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Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne: Nostalgie als Kritik

1014
2024
978-3-3811-2702-3
978-3-3811-2701-6
A. Francke Verlag 
Peter V. Zima
10.24053/9783381127023

Ausgehend von der Überlegung, dass die wichtigsten Vertreter der Kritischen Theorie (W. Benjamin, Th. W. Adorno, M. Horkheimer, H. Marcuse und J. Habermas) der sog. Frankfurter Schule im Bildungsbürgertum der liberalen Ära aufgewachsen sind, wird gezeigt, dass ihre Gesellschaftskritik von den Prämissen und Wertungen des liberalen Individualismus ausgeht. In diesem Kontext ist die Ambivalenz ihrer Kritik sowie Adornos und Horkheimers Satz aus der Dialektik der Aufklärung zu verstehen: "Nicht um der Konservierung der Vergangenheit, sondern um der Einlösung der vergangenen Hoffnungen ist es zu tun." Der nostalgische Ton, der in diesem Satz anklingt, durchzieht nahezu alle Werke der Frankfurter Philosophen. Obwohl postmoderne Autoren wie Z. Bauman, J.-F. Lyotard, M. Maffesoli und J. Baudrillard in mancher Hinsicht an die Kritische Theorie anknüpfen, verabschieden sie die aus dem liberalen Individualismus stammenden Wertsetzungen.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-12701-6 Ausgehend von der Überlegung, dass die wichtigsten Vertreter der Kritischen Theorie (W. Benjamin, Th. W. Adorno, M. Horkheimer, H. Marcuse und J. Habermas) der sog. Frankfurter Schule im Bildungsbürgertum der liberalen Ära aufgewachsen sind, wird gezeigt, dass ihre Gesellschaftskritik von den Prämissen und Wertungen des liberalen Individualismus ausgeht. In diesem Kontext ist die Ambivalenz ihrer Kritik sowie Adornos und Horkheimers Satz aus der Dialektik der Aufklärung zu verstehen: „Nicht um der Konservierung der Vergangenheit, sondern um der Einlösung der vergangenen Hoffnungen ist es zu tun.“ Der nostalgische Ton, der in diesem Satz anklingt, durchzieht nahezu alle Werke der Frankfurter Philosophen. Obwohl postmoderne Autoren wie Z. Bauman, J.-F. Lyotard, M. Maffesoli und J. Baudrillard in mancher Hinsicht an die Kritische Theorie anknüpfen, verabschieden sie die aus dem liberalen Individualismus stammenden Wertsetzungen. Zima Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne Peter V. Zima Nostalgie als Kritik <?page no="1"?> Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne: Nostalgie als Kritik <?page no="3"?> Peter V. Zima Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne: Nostalgie als Kritik <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381127023 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck und Bindung: Elanders Waiblingen GmbH ISBN 978-3-381-12701-6 (Print) ISBN 978-3-381-12702-3 (ePDF) ISBN 978-3-381-12703-0 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 11 15 1. 16 2. 19 3. 23 I. 29 1. 33 2. 38 3. 47 4. 53 5. 58 II. 65 1. 69 2. 76 3. 82 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: -Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie . . . . . . . . Standorte der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortschritt und Nostalgie in Philosophie und Soziologie: „Die Furie des Verschwindens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätmoderne Fortschrittsskepsis als Aufwertung der Vergangenheit: Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verlust der Gemeinschaft bei Ferdinand Tönnies . . . . . . . Das Individuum zwischen Befreiung und Zerfall: Georg Simmel und die Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liberalismus, Rationalisierung und Individualisierung: Max Weber und die Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortschritt der Zivilisation als „Rebarbarisierung“: Von Alfred Weber zu Herbert Marcuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der spätmodernen zur postmodernen Problematik . . . . . Von Walter Benjamin zu Zygmunt Bauman und Guy Debord: Revolution zwischen spätmodernem Rettungsversuch und postmoderner Verwerfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Fortschrittskepsis und revolutionärem Charisma: Von Walter Benjamin zu Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ I: Vom Bildungsbürgertum zum Proletariat (Benjamin und Brecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ II: Adornos Kritik als Übergang zur Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4. 88 5. 93 III. 97 1. 102 2. 108 3. 115 4. 120 5 127 IV. 133 1. 138 2. 145 3. 149 4. 153 5. 159 6. 164 V. 171 1. 176 Die Vermarktung von Revolution und „Ausstellungswert“ in der Postmoderne: Von Benjamin zu Zygmunt Bauman und Guy Debord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Ohne Alternative“: Baumans Kritik des Marxismus als Kritik der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard: Der Niedergang von individueller Subjektivität und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adornos ambivalente Einstellung zum liberalen Individualismus: Die Schwächung des Subjekts . . . . . . . . . . . . Naturbeherrschung und Selbstunterwerfung des Subjekts: Von Adorno zu Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Negativität der Kunst als Stärkung und Negation des Subjekts: Valéry und Beckett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erhabene als Negation des Subjekts in der Postmoderne: Von Adorno zu Lyotard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Negation des Subjekts als „Grab des Intellektuellen“ . . . . Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli: Der Verlust der liberalen Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liberalismus und Individualismus: Nostalgie, Kritik und Tragik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik des Hegelianismus und Marxismus als Kritik der Immanenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fluchtpunkt Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Metamorphose des Subjekts durch die Instrumentalisierung der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergang zur Postmoderne I: Gilles Lipovetskys „L’Ere du vide“ und die Instrumentalisierung des Körpers . . . . . . . . . . . . Übergang zur Postmoderne II: Michel Maffesolis Soziologie der „Stämme“ oder die Verabschiedung der individuellen Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard: Der Verlust der individuellen Autonomie und der „zweiten Dimension“ Marcuse und Maffesoli oder die Abkehr vom prometheischen Prinzip: Dionysos und Eros, Orpheus und Narziss . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 2. 182 3. 187 4. 194 5. 201 6. 208 VI. 211 1. 215 2. 220 3. 226 4. 236 5. 240 6. 246 VII. 253 1. 254 2. 257 3. 261 4. 266 5. 269 271 290 Marcuses liberales Erbe: Sein Festhalten an individueller Autonomie und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen marxistischer Immanenz und einer Flucht ins Ästhetische: Die Suche nach dem verlorenen Subjekt . . . . . . . Gegen Eindimensionalität: Die Suche nach dem „Wahrheitswert“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baudrillards postmoderne Replik: Das Verschwinden des Gebrauchswerts, der Politik und der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . Verwindung? (Epilog) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard: Der Zerfall von Homogenität und Konsens in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das liberal-individualistische Erbe bei Habermas und der Übergang zur Massengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Postulat einer homogenen Lebenswelt als Erbe des liberalen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Lebenswelt“, „ideale Sprechsituation“ und „Diskurs“ . . . . . . . Postmodernes Plädoyer für Vielfalt I: Zygmunt Bauman . . . . Postmodernes Plädoyer für Vielfalt II: Jean-François Lyotard Von der Postmoderne lernen: Dialogizität in der Heterogenität Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschied vom Marxismus als Klassenkampftheorie . . . . . . . . Kapitalismus-Kritik, „authentischer Sozialismus“ und Naturbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das kritische Individuum als Erbe des Liberalismus . . . . . . . . Europa: Vielsprachigkeit, Dialog und eine neue Immanenz . . Dialogizität: Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnungen ist es zu tun. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung <?page no="11"?> Vorwort Zum Leitmotiv dieses Buches wurde im Laufe des Schreibens Adornos Satz „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere.“ Er stammt aus seinem Essay über die „Halbbildung“, die dem Autor nicht als Fortschritt, sondern als Rückfall hinter das in der bürgerlichen Kultur schon Erreichte erscheint. Der Satz legt Zeugnis ab von der widersprüchlichen sozialen Position einer Gruppe von bildungsbürgerlichen Intellektuellen der liberalen Ära, die an vielen Wertsetzungen des liberalen Individualismus zwar festhalten, zugleich aber beobachten, wie diese an sich universalistischen Wertsetzungen vom Bürgertum als ideologische Fassade zur Tarnung partikularer Interessen eingesetzt werden. Marcuse spricht in diesem Zusammenhang vom „affirmativen Charakter der Kultur“, die das Bestehende bestätigt, statt es in Übereinstimmung mit den bildungsbürgerlichen Idealen in Frage zu stellen. Obwohl die Frankfurter Philosophen - von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno bis Max Horkheimer und Herbert Marcuse - durchaus am „Frü‐ heren“ des liberalen 19. Jahrhunderts festhalten (wie die Soziologen Georg Simmel, Alfred Weber und Max Weber: vgl. Kap. I), liegt ihnen viel daran, es nicht dem Zerfall preiszugeben, sondern es mit neuem Leben zu erfüllen. Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten und dem Ausbruch des Zweiten Krieges versprechen sie sich eine Wiederbelebung der liberalen, individualisti‐ schen Kultur durch das revolutionäre Proletariat. Zugleich hoffen sie, die im Marxismus geschulte Klasse würde den Nationalsozialisten mit aller Macht entgegentreten. Nicht nur der im Pariser Exil lebende Walter Benjamin (vgl. Kap. II), auch Adorno, Horkheimer und Marcuse hoffen Anfang der 1930er Jahre auf eine Revolution der Arbeiterklasse (vgl. Kap. III und IV). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, der mit den Niederlagen des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus endet und zugleich das wahre Gesicht des sowjetischen Kommunismus erkennen lässt, wenden sich die Frankfurter Intellektuellen - vor allem Adorno und Horkheimer - vom Marxismus ab und besinnen sich wieder auf das, was es ursprünglich zu retten galt: das individualistische Erbe des Liberalismus. Es bildet den Ausgangspunkt ihrer Gesellschaftskritik, die von nun an häufig nostalgische Züge annimmt - sogar bei Marcuse, der streckenweise marxistisch argumentiert und auch in Der eindimensionale Mensch revolutionäre Hoffnungen nie ganz aufgibt. Von ihm stammt das zweite Leitmotiv dieses Buches: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es um die Zukunft geht.“ Sein Schwanken zwischen diesen Hoffnungen <?page no="12"?> und einer globalen Ablehnung des Bestehenden ist für die Stellung der Kriti‐ schen Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg prägend (vgl. Kap. V). Während die Frankfurter Philosophen - trotz Adornos und Horkheimers Abkehr vom Marxismus - weiterhin eine mögliche Überwindung des Kapita‐ lismus (Marcuses „zweite Dimension“) im Auge behalten und an Begriffen aus der liberal-individualistischen Zeit wie individuelle Autonomie, Kritikfähigkeit des Einzelsubjekts, Wahrheitsgehalt der Kunst festhalten, geben postmoderne Denker wie Zygmunt Bauman, Jean-François Lyotard, Michel Maffesoli und Jean Baudrillard diese Begriffe preis. Von Kapitel zu Kapitel wird gezeigt, was zwischen der Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne, aus der die Kritische Theorie hervorgeht, und der Postmoderne verloren geht: die Hoffnung auf eine Überwindung des Kapita‐ lismus, das Vertrauen auf individuelle Autonomie und Kritikfähigkeit und der Wahrheitsgehalt der Kunst, aus dem sich Gesellschaftskritik speist. Im zweiten Kapitel wird deutlich, dass Walter Benjamins revolutionäre Hoff‐ nungen in einer kulturindustriell organisierten Gesellschaft zunichte werden, in der - wie Bauman nachweist - der „Ausstellungswert“ (Benjamin) der Kunst dem Kommerz zum Opfer fällt. Statt als ästhetischer Katalysator den Kontakt zu den revolutionären Massen herzustellen, bedient er kulturindustrielle Inter‐ essen. Der Begriff der Masse selbst hört auf, den revolutionären Prozess zu konnotieren und wird in der Medienkultur zu einem Marktbegriff. Verloren geht im Übergang von Adorno zu Foucault und Lyotard (vgl. Kap. III) Subjektivität als kritischer Begriff. Während Foucault Subjektivität und Wahrheit als Produkte von Machtkonstellationen auffasst, lässt Lyotard das Ein‐ zelsubjekt, das aus Adornos Ästhetik des Negativ-Schönen gestärkt hervorgeht, vor dem Erhabenen zerfallen. Lyotard knüpft zwar an Adornos spätmoderne Ästhetik an, unterwirft aber Adornos Negativität, die subjektive Kritik fördert, den destruktiven Kräften des Erhabenen, die das Subjekt überwältigen. Eine andere Variante dieses Verlusts von liberaler Subjektivität und Auto‐ nomie wird im Übergang von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli erkennbar (vgl. Kap. IV). Während bei Lipovetsky Subjektivität durch eine marktvermittelte Instrumentalisierung des Körpers drastisch reduziert und in eine Karikatur verwandelt wird, beobachtet Maffesoli mit postmoderner Zustimmung, wie der Einzelne im Kollektivbewusstsein der „neuen Stämme“ (Techno-Gruppen, Rocker, Hippies) aufgeht. Auch in diesem Fall kommt es zu einem Verlust individueller Autonomie im Übergang von der Spätmoderne zur Postmoderne. Ein weiterer entscheidender Verlust zeichnet sich ab, wenn Marcuses Werk parallel zu Baudrillards Soziologie gelesen wird (vgl. Kap. V). Verloren geht 12 Vorwort <?page no="13"?> die „zweite Dimension“, die Marcuse - etwa in Der eindimensionale Mensch - mit dem „Wahrheitswert“ als Gebrauchswert verknüpft. Indem Baudrillard diesen Wert, der auch bei Marx die Grundlage der Kritik am Kapitalismus bildet, im Tauschwert auflöst, der bei ihm zum „Wert“ schlechthin wird, lässt er die „zweite Dimension“ verschwinden. Der Kapitalismus als „Tauschgesellschaft“ kann nicht mehr kritisiert werden, wenn es kein Jenseits oder Außerhalb des Tausches mehr gibt. Eine besondere Position nimmt das sechste Kapitel ein, weil es zeigt, wie sehr auch Habermas als jüngerer Vertreter der Kritischen Theorie den liberal-indi‐ vidualistischen Verhältnissen verpflichtet ist. Die „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“, die in seinen beiden Arbeiten zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die Grundlage der Kommunikation als „deliberativer Politik“ bildet, ist eine liberale Erscheinung und ein Modell konsensorientierter Kom‐ munikation. Sie gründet auf der Vorstellung einer relativ homogenen liberalen Lebenswelt, in der Verständigung in einer gemeinsamen Sprache vorstellbar ist. Diese Vorstellung von Homogenität und Gemeinsamkeit wird durch Lyo‐ tards Darstellungen einer postmodernen kulturellen und sprachlichen Vielfalt radikal in Frage gestellt. Denn Lyotard ersetzt Habermas’ homogene Lebenswelt durch den „Widerstreit“ („différend“) zwischen Sprachspielen oder Satz-Regel‐ systemen, die seiner Meinung nach inkommensurabel sind. In diesem Falle setzt sich der Autor jenseits des Antagonismus von Konsens und Widerstreit für eine dialogische Wende der Kritischen Theorie ein. Statt zu versuchen, die verlorene Homogenität der liberalen Ära wiederherzustellen, sollte Theorie gerade die Heterogenität der Sprachen, die sowohl die Postmo‐ derne als auch das sich vereinigende Europa prägt, nutzen, um einen genuinen Dialog in der Vielfalt zu ermöglichen. Ein solcher Dialog - vor allem zwischen Theorien - ist produktiver als ein Streben nach Homogenität und Konsens, weil sich in diesem Dialog Konsens und Dissens, Ähnliches und Verschiedenes die Waage halten. Dabei ermöglichen sie Reflexivität und (Selbst-)Kritik. Diese Aufnahme postmoderner Verhältnisse und Argumente in die Kritische Theorie schließt jedoch eine Verteidigung des individualistischen Erbes dieser Theorie nicht aus. Im Schlusskapitel wird deutlich, dass „Das kritische Indivi‐ duum als Erbe des Liberalismus“ (Abschn. 3) aus der Sicht des Autors in der dialogisch erneuerten Kritischen Theorie weiterhin zentral ist. Vorwort 13 <?page no="15"?> 1 M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt, Fischer, 1976, S.-322. 2 F. Kafka, in: Das Kafka-Buch (Hrsg. H. Politzer), Frankfurt, Fischer, 1965, S.-162. Einleitung: Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie Wie Ianus, der römische Gott mit den zwei voneinander abgewandten Gesich‐ tern, hat philosophische und soziologische Gesellschaftskritik bisweilen zwei Gesichter, von denen das eine in die Vergangenheit, das andere in die Zukunft blickt. Dabei wird die Gegenwart als Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft erlebt: bald als Erinnerung, bald als Hoffnung. Im vorliegenden Buch soll die Kritische Theorie der Frankfurter Schule in diesem Spannungsfeld dargestellt werden, dessen Dynamik einerseits von einem kritisch betrachteten und vom Spätkapitalismus bedrohten liberalen Individualismus geprägt ist, andererseits von der Hoffnung auf eine humanere Gesellschaft, in der die Wertsetzungen des Liberalismus - in geläuterter Gestalt - aufgehoben, gerettet sein würden. Die Spannung zwischen den beiden Polen - der Kritik des liberalen Indivi‐ dualismus und seiner späten Rettung in einer vom Kapitalismus befreiten Welt - beschreibt Martin Jay in seinem Buch Dialektische Phantasie, in dem es von dem im Jahre 1923 gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung heißt: „Das Institut war ganz sicher nicht darauf aus, das alte bürgerliche Individuum mit seinem dominierenden Ich neu zu beleben, dennoch empfand es seine Verdrängung durch den manipulierten Massenmenschen in gewisser Weise als einen Verlust von Freiheit.“ 1 Tatsächlich bewegen sich die Kritiken Adornos, Horkheimers und Marcuses zwischen dem Gedenken an das, was verloren ging, und der Skepsis einem wis‐ senschaftlich-technologischen Fortschritt gegenüber, der zwar eine stets voll‐ kommenere Naturbeherrschung ermöglicht, zugleich aber auf eine militärische und ökologische Katastrophe zuzusteuern scheint. Der „Verlust von Freiheit“ hängt insofern mit dieser Entwicklung zusammen, als diese in zunehmendem Maße von Wirtschaft und Technik und immer seltener von autonom handelnden Individuen oder Gruppen bestimmt wird. Dazu bemerkt der für Adornos Ästhetik so wichtige Franz Kafka in einem Gespräch mit Gustav Janouch: „Das geschichtliche Geschehen wird nicht mehr vom Einzelnen, sondern nur noch von den Massen getragen. Wir werden gestoßen, gedrängt, hinweggefegt. Wir erleiden die Geschichte.“ 2 Adorno und <?page no="16"?> 3 Vgl. W. Frizen, M. Spancken, Patrick Süskind. Das Parfum, München, Oldenbourg, 1996, Kap. II: „Aspekte der Romanrezeption“. Horkheimer würden hinzufügen, dass nicht nur das Individuum in der Masse als Bewegung, Gewerkschaft oder Organisation untergeht, sondern auch deshalb seiner Autonomie und Initiative beraubt wird, weil es einerseits gezwungen ist, die globale Komplexität der wirtschaftlichen, finanziellen, politischen und tech‐ nologischen Zusammenhänge zu steigern, andererseits diese sich steigernde Komplexität nicht mehr überblickt (wie Georg Simmel wusste: Kap. I). Auf diesen Verlust von Autonomie inmitten von blinder, stets komplexer werdender Naturbeherrschung richtet sich die Kritik der Frankfurter Philosophen. - Doch was ist Kritik? 1. Standorte der Kritik Der Frage, was Kritik sei, wurden in letzter Zeit Monographien und Sammel‐ bände gewidmet. Dabei umkreisten Diskussionen immer wieder das Problem der Nachvollziehbarkeit von Kritik: Welche Kritik ist subjektiv oder gar willkür‐ lich - und welche ist nachvollziehbar, so dass sie von Personen unterschiedlicher Herkunft bestätigt werden kann? Im Folgenden geht es nicht darum, alle Arten von Kritik aufzulisten. Es soll in aller Knappheit erklärt werden, warum nicht alle kritischen Argumente gleichwertig sind und warum bestimmte Argumen‐ tationstypen für die Kritische Theorie charakteristisch sind. „Kritik“ im umgangssprachlichen Sinne meint häufig ein persönliches Wertur‐ teil oder eine Ansicht, die von anderen nicht geteilt wird. Ein Kleid, dessen Farbe dem einen zu grell ist, wird von der anderen als lustig oder lebensfroh emp‐ funden. Dies mag auch für Romane gelten: Er empfiehlt ihr einen faszinierenden Roman - etwa Musils Der Mann ohne Eigenschaften -, den sie langweilig findet, weil er nicht spannend ist. Die Kontroversen um Patrick Süskinds Roman Das Parfum zeigen, dass sich auch in der Literaturkritik die Geister scheiden, sobald sie auf etwas Neues, Ungewöhnliches stoßen. 3 Ihre Werturteile stehen einander unversöhnlich gegenüber, und das Gegeneinander von Kritik und Gegenkritik ist argumentativ nicht aufzulösen. Jede Kritikersubjektivität verharrt auf ihrem ästhetischen Standort, und ein Konsens ist nicht in Sicht. Für die Kritische Theorie vor allem Adornos sind solche Kontroversen von Bedeutung, weil Adorno sporadisch kommerzialisierte Kultur als „Kulturindus‐ trie“ vom Standpunkt moderner Kunst aus (Valéry, Kafka, Beckett) abwertet und 16 Einleitung: Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie <?page no="17"?> 4 Vgl. D. Prokop, Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie, Hamburg, VSA-Verlag, 2003, S.-295-301. 5 L. Boltanski, De la critique. Précis de sociologie de l’émancipation, Paris, Gallimard, 2009, S.-31. 6 Vgl. H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 (9. Aufl.), S. 56: „Über den affirmativen Charakter der Kultur“. dafür von Autoren wie Dieter Prokop 4 gerügt wird, die gesellschaftskritische Aspekte in der Massenkultur beobachten. Auch in diesem Fall ist es nicht einfach, Kritik argumentativ zu begründen, so dass sie Skeptikern plausibel erscheint. Die Begründung mag einfacher im gastronomischen Bereich sein, wo nach‐ gewiesen werden kann, dass junk food ungesund ist und aufgrund von Salz-, Zucker- und Fettgehalt Krankheiten verursachen kann. Freilich könnte man analog zur Kritik der Medizin an dieser Art von Nahrung die schädlichen Aspekte kommerzialisierter Kultur unter die Lupe nehmen: nach Schema F für den Markt produzierte Heftchenromane, Computer-Spiele, TV-Serien. Die Behauptung, dass sie geisttötend seien, bleibt Hypothese, solange empirische Anhaltspunkte fehlen, mit deren Hilfe es gelänge, eine Verbindung zwischen kommerzialisiertem Kulturgenuss und Krankheiten oder gar Klinikaufenthalten der arglosen Nutzer nachzuweisen. Stringenter und empirisch überzeugender ist immanente Kritik, die Wider‐ sprüche in einer Gesellschaft nachweist: etwa Widersprüche zwischen der ideologischen Selbstdarstellung (etwa durch Regierungen) und der beobacht‐ baren Wirklichkeit. Luc Boltanski spricht in diesem Zusammenhang von der „Aufdeckung immanenter Widersprüche, seien sie nun für eine bestimmte Gesell‐ schaftsordnung spezifisch oder in verschiedenen Gesellschaften anzutreffen“. 5 Diese Art von Kritik, die der Gesellschaft innewohnende Widersprüche zwi‐ schen rechtfertigender (beschönigender) Ideologie und sozialer Realität aufs Korn nimmt, wird von den Frankfurter Philosophen immer wieder geübt: etwa von Marcuse, der in Kultur und Gesellschaft zeigt, wie die Versprechen der bildungs‐ bürgerlichen Kultur und die bürgerliche Wirklichkeit auseinanderklaffen. 6 In dieser Situation wird die Kultur zum ideologischen Alibi. Freilich ist es einfacher, die Bahn immanent zu kritisieren, indem man zeigt, dass ihre Züge nicht die im Fahrplan angegebenen Ankunfts- und Ab‐ fahrtszeiten einhalten, als nachzuwiesen, dass die „soziale Marktwirtschaft“ nicht sozial ist, weil sie Arbeitslose, Obdachlose und von Armut Betroffene zumindest tendenziell aus dem sozialen Bereich ausschließt. Während man im Reisezentrum am Bahnhof den Fahrplan auf den Tisch legen kann, um der Kritik Nachdruck zu verleihen, kann die Kritik an der „sozialen Marktwirt‐ 1. Standorte der Kritik 17 <?page no="18"?> 7 L. Boltanski, A. Honneth, „Soziologie der Kritik oder Kritische Theorie? Ein Gespräch mit Robin Celikates“, in: R. Jaeggi, T. Wesche (Hrsg.), Was ist Kritik? , Frankfurt, Suhrkamp, 2021 (6. Aufl.), S.-114. 8 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-362. 9 Zu den marxistischen Kritiken an der Kritischen Theorie vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Narr-Francke-Attempto (UTB), 2020, Kap. VI. 6. schaft“ mit dem Pseudoargument relativiert werden, dass es benachteiligte Minderheiten zwar gibt, dass aber die Marktwirtschaft „im Großen und Ganzen durchaus sozial“ sei. Die Marktwirtschaft kann man nicht auf den Tisch legen, um den Gegenbeweis anzutreten. Dennoch ist immanente Kritik wesentlich überzeugender als Kritik, die Geschmacksurteile zur Grundlage hat. Insofern ist Luc Boltanski und Axel Honneth Recht zu geben, wenn sie als Fazit ihrer Abhandlung über Kritik festhalten: „Das Kerngeschäft der Kritik bleibt aber die Sichtbarmachung der von der herrschenden Ordnung verdeckten immanenten Widersprüche.“ 7 Dennoch ist wohl die warnende oder prognostische Kritik der Frankfurter Theoretiker, die sie in weniger informierten Kreisen dem pauschalen Vorwurf des „Pessimismus“ ausgesetzt hat, gegenwärtig am überzeugendsten. Es ist die Kritik am Herrschaftsprinzip und vor allem an der Naturbeherrschung, die in der Feststellung gipfelt, dass die unreflektierte Herrschaft des Menschen über Natur und Mitmenschen, die sich ideologisch als Fortschritt tarnt, in eine Katastrophe münden könnte. In der Kritischen Theorie fällt der Gedanke an einen genuinen gesellschaftlichen Fortschritt mit der Hoffnung zusammen, die „allgegenwärtige Drohung der totalen Katastrophe“ 8 doch noch abwenden zu können. Diese Hoffnung, die mit Angst alterniert, ist angesichts des rasch fortschrei‐ tenden Klimawandels und des Krieges in der Ukraine noch weiter verbreitet als die Erwartungen der 1960er und 70er Jahre, die von Diskussionen über Kapitalismus und Revolution beherrscht wurden. In diesen Diskussionen wurde der Kritischen Theorie von marxistischer Seite ihre Negativität vorgeworfen: ihre Weigerung, sich historisch-immanent mit einer der rebellierenden sozialen Gruppierungen zu identifizieren. 9 Der Nexus von Naturbeherrschung und Klimawandel kam damals nicht zur Sprache, weil der sich ankündigende Klimawandel noch kaum wahrgenommen wurde. In dieser Hinsicht hat ein radikaler Gesinnungswandel in der Gesellschaft stattgefunden, der die Kritische Theorie - vor allem die Adornos und Hork‐ heimers - hochaktuell werden lässt. Ihre Kritik an der Naturbeherrschung und an der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer), die eine der Grundlagen des Herrschaftsprinzips bildet, wird von den Naturwissenschaften - nicht nur von 18 Einleitung: Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie <?page no="19"?> 10 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. V: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940-1950 (Hrsg. G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 2014 (4. Aufl.), S.-41. 11 Th. W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/ 65), Nachgelassene Schriften, Bd. XIII, Abt. IV: Vorlesungen (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S.-214. der Klimaforschung - konkretisiert und ist recht weit von Kritiken entfernt, die in den Bereich subjektiver Wert- oder Geschmacksurteile relegiert werden könnten. Die Kritik am Rationalismus und an seiner Verstrickung in Herrschaft in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) („Natur soll nicht mehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrscht werden.“) 10 erscheint in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation in einem neuen Licht und gewinnt an Bedeutung. Sie nötigt auch zu einer Neueinschätzung des zumeist positiv konnotierten Fortschrittsbegriffs, auf dessen Ambivalenz Adorno in seinen Schriften immer wieder hinweist. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, dessen Segen (etwa in der Medizin) nicht zu leugnen sind, bringt keinen echten, gesamtge‐ sellschaftlichen Fortschritt mit sich, einen Fortschritt ohne Herrschaftsverhält‐ nisse, Naturzerstörung und Krieg. Adorno erklärt, was echter Fortschritt wäre: „Fortschritt heißt demnach: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Natur‐ wüchsigkeit inne wird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet.“ 11 Im Folgenden soll der philosophisch-soziologische Kontext rekonstruiert werden, in dem deutlich wird, dass die Vertreter der Kritischen Theorie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert mit ihrer Kritik am Fortschritt und ihrer Betonung dessen, was im Laufe gesellschaftlicher Entwicklung verloren geht, nicht isoliert sind. Auch in den Werken von Sozialphilosophen und Soziologen wie Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber ist ein nostalgischer Ton angesichts der Verluste, die der Fortschritt mit sich bringt, nicht zu überhören. 2. Fortschritt und Nostalgie in Philosophie und Soziologie: „Die Furie des Verschwindens“ Die Wechselbeziehung zwischen nostalgischer Aufwertung der Vergangenheit und revolutionärer Gesinnung ist nicht nur ein Merkmal der Kritischen Theorie und einiger spätmoderner Soziologien (Tönnies, Simmel, A. Weber, M. Weber). 2. Fortschritt und Nostalgie in Philosophie und Soziologie: „Die Furie des Verschwindens“ 19 <?page no="20"?> 12 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-436. 13 J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité, Paris, Gallimard, 1965, S.-33. 14 Ibid., S.-53. Sie kann bei Rousseau und sogar bei Karl Marx beobachtet werden. Sie ist eine Reaktion auf das, was Hegel als „die Furie des Verschwindens“ 12 bezeichnet, die als rächende Göttin (im alten Griechenland auch Erynnie genannt) das Gute mit dem Schlechten, das Wertvolle mit dem Wertlosen und das Humane mit dem Inhumanen verschwinden lässt. Sie scheint den Fortschritt zu bewegen, lässt sich dabei aber weder von der Güte noch vom Bösen leiten, sondern beseitigt wahllos Gutes und Schlechtes, um es durch etwas Neues zu ersetzen, das ebenso ambivalent ist wie das Alte. Sie folgt dem abstrakten Prinzip der Innovation, das sowohl Gutes als auch Schlechtes hervorbringt. Zu den bekanntesten Fortschrittsskeptikern gehört wohl Jean-Jacques Rous‐ seau, der sich an einem längst vergangenen und - wie er selbst einräumt - mythischen Naturzustand orientierte, der ihm als Hauptkriterium für die Beurteilung frühmoderner Verhältnisse im 18. Jahrhundert diente. Er gibt zu, dass dieser Zustand „vielleicht nie existierte und wahrscheinlich auch nie existieren wird“: „un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais […].“ 13 Die Syntax verrät jedoch, dass es sich um einen hypothetischen Zustand handelt, welcher der Vergangenheit angehört. An ihm wird eine Gegenwart gemessen, die Rousseau eindeutig als Verschlechterung erscheint. Während der Mensch im Naturzustand seine Einsamkeit genoss und von einer naiven Selbst‐ liebe (amour de soi) erfüllt war, wird er in der urbanen, auf dem Privateigentum, der sozialen Ungleichheit und der Arbeitsteilung gründenden Zivilisation von einem (narzisstischen) amour propre beherrscht, der die Bewunderung aller Mitmenschen erheischt. Im Rahmen dieser Argumentation wird die Vergangenheit als einfaches Leben aufgewertet, und das Augenmerk wird auf all das gerichtet, was im Laufe der sozialen Evolution verloren ging, denn „die meisten Übel sind unser eigenes Verschulden, und wir hätten sie größtenteils vermeiden können, wenn wir uns das einfache, gleichmäßige und einsame Leben erhalten hätten, das die Natur vorschreibt“. 14 Das Verb „erhalten“ („conserver“) ist Symptom eines Diskurses, der auf das verlorene Wohl ausgereichtet ist und schon aus diesem Grunde die aufgeklärte Moderne des 18. Jahrhunderts, die die Enzyklopädisten gegen Rousseau verteidigten, abwerten muss. 20 Einleitung: Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie <?page no="21"?> 15 Y. Vargas, Rousseau. Economie politique, Paris, PUF, 1986, S.-71. Für die Moderne als Modernisierung steht metonymisch die Stadt: vor allem die Großstadt Paris, deren blühende Geldwirtschaft als Konkurrenzwirtschaft Rousseau ein Dorn im Auge ist. Das Landleben, vor allem das früherer Zeiten, erscheint ihm als Alternative. Dazu bemerkt Yves Vargas: „Der Wald evozierte die Vorstellung unschuldiger Wildheit, am anderen Ende der Skala stand die Stadt für korrumpierte Barbarei.“ Und er zitiert aus einer Antwort Rousseaus an de Bordes: „Mir wäre es lieber, die Menschen würden in den Feldern grasen, als sich in den Städten gegenseitig zu verschlingen.“ 15 Die Aufwertung des Landlebens ist nicht neu. Sie findet sich schon in Vergils Georgica; sie wurde im Anschluss an Rousseau in der Romantik gesteigert und fand schließlich Eingang in Heftchenromane und Heimatfilme. Nicht auf sie kommt es hier an, sondern auf die Erkenntnis, dass sich Rousseaus Gesellschafts‐ kritik an dem orientiert, was dem Fortschritt als „Furie des Verschwindens“ zum Opfer fiel. Sie hat auch der Hegel-Leser und Hegelianer Karl Marx vor Augen, wenn er die Fortschritte des Kapitalismus als von der Geldwirtschaft verursachte Verwüstungen sozialer Einrichtungen beschreibt. Freilich ist Marx nicht als Natur-Nostalgiker zu verstehen. Von Rousseau unterscheidet er sich grundsätz‐ lich dadurch, dass er den Kapitalismus mit seiner Industrialisierung, Urbanisie‐ rung und Proletarisierung der arbeitenden Bevölkerung für ein notwendiges Zwischenstadium zwischen Feudalismus und Sozialismus sieht. Der Kapita‐ lismus als Herrschaft eines die Gesellschaft säkularisierenden Bürgertums ist ihm Teil eines teleologisch (hegelianisch) konzipierten Emanzipationsprozesses, der in eine klassenlose Gesellschaft mündet oder münden soll. Und dennoch hat auch Marx ein Auge für das, was auf dem Weg in eine bessere Welt verloren geht, vom Fortschritt zerstört wird. So beschreibt er etwa die brutale Freisetzung von Bauern und Kirchenangehörigen für den ka‐ pitalistischen Arbeitsmarkt während der englischen Reformation mit folgenden Worten: „Einen neuen furchtbaren Anstoß erhielt der gewaltsame Expropria‐ tionsprozeß der Volksmasse im 16. Jahrhundert durch die Reformation und, in ihrem Gefolge, den kolossalen Diebstahl der Kirchengüter. Die katholische Kirche war zur Zeit der Reformation Feudaleigentümerin eines großen Teils des englischen Grund und Bodens. Die Unterdrückung der Klöster usw. schleuderte deren Einwohner ins Proletariat. Die Kirchengüter selbst wurden großenteils an raubsüchtige königliche Günstlinge verschenkt oder zu einem Spottpreis 2. Fortschritt und Nostalgie in Philosophie und Soziologie: „Die Furie des Verschwindens“ 21 <?page no="22"?> 16 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1969, S.-666. an spekulierende Pächter und Stadtbürger verkauft, welche die alten erblichen Untersassen massenhaft verjagten und ihre Wirtschaften zusammenwarfen.“ 16 Selbst wenn man berücksichtigt, dass diese Passage Bestandteil eines Dis‐ kurses ist, der auf Revolution und Emanzipation zielt und den Kapitalismus als Phase des revolutionären Prozesses darstellt, wird man die negativen Konnota‐ tionen in Marx’ Darstellung nicht übersehen. Ausdrücke wie „gewaltsame[r] Expropriationsprozess“, „kolossale[r] Diebstahl“, „schleuderte […] ins Proleta‐ riat“, „raubsüchtige königliche Günstlinge“, „spekulierende Pächter“ zeugen eher von einem antikapitalistischen (moralischen) Affekt als von revolutionärer Euphorie, welche die Befreiung der Menschen aus feudalen Fesseln und die mit ihr einhergehende Stärkung des Proletariats feiern könnte. An Marx’ antifeudaler und antikapitalistischer Gesinnung ist nicht zu zwei‐ feln. In der zitierten Passage ist jedoch bemerkenswert, dass sie sich nicht auf die Überwindung feudaler und kapitalistischer Verhältnisse konzentriert, sondern auf die verheerenden Zerstörungen, die der Kapitalismus in der Gesellschaft anrichtet - auf das, was verloren geht: auf die verlorene Sicherheit in der feudalen (Kloster-) Gemeinschaft. Sollte sie nicht im sozialistischen Kollektiv aufgehoben und wiederbelebt werden? Eine Wiederbelebung der Gemeinschaft und gemeinschaftlicher Bezie‐ hungen fasst jedenfalls der Marx-Leser und Marx-Kritiker Ferdinand Tönnies ins Auge, der in seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft Arbeit und Arbeiterinteressen mit der Gemeinschaft, Kapital und Handel hingegen mit der negativ konnotierten Gesellschaft assoziiert. Anders als moderne Denker wie Marx, Herbert Spencer und Auguste Comte steht er als spätmoderner Soziologe und Zeitgenosse von Georg Simmel, Emile Durkheim, Alfred Weber und Max Weber (vgl. Kap. I) dem modernen Fortschrittsdenken („ordre et progrès“, Comte) skeptisch gegenüber. Im ersten Kapitel wird sich zeigen, dass die gesamte Spätmoderne, zu der auch die Kritische Theorie gehört, die Zuversicht der Moderne und vor allem deren Glauben an ein Fortschreiten der Gesellschaft zu stets höheren Stadien (vom theologischen zum metaphysischen und von diesem zum wissenschaftlichen Stadium im Sinne von Comte) nicht mehr teilt. Die Krisen des 19. Jahrhunderts schärfen den Blick ihrer Vertreter für den ambivalenten Charakter wissenschaftlich-technischer oder wirtschaftlicher Fortschritte und für das, was im Laufe der sozialen Evolution auf der Strecke bleibt. Dafür sind die folgenden Bemerkungen aus Tönnies’ Buch über Marx 22 Einleitung: Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie <?page no="23"?