der Marchese als auch der Conte von den Neuankömmlingen angetan sind. Als die Komödiantinnen sich dem Conte zu erkennen geben, überredet er sie, den Cavaliere auf die Probe zu stellen. Der weist die beiden Frauen jedoch grob zurück. Zudem erkennt er, dass Mirandolina immer mehr Macht über sein Herz erlangt, und beschließt, sich allem Weiteren durch eine hastige Abreise zu entziehen. Die Herbergswirtin gibt sich untröstlich, und als sie vor ihm wie ohnmächtig zusammenbricht, ist der Cavaliere von ihrer Liebe zu ihm überzeugt und gesteht sich ein, dass er in sie verliebt ist. Damit geht Mirandolinas Plan in die zweite Runde. Sie gibt sich von nun an unnahbar, verschmäht das kostbare 7.1 La locandiera 141 <?page no="142"?> Aufgabe 7.1 Text 7.1 La locandiera 1,4 Präsent des Cavaliere, ein goldenes Riechfläschchen, und schmeichelt vor seinen Augen dem Hausdiener Fabrizio. Im III. Akt ist die Liebesleidenschaft des Cavaliere di Ripafratta offenkun‐ dig. Rasend vor Eifersucht, wird er sogar so zudringlich, dass Mirandolina ihr eigener Plan nicht mehr geheuer ist. Um sich dem liebestollen Bewerber endgültig zu entziehen, gibt sie Fabrizio in aller Öffentlichkeit das längst ausstehende Jawort. Der Cavaliere fühlt sich dadurch vor den anderen Pen‐ sionsgästen als verschmähter Liebhaber bloßgestellt und reist verbittert auf der Stelle ab. Die beiden anderen Adligen verlassen die Herberge freiwillig, um das junge Paar nicht weiter zu stören. ? Erstellen Sie auf Grundlage der Inhaltsübersicht eine Skizze der Per‐ sonenkonstellation im Stück. Welche inhaltlichen Elemente gehören zur Exposition des Dramas, an welcher Stelle wird der ‚dramatische Knoten‘ geschürzt und worin dürfte der Höhepunkt der Handlung bestehen? 7.1.4 Analyse ausgewählter Passagen Werfen wir zur Vertiefung einen Blick auf ausgewählte Handlungspassagen. Die zentralen Figuren werden in traditioneller Weise im I. Akt vorgestellt und miteinander in die Dramenhandlung verwoben. Die drei Adeligen treffen in der 4. Szene aufeinander. 7.1.4.1 Ein überheblicher Verächter der Frauen 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 Il Cavaliere di Ripafratta dalla sua camera, e detti 1 . C A V A L I E R E . Amici, che cos’è questo romore 2 ? Vi è qualche dissensione 3 fra di voi altri? C O N T E . Si disputava sopra un bellissimo punto. M A R C H E S E . Il Conte disputa meco 4 sul merito della nobiltà. (Ironico.) C O N T E . Io non levo 5 il merito alla nobiltà: ma sostengo, che per cavarsi 6 dei capricci, vogliono esser denari. C A V A L I E R E . Veramente, Marchese mio … M A R C H E S E . Orsù 7 , parliamo d’altro. C A V A L I E R E . Perché siete venuti a simil contesa 8 ? C O N T E . Per un motivo il più ridicolo della terra. M A R C H E S E . Sì, bravo! il Conte mette tutto in ridicolo. C O N T E . Il signor Marchese ama la nostra locandiera. Io l’amo ancor più di lui. Egli pretende corrispondenza, come un tributo alla sua nobiltà. Io la spero, come una ricompensa alle mie attenzioni. Pare a voi che la questione non sia ridicola? M A R C H E S E . Bisogna sapere con quanto impegno io la proteggo. 142 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="143"?> 20 - - - - 25 - - - - 30 - - - - 35 - - - - 40 - - - - 45 - - - - 50 - - - - 55 C O N T E . Egli la protegge, ed io spendo. (Al Cavaliere.) C A V A L I E R E . In verità non si può contendere per ragione alcuna che io meriti meno. Una donna vi altera 9 ? vi scompone 10 ? Una donna? che cosa mai mi convien sentire? Una donna? Io certamente non vi è pericolo che per le donne abbia che dir con nessuno. Non le ho mai amate, non le ho mai stimate, e ho sempre creduto che sia la donna per l’uomo una infermità insopportabile. M A R C H E S E . In quanto a questo poi, Mirandolina ha un merito estraordinario. C O N T E . Sin qua il signor Marchese ha ragione. La nostra padroncina 11 della locanda è veramente amabile. M A R C H E S E . Quando l’amo io, potete credere che in lei vi sia qualche cosa di grande. C A V A L I E R E . In verità mi fate ridere. Che mai può avere di stravagante costei, che non sia comune all’altre donne? M A R C H E S E . Ha un tratto nobile, che incatena. C O N T E . È bella, parla bene, veste con pulizia, è di un ottimo gusto. C A V A L I E R E . Tutte cose che non vagliono un fico. Sono tre giorni ch’io sono in questa locanda, e non mi ha fatto specie veruna 12 . C O N T E . Guardatela, e forse ci troverete del buono. C A V A L I E R E . Eh, pazzia! L’ho veduta benissimo. È una donna come l’altre. M A R C H E S E . Non è come l’altre, ha qualche cosa di più. Io che ho praticate 13 le prime dame, non ho trovato una donna che sappia unire, come questa, la gentilezza e il decoro. C O N T E . Cospetto di bacco 14 ! Io son sempre stato solito trattar donne: ne conosco li difetti ed il loro debole. Pure con costei, non ostante il mio lungo corteggio e le tante spese per essa fatte, non ho potuto toccarle un dito. C A V A L I E R E . Arte, arte sopraffina 15 . Poveri gonzi 16 ! Le credete, eh? A me non la farebbe. Donne? Alla larga tutte quante elle sono. 17 C O N T E . Non siete mai stato innamorato? C A V A L I E R E . Mai, né mai lo sarò. Hanno fatto il diavolo per darmi moglie, né mai l’ho voluta. M A R C H E S E . Ma siete unico della vostra casa: non volete pensare alla successione? C A V A L I E R E . Ci ho pensato più volte ma quando considero che per aver figliuoli mi converrebbe soffrire una donna, mi passa subito la volontà. C O N T E . Che volete voi fare delle vostre ricchezze? C A V A L I E R E . Godermi 18 quel poco che ho con i miei amici. M A R C H E S E . Bravo, Cavaliere, bravo; ci goderemo. C O N T E . E alle donne non volete dar nulla? C A V A L I E R E . Niente affatto. A me non ne mangiano sicuramente. C O N T E . Ecco la nostra padrona. Guardatela, se non è adorabile. C A V A L I E R E . Oh la bella cosa! Per me stimo più di lei quattro volte un bravo cane da caccia. M A R C H E S E . Se non la stimate voi, la stimo io. C A V A L I E R E . Ve la lascio, se fosse più bella di Venere 19 . (Goldoni: 1969, 786 f.) 7.1 La locandiera 143 <?page no="144"?> Aufgabe 7.2 Abb. 7.6 Maurice Sand: Columbina (1683) Text 7.2 La locandiera 1,9 1 detti die Vorgenannten, hier: der Marchese und der Conte - 2 romore = rumore - 3 dissensione = dissenso - 4 meco mit mir - 5 levare hier: wegnehmen - 6 cavarsi ein Bedürfnis stillen - 7 orsù nun aber! - 8 contesa Streit - 9 alterare hier: wütend machen - 10 scomporre durcheinanderbringen - 11 padroncina junge Herrin - 12 veruno, -a = nessuno, -a - 13 praticare hier: mit jmdm. verkehren - 14 cospetto di bacco hier: Potzblitz! - 15 sopraffino, -a raffiniert - 16 gonzo Schwachkopf - 17 alla larga […] man muss sich alle vom Halse halten - 18 godere genießen - 19 Venere Venus ? Wie werden die drei Figuren in Selbst- und Fremdaussagen gezeichnet? Auf welcher Isotopieebene (vgl. Einheit 4.2) bewegt sich jeweils ihre Argumentation und welchem sprachlichen Register gehört diese an? Welche Funktion erhalten die Figuren dadurch im Hinblick auf die gesamte Dramenhandlung? 7.1.4.2 Die gewitzte Herbergswirtin Die Protagonistin des Stücks, Mirandolina, nimmt die Herausforderung an. Ihre Rolle ist im Übrigen eine Weiterentwicklung der Columbina, der gewitzten Dienerin aus dem Repertoire der commedia dell’arte. Dort tritt Columbina stets als Begleiterin einer Herrin auf, welche sich in einen Partner ihres Standes verliebt (das Paar tritt als maskenlose innamorati auf) und der sie hilft, diese Liebe gegen den Widerstand der Alten (der vecchi, das sind in erster Linie die Figuren Pantalone und der Dottore) zu verwirklichen. Für die Dienerin selbst kommt in diesem Fall nur ein anderer Diener als Partner in Frage, etwa der ebenfalls gerissene Arlecchino oder der trottelige Pulcinella. 1 - - - 5 - - - - 10 M I R A N D O L I N A sola. Uh, che mai ha detto! L’eccellentissimo signor Marchese Arsura 1 mi sposerebbe? Eppure, se mi volesse sposare, vi sarebbe una piccola difficoltà. Io non lo vorrei. Mi piace l’arrosto 2 , e del fumo non so che farne. Se avessi sposati tutti quelli che hanno detto volermi, oh, avrei pure 3 tanti mariti! Quanti arrivano a questa locanda 4 , tutti di me s’innamorano, tutti mi fanno i cascamorti 5 ; e tanti e tanti mi esibiscono 6 di sposarmi a dirittura 7 . E questo signor Cavaliere, rustico 8 come un orso, mi tratta sì bruscamente? Questi è il primo forestiere 9 capitato 10 alla mia locanda, il quale non abbia avuto piacere di trattare 11 con me. Non dico che tutti in un salto s’abbiano a innamorare: ma disprezzarmi così? è una cosa che mi muove la bile 12 terribilmente. È nemico delle donne? Non le può vedere? Povero pazzo! Non avrà ancora trovato quella che sappia fare. Ma la troverà. La troverà. E chi sa che non l’abbia trovata? Con questi per l’appunto 13 mi ci metto di picca 14 . Quei 144 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="145"?> Aufgabe 7.3  Motivkreis: Identität und Wahn 15 - - - - 20 - - che mi corrono dietro, presto presto mi annoiano. La nobiltà non fa per me. La ricchezza la stimo e non la stimo. Tutto il mio piacere consiste in vedermi servita, vagheggiata 15 , adorata. Questa è la mia debolezza, e questa è la debolezza di quasi tutte le donne. A maritarmi non ci penso nemmeno; non ho bisogno di nessuno; vivo onestamente, e godo la mia libertà. Tratto con tutti, ma non m’innamoro mai di nessuno. Voglio burlarmi 16 di tante caricature di amanti spasimati 17 ; e voglio usar tutta l’arte per vincere, abbattere e conquassare 18 quei cuori barbari e duri che son nemici di noi, che siamo la miglior cosa che abbia prodotto al mondo la bella madre natura. (Goldoni: 1969, 791 f.) - 1 Marchese Arsura hier: ironische Bezeichnung des Marchese als ‚Heißsporn‘ - 2 l’arrosto Braten - 3 pure doch, wirklich - 4 la locanda Herberge - 5 il cascamorto Verehrer - 6 esibire anbieten - 7 a dirittura geradewegs - 8 rustico rüpelhaft - 9 il forestiere Fremder - 10 capitare hier: zufällig kommen - 11 trattare hier: Umgang pflegen - 12 la bile Galle - 13 per l’appunto ganz genau - 14 la picca Groll, Trotz - 15 vagheggiare herbeisehnen - 16 burlarsi verspotten - 17 spasimato schmachtend - 18 conquassare = conquistare ? Um welche Form der dramatischen Rede handelt es sich beim vor‐ anstehenden Auszug? Welche rhetorischen Figuren finden sich darin? Vergleichen Sie die ‚Schwäche‘ Mirandolinas mit den ‚Schwächen‘ der drei zuvor betrachteten Figuren und erörtern Sie, inwiefern sich hieraus für das Bühnenstück eine didaktische Absicht ableiten lässt. Weitere Textauszüge und Aufgaben zu La locandiera finden Sie auf www. bachelor-wissen.de. 7.2 Sei personaggi in cerca d’autore 7.2.1 Luigi Pirandello Luigi Pirandello wurde im Jahre 1867 in Grigenti (heute: Agrigento) geboren. Das Elternhaus zeichnete sich durch sein Engagement für die nationalstaatliche Einigungsbewegung Italiens aus; der Betrieb einiger Schwefelminen ermög‐ lichte Bildung und bürgerlichen Wohlstand. Nach Studienjahren in Palermo und Rom wechselte Pirandello als Fremdsprachenlektor an die Universität Bonn, wo er 1891 mit einer sprachwissenschaftlichen Arbeit zum Dialekt seiner siziliani‐ schen Heimat promoviert wurde. Zurück in Italien heiratete er Maria Anto‐ nietta Portulano, die Tochter eines Mitgesellschafters seines Vaters. Als dieser aufgrund der Überflutung einer seiner Minen in den Ruin getrieben wurde, war dem Paar die Existenzgrundlage entzogen. Noch schwerer wurde das Leben von 7.2 Sei personaggi in cerca d’autore 145 <?page no="146"?> Motivkreis Identität, Wahn und Paradoxie Theater auf dem Theater Luigi Pirandello dadurch, dass seine Frau psychisch ernsthaft erkrankte. Erst 1919 sollte sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Pirandello be‐ stritt seinen Lebensunterhalt von 1897 bis 1922 als Lehrer für Stilistik an einer römischen Mädchenrealschule, durch Zeitungsmitarbeit (v. a. beim Corriere della sera) und literarische Veröffentlichungen, die mit der Zeit das Interesse des Pu‐ blikums fanden. Das Gesamtwerk des Autors umfasste schließlich vier Gedichtbände, sie‐ ben Romane, über zweihundert Novellen, über vierzig Theaterstücke und zwei Essaybände. 1934 wurde es mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Die Anfangsphase von Pirandellos Schaffen stand im Zeichen des verismo. Die realistischen Schilderungen neigen allerdings im Weiteren zur Beschäftigung mit außergewöhnlichen Individuen, zudem zu einer Überhöhung der Hand‐ lung ins Paradoxe oder Übernatürliche, die in einen systematischen Zweifel an der Wirklichkeit (bzw. ihrer Wahrnehmung durch die literarischen Figu‐ ren) mündet. Als Beispiel sei der erste Romanerfolg des Schriftstellers ge‐ nannt, Il fu Mattia Pascal (1904), in dem die Titelfigur die Meldung ihres ver‐ meintlichen Todes nutzen möchte, um ein völlig neues, nicht vorbelastetes Leben zu beginnen, später jedoch gerade an ihrer Biographie- und Statuslo‐ sigkeit scheitert. Zu nennen wären darüber hinaus zahlreiche Novellen aus den ab 1922 als Sammlung erschienenen Novelle per un anno oder der Roman Uno, nessuno e centomila (1926), in dem die Frage nach einer brüchig gewor‐ denen Identität erneut gestellt wird. Pirandello starb 1936. 7.2.2 Pirandellos meta-teatro Weltweite Beachtung fand Pirandello nicht zuletzt durch sein dramatisches Werk, das in einer ersten Phase traditionelle Gattungsvorbilder wie die Vau‐ deville-Komödie umwandelt und zu paradoxen inhaltlichen Wendungen führt. Im Zentrum der Resonanz stand jedoch eine Trilogie von sog. ‚metatheatralischen‘ Stücken, d. h. von Dramen, die das Schauspiel bzw. das Thea‐ ter-Spielen selbst zum Thema erheben und reflektieren. Es handelt sich um Sei personaggi in cerca d’autore (1921), Ciascuno a suo modo (1924) und Questa sera si recita a soggetto (1930). Stehen im ersten Stück die Konflikte zwischen Figuren, SchauspielerInnen und Regisseur im Vordergrund, so sind es im zweiten die Diskrepanzen zwischen ZuschauerInnen, Autor und Schauspie‐ lerInnen; das drittgenannte Stück behandelt das Verhältnis zwischen einem Regisseur und seinen SchauspielerInnen, die sich mit den von ihnen darge‐ stellten Figuren gänzlich identifizieren. In den drei Dramen bündeln sich Entwicklungslinien aus dem gesamten Werk Pirandellos: die Auflösung traditioneller literarischer Formen, die in überraschend neuer Weise gehandhabt werden; die Problematisierung des psychischen Relativismus (jeder nimmt die Umwelt und sich selbst gemäß 146 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="147"?> Text 7.3 ‚Prefazione‘ zu den Sei per‐ sonaggi in cerca d’autore (1921) seiner Perspektive anders wahr); die Profilierung nicht auflösbarer zwischen‐ menschlicher Konflikte; die Angewiesenheit des Menschen auf die anderen und deren Wahrnehmung oder Deutung seiner Persönlichkeit; schließlich das Hinterfragen der menschlichen Existenz nach Wahrheit und Trug, nach Sein und Schein. In seinem Vorwort zur 2. Auflage der Sei personaggi in cerca d’autore schildert Pirandello den ursprünglichen Anstoß zu diesem Stück wie folgt als Besuch einer Dienerin seiner Kunst, der Phantasie: 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 - - - - 20 - - - - 25 - - - - 30 […] Orbene questa mia servetta 1 Fantasia ebbe, parecchi anni or sono, la cattiva ispirazione o il malaugurato 2 capriccio di condurmi in casa tutta una famiglia, non saprei dire dove né come ripescata 3 , ma da cui, a suo credere, avrei potuto cavare 4 il soggetto per un magnifico romanzo. Mi trovai davanti un uomo sulla cinquantina, in giacca nera e calzoni chiari, dall’aria aggrottata 5 e dagli occhi scontrosi 6 per mortificazione 7 ; una povera donna in gramaglie 8 vedovili, che aveva per mano una bimbetta di quattr’anni da un lato e con un ragazzo di poco più di dieci dall’altro; una giovinetta ardita 9 e procace 10 , vestita anch’essa di nero ma con uno sfarzo 11 equivoco e sfrontato 12 , tutta un fremito 13 di gajo 14 sdegno mordente contro quel vecchio mortificato e contro un giovane sui vent’anni che si teneva discosto 15 e chiuso in sé, come se avesse in dispetto tutti quanti. Insomma quei sei personaggi come ora si vedono apparire sul palcoscenico 16 , al principio della commedia. E or l’uno or l’altro, ma anche spesso l’uno sopraffacendo 17 l’altro, prendevano a narrarmi i loro tristi casi, a gridarmi ciascuno le proprie ragioni, ad avventarmi in faccia le loro scomposte 18 passioni, press’a poco come ora fanno nella commedia al malcapitato 19 Capocomico. Quale autore potrà mai dire come e perché un personaggio gli sia nato nella fantasia? Il mistero della creazione artistica è il mistero stesso della nascità naturale. […] Nati vivi, volevano vivere. Ora bisogna sapere che a me non è mai bastato rappresentare una figura d’uomo o di donna, per quanto speciale e caratteristica, per il solo gusto di rappresentarla; narrare una particolar vicenda 20 , gaja o triste, per il solo gusto di narrarla; descrivere un paesaggio per il solo gusto di descriverlo. Ci sono certi scrittori (e non pochi) che hanno questo gusto e, paghi 21 , non cercano altro. Sono scrittori di natura più propriamente storica. Ma ve ne sono altri che, oltre questo gusto, sentono un più profondo bisogno spirituale, per cui non ammettono figure, vicende, paesaggi che non s’imbevano 22 , per così dire, d’un particolar senso della vita, e non acquistino con esso un valore universale. Sono scrittori di natura più propriamente filosofica. Io ho la disgrazia d’appartenere a questi ultimi. […] Ora, per quanto cercassi, io non riuscivo a scoprir questo senso in quei sei per‐ sonaggi. E stimavo perciò che non mettesse conto 23 farli vivere. […] (Pirandello: 1937, 5 ff.) 7.2 Sei personaggi in cerca d’autore 147 <?page no="148"?> Aufgabe 7.4 Die theatralische Illusion 1 servetta Dienerin - 2 malaugurato, a unglückselig - 3 ripescare auffischen - 4 cavare entnehmen - 5 aggrottato, -a die Stirn runzelnd - 6 scontroso, a mürrisch - 7 mortificazione Demütigung - 8 in gramaglie in Trauerkleidung - 9 ardito, -a forsch - 10 procace aufreizend, unverschämt - 11 sfarzo Aufmachung - 12 sfrontato, a schamlos - 13 un fremito di sdegno ein Sturm der Entrüstung - 14 gaja = gaia - 15 discosto, -a abseits - 16 palcoscenico Bühne - 17 sopraffacere beiseite drängen - 18 scomposto, -a wirr - 19 malcapitato, -a unglücklich - 20 vicenda Ereignis - 21 pago, -a zufrieden - 22 imbeversi in sich aufnehmen, sich vollsaugen - 23 non mette conto fare qcs. es lohnt sich die Mühe nicht etw. zu tun ? Um welches Stilmittel handelt es sich bei Pirandellos „servetta Fanta‐ sia“? Wie werden die Figuren im Hinblick auf eine Figurenkonstellation vorgestellt? Inwieweit gibt Pirandello in der zitierten Passage Aufschluss über seine persönliche Auffassung von Literatur, seine Poetik? 7.2.3 Inhaltsangabe Das nicht in Akte oder nummerierte Szenen eingeteilte Stück, das gleichwohl durch zwei aus dem Bühnengeschehen heraus motivierte Pausen unterbro‐ chen wird, setzt ganz unter dem Vorzeichen des ‚Theaters auf dem Theater‘ ein: „Troveranno gli spettatori, entrando nella sala del teatro, alzato il sipa‐ rio 1 , e il palcoscenico com’è di giorno, senza quinte 2 né scena 3 , quasi al buio e vuoto, perché abbiano fin da principio l’impressione d’uno spettacolo non preparato“ (1 sipario Vorhang - 2 le quinte Kulissen - 3 la scena hier: Dekora‐ tion). Im Folgenden betreten ein Schauspieldirektor, SchauspielerInnen und diverse Theaterangestellte die Bühne, um mit den Proben an Pirandellos Stück Gioco delle parti zu beginnen (zum Text-im-Text siehe Einheit 11.2.1 ‚Intertextualität‘). In dieses fiktive Geschehen brechen nun unvermutet sechs personaggi ein, die sich selbst als Figuren eines Dramas ausweisen, die von ihrem Autor zwar konzipiert, sodann aber verworfen wurden. Seitdem sind sie von dem verzweifelten Bemühen getrieben, das nicht fertig gestellte Stück, das sich aus ihren Rollenvorgaben ergeben muss, auf dem Theater verwirklicht zu sehen. Diese sechs Figuren (oder: Rollen) bieten nun dem Schauspieldirektor an, ihm ein neues Stück zu liefern - ein anderes als dasjenige des für die Berufsakteure undurchsichtigen Pirandello -, nämlich ihre eigene Geschichte. Während der Vorschlag zunächst auf völliges Unver‐ ständnis stößt, gelingt es den Figuren dennoch im Laufe ihrer Bemühungen und dank der von ihrem persönlichen Drama preisgegebenen Details, den Direktor in ihren Bann zu schlagen, nicht zuletzt, weil er selber gerne die Rolle des ‚Autors‘ für ihre Tragödie übernehmen möchte. 148 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="149"?> Ein trivialer Familienkon‐ flikt Aufgabe 7.5 Verbunden werden die sechs Figuren durch eine melodramatische Famili‐ engeschichte: Der Vater hatte einst die Ehefrau, mit der zusammen er einen Sohn hatte, in die Beziehung zu einem anderen Mann gedrängt, angeblich, weil er erkannt hatte, dass er ihrem Glück nur im Wege stand. Während der Sohn also beim Vater blieb, gründete die Mutter eine neue, zweite Familie, aus der zwei Töchter und ein Sohn hervorgingen. Nach dem Tod des zweiten Mannes geriet die Mutter jedoch in finanzielle Not und sah sich gezwungen, in die Stadt umzuziehen, in der ihr erster Mann immer noch wohnte, ohne dass dieser etwas von der Rückkehr wusste. Sie fand Arbeit bei einer ver‐ meintlichen Damenschneiderin, die inkognito jedoch ein Bordell betrieb und die älteste Tochter der Mutter heimlich zur Prostitution zwang. Einer der Freier im Bordell war wiederum der Vater, der sich unwissentlich mit seiner Stieftochter auf ein Zimmer zurückzog. Bevor es zu einer quasi inzestuösen Handlung kam, fuhr die alarmierte Mutter mit einem Aufschrei dazwischen. Alle Beteiligten jedoch tragen die Spuren eines Traumas davon: Der Vater wird von seinem Gewissen geplagt, die Stieftochter provoziert die von ihr verachteten Männer, die Mutter zerbricht an der Last des Schicksals, die jün‐ gere Stieftochter ertrinkt (oder ertränkt sich? ) in einem Teich, der Stiefsohn erschießt sich kurz darauf. Während der Direktor hinter diesen nur allmählich zu Tage kommenden Zusammenhängen ein Erfolgsstück wittert, bleiben die Figuren in ihren familiären Spannungen verstrickt, aus denen sie sich gemäß ihrer Anlage nie‐ mals werden befreien können. Als die SchauspielerInnen der Theatertruppe schließlich daran gehen, die erläuterte und teils vorgespielte Tragödie ihrer‐ seits professionell umzusetzen, sind die Figuren über das Resultat entsetzt und fühlen sich zutiefst missbzw. unverstanden. Pirandellos Sei personaggi endet für das Publikum in Konfusion: Als der kleine Stiefsohn sich zum Schluss der Handlung erschießt, weiß niemand mehr, ob es sich um Spiel oder Wirklichkeit handelt. Der Theaterdirektor beklagt den ‚verlorenen‘ Probentag und verlässt fluchtartig die Bühne, als die ‚überlebenden‘ Figuren abermals auftauchen. Die Stieftochter reißt sich von ihnen los und rennt durch den Zuschauerraum davon. ? Begründen Sie auf Grundlage der Inhaltsangabe, weshalb weder die SchauspielerInnen noch die ‚sechs Personen‘ Eigennamen tragen (mit Ausnahme der noch hinzu kommenden Bordellbetreiberin Madame Pace, deren Name von vornherein als zynisch anmutendes Pseudonym angelegt ist) und statt dessen lediglich durch ihre Funktion oder Stellung im Theaterbetrieb bzw. in der Familienkonstellation definiert sind (il padre, la figliastra, la bambina, il direttore-capocomico, la prima attrice, il suggeritore etc.). 7.2 Sei personaggi in cerca d’autore 149 <?page no="150"?> Aufgabe 7.6 Aufgabe 7.7 Text 7.4 Sei personaggi in cerca d’autore ? Wieso lässt der Autor Pirandello die Figuren seines Stückes ein anderes seiner Werke (Gioco delle parti, 1918) für eine Theateraufführung proben? Beschreiben Sie diese inhaltliche Konstruktion mit eigenen Worten. ? Betrachten Sie soweit möglich die kompositorische Anlage des Stü‐ ckes, v.-a. sein Ende, im Hinblick auf die gewählte dramatische Form. 7.2.4 Beispielanalyse Die allgemeinen Vorbemerkungen sollen nun am Beispiel eines Auszugs aus dem Drama veranschaulicht werden. Das 1921 in Rom uraufgeführte Stück löste zu seiner Zeit heftige Diskussionen zwischen enthusiastischen AnhängerInnen und nicht minder überzeugten GegnerInnen Pirandellos aus, wobei die Reaktion der Letzteren aus der heutigen Sicht eindeutig im Jaußschen Sinne (vgl. Einheit 10.5.2) als Irritation zu sehen ist, die auf einer enormen ‚ästhetischen Distanz‘ beruhte, d. h. auf einer Kluft zwischen der an traditionellen Mustern geschulten Erwartungshaltung des Publikums und der Innovationskraft des Stückes. Der padre bemüht sich, den capocomico davon zu überzeugen, das Drama der personaggi aufzuführen. 1 - - - 5 - - - - 10 15 - - - I L C A P O C O M I C O . Benissimo, sì! E le assicuro che tutto questo m’interessa, m’inte‐ ressa vivamente. Intuisco 1 , intuisco che c’è materia da cavarne 2 un bel dramma! L A F I G L IA S T R A (tentando d’intromettersi). Con un personaggio come me! I L P A D R E (scacciandola 3 , tutto in ansia 4 come sarà, per la decisione del Capocomico). Stai zitta, tu! I L C A P O C O M I C O (seguitando senza badare 5 all’interruzione). Nuova, sì … I L P A D R E . Eh, novissima, signore! I L C A P O C O M I C O . Ci vuole un bel coraggio però - dico - venire a buttarmelo 6 davanti così … I L P A D R E . Capirà, signore: nati, come siamo, per la scena … I L C A P O C O M I C O . Sono comici dilettanti? I L P A D R E . N O : dico nati per la scena, perché … I L C A P O C O M I C O . Eh via, lei deve aver recitato! I L P A D R E . Ma no, signore: quel tanto che ciascuno recita nella parte che si è assegnata, o che gli altri gli hanno assegnato nella vita. E in me, poi, è la passione stessa, veda, che diventa sempre, da sé, appena si esalti 7 - come in tutti - un po’ teatrale … I L C A P O C O M I C O . Lasciamo andare, lasciamo andare! - Capirà, caro signore, che senza l’autore … - Io potrei indirizzarla a qualcuno … 150 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="151"?> 20 - - - - 25 - - - - 30 - - - - 35 - - - - 40 - - - - 45 - - - - 50 - - - - 55 60 I L P A D R E . Ma no, guardi: sia lei! I L C A P O C O M I C O . Io? Ma che dice? I L P A D R E . Sì, lei! lei! Perché no? I L C A P O C O M I C O . Perché non ho mai fatto l’autore, io! I L P A D R E . E non potrebbe farlo adesso, scusi? Non ci vuol niente. Lo fanno tanti! Il suo compito 8 è facilitato dal fatto che siamo qua, tutti, vivi davanti a lei. I L C A P O C O M I C O . Ma non basta! I L P A D R E . Come non basta? Vedendoci vivere il nostro dramma … I L C A P O C O M I C O . Già! Ma ci vorrà sempre qualcuno che lo scriva! I L P A D R E . No - che lo trascriva, se mai, avendolo così davanti - in azione - scena per scena. Basterà stendere in prima, appena appena, una traccia 9 - e provare! I L C A P O C O M I C O (risalendo, tentato, sul palcoscenico). Eh … quasi quasi, mi tenta … Così, per un gioco … Si potrebbe veramente provare … I L P A D R E . Ma sì, signore! Vedrà che scene verranno fuori! Gliele posso segnar subito io! I L C A P O C O M I C O . Mi tenta … mi tenta. Proviamo un po’ … Venga qua con me nel mio camerino 10 . (Rivolgendosi agli Attori) - Loro restano per un momento in libertà; ma non s’allontanino di molto. Fra un quarto d’ora, venti minuti, siano di nuovo qua. (Al Padre): Vediamo, tentiamo … Forse potrà venir fuori veramente qualcosa di straordinario … I L P A D R E . Ma senza dubbio! Sarà meglio, non crede? far venire anche loro. Indicherà gli altri Personaggi. I L C A P O C O M I C O . Sì, vengano, vengano! (S’avvierà; ma poi tornando a volgersi agli Attori): - Mi raccomando, eh! puntuali! Fra un quarto d’ora. Il capocomico e i Sei Personaggi attraverseranno il palcoscenico e scompariranno. Gli Attori resteranno, come storditi 11 , a guardarsi tra loro. I L P R I M O A T T O R E . Ma dice sul serio? Che vuol fare? L’ A T T O R G I O V A N E . Questa è pazzia bell’e buona! U N T E R Z O A T T O R E . Ci vuol fare improvvisare un dramma, così su due piedi? L’ A T T O R G I O V A N E . Già! Come i Comici dell’Arte! L A P R I MA A T T R I C E . Ah, se crede che io debba prestarmi a simili scherzi … L’ A T T R I C E G I O V A N E . Ma non ci sto neanch’io! U N Q U A R T O A T T O R E . Vorrei sapere chi sono quei là. (Alluderà 12 ai Personaggi). I L T E R Z O A T T O R E . Che vuoi che siano! Pazzi o imbroglioni 13 ! L’ A T T O R G I O V A N E . E lui si presta a dar loro ascolto? L’ A T T R I C E G I O V A N E . La vanità! La vanità di figurare da autore … I L P R I M O A T T O R E . Ma cose inaudite! Se il teatro, signori miei, deve ridursi a questo … U N Q U I N T O A T T O R E . Io mi ci diverto! I L T E R Z O A T T O R E . Mah! Dopo tutto, stiamo a vedere che cosa ne nasce. E così conversando tra loro, gli Attori sgombreranno 14 il palcoscenico, parte escendo dalla porticina in fondo, parte rientrando nei loro camerini. Il sipario resterà alzato. 7.2 Sei personaggi in cerca d’autore 151 <?page no="152"?> Aufgabe 7.8 La rappresentazione sarà interrotta per una ventina di minuti. (Pirandello: 1937, 61 ff.) - 1 intuire erahnen - 2 cavare entnehmen, verwenden - 3 scacciare beiseite schieben - 4 ansia Erregung - 5 badare achten auf - 6 buttare hier: vorsetzen - 7 esalto leidenschaftlich - 8 compito Aufgabe - 9 stendere una traccia einen Entwurf machen - 10 camerino hier: Büro - 11 stordito verblüfft - 12 alludare anspielen, hinweisen auf - 13 imbroglione Betrüger - 14 sgombrerare/ sgombrare abgehen ? Wie soll sich den Äußerungen des padre zufolge das Schauspiel realisieren lassen? Welche Rolle hat im Speziellen das Schreiben in diesem Zusammenhang? Welches Interesse hat der capocomico an dem Stück? Weshalb protestieren die Schauspieler? In Pirandellos meta-teatro wird die Entstehung des Stückes - damit letztlich eines jeden Stückes - selbst thematisiert: als Spiel im Spiel, in dem die reale Theaterbühne als institutioneller Ort der Aufführungspraxis mit dem fiktio‐ nalen Schauplatz der Handlung eines Theaterstückes in eins gesetzt wird. In diesem Sinne handelt sich bei dem von den personaggi verkörpertem Stoff und dessen versuchter Nachahmung durch die Truppe des capocomico um eine Binnenaufführung, die ganz analog zur in Erzähltexten vorkommenden Binnenerzählung (vgl. Einheit 8.2.1) angelegt und somit auf einer Metaebene angesiedelt ist. Ihr ist eine Rahmenhandlung vorangestellt, denn die Truppe des capocomico versucht zunächst das Gioco delle parti zu proben und wird dabei von den personaggi unterbrochen. Die personaggi treten dabei als Figuren in Erscheinung, die, einst von einem Autor erdacht, niemals eine Umsetzung in ein fertiges Werk (also den Text eines entsprechenden Theaterstückes) oder gar die szenische Darbietung auf der Bühne erfahren haben - weshalb sie, wie der Dramentitel verrät, nun auf der dringenden Suche nach einem neuen Autor sind, der das Versäumte nachholen soll. Die im Vorwort (vgl. Text 7.3) beschriebene „creazione artistica“, die ‚Geburt‘ der sechs Figuren als bloße skizzenhafte Ideen für einen möglichen literarischen Text, wird somit als nur erster Schritt inner‐ halb des literarischen Schaffensprozesses vorgestellt. Als nächster Schritt ist die Umsetzung der Idee in eine ausformulierte, künstlerisch gestaltete Textfassung erforderlich, die im Falle eines Dramas noch an dritter Stelle der dramaturgischen Ausgestaltung in einer spezifischen Theatervorführung bedarf. Einem solchen Transformationsprozess von der vorgestellten Figur zur im Schauspiel realisierten Rolle ist Pirandellos Sei personaggi gewidmet, wobei das letztendliche Scheitern dieses Umsetzungsversuchs auf die Schwie‐ rigkeiten der literarischen Produktion verweist. 152 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="153"?> Die oben zitierte Textpassage ist von einer Reihe von Antagonismen geprägt: Vater und Tochter, so ist nicht zuletzt an den expliziten Didaskalien ersichtlich, zeigen sich vor dem capocomico in einer erbitterten Konkurrenz, denn beide wollen ihm gegenüber ihre Version des Geschehens geltend machen. Der Schauspieltruppenführer bzw. Regisseur wiederum hat ein rein professionelles Interesse an den Figuren, wittert geschäftstüchtig einen viel‐ versprechenden Stoff („intuisco che ce materia da cavarne un bel dramma! “), der allerdings noch der Ausformung bedarf, eben der künstlerischen Überar‐ beitung durch einen Autor. Die Figuren ihrerseits jedoch haben nichts mit der Nachahmungspraxis der Bühnenprofis gemein; sie sind nicht darstellende Imitation von etwas anderem (auch nicht als ungeschulte „comici dilettanti“), sondern sie sind nichts weiter als die Idee selbst, als solche ‚geboren‘ („nati, come siamo“), und leben unmittelbar ihre persönliche Problematik als Drama („vivere il nostro dramma“). Die Schwierigkeit für den capocomico besteht nun darin, dass er sich zunächst die künstlerische Leistung eines Autors nicht zutraut und sich erst auf das hartnäckige Insistieren des padre mit dieser Rolle anfreunden will; letzterer suggeriert ihm zumal, es bedürfe gar keines speziell schöpferischen Aufwandes, es genüge, die Figuren so wie sie sind zu Papier zu bringen, sie zu transkribieren, also zu verschriften („ci vorrà sempre qualcuno che […] lo trascriva […] avendolo così davanti - in azione - scena per scena“). Genau an dieser These, die Ideen seien voll und ganz, also ohne jegliche Abänderung oder Interpretation, in die greifbare Form des schauspielerisch aufgeführten Rollentextes übersetzbar, wird sich im weiteren Stückverlauf die eigentliche Tragödie der Sei personaggi entfalten, wie bereits am Ende des Textauszuges am Protest der SchauspielerInnen ersichtlich ist. Ihnen erscheint das gesamte Vorhaben als Unfug („Questa è pazzia bell’e buona! “), sie sehen sich in ihrem professionellen Können in Frage gestellt und auf die theaterhistorisch längst überwundene Stufe der kunstlosen Stegreifkomödie („Come i Comici dell’Arte! “) herabgestuft. Ihre auf Bühnenwirksamkeit trainierte Schauspiel‐ kunst, ihre jeweilige Interpretation der ihnen zugeordneten Rolle, so wird sich im zweiten Teil des Stückes erweisen, bewirkt indes eine Verfälschung des in den personaggi angelegten Stoffes, ebenso wie die Rücksichtnahmen des Regisseurs auf die Erwartungshaltung seines Publikums. Dass Pirandello in den Sei personaggi ganz grundsätzliche Überlegungen zur komplexen Entstehung eines Dramas durch den Kunstgriff der leibhaftig auftretenden Figurenentwürfe anschaulich macht, wird nicht zuletzt durch die Anonymität aller Beteiligten unterstrichen, da nur Funktionen (capocomico, gli attori) oder Rollen (il padre, la figliastra) als Bezeichnungen verwendet werden. Unter der Anordnung der Personenkonstellation haben sich unterdessen die ursprünglichen Rollenzuschreibungen verschoben: die als fiktive Charaktere entworfenen personaggi wollen dem Regisseur ihre Geschichte leibhaftig vor‐ 7.2 Sei personaggi in cerca d’autore 153 <?page no="154"?>  Zusammenfassung  führen („in azione - scena per scena“) und treten dadurch als DarstellerInnen ihrer persönlichen Lebensgeschichte und somit quasi als SchauspielerInnen in Erscheinung; die professionellen SchauspielerInnen des Ensembles hingegen wohnen dem Gezeigten als passive ZuschauerInnen bei, während ihr Regisseur aus wirtschaftlichem Kalkül und Eitelkeit zum Autor mutiert ist. Diese sukzes‐ sive Verschiebung der ‚Rollen‘ aller Beteiligten verweist letztlich auf eines der grundlegenden Themen in Pirandellos Schaffen: die Brüchigkeit der Identität eines jeden Menschen, der unter dem Einfluss unterschiedlicher Situationen stets zu einem anderen wird. Zusätzliche Textauszüge und weitere Aufgaben zu Sei personaggi in cerca d’autore finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. Goldonis Theater markiert einen Höhepunkt in der Entwicklung der ita‐ lienischen Komödie. Sein umfangreiches Gesamtwerk steht am Übergang zwischen der commedia dell’arte und der regelmäßigen Theaterform. Durch die erkennbare Realitätsnähe und psychologisierende Handlungs‐ führung gelang es Goldoni in seiner zweiten Schaffensphase, europaweit Maßstäbe für eine neue Ausprägung des Lustspiels zu setzen. Basiert Goldonis Komik auf der kunstvollen Konfrontation von Figuren, die un‐ terschiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verkörpern, so wechselt das Meta-Theater Pirandellos auf eine übergeordnete Ebene der Handlung. In einer selbstreflexiven Wendung wird die Aufführungspra‐ xis selbst zum Inhalt des Stückes, die Probleme der Darstellungsweise treten an die Stelle des Dargestellten. Literatur Carlo Goldoni: La locandiera, in: Ders., Tutte le opere. Hg. Giuseppe Ortolani. Milano: Mondadori 4 1969, 773-858. Luigi Pirandello: Sei personaggi in cerca d’autore, in: Ders., Maschere nude. Bd III. Milano: Mondadori 9 1937. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 154 7 Übungen zur Dramenanalyse <?page no="155"?> Überblick 8 Epik und Erzähltextanalyse Inhalt 8.1 Gattung Epik 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs (discorso narrativo) 8.2.1 Stimme (la voce narrante) 8.2.2 Zeit 8.2.3 Distanz 8.2.4 Fokalisierung 8.3 Struktur des Erzählten oder der fabula 8.3.1 Figuren 8.3.2 Handlung, Geschehen und ‚Plot‘ Diese Einheit befasst sich neben einem Überblick über die epischen Text‐ formen mit den spezifischen Merkmalen, die diese gegenüber den bereits behandelten Gattungen Lyrik und Dramatik auszeichnen. Davon ausge‐ hend wird das terminologische und sachliche Instrumentarium für die Analyse von Erzähltexten sowohl hinsichtlich ihrer Darstellung durch die Erzählinstanz als auch der dargestellten Welt, des Inhalts von Erzählun‐ gen, erarbeitet und seine Verwendung eingeübt. <?page no="156"?> ‚Epik‘ vom Wort her Epos Definition Abb. 8.1 Ludovico Ariosto (1474- 1533) Neuere epische Formen Summarischer Überblick: Novelle 8.1 Gattung Epik Der naheliegende Ansatz, dass es auf der Suche nach der Definition eines Begriffs sinnvoll ist, ihn von seinem Wortursprung her zu betrachten, führt bei den bereits behandelten Gattungen zu durchaus informativen Ergebnis‐ sen: Die Lyra, die Leier, zu der in der griechischen Antike gesungen wurde, weist auf den musikalischen Kontext und die Präsenz einer individuellen Stimme in der Lyrik hin; die Dramatik ihrerseits erhält ihren Namen vom griechischen Wort für ‚Handlung‘ - zu Recht, denn dramatische Texte werden durch das Spiel von meist mehreren Akteuren (hier wiederholt sich, auf La‐ teinisch, die Handlung) getragen. Gehen wir nun entsprechend vor, so finden wir das Epos (poema epico) als Grundform der Epik (epica). In der Tat ist das Epos nicht nur die älteste, sondern (was wohl damit zu tun hat) auch lange Zeit die prestigeträchtigste epische Form der europäischen Literatur. Es han‐ delt sich hierbei um eine für den mündlichen Vortrag bestimmte Verserzäh‐ lung von beträchtlicher Länge, die Heldentaten von nationalhistorischer und -mythischer Bedeutung schildert. Das erste und zugleich berühmteste antike Beispiel ist die Odyssee Homers. Einer der bedeutendsten italienischen Re‐ präsentanten der Gattung ist der zwischen 1516 und 1532 von Ludovico Ari‐ osto (1474-1533) verfasste und mehrfach überarbeitete Orlando furioso (Der rasende Roland). In 46 Gesängen mit der Oktave als Strophenform wird vor dem Hintergrund der Kreuzzüge und dem Krieg zwischen Karl dem Großen und dem Sarazenen Agramante die Geschichte Rolands erzählt, der wegen seiner Liebe zu der chinesischen Prinzessin Angelica den Verstand verliert. Der Orlando furioso ist eigentlich die Fortsetzung des unvollendeten Orlando innamorato von Matteo Boiardo (1441-1494) aus dem Jahr 1483 und verbindet die Tradition des antiken Heldenepos mit der volkssprachlichen Tradition des Ritterepos. Der Orlando furioso zeichnet sich durch eine komplexe Hand‐ lungsstruktur aus, wobei die zahlreichen Handlungsstränge es nahezu un‐ möglich machen, das Geschehen zu resümieren, das darüber hinaus vielerlei komische und parodistische Elemente enthält. Gehen wir zur Literaturgeschichte nachmittelalterlicher Zeit über, stellen wir fest, dass das ‚älteste‘ Verständnis eines Begriffs wie ‚Epik‘ doch nicht im allgemeinen Sinne das sachdienlichste ist, denn die vielfältigen epischen For‐ men weisen nur wenige der genannten epenspezifischen Merkmale auf: ▶ Für die italienische Literatur ist die Novelle (novella) eine der bedeu‐ tendsten und vor allem frühesten epischen Formen. Die Novelle gehört zu den epischen Kurzformen und kann durch eine klare einsträngige Handlung und ein eingeschränktes Personeninventar charakterisiert werden. Ihren Ursprung hat die Gattung in der Antike mit dem Satyri‐ con des Petronius oder dem Goldenen Esel des Apuleius. Im späten Mit‐ telalter ist die erste italienischsprachige Novellensammlung verzeich‐ 156 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="157"?> Novellino Abb. 8.3 Giovanni Boccaccio: Deca‐ meron (Illustration aus ei‐ ner Ausgabe von 1492) Abb. 8.2 Gustave Doré: Orlando furioso (Stich von 1879) net: der von einem anonymen toskanischen Autor verfasste Novellino (auch: Le cento novelle antiche) aus der zweiten Hälfte des 13. Jh., in der antike, mittelalterliche und biblische Themen behandelt werden. Häu‐ fig haben die einzelnen Novellen auch einen moralischen bzw. erzie‐ herischen Gehalt. Die bedeutendste italienische Novellensammlung ist Boccaccios Decameron. ‚Decameron‘ bedeutet so viel wie ‚Zehntage‐ werk‘, in Anlehnung an das Werk des Kirchenvaters Ambrosius, das Hexameron, ein sechsteiliges Gedicht über die Erschaffung der Welt in sechs Tagen. Das Werk Boccaccios beginnt mit einer Rahmenerzäh‐ lung, die den zeitlichen Kontext des Geschehens vor der großen Pest‐ epidemie von 1348 in Florenz situiert. Sieben junge Frauen haben in der Kirche Santa Maria Novella Zuflucht gefunden. Die Älteste empfiehlt, vor der Pest auf das Land zu fliehen und sich dort zu vergnügen, ohne jedoch das Maß der Vernunft zu überschreiten. Es treten daraufhin drei junge Männer hinzu, die sich dem Unternehmen anschließen möchten. Schauplatz des Geschichtenerzählens ist dann ein auf einem grünen Hügel vor der Stadt gelegenes Haus, dessen Idylle paradiesartig anmu‐ tet. Eingangs erklärt Boccaccio in einem relativ kurzen Vorwort, das vor allem an seine Leserinnen gerichtet ist, den Zweck seines Werkes ganz nach Horaz: aut prodesse volunt aut delectare poetae - Dichter wollen ebenso nützen wie erfreuen. Die zehn jungen Menschen werden fortan an zehn Tagen jeder je eine Novelle, also insgesamt hundert, vortra‐ gen. Pampinea als Königin des ersten Tages erklärt das Vorgehen: Je‐ der Erzähltag steht unter der Leitung einer Königin bzw. eines Königs, 8.1 Gattung Epik 157 <?page no="158"?> Überblick: Roman Schäferroman Briefroman Abb. 8.4 Ugo Foscolo (1778-1827) Historischer Roman Veristischer Roman Feuilletonroman Unterhaltungsroman Liebesroman Kriminalroman (giallo) die bzw. der das Thema des Tages bestimmt und die einzelnen Erzähler‐ Innen aufruft. Thematisch behandeln die Novellen menschliche Stär‐ ken und Schwächen, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Die ProtagonistInnen stammen aus den unterschiedlichsten gesellschaftli‐ chen Schichten, auch dem Klerus, der teilweise in besonders kritischem Licht erscheint. Insgesamt bietet das Decameron ein umfassendes Bild der Gesellschaft seiner Zeit. Die Gattung der Novelle ist auch im 19. Jh. bei den Veristen oder im 20. Jh. bei Autoren wie Pirandello, Moravia, Morante, Tabucchi oder Calvino von Bedeutung. ▶ Der Roman (romanzo) ist die wichtigste neuzeitliche epische Form, hat aber in Italien eine kürzere Tradition als zum Beispiel in Frankreich. Nach dem Vorbild von Boccaccios Ninfale d’Ameto erscheint 1504 die Arcadia von Iacopo Sannazaro, ein Schäferroman (romanzo pastorale) in Prosa und Versen, in der die bukolische Landschaft Arkadiens zur Kon‐ trastfolie der höfischen und städtischen Realität wurde. Die folgenden Jahrhunderte haben in Italien keine bedeutenden Romane hervorge‐ bracht, erst zu Beginn des 19. Jh. kommt es zum Durchbruch dieser Gattung. Die Ultime Lettere di Iacopo Ortis (1800) von Ugo Foscolo ste‐ hen in der Tradition des Briefromans (romanzo epistolare). Dieser ver‐ mittelt die Illusion von Authentizität der Gefühle und des Geschehens durch Briefe fiktiver Figuren, welche wiederum unterschiedliche Per‐ spektiven und Stile wiedergeben können. Im Laufe des 19. Jh. setzt sich dann vor dem Hintergrund sich wandelnder Rezeptions- und Produk‐ tionsbedingungen der Roman als dominierende Gattung durch. Zu‐ nächst zeugt hiervon der Erfolg des historischen Romans (romanzo sto‐ rico) in der Nachfolge Walter Scotts, der Fiktion und wissenschaftliche Geschichtsschreibung miteinander zu verbinden sucht, wie I promessi sposi von Alessandro Manzoni (1826/ 1840, siehe Einheit 9.1). Um die Abbildung gesellschaftlicher und psychischer Wirklichkeit geht es im veristischen Roman (romanzo verista; z. B. Luigi Capuana: Giacinta, 1879; Giovanni Verga: I Malavoglia, 1881), der in der Tradition des französi‐ schen Realismus sowie des Naturalismus steht. Verbreitet wird der Ro‐ man nun zunehmend als Fortsetzungsroman in Zeitschriften (Feuille‐ tonroman, it. Romanzo d’appendice), die sich vorwiegend an ein breites Publikum richten und so die Untergattung des Unterhaltungsromans mitbegründen, der sich häufig in seiner Form als Liebesroman (romanzo rosa) an ein weibliches Publikum richtet (Romane der Neera oder Lia‐ las). Zum Unterhaltungsroman zählt auch, wenigstens teilweise, der Kriminalroman, auf Italienisch giallo, der nach der in den 1930er Jahren bei Mondadori herausgegebenen Reihe von Kriminalliteratur in gelbem Einband benannt wurde (Augusto de Angelis, 1888-1944). Der Krimi‐ nalroman schildert in der Regel ein Verbrechen und dessen Auflösung. 158 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="159"?> Kombinatorischer Roman Neorealistischer Roman Autobiographie Biographie Märchen Fiaba Dialogtraktat Prosa als Kennzeichen von Epik? In der zweiten Hälfte des 20. Jh. tritt der Kriminalroman häufig in der kombinatorischen Variante auf, d.-h. als metaliterarisches Spiel mit der Gattung wie bei Umberto Eco (Il nome della rosa, 1980) oder aber als engagierte Literatur, die gesellschaftliche Missstände aufzeigt, wie bei Leonardo Sciascia (Il giorno della civetta, 1961). Mit den Erfahrungen des II. Weltkriegs setzt sich unter anderem der neorealistische Roman aus‐ einander, dessen unterschiedliche Ausformungen im Thema der resis‐ tenza und dem damit einhergehenden Bewusstsein der Autoren ihren gemeinsamen Bezugspunkt haben (Elio Vittorini: Uomini e no, 1945; siehe hierzu auch Einheit 9.2). Abgesehen von zahlreichen weiteren Untergattungen (Detektivroman, Schauerroman, Science-Fiction-Roman) bestanden und bestehen viele der genannten Romantypen mit ihren Formen und Themen bis heute weiter - ob Utopie, Fantastik, Realismus oder historischer Roman - und tragen dazu bei, den Roman zur reichsten epischen Form zu machen. ▶ Eine seit dem 16. Jh. produktive Gattung ist die Autobiographie, also der Bericht eines Autors über sein Leben und die Herausbildung seiner Per‐ sönlichkeit, die normalerweise referenziellen Anspruch erhebt, also, wenngleich in der Gestaltung dem Roman durchaus ähnlich, nicht-fikti‐ onal ist (z. B. Benvenuto Cellini: Vita, 1558-1566; Carlo Gozzi: Memorie inutili, 1780-98). Ähnlich, aber als Gattung weniger bedeutsam ist die literarische Biographie (z. B. Boccaccio: Trattatello in laude di Dante, 1351/ 60/ 72). ▶ Der Novelle nicht unähnlich, aber meist schlichter gebaut und mit fan‐ tastischen Elementen durchzogen ist die ursprünglich volkstümliche und mündlich überlieferte Gattung Märchen (fiaba; Giambattista Basile: Lo cunto de li cunti, 1634-1636; Italo Calvino: Fiabe italiane, 1956). ▶ Der Dialogtraktat (diàlogo) ist ein fiktives Gespräch zwischen zwei oder mehreren Personen zu einem moralischen, philosophischen, politischen o. ä. Problem mit dem Ziel, Reflexion im Fortschritt und Nachvollzug des Lesers zu erreichen. Diese Form der apologetischen Literatur verbindet fiktive Mündlichkeit mit Schriftlichkeit und hat seinen Höhepunkt in der Renaissance (Pietro Bembo: Gli Asolani, 1505; Prose della volgar lingua, 1525). Worin besteht angesichts einer solchen (keineswegs erschöpfenden) Aufzäh‐ lung epischer Formen das Merkmal, das sie von anderen Gattungen unter‐ scheidet? Die besondere Länge des Textes, die sich angesichts des Epos sowie der sprichwörtlich gewordenen „epischen Breite“ als Kriterium aufdrängt, ist kein Kennzeichen der Novelle und anderer ‚kleiner‘ Formen. Da wir in Einheit 4 die Lyrik in Ermangelung eines besseren Kriteriums über Vers und Strophe identifizierten, kommt für die Epik Prosa in Betracht. Tatsächlich wird ‚Prosa‘ nicht selten als Gattungsbezeichnung gebraucht, obwohl der Begriff lediglich 8.1 Gattung Epik 159 <?page no="160"?> Prosimetrum Text 8.1 Luigi Capuana: Giacinta (1879) Abb. 8.5 Luigi Capuana (1839- 1915) nicht-gebundene Sprache bezeichnet. Selbst wenn wir ignorieren, dass eben noch mit dem Epos eine Verstextsorte als Urform der Epik vorgestellt wurde, und wir im Trecento bei Dante das Prosimetrum, also eine Mischform aus Lyrik und Erläuterungen in Prosa, in der Gedichtsammlung Vita Nova finden, bleibt darüber hinaus das Problem, dass die Mehrheit der Dramen seit dem 18. Jh. auch in Prosa verfasst sind. Tatsächlich erweist sich ein Vergleich von Epik und Drama als nicht unproblematisch. Schauen wir uns hierfür den Beginn von Luigi Capuanas veristischem Roman Giacinta (1879) an: 1 - - - 5 - - - - 10 15 - - - - 20 - - - - 25 - - - - 30 - Capitano, - disse Giacinta. E, presogli il braccio, lo tirava verso la vetrata della terrazza con vivacità fanciullesca 1 . - È vero che il tenente Brodini ha un’amante vecchia e brutta che talvolta lo picchia? Il capitano Randelli cessò di sorridere e si fece serio serio. - Perdoni, signoria: ma … - Al solito, gli scrupoli! - esclamò Giacinta con una piccola mossa di dispetto. - È una scommessa 2 ; me lo dica, mi faccia questo piacere. Dopo, se vorrà, potrà sgridarmi. - Io non la sgrido; non ne ho il diritto né l’autorità, - rispose il capitano. - Però ho tanta stima di lei e le voglio … - Tanto bene! - lo interruppe Giacinta, ridendo. - Sì, tanto bene, che non posso vederle commettere, senza dispiacere, une leggerezza da nulla. - Ho fatto male? - Almeno qui, dinanzi a questa gente che suol dare une maligna interpretazione anche alle cose più innocenti. - Com’è severo! Oh! Oh! - Non dica così. Spesso spesso le apparenze valgono più della realtà, e il mondo … - È vero o no che il tenente Brodini …? - ripetè Giacinta spazientita. Il Ranzelli fece girare sulle rotelle la poltrona vicina, prese una seggiola e, appoggiate le mani sulla spalliera, chinandosi un po’ in avanti, soggiunse: - Segga, dieci minuti. Vedendola sdraiata lì, con la testa buttata indietro e la faccia rivolta verso di lui, stette a osservarla, in piedi, dondolando la seggiola. Quella personcina, minutina, rannicchiata tra le soffice imbottitura della poltrona 3 e così ben modellata dalle pieghe dell’abito, gli richiamava alla mente l’immagine d’un gioiello tra la bambagia carnicina 4 e il raso azzurro dell’astuccio 5 ; mentre Giacinta, vistagli apparire negli occhi la forte commozione che gli agitava il cuore in quel momento, sorrideva a fior di labbra. Il capitano sedutosele di fronte, molto accosto, cominciò a parlare sotto voce; e stando ad ascoltarlo attentamente, colle sopracciglia un po’ corrugate 6 , ella intanto girava gli occhi attorno, da un gruppo all’altro del salotto. (Capuana: 1972, 41 f.) 160 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="161"?> Kommunikationstheoreti‐ sche Aspekte Szenische Darstellung Zeigen vs. Erzählen Text 8.2 Aristoteles: Poetik 1 fanciullesco jungenhaft - 2 scommessa Wette - 3 rannicchiata tra le soffice imbottitura della poltrona ins weiche Polster des Sessels gekauert - 4 la bambagia carnicina die fleischfarbene Watte - 5 il raso azzurro dell’astuccio der azurblaue Atlasstoff des Futterals - 6 colle sopracciglia un po’ corrugate mit leichtem Stirnrunzeln Wir wollen uns diesem Romanauftakt nun unter kommunikationstheoreti‐ schen Aspekten zuwenden. Dem Drama ähnlich beginnt der Roman Giacinta mit einem längeren Part von Figurenrede (vgl. Einheit 6.5). Wird diese im Vergleich zum Drama zwar meistens von Redebegleitsätzen (sog. Inquit-For‐ meln) flankiert („[…] disse Giacinta“), erscheint der Dialog zwischen Giacinta und dem Capitano Ranzelli doch in der Folge zunehmend verwirrend, da ge‐ gen Ende („Sì, tanto bene, che non posso vederle commettere […]“) die Rede‐ begleitsätze wegfallen und wir, als Leserschaft, Schwierigkeiten haben nach‐ zuvollziehen, wer eigentlich spricht. Genauso problematisch erscheint es zu erfassen, worum es hier überhaupt geht. Fielen die Redebegleitsätze und die wenigen beschreibenden Partien des Textes weg („E, presogli il braccio, lo tirava …“), würde dies für das Textverständnis kaum einen Unterschied erge‐ ben. Der Roman beginnt also mit einer eigentlich für das Drama typischen szenischen Darstellung. Im Gegensatz zum Drama ist eine körperliche Prä‐ senz von Akteuren in einer Aufführung hier nicht intendiert, so dass der Text notwendigerweise in der Folge auf eine traditionellere Form des Erzählens zurückgreift, um die Lesenden in die Ausgangssituation des Textes einzufüh‐ ren („Vedendola sdraiata lì, […]“). Hier sprechen nicht mehr die fiktiven Fi‐ guren, sondern eine für den Leser bzw. die Leserin auf den ersten Blick nicht zu identifizierende Person, die uns das Geschehen aus ihrer spezifischen Sicht erzählt und dabei - das ist für die Verständlichkeit entscheidend - ordnet. Die Abläufe und die Rede der anderen Figuren werden nicht direkt dargestellt, sondern mittelbar durch diese Erzählerfigur berichtet („Il capitano […] co‐ minciò a parlare“). Diesen ersten wichtigen Unterschied hat die Erzählfor‐ schung in verschiedenen gleichbedeutenden Begriffsoppositionen termino‐ logisch erfasst: „Zeigen“ vs. „Erzählen“ bzw. „Showing“ vs. „Telling“, „Mimesis“ (im Sinne von Abbildung, Adj. mimetisch) vs. „Diegese“ (Bericht, Adj. diegetisch) - oder gemäß der in Text 2.4 wiedergegebenen Formulierung Goethes „persönlich handelnde“ vs. „klar erzählende“ Form. Den gattungs‐ konstitutiven Unterschied in der Vermittlung von Handlung hat bereits Aris‐ toteles in seiner Poetik erkannt: 1 - - - 5 Nun zum dritten Unterscheidungsmerkmal dieser Künste: zur Art und Weise, in der man alle Gegenstände nachahmen kann. Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten - in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht - oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zulassen. (Aristoteles: 1994, 9) 8.1 Gattung Epik 161 <?page no="162"?> Erzählinstanz Definition Mittelbarkeit als Gattungs‐ merkmal Geschichte vs. Erzählung Narratologie Der letztgenannte Fall ist freilich das Drama, der erste die Epik, wobei Aris‐ toteles zwischen den Möglichkeiten unterscheidet, entweder als Dichter di‐ rekt oder „in der Rolle eines anderen“ zu sprechen. Man erkennt bereits an der etwas unbeholfenen Formulierung, dass dem antiken Theoretiker hier eine wichtige, heute geläufige Kategorie fehlt: der Erzähler. Der Erzähler (narratore) ist die innerfiktionale Instanz, die das Gesche‐ hen in einem epischen Text berichtend wiedergibt. Sie kann als Figur komplett unkonturiert, abstrakt sein und ist jedoch auch in diesen Fällen vom realen Autor/ der realen Autorin zu unterscheiden, da der Bericht eines epischen Texts nicht mit den Meinungen, dem Wissen oder dem Blickwinkel des seiner Urheberin bzw. seines Urhebers übereinstimmen muss, der Erzähler außerdem innerhalb der fiktiven Welt auftreten, seine Funktion an eine andere Figur abgeben kann usw. Es zeichnet sich jetzt das entscheidende Gattungsmerkmal der Epik ab: Das Geschehen eines epischen Textes wird durch eine Erzählinstanz vermittelt, epische Texte sind durch Mittelbarkeit bestimmt. Wenn eine Handlung, wenn Figuren nicht unmittelbar gezeigt werden, dann besteht ein gewisser Spiel‐ raum in der Art der Vermittlung. Damit wird die Notwendigkeit deutlich, bei Erzähltexten zwischen der ▶ Geschichte (fabula): dem ‚Erzählten‘, d. h. den handlungsrelevanten Teilen der fiktiven Welt in ihrem chronologischen, örtlichen und kausalen Zu‐ sammenhang, und der ▶ Erzählung (discorso narrativo/ intreccio): dem ‚Erzählen‘, d. h. der spezifi‐ schen sprachlichen Präsentation des Geschehens durch die jeweilige(n) Erzählerfigur(en) zu unterscheiden. Die Untersuchung der Art und Weise der erzählerischen Darbietung, der zeitlichen Anordnung von Ereignissen bzw. des Verhältnisses zwischen Geschichte und Erzählung ist eine zentrale Aufgabe der Erzählthe‐ orie oder Narratologie (narratologia). Ein besonders flexibler und nicht nur im französischen Sprachraum populärer Ansatz ist der von Gérard Genette (1983), den die nun folgenden Erläuterungen in den wichtigsten Zügen wie‐ dergeben. 162 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="163"?> Erzähler als ‚Ursprung‘ der Erzählung Stimme: Wer spricht? Verhältnis des Erzählers zur erzählten Handlung Abb. 8.6 Heterodiegetischer Erzäh‐ ler Abb. 8.7 Homodiegetischer Erzähler (Typ 1 und 2) 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs (discorso narrativo) 8.2.1 Stimme (la voce narrante) Es liegt nahe, für eine Beschreibung der spezifischen Präsentation der Ge‐ schichte durch einen Text zunächst bei der Erzählinstanz anzusetzen, die wir ja eben als das wichtigste Gattungsmerkmal epischer Texte herausgestellt haben. Manche Texte führen eine Erzählerfigur derart ein, dass sie für den Leser die Konturen einer Person bekommt, etwa weil sie über sich selbst spricht. In anderen Texten erfahren wir nichts über den Erzähler. Dennoch ist klar, dass es selbst in diesen Fällen eine Erzählinstanz gibt, denn die sprachlichen Äußerungen, die den epischen Text bilden, haben notwendiger‐ weise einen Ursprung - schließlich gibt es, von Wahnzuständen einmal ab‐ gesehen, keine Rede ohne jemanden, der redet, und das gilt auch für solche Texte. Eine erste narratologische Frage gilt also diesem Ursprung: Wer spricht? Wer sagt ‚Ich‘ oder könnte ‚Ich‘ sagen? Abgesehen von möglichen Details zur Figur des Erzählers, die jeder Text beliebig setzen oder offen lassen kann, hat die Erzählforschung eine erste abstrakte Kategorisierung von Erzählertypen mit entsprechender Termino‐ logie erarbeitet, die das Verhältnis des Erzählers zur erzählten Handlung er‐ fasst. Es geht dabei zunächst um die Frage, wie sehr er an den Geschehnissen beteiligt ist. Folgende Möglichkeiten sind hier zu differenzieren: ▶ Heterodiegetischer Erzähler (il narratore eterodiegetico): Der Erzähler ist nicht Teil der erzählten Welt. Das Geschehen wird also in der dritten Per‐ son geschildert, was allerdings nicht ausschließt, dass der Erzähler als ‚Ich‘ hervortritt, etwa um seine Meinung zum Verhalten der fiktiven Fi‐ guren kundzutun - nur gehört dieses ‚Ich‘ nicht zur selben Welt wie die anderen Figuren. ▶ Homodiegetischer Erzähler (il narratore omodiegetico): Der Erzähler ist Teil der erzählten Welt. Hier sind verschiedene Abstufungen denkbar: Der Erzähler kann unbeteiligter Beobachter des Geschehens sein, er kann daran als Nebenfigur beteiligt sein oder die Hauptfigur der Geschichte darstellen. Diese Unterscheidung ist keine absolute; ein Erzähler kann beispielsweise am Beginn seiner Schilderung unbeteiligter Beobachter sein, im weiteren Verlauf die Rolle einer Nebenfigur annehmen und am Ende zur Hauptfigur werden. Für letztgenannten Fall existiert aufgrund seiner besonderen Relevanz ein eigener Terminus, nämlich 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs (discorso narrativo) 163 <?page no="164"?> Abb. 8.8 Autodiegetischer Erzähler Extradiegetische Ebene Intradiegetische Ebene ▶ Autodiegetischer Erzähler (il narratore autodiegetico): Der Erzähler ist Protagonist (Hauptfigur). Dies ist nicht nur in vielen Romanen, sondern typischerweise in autobiographischen Texten der Fall. Bei letzteren be‐ steht nicht nur Identität zwischen Hauptfigur und Erzähler, sondern auch mit dem Autor bzw. der Autorin; wird das durch den Namen oder/ und andere überprüfbare Daten eindeutig im Text bezeugt, spricht man mit dem Begriff des französischen Literaturwissenschaftlers Philippe Lejeune von einem autobiographischen Pakt (patto autobiografico). Jeder Erzähler wendet sich an einen Erzähladressaten - das ist in der Regel der implizite Leser (lettore implìcito), also die vom Text vorgesehene Stelle, die der jeweilige reale Leser im Leseakt einnimmt und individuell ausfüllt (in einzelnen Fällen kann dies auch eine fiktive Figur sein). Dieser in jedem Er‐ zähltext notwendigerweise stattfindende Vorgang markiert die erste Ebene der erzählerischen Kommunikation, die wir extradiegetische Ebene (livello ex‐ tradiegètico) nennen („extra-“ deshalb, weil der implizite Leser und die Kom‐ munikation mit ihm normalerweise nicht Teil der erzählten Welt sind, also außerhalb der Diegese stehen). Diese Ebene kann auch als Rahmenerzählung (narrazione-cornice) realisiert sein, wie dies etwa bei Boccaccios Decameron (siehe Abschnitt 8.1, Summarischer Überblick Novelle) der Fall ist. Die erste Handlungs- oder Geschichtsebene (siehe Abschnitt 8.3), die von der Erzählerrede auf der extradiegetischen Ebene konstituiert wird, nennen wir Ebene der Diegese oder intradiegetische Ebene (it. intradiegètico). Auf die‐ ser Ebene spielt sich in der Regel die ‚eigentliche‘ Handlung der Erzählung ab. Abb. 8.9 Narrative Ebenen Auf ihr gibt es auch unter Umständen den Erzähler der extradiegetischen Ebene nochmals, nämlich im genannten Falle eines homo- oder autodiegeti‐ schen Erzählers; es ist dann meist notwendig, seine intradiegetische Reali‐ sierung von der extradiegetischen zu unterscheiden, denn selbst wenn es sich 164 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="165"?> Erzählendes vs. erzähltes Ich Hypo-/ metadiegetische Ebene Kategoriale Grenze zwi‐ schen Ebenen Metalepse Verfremdungseffekt um ‚dasselbe‘ Individuum handelt, so sind doch oft sein Status, sein Kennt‐ nishorizont etc. jeweils sehr unterschiedlich: Wenn etwa in einem autobio‐ graphischen Text ein hochbetagter Autor seine Kindheit erzählt, so kann die Person, die er mit „Ich“ bezeichnet, in jedem Einzelfall entweder das erzäh‐ lende Ich (it. io narrante, also der Greis mit all seinem Wissen und seiner Er‐ fahrung) oder aber das erzählte Ich (it. io narrato, also das Kind von damals, das sein Leben noch vor sich hat) sein. Zusätzlich zum extradiegetischen Erzähler gibt es häufig Figuren innerhalb der erzählten Welt, die ihrerseits erzählen, wobei sie sich an andere fiktive Figuren wenden. Dieser Fall einer ‚Erzählung in der Erzählung‘ ist eher die Regel als die Ausnahme. Wir haben dann einen intradiegetischen narrativen Diskurs (oder eine Binnenerzählung, it. narrazione interna oder inserita), des‐ sen Geschichte bzw. fabula dann wiederum eine Ebene tiefer, auf der sog. hypo- oder metadiegetischen Ebene (it. ipo-/ metadiegètico) situiert ist (und auf der dann wieder der intradiegetische Erzähler vorkommen kann, je nachdem, ob er seinerseits hetero-, homo- oder autodiegetisch ist). Ein Beispiel mag diese verwickelten Verhältnisse deutlicher machen: In der Divina commedia gibt es den autodiegetischen Erzähler Dante, dessen erzähltes, in der „Mitte seines Lebens“ stehendes Ich sich eines Tages in der Natur verirrt und dem Dichter Vergil begegnet, der ihm anbietet, es durch das Jenseits zu führen. Auf dieser die intradiegetische Ebene konstituierenden Jenseitsreise begegnen sie wei‐ teren Figuren, beispielsweise den Verdammten des Inferno, von denen wie‐ derum in eingeschobenen, weiteren Erzählungen berichtet wird, wobei deren irdisches sündhaftes Leben sich narrativ auf der hypodiegetischen Ebene ab‐ spielt. Die Verschachtelung von Erzählungen ist theoretisch natürlich beliebig fortsetzbar - es kann also ‚hypo-hypodiegetische‘ Ebenen usw. geben. Normalerweise sind diese Ebenen strikt getrennt: Im Gegensatz zum ex‐ tradiegetischen Erzähler ‚wissen‘ die intradiegetischen Erzähler wie alle anderen Figuren nicht, dass sie Teil einer (gedruckten) Geschichte sind, die ein anderer Erzähler erzählt und ein Leser liest. Dennoch bieten fiktionale Texte die Möglichkeit, diese kategoriale Grenze zu überschreiten und da‐ mit einen kalkulierten Bruch der Ebenen zu erzeugen, der häufig auf eine Zerstörung der Illusion oder spielerisch-parodistische Effekte abzielt. Eine solche Metalepse (metalèssi, f.) liegt beispielsweise vor, wenn die Ebenen zwischen Autor, Leser und Erzähler aufgebrochen werden, wie z. B. in Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979). Verfahren wie diese sind im Grunde nicht auf epische Texte beschränkt, sondern können auch und - durch die physische Begegnung von Publikum und Figuren - mit besonders starker Wirkung im Theater eingesetzt werden, wie dies Bertolt Brecht getan hat, der den illusionszerstörenden Verfremdungseffekt zum zentralen Bestandteil seines sog. epischen Theaters erhob. Ein italienisches 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs (discorso narrativo) 165 <?page no="166"?> Unzuverlässiges Erzählen Beispiel ist das aus Einheit 7.2 bekannte Drama Sei personaggi in cerca d’au‐ tore (1921) von Luigi Pirandello, in dem der Leser zum Zeugen einer Thea‐ terprobe wird. Die LeserInnen eines literarischen Textes sind sich dabei in der Regel über dessen Fiktionalität bewusst (vgl. Einheit 1.1) und beurteilen daher die Diegese (Erzählung im Sinne der fiktionalen Handlungswelt und der in ihr vorkommenden Figuren) nicht mit einem an der Realität bemessenen Wahrheitsbegriff; in der Folge erscheint ihnen die erzählte Welt zumeist in sich konsistent und gehorcht einer innerfiktionalen Logik und Überprüf‐ barkeit. So können selbst Science-Fiction- oder Fantasy-Romane trotz aller Widersprüche zu unserer Erfahrungswirklichkeit in der Imagination nach‐ vollzogen werden und schlüssig wirken. In manchen Fällen führen indes Brüche in der Erzählung zu einem Vorbehalt auf Seiten der Rezipienten und erwecken im Sinne des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Wayne C. Booth den Eindruck eines ‚unzuverlässigen Erzählers‘ (engl. unreliable narrator, ital. narratore inaffidabile/ inattendibile), wenn die Erzählinstanz sich offensichtlich in einem Widerspruch zu den intradiegetischen Sachverhalten befindet. Dies ist bspw. der Fall, wenn eine Figur als intradiegetischer Erzähler auftritt, die von anderen Figuren oder vom extradiegetischen Erzähler in ihren Aussagen in Frage gestellt oder widerlegt wird. Als Beispiel kann Italo Svevos La coscienza di Zeno (1923) herangezogen werden. Im Vorwort warnt der Psychoanalytiker, Dottor S., vor der mangelnden Glaubwürdigkeit der in Folgenden wiedergegebenen Tagebuchaufzeichnungen seines ehemaligen Patienten Zeno Cosini: „Se sapesse quante sorprese potrebbero risultargli dal commento delle tante verità e bugie ch’egli ha qui accumulate! “ (Svevo: 1982, 23) Die Lesenden werden somit Zenos Selbstbetrachtungen skeptisch betrachten müssen und der Wahrheitsgehalt seiner autobiographischen Er‐ zählung steht stets in Frage. Avantgardistische Texte können mitunter im Zeichen einer postmodernen Ästhetik sogar gezielt die handlungslogischen, zeitlichen oder räumlichen Bezüge im Unklaren lassen und die Leserschaft mit einer unaufhebbaren Deutungs-Unsicherheit der Erzählung konfrontieren. 8.2.2 Zeit Die Erzählerinstanz hat normalerweise Freiheit bei der Gestaltung der Ge‐ schichte, kann diese also beispielsweise bei ihrer Präsentation ordnen, Teile weglassen oder resümieren. Sehen wir uns nun den Beginn der Erzählung Tempo di pace (1947) von Elsa Morante an. 166 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="167"?> Ordnung Rückblende Formen achronologischen Erzählens Erzählte Zeit vs. Erzählzeit Text 8.3 Elsa Morante: Tempo di pace (1947) 1 - - - 5 - - - - 10 I giorni si succedono, e la mia vita procede, regolare, onorata, comoda, in questa città di provincia dove sono nato. […] Il mio male mi fu rivelato una notte, pochi anni fa, nel pieno della guerra. Da allora, s’io ripenso alla mia vita, la vedo separata in due zone distinte. La prima, anteriore a quella notte, è una specie di limbo 1 nel quale io mi aggiro incosciente, frivolo, e presuntuoso, tanto che non posso, oggi, non vergognarmene: seconda nella quale mi muovo tuttora, non chiude in sé altro che finzione, oscuro disordine, e vigliaccheria 2 . L’una di notte, ricordo era già suonato, ma io non potevo ancora dormire. M’inquietavano angoscia, paure, e domande senza risposta; ma, non senza pena, mi sforzavo di rimanere calmo e immobile, per non turbare il sonno di mia moglie, che dormiva al mio fianco. Ero sposato da pochi mesi; e, soprattutto negli ultimi tempi, mia moglie, di cui fin dall’infanzia conoscevo l’indole 3 sensibile, mi appariva tanto mutata, da farmi temere per la sua salute. (Morante: 2002, 208 f.) - 1 limbo Limbus, Vorhölle; hier: Vorstadium - 2 vigliaccheria Feigheit, Gemeinheit - 3 l’indole Wesensart Die Erzählung, die zu Beginn auch auf thematischer Ebene das Phänomen ‚Zeit‘ zum Gegenstand hat, beginnt in der Gegenwart des Erzählers, wel‐ cher dann seine Erinnerungen an die Nacht wiedergibt, seit der sich sein Leben in zwei Teile gliedern lässt: einem Vorher und einem Nachher. Die folgende Episode wird nun in Form einer ‚Rückblende‘, wie Sie sie vermut‐ lich zumindest vom Film her bereits kennen, erzählt, wobei es sich quasi um eine Verschachtelung von Rückblenden handelt, die es dem Erzähler erlauben, sich immer weiter in die Vergangenheit zurückzubegeben. Für diese Ordnung der Zeitebenen in einem Erzähltext haben sich die folgen‐ den Termini eingebürgert: ▶ Anachronie (anacronia): Oberbegriff für den Bruch der chronologischen (also den realen Abläufen innerhalb der Geschichte entsprechenden) Ord‐ nung. Man unterscheidet weiter zwischen ▷ Analepse (analessi, f.): ‚Rückblende‘, nachträgliche Darstellung des Früheren (also bspw. B-C-A-D), und ▷ Prolepse (prolessi, f.): Vorschau, erzählerische Vorwegnahme des Späteren (also bspw. A-B-D-C). Wenn wir nun den Beginn des Romans von Capuana (Text 8.1) mit dem von Morante vergleichen (Text 8.3), so stellen wir fest, dass sich im erstgenannten Text, der einer szenischen Darstellung folgt, die dargestellte Zeit mit der Zeit der Darstellung deckt, während der Rückblick in der Erzählung Morantes die Ereignisse zusammenfasst. Der Zeit, welche die Ereignisse der erzählten Welt jeweils für ihren Ablauf benötigen, der sog. erzählten Zeit (il tempo della sto‐ 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs (discorso narrativo) 167 <?page no="168"?> Verhältnis der Zeiten Abb. 8.10 Möglichkeiten des Zeitver‐ hältnisses Aufgabe 8.1 Reduktion der Mittelbarkeit Dramatischer Modus Distanz als Grad der Mittel‐ barkeit ria), entsprechen unterschiedlich große Zeiträume, die der Vorgang des Er‐ zählens bzw. Lesens in Anspruch nimmt, die sog. Erzählzeit (il tempo del rac‐ conto). Geht man davon aus, dass dramatische Darstellungen grundsätzlich die Echtzeit abbilden und damit die Erzählzeit gleich der erzählten Zeit ist (erste Hälfte von Text 8.1), dann erweist sich Text 8.3 als geraffte erzählerische Darstellung, da die Erzählzeit kürzer als die erzählte Zeit ist. Für das Verhältnis von Erzählzeit (die man angesichts unterschiedlicher individueller Lesegeschwindigkeiten objektiv nach dem Seitenbzw. Wort‐ umfang eines discorso narrativo bemisst) und erzählter Zeit bestehen fünf ter‐ minologisch unterschiedene Möglichkeiten: ▶ Zeitdeckendes Erzählen (narrazione in tempo reale) liegt vor, wenn, wie etwa in der dramatisch-dialogischen Darstellung, Erzählzeit und erzählte Zeit übereinstimmen. ▶ Ist die Erzählzeit, wie in Text 8.3, kürzer als in einer zeitdeckenden Erzählung, so spricht man von einer Raffung (accelerazione). ▶ Im Extremfall wird die Erzählzeit so verkürzt, dass Vorgänge der erzählten Welt nicht mehr wiedergegeben, sondern übersprungen werden. Man spricht hier von einer Ellipse (ellissi, f.). ▶ Ist die Erzählzeit länger als in einer zeitdeckenden Erzählung, liegt eine narrative Dehnung (rallentamento) vor. ▶ Der Extremfall ist hier eine Erzählerrede, die keine Vorgänge der erzähl‐ ten Welt mehr beschreibt, d. h. der Ablauf auf der Ebene des Geschehens oder der fabula steht gleichsam still. Dieser Fall heißt daher Pause (pausa). ? Wie könnten Ihrer Meinung nach konkret erzählerische Mittel ausse‐ hen, die zu einer Raffung, einer Dehnung und einer Pause führen? 8.2.3 Distanz Oben wurde bereits die Möglichkeit erwähnt, dass der Erzähler bis zur schein‐ baren Abwesenheit hinter die erzählte Geschichte zurücktritt: In der Tat kann eine längere Passage eines Erzähltextes das Gespräch zweier oder mehrerer Figuren in direkter Rede wiedergeben, ohne dass irgendeine erkennbare In‐ tervention seitens eines Erzählers erfolgt. Die für epische Texte charakteris‐ tische Mittelbarkeit ist in solchen Fällen aufgehoben, der Text geht zum dra‐ matischen Modus über, stellt wie in einem Theaterstück dar, statt im eigentlichen Sinne zu berichten (Text 8.1). Es sind also verschiedene Grade von Mittelbarkeit möglich, je nachdem, wie präsent der Erzähler ist und wie stark er die Darstellung kontrolliert, kurz: wie sehr er sich zwischen die er‐ zählte Welt einerseits und die Leserin bzw. den Leser andererseits schiebt. Dieser Grad der Mittelbarkeit heißt Distanz. 168 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="169"?> Verfahren der Distanzie‐ rung Figurenrede Direkte - indirekte - resümierte Rede Text 8.4 Beispiel indirekter Rede aus Tempo di pace Direkte Rede Erlebte Rede Text 8.5 Luigi Capuana: Giacinta (1879) Minimale Distanz liegt also im dramatischen Modus vor. Sie nimmt zu, je mehr der Text die Präsenz des Erzählers markiert. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Erzähler als ‚Ich‘ auftritt, eventuell Einzelheiten zu seiner Per‐ son erkennen lässt oder gar die narrative Situation selbst thematisiert, sei es explizit durch Kommentare zu seiner Erzählerrede, sei es implizit, etwa indem er die Hauptfigur als „unseren Helden“ bezeichnet und so nicht nur auf die Fiktionalität des Erzählten, sondern auch auf die Kommunikation mit dem Leser hinweist. Derart offensichtliche Distanznahme ist freilich, von be‐ stimmten Kontexten wie dem veristischen Roman des 19. Jh. abgesehen, eher selten. Verhältnismäßig leicht zu ermitteln ist die Distanz indes anhand der Figurenrede, für deren erzählerische Präsentation ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten besteht. Die direkte Rede (discorso diretto) ohne Ein‐ leitung entspricht dem dramatischen Modus und stellt die unmittelbarste Form der Redewiedergabe dar. Die Redewiedergabe kann aber auch stärker durch den Erzähler, also mit größerer Distanz, geleistet werden. Die Präsenz des Erzählers wird stärker, wenn die Figurenrede nicht mehr direkt ‚gehört‘, sondern ‚aus zweiter Hand‘ wiedergegeben wird. Dies ist zu‐ nächst der Fall bei Formen der indirekten Redewiedergabe (discorso indi‐ retto), schließlich bei resümierender Präsentation, die den Wortlaut der ur‐ sprünglichen Rede nicht mehr erkennen lässt. So berichtet das Erzähler-Ich aus Morantes Text über das Gespräch mit seiner Ehefrau: E alla mia risposta appassionata, chiudeva gli occhi e coprendosi di pallore mi supplicava di stringerla forte, di baciarla, di farle dimenticare la sua vita. (Morante: 2002, 211) In Text 8.1 dagegen dominiert die direkte Rede, also der unmittelbare drama‐ tische Modus. Wir finden im Roman Capuanas aber auch Formen indirekter Redewiedergabe, zu der neben der klassischen indirekten Rede die sog. erlebte Rede (discorso indiretto libero) zählt, einer Form von Erzählerbericht (oft er‐ kennbar durch 3. Person sowie Vergangenheitstempus), in dem die direkte Rede durch Syntax (z. B. Ausruf oder Frage ohne Redeeinleitung) noch spürbar ist. Sie ist zwar Erzählerrede, aber mit geringerer Distanz als indirekte oder resümierende Rede. So wird die folgende Beschreibung der Abendgesellschaft vom heterodiegetischen Erzähler geführt, die (Gedanken-)Stimme der Prot‐ agonistin ist aber noch spürbar: 1 5 Giacinta aveva risposto chinando lievemente il capo, senza interrompere la sua rassegna 1 . Dal sedile a foggia di un’esse 2 posto nel centro del salotto, la signora Rossi, che ragionava col Merli - parlava sempre lui quel buratto 3 ! - li spiava di sbieco 4 , con la sua aria maligna di magra stecchita 5 , storcendo 6 più del solito gli occhi sul faccione da mula. (Capuana: 1972, 43) 8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs (discorso narrativo) 169 <?page no="170"?> Aufgabe 8.2 Blickwinkel ≠ Sprecherpo‐ sition Wer sieht? Fokalisierung 1 rassegna Aufzählung - 2 a foggia di un’esse in S-Form - 3 buratto hier: Schimpfwort, etwa „Schießbudenfigur“ - 4 di sbieco schräg, von der Seite - 5 stecchito ausgemergelt, dürr - 6 storcere verdrehen Diese unterschiedlichen Verfahren der Redewiedergabe und damit Distanzie‐ rung (direkte Rede - erlebte Rede - indirekte Rede - resümierte Rede) sind freilich nicht nur für Gesprochenes, sondern, wie in diesem Fall, ganz analog auch für Gedanken (also ‚unausgesprochene‘ Rede) möglich. ? Wenden Sie die unterschiedlichen Verfahren der Redewiedergabe, die Sie kennengelernt haben, auf den Dialog Giacintas mit dem Capitano aus Text 8.1 an. 8.2.4 Fokalisierung Mit den Kategorien Stimme und Distanz haben wir uns bislang mit dem Standort des Erzählers und seiner Präsenz in der Erzählung befasst. Im Ge‐ gensatz zur realen Welt ist in der Fiktion damit aber noch nicht alles über den Blickwinkel (il punto di vista) gesagt, aus dem ein Geschehen berichtet wird: Der Einblick in und das Wissen um die Vorgänge in der erzählten Welt sind nicht zwangsläufig identisch mit dem ‚natürlichen‘ Kenntnisstand der erzäh‐ lenden Person. Auch wenn es in der literarischen Praxis oft zutrifft, dass ein außerhalb der erzählten Welt stehender, also heterodiegetischer Erzähler alles weiß, also etwa in die Köpfe der Figuren sehen kann, ist das dennoch nicht zwangsläufig der Fall, ebensowenig wie eine in der ersten Person erzählende Figur der erzählten Welt (homodiegetischer Erzähler) notwendigerweise auf ihren Standpunkt festgelegt ist: Es spricht nichts dagegen, dass sie im Unter‐ schied zu den Möglichkeiten der realen Welt genauen Einblick in das Innen‐ leben der übrigen Figuren hat. Von der Frage, wer spricht, ist also die Frage nach dem Wissenshorizont oder dem Blickwinkel zu unterscheiden: Wer sieht? Um die Spielarten der Fokalisierung (focalizzazione), die als narratologische Kategorie auf diese Frage antwortet, genauer zu umreißen, sehen wir uns noch einmal unsere beiden Textbeispiele an, die sich durch den jeweiligen Einblick, das Wissen des Erzählers voneinander unterscheiden. 170 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="171"?> Abb. 8.11 Fokalisierungswechsel Erzählsituation Erzählprofil Inhaltsanalyse bei epi‐ schen und dramatischen Texten Im Roman Giacinta spricht größtenteils eine nicht näher lokalisierbare Figur, wobei der Blickwinkel sowie die Distanz variieren. Das Geschehen wird zunächst, wie zu Beginn von Text 8.1, gleichsam kameragleich von außen dargestellt. Wir erfahren nur, was die beteiligten Personen auch sehen und hören können, Bewusstseinsvorgänge werden meistens ausgespart. Der Erzähler sagt also weniger, als jede einzelne Figur weiß. Diese erzählerische Einstellung nennt man externe Fokalisierung (focalizzazione esterna). Im weiteren Verlauf der Erzählung erleben wir dann die Beschreibung Giacintas aus der Perspektive des Capitano und in Text 8.5 wird uns die Abendgesellschaft aus dem Blickwinkel Giacintas dargestellt. Das Geschehen wird aus dem Blickwinkel und dem Wissenshorizont - nicht aber mit der Stimme (! ) - einer der Figuren, nämlich wechselnd der beiden Protagonisten geschildert. Dies zeigt sich deutlich daran, dass wir ihre Gedanken erfahren (erlebte Rede). Der Erzähler sagt hier genau so viel, wie eine der Figuren weiß. Diese erzählerische Einstellung nennt man interne Fokalisierung (focalizza‐ zione interna). Ist die interne Fokalisierung bei Morante (Text 8.3) im Bericht des Erzähler-Ichs konsequent durchgehalten, trifft dies bei Capuana nicht immer zu. Manche Erzählpassagen weisen vielmehr auf einen Erzähler hin, der den Überblick hat, der mehr weiß als die Protagonisten, indem er zugleich die Gedanken mehrerer Figuren oder die Zukunft kennt. Er hat keinen Fokus, keine eingegrenzte Wahrnehmung. Man nennt diese Einstellung daher Nullfokalisierung (focalizzazione zero). Die Fokalisierung gibt grosso modo an, welcher Figur das Interesse des Er‐ zählers gilt, und steuert die Wahrnehmung und Bedeutungskonstruktion des Lesers. Anders als bei der Kategorie Stimme ist ein Wechsel der Fokalisierung insbesondere innerhalb längerer Texte durchaus häufig (variable Fokalisie‐ rung). Die Kategorien Stimme, Distanz und Fokalisierung sind die wesentli‐ chen Merkmale narrativer Präsentation im Erzählvorgang, sie bestimmen die sog. Erzählsituation (situazione narrativa), ihre Entwicklung im Laufe eines Textes das sog. Erzählprofil (profilo narrativo). Bestimmte Erzählsituationen können typisch für literarische Epochen und Strömungen werden. Wir wer‐ den dies in Einheit 9 am Beispiel sehen. 8.3 Struktur des Erzählten oder der fabula Auf der Ebene des erzählten Inhalts besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen epischen und dramatischen Texten - das sie unterscheidende Merk‐ mal ist ja, wie wir oben sahen, das der Vermittlung, also die Erzählung. Daher stellt auch die Strukturanalyse der Inhaltsseite epischer Texte ähnliche Fragen und benutzt vergleichbare Verfahren wie die Dramenanalyse. Die hier dar‐ gestellten Ansätze sind also nicht nur für Erzähltexte, sondern auch für Thea‐ terstücke verwendbar und umgekehrt (siehe Einheit 6). Auch hier ist Aufgabe 8.3 Struktur des Erzählten oder der fabula 171 <?page no="172"?> Fiktive Personen Charakterisierung Explizit Implizit Stoffgeschichte ! Hinweis: Gefahr der Psychologisierung fiktiver Figuren Figurenkonstellation einer Strukturanalyse, wie bereits in den Grundüberlegungen in Einheit 4 skizziert wurde, die Teile des Erzählten zu ermitteln und ihre Beziehung zu‐ einander herauszuarbeiten. Dies ermöglicht, von der nacherzählbaren ‚Text‐ oberfläche‘ zu einer Beschreibung der abstrakten Funktionen zu gelangen. Die offensichtlichen und wichtigsten Teile eines Erzähltextes sind die Figu‐ ren/ Personen und die Handlung/ Ereignisse. 8.3.1 Figuren Unter Figuren (personaggi) versteht man die fiktiven Personen, d. h. Menschen oder vermenschlichte Wesen (etwa die Tiere in Fabeln), die in einem Text auftreten und die Handlung tragen. In aller Regel liegt diesen Figuren ein mehr oder weniger kohärentes Muster von Handlungsweisen und Eigen‐ schaften zugrunde, das man in Analogie zu demjenigen realer Menschen ihren Charakter nennen kann. Für eine Figurenanalyse ist eine Charakterisierung ein möglicher erster Schritt. Sie kann sich, besonders häufig etwa im histori‐ schen Roman des 19. Jh., auf explizite Kommentare des Erzählers stützen, der seine Figuren eigens in die Geschichte ‚einführt‘, oder aber den impliziten Weg einer Rekonstruktion aus dem Verhalten einer Figur in der fiktiven Welt gehen. Je nach Fall kommt unter Umständen auch ein Blick auf die Stoffge‐ schichte (vgl. Einheit 2.5) in Betracht, wenn es sich nämlich um eine Figur handelt, die nicht nur im vorliegenden Text entwickelt wird, sondern eine literarhistorische Vergangenheit hat, wie z. B. der Arlecchino bei Goldoni. Insbesondere solche über einen einzelnen Text hinausgehenden Figuren scheinen ein Eigenleben zu entwickeln und machen einen Hinweis vonnöten, der bei der Charakterisierung fiktiver Figuren grundsätzlich beachtet werden sollte: ▶ Literarische Figuren sind nicht Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Zeichensysteme innerhalb eines Textes und auf diesen beschränkt. Die Konstruktion eines Charakters, einer ‚Psyche‘ wird, mit einer gewissen Steuerung durch den Text, vom Leser geleistet, in einer Weise, die im Idealfall wissenschaftlich zu beschreiben ist. Eine Charakteranalyse über‐ schreitet aber die Grenze zu unzulässiger Spekulation, wenn Aussagen über die ‚Psyche‘ ohne Textgrundlage oder ‚nach‘ dem Text (z. B. zukünf‐ tiges Weiterleben) getroffen werden, denn es gibt - im Falle fiktiver Fi‐ guren - nur den Text. Für ein Verständnis der Struktur der erzählten Welt ist es zentral zu wissen, welche Funktion und ggf. symbolische Bedeutung eine Figur im System der Figuren hat. Hierbei spielt u. U. die Charakterisierung eine wichtige Rolle, weil sie die Handlungsmöglichkeiten und -motivationen vorgibt, es geht hier aber um eine abstraktere und relationale Beschreibung einer Figur. Der Weg 172 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="173"?> Leitfragen für die Erstel‐ lung einer graphischen Per‐ sonenkonstellation Greimas’ Aktantenschema Motiv als ‚Mini-Ereignis‘ dorthin führt normalerweise über die Personenkonstellation (il sistema dei personaggi), einer (beispielsweise graphischen) Übersicht über die Figuren und ihre Konflikte und Allianzen, bei der die folgenden Fragen als Leitfaden dienen können: ▶ Welche Figuren gibt es im Text? ▶ Auf welchen Ebenen (emotional, rechtlich, wirtschaftlich …) stehen sie in Beziehung zueinander? (Hier werden bei komplexen Geschichten ggf. mehrere Schemata vonnöten sein.) ▶ Sind sie eigenständig oder treten sie nur mit anderen Figuren auf ? ▶ Wo bestehen - auf den verschiedenen Interaktionsebenen - Oppositionen zwischen den Figuren? ▶ Beruhen die jeweiligen Beziehungen auf Gegenseitigkeit oder bestehen sie nur in einer Richtung? ▶ Welchen Wert hat eine Figur für die andere? ▶ Welche anderen beeinflusst jede Figur im Lauf der Handlung? Eine Übersicht über die Personenkonstellation kann den Platz einer Figur im System und damit ihre Funktion für das Geschehen verdeutlichen. Diese und die symbolische Bedeutung sind je nach Text und erzählter Welt verschieden; es gibt aber Ansätze, um solche Funktionen ganz abstrakt zu beschreiben. So hat der Strukturalist Algirdas Julien Greimas, von dem auch der Isotopie- Begriff stammt (siehe Einheit 4.2), vorgeschlagen, die sog. ‚Tiefenstruktur‘ (struttura profonda) von Erzähltexten mit Hilfe von 6 Aktantenkategorien (attanti) zu beschreiben, die in drei Oppositionspaare gegliedert sind und die jeweils eine Funktion in der Handlung definieren: Subjekt (Held; soggetto) vs. Objekt (oggetto), Adressant (Sender; destinante) vs. Adressat (Empfänger; des‐ tinatario), Adjuvant (Helfer; aiutante) vs. Opponent (Gegenspieler; opposi‐ tore). Eine Figur kann dabei im Laufe der Handlung verschiedene Aktanten realisieren (beispielsweise vom Opponenten zum Adjuvanten werden) oder ein Aktant kann von mehreren Figuren (oder aber durch Nichtpersonales oder Abstrakta wie die Natur, u. U. auch gar nicht) realisiert werden (siehe Einheit 9.1). Greimas’ sehr allgemeines, weil für die Analyse aller Arten von Erzähl‐ texten bestimmtes Modell kann und muss sicherlich für den Einzelfall ange‐ passt oder durch alternative Kategorien ergänzt werden; es zeigt aber, wie prinzipiell eine von der Textoberfläche abstrahierende Strukturanalyse aus‐ sehen kann, die die Charakterisierung der Figuren erhellt und umgekehrt. 8.3.2 Handlung, Geschehen und ‚Plot‘ Folgt man dem Programm der Strukturanalyse und zerlegt die Handlung bis zu ihren kleinsten Bestandteilen, also gewissermaßen den Atomen der Ge‐ schichte, hat man es mit Mikroereignissen zu tun, die wir in Einheit 2.5 bereits 8.3 Struktur des Erzählten oder der fabula 173 <?page no="174"?> ! Geschehen: chronologi‐ sche Abfolge der Motive Freie Motive und ‚Realitäts‐ effekt‘ (Barthes) ! Plot: kausale Abfolge von Motiven Strukturanalyse der Hand‐ lung Leitfragen für die Plotbe‐ schreibung Ereignis und Grenz-Über‐ schreitung (Jurij M. Lot‐ man) unter dem Begriff Motiv (it. motivo) eingeführt haben. Im Grunde ist jeder Satz, der einen (absichtsvollen oder sich von selbst vollziehenden) Vorgang beschreibt, ein solches Motiv. (Die Motivgeschichte allerdings verwendet den Begriff nur für größere Kontexte, siehe Einheit 2.5.) Die Handlung eines Tex‐ tes setzt sich aus diesen Motiven zusammen, aber allein die Summe der Motive macht noch nicht die Handlung aus. Der zweite Teil des Strukturanalyse- Programms besteht, wie Sie sich erinnern, darin, die Beziehung der ermittel‐ ten Teile eines Ganzen zu klären. Die Beziehung zwischen Motiven ist zu‐ nächst natürlich eine chronologische: Die Vorgänge eines Erzählstrangs (von dem es mehrere geben kann) folgen in der Zeit der erzählten Welt aufeinander - in der Zeit der erzählten Welt, die nicht unbedingt mit der Chronologie des discorso narrativo, der erzählerischen Vermittlung übereinstimmt (siehe Ab‐ schnitt 8.2.2). Die Motive in ihrer zeitlichen Ordnung nennt man Geschehen (storia). Die meist wichtigere Art von Beziehung zwischen Motiven ist jedoch die kausale: Bestimmte Motive folgen nicht nur zeitlich auf frühere, sondern gehen auch ursächlich auf sie zurück, werden von ihnen ausgelöst, sind ver‐ knüpft. Andere, die sog. freien Motive, hängen kausal nicht mit den übrigen zusammen, sie dienen allein der Gestaltung der erzählten Welt und ihrer Fi‐ guren, können beispielsweise deren Plausibilität erhöhen, dienen mit den Worten Roland Barthes’ dem ‚Realitätseffekt‘ (effetto di realtà). Innerhalb des Geschehens gibt es nun eine oder mehrere Ketten von Ereignissen, die zu‐ einander in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen. Diese Ketten nennen wir Plot (plot, m., trama). Eine Strukturanalyse der Handlungsebene wird in aller Regel darauf ab‐ zielen, den oder die Plots eines Erzähltextes herauszuarbeiten. Hier sind - wiederum analog zur Dramenanalyse - folgende Fragen interessant: ▶ Wie ist die Gesamtgestalt des Plots: linear, zirkulär, episodisch, …? ▶ Wenn es mehrere Handlungslinien gibt: Sind die Plots unabhängig voneinander oder interferieren sie? Auf welche Weise? Wo liegen die Wendepunkte eines Plots? - das heißt: ▶ Wo verändert sich der Konflikt (steigert oder entspannt sich)? ▶ Wo verändert sich die Personenkonstellation? Wo nehmen die Figuren etwa neue Aktantenrollen an? Für die Suche nach den entscheidenden Ereignissen innerhalb eines Plots kann der Ansatz des estnischen Strukturalisten Jurij M. Lotman (1993) hilf‐ reich sein, der abschließend skizziert werden soll. Er geht davon aus, dass die entscheidenden Ereignisse eines Plots diejenigen sind, bei denen eine Grenze überschritten wird - streng genommen macht für Lotman diese Grenzüber‐ schreitung erst den Gehalt (das ‚Sujet‘) eines Erzähltextes aus, sind seine not‐ wendige Bedingung, im Unterschied etwa zu Empfindungslyrik. Die Grenze ist dann relevant, wenn sie die erzählte Welt in zwei Teilräume (evtl. bei 174 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="175"?> Unüberschreitbarkeit der Grenze Bedeutung des erzählten Raums Aufgabe 8.3 Zusammenfassung mehreren Grenzen mehr als zwei Teilräume) teilt, die einander in verschie‐ dener Hinsicht entgegengesetzt sind: Sie sind als Räume, d. h. topographisch (z. B. Wald vs. Zivilisation) und ggf. topologisch (z. B. links vs. rechts), aber vor allem auch semantisch getrennt, also mit bestimmten gegensätzlichen Bedeutungen assoziiert (z.-B. gut vs. böse): Abb. 8.12 Grenzüberschreitung in Erzähltexten nach Lotman Entscheidend für die Handlung ist, dass diese Grenze von der betreffenden Figur (in der Regel dem Helden bzw. der Heldin) normalerweise nicht über‐ schritten werden kann. Der oder die zentralen Momente eines Erzähltextes sind die versuchten oder geglückten Übergänge zwischen den Teilräumen. Lotmans Ansatz weist darauf hin, dass die Frage der Räume innerhalb fiktiver Welten und ihre Beziehung zur Handlung von entscheidender Bedeutung sein können, wenn es darum geht zu beschreiben, wovon ein Text eigentlich ‚han‐ delt‘. ? Wählen Sie, wie die frühen Strukturalisten, einen ihnen bekannten einfachen Text (oder etwa Elsa Morantes Erzählung La matrigna aus Rac‐ conti dimenticati, 2002) und versuchen Sie ihn mithilfe der Greimasschen Aktantenkategorien und der Lotmanschen Sujettheorie zu beschreiben. Die vielfältigen Formen epischer Texte sind im Unterschied zu Dramen durch die Mittelbarkeit der von einem Erzähler getragenen Darstellung bestimmt. Der Erzähler ordnet, rafft oder dehnt die Erzählung in zeitlicher Hinsicht. Er steht zum Geschehen in einem bestimmten Beteiligungsver‐ hältnis, das durch die narratologische Kategorie der Stimme beschrieben wird. Seine Präsenz schafft eine mehr oder minder große Distanz des Le‐ sers zum Geschehen, die sich besonders deutlich an Formen der Rede‐ 8.3 Struktur des Erzählten oder der fabula 175 <?page no="176"?>  wiedergabe ablesen lässt. Die Darstellung kann unabhängig vom Standort des Erzählers auf unterschiedliche Wissenshorizonte ausgerichtet, d. h. fokalisiert sein. Die Beschreibung der Inhaltsseite von Erzähltexten hat v. a. die Charakterisierung, Aktantenrolle und Konstellation der Figuren sowie die entscheidenden Momente der Handlungsentwicklung, Wende‐ punkte des Plots zum Gegenstand. Strukturalistische Ansätze wie dieje‐ nigen Greimas’ und Lotmans bieten Kategorien für eine funktionsbezo‐ gene, abstrakte Beschreibung erzählter Figuren und Handlungen. Literatur Aristoteles: Poetik. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2 1994. Roland Barthes: „Der Wirklichkeitseffekt“, in: Ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, 164-172. Wayne C.-Booth: -The Rhetoric of Fiction. Chicago: Chicago UP 1961. Italo Calvino: Il visconte dimezzato. Milano: Garzanti 2 1985. Luigi Capuana: Giacinta. Novara: Edizioni per il club del libro 1972. Gerard Genette: Nouveau discours du récit. Paris: Seuil 1983. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Braunschweig: Vieweg 1971. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 4 1993. Elsa Morante: Tempo di pace, in: Dies., Racconti dimenticati. Torino: Einaudi 2002, 208-222. Ansgar-Nünning: -Unreliable narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwür‐ digen Erzählens in der englischsprachigen Literatur. Trier: WVT 1998. Italo Svevo: La coscienza di Zeno. Milano: Dall’Oglio 1982. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 176 8 Epik und Erzähltextanalyse <?page no="177"?> Überblick 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen Inhalt 9.1 Manzoni und seine Promessi sposi 9.2 Elio Vittorini und der Neorealismus Diese zweite Einheit zur Epik und Erzählanalyse hat das Ziel, die Kon‐ zepte und Hilfsmittel aus der zurückliegenden theoretischen Einführung in ihrer Anwendung zu zeigen und ihre Relevanz für das Verständnis epischer Texte zu verdeutlichen. In Anbetracht der Fülle epischer Texte ab dem 19. Jh. sind wir exemplarisch vorgegangen und haben jeweils ein relevantes Beispiel aus dem 19. und aus dem 20. Jh. gewählt, um die for‐ male Entwicklung der Gattung ‚Roman‘ hier zumindest andeutungsweise zu skizzieren. Es werden Analysebeispiele auf makrostruktureller (Ganz‐ text-)Ebene auf der Grundlage von Inhaltsangaben sowie mikrostruktu‐ relle Analysen anhand von Textauszügen demonstriert und in Übungen vertieft. <?page no="178"?> Zur Person Abb. 9.1 Alessandro Manzoni (1785-1873) Alessandro Manzoni: I pro‐ messi sposi Inhaltsangabe zu I pro‐ messi sposi Historischer Roman 9.1 Manzoni und seine Promessi sposi Als Sohn der Giulietta Beccaria und des Pietro Manzoni wurde Alessandro Manzoni 1785 in Mailand geboren. Giulietta Beccaria ihrerseits war die Toch‐ ter des Aufklärers Cesare Beccaria, des ersten modernen italienischen Rechts‐ gelehrten, der sich gegen die Todesstrafe und Folter ausgesprochen hatte. Die Lektüre der Schrift Beccarias Dei delitti e delle pene erschloss Manzoni die französische Aufklärung, deren Eindruck auf den Dichter noch verstärkt wurde, als er seiner Mutter nach Paris folgte, wo er u. a. Freundschaft mit dem französischen Historiker Fauriel schloss, der die deutsche Romantik in Frank‐ reich propagiert hatte. Die französische Aufklärung bestimmte Manzonis Denken und Schaffen auch noch nach seiner 1810 erfolgten Konversion zum katholischen Glauben, welche mit der Rückkehr in die italienische Heimat einherging. In der Zeit zwischen 1821 und 1823 widmete sich Manzoni der Komposition eines Romans, dessen erste vorläufige Fassung den Titel Fermo e Lucia trug. Als I promessi sposi wurde er in überarbeiteter Form 1827 und endgültig in nochmals veränderter Version 1840-42 veröffentlicht. Die langwierige Entstehung spiegelt u. a. die Bedeutung des Werkes für die immer noch nicht abgeschlossene Questione della lingua (Einheit 2.1.4) wider. In Fermo e Lucia herrscht eine Mischung aus literarischen und lombardischen, umgangssprachlichen Elementen vor und es finden sich auch französische Entlehnungen. In der Folgefassung von 1827 dominiert das Toskanische, und in der Endfassung schließlich gewinnt das Florentinische und lombardische Anklänge werden ganz zurückgedrängt. Manzoni situiert die Handlung des Romans in der Lombardei zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, also des frühen 17. Jh., das insbesondere für diese der spanischen Besatzungsmacht unterstellten Region eine dunkle und de‐ mütigende Zeit gewesen ist. Der Autor reiht sein Werk damit in die Tradition des historischen Romans à la Walter Scott ein, d. h. wie er selbst in seiner Abhandlung („Sul romanzo storico“) zu dieser Romanform definiert: als „Mi‐ schung von Geschichte und Erfindung“. Die Handlung basiert auf einem fik‐ tiven Manuskript aus dem 17. Jh., welches Manzoni mittels eines sehr prä‐ senten heterodiegetischen Erzählers neu gestaltet, der hier praktisch die Rolle des Historikers übernimmt. In der Endfassung des Romans wechselt somit die Wiedergabe der Handlung mit historischen Einschüben ab. Diese werden als solche akzentuiert, indem Manzoni sie mit einem umfangreichen Fußnoten‐ apparat, in dem er seine Quellen preisgibt, versieht. Analog dazu lässt sich das Personeninventar formal in zwei Gruppen einteilen: die Personen mit historischem Hintergrund wie Federigo Borromeo, der Innominato oder die Nonne von Monza sowie zahlreiche Nebenfiguren einerseits und die rein fik‐ 178 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="179"?> Abb. 9.2 Renzo und Lucia: I pro‐ messi sposi Schlüsselepisode Binnenerzählung tiven Personen andererseits, zu denen Renzo und Lucia gehören, deren ‚kleine Geschichte‘ er mit der ‚großen Geschichte‘ verflicht. Dabei wählt Manzoni ganz bewusst eine nicht zu weit zurückreichende historische Epoche, um das Interesse der Leser zu gewährleisten. In der ‚kleinen Geschichte‘ geht es um das Schicksal von Renzo und Lucia, eines bäuerlichen Brautpaares, dessen Eheschließung durch den von einem spanischen Edelmann, Don Rodrigo, eingeschüchterten Dorfpfarrer, Don Ab‐ bondio, verhindert wird. Das Paar muss aus dem Dorf (Lecco am Comer See) fliehen, diverse Prüfungen bestehen, bis es am Ende zusammenfindet und die ersehnte Familie gründen kann. Das Personeninventar des Romans lässt sich grob, analog zur vorrevolutionären Ständeordnung, in drei Gruppen teilen: die potenti, die Gruppe der Machthabenden, zu einem Großteil repräsentiert von den spanischen Adeligen, die Gruppe der Geistlichen in ihrer ganzen Bandbreite sowie die der Bauern und kleinen Handwerker, zu denen Renzo und Lucia sowie deren Mutter Agnese zählen. Die Gruppe der potenti spielen überwiegend den Part des Bösen, indem sie die Macht, über die sie verfügen, ausnutzen. Paradebeispiel ist hier Don Rodrigo, der Auslöser der Handlung. Er hat sich in Lucia verliebt, möchte die Hochzeit von ihr und Renzo verhin‐ dern und schickt seine Häscher, die bravi, aus, um den Dorfpfarrer, Don Ab‐ bondio, so einzuschüchtern, dass dieser mittels diverser Ausflüchte versucht, die Hochzeit zu verzögern. Macht Don Rodrigo im Laufe des Romans keinerlei Charakterentwicklung durch und wird deshalb auch quasi aus Strafe am Ende Opfer der Pest, so wird sein Pendant, der Innominato, durch seine Begegnung mit Lucia, welche als eine der Schlüsselepisoden des Romans gelten kann, hingegen geläutert und verwandelt sich in einen guten, gläubigen Menschen. Lucia kommt auf ihrer Flucht vor Don Rodrigo in ein Kloster in Monza, aus dem sie jedoch mit Hilfe einer Nonne entführt und dann auf die Burg des Innominato verschleppt wird, der Don Rodrigo bis dato in seinen dunklen Machenschaften unterstützt hat. Die Geschichte der Nonne von Monza, die in einer Binnenerzählung eingeschoben wird und übrigens auch in erweiter‐ ter Fassung als eigenständiges Werk von Manzoni publiziert wurde (La mo‐ naca di Monza, 1823), dient ebenfalls dazu, die Schwarz-Weiß-Malerei der Charaktere zu relativieren. Ihr schweres unverschuldetes Schicksal erklärt wenigstens teilweise ihre Handlungsweise. In der Gruppe der Geistlichen sind Don Abbondio und Fra Cristoforo zu erwähnen. Während Don Abbondio den Dorfpfarrer par excellence repräsentiert, der sich aus rein pragmatischen Gründen dem geistlichen Stand zuwendet und dessen menschliche Schwä‐ chen bei weitem seinen Glauben dominieren, steht Fra Cristoforo für den aus persönlicher Erfahrung geläutert zum Geistlichen Gewordenen, dessen Ver‐ halten nahezu ‚heilig‘ anmutet. Lucia erfährt im Laufe des Romans eigentlich keine Entwicklung, sie ist tief religiös und trägt marienhafte Züge, die eine Entwicklung der Protagonistin per se unnötig machen. Sie dient vielmehr als 9.1 Manzoni und seine Promessi sposi 179 <?page no="180"?> Regulativ für Renzo, der jugendlich ungestüm und oft unbedacht handelt, außerdem an der Religion zweifelt und daher immer wieder in problematische Situationen gerät, so während des Brotaufstandes in Mailand oder während der Pestepisode, aus denen er sich jedoch aus eigener Kraft zu befreien ver‐ mag. Sie dienen ihm als Quelle der Erfahrung und Läuterung. Letztendlich findet er zum Glauben, u. a. mit Hilfe von Fra Cristoforo und Lucia, was die Ehe mit dieser dann auch ermöglicht. Die beiden gründen eine Familie in Bergamo, wobei der Schluss des Romans nur auf den ersten Blick als Happy- End erscheint, um sich dann als banal zu erweisen. Lucias von Renzo anfäng‐ lich empfundene Schönheit sowie die Ehe werden in ihrer Banalität und All‐ täglichkeit entlarvt. Im Kontext der Romantik sind noch die Landschaftsbeschreibungen zu erwähnen, die die Handlung jeweils maßgeblich untermalen, teilweise kontrastiv, teilweise aber auch rein deskriptiv, so die Beschreibung des bedrohlichen Umfeldes der Burg des Innominato. Die Beschreibungen des Comer Sees besonders beim Aufbruch Lucias und ihrer Mutter Agnese, die berühmte Szene des Addio ai monti, die praktisch jedes italienische Schulkind irgendwann einmal auswendig gelernt hat, steht darüber hinaus für das Heimatbewusstsein, das die Promessi sposi auch zu einem Werk werden lassen, das ganz im Kontext der Ausbildung eines Nationalbewusstseins zu lesen ist. Abb. 9.3 Michele Fanoli: La partenza dei promessi sposi („Addio ai monti“) 180 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="181"?> Aufgabe 9.1 Bildungsroman Bedeutung der Figuren für den Protagonisten ? Wenden Sie das Aktantenmodell von Greimas auf den Roman, soweit Sie ihn nun kennen, an. Wie stellt sich Ihrer Meinung nach die Personen‐ konstellation dar? Wenn man von den historischen Digressionen und den Nebenhandlungen absieht und sich außerdem auf die Person Renzos konzentriert, kann man auf die inhaltliche Makrostruktur des Textes das Modell des sog. Bildungsromans (romanzo di formazione) anwenden. Diese Untergattung ist inhaltlich be‐ stimmt durch die Darstellung eines jugendlichen Individuums, das die ersten eigenständigen Erfahrungen in der Welt macht und seinen sozialen Platz sucht, häufig im Sinne eines Strebens nach Aufstieg und Erfolg. Im Falle Ren‐ zos geht es allerdings vor allem darum, den Häschern des Don Rodrigo zu entgehen, die Braut wieder zu finden und sie zu heiraten. Dabei wird der Protagonist vor allem von der Mutter Lucias, Agnese, und Fra Cristoforo un‐ terstützt, während die wichtigsten Gegenspieler Renzos und Lucias sowohl von Don Rodrigo und Don Abbondio, wenngleich in unterschiedlicher Qua‐ lität, als auch anfangs vom Innominato repräsentiert werden. Dieser entwi‐ ckelt sich im Laufe des Geschehens vom Opponenten zum Helfer. Die meisten Hauptpersonen des Romans - für diese schematische Ansicht müssen wir uns auf eine Auswahl der bedeutendsten beschränken - sind ambivalent, so ist beispielsweise Renzo gleichzeitig Adressant und Adressat, Lucia Subjekt und Objekt. Nach Greimas wäre die Konstellation der Hauptfiguren in einem Schema folgendermaßen abbildbar: 9.1 Manzoni und seine Promessi sposi 181 <?page no="182"?> Text 9.1 I promessi sposi (Auszug) Abb. 9.4 Mögliches Aktantenmodell zu I promessi sposi Sehen wir uns nun Passagen des Textes für exemplarische Mikroanalysen an. Im ersten Auszug stellt der Erzähler die Figur Don Abbondios vor. 1 - - - 5 10 15 Il nostro Abbondio, non nobile, non ricco, coraggioso ancor meno, s’era dunque accorto, prima quasi di toccar gli anni della discrezione 1 , d’essere, in quella società, come un vaso di terra cotta, costretto a viaggiare in compagnia di molti vasi di ferro. Aveva quindi, assai di buon grado, ubbidito ai parenti, che lo vollero prete. Per dir la verità, non aveva gran fatto pensato agli obblighi e ai nobili fini del ministero al quale si dedicava: procacciarsi 2 di che vivere con qualche agio, e mettersi in una classe riverita e forte, gli eran sembrate due ragioni più che sufficienti per una tale scelta. Ma una classe qualunque non protegge un individuo, non lo assicura, che fin a un certo segno: nessuna lo dispensa dal farsi un suo sistema particolare. Don Abbondio, assorbito continuamente ne’ pensieri della propria quiete, non si curava di que’ vantaggi, per ottenere i quali facesse bisogno d’adoperarsi molto, o d’arrischiarsi un poco. Il suo sistema consisteva principalmente nello scansar 3 tutti i contrasti, e nel cedere, in quelli che non poteva scansare. Neutralità disarmata in tutte le guerre che scoppiavano intorno a lui, dalle contese, allora frequentissime, tra il clero e le 182 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="183"?> Aufgabe 9.2 Aufgabe 9.3 Aufgabe 9.4 20 25 podestà laiche, tra il militare e il civile, tra nobili e nobili, fino alle questioni tra due contadini, nate da una parola, e decise coi pugni, o con le coltellate 4 . Se si trovava assolutamente costretto a prender parte tra due contendenti, stava col più forte, sempre però alla retroguardia, e procurando di far vedere all’altro ch’egli non gli era volontariamente nemico: pareva che gli dicesse: ma perché non avete saputo esser voi il più forte? Ch’io mi sarei messo dalla vostra parte. Stando alla larga da’ prepotenti, dissimulando le loro soverchierie 5 passeggiere e capricciose, corrispondendo con sommissioni a quelle che venissero da un’intenzione più seria e più meditata, costringendo, a forza d’inchini 6 e di rispetto gioviale, anche i più burberi 7 e sdegnosi 8 , a fargli un sorriso, quando gl’incontrava per la strada, il pover’uomo era riuscito a passare i sessant’anni, senza gran burrasche 9 . (Manzoni: 2005, 16-f.) - 1 discrezione hier: Vernunft, Einsicht - 2 procacciarsi sich beschaffen - 3 scansare vermeiden - 4 coltellata Messerstich - 5 soverchierie Übergriffe - 6 inchino Bückling, Verbeugung - 7 burbero griesgrämig, mürrisch - 8 sdegnoso verächtlich, ablehnend - 9 burrasca Sturm, Unwetter ? Wie stellt sich die Erzählsituation hinsichtlich der Distanz dar? Be‐ gründen Sie Ihre Antwort. ? Wie funktioniert die Darstellung Don Abbondios formal und inhalt‐ lich? ? Beschreiben Sie die Gestaltung der Zeit in dieser Passage. 9.1 Manzoni und seine Promessi sposi 183 <?page no="184"?> Narrative Pause für Be‐ schreibung Exposition Charakterisierung Distanz des Erzählers Abb. 9.5 Francesco Gonin: Begegnung Don Abbondios mit den „bravi“ Wir haben es im vorliegenden Auszug mit einer klassischen narrativen Pause (vgl. Einheit 8.2.2) zu tun: Während die Erzählerrede, der discorso narrativo, voranschreitet, steht die Zeit innerhalb der fabula, der erzählten Welt, still. Diese Pause ist Teil der Exposition des Romans, also der Einführung in die fiktive Welt. Dieser Textausschnitt befindet sich in der Tat am Beginn des Romans, der nach einer Ortsbeschreibung direkt in die Handlung einführt: Don Abbondio spaziert durch eben diese idyllisch anmutende Landschaft und wird dabei von den bravi Don Rodrigos angegriffen, die ihm verbieten, Renzo und Lucia zu vermählen. Der Darstellung des Konflikts Don Abbondios, der einerseits seiner Pflicht als Pfarrer und Seelsorger gehorchen müsste, ande‐ rerseits aber von den Ängsten um seine eigene Person gequält wird, wird nun vom Erzähler die explizite Charakterisierung (vgl. Einheit 8.3.1) des Dorf‐ pfarrers vorausgeschickt, der gleichsam eine erklärende Funktion für den weiteren Handlungsverlauf zukommt. Der Erzähler, der sich im Roman häufig als ‚Erzähler-Wir‘ manifestiert („Il nostro Abbondio, […]“, 1), täuscht eine Art Komplizenschaft mit den LeserInnen vor, die er allerdings sehr bestimmt durch den Text führt. Die Distanz ist damit sehr groß. Mit solchen Formulie‐ 184 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="185"?> Heterodiegetischer Erzäh‐ ler Nullfokalisierung Ironischer Grundton Direkte Rede Zeitdarstellung Aufgabe 9.5 rungen gibt er sich darüber hinaus als heterodiegetischer Erzähler (vgl. Stimme, Einheit 8.2.1) eines fiktionalen Textes zu erkennen, der einen großen Überblick über die Personen und das Geschehen hat, so dass wir von einer Nullfokalisierung sprechen können. Er kennt Details der Vergangenheit Don Abbondios („prima quasi di toccar gli anni della discrezione […]“, 2), die er mit allgemeinen Weisheiten verknüpft („Ma una classe qualunque […]“, 8), welche zu der sarkastisch-ironischen Darstellung des Typus des schwachen, opportunistischen und auf eigene Interessen bedachten Durchschnittsmen‐ schen führt, der angesichts seiner Schwächen durchaus Sympathien beim Le‐ ser wecken kann. Gleich zu Beginn erfolgt die Zusammenfassung der Charakterdarstellung Don Abbondios in der pointierten Aneinanderreihung von Adjektiven ex ne‐ gativo, die in der durch die Litotes („coraggioso ancor meno“, 1) betonten Feigheit gipfelt, welche zugleich den ironischen Grundton dieser Darstellung einführt. Diese wird mit dem metaphorischen Vergleich Abbondios mit dem Terrakottatopf inmitten von Eisentöpfen fortgeführt, die seine gesellschaft‐ liche Stellung versinnbildlichen soll. In seiner Position muss der Dorfpfarrer ständig darauf achten, inmitten der Eisentöpfe nicht selbst „zu Bruch zu ge‐ hen“. Diese Metapher wird im Folgenden gleichsam aufgelöst, wenn nun Ab‐ bondios opportunistisches Verhalten in allgemein gehaltenen Konfliktsitua‐ tionen, mittels wiederum asyndetischer Reihung von gegensätzlichen Konfliktpartnern („tra il clero e le podestà […]“, 15) sowie Verhaltensweisen („Stando […], corrispondendo […], costringendo […]“, 21 ff.) beschrieben wird. Scheint die oben genannte Metapher zwar ein hinreichender Grund für den Opportunismus des Pfarrers, so wird dieser durch den ironischen Grundton sogleich wieder in Frage gestellt und löst bei der Leserschaft ambivalente Gefühle gegenüber der dargestellten Figur aus. Aufgelockert wird dieser Dar‐ stellungsmodus auch durch die Wiedergabe der fiktiven Reaktion Abbondios in einer solchen Konfliktsituation in Form einer durch den Erzähler vermit‐ telten direkten Rede („pareva che gli dicesse: […]“, 20). Am Ende der Textstelle gibt der Erzähler die zeitliche Dimension seiner Personendarstellung preis, die in der Vergangenheit beginnt („prima quasi […]“, 2) und in der Gegenwart endet. In der Form eines Rückblicks (Analepse) erklärt der Erzähler die Cha‐ rakterdarstellung als extrem geraffte Synthese von Abbondios bisherigem Leben („[…] il poveruomo era riuscito a passare i sessant’anni, senza gran burrasche“, 25 f.) und auch dies mit ironischem Unterton. ? Lesen Sie vor dem Hintergrund Ihrer bisherigen Kenntnis des Romans Manzonis den folgenden zweiten Auszug und beantworten Sie die an‐ schließenden Leitfragen. 9.1 Manzoni und seine Promessi sposi 185 <?page no="186"?> Text 9.2 I promessi sposi (Auszug) 1 - - - 5 10 15 20 25 30 35 Appena infatti ebbe Renzo passata la soglia 1 del lazeretto, e preso a diritta, per ritrovar la viottola di dov’era sboccato la mattina sotto le mura, principiò come una grandine di goccioloni radi e impetuosi 2 , che, battendo e risaltando sulla strada bianca e arida, sollevavano un minuto polverìo; in un momento diventaron fitti; e prima che arrivasse alla viottola, la veniva giù a secchie 3 . Renzo, in vece d’inquietarsene, ci sguazzava 4 dentro, se la godeva in quella rinfrescata, in quel susurrìo, in quel brulichìo 5 dell’erbe e delle foglie, tremolanti, gocciolanti, rinverdite, lustre; metteva certi respironi 6 larghi e pieni; e in quel risolvimento 7 della natura sentiva come più liberamente e più vivamente quello che s’era fatto nel suo destino. Ma quanto più schietto 8 e intero sarebbe stato questo sentimento, se Renzo avesse potuto indovinare quel che si vide pochi giorni dopo: che quell’acqua portava via il contagio 9 ; che, dopo quella, il lazaretto, se non era per restituire ai viventi tutti i viventi che conteneva, almeno non n’avrebbe quasi più ingoiati 10 altri; che, tra una settimana, si vedrebbero riaperti usci e botthege, non si parlerebbe quasi più che di quarantina; e della peste non rimarrebbe se non qualche resticciolo qua e là; quello strascio che un tal flagello 11 lasciava sempre dietro a sé per qualche tempo. Andava dunque il nostro viaggiatore allegramente, senza aver disegnato né dove, né come, né quando, né se avesse da fermarsi la notte, premuroso soltanto di portarsi avanti, d’arrivar presto al suo paese, di trovar con chi parlare, a chi raccontare, sopratutto di poter presto rimettersi in cammino per Pasturo, in cerca d’Agnese. Andava, con la mente tutta sottosopra dalle cose di quel giorno; ma di sotto le miserie, gli orrori, i pericoli, veniva sempre a galla un pensierino: l’ho trovata; è guarita; è mia! E allora faceva uno sgambetto 12 , e con ciò dava un’annaffiata 13 all’intorno, come un can barbone 14 uscito dall’acqua; qualche volta si contentava d’una fregatina di mani; e avanti, con più ardore di prima. Guardando per la strada, raccatava, per dir così, i pensieri, che ci aveva lasciati la mattina e il giorno avanti, nel venire; e con più piacere quelli appunto che allora aveva più cercato di scacciare, i dubbi, le difficoltà, trovarla, trovarla viva, tra tanti morti e moribondi! - E l’ho trovata viva! - concludeva. Si rimetteva col pensiero nelle circostanze più terribili di quella giornata; si figurava con quel martello in mano: ci sarà o non ci sarà? e una risposta così poco allegra; e non aver nemmeno il tempo di masticarla, che addosso quella furia di matti birboni 15 ; e quel lazzeretto, quel mare! lì ti volevo a trovarla! E averla trovata! (Manzoni: 2005, 515 f.) - 1 soglia Schwelle, Eingang - 2 grandine […] impetuosi Niederprasseln großer schwerer Tropfen - 3 le veniva giù a secchie es regnete in Strömen auf ihn - 4 sguazzare hier: sich voller Freude hineinstürzen - 5 brulichìo Rauschen - 6 respironi Atemzüge - 7 risolvimento hier: Veränderung - 8 schietto echt, rein - 9 portava […] contagio die Seuche fortspülte - 10 ingoiare verschlingen - 11 flagello Geißel - 12 186 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="187"?> Aufgabe 9.6 Zur Person fare uno sgambetto hier: einen Sprung machen - 13 dare un’annaffiata nassspritzen - 14 can borbone Pudel - 15 matti birboni aufgedrehte Spitzbuben ? Beschreiben Sie die Fokalisierung unter Berücksichtigung der Rede‐ wiedergabe. Wie funktioniert die Gestaltung der Zeit in dieser Textpassage? Welche symbolische Bedeutung kommt dem Unwetter zu? Begründen Sie Ihre Antwort. 9.2 Elio Vittorini und der Neorealismus Der 1908 in Syrakus (Sizilien) als Sohn eines Eisenbahners geborene Elio Vit‐ torini begründet seinen literarischen Namen nicht nur als Autor von Roma‐ nen und Erzählungen, sondern auch als Übersetzer, Journalist und Heraus‐ geber. Seiner Kindheits- und Schuljahre auf Sizilien überdrüssig, reist der junge Vittorini 1921 erstmals in einer Art Ausbruchsversuch auf das italieni‐ sche Festland, nach Mailand und Florenz. 1924 bricht Vittorini seine techni‐ sche Ausbildung ab, um sich ganz seinen Vorlieben für Kunst und Literatur zu widmen. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich dennoch zunächst bei einem Bauunternehmen in Gorizia. Beeindruckt von der Lektüre Curzio Ma‐ lapartes L’Italia barbara tritt der junge Vittorini in Kontakt mit dem faschis‐ tisch orientierten Literaten und veröffentlicht Aufsätze in der von Malaparte herausgegebenen Zeitschrift La conquista dello Stato. 1929 zieht er endgültig nach Florenz, wo er Druckfahnen der Tageszeitung La Nazione korrigiert. Tendiert Vittorini in den frühen 20er Jahren zu einem linksgerichteten Fa‐ schismus, publiziert er bereits 1929 für die Literaturzeitschrift Solana, ein un‐ parteiisches, europäisch ausgerichtetes Organ. Diese ideologische Spannung wird über Jahre sein Werk bestimmen. 1927 heiratet Vittorini Rosa Quasi‐ modo, die Schwester des gleichnamigen Dichters. Aus der Ehe, die 1950 an‐ nuliert wird, gehen zwei Kinder hervor (Giusto, geb. 1928, und Demetrio, geb. 1934). 1931 erscheint Vittorinis erster Erzählband Piccola borghesia, er betätigt sich als Übersetzer von D. H. Lawrence und 1933/ 34 werden erste Teile seines Romans Il garofano rosso in der Solana abgedruckt, die jedoch der faschisti‐ schen Zensur zum Opfer fallen. Der Roman wird erst 1948 bei Mondadori in Mailand in einer vollständigen Ausgabe in Buchform erscheinen. 1936 ent‐ steht auch das Romanfragment Erica e i suoi fratelli, dessen Niederschrift durch den Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges unterbrochen wird. Ein Jahr später beginnt Vittorini mit seinem wohl bekanntesten Roman Conver‐ sazione in Sicilia, der zunächst 1937/ 38 unter dem Titel Nome e Lagrime in der Zeitschrift Letteratura abgedruckt wird. In ihm begibt sich der dreißigjährige 9.2 Elio Vittorini und der Neorealismus 187 <?page no="188"?> Neorealismus Inhaltsangabe zu Conver‐ sazione in Sicilia Silvestro, getrieben von einer „abstrakten Wut“, auf eine mythische Kind‐ heitssuche zu seiner Mutter in das heimatliche Sizilien, um sich über seine Rolle in der Welt Klarheit zu verschaffen. Sind die autobiographischen Ele‐ mente vielen Werken Vittorinis gemein, zeichnet sich dieser Roman jedoch durch seine sprachliche Kunstfertigkeit und seinen symbolisch-metaphori‐ schen Erzählstil aus. Vittorini hegt den Plan, auf Seiten der Republikaner in den Spanischen Bür‐ gerkrieg einzutreten, wird 1936 von der faschistischen Partei ausgeschlossen und engagiert sich ab dem Ausbruch des II. Weltkrieges in der resistenza. 1941 tritt Vittorini in die PCI ein und beginnt für die Mailänder Ausgabe der kommunistischen Zeitschrift L’Unità zu schreiben, deren Chefredakteur er 1945 wird. Nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 nimmt Vittorini in seinem Versteck die Arbeit an dem neorealistischen Roman Uomini e no auf, in dem es um die Widerstandskämpfer geht. 1945 bis 1947 leitet er die Kulturzeitschrift Politecnico, die sich mit dem Verhältnis von Literatur und Politik befasst. Allerdings entsprechen Vittorinis Ansichten nicht denen der kommunistischen Partei, so dass es 1947 in der Politecnico zu einer brieflichen Auseinandersetzung zwischen Vittorini und Togliatti, dem Vorsitzenden der kommunistischen Partei Italiens, und daraufhin zum Austritt Vittorinis aus der Partei kommt. Deshalb wird dieses Werk Vittorinis ebenfalls zu den neorealistischen Produktionen gezählt, die sich trotz formaler Vielfalt unter dem inhaltlichen Schwerpunkt der resistenza und der kritischen Auseinan‐ dersetzung mit dem Faschismus bündeln lassen. Der Neorealismus manifestiert sich als umfassende kulturelle Bewegung, die sich auf Literatur, Film und Malerei erstreckt und vor allem in den 50er Jahren des 20. Jh. seine Wirkung entfaltet. Trotz ihrer formalen und inhaltli‐ chen Vielfalt lassen sich die Produktionen dieser Bewegung über die Ausein‐ andersetzung mit der Zeit des Faschismus definieren, wobei sie ideologisch der resistenza zuzuordnen sind. In der Literatur dominiert die Gattung des Romans, der, ähnlich wie im Verismus, der regionalen und dialektalen Vielfalt Italiens Rechnung trägt. Dabei sind ein offenes Ende, häufiger Perspektiven‐ wechsel und der Gebrauch der Alltagssprache dominierend. Die exemplarische Analyse im Rahmen dieser Einheit soll nun am Beispiel der Conversazione in Sicilia erfolgen. Im ersten Teil des Romans erfahren wir von dem Unbehagen des Ich-Er‐ zählers namens Silvestro angesichts der aktuellen politischen Situation („il mondo offeso“), die dieser als unbestimmte Wut („astratti furori“) beschreibt. Bleibt die historische Kontextualisierung zwar mehr als vage, so errät der Leser doch, dass es sich um die Zeit des Faschismus handeln muss. Als Sil‐ vestro aus einem Brief seines Vaters erfährt, dass dieser seine Mutter Conce‐ zione verlassen hat, beschließt er, sie an ihrem Namenstag in Sizilien aufzu‐ suchen. Er hatte die Insel bereits im Alter von 15 Jahren verlassen und seitdem 188 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="189"?> Aufgabe 9.7 nie wieder besucht. Im Folgenden schildert Silvestro seine Reise vom Norden Italiens in den Süden. Begegnungen mit quasi allegorischen Personen, wie z. B. dem Gran Lombardo, führen ihn immer weiter zurück in die Vergan‐ genheit bzw. Kindheit. Im Zentrum des zweiten Teils steht die Begegnung mit der Mutter, bei der vorwiegend dialogisch die gemeinsame Vergangenheit und die für sie bestimmenden Personen evoziert werden. In diesem weitgehend statischen Teil - Ort der Gespräche ist das Haus der Mutter - geht es vor allem um die beiden Männer, die das Leben der Mutter maßgeblich geprägt haben: ihren Vater und ihren Ehemann. Während der Vater dem Idealtypus des han‐ delnden und mutigen „Gran Lombardo“ entspricht, erscheint der Ehemann als feige und als ‚Drückeberger‘, wobei die beiden Männerfiguren sich in der Erinnerung der Mutter immer wieder vermischen. Leitmotivisch verwendet wird auch das Thema des ‚Essens‘, das gleichsam als sozio-kulturelle Kon‐ textualisierung dient. Im dritten Teil begleitet Silvestro die Mutter, die sich als eine Art Krankenschwester ein Zubrot verdient, auf ihrem Rundgang zu den Kranken durch das Dorf. Die Topographie des Dorfes lässt den Abstieg in die ärmlichen und dunklen Behausungen der Kranken gleichsam zu einem Abstieg in die Hölle werden. Zentrales Thema ist hier wieder die ‚verletzte Welt‘ („il mondo offeso“), das Leiden der Menschen an Armut und Krankheit. Im vierten Teil macht sich Silvestro, getrieben von Kindheitserinnerungen, ohne die Mutter auf den Weg durch das Dorf. Dabei begegnet er dem Mes‐ serschleifer Calogero. Die beiden begeben sich in die Kneipe Colombos. Auf dem Weg dorthin treffen sie auf den Tuchmacher Porforio und den Sattler Ezechiele. In der Kneipe, die gleichsam für das Herz Siziliens steht, entspinnt sich eine Diskussion über den ‚Menschen‘ bzw. die Menschlichkeit angesichts der ‚verletzten Welt‘, in der die anwesenden Personen unterschiedliche menschliche Grundhaltungen repräsentieren. Im fünften und letzten Teil be‐ gibt sich Silvestro auf den Friedhof, wo ihm sein jüngerer Bruder erscheint, der drei Wochen zuvor im Krieg gefallen ist, wie Silvestro und die Mutter im Anschluss aus einem Brief erfahren. Thema dieses Romanteils ist somit der Krieg als weitere Dimension der ‚verletzten Welt‘. Die Frage nach der Rolle des Individuums in dieser Welt, egal ob Mutter oder Sohn, Mann oder Frau, bleibt am Ende des Romans unbeantwortet. Conversazione in Sicilia kann demnach als eine Art philosophischer Roman gelten, der mittels der Kindheitssuche die Frage nach der ‚Menschlichkeit‘ aufwirft. Der realhistorische sowie der geographische Kontext treten dabei hinter die Allgemeingültigkeit der Fragestellung zurück. ? Wie lässt sich die inhaltliche Makrostruktur des Romans, soweit Sie ihn aus dieser Zusammenfassung ersehen, charakterisieren - linear, repetitiv, zirkulär, episodisch? 9.2 Elio Vittorini und der Neorealismus 189 <?page no="190"?> Aufgabe 9.8 Linearität Episodische Struktur Topographie Topologie ? Beschreiben Sie die Raumstruktur der erzählten Welt. Versuchen Sie dabei, den Ansatz Lotmans (Einheit 8.3.2) anzuwenden. Der Roman Conversazione in Sicilia schildert zuerst einmal eine Reise, die Fahrt Silvestros an den Ort seiner Kindheit, d. h. also von Mailand nach Sizi‐ lien, in das Dorf, in dem sich seine Mutter befindet. Im ersten Teil des Romans wird die Reise mit ihren Stationen, unterschiedlichen Transportmitteln und Begegnungen detailliert geschildert, so dass wir in Bezug auf die Handlung von einer linearen Struktur sprechen können. Einmal im Heimatdorf ange‐ kommen, steht die ‚Handlung‘ gleichsam still. Hier rückt nun gemäß dem Titel des Romans das Gespräch in den Vordergrund. Die Unterhaltungen mit der Mutter und die Begegnungen mit den anderen Personen des Dorfes dienen jetzt vielmehr dazu, exemplarisch die verschiedenen menschlichen Grund‐ haltungen angesichts der ‚verletzten Welt‘ zu erörtern. Die Makrostruktur könnte in diesen Teilen deshalb als episodisch beschrieben werden. Die Raumstruktur der erzählten Welt muss analog zu der Makrostruktur des Romans verstanden werden. Auf dieser übergeordneten Ebene steht to‐ pographisch Sizilien als Zentrum dem Rest der Welt gegenüber. Es handelt sich hier aber weniger um eine bipolare Raumdarstellung nach Lotman, son‐ dern um eine zentrifugale Bewegung. Sizilien bildet topologisch das Zentrum, dem semantisch die Kindheit zugeordnet werden kann. Darüber hinaus wird mit Sizilien eine mythische Dimension verbunden, während der ‚Rest der Welt‘ für die bloße Realität steht. Auf der Mikroebene dominiert vor allem in den Teilen 2-4 des Romans eine Opposition zwischen Außen- und Innenräu‐ men, wobei sich eine eindeutige generalisierende semantische Polarität nicht ohne Weiteres feststellen lässt. Das Haus der Mutter sowie die Kneipe er‐ scheinen dabei wiederum als Zentrum; in ihnen finden die maßgeblichen Ge‐ spräche statt, während die Häuser der Kranken vor allem Armut und Krank‐ heit versinnbildlichen und damit für die ‚verletzte Welt‘ stehen. Der Friedhof in Teil 5 dagegen ist Ort des Gesprächs und Ausdruck der ‚verletzten Welt‘ zugleich. Zusammenfassend können wir festhalten, dass in diesem Roman ein ‚Ereignis‘ im Sinne von Lotman schwer auszumachen ist. Wie bereits er‐ wähnt, tritt die philosophische Dimension gegenüber der Handlung in den Vordergrund. 190 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="191"?> Text 9.3 Conversazione in Sicilia, 1. Teil, Kap.-1 (Auszug) Abb. 9.6 William Stanley Haseltine: Ätna von Taormina aus gesehen, Sizilien (1871) Schauen wir uns nun den Beginn des Romans an: 1 - - - 5 10 15 20 Io ero, quell’inverno, in preda ad astratti furori. Non dirò quali, non di questo mi son messo a raccontare. Ma bisogna dica ch’erano astratti, non eroici, non vivi; furori, in qualche modo, per il genere umano perduto. Da molto tempo questo, ed ero col capo chino. Vedevo manifesti di giornali squillanti 1 e chinavo il capo; vedevo amici, per un’ora, due ore, e stavo con loro senza dire una parola, chinavo il capo; e avevo una ragazza o moglie che mi aspettava ma neanche con lei dicevo una parola, anche con lei chinavo il capo. Pioveva intanto e passavano i giorni, i mesi, e io aveva sempre le scarpe rotte, l’acqua che mi entrava nelle scarpe, e non vi era più altro che questo: pioggia, massacri sui manifesti dei giornali, e acqua nelle mie scarpe rotte, muti amici, la vita in me come un sordo sogno, e non speranza, quiete. Questo era il terribile: la quiete nella non speranza. Credere il genero umano perduto e non aver febbre di fare qualcosa in contrario, voglia di perdermi, ad esempio, con lui. Ero agitato da astratti fuori, non nel sangue, ed ero quieto, non avevo voglia di nulla. Non mi importava che la mia ragazza mi aspettasse; raggiungerla o no, o sfogliare un dizionario era per me lo stesso; e uscire e vedere gli amici, gli altri, o restare in casa era per me lo stesso. Ero quieto; ero come se non avessi mai avuto un giorno di vita, né mai saputo che cosa significa esser felici, come se non avessi nulla da dire, da affermare, negare, nulla di mio da mettere in gioco, e nulla da ascoltare, da dare e nessuna disposizione a ricevere, e come se mai in tutti i miei anni di esistenza avessi mangiato pane, bevuto vino, o bevuto caffè, mai stato a letto con una ragazza, mai avuto dei figli, mai preso a pugni qualcuno, o non credessi tutto questo possibile, come se mai avessi avuto un’infanzia in Sicilia tra i fichidindia 2 e lo zolfo 3 , nelle montagne; ma mi agitavo 9.2 Elio Vittorini und der Neorealismus 191 <?page no="192"?> Aufgabe 9.9 Aufgabe 9.10 Aufgabe 9.11 Analepse Autodiegetischer Erzähler Interne Fokalisierung Distanz Wiederholung Leitmotive Metaphorik 25 entro di me per astratti furori, e pensavo il genere umano perduto, chinavo il capo, e pioveva, non dicevo una parola agli amici, e l’acqua mi entrava nelle scarpe. (Vittorini: 2000, 131-ff.) - 1 manifesti […] squillanti etwa: schreierische Zeitungsberichterstattung - 2 fichi‐ dindia Kaktusfeige - 3 zolfo Schwefel ? Analysieren Sie die Stimme, die Distanz und die Fokalisierung im vorliegenden Textauszug. Worin unterscheiden sie sich von denjenigen in den Texten 9.1 und 9.2? ? Versuchen Sie, anhand dieses Textauszugs den Erzähler, der hier mit der Hauptperson identisch ist, zu charakterisieren. ? Arbeiten Sie die Leitmotive der Textpassage heraus und analysieren Sie diese in Bezug auf ihre Funktion. Der Textauszug, d. h. das erste Kapitel des Werkes, führt uns in die Befind‐ lichkeiten des Erzähler-Ichs ein, die rückblickend, als Analepse (Einheit 8.2.2) („Io ero quell’inverno […]“, 1), geschildert werden. Da das Erzähler-Ich auch der Protagonist der Schilderungen ist, sprechen wir hier von einem au‐ todiegetischen Erzähler (Einheit 8.2.1). Dieser verfügt über einen verhältnis‐ mäßig hohen Grad an Wissen über sich selbst und seine Situation, weshalb es sich in Bezug auf den Blickwinkel um eine interne Fokalisierung handelt. Gleich zu Beginn der Passage gibt der Erzähler sich klar als solcher zu erken‐ nen: „Non dirò quali, non di questo mi son messo a raccontare“ (1f.) und ver‐ mittelt so erst einmal den Eindruck von Distanz. Dieser wird im Folgenden aufgehoben, da das Erzähler-Ich beginnt, in einer Art innerem Monolog seine Befindlichkeit angesichts der „verlorenen Menschheit“ (3) zu schildern. Diese Schilderung erfolgt assoziativ, mittels leitmotivisch eingesetzter Metaphern. Durch die permanenten Wiederholungen der Motive erhält der Monolog quasi den Charakter eines Klagegesangs, der dazu dient, den ersten Satz des Textes zu erläutern, welcher wiederum die Befindlichkeit des Erzähler-Ichs zu einem relativ unbestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit („in jenem Win‐ ter“) resümiert. Dieser war Opfer einer unbestimmten Wut, die sich mittels der folgenden Verkettung der Leitmotive als Wut über die Unfähigkeit erklä‐ ren lässt, angesichts der ‚verletzten Welt‘ zu handeln bzw. zu reagieren. Der gebeugte Kopf („il capo chino“, „Chinavo il capo“ 5-mal), die Ruhe in der Hoffnungslosigkeit („la quiete nella non speranza“, 12), Metaphern, die gram‐ 192 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="193"?> Offenheit Intermedialität Text 9.4 Conversazione in Sicilia, 1. Teil, Kapitel V (Auszug) matikalisch noch durch den durchgehenden Gebrauch des Imperfekts ver‐ stärkt werden, stehen für die Unfähigkeit des Erzähler-Ichs zu handeln. Die Metapher des Regens und der mit Wasser durchnässten löchrigen Schuhe wie auch die Zeitungen repräsentieren dagegen die ‚verletzte Welt‘. Im Vergleich mit dem Roman Manzonis können wir festhalten, dass die Charakterisierung des Protagonisten nur durch Andeutungen vollzogen wird. Es ist uns nicht möglich, das Erzähler-Ich exakt in einen räumlichen oder zeitlichen Kontext einzuordnen. Nur in der Aufzählung der Dinge, die vor dieser ‚abstrakten Wut‘ für den Erzähler von Bedeutung waren, erfahren wir von seiner Kindheit in Sizilien. Vittorini war sich der Offenheit seines Textes wohl bewusst, hat er doch in den 1950er Jahren eine neue, mit Fotos illustrierte Edition herausgegeben. Die Leerstellen (Einheit 10.5.2) der Erstausgabe müs‐ sen zum einen im historischen Kontext betrachtet werden, d.-h. als Strategie gegen die Zensur, zum anderen unterstreichen sie die Allgemeingültigkeit des Textes. Der Roman funktioniert dabei, ähnlich wie der Film, als Montage von Bildern und Szenen, was auf Vittorinis Auseinandersetzung mit den Medien Film und Bild in den 1930er Jahren zurückzuführen ist. Trotz seiner interme‐ dialen Darstellungsweise bedarf es für Vittorini des Mediums der Literatur, um zu einer realtà maggiore zu gelangen. Wir wollen uns nun einer Episode auf der Reise Silvestros zuwenden, die eine seiner Begegnungen beschreibt. Lesen Sie den Ausschnitt vor dem Hintergrund Ihrer bisherigen Kenntnis des Werkes und beantworten Sie die anschließenden Fragen. 1 - - - 5 10 15 M’ero appena gettato sul sedile di legno, nel treno in moto, che udii due voci nel corridoio, parlare tra loro dell’accaduto. Non era accaduto nulla che fosse un vero accaduto, nessun fatto, nemmeno un gesto; solo che un uomo, quel piccolo siciliano, mi aveva gridato dietro le sue ultime parole, la fine del suo racconto mentre non c’era più tempo e il treno era in moto. Solo questo; delle parole. Ed ecco due voci parlare dell’accaduto. - Ma che voleva quel tipo? - Sembrava che protestasse … - Con qualcuno ce l’aveva. - Direi che ce l’aveva con tutti … - Lo direi anch’io; era un morto di fame … - Se fossi stato giù l’avrei fermato. Erano due voci da sigaro, forti, e strascicate 1 , dolci in dialetto. Parlavano in siciliano, in dialetto. Affacciai la testa sul corridoio e li vidi al finestrino, due uomini di persona massiccia, tarchiati 2 , in cappello e cappotto, uno coi baffi, l’altro no, due siciliani di tipo carrettiere, ma ben messi, floridi, presuntuosi nella nuca e la schiena, eppur con qualcosa di simulato e goffo 3 che, forse, in fondo, era timidezza. 9.2 Elio Vittorini und der Neorealismus 193 <?page no="194"?> Aufgabe 9.12 Aufgabe 9.13 Aufgabe 9.14  Zusammenfassung 20 25 30 35 “Due baritoni”, io dissi tra me. E uno, in effetti, quello senza baffi, aveva voce piuttosto da baritono, cantante e sinuosa. - Non avresti fatto che il tuo dovere, - egli disse. L’altro aveva solo la voce rauca di sigaro, dietro i suoi baffi, ma dolce nel dialetto. - Naturalmente, - egli disse. - Non avrei fatto che il mio dovere. Io ritirai il capo dentro lo scompartimento ma rimasi in ascolto pensando, col variar delle voci, baritono e rauco, le due facce di loro, senza baffi, coi baffi. - I tipi cosi sono sempre da fermare, - disse Senza Baffi. - Effettivamente, - disse Coi Baffi. - Non si sa mai. - Ogni morto di fame è un uomo pericoloso, - disse Senza Baffi. - Come no? Capace di tutto, - disse Coi Baffi. - Di rubare, - disse Senza Baffi. - Questo va da sé, - disse Coi Baffi. - Tirare coltellate, - disse Senza Baffi. - Indubbiamente, - disse Coi Baffi. - E di darsi anche alla delinquenza politica, - disse Senza Baffi. Si guardarono negli occhi, si sorrisero, io lo vidi dalla faccia dell’uno e dalla schiena dell’altro, e cosi continuarono a parlare, Coi Baffi, Senza Baffi, di quello che intendevano per delinquenza politica. Pareva intendessero la mancanza di rispetto, di considerazione, dissero, e accusarono, senza risentimento, l’umanità intera, dissero che l’umanità era nata per delinquere. (Vittorini: 2000, 149-f.) - 1 strascicato schleppend - 2 tarchiato kräftig, breit gebaut - 3 goffo grob ? Wie lässt sich dieser Textausschnitt an den historischen Kontext rückkoppeln? ? Erläutern Sie die erzählerische Gestaltung in Bezug auf die Personen‐ darstellung. ? Analysieren sie den Ausschnitt unter dem Aspekt der Intermedialität. Auf www.bachelor-wissen.de steht Ihnen ein weiterer Text mit Übungsauf‐ gaben zu dem Roman L’isola di Arturo von Elsa Morante zur Verfügung. Mit dem Roman I promessi sposi von Alessandro Manzoni wurde ein Bei‐ spiel für die im 19. Jh. bedeutende Gattung des historischen Romans vor‐ gestellt. Der Rückgriff auf die Vergangenheit dient vorrangig dazu, sich 194 9 Epik analysieren - Beispiele und Übungen <?page no="195"?>  mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, die im Kontext der Ausbildung eines italienischen Nationalbewusstseins gesehen werden muss. Formal wechselt das Werk zwischen historischen, erzählenden und beschreiben‐ den Passagen. Dabei zeugt die erzählerische Darstellung insgesamt von einer großen Distanz. Die Mittelbarkeit des Erzählens ist in Elio Vittorinis Conversazione in Sicilia dagegen stark zurückgenommen. Die offene Struktur des Werkes, die ähnlich wie im Film montierten Szenen und die vielen Leerstellen ermöglichen unterschiedliche Lesarten und reihen den Roman damit in die eher experimentelle Erzähltradition des 20. Jh. ein. Literatur Alessandro Manzoni: I promessi sposi. Milano: Garzanti 2005. Elsa Morante: L’isola di Arturo. Torino: Einaudi 1995. Elio Vittorini: Conversazione in Sicilia. Milano: Rizzoli 2000. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 9.2 Elio Vittorini und der Neorealismus 195 <?page no="197"?> Kompetenz 3: Literarische Texte methodenorientiert interpretieren <?page no="199"?> Überblick 10 Text, Autorschaft und Rezeption Inhalt 10.1 Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze 10.2 Positivismus 10.3 Psychoanalyse 10.4 Literatursoziologie 10.4.1 Marxistische Literaturwissenschaft 10.4.2 Gattungen als ‚Sitz im Leben‘ 10.4.3 Feldtheorie 10.5 Die Rezeption literarischer Werke 10.5.1 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte 10.5.2 Rezeptionsästhetik In diesem ersten Kapitel zu den literaturwissenschaftlichen Interpretati‐ onsmethoden lernen Sie einige klassische Ansätze kennen, die literarische Texte im Hinblick auf die ‚Kardinalpunkte‘ der literarischen Kommuni‐ kation erklären, nämlich die AutorInnen und ihr jeweiliger Kontext ei‐ nerseits und die Leserschaft andererseits. Produktionsorientierte Zu‐ gänge gehen davon aus, dass Literatur ihren Ursprung spiegelt und aus ihm ihre Bedeutung bezieht, sei es auf individueller Ebene, wie positivis‐ tische und psychoanalytische Deutungen meinen, sei es auf überindivi‐ duell-gesellschaftlicher Ebene, wie die Literatursoziologie in ihren ver‐ schiedenen Ausprägungen annimmt. Rezeptionsästhetische Ansätze betonen demgegenüber die Beteiligung der Leserschaft an der Bedeu‐ tungskonstruktion, wie sie sich im hermeneutischen Zirkel zeigt. <?page no="200"?> Objektivierung von Verste‐ hen Strukturanalyse Interpretation Pluralität der Interpreta‐ tionen 10.1 Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze Will man sich über die Bedeutung von literarischen Texten verständigen, wie es eine der Aufgaben der Literaturwissenschaft ist, so bedarf es einer Objek‐ tivierung des prinzipiell subjektiven Verstehensprozesses. In Einheit 4 wur‐ den zwei Ansatzpunkte für eine solche Objektivierung genannt. Der erste ist der Text als vorgegebene Menge sprachlicher Zeichen mit einem idealerweise auszumachenden überindividuellen Bedeutungsgehalt, wie er etwa in Wör‐ terbüchern fixiert wird, sowie ihrer Beziehung untereinander. Auf diesen An‐ satzpunkt stützt sich die Strukturanalyse, die ein Modell der Funktionsweise eines Textes zu erarbeiten und dabei weitestmöglich von textexternen Fak‐ toren abzusehen versucht. Sie wurde in den zurückliegenden sechs Einheiten anhand der drei Großgattungen vorgeführt. Der zweite Ansatzpunkt der Ob‐ jektivierung besteht darin, die theoretischen Voraussetzungen (Prämissen) und den Weg (Methode), die zu den jeweiligen Befunden geführt haben, of‐ fenzulegen und einer kritischen Überprüfung zugänglich zu machen. Eine Aussage über die Bedeutung des Textes, die diesen Ansprüchen genügt, heißt Interpretation. Sie ist unabdingbar, um über das Potenzial und den literarhis‐ torischen Stellenwert eines Textes zu urteilen, und stellt eines der zentralen Aufgabengebiete der Literaturwissenschaft dar. Die Bandbreite verschiedener, teilweise konträrer Interpretationen eines Textes rühren von den unterschiedlichen Prämissen und methodischen Zu‐ gängen her, die ihnen jeweils zugrunde liegen. Eine gültige Interpretation ist dann gegeben, wenn die Prämissen und der Wortlaut des interpretierten Werks schlüssig zu einer Feststellung über seine Bedeutung vereint wer‐ den. Die Prämissen aber werden erst von den jeweils Untersuchenden an den Gegenstand herangetragen; sie müssen ihrerseits natürlich plausibel sein, aber zwingend sind sie in aller Regel nicht. Aus diesem Grund gibt es zu einem bestimmten Zeitpunkt, insbesondere aber auch in verschiedenen Entwicklungsphasen der Literaturwissenschaft, mehrere unterschiedliche Annahmen darüber, worauf sich eine Textdeutung stützen sollte. Da im Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften die (auch ‚professionell‘) Verstehenden mit ihren Fragen und Vorerwartungen stets an ihrem Unter‐ suchungsobjekt teilhaben, können konträre Forschungsmeinungen neben‐ einander bestehen und beide gleichermaßen ‚objektiv‘ und gültig sein (was nicht bedeutet, dass die jeweiligen VertreterInnen nicht auch energisch um ihre Thesen streiten). Die Vielfalt möglicher Ansätze, die sich im Laufe der Fachgeschichte herausgebildet haben, sollen in den nun folgenden Einhei‐ ten ansatzweise umrissen werden. Da es sich nicht selten um recht kom‐ plexe Theoriegebäude und Methoden handelt, bleiben die Ausführungen notwendigerweise summarisch. 200 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="201"?> Literarische Kommunika‐ tion Autorschaft als Interesse der Interpretation: Pro‐ duktionsorientierte Inter‐ pretationsmodelle Versteht man Literatur als einen Sonderfall sprachlicher Kommunika‐ tion, in der von einem Sender eine Botschaft auf einem Trägermedium über einen Kanal an einen Empfänger übermittelt wird, der sich, wie wir im Zu‐ sammenhang mit der Hermeneutik bereits sahen, dialogisch mit der Bot‐ schaft auseinandersetzt und sie mitgestaltet, so zeigen sich eine Reihe mög‐ licher Faktoren, die eine Interpretationsmethode in den Mittelpunkt rücken kann. Abb. 10.1 Vereinfachtes Modell literarischer Kommunikation Eine auf den Text bezogene, also textimmanente Herangehensweise haben Sie bereits mit der Strukturanalyse in Theorie und Praxis kennengelernt. Da jegliche Interpretation sich zwangsläufig auf den Text bezieht, auf die‐ sem also immer der Fokus liegt, bildet die Strukturanalyse auch eine sinn‐ volle Vorarbeit für Textinterpretation allgemein. Interessiert man sich nicht nur für eine sprachliche Äußerung als solche, liegt es wohl am nächsten, nach ihrem Urheber oder ihrer Urheberin zu fragen - schließlich gilt ihm auch im Alltag oft der erste Blick, etwa bei einem Brief, den man be‐ kommt, oder beim Stöbern in einer Buchhandlung. Eine fachgeschichtlich besonders frühe Frage ist daher die nach der Autorin bzw. dem Autor. Pro‐ duktionsorientierte Interpretationsmodelle, die also von der Prämisse ausge‐ hen, dass es für den Sinn und die Relevanz eines Textes entscheidend ist, von wem und aus welchem Kontext heraus er verfasst wurde, haben, in sehr unterschiedlicher Ausprägung und mit wechselnder Konjunktur, bis heute ihren Platz im literaturwissenschaftlichen Instrumentarium. Einige pro‐ duktionsästhetische Ansätze (estetica della produzione) werden in den nun folgenden Kapiteln 10.2 bis 10.4 skizziert. 10.1 Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze 201 <?page no="202"?> Positivismus: Objektivität der Fakten Abb. 10.2 Hippolyte Taine (1828- 1893) Race, milieu, moment Literatur: Verismus  Zur Editionsphilolo‐ gie vgl. die Zusatzmateri‐ alien zu Einheit 2 unter www.bachelor-wissen.de 10.2 Positivismus Literarische Texte zeichnen sich meist dadurch aus, dass sie ihre Gegen‐ stände selbst erzeugen und sich auch, im Unterschied zu Sachtexten, nicht daran messen lassen (müssen), inwieweit sie mit realen, überprüfbaren Gegebenheiten übereinstimmen. Jedoch erschöpft sich ein Text nicht in der von ihm dargestellten Textbedeutung, sondern besitzt darüber hinaus eine bestimmte Botschaft, Aussageabsicht, ein Ziel oder einen Textsinn. Dieser Sinn ist immer Sinn für jemanden, und es erscheint durchaus plausibel, sich hier auf die Person, die den Text verfasst hat, und ihre lebensweltliche und intellektuelle Umgebung zu konzentrieren und literarische Werke als Verweis auf Wirklichkeit (mimetisch) oder Autorpersönlichkeit (expressiv) zu lesen. Wenngleich es durchaus Texte gibt, die ihren eigenen literarischen Ursprungsstandort und ihren Zweck explizit thematisieren (Autobiogra‐ phien beispielsweise), haben wir es doch zumeist mit einer indirekten Form der Widerspiegelung zu tun. Eine produktionsorientierte Herangehensweise, die bei der Ermittlung dieser Widerspiegelung eine Objektivität nach dem Vorbild der Naturwis‐ senschaften anstrebt, ist der Positivismus (positivismo). Er geht zurück auf das Erkenntnis- und Geschichtsmodell, das Auguste Comte in seinem Cours de philosophie positive (1830-42) entwickelte, und verbindet sich hinsicht‐ lich der Anwendung auf Literatur v. a. mit dem Namen Hippolyte Taine. Der Begriff ‚Positivismus‘ leitet sich ab von der programmatischen Be‐ schränkung auf’positive, d. h. beobachtbare Fakten. Unter Ausklammerung subjektiven Verstehens entwickelt der französische Philosoph, Historiker und Literaturkritiker Taine eine Theorie, der zufolge Literatur sich kausal auf objektiv beschreibbare Determinanten zurückführen lässt. Diese sind für ihn race, milieu und moment: Race bezeichnet im Unterschied zu den unguten Assoziationen des Begriffs im Deutschen nicht nur Ererbtes, son‐ dern auch soviel wie ‚Nationalcharakter‘, moment den geschichtlichen Zeit‐ punkt einer kulturellen Erscheinung bzw. ihres Urhebers, milieu als der wichtigste Terminus deren soziale Ursprungsumgebung. Als literarisches Konzept hat Taines Positivismus sich v. a. im französischen Naturalismus des 19. Jh. und seinem italienischen Pendant, dem Verismus (verismo) nie‐ dergeschlagen. Als literaturwissenschaftlicher Zugang widmete sich der Po‐ sitivismus einem ausgiebigen Quellenstudium, das insbesondere den bio‐ graphischen Fakten zur jeweiligen Autorin bzw. zum jeweiligen Autor und deren Umfeld sowie dem jeweiligen Text und seinen mutmaßlichen Vor‐ gängern galt, wobei man sich zuallererst mit einer genauen Ermittlung der Textgestalt im Rahmen der Editionsphilologie und dem Vergleich mit Wer‐ ken der literarischen Tradition im Rahmen der sog. Einflussforschung be‐ schäftigte. Das Ziel war die Schaffung einer möglichst großen Basis beleg‐ barer außertextueller, aber den Textsinn determinierender Fakten und der 202 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="203"?> Literaturwissenschaft: Scuola storica Abb. 10.3 Arturo Graf (1848-1913) Text 10.1 Vorwort der ersten Ausgabe des Giornale storico della letteratura italiana (1883) Verzicht auf eine wie auch immer geartete ‚ideologische‘ oder systemati‐ sierende Interpretationsperspektive seitens des Untersuchenden. Maßgeb‐ lich für die Begründung des literaturwissenschaftlichen Positivismus in Italien war die sog. Scuola storica, der zahlreiche Philologen mit unter‐ schiedlichen Tätigkeitsfeldern angehörten, darunter auch sehr namhafte wie z. B. der berühmte Boccaccio-Spezialist Vittore Branca (1913-2004). Diese Schule war bis in die 1950er Jahre produktiv - wenngleich sie ab der Jahrhundertwende zunehmend von ästhetizistischer Seite und namentlich von Benedetto Croce (1866-1952) kritisiert wurde, der in der Kunst ein Er‐ kenntnisobjekt eigener Art und damit etwas nicht durch objektive Fakten Fassbares erkannte. Ihr Organ hatte die positivistische Scuola storica in der 1883 von Arturo Graf, Francesco Novati und Rodolfo Renier gegründeten Zeitschrift Giornale storico della letteratura italiana, in deren programma‐ tischem erstem Vorwort ihre Geburtsurkunde. 1 - - - 5 - - - - 10 15 20 E valga il vero: che cosa sono, generalmente parlando, […] le storie della nostra letteratura? O esposizioni superficiali e manchevoli, o sintesi più o meno geniali, in cui, più assai che allo studio dei fatti, si badò ad alcuni preconcetti estetici, politici, filosofici, con l’aiuto de’ quali si pretese d’interpretare e ordinare fatti male sceverati 1 e mal noti, ossia di ricostruire sistematicamente la storia. Ond’è che esse, e più particolarmente quelle che corrono per le scuole, o sono al tutto insufficienti, o danno dello svolgimento e delle vicende delle nostre lettere un assai falso concetto. Il disfavore, in che quest’opere sono venute, cresce di giorno in giorno; ma perché possano essere sostituite da altre, egli è mestieri anzi tutto di compiere un ben lungo lavoro di preparazione, in cui tutte le forze e tutte le attitudini sieno chiamate ad esecitarsi. La nuova storia della letteratura italiana bisogni che poggi 2 esenzialmente sullo studio diretto dei monumenti, e che rifuggia da ogni costruzione sistematica. Le biblioteche e gli archivii nostri riboccano 3 di documenti, o ignoti affatto, o intraveduti appena; la lezione della massima parte dei nostri testi è da assoggettare a nuovo ed accurato esame; le relazioni delle lettere con quelle delle altre nazioni di Europa, ed i molteplici rapporti delle lettere con la politica, con la scienza e con le arti figurative sono, come s’esce dal medio evo, a mala parte avvertiti; infiniti punti di storia biografica, di storia della lingua, di bibliografia, sono da discutere e da chiarire; v’è insomma tutto uno sterminato materiale da vagliare e da ordinare prima che altri possa, in modo degno della scienza, accingersi 4 all’ingente fatica di scrivere una storia generale della letteratura italiana. (Graf/ Novati/ Renier: 1883, 2 f.) - 1 sceverare unterscheiden, differenzieren - 2 poggiare sich stützen auf - 3 riboccare überquellen - 4 accingersi sich etwas vornehmen 10.2 Positivismus 203 <?page no="204"?> Aufgabe 10.1 Problematik des literatur‐ wissenschaftlichen Positi‐ vismus Leistungen positivistischer Literaturwissenschaft ? Mit welchen Argumenten kritisieren die Verfasser die vorpositivis‐ tische Literaturbetrachtung? Worauf zielt demgegenüber ihre eigene Arbeit ab? Der Positivismus ist in seiner Reinform aus heutiger Sicht unhaltbar, da er etwa Einsichten der Hermeneutik in die Eigengesetzlichkeit kultureller Untersuchungsgegenstände und damit der Geisteswissenschaften (vgl. Ein‐ heit 3.3) nicht berücksichtigt. Die in obigem Textauszug genannte Suche nach Dokumenten unter Verzicht auf jede theoretische oder systematische Voraussetzung ist, so unentbehrlich die Arbeit an den in Archiven liegen‐ den Quellen auch ist, als alleinige Herangehensweise hochproblematisch, denn der Glaube an die Objektivität des Faktums darf nicht darüber hin‐ wegtäuschen, dass jede Suche ihre eigenen Voraussetzungen hat und die Literaturgeschichte, die das erklärte Ziel der Scuola storica ist, immer einer Konstruktion auf Grundlage bestimmter Vorannahmen seitens der For‐ schenden gleichkommt: Die Entscheidung etwa, was überhaupt als Faktum gilt, welches Faktum relevant ist, wird vom Leserinteresse gesteuert, ebenso wie das Verständnis von ‚Literatur‘ oder vom künstlerischen Schaffens‐ prozess unhintergehbar eines der Jetztzeit ist, das sich nicht zwingend mit dem früherer Epochen deckt. Einwände wie diese haben dazu geführt, dass der Begriff ‚Positivismus‘ spätestens seit den 1960er Jahren mithin eher als Schimpfwort für theoretisch unbedarfte und unkritische Faktensammlung gebraucht wird. Der Positivismus ist insbesondere aus drei Gründen den‐ noch bedeutsam: ▶ Im Unterschied zu vielen vorpositivistischen Auseinandersetzungen mit Dichtung bedeutete er eine nicht-normative Herangehensweise, die den Gegenstand verstehen, beschreiben, erforschen will, ohne ihn sogleich an poetologischen Normen zu messen. ▶ Der Positivismus hat mit der Berücksichtigung des Milieus eine wich‐ tige Kategorie der produktionsorientierten Literaturinterpretation einge‐ führt. Sie wird zwar bei Taine entgegen seinem Anspruch nicht ‚objektiv‘ genutzt, sondern bleibt spekulativ, u. a. weil die Soziologie noch nicht weit genug entwickelt war, wird aber später von der Literatursoziologie (siehe Abschnitt 10.4) in methodisch reflektierter Form und mit Erkenntnisge‐ winn aufgegriffen. ▶ Er hat gegen Ende des 19. Jh. zu einem Quellen- und Faktenstudium geführt, durch das zahllose Texte genau erschlossen und ediert wurden - eine wertvolle Forschungsleistung, auf der vielfach noch heutige Text‐ ausgaben und andere Hilfsmittel beruhen. 204 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="205"?> Abb. 10.4 Sigmund Freud (1856- 1939) Psychische Qualitäten: bewusst, vorbewusst, unbewusst Psychischer Apparat Instanzen: Ich - Es - Über-Ich Psyche als Ort von Konflikten 10.3 Psychoanalyse Mit der von Sigmund Freud etwa ab der Jahrhundertwende entwickelten und vertretenen Psychoanalyse (psicoanalisi, f.) wird das Bild vom Individuum und den psychischen Bedingungen seines - auch künstlerischen - Handelns re‐ volutioniert. Identifizierte man bis dato ein Individuum in geistiger Hinsicht mit der Gesamtheit seiner aktuellen Bewusstseinsvorgänge (Gedanken, Ab‐ sichten usw.) und Erinnerungen, so bemerkte Freud in seiner klinischen Ar‐ beit, dass die beobachteten ‚abnormen‘ psychischen Symptome und Verhal‐ tensweisen sich nicht mit den bewussten, von den PatientInnen wahrnehmbaren Prozessen erklären ließen; sie rührten vielmehr von seeli‐ schen Strukturen und Kräften her, die sich dem Bewusstsein entziehen, unbe‐ wusst (incosciente, Subst. l’inconscio) waren, im Gegensatz zu den bewussten (cosciente, Subst. il conscio) Wahrnehmungen und Gedanken im jeweiligen Moment und denjenigen, die durch einen Aufwand des Individuums wieder bewusst werden können und die er vorbewusst (precosciente, Subst. il precon‐ scio) nennt - wie etwa Erinnerungen. Freud postulierte die Existenz unbe‐ wusster psychischer Prozesse nicht nur für diejenigen Fälle, wo sie zu be‐ handlungsbedürftigen Verhaltensweisen führen, sondern in der menschlichen Psyche schlechthin, was eine differenzierte Darstellung des psychischen Ap‐ parats (apparato psichico) notwendig machte. Hier erkennt Freud drei sog. In‐ stanzen: ▶ Den bisher mit der Psyche allein identifizierten Teil, der bewusst wahr‐ nimmt, fühlt, Bewegungen auslöst etc., nennt Freud das Ich (ego, m.). ▶ Die unbewussten Vorgänge, die manchen Handlungen des Ichs zugrunde liegen, haben ihren Ort im sog. Es (es, m.). Darunter versteht Freud die Sphäre der ererbten, physiologischen Bedürfnisse, der Triebe. Sie ist der älteste, sozusagen ‚primitivste‘ Teil des psychischen Apparats. ▶ Im Heranwachsen bildet sich durch den Einfluss der sozialen Umgebung, insbesondere der Eltern, eine innere Instanz der Normenkontrolle und des Verbots heraus, die Über-Ich (super-ego, m.) genannt wird. In der psychoanalytischen Theorie erweisen sich die Psyche eines Individu‐ ums und die auf ihr gründenden Handlungen also nicht als einheitliches und stimmiges Ganzes, sondern als Zusammenspiel mehrerer Instanzen mit radi‐ kal entgegengesetzten Zielen. 10.3 Psychoanalyse 205 <?page no="206"?> Es und Lustprinzip Sexualtrieb Über-Ich, Normen und Tabus Verdrängung Sublimation Realitätsprinzip Kompromiss Abb. 10.5 Psychischer Apparat nach Freud Das Es fordert als unbewusste, vorrationale Sphäre die Befriedigung von Trieben, ohne Rücksicht auf Machbarkeit in der Realität und Anpassung an sittliche Normen; es folgt allein dem Lustprinzip (principio del piacere). Unter den Trieben ist nach Freudscher Vorstellung der Sexualtrieb (die sog. Libido) der wichtigste. ‚Sexuell‘ ist hier in einem weiten psychoanalytischen Sinne zu verstehen, denn die Quelle des Sexualtriebs sind nicht etwa immer die Genitalien, sondern auch andere erogene Zonen wie der Mund (weshalb die ‚orale‘ Befriedigung eines lutschenden Säuglings ‚sexuell‘ genannt wird, wenn sie nicht allein der Nahrungsaufnahme dient), und das Objekt ist meist variabel, also nicht etwa immer nur ein Sexualpartner, sondern evtl. ein be‐ liebiges Ersatzobjekt. Die Ansprüche des Es stehen häufig in Konflikt mit den - teils unbewussten, teils vorbewussten - Normen und Tabus, deren Einhal‐ tung das Über-Ich fortwährend einfordert. Dem Ich als dem bewussten und handelnden Teil der Psyche kommt die Aufgabe zu, zwischen den konträren Anforderungen zu vermitteln: zulässige Triebe (etwa Nahrungsaufnahme) zu befriedigen, verbotene zu verdrängen (reprìmere), also in unbewusstem Zu‐ stand zu halten, oder aber maskiert, d.-h. durch Zensur unkenntlich gemacht oder auf akzeptable Ersatzbefriedigungen (darunter künstlerisches Schaffen) umgeleitet (sublimiert), zuzulassen. Zudem muss das Ich sein Handeln mit den Gegebenheiten der äußeren Umwelt abstimmen, ist also im Gegensatz zum Es dem Realitätsprinzip (principio della realtà) verpflichtet. Es gibt gemäß der psychoanalytischen Theorie keine ruhende Psyche, kein absolut stimmiges Handeln - jede psychische Äußerung ist das Ergebnis dynamischer Prozesse, ist potenziell spannungsreicher Kompromiss. Eine Handlung ist in diesem Sinne dann ‚korrekt‘, wenn sie den Ansprüchen des Über-Ichs und der Realität 206 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="207"?> Bezug zu Literatur Literatur als Phantasiebefriedigung im abgekoppelten Raum Traum-Analogie genügt, dabei verbotene Triebe auf akzeptablen Umwegen befriedigt und Triebverzicht und die daraus resultierende Unlustspannung in möglichst en‐ gen Grenzen hält. Abb. 10.6 Traumarbeit und Kunstarbeit Was hat all dies mit Literatur zu tun? Zunächst einmal ist die Psychoanalyse ihrem Anspruch nach eine Theorie über die mentale Seite des Menschen ins‐ gesamt und damit auch über die von ihm geschaffene Kunst. Demgemäß muss eine autororientierte Interpretation von Texten diese auch als Produkt des Unbewussten lesen und darf ihre Bedeutung nicht, wie im Positivismus, mit offensichtlichen Fakten oder der (bewussten) Intention des Autors/ der Auto‐ rin gleichsetzen. Wenn Freud sich schon früh für literarische Texte interes‐ sierte, dann v. a. aber auch deshalb, weil sie für ihn einen der privilegierten Zugänge zum Unbewussten darstellten, das beim gesunden Individuum i. d. R. nicht direkt sichtbar wird. Hierzu gehören v. a. der Traum, ebenso der Tag‐ traum (sogno diurno) und andere Phantasiebefriedigungen, zu denen auch die Literatur zählt. Da, so Freuds Annahme, im Schlaf keine Verbindung zwischen Gedachtem und Realität (Handeln) besteht, ist die Kontrolle der Impulse aus dem Es weniger entscheidend als im Wachzustand und daher die zensierendverdrängende Ichfunktion schwächer, weshalb sich im Traum unbewusste Gedanken und Wünsche in maskierter Form artikulieren können. Tagtraum und künstlerische Aktivitäten vollziehen sich zwar im Wachzustand und un‐ ter ‚regulärer‘ Zensur, sie sind aber ebenfalls als Phantasien von der Realität abgekoppelt, haben keinen äußeren Nutzwert, sondern folgen dem Lustprin‐ zip. Es besteht für Freud eine strukturelle Analogie zwischen Traum und Kunstwerk, zwischen Traumentstehung und künstlerischer Produktion, wo‐ durch Letztere mit den am Traum erprobten Methoden entschlüsselt, inter‐ pretiert werden kann. 10.3 Psychoanalyse 207 <?page no="208"?