> 17 F. Tönnies, Marx. Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), München-Wien, Profil, 2013, S. 180. 18 Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: ders., L’Art romantqiue, Patis, Julliard, 1964, S.-432. 19 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Gesam‐ melte Schriften (im Folgenden: GS), Bd. IV (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2022 (14. Aufl.), S.-61. 20 Ibid., S.-62. charakteristisch: „Die Klassenkämpfe, die Revolutionen, sind, wie Marx sie deutet, subjektive Ausdrücke solcher objektiven Widersprüche. Was Marx aber nicht sieht, ist die Erscheinung, daß solche Widersprüche zugleich den Tod einer Kultur, eines in Gemeinschaften vergeistigten Volkslebens bedeuten, daß sie im letzten Grunde unlösbar und unheilbar sind.“ 17 Diese Bemerkungen sind für die Spätmoderne als selbstkritische Reflexion der Moderne charakteristisch. Zugleich umreißen sie die gesellschaftliche und sprachliche Situation, in der die Kritische Theorie ihr Augenmerk nicht nur auf Prozesse der Emanzipation richtet, sondern auch auf den Verlust bestimmter Einstellungen, Wertungen und Fähigkeiten, die mit dem Niedergang individu‐ eller Autonomie in einer massenmedial verwalteten Gesellschaft einhergehen. 3. Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne Die Kritische Theorie gehört insofern zur spätmodernen Problematik, die man mit dem Fortschrittsskeptiker Baudelaire um etwa 1850 beginnen lassen könnte („die Welt bewegt sich nur aus Missverständnis“) 18 , als sie wie Tönnies, Simmel und Max Weber (vgl. Kap. I) eher die Verwerfungen und Gefahren der sozialen Evolution registriert als deren von Aufklärern und Rationalisten gepriesene Errungenschaften und Erfolge. Janushaft ist ihre Kritik, weil ihre Vertreter - anders als Marx und die Marxisten - nicht vorwiegend in die Zukunft blicken, sondern immer häufiger auf die Katastrophen und Leiden der Vergangenheit, die für die Zukunft nicht viel Gutes verheißen. Denkern der Moderne wie Hegel und Comte, die voller Zuversicht den Geschichtsprozess und seine Stadien kommentieren, hält Adorno entgegen: „‚Ich habe den Weltgeist gesehen‘, nicht zu Pferde, aber auf Flügeln und ohne Kopf, und das widerlegt zugleich Hegels Geschichtsphilosophie.“ 19 Ergänzend heißt es etwas später: „Solange es Zug um Zug weitergeht, ist die Katastrophe perpetuiert.“ 20 Der historische Prozess erscheint den Spätmodernen als kopflos, blind oder von Missverständnissen und Zufällen beherrscht, die Hegel aus 3. Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne 23 <?page no="24"?> 21 Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: GS VI (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S.-15. 22 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S.-224. 23 M. Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von H. Gumnior, Hamburg, Furche-Verlag, 1970, S.-12. seinem System verbannt. Seine Vorsehung tritt aber zusammen mit Comtes historischem Gesetz ab, und Marxens Synthese von Theorie und Praxis zerfällt. Dazu heißt es gleich am Anfang von Adornos Negativer Dialektik: „Philoso‐ phie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 21 Anders gesagt: Das Proletariat, nach Marx „das Herz der Philosophie“ 22 , konnte die dialektische Theorie nicht in re‐ volutionäre Praxis umsetzen, weil es in die kapitalistische Gesellschaft integriert wurde. So blieb auch die individuelle Freiheit, die der deutsche Idealismus in den Werken Kants, Fichtes und Hegels ankündigte und beschwor, unverwirklicht. Denn der von kommerzialisierten Medien „manipulierte Massenmensch“ ( Jay) ist eher das Gegenteil des autonomen Individuums, dessen Vorstellung Adorno, Horkheimer und Marcuse vom Idealismus übernahmen. Diese Vorstellung ist keine reine Abstraktion, sondern durch das soziale Milieu vermittelt, in dem die Frankfurter Denker aufgewachsen sind, in dem sie als Philosophen und Soziologen am 1923 gegründeten Institut für Sozi‐ alforschung tätig waren. Dessen zumeist jüdische Mitglieder gehörten dem liberalen Großbürgertum, dem Bildungsbürgertum, an. Bei der Durchsicht ihrer Biografien fällt die Ähnlichkeit ihrer Lebensläufe auf. Ihre Väter waren Unternehmer oder übten liberale Berufe aus. Walter Ben‐ jamins Vater war Kunsthändler, und über Max Horkheimer schreibt Helmut Gumnior: „Der königlich-bayrische Kommerzienrat Moriz Horkheimer, Herr über eine Textilfabrik und eine feudale Villa in Stuttgart-Zuffenhausen, war der Typ eines Unternehmers, wie ihn nur der Liberalismus des 19. Jahrhunderts hervorbringen konnte, jene ‚bürgerliche Epoche‘, in der die Entfaltung des Einzelnen möglich war.“ 23 Der Vater Friedrich Pollocks, eines von Horkheimers Freunden, der zu den wichtigsten Mitgliedern des Instituts gehörte, war eben‐ falls Unternehmer. Die Eltern des in Krakau geborenen Henryk Grossman besaßen Bergwerke. Theodor Wiesengrund Adornos Vater war ein Frankfurter Weinhändler, und Leo Löwenthals Vater war Arzt. Über Herbert Marcuses Familie schreibt Rolf Wiggershaus: „Sein Vater, ein Jude aus der Pommerschen Provinz, war einst mit seinen Brüdern nach Berlin gekommen, hatte sich zum Teilhaber einer Textilfabrik hochgearbeitet und 24 Einleitung: Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie <?page no="25"?> 24 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München, DTV, 1989 (2. Aufl.), S.-113. 25 Vgl. P. V. Zima, L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, Ed. Universi‐ taires, 1974, L’Harmattan, 2005 (2., erw. Aufl.), Kap. I : „Libéralisme et théorie critique“. 26 Vgl. H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, op. cit., S.-56-101. 27 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1952, S. 1578. 28 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch mit Otmar Hersche, Zürich, Verlag der Arche, 1970, S.-18. 29 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit., S.-37. schließlich zusammen mit einem Architekten die Baugesellschaft ‚Friedenthal und Marcuse‘ gegründet. Seiner Frau und den drei Kindern vermochte er die Annehmlichkeiten und Privilegien einer großbürgerlichen Existenz zu bieten.“ 24 Die Tatsache, dass die Gründung des Instituts nur durch eine Schenkung des reichen Getreidehändlers Hermann Weil ermöglicht wurde, dessen Sohn Felix Weil zu den Gründungsmitgliedern des Instituts gehörte, ist in dem hier skizzierten Kontext ebenfalls von Bedeutung. Sie zeigt, wie sehr die materielle und intellektuelle Unabhängigkeit des (später in die Frankfurter Universität integrierten) Instituts mit dem liberalen Unternehmertum und dem Liberalismus verflochten war. 25 Obwohl die Einstellung der Institutsangehörigen zu Liberalismus und Indivi‐ dualismus ambivalent war, wie Marcuses Kritik der liberal-bürgerlichen Kultur und Ideologie erkennen lässt 26 , ist ihre Einschätzung liberal-individualistischer Werte vergleichbar mit der von Tönnies, Simmel, Alfred Weber und Max Weber. Alle diese Denker hätten mit Robert Musil feststellen können: „Der Individualismus geht zu Ende. Ulrich liegt nichts daran. Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“ 27 Was ist nun das Richtige? Die wesentlichen Merkmale des Individualismus: individuelle Autonomie, die Fähigkeit des Einzelnen zu Kritik und Widerstand, die Aversion dem ideologischen und kommerzialisierten Konformismus gegenüber, das Festhalten an der Autonomie der Kunst und an der Würde eines jeden Menschen. Im Zusammenhang mit Kants Vorstellung von einem „autonome[n], unab‐ hängige[n] Subjekt“ bemerkt Horkheimer: „Aber es ist kein Zufall, daß Kant diesen Gedanken in einer Situation äußerte, in der sich das Bürgertum, das heißt die Selbständigkeit des Unternehmers entfaltete.“ 28 Komplementär zu Horkheimer, der hier von den Anfängen individueller Autonomie spricht, bezieht sich Adorno in den Minima Moralia auf deren Zerfall: „Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, Unabhängigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht, ist verdorben bis ins Innerste.“ 29 Der nostalgische, resignierende Ton ist nicht zu überhören; und dennoch versucht Adorno, der auch von der „Auflösung des Liberalismus“ spricht, immer 3. Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne 25 <?page no="26"?> 30 Th. W. Adorno, „Individuum und Organisation“, in: Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften, Bd. VIII (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S.-454-455. 31 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit., S.-170. 32 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch (Hrsg. P.-E. Jansen), Springe, Zu Klampen, 2014, S.-12. 33 M. Horkheimer, „Vernunft und Selbsterhaltung“, in: Gesammelte Schriften, Bd. V: „Dialektik der Aufklärung“ und Schriften 1940-1950 (Hrsg. G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 2014 (4. Aufl.), S.-334. 34 D. Kipfer, Individualität nach Adorno, Tübingen-Basel, Francke, 1999, S.-28. 35 Ibid., S.-82. wieder, „das Richtige hinüberzuretten“. Wie Musil stellt er das individuelle Subjekt als die letzte Bastion der Kritik dar: „Das individuelle Bewußtsein, welches das Ganze erkennt, worin die Individuen eingespannt sind, ist auch heute noch nicht bloß individuell, sondern hält in der Konsequenz des Gedan‐ kens das Allgemeine fest.“ 30 Zugleich spricht er aber vom „Zustand, in dem das Individuum verschwindet“. 31 Ergänzend bemerkt Marcuse, „daß die Reichweite der gesellschaftlichen Herrschaft über das Individuum unermeßlich größer ist als je zuvor“ 32 , und Horkheimer stellt in Vernunft und Selbsterhaltung komplementär zu Adorno fest: „Der Zerfall der Vernunft und des Individuums sind eines.“ 33 Solche Aussagen zeugen einerseits von der ambivalenten Haltung der kritischen Theoretiker der individuellen Subjektivität gegenüber, an der sie trotz ihrer negativen Einschät‐ zungen festhalten; sie erklären andererseits ihre skeptische Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung im Spätkapitalismus. Ihre Ambivalenz kann als Paradoxon in wenigen Worten zusammengefasst werden: Sie setzen ihre Hoffnungen auf das individuelle Subjekt der liberalen Ära, das zum Untergang verurteilt ist. Ausführlich analysiert diese Ambivalenz Daniel Kipfer in Individualität nach Adorno: „Das differierende Individuum ist ‚Subjekt‘ von Widerstand, Instanz von Kritik an (falscher) Allgemeinheit, Träger der Hoffnung auf eine ‚Heilung‘ des beschädigten Lebens.“ 34 Später deckt er im Zusammenhang mit Adorno das Paradoxon auf: „Das liquidierte Individuum ist in diesem Theorieansatz die einzige Instanz, welche der Liquidation des Individuellen widerstehen kann.“ 35 Dieses paradoxe, ja tragische Festhalten Adornos, Horkheimers und Mar‐ cuses am liberal-individualistischen Wertsystem, das im Monopolkapitalismus ideologisch propagiert, zugleich aber ausgehöhlt wird, lässt eine nostalgische Auffassung der Geschichte entstehen. Nach dem Scheitern der proletarischen Revolution, mit dem Adorno seine Negative Dialektik beginnen lässt und das Marcuse in Der eindimensionale Mensch sporadisch evoziert, ist Horkheimers Hoffnung aus den 1930er Jahren, dass das revolutionäre Proletariat die indivi‐ 26 Einleitung: Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie <?page no="27"?> 36 S. Best, D. Kellner, Postmodern Theory. Critical Interrogations, London, Macmillan, 1991, S.-225. 37 Ibid., S.-224. 38 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS VI, op. cit., S.-315. 39 Ibid., S.-314. dualistischen Wertsetzungen auf höherer Ebene verwirklicht, nicht mehr zu rechtfertigen. An diese Erkenntnis knüpfen Vertreter der Postmoderne an: Zygmunt Bauman (1926), Jean-François Lyotard (1924), Jean Baudrillard (1929), Michel Maffesoli (1944) und Gianni Vattimo (1936). Wie die Autoren der Kritischen Theorie verabschieden sie sich von marxistischen und sozialistischen Hoff‐ nungen (vor allem nach den gescheiterten Revolten des Jahres 1968), ohne jedoch am individuellen Subjekt der liberalen Ära festzuhalten. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass sie einer späteren Generation angehören (der Generation der 1920er und 30er Jahre), andererseits mit ihren Erfahrungen im (französischen, italienischen, polnischen) Marxismus verwurzelt sind, der individuelle Autonomie nie wirklich favorisiert hat. Das Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und dem postmodernen Denken ist ambivalent. Wie Adorno und Horkheimer verteidigen Autoren wie Bauman, Lyotard und Vattimo das Partikulare, Besondere gegen idealistische, vor allem Hegelsche und hegelianische Abstraktionen: gegen die Herrschaft des Begriffs und des begrifflichen Systems. Insofern haben Steven Best und Douglas Kellner Recht, wenn sie von „Adorno’s proto-postmodern theory“ 36 sprechen und zeigen, „wie Adorno vieles von der postmodernen Kritik an moderner Theorie antizipierte […]“. 37 Denn Adorno antizipiert auch die postmoderne (Lyotards) Kritik an den großen historischen „Metaerzählungen“, wenn er in der Negativen Dialektik den Marxisten eine „Vergottung der Geschichte“ 38 vorwirft und erklärt: „Die Behaup‐ tung eines in der Geschichte sich manifestierenden und zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch.“ 39 Mit der Kritischen Theorie sind sich postmoderne Denker einig, wenn sie in ihren Kritiken des Kapitalismus und des realen Sozialismus die herrschaftlichen, repressiven Züge philosophischer und soziologischer Diskurse als Erzählungen aufzeigen. Die Ambivalenz des Verhältnisses zwischen spätmoderner Kritischer Theorie und postmodernen Ansätzen besteht darin, dass die postmodernen Autoren Kerngedanken der Frankfurter Philosophen aufgreifen, um sie zu radikalisieren und zugleich ad absurdum zu führen. 3. Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne 27 <?page no="28"?> 40 Vgl. C. Castoriadis, La Montée de l’insignifiance. Les Carrefours du labyrinthe IV, Paris, Seuil, 1996. 41 Vgl. G. Lipovetsky, L’Ere du vide. Essais sur l’individualisme contemporain, Paris, Gallimard, 1983, 1993 sowie hier Kap. IV. In den Kapiteln dieses Buches soll gezeigt werden, wie Lyotard durch seine Radikalisierung von Adornos ästhetischer Theorie, die das individuelle Subjekt stärken und retten sollte, dieses Subjekt zerstört und wie er in seiner Kritik an Habermas’ Erzählung der Emanzipation den Emanzipationsprozess als Hauptanliegen der Kritischen Theorie desavouiert. Im Anschluss daran wird Emanzipation als Schlüsselbegriff der Kritischen Theorie, der die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse meint, bei Vattimo durch Heideggers Begriff der Verwindung ersetzt, der Kritik entschärft. Parallel zu Lyotard knüpft Baudrillard an Adornos und Marcuses Tauschwertproblematik an, aber nur um den für die Kritische Theorie wesentlichen Gegensatz Tauschwert / Gebrauchswert zu tilgen und die Allgegenwart des Tauschwerts zu verkünden, der ihm zum Wert (valeur) tout court wird. Dadurch wird die von Marcuse kritisierte und bekämpfte Eindimensionalität der spätkapitalistischen Gesellschaft festgeschrieben. Trotz der sie trennenden Unterschiede sind sich Baudrillard und Bauman in der Ansicht einig, dass zeitgenössische Kunst zu reiner Ware verkommt, so dass ihre von Adorno, Horkheimer und Marcuse ausführlich kommentierte kritische Negativität als „zweite Dimension“ im Kommerz untergeht. In ihm geht auch Walter Benja‐ mins ästhetischer „Ausstellungswert“ unter, der den auratischen „Kultwert“ ablösen und zur Revolutionierung der Massen beitragen sollte. Zugleich mit Marcuses „zweiter Dimension“ löst sich Horkheimers „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ in der Indifferenz des Immergleichen auf, die der postmoderne Gilles Lipovetsky beschreibt. Es soll von Kapitel zu Kapitel deutlich werden, dass die postmodernen Denker zwar an die Gedankengänge der kritischen Theoretiker anknüpfen, sie aber so konsequent weiterführen und radikalisieren, dass ihnen die kritische Spitze abgebrochen wird. Diese Weiterführung der Kritik, die in deren Entmachtung umschlägt, mag ein Zeichen der Zeit sein: ein Zeichen dafür, dass wir in einer Zeit der „Sinnlosigkeit“ (insignifiance, Castoriadis) 40 , der „Leere“ (ère du vide, Lipovetsky) 41 leben, in der sich die kritischen Intellektuellen verabschieden oder - von Lyotard - verabschiedet werden. Für den Autor ist dies kein Grund, sich von der Kritischen Theorie abzu‐ wenden. Es mag weiterhin lohnend sein, unzeitgemäß gegen den Zeitgeist zu denken. 28 Einleitung: Janushafte Kritik zwischen Fortschritt und Nostalgie <?page no="29"?> 1 Vgl. A. Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1991. 2 Vgl. P. V. Zima, Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, 2016 (4. Aufl.), Kap. I: „Moderne - Modernismus - Postmoderne: Versuch einer Begriffsbestim‐ mung“. I. Spätmoderne Fortschrittsskepsis als Aufwertung der Vergangenheit: Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) Die Bezeichnung „Spätmoderne“ („late modernity“, Giddens) 1 für die gegenwär‐ tige Zeit ist insofern irreführend, als schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts Philosophen wie Nietzsche, die Junghegelianer oder Kierkegaard die evolutionäre Zuversicht moderner Denker wie Hegel, Marx und Comte in Frage stellen. Ihnen schließen sich Soziologen wie Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Alfred Weber und Max Weber an, weil sie in einer Zeit der Kriege, Revolutionen und Wirtschaftskrisen den seit der Aufklärung herrschenden Fortschrittsglauben der Moderne nicht mehr nachvollziehen können. Ihre Werke gehören - zusammen mit der später entstandenen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule - der Spätmoderne an, die hier als eine kritische Selbstre‐ flexion der Moderne (ca. 1850-1950) aufgefasst wird. 2 In dieser Selbstreflexion keimt ein postmodernes Denken, das einerseits an die Kritik spätmoderner Autoren (etwa Nietzsches oder Adornos) anknüpft, indem es die „großen Metaerzählungen“ (Lyotard) der Moderne verabschiedet, andererseits aber die spätmodernen Hoffnungen auf eine Überwindung der De‐ kadenz oder des Kapitalismus aufgibt. Gianni Vattimo ersetzt die modern-spät‐ moderne Überwindung durch Nietzsches und Heideggers Verwindung - als Rücknahme vergeblicher Hoffnungen und Wünsche. Im Folgenden gilt es, die Anliegen der Kritischen Theorie in den soziologi‐ schen Kontext des ausgehenden 19. und des anbrechenden 20.-Jahrhunderts zu projizieren, um zu zeigen, (a) dass Autoren wie Tönnies, Simmel, Alfred und Max Weber ähnliche Argumente gegen den Fortschrittsoptimismus der Moderne (Hegels, Comtes) ins Feld führen wie später die Frankfurter Philosophen, (b) dass sie sich in ihrer Kritik immer wieder - wie die Vertreter der Kritischen Theorie - auf Vergangenes beziehen, das Hegels „Furie des Verschwindens“ weichen musste, und (c) dass im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen das für Adorno und Horkheimer so wichtige Schicksal des (liberalen) Individualismus und des <?page no="30"?> 3 H.-J. Dahme, O. Rammstedt, „Die zeitlose Modernität der soziologischen Klassiker. Überlegungen zur Theoriekonstruktion von Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Max Weber und besonders Georg Simmel“, in: H.-J. Dahme, O. Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S.-466. 4 H.-J. Dahme, „Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie. Ein Vergleich von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S.-249. 5 Ibid. individuellen Subjekts steht, das in einer von Großkonzernen beherrschten, von Massenorganisationen getragenen und bürokratisierten Gesellschaft unterzu‐ gehen droht. Die gesellschaftliche Situation, in der Soziologen wie Durkheim, Simmel, Tönnies oder Max Weber beginnen, den modernen Fortschrittsgedanken für eine Naivität zu halten, umreißen Hans-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt: „Der Fortschrittsoptimismus, der integraler Bestandteil des Verständnisses von Gesellschaft war, wich einer Krisensensibilität, als ökonomischer Fortschritt durch die ‚Große Depression‘ zwischen 1873 und 1895, die sich in den drei großen Wirtschaftskrisen dieser Zeit abzeichnete, fraglich wurde.“ 3 Das Kri‐ senbewusstsein wurde freilich auch durch die Kriege des 19. Jahrhunderts wachgehalten: durch den Krimkrieg (1853-1856), die Balkankriege, die Carlis‐ tenkriege in Spanien und den französisch-preußischen Krieg (1870-1871), der zur Gründung des Deutschen Reiches unter Bismarck führte. Im Zusammenhang mit Simmel, Tönnies und Max Weber zeigt Dahme, „wie der Fortschrittsbegriff der ‚älteren‘ Soziologie bei den modernen Klassikern in Mißkredit gekommen ist und wie man den neuzeitlichen Geschichtsprozeß soziologisch neu zu deuten versuchte“. 4 Er erklärt: „Mit der neu-soziologischen Sichtweise der gesellschaftlichen Realität wurde auch endgültig der Fortschritts‐ begriff von der Soziologie abgekoppelt.“ 5 Der Ausdruck „neu-soziologische Sicht‐ weise“ weist auf den Bruch der spätmodernen Denker mit den Denkmustern ihrer modernen Vorgänger: mit den Diskursen Hegels, Marx’, Comtes und Spencers. Es mag hilfreich sein, sie zur Veranschaulichung ins Gedächtnis zu rufen. Sein Idealismus hat Hegel entscheidend geholfen, sich über irrationale Ten‐ denzen im historischen Prozess (etwa über den revolutionären Terror des Jahres 1793 oder Napoleons gescheiterten Russland-Feldzug im Jahre 1812) hinwegzu‐ setzen. Um den „Gang des Weltgeistes“ zu deuten, reichen beeindruckende Me‐ taphern aus, die eine empirische Verankerung des Diskurses durchaus ersetzen können: „Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst 30 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="31"?> 6 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. XII, Frankfurt, Suhrkamp (1986), 1995 (4. Aufl.), S.-22. 7 F. Th. Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Bd. II, Tübingen, Schwäbische Verlagsgesellschaft, s. d., S.-450. 8 A. Comte, Sommaire appréciation de l’ensemble du passé moderne, Paris, L’Harmattan, 2006, S.-78. zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen, des Geistes, dessen Natur zwar immer eine und dieselbe ist, der aber in dem Weltdasein diese seine Natur expliziert.“ 6 Nicht erst die auf empirische Analyse bedachten Begründer der Soziologie, schon der Junghegelianer Friedrich Theodor Vischer hat in seinem Roman Auch Einer (1879) Hegels Vertrauen in die historische Notwendigkeit ironisch in Zweifel gezogen - und mit ihm die Gültigkeit des Systems: „Überdies das Unglück: die Diskreditierung der Philosophie durch die Systeme. System ist immer Ausbau eines Gedankens, der als Gedanke eines Kopfs, wenn auch auf und über vielen Schultern und Köpfen, doch immer nur dieses einen Menschen Gedanke ist.“ 7 Diese Überlegungen decken die Partikularität und Kontingenz aller Systeme und insbesondere des Hegelschen auf, das behauptet, mit der historischen Wirklichkeit übereinzustimmen, selbst allgemein gültig zu sein. Wenn Adorno in der Negativen Dialektik Marx und Engels eine „Vergot‐ tung der Geschichte“ (vgl. Einleitung) vorwirft und „die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und zusammenfassenden Weltplans zum Besseren“ (vgl. Einleitung) in Zweifel zieht, so knüpft er an Vischers Gedankengänge an. Denn Vischer hätte auch die marxistischen Prätentionen ironisch kommentiert und darauf hingewiesen, dass die geplante „Diktatur des Proletariats“ zur Diktatur einer Partei (ihres Politbüros) verkam, die den Weg zum Sozialismus und zur „klassenlosen Gesellschaft“ verlegte. So scheiterte auch der marxistische „Weltplan zum Besseren“. Auch Auguste Comtes Zuversicht verliert im spätmodernen Kontext, dem sowohl Vischers als auch Adornos kritische Stimmen angehören, ihre Überzeu‐ gungskraft: „Denn das übergeordnete Gesetz der Fortschritte des menschlichen Geistes reißt alles mit sich fort und beherrscht alles; die Menschen sind für dieses Gesetz nur Instrumente.“ 8 Comtes Vertrauen in das gesetzmäßige Agieren des „menschlichen Geistes“ erinnert an Hegels Apotheose des Weltgeistes, und es erklärt seine instrumentelle Auffassung der Wissenschaft, die nach der Devise „savoir pour prévoir“ verfahren soll. Sie soll versuchen, das Fortschreiten des Geistes zu verstehen, um ein entsprechendes Handeln in die Wege leiten I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) 31 <?page no="32"?> 9 A. Comte, Soziologie, Bd. III: Abschluß der Sozialphilosophie und allgemeine Folgerungen (Hrsg. H. Waentig), Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1923 (2. Aufl.), S.-614. 10 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, Stuttgart, E. Schweizerbart’sche Ver‐ lagshandung, 1877, S.-180-181. zu können: „Sehen um vorherzusehen: das ist das dauernde Unterscheidungs‐ merkmal der wahren Wissenschaft […].“ 9 Die Krisen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Comte nicht mehr erlebt hat, weil er 1857 starb, haben die um 1850 geborenen Soziologen - etwa Durkheim (1858-1917) oder Simmel (1858-1918) - bewogen, eher die Unwägbarkeiten und Risiken des Fortschritts zu beobachten als seine Höhen‐ flüge. Zugleich kam ihnen der Gedanke, dass angesichts der Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen vieles weder sichtbar noch vorhersehbar ist. Sie verabschiedeten sich sowohl von Hegels göttlichem Weltgeist, der die Vernunft verwirklichen sollte, als auch von Comtes „Gesetz der Fortschritte“, das die soziale Evolution auf ein positivistisches oder wissenschaftliches Stadium zusteuern ließ. In ihren Augen büßte auch Herbert Spencers (1820-1903) soziologische Erzählung, die den Übergang von der „kriegerischen“ zur „industriellen Gesell‐ schaft“ und die mit diesem Übergang einhergehende Stärkung des Individuums verkündet, an Glaubwürdigkeit ein: „[…] Der industrielle Typus ist deshalb der höher stehende, weil er, in jenem Zustande des dauernden Friedens, welchem die Civilisation entgegenstrebt, dem individuellen Wohlergehen besser dient als der kriegerische Typus.“ 10 Nach dem Krimkrieg und dem französisch-preußischen Krieg mag vor allem der Erste Weltkrieg, den Durkheim, Tönnies, Simmel und Max Weber noch erlebt haben, endgültig den kriegerischen Charakter des „industriellen Typus“ nachgewiesen haben. Es kommt hinzu - und dies ist das zweite Hauptthema dieses Buches -, dass dieser Typus, den in der Spätmoderne der Hochkapitalismus mit seinen Wirt‐ schaftskonzentrationen prägt, dem „individuellen Wohlergehen“ keineswegs „besser dient“ als die älteren Typen oder Entwicklungsstadien. Schon Spencer selbst hatte Gelegenheit, die sich abzeichnende Krise des Liberalismus in einer Zeit zunehmender Staatsinterventionen zu beobachten. Die spätmodernen Soziologen (vor allem Simmel und Max Weber) und alle Vertreter der Kritischen Theorie setzten sich intensiv nicht nur mit dem Niedergang des Liberalismus, sondern auch mit dem komplementären Niedergang des individuellen Subjekts auseinander. Beide Entwicklungen schärften ihren Blick für das, was im Laufe der sich beschleunigenden sozialen Evolution verloren geht. 32 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="33"?> 11 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (Hrsg. A. Bammé), München-Wien, Profil Verlag, 2017, S.-32. 1. Der Verlust der Gemeinschaft bei Ferdinand Tönnies Wenn Tönnies (1855-1936) den Verlust menschlicher Gemeinschaft beklagt, die er der kapitalistisch organisierten Gesellschaft gegenüberstellt, so ist das kein Grund, ihn als Konservativen oder Traditionalisten in Vergessenheit geraten zu lassen. Im Folgenden wird sich zeigen, dass er Marx und den Marxisten nicht ablehnend gegenüberstand, sondern versuchte, Marxsche Gedanken in seine Soziologie der Gemeinschaft aufzunehmen. Anders als die Begründer der Kritischen Theorie, die den Niedergang des libe‐ ralen Individualismus erlebten und versuchten, „das Richtige hinüberzuretten“, wie Musil sagt, beobachtete Tönnies den Zerfall der menschlichen Gemeinschaft und fasste Möglichkeiten ins Auge, sie in der kapitalistisch organisierten Gesellschaft neu zu beleben, um über den Kapitalismus hinausgehen zu können. In den von ihm entworfenen Szenarien spielte auch die Arbeiterschaft als antikapitalistische Kraft eine wesentliche Rolle. Tönnies’ Festhalten an der Gemeinschaft ist zumindest teilweise aus seinen frühen Erfahrungen ableitbar. Seine Erziehung in einer Großfamilie mit sieben Kindern, seine Kindheit in einer schleswig-holsteinischen Dorfgemeinde (Riep bei Oldenswort) und seine Schulzeit in der Kleinstadt Husum mögen wesentlich zur Entfaltung des für ihn so eigentümlichen Gemeinschaftsgeistes beigetragen haben. Vor diesem Hintergrund ist seine Auffassung der Gemeinschaft zu betrachten: als Familiengemeinschaft oder „Gemeinschaft des Blutes“, als „Gemeinschaft des Ortes“ (etwa Dorfgemeinschaft) und als „Gemeinschaft des Geistes“, die auch in größeren Städten Freunde oder gute Bekannte miteinander verbindet. Zur Begriffsbestimmung der Gemeinschaft bemerkt Tönnies selbst in Gemein‐ schaft und Gesellschaft: „Denn die Gemeinschaft des Blutes als Einheit des Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, die im Zusammenwohnen ihren unmittelbaren Ausdruck hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als dem bloßen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne.“ 11 Die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft gründen auf Tradition, Sitte und Gewohnheit. Im Gegensatz zur Gemeinschaft steht bei Tönnies die Gesellschaft, die er durchgehend als Marktgesellschaft auffasst: als ein antagonistisches Zusam‐ menleben egoistischer, miteinander konkurrierender Individuen, deren Bezie‐ hungen eher anonym und vertragsrechtlich geregelt sind. Als vom Tauschwert 1. Der Verlust der Gemeinschaft bei Ferdinand Tönnies 33 <?page no="34"?> 12 F. Tönnies, Geist der Neuzeit (Hrsg. R. Fechner), München-Wien, Profil Verlag, 2010, S.-32-33. 13 Vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Narr-Francke-Attempto (UTB), 2020, Kap. II: „Wer erzählt Gesellschaft und wie? Prozess oder Handlung? Theorie als Erzählung, Konstrukt und Dialog“. durchwirkte Welt wird die Gesellschaft vom Utilitarismus und vom Prinzip des do ut des beherrscht, so dass persönliche Beziehungen, die Gemeinschaften prägen, dem marktvermittelten Kalkül weichen. Tönnies̕ Erzählung der sozialen Evolution ließe sich mit der Kurzformel „von der Gemeinschaft zur Gesellschaft“ zusammenfassen. Hier ist Tönnies’ eigenes Resümee: „Dies ist der große in jeder einzelnen Kulturentwicklung fortwährend, wenn auch gegen starke Widerstände und nicht ohne rückläufige Bewegungen sich steigernde Vorgang ‚von Gemeinschaft zu Gesellschaft‘, der am nächsten in der Entwicklung der Individuen und des Individualismus als einer Gesamterscheinung sich darstellt.“ 12 Parallel zu dieser Darstellung erzählt Emile Durkheim die gesellschaftliche Evolution als eine Entwicklung von der mechanischen zur organischen Solida‐ rität. Seine Erzählung ist insofern mit der Tönniesschen vergleichbar, als für die mechanische Solidarität gemeinschaftliche Beziehungen (Ähnlichkeit der Beteiligten, face-to-face relations) kennzeichnend sind, während organische Solidarität ein funktionales Ganzes bezeichnet, das durch Arbeitsteilung und Zweckmäßigkeit zusammengehalten wird und gemeinschaftliche Bindungen nahezu ausschließt. Interessant ist nicht nur die Ähnlichkeit der beiden soziologischen Diskurse („vom Persönlichen zum Unpersönlichen, Anonymen“), sondern auch die Tat‐ sache, dass jeder der beiden Soziologen - trotz aller Übereinstimmungen - die soziale Wirklichkeit anders konstruiert. Sie kann anscheinend stets von neuem und stets anders wiedergegeben werden. 13 Den beiden Denkern ist jedoch gemeinsam, dass sie in ihren Darstellungen nicht nur den Fortschritt als Modernisierung beschreiben, sondern auch die Verluste, die er mit sich bringt. Während Durkheim die sozialen Pathologien (Anomie, Selbstmord) analysiert, die die Schwächung der mechanischen Solidarität und des Kollektivbewusst‐ seins mit sich bringt, setzt sich Tönnies mit den Folgen auseinander, die der allmähliche Zerfall der Gemeinschaft zeitigt. Die „Zunahme der gesellschaftli‐ chen gegenüber den gemeinschaftlichen Gestalten der sozialen Verhältnisse“ kommentiert Tönnies wie folgt: „Dies bedeutet zunehmende Entfremdung zwischen den aufeinander angewiesenen, insbesondere den zusammenarbei‐ tenden Schichten des Volkes, also den Klassen und Ständen, sofern solche 34 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="35"?> 14 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S.-135. 15 Ibid., S.-134. 16 F. Tönnies, Marx. Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), München-Wien, Profil Verlag, 2013, S.-182. noch vorhanden sein mögen.“ 14 Dies erinnert an Durkheims Beschreibungen der Anomie, die zwar kein Synonym für „Entfremdung“ ist, sehr wohl aber zur Entfremdung führen kann, weil sie Unsicherheiten und Konflikte innerhalb eines sich schnell ändernden Werte- und Normensystems bezeichnet - nicht „Normlosigkeit“, eher Koexistenz unvereinbarer Normen. Um anomische Zustände zu überwinden und das Kollektivbewusstsein zu stärken, schlägt Durkheim die Schaffung neuer Berufsgruppen (Korporationen) vor, und Tönnies plädiert analog dazu für eine Stärkung der Arbeiterbewegung und eine Erneuerung der Genossenschaften. Für beide soll der Staat sorgen, dem Tönnies eine Lösung der sozialen Frage zutraut: „Diese Betrachtung führt uns zunächst auf das andere große Gebiet der Staatstätigkeit und ihrer Aufgaben: die Lösung der sozialen Frage.“ 15 Im Gegensatz zu Spencer, der vor allem in seiner Schrift The Man versus the State (1884) in Übereinstimmung mit seiner liberalen Gesinnung individuelle Handlungsfreiheit gegen staatliche Interventionen in Schutz nimmt, steht Tönnies dem Sozialismus näher und beruft sich immer wieder auf Marx, dessen Denken er in seinem Buch Marx. Leben und Lehre kommentiert. Dort wird einerseits deutlich, dass Tönnies mit Marx sympathisiert, andererseits aber seine „utopistische Zuversicht“ nicht mehr teilen kann: „Auch wer diese Zuversicht in die Zukunft nicht teilt und den Glauben an eine klassenlose ebenso wie den an eine wettbewerb- und kampflose Gesellschaft für eine Illusion halten muß, wird sich dem sympathischen Eindruck solcher Hinweisungen nicht entziehen.“ 16 In dieser Textpassage sind die spätmodernen Affinitäten zur Kritischen Theorie kaum zu übersehen: Sowohl Tönnies als auch die Frankfurter Denker distanzieren sich von Marx’ modernem Vertrauen in eine geschichtsimmanente Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse, halten aber an der Durchsetzung von Marx’ gesellschaftskritischen Hauptanliegen fest. Bei Tönnies geht es um die Erhaltung oder Wiederbelebung der Gemeinschaft mit Hilfe des Staates, der Körperschaften und der Arbeiter; in der Kritischen Theorie soll das autonome Individuum als Kernelement des ansonsten scharf kritisierten Liberalismus verteidigt werden. In beiden Fällen gilt es, das zu bewahren, was von den Denkern der Spätmoderne als wertvoll und richtig erfahren wurde - und was im Spätkapitalismus verloren zu gehen droht. Anders als Rousseau, der den Naturzustand idealisiert und gegen Hobbes mit der natürlichen Güte des Menschen argumentiert, meint Tönnies, der ein 1. Der Verlust der Gemeinschaft bei Ferdinand Tönnies 35 <?page no="36"?> 17 Vgl. F. Tönnies, Thomas Hobbes - Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), München-Wien, Profil Verlag, 2014. 18 F. Tönnies, „Hobbes und das Zoon Politikon”, in: Schriften zu Thomas Hobbes (Hrsg. A. Bammé), München-Wien, Profil Verlag, 2015, S.-327-328. 19 F. Tönnies, Thomas Hobbes, op. cit., S.-375. 20 Vgl. ibid., S.-369. 21 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S.-96. 22 F. Tönnies, „Das Wesen der Soziologie“, in: ders., Studien zu Gemeinschaft und Gesell‐ schaft (Hrsg. K. Lichtblau), Wiesbaden, Springer VS, 2012, S.-215. umfangreiches Buch über Hobbes verfasst hat 17 , dass Hobbes’ von Egoismus und Habsucht geprägter Naturzustand eine mythische Darstellung der frühen (städtischen) Marktgesellschaft ist: „Keine Spur findet sich bei Hobbes des Gedankens, der uns heute näher liegt als seine Ansicht vom Ur- oder von dem in aller Kultur verborgenen Naturzustande: des Gedankens nämlich, dass gerade die moderne grossstädtische, gesellschaftliche Zivilisation, von der er freilich nur die Anfänge kannte, einen verhüllten Krieg aller gegen alle darstellt.“ 18 Was Hobbes in Wirklichkeit analysiert, ohne es zu wissen und zu sagen, ist „das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise“. 19 In Gemeinschaft und Gesellschaft stellt der Autor fest, dass die von ihm beschriebene Marktgesellschaft aus den von Hobbes dargestellten frühkapitalistischen Verhältnissen hervorgegangen ist. 20 Trotz ihrer gegensätzlichen Auffassungen des Naturzustandes (Naturzustand als humanes Dasein vs. Naturzustand als mythische Darstellung des Frühka‐ pitalismus) erzählen Rousseau und Tönnies die soziale Evolution übereinstim‐ mend als Verfall. Tönnies’ soziologische Erzählung „von der Gemeinschaft zur Gesellschaft“ ist als Geschichte dieses Verfalls zu lesen, obwohl Tönnies dem Individualismus keineswegs ablehnend gegenübersteht. 21 Rein strukturell betrachtet, kann diese Erzählung als Analogon der kritisch-theoretischen Erzäh‐ lungen aufgefasst werden, deren Autoren nach dem Scheitern der proletarischen Revolutionen nach Wegen suchen, die aus den kapitalistischen Verhältnissen hinausführen. Dabei halten sie an der Autonomie und Kritikfähigkeit des Individuums fest, die es in ihren Augen unter allen Umständen zu bewahren gilt. Analog dazu erhofft sich Tönnies eine „Wiederherstellung“ der Gemeinschaft durch die Arbeiterschaft und erklärt, „daß die Idee der Arbeiterbewegung auf eine Wiederherstellung der Gemeinschaft abzielt, nämlich die Schaffung einer neuen sozialen Grundlage, eines neuen Geistes, neuen Willens, neuer Sittlichkeit […].“ 22 Den Arbeitern und der Arbeiterbewegung spricht Tönnies einen Gemeinschaftsgeist zu, den er beim Bürgertum, das Wirtschaft und Gesellschaft zweckrational organisiert, vermisst. 36 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="37"?> 23 P.-U. Merz-Benz, Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies̕ begriffliche Konstitution der Sozialwelt, Frankfurt, Suhrkamp, 1995, S.-297. 24 A. Bammé, Die Vierte Singularität. Perspektiven einer soziologischen Zeitdiagnostik, Marburg, Metropolis- Verlag, 2020, S.-443. 25 F. Tönnies, Marx. Leben und Lehre, op. cit., S.-182. 26 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S.-104. 27 Vgl. A. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt, Suhrkamp, 1999, S.-150-152. 28 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S.-321. Die „Idee der Arbeiterbewegung“ ergänzt bei ihm der Gedanke an eine Stärkung der Genossenschaften, die eine ähnlich solidarisierende Funktion erfüllen sollen wie Durkheims Korporationen oder Berufsverbände. Dazu be‐ merkt Peter-Ulrich Merz-Benz: „Nicht der Vernunft entstammend, sondern dem Instinkt, dem Gefühl und dem Gewissen, bestimmen [die] genossenschaftlichen Rechtsverhältnisse das Zusammenleben im gemeinschaftlichen Haushalt des Dorfes, der Gemeinde und der Stadt […].“ 23 Kurzum, die gemeinschaftlichen Kräfte sollten nach Tönnies die „Transformation der liberalen in eine soziale Demokratie“ 24 , wie Arno Bammé sagt, ermöglichen. Dies ist Tönnies’ Alternative zu Marx̕ Erzählschema „vom Kapitalismus zur Diktatur des Proletariats, zur klassenlosen Gesellschaft“. An diesem Schema stört den spätmodernen Soziologen „eine utopistische Zuversicht, die mehr den Charakter eines religiösen Glaubens als eines wissenschaftlichen Gedankens hat“. 25 Ihn stört auch der Umstand, dass Marx bei der Entwicklung seines Schemas nicht berücksichtigt, was im historischen Prozess verloren geht, zerstört wird: „daß die Neuzeit die mittelalterliche Entwicklung des sozialen Lebens nicht nur fortsetzt, sondern auch zerstört“. 26 Auch in dieser Kritik an Marx stimmt er mit den Frankfurter Denkern überein, die nach dem Zweiten Weltkrieg den „wissenschaftlichen Sozialismus“ der Marxisten mitsamt ihren revolutionären Hoffnungen verabschieden. 27 Letztlich münden sowohl die Gedankengänge des Soziologen als auch die der Frankfurter Philosophen angesichts der Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus in eine Ratlosigkeit, die an Verzweiflung grenzt. Tönnies erscheint der Staat, den er für fähig hält, eine soziale, nichtkapitalistische Demokratie zu errichten, als rettende Instanz: „Der Staat, als die Vernunft der Gesellschaft, müßte sich ent‐ schließen, die Gesellschaft zu vernichten, oder doch umgestaltend zu erneuern. Das Gelingen solcher Versuche ist außerordentlich unwahrscheinlich.“ 28 Man könnte hinzufügen, dass solche Versuche auch sehr riskant sind. In eine ähnliche argumentative Situation manövriert sich Adorno in seinem Aufsatz „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? “, der wie Tönnies̕ Über‐ 1. Der Verlust der Gemeinschaft bei Ferdinand Tönnies 37 <?page no="38"?> 29 Th. W. Adorno, Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 173. 30 Ibid. 31 U. Krähnke, „Georg Simmel“, in: D. Brock, M. Junge, U. Krähnke, Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons. Einführung, München, Oldenbourg, 2012 (3. Aufl.), S.-134. legungen von Ausweglosigkeit zeugt. „Kein Standort außerhalb des Getriebes“ 29 lasse sich bezeichnen, von dem aus der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang kritisch erfasst werden könnte. Nur an „seiner eigenen Unstimmigkeit [sei] der Hebel anzusetzen“. 30 Das Wort „Unstimmigkeit“ evoziert die immanente Kritik, von der hier in der Einleitung die Rede war. Für sie ist das isolierte Individuum verantwortlich, dessen Autonomie es in allen Varianten der Kritischen Theorie zu retten gilt. Auf den ersten Blick mag es zwar als Antipode des Staates erscheinen, der bei Tön‐ nies die Vernunft verkörpert; es tritt aber in der Kritischen Theorie - zusammen mit dem Kunstwerk - als letzter Träger der Vernunft auf. Dieses autonome, kritikfähige Individuum steht auch im Mittelpunkt von Georg Simmels Werk, das unter allen spätmodernen Werken die stärksten und sichtbarsten Affinitäten zur Kritischen Theorie aufweist. 2. Das Individuum zwischen Befreiung und Zerfall: Georg Simmel und die Kritische Theorie Wie Tönnies fasst auch Simmel die gesellschaftliche Entwicklung als einen ambivalenten Prozess auf, der einerseits zwar technische Errungenschaften und neue Freiheiten mit sich bringt, andererseits aber das individuelle Subjekt, das die wachsende Komplexität des Sozialsystems nicht mehr überblickt, akut bedroht. Wie die Vertreter der Kritischen Theorie richtet Simmel sein Augen‐ merk auf die Entwicklung des liberalen Individualismus, dem die sich rasch entwickelnde Konzernwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Grundlagen entzieht. Die Affinität zwischen Simmels Denken und dem der Frankfurter Theoretiker ist wohl auf seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund zurückzuführen. Anders als Tönnies, der in einer holsteinischen Dorfgemeinde aufwuchs, wurde Simmel „1858 im Herzen der pulsierenden Großstadtmetropole Berlin geboren“ 31 , wie Uwe Krähnke schreibt. Er war kritischer Intellektueller und Bildungsbürger zugleich, der sich mit nahezu allen philosophischen, künstlerischen und litera‐ rischen Strömungen seiner Zeit auseinandersetzte. Lange Zeit war er Privatdo‐ 38 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="39"?> 32 R. M. Leck, Georg Simmel and Avant-Garde Sociology. The Birth of Modernity, 1880-1920, Amherst (N. Y.), Humanity Books, 2000, S.-25. 33 Vgl. N. Bolz, „Nietzsches Spur in der Ästhetischen Theorie“, in: B. Lindner, W. M. Lüdke (Hrsg.), Materialien zur Ästhetischen Theorie. Th. W. Adornos Konstruktion der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1979. 34 G. Simmel, „Vom Sinn der Geschichte“, in: ders., Aufsätze 1887-1890. Über Sociale Diffe‐ renzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), Georg Simmel Gesamtausgabe (im Folgenden: GSG), Bd. II (Hrsg. H.-J. Dahme), Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S.-401. zent an der Berliner Universität und wurde erst 1914, vier Jahre vor seinem Tod, zum ordentlichen Professor in Straßburg ernannt. Als kritischer Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen sah er in der bürgerlichen Bildung der liberalen Ära nicht einfach ein Gut, das von Generation zu Generation weitergereicht wird, sondern einen sich wandelnden Bereich, der in die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eingebettet ist und nicht unab‐ hängig von Wirtschaft, Politik und Technik untersucht werden kann. Zugleich sah er, dass eine Aneignung der expandierenden „objektiven Kultur“ durch das sich spezialisierende individuelle Subjekt immer problematischer wird, so dass Bildung im bildungsbürgerlichen Sinne zur Atrophie verurteilt ist. Dieser Verlust ist eines der Hauptthemen seiner Soziologie. Als kritischer Intellektueller kann er den eine Generation später wirkenden Autoren der Kritischen Theorie angenähert werden. Was Ralph M. Leck über ihn schreibt, gilt bis zu einem gewissen Grad auch für Adorno, Horkheimer und Marcuse: „But he was a member of an iconoclastic, often bohemian, and reform-minded German intelligentsia.“ 32 Als „Nietzschean anti-capitalist“ (Leck) ist er nicht so weit von Adorno und Horkheimer entfernt, die sich nicht nur auf Marx, sondern auch auf Nietzsche 33 und Schopenhauer berufen (vgl. Kap. IV. 3). Mit Simmel teilen sie auch einen gewissen Kantianismus, der nicht nur ihr Festhalten am autonomen Individuum fundiert, sondern auch ihre Skepsis allen hegelianischen Versuchen gegenüber erklärt, Wahrheit mit der Teleologie der systemisch eingefassten historischen Metaerzählung zu identifizieren. Gegen Hegel und die Hegelianer könnte die folgende Passage aus Simmels Aufsatz „Vom Sinn der Geschichte“ gewendet werden: „Es wird gefragt, was der Sinn der Geschichte ist, was ihren Zweck, was ihr begriffliches Wesen bildet - während es von vornherein bloß hypothetisch ist, daß sie überhaupt einen Sinn und Zweck hat oder sich der Form eines allgemeinen Begriffes fügt - freilich ohne daß die Verneinung davon weniger hypothetisch wäre.“ 34 Dies bedeutet, in einen zeitgenössischen Sprachgebrauch übersetzt, dass alle Geschichtstheorien nur mehr oder weniger plausible Konstruktionen oder Erzählungen sind. In diesem Kontext sind Simmels Einwände gegen den Historischen Materia‐ lismus zu verstehen, den er keineswegs pauschal verurteilt: „Damit soll nicht 2. Georg Simmel und die Kritische Theorie 39 <?page no="40"?> 35 Ibid., S.-396. 36 Zur realistischen Illusion des Marxismus vgl. P. V. Zima, Diskurs und Macht. Einführung in die herrschaftskritische Erzähltheorie, Opladen-Toronto, Budrich (UTB), 2022, Kap. VI. 2: „Hegelianismus und Marxismus. Ein Intermezzo“. 37 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen aus Deutschland, Frankfurt, Fischer, 1974, S.-216. 38 Th. W. Adorno, „Fortschritt“, in: Stichworte. Kritische Modelle 2, in: Kulturkrtitik und Gesellschaft II, Gesammelte Schriften (im Folgenden GS) Bd. X. 2 (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2021 (9. Aufl.), S.-63. 39 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften (im Folgenden: GS), Bd. V: „Dialektik der Aufklärung“ und Schriften 1940-1950 (Hrsg. G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 2014 (4. Aufl.), S.-41. eine abfällige Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung gegeben, son‐ dern ihr nur die erkenntnistheoretische Ausnahmestellung genommen sein, in der sie sich von jeder metaphysischen Affizierung frei glaubte.“ 35 Der Ausdruck „erkenntnistheoretische Ausnahmestellung“ zielt auf die Annahme der Mar‐ xisten, ihr Diskurs sei im Gegensatz zu allen idealistischen („metaphysischen“) Diskursen realistisch: er entspreche der Wirklichkeit. 36 Horkheimer bescheinigt dem gegenwärtigen Lauf der Geschichte seine Sinn‐ losigkeit, wenn er erklärt: „All das gehört zur Dialektik der Aufklärung, dem Umschlag von Wahrheit in unbedingte Konformität mit der Sinnlosigkeit, mit der Realität schlechthin.“ 37 Dieser Satz beinhaltet allerdings, dass es eine wahre, sinnvolle Entwicklung der Gesellschaft geben könnte und dass diese Entwick‐ lung als Herrschaftsfreiheit und Versöhnung mit der Natur von der Kritischen Theorie beschrieben wird. Dies bestätigt ein Gedanke aus Adornos Essay über den Fortschritt, der an Alfred Webers Kritik am „Zivilisationsprozess“ (vgl. Abschn. 4) erinnert: „Die Fetischiserung des Fortschritts bekräftigt dessen Partikularität, seine Begrenztheit auf Techniken. Wäre wahrhaft der Fortschritt des Ganzen mächtig, dessen Begriff die Male seiner Gewalttätigkeit trägt, so wäre er nicht länger totalitär.“ 38 Simmel könnte einwenden, dass auch dieser Entwurf einer herrschaftsfreien Gesellschaftsentwicklung eine Konstruktion ist, deren Realisierbarkeit ebenso angezweifelt werden kann wie die „klassenlose Gesellschaft“ der Marxisten. Er könnte hinzufügen, dass „die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit“ nicht so schnell inne wird, zumal sie von Klimakonferenz zu Klimakonferenz bisher kaum Fortschritte verbucht hat und sich weiterhin dem Wirtschaftswachstum verpflichtet fühlt. Es kommt hinzu, dass der Ausdruck „Angleichung an die Natur“ 39 (statt Naturbeherrschung) aus der Dialektik der Aufklärung so vage ist, dass seine Bedeutung für die soziale Praxis füglich bezweifelt werden kann. 40 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="41"?> 40 F. Nietzsche, Werke, Bd. VI: Nachlass (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 625. 41 G. Simmel, Philosophie des Geldes, GSG, Bd. VI (Hrsg. D. P. Frisby, K. Ch. Köhnke), Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (10. Aufl.), S.-593. Als konsequenter Konstruktivist ist Simmel der Kritischen Theorie - trotz seiner Verwurzelung im 19. Jahrhundert - voraus. Als Vertreter spätmoderner Skepsis und Kritiker moderner Großentwürfe hat er keine eigene „Metaer‐ zählung“ oder „Heilserzählung“ im modernen Sinne vorgelegt, sondern die Ambivalenz gesellschaftlicher Entwicklungen beobachtet, die sowohl Freiheit als auch Knechtung, Bereicherung und Verarmung, Aufbau und Zerstörung mit sich bringen. Er hält es mit dem spätmodernen Nietzsche, dem Systemkritiker und Essayisten, der bemerkt: „Tatsächlich bringt jedes große Wachstum auch ein ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich […].“ 40 Der Dialektik zwischen Wachstum und Vergehen, Fortschritt und Rückbil‐ dung widmet Simmel seine Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung, die er in eine „Tragödie der Kultur“ münden lässt. Er zeigt, wie diese Entwicklung die Autonomie des individuellen Subjekts in Frage stellt, weil sie Subjektivität aushöhlt. In diesem Punkt trifft er sich wieder mit der Kritischen Theorie, die ebenfalls die Begriffe „Kultur“ und „Bildung“ in Frage stellt. Die Kräfte, die die gesellschaftliche Entwicklung in Bewegung halten, sind in Simmels Soziologie: die Geldwirtschaft, die Vergesellschaftung als Wechsel‐ wirkung oder Interaktion von Individuen und Gruppen sowie die in dieser stets differenzierter werdenden Interaktion entstehende und stetig wachsende Kultur. Alle diese Prozesse sind von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt: Das Geld befreit und verdinglicht den Menschen, die Interaktion mit Anderen bringt Kultur mit ihren Institutionen hervor, in denen Individuen und Gruppen sich bilden können. Ihre Bildung ist letztlich aber zum Scheitern verurteilt, weil das Anwachsen der Kultur - vor allem in der Moderne und der Spätmoderne - zur Folge hat, dass der Einzelne im kulturellen Bereich die Orientierung verliert, so dass er dem Bildungsideal, das Simmel vor Augen hat, nicht mehr genügen kann. Diese Situation bezeichnet Simmel als „die Tragödie der Kultur“. In Simmels Philosophie des Geldes ist zwar von der „Bedeutung der Geldwirt‐ schaft für die individuelle Freiheit“ 41 die Rede, weil das Geld den Einzelnen im städtischen Milieu aus kollektiven Bindungen an Großfamilie, Hof und Dorf befreit; zugleich erinnert Simmel aber daran, dass das Geld durch seine Abstraktion die Erfahrungen des Menschen mit seiner Umgebung atrophieren lässt. In seinem Aufsatz über „Die Großstädte und das Geistesleben“ heißt es: „Darum sind die Großstädte, die Hauptsitze des Geldverkehrs und in denen die Käuflichkeit der Dinge sich in ganz anderem Umfange aufdrängt, als 2. Georg Simmel und die Kritische Theorie 41 <?page no="42"?> 42 G. Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, GSG, Bd. VII (Hrsg. R. Kramme, A. Rammstedt, O. Rammstedt), Frankfurt, Suhrkamp (1995), 2016 (3. Aufl.), S.-122. 43 G. Simmel, „Das Geld in der modernen Cultur“, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900, GSG, Bd. V (Hrsg. H.-J. Dahme, D. P. Frisby) Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S.-185. 44 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-35. in kleineren Verhältnissen, auch die eigentlichen Stätten der Blasiertheit.“ 42 Blasiertheit (frz. blasé: indifférent, insensible usw.) schränkt die Fähigkeit des Individuums, Erfahrungen mit seiner Umgebung, seinen Mitmenschen und den ihn umgebenden Dingen zu machen, drastisch ein. Hinzu kommt, dass in der großstädtischen Geldwirtschaft die Wechselbeziehung von Zeit und Geldverdienen zum alles beherrschenden Prinzip wird, so dass das Geld als Mittel zum Selbstzweck aufsteigt und alles, was früher Selbstzweck war (auch den Mitmenschen), in ein Mittel verwandelt. So wird das Leben inhaltslos: „[…] Mit dem Gelde in der Tasche sind wir frei, während uns vorher der Gegenstand von den Bedingungen seiner Conservierung und Fructificirung abhängig machte. Allein wie oft bedeutet nun gerade diese Freiheit zugleich Inhaltslosigkeit des Lebens und Lockerung seiner Substanz! “ 43 Ergänzend beschreiben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Auf‐ klärung den Nexus von Freiheit und Unfreiheit in der Marktwirtschaft: „Die Wohltat, daß der Markt nicht nach der Geburt fragt, hat der Tauschende damit bezahlt, daß er seine von Geburt verliehenen Möglichkeiten von der Produktion der Waren, die man auf dem Markte kaufen kann, modellieren läßt.“ 44 Jeder, der zu hören bekommt, dass er für die von ihm ausgeübte Tätigkeit „eigentlich überqualifiziert“ sei, muss sich vom Markt als Geldwirtschaft „modellieren“ lassen, da seine Fähigkeiten nicht (mehr) der Nachfrage entsprechen. Von besonderem Interesse ist hier die strukturelle Ähnlichkeit der Argumen‐ tationen: Sowohl Simmel als auch Adorno und Horkheimer betrachten die Wechselwirkung zwischen sozialem Fortschritt und dem, was er zerstört. Oft steht das, was durch Fortschritt verloren geht, im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Dieses Argumentationsmuster ist auch in Simmels Darstellungen der Kultur‐ entwicklung zu beobachten, die durch Vergesellschaftung als Wechselwirkung oder Interaktion zustande kommt. Im Gegensatz zu den Autoren der Kritischen Theorie geht Simmel nicht vom Herrschaftsprinzip als Naturbeherrschung oder vom Klassengegensatz aus, sondern vom Problem der sozialen Differenzierung und Arbeitsteilung im Kapitalismus. In seinem Aufsatz „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“ 42 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="43"?> 45 G. Simmel, „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“ (1900), in: ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl (Hrsg. H.-D. Dahme, O. Rammstedt), Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S.-97. 46 U. Menzer, Subjektive und objektive Kultur. Georg Simmels Philosophie der Geschlechter vor dem Hintergrund des Kultur-Begriffs, Pfaffenweiler, Centaurus, 1992, S.-63. aus dem Jahr 1900 heißt es: „Dieser Erörterung des allgemeinen Kulturbegriffs stelle ich nun ein besonderes Verhältnis innerhalb der gegenwärtigen Kultur gegenüber. Vergleicht man dieselbe etwa mit der Zeit vor hundert Jahren, so kann man - viele natürliche Ausnahmen vorbehalten - doch wohl sagen: die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst - sind unsäglich kulti‐ viert, aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückge‐ gangen.“ 45 Es lohnt sich, diese beiden Sätze näher zu betrachten. Der erste Satz leitet einen Vergleich der Zeit um 1900 „mit der Zeit vor hundert Jahren“ ein, und dieser mündet in die Erkenntnis, dass die „objektive Kultur“ (Simmel) so stark angewachsen ist, dass die Kultur des Einzelnen mit dieser Expansion nicht Schritt halten konnte und sich in vielen Fällen sogar zurückgebildet hat. Dies bedeutet, dass die Kultur oder Bildung der Individuen allmählich atrophiert. Der Grund für diese Entwicklung wird schon im Titel angegeben: Die Kultur in ihrer Gesamtheit (als Technik, Wissenschaft, Kunst und Architektur) ist ein arbeitsteilig hervorgebrachtes Produkt zahlreicher Individuen und Gruppen, ein Ergebnis von „Vergesellschaftung als Wechselwirkung“, das der Einzelne weder überblicken noch sich aneignen kann. Somit entsteht eine wachsende Diskrepanz zwischen der zunehmenden Kom‐ plexität der „objektiven Kultur“ und der Fähigkeit der Einzelperson, sich diese Kultur anzueignen, sich in ihr zu bilden. Als hochspezialisierter Fachmensch ist der Einzelne dazu verurteilt, als Fremder in der eigenen Kultur zu agieren. Diese „Tragödie der Kultur“ führt nach Simmel dazu, dass Kultur in der zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mehr gelebt wird. Sie ist tot, weil sie nicht mehr Eingang in das Alltagsleben der Individuen findet. Dazu bemerkt Ursula Menzer im Anschluss an Simmel: „Den unter den Bedingungen der Arbeitsteilung hergestellten Objekten fehlt die Durchseeltheit, da in sie nicht die Schaffenskräfte ganzer Menschen einfließen […], so daß die ‚Arbeitsteilung, die den Kulturinhalt subjektlos macht, ihm eine entseelte Objektivität gibt‘.“ 46 Anders gesagt, Subjekt und Objekt treten auseinander, und es kommt in der „Tragödie der Kultur“ zu einer Entfremdung des Individuums von seiner Kultur. (Man braucht nur daran zu denken, wie schwierig es ist, einem 2. Georg Simmel und die Kritische Theorie 43 <?page no="44"?> 47 G. Simmel, „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“, in: ders., Schriften zur Soziologie, op. cit., S.-104. 48 Th. W. Adorno, „Theorie der Halbbildung“, in: Soziologische Schriften I, GS VIII (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2022 (6. Aufl.), S.-94. 49 Ibid., S.-102. 50 Ibid., S.-102-103. zeitgenössischen Publikum - nicht nur Schülerinnen und Schülern - Miltons Paradise Lost oder Goethes Faust-Drama näher zu bringen.) Auf diese Entfremdung reagiert Simmel, indem er ein Bild der Vergangenheit ins Gedächtnis ruft, das die verlorene Einheit veranschaulichen soll: das Athen der Antike, dessen Bürger noch in der Lage waren, sich einen Überblick über ihre Kultur zu verschaffen, der es ihnen gestattete, sich diese Kultur anzueignen. Zum Auseinanderfallen der objektiven und der subjektiven Kultur (der Bildung) bemerkt Simmel: „Es war die unvergleichliche Situation Athens in seiner Blütezeit, daß es bei all seiner Kulturhöhe gerade dies […] zu vermeiden wußte.“ 47 Auf den ersten Blick mag der Vergleich einer antiken Kultursituation mit dem Zustand der modernen Kultur um 1900 befremdend wirken. Schließlich sind seither fast zweieinhalb Jahrtausende vergangen. Der Vergleich wirkt plausibler, wenn man ihn im Kontext betrachtet und ihn auf Simmels bildungsbürgerlichen Hintergrund bezieht, zu dessen wesentlichen Aspekten die klassische Bildung gehörte. Vor diesem Hintergrund steht „Athen“ als Metonymie oder Synekdoche für den allseitig gebildeten Bürger, der Simmel selbst war und dessen Untergang er in der „Tragödie der Kultur“ beobachtete. Denn er sah mit Alfred Weber und Max Weber, wie der Bildungsbürger der liberalen Ära vom „Fachmenschen“ (M. Weber: vgl. Abschn. 3) abgelöst wurde: wie Bildung verloren ging. „Denn Bildung“, erklärt Adorno in Simmels Sprachduktus, „ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“. 48 In diesem Punkt trifft sich Simmel als Kulturkritiker mit den Vertretern der Kritischen Theorie, die wie er aus dem liberalen Bildungsbürgertum stammten. Für seinen Diskurs ist auf struktureller Ebene der schon zitierte Satz aus Adornos Essay über die „Theorie der Halbbildung“ charakteristisch: „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere.“ 49 Um naheliegende Missverständ‐ nisse auszuschließen, erklärt Adorno sogleich die kritische Bedeutung des „Früheren“: „Es zeigt in dem Augenblick, da es verurteilt ist, gegenüber der jüngeren Form des Bestürzenden als Verschwindendes versöhnende Farbe. Al‐ lein um ihretwillen, keiner laudatio temporis acti zuliebe, wird auf traditionelle Bildung rekurriert.“ 50 Abermals geht es hier um den Verlust einer Vergangenheit, die nicht nur im Rückblick sinnvoller erscheint, sondern auch sinnvoller war, weil das einzelne 44 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="45"?> 51 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 (8. Aufl.), S.-151. 52 Th. W. Adorno, Stichworte. Kritische Modelle II, in: GS X. 2, op. cit., S.-636. 53 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969, op. cit., S.-110. Subjekt als Bildungsbürger noch in der Lage war, sich sein kulturelles Umfeld anzueignen. Marcuse scheint Simmels Gedankengang in die zweite Hälfte des 20.-Jahrhunderts hinein zu verlängern, wenn er in Kultur und Gesellschaft über die „authentischen Werke“ der Vergangenheit schreibt: „Um aber den Erkennt‐ nisgehalt dieser Werke zu bewahren, bedarf es geistiger Fähigkeiten und eines intellektuellen Bewußtseins, die den von der herrschenden Zivilisation in den fortgeschrittenen Industrieländern gewünschten Denk- und Verhaltensweisen nicht eben angemessen sind.“ 51 Dies bedeutet auch, dass herrschende Denkweisen dazu tendieren, überflüs‐ sigen Kulturballast abzuwerfen, damit sich die Menschen auf das Wesentliche, das Praktisch-Nützliche, auf dem Markt Verwertbare konzentrieren. Diese Denkweise mag durchaus mit marktgängigen Zusammenfassungen von Shake‐ speares Dramen, Goethes Faust oder Nietzsches Zarathustra vorlieb nehmen: „Kultur für alle“. Aber wie fasst man Mallarmés oder Brownings Gedichte zusammen? No problem: Sie werden mit dem Ballast der Vergangenheit abge‐ worfen. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von „Rückbildung“ und verwendet einen Ausdruck, der an Alfred Webers „Rebarbarisierung“ (vgl. Abschn. 4) erinnert: „Am Ende freilich scheint, im Einklang mit den realen Rückbildungs‐ tendenzen der Gesellschaft, am Fortschritt der Philosophie sich zu rächen, wie wenig er einer war.“ 52 Ihm erscheint die Annahme, es hätte von Hegel zu den logischen Positivisten ein Fortschritt stattgefunden, als Absurdität. Nicht diese Entwicklung in der Philosophie ist hier von Belang, sondern der Gedanke der Kritischen Theorie, dass trotz aller technischen Fortschritte (von der Kern‐ energie zur Raumfahrt) kein gesellschaftlicher Fortschritt - und auch kein Fortschritt des Denkens stattgefunden hat. Dies hängt wiederum mit Simmels „Tragödie der Kultur“ zusammen, die zeigt, wie Individuen die Übersicht übers Ganze verlieren. Diese „Tragödie“ ist jedoch nicht der einzige Grund, warum der Einzelne schließlich resigniert. Einen weiteren Grund nennt Horkheimer, wenn er an den Niedergang des liberalen Individualismus erinnert, in dessen Verlauf der Ein‐ zelne zum Untergang verurteilt ist: „Mit dem im monopolistischen Kapitalismus notwendig sich überlebenden Liberalismus aber verliert auch die Vorstellung von der Bedeutung jedes Einzelnen ihre Aktualität.“ 53 Dieser Gedanke ergänzt im spätmodernen und spätkapitalistischen Kontext insofern Simmels Kulturkritik, als er zeigt, dass nicht nur die von Simmel ausführlich kommentierten Prozesse 2. Georg Simmel und die Kritische Theorie 45 <?page no="46"?> 54 Vgl. G. Simmel, Sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersu‐ chungen, Leipzig, Duncker und Humblot, 1890. 55 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 (9. Aufl.), S.-93-94. 56 Ibid., S.-126. 57 Th. W. Adorno, Stichworte, in: GS X. 2, op. cit., S.-699. der Differenzierung 54 und Arbeitsteilung zur Entmachtung des individuellen Subjekts führen, sondern auch das Verschwinden des liberalen Unternehmers, der sich aufgrund seiner Stellung in Wirtschaft und Gesellschaft eine gewisse Übersicht verschaffen konnte - auch weil er eine bestimmte, wenn auch eher praxisorientierte, Bildung besaß. Diese Bildung - in diesem Punkt stimmen Simmels Soziologie und Kritische Theorie überein - ist unwiederbringlich verloren. In Übereinstimmung mit Simmel und Adorno misst auch Marcuse „das neue Schlechte“ am untergegan‐ genen „Früheren“. Der Fortschritt, der schon stattgefunden hat, wird rückgängig gemacht: „Die neuen Methoden der Disziplinierung sind nicht möglich, ohne die fortschrittlichen Momente abzustoßen, die in den früheren Stadien der Kultur enthalten waren. Von der letzten Entwicklung her gesehen, erscheint die Kultur jener Stadien wie eine glücklichere Vergangenheit.“ 55 In der gegenwärtigen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation wirkt diese Art von Nostalgie anachronistisch. Dabei wird vergessen, was bereits erreicht worden war und verloren ging. Zugleich gerät die fatale Entwicklung aus dem Blickfeld, die von Wirtschaftswachstum, Wettrüsten und einer sich be‐ schleunigenden, durchkommerzialisierten Medienkommunikation angetrieben wird. Nicht zu Unrecht hebt daher Marcuse den kritischen Nexus von Vergan‐ genheit und Zukunft hervor: „Die Kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es ihr um die Zukunft geht.“ 56 In diesem Kontext erscheint Adorno gerade das isolierte Individuum, das diesem Tempo nicht gewachsen ist, aber bisweilen innehält, um das Getriebe zu beobachten, als die eigentlich kritische Instanz: „Bisher kennt Geschichte keinen gradlinigen Fortschritt. Solange er einsträhnig verläuft, in der Bahn bloßer Naturbeherrschung, verkörpert sich, was geistig darüber hinausreicht, eher in dem mit der Haupttendenz nicht ganz Mitgekommenen als in dem, was up to date ist.“ 57 Das kritische Individuum ist isoliert, weil es von denen, die sich der vom Tauschwert beherrschten Sprache bedienen, nicht mehr verstanden wird. Wer beim Wort „Bestseller“ eher auf Mittelmaß als auf Qualität schließt, bei einem wissenschaftlichen Projekt nicht nach seiner „Drittmittelfähigkeit“ fragt und kaum zuhört, wenn ihm gesagt wird, die ihm angebotene Stelle sei „gut 46 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="47"?> 58 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: GS IV (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2022, S.-114. 59 G. Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900, GSG, Bd. V, op. cit., S.-188-189. dotiert“, weil er eher an die Landschaft denkt, in der er arbeiten und leben soll, wird nicht verstanden. Er spricht eine andere Sprache - nicht die des Wirtschaftswachstums. Dazu heißt es in Adornos Minima Moralia: „Nur, was sie nicht erst zu ver‐ stehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei.“ 58 Im dritten Kapitel (über Adorno und Lyotard) wird sich hier zeigen, dass diese Demoralisierung das allmähliche Verschwinden der Intellektuellen bewirkt: Da sie eine andere Sprache sprechen, werden sie nicht mehr verstanden. Auf allgemeinster Ebene, auf der individuelles und kollektives Menschen‐ schicksal ineinandergreifen, stellt Simmel in „Das Geld und die moderne Cultur“ um 1900 die gegenwärtige Problematik dar. Zur Rolle des Geldes bemerkt er: „Aus einem bloßen Mittel und einer Vorbedingung wächst es innerlich zu einem Endzwecke aus. […] Um so näher aber liegt die Gefahr, in diesem Labyrinth von Mitteln stecken zu bleiben und über sie den Endzweck zu vergessen.“ 59 Seit geraumer Zeit stecken Individuen, steckt die Menschheit als ganze „in diesem Labyrinth von Mitteln“, in dem sinnlose Geldverschwendung von ebenso sinnlosen Sparmaßnahmen begleitet wird. Sie bewegt sich im Blindflug auf ein unbekanntes Ziel zu, weil das Geld als Endzweck den eigentlichen Endzweck - eine befriedete Menschheit in einer bewohnbaren Welt - immer wieder verdeckt. Als Mittel und Zweck dient es der Naturbeherrschung und der „in‐ strumentellen Vernunft“ (Horkheimer), die die Naturbeherrschung ermöglicht. 3. Liberalismus, Rationalisierung und Individualisierung: Max Weber und die Kritische Theorie Die Differenzen, die Max Webers Soziologie sowohl von der Simmels als auch von der Kritischen Theorie trennen, sind gewaltig und kommen unter anderem in Marcuses Kritik an Weber zum Ausdruck. In einem Vortrag, den er am 15. Deutschen Soziologentag hielt (1964 in Heidelberg), wirft er Weber vor, dass er zwar die Tendenz zu Verdinglichung und Entfremdung, die dem kapitalistischen Rationalisierungsprozess zugrunde liegt, sieht, schließlich aber nur die kapitalistische zweckrationale Vernunft als einzig mögliche Vernunft 3. Max Weber und die Kritische Theorie 47 <?page no="48"?> 60 H. Marcuse, „Industrialisierung und Kapitalismus“, in: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des fünfzehnten deutschen Soziologentages, Tübingen, Mohr-Sie‐ beck, 1965, S.-166. 61 M. R. Lepsius, „Politik als Beruf. Eine Diskussion mit Christian Graf von Krockow, M. Rainer Lepsius und Hans Maier“, in: Max Weber. Ein Symposion (Hrsg. Ch. Gneuss, J. Kocka), München, DTV, 1988, S.-25. 62 J. Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin, Rowohlt, 2014, S.-55. 63 Zu Mirabeaus Synthese von Politik und Kritik vgl. J. Ortega y Gasset, „Mirabeau o el político“, in: Tríptico. Mirabeau o el político - Kant - Goethe, Madrid, Espasa-Calpe, Colección Austral, 1932. gelten lässt und nicht nach Alternativen fragt: „Aber dann macht die Kritik halt, akzeptiert das angeblich Unabwendbare und wird zur Apologetik - schlimmer noch: zur Denunziation der möglichen Alternative: einer qualitativ anderen geschichtlichen Rationalität.“ 60 Mit Horkheimer ausgedrückt: Weber kennt nur die „instrumentelle Vernunft“, nicht die herrschaftskritische Vernunft, die die Naturbeherrschung sowohl im Kapitalismus als auch im realen Sozialismus in Frage stellt. Es geht hier jedoch nicht um die vielfältige und facettenreiche Kritik der Frankfurter Denker an Weber, sondern um spätmoderne Parallelen, die bisher unterbelichtet geblieben sind: (a) das liberale Erbe, (b) die Absage an den modernen Fortschrittsoptimismus Hegels, Marx̕, Comtes und Spencers sowie (c) die Krise des liberalen Individualismus und der individuellen Autonomie im Spätkapitalismus. In der Weber-Forschung scheinen die meisten Aussagen über die liberalen und individualistischen Kontexte, in denen Max Weber und sein jüngerer Bruder Alfred aufgewachsen sind, konsensfähig zu sein. So stellt beispielsweise M. Rainer Lepsius in einer Diskussion lapidar fest: „Weber wurzelte in der national-liberalen Tradition des Bürgertums.“ 61 Einen Schritt weiter geht Jürgen Kaube, wenn er in seiner Weber-Biografie auch die Selbstkritik des Liberalismus anspricht: „Das wichtigste Dokument für diesen Wandel und zugleich einer der bleibenden Lektüreeindrücke des jungen Max Weber ist die Schrift zur Selbstkritik des deutschen Liberalismus seines Onkels Hermann Baumgarten.“ 62 Zur Selbstkritik einer Gruppe kommt es immer dann, wenn sie - wie etwa der französische Adel vor der Revolution von 1789 - ihren Machtverlust beobachtet, der auch bewirkt, dass sich ihre führenden Gestalten wie Lafayette oder Mirabeau 63 von ihr abwenden: zu ihren Kritikern werden. In diesem Punkt unterscheidet sich allerdings die Position Max Webers von den Positionen der Frankfurter Denker, weil Adornos und Marcuses radikale Kritiken an Liberalismus und Individualismus in Webers Werk kein Äquivalent haben. Weber hält an den Gedanken und Wertsetzungen der liberalen Ära 48 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="49"?> 64 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, op. cit., S.-32. 65 Ibid. 66 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft (Hrsg. E. Hanke), Studienausgabe, Bd. I/ 22-4, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S.-42. 67 A. M. Koch, Romance and Reason. Ontological and Social Sources of Alienation in the Writings of Max Weber, Lanham-Oxford, Lexington Books, 2006, S.-173. 68 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969, op. cit., S.-110. fest, ohne ihre Ambivalenz wahrzunehmen: die in ihnen beobachtbare Koexis‐ tenz von Freiheitsstreben und autoritärer Gesinnung, die vor allem Marcuse hervorhebt, wenn er schreibt: „Es ist der Liberalismus selbst, der den total-au‐ toritären Staat aus sich ‚erzeugt‘ […].“ 64 Er erklärt: „Der charismatisch-autoritäre Führergedanke ist schon präformiert in der liberalistischen Feier des genialen Wirtschaftsführers, des ‚geborenen‘ Chefs.“ 65 So weit geht Weber, der Mussolini, Hitler und den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat, nicht; er sieht aber sehr wohl, dass der Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der entstehenden Konzernwirtschaft verdrängt wird, deren Protagonisten nicht mehr einzelne Unternehmer (tycoons) sind, sondern Gremien und Bürokratien. Nicht nur in der Staatsverwaltung, auch im Verwaltungsapparat der Großunternehmen tritt der sachkundige Be‐ amte an die Stelle des liberalen Unternehmers. Im Rationalisierungsprozess, der zu den Hauptthemen von Webers Soziologie gehört, ersetzt der „fachgebildete Beamte“ den Unternehmer, der häufig ein self-made man war: „Diese letztere Entwicklung speziell, welche die konkrete Sachkenntnis der Interessenten in den Dienst der rationalen Verwaltung fachgebildeter Beamter zu stellen sucht, hat sicherlich eine bedeutende Zukunft und steigert die Macht der Bürokratie noch weiter.