> Entstehung eines Traums nach Freud Erste Entstellung Latenter Traumgedanke Zweite Entstellung Sekundäre Bearbeitung Traumdeutung - Text‐ interpretation Durch seine Beobachtungen an PatientInnen ging Freud davon aus, dass ein verdrängter, unbewusster Wunsch, der in das Bewusstsein gelangen will, sich zunächst mit vorbewussten Inhalten verknüpft - etwa jenen Er‐ innerungen an kürzlich oder am zurückliegenden Tag Erlebtes (Tages‐ reste), die erkennbar in Träumen wieder auftauchen. Dadurch entstellt (maskiert) sich der Wunsch ein erstes Mal. Er ist jetzt latenter Traumge‐ danke, jenes verbotene Substrat eines Traums, das die Traumanalyse auf‐ zudecken sucht. Um die Zensurschranke (censura), die das Ich infolge der Ansprüche des Über-Ichs errichtet, zum Bewusstsein hin passieren zu kön‐ nen, muss sich der latente Traumgedanke erneut entstellen, bis gewähr‐ leistet ist, dass das Bewusstsein den anstößigen Gehalt des Traums nicht mehr aus eigener Kraft zu entschlüsseln vermag. Beide Entstellungen voll‐ ziehen sich nach den alogischen Prinzipien des Unbewussten (Primärvor‐ gang), insbesondere der Verdichtung (condensazione; Zusammenführung mehrerer Wünsche oder Gedanken zu einem), Verschiebung (spostamento; Übertragung der Triebintensität auf ein anderes, im Traum möglicherweise nebensächlich scheinendes Objekt) und Verbildlichung (simbolizzazione; Darstellung abstrakter Sachverhalte als Bild, etwa sexuelle Anziehung als Zug an einem Seil). Passiert der latente Traumgedanke die Zensur und er‐ reicht die Qualität des Vorbewussten, wird er vom Ich noch nach den Re‐ geln des Sekundärvorgangs (processo secondario; Realitätsprinzip), also ge‐ mäß der Logik, Chronologie usw. geordnet, bevor er vom Träumer als manifester Traum geträumt wird, von dem er berichten, den er aber nicht eigentlich verstehen kann. Beim literarischen Text verläuft der Weg ana‐ log, wobei die vorbewussten Inhalte seinem Stoff oder Thema entspre‐ chen, der latente Traumgedanke dem unbewussten, durch das Werk befrie‐ digten Wunsch, die sekundäre Bearbeitung der sprachlichen Gestaltung und Anpassung an Gattungsregeln (z. B. Verse, Erzählstruktur) und der mani‐ feste Traum dem ‚manifesten Text‘, also der Textoberfläche, wie sie der Lektüre direkt zugänglich ist. Wie die psychoanalytische Traumdeutung mit Hilfe der Assoziationen der PatientInnen, ihrer Reaktionen auf die Analysesituation und biographischer Informationen den Weg vom mani‐ festen Traum zurück zum latenten Traumgedanken zu gehen versucht, ver‐ folgt eine psychoanalytische Textdeutung das Ziel, die unbewussten An‐ teile des Werks herauszuarbeiten, mithin die verdrängten Wünsche, die der Autor oder die Autorin mit dem jeweiligen Text zu befriedigen sucht, die Konflikte, aus denen er hervorgegangen ist - und die in der Psyche der Leserin bzw. des Lesers wiederum entsprechende Abwehr- oder Befriedi‐ gungsreaktionen hervorrufen können. Sie kann daher ebenso zum Ver‐ ständnis der Textentstehung wie der Bedeutungskonstitution oder der Re‐ zeption (Wirkung) eines Werks beitragen. 208 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="209"?> Aufgabe 10.2 Text 10.2 Italo Svevo: La coscienza di Zeno (1923), Preambolo Abb. 10.7 Italo Svevo (1861-1928) In Italien setzte sich erstmals Italo Svevo (Pseudonym für Aaron Hector Schmitz, 1861-1928) literarisch mit der Psychoanalyse nach Freud auseinan‐ der. So entstand sein Roman La coscienza di Zeno (1923) vor dem Hintergrund seiner Übersetzung (1918) von Freuds Traumdeutung. ? Lesen Sie folgenden Textauszug aus La coscienza di Zeno und arbeiten Sie Elemente der Psychoanalyse darin heraus. Wie wird diese im Roman dargestellt? 1 - - - 5 10 15 20 25 30 Vedere la mia infanzia? Più di dieci lustri 1 me ne separano e i miei occhi presbiti 2 forse potrebbero arrivarci se la luce che ancora ne riverbera non fosse tagliata da ostacoli d’ogni genere, vere alte montagne: i miei anni e qualche mia ora. Il dottore mi raccomandò di non ostinarmi a guardare tanto lontano. Anche le cose recenti sono preziose per essi e sopra tutto le immaginazioni e i sogni della notte prima. Ma un po’ d’ordine pur dovrebb’esserci e per poter cominciare ab ovo, appena abbandonato il dottore che di questi giorni e per lungo tempo lascia Trieste, solo per facilitargli il compito, comperai e lessi un trattato di psico-analisi. Non è difficile d’intenderlo, ma molto noioso. Dopo pranzato, sdraiato comodamente su una poltrona Club, ho la matita e un pezzo di carta in mano. La mia fronte è spianata perché dalla mia mente eliminai ogni sforzo. Il mio pensiero mi appare isolato da me. Io lo vedo. S’alza, s’abbassa … ma è la sua sola attività. Per ricordargli ch’esso è il pensiero e che sarebbe suo compito di manifestarsi, afferro 3 la matita. Ecco che la mia fronte si corruga perché ogni parola è composta di tante lettere e il presente imperioso risorge ed offusca il passato. Ieri avevo tentato il massimo abbandono. L’esperimento finì nel sonno più profondo e non ne ebbi altro risultato che un grande ristoro e la curiosa sensazione di aver visto durante quel sonno qualche cosa d’importante. Ma era dimenticata, perduta per sempre. Mercé la matita che ho in mano, resto desto, oggi. Vedo, intravvedo delle immagini bizzarre che non possono avere nessuna relazione col mio passato: una locomotiva che sbuffa 4 su una salita trascinando delle innumerevoli vetture; chissà donde venga e dove vada e perché sia ora capitata qui! Nel dormiveglia ricordo che il mio testo asserisce 5 che con questo sistema si può arrivar a ricordare la prima infanzia, quella in fasce 6 . Subito vedo un bambino in fasce, ma perché dovrei essere io quello? Non mi somiglia affatto e credo sia invece quello nato poche settimane or sono a mia cognata e che ci fu fatto vedere quale un miracolo perché ha le mani tanto piccole e gli occhi tanto grandi. Povero bambino! Altro che ricordare la mia infanzia! Io non trovo neppure la via di avvisare te, che vivi ora la tua, dell’importanza di ricordarla a vantaggio della tua intelligenza e della tua salute. Quando arriverai a sapere che sarebbe bene tu sapessi mandare 10.3 Psychoanalyse 209 <?page no="210"?> Aufgabe 10.3 Text 10.3 Elio Gioanola: L’esistenza alienata: Svevo e Piran‐ dello (Auszug) 35 40 a mente la tua vita, anche quella tanta parte di essa che ti ripugnerà? E intanto, inconscio, vai investigando il tuo piccolo organismo alla ricerca del piacere e le tue scoperte deliziose ti avvieranno al dolore e alla malattia cui sarai spinto anche da coloro che non lo vorrebbero. Come fare? È impossibile tutelare la tua culla. Nel tuo seno - fantolino 7 ! - si va facendo una combinazione misteriosa. Ogni minuto che passa vi getta un reagente 8 . Troppe probabilità di malattia vi sono per te, perché non tutti i tuoi minuti possono essere puri. Eppoi - fantolino! - sei consanguineo di persone ch’io conosco. I minuti che passano ora possono anche essere puri, ma, certo, tali non furono tutti i secoli che ti prepararono. Eccomi ben lontano dalle immagini che precorrono il sonno. Ritenterò domani. (Svevo: 1985, 14-f.) - 1 lustro Jahrfünft - 2 occhi presbiti weitsichtige Augen - 3 aferrare ergreifen - 4 sbuffare schnauben - 5 asserire behaupten, versichern - 6 fascia Windel - 7 fantolino Kindlein - 8 reagente Reagens (Stoff der chem. Reaktion auslöst) ? Elio Gioanola ist einer der italienischen Literaturwissenschaftler, der die Psychoanalyse nach Freud auf die Interpretation literarischer Texte anwendet. Im Vordergrund steht dabei die Beziehung von Autor und Werk im Sinne der Beziehung von Krankheit und literarischer Produktion. Einer der von ihm bevorzugt untersuchten Autoren ist Italo Svevo. Lesen Sie im Folgenden seine Analyse der Coscienza di Zeno und arbeiten Sie die Freudschen Kategorien heraus. Wie dienen diese als Analysehilfen für die Interpretation eines literarischen Textes? 1 - - - 5 10 15 […] La coscienza di Zeno è ancora “un romanzo di famiglia” e i suoi moventi psicologici sono da ricercare nella circolazione affettiva 1 che lega il protagonista ai familiari antichi e acquistati. Forse il vero fatto nuovo di questo romanzo rispetto agli altri è il matrimonio del protagonista, in esatta corrispondenza con quanto si è detto essere avvenuto sul piano dell’esistenza per l’uomo Svevo. Ma anche l’analisi dei rapporti col padre costituisce un approfondimento importantissimo della tematica psicologica incontrata fin dalle origini della scrittura sveviana. […] Il maggiore psicoanalista italiano, Cesare Musatti, ha detto che Zeno-Svevo identifica, in questo medico, come in generale in tutti i numerosi medici che presenta nella sua opera, la figura del padre; nell’autoanalisi che Zeno conduce indipendentemente dall’intervento del medico è arrivato tanto a fondo da creare la necessità del transfert, cioè del trasferimento su un’altra persona dei sentimenti ostili inconsci rivolti ad un familiare, in questo caso il padre. Ma c’è un altro motivo: il risentimento verso l’analista si fa più acuto quando questi denuncia la presenza di un complesso edipico; certo nessun analista che si rispetti è così “selvaggio” da fermarsi a un diagnosi tanto grossolanamente imperfetta, ma la 210 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="211"?> Marxismus Soziale Funktion Antonio Gramsci und die Quaderni del carcere Text 10.4 Antonio Gramsci: Lettera‐ tura e vita nazionale Abb. 10.8 Antonio Gramsci (1891- 1937) 20 colpa evidentemente è dello scrittore che non possiede strumenti analitici più articolati 2 . In ogni modo la menzione dell’ “Edipo” è estremamente significativa e che Zeno si arrabbi non è dovuto meno alla paura di aver toccato un tasto delicato 3 che al dispetto per gli ingiuriosi e impudichi 4 sospetti della psicoanalisi. Cosa avviene infatti nella Coscienza di Zeno? Detto in termini estremamente bruschi, il protagonista uccide suo padre e sposa sua madre. (Gioanola: 1976, 73 f.) - 1 la circolazione affettiva hier: Gefühlsbeziehungen - 2 articolato hier: differenziert - 3 un tasto delicato ein heikles Thema - 4 impudico unanständig, schamlos 10.4 Literatursoziologie In den 1950er und 1960er Jahren kommt es unter dem Einfluss des Marxis‐ mus zu einer Erneuerung der literaturwissenschaftlichen Theorie- und Me‐ thodenbildung. Sie beruht auf einer kritischen Auseinandersetzung mit der ethisch-ideologischen Kritik alla Francesco De Sanctis oder der akademisch humanistischen Literaturkritik alla Giosuè Carducci und in Deutschland mit der textimmanenten Literaturbetrachtung der Nachkriegszeit. So geht es nicht mehr darum, ein literarisches Werk als individuelles Produkt eines Autors aufzufassen, sondern die Literatur als in erster Linie gesellschaftli‐ ches Produkt in ihrer spezifischen sozialen Funktion zu begreifen. Ansätze einer solchen literatursoziologischen Betrachtungsweise wurden in Italien zuerst von Antonio Gramsci (1891-1937) formuliert. Seine im Gefängnis verfassten Schriften (Quaderni del carcere, 1926-1937), die erst nach dem Krieg veröffentlicht wurden (1947), enthalten erste Ansätze einer marxis‐ tischen Literaturkritik. 1 - - - 5 10 […] Se non si può pensare l’individuo fuori della società, e quindi se non si può pensare nessun individuo che non sia storicamente determinato, è evidente che ogni individuo, e anche l’artista, e ogni sua attività, non può essere pensata fuori della società, di una società determinata. […] Il carattere “aristocratico” del cat‐ tolicismo manzoniano appare dal “compatimento” 1 scherzoso verso le figure di uomini del popolo […] Ma non si tratta di volere che il Manzoni “aduli 2 il popolo”; si tratta del suo atteggiamento 3 psicologico verso i singoli personaggi che sono “popolani”: questo atteggiamento è nettamente di casta pur nella sua forma reli‐ giosa cattolica; i popolani, per Manzoni, non hanno “vita interiore”, non hanno personalità morale profonda; essi sono “animali”, e il Manzoni è “benevolo” 4 verso di loro, proprio della benevolenza di una cattolica società di protezione degli ani‐ mali. (Gramsci: 1975, 90, 99 f.) - 1 compatimento Mitleid - 2 adulare schmeicheln - 3 atteggiamento hier: Haltung, Einstellung - 4 benevolo hier: gnädig 10.4 Literatursoziologie 211 <?page no="212"?> Aufgabe 10.4 ‚Gesellschaft‘ in der Litera‐ tur Marxismus Abb. 10.9 Marxistisches Gesell‐ schaftsmodell Dialektischer, basisbe‐ gründeter Determinismus Vermittelte Widerspiege‐ lung in Literatur ? Was wirft Gramsci Manzoni in Bezug auf seine Darstellung der niederen Schichten in den Promessi sposi vor? Wie bewerten Sie dieses Urteil vor dem Hintergrund Ihrer bisherigen Kenntnis des Romans (vgl. Einheit 9)? Die These der sozialen Bedingtheit literarischer Texte ist natürlich nichts Neues; auch die positivistische Methode hatte für sich in Anspruch genom‐ men, den sozialen Entstehungskontext eines Werks mit zu bedenken, tat dies aber unkritisch und ohne eine theoretische Reflexion über Gesellschaft und ihren Bezug zum Werk. 10.4.1 Marxistische Literaturwissenschaft Ein Modell für eine kritische Literatursoziologie (sociologia della letteratura) fand die neuere Literaturwissenschaft beim Marxismus. Karl Marx (1818- 1883) hatte zwischen der ökonomischen Basis (base economica) einer Gesell‐ schaft, d. h. den miteinander verschränkten Produktionsverhältnissen (con‐ dizioni della produzione; z.-B. Arbeitsteilung, Entlohnung, Konsum) und Pro‐ duktivkräften (forze produttive, z. B. den am Produktionsprozess beteiligten Menschen), und dem sog. Überbau (sovrastruttura), der geistigen Seite, der Ideologie und ihrer Bereiche (z. B. Recht, Religion, Kunst), unterschieden. Der Stand und die Entwicklung einer Gesellschaft sind für Marx bedingt durch das Wechselspiel (Dialektik) dieser beiden Pole, wobei letztlich die ökonomi‐ sche Basis der bestimmende Faktor sei. So werden beispielsweise die materi‐ ellen Eigentumsverhältnisse in einer Gesellschaft durch die Gesetze geregelt, die ‚Eigentum‘ definieren, es vor bestimmten Formen der Aneignung (Dieb‐ stahl) schützen und seinen Transfer (Verkauf) ordnen; zugleich wird die Rechtsordnung einer Gesellschaft von den materiellen Machtverhältnissen an der Basis bestimmt - also, sehr vereinfacht gesagt, die Gesetze werden von denjenigen gemacht, die das Geld haben, was letztlich aus marxistischer Sicht der entscheidende Faktor ist. Der für die Literaturwissenschaft folgenreichste Aspekt dieses dialektischen, basisbegründeten Determinismus ist die These, dass Kunst als Überbauschicht - und damit auch Literatur - von der ökono‐ mischen Basis bestimmt wird und diese widerspiegelt, wenn nicht in ihrer Gesamtheit, so doch ausschnittsweise (etwa je nach der Klasse, der die Au‐ torin oder der Autor zugehört, und ihrer Partizipation an den Produktions‐ mitteln): Angehörige des Großbürgertums, so die Überlegung, reflektierten in ihren Werken die Basis anders als schreibende ProletarierInnen und wähl‐ ten hierfür andere Formen (Gattungen). 212 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="213"?> Abb. 10.10 Georg Lukács (1885-1971) Vermittlung durch Gattung Abb. 10.11 Erich Köhler (1924-1981) Aufgabe 10.5 Text 10.5 Giuseppe Petronio: L’autore e il pubblico (1976) Die Prämisse einer weitgehenden Determination von Literatur durch die ökonomische Basis birgt insofern ein methodisches Problem, als in vielen literarischen Texten nicht direkt von Produktionsverhältnissen die Rede ist. Die Widerspiegelung (rispecchiamento) lässt sich also häufig nicht, wie noch in den interpretatorischen Arbeiten von Georg Lukács, einem der Wegbereiter marxistischer Literaturbetrachtung, durch einen Blick auf den ideologischen Gehalt eines Textes und seine Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand aufzeigen; vielmehr ist der Zusammenhang sehr viel vermittelter. 10.4.2 Gattungen als ‚Sitz im Leben‘ Der Romanist Erich Köhler (1924-1981) hat den marxistischen Ansatz auf‐ gegriffen und weiterentwickelt, indem er der Individualität der Autorin bzw. des Autors, der ja bei aller geschichtlichen und sozialen Bedingtheit das Werk erst realisiert, einen größeren Stellenwert einräumte und zudem das Abbil‐ dungsverhältnis zwischen Basis und Literatur auf der Ebene des Gattungs‐ systems (sistema dei generi letterari) - und nicht im offensichtlichen Inhalt eines einzelnen Werks - ansiedelte. Einzelne Gattungen, so Köhlers These, haben einen spezifischen ‚Sitz im Leben‘, werden getragen von bestimmten Gruppen oder Klassen und repräsentieren deren Blick auf die Basis - aber nicht unmittelbar, sondern durch ihren Platz im System der Gattungen, das in seiner Gesamtheit dem gesellschaftlichen Leben homolog ist: Gesellschaft‐ liche Rivalitäten und historische Veränderungen, insbesondere an Wende‐ punkten der Geschichte (Revolutionen etwa), zeigen sich nach Köhler also durch Umbesetzungen im Gattungssystem: Einzelne Gattungen sterben aus oder erfahren formale oder inhaltliche Modifikationen, wenn die sie tragen‐ den Klassen bedeutungslos werden oder aber aufsteigen. Besondere Blüte‐ phasen führt Köhler dabei weniger auf einzelne Gruppen als auf vorüberge‐ hende Allianzen rivalisierender sozialer Klassen zurück. ? Der italienische Literaturkritiker Giuseppe Petronio übt in folgendem Text Kritik an seinen Vorläufern. Lesen Sie den Text und reformulieren Sie die Kritikpunkte Petronios in eigenen Worten. 1 - - - 5 La critica letteraria marxista - dagli accenni 1 di Marx ed Engels a Goldmann, a Gramsci, ai nostri tentativi degli anni Quaranta, Cinquanta, Sessanta - ha peccato soprattutto di una limitazione: è stato solo o quasi solo una “sociologia dell’autore”. […] Ma noi sappiamo bene, oggi, che questa non basta, e che operando così si resta all’esterno dell’opera d’arte, non la si comprende in quella sua specificità che - piaccia o non piaccia a certi eversori 2 totali - è un dato inconfutabile 3 di 10.4 Literatursoziologie 213 <?page no="214"?> Differenzierung: Gesell‐ schaftliche Felder Kapital als Determinante 10 15 20 25 30 tutta la nostra civiltà occidentale (e non soltanto nostra! ), ed è un dato dunque di cui dobbiamo tener conto, non solo per capire la letteratura, ma per capire questa nostra civiltà e società. […] L’analisi letteraria allora non può essere che “integrale”, identificazione e studio di tutti gli elementi che concorrono alla nascita dell’opera: autore, messaggio, contesto, codici; ognuno dei quali va esaminato, analizzato, giudicato nella sua storicità e socialità, cioè nella sua rispondenza 4 a una società e a una età. Da questo punto di vista la tradizione critica marxista mi appare oggi carente, anche nei suoi saggi più alti. […] A parer mio […] la critica marxista pecca ancora di una carenza. Nella critica marxista tradizionale, contrariamente a quanto le hanno rimproverato gli avversari, è stata sempre vivissima la coscienza e quasi il senso della “grande” opera, […]. Però difetta spesso a questa critica […] il senso della funzione sociale che è proprio della letteratura e dell’arte: non solo di quella “grande” […], ma di quella quotidiana e mediocre, di quella che è voce e consumo di gruppi sociali “inferiori”. Mi spiegherò meglio, forse, con altre parole. Difetta spesso a quella critica il riconoscimento della possibile positività sociale (e quindi del possibile uso sociale) della “letteratura di consumo”. Un termine con cui intendo qui tutta quella letteratura che in tutte le età, con tecniche diversissime di volta in volta, rivolgendosi a gruppi sociali di volta in volta diversi, traduce nei codici letterari gradi medi di cultura e di gusto, e viene incontro dunque a esigenze di acculturazione, di intrattenimento 5 , di svago 6 , di evasione, di soddisfazione di modeste richieste estetiche. Tutte cose che a me non paiono da disprezzarsi, e che non credo possano essere disprezzate o trascurate 7 dal critico, tanto più se questi è un sociologo, tanto più se questi, “marxista”, vede nell’arte uno strumento di natura e di effetti sociali. (Petronio: 1976, 76 ff.) - 1 accenno Andeutung, Hinweh - 2 eversori Zerstörer - 3 inconfutabile unwider‐ legbar - 4 rispondenza hier: Auswirkung - 5 intrattenimento Unterhaltung - 6 svago Zerstreuung, Ablenkung - 7 trascurate von trascurare hier: vernachlässigt 10.4.3 Feldtheorie Auch der Ansatz des Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) beleuchtet den Zusammenhang zwischen sozialen Strukturen und kultureller Produktion, lehnt aber den Totalitätsanspruch einer letztlich die gesamte Gesellschaft be‐ stimmenden ökonomischen Basis zugunsten eines differenzierteren Modells ab. Er greift hierfür auf die - in verschiedenen Ausprägungen auch bei an‐ deren Soziologen wie Niklas Luhmann formulierte - Beobachtung zurück, dass sich die moderne Gesellschaft in verschiedene Bereiche untergliedert, die er ‚Felder‘ (campi) nennt: u. a. Ökonomie, Recht, Politik, aber auch Kunst und Literatur. Innerhalb dieser Felder spielen durchaus Determinanten wie das Kapital eine Rolle; in Abgrenzung vom Materialismus marxistischer An‐ sätze betont Bourdieu allerdings, dass nicht allein ökonomisches Kapital 214 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="215"?> Symbolisches Kapital Relative Autonomie der Felder Konkurrenz innerhalb der Felder Dominierender und dominierter Pol Literarische Texte auf Posi‐ tion im literarischen Feld hin lesen (Geld), sondern auch andere Formen wie Prestige oder fachliche Autorität auschlaggebend sind, die er unter dem Begriff des symbolischen Kapitals (capitale simbolico) zusammenfasst. Die Felder besitzen zwar Anknüpfungs‐ punkte und geben sich gegenseitig Impulse - allein schon dadurch, dass jeder von uns notwendigerweise in mehreren Feldern agiert, aber auch durch in‐ stitutionelle Verbindungen wie die zwischen Recht und Ökonomie -, müssen aber getrennt betrachtet werden, da sie relativ autonom sind, also verschie‐ denen Regeln gehorchen und verschiedene Zustände kennen: Jemand, der innerhalb des Feldes der Politik eine dominante Position einnimmt (sagen wir: die Regierungschefin), ist dadurch innerhalb eines anderen Feldes (etwa der Kultur) nicht automatisch bedeutsam, verfügt dort nicht über vergleichbares Kapital (selbst wenn immer wieder der Versuch zu beobachten ist, die Domi‐ nanz innerhalb eines Feldes für den Erfolg in anderen, zumal im ökonomi‐ schen, nutzbar zu machen, etwa durch den Absatz von Politikermemoiren). Die Felder definieren nicht nur gesellschaftliche Teilräume, sondern sind Macht- und Konkurrenzbereiche, innerhalb derer die beteiligten Individuen und Gruppen rivalisieren. Ihr jeweiliges Kapital bestimmt die Position inner‐ halb eines feldinternen Koordinatensystems zwischen dominierendem und dominiertem Pol, wobei der dominierende Pol sich dadurch auszeichnet, dass hier überwiegend die Normen und Zugangskriterien des Feldes definiert wer‐ den. Welche Form(en) von Kapital (ökonomisch, kulturell, symbolisch etc.) ausschlaggebend sind, hängt vom jeweiligen Feld ab: So ist im literarischen Feld der Besitz von ausschließlich ökonomischem Kapital (durch Absatz von ‚Bestsellern‘) eher ungünstig, das durch die Anerkennung kleinerer intellek‐ tueller Kreise (etwa KritikerInnen oder akademische Literaturwissenschaft) erlangte symbolische Kapital hingegen oft entscheidend für Aufstieg und Annäherung an den dominierenden Pol, auch (und u. U. gerade) ohne kom‐ merziellen Erfolg. Hier zeigen sich für Bourdieu die Unzulänglichkeiten eines marxistischen Ansatzes, der die materielle Basis generell zum bestimmenden Faktor erhebt. Vielmehr steht Literatur in einem breiteren feldinternen insti‐ tutionellen Kontext, bei dem neben kommerziellen Faktoren auch die durch KritikerInnen, Verlage, Wissenschaft, AutorInnen usw. vermittelte Anerken‐ nung und das daraus bezogene symbolische Kapital zu berücksichtigen sind. Literarische Texte werden also auch mit Bourdieus Feldtheorie auf ihren sozialen Entstehungskontext hin untersucht, dabei aber innerhalb des - seit Mitte des 19. Jh. weitgehend eigengesetzlichen - literarischen Feldes mit sei‐ nen spezifischen Determinanten betrachtet. So sind beispielsweise nicht al‐ lein das Klassenbewusstsein eines Autors und die materielle Situation seiner sozialen Gruppe soziale Determinanten für Form (z. B. Gattung) und Inhalt seiner Werke, sondern die Situation im literarischen Feld: Ein junger, auf‐ strebender Autor wird zum Beispiel v. a. die Genres und Inhalte meiden, die von etablierten, mit hohem Kapital ausgestatteten Literaten vertreten werden, 10.4 Literatursoziologie 215 <?page no="216"?> Individueller Habitus Aufgabe 10.6 Wer versteht was warum und wie? Text 10.6 Umberto Eco: I limiti dell’in‐ terpretazione (1990) und stattdessen die ‚Lücken‘ im Feld suchen, die er besetzen kann, die Mög‐ lichkeiten der Subversion und Innovation ausloten. Innerhalb dieser Mög‐ lichkeiten fließen dann die individuelle soziale Prägung, der im Herkunfts‐ milieu in anderen Feldern (etwa der Familie) erworbene ‚Stil‘ und die Wertigkeiten, die Bourdieu als den ‚Habitus‘ einer Person bezeichnet, durch‐ aus in das einzelne Werk ein, sind aber nicht der maßgebliche Faktor. Die externen Impulse (wie Klassengegensätze) werden also im autonomen lite‐ rarischen Feld nicht direkt wirksam, sondern reinterpretiert. ? Wie lässt sich die von Petronio angesprochene „letteratura di con‐ sumo“ in der Theorie des literarischen Feldes einordnen? 10.5 Die Rezeption literarischer Werke Gegen Ende der 1960er Jahre gewann die Erkenntnis zunehmend an Einfluss, dass jegliche Bedeutungszuschreibung an einen Text nicht allein auf der Aus‐ sageabsicht des Autors/ der Autorin oder den biographischen bzw. (literatur-) geschichtlichen Bedingungen der Textentstehung beruht (produktionsästheti‐ sche Deutung; analisi della produzione letteraria), auch nicht einseitig auf den formalen und inhaltlichen sinnstiftenden Bezügen im einzelnen Text selbst (werkimmanente Analyse; analisi immanente), sondern in besonderem Maße von der individuellen Wahrnehmung durch die Leserin oder den Leser erst geschaffen wird. Damit rückten die Fragen in den Vordergrund, wer auf der Basis welcher Voraussetzungen was in einem literarischen Text auf welche Art versteht. Ausgangspunkt dieser auf den Leser ausgerichteten Theorie ist das bereits in Einheit 4.1 vorgestellte hermeneutische Grundprinzip, welches Sinn immer nur aus dem Blickwinkel eines diesen Sinn stiftenden Subjekts be‐ greift, das von spezifischen historischen Rahmenbedingungen geprägt ist. Das heißt aber auch, dass es niemals eine endgültige Interpretation eines Textes geben kann, sondern nur eine geschichtliche Abfolge (ebenso wie ein zeitglei‐ ches Nebeneinander) von unterschiedlichen Betrachtungsweisen, die auf je unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen. Damit verliert das Kunstwerk seinen überzeitlichen Charakter; nicht seine unwandelbare, da formal-ästhe‐ tisch oder ideell vollendete Einzigartigkeit gilt es von Seiten der Leserinnen und Leser nachzuvollziehen und zu erläutern, sondern seine zeitgebundene eins‐ tige wie auch davon abweichend gegenwärtige Bedeutung ist zu erschließen. Eine Illustration der zeitgeschichtlichen Bezogenheit von literarischen Werken gibt Umberto Eco in seinem Werk I limiti dell’interpretazione: 1 Un testo è un artificio teso 1 a produrre il proprio lettore modello. Il lettore empirico è colui che fa una congettura 2 sul tipo di lettore modello postulato dal testo. Il che 216 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="217"?> Aufgabe 10.7 Literaturgeschichtliche Quellen Empirische Leserforschung 5 significa che il lettore empirico è colui che tenta congetture non sulle intenzioni dell’autore empirico, ma su quelle dell’autore modello. L’autore modello è colui che, come strategia testuale, tende a produrre un certo lettore modello. (Eco: 1990, 34) - 1 un artificio teso ein Arrangement, das ausgerichtet ist auf - 2 una congettura Vermutung, Annahme ? Wie stellt Umberto Eco hier die Beziehung zwischen Leser und Autor dar? Was versteht er unter dem ‚lettore empirico‘ bzw. unter dem ‚lettore modello‘? 10.5.1 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Wenn wir an dieser Stelle weiterdenken, so ergibt sich daraus für die Litera‐ turwissenschaft die Notwendigkeit, den historischen oder sozio-kulturellen Abstand zwischen dem eigenen Standpunkt und der Text-Wahrnehmung durch die zeitgenössische Leserschaft zu klären. Die Untersuchung von über‐ lieferten Rezeptionszeugnissen (Fremdkommentare zu den oder Selbstkom‐ mentare der AutorInnen; Stellungnahmen der Literaturkritik; literaturge‐ schichtliche Darstellungen oder Aufbereitung in schulischen Lehrbüchern, Rezensionen) hat insofern innerhalb der allgemeinen Literaturgeschichts‐ schreibung einen festen Platz. Sie vergegenwärtigen die historische Abfolge der einzelnen Interpretationen von literarischen Texten und werfen ein Licht auf ihre Wirkung auf das jeweilige Publikum. Es versteht sich, dass aus wis‐ senschaftlicher Sicht die zeitbedingten Wandlungen in den Rezeptionsvo‐ raussetzungen in eine solche Betrachtung mit einbezogen werden müssen. Im speziellen Sinn beschäftigt sich die Rezeptionsforschung mit der Auf‐ nahme literarischer Texte, einer Autorin bzw. eines Autors oder einer litera‐ rischen Bewegung bei ihrem Publikum. Eine mögliche methodische Heran‐ gehensweise besteht zum Beispiel in der Form von Umfragen beim literarischen Publikum der Gegenwart. Hierbei können umfassende empiri‐ sche Datenmengen erhoben werden, welche über die sozialen oder psycho‐ logisch-kognitiven Faktoren Aufschluss geben, auf welchen die Lektüre und Wirkung der Texte beruht. Wichtige Faktoren können in diesem Zusammen‐ hang sein: ▶ Alter, ▶ Geschlecht, ▶ Beruf, ▶ Bildungsstand, ▶ konfessionelle Ausrichtung, 10.5 Die Rezeption literarischer Werke 217 <?page no="218"?> Der hermeneutische Zirkel ▶ soziales Umfeld, ▶ Medienzugriff und Art ihrer Nutzung. Bestimmte Gattungen oder Gruppen literarischer Werke lassen sich besonders prägnant vor dem Hintergrund ihres vorrangigen Publikums definieren, etwa die in der Zeit nach dem I. Weltkrieg von Veteranen gelesenen Kriegsromane, die v. a. von einer weiblichen Leserschaft konsumierten Liebesromane oder die Kinderliteratur, die eigenen rezeptionsästhetischen Ansprüchen genügen muss. Eine andere Zugriffsmöglichkeit bietet die Auswertung historischer Quel‐ len, etwa der Benutzerverzeichnisse von Leihbüchereien, die es ermöglichen, das Publikum bestimmter Textsorten im Hinblick auf seine sozialen Voraus‐ setzungen und seine Geschmacksbildung näher zu bestimmen. 10.5.2 Rezeptionsästhetik Neben das hier grob umrissene historisch-soziologische Interesse an der Leser‐ schaft tritt die hermeneutische Betrachtung des Lesevorgangs an sich, d. h. als Prozess der Informationsverarbeitung und Bedeutungsbildung. Als Basis dient den entsprechenden literaturtheoretischen Ansätzen die Annahme, dass ein Text in seinem Sinngehalt nicht von vornherein vollständig vorliegt, sondern viel‐ mehr durch ‚Leerstellen‘ (lacune testuali) bzw. eine charakteristische ‚Unbe‐ stimmtheit‘ (indeterminatezza) gekennzeichnet ist: Sinn oder Bedeutung sind in der Regel gerade nicht explizit ausformuliert, sondern werden z. B. nur in An‐ spielungen, Symbolen, Auslassungen oder zu erstellenden Zusammenhängen erahnbar; dies zwingt die Lesenden, selbst aktiv zu werden, auf der Grundlage ihres augenblicklichen Verständnisses Hypothesen über die Deutung des Textes aufzustellen und sie mit Hilfe der weiteren Informationen des Textes zu über‐ prüfen. Abb. 10.12 Der hermeneutische Zirkel als Spiralmodell Diese Beobachtung lässt sich in Anlehnung an Hans-Georg Gadamer im Modell des hermeneutischen Zirkels aufgreifen, der bereits in Einheit 4.1 vor‐ 218 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="219"?> Rezeptionsästhetik Erwartungshorizont gestellt wurde und auf den wir an dieser Stelle noch einmal zurückkommen: Das Vorwissen, das LeserInnen mit in ihre Lektüre eines Textes hineintragen, ermöglicht ihnen erste Deutungsansätze in Bezug auf den Gesamttext. Dieses anfängliche Textverständnis ändert sich jedoch im Laufe der Lektüre, je mehr neue Informationen gewonnen werden. Erst nach Abschluss der Lektüre ergibt sich für die Lesenden ein mehr oder weniger kohärenter Gesamt‐ eindruck. Dieser dient als Vorverständnis (oder Teilverständnis) ‚zweiten Grades‘ für die - wichtige! - nochmalige Lektüre, die es ermöglicht, die zuvor oft nicht zufriedenstellend geklärten Textpartien sozusagen in einem neuen Lichte zu lesen. Doch damit ist die Spiralbewegung des anwachsenden Textverständnisses noch nicht abgeschlossen: Immer neue Lektüren führen zu einem immer stimmiger erscheinendem Gesamteindruck vom Text (oder aber zur Erkenntnis seiner nicht auflösbaren Unstimmigkeiten; siehe Einheit 11.2.2), ohne freilich jemals die Gewähr für eine ‚richtige‘ oder einzig plausible Interpretation geben zu können. Den wichtigsten Beitrag zur Theorie der literarischen Rezeption von Seiten der deutschsprachigen Romanistik legte der Konstanzer Literaturwissen‐ schaftler Hans-Robert Jauß (1921-1997) in der von ihm begründeten Rezep‐ tionsästhetik vor (estetica della ricezione). Ihr Augenmerk richtet sich auf die wechselseitige Bezogenheit von Geschichte, Werk und Lesenden im sinnbil‐ denden Prozess der Lektüre. Von besonderer Bedeutung ist hierbei das von der Leserin oder dem Leser mit eingebrachte allgemeine Vorwissen bzw. das Vorverständnis vom Text, wie es Jauß im Begriff des ‚Erwartungshorizonts‘ (orizzonte di attesa) erfasst. Der zeitgebundene Erwartungshorizont der LeserInnen leitet sich aus ih‐ rem objektivierbaren Vorwissen, seiner Leseerfahrung vor dem allgemeinen geschichtlichen Hintergrund ab: ▶ die Erfahrung der LeserInnen im Umgang mit literarischen Formen (etwa die adäquate Einschätzung von Fiktionalität) und Gattungen sowie ihre Kenntnis von benachbarten Texten (evtl. vom betreffenden Autor/ der Autorin selbst), zu denen sich inhaltliche oder formale Bezüge stiften lassen (literaturgeschichtliches Vorwissen); ▶ die sich daraus speisenden meist unbewussten Annahmen, welche die Le‐ serInnen vor ihrem kulturellen Hintergrund dem Text entgegenbringen, ihre Erwartungshaltung gegenüber Form und Thematik (z. B. bezüglich des glücklichen Ausgangs einer Komödie oder der rhetorischen Gestal‐ tung eines Renaissance-Sonetts); ▶ sämtliche persönlichen Erfahrungen der LeserInnen, die bei der Lektüre angesprochen werden; ▶ die in einer bestimmten Gesellschaft geltenden Konventionen und Nor‐ men, z. B. geteilte Auffassungen über Geschlechterrollen oder moralische Grundwerte. 10.5 Die Rezeption literarischer Werke 219 <?page no="220"?> Ästhetische Distanz Text 10.7 Hans-Robert Jauß zum Erwartungshorizont Gemäß der Dynamik des hermeneutischen Zirkels wird der vom Text bei den LeserInnen zunächst aufgerufene Erwartungshorizont nur in Teilen im Ver‐ lauf der Lektüre bestätigt, in anderen Bereichen aber widerlegt oder modifi‐ ziert. Werden alle in einen Text gelegten Erwartungen des Publikums erfüllt, so ist dies für Jauß ein untrügliches Zeichen seiner Trivialität und eines nur geringfügigen ästhetischen Wertes. Denn die ästhetische Erfahrung, welche die Lesenden in ihrer Auseinandersetzung mit einem Text machen können, be‐ ruht genau auf seinem Anteil an unvermuteten Lösungen, seiner nicht-kli‐ scheehaften Neuerungskraft. Die Distanz zwischen dem Erwartungshorizont der Leserschaft und dem neuen Werk - die sog. ästhetische Distanz (distanza estetica) - spricht Jauß zufolge für seine künstlerische Qualität. Sollte sie sich als wegbereitend für eine Umorientierung des herrschenden literarischen Ge‐ schmacks bzw. der gültigen literarischen Normen erweisen, so kann ein regel‐ rechter Horizontwandel (mutamento di orizzonte) stattfinden, welcher den Er‐ wartungshorizont des Publikums gegenüber den zukünftig erscheinenden Texten bedingt. 1 - - - 5 10 15 20 25 […] Ein literarisches Werk, auch wenn es neu erscheint, präsentiert sich nicht als absolute Neuheit in einem informatorischen Vakuum, sondern prädisponiert sein Publikum durch Ankündigungen, offene und versteckte Signale, vertraute Merkmale oder implizite Hinweise für eine ganz bestimmte Weise der Rezeption. Es weckt Erinnerungen an schon Gelesenes, bringt den Leser in eine bestimmte emotionale Einstellung und stiftet schon mit seinem Anfang Erwartungen für ‚Mitte und Ende‘, die im Fortgang der Lektüre nach bestimmten Spielregeln der Gattung oder Textart aufrechterhalten oder abgewandelt, umorientiert oder auch ironisch aufgelöst werden können. Der psychische Vorgang bei der Aufnahme eines Textes ist im primären Horizont der ästhetischen Erfahrung keineswegs nur eine willkürliche Folge nur subjektiver Eindrücke, sondern der Vollzug bestimmter Anweisungen in einem Prozeß gelenkter Wahrnehmung, der nach seinen konstituierenden Motivationen und auslösenden Signalen erfaßt und auch textlinguistisch beschrieben werden kann. […] Ein entsprechender Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung bestimmt auch das Verhältnis vom einzelnen Text zur gattungsbildenden Textreihe. Der neue Text evoziert für den Leser (Hörer) den aus früheren Texten vertrauten Horizont von Erwartungen und Spielregeln, die alsdann variiert, korrigiert, abgeän‐ dert oder auch nur reproduziert werden. Variation und Korrektur bestimmen den Spielraum, Abänderung und Reproduktion die Grenzen einer Gattungsstruktur. Die interpretierende Rezeption eines Textes setzt den Erfahrungskontext der äs‐ thetischen Wahrnehmung immer schon voraus: die Frage nach der Subjektivität oder Interpretation und des Geschmacks verschiedener Leser oder Leserschichten kann erst sinnvoll gestellt werden, wenn zuvor geklärt ist, welcher transsubjek‐ tive Horizont des Verstehens die Wirkung des Textes bedingt. 220 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="221"?> Aufgabe 10.8 Horizontwandel Zusammenfassung 30 Der Idealfall der Objektivierbarkeit solcher literarhistorischen Bezugssysteme sind Werke, die den durch eine Gattungs-, Stil- oder Formkonvention geprägten Erwar‐ tungshorizont ihrer Leser erst eigens evozieren, um ihn sodann Schritt für Schritt zu destruieren, was durchaus nicht nur einer kritischen Absicht dienen, sondern selbst wieder poetische Wirkungen erbringen kann. […] (Jauß: 1970, 175-f.) ? Wieso verläuft dem obigen Textauszug zufolge die sinngebende Lek‐ türe eines Textes nicht willkürlich? Was versteht Jauß unter einem ‚transsubjektiven Horizont‘? Der Erwartungshorizont ermöglicht es, dass der literarische Text im seltens‐ ten Fall als eine hoffnungslose Ansammlung von Unbestimmtheits- oder Leerstellen empfunden wird. Nicht zuletzt sorgt der Text selbst dafür, dass er die Lektüre der Leserschaft in gewissem Maße lenkt. Seine sog. Appellstruktur (struttura di appello) (Wolfgang Iser) plant die Mitarbeit der Lesenden an der Deutung von Leerstellen von vornherein mit ein, so dass bewusst gesetzte Textmerkmale die Aufmerksamkeit kanalisieren helfen. In Form des fiktiven, also nur gedachten impliziten Lesers (lettore implicito) baut der Text seiner‐ seits eine Art Erwartungsprofil im Hinblick auf sein vermutetes Publikum auf, indem er sich an dessen Erwartungshorizont anpasst, und suggeriert ihm fast unmerklich eine bestimmte Leserrolle (z. B. die Rolle des absichtlich pro‐ vozierten Lesers in Teilen der futuristischen Literatur). Literaturwissenschaftliche Interpretationsmethoden zielen auf objektivier‐ tes Textverstehen ab, das erreicht werden kann, wenn der Erkenntnisweg (Methode) und die Prämissen (Vorannahmen über eine sinnvolle ‚Frage an den Text‘, über das bedeutungsrelevante Moment der literarischen Kom‐ munikation) offengelegt und plausibel gemacht werden. Die jeweiligen Prä‐ missen ermöglichen eine Klassifizierung von Interpretationsansätzen. Au‐ tor- und produktionsorientierte Zugänge gehören mit dem Positivismus Taines und der historisch-positivistischen Philologie der Scuola storica zu den fachgeschichtlich ersten Interpretationsmodellen. Das durch Freuds Psychoanalyse radikal veränderte Bild vom Individuum führte zu Literatur‐ auffassungen, die nunmehr weniger auf die bewusste als die unbewusste psychische Leistung der AutorInnen abhoben. Freud sieht den künstleri‐ schen Schaffensprozess analog zur Phantasiebefriedigung im Traum und postuliert die Übertragbarkeit entsprechender Deutungsmethoden auf den literarischen Text. Freuds Einsichten sind auch auf der Ebene literarischer Sujets selbst hervorgetreten, etwa bei Italo Svevo. Literatursoziologischen Ansätzen ist demgegenüber gemeinsam, dass sie Literatur als zwar durch 10.5 Die Rezeption literarischer Werke 221 <?page no="222"?>  ein Individuum realisiert, aber letztlich durch gesellschaftliche Gegebenhei‐ ten bedingt sehen. Die marxistische Literaturwissenschaft geht von einer letztinstanzlichen Determinierung des literarischen Textes durch die öko‐ nomischen Grundlagen (Basis) aus. Köhlers Ansatz stimmt grundsätzlich damit überein, berücksichtigt aber stärker die Tatsache einer meist nur sehr indirekten Spiegelung des Ökonomischen in literarischen Texten. Bour‐ dieus Feldtheorie engt demgegenüber den Fokus auf das weitgehend auto‐ nome literarische Feld ein, in dem sich ein Text und sein Autor/ seine Auto‐ rin positioniert. Rezeptionsorientierte Ansätze beruhen demgegenüber auf der Einsicht, dass literarische Texte nicht nur von Beginn an für eine Leser‐ schaft geschrieben, sondern auch von LeserInnen erst mit Bedeutung ge‐ füllt werden. Die grundsätzliche teilweise Unbestimmtheit der Texte er‐ möglicht eine Beteiligung der RezipientInnen, fordert sie sogar durch ihren Appellcharakter, und hier kommen neben individuell-biographischen auch geschichtliche, sozio-kulturelle und literarhistorische Bedingungen zum Tragen. Wichtige Texte, die über lange Zeiträume hinweg gelesen werden, treffen dabei nicht nur auf wechselnde Rahmenbedingungen und Erwar‐ tungen der jeweiligen Leserschaft, sondern gestalten letztere selbst durch ihre anfangs innovative Kraft mit und verändern damit den Horizont, mit dem spätere Texte gelesen (und geschrieben) werden. Literatur Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1999. Umberto Eco: I limiti dell’interpretazione. Milano: Bompiani 1990. Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Stuttgart: Reclam 2010. Elio Gioanola: L’esistenza alienata: Svevo e Pirandello. Torino: Società Editrice Internazionale 1976. Arturo Graf/ Francesco Novati/ Rodolfo Renier: Programma, Giornale storico della letteratura italiana 1/ 1883, 1-4. Antonio Gramsci: Letteratura e vita nazionale. Roma: Editori riuniti 1975. Hans-Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1970. Erich Köhler: Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch-soziologischen Literaturwissenschaft. München: Fink 1976. Georg Lukacs: Die Theorie des Romans. Berlin: Cassirer 1920. Giuseppe Petronio: L’autore e il pubblico. Pordenone: Studio Tesi 1976. Italo Svevo: La coscienza di Zeno. Pordenone: Ed. Studio Tesi 1985. Hippolyte Taine: Philosophie der Kunst. Berlin: Spiess 1987. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 222 10 Text, Autorschaft und Rezeption <?page no="223"?> Überblick 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus Inhalt 11.1 Strukturalismus 11.1.1 Zum Begriff ‚Struktur‘ 11.1.2 Der strukturalistische Umgang mit Texten 11.1.3 Semiotik 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 11.2.1 Intertextualität 11.2.2 Dekonstruktion 11.2.3 Historische Diskursanalyse In der zweiten methodenzentrierten Einheit werden Sie zunächst mit den Grundzügen des sog. linguistic turn verschiedener Wissenschaften ver‐ traut gemacht, der die Sprache als ein grundlegendes Ordnungsmodell auffasste und zu einer (teilweisen) Umorientierung des literaturwissen‐ schaftlichen Feldes führte. Hier wurde vor allem im Bereich der Theorie‐ bildung versucht, die Erkenntnisse über den systembildenden Charakter der Sprache in die Analyse von sprachlichen Gebilden bzw. Texten ein‐ zubeziehen. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse des Schweizer Lin‐ guisten Ferdinand de Saussure wurde ‚Text‘ in erster Linie als Struktur und System und nicht mehr als durch Schrift fixierte Gedanken verstan‐ den. Der Einfluss dieser Betrachtungsweise auf zahlreiche weitere Ent‐ wicklungslinien theoretischer Ansätze soll Ihnen anschließend in Aus‐ wahl vorgestellt werden. So wurde die Ausweitung des Textbegriffs von einer allgemeinen Theorie der Intertextualität begleitet, welche auf die unüberschaubare Vielfalt der Sinnbezüge zwischen Texten verschiedens‐ ter medialer Form hinwies. Damit ging aber auch in der sog. poststruk‐ turalistischen Phase der Theoriebildung eine Betonung der Vieldeutigkeit (Polysemie) des Textes einher, die jegliche eindeutige Sinnfixierung in Frage stellte, sie dekonstruierte. Als weitere nach-strukturalistische Theo‐ rie zeigt die Historische Diskursanalyse wiederum, wie scheinbar zeitlose Konzepte über ‚naturgegebene‘ Gegenstände in Wirklichkeit das Ergeb‐ nis bestimmter geschichtlicher Regeln und Machtstrukturen sind. <?page no="224"?> Immanente Textbetrach‐ tung Der literarische Text als Zei‐ chensystem Saussures duales Zeichen‐ modell Abb. 11.1 Ferdinand de Saussure (1857-1913) Langue und parole Paradigma Syntagma 11.1 Strukturalismus Den größten Widerhall innerhalb der internationalen Literatur- und Kultur‐ wissenschaften des 20. Jh. fanden in theoretischer Hinsicht eine Reihe von Mo‐ dellen und Methoden, die für gewöhnlich unter dem Sammelbegriff ‚Struktu‐ ralismus‘ (strutturalismo) zusammengefasst werden und sich ab den 1960er Jahren entfalten konnten. Bereits der russische Formalismus (siehe Einheit 1.1) hatte zu Beginn des Jahrhunderts versucht, literarische Texte anhand linguis‐ tischer Kriterien von alltagssprachlichen Texten zu unterscheiden. Die Prager Strukturalisten um Roman Jakobson (1896-1982) sahen darauf aufbauend hin‐ ter der poetischen Funktion der Sprache eine besonders dichte Strukturierung des Signifikanten (also der Ausdrucksseite). Dadurch wurde eine neue Sicht‐ weise vom Text als geordnetem System von Zeichen begründet. Der Text sollte nunmehr nicht mehr in Abhängigkeit von äußeren Faktoren interpretiert wer‐ den (auch nicht der etwaigen Aussageabsicht der AutorInnen), sondern als ein selbständiges Gebilde, dessen Bedeutung sich allein aus den in ihm selbst ver‐ ankerten Elementen und ihrer Verknüpfung zu einem eine Ganzheit formen‐ den System ergibt. Der Frage, wie genau eine solche Bedeutung zustande kommt, widmet sich die strukturalistische Analyse, welche der interpretatori‐ schen Willkür einer subjektiven Textauslegung vorbeugen will. Der Vorstellung von Sprache und Text als einem in sich kohärenten System liegen unter anderem zwei Einsichten des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure (1857-1913) und seines 1916 erschienenen Cours de lin‐ guistique générale zugrunde. Zum einen stellte er ein Zeichenmodell vor, in dem die lautliche Gestalt des Gesprochenen (der Signifikant; il significante) in einer willkürlichen (arbiträren), auf Konventionen beruhenden Beziehung zum inhalt‐ lichen Konzept oder Vorstellungsbild (das Signifikat; il significato) steht (siehe Einheiten 1.2 und 4.2 sowie Haase: 2 2013, 30ff.). Zum anderen verweist Saussure auf den Unterschied zwischen einem abstrakten Gesamtsystem der Sprache (frz. la langue), das von bestimmten sprachlichen Regeln definiert wird, und der indi‐ viduellen Form (frz. la parole), in der es beim Sprechen als eine von zahllosen Möglichkeiten Ausdruck findet. In einer solchen konkreten Äußerung, also etwa dem gesprochenen oder geschriebenen Satz, beruht die Bedeutung auf der Stel‐ lung des einzelnen sprachlichen Zeichens innerhalb größerer Zusammenhänge: ▶ Auf der paradigmatischen Ebene wird ein Zeichen unter vielen gleicharti‐ gen Zeichen ausgewählt, wobei sich seine eigene Bedeutung erst aus der Abgrenzung zu den verwandten Zeichen derselben Gruppe, des Paradig‐ mas, ergibt (ein vereinfachtes Beispiel: unter ‚Hut‘ verstehen wir etwas an‐ deres als unter ‚Mütze‘ oder ‚Kappe‘, welche jeweils mögliche Bedeutungs‐ unterschiede innerhalb des Oberbegriffs ‚Kopfbedeckung‘ angeben); ▶ auf der syntagmatischen Ebene wird das ausgewählte Zeichen in die syn‐ taktische Struktur eingereiht, d. h. es tritt in Beziehung zu den anderen 224 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="225"?> Bedeutung als ‚relationa‐ ler‘ Begriff Formalisierung Aufgabe 11.1 Bestandteilen des Satzes, welche unterschiedliche Funktionen tragen und erst in ihrer Gesamtheit die Satzaussage bilden. Aus diesen Grundannahmen leitet sich ab, dass sprachliche Zeichen (Laute, Wörter, Satzgebilde etc.) sich davon ‚emanzipiert‘ haben, lediglich als Verweis auf eine außersprachliche Wirklichkeit angesehen zu werden. Vielmehr er‐ hält das Zeichen einen autonomen Status, der nur durch seine Stellung in‐ nerhalb des eigenen Systems definiert wird. Den sprachlichen Zeichen kann genau dann eine präzise Funktion zugeschrieben werden, wenn man ihre ex‐ akte Position innerhalb dieses übergeordneten Systems bestimmt: Sie müssen als Teil einer ‚Struktur‘ erkannt werden, welche allein die Bedeutung trägt. 11.1.1 Zum Begriff ‚Struktur‘ Unter ‚Struktur‘ ist die rein formale Beziehung der Teile eines Ganzen zueinander zu verstehen (vgl. Einheit 4.1). Daher kann der Strukturbegriff auch von zahlreichen Wissenschaften auf ihre diversen Untersuchungsge‐ genstände angewandt werden, außer in den Naturwissenschaften etwa in der Sprachwissenschaft, der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, der Ethno‐ logie, der Psychoanalyse etc. Die Art und Weise, wie welche Einzelelemente miteinander verknüpft sind, verleiht ihnen im Rahmen des übergeordneten Ganzen ihre jeweiligen Funktionen. Die Aufdeckung von Strukturen, die einem Untersuchungsgegenstand seine Bedeutung verleihen, läuft darauf hinaus, von den inhaltlichen oder formalen Details abzusehen, denn Letztere sind lediglich Ausdruck einer spe‐ zifischen, auf externe Rahmenbedingungen zurückführbaren Aktualisierung oder Füllung ihres strukturellen Gerüsts. Die Perspektive richtet sich also nicht mehr auf eine historische Vielfalt von Formen (diachrone Perspektive; prospettiva diacronica), sondern auf die Regeln, durch die ein Feld von gleich‐ zeitig existierenden Phänomenen abgesteckt werden kann (synchrone Per‐ spektive; prospettiva sincronica). Damit einher geht aber zugleich die Suche nach abstrakten Formeln, nach möglichst allgemeingültigen Schemata, wel‐ che eine Vielzahl von gleichartigen individuellen Ausgestaltungen der Struk‐ tur erfassen können. Im Anklang an die Formulierung fundamentaler Ge‐ setzmäßigkeiten, wie sie von den Naturwissenschaften vorgenommen wird, versuchen die Richtungen des Strukturalismus daher, abstrakte, formalisierte Beschreibungen ihrer Gegenstände zu erstellen. ? Betrachten wir zur Konkretisierung und gleichzeitig zur Übung als fiktives Beispiel folgenden Vorgang: Jemand möchte ein Medium an einer entsprechenden Leihstelle ausleihen. Dabei ist es im Prinzip unerheblich, ob es sich bei dem Medium um ein Buch, eine Zeitschrift, eine DVD, 11.1 Strukturalismus 225 <?page no="226"?> Text 11.1 Roland Barthes: Die Strukturalistische Aktivität (1966) eine CD, eine Landkarte oder Ähnliches handelt. Auch macht es keinen grundlegenden Unterschied aus, ob er sein Medium einer kommunalen, kirchlichen oder universitären Einrichtung entnimmt oder ggf. von einer Videothek oder einem anderen spezialisierten Anbieter bezieht. Wie könnten Sie mit eigenen Worten die für das Entleihen nötigen Schritte beschreiben, so dass sie für alle möglichen Fälle zutreffen? Die Aufgabe 11.1 soll lediglich als Hinweis auf die vielfältigen Untersuchungs‐ felder dienen, die mit Hilfe strukturalistischer Ansätze erschlossen werden können. Ihnen allen gemeinsam ist ein Vorgehen, das der französische Sprachwissenschaftler und Literaturkritiker Roland Barthes (1915-1980) in einem berühmten Aufsatz wie folgt beschrieb: 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 - - - - 20 - - - - Der Strukturalismus ist demnach für alle seine Nutznießer im Wesentlichen eine Tätigkeit, das heißt die geregelte Aufeinanderfolge einer bestimmten Anzahl geistiger Operationen: man könnte von strukturalistischer Tätigkeit sprechen, wie man von surrealistischer Tätigkeit gesprochen hat […] Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein „Objekt“ derart zu rekonstituieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine „Funktionen“ sind). Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein Simulacrum 1 des Objekts, aber ein gezieltes, „interessiertes“ Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb. Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen; das ist scheinbar wenig (und veranlaßt manche Leute zu der Behauptung, die strukturalistische Arbeit sei „unbedeutend, uninteressant, unnütz“ usw.). Und doch ist dieses Wenige, von einem anderen Standpunkt aus gesehen, entscheidend; denn zwischen den beiden Objekten, oder zwischen den beiden Momenten strukturalistischer Tätigkeit, bildet sich etwas Neues, und dieses Neue ist nichts Geringeres als das allgemein Intelligible: das Simulacrum, das ist der dem Objekt hinzugefügte Intellekt, und dieser Zusatz hat insofern einen anthropologischen Wert, als er der Mensch selbst ist, seine Geschichte, seine Situation, seine Freiheit und der Widerstand, den die Natur seinem Geist entgegensetzt. Man sieht also, warum von strukturalistischer Tätigkeit gesprochen werden muß: Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer „Abdruck“ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will. (Barthes: 1966, 191 f.) - 1 Simulacrum Modell, Nachbildung 226 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="227"?