“ 66 Diese Entwicklung kann den liberalen Individualisten Weber nur mit Be‐ sorgnis und Skepsis im Hinblick auf die Zukunft erfüllen. Zu Recht bemerkt Andrew M. Koch: „Individualism and freedom were Weber’s ultimate substan‐ tive values. Socialism would negate these values.” 67 Nicht nur der Sozialismus, auch die von der zunehmenden Komplexität der Konzernwirtschaft begünstigte Bürokratie droht, die individuelle Initiative zu ersticken. Max Horkheimer spricht zwar von „monopolistischem Kapitalismus“ und nicht von Bürokratie im Sinne von Weber, aber auch er bedauert den Nieder‐ gang individueller Autonomie, die Entmündigung des Einzelnen: „Mit dem im monopolistischen Kapitalismus notwendig sich überlebenden Liberalismus aber verliert auch die Vorstellung von der Bedeutung jedes Einzelnen ihre Aktualität.“ 68 3. Max Weber und die Kritische Theorie 49 <?page no="50"?> 69 Ibid., S.-51. 70 Vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung, op. cit., Kap. XII. 2. 71 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft. Studienausgabe, Bd. I/ 22-4, op. cit., S.-139. 72 Vgl. G. Stauth, „Kulturkritik und affirmative Kultursoziologie. Friedrich Nietzsche, Max Weber und die Wissenschaft von der menschlichen Kultur“, in: G. Wagner, H. Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S.-171. 73 Vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung, op. cit., Kap. XII. 2: wo die Grenzen des Wertfreiheitspostulats aufgezeigt werden. Dies ist der Grund, warum sowohl Weber als auch Horkheimer, Adorno und Marcuse den modernen „Metaerzählungen“, die eine menschlichere Gesell‐ schaft und eine bessere Zukunft voraussagen, eine Absage erteilen. Doch die Aufwertung des Vergangenen, dessen, was verloren geht, mündet bei ihnen nicht in eine konservative Gesinnung, sondern in eine Kritik des Bestehenden: „Aber die Darstellung dessen, was im Schwinden begriffen ist, drückt vielmehr das Negative des Gegenwärtigen aus, sie bedeutet weit mehr das Elend des Bestehenden, als daß sie beanspruchen dürfte, den Glanz des Vergangenen zu schildern.“ 69 Webers Kritik des Bestehenden, die trotz seines Strebens nach Wertfreiheit in seinem Diskurs angelegt ist 70 , mündet in eine Gegenüberstellung von Bürokratie und individuellem Charisma und in eine drastische Aufwertung des letzteren. Im Gegensatz zu Marx, der die Gesellschaftsgeschichte als Auseinanderset‐ zung zwischen Klassen, zwischen Bürgertum und Proletariat, erzählt, macht Weber in seinem unvollendeten Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft das Charisma zum Motor der Geschichte: „Es ist in diesem rein empirischen und wertfreien Sinn allerdings die spezifisch ‚schöpferische‘ revolutionäre Macht der Geschichte.“ 71 Diese Behauptung ist weder empirisch fundiert noch wertfrei, weil das charismatische Individuum, das teilweise dem Übermenschen Nietzsches nach‐ empfunden ist, wie Georg Stauth bemerkt 72 , im Diskurs als Erzählung zum Movens der Geschichte avanciert. Dadurch wird der historische Prozess auf eine bestimmte - und durchaus fragwürdige - Art bewertet. Die Wertung tritt klar zutage, sobald Webers Erzählung mit anderen soziologischen Erzählungen verglichen wird: mit Marx̕ Klassenkampf, Durkheims Arbeitsteilung oder Luh‐ manns Differenzierung, die jenseits von Bürokratie und Charisma als Motoren der Geschichte eingesetzt und aufgrund ihrer dominierenden Stellung im Diskurs aufgewertet werden. Aber nicht um Webers Wertfreiheitspostulat, das nur in bestimmten Fällen Gültigkeit beanspruchen kann 73 , geht es hier, sondern um die Tatsache, dass sich Weber als liberaler Individualist vom charismatischen Individuum einen 50 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="51"?> 74 M. Weber, „Wirtschaft und Gesellschaft im Rom der Kaiserzeit“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik (Hrsg. J. Winckelmann), Stuttgart, Kröner, 1973, S.-58. 75 A. M. Koch, Romance and Reason, op. cit., S.-201. 76 Ibid., S.-207. 77 H. Schmidt-Glinzer, „Intellektueller Imperialismus? Außereuropäische Religionen und Gesellschaften im Werk Max Webers“, in: Max Weber. Ein Symposion, op. cit., S.-70. Ausbruch aus der bürokratischen Erstarrung verspricht, die er stets vor Augen hat: „Die Bureaukratisierung der Gesellschaft wird bei uns des Kapitalismus aller Voraussicht nach irgendwann ebenso Herr werden wie im Altertum.“ 74 Daran wird - anscheinend - auch das charismatische Individuum nichts ändern. Andrew M. Koch fasst Webers Stimmung zusammen, wenn er bemerkt: „As charisma recedes so will the role played by creativity and inspiration in social life.” 75 Er fügt hinzu: „However, Weber was pessimistic about the fate of the true politician in modern bureaucratic society.“ 76 Dieser Pessimismus erscheint im gegenwärtigen Kontext auch dadurch gerechtfertigt zu sein, dass das politische Geschehen zunehmend von Karikaturen des von Weber imaginierten charismatischen Individuums beherrscht wird. Kochs Einschätzung der Weberschen Erzählung wird jedenfalls von Helwig Schmidt-Glinzer bestätigt, der sich auf die gesamte europäische Zivilisation bezieht: „Seine [Webers] Prognose für Europa war im ganzen pessimistisch. Er befürchtete das Erstarren der okzidentalen Zivilisation aus ihrer eigenen Entwicklungsgesetzlichkeit heraus.“ 77 Selbst als Befürworter europäischer Inte‐ gration wird man sich fragen müssen, ob die schwach ausgeprägte Handlungs‐ fähigkeit der EU nicht in dem von Weber entworfenen Zusammenhang erörtert werden sollte. Dieser Zusammenhang unterscheidet sich zwar wesentlich vom Kontext der Kritischen Theorie, der von der Frage nach einer Überwindung des Kapitalismus geprägt ist, aber er überschneidet sich auch mit ihm. Mit dem Stichwort „ver‐ waltete Welt“ wollten Adorno und Horkheimer nicht nur den Spätkapitalismus charakterisieren, sondern auch die Tatsache ins Gedächtnis rufen, dass dieser Kapitalismus mitsamt seinen Produktionsverhältnissen und den aus ihnen resultierenden, aber stillgelegten Klassenkämpfen „verwaltet“, bürokratisiert ist. Dazu bemerkt Horkheimer: „Ich habe in der Tat die Vorstellung, daß der Gang der Gesellschaft, wie ich es des öftern schon betonte, nicht etwa zum Reich der Freiheit führt, sondern zur ‚verwalteten Welt‘, das heißt zu einer Welt, in der alles so gut geregelt ist, daß der einzelne Mensch sehr viel weniger Geist und Phantasie entfalten muß, um sich durchzusetzen, als es im Liberalismus bei den 3. Max Weber und die Kritische Theorie 51 <?page no="52"?> 78 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch, Zürich, Verlag der Arche, 1970, S. 19-20. 79 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Hrsg. D. Kaesler), München, Beck, 2013 (4. Aufl.), S.-201. 80 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919-1920, Studienaus‐ gabe, Bd. I/ 23 (Hrsg. K. Borchardt, E. Hanke, W. Schluchter), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2014, S.-172. 81 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, op. cit., S.-135. 82 Th. W. Adorno, Stichworte, in: GS X. 2, op. cit., S.-642. Bürgern noch der Fall war.“ 78 Sind Geist und Phantasie nicht Eigenschaften, die Weber dem charismatischen Individuum zuschreibt? Hier führt der Gedankengang wieder zurück zum liberalen Individualismus, von dem auch Webers Gedanken und Argumente ausgehen. Sowohl bei Weber als auch in der Kritischen Theorie bilden die liberal-individualistischen Wert‐ setzungen den Maßstab, der an die gegenwärtigen Verhältnisse angelegt wird. In beiden Fällen wird mit Musil zwar festgestellt, dass der „Individualismus zu Ende geht“, dass aber das „Richtige hinübergerettet“ werden sollte. Diese Rettung ist jedoch höchst ungewiss - und so schwanken die beiden durchaus divergierenden Diskurse zwischen Hoffnung und Skepsis. Die Skepsis bricht jedes Mal durch, wenn von der Stellung des individuellen Subjekts in der Gesellschaft die Rede ist. Obwohl ihre Argumentationen ver‐ schieden sind, sind sich Max Weber und Georg Simmel einig, wenn es um die Schwächung, ja Atrophie des individuellen Subjekts geht. Während Simmel beobachtet, wie die „objektive Kultur“ dem Subjekt entgleitet, weil sie stetig wächst, während das Subjekt gezwungen ist, sich immer mehr zu spezialisieren, einzuengen, um sein Fach zu beherrschen, beobachtet Weber auf individueller Ebene einen Übergang vom „Kulturmenschen“ des Bildungsbürgertums zum „Fachmenschen ohne Geist“ und zum „Genußmenschen ohne Herz“. 79 Die Bürokratie mit ihrer wachsenden Arbeitsteilung als Differenzierung von Zuständigkeiten ist die eigentliche Geburtsstätte des rationalen „Fachbeamten‐ tums“ 80 , das weder Initiative noch „Geist und Phantasie“ (Horkheimer) kennt. Diesem Beamtentum stellt Weber die individuelle Initiative des charismatischen Politikers gegenüber. Auch die Kritische Theorie kennt den Gegensatz zwischen dem „Kultur‐ menschen“ und dem „Fachmenschen“, bezieht ihn aber auf „die kritische Autonomie der vergesellschafteten Individuen“ 81 , wie Marcuse es ausdrückt. Adorno spricht zwar von „Persönlichkeit als Clown“ 82 , stellt aber - wie Weber - die untergehende und ideologisierte Persönlichkeit der liberalen Ära (den „Kulturmenschen“) dem „Fachmenschentum“ gegenüber: „Angesichts der hä‐ mischen Gebärde des: Was fällt, das sollst du stoßen, der heute der Begriff der Persönlichkeit begegnet und potentiell jeder, der sich nicht mit Haut und Haaren 52 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="53"?> 83 Ibid., S.-643. 84 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1979, op. cit., S.-191. der gesellschaftlichen Forderung nach Fachmenschentum überantwortet, emp‐ fängt die untergehende und ihre imago versöhnenden Abglanz.“ 83 Trotz ihrer Ideologisierung soll hier die „Persönlichkeit“ als Zeugin einer vergangenen, kri‐ tikfähigen Subjektivität gegen die herrschenden Imperative der Arbeitsteilung und Spezialisierung verteidigt werden. Durchaus im Sinne der Kritischen Theorie verknüpft Horkheimer das Schicksal individueller Autonomie mit dem Niedergang der Intellektuellen, den er - wie Weber und Adorno - auf die Arbeitsteilung als Spezialisierung bezieht: „Zur Zeit der Aufklärung waren die Intellektuellen die Verkünder der Ideale, unter denen das Bürgertum zur Herrschaft kam. Zur Zeit seines Zerfalls repräsentieren sie die in den Mittelschichten überflüssig gewordenen, abgesprengten, verdinglichten bürgerlichen Eigenschaften, Freiheit des Urteils, Phantasie, Spontaneität. Als Funktionen von Experten, Spezialisten der arbeits‐ teiligen Managergesellschaft, erfahren sie eine Veränderung in Richtung auf ohnmächtige, geschichtlich überholte Opposition.“ 84 Anders als der auf Werturteilsfreiheit bedachte Weber ziehen die Frankfurter Denker die kritische Konsequenz aus dem von Weber und Durkheim beschrie‐ benen Prozess der Arbeitsteilung. Sie deuten ihn mit Simmel als Reduktion der Subjektivität, als Atrophie kritischer Fähigkeiten und Niedergang der Intellek‐ tuellen. Im dritten Kapitel wird sich zeigen, dass Lyotard diesen Gedankengang fortführt: bis zum „Grabmal des Intellektuellen“. 4. Fortschritt der Zivilisation als „Rebarbarisierung“: Von Alfred Weber zu Herbert Marcuse Die Gegenüberstellung von „Zivilisation“ und „Kultur“ ist alt und wird oft für ein deutsches Spezifikum gehalten, zumal sich in anderen Sprachbereichen die Bezeichnung „Kultur“ sowohl auf materielle (technische) als auch auf geistige Entwicklungen bezieht. Umgekehrt rechnet etwa Norbert Elias kulturelle Ent‐ wicklungen wie Wissenschaft, Moral und Religion zum „Zivilisationsprozess“. Dazu bemerkt Michael Hinz: „Elias hat seine an den französisch-englischen Begriffsgebrauch angelehnte Fassung des Zivilisationsbegriffs in kritischer Auseinandersetzung mit der wertgeladenen ‚Zivilisation-Kultur-Antithese‘ ent‐ 4. Von Alfred Weber zu Herbert Marcuse 53 <?page no="54"?> 85 M. Hinz, „Der Zivilisationsprozess“: Mythos oder Realität? Wissenschaftssoziologische Untersuchungen zur Elias-Duerr-Kontroverse, Opladen, Leske-Budrich, 2002, S.-131. 86 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969, op. cit., S.-218. 87 Th. W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, op. cit., S.-228. wickelt, die in der Weimarer Republik die bildungsbürgerlichen Diskurse be‐ herrschte.“ 85 Dennoch ist die „Zivilisation-Kultur-Antithese“ für den spätmodernen Kon‐ text, in dem sich Soziologie und Kritische Theorie entwickeln und ineinander‐ greifen, von eminenter Bedeutung, weil Alfred Webers Gegensatz von Kultur und Zivilisation auch die Diskurse der Kritischen Theorie strukturiert. Dies wird bei Horkheimer deutlich, der zu den Antinomien der Kritischen Theorie bemerkt: „Kritische Theorie heute hat sich mindestens so sehr auf das zu beziehen, was mit Recht Fortschritt, nämlich technischer Fortschritt, und seine Auswirkung auf Mensch und Gesellschaft heißt. Sie denunziert die Auflösung des Geistes und der Seele, den Sieg der Rationalität, ohne ihn schlicht zu verneinen.“ 86 Mit „Rationalität“ ist hier die „instrumentelle Vernunft“ gemeint, die als Naturwissenschaft und Technik der Naturbeherrschung dient. Dass ihr auf allen Ebenen (in Informatik, Medizin und Raumfahrt) beobachtbarer Fortschritt nicht mit dem gesamtgesellschaftlichen Fortschreiten zu einer befriedeten und humaneren Gesellschaft zusammenfällt, stellt auch Adorno in einer seiner Vorlesungen fest, wenn er vom „Platzhalter dessen, was Fortschritt wäre“, spricht und hinzufügt, dieser stehe „schief zu jenem Fortschritt, der stattfindet“. 87 Dieser Widerspruch zwischen den wissenschaftlich-technischen Fort‐ schritten in der Naturbeherrschung und den eigentlich gesellschaftlichen Fort‐ schritten des Naturschutzes, der Kriegsvermeidung und der zwischenmensch‐ lichen Verständigung ist auch ein zentrales Thema in Alfred Webers Werk. In ihm wird die Differenz zwischen Zivilisation und Kultur ähnlich aufgefasst wie in der Kritischen Theorie. Alfred Weber unterscheidet grundsätzlich den „Zivilisationsprozess“ von der „Kulturbewegung“: „Ich schlage vor, ihn den Zivilisationsprozeß zu nennen, und diesen und seine Sphäre gedanklich scharf und grundsätzlich von dem Gesell‐ schaftsprozeß wie von der Sphäre der Kulturbewegung zu trennen. Letztere ist auch in den Gesellschaftsprozeß der großen Geschichtstkörper eingebettet, steht aber in ganz anderer Beziehung zu diesem als der Zivilisationsprozeß, ist 54 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="55"?> 88 A. Weber, „Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie“, in: Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, Alfred-Weber-Gesamtausgabe, Bd. VIII (Hrsg. R. Bräu), Mar‐ burg, Metropolis Verlag, 2000, S.-156. 89 Ibid., S.-130. 90 A. Weber, „Einführung in die Soziologie“, in: Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. IV, op. cit., S.-58. 91 „Wie ein Hamster im Rad. Hochschulen und Hochschulfinanzierung im Krisenmodus“ (Gespräch mit Wolfram Ressel), in: Forschung und Lehre 11/ 23, S.-825. […] von ganz anderen Entwicklungsgesetzen beherrscht, hat ein ganz anderes Wesen und eine ganz andere Stellung im Geschichtsverlauf.“ 88 Hier wird deutlich, dass Fortschritt im wirtschaftlichen und naturwissen‐ schaftlich-technischen Sinne nicht zwangsläufig einen Fortschritt in der „Kul‐ turbewegung“ impliziert und auch nicht eine Verbesserung der gesamtge‐ sellschaftlichen Entwicklung (im Sinne von Verständigung, Humanität und Umweltschutz) mit sich bringt. Im Gegenteil, er kann diese Entwicklung behin‐ dern, ja sogar teilweise rückgängig machen. Darin sind sich Alfred Weber und die Autoren der Kritischen Theorie einig. Von der Nähe zur Kritischen Theorie zeugt der folgende Satz aus Webers „Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie“: „Dieser Prozeß manifestiert sich am deutlichsten in seiner äußerlichsten Erscheinungsform als die fortge‐ setzte Erweiterung und Verbesserung der äußeren Beherrschung der Natur durch den Menschen, also als technischer Fortschrittsprozeß.“ 89 Wie in der Kritischen Theorie bildet dieser „Fortschrittsprozess“ keine Garantie für Fortschritte in der „Kulturbewegung“ und in der Gesellschaft als ganzer. Denn die Vervollkommnung der Naturbeherrschung durch Arbeits‐ teilung, Verwissenschaftlichung und Spezialisierung kann der kulturellen Ent‐ wicklung sowohl auf kollektiver oder institutioneller als auch auf individueller Ebene abträglich sein. Weber warnt - wie die Frankfurter Philosophen - vor einer Dominanz der Wirtschaft und ihres quantitativen Geistes, die zur Folge haben könnte, dass das individuelle Subjekt seiner eigenen Rationalisierung zum Opfer fällt: „Ein Konflikt steigt gleichfalls auf, falls die kapitalistisch-technisch fundierte Eigenevolution der Wirtschaft den Menschen, der ihr Zweck sein sollte, als eines ihrer Mittel auffrißt.“ 90 Wer beim Lesen dieses Satzes vorschnell auf Schwarzmalerei oder Pessimismus schließt, sollte das in Forschung und Lehre 11/ 23 abgedruckte Gespräch mit Wolfram Ressel, dem Rektor der Universität Stuttgart, lesen. Dort bemerkt Ressel: „Die Drittmittel fressen uns irgendwann einmal auf. Wenn eine Universität Drittmittel einwirbt, muss sie immer mehr einwerben […].“ 91 Der Konflikt, den Weber vorausahnte, ist heute Wirklichkeit und wird von Ressel - nicht zufällig - mit der gleichen Metaphorik beschrieben. 4. Von Alfred Weber zu Herbert Marcuse 55 <?page no="56"?> 92 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit., S.-153. 93 A. Weber, „Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie“, in: Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, op. cit., S.-58. Er wurde bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts, dem Jahrhundert der Ratio‐ nalisierung, Quantifizierung und Vereinheitlichung, zugunsten von Wirtschaft und Technik entschieden, und der Verlust individueller Autonomie ist - wie sich gezeigt hat - nicht nur eines von Alfred Webers Hauptthemen, sondern steht auch im Mittelpunkt der Kritischen Theorie. In diesem spätmodernen Zusammenhang heißt es in Adornos Minima Mo‐ ralia: „Daß das Individuum mit Haut und Haar liquidiert werde, ist noch zu optimistisch gedacht.“ 92 Wie Alfred und Max Webers Beobachtungen registriert dieser Satz die Tatsache, dass das spezialisierte, auf eine besondere Tätigkeit zugeschnittene Individuum sowohl im Spätkapitalismus als auch im realen Sozialismus vom Selbstzweck zum bloßen Mittel degradiert wurde: zu einem Rädchen in dem immer unübersichtlicher werdenden Getriebe. In diesem Getriebe verkommen kulturelle Bildung und individuelle Kritikfähigkeit zu abstrakten Idealen jenseits aller Möglichkeiten der Verwirklichung. Weber spricht von „Rebarbarisierung“ und stellt lange vor Fernsehen, Com‐ puter und Handy fest, „daß man z. B. unsere Zeit als eine geradezu ungeheure, vielleicht in der Welt einzigartige tellurische Rebarbarisierungsepoche anzu‐ sehen hat […].“ 93 Der Computer, der durchaus den technischen Fortschritt symbolisieren könnte, konnte nicht verhindern, dass - Zeitungsberichten aus verschiedenen Ländern zufolge - Kinder die Schule verlassen, ohne richtig lesen und fehlerfrei schreiben zu können, ohne imstande zu sein, relativ einfache Mathematikaufgaben zu lösen. Da sie schon an der Syntax anspruchsvollerer Zeitungen scheitern, werden sie weder Keats noch Hölderlin lesen, sondern sich Computerspielen zuwenden - von denen einige als addictive angepriesen werden (und es möglicherweise auch sind). Frappierend sind die Ähnlichkeiten zwischen Alfred Webers älteren und Her‐ bert Marcuses neueren Diagnosen. Sie zeigen, dass der Gegensatz Kultur / Zi‐ vilisation keineswegs obsolet ist, sondern die sich im 21. Jahrhundert durch‐ setzenden Entwicklungen (Quantifizierung, Technisierung, Überwachung) zumindest teilweise erklärt. Marcuse scheint den Prozess der „Rebarbarisierung“ zu beschreiben, wenn er in Kultur und Gesellschaft II von der „Entfremdung der Kultur von der Zivilisation“ spricht und hinzufügt: „Die administrative Aufsau‐ gung der Kultur durch die Zivilisation ist das Ergebnis der etablierten Richtung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, der sich ausweitenden Unterwerfung von Mensch und Natur durch die Mächte, die diese Unterwerfung 56 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="57"?> 94 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft II, op. cit., S.-158. 95 Ibid., S.-160. 96 Vgl. A. Weber, „Die Not der geistigen Arbeiter“, in: Politische Theorie und Tagespolitik (1903-1933), Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. VII (Hrsg. E. Demm), Marburg, Metro‐ polis Verlag, 1999, S. 608. (Weber warnt dort vor einer Vereinnahmung der Kultur durch die Wirtschaft.) 97 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft II, op. cit., S.-155. 98 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (Hrsg. P. E. Jansen), Springe, Zu Klampen Verlag, 2014, S.-245. organisieren und den sich erhöhenden Lebensstandard dazu benutzen, ihre Organisation des Kampfes ums Dasein zu verewigen.“ 94 In diesem Kontext wird das individuelle Subjekt entmündigt, „aufgefressen“, wie Weber sagt. Die Meinungen einzelner Individuen transzendieren in der tech‐ nologisch „verwalteten Welt“ „nirgendwo das etablierte Gesellschaftssystem“, und „Freiheit selbst wirkt als Vehikel von Anpassung und Beschränkung“. 95 Hier zeichnet sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Alfred Weber und der Kritischen Theorie ab. Während Weber eine „Rebarbarisierung“ beobachtet und versucht, vom Geistigen zu retten, was noch zu retten ist 96 , setzt Marcuse die Kultur des Bildungsbürgertums, an deren Idealen er festhält, der Kritik aus, weil ihre Vertreter darauf verzichten, diese Ideale zu verwirklichen. Sie fliehen aus der kapitalistischen Wirklichkeit in die höheren Sphären der Kultur und verwandeln diese in ein Alibi. Dadurch wird Kultur „affirmativ“, weil ihr die kritische Spitze abgebrochen wurde. Sie kann so jederzeit von der kommerzialisierten Zivilisation vereinnahmt, ausgeschlachtet werden: „Die oppositionellen Elemente der Kultur werden so abgebaut: die Zivilisation übernimmt, organisiert, kauft und verkauft die Kultur.“ 97 Diese Kulturkritik, die in der Kritischen Theorie zugleich Kritik des (liberalen) Bürgertums und daher Selbstkritik ist, fehlt bei Weber. Bei ihm fehlt daher auch die am Ende von Marcuse im Eindimensionalen Menschen aufgeworfene Frage nach Alternativen, eine Frage, die auch bei Adorno und Horkheimer zentral ist. Die Antwort weist über den eindimensional verlaufenden technischen Fort‐ schritt und die naturbeherrschende „instrumentelle Vernunft“ (Horkheimer) hinaus: „In dem Maße, wie die Technik sich auf dieser Basis entwickelt hat, kann diese Korrektur niemals das Ergebnis des technischen Fortschritts selber sein. Sie macht eine politische Umwälzung notwendig.“ 98 Ein solches Plädoyer für „politische Umwälzung“ lag jenseits des Horizonts der beiden Liberalen Alfred und Max Weber. Es ging hier primär darum, den Ort der Kritischen Theorie innerhalb des soziologischen Denkens der Spätmoderne näher zu bestimmen - wenn auch in großen Zügen. Es sollte deutlich geworden sein, dass der Sinn für das, was 4. Von Alfred Weber zu Herbert Marcuse 57 <?page no="58"?> 99 Vgl. D. Prokop, Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie, Hamburg, VSA-Verlag, 2003, S. 20: „Die Postmodernen mögen das nicht.“ Immer wieder ist bei Prokop von „den Postmodernen“ oder „der Postmoderne“ die Rede, als ob es eine homogene Postmoderne gäbe (vgl. auch: S.-174). verloren geht oder akut gefährdet ist - die Autonomie des Individuums, seine Bildung, seine Kultur -, aufs Engste mit der bürgerlich-liberalen Herkunft der Soziologen und der Frankfurter Philosophen zusammenhängt. In der Schluss‐ betrachtung (Abschn. 5) und in den restlichen Kapiteln des Buches soll gezeigt werden, wie die liberal-individualistischen Wertsetzungen im Übergang von der spätmodernen zur postmodernen Problematik aufgegeben werden, weil sie - eine Generation später - auf Bauman, Baudrillard, Lyotard oder Vattimo anachronistisch wirken. 5. Von der spätmodernen zur postmodernen Problematik Von „Problematik“ ist hier die Rede, weil Spätmoderne und Postmoderne keine Ideologien, Weltanschauungen oder Philosophien sind, wie verschiedentlich behauptet wird 99 , sondern Problematiken: Konstellationen von verwandten, ineinandergreifenden Problemen, auf die politische Ideologien, Philosophien, Soziologien und verschiedene Kunstformen unterschiedlich reagieren. Da sie sich in einer besonderen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation mit diesen Problemen auseinandersetzen, überschneiden sich ihre Argumente in wesentlichen Punkten, divergieren aber in anderen Punkten, weil die biogra‐ fischen, politischen und philosophisch-wissenschaftlichen Erfahrungen der Denker grundverschieden sein können. Während Durkheim und Tönnies die gemeinschaftlichen Elemente in der gesellschaftlichen Entwicklung betonen, weil diese Elemente ihre Kindheit und Jugend geprägt haben (Solidarität, Kollektivbewusstsein, Gemeinschaft), richten Simmel, Max Weber und die Vertreter der Kritischen Theorie ihr Augenmerk auf die Peripetien der Individualisierung, die in ihren Auseinandersetzungen mit Liberalismus und Individualismus im Mittelpunkt standen. In beiden Fällen kommt es zu Darstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung als Zerfallspro‐ zess: als Zerfall der Gemeinschaft oder als Niedergang individueller Subjektivität im Übergang vom Liberalismus zum Spätkapitalismus oder in der „Tragödie der Kultur“. Zu dieser Skepsis der sozialen Evolution gegenüber, die auch eine distanzierte Betrachtung moderner „Großerzählungen“ im Sinne von Hegel, Marx, Comte und Spencer zur Folge hat, tragen die Krisen und Kriege der zweiten Hälfte 58 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="59"?> 100 J.-F. Lyotard, Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, Böhlau-Passagen, 1986, S.-14. 101 R. Musil, Gesammelte Werke, Bd. VIII (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1978, S.-1412. 102 Vgl. J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, op. cit, S.-175. 103 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-17. des 19. Jahrhunderts bei (etwa die Wirtschaftskrise der frühen 1870er Jahre). Vollends erschüttern die beiden Weltkriege den modernen Fortschrittsglauben, so dass Adornos schon zitierter Satz „‚Ich habe den Weltgeist gesehen‘, nicht zu Pferde, aber auf Flügeln und ohne Kopf […]“, zum Symptom einer Zeit der Skepsis, ja des Unglaubens wird. In der postmodernen Problematik, die aus der spätmodernen hervorgeht, sie zugleich aber negiert, weil sie ihre Wertsetzungen (individuelle Autonomie, Kritikfähigkeit) und Hoffnungen (Revolution, radikale Reform, Emanzipation) nicht mehr teilt, nimmt die Absage an die modernen Großerzählungen klare Konturen an. Wer die skeptischen Äußerungen Simmels, Alfred Webers, Max Webers und der Frankfurter Denker zum Thema „Fortschritt“ noch im Gedächtnis hat, den wird Jean-François Lyotards bekanntes Fazit nicht über‐ raschen: „Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für ‚postmodern‘.“ 100 Doch diese Skepsis ist, wie sich hier gezeigt hat, tief in der Spätmoderne verwurzelt, deren prominenter Vertreter Robert Musil notiert: „Wir wollen uns nichts mehr erzählen lassen, betrachten das nur noch als Zeitvertreib.“ 101 Erzählungen relegiert er in den ideologischen Bereich, wo sie „gern gehört“ werden. Lyotard geht allerdings einen Schritt weiter als die Vertreter der Kritischen Theorie, weil er auch Habermas’ „Emanzipationserzählung“ 102 verabschiedet. An ihr halten die Frankfurter Denker jedoch fest, und der Bruch mit ihr be‐ zeichnet eine Zäsur, an der die Postmoderne beginnt. Denn Adorno, Horkheimer und Marcuse haben sich mit der Eindimensionalität der Welt und der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ noch nicht abgefunden. Ihre Einstellung zur gesellschaftlichen Entwicklung ist ambivalent, aber sie halten an der Suche nach Alternativen fest, wie Marcuses Kommentare zur gesellschaftlichen Situation seiner Zeit erkennen lassen: „Diese zweideutige Situation schließt eine noch grundlegendere Zweideutigkeit ein. Der Eindimen‐ sionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hy‐ pothesen schwanken: 1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können.“ 103 5. Von der spätmodernen zur postmodernen Problematik 59 <?page no="60"?> 104 Vgl. P. V. Zima, Moderne / Postmoderne, op. cit., Kap. IV. 2. 105 Th. W. Adorno, Minima Moralia, GS IV, op. cit., S.-167. 106 Ibid., S.-236. 107 Th. W. Adorno, Stichworte, in: GS X. 2, op. cit., S.-626. 108 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-10. 109 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York, Routledge, 1992, S.-175. 110 J.-F. Lyotard, Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S.-119. Diese Ambivalenz ist als strukturierendes Element für die meisten Diskurse der Kritischen Theorie, ja sogar für die gesamte philosophische, soziologische und literarische Spätmoderne als Problematik charakteristisch. 104 So spricht etwa Adorno vom „Doppelcharakter des Fortschritts“ 105 , stellt fest, „Leben [sei] zur Ideologie seiner eigenen Absenz geworden“ 106 und bescheinigt dem Irrationalismus Vernunft: „Der Irrationalismus der décadence denunzierte die Unvernunft der herrschenden Vernunft.“ 107 Der Sinn für Ambivalenz als coin‐ cidentia oppositorum schärft auch Adornos und Horkheimers Blick für das Umschlagen der „Aufklärung in Mythologie“ 108 , das zu den Hauptthemen der Dialektik der Aufklärung gehört. Dieser Sinn für das Ambivalente, der sich dem ideologischen Dualismus oder Manichäismus in den Weg stellt, hat seinen Ursprung in der ambivalenten Haltung der Frankfurter Denker ihrem eigenen Erbe gegenüber: dem liberalen In‐ dividualismus, dessen Wertsetzungen (individuelle Autonomie, Kritikfähigkeit, Humanität) sie zwar verteidigen, zugleich aber kritisch hinterfragen. Dieser Aspekt ihres Denkens tritt vor allem in Marcuses Analysen der „affirmativen Kultur“ zutage (vgl. weiter oben). Im Übergang von der Spätmoderne zur Postmoderne geht diese Ausrichtung auf das liberal-individualistische Erbe verloren. Zusammen mit den liberalen Werten wird die Betonung individueller Autonomie und die Hoffnung auf eine Überwindung des bestehenden Systems aufgegeben. Zygmunt Bauman spricht vom „Leben ohne Alternative“, „living without an alternative“ 109 , und Lyotard bekennt sich ohne Umschweife zur liberalen Demo‐ kratie, die er als Kritiker des Kapitalismus dennoch ablehnt, ja bekämpft. Von der „liberalen Demokratie“ heißt es in Moralités postmodernes (1993): „Ich weiß gar nicht, was man ihr entgegensetzen könnte, wenn man zugibt, dass es keine politische Alternative zur liberalen Demokratie gibt, wie ich nun selbst meine.“ 110 Er verteidigt sich hier gegen „Gauchismus- und Terrorismus-Vorwürfe“, die Richard Rorty und andere an seine Adresse richten. Wie Bauman hat er Adornos, Marcuses und Horkheimers Suche nach Alternativen aufgegeben, seit er die von Cornelius Castoriadis gegründete oppositionelle Gruppe Socialisme ou Barbarie (1949-1965) verlassen hat. 60 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="61"?> 111 G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S.-178. 112 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-77. 113 Vgl. J.-F. Lyotard, Le Différend, Paris, Minuit, 1983, S. 256, wo Lyotard bemerkt, dass das Kapital als Agent der Universalisierung die Heterogenität der Sprachen oder Sprachspiele negiert, unterdrückt. Dies gilt auch für Gianni Vattimo, der die Überwindung des kapitalistischen Systems, nach der die Frankfurter Denker streben, durch Nietzsches und Heideggers Verwindung ersetzt: „Es ist nun genau der Unterschied zwischen Verwindung und Überwindung, der uns helfen kann, das ‚post‘ der Postmoderne philosophisch zu bestimmen.“ 111 Die Verwindung, die das „post“ der Postmoderne erklären soll, bezieht sich insofern auf Lyotards „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“, als sie nicht nur die großen Erzählungen der Moderne verabschiedet, sondern auch das Streben nach Überwindung des Kapitalismus im Marxismus und in der Kritischen Theorie. Sie bekräftigt die Eindimensionalität, gegen die Marcuse in Der eindimensionale Mensch noch aufbegehrt. Sie bezeichnet somit einen zweifachen Bruch: mit der Moderne von Hegel, Marx und Comte und mit der Spätmoderne der Soziologen und der Kritischen Theorie. Diese Eindimensionalität ist nicht nur auf zunehmende Fortschrittsskepsis angesichts sich häufender Katastrophen zurückzuführen, sondern auch auf die immer stärker sich durchsetzende Vermittlung durch den Tauschwert, von der in nahezu allen Werken der Frankfurter Theoretiker die Rede ist - auch in Marcuses Der eindimensionale Mensch. „Der Tauschwert zählt, nicht der Wahrheitswert“ 112 , heißt es dort. Im Übergang von der Spätmoderne zur Postmoderne versucht Jean Baud‐ rillard zu zeigen, dass der „Wahrheitswert“ als Gebrauchswert nicht mehr bezeichnet werden kann, weil der Tauschwert den gesamtgesellschaftlichen Zu‐ sammenhang beherrscht und nicht mehr vom Gebrauchswert zu unterscheiden ist. Er wird zum Wert (valeur) schlechthin. In dieser Situation werden alle Werte austauschbar, und es herrscht eine postmoderne Indifferenz (als Austauschbarkeit der Werte und Werturteile, nicht als Gleichgültigkeit). Sie sollte als die Kehrseite des postmodernen Plu‐ ralismus betrachtet werden, der von Lyotard recht undialektisch als Vielzahl der zu verteidigenden Besonderheiten dem „Kapital“ entgegengesetzt wird. 113 Dabei wird übersehen, dass die vielen Partikularismen durch ihre willkürlichen Dogmatisierungen als austauschbar wirken und durch ihre Austauschbarkeit die Indifferenz des Tauschwerts nur steigern. Diese Indifferenz wird hier im Gegensatz zur spätmodernen Ambivalenz betrachtet, die kulturelle Werte wie 5. Von der spätmodernen zur postmodernen Problematik 61 <?page no="62"?> 114 J,-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen,Wien, Passagen, 2007 (2. Aufl.), S.-81. Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität oder Wahrheit zwar problematisch werden, aber nicht als austauschbar erscheinen lässt. Zum postmodernen Einschlag von Adornos Denken, das ebenfalls das Be‐ sondere gegen die Abstraktionen des Rationalismus und des Hegelianismus verteidigt, bemerkt Lyotard in Grabmal des Intellektuellen: „Liest man jetzt und mit diesen Namen im Kopf Adorno, insbesondere Texte wie die Ästhetische Theorie, die Negative Dialektik oder Minima Moralia, so gewahrt man, wie sehr er in seinem Denken das Postmoderne vorwegnahm, obschon er ihm oftmals zurückhaltend, wenn nicht ablehnend gegenüberstand.“ 114 Dieses Widerstreben und diese Ablehnung sind nicht dem Zufall oder einem persönlichen Penchant geschuldet, sondern hängen mit der Zäsur zusammen, die die spätmoderne von der postmodernen Problematik trennt. Adorno und die anderen Frankfurter Philosophen hielten fest an dem, was verloren zu gehen drohte: am liberalen Individualismus, der, kritisch gedeutet, zu einer Überwindung des Bestehenden aufforderte, ja verpflichtete. Die Frage nach der Überwindung des Kapitalismus durchzieht einem roten Faden gleich nahezu alle Texte der Kritischen Theorie. Diese Frage ist hochaktuell, weil der Kapitalismus zwar nicht im Klassen‐ kampf untergeht, sehr wohl aber zusehends an seine ökologischen Grenzen stößt. Sofern die Kritische Theorie die Naturbeherrschung und das Herrschafts‐ prinzip - und nicht den Klassenkampf - ins Zentrum ihrer Betrachtungen stellt, kann sie wesentlich zur Erklärung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation beitragen. Ihr mitunter nostalgisches Festhalten an dem, was verloren zu gehen droht, mag durchaus seinen Sinn haben. Im Folgenden soll von Kapitel zu Kapitel gezeigt werden, was in den Über‐ gängen von der Kritischen Theorie zu postmodernen Theorien und von der spätmodernen zur postmodernen Problematik verschwindet: die Frage nach der Überwindung der naturwüchsigen Verhältnisse, die Frage nach dem wahren Wert als Gebrauchswert, die Frage nach dem autonomen, kritikfähigen Subjekt und die komplementäre Frage nach einer kritischen Kunst. Alle diese Fragen, die Wertsetzungen artikulieren, wurden aus einer post‐ modernen Problematik ausgeschlossen, deren Vertreter die alten Probleme verlassen und neue Probleme entdeckt haben: die Negation des Einzelsubjekts (Lyotard), die Allgegenwart des Tauschwerts (Baudrillard), die Nichtigkeit der Kunst (Bauman, Baudrillard) und die Unüberwindbarkeit der Eindimensiona‐ lität, die Verwindung. 62 I. Kritische Theorie im soziologischen Kontext (Tönnies, Simmel, Weber) <?page no="63"?> 115 Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: GS VI (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2020 (9. Aufl.), S.