> Aufgabe 11.2 ? Nach welchen Kriterien erfolgt laut Barthes das Zerlegen und die Rekonstruktion des Untersuchungsgegenstandes? Was ist das Ziel dieser beiden Operationen? 11.1.2 Der strukturalistische Umgang mit Texten Die von Barthes vorgeschlagene Zergliederung und anschließende modell‐ hafte Nachbildung eines Textes entspricht der in Einheit 4 eingeführten Strukturanalyse, wobei das „Objekt“ oder „Simulacrum“ bei Barthes dem entspricht, was wir als ‚Modell textinterner Funktionen‘ bezeichnet haben. Sie lässt sich prinzipiell auf jede Textsorte anwenden, doch verdienen gerade literarische Texte besonderes Interesse, denn sie zeichnen sich aus struktura‐ listischer Sicht durch eine spezielle Verwendung der Sprache aus (Literarizität bzw. Poetizität), welche sie von den Formen der Alltagssprache unterscheidet (vgl. hierzu Einheit 1.1). Literarische Texte verweisen auf die gesteigerte Bedeutung ihres sprachlichen Materials und seiner Anordnung, indem auf den Ebenen des Lautes, des Satzbaus und der Konzepte (also auf der pho‐ nologischen, syntaktischen und inhaltlich-konzeptuellen Ebene) Strukturen ablesbar werden. Der Text soll in der Gesamtheit seiner bedeutungstragenden Strukturen erfasst werden. Aufschlussreich für die Textanalyse sind insofern vor allem ▶ Äquivalenzen, Homologien (Entsprechungen, Ähnlichkeiten), ▶ Parallelen, ▶ Inversionen und ▶ Gegensätze (Oppositionen) als mögliche Beziehungsmuster zwischen Textelementen im Gesamtzusam‐ menhang. Wichtige strukturelle Beziehungen ergeben sich ▶ in der Gestaltung von Vers, Metrum, Rhythmus und ▶ im Aufbau und in der Anordnung der Strophen für die Lyrik, ▶ in Form von Stilmitteln und Tropen, ▶ als gemeinsamer semantischer Bezug einzelner Ausdrücke (die Bildung von Isotopieebenen; siehe Einheit 4.2), ▶ aus der Betrachtung von Handlungstypen, Figurentypen, Bewegungs‐ richtungen, örtlicher Lage, zeitlicher Abfolge und weiterer schematisier‐ barer Aspekte (vgl. Einheit 8.3). Im Prinzip haben Sie das skizzierte Vorgehen bei der Textanalyse in einer grundlegenden Form bereits in Einheit 4 kennengelernt. Eine strukturalisti‐ sche Analyse im engeren Sinne geht jedoch bei ihrer Textbeschreibung weit über die dort vorgestellten Standards hinaus. 11.1 Strukturalismus 227 <?page no="228"?> Text 11.2 Eugenio Montale: A Liuba che parte Text 11.3 D’Arco Silvio Avalle: A Liuba che parte (1970) Ihr streng formales Verfahren ist in Reinform allerdings nur selten befolgt worden. Seine konsequenteste Anwendung fand es bei der Untersuchung von Textsorten, die von vornherein über eine gewisse Geschlossenheit und sorg‐ fältige Konstruktion verfügten, v. a. im Bereich der Lyrik. Daneben wurden besonders auf dem Gebiet der Analyse narrativer Texte Standards gesetzt (vgl. Einheit 8), denn die Zergliederung der Texte in ihre strukturbildenden Funktionszusammenhänge ermöglichte die Schaffung neuer Kategorien, so die Tiefenstruktur bei Greimas (vgl. Einheit 8.3.1) oder die narratologischen Untersuchungsfelder ‚Distanz‘, ‚Fokalisierung‘ oder ‚Stimme‘ bei Genette (vgl. Einheit 8.2). Eine in Auszügen wiedergegebene Gedichtanalyse des italienischen Semi‐ otikers D’Arco Silvio Avalle (1920-2002) zu einem kurzen lyrischen Text des hermetischen Dichters Eugenio Montale (1896-1981), den Sie aus Einheit 5.3 bereits kennen, soll im Weiteren als Beispiel dienen. 1 - - - 5 - - - Non il grillo 1 ma il gatto del focolare 2 or ti consiglia, splendido lare 3 della dispersa tua famiglia. La casa che tu rechi 4 con te ravvolta 5 , gabbia 6 o cappelliera 7 ? , sovrasta i ciechi tempi come il flutto 8 arca leggera - e basta al tuo riscatto 9 . (Montale: 1991, 128) - 1 grillo Grille - 2 il focolare Herd, Heim - 3 lare (m.) Schutzgeist des Hauses - 4 recare mit sich tragen - 5 ravvolto, -a eingehüllt - 6 gabbia Käfig - 7 cappelliera Hutschachtel - 8 flutto Flut - 9 riscatto Lösegeld, Befreiung In der Analyse werden zunächst die klanglichen Entsprechungen innerhalb der Verse hervorgehoben: 1 - - - 5 Credo sia inutile ritornare […] sulla straordinaria abilità di Montale a ricavare 1 echi e consonanze molteplici e rare da accostamenti 2 fonici, quasi-rime, asso‐ nanze, consonanze atone, ecc. Neppure 3 A Liuba che parte fa eccezione, ricca come è di rime interne distribuite senza ordine apparente, tutta fraseggiata 4 con un gioco sapiente di riprese e di armoniche rigorosamente proporzionate che lasciano trasparire 5 l’esperienza giovanile di “dilettante” del bel canto. Avalle fährt daraufhin fort: 10 Tutti questi elementi sembrano dunque suggerire l’esistenza di rapporti interni di tipo parallelistico e ripetitivo da attribuire alla libera iniziativa dell’autore. In realtà un discorso del genere non ci porterebbe molto avanti sulla strada della comprensione della struttura fonica del componimento, che è quanto dire, 228 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="229"?> 15 20 nella fattispecie 6 , del suo più profondo significato formale. Il problema consiste essenzialmente nel qualificare il carattere specifico delle simmetrie e nel vedere sino a che punto esse abbiano valore di puri elementi esterni oppure se l’artificio vada riferito a riconosciute modalità di canto o quanto meno si ricolleghi ad un preciso linguaggio letterario. Ora, anche in questo caso, la soluzione del problema non può venire che da una analisi strutturale del componimento, inteso come oggetto fornito di una sua interna organizzazione formale offerto dell’autore alla contemplazione del lettore, al di là di ogni considerazione di contenuti, o, come si suol dire, messaggi (che si danno per noti e tutto sommato secondari). Nach einer genauen Auflistung der phonologischen Entsprechungen im Gedicht kommt der Betrachter zu folgendem Schluss, wobei er vorerst die Verse 1 und 8 beiseite lässt: - - - - 25 - - - - 30 - - - - 35 - - - - 40 - - - - 45 Analizzando l’ordine di successione delle rime nelle due quartine ci aspetta una seconda sorpresa. Le rime seguono il medesimo ordine: ABAB (“focolare” - “consiglia” - “lare” - “famiglia”) nella prima quartina, e CDCD (“rechi” - “cappelliera” - “ciechi” - “leggera”) nella seconda quartina, secondo lo schema delle rime alternate. Terza ed ultima sorpresa. Sommando le due quartine alla rima fra il primo e l’ul‐ timo verso, rima che indicheremo con la lettera X, ricaviamo un sistema strofico: X-ABAB-CDCD-X, in cui si riconosce immediatamente quello caratteristico della ballata. Il primo verso costituisce la “ripresa” (o ritornello), delizioso nella sua semplicità: Non il grillo ma il gatto, le due quartine corrispondono ai cosiddetti “piedi” o “mutazioni” della ballata, e l’ultimo verso che rima con il primo, alla “volta”, legata per di più al secondo piede, sempre secondo le norme della ballata, dalla rima a “sovrasta” - “basta”. Ed ecco il componimento nella sua nuova veste: Non il grillo ma il gatto del focolare or ti consiglia, splendido lare della dispersa tua famiglia. La casa che tu rechi con te ravvolta, gabia o cappelliera? , sovrasta i ciechi tempi come il flutto arca leggera - e basta al tuo riscatto. (Avalle: 1970, 95 ff.) 11.1 Strukturalismus 229 <?page no="230"?> Aufgabe 11.3 Vorbehalte gegen den Strukturalismus Semiotik als Analyse von Zeichensystemen Peirce’ triadisches Zei‐ chenmodell 1 ricavare herausbekommen - 2 accostamento Kombination - 3 neppure = neanche - 4 fraseggiato, -a gewählt ausgedrückt - 5 trasparire durchscheinen - 6 nella fattispecie im vorliegenden Fall ? Weshalb ist laut D’Arco Silvio Avalle eine Strukturalistische Analyse notwendig? Welche Stufen des Textverständnisses - vor der Analyse und nach der Analyse - unterscheidet er? Worin besteht der Erkenntnisge‐ winn der Untersuchung? Umberto Eco (1932-2016) gehörte bereits in den 1960er Jahren zu denjenigen, die in der Ermittlung reiner Strukturen ohne Berücksichtigung des Inhalts keinen Erkenntnisgewinn erblicken konnten. Stattdessen plädierte er in La struttura assente (1968) dafür, die strukturalistische Analyse dazu zu nutzen, von ihren Untersuchungsgegenständen ein theoretisches Modell - ein Simu‐ lacrum - zu konstruieren, das zu einem exakteren Verständnis kultureller oder natürlicher Phänomene verhilft und die ihnen zugrunde liegenden Mecha‐ nismen zu klären ermöglicht. 11.1.3 Semiotik Der Strukturalismus steht in einer direkten Beziehung zu einem eng benach‐ barten Theoriefeld, der Semiotik (semiotica; bei einigen Fachvertretern auch: semiologia) - der systematischen Untersuchung von Zeichen. Da die mensch‐ liche Sprache vom Strukturalismus jedoch als das grundlegende Zeichensys‐ tem für viele weitere, auf ihren Gesetzmäßigkeiten beruhende kulturelle Sys‐ teme angesehen wird, ist die beiderseitige Abgrenzung nicht immer eindeutig. Für gewöhnlich wird daher zur besseren Unterscheidung ‚Strukturalismus‘ auf das methodische Vorgehen, ‚Semiotik‘ auf ein Untersuchungsgebiet be‐ zogen, das unter Einsatz strukturalistischer Methoden erforscht wird. Zu die‐ sem Untersuchungsgebiet gehören die verschiedensten sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichensysteme: literarische und außerliterarische Texte, Gebärdensprache, Tierkommunikation, aber auch bildliche Darstellungen, Filme, Musik, Verkehrszeichen, Krankheitssymptome, etc. Cesare Segre (1928-2014) sieht demgemäß in der Semiologie gegenüber dem Strukturalismus eine Steigerung der analytischen Möglichkeiten (I segni e la critica, 1969). Für Umberto Eco und die von ihm unter der Bezeichnung ‚Semiotik‘ vertretene Disziplin ist damit stets auch ein Moment der Vieldeu‐ tigkeit, Nicht-Eindeutigkeit verbunden, das der Interpretation Spielräume er‐ öffnet. Grundlegend für eine solche Auffassung ist das von Charles Sanders 230 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="231"?> Abb. 11.2 Charles Sanders Peirce (1839-1914) Abb. 11.3 Das triadische Zeichenmo‐ dell nach Charles S. Peirce Aufgabe 11.4 Text 11.4 Umberto Eco: Opera aperta, Introduzione alla 2 a edizione (1972) Peirce (1839-1914) entworfene ‚triadische‘ (dreiseitige) Zeichenmodell. In diesem Modell werden drei Pole zueinander in Beziehung gesetzt: ▶ die formale Gestalt des konkreten Zeichens: das Repräsentamen (repre‐ sentamen, m.); ▶ die Bedeutung des Zeichens, wie sie vom Interpreten/ Beobachter wahr‐ genommen wird: der Interpretant (interpretante, m.); ▶ das dargestellte (materiell oder nur als Idee vorliegende) Objekt (auch: der Referent; oggetto), auf das das Zeichen Bezug nimmt. Auf der Grundlage dieses dreipoligen Modells können Peirce zufolge drei grundlegende Typen von Zeichen unterschieden werden: ▶ das Ikon/ das ikonische Zeichen (icona, m.) beruht auf einer Ähnlichkeit zwischen der Zeichengestalt und dem Referenten (z. B. Piktogramme oder einige Verkehrsschilder); ▶ der Index/ das indexikalische Zeichen (indice, m.) hat vor allem eine Verweisfunktion, die auf einen ursprünglichen Sachverhalt hinweist (Beispiel: Rauch ist ein Zeichen, das auf Feuer hinweist); ▶ das Symbol/ das symbolische Zeichen (simbolo) basiert hingegen auf einer reinen Konvention, ohne dass ein zwingender Zusammenhang zwischen den drei genannten Polen des Zeichens bestünde (z. B. die Schlange als Symbol für Verführung oder Sünde). ? Vergleichen Sie das triadische (dreiseitige) Zeichenmodell nach Ch. S. Peirce mit dem dualen (zweiseitigen) Zeichenmodell von Saussure (vgl. Einheit 4.2 und 11.1). Wo liegt ein Vorteil des Peirceschen Modells? Wel‐ cher Zeichentypus ist für die Literaturwissenschaft besonders relevant? Bereits in Opera aperta (1962) hatte Eco die prinzipielle ‚Offenheit‘ des Kunst‐ werkes zur Grundlage seiner Ausführungen gemacht. Die strukturalistische Analyse und das von ihr erstellte Modell des Textes, so Eco, diene nur zur Begründung einer möglichen Interpretation, die dadurch immerhin eine besondere Plausibilität gewinne: 1 - - - 5 [I]l modello di un’opera aperta non riproduce una presunta struttura oggettiva delle opere, ma la struttura di un rapporto fruitivo 1 ; una forma è descrivibile solo in quanto genera l’ordine delle proprie interpretazioni, ed è abbastanza chiaro come così facendo il nostro procedimento si discosti 2 dall’apparente rigore oggettivistico di certo strutturalismo ortodosso, che presume di analizzare delle forme significanti astraendo 3 al gioco mutevole dei significati che la storia vi fa convergere. (Eco: 1972, 13) 11.1 Strukturalismus 231 <?page no="232"?> Aufgabe 11.5 1 fruitivo bezogen auf die Verwendung, hier: die Rezeption - 2 discostarsi sich abwenden - 3 astrarre abstrahieren/ absehen von ? Weshalb thematisiert Eco einen „rapporto fruitivo“, also eine Be‐ ziehung zwischen Leserschaft und Text im Rahmen der literarischen Rezeption, wenn er auf die ‚Offenheit‘ des Kunstwerks hinweist? Was versteht er unter dem ‚Spiel‘ („gioco“) der Signifikate, das im Laufe der Textgeschichte entsteht? Der wegweisende Einfluss des strukturalistischen Ansatzes lässt sich letzt‐ lich darauf zurückführen, dass er zu einer neuen Systematisierung der Textanalyse führte, die intersubjektiv überprüfbare Aussagen ermöglicht. Während die strukturalistische Textanalyse im engeren Sinne jedoch dar‐ auf ausgerichtet war, am konkreten Textbeispiel objektivierbare Strukturen aufzudecken und daraus verallgemeinerbare Schlussfolgerungen zu ziehen, wurde die von Saussure eingeleitete Skepsis gegenüber der Eindeutigkeit sprachlicher Mitteilungen seit Ende der 1960er Jahre noch radikalisiert. Die Arbitrarität (Willkürlichkeit) des Zeichens wurde nunmehr zum Anlass genommen, über die formale Anordnung sprachlicher Zeichen hinaus weiter reichende Aussagen über die Möglichkeiten der menschlichen Kommunika‐ tion zu treffen. In der Folge stießen von nun an die rein formale Analyse wie auch das strukturalistische Selbstverständnis einer ebenso exakten wie formalisierbaren Wissenschaft auf Ablehnung. Stattdessen wurde die grund‐ legende Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen der Entstehung oder Zuschreibung von Bedeutung in den Mittelpunkt gerückt. Vor allem in Frankreich, wo der Strukturalismus ausgehend von der Linguistik bereits in zahlreichen Disziplinen (Anthropologie, Psychologie, Literaturwissenschaft) präsent war, entwickelten sich eine ganze Reihe von theoretischen Ansätzen und Disziplinen, die sich mittelbar aus den strukturalistischen Vorgaben speisten. Nicht wenige der Beteiligten überwanden in diesem Zusammenhang ihre eigenen früheren Positionen oder führten sie in eine andere Richtung weiter. Dabei entstand ein komplexes wissenschaftliches Feld, das kein in sich geschlossenes Gesamtbild abgeben konnte oder wollte. 11.2 Poststrukturalistische Ansätze Ohne der Bandbreite der strukturalistischen Ansätze gerecht werden zu kön‐ nen, kann festgehalten werden, dass mit der Zeit im Bereich der struktura‐ listischen Theoriebildung der Bezugsrahmen erweitert wurde und über den Einzeltext (oder das in sich geschlossene Zeichensystem) hinauswies (post- 232 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="233"?> Entgrenzung des Textes Intertextualität als Grund‐ phänomen ‚Tod des Autors‘ Intertextualität als pragmatischer Ansatz strutturalismo). Indem der Referent (und damit letztlich außertextuelle Fakto‐ ren) erneut eine Rolle spielten, erfolgte eine Loslösung vom rein immanenten Vorgehen bei der Analyse. Je mehr das Gewicht dabei auf die Feststellung verlagert wurde, dass ein Zeichen eine schier unüberblickbare Vielfalt mögli‐ cher Bezüge und Bedeutungen umfassen kann, wurde auch die Vorstellung aufgegeben, man könne feste Bedeutung tragende Strukturen und präzise modellierbare Systeme ausmachen, die als ebenso objektive wie eindeutige Analyseergebnisse vorlägen. Der Akzent wurde stattdessen bisweilen auf die prinzipielle Unendlichkeit der vom Zeichen hervorgebrachten Verweise gelegt. 11.2.1 Intertextualität In diesem Zusammenhang ist es aus literaturwissenschaftlicher Sicht beson‐ ders interessant, sich mit den in einem Text enthaltenen Verweisen auf andere Texte zu beschäftigen. Obwohl absichtliche Bezüge im Allgemeinen ebenfalls unter den Begriff ‚Intertextualität‘ (intertestualità) fallen, basiert der inter‐ textuelle Ansatz im engeren Sinne gerade auf der Ausklammerung von be‐ wussten Anspielungen eines Autors/ einer Autorin auf ehemalige Lektüren. Dass literarische Texte sich auf andere Texte beziehen, wird vielmehr als eine ganz grundsätzliche Eigenschaft angesehen, die auf dem sozialen Charakter der Sprache beruht: Alles, was der Einzelne beim Sprechen äußert, hat er sich erst selbst zu einem früheren Zeitpunkt in anderen Zusammenhängen aneig‐ nen müssen. Das im Laufe des Lebens gesammelte Sprachmaterial (bspw. Worte, Formulierungen, Redewendungen etc.) wird lediglich für den konkre‐ ten Sprechakt neu zusammengestellt und akzentuiert. Insofern ist ein Text für die französische Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva (*1941), die maß‐ gebliche Vordenkerin dieses engeren Intertextualitäts-Ansatzes, nichts weiter als ein Mosaik aus Zitaten oder Transformationen vorgängiger Texte. Indem die Grenzen des Textes aufgelöst werden, vollzieht die Intertextua‐ litätstheorie einen radikalen Bruch mit der Vorstellung von der in sich ge‐ schlossenen Einheit des Werks, zugleich auch mit der Vorstellung von einer sinnstiftenden Autorschaft. Die Person der Autorin oder des Autors, ihre Aus‐ sageabsichten und Interpretationshinweise verwischen unter den unkontrol‐ lierbaren Verweismöglichkeiten des sprachlichen Materials, das niemandem alleine ‚gehört‘. Damit wird ebenfalls die Fähigkeit der Leserschaft in Frage gestellt, dem Text einen eindeutigen Sinn zuzuschreiben. Roland Barthes ging in diesem Zusammenhang so weit, den „Tod des Autors“ (1968) als Instanz der Deutungshoheit auszurufen. Gegenüber der abstrakten Theorie der Intertextualität verspricht der von Gerard Genette formulierte Ansatz einer ‚Transtextualität‘ (transtestualità) einen höheren pragmatischen Nutzen für die Untersuchung einzelner litera‐ rischer Texte. Genettes Ausführungen fügen sich in den Rahmen seiner breit 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 233 <?page no="234"?> Transtextualität ! Pastiche: sprachliche Nachahmung eines literari‐ schen Vorbilds Kritik an der Hermeneutik angelegten Narratologie (vgl. Einheit 8) und gehen auch in diesem Fall mit einem speziellen begrifflichen Instrumentarium einher. Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit transtextuellen Bezügen ist die Unterscheidung zwi‐ schen dem Hypotext (ipotesto), dem zuvor schon bestehenden Ausgangstext, und dem Hypertext (ipertesto), welcher die Vorlage umformt. Insgesamt in‐ ventarisiert Genette fünf mögliche Beziehungen zwischen Texten: ▶ Intertextualität (intertestualità): die absichtsvolle Bezugnahme auf einen Text, z. B. in Form von Zitaten oder Anspielungen, aber auch als Plagiat (ein Text wird unter falschem Autornamen noch einmal veröffentlicht); ▶ Metatextualität (metatestualità): eine kritische Betrachtung eines anderen Textes, seine Beschreibung und Kommentierung, die sozusagen von einer übergeordneten Warte aus - der Metaebene - vorgenommen wird, den Bezugstext jedoch nicht mehr unbedingt zitieren muss; ▶ Hypertextualität (ipertestualità): die als solche nicht mehr kommentierte Transformation eines Hypotextes, beispielsweise durch Neubearbeitung eines Stoffes oder Verwendung eines bestehenden Motives oder Themas; weitere Möglichkeiten der Transformation bieten etwa die Parodie, das Pastiche oder die Adaption in einem anderen Medium; ▶ Architextualität (arcitestualità): die grundlegende Einbettung eines Textes in die Gesamtheit der allgemeinen und übergreifenden Diskurstypen, d. h. in erster Linie seine Bezugnahme auf die bestehenden literarischen Gattungen. Eine Sonderrolle kommt der sog. Paratextualität (paratestualità) zu; bei ihr handelt es sich um das Verhältnis zwischen dem (Haupt-)Text und den ihn einrahmenden textuellen Elementen (den Paratexten), beispielsweise Titel, Gat‐ tungsangabe, Widmung, Impressum, Vorwort, Anmerkungen, Nachwort usw. Zur Verdeutlichung der Bezüge zwischen Texten sei an dieser Stelle auf Vittoria Colonnas Ehepetrarkismus nach dem Vorbild Francesco Petrarcas verwiesen (vgl. Einheit-5). 11.2.2 Dekonstruktion Im Zentrum der poststrukturalistischen Ansätze befindet sich immer wieder die Annahme, dass die Sprache die Welt nicht abbilden, darstellen oder erklä‐ ren kann, sondern lediglich naive BeobachterInnen über dieses Unvermögen hinwegtäuscht. Eines der herausragenden Kennzeichen poststrukturalistischer Theorien ist daher die Forderung nach einer kritischen Selbstreflexion im Um‐ gang mit jeglicher Art von Text, um das Bewusstsein dafür zu stärken, dass jede vermeintliche Bedeutungszuschreibung, also jede gezielte Interpretation, von vornherein ein hoffnungsloses Unterfangen darstellt. Damit werden nicht nur die Grundannahmen der Hermeneutik als illusionär abgestempelt, welche auf 234 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="235"?> Jacques Derrida Phonozentrismus und Logozentrismus eine intersubjektiv nachvollziehbare Deutbarkeit des Textes abzielt, sondern auch die strukturalistischen Versuche, den Text als eine in sich stabile Struk‐ tur zu beschreiben. Die Verfahrensweisen des Strukturalismus werden jedoch keineswegs für obsolet erklärt, im Gegenteil: ihre Weiterentwicklung wird der nun umgekehrten Zielsetzung unterstellt, zu belegen, dass die Aufstellung von Klassifikationen, Typologien, Funktionen oder Strukturen immer wieder von der prinzipiellen (Bedeutungs-)Offenheit des sprachlichen Zeichens unterlau‐ fen wird. Wenn aber weder AutorIn noch LeserIn in der Lage ist, den ‚Sinn‘ eines Textes dingfest zu machen, dann bedeutet dies zugleich eine radikale In‐ fragestellung eines Jahrhunderte alten Umgangs mit Texten und schließlich der (bisherigen) literaturwissenschaftlichen Tätigkeit selbst. Den maßgeblichen Beitrag zur Ausbildung der dekonstruktivistischen Lite‐ raturtheorie stellen die Überlegungen des französischen Philosophen Jacques Derrida (1930-2004) dar. Im Sinne der Saussureschen Aufspaltung des sprachli‐ chen Zeichens in Signifikant und Signifikat bildet dieses keine geschlossene Ein‐ heit und auch keine von ihm selbst ausgehende Bedeutung mehr; die Bedeu‐ tung eines Zeichens beruht stattdessen einzig und allein auf seiner Abgrenzung von benachbarten Zeichen: ein Zeichen ist das, was alle anderen Zeichen nicht sind. Seine Bedeutung ist daher keine Eigenschaft mehr, sondern nur die Bezie‐ hung zu anderen Zeichen. Die Bedeutung lässt sich somit nur entlang einer un‐ endlichen Verkettung von Zeichen als ‚Spur‘ (traccia) verfolgen und erahnen, da eine Gesamtschau aller sprachlichen Zeichen - und damit der Überblick über das System Sprache - für keinen Menschen möglich ist. Die Selbsttäuschung des Menschen, ein autonomes Subjekt zu sein, das sei‐ ner Sprache mächtig ist und dank ihrer Hilfe mit anderen Menschen kommuni‐ zieren kann, ist laut Derrida darauf zurückzuführen, dass der Mensch sich beim Sprechen als eigenmächtiges und vernünftiges Subjekt erlebt: Im Sprechen kann Gedanken und Gefühlen Ausdruck verliehen werden; Sprechen ist eine unmit‐ telbare Form der Kommunikation; das Hören der eigenen Stimme ist eine Mög‐ lichkeit, sich selbst über die Sinnesorgane wahrzunehmen. Das Selbstbild des Menschen beruht insofern in weiten Teilen auf der gesprochenen Sprache (Pho‐ nozentrismus; fonocentrismo), nicht etwa auf der geschriebenen. Nicht minder trügerisch ist für Derrida die Vorstellung vom sprachlichen Zeichen als einer untrennbaren Einheit von Ausdruck und Sinn (Logozentrismus; logocentrismo). Würde man nämlich annehmen, die Lautseite eines Zeichens sei unmissver‐ ständlich an eine einzige Bedeutung geknüpft, dann wäre Kommunikation - und damit eine sinnvolle Ordnung der Welt - von einer sprachphilosophischen Warte aus betrachtet unproblematisch. Man könnte in einem solchen Vertrauen in die Sprache sogar so weit gehen, dass jeglicher Sinn von einer ‚transzenden‐ talen‘, d. h. über das Materielle hinausweisenden Instanz, etwa von Gott, der ‚Natur‘ oder der Vernunft, garantiert wird. 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 235 <?page no="236"?> ‚Große Erzählungen‘ Polysemie und Differenz Umkreisen des Textes in der Lektüre Text 11.5 Jacques Derrida: Dissemi‐ nation (1972) Nun ist es ein wesentliches Anliegen des poststrukturalistischen Denkens, die sog. ‚großen Erzählungen‘ nach Jean-Francois Lyotard, welche der mensch‐ lichen Existenz einen Sinn unterlegen (also Religionen, Mythen, Weltmodelle, Ideologien etc.), als Illusionen zu entlarven, da auch sie nichts weiter als ‚Texte‘ darstellten (siehe Einheit 12.1). Der menschlichen Existenz wird also ebenso ein tröstlicher Sinn abgesprochen wie der Sprache. Letzteres kommt besonders bei der Betrachtung der schriftlich fixierten Sprache deutlich zum Vorschein, de‐ ren Vieldeutigkeit (Polysemie; polisemia) leichter einsichtig ist als jene des ge‐ sprochenen Wortes. Und genau an diesem Punkt setzt das Vorgehen der De‐ konstruktion (decostruzione) an: Es greift scheinbar unproblematisch-sinnvolle Aussagen aus einem Text heraus, untergräbt sie aber sogleich, indem es in ei‐ ner spielerischen Umschreibung der Worte und Formulierungen alle Sinnbe‐ züge wieder auflöst, sie ad absurdum führt. Dieses Vorgehen zielt darauf ab zu zeigen, dass der Text nichts weiter ist als ein dynamisches Feld von unendlich vielfältigen und wandelbaren Sinnbezügen, eine fortlaufende Verschiebung von Bedeutungen, da er zahllose Assoziationen wachrufen (eine ‚Ausstreuung‘ - disseminazione - von Sinnangeboten) und die eingefahrenen Denkmuster ver‐ unsichern kann - ganz allgemein gesehen verliert sich seine (eindeutige) Be‐ deutung im Überangebot an Lektürepfaden. An die Stelle des einen, mit sich ‚identischen‘ Sinns rückt die ‚Differenz‘ (differenza) als maßgeblicher Aus‐ druck der ‚Dezentrierung‘ von Bedeutung. Die intensiven Lektüren, welche dekonstruktivistische Lesarten an ihren Textbeispielen inszenieren, bedienen sich bevorzugt der Paraphrase, des Sprachspiels, der Auflösung von Metaphern oder Metonymien, um den ver‐ meintlichen Aussagegehalt des Textes zu demontieren, zu dekonstruieren, anstatt einen solchen begrifflich zu fixieren. Daraus resultiert nicht die Ab‐ leitung einer bestimmten sprachlichen Struktur, sondern die ureigene Freiheit der Bedeutungsstiftung auf der Wort- und Satzebene, wie Derrida sie in seiner ‚Lehre‘ einer Grammatologie verankert hat. Da Sprache allerdings nie in der Lage sein kann, einen stabilen Sinn zu kommunizieren, betont der dekonstruktivistische Ansatz seinerseits, keine - und sei es auch nur negative - Deutung des Textes formulieren zu können. Anstatt eine dezidierte Aussage zu treffen, ist er daher aus Respekt vor den eigenen Prinzipien dazu gezwungen, sein Thema in immer neuen Anläufen zu umkreisen und spielerisch-assoziativ (nicht: systematisch! ) in den verschie‐ densten Aspekten zu beleuchten - ein Vorgehen, das dekonstruktivistische Texte naturgemäß schwer lesbar macht. Betrachten wie in diesem Sinne die Derridasche Vorstellung vom Text, dessen ‚Sinn‘ oder ‚Aussage‘ nicht mehr fixierbar erscheint: 1 Ein Text ist nur dann ein Text, wenn er dem ersten Blick, dem ersten, der daher kommt, das Gesetz seiner Zusammensetzung und die Regel seines Spiels verbirgt. Ein Text bleibt im übrigen stets unwahrnehmbar. Nicht, daß das Gesetz und 236 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="237"?> Aufgabe 11.6 Abb. 11.4 Francesco Petrarca (1304- 1374) 5 10 15 20 25 die Regel Unterschlupf fänden im Unzugänglichen eines Geheimnisses - sie geben sich schlechthin niemals preis: der-Gegenwart, einem solchen, das man in strengem Sinne eine Wahrnehmung nennen könnte. In der Gefahr, stets und wesensmäßig, derart endgültig verlorenzugehen. Wer wird je um ein solches Verschwinden wissen? Die Verschleierung der Textur kann durchaus Jahrhunderte erfordern, ihr Ge‐ webe […] freizulegen. Gewebe umhüllendes Gewebe. Jahrhunderte, das Gewebe freizulegen. Es also einem Organismus gleich wiederherstellend. Endlos sein eige‐ nes Weben […] registrierend hinter der schneidenden Spur, Dezision einer jeden Lektüre. Der Anatomie oder Physiologie einer Kritik immer eine Überraschung vorbehaltend, die glaubte, Herr des Spiels zu sein, alle Fäden davon zugleich zu überwachen, sich so dem Trug hingebend, den Text erblicken zu wollen, ohne daran zu rühren, ohne an den ‚Gegenstand‘ Hand zu anzulegen, ohne Gefahr zu laufen, dem irgendeinen neuen Faden hinzuzufügen - einzige Chance, ins Spiel einzutreten, indem man die Finger zur Hilfe nimmt. Hinzufügen heißt hier nichts anderes als zu lesen geben. Man muß sich auf die Ordnung einlassen, um das da zu denken: daß es nicht darum geht, hinzuzudichten, außer in Anbetracht, daß hinzudichten können auch heißt, sich darauf zu verstehen, dem gegebenen Faden zu folgen. Das heißt, wenn man uns noch folgen möchte, dem verborgenen Faden. Wenn es eine Einheit gibt von Lektüre und Schrift - wie das heute so leichthin gedacht wird! -, wenn die Lektüre Schrift ist, so bezeichnet diese Einheit weder die unterschiedslose Verschmelzung noch die Identität völliger Ruhe, das ist, das die Lektüre mit der Schrift vermählt, muß handgemein werden und einen trennenden Schnitt ziehen. (Derrida: 1995, 71 f.) ? In welche Metaphorik bindet Derrida seine Überlegungen zum Text ein? Zeigen Sie anhand des obigen Auszugs die grundlegend andere Auf‐ fassung vom Text gegenüber dem zuvor skizzierten strukturalistischen Vorgehen. Einen Eindruck von der dekonstruktivistischen Lektüre literarischer Texte vermag ein Ausschnitt aus Adelia Noferis Betrachtung von Francesco Petrarcas Senile IV 5 geben (bei den Seniles handelt es sich um 125 „Alters‐ briefe“, die Petrarca ab dem Jahr 1365 verfasst hat). Ihrer Analyse legt sie die in Mittelalter und Renaissance verbreitete Lehre vom mehrfachen Schriftsinn (zunächst des göttlichen Wortes in der Bibel) zugrunde und zieht daraus Rückschlüsse auf die Destabilisierung eines einheitlichen Sinnes des betreffenden Briefs: 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 237 <?page no="238"?> Aufgabe 11.7 Michel Foucault Text 11.6 Adelia Noferi: La senile IV 5 (1992/ 93) 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 So bene che l’accenno 1 di Petrarca al numero dei significati che il testo contiene o che l’interprete “trova” (“qualche senso”, “molti sensi”, “un pari numero”, o un “maggior numero” o uno “minore”) può riferirsi alle diverse codificazioni dei livelli di significazione allegorica (due: letterale e allegorica; tre: letterale, allegorica e morale; quattro: letterale, allegorica, morale, anagogica 2 ; cinque, con l’aggiunta del senso mistico); ed è vero anche che il “nessuno” che compare nel testo, è in realtà riferito a quei precisi livelli di senso […] Il linguaggio, nella sua costitutiva opposizione tra significante e significato e fra segno e referente, contiene da sempre, oltre l’incancellabile possibilità di mentire e di dire il falso, l’altrettanto incancellabile presenza del non-senso, annodato proprio nell’irriducibile scarto 3 tra le parole e le cose, e negli irreperibili 4 confini della polisemia. Tutto il pensiero occidentale […] è traversato e lavorato dall’interrogativo inquietante di che cosa possa mai celarsi 5 nel linguaggio al di là e “prima” della rassicurante barriera dei significati (il grido? il delirio? la follia? il nulla […] o che altro? ). Ma se questa barriera presenta delle crepe 6 , o diventa una palizzata 7 , o si sfaldano 8 le sue fondamenta, i significati rischiano di non tenere, di “far passare”, di affondare nel non senso o di essere travolti dalla deriva del senso. (Noferi: 1992/ 93, 688 ff.) - 1 accenno Hinweis - 2 anagogico, -a die Kirche betreffend - 3 scarto hier: Abstand - 4 irreperibile unerreichbar - 5 celarsi sich verbergen - 6 crepa Riss - 7 palizzata Palisade - 8 sfaldarsi auseinander fallen/ zerbröckeln ? Verschaffen Sie sich anhand eines geeigneten Nachschlagewerks (z. B. im Lexikon des Mittelalters. Hg. Robert Auty et al., Band I. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002, Stichwort: ‚Allegorie, Allegorese‘) grundlegende Informationen zum mehrfachen Schriftsinn der Bibelaus‐ legung. Weshalb kann daraus eine Verunsicherung der LeserInnen erfol‐ gen? Welche Vorbehalte formuliert Noferi gegen die Sprache an sich? 11.2.3 Historische Diskursanalyse Zu den AutorInnen, deren philosophische Untersuchungen einen starken Ein‐ fluss auf die poststrukturalistisch ausgerichtete Literatur- und Kulturwissen‐ schaft ausüben, zählt Michel Foucault (1926-1984). In seinem auf Grundideen des Strukturalismus aufbauenden Ansatz der historischen Diskursanalyse (analisi del discorso) - die wegen ihrer weitreichenden kulturwissenschaftli‐ chen Implikationen nicht mit der sprachwissenschaftlichen Diskursanalyse gleichgesetzt werden kann - widmete er sich der Untersuchung bestimmter geschichtlicher Verbindungen (‚Formationen‘) aus Denk-, Rede- und Verhal‐ 238 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="239"?> ! Diskurse als epochen‐ spezifische geregelte Formen, über bestimmte Wissensbereiche (etwa den Menschen) zu reden tensweisen. So stellte er heraus, dass die Geschichte einer Kultur in Abschnit‐ ten verläuft, die geprägt sind von einer jeweils vorherrschenden wissenschaft‐ lichen Lehrmeinung vom Menschen (Episteme; ital. episteme, f.) und von den sie stützenden machthabenden Institutionen. Abb. 11.5: Robert Fleury: Der Psychiater Pinel in der Salpêtrière (1876) Diese unterschwellig funktionierende Allianz beeinflusst und durchdringt das Selbstverständnis des Menschen, seine Anschauungen, seine Verhaltens‐ weisen - seine Subjektivität. An den Beispielen des ‚Wahnsinns‘ und der Se‐ xualität konnte Foucault mit Hilfe des von ihm untersuchten historischen Quellenmaterials verdeutlichen, wie Vorstellungen von ‚Gesundheit‘ und ‚Normalität‘ auf entsprechenden Diskursen und den mit ihnen verbundenen ‚diskursiven Praktiken‘ (also ihre Umsetzung in Handeln; pratiche discorsive) beruhen. Unter Diskursanalyse ist demnach ebenso die Untersuchung von menschlichem Verhalten wie von Texten zu verstehen, an denen nachvollzo‐ gen wird, welches Wissen zirkuliert, welche Medien es benutzt, welche Tabus aufgebaut werden, mit welchen sprachlichen Mitteln und vor dem Hinter‐ grund welcher Autorität dabei vorgegangen wird. Literarische Texte bilden nur einen Teilbereich der analysierbaren Texte, indem auch sie Hinweise auf die zu ihrem Entstehungszeitpunkt gültigen Diskurse geben (man kann sie bspw. dahingehend untersuchen, welche Ansichten zu ‚abnormem‘ Verhalten oder sexual-moralischen Normen sich 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 239 <?page no="240"?> Aufgabe 11.8 Text 11.7 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft in ihnen finden). Texte können jedoch stets auch Gegendiskurse formulieren, welche sich von den vorherrschenden offiziellen Diskursen absetzen. Obwohl Michel Foucault selbst keine spezielle Methode für die Analyse literarischer Texte ausgearbeitet hat, hat die Literaturwissenschaft von ihm wichtige Impulse in methodischer wie thematischer Hinsicht erhalten. Dazu zählt beispielsweise die Betrachtung der Textzeugnisse von gesellschaftlichen AußenseiterInnen, wie sie zumal von der feministischen Kritik (vgl. Einheit 12.2) stark beachtet wurde. Ein Beispiel für die kritische Analyse von Diskursen liefert Foucault anhand seiner bereits in Einheit 1.1 resümierten Beobachtungen zur Rede über ‚den Autor‘ bzw. zu den Vorstellungen, die zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten mit ‚Autorschaft‘ verbunden waren. Im Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft (dt. 1969) hinterfragt Foucault den heute gültigen medizinischen (und daraus gespeist: sozio-kulturellen) Diskurs über den ‚Wahnsinn‘, bzw. er versucht zu ergründen, welche Bedeu‐ tung dem Wahn beigemessen wurde, bevor er zum Gegenstand psychiatri‐ scher Lehrmeinungen wurde. 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 - - - [Heute] kommuniziert der moderne Mensch nicht mehr mit dem Irren. Auf der einen Seite gibt es den Vernunftmenschen, der den Arzt zum Wahnsinn delegiert und dadurch nur eine Beziehung vermittels der abstrakten Universalität der Krankheit zuläßt. Auf der anderen Seite gibt es den wahnsinnigen Menschen, der mit dem anderen nur durch die Vermittlung einer ebenso abstrakten Vernunft kommuniziert, die Ordnung, physischer und moralischer Zwang, anonymer Druck der Gruppe, Konformitätsforderung ist. Es gibt keine gemeinsame Sprache, vielmehr es gibt sie nicht mehr. Die Konstituierung des Wahnsinns als Geistes‐ krankheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und läßt all die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, die ein wenig an Gestammel erinnerten und in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, im Vergessen versinken. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können. Ich habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache zu schreiben, vielmehr die Archäologie dieses Schweigens. (Foucault: 1978, 8) ? In welchem Verhältnis steht der medizinische Diskurs über den Wahnsinn zur Kommunikation allgemein? Welche Auswirkungen hat diese Feststellung für das hier vertretende Konzept von ‚Sprache‘? Was meint Foucault schließlich mit „Archäologie“? 240 11 Strukturalismus und Poststrukturalismus <?page no="241"?> Zusammenfassung  Die Strukturalistische Textbetrachtung ging mit einer sprachwissen‐ schaftlich inspirierten und stark formalisierten Zerlegung des Textes in seine einzelnen Bedeutung tragenden Bestandteile einher, wodurch neue Erkenntnisse über die Literarizität von Texten gewonnen werden konn‐ ten. Dies gilt gleichermaßen für den Bereich der Intertextualität, welcher sich mit den generellen oder den konkreten Bezügen zwischen Texten befasst. Doch weist das Abrücken von der rein immanenten Betrach‐ tungsweise, wie sie noch von strengen strukturalistischen Analysen ge‐ fordert wurde, auf eine neue Ausrichtung der literaturtheoretischen An‐ sätze hin. Unter dem Vorzeichen des Poststrukturalismus können die zuvor entwickelten Analyseverfahren auf neue Gegenstände übertragen werden, etwa die Spuren übergreifender historischer oder sozialer Struk‐ turen in der Literatur. Andererseits begünstigt die auf einer sprach- und erkenntnisphilosophischen Ebene geführte Auseinandersetzung mit der Sprache ein zweifelndes Nachdenken über jedwede Möglichkeit der Sinn‐ stiftung und Kommunikation. Literatur D’Arco Silvio Avalle: A Liuba che parte, in: Ders., Tre saggi su Montale. Torino: Einaudi 1970, 93-99. Roland Barthes: Die strukturalistische Aktivität, in: Kursbuch 5/ 1966, 190-196. Jacques Derrida: Platons Pharmazie, in: Ders., Dissemination. Hg. Peter Engelmann. Wien: Passagen 1995, 69-192. Umberto Eco: Opera aperta. Milano: Bompiani 4 1972. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007. Gérard Genette: Paratexte. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2001. Martin Haase: Italienische Sprachwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Narr 2 2013. Eugenio Montale: A Liuba che parte, in: Ders., Tutte le poesie. Hg. Giorgio Zampa. Milano: Mondadori 3 1991. Adelia Noferi: La senile IV 5. Crisi dell’allegoria e produzione del senso, in: M. Feo (Hg.), Quaderni petrarcheschi IX-XI/ 1992-93, 683-695. Charles Sanders Peirce: On a New List of Categories, in: Ders., The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings. Bd.-1. Hg. Nathan Honser/ Christian Koesel. Bloomington: Indiana University Press 1992, 1-10. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2016. Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 11.2 Poststrukturalistische Ansätze 241 <?page no="243"?> Überblick 12 Kultur, Macht und Kritik Inhalt 12.1 Kulturwissenschaften 12.2 Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies 12.3 Postkoloniale Theorie 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 12.4.1 Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung 12.4.2 Life writing und Testimonial-Literatur 12.5 Mediale Simulakren 12.6 Ecocritica, Ecopoetica In Einheit 1 sind Sie mit der Reflexion auf die spezifisch literarischen Eigenschaften von Texten, ihre Literarizität, vertraut gemacht worden und haben in den folgenden Einheiten verschiedene Aspekte des herme‐ neutischen, medientheoretischen und methodisch vorgehenden Zugriffs auf sie kennengelernt. Literatur kann jedoch auch als kulturgeschichtli‐ ches Dokument betrachtet werden. <?page no="244"?> Definition ‚Kultur‘ studi culturali Diskursanalyse 12.1 Kulturwissenschaften Der Begriff Kulturwissenschaften (scienze culturali) umfasst ein breites Spek‐ trum von Forschungsansätzen unterschiedlicher Fachrichtungen, die sich mit Formen von ‚Kultur‘ auseinandersetzen. Unter Kultur versteht man die von Menschen geschaffenen kollektiven bedeutungstragenden Systeme, Weltdeutungen, Werte und Normen, Wis‐ sensformen, Empfindungsweisen, die sich in Sinnentwürfen, Denk- und Verhaltensweisen, Symbolen, Institutionen, nicht zuletzt auch in media‐ len Vermittlungen (Texten) manifestieren. In einem ganz allgemeinen Sinn setzen sich die Kulturwissenschaften aus den Disziplinen der traditionellen Geisteswissenschaften (siehe Einheit 3.3) zusammen, wobei jedoch die jeweiligen Fachgrenzen zugunsten transdiszi‐ plinärer Perspektiven geweitet werden. Im Vordergrund stehen dabei unter anderem die Erforschung von Aspekten der Alltagskultur und der Mentali‐ tätsgeschichte, der Identitäts- und Alteritätsentwürfe, der Erinnerungskul‐ turen und der Medienkulturwissenschaft. Nicht zu verwechseln ist dieses Verständnis einer insgesamt nur vage definierten kulturwissenschaftlichen Tätigkeit mit den britischen Cultural Studies (studi culturali), die ein klarer umrissenes Profil aufweisen, auf der marxistischen Gesellschaftstheorie auf‐ bauen und sich in erster Linie mit der Volkskultur (im Gegenentwurf zur Elitekultur herrschender Gruppen) beschäftigen. Eine solche Popularkultur (engl. popular culture, ital. cultura popolare) umfasst die von den breiten Be‐ völkerungsschichten produzierte Kultur, ist jedoch nicht zu verwechseln mit der für sie produzierten herrschaftsstablisierenden Massenkultur. Einen zentralen Anstoß zu den sich in der Folge ausformenden Kulturwis‐ senschaften lieferte Foucaults Diskursanalyse. Sie lenkt die Aufmerksamkeit vom Individuum und vom singulären Text weg und untersucht das ihnen übergeordnete kulturelle Bedingungsgefüge, das sich aus Machtverhältnis‐ sen, Wissensständen und Wertehierarchien bildet und die Denkmöglichkei‐ ten und das Verhalten der Einzelnen determiniert (vgl. Einheit 11.2.3). Eine in erster Linie ideologiekritische Untersuchungsrichtung schlug die Frankfurter Schule (scuola di Francoforte) um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer ein, die in einer Weiterentwicklung marxistischer und psychoanalytischer Positionen ein rational begründetes, gesellschaftskritisches Handeln einfor‐ derte (gemeinsam verfasstes Hauptwerk: Dialektik der Aufklärung, 1944). Als weiterer Einfluss kann daneben die französische Annales-Schule (scuola delle ‚Annales‘ ), benannt nach der gleichnamigen sozialwissenschaftlich und historisch ausgerichteten Zeitschrift, angeführt werden. Hier wurden 244 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="245"?> Mentalitätsgeschichte Aufgabe 12.1 New Historicism mehrere Leitideen der jüngeren Geschichtswissenschaften entwickelt: die Hinwendung zu einer Geschichte des Alltags (storia della vita quotidiana), die zugleich durch eine Perspektive ‚von unten‘ der traditionellen Chronik von staatlichen oder militärischen Großereignissen entgegengesetzt war und eine Vielzahl von historischen Quellen heranzog (z. B. Sterberegister, Ge‐ richtsprotokolle); die Mikro-Geschichte (microstoria), welche in zuvor oftmals als randständig erachteten Quellen detaillierte Informationen zu den Lebens‐ umständen einzelner Personen sammelte, um daraus verallgemeinerbare Erkenntnisse zu gewinnen; schließlich der Einbezug von zuvor ebenfalls nicht beachteten mündlichen Quellen in ihrer subjektiven Wahrnehmung, die Oral History (storia orale). Diese neuen historiographischen Untersuchungsfelder mündeten im Weiteren in die Strömung der Mentalitätsgeschichte (storia della mentalità), welche die vorherrschenden Denk- und Empfindungsweisen in einer Kultur zu einem bestimmten historischen Augenblick herauszuarbeiten suchte. Die Mentalitätsgeschichte untersucht die kulturelle Sinngebung in einer Gruppe oder einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeit‐ punkt. Es handelt sich dabei um Einstellungen, Denkweisen, Kollektiv‐ vorstellungen und Gefühle, um Selbst- und Weltbilder, handlungsleitende Werte und Normen, welche die kollektive Wirklichkeitserfahrung von Menschen bilden und den jeweiligen Wissensstand der Epoche begrün‐ den. Diese zumeist nicht expliziert formulierten und reflektierten Denk- und Gefühlsstrukturen werden in breiten Teilen der Bevölkerung als selbstverständlich und allgemeingültig akzeptiert. Als kognitive, ethische und affektive Dispositionen sind sie die Voraussetzungen für kollektives und individuelles Handeln. Die mentalitätsgeschichtliche Forschung grenzt sich insofern von einer rein ereignisgeschichtlich orientierten His‐ toriographie ab und untersucht ein möglichst breites Spektrum an kul‐ turellen Artefakten, vor allem aber Texte als Überlieferungsträger, wobei nicht zuletzt auch fiktionale Texte mit einbezogen werden. ? Wo sehen Sie Berührungspunkte zwischen der Mentalitätsgeschichte und der von Michel Foucault konzipierten Historischen Diskursanalyse? Im US-amerikanischen Raum ergab sich in der Betrachtung von Text, Ge‐ schichte und Kultur der New Historicism (nuovo storicismo), der auf die wech‐ selseitige Bedingung dieser Elemente verwies: Die Kulturgeschichte bildet den Entstehungsrahmen für Texte, welche ihrerseits die kulturgeschichtliche Entwicklung beeinflussen. Damit wendete sich der New Historicism von 12.1 Kulturwissenschaften 245 <?page no="246"?> Abb. 12.1 Stephen Greenblatt Kulturelle Narrative Geschichtliche Erzählmuster Abb. 12.2 Hayden White der zuvor in den Vereinigten Staaten maßgeblichen werkimmanenten Litera‐ turbetrachtung des New Criticism ab, der programmatisch von sämtlichen außerliterarischen Kontexten absehen wollte und stattdessen ein ‚close rea‐ ding‘ (ital. lettura ravvicinata) praktizierte. Insbesondere die Schriften des US-amerikanischen Literaturwissenschaft‐ lers Stephen Greenblatt (*1943) widmeten sich der ‚Rehistorisierung‘ des Li‐ teraturverständnisses. Neben dem Aufzeigen der geschichtlichen Kontexte literarischer Produktionen steht dabei die Deutung der Geschichte als lesbarer Text, der erzählerische oder sogar fiktionale Charakteristika in sich trägt - ein Interdependenzverhältnis, das Greenblatt später als Poetics of Culture bzw. Cultural Poetics bezeichnete. Ganz allgemein zeigen sich die Kulturwissenschaften in poststrukturalis‐ tischer Manier von der Auffassung geprägt, dass Kultur, Gesellschaft und Ge‐ schichte als ‚Texte‘ aufzufassen sind, die lesbar gemacht werden können. In diesem Sinne finden sich die Grundannahmen einer Gesellschaft in sog. ‚kul‐ turellen Narrativen‘ (narrative culturali) wieder. Sie bedingen strukturell die Art und Weise, wie Ereignisse und Prozesse wahrgenommen werden, helfen zu werten und zu ordnen, erzeugen Vorstellungen von Identität und reduzie‐ ren somit die Komplexität der unübersichtlichen Gegenwart. Indem sie also einen Sinnzusammenhang stiften, strukturieren sie das Wissen und regulie‐ ren die Interpretation von Geschichte, nicht zuletzt indem sie auf etablierte Darstellungsmuster zurückgreifen. Die kulturellen Narrative sind historisch relativ konstant, können aber im historischen Verlauf immer wieder verän‐ dert werden. Sie umfassen u. a. Gründungsmythen (‚Geburt der Demokratie‘ im klassischen Athen), Zukunftsmythen (‚klassenlose Gesellschaft‘) und Vor‐ stellungen von vermeintlichen Volks-Charakteren (stereotype Zuschreibun‐ gen). Beispiele für solche Narrative sind die ‚Befreiung‘ Spaniens von der Herrschaft der Muslime in der christlichen Reconquista oder die ‚Entdeckung‘ der Neuen Welt durch Christoph Kolumbus. Derartigen offensichtlich von politischen Machtinteressen gestützten Narrativen können kritische ‚Gegen‐ narrative‘ entgegengesetzt werden (bspw. Lilith als Gegenfigur zur biblischen Eva, Imperialismuskritik in Opposition zur globalisierten Marktwirtschaft). Der US-amerikanische Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White (1928-2018) stellte in seinen Untersuchungen heraus, dass Geschichte nicht als eine Reihe neutraler Fakten vermittelt wird, sondern stets einer sprachlichen Darstellung bedarf. Solche historiographischen Erzählformen bedienen sich wiederum vorgegebener Strukturmuster, welche eine objektive Sicht auf die historischen Ereignisse verunmöglichen (Metahistory, 1973). Letztlich verwischt dadurch die Grenze zwischen Faktischem und Fiktion und der Konstruktcharakter der Geschichte wird betont. White bezeichnet diese kritische Selbstbetrachtung der Geschichtsschreibung als ‚metahistory‘ (me‐ tastoria) und die entsprechenden Erzählmuster als ‚patterns of meaning‘. 246 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="247"?> Aufgabe 12.2 Text 12.1 Hayden White: Metahistory Diese überformen die historischen Fakten fiktional, so dass zwischen ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘ nicht mehr unterschieden werden kann, was unter anderem auf der unhintergehbar subjektiven Perspektive der Erzählenden beruht und sich bspw. bereits in der selektiven Auswahl von Informationen, Details und herangezogenen Kontexten niederschlägt. Historiographische Erzählungen von Ereignissen und von deren Verkettung sind darüber hinaus in der Regel so arrangiert, dass sie einen kausal-sinnvollen Entwicklungsverlauf suggerieren, was White als ‚plot‘ (trama) bezeichnet. Grundlegende Plotstrukturen sind: ▶ Romanze (romanzo): die Probleme können überwunden werden, alles entwickelt sich zum Besseren, das ‚Gute‘ siegt über das ‚Böse‘; ▶ Satire (satira): der Versuch der Weltverbesserung scheitert, daraus er‐ wächst indes die Erkenntnis der Beschränktheit des Menschen; ▶ Komödie (commedia): der Mensch scheitert in Teilen, am Ende jedoch steht eine Versöhnung mit der Gesellschaft; ▶ Tragödie (tragedia): die Menschheit muss scheitern, die Gesellschaft entwickelt sich nicht weiter, die Gegebenheiten sind unveränderlich. 1 - - - 5 - - - - 10 - - Ich betrachte […] das Werk des Historikers als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung. Geschichtsschreibungen (und ebenso Geschichts‐ philosophien) kombinieren eine bestimmte Menge von ‚Daten‘, theoretische Begriffe zu deren ‚Erklärung‘ sowie eine narrative Struktur, um ein Abbild eines Ensembles von Ereignissen herzustellen, die sich in der Vergangenheit zugetra‐ gen haben sollen. Zudem haben sie, so behaupte ich, einen tiefenstrukturellen - allgemein poetischen und insbesondere sprachlichen - Gehalt; er fungiert als das vorkritisch akzeptierte Paradigma, wie eine spezifisch ‚historische‘ Erklärung auszusehen hat. Dieses Paradigma spielt in allen historiographischen Schriften, deren Horizont umfassender als der des Archivberichts oder der Monographie ist, die Rolle des ‚metahistorischen‘ Elements. (White: 2 2015, 9) ? Beurteilen Sie auf Grundlage Ihrer bisher erworbenen Kenntnisse, inwiefern die LeserInnen in der Regel sehr wohl einen prinzipiellen Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Literatur ansetzen. Inwieweit greift Whites Argumentation zudem auf ein Grundprinzip geisteswissenschaftlichen Vorgehens zurück? 12.1 Kulturwissenschaften 247 <?page no="248"?> Große Erzählungen Abb. 12.3 Jean-François Lyotard Postmoderne Von einer philosophischen Warte aus betrachtet Jean-François Lyotard (1924- 1998) die Grundannahmen über die wichtigen Entwicklungsprozesse der Mo‐ derne westlich-abendländischer Gesellschaften und stellt diese ‚großen Erzäh‐ lungen‘ (grandi narrazioni) in Frage. Weder der Fortschritts- und Gleichheits‐ optimismus der Aufklärung (wissenschaftlicher Fortschritt als fortlaufende Optimierung, Emanzipation des Subjekts durch die Vernunft) noch die Hegel‐ sche Geschichtsphilosophie (spekulative Philosophie des Idealismus und Bil‐ dungshumanismus) noch die marxistische Ideologie in ihrem Glauben an eine gerechtere Gesellschaft und einem auf sie zulaufenden geschichtlichen Ent‐ wicklungsprozess hätten sich bewahrheitet. In allen Fällen handle es sich viel‐ mehr um ‚große Erzählungen‘ oder ‚Meta-Erzählungen‘, welche eine univer‐ selle und totalisierende Deutung der Menschheitsgeschichte und ihres Sinns entwerfen, um für Wissenschaft und Politik eine legitimierende Funktion zu erfüllen. In der Folge können auch andere Ideologien, die Religionen, die Psycho‐ analyse usw. als ‚große Erzählungen‘ betrachtet werden. Der technologische, gesellschaftliche und kulturelle Wandel des späten 20. Jahrhunderts, der Stand der Wissenschaften und der Erkenntnis ließen nach Lyotard keinen naiven Glauben an sie zu, da das postmoderne ‚Wissen‘ an zentraler Stelle die Erkenntnis von der Begrenztheit der intellektuellen Möglichkeiten des Menschen und die Relativität jedes Wahrheitsanspruchs beinhalte. An die Stelle der großen Erzählungen sollten nunmehr ‚Mikro-Erzählungen‘ rücken, als Vielfalt von rivalisierenden Diskursen, die nach je eigenen Regeln funk‐ tionieren. Der Begriff der ‚Postmoderne‘ (postmodernismo) wurde im Übrigen von Lyotard selbst erstmalig aus dem Bereich der Architektur (hier v. a. auf den Bauhaus-Stil angewandt) auf den Bereich der Philosophie und Ge‐ schichtstheorie übertragen. Die Postmoderne bezeichnet in diesem Sinne die kulturgeschichtliche Periode nach der ‚Moderne‘ und wird oftmals mit den gesellschaftlichen, künstlerischen und medialen Umbrüchen ange‐ setzt, die sich ab den 1960er Jahren in Europa und den USA ereigneten. Kennzeichen für die sich daraus ergebenden philosophischen, soziopoli‐ tischen und ästhetischen Ansätze, Konzepte und Theorien sind: eine ra‐ dikalisierte Krise der Sprache und der Erkenntnis, die Infragestellung von Wissensständen und von Machtpositionen, die Dekonstruktion vermeint‐ lich unumstößlicher ‚Wahrheiten‘, Gewissheiten oder Identitätskonzepte, die Forderung nach Aufhebung der verschiedensten Formen von Diskri‐ minierung, das Verwischen der Grenze zwischen Hochkultur und Popu‐ lärkultur, die Vermengung von Kunst und Kommerz, Phänomene der Globalisierung, der Vernetzung und der Intertextualität, die Virtualisie‐ rung der Wirklichkeit durch die neuen Medien, eine gesteigerte kritische 248 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="249"?