-144. Das Beunruhigende an diesen Entdeckungen besteht darin, dass sie alle an die Gedankengänge der Kritischen Theorie anknüpfen (wie Lyotard andeutet), ja sie konsequent zu Ende führen - und gerade dadurch das Denken der Frankfurter Schule in Zweifel ziehen. Auch wenn man weiterhin an der Kritischen Theorie festhält, ist es stets sinnvoll, den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen - oder „gegen sich selbst Denken, ohne sich preiszugeben“ 115 , wie es in Adornos Negativer Dialektik heißt. 5. Von der spätmodernen zur postmodernen Problematik 63 <?page no="65"?> 1 W. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, Gesammelte Schriften (im Folgenden: GS) I. 2 (Hrsg. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser), Frankfurt, Suhrkamp, 2019 (9. Aufl.), S.-699. II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Bauman und Guy Debord: Revolution zwischen spätmodernem Rettungsversuch und postmoderner Verwerfung Theorien und ihre Terminologien ändern sich in dem Maße, wie die gesell‐ schaftliche und sprachliche Situation im Laufe der sozialen Evolution auf wirtschaftliche und technische Neuerungen, soziale Konflikte und kulturelle Bewegungen reagiert. Während die Spätmoderne, zu der hier alle Vertreter der Kritischen Theorie gerechnet werden, an modernen Begriffen wie Utopie, Revolution und Überwindung (des Kapitalismus) festhält, verabschieden Denker der Postmoderne wie Bauman, Lyotard oder Vattimo diese Begriffe als anachro‐ nistisch, gefährlich oder illusorisch. Freilich ist sich schon jemand wie Walter Benjamin dessen bewusst, dass Wörter wie Revolution, Geschichte und Fortschritt in einer sich wandelnden gesellschaftlichen Situation einen Bedeutungswandel durchgemacht haben und nicht mehr im modernen Sinne von Karl Marx, Auguste Comte oder Herbert Spencer verwendet werden können. Sie werden von einer Ambivalenz geprägt, die ihren problematischen Charakter erkennen lässt, der in der spätmodernen Problematik immer stärker zutage tritt. Als einer der Ersten unterscheidet Benjamin zwischen wirtschaftlich-techni‐ schem und gesamtgesellschaftlichem Fortschritt und stellt einen unaufhebbaren Antagonismus zwischen den beiden Bewegungen fest. In den „Geschichts‐ philosophischen Thesen“ („Über den Begriff der Geschichte“) heißt es vom Vulgärmarxismus und seinem Arbeitsbegriff: „Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben. Er weist schon die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden.“ 1 Dieser Satz enthält in nuce einen Kerngedanken der Kritischen Theorie, der ihren verschiedenen Vertretern wie Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas gemeinsam ist: den Gedanken, dass der gesamtgesellschaftliche Fort‐ schritt als Versöhnung mit der Natur und Befreiung von Herrschaft und Gewalt dem sich beschleunigenden Fortschritt in Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technologie umgekehrt proportional ist. Dieser Gedanke durchzieht sowohl <?page no="66"?> 2 A. Weber, „Einführung in die Soziologie“, in: Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. IV (Hrsg. H. G. Nutzinger), Marburg, Metropolis Verlag, 1997, S.-58. 3 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Hrsg. D. Kaesler), München, Beck, 2013 (4. Aufl.), S.-201. 4 H. Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/ 1932), Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S.-498. Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) als auch Marcuses Der eindimensionale Mensch (1964) und Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (1981), in der die sich verständigenden Individuen und Gruppen der Lebenswelt mit den „sprachlosen“ Imperativen der Systeme Macht und Geld (mit Herrschaft) konfrontiert werden. In dem hier entworfenen Zusammenhang erscheint dieser Gedanke als für die gesamte Spätmoderne charakteristisch. Es sei an Alfred Webers Skizze einer Zukunftsperspektive erinnert, die schon im vorigen Kapitel zur Sprache kam und in der die „Wirtschaft den Menschen, der ihr Zweck sein sollte, als ein Mittel auffrißt“. 2 Komplementär dazu verhält sich Max Webers Prognose, der zufolge der „Kulturmensch“ des Bildungsbürgertums in einer technokratisch verwalteten Gesellschaft von einem „Fachmenschen ohne Geist“ 3 verdrängt wird. Dass diese Prognosen und Befürchtungen, die von einer weit verbreiteten Fortschrittsskepsis innerhalb der spätmodernen Problematik zeugen, nicht nur die Diskurse der Philosophie und Soziologie prägen, sondern auch in der spätmodernen oder modernistischen Literatur zu finden sind, lassen Hermann Brochs Überlegungen zum „Zerfall der Werte“ in seiner Romantrilogie Die Schlafwandler (1931/ 1932) erkennen. Anders als Benjamin erblickt Broch nicht im Klassenkampf, sondern in der Differenzierung der „Wertgebiete“ den Motor gesellschaftlicher Entwicklung: „[…] Gleich Fremden stehen sie nebeneinander, das ökonomische Wertgebiet eines ‚Geschäftemachens an sich‘ neben einem künstlerischen des l’art pour l’art, ein militärisches Wertgebiet neben einem technischen oder einem sportlichen, jedes autonom, jedes ‚an sich‘, ein jedes in seiner Autonomie ‚entfesselt‘ […].“ 4 Trotz der Autonomie, die ihnen allen gemeinsam ist, sind diese „Wertgebiete“ (Systeme, würde Luhmann sagen) nicht gleichberechtigt: „Und wehe, wenn in diesem Widerstreit von Wertgebieten, die sich eben noch die Balance halten, eines das Übergewicht erhält, emporwachsend über allen anderen Werten, emporwachsend wie das Militärische jetzt im Kriege oder wie das ökonomische Weltbild, dem sogar der Krieg untertan ist, - wehe! denn es umfasst die Welt, 66 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="67"?> 5 Ibid. es umfaßt alle anderen Werte und rottet sie aus wie ein Heuschreckenschwarm, der über ein Feld zieht.“ 5 Diese Passage ist aus dreierlei Gründen wichtig: 1. Sie zeigt, dass neben dem Klassenkampf auch die soziale Differenzierung im Sinne von Talcott Parsons und Niklas Luhmann zu den treibenden Kräften der Geschichte gehört. 2. Sie veranschaulicht Benjamins Ausdruck „Fortschritte der Naturbeherrschung“ (Wirtschaft, Technik, Krieg) und enthält - wenn auch implizit - den Gedanken, dass diese Fortschritte es sind, die die gesellschaftliche Entwicklung beherr‐ schen - und nicht Fortschritte im gesamtgesellschaftlichen Sinne. Zugleich konkretisiert sie Alfred Webers Ausdruck „Eigenevolution der Wirtschaft“, die allmählich zur Dominanten in der sozialen Evolution wird. 3. Schließlich kündigt sie den Übergang von der Spätmoderne zur Postmoderne an, die als eine von ihrer Wirtschaft beherrschte Gesellschaft aufzufassen ist, in der „alle anderen Werte“ vom Tauschwert „umfasst“ werden. Sie werden in einem unverbindlichen „Pluralismus der Werte“ austauschbar, indifferent. Vor diesem Hintergrund sind Benjamins Versuche zu betrachten, in extremis die proletarische Revolution zu retten, um aus dem von Wirtschaft, Technik und Krieg beherrschten Kontinuum der Geschichte auszubrechen und eine Erlösung vom „Immergleichen“ zu ermöglichen. Eine Annäherung von Benjamins oft rein persönlich verstandenem „Massianismus“ an Max Webers „Charisma“-Begriff soll verdeutlichen, wie sehr diese beiden so verschiedenen Autoren innerhalb der spätmodernen Problematik denken und Gefahren wahrnehmen, die die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bedrohen: die bürokratische Erstarrung im Falle von Weber, den Faschismus im Falle von Benjamin. Zur Rettung der proletarischen Revolution gehört in Benjamins Denken auch eine militante Ästhetik, die als Alternative zur bildungsbürgerlichen, kontemplativen Kunstrezeption durch den Einzelnen eine politisch engagierte Rezeption durch das proletarische Kollektiv vorschlägt. Der kontemplativ-aura‐ tische Wert bildungsbürgerlicher Ästhetik soll durch eine proletarische Ästhetik des „Ausstellungswerts“ ersetzt werden, die sich im Epischen Theater Brechts und im Film an die Massen richtet. Obwohl sich Benjamin der Möglichkeiten kommerzieller Verwertung dieses „Ausstellungswerts“ durchaus bewusst war (vor allem in seinen Arbeiten über Fotografie und Film), unterschätzte er sie und richtete sein Augenmerk auf das revolutionäre Potenzial des „Ausstellungswerts“ und der Rezeption von Theater, Fotografie und Film durch die Massen, die Arbeiter. II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord 67 <?page no="68"?> 6 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften (im Folgenden: GS), Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-73. 7 Vgl. J. Moreno, „Indiferente postmodernidad“, in: Revista Muface 94, 1988. 8 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg, Hamburger Edition, 1999, S. 179. 9 Ibid. 10 Th. W. Adorno, „Theorie der Halbbildung“, in: Soziologische Schriften I, GS VIII (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2022 (6. Aufl.), S.-102. Adornos Kritik an Benjamins revolutionärer Deutung des „Ausstellungs‐ werts“ und der Massenrezeption der Kunst verdeutlicht die Gratwanderung der Gesellschaftskritik zwischen Subversion und Kommerz. Die Kontroverse zwischen Adorno und Benjamin, in deren Verlauf Adorno darauf hinweist, dass der „Ausstellungswert“, der die Rezeption von Kunst durch die Massen meint, eine „imago des Tauschprozesses“ 6 ist, weist - wie die Beschreibungen Brochs - auf die postmoderne Problematik hin. In ihr als Wirtschaftsgesellschaft wird alles Revolutionäre zusammen mit Dissens, Kritik und Subversion den Marktgesetzen unterworfen, in das Markt‐ geschehen integriert. In einer fragmentierten oder pluralisierten Gesellschaft konkurrierender Gruppen herrscht - zumindest tendenziell - die Austausch‐ barkeit einander befehdender und relativierender Stimmen als postmoderne Indifferenz. 7 Sie beschreibt Zygmunt Bauman in Unbehagen in der Postmoderne: „Begriffe wie Philistertum, selbstgefällige Pedanterie, Vulgarität klingen inmitten der heutigen Kakophonie kommerzieller Werbung merkwürdig fremd.“ 8 Bauman fügt hinzu, dass auch Begriffe wie „Revolution“ und „Innovation“ von der Werbung vereinnahmt werden, so dass „Neues abzulehnen nicht zwangsläufig ein Zeichen von Obskurantismus und Reaktion“ 9 sei. Hier klingt Adornos Satz an: „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frü‐ here.“ 10 In einer sprachlichen Situation, in der auch Adornos Begriffe „Philister“ und „Banause“ zusammen mit aller Kritik relativiert, entleert werden, weil das aus dem Liberalismus hervorgegangene Bildungsbürgertum abgedankt hat, wird es immer schwieriger, das Maß zu finden, an dem das sich ausbreitende „neue Schlechte“ gemessen werden könnte. Während im ersten Abschnitt dieses Kapitels - symmetrisch zum ersten Kapitel - die spätmoderne Fortschrittsskepsis Benjamins zusammen mit seinem Versuch, die proletarische Revolution mit neuem Leben zu erfüllen, kommen‐ tiert wird, setzt sich der zweite Abschnitt mit dem von Benjamin postulierten Übergang von einer Ästhetik der Aura zu einer Ästhetik des „Ausstellungswerts“ auseinander. Es soll gezeigt werden, dass dieser Übergang Benjamins Versuch entspricht, mit der individualistischen Ästhetik des liberalen Bildungsbürger‐ 68 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="69"?> 11 G. Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin, Verlag Klaus Bittermann, 2013 (2. Aufl.), S.-27. 12 Z. Bauman, L. Donskis, Liquid Evil, Cambridge, Polity, 2016, S.-13. tums zu brechen und sich durch den Entwurf einer proletarischen Ästhetik des „Ausstellungswerts“ mit der Arbeiterklasse als Kollektivsubjekt zu solidari‐ sieren. Dieser Versuch wird im dritten Abschnitt im Anschluss an Adornos Kritik des „Ausstellungswerts“ als einer durch den Tauschwert vermittelten ästheti‐ schen Orientierung in Frage gestellt. Damit wird der Übergang zur Postmo‐ derne vorbereitet, den der vierte Abschnitt einleitet. In ihm wird deutlich, dass der „Ausstellungswert“, der auf ästhetischer Ebene zum Katalysator im revolutionären Prozess werden sollte, von den kommerzialisierten Medien der Wirtschaftsgesellschaft vereinnahmt wird. Charakteristisch für diese Ver‐ einnahmung ist neben Zygmunt Baumans Ausführungen zur postmodernen Ästhetik der folgende Satz von Guy Debord: „Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, daß es zum Bild wird.“ 11 Fazit: In der Postmoderne beherrscht das Kapital die gesamte Mediengesellschaft mitsamt ihren revolutionären (kritischen) Impulsen. Komplementär zu diesem Fazit verhält sich Baumans im fünften Abschnitt diskutierte Schlussfolgerung, dass wir in einer eindimensionalen postmodernen Gesellschaft ohne Alternative leben: „Indeed, a spectre is haunting Europe - the spectre of the absence of alternative.“ 12 Während im Osten Europas der moderne, von der Revolution angetriebene Fortschritt in eine Gesellschaft der Gulags mündete, ließ er im Westen erst die technisch perfektionierten Vernich‐ tungslager der Nationalsozialisten und später, nach dem Zweiten Weltkrieg, die von kommerzialisierten Massenmedien beherrschte Konsumgesellschaft entstehen. - Die Kritische Theorie muss sich, auch innerhalb der postmodernen Problematik, mit Baumans Diagnose nicht begnügen. 1. Zwischen Fortschrittskepsis und revolutionärem Charisma: Von Walter Benjamin zu Max Weber Die gesellschaftliche und sprachliche Situation, in der Walter Benjamin in den 1930er Jahren dachte und schrieb, fasst Max Horkheimer in einem Gespräch mit Otmar Hersche zusammen: „Als Hitler dann an der Macht war, hofften unzählige Menschen wirklich auf eine Revolution. Wahrscheinlich war diese Hoffnung 1. Zwischen Fortschrittskepsis und revolutionärem Charisma 69 <?page no="70"?> 13 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch, Zürich, Verlag der Arche, 1970, S.-26. 14 W. Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt, Suhrkamp, 1971 (3. Aufl.), S.-131. 15 Ibid. 16 Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: GS VI (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2020 (9. Aufl.), S.-15. eine Illusion, ein Traum. Aber sie hat jedenfalls meine Arbeiten während der Zeit von 1933 beherrscht.“ 13 Zu den „unzähligen Menschen“ gehörte auch Walter Benjamin. Er hoffte, dass eine jähe prise de conscience des Proletariats zum Ausbruch aus dem Kontinuum eines fatalen Fortschritts führen würde, der statt in die ersehnte Befreiung vom Kapitalismus Anfang der Dreißigerjahre in eine Führerdiktatur mündete, die allen Vorstellungen einer Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte spottete. Benjamins Hoffnung erwies sich als trügerisch: nicht nur weil ein Aufstand des Proletariats im Deutschland der Dreißigerjahre ausblieb, sondern auch deshalb, weil die Entwicklungen in der Sowjetunion auf ein Missraten der Revolution hindeuteten, das sowohl Benjamin als auch Brecht befürchtete. In seinen „Gesprächen mit Brecht“ notiert Benjamin am 25. Juli 1938 zu Brecht, „er sitze im Exil und warte auf die rote Armee“. 14 Dennoch ist von „Skeptizismus“ die Rede, und Benjamin bemerkt zu Brechts schwankender Haltung dem sowjetischen Regime gegenüber: „Sollte er [der Skeptizismus] eines Tages erwiesen werden, so müßte man das Regime bekämpfen - und zwar öffentlich. Aber ‚leider oder Gottseidank, wie sie wollen‘, sei dieser Verdacht noch nicht Gewißheit.“ 15 Er wurde zur Gewissheit, als im Jahre 1939 Molotow und Ribbentrop den „Hitler-Stalin-Pakt“ unterzeichneten, der den deutschen Angriff auf Polen ermöglichte. In diesem Augenblick wurde die proletarische Revolution zu einer nostalgischen Vorstellung, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den aus dem Exil heimgekehrten Vertretern der Kritischen Theorie als solche erkannt wurde. Von dieser Erkenntnis zeugt Adornos in der „Einleitung“ schon zitierter Satz aus der Negativen Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 16 Diesen Satz hätte Benjamin nicht schreiben können, weil er trotz seiner spätmodernen Fortschrittsskepsis noch allzu sehr im Rahmen der Marxschen Moderne dachte und nicht bereit war, die Vorstellung von einer bevorstehenden Revolution aufzugeben. Allerdings sah er diese Revolution nicht als das notwen‐ dige Ergebnis gesellschaftlicher Widersprüche und Klassengegensätze, sondern als einen Gewaltakt des Proletariats, das sich im Bewusstsein drohender Gefahr in der „Jetztzeit“ aufraffen und eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse herbeiführen würde. In Benjamins „Geschichtsphilosophischen Thesen“ geht 70 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="71"?> 17 W. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: GS I. 2, op. cit., S.-701. 18 Ibid., S.-702. 19 Ibid., S.-700. 20 W. Benjamin, „Zentralpark“, in: GS I. 2, op. cit., S.-683. es darum, das fatale Kontinuum des herrschenden Fortschritts zu sprengen. „Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revo‐ lutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich“ 17 , heißt es am Anfang der 15. These. Komplementär dazu beginnt die 16. These mit dem Satz: „Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten.“ 18 „Nicht Übergang“: Mit diesem Ausdruck weicht Benjamin von der hegelia‐ nisch-marxistischen Vorstellung historischer Immanenz ab: von der Vorstellung, dass die Umgestaltung der Gesellschaft gleichsam von selbst aus den der Gesell‐ schaft innewohnenden Widersprüchen hervorgeht. In diesem Kontext ist seine Kritik am Historismus und am Reformismus der damaligen Sozialdemokratie zu verstehen. Diese verwechselt die Fortschritte im Bereich der Naturbeherrschung mit der Befreiung der Menschheit von Herrschaft und Ausbeutung: „Die sozialdemokra‐ tische Theorie, und noch mehr die Praxis, wurde von einem Fortschrittsbegriff bestimmt, der sich nicht an die Wirklichkeit hielt, sondern einen dogmatischen Anspruch hatte.“ 19 Dieser fiel mit dem Glauben zusammen, dass die Fortschritte im Arbeitsbereich und in der Naturbeherrschung durch Arbeit zur Befreiung der Arbeiterklasse und der Menschheit führen würden. Angesichts der katastrophalen Entwicklung der Weimarer Republik, die in den totalitären Nationalsozialismus mündet, fordert Benjamin diesen rationa‐ listischen Glauben mit der These heraus, dass der Fortschritt, auf den sich die im Vulgärmarxismus verharrende Sozialdemokratie beruft, in Wirklichkeit die Katastrophe ist, aus der es auszubrechen gilt: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“ 20 Dies ist der Grund, weshalb sich Benjamins Proletariat nicht am „Ideal der befreiten Enkel“ orientiert, sondern an einer von Katastrophen geprägten Vergangenheit, aus der das Bild der „geknechteten Vorfahren“ aufsteigt. Für diese Vergangenheit steht in Benjamins „Geschichtsphilosophischen Thesen“ Paul Klees Bild des „Angelus Novus“: „Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette 1. Zwischen Fortschrittskepsis und revolutionärem Charisma 71 <?page no="72"?> 21 W. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“ („Geschichtsphilosophische Thesen“), in: GS I. 2, op. cit., S.-697. 22 R. Tiedemann, Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frank‐ furt, Suhrkamp, 2016 (2. Aufl.), S.-125. 23 Vgl. B. Witte, Walter Benjamin, Reinbek, Rowohlt, 1985, S. 91, wo von Benjamins „äu‐ ßerst gewagtem Versuch“ die Rede ist, „die diametral entgegengesetzten Positionen der jüdischen Sprachphilosophie und des dialektischen Materialismus in seinem kritischen Denken zu vereinen“. 24 D. Weidner, „Einleitung: Walter Benjamin, die Religion und die Gegenwart“, in: D. Weidner (Hrsg.), Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung, Berlin, Suhrkamp, 2010, S.-27. 25 W. Benjamin, Das Passagen-Werk, in: GS V. 1 (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhr‐ kamp, 2020 (9. Aufl.), S.-588. von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ 21 Dieser Text kann insofern als Ausgangspunkt der gesamten Kritischen Theorie gelesen werden, als er deren Negativität und zugleich deren Abkehr vom hegelianischen Marxismus begründet. Wer, anders als Hegel und Marx, die Geschichte nicht mehr als eine Entwicklung der Menschheit zu stets höheren Stadien betrachten kann, weil sie ihm als eine Verkettung von Katastrophen erscheint, der muss sich auch von der historischen Immanenz verabschieden, die allen hegelianischen und marxistischen Diskursen zugrunde liegt. Die Entwick‐ lung der Gesellschaft als teleologisch konzipierte Bewegung zum Besseren hin - etwa zur klassenlosen Gesellschaft - erscheint nicht mehr als in den sozialen Antagonismen und Konflikten angelegt, sondern als fragwürdige Konstruktion. Sie wird im spätmodernen Kontext von Adornos negativer Dialektik kritisch zerlegt und desavouiert. Schon Benjamin distanziert sich in seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ und im Passagen-Werk von dieser Konstruktion: nicht jedoch durch eine negative Dialektik, sondern durch einen Messianismus, der ihm als einzige Möglichkeit erscheint, aus dem als katastrophal empfundenen geschichtlichen Kontinuum - aus dem bisherigen Fortschritt - auszubrechen. Dass dieser Messianismus biografisch im Zusammenhang mit Benjamins Judentum zu verstehen ist, soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Die Einwirkung seiner religiösen Vorstellungen auf seine radikale „Revision von Theorie und Praxis des historischen Materialismus“ 22 , wie Rolf Tiedemann sagt, sind oft kommentiert worden 23 , und dass „das Judentum von entscheidender Bedeutung“ 24 für Benjamins Gedankengänge ist, stellt Daniel Weidner zu Recht fest. Benjamin selbst notiert in seinen Aufzeichnungen zum Passagen-Werk: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen.“ 25 72 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="73"?> 26 G. Mensching, „Zeit und Fortschritt in den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins“, in: P. Bulthaup (Hrsg.), Materialien zu Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Beiträge und Interpretationen, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (2. Aufl.), S.-171. 27 Vgl. P. V. Zima, Goldmann. Dialectique de l’immanence, Paris, Editions Universitaires, 1973. 28 W. Benjamin, Das Passagen-Werk, in: GS V. 1, op. cit., S.-608. 29 W. Fuld, Walter Benjamin. Eine Biographie, Frankfurt, Fischer, 2016, S.-99. 30 S. Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt, Suhrkamp, 2000, S.-300. Zugleich ist Benjamins Messianismus aber auch im Kontext der spätmodernen Problematik zu verstehen, in der, wie sich gezeigt hat, Fortschrittsskepsis zum dominierenden Moment wird: sowohl bei Ferdinand Tönnies als auch bei Georg Simmel und Max Weber. Bei Benjamin tritt als gesellschaftliches Moment der Sieg des Nationalsozialismus hinzu, den weder Simmel noch Max Weber erlebt haben. Dazu bemerkt Günther Mensching: „Die reale Negation des vermeintli‐ chen Fortschritts der menschlichen Gattung durch den Faschismus erzwingt die Suspendierung des Fortschrittsbegriffs im historischen Materialismus.“ 26 Die Suspendierung zieht eine Abkehr von der historischen Immanenz nach sich, an der noch Marxisten wie Georg Lukács und Lucien Goldmann fest‐ hielten. 27 Diese Abkehr lässt das von Benjamin herbeigesehnte Auftreten des Messias plausibel erscheinen. Seine Funktion besteht darin, das teleologische Vertrauen auf historische Immanenz abzulösen, dem es auch nicht an theologi‐ schen Aspekten fehlt. So ist Benjamins Bemerkung in seinen Aufzeichnungen zum Passagen-Werk zu verstehen: „Der echte Begriff der Universalgeschichte ist ein messianischer.“ 28 Auf die Abkehr von der Immanenz und die Funktion des Messias in Benjamins Diskurs geht - wenn auch indirekt - Werner Fuld ein: „Geschichte kann ohne den Erlöser nicht gedacht werden, da nicht sie es ist, die Erlösung in sich birgt und damit scheinbar zwangsläufig verbürgt, sondern auf den Erlöser angewiesen ist zu ihrer Erfüllung.“ 29 In Wirklichkeit ist es das revolutionäre Pro‐ letariat, das das „messianische Zeitalter“ einläuten wird, wie Susan Buck-Morss soziologisch-realistisch Benjamins Ansatz deutet: „Es ist die revolutionäre Praxis der menschlichen Subjekte, durch die das messianische Zeitalter herbei‐ geführt wird.“ 30 Insgesamt können somit drei Aspekte von Benjamins Messianismus unter‐ schieden werden: der messianische Einschlag des jüdischen Monotheismus, der vorläufige Sieg des Nationalsozialismus im Jahre 1933 und die spätmoderne Problematik, deren Fortschrittsskepsis zu radikalen Lösungen einlädt: etwa zu Ferdinand Tönnies’ Überlegung, „der Staat müßte sich entschließen, die 1. Zwischen Fortschrittskepsis und revolutionärem Charisma 73 <?page no="74"?> 31 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (Hrsg. A. Bammé), München-Wien, Profil Verlag, 2017, S.-321. 32 H. Baier, „‚Vater Sozialstaat‘. Max Webers Widerspruch zur Wohlfahrtspatronage“, in: Ch. Gneuss, J. Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein Symposium, München, DTV, 1988, S.-61. 33 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ord‐ nungen und Mächte. Herrschaft. Nachlaß, Studienausgabe, Bd. I/ 22-4 (Hrsg. E. Hanke), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S.-34. 34 Ibid., S.-222. Gesellschaft zu vernichten oder doch umgestaltend zu erneuern“. 31 (Vgl. Kap. I. 1.) Zu diesen radikalen Lösungen gehört auch Max Webers Auffassung des cha‐ rismatischen Individuums und seiner Rolle im historischen Prozess. Bekanntlich konnte Max Weber die moderne Zuversicht, der zufolge die Entwicklung der Gesellschaft zum Besseren tendiere, nicht mehr nachvollziehen. Ihn beschäftigte der Gedanke, dass der von ihm beschriebene Rationalisierungsprozess mit einer Bürokratisierung der Gesellschaft einhergehen würde, welche die individuelle Initiative lähmen könnte. Horst Baier spricht von „den Warnungen Max Webers vor der Beamtenherrschaft“ 32 , und Weber selbst erklärt: „Wo die Bürokratisie‐ rung der Verwaltung einmal restlos durchgeführt ist, da ist eine praktisch so gut wie unzerbrechliche Form der Herrschaftsbeziehungen geschaffen. Der einzelne Beamte kann sich dem Apparat, in dem er eingespannt ist, nicht entwinden.“ 33 Diese Entwicklung ist durchaus als zweigleisiger, ambivalenter Fortschritt im Sinne von Benjamin zu betrachten: Die Rationalisierung, zu der die Entfaltung der Bürokratie gehört, verspricht einerseits Effizienz, andererseits kann sie durch die Erdrückung individueller Initiativen die Gesellschaft erstarren lassen. Wie Benjamin sucht Weber nach Möglichkeiten, aus diesem fatalen Prozess auszubrechen. Wie Benjamin, der auf den Messias vertraut, lässt Weber das charismatische Individuum auftreten, dem er eine revolutionäre Rolle in der Geschichte zuspricht. Das Wort Charisma ist religiösen Ursprungs und wurde nach Weber zuerst von Rudolph Sohm „in seinem Kirchenrecht für die altchristliche Gemeinde“ 34 verwendet. Sein religiöser und theologischer Ursprung (charisma = gr. Gabe, Talent) klingt bei Weber in verschiedenen Ausdrücke (etwa in „Prophet“ oder „Gottgesandter“) an: „‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatür‐ lichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als 74 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="75"?> 35 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919-1920, Studienaus‐ gabe, Bd. I/ 23 (Hrsg. K. Borchardt, E. Hanke), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2014, S.-173. 36 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften, Studienausgabe, Bd. I/ 22-2 (Hrsg. H. G. Kippenberg), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2005, S.-60. 37 Vgl. J. Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin, Rowohlt, 2014 (3. Aufl.), S.-61-62. 38 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, Studienausgabe, Bd. I/ 22-4, op. cit., S.-152. 39 Ibid., S.-139. gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“ 35 Bei Weber ist an anderer Stelle vom „Charisma des Propheten“ 36 die Rede. Angesichts dieser Begriffsbestimmungen fällt es nicht schwer, in Benjamins „Messias“ eine charismatische Gestalt zu erkennen, der zugetraut wird, die Routinen des als schicksalhaft anmutenden katastrophalen Fortschritts aufzu‐ brechen und die Entwicklung der Gesellschaft in eine andere Bahn zu lenken. Obwohl der Marxist Benjamin und der eher liberal denkende 37 Max Weber zwei ganz verschiedene Entwicklungen im Blick haben, ist ihnen die Ansicht gemeinsam, dass nur eine charismatische Gestalt in der Lage wäre, eine Re‐ volution herbeizuführen, die den Kapitalismus überwindet (Benjamin) oder das „stählerne Gehäuse“ (Weber) der Bürokratie sprengt. Obgleich sich Weber unter Revolution etwas ganz anderes vorstellt als Benjamin, weil er mit der proletarischen Revolution der Marxisten nichts im Sinn hat (die Gefahr einer bürokratischen Verkrustung hält er im Sozialismus für akuter als im Kapita‐ lismus), verspricht er sich vom charismatischen Individuum eine revolutionäre Wende. Immer wieder stellt er „das Charisma im Kampf gegen die Bürokratie“ 38 dar und konstruiert die historische Entwicklung als einen von charismatischen Individuen angetriebenen Prozess. Vom Charisma heißt es in Wirtschaft und Gesellschaft, es sprenge „in seinen höchsten Erscheinungsformen Regel und Tradition“, und dann folgt der für Webers Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung symptomatische Satz: „Es ist in diesem rein empirischen und wertfreien Sinn allerdings die spezifisch ‚schöpferische‘ revolutionäre Macht der Geschichte.“ 39 Diese These ist weder empirisch begründbar noch „wertfrei“, weil sie aus Webers liberal-individualistischer Ideologie ableitbar ist, in der die revolutionären Kräfte der Geschichte nicht die Klassen sind (etwa Bürgertum oder Proletariat), sondern außergewöhnliche Individuen. Es kommt hinzu, dass Webers charismatisches Individuum auch dem (keineswegs rational agierenden) 1. Zwischen Fortschrittskepsis und revolutionärem Charisma 75 <?page no="76"?> 40 G. Stauth, „Kulturkritik und affirmative Kultursoziologie. Friedrich Nietzsche, Max Weber und die Wissenschaft von der menschlichen Kultur“, in: G. Wagner, H. Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S.-171. 41 Eine ausführliche Diskussion der Wertfreiheit (auch im Hinblick auf Alfred Schütz) findet sich in: P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Narr-Francke-Attempto (UTB), 2020, S.-405-413. „Übermenschen“ Nietzsches nachempfunden ist. Zu Recht bemerkt Georg Stauth, dass „Nietzsche […] der große Verborgene in Webers Werk“ 40 sei. Hier geht es nicht um Webers problematischen Begriff der „Wertfreiheit“ 41 , sondern um die von ihm und Benjamin ins Auge gefassten Auswege aus einer gesellschaftlichen Entwicklung, die beide Autoren für fatal halten: Weber angesichts der fortschreitenden Bürokratisierung, Benjamin angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung. Sowohl Benjamins als auch Webers Einschätzungen und Hoffnungen sind im Kontext der spätmodernen Proble‐ matik zu verstehen, in der - wie sich gezeigt hat - der moderne Fortschritts‐ glaube schwindet und allmählich (auch bei Tönnies, Simmel und Alfred Weber) von einer skeptischen Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung und der Zukunft abgelöst wird. In diesem Kontext schlägt jeder der beiden Denker die von ihm aus religiösen oder ideologischen Gründen favorisierten Lösungen vor. Im Rückblick haben sich ihre Lösungsvorschläge einerseits als unrealistisch, andererseits als gefähr‐ lich erwiesen. Sie waren (und sind) unrealistisch, weil die Vorstellung von einer proletarischen Revolution zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machter‐ greifung illusorisch war (und heute noch illusorischer erscheint) und weil es unwahrscheinlich ist, dass ein Einzelner den bürokratischen Apparat reorgani‐ sieren oder auch nur vereinfachen könnte. Sie waren (und sind) gefährlich, weil Begriffe wie „Messias“ und „Charisma“ dehnbar sind und auch auf fragwürdige Führergestalten wie Napoleon I, Mussolini, Hitler und Stalin angewandt werden können - und angewandt wurden. Es soll im vierten Abschnitt deutlich werden, dass Vertreter der Postmoderne sich zu Recht von revolutionären Vorstellungen dieser Art verabschiedet haben. 2. „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ I: Vom Bildungsbürgertum zum Proletariat (Benjamin und Brecht) Auf Benjamins großbürgerliche und bildungsbürgerliche Herkunft wurde in der Einleitung zu diesem Kapitel bereits hingewiesen. Die Ambivalenz seiner sozialen Situation zwischen Großbürgertum und Arbeiterklasse beschreibt 76 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="77"?> 42 W. Fuld, Walter Benjamin, op. cit., S.-104. 43 W. Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: GS I. 2, op. cit., S.-479. 44 Ibid., S.-480. 45 Ibid. Werner Fuld: „Benjamin war hineingeboren ins Großbürgertum, und er blieb, wie proletarisiert er später auch immer war, ein Bürger; er wußte, dass er seine Klasse nicht verlassen konnte. Er war ein Intellektueller, der seine Klasse verriet, sie aber nicht wechselte.“ 42 In Übereinstimmung mit seiner Hinwendung zum Proletariat, die in den „Ge‐ schichtsphilosophischen Thesen“ zum Ausdruck kommt, versucht Benjamin, eine Alternative zur bürgerlichen Ästhetik zu entwerfen. Seine Auffassung der Kunstentwicklung als Prozess, der vom „Kultwert“ des „auratischen Kunst‐ werks“ zum „Ausstellungswert“ als einem der vorrevolutionären Situation angemessenen ästhetischen Wert führt, ist in dem von ihm gelebten Spannungs‐ verhältnis zwischen einer bildungsbürgerlichen Kunstauffassung und einer Kunstrezeption, die das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse fördert, zu betrachten. Denn das „auratische Kunstwerk“ ist ein in die Tradition eingebettetes Werk, das sich durch seine Einmaligkeit und seine Distanz zum Rezipienten aus‐ zeichnet und vom Bildungsbürger als Privatperson rezipiert wird. Es erheischt eine kontemplative Rezeption und eine individuelle Versenkung in das Objekt. In seinen Definitionen der „Aura“ hebt Benjamin Einmaligkeit und Distanz als wesentliche Komponenten hervor und veranschaulicht das Gemeinte mit einem Landschaftsbild: „Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Ge‐ genständen zu illustrieren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erschei‐ nung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“ 43 Hier sind Einmaligkeit und Distanz entscheidend: die Einmaligkeit des Augenblicks und die Distanz der Gegenstände, vor allem des „Gebirgszugs am Horizont“. Vom Kunstwerk sagt Benjamin, seine Einzigartigkeit sei „identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition“ 44 , und erklärt, diese Einbettung finde „ihren Ausdruck im Kult“. 45 Es ist jedoch ein Unter‐ schied, ob ein berühmtes Heiligenbild in einer Kirche dem Kult dient (etwa die „schwarze Madonna“ von Tschenstochau) oder Rembrandts „Nachtwache“ im Amsterdamer Rijksmuseum von einem Bildungsbürger begutachtet wird. Im 2. „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ I 77 <?page no="78"?> 46 Ibid., S.-486. 47 W. Benjamin, „Was ist das epische Theater? (1). Eine Studie zu Brecht“, in: GS II. 2 (Hrsg. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser) Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S.-527. 48 W. Benjamin, „Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf. Zur Uraufführung von acht Einaktern Brechts“, in: GS II. 2, op. cit., S.-515. ersten Fall handelt es sich um eine Funktion im religiösen Kult; im zweiten Fall wird ein Werk im Rahmen einer säkularisierten Autonomieästhetik betrachtet. Auf diesen Unterschied geht Benjamin nicht ein. Dadurch kommt es zu Ungereimtheiten, etwa wenn er erklärt: „Indem das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Schein ihrer Autonomie.“ 46 Aber gerade die Kunst, die einem Kult dient, etwa ein Heiligenbild oder eine Ikone, wurde und wird von den Gläubigen nicht als autonome Kunst betrachtet, sondern als religiöses Objekt verehrt, angebetet. Ihre Funktion ist heteronom. Erst die in der Renaissance entstandenen Gemälde - etwa die eines Giorgione - werden als autonome Gebilde um ihrer selbst willen bewundert. Benjamin beschäftigt in erster Linie nicht die Entstehung künstlerischer Autonomie, sondern der Gegensatz zwischen dem im Kult verehrten „aurati‐ schen“ Werk, das sich durch seine Einmaligkeit an einem bestimmten Ort und seine Distanz zum Betrachter auszeichnet, und dem technisch reproduzierbaren, ortsunabhängigen Werk, etwa dem Film, der sich an ein Kollektiv richtet und von Massen rezipiert werden kann. Diese Rezipierbarkeit durch Kollektive wird in Benjamins Ästhetik als „Ausstellungswert“ bezeichnet. Der „Ausstellungswert“, der die kollektive Rezeption durch die revolutionäre Klasse meint, kündigt sich in Benjamins Ästhetik schon im Theater an. Sein Modell ist Brechts Episches Theater, das mit seinen Unterbrechungen, Schocks und Verfremdungseffekten zur Gesellschaftskritik einlädt: „Das epische Theater stellt den Unterhaltungscharakter des Theaters in Frage; es erschüttert seine gesellschaftliche Geltung, indem es ihm seine Funktion in der kapitalistischen Ordnung nimmt […].“ 47 Aus Benjamins Sicht ist das Epische Theater ein Vorläufer des kritischen Films: „Das epische Theater seinerseits rückt, den Bildern des Filmstreifens vergleichbar, in Stößen vor. Seine Grundform ist die des Choks, mit dem die einzelnen wohlabgehobenen Situationen des Stücks aufeinandertreffen.