> Kulturwissenschaftlich ori‐ entierte Literaturwissen‐ schaft ! Gender als sozial konstru‐ ierte Geschlechterrolle Geschlechterdifferenz Selbstbetrachtung auf allen Ebenen und der spielerische Umgang mit den dekontextualisierten Bruchstücken der einstigen Sinnsysteme. Eine kulturwissenschaftliche Sicht auf Literatur begreift diese als textuelle bzw. mediale Ausdrucksform von Kultur. Unser Verständnis von Kultur und ihrer Geschichte selbst sind von Grund auf sprachlich-literarisch geprägt. Literatur gibt Auskunft über die unausgesprochenen Grundannahmen und Wirklichkeitsvorstellungen einer Epoche, über das Wissen und die Werte, die in ihr zirkulieren. Ein derartiger Ansatz erfordert die Neuausrichtung des Literaturbegriffs auch auf Formen populärer oder trivialer Literatur - also einen Abschied von der sog. ‚Höhenkamm-Literatur‘ (letteratura alta); zugleich wird das Feld der kanonisierten literarischen Ausdrucksformen um weitere Textsorten und andere mediale Formen erweitert (bspw. auch um expositorische Texte, insbesondere aber um Spielarten des ‚life writing‘, s. u. Einheit 12.4.2). Im Sinne der Kulturanalyse ist zu fragen, in welchem Verhältnis die Literatur zu den Diskursen einer Gesellschaft steht, welche Funktion sie ihrerseits erfüllt und wie sie die soziokulturellen Vorstellungen und Grundan‐ nahmen ihrer Entstehungszeit verarbeitet. Eines der wesentlichen Beispiele in diesem Kontext findet sich in der Debatte um die Geschlechterrollen. 12.2 Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies Ausgehend von der Feminismusbewegung einer Simone de Beauvoir über die französischen Differenzfeministinnen hat sich ab den 1980er Jahren die so‐ genannte feministische Literaturwissenschaft herausgebildet, die sich zu‐ nächst der Untersuchung von Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern in der Literatur, anschließend zunehmend der weiblichen Autorschaft sowie einer weiblichen Schreibtradition zuwandte. Ab dem Ende der 1980er Jahre wurde die feministische Literaturwissenschaft von den Gender Studies (studi di ge‐ nere) abgelöst. Im Gegensatz zum Konzept des biologischen Geschlechts (sex) versteht der Gender-Begriff Geschlechterrollen bzw. -identitäten als soziokulturelle Konstrukte. Gender Studies sind keine literaturwissenschaftliche Methode an sich, son‐ dern vielmehr ein interdisziplinärer Ansatz, der es erlaubt, kulturelle Phäno‐ mene, die von Geschlechterdifferenz (das hierarchische Verhältnis zwischen Männern und Frauen) geprägt sind, zu untersuchen. Die Geschlechterdiffe‐ renz beruht unter anderem auf dem Phallogozentrismus (fallogocentrismo), der unser Weltbild prägt (dem Mann, verbildlicht durch den Phallus, wird dabei allein das Wort [logos] zugeschrieben). Aus diesem Weltbild ergibt sich auch die feste Zuschreibung von Dichotomien in Bezug auf Geschlechter‐ 12.2 Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies 249 <?page no="250"?> Literarische Produktion von Frauen Marginalisierung Text 12.2 Neera: La donna scrittrice (1903) identitäten, wie ‚Stärke‘, ‚Vernunft‘, ‚Kultur‘ für den Mann und ‚Schwäche‘, ‚Gefühl‘ und ‚Natur‘ für die Frau. Der sogenannte ‚Differenzfeminismus‘ (femminismo della differenza) in den 1970er Jahren versuchte, diese Zuschrei‐ bungen aufzulösen oder unter dem Aspekt der Differenz aufzuwerten, indem er in der Literatur das Konzept des ‚weiblichen Schreibens‘ (scrittura femmi‐ nile) vertrat. Im Gegensatz dazu löst der Gender-Begriff diese Geschlechter‐ differenzen auf, indem er jegliche Geschlechteridentität als kulturelles Kon‐ strukt entlarvt, das im poststrukturalistischen Sinn genauso auch wieder dekonstruiert (Einheit 11.2.2) werden kann. Darüber hinaus berücksichtigen die Gender Studies auch Geschlechteridentitäten jenseits des binären Modells Mann-Frau, wie Homosexualität oder Transsexualität. In der romanistischen Literaturwissenschaft konzentrieren sich die Gender Studies heute vor allem auf die literarische Produktion von Frauen (Frauen‐ literatur) und bedienen sich dabei, zuweilen in Kombination, der verschiede‐ nen herkömmlichen Methoden. Nach wie vor interessiert dabei die Frage nach dem Status weiblicher Autorschaft, der bis in das 20. Jahrhundert von Mar‐ ginalisierung und Ausgrenzung gekennzeichnet war, was sich häufig auch explizit oder implizit in den Texten von Frauen manifestiert. Schauen wir uns hierzu einen Text einer prominenten italienischen Schrift‐ stellerin der Jahrhundertwende (1900) an: Anna Radius Zuccari (1846-1918), die unter dem Pseudonym Neera vor allem Romane und Novellen schrieb. 1 - - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 - - - - 20 La Donna Scrittrice - Or non è molto una bella fanciulla mi proponeva questo singolare dilemma: devo fare la scrittrice o devo studiare medicina? Fare la scrittrice! ! - ripeto ancora fra me - O cosa vuol dire ciò? Ma siccome anche una mamma venne apposta a trovarmi per dirmi che la sua figliola era passata senza esami e che aveva intenzione di fare la scrittrice; e lessi poi molti articoli dove seriamente si discute di tale argomento come di una carriera aperta alle donne, mi pare di dover dire qualche cosa in proposito; che se poco utile da’ miei consigli ne trarranno le donne, resterà almeno un documento di lunga esperienza e di osservazione schietta 1 sopra un tema dove molti ragionano con fantasia superiore alla conoscenza. […] Al punto in cui la lotta si impegna seriamente, la differenza del sesso è cagione di astio 2 maggiore. È allora che la scrittrice si sente straniera in mezzo a quegli uomini inaspriti 3 che hanno gettato la maschera della galanteria, ripresi dalla atavica brutalità dell’animale in guerra. È il momento supremo. Se le forze, signora, vi hanno sorretta fin qui; se l’umiliazione, il dolore, lo scoramento, lo scetticismo, l’odio, non vi abbatterono sul fatale gradino dal quale nessuno si alza più, resisterete ai colpi dei vostri fratelli? Pensate di quante umiliazioni, di quanto dolore, di quanto scoramento 4 , di quanto scetticismo, di quanto odio furono essi stessi abbeverati 5 prima di snaturare nei lividi conati 6 dell’invidia l’ingegno che 250 12 Kultur, Macht und Kritik Abb. 12.4 Neera (1846-1918) <?page no="251"?> Aufgabe 12.3 Bezüge zu anderen Ansät‐ zen Kanonrevision 25 - - - - 30 mirava ad alte cose - e quando una fanciulla verrà a chiedervi se deve fare la scrittrice, penso le chiederete almeno se nella sua vocazione ha contemplato la possibilità del martirio. Tutto ciò che dissi fin qui si rivolge alle donne che pensano sul serio a divenire scrittrici. Per le altre, per le dilettanti, la via è larga; e se esse si accontentano dei successi da salotto e di un paio di talleri 7 per i loro guanti, non c’è nulla a dire. Solamente è accendere ben molte girandole 8 per ottenere un lumino da cercar lumache 9 . Quando la gloria e il guadagno debbono restare così lontani, non vai meglio rinunciare ad una impresa dove si sciupano invano tante energie che troverebbero migliore impiego altrove? Questo io dico alle donne seriamente, onestamente, persuasa di fare a qualcuna un momentaneo dispiacere, e me ne duole, ma più persuasa ancora di evitare loro rancori e disinganni. (Neera: 1977, 94, 105) - 1 schietta ehrlich, aufrichtig - 2 astio Missgunst - 3 inasprito, -a verbittert - 4 scoramento Entmutigung - 5 abbeverato, -a hier: bis zum Überdruss gespeist - 6 lividi conati fahle, hier: schwächliche Versuche - 7 talleri österreichische Währung im 19. Jh., Silbermünzen - 8 girandola Feuerrad - 9 lumache Schnecken ? Welches Selbstbild liefert uns Neera in Bezug auf den weiblichen Autorstatus ihrer Zeit? Die Problematik der weiblichen Autorschaft und der häufig festzustellenden Autozensur der Frauen führt uns in den Bereich der Literatursoziologie (Ein‐ heit 10.4). Die Untersuchung der Texte der Frauenliteratur dagegen bedient sich der Erzählforschung (Einheit 8), der Intertextualität (11.2.1) sowie der Dekonstruktion (11.2.2). Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie Frauen mit ihren vorwiegend von Männern geprägten literarischen Vorbildern umgehen. Es lässt sich feststellen, dass diese von den Autorinnen häufig im Hinblick auf die spezifischen Lebensumstände der Frauen hin subvertiert, also untergra‐ ben, oder die binären Geschlechteroppositionen gar dekonstruiert werden. Aus der Frage nach den literarischen Vorbildern für Autorinnen ergibt sich die Frage einer ‚weiblichen literarischen Tradition‘, wie sie sich z. B. am ‚weiblichen Petrarkismus‘ festmachen lässt. Spezifika einer weiblichen literarischen Tradition lassen sich darüber hinaus an Plotstrukturen, Raum- und Zeitdarstellung sowie an der Erzählperpektive festmachen. In diesem Zusammenhang steht auch die Frage nach der Rezeption (10.5) von Frauenliteratur, die in der Vergangenheit häufig als ‚minderwertige‘ Imi‐ tation eben der männlichen Vorbilder angesehen wurde und die mittels einer ‚Relektüre‘ vor dem Hintergrund ihrer Alterität (Differenz) neu gelesen und damit häufig revalorisiert, neu bewertet, wird. Eines der wichtigsten Anliegen der Gender-Forschung in der Literaturwissenschaft ist somit die Revision des 12.2 Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies 251 <?page no="252"?>  Kulturelle Hegemonie Interkulturalität Kanons, d.-h. das Überdenken der bisherigen Literaturgeschichtsschreibung, indem die literarische Produktion von Frauen sukzessive neu entdeckt, neu ediert, neu gelesen wird. Dazu gehört natürlich auch die Reflexion über die Mechanismen der Kanonbildung, wie sie u. a. durch die Anwendung der Theorie des literarischen Feldes (Einheit 10.4.3) auf den Bereich der Frauen‐ literatur erfolgen kann. In Italien wurde 1975 u. a. von der Philosophin Luisa Muraro (*1940) die Libreria delle donne sowie 1984 die philosophische Vereinigung Diotima be‐ gründet, die eine weibliche Genealogie (Tradition) in der Kultur vertreten. Zusatzmaterial hierzu finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 12.3 Postkoloniale Theorie Die Definition und Verabsolutierung eigener kultureller Werte und Standards, nicht zuletzt auch die voreingenommene Herabstufung fremder Kulturen bil‐ det wiederum eine wesentliche Basis kolonialer Herrschaft. Grundlegend hatte bereits Antonio Gramsci (1891-1937) in seinen Quaderni del carcere (postum 1948-51) aus marxistischer Perspektive neben der politisch-militärischen Machtausübung das Streben nach einer ‚kulturellen Hegemonie‘ (egemonia culturale) diagnostiziert. Die Abgrenzung von Selbst- und Fremdbildern wurde später in den 1960er und 1970er Jahren im Rahmen der Stereotypenforschung und der komparatistischen Imagologie (eine literaturwissenschaftliche Unter‐ suchung von nationalen Fremd- und Selbstbildern) zu einem spezialisierten Forschungsfeld ausgebaut. Im Zeichen einer interkulturellen Hermeneutik und zumal in den Postcolonial Studies (studi postcoloniali) haben ihre Untersuchun‐ gen von Selbst- und Fremdzuschreibungen eine neue Relevanz erhalten. Im Rahmen der Alteritätsforschung wird dabei Alterität (alterità) als ‚das Andere‘ (‚l’altro‘) verstanden, das sich vom Konstrukt der eigenen Identität abhebt. Die kulturelle Bedingtheit der Selbst- und Fremdwahrnehmung wird kritisch un‐ tersucht und entgegen vermeintlich wesenhafter (essenzialistischer) Eigenar‐ ten werden ihre Relativität, Wandelbarkeit und wechselseitigen Beeinflussun‐ gen betont. Auch gilt es, nach Möglichkeit eine eurozentristische Perspektive zu vermeiden, wie sie bspw. dem französisch-bulgarischen Strukturalisten Tzvetan Todorov (1939-2017) in seiner Studie Die Eroberung Amerikas - Das Problem des Anderen (1984) unterläuft, in der er die ‚Neue Welt‘ aus der Sicht der EuropäerInnen als das zunächst völlig ‚Andere‘ nachzeichnet, das von der europäischen Kultur einerseits dominiert, andererseits assimiliert wurde, was auf seine Europäisierung durch die Zivilisation der Kolonisatoren hinausläuft. Ebenso werden die vom US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Edward W. Said (1935-2003) diagnostizierten Dichotomien (als konzeptuelle Gegen‐ sätze) zwischen ‚Europa‘ und dem ‚Orient‘ inzwischen als zu simplifizierend wahrgenommen. Said hatte in Orientalism (1978) für das ausgehende 19.-Jahr‐ 252 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="253"?> Hybridität ‚Third space‘ Text 12.3 Homi K. Bhabha: Die Veror‐ tung der Kultur hundert anhand von literarischen und nicht-literarischen Texten den Kon‐ strukt-Charakter eines stereotypen Orient-Bildes aufgedeckt, das vor dem kul‐ turellen Selbstverständnis der europäischen Autoren als Projektionsfläche von fanatischem Irrationalismus, Barbarei, vormodernem Traditionalismus und geographischer Peripherie erscheint. Dem gegenüber betonen jüngere Ansätze die wechselseitige Beeinflussung und Durchdringung von Kulturen. Der indisch-US-amerikanische Literaturwis‐ senschaftler Homi K. Bhabha (*1949) etwa hat mit seinem Konzept der ‚Hybri‐ dität‘ einen über die Postcolonial Studies hinaus fruchtbaren Schlüsselbegriff der modernen Kulturwissenschaften eingeführt. In The Location of Culture (1994) versteht er die Kolonisation und ihre Nachwirkungen als ein Konglomerat rezi‐ proker Beeinflussungen, welche die (Ex-)KolonisatorInnen ebenso wie die (Ex-)Kolonisierten in ihren Identitätsentwürfen prägen. Durch ‚Mimikry‘ (mi‐ micry; imitazione) versuchten zunächst die Dominierten, sich die Kultur der hierarchisch überlegenen EuropäerInnen anzueignen und diese zu imitieren. Da diese Angleichung jedoch stets nur in Teilen erfolgen konnte und neue kultu‐ relle Mischformen erzeugte, kann sie im Idealfall den Kolonisierenden als Zerr‐ bild ihrer selbst einen Spiegel vor Augen halten und zum Überdenken ihrer ei‐ genen Position und Identitätsentwürfe anregen. Bhabha sieht denn auch in den Formen kultureller Hybridität (hybridity; ibridità) ein subversives Potenzial, das essenzialistischen Zuschreibungen (wie sie noch von Said hervorgehoben wur‐ den) entgegenwirkt. So könne sich zwischen den Kulturen ein ‚Dritter Raum‘ (third space; terzio spazio) etablieren, welcher der interkulturellen ‚double vi‐ sion‘ (visione doppia), also dem doppelten Blick und Wirklichkeitsverständnis der Grenzgänger zwischen den Kulturen entspricht und in einer Überschneidungs- Zone des ‚in-between‘ (interstizio) neue Perspektiven eröffnet. 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 Die Abwendung von den Einzelgrößen „Klasse“ und „Geschlecht“ als den vorran‐ gigen konzeptuellen und organisatorischen Kategorien führte zu einer bewussten Wahrnehmung der Positionen des Subjekts - Rasse, Geschlecht, Generation, institutionelle Verortung, geopolitischer Raum, sexuelle Orientierung -, die jeder Einforderung von Identität in der modernen Welt immanent 1 sind. Theoretisch innovativ und politisch entscheidend ist die Notwendigkeit, über Geschichten von Subjektivitäten mit einem Ursprung oder Anfang hinaus zu denken und sich auf jene Momente oder Prozesse zu konzentrieren, die bei der Artikulation von kulturellen Differenzen produziert werden. Diese „Zwischen“-Räume stecken das Terrain ab, von dem aus Strategien - individueller oder gemeinschaftlicher - Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen. Beim Entstehen solcher Zwischenräume - durch das Überlappen und De-pla‐ zieren (displacement) von Differenzbereichen - werden intersubjektive und kollektive Erfahrungen von nationalem Sein (nationness), gemeinschaftlichem 12.3 Postkoloniale Theorie 253 <?page no="254"?> Aufgabe 12.4 Abb. 12.5 Wolfgang Welsch 20 - - - - 25 - - - - 30 - - - - 35 Interesse und kulturellem Wert verhandelt. […] Die verbindenden Grenzbezie‐ hungen der kulturellen Differenz mögen gleich oft von Konsens oder von Konflikt geprägt sein; sie mögen unsere Definition von Tradition und Moderne durcheinanderbringen; die gewöhnliche Grenzlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, dem Hohen und dem Niedrigen neu ziehen; und normative Erwartungen in bezug auf Entwicklung und Fortschritt in Frage stellen. […] Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifkationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität 2 , in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt […] Die umfassendere Bedeu‐ tung der postmodernen Lage liegt in der Erkenntnis begründet, daß die epistemo‐ logischen 3 „Grenzen“ dieser ethnozentrischen 4 Ideen auch die artikulatorischen Grenzen einer Reihe anderer dissonanter 5 , ja sogar dissidenter 6 Geschichten und Stimmen sind - Frauen, die Kolonisierten, Minderheitengruppen, diejenigen, deren Sexualpraktiken polizeilich registriert sind. Denn die Demographie des neuen Internationalismus besteht aus der Geschichte postkolonialer Migration, den Erzählungen der kulturellen und politischen Diaspora, den großen sozialen Verdrängungen von Bauern- und Ureinwohnergemeinden, der Exilpoetik, der düsteren Prosa von Flüchtlingen aus politischen und wirtschaftlichen Gründen. In diesem Sinne wird die Grenze zu dem Ort, von woher etwas sein Wesen beginnt; dies geschieht in einer Bewegung, die dem unsteten, ambivalenten Charakter der Verbindung mit dem jenseits Liegenden ähnelt […] (Bhabha: 2000, 2-7) - 1 immanent in etwas enthalten - 2 Hybridität Mischform - 3 epistemologisch erkenntnistheoretisch - 4 ethnozentrisch auf die eigene Gruppe bezogen - 5 dissonant hier: nicht konform - 6 dissident oppositionell ? Inwiefern können laut Bhabha die bestehenden Grenzen zwischen kulturellen Identitäten Veränderungen erfahren? Welche Rolle kommt in seiner Argumentation der Literatur zur? Auf eine ähnliche Aufwertung interkultureller Grenzverwischungen zielt der Ansatz des deutschen Kulturphilosophen Wolfgang Welsch (*1946) ab, der drei grundlegende neuzeitliche sozio-kulturelle Entwicklungsstadien von‐ einander unterscheidet: In der multikulturellen Gesellschaft koexistieren An‐ gehörige unterschiedlicher kultureller Lebenspraktiken ohne deren gegen‐ seitige Durchdringung (multiculturalismo). In einer interkulturell geprägten Gesellschaft wird der Dialog zwischen differierenden Kulturen, deren Le‐ bensweisen und Wertesystemen gesucht, wobei das Eigene sich vom ‚Ande‐ 254 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="255"?> Transkulturalität Subaltern Studies Abb. 12.6 Gayatri Spivak ! Intersektionalität (inter‐ sezionalità) ist das Zusam‐ menwirken unterschiedli‐ cher Mechanismen der Marginalisierung und Dis‐ kriminierung, so hinsicht‐ lich Ethnizität, Gender, Bil‐ dung, Religion, sozialer Klasse, Alter etc. ‚Writing back‘ ren‘ weiterhin abhebt (interculturalismo). Erst in einer transkulturell ausge‐ richteten Gesellschaft werden in Hybridisierungsprozessen auf der individuellen wie auf der Gruppen-Ebene Elemente aus der Identität des An‐ deren übernommen und zu ‚patchwork-Identitäten‘ kombiniert (transcultu‐ ralismo). Die postkoloniale Kritik hat nicht nur Auswirkungen auf die Kanon-Dis‐ kussion (vgl. Einheit 2.6), sondern auf die Lesart von literarischen Texten vor dem Hintergrund der Machtverhältnisse in Kultur und Gesellschaft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass den von einer Teilhabe an den entsprechenden Strukturen Ausgeschlossenen oftmals die Möglichkeit fehlt, die eigene Posi‐ tion zur Sprache und in ein öffentliches Bewusstsein einzubringen. Die in‐ disch-US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak (*1942) stellt in diesem Sinne die entscheidende Frage Can the Subal‐ tern Speak? (1988) und begründete in einer Verbindung marxistischer, femi‐ nistischer und dekonstruktivistischer Ansätze die Subaltern Studies, welche sich mit den Marginalisierten und Sprach-Ohnmächtigen auseinandersetzen, etwa der Rolle der durch Kolonialismus und Patriarchat doppelt unterdrück‐ ten südasiatischen Frauen. Als Teil der kulturellen Hegemonie ist dabei der literarische Kanon an‐ zusehen, dessen explizite oder implizite Wertehierarchien durch ein strate‐ gisches ‚Gegen-den-Strich-Lesen‘ (leggere controcorrente) kritisch revidiert werden sollen. Dem korrespondiert im Grundsatz das von Bill Ashcroft, Ga‐ reth Griffiths und Helen Tiffin in The Empire Writes Back. Theory and Prac‐ tice in Post-Colonial Literatures (1989) vorgeschlagene Verfahren des ‚writing back‘ (ital.: writing back, m.), ein im Zuge der postkolonialen Emanzipation erforderliches Anschreiben postkolonialer Texte gegen die herrschenden eurozentrischen Vorstellungen von Sprache, Ästhetik, Literaturbetrieb und -wissenschaft. Im speziellen Fall von Italien ist festzuhalten, dass nach dem II. Welt‐ krieg die eigene Kolonialgeschichte lange Zeit verleugnet oder verharm‐ lost wurde (so im Stereotyp der KolonisatorInnen als ‚italiani brava gente‘). Nur wenigen ItalienerInnen war in den letzten Jahrzehnten bewusst, dass auch ihr Land als Kolonialmacht in Äthiopien, Somalia, Eritrea, Libyen und Albanien eine rassistisch-diskriminierende Gewaltherrschaft ausübte. Hinzu kommt, dass Italien selbst sich seit dem 19. Jahrhundert vor allem als Land einer wirtschaftlich (zum Teil auch politisch) bedingten Emigration betrachtete. Erst Ende des 20. Jahrhunderts entwickelte es sich unter dem Einfluss der Krisenherde in Europa, in Nahost, im Maghreb und im subsa‐ harischen Afrika innerhalb kurzer Zeit von einem traditionellem Auswan‐ derungszu einem Einwanderungsland. Die Migration avancierte in der Folge in den italienischen Medien und der Politik zu einem zentralen Thema, das auch von den Künsten, zumal der Literatur, im Laufe der 1990er 12.3 Postkoloniale Theorie 255 <?page no="256"?> Abb. 12.7 Igiaba Scego Aufgabe 12.5 Text 12.4 Igiaba Scego: „Salsicce“ Jahre in zunehmendem Maße aufgegriffen wurde. Fragen der kulturellen Identität, der interkulturellen Begegnung und transkulturellen Prozesse, von Integration und Ausgrenzung, von Raumwahrnehmung und nation building (costruzione nazionale), schließlich die postkoloniale Aufarbeitung der Vergangenheit haben seitdem einen zentralen Platz in der Gegenwarts‐ literatur eingenommen. Zu den jungen AutorInnen, die sich vor dem Migrationshintergrund ihrer eigenen Familie mit der Frage der kulturellen und nationalen Identität auseinandersetzen, gehört Igiaba Scego. Sie ist 1974 in Rom zur Welt gekommen und aufgewachsen, nachdem ihre Eltern die Heimat Somalia infolge eines Staatsstreichs 1969 verlassen hatten. Ihre Erzählung „Salsicce“ (dt. „Schweinswürstchen“) spielt provokant-ironisch mit den Vorstellungen von italianità: 1 - - - 5 - - - - 10 - - - Oggi, mercoledì 14 agosto, ore 9 e 30, mi è accaduto un fatto strambo 1 . Per ragioni mie e ancora poco chiare ho comprato una grande quantità di salsicce. Il fatto strambo non consiste naturalmente nel comprare salsicce. […] La stranezza infatti non è nell’oggetto comprato, ma nel soggetto compratore di salsicce: io, me medesima, in persona, io, una musulmana sunnita. […] Ora sto chiusa in cucina con il mio pacco pieno di salsicce impure e non so che fare! Perché cazzo le ho comprate? E mo’ 2 che ci faccio? […] Ma si cucinano in padella le salsicce? Si friggono? O forse si lessano 3 ? E se usassi il forno? Ma poi me le magno 4 davvero, tutte intere? O sul più bello mi manca il coraggio e le butto 5 ? Guardo l’impudico pacco e mi chiedo: ma ne vale veramente la pena? Se mi ingoio queste salsicce una per una, la gente lo capita che sono italiana come loro? Identica a loro? (Scego: 4 2009, 23-26) - 1 strambo sonderbar - 2 mo’ dialektal: me lo - 3 lessare garen - 4 magno dialektal: mangio - 5 buttare (via) wegwerfen ? Welche inhaltlichen und formalen Elemente nutzt Scego im obigen Textauszug, um die Vorstellung von nationaler Identität zu hinterfragen? 256 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="257"?> Gedächtnisarbeit Formen von Gedächtnis 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 12.4.1 Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung Um die kulturelle Rahmung von Lebensläufen erfassen zu können, wurden verschiedene Ansätze der Gedächtnisforschung entwickelt, die individuelle und kollektive Erinnerungen untersuchen. Die Cultural Memory Studies (Studi di memoria culturale) gehen von der Grundannahme aus, dass der Umgang mit der Vergangenheit die kulturelle Identität einer Nation, bzw. einer Gruppe prägt, indem er eine gemeinsame Sicht auf die eigene Vergangenheit entwirft. Die Erinnerungsforschung ist in diesem Kontext nicht identisch mit Geschichtswissenschaft, da Erinnerung genau genommen kein Abbild vergangener Ereignisse liefert, sondern deren Rekonstruktion leistet. Erinnerung ist somit nicht frei von der subjektiven und selektiven Perspektive der Erinnernden, von ihren Werten und Norm‐ vorstellungen. Auch erfolgt Erinnerung jeweils gerichtet aus dem Kontext der Gegenwart als beeinflussendem Faktor, denn sie hat für die Gegenwart eine bestimmte Relevanz, die es zu klären gilt. Schließlich widersprechen sich Erinnerungen unterschiedlicher Gruppen, weshalb es Erinnerungskulturen nur im Plural geben kann. Unter ‚Gedächtnis‘ (memoria) kann man dabei den Speicher von Erinne‐ rungen, auch die Fähigkeit zu erinnern und den Akt der Erinnerung bezeich‐ nen, während ‚Erinnerung‘ (ricordo) als bewusst erfahrenes Resultat des Sich- Erinnerns angesehen werden kann - wobei die Begriffe oftmals nicht trennscharf verwendet werden. Grundlegend für die Betrachtungen ist die Einsicht in den Umstand, dass die Erinnerung stets durch die Persönlichkeit der Erinnernden subjektiv geprägt ist, es demnach auch keine neutrale und objektive Erinnerung (und eine darauf aufbauende Historiographie) geben kann. Stattdessen existieren konkurrierende Interpretationen von Ereignis‐ sen, folglich von ‚Geschichte‘. Das liegt bereits im Charakter der Gedächtnis‐ arbeit (lavoro sulla memoria) begründet: ▶ sie selegiert wichtig erscheinende Informationen, ▶ füllt eigenständig unverstandene Detail-Lücken, ▶ glättet die Erzählung zu einem in sich logisch erscheinenden Zusammen‐ hang, ▶ ergänzt subjektiv bedeutsame Themen, ▶ modifiziert die Reihenfolge von Elementen, ▶ benutzt eigene Wörter und Umschreibungen auf der Ausdrucksseite und ▶ sie bedient sich bekannter narrativer Muster oder Deutungs-Schemata. Zudem werden in der Gedächtnisforschung verschiedenartige Formen und Funktionen von Gedächtnis voneinander unterschieden: 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 257 <?page no="258"?> Aufgabe 12.6 Medien Kollektives Gedächtnis ▶ das episodische Gedächtnis umfasst individuelles Wissen um die selbst erlebte Vergangenheit; ▶ das semantische Gedächtnis enthält gelerntes, meist medial vermitteltes Welt-Wissen; ▶ das bewusste, aktive Gedächtnis ermöglicht ein willentliches Abrufen von Gedächtnisinhalten; ▶ das unbewusste, passive Gedächtnis hingegen bildet ein unkontrolliertes, spontan-assoziatives Gedächtnis, das die eigenen Erfahrungen filtert; ▶ im verkörperten Gedächtnis sind erworbene vorbewusste Fähigkeiten (Schreibmaschine-Schreiben) oder Traumata gespeichert; ▶ das Speichergedächtnis dient der Aufbewahrung von Informationen; ▶ im Funktionsgedächtnis erfolgt eine Aneignung von Informationen ge‐ mäß den kontextbedingten Bedürfnissen der/ des Einzelnen. Nicht zu vernachlässigen ist im Übrigen die Rolle des Vergessens, da es einen wichtigen Bestandteil der psychischen Balance bildet. Erinnerung kann jedoch auch unterdrückt werden: unbewusst im Falle nicht gelöster Traumata; als strukturelles Schweigen bei institutionell tabuisierten Themen oder als strategisches Schweigen, als der gezielten interessensbedingten Zurückhaltung von Informationen (z.-B. zum Selbstschutz). ? Erstellen Sie am Beispiel Ihres eigenen Studiums einen Überblick zu den unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses, die darin involviert sind. Zur Analyse des individuellen oder kollektiven Gedächtnisses muss in der Regel auf dessen medialen Ausformungen zurückgegriffen werden, wobei Texte, Bilder, Kunstwerke, nicht zuletzt Literatur eine zentrale Rolle spielen. Deren Überlieferung wird durch Institutionen wie Museen, Archive, Biblio‐ theken abgesichert. Medien erlauben die Kommunikation über Gedächtnis‐ inhalte, beeinflussen letztere jedoch wiederum durch ihre eigene Form. Me‐ dien ermöglichen darüber hinaus transkulturelle Erinnerungen, die nicht an einen engen örtlich-zeitlichen Erfahrungskontext gebunden sind, sondern weltweit geteilt werden können (globale Ereignisse, Fangemeinden, interna‐ tional rezipierte Medieninhalte wie etwa Memes). Im Umgang mit den Erinnerungen von Einzelpersonen oder dem Ge‐ dächtnis einer Gruppe oder einer gesamten Gesellschaft wurden zahlreiche, durchaus divergierende Konzepte formuliert, von denen eine Auswahl im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen. Der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945) entwickelte das grundlegende Konzept des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ (me‐ moria collettiva). Gedächtnis wird vor allem als ein soziales, nicht lediglich 258 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="259"?> Postmemory Erinnerungsorte Kulturelles Gedächtnis Abb. 12.8 Aleida Assmann als ein invididuelles Phänomen betrachtet und umfasst im Sinne der obigen Ausführungen wesentliche Elemente der kollektiven Identität. Das kollektive Gedächtnis (bisweilen auch als ‚kulturelles Gedächtnis‘ bezeichnet) ist dabei bedingt durch die symbolischen Ordnungen (als Ausdruck der relevanten Werte) und kulturellen Traditionen einer Gesellschaft, die über Sprache und soziales Handeln vermittelt werden. Daher müssen stets die Rahmenbedin‐ gungen und Überlieferungsformen von Gedächtnis für dessen Analyse mit berücksichtigt werden, ebenso wie es durch die gegenwärtigen Bedürfnisse einer Gruppe oder Gesellschaft bedingt ist. Mit dem speziellen Fall der Überlieferung von Erinnerung an den Holocaust an die Nachfolgegenerationen der direkt betroffenen Traumatisierten, Über‐ lebenden, Opfer und Zeugen befasst sich die rumänisch-US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch (*1949) unter dem Begriff der ‚Postmemory‘ (postmemoria). Es handelt sich um eine private Weitergabe geschichtlicher Erinnerung, um die Übertragung von Gedächtnisinhalten an andere, lokal oder zeitlich entfernte Personen oder Gruppen. Da die trauma‐ tisierenden Ereignisse vor oder kurz nach der Geburt der Folgegeneration(en) stattgefunden haben, wurden sie von letzterer/ letzteren nicht (oder ggf. nicht bewusst) erlebt. Dennoch ist eine spätere Generation aber von der daraus resultierenden Familienatmosphäre, vom Erzählen der Eltern bzw. Großeltern oder dem von ihnen praktizierten Verschweigen geprägt. Angelehnt an die antiken ‚Topoi‘ im Sinne von Gemeinplätzen erfassen nach dem französischen Historiker Pierre Nora (*1931) ‚Erinnerungsorte‘ (luoghi della memoria) Orte, Objekte, Symbole und Ereignisse, welche die kulturelle Identität einer Nation bestimmen. Dazu zählen Denkmäler und Mu‐ seen, institutionalisierte Feiern bzw. Feiertage, weiterhin Fahnen, nationale Symbole, Nationalhymnen, schließlich wichtige künstlerische, sprachliche oder literarische Bezugspunkte einer Kultur. Von Seiten der deutschen Kulturwissenschaft haben Jan und Aleida Ass‐ mann (*1938 und 1947) aufbauend auf dem ‚kollektiven Gedächtnis‘ von Halbwachs die Theorie eines ‚kulturellen Gedächtnisses‘ (memoria culturale) entwickelt. Letzteres bildet die Grundlage des Selbstbildes einer Gruppe bzw. der kulturellen Identität einer Gesellschaft und hilft, nationale Einheit zu stif‐ ten. Die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses werden von Generation an Generation und vor allem darüber hinaus weitergereicht. Diese Gedächtnis‐ inhalte umfassen ein kollektives Wissen über die Vergangenheit und die Ge‐ genwart und erfahren in der Überlieferung eine spezielle Pflege: sie werden immer wieder thematisiert, inszeniert und in symbolischen Medien ausge‐ drückt (Texte, Kunst, Architektur, Riten). Die sozialen Institutionen bzw. Kul‐ turträger, die die Überlieferung in Form von Selektion (Auswahl der immer noch relevant erscheinenden Inhalte und Formen, ggf. aber auch Zensur), Speicherung (dabei auch restaurative Pflege der Überlieferungsträger), Kom‐ 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 259 <?page no="260"?> Text 12.5 Aleida Assmann: Erinne‐ rungsräume munikation (und damit Aufrechterhaltung der Präsenz der Gedächtnisin‐ halte) betreuen, sorgen für die Aneignung und Tradierung des kollektiven Wissens. Nicht zu vernachlässigen ist diesbezüglich der Umstand, dass das kulturelle Gedächtnis politische Machtverhältnisse legitimieren oder delegi‐ timieren kann, die daher wiederum ein starkes Interesse an seiner Formung haben. Vom kulturellen Gedächtnis im engeren Sinne, das mit Hilfe von Medien über längere Zeiträume entindividualisierte Zusammenhänge tradiert und das sich durch einen überzeitlichen Bedeutungshorizont auszeichnet, kann noch das ‚kommunikative Gedächtnis‘ unterschieden werden, welches aus der lebendigen Erinnerung, die lebende Menschen untereinander teilen und über die sie in jeweils eigener Perspektivierung kommunizieren, besteht. 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 - - - - 20 - - - - 25 Die Gestalt und Qualität kultureller Erinnerungsräume […] sind sowohl von politischen und sozialen Interessen als auch vom Wandel der technischen Medien bestimmt. […] Zum einen entstehen Erinnerungsräume durch jene partielle Ausleuchtung von Vergangenheit, wie sie ein Individuum oder eine Gruppe zur Konstruktion von Sinn, zur Fundierung ihrer Identität, zur Orientierung ihres Lebens, zur Motivierung ihres Handelns brauchen. Solche an einen individuellen oder kollektiven Träger gebundene Erinnerung ist grundsätzlich perspektivisch angelegt; von einer bestimmten Gegenwart aus wird ein Ausschnitt der Vergan‐ genheit auf eine Weise beleuchtet, dass er einen Zukunftshorizont freigibt. Was zur Erinnerung ausgewählt wird, ist stets von den Rändern des Vergessens profiliert. Fokussierendes und konzentrierendes Erinnern schließt Vergessen not‐ wendig mit ein, so wie man […] den Rest des Raumes verdunkelt, wenn man eine Kerze in die Ecke trägt. Dieser ‚bewohnte‘ Erinnerungsraum steht quer zu jenem historischen Zeitkonzept, das die ‚Trennung von Vergangenheit und Zukunft‘ (J. Ritter), bzw. die ‚Kluft zwischen Erfahrungen und Erwartungen‘ (R. Koselleck) betont. Neben historischer Zeiterfahrung, die davon ausgeht, dass seit der Neuzeit Vergangenheit und Zukunft, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont immer weniger miteinander zu tun haben, gibt es Erinnerungsräume, in denen sich Zu‐ kunftserwartungen keineswegs von Bildern der Vergangenheit ablösen, sondern von bestimmten Geschichtserinnerungen angestoßen und untermauert sind. Die Möglichkeit, mehr niederzuschreiben, als das menschliche Gedächtnis be‐ halten kann, hat zu einer Durchbrechung des Gleichgewichts im Haushalt des kulturellen Gedächtnisses geführt. Gedächtnisumfang und Erinnerungsbedarf sind auseinander getreten und lassen sich seither nicht mehr in eine einfache Gleichgewichtslage bringen, weshalb in schriftverwendenden Gesellschaften nicht mehr die Bewahrung des Gedächtnisses, sondern die Auswahl und Pflege des Erinnernswerten im Mittelpunkt steht. (Assmann: 1999, 408 f.) 260 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="261"?> Aufgabe 12.7 Life writing (Auto-)Biographien Testimonial-Literatur ? Inwiefern ist die von Assmann im Textauszug betrachtete Gedächtnis‐ arbeit eine konstruierende Tätigkeit? 12.4.2 Life writing und Testimonial-Literatur Die sich in der postmodernen Philosophie und Ästhetik wie auch in den Ge‐ schichtswissenschaften abzeichnende Hinwendung zu den ‚Mikro-Geschich‐ ten‘ findet im steigenden Interesse an dokumentarischen oder aber literari‐ schen individuellen Lebensbeschreibungen ein Korrelat, die unter dem Sammelbegriff Life writing (scrittura di vita) erfasst werden können. In den Blick rücken dabei auch nicht-kanonische Texte, die alltäglichen Lebenser‐ fahrungen, Vorstellungen und emotionalen Erlebnissen der Einzelnen. Dazu zählen traditionelle Genres wie die Autobiographie bzw. Biographie oder die Memoiren, daneben Brief, Tagebuch, Reisenotizen, die Testimonial-Literatur (letteratura testimoniale), schließlich Kolumnen, Blogs oder Biopictures. Sie alle können aus kulturwissenschaftlicher Sicht Einblick in kollektive Denk- und Empfindungsweisen geben, dabei aber ggf. sogar den Blick auf eine ‚Ge‐ gengeschichte‘ weiten, also auf eine gegen die offizielle Geschichtsschreibung gerichtete alternative Darstellung mit dissidentem Charakter. Biographien und Autobiographien beschreiben die Lebensläufe von Perso‐ nen, die in der Regel über einen bestimmten Bekanntheitsgrad verfügen und deren Leben als aufschlussreich für ein bestimmtes Milieu oder einen Zeitab‐ schnitt angesehen werden. Dies steht dezidiert bei Memoiren im Vordergrund, deren VerfasserInnen nicht ihr privates Leben, sondern ihre herausragende Rolle in der Gesellschaft zum Ausgangspunkt der Selbstbetrachtung machen und dabei über wichtige Ereignisse einer Epoche und prominente weitere Per‐ sönlichkeiten berichten. Autobiographien und Memoiren sind grundsätzlich von der subjektiven Einstellung der AutorInnen geprägt und können daher zumindest in Teilen ggf. den Verdacht unzuverlässigen Erzählens erwecken, was jedoch für die Leserschaft im Hinblick auf den individuellen Charakter der jeweiligen Person aufschlussreich sein kann. Bei der Testimonial-Literatur handelt es sich um persönliche, ebenfalls subjektiv perspektivierte Berichte von ZeitzeugInnen, die ausführlich zu be‐ stimmten dramatischen Ereignissen Stellung beziehen, nicht zuletzt um einer offiziellen Geschichtsdarstellung zu widersprechen. Sie können zunächst mündlich vorgebracht und erst in einem zweiten Schritt unter Mithilfe professioneller Schreibender niedergelegt werden. Im Mittelpunkt stehen Menschenrechtsverletzungen, Kriegsgräuel, Genozide, Verschleppungen, Diskriminierung oder andere traumatisierende Geschehnisse. Die Grenze zur Autobiographie wird immer wieder verwischt, allerdings erzählen die ZeugInnen vor dem Hintergrund der Erfahrungen einer gleichermaßen be‐ 12.4 Erinnerung und Zeugenschaft 261 <?page no="262"?> Text 12.6 Primo Levi: Se questo è un uomo troffenen Gruppe, für die sie Gerechtigkeit, und sei es nur im nachträglichen Gedenken, einfordern. Im romanzo di testimonianza kann auch eine Hybri‐ disierung historiographischer und stärker vertretener fiktionaler Elemente vorgenommen werden. Zu den wichtigsten nicht-fiktionalen Zeugnissen in der italienischen Li‐ teratur zählen die autobiographischen Berichte Primo Levis (1919-1987). Aufgrund seiner jüdischen Herkunft und seines antifaschistischen Engage‐ ments wurde er 1944 im Konzentrationslager Auschwitz interniert. Als einer der wenigen Überlebenden schilderte er die Gräuel des Lagerlebens wie auch seine schwierige Rückkehr nach Italien, etwa in Se questo è un uomo (1947), La tregua (1963) oder Il sistema periodico (1975). Seine analytische Präzision, die auch unter dem Einfluss seiner beruflichen Tätigkeit als Chemiker stehen dürfte, geht weit über die reine Beschreibung des Holocausts hinaus und führt zu grundlegenden ethischen Fragen nach der Natur des Menschen. So heißt es in Se questo è un uomo: Questa, di cui abbiamo detto e diremo, è la vita ambigua del Lager 1 . In questo modo duro, premuti sul fondo 2 , hanno vissuto molti uomini dei nostri giorni, ma ciascuno per un tempo relativamente breve; per cui ci si potrà forse domandare se proprio metta conto 3 , e se sia bene, che di questa eccezionale condizione umana rimanga una qualche memoria. A questa domanda ci sentiamo di rispondere affermativamente. Noi siamo infatti persuasi che nessuna umana esperienza sia vuota di senso e indegna di analisi, e che anzi valori fondamentali, anche se non sempre positivi, si possano trarre da questo particolare mondo di cui narriamo. Vorremmo far considerare come il Lager sia stato, anche e notevolmente, una gigantesca esperienza biologica e sociale. Si rinchiudano tra i fili spinati 4 migliaia di individui diversi per età, condizione, origine, lingua, cultura e costumi, e siano quivi sottoposti a un regime di vita costante, controllabile, identico per tutti e inferiore a tutti i bisogni: è quanto di più rigoroso uno sperimentatore avrebbe potuto istituire per stabilire che cosa sia essenziale e che cosa acquisito nel comportamento dell’animale-uomo di fronte alla lotta per la vita. Noi non crediamo alla più ovvia e facile deduzione: che l’uomo sia fondamental‐ mente brutale, egoista e stolto come si comporta quando ogni sovrastruttura civile sia tolta, e che lo «Häftling» non sia dunque che l’uomo senza inibizioni. Noi pensiamo piuttosto che, quanto a questo, null’altro si può concludere, se non che di fronte al bisogno e al disagio fisico assillanti, molte consuetudini e molti istinti sociali sono ridotti al silenzio. (Levi: 6 1987, 88 f.) 1 il Lager das Konzentrationslager - 2 premuti sul fondo niedergedrückt, hier: auf das Äußerste unterdrückt - 3 se proprio metta conto ob es sich wirklich lohnt - 4 filo spinato Stacheldraht 262 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="263"?> Aufgabe 12.8 Abb. 12.9 Jean Baudrillard ? In welchem Verhältnis steht der Erzähler zu den von ihm berichteten Ereignissen? Worin sieht er seine Aufgabe als Zeuge? 12.5 Mediale Simulakren Eines der wesentlichen kulturwissenschaftlichen Forschungsinteressen gilt den Medien und der Art und Weise, wie sie die kommunizierten Inhalte bedingen bzw. die menschliche Erkenntnismöglichkeiten an und für sich begründen (vgl. auch Einheit 1.2 und Einheit 11.2). Eine besonders vehemente Kritik an den aktuellen Massenmedien formulierte in diesem Zusammenhang der französi‐ sche Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard (1929-2007). Er gilt ebenfalls als einer der ‚Väter‘ des Poststrukturalismus und verbindet Elemente aus Struktu‐ ralismus und Materialismus zu einer Kritik an der spätkapitalistischen Gesell‐ schaft. Ausgehend von der strukturalistischen Semiotik (Zeichentheorie) er‐ gibt sich wie bereits erläutert die Bedeutung des einzelnen sprachlichen Zeichens aus seiner Stellung im Gesamtsystem, da ein Zeichen seine Bedeu‐ tung nicht durch seine referenzielle Koppelung an ein Bezeichnetes erhält, sondern durch seine Differenz zu allen anderen Zeichen (siehe Einheit 11.1). So trägt das sprachliche Zeichen für ‚casa‘ nicht die Bedeutung des Hauses in sich, sondern es hat einen Platz im System, der es von ‚Stall‘ oder ‚Kraftwerk‘ oder ‚Stadt‘ abgrenzt. Aus der Sicht von Baudrillard erzeugen die modernen Medien allerdings immer mehr Zeichen, die ihrerseits nicht unmittelbar die Wirklichkeit enthalten, sondern diesen direkten Bezug nur suggerieren. Zeichen sind für ihn nicht mehr Bezeichnende mit eindeuti‐ ger Referenz, sondern austauschbare Symbole. Die Gesellschaft hinter den Zeichen wird insofern immer undurchsichtiger, unbegreiflicher, während gleichzeitig von den Medien eine exzessive Zeichenproduktion vorangetrie‐ ben wird. In seiner Simulationstheorie unterscheidet er drei ‚Ordnungen des Simulakrums‘ (des Zeichens): ▶ Imitation: im klassischen Zeitalter dominieren Zeichen, deren Referenten für sich genommen gar nicht existieren, etwa Königtum, Adel oder Heiligkeit, sondern aus gesellschaftspolitischen Gründen gesetzt werden; ▶ Produktion: in der Industriellen Revolution werden Objekte zum Produkt einer endlosen Produktionslinie, weshalb die Zeichen nicht mehr eindeu‐ tig auf jedes einzelne von ihnen verweisen können; ▶ Simulation: in der Gegenwart ist in den modernden Massenmedien eine endlose Reproduktion von Zeichen ohne realen Referenten zu beobach‐ ten. Baudrillards Kernthese läuft auf das Phänomen der ‚Simulation‘ hinaus: der Unterschied zwischen Zeichen und Wirklichkeit verschwindet, wird 12.5 Mediale Simulakren 263 <?page no="264"?> Definition Simulakrum Text 12.7 Jean Baudrillard: Das An‐ dere selbst unentscheidbar. Die Zeichen verweisen dabei nicht mehr auf die Wirklich‐ keit, sondern bilden ein selbstreferenzielles System. Sie simulieren in der Hyperrealität die einstige Realität, statt diese abzubilden. Das deutlichste Beispiel für Baudrillards Sicht findet sich in seiner provokanten These, „der Golfkrieg hat nicht stattgefunden“, da er von den Medien inszeniert worden sei und man bei der Berichterstattung nicht mehr zwischen der Inszenierung und Simulation von Realität und den tatsächlichen Ereignissen des Kriegsgeschehens unterscheiden könne. Für Baudrillard sind die Zeichen, wie sie die modernen Medien erzeugen und vermitteln, zu ‚Simulakren‘ geworden, d. h. zu Produkten bzw. Ge‐ genständen einer Simulation. Sie täuschen die Referenz auf die Wirklich‐ keit nur noch vor und führen ein Eigenleben, da sie über wechselseitige Verweise miteinander vernetzt sind (z. B. in der vielfachen Wiederver‐ wendung von Bildmaterial in der Berichterstattung oder Internetblogs, welche auf Filme verweisen, die ihrerseits auf Romanen basieren). Da‐ durch entsteht eine neue, übergeordnete Form von Wirklichkeit, die Hy‐ perrealität, welche eine Differenzierung zwischen ‚echt‘ und ‚unecht‘, zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ nicht mehr erlaubt. 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - 15 - - - - 20 Heute gibt es […] Bildschirm und Vernetzung. Keine Transzendenz oder Tiefe mehr, sondern die immanente Oberfläche von Funktionsabläufen, die glatte und funktionstüchtige Oberfläche der Kommunikation. Im Verhältnis zum Fernseh‐ bild, dem schönsten, prototypischen Objekt dieser neuen Epoche, werden das gesamte uns umgebende Universum und unser eigener Körper zu Kontrollbild‐ schirmen. Wir projizieren uns nicht mehr mit den gleichen Affekten, den gleichen Phantasmen von Besitz, Verlust, Trauer, Eifersucht in unsere Objekte hinein: die psychologische Dimension hat sich verflüchtigt, selbst wenn man sie noch immer minutiös nachvollziehen kann. […] Private Telematik 1 . Jedermann bemerkt, dass er von den Kommandos einer hypothetischen Maschine vorwärtsbewegt wird, dass er in einer vollkommenen souveränen Position isoliert ist, unendlich entfernt von seinem ursprünglichen Universum, also ganz genau in der Situation eines Astronauten in seiner Kapsel - im Zustand der Schwerelosigkeit, der zu einem ständigen Flug in der Erdumlauf‐ bahn und zur Beibehaltung einer ausreichenden Geschwindigkeit im Leerraum zwingt, droht doch ansonsten das Zerschellen auf dem Ursprungsplaneten. Dass der orbitale Satellit im Universum des Alltags Wirklichkeit geworden ist, hat seine Entsprechung in der Hochstilisierung des häuslichen Universums zur Raummetapher, einschließlich der Versetzung der Zwei-Zimmer-Küche-Bad- Wohnung in die Erdumlaufbahn in der letzten Mondphase, also in der Satelli‐ sierung des Realen selbst. Die Hypostasierung 2 des irdischen Wohnalltags in 264 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="265"?> Aufgabe 12.9 Ökokritik Definition, ‚Ökologie‘ 25 30 - - - - 35 den Weltraum bedeutet das Ende der Metaphysik, den Beginn der Epoche der Hyperrealität. Damit will ich sagen: Was hier als Gedankenspiel entworfen, was in den irdischen Wohnverhältnissen als Metapher erlebt wurde, wird künftig ganz und gar ohne Metapher entworfen, und zwar in den absoluten Raum, in den Raum der Simulation. Unsere Privatsphäre selbst ist kein Schauplatz mehr, auf der [sic] sich eine Dramaturgie des Subjekts abspielt, das sich mit seinen Objekten herumschlägt wie mit seinem Abbild: wir existieren darin nicht mehr als Dramaturg oder Akteur, sondern als Terminal, in dem zahlreiche Netze zusammenlaufen. Dessen unmittelbarste Präfiguration 3 ist das Fernsehen, aber der Wohnraum selbst wird heute als Empfangs- und Bedienungsraum begriffen, als Kommandobildschirm, als Terminal, ausgestattet mit telematischer Macht, das heißt mit der Möglichkeit, alles über Entfernungen hinweg zu erledigen, was im Hinblick auf die telemati‐ sche Heimarbeit sogar den Arbeitsvorgang einschließt - und natürlich Konsum, Spiel, soziale Beziehungen und Freizeit. (Baudrillard: 1987, 10-11, 13-14) - 1 Telematik hier: Verbindung von Television und Informatik - 2 Hypostasierung hier: Verselbständigung im Sinne einer eigenen Realität - 3 Präfiguration Urbild ? Welchen Vorwurf erhebt Baudrillard im Textauszug gegen die moder‐ nen Massenmedien? Wie geht er dabei rhetorisch vor? 12.6 Ecocritica, Ecopoetica Ab den 1990 Jahren werden im nordamerikanischen Raum ökologische Fra‐ gestellungen auch in der Literaturbzw. Kulturwissenschaft zur Anwendung gebracht und die so genannte Ökokritik (engl. ecocriticism, it. ecocritica) ent‐ wickelt. Diese setzt sich auch um die Jahrtausendwende in den romanischen Wissenschaftskulturen durch. Ökologie, von altgriech. Oikos: ‚Haus‘, Haushalt und logos ‚Lehre‘, be‐ deutet ursprünglich die Lehre vom Haushalten. Sie wird dann zu einer Unterdisziplin der Biologie, die die Beziehung der Lebewesen unterein‐ ander und mit ihrer Umwelt untersucht. Seit den 1970er Jahren wird der Begriff zusehends politisiert und steht nun vielmehr für die Umweltbe‐ wegung, die kritisch Position bezieht gegen die Ausbeutung der Natur und deren Verschmutzung. 12.6 Ecocritica, Ecopoetica 265 <?page no="266"?> Anthropozentrismus Biozentrismus Aufgabe 12.10 Text 12.8 Elsa Morante: La storia Die Ökokritik untersucht die Beziehung von Mensch und Umwelt, bzw. der Natur in literarischen Texten bzw. künstlerischen Produktionen. Gerade in den letzten Jahren hat die Umweltkrise, angefangen bei der Ressourcen‐ knappheit, über die Luftverschmutzung, die Erderwärmung hin zu der Pan‐ demie auch in der Literatur ihren Niederschlag gefunden. Die Frage nach der Beziehung von Mensch und Tier wird neu gestellt, indem der Anthropozent‐ rismus (antropocentrismo), also die (oft stillschweigend vorausgesetzte) Welt‐ anschauung, der zufolge der Mensch den Mittelpunkt der Welt bildet, infrage gestellt wird. Ihm entgegengesetzt wird der Biozentrismus (biocentrismo), der allem Lebendigen einen ethischen Eigenwert zuerkennt und der damit zu den philosophischen Fundamenten der Ökokritik gehört. Ein Beispiel in der italienischen Literatur findet sich im Roman La sto‐ ria (1974) von Elsa Morante (1912-1985). Der historische Roman spielt in Rom zwischen 1941 und 1947 und erzählt die Geschichte der Witwe und alleinerziehenden Mutter Ida Ramundo, die von einem jungen deutschen Soldaten vergewaltigt wird und fortan als alleinerziehende Mutter zwei Söhne durch die Wirren des Krieges bringen muss. Begleitet wird sie dabei in den ersten Lebensjahren des zweiten Sohnes, Giuseppe, vom Mischlingshund ihres Erstgeborenen, Blitz. Zwischen Blitz und Giuseppe entwickelt sich eine symbiotische Beziehung, die weit über ein gewöhnliches Verhältnis zwischen Mensch und Tier hinausgeht. 1 - - - 5 - - - - 10 Per Blitz, intanto, era incominciato un dilemma quasi tragico. Siccome col passar del tempo Giuseppe e lui si capivano sempre meglio, dialogando e giocando insieme sul pavimento con immenso spasso 1 , gli accade di trovarsi innamorato cotto anche di Giuseppe, oltre che di Nino. Ma Nino stava sempre in giro, e Giuseppe sempre a casa: per cui gli era impossibile vivere perennemente in compagnia di entrambi suoi amori, come avrebbe voluto. E in conseguenza, sia con l’uno che con l’altro, era di continuo straziato da un rimpianto: e se si trovava con l’uno, gli bastava la citazione dell’altro nome, o un odore che gli ricordasse l’altro, che súbito la sua nostalgia, come una bandierina controvento, si protendeva 2 indietro. A volte, mentre faceva la sentinella fuori della scuola nelle sue lunghissime attese di Nino, d’improvviso, come a un messaggio portàtogli da una nuvola, incominciava a fiutare verso il cielo, con un guaito 3 lamentoso, nel ricordo dell’incarcerato Giuseppe. (Morante: 6 2016, 109) - 1 spasso Spaß - 2 protendersi hier: sich zurückbeugen - 3 guaito jaulen ? Analysieren Sie folgenden Textausschnitt vor dem Hintergrund der darin skizzierten Beziehung von Mensch und Tier unter besonderer Berücksichtigung der Darstellung des Hundes. 266 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="267"?>  Zusatzmaterial: Paolo Malaguti: L’ul‐ timo Carnevale auf www.bachelor-wissen.de Ökopoetik Text 12.9 Italo Calvino: Marcovaldo Der Mischlingshund Blitz trägt über die gewöhnlich Hunden zugeschriebene Treue und Hingebung dem Herrchen gegenüber anthropomorphe Züge. Er empfindet und liebt wie ein Mensch beide Brüder gleichermaßen („trovarsi innamorato cotto anche di Giuseppe, oltre che di Nino“), und fühlt sich in seinen Gefühlen zerrissen. Er ist in der Lage, sich auch in dessen Abwesenheit an sein(e) Herrchen zu erinnern. Er ist in der Lage, Nostalgie zu empfinden und verfügt über Erinnerungsvermögen. Eine frühe kritische Reflexion zur Beziehung von Stadt und Natur findet sich in Italo Calvinos Geschichtenband um Marcovaldo, einen einfachen An‐ gestellten und Vater von vier Kindern, der sich wie ein Fremder in der nicht benannten italienischen Großstadt in der Zeit des Wirtschaftsbooms bewegt. In den teilweise zwischen Groteske und Märchen schwankenden Geschichten paart sich Konsumkritik mit einem frühen Bewusstsein für ökologische Fra‐ gestellungen, wie in der 9. Geschichte, die den Titel „L’aria buona“ trägt. 1 5 10 15 Questi bambini, - disse il dottore della Mutua, - avrebbero bisogno di respirare un po’ d’aria buona, a una certa altezza, di correre sui prati… Era tra i letti del seminterrato 1 dove abitava la famigliola, e premeva lo stetoscopio sulla schiena della piccola Teresa, tra le scapole fragili come le ali di un uccelletto implume. I letti erano due e i quattro bambini, tutti ammalati, facevano capolino 2 a testa e a piedi dei letti, con le gote 3 accaldate e gli occhi lucidi. - Sui prati come l’aiola 4 della piazza? - chiese Michelino. - Un’altezza come il grattacielo? - chiese Filipetto. - Aria buona da mangiare? - domandò Pietruccio. Marcovaldo, lungo e affilato, e sua moglie Domitilla, bassa e tozza, erano appoggiati con un gomito ai due lati di un sgangherato 5 cassettone. Senza muovere il gomito, alzarono l’altro braccio e lo lasciarono ricadere sopra il fianco brontolando insieme: - E dove vuole che noi, otto bocche, carichi di debiti, come vuole che facciamo? - Il posto più bello dove possiamo mandarli, - precisò Marcovaldo, - è per strada. - Aria buona la prenderemo, - concluse Domitilla, - Quando saremo sfrattati 6 e dovremo dormire allo stellato. (Calvino: 1963, 43) - 1 seminterrato Untergeschoss - 2 fare capolino hervorgucken - 3 le gote die Wangen - 4 l’aiola Blumenbeet - 5 sgangherato wackelig - 6 sfrattato gekündigt Die Ökokritik fokussiert nicht zuletzt die soziale Funktion von Literatur und geht von einer Verbindung zwischen Ethik und Ästhetik aus. Dabei ist wei‐ terhin zu unterscheiden zwischen der Ökokritik, die sich auf die Untersu‐ chung von ökologischen Fragestellungen und Themen fokussiert, und der Ökopoetik (ecopoetica), die sich stärker auf die Untersuchung einer ökologi‐ schen Formsprache konzentriert, wie sie zum Beispiel in einigen Gedichten zeitgenössischer Dichterinnen zu finden sind. In den Versen der aus Mailand stammenden Dichterin Chandra Candiani (*1952) wird wiederholt die verlo‐ ren gegangene Einheit von Mensch und Natur besungen und teilweise mit 12.6 Ecocritica, Ecopoetica 267 <?page no="268"?> Aufgabe 12.11 Text 12.10 Chandra Candiani: Pane del bosco aktuellen ökologischen Problemen, wie zum Beispiel der Wasserknappheit der letzten Jahre - nicht nur in Italien -, in Verbindung gebracht. 1 5 - - - - 10 - - - - 15 - - - - 20 - - - - 25 Pioggia cara non abbandonarci Vieni a piovere pioggia Vieni ad amarci Come dài del tu Alle pietre del fiume Come arroti ogni goccia Perché non resti deserta Nessuna crepa, come abbeveri ogni insetto animale albero a sasso ricordati di quando non avevamo età ma solo sete. Vieni a piovere pioggia Come non fossimo i predatori Vieni a giocare ad acchiapparci 1 Sbiadisci 2 le nostre mappe Della lontananza, dove ci nascondiamo Accalcati 3 e ottusi 4 , guarda il corpo Che si disfa per vecchiezza Rughe pieghe macchie Un miracolo senza orgoglio né esultanza 5 , terra che torna terra. Cadi cara vecchia pioggia Come tempo di sollievo per campo Che non muove obiezione Fermo, santo. - (Candiani: 2023, 25) - 1 giocare ad acchiapparci Fangen spielen - 2 sbiadire verblassen - 3 accalcati gedrängt - 4 ottusi stumpf - 5 esultanza Jubel ? Analysieren Sie im Gedicht unter Berücksichtigung einer ökopoeti‐ scher Perspektive die Darstellung der Beziehung zwischen Mensch und Natur. In diesem Gedicht aus der Sammlung Pane del bosco richtet sich das lyri‐ sche Ich, das hier in der ersten Person Plural spricht, an den Regen, der 268 12 Kultur, Macht und Kritik <?page no="269"?> personifiziert erscheint („Pioggia cara non abbandonarci“) und fleht ihn an, die Menschen nicht zu verlassen und ihnen zu verzeihen, dass sie sich der Natur gegenüber wie Räuber verhalten. Es wird dabei auf die Vergangenheit verwiesen, in der die Menschen noch unschuldig waren. Mit dem Bild des alternden Körpers wird zudem auf die Vergänglichkeit des Menschen verwiesen, der nur für relativ kurze Zeit als Gast auf dieser Erde verweilt, während diese sich weiterdreht. Literatur Bill Ashcroft/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin: The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London [u.-a.]: Routledge 1989. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ge‐ dächtnisses. München: Beck 1999.- Jean Baudrillard: Das Andere selbst. Wien: Edition Passagen 1987. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Staufenburg 2000. Italo Calvino: Marcovaldo, Mailand: Mondadori 4 2016. Chandra Candiani: Pane del bosco (2020-2023), Turin: Einaudi 2023. Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 3 2010. Stephen Greenblatt: Renaissance self-fashioning. From More to Shakespeare. Chicago, Ill. [u.-a.]: Univ. of Chicago Press 1980. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin [u.-a.]: Luchterhand 1966. Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. New York [u.-a.]: Columbia University Press 2012. Primo Levi: Se questo è un uomo, in: Ders., Opere I. Torino: Einaudi, 6 1987, 1-212. Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris: Les Editions de Minuit 1979. Elsa Morante: La storia, Turin: Einaudi 6 2016. Pierre Nora: Erinnerungsorte Frankreichs. München: Beck 2005. Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009. Igiaba Scego: „Salsicce“. Pecore nere. Racconti. Hgg. Gabriella Kuruvilla et. al. Roma e Bari: Laterza 4 2009, 23-26. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the subaltern speak? Postkolonialiät und subal‐ terne Artikulation. Wien [u.-a.]: Turia + Kant 2008. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas - das Problem des Anderen, Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp 1984. Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität? “, in: Lucyna Darowska / Thomas Lüttenberg / Cladia Machold (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld: transcript 2010, 39-66. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19.-Jahrhundert in Europa. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2 2015. 12.6 Ecocritica, Ecopoetica 269 <?page no="271"?> Kompetenz 4: Texte in anderen Medien analysieren <?page no="273"?> Überblick 13 Filmanalyse Inhalt 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription 13.2 Bildebene 13.3 Tonebene 13.4 Montage 13.5 Filmisches Erzählen Neben der kritischen Betrachtung gedruckter Werke oder der dramati‐ schen Inszenierungspraxis hat sich im Medium Spielfilm eine zusätzliche Ausdrucksform literarischer Texte eröffnet. Um die Produktionen der ‚siebten Kunst‘ angemessen untersuchen zu können, sollen im Folgenden die wichtigsten formalen Kriterien der Filmanalyse vorgestellt werden, welche die in den bisherigen Einheiten behandelten inhaltlichen Unter‐ suchungsfelder (dramatischer Konflikt, Figurenkonstellation, Entwick‐ lung der Handlung etc.) im neuen medialen Kontext ergänzen. Dabei ist nicht zuletzt die Frage zu erörtern, inwieweit der Film auf typische Er‐ zählverfahren der Literatur zurückgreift. <?page no="274"?> Ebenen der Interpretation Einstellungsprotokoll Als audiovisuelles Massenmedium, das sich in mehrfacher Hinsicht erzähle‐ rischer Verfahren bedient, kann der Film einer umfassenden Analyse unter‐ zogen werden, die im Folgenden zumindest in ihren Grundzügen vorgestellt werden soll. Der Schwerpunkt wird dabei auf die technischen und formalen Voraussetzungen gelegt, also auf die filmischen Mittel, welche für die Gestal‐ tung einer Geschichte oder Handlung zum Einsatz kommen; gleichzeitig muss eine derartige Analyse die Untersuchung der Struktur, der Figurenkonstella‐ tion, der Motive oder der intertextuellen (hier besser: intermedialen) Bezüge berücksichtigen, wie sie in Analogie bereits in den Einheiten 6 bis 9 behandelt worden ist und hier nicht nochmals eigens erörtert wird. Dabei soll jedoch wenigstens eingangs betont werden, dass eine eingehende Filmanalyse sich nicht allein auf die Umsetzung filmischer Mittel beschränkt, sondern mehrere Ebenen umfassen sollte: 1. Die vielschichtigen Entstehungsbedingungen, in welche sich die Verfas‐ sung der Filmvorlage oder des Drehbuchs, schließlich die Produktion selbst einschreiben (hierzu zählen kommerzielle Rahmenbedingungen, technische Neuerungen, das Aufgreifen von in der Gesellschaft beachte‐ ten Themen, gattungsgeschichtliche Vorgaben, stilistische Strömungen u.-v.-m.); 2. im Speziellen: das künstlerische Profil des Regisseurs/ der Regisseurin, wobei u. a. Selbstkommentare zum Film (etwa in Interviews oder film‐ theoretischen Schriften) Hinweise auf persönliche Intentionen wie auch auf das anvisierte Publikum liefern; 3. die von einer konkreten Fragestellung geleitete Interpretation von Figuren und Handlungen im Rahmen einer den gesamten Film umfassenden Zusam‐ menschau, die sich auf eine genaue Analyse der (unten beschriebenen) filmischen Mittel stützt und einen methodischen Ansatz - etwa in biographi‐ scher, psychologischer, feministischer, soziologischer, historiographischer, mediengeschichtlicher oder dekonstruktivistischer Hinsicht - verfolgt; 4. den Einbezug von Rezeptions-Zeugnissen (bspw. Filmkritiken, bereits vorliegende Interpretationen und Analysen) und - falls möglich - eine Würdigung der Nachwirkungen des Werks. 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription Eine eingehende Filmanalyse setzt ein mehrfaches Betrachten des Films vor‐ aus; um Details zuverlässig zu erfassen und zugleich das gesamte Werk nicht aus dem Blick zu verlieren, haben sich verschiedene Methoden herausgebil‐ det, welche versuchen, die wesentlichen Elemente des Films schriftlich fest‐ zuhalten, sie zu transkribieren (trascrivere). Die Basis hierfür bildet die Ein‐ stellung (inquadratura) als kleinste Einheit des Filmgeschehens; ihre 274 13 Filmanalyse <?page no="275"?> Text 13.1 Einstellungsprotokoll (Aus‐ zug) zu Federico Fellini: La dolce vita Begrenzung bildet der Schnitt (taglio/ stacco). In einem Einstellungsprotokoll werden - für ausgewählte Passagen oder für das Filmganze, das bei einer durchschnittlichen Dauer von 90 Minuten im Mittel um die 400-700 Einstel‐ lungen umfasst - normalerweise folgende Informationen verzeichnet: lau‐ fende Nummer und Länge der Einstellung; Kameraaktivitäten; Beschreibung des Sichtbaren; Transkription des zu Hörenden, ggf. Art des Übergangs zwi‐ schen aufeinanderfolgenden Einstellungen. Als Beispiel für ein Einstellungsprotokoll wollen wir uns die berühmte Eingangssequenz aus Federico Fellinis La dolce vita (1960) ansehen: Nr. Dauer in Sek. Kamera- Aktivitäten Beschreibung des Sichtbaren Tonspur 1 33" Panorama Schwenk nach links, Zoom auf Helikopter (Untersicht) Zwei Helikopter fliegen über ein Fußballfeld und die Ruinen eines römi‐ schen Aquädukts auf die Kamera zu; an einem He‐ likopter hängt eine über‐ lebensgroße Christusstatue lauter werdendes Ro‐ torengeräusch 2 23" Totale (Normalsicht) Schwenk nach links, Schwenk noch oben Kinder folgen laufend den Helikoptern durch eine Straßenschlucht; die Helikopter fliegen über einen Wohnblock Rotorengeräusch; Johlen der Kinder 3 6" Totale Parallelfahrt (leichte Aufsicht) Helikopter mit Statue fliegt über Wohnblocks im Rohbau Rotorengeräusch 4 4" Nah (Untersicht) Arbeiter beobachten den Flug, winken Geräusch der Werk‐ zeuge; Rotorenge‐ räusch (leise) 5 5" Totale Helikopter über Vororts‐ häusern Rotorengeräusch (leise) 6 23" Halbtotale (Untersicht) Sonnenbadende Frauen auf Dachterrasse, aus dem Hintergrund nähern sich die Helikopter; die Frauen springen auf und winken leise Unterhaltungs‐ musik, sehr laut werdendes Rotorenge‐ räusch 1. Frau: “Leontine, che cosa è? Guarda, è Gesù! ” Leontine: “Ma dove vanno? ” Zurufe 7 5" Totale (Untersicht) Helikopter wendet im Gegenlicht der Sonne Sehr lauter Rotoren‐ lärm 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription 275 <?page no="276"?> Nr. Dauer in Sek. Kamera- Aktivitäten Beschreibung des Sichtbaren Tonspur 8 7" Totale (Aufsicht) Die Frauen winken auf der Dachterrasse Sehr lauter Rotoren‐ lärm Rufe der Frauen 9 3" Halbtotale (Untersicht) Drei Männer sitzen im Cockpit: Marcello, Foto‐ graf und der Pilot Sehr lauter Rotoren‐ lärm 10 3" Halbnah (Aufsicht) Winkende Frauen Lauter Rotorenlärm 1. Frau ruft: “Quella statua, che cosa è, dove la portate? ” 11 4" Halbtotale (Untersicht) Zoom Halbnah Männer im Cockpit be‐ wegen Lippen, machen Zeichen Sehr lauter Rotoren‐ lärm 12 5" Groß (Normalsicht) Schwenk nach rechts Gesichter zweier Frauen, dann der anderen Frauen Lauter Rotorenlärm 1. Frau ruft: “Cosa? ” Leontine: “Dove la portate? ” 13 5" Nah (Untersicht) Männer gestikulieren, bewegen Lippen Sehr laute Rotorenge‐ räusche 14 4" Amerikanisch (Aufsicht) Drei Frauen winken 2. Frau: “La portanno dal Papa.” 15 4" Nah (Untersicht) Marcello schreibt panto‐ mimisch auf Handteller, winkt Kuss zu; der Be‐ gleiter fotografiert Sehr lauter Rotoren‐ lärm 16 4" Groß (Aufsicht) 2. Frau übersetzt ihrer Freundin die Zeichen‐ sprache und antwortet Marcello 2. Frau: “Vogliono il tuo numero di telefono - No! ” 17 8" Halbtotale (Untersicht) Totale Männer winken zum Ab‐ schied, Helikopter dreht bei und fliegt davon Lauter Rotorenlärm 18 4" Nah (Normalsicht) Fotograf fotografiert aus dem Cockpit Sehr lauter Rotoren‐ lärm 19 6" Panorama (Parallelfahrt) Der erste Helikopter fliegt mit der Statue über Rom Rotorengeräusch, suk‐ zessive verdrängt von lautem Glockenläuten 20 4" Halbtotale (Untersicht) Halbnah Die Christusstatue von unten gesehen nähert sich Lautes Glockenläuten, Rotorengeräusche 276 13 Filmanalyse <?page no="277"?> Aufgabe 13.1 Sequenzprotokoll Nr. Dauer in Sek. Kamera- Aktivitäten Beschreibung des Sichtbaren Tonspur 21 6" Panorama (Aufsicht) Der Petersdom von oben Lautes Glockenläuten, Rotorengeräusche 22 4" Nah (leichte Unter‐ sicht) Christusstatue im Flug Lautes Glockenläuten, Rotorengeräusche 23 4" Panorama (Aufsicht) Der Petersplatz von oben Lautes Glockenläuten, Rotorengeräusche 24 47" Nah (Aufsicht) Schwenk nach oben (Normal‐ sicht) Schwenk nach rechts Ein thailändischer Tem‐ peltänzer mit Maske er‐ hebt sich, zwei halb‐ nackte Schwertträger drehen sich vor ihm, die Tänzer entfernen sich. Der junge Kellner geht zu Marcello […] Gesang der Maske; Gong; Aufschrei des Chors Stimme aus dem ‚Off ‘: “Ragazzo, vieni un po’ qua.” Marcello: “Senti, al ta‐ volo numero sedici, che cosa hanno mangi‐ ato? ” […] ? Betrachten Sie das Einstellungsprotokoll. Mit welchen gestalterischen Mitteln wird hier über die einzelnen Einstellungen hinweg Kontinuität erzeugt? Wo gibt es im Gegenzug scharfe Einschnitte? Mehrere (im Hinblick auf Handlungselemente, Schauplätze, Zeitabschnitte oder präsente Figuren) zusammenhängende Einstellungen bilden zusammen eine Sequenz (sequenza). Sie vereinen zumeist unterschiedliche Szenen (scena), d. h. Gruppen von Einstellungen, welche durch die Beibehaltung der Figuren, des zusammenhängenden räumlichen Dekors und den Verzicht auf Zeitsprünge (Erzählzeit = erzählte Zeit) zusammengehalten werden. Das Pro‐ tokollieren von Sequenzen und Subsequenzen (z. B. einzelne oder sich ergän‐ zende Szenen) bietet eine weniger aufwendige Möglichkeit, den Handlungs‐ verlauf eines Films zu beschreiben; hierfür werden größere Blöcke nach inhaltlichen (Handlungsorte, Personen, grober Handlungsverlauf) und for‐ malen Kriterien (z. B. Kameraarbeit) beschrieben und der zeitlichen Abfolge entsprechend aufgezeichnet. Angewendet auf das obige Beispiel von Fellinis La dolce vita ergibt sich folgendes Protokoll der ersten Filmsequenzen: 13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription 277 <?page no="278"?> Text 13.2 Sequenzprotokoll (Auszug) zu La dolce vita 00’00 Vorspann 01’40 Sequenz 1: Flug über Rom Zwei Helikopter überfliegen Rom, einer transportiert eine überlebensgroße Christusstatue, im zweiten begleiten ein Journalist und ein Fotograf den Transport; sie nähern sich kurzzeitig der Dachterrasse eines Penthouses und flirten mit den sonnenbadenden Frauen; die beiden Helikopter erreichen den Petersdom. 04’37 Sequenz 2: Marcello und Maddalena In einem Restaurant sind Marcello und sein Fotograf auf der Suche nach Klatschmeldungen aus der High Society, beide bekommen Ärger. An der Bar trifft Marcello auf die reiche Maddalena, er begleitet sie durch einen Schwärm lästiger paparazzi zu ihrem Wagen. Beide fahren durch das nächtliche Rom, diskutieren über Vor- und Nachteile des anonymen Großstadtlebens. Maddalena gibt ihrem Lebensüberdruss Ausdruck, einzig die Liebe verschaffe Abhilfe. Aus einer Laune heraus lädt Maddalena ein unbekanntes Straßenmädchen ein, sie nach Hause zu bringen. Sie fahren sie zu ihrer Wohnung in einem Vorort. Dort lässt Maddalena sich auf einen Kaffee einladen. Die Wohnung ist in einem miserablen Zustand, auf dem Boden steht das Wasser. Das Paar landet im Schlafzimmer, Maddalena zieht Marcello zu sich aufs Bett und verbringt mit ihm die Nacht. 17’58 Sequenz 3: Emmas Selbstmordversuch Marcellos Verlobte Emma kann sich in ihrer spärlich möblierten Wohnung kaum auf den Beinen halten. Marcello fährt in einem Sportwagen nach Hause in einen modernen Wohnblock. Marcello findet Emma zusammengesunken auf dem Flur. Er entdeckt ein Medikament, nimmt die in Lebensgefahr schwebende Frau auf die Schulter und fährt sie in aller Eile in eine futuristisch wirkende Klinik. Dort trifft er auf den Reporter Giannelli, den er anfleht, nicht über den Vorfall zu berichten, um keine Scherereien mit der Polizei zu bekommen. Emma ist gerettet, Marcello muss indes auf einen brigadiere warten, um vorschriftsgemäß das Geschehen zu Protokoll zu geben. Während er wartet, versucht er Maddalena anzurufen; diese schläft und hört das Telefon nicht. 22’26 Sequenz 4: Ankunft der Diva Eine Meute von Fotoreportern stürmt auf der Landebahn eines Flughafens auf ein heranrollendes Flugzeug zu. Die schwedische Filmdiva Sylvia steigt aus und setzt sich vor ihnen demonstrativ in Szene. 278 13 Filmanalyse <?page no="279"?> Aufgabe 13.2 Der ‚Realitätseffekt‘ des bewegten Bildes  Unter www.bachelor-wissen.de finden Sie Zusatzmaterial zum Thema: Die Kritik der Filmkunst bei Walter Benja‐ min. ? Verschaffen Sie sich einen Überblick über den weiteren Handlungs‐ verlauf, ggf. mit Hilfe eines entsprechenden Nachschlagewerkes (z. B. Internet Movie Database, www.imdb.com). Inwiefern führen die oben genannten vier Sequenzen in die Thematik des Films ein? Worin besteht die expositorische Funktion der Sequenzen speziell im Hinblick auf die Hauptfigur Marcello? Neben den erwähnten beiden Methoden, die ihrerseits auf unterschiedliche Art und Weise, d. h. gegebenenfalls unter Einbezug weiterer Kriterien, angewandt werden können, existieren noch andere Verfahren der Film‐ transkription, vor allem unter Einbezug graphischer Elemente. An den zwei vorgestellten Modellen dürfte jedoch bereits deutlich geworden sein, dass sich eine Filmanalyse, wo es um die Beschreibung des vorgeführten Materials geht, stets auf drei Dimensionen erstrecken muss: auf optische Informationen (was ist zu sehen? ), auf akustische Informationen (was ist zu hören? ) und auf die Zusammenstellung des aufgezeichneten Materials vermittels Schnitt und Montage (welche Abfolge ergibt sich? ). 13.2 Bildebene Für das Kino ist das bewegte Bild charakteristisch. Gleichsam photographi‐ sche Standbilder, Schrifttafeln (im Stummfilm/ film muto) oder eingeblendete Schrift (Untertitel/ sottotitoli) können diese auf Bewegungsabfolgen ausge‐ richteten Aufnahmen unterbrechen oder ergänzen und tragen dann ganz be‐ stimmte Funktionen, die es zu hinterfragen gilt. Erfasst werden die Bilder von der Kamera (macchina da presa oder cinepresa), die als vermittelnde Instanz zwischen den ZuschauerInnen und dem Filmgeschehen steht: Obwohl sie im Normalfall in dieser Rolle gar nicht wahrgenommen wird, weil das Gesehene uns ‚unmittelbar‘ vor Augen steht und uns in einem sogartigen Realitätseffekt in die Bilderwelt hineinzieht, muss immerzu beachtet werden, dass es sich dabei um eine medial vermittelte ‚Wirklichkeit‘ handelt (auch bei dokumen‐ tarischen Aufnahmen! ). Die Kamera ist mehr als nur ein ‚künstliches Auge‘, sie erfasst die Bildinhalte, wählt den Blickwinkel, steuert insgesamt über die Art und Weise des Filmens unsere Wahrnehmung der dargebotenen Inhalte - und wird somit zu einer Erzählinstanz, die analog zu den in Einheit 8 ge‐ nannten Möglichkeiten das Geschehen präsentiert. Im Übrigen gehört auch das von der Kamera nicht Gezeigte (Off/ fuori campo) unter Umständen durch‐ aus zum filmischen Universum, etwa in den spannungsreichen Szenen von Horror- oder Kriminalfilmen, die absichtlich visuelle Informationen vorent‐ halten und sie nur auf der akustischen Ebene andeuten (z. B. über Schreie aus der Ferne). Davon abzugrenzen ist das Voiceover-Verfahren. Es ist der extra‐ 13.2 Bildebene 279 <?page no="280"?> Einstellung Komposition Einstellungsgröße diegetischen Ebene zugeordnet und umfasst bspw. Kommentare oder Mono‐ loge, die der Erzählinstanz oder Figuren, welche das szenische Geschehen selbst betrachten, zugeordnet sind. Der Begriff ‚Einstellung‘ (inquadratura) bezeichnet zunächst einmal, wie ein Bildinhalt von der Kamera erfasst wird. Das Bildformat definiert den Ka‐ der (ebenfalls: inquadratura) als nach vier Seiten begrenztes Bildfeld. In dieser Kadrierung wird ein Ausschnitt aus einem Geschehen vorgenommen. Das Bildfeld kann nach den Kriterien der Komposition hinterfragt werden: die Betonung bestimmter Linien oder Formen, Kontraste zwischen hellen und dunklen Flächen oder Farben, Bezüge zwischen Bildelementen (bspw. das Spannungsverhältnis zwischen einem Einzelnen und der ihm gegenüberste‐ henden Gruppe), auch die Gleichzeitigkeit von statischen und bewegten Ele‐ menten können neben vielen anderen hierbei aufschlussreich sein. Ein zweites Merkmal ist die Größe der Einstellung, für die folgende Raster zur Verfügung stehen, wobei unterschieden wird zwischen Aufnahmen eines größeren szenischen Umfelds (‚campo‘) und vorrangig auf die DarstellerInnen ausgerichteten Aufnahmen (‚piano‘), wie im Folgendem an Einstellungsbei‐ spielen aus Federico Fellinis La dolce vita gezeigt wird: ▶ Panorama oder Weit/ campo lunghissimo (CLL): ein aus großer Distanz gegebener Überblick, etwa über eine Landschaft oder eine Stadt, meist von einer erhöhten Warte aus vorgenommen, evtl. mit einem Weitwinkel- Objektiv oder einer Schwenkbewegung der Kamera eingefangen; Men‐ schen wirken im Rahmen dieser Umgebung verloren, deren Eindruck dominiert (vgl. die römischen Ruinen in Abb. 13.1); ▶ Totale/ totale oder campo lungo (CL): ein einzelner Schauplatz wird im Überblick erfasst; die Figuren und ihr weiteres räumliches Umfeld sind zu erkennen; mit dieser Einstellung kann zu Beginn einer Sequenz ein Handlungsraum vorgestellt werden (vgl. Marcellos Auto in Abb. 13.2); Abb. 13.1 Panorama Abb. 13.2 Totale 280 13 Filmanalyse <?page no="281"?> ▶ Halbtotale/ campo medio (CM): die Figuren sind ganz zu sehen, mit ihnen noch ein Großteil der unmittelbaren szenischen Umgebung; Menschen‐ gruppen und Bewegungen von Figuren im Raum lassen sich somit gut erfassen (vgl. die Fontana di Trevi in Abb. 13.3); ▶ Halbnah/ figura intera (FI): die Figuren füllen in ihrer vollen Größe das Bild; von der räumlichen Umgebung sind nur noch kleinere Anteile im Bild zu sehen; Menschen interagieren gut erkennbar mit ihrer näheren Umgebung, v.-a. mit anderen Figuren (vgl. die Salonszene in Abb. 13.4); Abb. 13.3 Halbtotale Abb. 13.4 Halbnah ▶ Amerikanisch/ piano americano (PA): der Körper wird nur noch vom Kopf bis zur Mitte des Oberschenkels (bspw. wegen des Pistolenhalfters! ) gezeigt (vgl. Marcellos Gestik in Abb. 13.5); ▶ Nah/ piano medio (PM): der Körperausschnitt ist auf Kopf und Teile des Oberkörpers reduziert; in dieser Einstellung können Mimik, Gestik - v. a. als Gesprächsverhalten - besonders gut gezeigt werden (vgl. Marcello beim Schreiben in Abb. 13.6); Abb. 13.5 ‚Amerikanisch‘ Abb. 13.6 Nah ▶ Groß/ primo piano (PP) bzw. primissimo piano (PPP): das Gesicht füllt das Bildfeld von den Schultern ab (PP) oder vollständig (PPP) aus und ermöglicht eine genaue Studie der Mimik der porträtierten Figur, was für die ZuschauerInnen eine Auseinandersetzung mit deren Gefühlen und Gedanken suggeriert (vgl. die Gesichter von Sylvia und Marcello in Abb. 13.7); 13.2 Bildebene 281 <?page no="282"?> Perspektive Aufgabe 13.3 Abb. 13.7 Groß Abb. 13.8 Detail ▶ Detail/ dettaglio oder particolare (dett. bzw. part.): vergrößerte Nahauf‐ nahme eines einzelnen Elements, z. B. einer Hand, dessen Funktion für den Handlungsablauf dadurch stark betont wird (vgl. den Fingerring in Abb. 13.8). Die Wirkung der Einstellungsveränderungen auf die Zuschauerschaft lässt sich als Distanz oder Nähe zum Filmgeschehen auffassen. In Kombination mit der Einstellungsgröße ist auch auf die Kameraperspektive (angolazione) zu achten. Hier kann unterschieden werden zwischen: ▶ Aufsicht/ oblique dall’alto (Vogelperspektive/ prospettiva a vuolo d’uccello): der von oben herab gerichtete Blick suggeriert Überblick und Kontrolle; ▶ Normalsicht/ inquadratura normale: Referenzpunkt ist die Augenpartie der im Film gezeigten Figuren; die ZuschauerInnen befinden sich mit ihnen ‚auf Augenhöhe‘, was den normalen Sehgewohnheiten entspricht; ▶ Untersicht/ oblique dal basso (Froschperspektive/ prospettiva dal basso in alto): das sichtbare Objekt wirkt übermächtig und bedrohlich. ? Um welche Einstellungsgröße handelt es sich im nachfolgenden Beispiel, das die Reporter im Helikopter zeigt? Aus welcher Perspektive ist die Einstellung aufgenommen? Abb. 13.9 Einstellung aus La dolce vita 282 13 Filmanalyse <?page no="283"?> Kameraschwenk und Ka‐ merafahrt Licht, Farbe Die genannten Möglichkeiten werden über die Zeitdauer einer Einstellung zumeist nicht statisch verwendet (immagine fissa), sondern sind Teil eines Bewegungsablaufs. Neben dem Zoom (zoommata), welcher mittels eines Ob‐ jektivs die optische Distanz zum gefilmten Objekt verändert, handelt es sich dabei um Bewegungen der Kamera. Hier wird zwischen Schwenk und Kame‐ rafahrt bzw. Kombinationen aus beiden unterschieden. Der Schwenk (pano‐ ramica) wird als Veränderung der Ausrichtung und des Neigungswinkels auf einem still stehenden Stativ vollzogen, entweder zu den Seiten (orizzontale, f.), nach unten bzw. oben (verticale, f.) oder in Schieflage (obliquo). Die Ka‐ merafahrt (carrellata) setzt die gesamte Kamera-Apparatur mit Stativ in Be‐ wegung, z. B. auf einem Schlitten (carrello), auf einem Kamerawagen (dolly, m.), auf einem fahrenden Auto (camera car, f.) oder an einem Kran (gru, f.). In der Parallelfahrt begleitet die Kamera auf diese Weise ein sich bewegendes Objekt; in der Vorfahrt (avanti, m.) bewegt sie sich auf das Objekt zu, in der Rückfahrt (indietro, m.) von ihm fort bzw. schräg durch den Raum (trasver‐ sale, f.). Die von der Kamera ausgeführten Bewegungen vermitteln den ZuschauerInnen den Eindruck, stärker in das Geschehen auf der Leinwand mit einbezogen zu sein. Im Gegenzug können sich natürlich auch die Objekte vor der Kamera bewegen, was zum Beispiel bei einer Bewegungsrichtung auf die ZuschauerInnen hin ein Gefühl der Bedrohung vermitteln kann. Das Kinobild ist geprägt durch Helligkeitsstufe, Farbton und Sättigungs‐ grad. Man unterscheidet dabei zwischen sichtbarer (Lichtquelle im Bild) oder unsichtbarer Beleuchtung. Die Lichtverhältnisse werden zumeist in natura‐ listischer Manier gemäß unserer Alltagserfahrung gestaltet, darüber hinaus aber auch dem intendierten Charakter der Szene angepasst. ggf. werden durch Spots Details besonders hervorgehoben oder eine expressive Lichtführung wird eingesetzt, um künstlerische Effekte oder Spannung zu produzieren. Die Wahl der Farbtemperatur zwischen Kunst- und Tageslicht (luce artificiale o luce del giorno) erzeugt kalte oder warme Stimmungen. Der Grad der Hellig‐ keit changiert zwischen dem Low-Key-Stil (illuminazione in chiave bassa), der die Bildelemente zum größten Teil in Dunkelheit hüllt, ein Erkennen behin‐ dert und bedrohlich wirken kann, dem Normalstil, der ‚natürliche‘ Farben und gleichmäßig gute Sichtbarkeit erzeugt, und dem High-Key-Stil (illuminazione in chiave alta), der in intensiv strahlendem Licht ebenfalls Details auflöst und eine symbolische Überhöhung des Gezeigten auszudrücken vermag. Davon zu unterscheiden ist ‚hartes‘ Licht, das klare Konturen erzeugt (z. B. im Scheinwerferkegel) und ‚weiches‘, eher diffuses Licht. Die Beleuchtung kann das gefilmte Objekt von vorne ausleuchten (Vorderlicht/ luce frontale), von der Seite (luce laterale), von oben (luce dall’alto), bzw. von unten (luce dal basso) oder im Gegenlicht (controluce) verschwimmen lassen. Seitenlicht oder ein‐ zelnen Lichtspots konturieren beispielsweise Gesichtszüge oder lassen be‐ 13.2 Bildebene 283 <?page no="284"?> Bildinhalte Aufgabe 13.4 stimmte Einzelheiten der Requisiten oder Raumumgebung deutlicher her‐ vortreten. Neben dem Licht vermag auch die Farbgebung, Stimmungen zu erschaffen, was nicht zuletzt auf einer jeweils kulturspezifischen Farbsymbolik beruht, die allerdings nur ungenau erfasst werden kann und eine große Bandbreite an Interpretationen zulässt. Szenen mit dominantem Blau erscheinen vor‐ wiegend leer, kühl und klar, stehen für das Unendliche ebenso wie für Melancholie; Grün suggeriert als Gesichtsfarbe negative Emotionen, kann aber auch als Landschaftseindruck Vitalität verströmen; Gelb wirkt unter an‐ derem freundlich, während Rot mit besonders vielen Assoziationen wie Liebe, Gewalt, Feuer, Gefahr, generell Intensität versehen ist. Unabhängig davon können bestimmte Farben auch mit einer für den jeweiligen Film spezifischen Bedeutung assoziiert sein und Sequenzen miteinander verbinden. Neben der Kameraarbeit und der auf sie ausgerichteten Beleuchtung gilt es schließlich, die Bildinhalte selbst genau zu beschreiben und zu deuten. Da‐ bei sind neben der Gestaltung des Raums (Schauplatz, Kulisse bei Studio- Aufnahmen) die evtl. symbolhaften Gegenstände (Requisiten), die Kostüme und Masken, schließlich die schauspielerischen (und sprecherischen) Leis‐ tungen der Akteure selbst zu betrachten. ? Beschreiben Sie die in dem folgenden Beispiel eingesetzte Beleuchtung. Abb. 13.10 Einstellung aus Federico Fellini: La dolce vita 13.3 Tonebene Nach den Anfängen des Kinos als Stummfilm (film muto) hat sich ab 1927 der Tonfilm durchgesetzt (film sonoro). Die Tonebene des Films (suono), de‐ ren Bestandteile heutzutage zumeist künstlich erzeugt oder in der Post-Pro‐ duktion (postproduzione) überarbeitet werden, umfasst hervorgehobene Ein‐ zelgeräusche und -laute (effetti sonori), eine atmosphärische Tonkulisse, Sprache und Musik. Ist die Lautquelle in der erzählten Welt des Films hör‐ bar, aber nicht im Bild sichtbar (z. B. die Stimme einer Figur im Neben‐ 284 13 Filmanalyse <?page no="285"?> ‚On‘ und ‚Off‘ Rede Atmo Akustischer Raum raum), so befindet sie sich im ‚Off‘; für den Fall einer sprechenden Person wird hier der Begriff ‚Off-Stimme‘ (voce fuori campo) verwendet. Ist ein Sprecher nur für das Kinopublikum, nicht aber im filmischen Raum hörbar, so spricht man von einer ‚Voiceover‘-Technik (voce over). Voiceover kann asynchron (z. B. für einen heterodiegetischen, d. h. außerhalb der filmischen Welt stehenden Erzähler) oder synchron (z.-B. autodiegetischer Gedanken‐ monolog einer Figur) eingesetzt werden. Gelegentlich wird der Begriff ‚Off- Stimme‘ ohne Differenzierung auch für Voiceover gebraucht. Bei der gesprochenen Sprache ermöglicht die Sprechweise im Zusammen‐ hang mit dem Grundcharakter einer Stimme - gerade auch bei der nach‐ träglichen Synchronisierung (durch die SchauspielerInnen selbst oder durch SprecherInnen in anderen Sprachen; doppiaggio) - dem Inhalt des gesproche‐ nen Textes eine verstärkende oder zusätzliche Dimension zu verleihen, etwa beim Ausdruck von Wut oder Pathos, aber auch als ironische Distanz zum Gesprochenen. Dabei ist aufschlussreich, ob die im Film zu sehenden Perso‐ nen selbst sprechen, ob sie miteinander sprechen oder für sich, eventuell sogar zum Publikum gewandt dieses ansprechen (was einer Form von Metalepse gleichkommt; vgl. Einheit 8.2.1); oder ob eine Stimme aus dem Off für die Szene wichtige Informationen liefert bzw. einen Kommentar zur Handlung abgibt (bspw. kann die Voiceover-Stimme speziell im Rahmen einer internen Fokalisierung zum Einsatz kommen). Um eine Einstellung als ‚natürlich‘ oder ‚stimmig‘ zu empfinden, benötigen Zuschauer und Zuschauerinnen in vielen Fällen eine akustische Kulisse, welche sich aus mehr oder minder diskreten Hintergrundgeräuschen zusam‐ mensetzt - eine sog. Atmo. Die Atmo (Atmosphärischer Ton/ ambiente sonoro) bildet Umweltgeräusche ab oder simuliert diese, um der Handlung eine realistische Wirkung zu verleihen, den jeweiligen Raum in einer ‚akustischen Totale‘ durch typische Geräusche zu charakterisieren (Tonlandschaft/ paesag‐ gio sonoro) oder um Spannung zu erzeugen. Häufig wird dabei auf künstlich erzeugte Effektgeräusche (effetti sonori) und stereotypisierte Töne zurückge‐ griffen, die vom Kinopublikum einfach einzuordnen sind (Vogelgezwitscher für Naturidylle, Sirenengeheul für Gefahr). Kehren bestimmte Geräusche in einem Film immer wieder, so können sie durchaus nuancierte Ton-Isoto‐ pien bilden und zu einem bedeutungstragenden Element werden. Synchron eingesetzte musikalische Elemente können Handlungen klangnachahmend paraphrasieren (sog. Underscoring) oder gar ironisch unterlegen, bspw. wenn ein Instrument die Bewegungen der Figuren überzeichnend nachahmt (sog. Mickey-Mousing). Die Tonspur (colonna sonora) hat Teil an der filmischen Narration, weit über die inhaltlichen Aussagen der Dialoge hinaus, die ja bereits über die Stimmmodulation, Akzente oder Sprechlautstärke eine spezielle Ausdrucks‐ seite umfassen. Orte und Zeitpunkte werden akustisch inszeniert, was auf 13.3 Tonebene 285 <?page no="286"?> Filmmusik ! Leitmotiv: ein musikali‐ sches Motiv, das wieder‐ kehrend einer Figur, einer Situation, einem Ort oder Objekt zugeordnet ist das Filmpublikum eine orientierende Funktion ausübt (Zuordnung zu Schau‐ plätzen und historischen Epochen). Die Stereo- oder Mehrkanaltontechnik ermöglicht ferner eine konkrete räumliche Verortung (rechts, links, Raum‐ tiefe) und kann bei intradiegetischen Tonquellen, die im Bild erscheinen, ein Raumgefühl erzeugen. Subjektivierende Toneinstellungen erlauben es, die subjektive Wahrnehmungsposition des erlebenden Subjekts zu simulieren und dabei die subjektive Kameraführung zu ergänzen, bspw. bei gedämpften Unterwassergeräuschen in der Wahrnehmung von Tauchenden. Auch kön‐ nen einzelne Geräusche als Tonakzent gezielt hervorgehoben (‚akustische Naheinstellung‘), der Geräuscheindruck intensiviert (z. B. bei Fausthieben) oder die gerichtete Aufmerksamkeit einer Figur ausgedrückt werden (z. B. in deren Lauschen auf ihr Herzklopfen). Vielfältige Funktionen übernimmt auch die Filmmusik (musica da film). Stammt sie aus einer intradiegetischen Quelle (im On oder im Off), so trägt sie zur Raumgestaltung bei (z. B. in einem Konzerthaus) und kann über typi‐ sche Melodien oder Instrumentierungen einen historischen Zeitabschnitt evozieren. Musik charakterisiert zudem Personen und Handlungen. Als Leit‐ motiv kann sie dabei strukturbildend wirken (etwa als musikalisches Thema, das dem Erscheinen einer Figur zugeordnet ist, vgl. das bekannte ‚James- Bond-Motiv‘), ebenso wie sie als Übergang oder musikalische Klammer Sze‐ nen oder Sequenzen miteinander verbindet und Zusammenhänge stiftet. Die jeweilige klangliche Gestaltung kann der Handlung eine Stimmung unterle‐ gen (Mood-Technik), sie dramatisieren, entschleunigen oder auch parodieren und bewirkt eine emotionale Lenkung des Publikums. Möglich sind ebenfalls kontrapunktische Effekte, die eine Bild-Ton-Schere eröffnet (etwa wenn ge‐ walttätige Szenen mit klassischer Musik unterlegt werden). Das subjektive emotionale Erleben der Figuren oder ihre psychische Verfassung können ebenfalls mit musikalischen Mitteln ausgedrückt werden, die ggf. stark ver‐ zerrt eingesetzt werden (Dissonanzen als Indiz für Anspannung oder Panik). Zugleich kann eine gesamte Szene auf diese Weise von extradiegetischer Seite aus charakterisiert bzw. kommentiert werden, wobei ein Zurückdrängen der Atmo durch die Filmmusik oftmals eine besondere Intensivierung des Ge‐ schehens bedingt oder ihm einen Anstrich von Irrealität verleihen kann. Das gänzliche Verstummen der Tonebene schließlich kann die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen auf die visuellen Handlungselemente lenken oder be‐ fremdlich wirken. Als synästhetische Wahrnehmung können Bilder und/ oder Töne auch weitere Sinneseindrücke suggerieren, z. B. Gerüche, haptische Erfahrung oder Geschmack (etwa bei der Inszenierung der Zubereitung oder des Verzehrs von Speisen). 286 13 Filmanalyse <?page no="287"?> Schnitt Schuss/ Gegenschuss 13.4 Montage Die Abfolge der Einstellungen im fertig gestellten Film entspricht norma‐ lerweise nicht der Reihenfolge der Dreharbeiten. Auch wird nur ein gerin‐ ger Teil des Materials schließlich im Film verarbeitet. Entscheidend für seine künstlerische Gestaltung ist daher der eine Auswahl treffende Schnitt des Materials (taglio) und die anschließende Montage (montaggio) der Frag‐ mente zu einem aus ihnen konstruierten Gesamtkomplex. Selbst wenn das Drehbuch die grobe Vorlage für das Endprodukt liefert, so entsteht die in einem Einstellungsprotokoll erfassbare endgültige Form erst im Laufe ei‐ ner aufwendigen Bearbeitung der Aufnahmen, zu der der Einsatz spezieller Filterverfahren, die Einfügung von gesprochenem (oder geschriebenem) Text, von Geräuschen oder Musik wie auch von computergestützten Spe‐ zialeffekten zählt. Die Montage der Einstellungen zielt im Allgemeinen darauf ab, einen Er‐ zählfluss zu erzeugen, bei dem sich über längere Passagen hinweg eine quasi selbstverständliche Abfolge von aus unterschiedlichen Kamerapositionen aufgenommenen Bildern ergibt (raccordo). Die einzelnen Einstellungen er‐ scheinen dabei als folgerichtig gereihte Stationen einer Handlungskette. Als Beispiel kann das sog. Schuss-Gegenschuss-Verfahren (controcampo) dienen, wie es gerne bei der Inszenierung eines Gesprächs zwischen zwei Dialog‐ partnern verwendet wird. Hier sieht die Kamera der zuhörenden Figur über die Schulter (Overshoulder-Einstellung, ital. inquadratura di quinta) oder übernimmt ihren Blick auf die gerade sprechende Figur; mit der Sprecherin oder dem Sprecher ändert sich sogleich die Kameraperspektive und gibt den Blick auf den aktiven Dialogpartner frei. Abb. 13.11 und 13.12 Beispiele für Schuss-Gegenschuss aus Federico Fellini: La dolce vita: beide Gesprächspartner werden jeweils im Wechsel als Sprechende gezeigt Den ZuschauerInnen fällt diese künstlich arrangierte Abfolge von Einstel‐ lungen zumeist nicht weiter auf, zu sehr entspricht sie ihrer Aufmerksamkeit für die redenden Figuren, deren Text als verbindender roter Faden über die Einstellungswechsel hinwegläuft. Während der stetige Wechsel von Einstel‐ 13.4 Montage 287 <?page no="288"?> Weicher Schnitt Harter Schnitt Achsensprung lungen vom Publikum als ‚natürliche‘ Eigenart des Films vorausgesetzt wird, bildet gleichzeitig die innere Kohärenz der Szenen und Sequenzen eine wich‐ tige Basis des filmischen Erzählens. Aufschlussreich ist an dieser Stelle das Verfahren des weichen Schnitts (passaggio morbido), das die Medialität des Films zugunsten einer Wirklichkeitsillusion in den Hintergrund treten lässt; die Plausibilität der Bilderfolge ist insofern ein Kennzeichen des filmischen Realismus. In einer schlüssigen Abfolge bauen die einzelnen Einstellungen aufeinander auf, folgen dem Geschehen. Überblendungen erlauben in ande‐ ren Fällen das kurzzeitige Verschmelzen zweier aufeinanderfolgender Bilder (dissolvenza incrociata). Im Gegenzug kann die Montage auch anstelle eines solchen unauffälligfließenden Übergangs einen betonten Bruch zwischen zwei Einstellungen er‐ zeugen, etwa bei einer unvermittelten Abfolge von Tag- und Nachtaufnahmen oder unerwarteten Schauplatzwechseln (harter Schnitt/ stocco). Ein ‚jump cut‘ (jump-cut, m.) liegt vor, wenn ein Handlungsablauf durch Ellipsen so unter‐ brochen wird, dass es auf die ZuschauerInnen irritierend wirkt (beispielsweise zwischen den Einstellungen 23 und 24 in Text 13.1). Ein Verfahren, das lange Zeit als Kunstfehler galt, stellt in diesem Zusammenhang der sog. Achsen‐ sprung (scavalcamento di campo) dar, bei dem die Kameraposition die Hand‐ lungsachse zwischen zwei Filmfiguren überspringt, sie also in der Folgeein‐ stellung von der gegenüberliegenden Seite aus beobachtet, was einem realen Beobachter nicht möglich wäre, ohne um die Betrachteten herumzugehen. Ist ein solcher Positionswechsel nötig, so sollte er sich daher über eine Reihe von vermittelnden Zwischenpositionen erstrecken, welche auf nachvollziehbare Art und Weise die Akteure umrundet. Abb. 13.13 und 13.14 Beispiel für einen Achsensprung: Marcello und Sylvia sind zuerst von hinten, dann schräg von vorne zu sehen Bilderfolgen, die gegen unsere Wahrnehmungsgewohnheiten verstoßen, ver‐ weisen also auf die Künstlichkeit des Films und seinen Charakter als Kunst‐ werk, weshalb sich in derartigen Fällen die Frage nach der Funktion eines solchen Vorgehens aufdrängt. In diesem Sinne nutzte bereits das Kino der russischen Avantgarde (Sergej M. Eisenstein, 1898-1948) eine sprunghafte, 288 13 Filmanalyse <?page no="289"?> Plansequenz Formen der Montage assoziative Montagetechnik, welche nicht auf Illusionsbildung ausgerichtet ist. Ein weiteres Kriterium bei der Montage der geschnittenen Einstellungen ist die Frequenz ihrer Abfolge, die zwischen staccatohaftem Tempo oder ele‐ gischer Langsamkeit über die Dauer einer Einstellung entscheidet und zur unterschiedlichen Akzentuierung innerhalb des Films (z. B. als Dynamisie‐ rung des Geschehens oder Ruhepause) eingesetzt werden kann. Von einer Plansequenz (piano-sequenza, m.) spricht man, wenn eine Einstellung über einen längeren Zeitraum ohne Schnitt weitergeführt wird, im Besonderen unter Verwendung einer Reihe von ausgeklügelten Bewegungen der Kamera, und im Sinne einer Sequenz mehrere Handlungseinheiten umfasst. Zugleich erlaubt die Montage die Ausbildung eines Erzählzusammenhangs über die Anordnung von zusammengehörenden Einstellungen innerhalb ei‐ ner oder mehrerer Sequenzen. Die Kausalmontage (montaggio lineare) führt chronologisch Ursache und Konsequenz als Handlungsfolge vor Augen. Eine alternierende Montage (montaggio alternato) bildet zwei oder mehrere gleich‐ zeitig ablaufende Handlungsstränge im Wechsel ab. Unter Schachtelmontage (montaggio inverso) versteht man eine achronologische Aneinanderreihung von Handlungsabschnitten, die Rückblenden, Voraussichten und Gegenwär‐ tiges mischt. Ein Cutaway (cut-away, m.) besteht aus einer Einstellung, die als kurze Unterbrechung nicht die Hauptaktion bzw. die gerade handelnde Figur zeigt, sondern einen Nebenaspekt, z. B. ein begleitendes Detail des Schauplatzes oder die Mimik eines zuhörenden Gesprächspartners. Dadurch können ergänzende Informationen geliefert werden, häufig wird aber in ers‐ ter Linie die Montage von Einstellungen erleichtert, um Brüche zwischen ih‐ nen zu verdecken. Im Cross-cutting (montaggio alternato, auch: montaggio incrociato) wird ein oftmals simultaner Überblick über verschiedene Hand‐ lungsorte erstellt. Die Parallelmontage (montaggio parallelo) stiftet inhaltliche oder symbolische Bezüge zwischen im Wechsel gezeigten längeren Hand‐ lungssträngen. Bei deutlichen Gegensätzen kann sie als Kontrastmontage die ZuschauerInnen assoziativ (Assoziationsmontage/ montaggio connotativo) oder durch Reflexion (intellektuelle Montage/ montaggio intellettuale) zu einer Erkenntnis führen. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die Gegenüberstellung von Szenen aus einem Schlachthaus und der Niederschlagung eines Volks‐ aufstandes in Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925). Im Match Cut (match cut, m.) ergibt sich aus einer Gemeinsamkeit der Bildinhalte in Form und/ oder Bewegung ein ‚passender‘ Übergang zwischen zwei Ein‐ stellungen, die ganz unterschiedlichen Handlungseinheiten, Schauplätzen oder Zeitpunkten angehören, um bei den BetrachterInnen die Assoziation einer Kontinuität, eines inhaltlichen Zusammenhangs zu erzeugen. Werden Texte in das filmische Bild eingeblendet, so handelt es sich um Inserts (in‐ serto). 13.4 Montage 289 <?page no="290"?> Erzählzeit und erzählte Zeit Aufgabe 13.5 Genres Natürlich kann darüber hinaus die chronologische Reihenfolge der Hand‐ lungselemente der erzählten Zeit (tempo del racconto) aufgelöst werden, Handlungsepisoden können übersprungen (Ellipse/ ellissi, m.) oder Sequenzen aus unterschiedlichen Zeiträumen miteinander kombiniert werden, etwa als flash-back (it. flashback, m.) oder flash forward (it. flashforward, m.) (vgl. Ein‐ heit 8.2.2, Anachronie). Auf der Ebene der Erzählzeit (tempo della storia) er‐ lauben Zeitraffer (accelerazione) und Zeitlupe (ralenti, m.) eine Straffung oder Dehnung. ? Worin besteht der Unterschied zwischen dem Schuss-Gegenschuss- Verfahren und der Parallelmontage? 13.5 Filmisches Erzählen Sowohl die visuelle als auch die akustische Vermittlung des Filmgeschehens an die ZuschauerInnen beruht gemeinhin auf einem sorgfältig ausgearbeite‐ ten Konzept. Die Art und Weise, wie die Kamera die Ereignisse in den Blick nimmt, wie auch die Auswahl des Tonmaterials sind Voraussetzungen für die sich in den Köpfen des Publikums vollziehende ‚Lektüre‘ des Films. Aus der Zusammenstellung des Bild- und Tonmaterials in Schnitt, Montage und Syn‐ chronisation entsteht die äußere Gestalt des Films, die Ebene des discorso narrativo, während auf der Ebene der fabula das Geschehen vor der Kamera Schauspielerinnen und Schauspieler in ihrem Sprechen und Handeln zeigt. Die erzählte Handlung besitzt ebenso wie das Drama einen inneren Aufbau mit Exposition, Entfaltung des Konflikts, beschleunigenden und verzögern‐ den Elementen, einem Höhepunkt und einem Schluss, sofern dieser nicht mit Absicht offen gehalten wird. Thema, Fabel/ Plot und Story eines Films werden von einer Filmanalyse ebenso in den Blick genommen wie die in ihm auszu‐ machenden stofflichen oder motivlichen Elemente, die Figurenkonstellation, der sich entwickelnde Konflikt. Innerhalb der Filmgeschichte haben sich dabei eine Reihe von typischen Erzählmustern herausgebildet, die auf Konventio‐ nen beruhen und bestimmte Themen, ihre typischen Stoffe, Motive, Hand‐ lungsmuster, Figurenkonstellationen und ästhetische Verfahren der Inszenie‐ rung und Kameraarbeit umfassen: die Genres. Ihre Grenzen und Merkmale sind nicht immer klar definiert, doch haben sich Genres wie Liebes- oder Kriminalfilm, Western, Science-Fiction, Thriller oder Komödie in der Zu‐ schauer-Wahrnehmung als feste Größen etabliert. Solche Erzählmuster greifen auch auf die Art und Weise der Erzählung über, etwa bei schockierenden harten Schnitten im Horrorfilm. In Analogie zu den in Einheit 8 vorgestellten Kriterien kann die Ebene des discorso auf narrative Verfahren hin untersucht werden, die teilweise schon in die obige 290 13 Filmanalyse <?page no="291"?> Unbeteiligte/ beteiligte Kamera Fokalisierung Darstellung eingeflossen sind. Dafür muss die narratologische Systematik Gérard Genettes (vgl. Einheit 8.2.4) allerdings in Teilen modifiziert werden. Da die Wahrnehmung des Publikums an die Kamera- und Ton-Aufnahmen und deren Montage gebunden ist, stellt sich einerseits die Frage nach der Präsenz der Tonkamera in der Diegese, andererseits die Frage nach der kognitiv-emotionalen Involvierung der ZuschauerInnen in das Geschehen. So kann die Kamera einen nicht markierten Standpunkt einnehmen und so weit hinter den gezeigten Ereignissen zurücktreten, dass ihre Präsenz vom Kinopublikum völlig vergessen wird und die Illusion einer filmischen Transparenz entsteht. Die Kamera nimmt damit die Position einer unbetei‐ ligten Beobachterin ein. Andererseits kann sie jedoch die Geschehnisse auch von einem Standpunkt innerhalb des Geschehens aus vermitteln und als be‐ teiligte Beobachterin den Figuren in ihrem Tun bspw. über Kameraschwenks oder -fahrten folgen (motivierte Kamerabewegungen/ movimenti di camera motivati). Darüber hinaus kann sie selbst aktiv in die Diegese eintreten und als autonome Kamera (camera vivente) ein Eigenleben entwickeln, etwa in ausgeklügelten Kranfahrten oder bei der 360-Grad-Umkreisung von Figuren. Daneben sind unterschiedliche Formen der Fokalisierung zu beobachten. Gibt die Kamera weniger Wissen preis, als es die Figuren oder die Erzählin‐ stanz besitzen, ist eine externe Fokalisierung (focalizzazione esterna) gegeben. So kann der Beginn eines Spielfilms Ort oder Begebenheiten zeigen, deren Bedeutung den ZuschauerInnen (noch) nicht begreiflich ist. In der Regel folgt die Kamera jedoch einer oder - im Wechsel - mehreren Figuren durch die Handlung. Ein solches Verfahren der internen Fokalisierung (focalizzazione interna) überwiegt in fiktionalen, erzählenden Filmen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Fokalisierung auf eine Figur, da die Zuschaue‐ rInnen in ihren Wahrnehmungen an die Erlebnisse der jeweiligen Figur ge‐ bunden werden. Diese focalizzazione su un personaggio folgt somit dem Ge‐ schehen, indem sie einer Figur ihre besondere Aufmerksamkeit widmet, diese begleitet und sie dadurch speziell hervorhebt. Als focalizzazione tra un per‐ sonaggio kann die Kamera sogar das Geschehen aus der Perspektive der Figur selbst erfahrbar machen: die - im Normalfall nur episodisch eingesetzte - sog. subjektive Kamera (camera soggettiva) identifiziert sich mit den visuellen und akustischen Wahrnehmungsmöglichkeiten der erlebenden Figur (vgl. Abb.-13.15). Dabei entspricht der Point-of-View-Shot (piano soggettivo) dem direkten Blick aus deren Augen, während zuvor und/ oder danach montierte ‚objektive‘ Einstellungen für das Publikum den Wahrnehmungszusammen‐ hang klarstellen. Zusätzlich können im Rahmen der internen Fokalisierung Gedanken und Rede einer Figur als Voiceover eingebracht werden und somit sprachlich ihre individuelle Sichtweise artikulieren. Im Falle der Null-Foka‐ lisierung (focalizzazione zero) wiederum weiß die Erzählinstanz mehr als die Figuren und kann ihr Wissen den ZuschauerInnen vermitteln, z. B. durch 13.5 Filmisches Erzählen 291 <?page no="292"?> Aufgabe 13.6 Zusammenfassung gesprochene (Voiceover) oder schriftliche Texte (Inserts) oder im Bild gezeigte Informationen. Ein entsprechendes filmisches Beispiel für den letzteren Fall ist eine Einstellung, die bereits ein Telefon zeigt, bevor dieses für die an der Handlung Beteiligten überraschend klingelt. Abb. 13.15 Marcello wird von Steiners Frau begrüßt, die Einstellung gibt seinen Blick wieder ? Weshalb können Kameraarbeit und Schnitt nur im übertragenen Sinn als Erzählinstanz bezeichnet werden, wie sie in einem fiktionalen literarischen Text vorliegt? Filmanalyse bedient sich eines auf das jeweilige Medium speziell zuge‐ schnittenen Zugriffs, der neben den inhaltlichen Gesichtspunkten vor al‐ lem auf die Art und Weise der filmischen Darstellung ausgerichtet ist. Kameraführung und Montage können in diesem Zusammenhang als die wichtigsten Elemente der Ebene des discorso narrativo ausgemacht wer‐ den, die im Sinne einer Erzählinstanz das Dargebotene vermitteln, wenn‐ gleich zusätzlich auch Erzählerfiguren und Kommentare aus dem ‚Off ‘ diese Aufgabe übernehmen können. Die Analyse kann sich der in Einheit 8 vorgestellten narratologischen Ansätze bedienen, die sich in erster Linie auf den Spielfilm übertragen lassen. Andererseits kann natürlich in wei‐ ten Teilen auf die Kategorien der Dramenanalyse zurückgegriffen werden (vgl. Einheit 6). Dass es sich jedoch nicht um eine schlichte Wiedergabe von Literatur im Film handelt, wird in der folgenden Einheit betrachtet. In jedem Fall ist die filmische Gattung in die an die Analyse anschließende Interpretation mit einzubeziehen, wenn es darum geht, die thematische und ästhetische Ausrichtung des untersuchten filmischen Textes zu er‐ gründen. 292 13 Filmanalyse <?page no="293"?>  Filmedition Federico Fellini: La dolce vita. Italien/ Frankreich 1960. SZ-Cinemathek Nr. 34 (2005). Literatur Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 13.5 Filmisches Erzählen 293 <?page no="295"?