“ 48 Es geht mithin darum, im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit die sich am Ausstellungswert orientierende Kunst und ihre Ästhetik zu Vehikeln prole‐ tarischer, revolutionärer Bewusstseinsbildung zu machen. Veranschaulicht wird dieses ästhetische Programm in Benjamins Aufsatz über das „Programm eines proletarischen Kindertheaters“. 78 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="79"?> 49 W. Benjamin, „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, in: GS II. 2, op. cit., S.-765-766. 50 Vgl. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), Darmstadt-Neuwied, Luchter‐ hand (1968), 1975, S. 288, wo Lukács behauptet: „Freilich ist die Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt, die objektiv wissenschaftlich höhere […].“ Dies ist jedoch eine Erkenntnis, die vom marxistischen Intellektuellen dem Proletariat zugerechnet wird. 51 Vgl. P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 606, wo Bourdieu zeigt, „daß die Arbeiteraristokratie mit den unteren Schichten des Kleinbürgertums zusammenwächst“. 52 W. Benjamin, „Das Kunstwerk“, in: GS I. 2, op. cit., S.-505. 53 Ibid. Die kontemplative Rezeption durch den einzelnen Bürger (die Rezeption von Gemälden, Gedichten, Symphonien) soll eine kollektive Rezeption durch die revolutionäre Klasse ersetzen: „Proletarische Kindertheater erfordern, um fruchtbar zu wirken, ein Kollektiv als Publikum ganz unerbittlich. Mit einem Worte: die Klasse. Wie denn andererseits nur die Arbeiterklasse ein unfehlbares Organ für das Dasein der Kollektiva besitzt. Solche Kollektiva sind die Volks‐ versammlung, das Heer, die Fabrik. Solch ein Kollektiv ist aber auch das Kind.“ 49 Hier drängt sich die Frage auf, wie (soziologisch) realistisch diese Einschät‐ zung der realen Arbeiterklasse ist. Ähnlich wie vor ihm der junge Lukács 50 über‐ schätzt Benjamin sowohl die Homogenität als auch das Erkenntnisvermögen der Arbeiterklasse, die er mit einem „unfehlbaren Organ“ ausstattet. Es ist einerseits zwar richtig, dass Arbeiter eher in kollektiven Kategorien denken als individua‐ listisch sozialisierte Bürger, andererseits kann aber beobachtet werden, dass das Streben einzelner Arbeiter, in ihre Bezugsgruppe des Kleinbürgertums aufzusteigen, ein Streben, das u. a. Pierre Bourdieu beobachtet 51 , durchaus individuellen Charakter hat. Es hat zur Folge, dass der einzelne Arbeiter und seine Familie sich von ihrer Herkunftsklasse distanzieren. Es kommt hinzu, dass der Film in seiner Ambivalenz sowohl auf gesellschafts‐ kritische und revolutionäre als auch auf kommerzielle, konsumistische Art rezipiert werden kann. Benjamin setzt auf eine Synthese von Zerstreuung und kritischer Sammlung in der Filmrezeption durch die Massen. Anders als das „auratische“ („kultische“) Kunstwerk, das den Einzelnen (den Bürger) zur kontemplativen Versenkung einlädt, kann technisch reproduzierbare Kunst „Massen mobili‐ sieren“: „Sie tut es gegenwärtig im Film.“ 52 Und Benjamin erklärt: „Der Film drängt den Kultwert nicht nur dadurch zurück, dass er das Publikum in eine begutachtende Haltung bringt, sondern auch dadurch, daß die begutachtende Haltung im Kino Aufmerksamkeit nicht ausschließt. Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter.“ 53 2. „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ I 79 <?page no="80"?> 54 Ibid., S.-508. 55 W. Benjamin, Passagen. Schriften zur französischen Literatur (Hrsg. G. Raulet), Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (2. Aufl.), S.-247. 56 Ibid., S.-237. 57 E. Friedlander, Walter Benjamin. Ein philosophisches Porträt, München, Beck, 2013, S.-203. Im „Nachwort“ zu seinem Kunstwerk-Aufsatz kritisiert Benjamin die faschis‐ tischen und nationalsozialistischen Versuche, die Massen durch die Ästheti‐ sierung der Politik für den Krieg zu mobilisieren, ohne die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse zu ändern. Im Gegenzug zur faschis‐ tischen Ästhetisierung der Politik plädiert er für eine „Politisierung der Kunst“: „Der Kommunismus antwortet ihm [dem Faschismus] mit der Politisierung der Kunst.“  54 Die Frage lautet, ob im Spätkapitalismus der Nachkriegszeit nicht sowohl die „Ästhetisierung der Politik“ als auch die „Politisierung der Kunst“ der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche zum Opfer fällt. Benjamin ist diese Kommerzialisierungstendenz durchaus aufgefallen. Ja, er stellt sogar fest, dass die avantgardistischen Verfahren des reproduzierbaren Kunstwerks dessen Eingliederung in die Welt der Waren fördern: „Die Dichtung unterwirft sich im Feuilleton der Montage. Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben.“ 55 Komplementär dazu heißt es im Passagen-Werk: „Die Photographie ihrerseits dehnt seit der Jahrhundertmitte den Kreis der Warenwirtschaft gewaltig aus […].“ 56 Benjamins Problem besteht darin, dass er nicht systematisch der Frage nach‐ geht, wie die Massenrezeption von Fotografie und Film vom kapitalistischen Markt usurpiert wird, der kritische Aufmerksamkeit als „Politisierung der Kunst“ und politisches Engagement ausschließt. Eli Friedlander gibt Benjamins Standpunkt knapp und klar wieder, wenn er schreibt: „Grundsätzlicher erklärt Benjamin, dass die Fundierung des Kunstwerts sich verändert: Nicht mehr die Praxis des Rituals, sondern diejenige der Politik sei sein Fundament.“ 57 Abgesehen davon, dass (wie bereits angemerkt) in dieser Chronologie das vom Ritual unabhängige, autonome Kunstwerk des bürgerlichen Zeitalters fehlt, ist die Fundierung der Kunst im Politischen ein Anachronismus, den das Scheitern der 1968er Revolten, die Eisensteins Revolutionsfilme aktualisierten und Häuserwände mit politischen Graffiti schmückten, veranschaulicht. Es war wohl das letzte Mal, dass Architektur politisiert wurde. Und es war auch die Zeit, in der Benjamins Schriften und die Werke der Kritischen Theorie (in den 1970er Jahren) in Paris übersetzt und intensiv rezipiert wurden. Zu Recht bemerkt Eli Friedlander in diesem Zusammenhang zu Benjamin: „Er zeigt […], 80 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="81"?> 58 Ibid., S.-210. 59 B. Brecht, Über Lyrik, Frankfurt Suhrkamp, 1964, S.-110. 60 R. Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S.-113. 61 Vgl. J. Baudrillard, „Transesthétique“, in: ders., La Transparence du Mal. Essai sur les phénomènes extrêmes, Paris, Galilée, 1990, S.-22-27. dass es immer eine Kunstform gegeben hat, die vom Kollektiv absorbiert und nicht in kontemplativer Sammlung von Einzelnen betrachtet wurde, nämlich die Architektur.“ 58 Das mag richtig sein und bezieht sich auf den Kontext der russischen Revo‐ lutionen von 1905 und 1917, zu dem Brecht bemerkt: „Die sich die Herrschaft erobernde Klasse schreibt mit breitem Pinsel ihre Meinungen und Losungen auf die eroberten Gebäude. Auf die Kirchen schreibt [sie] ‚Religion ist Opium fürs Volk‘ […].“ 59 Als Kontrastfolie zu diesem revolutionären Kontext erscheint heute die zunehmende Kommerzialisierung der Städte durch Werbung: Es seien nur die Leuchtreklamen am Londoner Piccadilly Circus und am New Yorker Times Square erwähnt. Was für die Architektur gilt, gilt auch für die überwiegende Mehrzahl der Filme: Sie dienen dem Profit, und ihre auf „Spannung“ ausgerichteten Verfahren sind alles andere als Anstöße zum kritischen Nachdenken oder gar zum revolutionären Handeln. Sie sollen die Kassen füllen. An Schockwirkungen fehlt es ihnen nicht; nur ist das Publikum durch Überbeanspruchung nahezu immun gegen sie. Insofern ist Rolf Tiedemann Recht zu geben, der schon Anfang der 1970er Jahre zu Benjamins Betrachtungsweise bemerkt: „In ihrem Ursprung progressive Techniken wie die Schock- und Montageeffekte des Surrealismus sind von der Massenkunst des Films längst derart nivelliert worden, daß jeder Stachel der Provokation, der einmal ihren gesellschaftlichen Sinn ausmachte, ihnen amputiert ist.“ 60 Diese Argumentation wird in der Postmoderne von Autoren wie Zygmunt Bauman und Jean Baudrillard fortgesetzt, die die Vereinnahmung der Kunst durch die Marktgesetze analysieren und sogar vom Verschwinden des Politi‐ schen und des Ästhetischen („transesthétique“, Baudrillard) 61 sprechen. Einige ihrer Argumente werden aber von Adorno - durchaus noch im spätmodernen, kritisch-theoretischen Kontext - vorweggenommen. 2. „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ I 81 <?page no="82"?> 62 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-73. 63 W. Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: GS I. 2, op. cit., S.-653. 64 W. Benjamin, „Zum Bilde Prousts“, in: GS II. 1, op. cit., S.-320. 65 W. Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“, in-: GS I. 2, op. cit., S.-646. 3. „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ II: Adornos Kritik als Übergang zur Postmoderne Benjamins Einstellung zum „auratischen“ Werk und zur „Aura“ ist durchaus zweideutig, und Adorno spricht zu Recht von „Benjamin[s] mit sehnsüchtiger Negation beschriebene[m] Phänomen der Aura“. 62 Diese nostalgische Betrach‐ tung des Phänomens hängt vor allem mit Benjamins Position zwischen den Klassen zusammen, einer Position, die er sich mit Baudelaire, dem Kritiker des Bürgertums, teilt. Zu Baudelaire bemerkt Benjamin: „Er hat den Preis bezeichnet, um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis. Das Einverständnis mit dieser Zertrümmerung ist ihn teuer zu stehen gekommen. Es ist aber das Gesetz seiner Poesie. Sie steht am Himmel des zweiten Kaiserreiches als ‚ein Gestirn ohne Atmosphäre‘.“ 63 Diese Feststellung, dass der Dichter, der nicht mehr wie etwa der Romantiker Lamartine einmalige Augenblicke inmitten von stillen Naturlandschaften schildert, sondern die Schockerlebnisse der Großstadt verarbeitet, die Zertrümmerung der Aura teuer bezahlen musste, deutet auf einen Verlust hin: auf den Verlust der kontempla‐ tiven, interesselosen Haltung, zu der ein Gedicht wie Lamartines Le Lac den Bildungsbürger einlädt. Die „sehnsüchtige Negation“, von der Adorno spricht, hängt mit Benja‐ mins Stellung zwischen Bildungsbürgertum und Proletariat zusammen. Der Bildungsbürger Benjamin, der im Zusammenhang mit Prousts auratischer „unwillkürlicher Erinnerung“ von „der verjüngenden Kraft“ spricht, „die dem unerbittlichen Altern gewachsen ist“ 64 , fühlt sich zugleich vom Proletariat ange‐ zogen, dessen revolutionäres Bewusstsein von einer technisch reproduzierbaren Kunst geweckt wird: „Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der mémoire involontaire auftauchen, darin sieht, daß sie eine Aura haben, so hat die Photographie an dem Phänomen eines ‚Verfalls der Aura‘ entscheidend teil.“ 65 Zertrümmerung im Interesse der Revolution und als Alternative zur kontemplativen Haltung im Sinne des Bürgertums - oder „Verfall“ als Verlust aus bildungsbürgerlicher Sicht? Benjamin schwankt zwischen Kants „interesselosem Wohlgefallen“ und mar‐ xistischem Engagement und entscheidet sich schließlich für die proletarische Alternative - auch im Sinne Brechts. Mit Brecht sieht er im „technische[n] 82 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="83"?> 66 W, Benjamin, „Der Autor als Produzent“, in: GS II. 2, op. cit., S.-693. 67 Ibid., S.-692 68 Ibid. 69 Ibid. 70 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-73. Fortschritt die Grundlage [des] politischen“. 66 Dennoch hindert ihn sein Scharf‐ sinn daran, Technik und Politik umstandslos als komplementär aufzufassen. Denn in „Der Autor als Produzent“ stellt er auch fest, „daß der bürgerliche Produktions- und Publikationsapparat erstaunliche Mengen von revolutionären Themen assimilieren, ja propagieren kann, ohne damit seinen eigenen Bestand und den Bestand der ihn besitzenden Klasse ernstlich in Frage zu stellen“. 67 Er fügt hinzu, „daß ein erheblicher Teil der sogenannten linken Literatur gar keine andere gesellschaftliche Funktion besaß, als der politischen Situation immer neue Effekte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen“. 68 Was Benjamin in seinem Aufsatz „revolutionären Routiniers“ 69 zur Last legt, ist indessen in seinem Konzept des „Ausstellungswerts“ selbst angelegt. Filmproduktion ist kostspielig, und wer nicht imstande ist, Gewinne einzu‐ fahren, die eindeutig über den Produktionskosten liegen, kann auf dem Markt nicht überleben. Vor diesem Hintergrund erscheint der „Ausstellungswert“ als Marktwert. Adorno ist diese Tatsache nicht entgangen. In seiner postum veröffentlichten Ästhetischen Theorie (1970) erklärt er: „Der ‚Ausstellungswert‘, der da den auratischen ‚Kultwert‘ ersetzen soll, ist eine imago des Tauschprozesses. Diesem ist Kunst, die dem Ausstellungswert nachhängt, zu Willen, ähnlich wie die Ka‐ tegorien des sozialistischen Realismus dem status quo der Kulturindustrie sich anbequemen.“ 70 Adorno setzt seine Kritik fort, indem er Benjamins Dichotomie von „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ in Frage stellt und zu bedenken gibt, dass auratische Elemente durchaus auch im Film und in der Kulturindustrie insgesamt vorkommen. (Man denke an die von der Filmindustrie konstruierte Einmaligkeit des Helden, die ihn als charismatische Gestalt auf Distanz zu allen anderen Personen gehen lässt.) Im zweiten Satz der weiter oben zitierten Textpassage aus Adornos Ästhe‐ tischer Theorie wird auch das Auftreten der von Benjamin kritisierten „revolu‐ tionären Routiniers“ erklärt. Auch sie müssen den Marktgesetzen (d. h. der Nachfrage des Publikums) Rechnung tragen, wenn sie konkurrieren, überleben wollen. Dabei geht es nicht nur um die Qualität der Filme, die Inhalt und Technik den Marktgesetzen anpassen, sondern auch um das Verhältnis von „kritischer Sammlung“ und „Zerstreuung“, von der Benjamin spricht. Adorno beobachtet, wie sich letztere in der Mehrzahl der Fälle durchsetzt. Zum Proletariat bemerkt 3. Kultwert“ und „Ausstellungswert“ II 83 <?page no="84"?> 71 Theodor W. Adorno - Walter Benjamin Briefwechsel 1928-1940 (Hrsg. H. Lonitz), Frank‐ furt, Suhrkamp, 1994, S.-171-172. 72 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-409. 73 Ibid., S.-460. 74 L. Wawrzyn, Walter Benjamins Kunsttheorie. Kritik einer Rezeption, Darmstadt-Neu‐ wied, Luchterhand, 1973, S.-67. er in einem Brief an Benjamin (18. 3. 1936), es sei „doch selber bürgerlich produ‐ ziert“, und fügt hinzu: „Das Lachen der Kinobesucher ist […] nichts weniger als gut und revolutionär sondern des schlechtesten bürgerlichen Sadismus voll.“ 71 Als Alternative zum „Ausstellungswert“, der letztlich durch den Tauschwert vermittelt ist und dadurch zu einem Mittel der Naturbeherrschung wird, das u. a. im Sadismus des Publikums zum Ausdruck kommt, stellt sich Adorno eine Kunst vor, die sich von der technisch vermittelten Naturbeherrschung distanziert und ihre Objekte nicht zweckrational manipuliert: „Das Ferngerücktsein, auf das Benjamin im Begriff der Aura solchen Wert legt, ist rudimentäres Modell der Distanzierung von den Gegenständen als potentiellen Mitteln zu praktischen Zwecken.“ 72 Die Einstellung zum Kunstwerk sollte eine der kritischen Distanzierung, nicht eine der politischen oder kommerziellen Instrumentalisierung im Rahmen der Naturbeherrschung sein: „Die Benjaminsche Definition der Aura hat dies innerästhetische Moment getroffen, jedoch einem vergangenen Stadium zu‐ geordnet und für das gegenwärtige der technischen Reproduzierbarkeit als ungültig erklärt. Er hat dabei, in Identifikation mit dem Angreifer, allzu prompt die historische Tendenz sich zugeeignet, welche Kunst in den empirischen Zweckbereich zurückruft.“ 73 Adorno lehnt sowohl die politische als auch die marktbedingte Heteronomie ab und plädiert für eine Kunst, die jenseits von Naturbeherrschung und der sie organisierenden „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) ein kritisches Denken der Individuen ermöglicht. Diese Ästhetik wurde in den 1970er Jahren im Anschluss an die 1968er Revolutionsversuche als eine Rückkehr zur bür‐ gerlichen Kunstauffassung zurückgewiesen. Im Namen einer marxistisch-pro‐ letarischen Ästhetik verteidigt beispielsweise Lienhard Wawrzyn Benjamins Betrachtungsweise gegen Adornos Kritik. Er wirft Adorno „Wiederbelebungsversuche am Aurabegriff “ 74 vor und be‐ streitet die von Adorno diagnostizierte Ambivalenz Benjamins im Hinblick auf das Aura-Phänomen: „Daß von einer ‚sehnsüchtigen Negation‘ der Aura, von der Adorno spricht, bei Benjamin nichts zu bemerken ist, daß sich das auratische Kunstwerk vielmehr in einem Widerspruch zum technischen Standard befindet und durch das auf Politik fundierte Kunstwerk zu überwinden ist, erlaubt es 84 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="85"?> 75 Ibid. 76 Ibid., S.-79. 77 Ibid., S.-80. 78 W. Benjamin, „Das Kunstwerk“, GS I. 2, op. cit., S.-492. 79 Ibid. nicht nur, von einem Benjamin Adornoscher Lesart zu sprechen, sondern legt es auch nahe, zu untersuchen, inwieweit Adornos Aura-Begriff eine Kontrafaktur des Benjaminschen ist.“ 75 Kurzum, Wawrzyn wirft Adorno eine Verzerrung von Benjamins „Aura“-Theorie vor und wendet gegen Adornos „Denunziation des Ausstel‐ lungswertes als einer imago des Tauschprozesses“ 76 ein, dass der „Ausstellungs‐ wert“ im Kapitalismus politisches Engagement fördert: „Das nicht zuletzt über die Ausstellbarkeit auf Politik fundierte Kunstwerk agiert als Widerspruch im kapitalistischen Interessenfeld.“ 77 Indessen war auch Benjamin klar, dass die Verhältnisse nicht so eindeutig sind, wie sie von Wawrzyn dargestellt werden. In seinem Kunstwerk-Aufsatz ist davon die Rede, dass „das Filmkapital den Ton angibt“ 78 und dass der im Film konstruierte „Zauber der Persönlichkeit“ 79 der Warenwelt angehört. Auch diese Zweideutigkeit wird von Wawrzyn - zusammen mit Benjamins ambivalenter Einstellung zur „Aura“ - übergangen. Im nächsten Abschnitt wird sich in den Kommentaren zur soziologischen Ästhetik Zygmunt Baumans zeigen, dass Kunst und vor allem Kunst, die für den Massenkonsum bestimmt ist (also auch die meisten Filme), aufgrund ihres „Ausstellungscharakters“ den Gesetzen des Marktes und des Tausches gehorcht. Dennoch ist die Diskussion zwischen Benjamin und Adorno nicht zu Ende. Sie findet eine Fortsetzung in medienwissenschaftlichen und mediensozi‐ ologischen Arbeiten, deren Autoren Adorno eine elitäre Fixierung auf die Autonomie und Abgehobenheit der spätmodernen oder modernistischen Kunst vorwerfen sowie eine Vernachlässigung der gesellschaftskritischen Elemente innerhalb der Kulturindustrie. Für diese Kritik sind einige Werke von Dieter Prokop charakteristisch - etwa Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie (2003) und Das Nichtidentische in der Kulturindustrie (2005) -, die hier zum Abschluss kommentiert werden sollen. Die Frage nach „nichtidentischen“ oder gesellschaftskritischen Komponenten in der Massenkultur als Kulturindustrie mündet in die zusätzliche Frage, was unter Kritik zu verstehen sei (vgl. „Einleitung“ zu diesem Buch). Kritisch im Sinne der Kritischen Theorie können nur Texte, Handlungen oder Ereignisse sein, die das gesamte kapitalistische System (im Sinne von Benjamin und Adorno, im Sinne von Horkheimers Vorstellung vom „ganz Anderen“) in 3. Kultwert“ und „Ausstellungswert“ II 85 <?page no="86"?> 80 D. Prokop, Das Nichtidentische der Kulturindustrie. Neue kritische Kommunikationsfor‐ schung über das Kreative der Medienwaren, Köln, Herbert von Halem Verlag, 2005, S. 9. 81 Ibid., S.-43. 82 D. Prokop, Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie, Hamburg, VSA-Verlag, 2003, S.-95. 83 Ibid., S.-107. Frage stellen. Es können nicht Elemente sein, die das außerordentlich flexible pluralistische System täglich produziert und integriert. Solche Elemente stellt jedoch Prokop in den Mittelpunkt seiner Kritik an Adorno. Das Programm seiner kritischen Theorie der Kulturindustrie fasst er in Das Nichtidentische der Kulturindustrie klar zusammen: „Mein Programm besteht darin, das ‚Nichtidentische der Kulturindustrie‘ - das Kreative an den Medien und an den Waren - herauszuarbeiten (ohne das Unkreative zu vergessen) und damit der pauschalen Verdammung der Kulturindustrie die reale ‚Dialektik der Kulturindustrie‘ entgegenzusetzen.“ 80 Die Dialektik besteht darin, dass das Einerseits der Kulturindustrie (ihre verdummende Wirkung) auf das Andererseits (ihre kritisch-kreativen Aspekte) bezogen wird. 81 Dass Kulturindustrie in Wort, Bild und Ton verdummend wirken kann, gibt Prokop gern zu; er führt aber auch zahlreiche Beispiele für ihre kritisch-krea‐ tiven Komponenten an. Zu der TV-Sendung „Big Brother“ bemerkt er: „Big Brother faszinierte auch, weil es darin freiheitliche Momente gab: die Suche nach dem Glück im Hier und Jetzt.“  82 Aber diese Suche kommt auch in jedem zweiten Heftchenroman zur Sprache, und sie ist integraler Bestandteil der amerikanischen Ideologie, der zufolge im Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ jeder (im Prinzip) glücklicher Millionär werden kann. Was ändert dieses von der amerikanischen Verfassung verbürgte pursuit of happiness am kapitalistischen System? Ein anderes Beispiel, mit dem Prokop seinen Ansatz veranschaulichen will, ist kaum überzeugender. „Free Jazz, Elvis Presley oder die Beatles vermittelten auch befreiende Lebensgefühle […].“ 83 Dieser Meinung wird sich jeder Kulturmanager gern anschließen, zumal die Beatles als britischer Exportschlager von der Königin mit dem „Order of the British Empire“ geehrt wurden. Aber wo bleibt die Kritik an den herrschenden Verhältnissen? Benjamin hatte, als er für ein „proletarisches Kindertheater“ plädierte, etwas ganz anderes im Sinn: Dieses Theater sollte zum Katalysator im systemspren‐ genden Revolutionsprozess werden. Im Gegensatz dazu gehören viele von Pro‐ kops Beispielen für Kritik oder Widerstand in der Kulturindustrie in die Rubrik „Ventilsitten“: „Verhaltensformen, deren Sinn und Funktion darin besteht, 86 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="87"?> 84 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007, S.-929. 85 D. Prokop, Mit Adorno gegen Adorno, op. cit., S.-17. 86 Ibid., S.-236. 87 Vgl. M. Pricken, Creative Advertising. Ideas and Techniques from the World’s Best Campaigns, London-New York, Thames and Hudson (2004), 2007. 88 R. Winter, Widerstand im Netz. Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation, Bielefeld, Transcript, 2010, S.-37. 89 Ibid. 90 Vgl. K. H. Hörning, R. Winter (Hrsg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt, Suhrkamp, 1999, darin vor allem: D. Hebdige, „Wie Sub‐ kulturen vereinnahmt werden“. aufgestaute, die gesellschaftl. Ordnung bedrohende Spannungen aufzulösen, ‚abzufahren‘, zu neutralisieren.“ 84 Prokop spricht von „Qualität“ 85 und von „kreativen Kräften“ 86 , die in Journa‐ lismus und Kulturindustrie „präsent sind“. Das wird wohl niemand in Abrede stellen; nur sollte man bedenken, dass auch die Werbung von „Qualität“ und „kreativen Kräften“ lebt. Ohne sie gäbe es keine gute und vor allem keine erfolgreiche Werbung. „Befreiende Lebensgefühle“ werden von jedem zweiten Reiseprospekt geweckt - sofern die einschlägigen Werbeslogans gut formuliert und erfolgreich sind. Alles, was Prokop zum Nichtidentischen in der Kulturin‐ dustrie vorbringt, gilt auch für die Werbung: Auch sie lebt von Einfallsreichtum, Qualität und Kreativität. Davon zeugt ein Buch wie Creative Advertising  87 von Mario Pricken. Konsequent müsste Prokop seine Dialektik von einerseits / an‐ dererseits auch auf die Werbung anwenden, die integraler Bestandteil des Kapitalismus ist. Überzeugender ist vor diesem Hintergrund Rainer Winters Ansatz, der von „widerständige[n] digitale[n] Praktiken“ 88 in den Medien ausgeht: „So kann die Aneignung von Fernsehserien bisweilen als Widerstand gegen hegemoniale Sinnstrukturen begriffen werden […], wenn z. B. soziale Rollendefinitionen, Identitätsmuster oder Normalitätserwartungen subversiv unterlaufen, parodiert oder abgelehnt werden.“ 89 „Widerspenstige Kulturen“ 90 dieser Art unterscheiden sich qualitativ von Werbung und Kulturindustrie dadurch, dass sie keine Kompromisse mit der „Gesellschaft des Spektakels“ (Debord) eingehen. Da sie aber an der Peripherie der kulturindustriell organisierten Gesellschaft agieren und immer wieder vereinnahmt werden, ist es unwahrscheinlich, dass sie zu einem Ausbruch aus deren Labyrinth beitragen werden. Diese Ausweglosigkeit, von der Prokops Argumentationsmuster zeugen („ei‐ nerseits, andererseits“), bestätigt Adornos schon zitierter Satz: „Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel 3. Kultwert“ und „Ausstellungswert“ II 87 <?page no="88"?> 91 Th. W. Adorno, Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 173. 92 Vgl. J. Wertheimer, P. V. Zima (Hrsg.), Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft, München, Beck, 2006 (6. Aufl.). anzusetzen.“ 91 Diese Unstimmigkeit zwischen den Versprechen der Kulturindustrie und dem systematisch betriebenen Verrat an ihnen in verdummenden Strategien  92 kommt bei Prokop nicht zur Sprache. Das Hauptanliegen der Kritischen Theorie in allen ihren Varianten ist eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse und der Naturbeherrschung - auch im realen Sozialismus. Diese Überlegungen führen mitten in die postmoderne Problematik hinein, die vom Verschwinden der Bildung, des Proletariats, der Revolution und der „zweiten Dimension“ (Marcuse) sowie von der Allgegenwart der Vermittlung durch den Tauschwert gekennzeichnet ist. 4. Die Vermarktung von Revolution und „Ausstellungswert“ in der Postmoderne: Von Benjamin zu Zygmunt Bauman und Guy Debord Obwohl Zygmunt Bauman, der 1925 im polnischen Poznań (Posen) geboren wurde und als Professor für Soziologie 2017 in Leeds starb, einer späteren Generation angehörte, ist seine geistige Entwicklung der Benjamins durchaus vergleichbar. Er floh nach dem Angriff der Wehrmacht auf Polen im Jahre 1939 in die UdSSR, wo er sich 1943 der polnischen Exilarmee anschloss. Nach dem Krieg trat er in die Polnische Arbeiterpartei ein und machte sich wesentliche Gedanken des Marxismus zu eigen. Vom offiziellen Marxismus distanzierte er sich allerdings als Dozent an der Warschauer Universität, die ihn 1968 aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus dem Hochschuldienst entließ, als im Anschluss an den Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten eine Welle des Antisemitismus über Polen hereinbrach. Nach kürzeren Aufenthalten in Israel, Kanada, den USA und Australien bekam er schließlich eine Professur für Soziologie im britischen Leeds, wo er 1990 emeritiert wurde. Wie Benjamin befasste er sich in seiner marxistischen Phase mit der Rolle der Intellektuellen im Klassenkampf und mit ihrer Bedeutung für das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse. Von dieser Phase zeugen seine beiden Bücher Culture as Praxis (1973) und Socialism: The Active Utopia (1976), von denen er sich allerdings später als Denker der Postmoderne distanziert. Für diese Distanzierung sind zwei seiner Kerngedanken wesentlich: An erster Stelle steht der Gedanke, der in diesem Abschnitt kommentiert wird, dass in der nachmodernen Gesellschaft, der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, 88 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="89"?> 93 Vgl. B. Schmidt, Postmoderne - Strategien des Vergessens, Frankfurt, Suhrkamp, 1994. 94 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg, Hamburger Edition, 1999, S. 243. 95 Z. Bauman, Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S.-240-241. der den Marktgesetzen gehorchende Tauschwert nahezu alle Lebensbereiche erfasst, so dass weder Revolutionen noch radikale Reformen aus dem Kapita‐ lismus hinausführen können. An zweiter Stelle steht der im fünften Abschnitt diskutierte komplementäre Gedanke, dass die Überwindung des Kapitalismus nicht nur undurchführbar ist („living without an alternative“: s. o.), sondern auch gefährlich sein kann, weil marxistisch-leninistische Versuche, den Kapitalismus abzuschaffen, im Rahmen einer fortschrittsgläubigen Moderne in organisierte Unterdrückung mündeten. Beide Gedanken sind aus der Kritischen Theorie ableitbar, die angesichts der Dominanz des Marktes im Spätkapitalismus und der Integration des Proletariats in das kapitalistische System (eine Integration, die Benjamin bereits voraus‐ ahnte), „keinen Standort außerhalb des Getriebes“ (Adorno) mehr bezeichnen kann, von dem kritische, revolutionäre Praxis ausgehen könnte. Allerdings geht der postmoderne Soziologe Bauman einen Schritt weiter als die Denker der Kritischen Theorie. Er zeigt, dass in der Wirtschaftsgesellschaft wertende Begriffe wie Kultur, Bildung, Revolution, Utopie, individuelle Autonomie und Kunstautonomie obsolet wirken, weil sie vermarktet werden und allesamt der Vermittlung durch den Tauschwert zum Opfer fallen. In gewisser Hinsicht setzt Bauman Adornos Bedenken im Zusammenhang mit Benjamins „Ausstellungswert“ fort, wenn er zeigt, wie kurzlebig das „ausge‐ stellte“ Kunstwerk ist, weil es der marktbedingten Mode folgt, die sich von heute auf morgen wandeln und das Werk von gestern den postmodernen „Strategien des Vergessens“ 93 überantworten kann. Denn: „Auch die Kultur sollte man sich als Spielfeld vorstellen, als einen Schauplatz für das Spiel von Angebot und Nachfrage.“ 94 So ist der ephemere Charakter postmoderner Kunst zu verstehen. Sie wird zur konsumierbaren Modeerscheinung. Zum Kunstalltag bemerkt Bauman: „Er ist der Schauplatz einer anderen, nicht an Kunstgegenstände geknüpften Ästhetik. Hier finden kurzlebige Aufführungen und happenings statt, Installationen, die bewußt aus offenkundig vergänglichen Materialen zusammengebastelt werden oder auch nur auf immateriellen Gedanken beruhen - Dinge und Events also, die versprechen, nicht länger zu bleiben, als man sie haben will, und die dieses Versprechen auch halten.“ 95 Solche events oder Installationen sind in jeder Hinsicht als „imagines des Tauschprozesses“ (Adorno) zu verstehen: Sie verschwinden mit der vom Markt‐ gesetz diktierten Mode - wie modische Kleider, Nahrungsmittel und andere Konsumgegenstände. Ihr Erfolg ist nicht qualitativer, sondern quantitativer Art: 4. Die Vermarktung von Revolution und „Ausstellungswert“ in der Postmoderne 89 <?page no="90"?> 96 Ibid., S.-242. 97 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, op. cit., S.-179. 98 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-461. 99 Z. Bauman, Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, Hamburg, Hamburger Edition, 2008, S.-150. „Die Schönheit liegt in den Verkaufszahlen der Kassenschlager, in Platinschall‐ platten und Einschaltquoten.“ 96 Schönheit hat nichts mehr mit Kritik, Revolution oder Utopie zu tun; sie wird zum integralen Bestandteil der Wirtschaft. Während bei Benjamin und Brecht Innovationen der Avantgarden (der Surrealisten, des Epischen Theaters) ästhetische Bestandteile des revolutionären Prozesses waren, so dass Kunst und Politik sich in ständiger Wechselwirkung entwickelten, haben ästhetische Innovationen in der Postmoderne nichts mehr mit Politik zu tun. Auf diesen Verlust moderner und spätmoderner Hoffnungen zielt Baumans Frage nach der Trennlinie von fortschrittlichen und regressiven Tendenzen: „Wie soll man eine Trennlinie ziehen, wenn Neuheit nichts mehr mit Revolution zu tun hat, Innovationen nicht mehr gleichbedeutend sind mit Fortschritt und Neues abzulehnen nicht zwangsläufig ein Zeichen von Obskurantismus und Reaktion ist? “ 97 Innovation und Revolution werden in der postmodernen Gesellschaft zu technischen und kommerziellen Begriffen, die in der Werbung für „revolutio‐ näre Waschmittel“ oder „Smartphones“ verwendet werden. Zusammen mit der „Revolution“ wird die „Utopie“, die noch in Adornos Ästhetischer Theorie als das „dem Realitätsprinzip nicht Unterworfene“ 98 erscheint, vom Kommerz vereinnahmt. In Flüchtige Zeiten stellt Bauman, nachdem er sich „eine statistisch vertretbare Zufallsstichprobe angesehen hatte“, fest, „dass der Begriff ‚Utopie‘ vor allem von Firmen aus den Bereichen Touristik, Innenarchitektur, Kosmetik und Mode vereinnahmt worden ist“. 99 Die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche hat in der postmodernen Ge‐ sellschaft zur Folge, dass es zu einer Atomisierung der Individuen als Konsu‐ menten kommt, so dass die von Durkheim angekündigte Schwächung des Kollektivbewusstseins und der Gruppensolidarität immer weiter fortschreitet. Eine der Folgen dieser Entwicklung ist, dass das Kollektiv, an das sich Benjamins „Ausstellungswert“ und Brechts Episches Theater wenden, verschwindet. In der globalisierten Wirtschaftsgesellschaft ist es geradezu unmöglich, Impulse für kollektives Handeln zu finden: „One of the most seminal consequences of the new global freedom of movement is that it becomes increasingly difficult, 90 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="91"?> 100 Z. Bauman, Globalization. The Human Consequences, Cambridge-Oxford, Polity-Black‐ well (1998), 2005, S.-69. 101 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (8. Aufl.), S.-66. 102 J. Kastner, Zygmunt Bauman. Globalisierung, Politik und flüchtige Kritik, Wien-Berlin, Turia und Kant, 2015, S.-62. 103 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S.-86. 104 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin, Berlin Verlag, 2013, S.-43. 105 R. Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin, Berlin Verlag, 2009 (4. Aufl.), S. 66. 106 Vgl. E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2012 (6. Aufl.), S.-226-227. perhaps altogether impossible, to re-forge social issues into effective collective action.“ 100 Diese Individualisierung und Atomisierung der Bevölkerung führt wiederum zu einer Trennung von Individuum und Bürger, von Privatsphäre und Öffent‐ lichkeit, wobei die Privatsphäre als „Individualismus“ drastisch aufgewertet und die öffentliche Sphäre „kolonisiert“ wird: „Damit verliert der öffentliche Raum an Substanz, er wird zur Ausstellungsfläche für die öffentliche Präsentation privater Probleme und Bekenntnisse.“ 101 Diese „öffentliche Präsentation“ der Privatsphäre beherrscht die marktorientierte Boulevardpresse in Europa und Nordamerika, die sich auf das Privatleben von „Prominenten“ - Sportlern, Filmschauspielerinnen, Adeligen - konzentriert. In den kommerzialisierten Medien führt sie zu einer Atrophie der Politik, die in Übereinstimmung mit ihrer Definition (polis) auf die Öffentlichkeit ausgerichtet sein sollte. Jens Kastner erklärt: „Baumans aktuelle Sorge gilt der Krise der Politik“ 102 , und Bauman selbst spricht vom „Abdanken der Politik, wie wir sie bisher kannten“. Er ergänzt: „Es sind zunehmend die privaten Sorgen öffentlicher Figuren, die als öffentliche Angelegenheiten wahrgenommen werden.“ 103 Diese Einschätzung Baumans wird in vieler Hinsicht von Richard Sennett, dem postmodernen Soziologen der Stadt und des Stadtlebens, bestätigt. Sen‐ nett spricht von einem „aus dem Gleichgewicht geratene[n] Privatleben und ein[em] öffentliche[n] Leben, das leer ist“ 104 , und kommt zu dem Schluss: „Auf diese Weise verringert sich das Soziale, und der Kapitalismus bleibt.“ 105 In das Soziale haben aber Benjamin und Brecht alle ihre Hoffnungen projiziert, als sie versuchten, eine gesellschaftskritische, revolutionäre Rezeption von Kunst herbeizuführen. Die Postmoderne als eine von ihrem eigenen Markt dominierte Gesellschaft ist seit Durkheims Analysen des schwächer werdenden Kollektivbewusstseins und der Solidarität 106 durch eine stete Erosion des Sozialen gekennzeichnet. 4. Die Vermarktung von Revolution und „Ausstellungswert“ in der Postmoderne 91 <?page no="92"?> 107 G. Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin, Verlag Klaus Bittermann, 2013 (2. Aufl.), S.-18. 108 Ibid., S.-21. 109 Ibid., S.-22. 110 Ibid., S.-43. Diese Erosion führt dazu, dass die isolierten Individuen hilflos den Massenme‐ dien ausgeliefert sind. In mancher Hinsicht setzt Guy Debord in Die Gesellschaft des Spektakels (La Société du Spectacle, 1967) Baumans Gedankengänge fort, wenn er zeigt, wie der „Ausstellungswert“ in der Mediengesellschaft in einen rein kommerziellen „Wert“, d.-h. in Tauschwert, pervertiert wurde. Debord erscheint das Medienspektakel als eine Übertragung der Wirtschafts‐ beziehungen oder des Tauschwerts ins Mediale: „Im Spektakel, dem Bild der herrschenden Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles.“ 107 Im Anschluss an Marshall McLuhans These, dass die Nachricht das Medium selbst ist („medium is message“), zeigt Debord, dass die Medienwelt als imago der Wirtschaft zu einer Wirklichkeit sui generis wird, die die eigentliche Wirklich‐ keit ersetzt. Diese Substitution macht alle Versuche Benjamins und Brechts zunichte, mit Hilfe des künstlerischen „Ausstellungswerts“ die Wirklichkeit, die wirklichen sozialen Verhältnisse, zu erklären. Während das proletarische Kindertheater im Sinne von Benjamin diese erklärende und bewusstseinsverändernde Funktion erfüllen und den revolutionären Prozess vorantreiben sollte, wirken kommerzia‐ lisierte Medien - vom Fernsehen bis zum Computerspiel - wie Opiate. Sie lenken von den realen sozialen Bedingungen und ihrer eigenen Entstehungsgeschichte im Spätkapitalismus ab. Debord spricht in diesem Zusammenhang von einem medial organisierten Schlaf: „Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes.“ 108 Auch diesen Tatbestand führt Debord auf die Herrschaft der Ökonomie zurück: „Das Spektakel zwingt die lebendigen Menschen unter sein Joch, insofern die Wirtschaft sie bereits vollends unterjocht hat.“ 109 Das so entstehende Problem besteht darin, dass das marktvermittelte Medienspektakel gerade die Wirtschaftsverhältnisse, aus denen es selbst hervorgeht, verdeckt, statt sie - wie Benjamins „Ausstellungswert“ - aufzudecken. Dieser fällt als kritischer, revolutionärer Gebrauchswert zusammen mit allen anderen Gebrauchswerten dem Tauschwert zum Opfer, und Debord bestätigt Adornos Kritik am „Ausstellungswert“, wenn er bemerkt: „Der Tauschwert konnte sich nur als Agent des Gebrauchswerts bilden, aber sein durch seine eigenen Waffen errungener Sieg hat die Bedingungen seiner autonomen Herr‐ schaft erschaffen.“ 110 92 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="93"?> 111 Ibid., S.-70-71. 112 Ibid., S.-163 (G. Debord, La Société du Spectacle, Paris, Gallimard, 1992, S.-184). 113 Ibid. (dt.), S.-166. 114 Z. Bauman, Leben in der flüchtigen Moderne, op. cit., S.-226. In dieser vom Tauschwert als Medienspektakel beherrschten Situation wird der Klassenantagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat restlos einge‐ ebnet, und das Proletariat verschwindet im bürgerlich geprägten Konsum: „Die ganze theoretische Mangelhaftigkeit bei der wissenschaftlichen Verteidi‐ gung der proletarischen Revolution kann, sowohl was den Inhalt als auch die Form der Darstellung angeht, auf eine Identifizierung des Proletariats mit der Bourgeoisie unter dem Gesichtspunkt der revolutionären Machtergreifung zurückgeführt werden.“ 111 Aus diesen Zeilen spricht die Ernüchetrung des Marxisten in postmoderner Zeit. Seine Ernüchterung ist der eines Jean-François Lyotard vergleichbar, der die von Cornelius Castoriadis und Claude Lefort begründete Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ (1949-1967) verließ und sich vom Marxismus abwandte. (Vgl. Kap. III.) Die Kunst, die bei Benjamin und Brecht helfen sollte, die revolutionäre Wende herbeizuführen, löst sich als „Ausstellungswert“ im Kommerz auf. Debord spricht vom „Ende der Welt der Kunst“ („la fin du monde de l’art“) 112 und schließt: „Die durch und durch zur Ware gewordene Kultur muß auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden.“ 113 Dies ist wohl der Grund, weshalb in der Mediengesellschaft allenthalben von Kultur die Rede ist: Sie wird zu einer ihrer wichtigsten und spektakulärsten Waren. Wie sehr der Warencharakter in der postmodernen Gesellschaft dominiert und der Tauschwert den Gebrauchswert überdeckt, stellt Bauman anschaulich dar: „Es ist der Name der Galerie auf der Einkaufstüte, der dem Inhalt Bedeutung verleiht - Markenname und zugehöriges Logo erhöhen nicht einfach den Wert, sie sind der Wert, der Marktwert, und damit ein Wert an sich.“ 114 Im fünften Kapitel wird sich zeigen, dass Jean Baudrillard, auf den sich Bauman bisweilen beruft, so ähnlich argumentiert. Ihm wird der Tauschwert zum Wert (valeur) schlechthin. 5. „Ohne Alternative“: Baumans Kritik des Marxismus als Kritik der Moderne Angesichts des Obsoletwerdens von Klassenkampf, Revolution und Utopie in einer eindimensional werdenden Postmoderne, die eine Überwindung der kapi‐ talistischen Verhältnisse in weite Ferne rücken lässt, weil es an Alternativen zur 5. „Ohne Alternative“: Baumans Kritik des Marxismus als Kritik der Moderne 93 <?page no="94"?> 115 Z. Bauman, Postmodern Ethics, Oxford, Blackwell, 1993, S.-135. 116 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt, Fischer, 1995, S.-46. 117 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, Studienausgabe, Bd. I/ 22-4, op. cit., S.-169. 118 Vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung, op. cit., Kap. XX. 2-3. bestehenden Ordnung fehlt, wird „Revolution“ als Schlüsselbegriff der Moderne grundsätzlich in Frage gestellt. Schon am Ende des ersten Abschnitts wurde deutlich, dass charismatische oder „messianische“ Gestalten wie Napoleon I, Mussolini, Hitler und Stalin mit Hilfe revolutionärer Bewegungen an die Macht kamen und gerade die Katastrophe beschleunigten, die Benjamins „Messias“ verhindern sollte. (Dass der Diktator Stalin nicht nur eine Heldenrolle spielte, weil er gezwungen war, nach dem Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR im Jahre 1941 einen Verteidigungskrieg zu führen, zeigt der von ihm befohlene Aggressionskrieg gegen Finnland im Jahre 1939 - der sog. „Winterkrieg“.) Bauman hält nicht nur den Marxismus, dessen Positionen er einst vertrat, sondern auch Faschismus und Nationalsozialismus für Erscheinungen der Moderne, die seiner Meinung nach auf Vereinheitlichung aus war und diese auf repressive Art auch durchsetzte. „The war against the local, the irregular and the spontaneous was merciless“ 115 , heißt es in seinem Buch Postmodern Ethics. In seiner Erzählung der sozialen Evolution erscheinen sowohl Faschismus als auch Kommunismus (Marxismus-Leninismus) als Modelle einer vereinheit‐ lichenden Moderne. Sie hängen eng mit dem modernen Fortschrittsglauben, der Technologiegläubigkeit und dem Selbstvertrauen zusammen, die sowohl für Marx als auch für Comte und Spencer kennzeichnend sind: „Weder die nazistische noch die kommunistische Vision standen im Widerspruch zu dem kühnen Selbstvertrauen und der Hybris der Moderne. Sie boten lediglich an, das besser zu tun, wovon andere moderne Mächte träumten, was sie vielleicht sogar versuchten, aber nicht erreichten.“ 116 Das ist zweifellos richtig, zumal diese Einschätzung zumindest teilweise von Max Webers Theorie der Rationalisierung bestätigt wird. Wenn Weber beispielsweise von „der Rationalisierung der politischen und ökonomischen Bedarfsdeckung [und dem] Umsichgreifen der Disziplinierung als eine[r] universelle[n] Erscheinung“ 117 spricht, so spricht er zugleich von einer fort‐ schreitenden Modernisierung, die mit Rationalisierung, Vereinheitlichung und Naturbeherrschung (Disziplinierung) einhergeht. Allerdings übersieht Bauman - trotz der Bedeutung des Ambivalenz-Begriffs für sein Denken 118 - den ambivalenten Charakter der Moderne. Diese ist nicht nur eine von Herrschaftsansprüchen angetriebene Vereinheitlichung, sondern auch 94 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="95"?> 119 A. Venkatesh, L. A. Meamber, „Arts and Aesthetics. Marketing and Cultural Produc‐ tion”, in: Marketing Theory, vol. 6 (1), 2006, S.-11-12. 120 Ibid., S.-31. 121 Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg, Hamburger Edition, 2007, S.-252. eine Entwicklung, die im Zuge der Rationalisierung Rechtsstaatlichkeit, Demo‐ kratie und politischen Pluralismus begünstigt. Dies tut sie in dem Maße, wie sie feudale Bande, patrimoniale Herrschaftsstrukturen und Traditionalismen aller Art beseitigt. Freilich hat Bauman auch Recht, wenn er die Moderne als einen Prozess der Vereinheitlichung auffasst, der im Totalitarismus extreme Formen annimmt, weil der moderne Nationalstaat Gesellschaft und Kultur mit Hilfe der National‐ sprache, die alle Regionalsprachen marginalisiert, vereinheitlicht. Nicht nur die Nationalsprache trägt wesentlich zu dieser Vereinheitlichung bei, sondern auch die von Bauman und Debord analysierten Massenmedien, die der Werbung dienen, welche Mode, Geschmack und Verhaltensmuster vorgibt. Die von der Wirtschaft gesteuerte Globalisierung trägt wesentlich dazu bei, dass sich Modeerscheinungen - von der Jeanshose über das Piercing bis zum Smartphone - auf der ganzen Welt durchsetzen. Hier kehrt der Gedankengang zu seinem Ausgangspunkt zurück: Nicht die von Benjamin und Brecht erhoffte Revolution unterbricht mit Hilfe des „Ausstellungswerts“ das fatale Fortschreiten zur Katastrophe, sondern der wirtschaftlich-technische Fortschritt bemächtigt sich des „Ausstellungswerts“, indem er die Innovationen der ehemals revolutionären Avantgarden für die Werbung fruchtbar macht. Die Auflösung der Kunst in einem allgemein definierten Ästhetischen (im event, body art oder happening) ist bereits Wirklichkeit. Ihre Auflösung in der Werbung ist auch vorstellbar. Dazu bemerken A. Venkatesh und L. A. Meamber in der Zeitschrift Marketing Theory: „Manche mögen behaupten, dass sich Kunst grundsätzlich von Werbung und anderen Kulturprodukten unterscheidet. Wie Brown (1995) jedoch gezeigt hat, können Kunst und Werbung, ästhetisch betrachtet, ein und dasselbe sein.“ 119 Die Autoren fügen später hinzu: „Zeitge‐ nössische Konsumentenkultur ist eine markt- und marktorientierte Kultur.“ 120 Diese Konsumentenkultur als Kultur der Postmoderne oder einer „flüchtigen Moderne“ („liquid modernity“) untersucht Bauman, der von dem Gedanken ausgeht, dass die moderne Gesellschaft eine Gesellschaft der Arbeit und der Produ‐ zenten war, während die postmoderne Gesellschaft eine Gesellschaft des Konsums und der Konsumenten ist. Dazu bemerkt Bauman: „Die ‚postmoderne Individu‐ alitätsbildung‘ […] zielt auf die Formung des perfekten Konsumenten.“ 121 In 5. „Ohne Alternative“: Baumans Kritik des Marxismus als Kritik der Moderne 95 <?page no="96"?> 122 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S.-93. 123 W. Benjamin, „Marx“, in: GS V. 2 (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S.-819. Flüchtige Moderne erklärt er, „daß die postmoderne Gesellschaft ihre Mitglieder in erster Linie als Konsumenten und nicht als Produzenten in die Pflicht nimmt“. 122 Dies bedeutet konkret, dass sich die meisten Menschen dieser Gesellschaft am sozialen Status und an Statussymbolen, die der Markt anbietet, orientieren - und nicht an ihrer Stellung im Produktionsprozess. Auf diese Stellung waren in der Moderne als Produzentengesellschaft Denken und Handeln der Arbeiterklasse ausgerichtet. Diese Stellung hatten auch Benjamin und Brecht im Blick, als sie auf eine proletarische Revolution hofften, die das historische Kontinuum unterbrechen und die Produktionsverhältnisse von Grund auf umwälzen würde. Inzwischen wird das Kontinuum wieder fortgeführt, weil sich in der Postmo‐ derne die Marktgesetze auf allen Ebenen durchgesetzt haben. Das Fenster, das sich am Ende der Spätmoderne, am Ende der Weimarer Republik, zu öffnen schien, hat sich wieder geschlossen, und Wörter wie „Proletariat“, „Revolution“ oder „Utopie“, die schon im Jahre 1968 an Schimären erinnerten, sind in der postmodernen Problematik kaum noch sagbar. Dass der Kapitalismus angesichts sich häufender Naturkatastrophen an seine Grenzen stößt, ist durchaus möglich, aber solange kein alternatives Wirtschaften in Sicht ist, bietet sich nur ein anderer Kapitalismus als Alterna‐ tive an. Insofern ist Benjamins Behauptung, „daß der Kapitalismus keines natürlichen Todes sterben wird“ 123 , fragwürdig. Realistischer erscheint in der gegenwärtigen Situation diese Prognose, wenn das Wort „Kapitalismus“ durch das Wort „Menschheit“ ersetzt wird. 96 II. Von Walter Benjamin zu Zygmunt Baumanund Guy Debord <?page no="97"?> 1 H. Brunkhorst, Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, München-Zürich, Piper, 1990, S.-59-60. 2 Th. W. Adorno, Eingriffe. Neun kritische Modelle, in: Gesammelte Schriften (im Fol‐ genden: GS), Bd. X. 2: Kulturkritik und Gesellschaft II (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, S.-469. 3 R. Wiggershaus, Theodor W. Adorno, München, Beck, 1998 (2. Aufl.), S.-74. III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard: Der Niedergang von individueller Subjektivität und Autonomie Anders als Walter Benjamins Denken, das trotz spätmoderner Zweifel an Rationalisierung und Fortschritt an die marxistische Moderne und ihr Vertrauen in die revolutionäre Vernunft anknüpft, setzt sich das Denken Adornos mit der Integration des Proletariats nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Adorno, der sich, wie Hauke Brunkhorst bemerkt, als junger Mann „in großen Schritten dem durch Horkheimer so eindrucksvoll repräsentierten Marxismus [näherte]“ 1 , setzt zwar die radikale Kritik des Instituts für Sozialforschung am Kapitalismus fort, verabschiedet sich aber nach dem Krieg von dem Gedanken, die proletarische Revolution könnte eine neue Ära der Freiheit einläuten. Zu Marx bemerkt er in Eingriffe, dass „das Proletariat, an das er sich wandte […], noch nicht integriert [war].“ 2 Dies ist der Grund, warum er nach dem Krieg nicht mehr wie Benjamin zwischen den Klassen stand, sondern das im Spätkapitalismus untergehende liberale Bürgertum zu seinem Bezugspunkt machte. Er tat es nicht, um diese Klasse einseitig aufzuwerten, sondern um sie - wie später Marcuse - einer radikalen Kritik auszusetzen. Diese Kritik gipfelt wie die Marcuses in dem Vorwurf, das Bürgertum habe die Versprechen der liberalen Ära, die Versprechen der Freiheit, der individuellen Autonomie und einer Kultur für alle, nicht gehalten. Bisweilen neigt Adorno allerdings zu der Ansicht, dass das Bürgertum diese Versprechen nicht halten konnte, weil dem Individualismus, der den Kern der liberalen Ideologie bildet, in einer von Großorganisationen dominierten Konzernwirtschaft die wirtschaftliche Grundlage entzogen wurde, so „daß der Typ des liberalen Bürgers nicht mehr entstehen konnte“ 3 , wie Rolf Wiggershaus es ausdrückt. Vom Individuum heißt es in einem Aufsatz Adornos über „Individuum und Organisation“: „Für seine <?page no="98"?> 4 Th. W. Adorno, „Individuum und Organisation. Einleitungsvortrag zum Darmstädter Gespräch 1953“, in: Soziologische Schriften I,GS VIII, op. cit., S.-453. 5 Ibid., S.-455. 6 Zur Ambivalenz als Strukturierungsprinzip der Spätmoderne vgl. P. V. Zima, Mo‐ derne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, Francke (UTB), 2016 (4. Aufl.), Kap. IV. 2. 7 D. Kipfer, Individualität nach Adorno, Tübingen, Francke, 1999, S.-82. 8 F. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt, Fischer (1958), 1964, S.-108. 9 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: GS IV (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2022 (14. Aufl.), S.-65. 10 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-182 und S.-305. Entfaltung ist die gesellschaftliche Basis geschrumpft, und über diese vermögen Verbesserungen der Fassade nichts.“ 4 Adornos Ambivalenz besteht darin, dass er dieses untergehende Individuum der liberalen Ära zur kritischen Instanz erhebt, die ihm nach der Eingliederung des Proletariats in das kapitalistische System zum letzten Hoffnungsträger ra‐ dikaler Gesellschaftskritik wird (vgl. Abschn. 1). Es ist eine Kritik, die das soziale Ganze im Blick behält und sich nicht von Kollektiven, Organisationen und ihren Ideologien vereinnahmen lässt: „Gegenüber den kollektiven Mächten, die in der gegenwärtigen Welt den Weltgeist usurpieren, kann das Allgemeine und Vernünftige beim isolierten Einzelnen besser überwintern als bei den stärkeren Bataillonen, welche die Allgemeinheit der Vernunft gehorsam preisgegeben haben.“ 5 Diese Ambivalenz, die die gesamte spätmoderne Problematik seit Nietzsche strukturiert 6 und Paradoxien zeitigt, fasst Daniel Kipfer prägnant zusammen: „Das liquidierte Individuum ist in diesem Theorieansatz die einzige Instanz, welche der Liquidation des Individuellen widerstehen kann.“ 7 Um diesen - von Kipfer etwas zu schroff formulierten - Widerspruch akzeptabel oder plausibel zu machen, sollte man ohne Paradoxien eher vom untergehenden Individuum sprechen, das versucht, seinen Untergang aufzuhalten oder zu verlangsamen. Die Ambivalenz Adornos ist für die gesamte Spätmoderne charakteristisch. Sie lässt Kafkas Justitia als „Göttin der Jagd“ 8 erscheinen, lässt in Musils, Prousts und Virginia Woolfs Romanen (Orlando) androgyne Gestalten auftreten und bewirkt, dass Thomas Manns Adrian Leverkühn nietzscheanisch zwischen Gut und Böse oszilliert. Sie ist auch für Adornos paradoxe Konstruktionen verant‐ wortlich: für das „liquidierte Individuum, das seiner Liquidation widersteht“, für den Ausdruck „die Gesundheit zum Tode“ 9 in Minima Moralia, für die ästhetische Maxime, „daß Kunst es sagt und doch nicht sagt“ 10 , für die Feststellung, an der 98 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="99"?> 11 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit., S.-54. 12 Ibid., S.-105. 13 Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: GS VI (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2020 (9. Aufl.), S.-259. 14 Ibid. 15 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit., S.-41. Psychoanalyse sei „nichts wahr als ihre Übertreibungen“ 11 , und für den Satz: „Nur Fremdheit ist das Gegengift gegen Entfremdung“. 12 Ein Gedanke durchzieht, einem roten Faden gleich, Adornos Denken: der Gedanke, dass das kritische Individuum, auf das sich die Kritische Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert, dem Druck der spätkapitalistischen Verhältnisse nicht wird widerstehen können. Auch diesem Gedanken wohnt ein Paradox inne, das Nostalgie zeitigt: die Überlegung, dass außer dem verschwin‐ denden autonomen Individuum keine Instanz bezeichnet werden kann, die als Trägerin der Kritik auftreten könnte. Diese Überlegung führt zur sporadischen Aufwertung einer Zeit, in der der Einzelne noch autonom denken und handeln konnte. Es war die Zeit des Liberalismus, in der allerdings der Untergang des Individuums bereits vorgezeichnet war. Adorno beschreibt in der Negativen Dia‐ lektik die Wechselwirkung von Individualisierung und Entindividualisierung: „Der Prozeß der Verselbständigung des Individuums, Funktion der Tauschge‐ sellschaft, terminiert in dessen Abschaffung durch Integration. Was Freiheit produzierte, schlägt in Unfreiheit um.“ 13 Dieser dialektische Umschlag hängt mit der Vervollkommnung der Herrschaftsverhältnisse zusammen, die schon in der liberalen Ideologie angelegt waren, „die den Einzelnen zur ruggedness zwingt, damit er überlebe“. 14 Die spätkapitalistische Konzernwirtschaft, die den Einzelnen zum Rädchen im Getriebe degradiert, erscheint in diesem Kontext als die letzte Konsequenz der liberal-individualistischen Naturbeherrschung, die schon in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) der Kritik ausgesetzt wird (vgl. Abschn. 2). An diesem Einzelnen ist dennoch festzuhalten - trotz der Feststellung in Minima Moralia, „daß der Einzelne als Einzelner, wie er das Gattungswesen Mensch repräsentiert, die Autonomie verloren hat, durch die er die Gattung verwirklichen könnte“. 15 Die Frage, wie ein autonomes Individuum, das seine Autonomie eingebüßt hat, Kritik üben sollte, zielt ins Leere. Adorno kann sie nicht beantworten; er kann nur die noch verbleibende individuelle Autonomie beschwören, die bei Künstlern wie Paul Valéry zum Ausdruck kommt. Auf III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard 99 <?page no="100"?> 16 Theodor W. Adorno - Thomas Mann Briefwechsel 1943-1955 (Hrsg. H. Lonitz), Frankfurt, Suhrkamp, 2002, S.-33. 17 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit. S.-42. 18 Th. W. Adorno, „Theorie der Halbbildung“, in: Soziologische Schriften I, GS VIII, op. cit., S.-102. 19 Th. W. Adorno, Stichworte. Kritische Modelle 2, in: GS X. 2, op. cit., S.-629. 20 Ibid., S.-623. Valéry aber antwortet Beckett, der im Endspiel Individualität als Anachronismus parodiert (vgl. Abschn. 3). Adornos nostalgische Kritik gilt nicht nur dem untergehenden und noch sich wehrenden oder sich behauptenden Individuum, sondern auch liberalen und bildungsbürgerlichen Verhältnissen, in denen es sich entfalten konnte. Diese Verhältnisse schildert Adorno in einem Brief an Thomas Mann aus dem Jahr 1948: „Mein Vater war deutscher Jude, meine Mutter, selbst Sängerin, ist die Tochter eines französischen Offiziers korsischer - ursprünglich genuesischer - Abstammung und einer deutschen Sängerin. Ich bin in einer ganz und gar von theoretischen (auch politischen) und künstlerischen, vor allem musikalischen Interessen beherrschten Atmosphäre aufgewachsen.“ 16 Kontrapunktisch zu dieser Selbstdarstellung verhält sich eine Kurzanalyse des kleinbürgerlichen Wohnens aus den Minima Moralia: „Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt.“ 17 Auch hier wird zum „Maß des neuen Schlechten einzig das Frühere“. 18 Zugleich wird der Übergang vom großbürgerlichen Bildungsbürgertum zur middle class der Nachkriegszeit beschrieben (vgl. Abschn. 1). Vor diesem Hintergrund ist Adornos Kritik am Fortschritt und am Fort‐ schrittsbegriff zu lesen, die in vieler Hinsicht an die Kritik Benjamins anknüpft. Von beiden Kritiken war in der Einleitung zu diesem Buch und im ersten Kapitel die Rede sowie von der Unterscheidung zweier Fortschrittsbegriffe: Während der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt sowohl im militärischen als auch im medizinischen Bereich seine eigenen Rekorde bricht, kommt die Menschheit im Bereich der Menschlichkeit kaum voran. Ihre Entwicklung bewegt sich von Repression zu Repression, von Krieg zu Krieg. Adorno spricht vom „Fortschritt von der Steinschleuder zur Megatonnenbombe“. 19 Seine Kritik an diesem Tatbestand drückt er in einem Satz aus: „Alles schreitet fort in dem Ganzen, nur bis heute das Ganze nicht.“ 20 100 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="101"?> 21 Ibid., S.-630. 22 Ibid. 23 Vgl. J. Habermas, Die Moderne. Ein unvollendetes Projekt, Philosophisch-politische Auf‐ sätze 1977-1990, Leipzig, Reclam, 1990. 24 J.-F. Lyotard, Le Postmoderne expliqué aux enfants. Correspondance 1982-1985, Paris, Galilée, 1988, S.-32. Dennoch wäre es verfehlt, sein Denken auf das Schlagwort „Pessimismus“ festzulegen. Denn Adorno, der Zeitgenosse Musils, der Dialektiker der spätmo‐ dernen Ambivalenz, nimmt durchaus die Zweigleisigkeit des Fortschritts wahr. Auch die Nostalgie, von der einige seiner Schriften zeugen, wird bisweilen von einer Hoffnung ausbalanciert, die in eine bessere Zukunft weist. Unmiss‐ verständlich widerlegt Adorno jeglichen Verdacht, dass er sich als Kulturkon‐ servativer nach alten Zeiten sehnt, indem er feststellt, „daß die Verwüstungen, die der Fortschritt anrichtet, allenfalls mit dessen eigenen Kräften wieder gutzumachen sind, niemals durch die Wiederherstellung des älteren Zustands, der sein Opfer ward“. 21 Er fügt hinzu: „Der Fortschritt der Naturbeherrschung, der, nach Benjamins Gleichnis im Gegensinn jenes wahren verläuft, der sein Telos in der Erlösung hätte, ist doch nicht ohne alle Hoffnung.“ 22 (Vgl. Abschn. 2.) Anders als Benjamin, der den Fortschritt der Naturbeherrschung in die Katastrophen des Faschismus und Nationalsozialismus (der Jahre 1922 und 33) münden sah, assoziiert ihn Adorno vor allem mit dem Völkermord von Ausch‐ witz. Auf ihn bezieht sich des Öfteren auch Jean-François Lyotard, wenn er die Teleologien moderner Metaerzählungen (der Aufklärung, des Hegelianismus, des Marxismus) in Frage stellt, weil er sie als Apologien des Fortschrittsglaubens auch für die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs verantwortlich macht. Anders als Habermas, der „das Projekt der Moderne“ 23 vollenden möchte, behauptet Lyotard, es sei durch die kapitalistische „Technowissenschaft“ („tech‐ noscience“) zerstört worden. Von dieser Zerstörung zeugt - seiner Meinung nach - auch die Katastrophe von Auschwitz: „Mein Argument ist, dass das moderne Projekt (einer Verwirklichung des Universalismus) nicht aufgegeben, vergessen, sondern zerstört, ‚liquidiert‘ wurde. Es gibt mehrere Arten der Zerstörung, mehrere Namen, die sie symbolisieren. ‚Auschwitz‘ kann als Name für den tragischen ‚Abbruch‘ der Moderne dienen.“ 24 Während Adorno als spätmoderner Autor der Ambivalenz zwischen de‐ struktivem und konstruktivem Fortschritt, zwischen der Rettung des individu‐ ellen Subjekts und seinem Untergang, zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt, reduziert Lyotard die spätmoderne Ambivalenz auf Eindimensiona‐ lität. Bei ihm - wie bei Zygmunt Bauman - mündet der moderne Fortschritts‐ III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard 101 <?page no="102"?> 25 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Hrsg. A. Frisé), Rowohlt, 1952, S.-1578. 26 Vgl. J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, Wien, Passagen, 2007 (2. Aufl.). 27 Ibid., S.-81. (Tombeau de l’intellectuel, Paris, Galilée, 1984, S.-85.) 28 Ibid. glaube in die technologisch verwaltete Katastrophe, und in seiner Ästhetik fällt das individuelle Subjekt dem überwältigenden Erhabenen, das Adornos Ästhetik noch dem Schönen unterordnet, zum Opfer. Nicht nur die spätere Ästhetik Lyotards, sondern seine gesamte Postmoderne steht im Zeichen des Erhabenen, das in seiner Unermesslichkeit das in Formen denkende und empfindende Subjekt negiert (vgl. Abschn. 4). Während spätmoderne Denker wie Adorno mit Musil noch versuchen, vom verschwindenden Individualismus „das Richtige […] hinüberzuretten“ 25 , werfen die Postmodernen dem stürzenden Subjekt noch Steine nach: „dezentrieren“ es (Lacan), spalten es (Vattimo: „soggetto scisso“) oder setzen es in Anführungs‐ zeichen (Baudrillard). Lyotard betrachtet es auch nicht mehr als letzte Bastion der Kritik, sondern verkündet sein Verschwinden im Fachmenschen und bereitet ihm ein durchaus ehrenvolles Begräbnis in Grabmal des Intellektuellen. (Vgl. Abschn. 5.) 26 In diesem Buch weist er auf die Nähe Adornos zur Postmoderne hin und beobachtet, „wie sehr [Adorno] in seinem Denken das Postmoderne vorweg‐ nahm“ („ce qu’il y a d’anticipation du postmoderne dans sa pensée“). 27 Diese Vorwegnahme, so stellt Lyotard fest, werde jedoch von „Zurückhaltung“, ja „Ablehnung“ begleitet - „reste le plus souvent réticente ou refusée“. 28 Diese Haltung ist sicherlich nicht auf zufallsbedingte, rein persönliche Um‐ stände zurückzuführen, sondern hängt damit zusammen, dass Adorno - wie die anderen Frankfurter Philosophen, wie Proust, Musil, Kafka und Valéry - im Rahmen einer spätmodernen (modernistischen) Problematik der Ambivalenz denkt, während Lyotard eine postmoderne Problematik ankündigt. Die Denker dieser Problematik fassen keine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse mehr ins Auge und verabschieden sich auch vom autonomen Individuum als kritischer, diese Überwindung denkender Instanz. 1. Adornos ambivalente Einstellung zum liberalen Individualismus: Die Schwächung des Subjekts Adornos Versuch, vom liberalen Individualismus „das Richtige […] hinüberzu‐ retten“, geht nicht nur mit einer Kritik an diesem Individualismus einher, sondern auch an Hegels Philosophie, die den Vorrang des Allgemeinen vor 102 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="103"?> 29 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS VI, op. cit., S.-55. 30 G. W. F. Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp (1986), 1970, S.-533. 31 Th. W. Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung1965/ 66 (Hrsg. R. Tiedemann), Nachgelassene Schriften, Bd. XVI, Abt. IV, Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 2003, S.-143. 32 Ibid. dem Besonderen und Individuellen behauptet. Es ist zugleich eine Kritik am Marxismus, der diesen Vorrang durch seine Aufwertung des proletarischen Kollektivs, der Klasse, besiegelt. Adornos Kritik an dieser hegelianisch-mar‐ xistischen Ausrichtung auf das Allgemeine und Überindividuelle und sein Verharren beim Individuum als kritischer Instanz übersehen diejenigen, die ihn schlagwortartig als Neomarxisten etikettieren. Die Kritik an Hegels Aufwertung des Allgemeinen dem Besonderen gegen‐ über gehört zu den Hauptthemen der Negativer Dialektik. In ihr wird der Standort bestimmbar, von dem Adornos Denken nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeht: das seiner selbst mächtige, autonome Individuum. Seine Entmündi‐ gung bei Hegel hängt letztlich mit dessen Aversion gegen Kritik zusammen: „Hegel war sonderbar inkonsequent, als er das individuelle Bewußtsein, Schau‐ platz der geistigen Erfahrung, die sein Werk beseelt, der Zufälligkeit und Beschränktheit zieh. Erklärbar ist das nur aus der Begierde, das kritische Moment zu entmächtigen, das mit individuellem Geist sich verknüpft.“ 29 Es hängt wohl auch damit zusammen, dass Hegel sich als Philosoph nar‐ zisstisch mit dem „Weltgeist“ und als verbeamteter Hochschullehrer mit der Staatsräson identifizierte, die beide das Allgemeininteresse verkörpern und die Kritik des autonom denkenden Einzelnen ausschließen oder zumindest mit Argwohn betrachten. Nicht zufällig behauptet Hegel schon in seinen Habilitationsthesen (1801), seine spätere Karriere antizipierend: „Philosophia critica caret ideis et imperfecta est Scepticismi forma.“ 30 Hegels Aversion gegen den kritischen Geist des Einzelnen setzt sich nach Adorno bei Marx und Engels fort und erreicht im Marxismus-Leninismus ihren Höhepunkt. Denn die „Metaphysik der Produktivkräfte“ beinhaltet, „daß […] die Freiheit eigentlich so viel sei wie daß man bewußt das Notwendige tue; was natürlich nur dann einen Sinn ergibt, wenn das Notwendige, der Weltgeist, die Entfaltung der Produktivkräfte a priori recht hat und ihm der Sieg verbürgt ist“. 31 Adorno geht auch auf die fatalen Folgen ein, die dieser Diskurs in Osteuropa nach sich zog: auf „jene antilibertären und autoritären Perversionen, die die Marxische und Engelssche Theorie dann mit der Installierung in den östlichen Staaten erfahren hat“. 32 1. Adornos ambivalente Einstellung zum liberalen Individualismus 103 <?page no="104"?> 33 Vgl. L. Goldmann, „La Mort d’Adorno“, in: Quinzaine littéraire, 1 er au 15 septembre 1969. 34 Zur Kritik der historischen Immanenz bei Adorno und zu den Repliken einiger Marxisten auf Adorno vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Narr-Francke-Attempto (UTB), 2020, Kap. VI. 6. 35 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit., S.-103. 36 Vgl. U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S.-199. Diese Kritik an Hegelianismus und Marxismus geht von einem kritischen Individuum aus, das sich nach der Integration des Proletariats in das kapitalis‐ tische System mit keiner in der Gesellschaft wirkenden Kraft zu identifizieren vermag. Die Weigerung der Kritischen Theorie, sich mit Klassen, Bewegungen oder revoltierenden Gruppen zu verbünden, lief auf eine Auflösung des Nexus von Theorie und Praxis hinaus und brachte vor allem Adorno Kritik von Marxisten wie Lucien Goldmann ein. 33 Sie sahen, dass mit dem Rückzug auf kritische Individualität nicht nur der marxistische Praxisbezug aufgekündigt wurde, sondern auch die für den Marxismus wesentliche historische Immanenz: der Gedanke, dass eine neue Gesellschaft nur aus den Widersprüchen und den auf sie reagierenden kollektiven Handlungen innerhalb des Bestehenden hervorgehen kann. 34 Adornos Antwort auf diese Kritik der negativen Dialektik findet sich in den Minima Moralia: „Weniges ist so symptomatisch für den Zerfall der Arbeiterbe‐ wegung, wie daß sie davon keine Notiz nimmt.“ 35 Es ist zugleich eine Antwort auf Lukács’ Apotheose des Proletariats in Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) und auf Goldmanns Versuch, Lukács’ Proletariat durch die „neue Arbeiterklasse“ („nouvelle classe ouvrière“) zu ersetzen. Auch diese neue Klasse war eine marxistische Konstruktion, von der Arbeiter und Angestellte „keine Notiz“ nahmen. Adornos Rückzug auf Individualität sollte jedoch nicht mit dem Individua‐ lismus Max Webers oder der kritischen Rationalisten - etwa Karl R. Poppers oder Hans Alberts - verwechselt werden. Es ist ein kritischer und selbstkritischer Rückzug voller Zweifel: ein Rückzug in vergangene Zeiten, in denen Individua‐ lisierung im Schutz der bürgerlichen Familie noch möglich schien. Der Zerfall dieser Familie, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt und eine Ausbreitung des „Single-Daseins“ zur Folge hat 36 , wird von Alexander Mitscherlich auf sozialpsychologischer Ebene in Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963) beschrieben. Wo die Orientierung an der Vatergestalt fehlt, werden Gruppen von Gleichaltrigen zur Dominanten im Sozialisierungsprozess: „Da die verbindliche, anschauliche väterliche Unterweisung im tätigen Leben fehlt, hier also keine verläßliche Tradition mehr besteht, orientieren sich die 104 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="105"?> 37 A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München, Piper, 1973, S.-186. 38 Vgl. D. Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikani‐ schen Charakters, Darmstadt-Berlin-Neuwied, Luchterhand, 1956. 39 A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, op. cit., S.-186. 40 Th. W. Adorno, Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, in: GS X. 1: Kulturkritik und Gesellschaft I (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2021 (9. Aufl.), S.-345. 41 E. Mach, Analyse der Empfindungen, Jena, Gustav Fischer, 1922, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1991 (Reprint), S.-20. 42 S. Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, in: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt, Fischer, 1982, S.-108. Altersgenossen aneinander. Die peer group, das heißt die Gruppe der Altersge‐ nossen in Schule und Nachbarschaft und im Beruf, wird zur Richtschnur des Verhaltens.“ 37 Dies bedeutet, dass das Einzelsubjekt sich vorwiegend an den anderen orien‐ tiert und dadurch den „inneren Kompass“ 38 , wie David Riesman es ausdrückt, verliert. Mit ihm verliert es seine Autonomie und wird zu einem „other-di‐ rected“ Menschen im Sinne von Riesman, der Mitscherlich zufolge „zugleich der Durchschnittsbürger der neuen Mittelklasse ist, wie sie die technische Massenzivilisation heraufgebracht hat“. 39 Diese Massenzivilisation wird von der „Kulturindustrie“ im Sinne von Adorno und Horkheimer beherrscht, die eine die individuelle Autonomie auslöschende „Anti-Aufklärung“ ist. In ihr werde, bemerkt Adorno in Ohne Leitbild, „die fortschreitende technische Naturbeherrschung zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewußtseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbstän‐ diger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber wären die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, die nur in Mündigen sich erhalten und entfalten kann“. 40 Mit dieser Diagnose reiht sich Adorno unter die Denker der Spätmoderne ein, die den Nexus von Ichschwäche, Massenbewegung und Totalitarismus in den Blick nehmen. Wie sehr die Autonomie des Einzelnen in der Massengesellschaft durch die Orientierung an den anderen und an der medialen Propaganda aus‐ gehöhlt wird, hat Sigmund Freud früh erkannt. Ein Jahr vor Ernst Machs These über die „Unrettbarkeit des Ichs“ 41 in Analyse der Empfindungen (1922) verar‐ beitet er in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) seine Erfahrungen mit den sich regenden Massenbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg: „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“  42 Vorausgesetzt wird hier die Schwächung des individuellen Ichideals durch den Zerfall der väterlichen Autorität, an deren Stelle, wie 1. Adornos ambivalente Einstellung zum liberalen Individualismus 105 <?page no="106"?> 43 H. Broch, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S.-33. 44 Ibid., S.-70. 45 A. Breton, Position politique du surréalisme, Paris, Denoël-Gonthier, 1972, S.-23. 46 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit., S.-65. 47 Ibid., S.-223. Mitscherlich gesehen hat, die peer group und jenseits von dieser die Masse treten kann. Dass es sich hier um Erkenntnisse und Gedankengänge der Spätmoderne handelt, lassen Hermann Brochs Aufsätze zur „Massenwahntheorie“ aus den 1940er Jahren erkennen, die in mancher Hinsicht Freuds und Adornos Thesen bestätigen. Broch spricht von der Möglichkeit „einzelindividuellen Bewußt‐ seinsverlustes und seines Ersatzes durch Massentriebhaftigkeit“ 43 und macht das „Dahindämmern“ für diesen Verlust verantwortlich: „Er [der Mensch] verliert seine individuelle menschliche Physiognomie; wo das Dahindämmern die Oberhand gewinnt, da wird der Mensch zur Masse. Die Masse ist das Produkt des Dahindämmerns.“ 44 Es fragt sich, ob es sich nicht eher umgekehrt verhält: ob das vom Unbewussten dominierte „Dahindämmern“ nicht durch die Interaktion der sich gegenseitig aufschaukelnden Individuen in der Massenbewegung oder Massenveranstaltung zustande kommt. Der Ich- oder Bewusstseinsverlust, von dem die Spätmodernen von Freud bis Adorno sprechen, hängt jedoch nicht nur mit der verschwindenden Vatergestalt und ihrer Vorbildfunktion zusammen, sondern auch mit dem „Zerfall der Werte“ (Broch), die die Vatergestalt verkörperte. In Übereinstimmung mit den Vertretern der Kritischen Theorie führt André Breton diesen Zerfall auf die Vermittlung durch den Tauschwert zurück: „Es geht um all die missbrauchten intellektuellen Werte, all die bankrotten moralischen Ideen, all die Wohltaten des Lebens, die die Korruption zerschlagen, unkenntlich gemacht hat. Der Schmutz des Geldes hat alles bedeckt. Was die Wörter Vaterland und Gerechtigkeit oder das Wort Pflicht bezeichnen, ist uns fremd geworden.