> Überblick 14 Exemplarische Filmanalyse Inhalt 14.1 Literaturverfilmung 14.2 Beispiel einer Literaturverfilmung: Il gattopardo von Luchino Visconti 14.2.1 Die Romanvorlage 14.2.2 Luchino Visconti 14.2.3 Roman und Film im Vergleich 14.3 Roberto Rossellini und der italienische neorealismo 14.3.1 Neorealismo in Literatur und Kino 14.3.2 Roma, città aperta Nach der theoretischen Einführung in die Filmanalyse wollen wir uns nun der exemplarischen Betrachtung zweier Filme widmen. Zuerst wenden wir uns einer Literaturverfilmung zu, nämlich dem Roman Il gattopardo von Tomasi di Lampedusa in der Verfilmung von Luchino Visconti. Im Anschluss daran wird mit Roberto Rosselinis Roma, città aperta eines der Hauptwerke des filmischen neorealismo vorgestellt. <?page no="296"?> Aufzeichnung Adaption Transformation 14.1 Literaturverfilmung Die Geschichte des Mediums Film ist reich an Berührungspunkten mit der Literatur, die ihm in der Regel als Textvorlage gedient hat. Ein literarischer Text kann dabei grundsätzlich in drei Formen filmisch umgesetzt werden: 1. Die Aufzeichnung (registrazione) einer Darbietung, z. B. einer Theater‐ aufführung, einer Lesung oder Rezitation, beschränkt sich auf die filmi‐ sche Registrierung des vor der Kamera stattfindenden Auftritts. Die Han‐ delnden werden ggf. lediglich für die Aufnahme gezielt ausgeleuchtet, der Einsatz mehrerer Kameras erlaubt ein zusätzliches Wechselspiel der Per‐ spektiven, wobei jede einzelne Kamera verschiedene Einstellungsgrößen (Zoom) oder Positionsveränderungen vornimmt. Die Kameraarbeit be‐ schränkt sich somit weitgehend auf die Wahrnehmung des Geschehens aus der Sicht eines distanzierten Zuschauers (so in den meisten Fällen von Mitschnitten von Drameninszenierungen oder Opernaufführungen). 2. Die Adaption (adattazione) einer literarischen Vorlage (dramatischer oder narrativer Text) versucht, unter weitgehender Treue zum Original eine Umsetzung der Handlung mit den Mitteln des Films zu gewährleisten. Literaturverfilmungen dieser Art zeichnen sich in der Regel durch eine besondere Textnähe aus, die von den Schauspielern und Schauspielerin‐ nen verkörperten Figuren orientieren sich an den Vorgaben des Bezugs‐ textes, ebenso wie die Handlung in ihrem Umfang und Ablauf diesem im Großen und Ganzen folgt. Abweichungen von der Vorlage können aus den medialen Rahmenbedingungen (Darstellbarkeit, zur Verfügung ste‐ hende Spieldauer etc.) erklärt werden. Ein Beispiel aus diesem Bereich wäre der 1963 von Luchino Visconti (1906-1976) für die Leinwand adap‐ tierte Roman Il gattopardo nach Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896- 1957). 3. Eine Transformation (trasformazione) des Ausgangstextes bemüht sich im Gegensatz dazu um eine freiere Erfassung des vorgegebenen Themas (oder bestimmter Motive), das jedoch aus der Logik des Mediums heraus umgestaltet und interpretiert wird. Der Film gewinnt dadurch gegenüber dem literarischen Text an Eigenständigkeit, wird ihm eher auf einer über‐ geordneten Bezugsebene gerecht oder zielt gar auf seine Kommentierung oder Widerlegung ab. Die zentrale Frage wäre in diesem Fall nicht mehr, wie man eine Vorlage optimal mit filmischen Mitteln zur Darstellung bringen kann, sondern wie ein literarischer Text sich im Medium Film entfaltet hätte (vgl. etwa Luchino Visconti: La terra trema [1948], inspi‐ riert von Giovanni Vergas Roman I malavoglia von 1881). 296 14 Exemplarische Filmanalyse <?page no="297"?> Inhalt des Romans 14.2 Beispiel einer Literaturverfilmung: Il gattopardo von Luchino Visconti Als Beispiel für die Adaption eines Romans für die Kinoleinwand wenden wir uns im Folgenden der Verfilmung des 1958 erschienenen Romans Il gattopardo von Giuseppe Tomasi di Lampedusa zu, der in einer italienisch-französischen Koproduktion unter der Regie von Luchino Visconti 1962 mit Burt Lancaster, Alain Delon und Claudia Cardinale in den Hauptrollen verfilmt wurde. 14.2.1 Die Romanvorlage Der Roman Il gattopardo wurde zwischen 1955 und 1956 verfasst und erschien 1958 zum ersten Mal bei Feltrinelli. Giuseppe Tomasi di Lampedusa zeichnet in seinem historischen Roman den Niedergang des Adelsgeschlechts der Salina nach. Der Autor, der als Fürst von Lampedusa selbst dem sizilianischen Hochadel angehörte, verarbeitet in seinem Roman auch autobiographische Momente. In der Tat erinnert seine Biographie an die Hauptfigur des Romans, Don Fabrizio, genannt Il Gattopardo, der, genau wie der Autor, als sehr gebildeter, der Astronomie verschriebener Aristokrat erscheint. Die Tatsache, dass Lampedusa das Werk an seinem Lebensende verfasste, verstärkt noch das Moment der Autoreflexion. Übrigens bedurfte es der Hilfe des Schriftstellers Giorgio Bassani (1916-2000), dass es überhaupt zur Veröffentlichung des Romans kam. Werfen wir nun einen Blick auf die Handlung: Im Mai 1860, nach der Lan‐ dung der Truppen Garibaldis in Sizilien, muss Don Fabrizio, der Prinz von Salina, mit ansehen, wie seine Ära sich dem Ende zuneigt und die bürgerliche Klasse an die Macht kommt. Sein Lieblingsneffe Tancredi kämpft auf der Seite Garibaldis, um, wie er behauptet, ein Stück weit Einfluss auf die Entwicklung zu behalten. Er versucht den Onkel mit folgenden Worten zu beruhigen: „Se si vuole che tutto rimanga com’è, bisogna che tutto cambi“ (vgl. Text 14.2). Die historischen Ereignisse halten den Principe auch in jenem Sommer nicht davon ab, sich mit der gesamten Familie in die Sommerresidenz nach Don‐ nafugata zu begeben, wo sich bereits erste politische Veränderungen abzeich‐ nen, die durch den neuen Bürgermeister, Don Calogero, einen Bürgerlichen niederer Herkunft mit entsprechendem Auftreten, personifiziert werden. Tancredi, der bis dorthin Concetta, der ältesten Tochter des Gattopardo, zu‐ geneigt war, verliebt sich in Angelina, die Tochter des Bürgermeisters, die sich durch ausgesprochene Schönheit, ein beträchtliches Vermögen und dar‐ über hinaus durch eine überdurchschnittliche Erziehung auszeichnet und da‐ mit in besonderem Maße das aufsteigende Bürgertum vertritt. Ein zentrales Moment des Romans stellt die Ballszene dar, in der der untergehende Adel sich selbst feiert. Am Ende steht der Tod des Principe. Es überleben seine drei unverheirateten Töchter, so dass das Aussterben des Adelsgeschlechts der 14.2 Beispiel einer Literaturverfilmung: Il gattopardo von Luchino Visconti 297 <?page no="298"?> Aufgabe 14.1 Text 14.1 Luchino Viscontis Darstel‐ lungsprinzipien Salina zum Schluss des Romans (1910) zur Gewissheit wird. Gleichsam in einer Kreisstruktur beginnt der Roman mit dem Beten des Rosenkranzes in der hauseigenen Kapelle und schließt mit dem Verlust ihrer Reliquien. Der Machtverlust der Salina berührt somit selbst den Bereich der Kirche. 14.2.2 Luchino Visconti Luchino Visconti wurde 1906 in Mailand geboren, als Sohn des Herzogs Giu‐ seppe Visconti di Modrone und Carla Erbas. Bereits im Elternhaus haben ihn Kunst, Kultur und Lektüren geprägt. Auf zahlreichen Reisen, unter anderem nach Paris, lernte er Jean Cocteau, Kurt Weill und Coco Chanel kennen - Kontakte, die ihm nicht zuletzt ermöglichten, als Assistent Jean Renoirs an dessen Film Une partie de campagne (1936) mitzuarbeiten. In den 1930er Jahren zog Visconti nach Rom, wo er sich den jungen KünstlerInnen anschloss, die sich um die Zeitschrift Cinema gruppierten, und wo er auch zwischen 1942 und 1943 seinen ersten Film (Ossessione) drehte. Während des II. Weltkrieges war er Mitglied der resistenza und widmete sich aus ökonomischen Gründen dem Theater. 1947 begab er sich nach Sizilien, um La terra trema zu drehen. Bis zu seinem Tod 1976 produzierte er zahlreiche erfolgreiche Filme, darunter Morte a Venezia (1971), die Verfilmung von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1913). ? Lesen Sie folgende Stellungnahme Luchino Viscontis vor dem Hin‐ tergrund Ihrer Kenntnisse aus Einheit 13. Beschreiben Sie Viscontis Darstellungsprinzipien. 1 - - - 5 - - - - 10 - - - - Nel corso degli anni credo di aver cambiato il mio metodo di realizzazione solo nel senso che ho semplificato sempre di più. Ho sempre cercato di arrivare a una maggior semplificazione dei mezzi tecnici. Per quel che riguarda il lavoro diretto sugli attori, credo di non aver cambiato niente e di essere invece esattamente come all’epoca di “Ossessione”. Mi sono servito molto poco del Dolly, per non dire mai. Per esempio mi è molto difficile muovere la macchina da presa come fa Fellini. Quando la mia macchina da presa si muove, non si vede. Evidentemente certe volte anch’io ho bisogno di muoverla, di spostarla. Però non lo faccio mai in modo premeditato 1 , ma quando veramente la scena che devo girare me lo suggerisce: non ci penso mai in anticipo. Mi sembra che sia necessario semplificare la scrittura al massimo. Perché lo stile di un grande romanziere è il più spoglio 2 possibile, è quello che comporta il minor numero di aggettivi, il minimo di punteggiatura 3 , il minimo di superlativi, è quello che è più netto. 298 14 Exemplarische Filmanalyse <?page no="299"?> 15 - - - - 20 - - - - 25 - - - - 30 - - - - 35 Mi hanno spesso accusato di una ricerca esagerata nel dettaglio della scenografia 4 , dell’arredamento, dei costumi. Mi sembra un’accusa falsa, perché la ricerca non è mai eccessiva. Se lo è, schiaccerebbe 5 il racconto o i personaggi, e mi pare che non sia mai successo. La necessità, l’esigenza di avere una scenografia giusta, esatta, è anche il desiderio di presentare al pubblico un’opera sempre credibile, una visione storicamente esatta, nella maniera di vivere, di agire, di comportarsi di certi personaggi immersi in un mondo determinato, e che servono a chiarire il contenuto di una vicenda 6 , della storia di un film. Mi sembra che la precisione dei dettagli sia dunque una conseguenza logica, inevitabile. Si raccontano su questa mia ricerca aneddoti ormai leggendari, ma non c’è niente di vero. Sono invenzioni di cronisti che detestano il cinema. Non essendo del mestiere, lo detestano, spinti in qualche modo da un sentimento di invidia, di astio, perché pensano che il cinema sia un ambiente di pazzi, di avventurieri, di donne, di gente che vive in mezzo ai milioni, di gente che vive divertendosi, mentre non sanno che si tratta di una fatica terribile, che è un lavoro che definirei quasi mortale. Eppure in tutta la mia carriera non ricordo di avere mai rigirato una sequenza, di aver mai cambiato una cosa che avevo preparato con precisione. Quando giro, non vedo neanche i giornalieri. Perché non voglio vederli. E questo è un po’ un motivo di disperazione 7 per il mio operatore 8 , che però ora mi conosce bene. Li vedo anche un mese dopo averli girati. Quello che ho in testa e che voglio fare non voglio vederlo realizzato fino a quando non è finito, completato. (Visconti: 1983) - 1 premeditato geplant - 2 spoglio nackt, kahl - 3 punteggiatura Zeichensetzung, Interpunktion - 4 scenografia Bühnenbild bzw. Filmarchitektur - 5 schiaccare hier: dominieren - 6 una vicenda hier: Handlung - 7 disperazione Verzweiflung - 8 operatore Kameramann 14.2.3 Roman und Film im Vergleich Abb. 14.1 Luchino Visconti: Il gattopardo, Ausschnitt: Vorspann Der Verweis auf die Romanvorlage als Paratext 14.2 Beispiel einer Literaturverfilmung: Il gattopardo von Luchino Visconti 299 <?page no="300"?> Aufgabe 14.2 Insgesamt zeichnet sich die Verfilmung durch eine große Treue zur literari‐ schen Vorlage aus. Visconti folgt im Großen und Ganzen der räumlichen Struktur des Romans (Palermo, die Reise nach Donnafugata, Donnafugata, der Ball). Allerdings fallen einige Kapitel weg und werden durch andere ersetzt. So wurden folgende Romankapitel gestrichen bzw. gekürzt: der Besuch Pater Pirrones in seinem Heimatort, die Folgeszenen nach dem Tod des Principe. Dagegen fügt Visconti Kampfszenen zwischen den Anhängern Garibaldis und den Bourbonen in Palermo ein, die im Roman selbst nicht vorkommen. Die auch für den Roman zentrale Ballepisode wird stark gedehnt und nimmt damit zeitlich fast ein Drittel des Films ein. Erzählperspektivisch wird die Fokussierung des Romans auf die Hauptfigur, den Principe, von Visconti noch gesteigert. Don Fabrizio ist fast immer anwesend, er sieht und bewertet alle Geschehnisse. ? Schauen Sie sich folgende Gegenüberstellung des 1. Romankapitels und der entsprechenden Sequenzen des Films an und arbeiten Sie die Unterschiede heraus. Roman Film - Vorspann: der Palazzo der Familie Salina Rosenkranzgebet, Vorstellung des Prin‐ cipe Rosenkranzgebet. Stimmen aus dem Garten - Der Principe erhält die Nachricht der Landung der Truppen Garibaldis (11. Mai) Der tote Soldat im Garten Der tote Soldat im Garten Königliche Audienz - Abendessen im Palazzo Salina, Präsenta‐ tion der Familie - Reise zur Geliebten nach Palermo zu‐ sammen mit Pater Pirrone Reise zur Geliebten nach Palermo zu‐ sammen mit Pater Pirrone Dialog zwischen dem Principe und Tancredi Dialog zwischen dem Principe und Tancredi - Abschied Tancredis Principe mit dem Verwalter, Reflexionen über die politischen Ereignisse - Im Observatorium mit Pater Pirrone Im Observatorium mit Pater Pirrone Mittagessen. Tancredi und Concetta - 300 14 Exemplarische Filmanalyse <?page no="301"?> Aufgabe 14.3 Text 14.2 Giuseppe Tomasi di Lampe‐ dusa: Il gattopardo, 1. Ka‐ pitel (Auszug) Principe wieder in der Verwaltung. Erin‐ nerung an den toten Soldaten im Garten Principe mit dem Sohn Paolo - Brief des Cousins über die Landung - Rosenkranzgebet - - Kämpfe in Palermo ? Lesen Sie folgenden Textauszug aus dem Roman (Kapitel 1, Conversa‐ zione con Tancredi) und vergleichen Sie diesen mit dem darauf folgenden Einstellungsprotokoll. 1 - - - 5 - - - - 10 15 20 - - - - 25 La mattina dopo il sole illuminò il Principe rinfrancato 1 . Aveva preso il caffè ed in veste da camera rossa fiorata di nero si radeva dinanzi allo specchietto. Bendicò 2 poggiava 3 il testone pesante sulla sua pantofola. Mentre si radeva la guancia destra, vide nello specchio, dietro la sua, la faccia di un giovanotto, un volto magro, distinto, con un’espressione di timorosa beffa 4 . Non si voltò, e continuò a radersi. “Tancredi, cosa hai combinato la notte scorsa? ” “Buongiorno, zio. Cosa ho combinato? Niente di niente: sono stato con gli amici. Una notte santa. Non come certe conoscenze mie che sono state a divertirsi a Palermo.” Il Principe si applicò a radere bene quel tratto di pelle difficoltoso fra labbro e mento. La voce leggermente nasale del nipote portava una tale carica 5 di brio giovanile che era impossibile arrabbiarsi; sorprendersi, però, poteva forse esser lecito. Si voltò e con l’asciugamano sotto il mento guardò il nipote. Era in tenuta da caccia, giubba 6 attillata 7 e gambaletti 8 alti. “E chi erano queste conoscenze, si può sapere? ” “Tu, zione, tu. Ti ho visto con questi occhi, al posto di blocco di villa Airoldi, mentre parlavi col sergente. Belle cose, alla tua età … ! e in compagnia di un reverendissimo! I ruderi libertini 9 ! ” Era davvero troppo insolente. Credeva di poter permettersi tutto. Attraverso le strette fessure delle palpebre gli occhi azzurro-torbido, gli occhi di sua madre, i suoi stessi occhi lo fissavano ridenti. Il Principe si sentì offeso: questo qui veramente non sapeva a che punto fermarsi, ma non aveva l’animo di rimproverarlo; del resto aveva ragione lui. “Ma perché, sei vestito così? Cosa c’è? Un ballo in maschera di mattina? ” Il ragazzo era diventato serio: il suo volto triangolare assunse una inaspettata espressione virile. “Parto, zione, parto fra un’ora. Sono venuto a dirti addio.” Il povero Salina si senti stringere il cuore. “Un duello? ” “Un grande duello, zio. Un duello con Franceschiello Dio Guardi. Vado nelle montagne a Ficuzza; non lo dire a nessuno, soprattutto non a Paolo. Si preparano grandi cose, zio, ed io non voglio restare a casa. Dove del resto mi acchiapperebbero subito se vi restassi.” Il Principe ebbe una delle sue solite visioni improvvise: una scena crudele di guerriglia, schioppettate 10 14.2 Beispiel einer Literaturverfilmung: Il gattopardo von Luchino Visconti 301 <?page no="302"?> Text 14.3 Einstellungsprotokoll zu Lu‐ chino Visconti: Il gatto‐ pardo (Auszug) 30 - - - - 35 - - - - 40 - - - - 45 nei boschi, ed il suo Tancredi per terra, sbudellato 11 come quel disgraziato soldato. “Sei pazzo, figlio mio. Andare a mettersi con quella gente. Sono tutti mafiosi e imbroglioni 12 . Un Falconeri dev’essere con noi, per il Re.” Gli occhi ripresero a sorridere. “Per il Re, certo, ma per quale Re? ” Il ragazzo ebbe uno di quei suoi accessi di serietà che lo rendevano impenetrabile e caro. “Se non ci siamo anche noi, quelli ti combinano la repubblica. Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi. Mi sono spiegato? ” Abbracciò lo zio un po’ commosso. “Arrivederci a presto. Ritornerò col tricolore.” La retorica degli amici aveva stinto un po’ anche su suo nipote; eppure no, nella voce nasale vi era un accento che smentiva l’enfasi. Che ragazzo! Le sciocchezze e nello stesso tempo il diniego delle sciocchezze. E quel suo Paolo che in quel momento stava certo a sorvegliare la digestione di Guiscardo! Questo era il figlio suo vero. Il Principe si alzò in fretta, si strappò l’asciugamani dal collo, frugò 13 in un cassetto. “Tancredi, Tancredi, aspetta! ” Corse dietro il nipote, gli mise in tasca un rotolino di onze d’oro, gli premette la spalla. Quello rideva “Sussidi la rivoluzione, adesso! Ma grazie, zione, a presto; e tanti abbracci alla zia.” E si precipitò giù per le scale. (Lampedusa: 1959, 40 ff.) - 1 rinfrancato hier: aufgemuntert - 2 Bendicò Hund des Principe - 3 poggiare lehnen - 4 beffa Spott - 5 carica hier: Schwung - 6 giubba Waffenrock - 7 attuata enganliegend - 8 gambaletti Gamaschen - 9 ruderi libertini grobe Wüstlinge - 10 schioppettata Flintenschuss - 11 sbudellato getötet - 12 imbroglione Betrüger - 13 frugare kramen Nr. Dauer in Sek. Kamera-Akti‐ vitäten Beschreibung des Sichtbaren Tonspur 55 34 Halbnah/ Aufsicht Schwenkvon un‐ ten nach oben/ Ranfahrt Nah Die Dogge des Principe, Principe von hinten beim Rasieren, das Gesicht Tancredis erscheint im Spiegel, Gespräch der beiden T: Buongiorno zio! P: Tancredi! Che cosa hai combinato sta notte? T: Sta notte? Niente di niente, zio. Sono stato con gli amici. Una notte santa. Non come certe conoscenze mie che sono state a diver‐ tirsi giù a Palermo. 56 4 Amerikanisch Principe und Tancredi im Gespräch, Principe von hinten, Tancredi von vorne, leicht gebeugt, entfernt sich vom Spie‐ gel, setzt sich P: E chi sarebbero queste tue conoscenze? 302 14 Exemplarische Filmanalyse <?page no="303"?> 57 14 Nah/ Aufsicht Tancredi sitzt im Sessel vor einem Spiegel. Sein Profil im Spiegel sicht‐ bar, spricht zum Principe T: Tu stesso, zione, tu stesso! Ti ho visto con questi occhi a Villa Ai‐ roldi, al posto di blocco mentre parlavi con il sergente. Belle cose, alla tua età! E insieme a un Reverendissimo! Poi. Oh! 58 8 Untersicht/ Nah Principe vor dem Spie‐ gel sich rasierend. Ist mit der Rasur fertig. Trock‐ net sich mit einem Hand‐ tuch das Gesicht ab. T: I ruderi libertini! P: E dappertutto, è vero! 59 4 Nah/ Aufsicht Tancredi, immer noch vor dem Spiegel sitzend, sagt nichts und lächelt zufrieden. Bewegt die Hand hin und her. P: Memè! 60 17 Nah Schwenk nach links Amerikanisch Principe, betrachtet sich im Spiegel und geht be‐ gleitet von der Kamera zum nächsten, großen Spiegel. Spricht zu Tancredi und dreht sich zu ihm um. P: Ma perché sei ves‐ tito cosi? Che succede? Un ballo in maschera di mattina? 61 4 Nah/ Aufsicht Tancredi spricht zum Onkel. Hinterkopf im Spiegel T: Parto fra poco, zio. Parto fra un’ora. Sono venuto salutarti. 62 6 Nah/ Untersicht Onkel vor dem Spiegel, zu Tancredi gewendet und zu ihm sprechend P: Perché? Dove vai? Un duello? 63 7 Nah/ Normalsicht Tancredi immer noch vor dem Spiegel sitzend, beugt sich nach vorn zum Onkel hin und spricht emphatisch zu ihm T: Si un gran’ duello, zio. Un duello con il Re, con Franceschiello. Vado nelle montagne, a Ficuzza. Si preparano grandi cose, zio, ed io non voglio restare a casa. Dove del resto mi acchiapperebbero subito. 64 3 Amerikanisch/ Untersicht Legt die Manschetten‐ knöpfe an, ist seitlich im Spiegel sichtbar, schaut skeptisch auf den Neffen und hört diesem zu. P: Sei pazzo a metterti con quelli. Sono ma‐ fiosi. Tutti imbroglioni. Un Falconeri sta con noi. Per il Re. 14.2 Beispiel einer Literaturverfilmung: Il gattopardo von Luchino Visconti 303 <?page no="304"?> Text 14.4 Sequenzprotokoll zu Lu‐ chino Visconti: lì gatto‐ pardo (Auszug) Die inhaltlichen Bezüge des Gesprächs in dieser Sequenz und ihre Stellung im Film werden beim Blick auf das Sequenzprotokoll der ersten 15 Minuten deutlich. 00’00 Sequenz 1: Vorspann Blauer Himmel. Garten und Villa der Familie Salina. Terrasse der Villa (zugleich eingeblendeter Vorspann) 02’47 Sequenz 2: Rosenkranz In der Villa. Die Familie beim Rosenkranzgebet. Kamera auf die verschie‐ denen Personen bzw. Personengruppen der Familie gerichtet. Stimmen aus dem Garten dringen ins Haus. 05’32 Sequenz 3: Schlechte Nachrichten Diener berichtet von dem Fund des toten Soldaten im Garten und überbringt dem Principe einen Brief mit der Nachricht von der Landung der Truppen Garibaldis. Zusammenbruch der Principessa angesichts dieser Nachricht. 08’10 Sequenz 4: Der tote Soldat im Garten Principe erscheint auf der Freitreppe zum Garten. Wieder in der Villa, Principe beruhigt die Principessa. Familie fängt wieder an zu beten. Toter Soldat unter einem Baum im Garten. 10’20 Sequenz 5: Fahrt nach Palermo Principe und Padre Pirrone in der Dunkelheit in der Kutsche auf dem Weg nach Palermo. Wachposten lässt die Kutsche passieren. Padre steigt aus. Principe in der Stadt in einer Gasse. Vor der Tür seiner Geliebten bzw. Dirne. Diese lässt ihn ein. 13’25 Sequenz 6: Gespräch des Principe mit Tancredi Principe bei der Rasur. Tancredi kommt hinzu, um sich von ihm zu verabschieden. Tancredi verlässt den Raum. […] Abb. 14.2 Abb. 14.3 304 14 Exemplarische Filmanalyse <?page no="305"?> Aufgabe 14.4 Aufgabe 14.5 Aufgabe 14.6 Aufgabe 14.7 Antifaschismus und Enga‐ gement Abb. 14.4 Abb. 14.5 ? Ordnen Sie mit Hilfe des Einstellungsprotokolls (Text 14.3) die Film‐ ausschnitte aus Luchino Viscontis Il gattopardo den Einstellungen zu. ? Was sagt die Kameraführung während des Gesprächs über die Bezie‐ hung zwischen Tancredi und dem Principe aus? ? Was lässt sich über die Fokalisierung in dieser Sequenz aussagen (vgl. Einheit 13.5)? ? Analysieren Sie die Bedeutung der Spiegel in dieser Sequenz. 14.3 Roberto Rossellini und der italienische neorealismo Im Anschluss an die Beispielanalyse zu Viscontis Il gattopardo soll die vorliegende Einheit noch eine der wichtigsten Bewegungen innerhalb der italienischen Literatur und Filmkunst nach dem II. Weltkrieg vorstellen, den neorealismo. Am Beispiel eines seiner Schlüsselwerke, Roma, città aperta, können schließlich noch einmal grundlegende Fragestellungen der Film- und Lextanalyse erprobt werden. 14.3.1 Neorealismo in Literatur und Kino Zwischen 1940 und 1950 formierte sich bei zahlreichen Intellektuellen und KünstlerInnen in der Aufarbeitung der Jahre um den II. Weltkrieg eine neue Geisteshaltung, die in Anbetracht der faschistischen Barbarei ein neues so‐ ziales und politisches Engagement forderte. Zwar handelt es sich beim neo‐ realismo um keine einheitliche ‚Schule‘, doch sind zahlreiche Versuche un‐ 14.3 Roberto Rossellini und der italienische neorealismo 305 <?page no="306"?> Hinwendung zur Alltags‐ realität ternommen worden, die Vielzahl der zu dieser Bewegung gerechneten KünstlerInnen auf mehrere gemeinsame Nenner zu bringen (vgl. Einheit 9.2). Wichtigstes gemeinsames Thema bei ihnen ist die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, mit der Besetzung Italiens durch deutsche Truppen und mit den entbehrungsreichen Lebensverhältnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Der italienische Widerstand, die resistenza, ist daher immer wieder in den Blick genommen worden, ebenso die wirtschaftliche und moralische Alltags‐ wirklichkeit der Arbeiterschaft oder der sozial benachteiligten Schichten, was deutliche Bezüge zur Literatur des verismo erkennen lässt. Unterstrichen wird der Eindruck einer Spiegelung der Realität in formal‐ ästhetischer Hinsicht durch die genaue Schilderung von Details; das einfache Volk, das sich im Zentrum der Aufmerksamkeit befindet, wird in seiner Spra‐ che, seiner Art sich zu kleiden, seinen Gewohnheiten und in seiner Weltsicht vorgestellt. Im Kinofilm spielen im Freien gedrehte Szenen, teils in den Trüm‐ mern der kriegsversehrten Städte, eine wichtige Rolle, da sie eine Atmosphäre fern der artifiziellen Kulissen evozieren. Die SchauspielerInnen selbst sind oftmals AmateurInnen, mitunter sogar in den Hauptrollen, so dass sich die Art und Weise ihrer Darstellung ebenfalls deutlich von den professionellen Filmproduktionen der unmittelbaren Vorzeit abhebt. Aus der Forderung nach einer Hinwendung zur sozialen Wirklichkeit, wie sie sich der neorealismo als Grundanliegen setzte, leitete sich eine spezifische Rolle der Intellektuellen ab, die mit ihrem Engagement - gerade auch in der künstlerischen Produktion, sei es nun der literarischen oder der cineastischen - Flagge zeigen wollten. Darin findet sich nicht zuletzt eine klare Absage an die apolitische Literatur der Dekadenz und des Hermetismus. Dem Konzept von der Autonomie der Kunst wurden zugleich Solidarität, Gerechtigkeit, Hu‐ manität, moralisches Verantwortungsbewusstsein und (politische) Freiheit als gelebte Ideale entgegengestellt. Zu den wichtigsten neorealistischen AutorInnen und Texten zählen Italo Calvino (Il sentiero dei nidi di ragno, 1947; Ultimo viene il corvo, 1949), Elio Vittorini (Conversazione in Sicilia, 1941; Uomini e no, 1945), Beppe Fenoglio (Il partigiano Johnny, postum 1968) und Carlo Cassola (La ragazza di Bube, 1960). An einflussreichen Regisseuren des neorealistischen Spielfilms seien neben Roberto Rossellini auch der oben vorgestellte Luchino Visconti (Ossessione, 1943; La terra trema, 1948), Vittorio De Sica (Ladri di biciclette, 1948; Miracolo a Milano, 1951) und Giuseppe De Santis (Riso amaro, 1949) genannt. 14.3.2 Roma, città aperta Noch während des Krieges begannen die Vorarbeiten zu einem der weg‐ weisenden neorealistischen Filmprojekte, das von Roberto Rossellini zum 306 14 Exemplarische Filmanalyse <?page no="307"?> Inhaltsangabe Aufgabe 14.8 Großteil auf eigene Kosten produziert wurde und 1945 unter dem Titel Roma, città aperta in die italienischen Kinos kam. Es eröffnet Rossellinis ‚Trilogia della guerra antifascista‘, die noch Paisà (1946) und Germania anno zero (1946) umfasst. Skizzenhaft kann der Inhalt des Films wie folgt zusammengefasst werden: Die Handlung spielt im von deutschen Truppen besetzten Rom. In episodi‐ scher, lockerer Reihung werden zunächst verschiedene Figuren eingeführt, die der gemeinsame Widerstand gegen die Gewaltherrschaft vereint: Der kommunistische Ingenieur Manfredi wird von der Gestapo gesucht und muss bei einem Freund, dem Drucker Francesco, Zuflucht suchen. Dabei lernt er dessen Verlobte Pina, eine verwitwete Mutter, und deren Sohn Marcello ken‐ nen. Dem Netz der resistenza gehört im Weiteren der Pastor Don Pietro an, der aus christlicher Überzeugung handelt. Unerkannt verüben auch die Kin‐ der unter Leitung des gehbehinderten Romoletto Sabotage-Aktionen. Auf der Gegenseite finden sich der römische Oberbefehlshaber der Gestapo Bergmann und seine bisexuelle Partnerin Ingrid. Diese hat die drogensüchtige Marina - die ehemalige Freundin Manfredis - von sich abhängig gemacht. Die als Schauspielerin gescheiterte Marina lässt sich zudem wie ihre Freundin Lauretta, Pinas Schwester, als Mätresse mit deutschen Besatzungsoffizieren ein, um sich einen luxuriösen Lebensstandard leisten zu können. Marina ist es auch, die schließlich Manfredi bei der Gestapo denunziert. Er wird mit Don Pietro verhaftet und in dessen Beisein von der SS zu Tode gefoltert. Don Pietro stirbt am Ende des Films ebenfalls den Tod eines Märtyrers: Er wird von deutschen SS-Soldaten hingerichtet, während am Rande des Exekutionsortes die Schar der für die Freiheit kämpfenden Kinder solidarisch eine Erkennungsmelodie der resistenza pfeift. ? Erstellen Sie auf der Grundlage der Inhaltsangabe eine Figurenkons‐ tellation. Benennen Sie auch den der Handlung zugrunde liegenden Konflikt. Roma, città aperta gilt als erster Film des befreiten Italien. Die Darstellung der resistenza-Thematik wird dabei über alle ideologischen Klüfte hinweg zum einigenden Band des unverdorbenen italienischen Volkes ausgestaltet: Manfredi vertritt einen ebenso aufgeschlossenen Kommunismus wie Don Pietro einen humanitären Katholizismus; beide stehen in Verbindung zu monarchistischen Widerstandskämpfern. Zudem werden sie unterstützt von weltanschaulich neutralen einfachen MitbürgerInnen, verkörpert an erster Stelle von der warmherzigen und in Alltagsnöten befangenen Pina. Eine allegorische Ebene eröffnen die auf eigene Rechnung und in Unwissenheit der Erwachsenen handelnden Kinder um Romoletto: Sie repräsentieren die Zu‐ 14.3 Roberto Rossellini und der italienische neorealismo 307 <?page no="308"?> Aufgabe 14.9 Aufgabe 14.10 kunft des italienischen Volkes, das sich in ihrer Gestalt durch Mut, Solidarität und Optimismus auszeichnet, während der sprechende Name ihres Anführers auf die Stadt Rom verweist. Im Gegenzug eröffnet sich durch die negative Zeichnung der deutschen Be‐ satzerInnen ein imagologisches Untersuchungsfeld. Zwar wird auch hier im Verlauf der Filmhandlung differenziert und der deutsche Offizier Hartmann artikuliert, als er betrunken ist, seine Kritik am ‚arischen Übermenschentum‘ und prophezeit den Nazis hasserfüllte Vergeltung. Doch dominieren die Vertreter eines unmenschlichen Faschismus: der grausame Gestapo-Chef Bergmann und seine pervertierte Partnerin Ingrid. ? Beschreiben Sie die folgenden Einstellungen aus Roberto Rossellinis Roma, città aperta im Hinblick auf die Darstellung der Figuren, im ersten Fall von Gestapo-Chef Bergmann und Ingrid, im zweiten Fall des zu Tode gefolterten Manfredi. Abb. 14.6 Bergmann und Ingrid Abb. 14.7 Der geschundene Manfredi Die beiden Einstellungen mögen verdeutlichen, wie Rossellini die Boschaft seines Filmes gestalterisch umsetzt. Dieselbe Kontrastwirkung wird über das Verfahren der Parallelmontage noch gesteigert: Die Folter Manfredis durch die SS-Schergen wird immer wieder von der zeitgleich ablaufenden Hingabe Marinas an Ingrid bzw. Hartmann unterbrochen. Insgesamt bleibt die Präsenz des Regisseurs bzw. eines ‚Erzählers‘ sehr dezent. Eine Ausnahme bildet die erste Einstellung des Films (Abb. 14.8), in der sich Bild und Schrift miteinander verbinden. ? Wie ist der eingeblendete Kommentar zu deuten? Verfassen Sie ein Einstellungsprotokoll zur ersten Filmsequenz (0’45-4’15), in der Manfredi sich vor den SS-Soldaten in Sicherheit bringen kann. 308 14 Exemplarische Filmanalyse <?page no="309"?> Aufgabe 14.11 Abb. 14.8 Vorspann zu Roberto Rossellini: Roma, città aperta Eine andere Möglichkeit, den Erzählerstandpunkt auf der inhaltlichen Ebene zu artikulieren, besteht darin, Figuren als regelrechtes Sprachrohr zu be‐ nutzen, so Manfredi im vertrauten Gespräch mit Pina, ebenso Don Pietro während des Verhörs durch Bergmann oder der Offizier Hartmann in der Konfrontation mit diesem. Bisweilen vermittelt indes ebenfalls die Kamera‐ führung ein besonderes Interesse für einzelne Figuren. In den nachfolgenden beiden Einstellungen verabschiedet sich Francesco von Pinas Sohn Marcello, der ihn nun - nach der Ermordung seiner Mutter durch deutsche Soldaten - als seinen neuen ‚Vater‘ anerkennt. ? Welche Erzählperspektive suggerieren die beiden Einstellungen aus Roberto Rossellinis Roma, città aperta? Abb. 14.9 Francesco und Marcello Abb. 14.10 Blick auf den fortgehenden Francesco Berühmtheit erlangte Roma, città aperta jedoch für die in der Regel vorherr‐ schende Neutralität der Erzählhaltung. Die Kamera scheint die Geschehnisse wie von der Warte eines unbeteiligten Beobachters aus einzufangen, was 14.3 Roberto Rossellini und der italienische neorealismo 309 <?page no="310"?> Aufgabe 14.12 Aufgabe 14.13  Rossellinis Stil die Charakterisierung als cinema temonianza eingetragen hat. Die Einstellungen erfassen alltägliche Szenen (zumal Straßenszenen) in beinahe dokumentarischer Art und Weise, wobei die Banalität der Schau‐ plätze und so mancher Figuren mit dem größtenteils episodischen Aufbau des Films korreliert, der durch klare Schnitte untergliedert wird. Unter den Hauptfiguren wird zwar dem Priester, gemessen an der Anzahl seiner Auftritte, eine gewisse Vorrangstellung zuteil, dennoch handelt der Film eher von einem Kollektiv schicksalhaft miteinander verbundener Menschen als von Ausnahmegestalten. ? Erschließen Sie ausgehend von obigen Erläuterungen oder im Zuge einer Betrachtung des Films, welcher Grad an Individualisierung die Gestaltung der Figuren prägt (vgl. Einheit 6.2). ? Vergleichen Sie abschließend, auf welche Art und Weise jeweils die Stadt Rom in Rossellinis Roma, città aperta und in Fellinis La dolce vita als Schauplatz in die Filmhandlung einbezogen wird. Filmeditionen Roberto Rossellini: Rom, offene Stadt/ Roma, città aperta. Italien 1945. SZ-Cinema‐ thek Nr.-62 (2006). Luchino Visconti: Der Leopardi/ Il gattopardo. Frankreich/ Italien 1963. SZ-Cinema‐ thek Nr.-1 (2005). Literatur Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Il gattopardo. Milano: Feltrinelli 1959. Luchino Visconti: Fra cento modi, uno, in: L’Illustrazione italiana 1983, zitiert nach: http: / / www.luchinovisconti.net/ visconti_al/ visco nti_cento_modi.htm (16.08.07). Weiterführende Literaturhinweise finden Sie auf www.bachelor-wissen.de. 310 14 Exemplarische Filmanalyse <?page no="311"?> Abbildungsverzeichnis Sämtliche Abbildungen sind, sofern nicht anders vermerkt, Wikimedia Com‐ mons entnommen. Abb. 1.1: Gaspara Stampa (1523-1554). Abb. 1.2: Giovanni Boccaccio (1313- 1375). Abb. 1.3: Vordere Umschlagseite des Buchs Zang Tumb Tumb (1914) von Filippo Tommaso Marinetti. Abb. 1.4: Marcel Duchamp: Fountain (1917). © Association Marcel Duchamp/ VG Bild-Kunst, Bonn 2024. Abb. 1.5: Jesse Bransford: Head (Michel Foucault). 2004, 24,1 × 31,7 cm. Acryl und Graphit auf Papier. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Feature Inc. Abb.-1.6: Umberto Eco fotografiert auf der Frankfurter Buchmesse 2011. Abb. 1.7: Carlo Gozzi (1720-1806). Abb. 1.8: Dichtung im Aufschreibesystem von 1800 (Originalabbildung). Abb.-1.9: Literatur im Aufschreibesystem von 1900 (Originalabbildung). Abb. 2.1: Aristoteles (384-322 v. Chr.). Marmor, römische Kopie nach dem griechischen Bronze-Original von Lysippos (um 330 vor Chr). Museo Nazionale Romano di Palazzo Altemps, Rom. Abb.-2.2: Quintilian (35-ca. 96 n. Chr.). Schedelsche Weltchronik (1493). Abb. 2.3: Massimo Bellina: Rota vergilii/ Ruota di Virgilio © Massimo.Bellina 2022 Abb. 2.4: Die drei Stilarten nach dem sog. ‚Rad des Vergil‘ des Johannes de Garlandia (ca. 1195-1272) (eigene Tabelle). Abb. 2.5: Iulius Caesar Scaliger (1484-1558). Abb. 2.6: Francesco Hayez: Portrait des Alessandro Manzoni (1841). Öl auf Leinwand, Pinacoteca di Brera, Mailand. Abb. 2.7: Ausdifferen‐ zierung des Gattungssystems am Beispiel Erzählprosa (Originalabbildung). Abb. 2.8: Herkulaneischer Meister: Portrait eines Mädchens (um 50 n. Chr.). Wandmalerei, Museo Archeologico Nazionale, Neapel. Abb. 2.9: Literatur als Kommunikationsnetz (Originalabbildung). Abb. 2.10: Virgil Solis: Thalia, Die Muse der Komödie (1562). Abb.-3.1: Mittelalterliche Vorlesung. Miniatur aus dem 14. (? ) Jahrhundert. Abb. 3.2: Karlsruher Virtueller Katalog (Screenshot). Abb. 3.3: Beispiel für Literaturrecherche in der Romanischen Bibliographie (eigene Grafik). Abb. 3.4: MLA International Bibliography (Screenshot). Abb. 4.1: Der hermeneutische Zirkel als Kreismodell (Originalabbildung). Abb. 4.2: Strukturanalyse (Schritt 1 und 2) (Originalabbildung). Abb. 4.3: Sprachzeichen: Ausdrucks- und Inhaltsseite (eigenes Beispiel). Abb. 4.4: Beispiel für Isotopien (Originalabbildung). Abb. 5.1: Andrea dal Castagno: Francesco Petrarca (um 1450). Fresko auf Holz, Galleria degli Uffizi, Florenz. Abb.-5.2: Gian Lorenzo Bernini: Daphne und Apoll. Marmor, Villa Borghese, Rom. Abb. 5.3: Petrarca und Apoll im Schatten eines Lorbeerbaums. Holz‐ schnitt einer Canzoniere-Ausgabe von 1513. Abb. 5.4: Portrait von Laura in der laurentianischen Bibliothek, Florenz. Abb. 5.5: Michelangelo Buonarroti: Vittoria Colonna (um 1540). British Museum, London. Abb. 5.6: Villa D’An‐ <?page no="312"?> nunzios in Gardone Riviera. Foto von Kerstin Gehring. Abb. 5.7: Chiasmus der Verbformen „odo“ und „vedo“ (Originalabbildung). Abb. 6.1: Jacques Callot: Folge der „Balli di Sfessania“, Frontispiz, um 1622, Paris, Bibliothè‐ que Nationale, Cabinet Estampes. Abb. 6.2: Jean Fouquet: Martyrium der hl. Apollonia. Miniatur aus dem Stundenbuch des Étienne Chevalier (15. Jh.). Musée Condé, Chantilly. Abb. 6.3: Niccolò Macchiavelli (1469-1527). Abb. 6.4: Torquato Tasso (1544-1595). Abb. 6.5: Giuseppe Giacosa (1847- 1906). Abb.-6.6: Römische Theatermasken. Mosaik (um 100 v. Chr.), Kapito‐ linische Museen, Rom. Abb. 6.7: Vittorio Alfieri (1749-1803). Lithographie aus dem 19. Jahhundert. Abb. 6.8: Maurice Sand: Pantalone. Maurice Sand, Masques et bouffons (Comédie Italienne). Paris, Michel Lévy Frères, 1860. Abb.-6.9: Die Figurenkonstellation in D’Annunzios La città morta (Original‐ abbildung). Abb. 6.10: Gustave Moreau: Ödipus und die Sphinx (1864). Öl auf Leinwand, Metropolitan Museum of Art, New York. Abb. 6.11: Hand‐ lungsentwicklung der klassischen Tragödie als Kurvendiagramm (Original‐ abbildung). Abb. 7.1: Alessandro Longhi: Carlo Goldoni (18. Jahrhundert). Öl auf Leinwand. Abb. 7.2: Gabriel Bella: Teatro San Samuele di Venezia (18 Jh.). Abb.-7.3: Départ des comédiens italiens en 1697. Stich von L. Jacob nach einem Gemälde von Antoine Watteau, Privatbesitz, Wikimedia Commons, Huster. Abb. 7.4: Florenz um 1490. Holzschnitt aus der Schedelschen Welt‐ chronik (Nürnberg 1493), fol. lxxxvi v. und lxxxvii r. Abb. 7.5: Eleonora Duse als Mirandolina (1891). Reproduktion Atelier Audouard, Barcelona. Abb.-7.6: Maurice Sand: Columbina (1683). Maurice Sand: Masques et bouf‐ fons (Comédie Italienne), 2 Bände, Paris: A. Lévy, 1862. Abb. 8.1: Ludovico Ariosto (1474-1533). Abb.-8.2: Ludovico Ariostos Orlando furioso. Stich von Gustave Doré (1879). Abb.-8.3: Giovanni Boccaccio: Decameron. Illustration aus einer Ausgabe von 1492. Abb. 8.4: François-Xavier-Pascal Fabre: Ugo Foscolo (1813). Biblioteca Nazionale, Florenz. Abb. 8.5: Antonino Gandolfo: Luigi Capuana. Abb. 8.6: Heterodiegetischer Erzähler (Originalabbildung). Abb. 8.7: Homodiegetischer Erzähler (Typ 1 und 2) (Originalabbildung). Abb. 8.8: Autodiegetischer Erzähler (Originalabbildung). Abb. 8.9: Narrative Ebenen (Originalabbildung). Abb.-8.10: Möglichkeiten des Zeitverhältnisses (Originalabbildung). Abb. 8.11: Externe Fokalisierung, Interne Fokalisierung, Nullfokalisierung (Originalabbildung). Abb. 8.12: Grenzüberschreitung in Erzähltexten nach Lotman (Originalabbildung). Abb. 9.1: Alessandro Man‐ zoni (1785-1873). Abb.-9.2: Renzo und Lucia: I promessi sposi. Illustrationen von Francesco Gonin aus der Ausgabe von 1840. Abb. 9.3: Michele Fanoli: La partenza dei promessi sposi („Addio ai monti“) (1831). Öl auf Leinwand, Museo d’Arte Medievale e Moderna, Padua. Abb. 9.4: Mögliches Aktanten‐ modell zu I promessi sposi (Originalabbildung). Abb. 9.5: Francesco Gonin: Begegnung Don Abbondios mit den „bravi“ aus der Promessi-Sposi-Ausgabe von 1840. Abb. 9.6: William Stanley Haseltine: Ätna von Taormina aus gesehen 312 Abbildungsverzeichnis <?page no="313"?> (1871). Öl auf Leinwand, Birmingham Museum of Art. Foto: Sean Pathasema. Abb. 10.1: Vereinfachtes Modell literarischer Kommunikation (Originalabbil‐ dung). Abb.-10.2: Hippolyte Taine (1828-1893). Rasterdruck eines Gemäldes von Léon Bonnat. Abb. 10.3: Arturo Graf (1848-1913). http: / / www.ilcub oeditore.it/ GRAF%20bio.htm [05.01.2012]. Abb. 10.4: Sigmund Freud um 1905. Foto von Ludwig Grillich. Abb.-10.5: Psychischer Apparat nach Freud (Originalabbildung). Abb. 10.6: Traumarbeit und Kunstarbeit (Originalabbil‐ dung). Abb. 10.7: Statue von Italo Svevo vor dem Naturkundemuseum von Triest. Foto von Tevfik Mentes. Abb. 10.8: Portrait von Antonio Gramsci (1891-1937) Anfang der 1920er Jahre. Abb. 10.9: Marxistisches Gesellschafts‐ modell (Originalabbildung). Abb. 10.10: Georg Lukács, 3. Juli 1952. Foto von Horst Sturm. Bundesarchiv, Bild 183-15304-0097/ CC-BY-SA. Abb. 10.11: Erich Köhler (1924-1981). Foto: Romanisches Seminar, Universität Freiburg. Abb. 10.12: Der hermeneutische Zirkel als Spiralmodell (Originalabbildung). Abb. 11.1: Ferdinand de Saussure (1857-1913). Abb. 11.2: Charles Sanders Peirce (1839-1914). Credit: National Oceanic and Atmospheric Administra‐ tion/ Department of Commerce. Abb. 11.3: Das triadische Zeichenmodell nach Charles S. Peirce (Originalabbildung). Abb. 11.4: Justus van Gent: Francesco Petrarca (15 Jh.). Abb. 11.5: Tony Robert-Fleury: Der Psychiater Pinel in der Salpêtrière (1876). Abb. 12.1 Stephen Jay Greenblatt. © Bachrach. CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: StephenJayGreenblatt.j pg. Abb. 12.2: Hayden White. © Hayden V. WhitePapers at University of Ca‐ lifornia, Santa Cruz Special Collections. CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wiki media.org/ wiki/ File: Hayden_White.jpg. Abb.-12.3: Jean-François Lyotard. © Bracha L. Ettinger. CC BY-SA 2.5, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: J ean-Francois_Lyotard_(cropped).jpg. Abb. 12.4: Neera (1846-1918). http: / / w ww.maldura.unipd.it/ italianistica/ ALI/ zuccari.html [05.01.2012]. Abb. 12.5: Wolfgang Welsch. © Feinak. CC BY-SA 4.0, https: / / commons.wikimedia. org/ wiki/ File: Wolfgang_Welsch.jpg. Abb. 12.6: Gayatri Spivak. © Robert Crc, Gayatri Spivak on Subversive Festival, 18.05.2012. https: / / commons.wik imedia.org/ wiki/ File: Gayatri_Spivak_on_Subversive_Festival.jpg. Abb 12.7: Igiaba Scego. © lettera27. CC BY-SA 2.0, https: / / commons.wikimedia.org/ w iki/ File: Igiaba_Scego1.jpg#/ media/ File: Igiaba_Scego1.jpg. Abb. 12.8: Aleida Assmann: ©Jussi Puikkonen/ KNAW Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen. Abb. 12.9: Jean_Baudrillard: ©Europeangraduateschool. Abb. 13.1 Panorama (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb. 13.2: Totale (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb.-13.3: Halbtotale (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb. 13.4: Halbnah (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb.-13.5: ‚Amerikanisch‘ (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. Abbildungsverzeichnis 313 <?page no="314"?> SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb.-13.6: Nah (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb.-13.7: Groß (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb. 13.8: Detail (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb. 13.9: Einstellung aus La dolce vita (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb. 13.10: Einstellung aus La dolce vita (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb. 13.11, Abb. 13.12: Beispiele für Schuss-Gegenschuss aus La dolce vita (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb. 13.13, Abb. 13.14: Beispiel für einen Achsensprung (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb.-13.15: Marcello wird von Steiners Frau begrüßt (aus: Federico Fellini, La dolce vita. Italien Frankreich 1960. SZ Cinemathek Nr. 34 (2005).) Abb. 14.1: Il gattopardo, Ausschnitt: Vorspann (aus: Luchino Visconti: Der Leopard/ Il gattopardo. Fran kreich/ Italien 1963. SZ-Cinemathek Nr. 1 (2005).) Abb. 14.2: Einstellung aus Il gattopardo (aus: Luchino Visconti: Der Leopard/ Il gattopardo. Frankreich/ Italien 1963. SZ-Ci‐ nemathek Nr. 1 (2005).) Abb. 14.3: Einstellung aus Il gattopardo (aus: Luchino Visconti: Der Leopard/ Il gattopardo. Frankreich/ Italien 1963. SZ-Cinemathek Nr. 1 (2005).) Abb. 14.4: Einstellung aus Il gattopardo (aus: Luchino Visconti: Der Leopard/ Il gattopardo. Frankreich/ Italien 1963. SZ-Cinemathek Nr. 1 (2005).) Abb. 14.5: Einstellung aus Il gattopardo (aus: Luchino Visconti: Der Leopard/ Il gattopardo. Frankreich/ Italien 1963. SZ-Cinemathek Nr. 1 (2005).) Abb.-14.6: Bergmann und Ingrid (aus: Roberto Rossellini: Rom, offene Stadt/ Roma, città aperta. Italien 1945. SZ-Cinemathek Nr. 62 (2006).) Abb. 14.7: Der geschundene Manfredi (aus: Roberto Rossellini: Rom, offene Stadt/ Roma, città aperta. Italien 1945. SZ-Cinemathek Nr. 62 (2006).) Abb.-14.8: Vorspann zu Roma, città aperta (aus: Roberto Rossellini: Rom, offene Stadt/ Roma, città aperta. Italien 1945. SZ-Cinemathek Nr. 62 (2006).) Abb.-14.9: Francesco und Marcello (aus: Roberto Rossellini: Rom, offene Stadt/ Roma, città aperta. Italien 1945. SZ-Cinemathek Nr. 62 (2006).) Abb.-14.10: Blick auf den fortgehenden Francesco (aus: Roberto Rossellini: Rom, offene Stadt/ Roma, città aperta. Italien 1945. SZ-Cinemathek Nr. 62 (2006).) 314 Abbildungsverzeichnis <?page no="315"?> Sachregister Die Verweise beschränken sich auf diejenigen Seiten, auf denen Definitionen und Erläuterungen sowie Problem- und Anwendungskontexte des jeweiligen Begriffs zu finden sind. Rhetorische Figuren und Stilmittel sind im Register nicht aufgeführt; sie sind auf den Seiten 78-80 und 82-84 zusammengestellt. Achsensprung-288 Adaption (Film)-296 Akt-130 Aktant-173, 181 Alterität-252 Anachronie-167, 290 Anagnorisis-130 Analepse-167 Architextualität-234 Ästhetische Distanz-220 Atmo-285 Aufschreibesystem-28f. Aufzeichnung (Film)-296 Autobiographie-159, 261 Autor, Autorfunktion-23, 233 Autoreferenzialität-25 Ballade-88 Basis-212f. Beiseite-Sprechen (Drama)-124 Beleuchtung-284 Biographie (Gattung)-159 Botenbericht-124 Briefroman-158 Charakter, Charakterisierung-172 Chor-130 Comédie italienne-139 Commedia dell’arte-112 Commedia erudita-113 Crepuscolari-102 Cultural Memory Studies-257 Cultural Studies-244 Dekadenz, decadentismo-101 Dekonstruktion-236, 241 Deskriptivität, deskriptiv-32 Deutungskanon-49 Dialog (Drama)-123f. Dialogtraktat-159 Diegese-161 Differenz-236 Differenzfeminismus-250 Diskurs (Narratologie)-163, 165 Diskursanalyse, historische-238f. Distanz (Narratologie)-168f., 171, 183f. Drama-112, 114 Dramatische Gattungen (Übersicht)-112 Dramatischer Knoten-131 Dramenfigur-119 Dramma pastorale-114 Drehbuch-274, 287 Dreipersonenregel-123 ‚Dritter Raum‘-253 Effektgeräusche-285 Einheiten, aristotelische-133 Einstellungsgröße-280, 282 Einstellungsprotokoll-275 Empirische Leserforschung-217 Endecasillabo-90 Enjambement-89 Entpragmatisierung-23 Epik-156 Epische Gattungen (Übersicht)-156 Epochen-43 Epos-34, 156 Ereignis-174 <?page no="316"?> Erinnerung-257 Erwartungshorizont-219 Erzähler-162ff. Erzählprofil, Erzählsituation-171 Erzählte Zeit-168, 290 Erzählzeit-168, 290 Essay-42 Exposition-131 Extradiegetisch-164 Farce-113 Feld, literarisches-214f. Feministische Literaturwissenschaft-232, 249 Feuilletonroman-158 Figur-119f., 172f. Figurenkonstellation-127, 173 Fiktion, Fiktionalität-21 Filmanalyse-274 Filmmusik-286 Filmtranskription-274 Fokalisierung (Film)-291 Fokalisierung (Text)-170f. Formalismus-19 Futurismus-18 Gattungen, Gattungssystem-33, 36f., 39ff., 212f. Gattungshierarchie-34 Gedächtnis-257ff. ‚Gegen-den-Strich-Lesen‘-255 Geisteswissenschaften-56, 74f., 200 Gender-249 Gender Studies-249, 251 Genieästhetik-38 Giallo-158 ‚Große Erzählungen‘-248 Habitus-216 Handlung-129, 133, 174ff. Haupt-/ Nebentext-115f. Hermeneutik-74 Hermeneutischer Zirkel-75f., 218 Hirtendrama-114 Historischer Roman-159, 178 Horizontwandel-220 Hybridität-253 Hybris-121 Hypodiegetisch-165 Imagologie-252 Imitatio-40 Impliziter Leser-164 indirekte Rede-170 Inszenierung (Drama)-123 Interkulturalität-252 Interpretation-77 Intersubjektivität-56 Intertextualität-233 Intradiegetisch-164 Intrige-129 Isotopie-81, 85, 99, 104, 107 Jump-cut-288 Kamerafahrt-283 Kameraperspektive-282 Kameraschwenk-283 Kanon-48, 251 Kanzone-87f. Kapital, symbolisches-214f. Katastrophe (Drama)-121, 130 Katharsis-130 Kernkompetenz-52f. Komödie-113 Kompetenz-53f. Konflikt-129 Konflikt (Drama)-131 Kriminalroman-158 Kultur-244 Kulturelle Hegemonie-252 Kulturelle Narrative-246 Kulturelles Gedächtnis-259 Kulturwissenschaften-244ff. 316 Sachregister <?page no="317"?> Leerstellen-218, 221 Libretto-114 Lichtverhältnisse-283f. Life writing-261 Literaturbegriff-14, 25, 32 Literaturgeschichte-33f., 43ff. Literatursoziologie-211f. Literaturverfilmung-296f. Literaturwissenschaft-33, 52 Logozentrismus-235 Lyrik-86f. Lyrische Gattungen (Übersicht)-98 Makrostruktur-81 Märchen-159 Marxismus-211f. Mauerschau-124 Medium, Medien-26, 28f., 258 Melodramma-114 Mentalitätsgeschichte-245 Metadiegetisch-165 Metalepse-165 Meta-teatro-146 Metatext-234 Methode-52, 62, 77, 200f. Metrik, Metrum-89f. Mikrostruktur-81 Mimesis-34, 161 Mittlerer Held-121 Modul (Modularisierung)-55 Monolog (Drama)-124 Montage-287ff. Motiv-47, 81, 174 Multikulturalismus-254f. Musik im Film-286 Mysterienspiel-113 Mythos-46, 94ff. Narratologie-162 Neorealismus/ neorealismo-159, 187f., 305f. New Historicism-245 Normativität, normativ-32, 40, 44 Novelle-156, 158 Objektivität, objektiv-76f., 200, 202, 204 Offene/ geschlossene Form (Drama)-133 Okökritik, Ökologie-265ff. ‘On’ / ‘Off ’-285 Oper-114 Opposition-82, 86, 107 Paradigma-224 Paratext-17, 21, 116, 234 Periodisierung-43 Peripetie-130 Personenkonstellation-173 Phallogozentrismus-249 Phonozentrismus-235 Plot-173f. Poetik, poetologisch-32ff. Poetizität, poetisch-19, 32, 87 Polysemie-236 Positivismus-202, 204 Postkoloniale Theorie-252 Postmemory-259 Postmoderne-248f. Prolepse-167 Prosa-159 Prosimetrum-160 Protagonist-119 Psychoanalyse, psychoanalytische Lit.wiss-205, 207 Questione della lingua-39 Raffung-168, 290 Raum (Erzählung)-175 Ready-made-22 Realismus-158 Realitätseffekt-174, 279 Rede-123f., 161, 163, 168f. Referenzialität, referenziell-22, 25 Regisseur (Drama)-120, 123 Sachregister 317 <?page no="318"?> Reim-91 Resistenza-188, 306 Rezeption-49, 217 Rezeptionsästhetik-218f. Rhetorik-33f., 78, 82 Rhythmus-89 Rollenbruch-124 Roman-158 Sacra rappresentazione-113 Schäferroman-158 Schlüsselqualifikationen-52ff. Schnitt-275, 287ff. Schuss/ Gegenschuss-287 Scuola storica-203f. Semiotik-230 Sequenzprotokoll-277 Sestine-88 Sex/ Gender-249 Signifikant/ Signifikat-27, 77, 235 Simulakrum-263ff. Sonett-87f., 94f. Ständeklausel-35, 121 Stegreiftheater-112 Stichomythie-123 Stilarten-35f. Stimme (Narratologie)-163 Stoff-81 Stoffgeschichte-172 Strophe-87ff. Struktur-76f., 224 Strukturalismus-224f. Strukturanalyse-76ff. Syntagma-224 Szene (Drama)-130, 132 Teatro di narrazione-115 Testimonial-Literatur-261 Textimmanenz, textimmanent-76 Textkritik-57 Textphilologie-45 Theaterwissenschaft-115 Thema-47, 81 Tirade-124 ‚Tod des Autors‘-233 Tragikomödie-114 Tragödie-34, 36, 113f. Transformation-296 Transkulturalität-255 Transtextualität-233 Triadisches Zeichenmodell-231 Typen (Drama)-121 Überbau-212 Unzuverlässiges Erzählen-166 Verismo-202 Vers-87f. Volgare-39 weibliches Schreiben-250 Wortkulisse-115 Zäsur-89f. Zeit (Narratologie)-166f. 318 Sachregister <?page no="319"?> BUCHTIPP Der Band bachelor-wissen Spanische Literaturwissenschaft wurde speziell für die Erfordernisse der hispanistischen Bachelor- und Lehramts-Studiengänge verfasst. Die anschauliche Aufbereitung des fachlichen Grundwissens wird dabei von anwendungsorientierten Übungseinheiten gerahmt, die eine eigenständige Umsetzung des Erlernten ermöglichen und einen nachhaltigen Kompetenzerwerb unterstützen. Im Zentrum steht dabei einerseits die Methodik der Textanalyse, wobei neben traditionellen literarischen Texten auch das Medium Film mit in die Darstellung einbezogen wird. Im Weiteren werden die zentralen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze vorgestellt und damit die notwendige theoretische Basis für eine weiterreichende Textinterpretation gelegt. Der Veranschaulichung, Vertiefung und Anwendung dienen durchgängig originale Textauszüge und themenspezi sche Aufgaben. Unter www.bachelor-wissen.de steht ferner eine zusätzliche Plattform für ergänzende Materialien zu den Lektionen des Bandes und für den Zugriff auf die Übungslösungen zur Selbstkontrolle bereit. Maximilian Gröne, Rotraud von Kulessa, Frank Reiser Spanische Literaturwissenschaft Eine Einführung bachelor-wissen 4., überarbeitete und erweiterte Au age 2023, 316 Seiten €[D] 25,99 ISBN 978-3-381-10251-8 eISBN 978-3-381-10252-5 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="320"?> ISBN 978-3-381-12411-4 www.narr.de Der Band bachelor-wissen Italienische Literaturwissenschaft richtet sich speziell an die Studierenden und Lehrenden in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Modulen italienzentrierter Studiengänge. Er bietet eine präzise Einführung in die Verfahren der formalen Textanalyse im Kontext unterschiedlicher Medien. Darüber hinaus vermittelt er einen Überblick über die relevanten literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze, Fragestellungen und Theorien. Zahlreiche Übungen ermöglichen die rasche Anwendung und Überprüfung des Gelernten und unterstützen einen nachhaltigen Kompetenzerwerb.