“ 45 Diese Überlegungen führen zu einem der Kernthemen Adornos, der die allgegenwärtige Vermittlung durch den Tauschwert für den von Breton diagnos‐ tizierten Verschleiß gesellschaftlicher Wertsetzungen verantwortlich macht. In Minima Moralia spricht er von der „absoluten Vorherrschaft der Ökonomie“. 46 Aus seiner Sicht hat das Wirtschaftsdenken alle Wertungen erfasst und seinen Vermittlungsmechanismen unterworfen. Ergänzend stellt er ebenfalls in Mi‐ nima Moralia fest: „Keinem fällt es ein, daß es irgend Leistungen geben könnte, die nicht im Tauschwert ausdrückbar wären.“ 47 106 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="107"?> 48 G. Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I (Hrsg. R. Kramme, A. Rammstedt, O. Rammstedt), Gesamtausgabe, Bd. VII, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (3. Aufl.), S.-121-122. 49 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-385. 50 Th. W. Adorno, Stichworte, in: GS X. 2, op cit., S.-737. Diese Auflösung qualitativer (ästhetischer, moralischer, wissenschaftlicher) Werte im „Wieviel“ des Tauschwerts kündigt ein anderer Vertreter der Spätmo‐ derne an, der hier im ersten Kapitel eine prominente Rolle spielte: Georg Simmel. In seinem bekannten Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ analysiert er die Folgen der Geldwirtschaft. Sein Hauptthema ist die Auslöschung der qualitativen Unterschiede in der marktvermittelten Indifferenz: „[…] Indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz sich zum Generalnenner aller Werte aufwirft, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus.“ 48 Dies hat Folgen für die Subjektivität des Einzelnen, der das wertindifferente „Wieviel“ zum alleinigen Maßstab seines Denkens und Handelns erhebt. In der gegenwärtigen Situation wird er ein wissenschaftliches Projekt nicht so sehr nach seinem Erkenntnisgewinn beurteilen, sondern nach seiner „Drittmittelfä‐ higkeit“, die ihm von Kolleginnen und Kollegen attestiert werden soll und die auf den (kleinsten) gemeinsamen Nenner eines Forscherteams ausgerichtet ist - und auf die „Begehung“ durch peers. Auf allen Ebenen sind quantitative Kriterien entscheidend. Diese aber verhindern die Erfahrung, die zu den Kernbegriffen von Adornos Kritischer Theorie gehört: von seinem Essay über den Essay bis zur postum erschienenen Ästhetischen Theorie. In ihr heißt es zur individuellen Erfahrung: „Weil Individuation, samt dem Leiden, das sie involviert, gesellschaftliches Gesetz ist, wird einzig individuell Gesellschaft erfahrbar.“ 49 Doch die Erfahrbarkeit der Gesellschaft durch den Einzelnen schrumpft in dem Maße, wie die Geldwirtschaft die „Eigenart“ und die „Unvergleichbar‐ keit“ der Dinge „rettungslos aushöhlt“. Der vom Tauschwert diktierte Funktio‐ nalismus in Technik, Wissenschaft und Architektur ebnet alle qualitativen Unterschiede ein und ist am Flughafen am augenfälligsten: „Jetzt schon sehen die Flughäfen allerorten in Europa, Amerika, im Ostbereich, wohl auch in den Staaten der Dritten Welt einander zum Verwechseln ähnlich […].“ 50 Was in der Spätmoderne Brochs, Simmels und Adornos am Flughafen begann, erstreckt sich in der Postmoderne auf die ganze Stadt, auf die Stadt der 1. Adornos ambivalente Einstellung zum liberalen Individualismus 107 <?page no="108"?> 51 I. Calvino, Le città invisibili, Turin, Einaudi, 1972, S.-135. 52 Vgl. J. Baudrillard, Amerika, München, Matthes und Seitz, 1987, S.-119. 53 Th. W. Adorno, Ohne Leitbild, in: GS X. 1, op. cit., S.-304. 54 Vgl. M. Proust, A la recherche du temps perdu, Bd. III, édition établie et annotée par P. Clarac et A. Ferré, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1954, S.-277. 55 Th. W. Adorno, Ohne Leitbild, in: GS X. 1, op. cit., S.-305. 56 Th. W. Adorno, Stichworte, in: GS X. 2, op. cit., S.-737. Zukunft. In Italo Calvinos Le città invisibili (1972) heißt sie Trude: „Du kannst weiterfliegen, wann du willst, - sagten sie mir, - aber du wirst in einer anderen Trude ankommen, die ganz gleich aussehen wird, die Welt ist eine einzige Trude, die nicht anfängt und nicht aufhört, nur der Name ändert sich am Flughafen.“ („Puoi riprendere il volo quando vuoi, - mi dissero, - ma arriverai a un altra Trude, uguale punto per punto, il mondo è ricoperto da un’unica Trude che non comincia e non finisce, cambia solo il nome all’aeroporto.”) 51 Diese Postmoderne fängt, wie Baudrillard wusste 52 , in Amerika an. Dazu heißt es bei Adorno: „Kommt man nach Amerika, so sehen alle Orte gleich aus. Die Standardisierung, Produkt von Technik und Monopol, beängstigt.“ 53 Adornos Reaktion ist ein proustianisch-nostalgisches Beharren auf der alteuropäischen Differenz („le monde des différences“, Proust) 54 : „Dennoch läßt einzig an einem bestimmten Ort die Erfahrung des Glücks sich machen, die des Unaustausch‐ baren.“ 55 Diese Erfahrung gehört zur Substanz des Subjekts. Wo die Differenz nivelliert wird, fällt auch das Subjekt der Nivellierung in der Masse zum Opfer. Adornos Frage, „ob nicht in einer vernünftig eingerichteten Welt das qua‐ litativ Verschiedene wiederum zu seinem Recht käme […]“ 56 , ist kaum zu beantworten, weil diese „vernünftig eingerichtete Welt“ nirgendwo in Sicht ist. Calvinos Beschreibungen in Le città invisibili lassen eher vermuten, dass die Entwicklung in die falsche Richtung geht und dass der Verlust von Qualität, Erfahrung und Subjektivität kaum noch aufzuhalten ist. Der Übergang von der Spätmoderne zur Postmoderne, den die Kritische Theorie ankündigt, macht diesen Verlust sichtbar. 2. Naturbeherrschung und Selbstunterwerfung des Subjekts: Von Adorno zu Foucault Adorno und Horkheimer erklären den Niedergang individueller Subjektivität nicht nur im Zusammenhang mit dem Zerfall der Familie und des väterlichen Wertsystems, der Herrschaft des Tauschwerts und der Kulturindustrie, sondern auch im Zusammenhang mit einem viel allgemeineren Prinzip: dem der Herr‐ schaft des Menschen über die Natur. Indem sie diese alle anderen Herrschafts‐ 108 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="109"?> 57 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS VI, op. cit., S.-317. 58 M. Foucault, „La torture, c’est la raison“, in: ders., Dits et écrits, Bd. III (Hrsg. D. Defert, F. Ewald), Paris, Gallimard, 1994, S.-395. formen umfassende Herrschaftsform in der Dialektik der Aufklärung zu ihrem Ausgangspunkt machen, holen sie viel weiter aus als Marx und Engels. Aus ihrer Sicht erscheint die Klassenherrschaft als ein historisch spezifisches, von der menschlichen Naturbeherrschung ableitbares Phänomen. Dadurch bleiben sie zwar nicht im Denken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts befangen, verzichten aber auf die Konkretheit, die manche marxistischen Klassenanal‐ ysen auszeichnet - etwa Marx̕ Artikelserie über „Die Klassenkämpfe in Frank‐ reich 1848-50“. Vor allem können sie nicht die Frage beantworten, wann in der Menschheitsgeschichte das Herrschaftsprinzip als Naturbeherrschung zu greifen beginnt. In der Negativen Dialektik stellt Adorno Vermutungen an, die allerdings recht vage sind: „Der heraufziehenden Katastrophe korrespondiert eher die Vermutung einer irrationalen Katastrophe in den Anfängen.“ 57 Zu den entscheidenden Gedanken der Dialektik der Aufklärung gehört wohl die Überlegung, dass die rationalistisch und utilitaristisch begründete Herrschaft des Menschen über die Natur schließlich das menschliche Subjekt selbst erfasst. Um in einer feindlichen Natur zu überleben, hat es sich auch dem Herrschaftsprinzip in Organisation und Selbstdisziplin zu unterwerfen. So mutiert die Herrschaft über die Natur in eine Herrschaft über den Menschen, die Herrschaft über die Objektwelt in eine Herrschaft über die Subjekte und das einzelne Subjekt. In mancher Hinsicht setzt Michel Foucault Adornos und Horkheimers Gedan‐ kengänge fort, indem er zeigt, wie vor allem die staatliche Herrschaft über die Menschen im Laufe der Jahrhunderte intensiviert wird. Für diese Intensivierung macht er die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaft verantwortlich, die beide dazu führen, dass aus dem vermeintlich souveränen menschlichen Subjekt eine unterworfene (analysierte, disziplinierte, manipu‐ lierte) Instanz wird: ein sub-iectum oder sujet assujetti. Anders als Adorno und Horkheimer, die sich jenseits der naturbeherrsch‐ enden, rationalistischen Vernunft eine mit der Natur versöhnte Vernunft vor‐ stellen, identifiziert Foucault die Vernunft weitgehend mit dem Herrschafts‐ prinzip („la torture c’est la raison“) 58 und erteilt dem spätmodernen Streben nach einer Überwindung des Bestehenden und seiner Ratio eine Absage. Konsequent verabschiedet er sich auch von der Vorstellung eines autonomen Individuums, das sich als Statthalter kritischen Denkens gegen alle Systemzwänge den 2. Naturbeherrschung und Selbstunterwerfung des Subjekts: Von Adorno zu Foucault 109 <?page no="110"?> 59 Th. W. Adorno, „Individuum und Organisation“, in: Soziologische Schriften I, GS VIII, op. cit., S.-455. 60 Vgl. M. Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“ in: ders., Dits et écrits 1954-1988, Bd. IV (Hrsg. D. Defert, F. Ewald), Paris, Gallimard, 1994, S. 446: „Was bezeichnet man als Postmoderne? Ich bin nicht auf dem Laufenden.“ 61 Vgl. z.-B. S. Lash, Sociology of Postmodernism, London-New York, Routledge, 1990, Kap II: „Genealogy and the Body: Foucault / Deleuze / Nietzsche”. 62 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York, Routledge, 1992, Kap. VIII: „Living without an Alternative“. 63 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. V: „Dialektik der Aufklärung“ und Schriften 1940-1950 (Hrsg. G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 2014 (4. Aufl.), S.-78. 64 Ibid. Gedanken an „das Allgemeine und Vernünftige“ 59 bewahrt. Foucault kennt die Bezeichnung „Postmoderne“ nicht 60 ; dennoch wird er nicht zu Unrecht der postmodernen Problematik zugerechnet 61 , weil er - wie Bauman - die Suche nach einer ganz anderen Gesellschaft aufgegeben hat. Wie Bauman könnte er von einem Leben „ohne Alternative“ („living without an alternative“) 62 sprechen. Um diese Alternative geht es jedoch in allen Varianten der Kritischen Theorie, die in der Nachkriegszeit ihre revolutionären Hoffnungen fahren lässt und sich in Übereinstimmung mit ihrem Ursprung im liberalen Individualismus auf die Peripetien individueller Subjektivität konzentriert. Horkheimer und Adorno haben die Dialektik der Aufklärung als „Urgeschichte der Subjektivität“ 63 konzipiert, und als solche nimmt sie hier eine Schlüsselposition ein. Sie ist einerseits ein Versuch, eine Alternative zur herrschaftlichen, „instru‐ mentellen Vernunft“ (Horkheimer: vgl. Kap. IV) aufzuzeigen, andererseits eine Suche nach einer menschlichen Subjektivität, die sich von allen Herrschafts‐ zwängen befreit und einer anderen, nicht-herrschaftlichen Vernunft folgt. Es ist im ureigensten Interesse des Einzelsubjekts, diesen Weg einzuschlagen, weil es nur auf diesem Weg den Herrschaftsmechanismen entgehen und seine Autonomie wahren kann. Die Herrschaft über die Natur bringt die Unterwerfung des Menschen unter das Herrschaftsprinzip mit sich: „Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht […].“ 64 Um die unberechenbare Natur zu beherr‐ schen, ist der Einzelne genötigt, sich durch Selbstbeherrschung den eigenen Herrschaftsmechanismen zu unterwerfen und systematisch Verzicht zu leisten. Als Beispiel dient den Autoren der Dialektik der Aufklärung der Odys‐ seus-Mythos. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht der Verzicht als Selbst‐ disziplinierung des Helden: „Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draußen sich selbst 110 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="111"?> 65 Ibid., S.-81. 66 U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frank‐ furt, Suhrkamp, 2007, S.-278-279. 67 E. Thuman, „Burnout als sozialpathologisches Phänomen der Selbstverwirklichung“, in: S. Neckel, G. Wagner (Hrsg.), Leistung und Erschöpfung. Burnout und Wettbewerbs‐ gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 2013, S.-60. 68 Ibid. entzaubert. Er eben kann nie das Ganze haben, er muß immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion, und wenn er durch die Meerenge steuert, muß er den Verlust der Gefährten einkalkulieren, welche Szylla aus dem Schiff reißt.“ 65 Das Subjekt, das sich selbst diszipliniert, um überleben zu können, muss auf wesentliche Aspekte seiner Subjektivität verzichten: vor allem auf Erfahrung. Um zu überleben, muss es auch bereit sein, seine Gefährten zu opfern, die zu seiner Erfahrungswelt gehören. Unschwer kann man hier die Selbstdiszi‐ plinierung des Individuums im Kapitalismus erkennen, das als Unternehmer zahlreiche Entsagungen in Kauf nehmen muss, um auf dem Markt zu überleben. Um das Unternehmen zu retten, muss es auch bereit sein, Angestellte zu opfern und während nächtlicher Überstunden die Familie zu vernachlässigen. In der heutigen Zeit, in der das Selbstmanagement als Erfolgsrezept gilt, erfasst die Rationalisierung der Gesellschaft, die mit einer immer intensiveren Naturbe‐ herrschung (mit Hilfe von Staudämmen, Seismographen und Wettersatelliten) einhergeht, sowohl Teams als auch Individuen: „Um den ständigen Wechsel der Aufgaben und sozialen Beziehungen auszuhalten, benötigen deshalb nicht nur Projektteams, sondern auch die Individuen ein Höchstmaß an Selbstratio‐ nalisierung.“ 66 Sie mag anders geartet sein als die antike Selbstrationalisierung des Odysseus, doch sie gehorcht demselben Prinzip. Freilich hat sie andere Folgen, weil sie nicht auf unmittelbare Gefahren der Natur reagiert, sondern auf sozialen Druck, der im Produktionsprozess zur Geltung kommt und bewirkt, „dass die zunehmende Subjektivierung der Arbeit die Subjektivität der Beschäftigten in einen potenziellen Produktionsfaktor verwandelt hat, was wiederum zu neuen Konflikten führt“. 67 Das Endergebnis ist „Burnout als Sozialpathologie der Subjektivierung der Arbeit“ 68 : ein psychisches Versagen, das damit zusammenhängt, dass der Einzelne und die Gruppe als sich selbst verwaltende Instanzen restlos in den Arbeitsprozess integriert und zu „Produktionsfaktoren“ werden. In seiner Theorie der Entfremdung ging Marx noch davon aus, dass der Produktionsprozess und das Produkt dem Arbeiter als Subjekt fremd sind. Die neue Rationalisierung hebt diese Entfremdung auf: zusammen mit der Subjektivität. 2. Naturbeherrschung und Selbstunterwerfung des Subjekts: Von Adorno zu Foucault 111 <?page no="112"?> 69 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS VI, op. cit., S.-181. 70 Th. W. Adorno, „Individuum und Organisation“, in: Soziologische Schriften I, GS VIII, op. cit., S.-445. So ist Adornos Kritik am herrschaftlichen Ichprinzip in der Negativen Dia‐ lektik zu verstehen: „Das Ichprinzip imitiert sein Negat. Nicht ist, wie der Idealismus über die Jahrhunderte es einübte, obiectum subiectum, wohl jedoch subiectum obiectum.“ 69 Das in der intensiver werdenden Naturbeherrschung funktionierende Subjekt wird schließlich zum Faktor degradiert: zu einer Funk‐ tion des fortschreitenden Herrschaftsprozesses. Fortschritt in diesem Sinne führt nicht nur zu einer ökologischen oder militärischen Katastrophe, sondern wirkt sich auch katastrophal auf die Subjektivität der Individuen aus: Sie atrophiert. Dies ist den Betroffenen jedoch nicht mehr bewusst, weil Organisations‐ formen, die von Menschen konzipiert wurden, die Subjekte, denen sie ihre Existenz verdanken, zu blind agierenden Verwaltungsobjekten herabstufen und verkümmern lassen. Dieses Grundprinzip der „verwalteten Welt“ (Adorno, Horkheimer) beschreibt Adorno ausführlich in „Individuum und Organisation“: „Die Blindheit der Beherrschung der äußeren Natur, die nicht danach fragt, was dieser angetan wird, geht über auf die Organisation als Beherrschung von Menschen, und es schwindet das Bewußtsein davon, daß die Objekte der Organisation selber Menschen, also identisch mit den vorgeblichen Subjekten der Organisation sind, die sie zusammenfaßt.“ 70 Komplementär zu Adornos Dialektik von Subjekt und Objekt in der „verwal‐ teten Welt“ verhalten sich Michel Foucaults Ausführungen zur Unterwerfung der Individuen durch ihre eigenen Organisations- und Verwaltungsstrukturen. In vieler Hinsicht hören sich diese Ausführungen als Fortsetzungen von Adornos Analysen an. Foucault kannte den Postmoderne-Begriff zwar nicht, aber was er zur Überwachung und Kontrolle von Menschen durch Menschen zu sagen hat, läuft auf eine postmoderne Radikalisierung und zugleich Entschär‐ fung der Kritischen Theorie hinaus. Denn Foucault fragt nicht länger nach der Möglichkeit, das individuelle Subjekt als gesellschaftskritische Instanz zu erhalten und zu stärken. Davon soll später die Rede sein. Vorerst gilt es zu zeigen, wie sehr er als Theoretiker der Organisation, der Verwaltung und Überwachung an Adornos Betrachtungen anknüpft. Foucault war sich der Affinitäten zwischen seiner Philosophie und der Kritischen Theorie durchaus bewusst. In einem Gespräch geht er auf die von ihm später entdeckte Nähe zur Kritischen Theorien ein. „Nun ist es sicher, dass ich mir sehr viel Arbeit erspart hätte, wenn ich die Frankfurter Schule rechtzeitig 112 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="113"?> 71 M. Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“, in: ders., Dits et écrits, Bd. IV, op. cit., S.-439. 72 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-49. kennen gelernt hätte […].“ 71 Er knüpft vor allem an die Gedankengänge Adornos an, wenn er in Wahnsinn und Gesellschaft den Wahnsinn als das Andere der Ver‐ nunft auffasst und zeigt, wie dieses naturnahe Andere von der rationalistischen Vernunft des 17. Jahrhunderts vereinnahmt und aus der Gesellschaft verbannt wird. Es wird zusammen mit Kriminalität und Prostitution in geschlossenen Anstalten verwaltet. Die rationalistische Vernunft der Aufklärung, des „âge classique“, lässt den Wahn als das ihr Entgegengesetzte nicht gelten und unterdrückt dessen Wahr‐ heitsmomente - so wie sie bei Adorno und Horkheimer die Natur verwaltet und unterdrückt. Foucaults Argumentation trifft sich mit den Gedanken der Dialektik der Aufklärung in einem wesentlichen Punkt: in der Erkenntnis, dass der Rationalismus der Aufklärung das Andersartige nicht anerkennt, es schlicht negiert - und zwar sowohl in der Gestalt des naturnahen („tierischen“) Wahnsinns als auch in der Gestalt der Natur als solcher. Diese repressive Einstellung wendet sich schließlich gegen das rationalistische Subjekt selbst. Den folgenden Satz aus der Dialektik der Aufklärung hätte sich Foucault zu eigen machen können: „Die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig.“ 72 An diesen Gedankengang knüpft Foucault an, wenn er zeigt, wie in ver‐ schiedenen Macht- und Sprachkonstellationen Individuen als Subjekte geformt werden. Sie werden in bestimmte machtvermittelte Diskursformationen hinein‐ geboren und bis in ihre Körperlichkeit hinein zu Subjekten, d. h. zu Unterwor‐ fenen gemacht. Gesellschaftliche Macht ist produktiv, und individuelle Subjekte erscheinen Foucault als Produkte der Macht. Foucault zeichnet die Peripetien der Machtentwicklung nach und gelangt zu dem Schluss, dass das Netz der Machtausübung immer engmaschiger wird. Während es der „souveränen Macht“ im Feudalabsolutismus eher um die Ver‐ waltung von Objekten (Ländereien, Abgaben) ging, entsteht in der bürgerlichen Gesellschaft (also nach der Revolution von 1789) die Disziplinarmacht, die auf eine Verwaltung der menschlichen Körper abzielt. Zu Foucaults Bespielen gehört das von Jeremy Bentham für Gefängnisse konzipierte Panoptikum, das es Wächtern ermöglicht, in alle Zellen zu blicken, ohne von den Insassen gesehen zu werden. 2. Naturbeherrschung und Selbstunterwerfung des Subjekts: Von Adorno zu Foucault 113 <?page no="114"?> 73 M. Foucault, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik (Hrsg. U. Bröckling), Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (3. Aufl.), S.-69. 74 Ibid., S.-78. 75 M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt, Suhrkamp, 2020 (19. Aufl.), S.-199. 76 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S.-63. 77 Vgl. M. Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt, Suhrkamp, 1995 (4. Aufl.). 78 Ch. Norris, The Truth about Postmodernism, Oxford-Cambridge, Blackwell, 1993, S.-70. Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wird Disziplinarverwaltung von einer staatlich organisierten „Bio-Politik“ abgelöst, die nicht länger Individuen, sondern ganze Bevölkerungen in den Blick nimmt, um sie auf gesundheitspo‐ litischer oder medizinischer Ebene überwachen zu können. Foucault erklärt: „Es geht um das Konzept der ‚Bevölkerung‘. Die Bio-Politik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissen‐ schaftlichem und politischem Problem, als biologischem und Machtproblem zu tun […].“ 73 Foucault prophezeit eine Unterwerfung der Gesamtbevölkerung und aller Individuen unter die Bio-Politik: „Schreckliche Ausdehnung der Bio-Macht, die im Gegensatz zu dem, was ich gerade über die Atommacht gesagt habe, die ganze menschliche Souveränität überschwemmen wird.“ 74 Diese Ausmündung der gesellschaftlichen Entwicklung in Unterwerfung ist bereits in Foucaults Frühwerk angelegt. So heißt es beispielsweise in L’Archéo‐ logie du savoir (1969, Archäologie des Wissens, 1973) zur Vorgehensweise des Autors: „Die Instanz des schöpferischen Subjekts als raison d’être eines Werkes und Prinzip seiner Einheit ist ihr fremd.“ 75 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Foucault von dieser Hypothese der Subjektnegation ausgeht und sie im Laufe seiner Entwicklung anhand verschiedener Kontexte (etwa der Bio-Politik) teleologisch bestätigt. Tatsache ist, dass er einem postmodernen Trend folgt, der bei Bauman, Lyotard, Baudrillard und Derrida auf eine grundsätzliche Infragestellung der Subjektivität und des Einzelsubjekts hinausläuft. Seine These lautet: „Die Ver‐ einnahmung des Lebens durch die Macht“. 76 Sein Plädoyer für Autonomie und seine „Sorge um sich“ 77 in seinem Spätwerk stehen unvermittelt neben seiner Theorie einer macht- und sprachvermittelten Subjektivität, die individuelle Autonomie negiert. Insofern ist Christopher Norris Recht zu geben, der zwei Foucault-Gestalten miteinander konfrontiert: „In short: there is a near-schizophrenic splitting of roles between (1) Foucault the ‚public‘ intellectual, thinking and writing on behalf of those subjects oppressed by the discourse of instituted power/ knowledge, and (2) Foucault the avowed aesthete, avatar of Nietzsche and Baudelaire, who espouses an ethos of private self-fashioning.“ 78 114 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="115"?> 79 Zu dieser fehlenden Vermittlung vgl. P. V. Zima, Diskurs und Macht. Einführung in die herrschaftskritische Erzähltheorie, Opladen-Toronto, Budrich (UTB), 2022, Kap. I. 5: „Sprachlicher Determinismus und Freiheit des Subjekts: Sartre vs. Foucault“. 80 M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt, Suhrkamp (1976), 1994, S.-290. (Surveiller et punir, Paris, Gallimard, 1975, S.-263.) 81 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-40. 82 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-202. Denn es ist richtig, dass Foucault gesellschaftlich-sprachlichen Determi‐ nismus und individuelle Autonomie in keinem seiner Werke miteinander ver‐ mittelt. 79 Dies unterscheidet ihn von Adorno, der immer wieder der Frage nach‐ geht, wie das Einzelsubjekt bei aller Überdeterminiertheit den übermächtigen Instanzen der spätkapitalistischen Gesellschaft widerstehen könnte. Während Foucault - wie Bauman, Lyotard und Baudrillard - eine eindimensionale Post‐ moderne vertritt, die subjektive Autonomie für eine Illusion hält, bewegt sich Adornos Denken in einer spätmodernen Problematik, deren Denker mit Musil weiterhin versuchen, vom Individualismus „das Richtige hinüberzuretten“. 3. Die Negativität der Kunst als Stärkung und Negation des Subjekts: Valéry und Beckett Anders als der postmoderne Foucault, der Vernunft an Macht und Gewalt bindet („andere Macht, anderes Wissen“, „autre pouvoir, autre savoir“) 80 und schon da‐ durch Subjektivität zur Atrophie verurteilt, sucht Adorno nach Alternativen zur naturbeherrschenden, „instrumentellen“ Vernunft. Eine Alternative zeichnet sich bereits in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung in der Kunst ab. Sie hält die Instrumentalisierung des Denkens durch den Rationalismus der Aufklärung auf Distanz: „Mit fortschreitender Aufklärung haben es nur die authentischen Kunstwerke vermocht, der bloßen Imitation dessen, was ohnehin schon ist, sich zu entziehen.“ 81 „Was ohnehin schon ist“, ist nur die fortschreitende Naturbeherrschung und die Entfaltung der instrumentellen Vernunft, die den wahren Fortschritt zu mehr Freiheit, Verständigung und Menschlichkeit verhindern. Die Kunst weist insofern einen Ausweg aus dieser fatalen Bewegung, als sie eine Versöhnung mit der rationalistisch unterworfenen Natur ankündigt. Dazu heißt es in der Ästhetischen Theorie: „In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden.“ 82 Er sänftigt sich durch sein mimetisches Moment, das nicht auf Herrschaft, sondern auf Angleichung aus ist. Die Lehre der Kunst lautet: Denken soll sich dem Objekt (der Natur als ganzer) 3. Die Negativität der Kunst als Stärkung und Negation des Subjekts: Valéry und Beckett 115 <?page no="116"?> 83 Ibid., S.-26. 84 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS VI, op. cit., S.-25. 85 Vgl. Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“ in: Noten zur Literatur I, GS XI, op. cit., S. 16-17. 86 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-489. 87 Ibid., S.-541. 88 Vgl. Th. W. Adorno, „Thesen über die Sprache des Philosophen“, in: Philosophische Frühschriften, GS I, op. cit., S. 369. Vom Philosophen heißt es dort: „Es bleibt ihm keine Hoffnung als die, die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, daß deren bloße mimetisch annähern, statt es begrifflich zu vereinnahmen, zweckrational zu instrumentalisieren. Dadurch kündigt Kunst eine „bessere Praxis“ an: „Kunst ist nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, sondern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen.“ 83 Dies bedeutet, dass Kunst den Weg weist aus einer fatalen Verstrickung in Naturbeherrschung, Utilitarismus und eine Zweckrationalität, die vom Drang zur Selbsterhaltung diktiert wird. Sie weist einem Subjekt den Weg, das in dieser Verstrickung inmitten von Selbstmanage‐ ment, Selbstvermarktung und Bio-Politik unterzugehen droht. Es gehört zu Adornos Hauptanliegen, das mimetische, nichtbegriffliche Mo‐ ment der Kunst in die Kritische Theorie aufzunehmen, ohne auf Begrifflichkeit zu verzichten. Es gilt, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ 84 und dadurch einen Rückfall ins rein Mimetische zu vermeiden. Um dies zu erreichen, entwickelt Adorno den Essay 85 sowie essayistische, parataktische Verfahren, die es ihm gestatten, den Zwängen begrifflicher Hierarchien und systematischer Begrifflichkeit zu entgehen. Stets handelt er dabei nach der Maxime aus der Ästhetischen Theorie: „Ratio ohne Mimesis negiert sich selbst.“ 86 Die Schwierigkeiten, die ein parataktisches, nicht-hierarchisches Schreiben mit sich bringt, stellt Adorno in einem Brief dar: „Sie bestehen […] darin, daß die einem Buch fast unabdingbare Folge des Erst-Nachher sich mit der Sache als so unverträglich erweist, daß deswegen eine Disposition im traditionellen Sinn, wie ich sie bis jetzt noch verfolgt habe (auch in der Negativen Dialektik ver‐ folgte), sich als undurchführbar erweist. Das Buch muß gleichsam konzentrisch in gleichgewichtigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch eine Konstellation ausdrücken.“ 87 Die drei wichtigsten Wörter in dieser Passage sind: „Sache“, „parataktisch“ und „Konstellation“. Es gilt, sich der „Sache“ (dem Objekt) so zu nähern, dass sie nicht begrifflich vereinnahmt, nicht von der Theorie gleichgeschaltet wird. Dabei bietet sich ein „parataktisches“, „konstellatives“ Schreiben an, das Adornos bereits in einer seiner Frühschriften ins Auge fasst. 88 Dieses Schreiben versteht sich als Alternative zum begrifflichen System als Herrschaftsdenken, 116 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="117"?> Konfiguration die neue Wahrheit ergibt.“ (Der Begriff „Konfiguration“ ist als Vorläufer der späteren „Konstellation“ zu betrachten.) 89 A. Bartonek, Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2011, S.-162. 90 K. M. Michel, „Versuch, die ‚Ästhetische Theorie‘ zu verstehen“, in: B. Lindner, W. M. Lüdke (Hrsg.), Materialen zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp (1979), 1980, S.-73. 91 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: Noten zur Literatur I, GS XI, op. cit., S. 126. 92 Th. W. Adorno, „Valérys Abweichungen“, in: Noten zur Literatur II, GS XI, op. cit., S. 187. 93 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: Noten zur Literatur I, GS XI, op. cit., S. 126. 94 P. Valéry, Œuvres I, éd. établie et annotée par J. Hytier, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1957, S.-374. und Anders Bartonek hat durchaus Recht, wenn er bemerkt: „Die Konstellation könnte insofern beim Versuch beobachtet werden, einen alternativen Zusam‐ menhang zum System herbeizuführen […].“ 89 Diese Suche nach einem alternativen Denken ist zugleich eine Suche nach subjektiver Autonomie, die es im liberalen Individualismus nur ansatzweise gab, weil der Liberalismus schließlich in Konzernkapitalismus oder Neoliberalismus mündete, der individuelle Autonomie wieder negiert. Es steht jedoch außer Zweifel, dass sich Adornos Argumentation im individuellen Bereich bewegt und das autonome, kritikfähige Individuum anvisiert - und nicht wie Benjamins Denken die revolutionäre Klasse. Diese wird als emanzipatorische Kraft durch die Kunst ersetzt, wie Karl Markus Michel richtig beobachtet: „Ja ich behaupte: für Adorno ist die Kunst das, was für die linke Intelligenz hundert Jahre lang das Proletariat war […].“ 90 Diese Behauptung kann anhand von Adornos Essay über Paul Valéry „Der Artist als Statthalter“ erhärtet werden. In diesem Essay erscheint der Künstler nicht als die kontingente Person, die er zweifellos auch ist, sondern als „Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsub‐ jekts“: „Der Künstler, der das Kunstwerk trägt, ist nicht der je Einzelne, der es hervorbringt“ 91 , „nicht das produzierende Individuum in seiner Zufälligkeit“ 92 , „sondern durch seine Arbeit, durch passive Aktivität wird er zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“. 93 Diese Rolle war seit Marx dem Proletariat als revolutionärem Subjekt und Befreier der Menschheit zugedacht. Nach dessen Integration sieht sich Kritische Theorie auf das Einzelsubjekt zurückgeworfen, für das der Künstler als Intellektueller und Kritiker par excellence steht. In Adornos Essays über Valéry wird deutlich, in welchem Maße Kunst und Künstler zum Refugium individueller Autonomie und Kritik in einer „verwal‐ teten Welt“ werden. „Le Beau est négatif “, „das Schöne ist negativ“ 94 , notiert Valéry und nimmt einen wesentlichen Aspekt von Adornos Ästhetik vorweg, die 3. Die Negativität der Kunst als Stärkung und Negation des Subjekts: Valéry und Beckett 117 <?page no="118"?> 95 Zur Bedeutung von Mallarmé und Valéry für Adornos Ästhetik vgl. P. V. Zima, Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2018 (2., erw. Aufl.). 96 S. Mallarmé, „Crise de vers / Verskrise“, in: ders., Kritische Schriften (Franzö‐ sisch / Deutsch), (Hrsg. G. Goebel, B. Rommel), Gerlingen, Lambert Schneider-Bleicher, 1998, S.-229. 97 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-476. 98 Th. W. Adorno, Noten zur Literatur I, in: GS XI, op. cit., S.-123. 99 Ibid., S.-125. 100 Ibid., S.-124-125. 101 Ibid., S.-125. danach strebt, das Wort von ideologischen Schlacken und kommerzialisierten Klischees zu befreien, um das Subjekt aus der Unterwerfung durch Ideologie und Kommerz herauszuführen. Wie Mallarmé und Valéry 95 stellt sich Adorno eine kritische Kunst vor, die durch ihre Negativität, durch ihre Negation der „universellen Reportage“ (Mal‐ larmé) 96 , den Individuen hilft, aus dem Zusammenhang der ideologischen und marktvermittelten Kommunikation auszubrechen: „Künstlerisch zu erreichen sind die Menschen überhaupt nur noch durch den Schock, der dem einen Schlag erteilt, was die pseudowissenschaftliche Ideologie Kommunikation nennt; Kunst ihrerseits ist integer einzig, wo sie bei der Kommunikation nicht mitspielt.“ 97 Dies ist die Kunst im Sinne von Valéry: eine Kunst, die der „sinnlichen Rezeptivität“ 98 der kommerziellen Kommunikation absagt und eine „reine Sprache“ im Sinne von Mallarmé anvisiert, die asketisch die Stereotypen dieser Kommunikation tilgt. Zu Valéry bemerkt Adorno in „Der Artist als Statthalter“: „Kunstwerke konstruieren heißt ihm: dem Opiat sich verweigern, in das die große sinnliche Kunst seit Wagner, Baudelaire und Manet sich verwandelt hat; die Schmach abzuwehren, welche die Werke zu Medien und die Konsumenten zu Opfern psychotechnischer Behandlung macht.“ 99 Die Verweigerung des Opiats und der von den Medien stets subtiler organi‐ sierten psychotechnischen Behandlung traut Adorno „dem isolierten Einzelnen“ zu, von dem er in „Individuum und Organisation“ (s. o.) spricht. An ihn richtet sich Valérys Kunstwerk: „Das Kunstwerk, welches das äußerste von der eigenen Logik und der eigenen Stimmigkeit wie von der Konzentration des Aufneh‐ menden verlangt, ist ihm Gleichnis des seiner selbst mächtigen und bewußten Subjekts, dessen, der nicht kapituliert.“ 100 Adorno liest Valérys Dichtung als eine Aufforderung zu kritischer Reflexion, deren Haltung er auch klar formuliert: „Sich nicht verdummen, sich nicht einlullen lassen, nicht mitlaufen […].“ 101 In einer Zeit, in der man hoch erfreut ist, wenn sich Studierende bereitfinden, 118 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="119"?> 102 F. Kafka, in: Das Kafka-Buch (Hrsg. H. Politzer), Frankfurt, Fischer, 1965, S.-248. 103 Th. W. Adorno, „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, in: Noten zur Literatur II, GS XI, op. cit., S.-284. 104 Ibid., S.-303. den „sinnlichen“ Baudelaire zu lesen, könnte man versucht sein, gegen Adorno einzuwenden, sein kritisches Ideal sei zu hoch gegriffen. Adorno könnte mit Kafka antworten: „Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt.“ 102 Adorno optiert für das stärkste Licht. Kritik kann wohl nichts anderes sein. Als Kontrapunkt zu seinen Valéry-Essays wirkt sein bekannter Essay über Beckett: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“. Auch in ihm geht es zwar um Negativität als Sinnnegation und um die Kritik einer individualistischen Ideologie, die der deutsche Existenzialismus mit heroischen Konnotationen anreichert; aber anders als in den Kommentaren zu Valérys Dichtung ist von der Stärkung eines Subjekts, „das nicht kapituliert“, nicht die Rede. Das Thema des Essays ist die Parodie des ideologischen Heroismus und die Atrophie von Subjektivität in der Spätmoderne. „Parodiert ist der Existentialismus selber; von seinen Invarianten nichts übrig als das Existenzminimum.“ 103 Dieses Existenzminimum als Verdinglichung, als Austauschbarkeit von Individuen im Spätkapitalismus, wird in Becketts Endspiel dargestellt: als Verstümmelung individueller Subjektivität nach Weltkrieg und Konzentrationslager, als infantile Regression in Handlung und Sprache - als Abgleiten ins Triviale. Von einem Sich-Aufraffen des Subjekts, von einem Aufbegehren gegen die Folgen der totalen Katastrophe, die das Atomzeitalter fortsetzt, ist in Adornos Kommentar nicht die Rede. Adorno zeigt vielmehr, wie zusammen mit der Subjektivität die Gattung Drama als Inszenierung von Individualität und deren Handlungen parodiert, der Nichtigkeit überführt wird. Analog zum Tod des Subjekts wird auch der Tod des Dramas vorausgesetzt: „Die drei Aristotelischen Einheiten werden gewahrt, aber dem Drama selbst geht es ans Leben. Mit der Subjektivität, deren Nachspiel das Endspiel ist, wird ihm der Held entzogen […]. Exposition, Knoten, Handlung, Peripetie und Katastrophe kehren einer dramaturgischen Leichenbeschau als Dekomponierte wieder: für die Katastrophe etwa tritt die Mitteilung ein, daß es keine Nährpillen mehr gebe.“ 104 Zur Parodie des Dramas und seines Helden (des individuellen Subjekts) gesellt sich nach Adorno Becketts Parodie der Sprache. Angesichts der Aus‐ wechselbarkeit der Individuen und ihrer Charaktere „verschwindet auch die Be‐ 3. Die Negativität der Kunst als Stärkung und Negation des Subjekts: Valéry und Beckett 119 <?page no="120"?> 105 Ibid., S.-305. 106 Ibid., S.-306. 107 Vgl. P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (7. Aufl.), S.-302. deutung der Sprache“. 105 Adorno spricht von einem „fehlerhafte[n] Gewäsch der Selbstentfremdung“, einem „Agglomerat aus schnodderigen Phrasen, scheinlo‐ gischen Verbindungen, galvanisierten Wörtern als Warenzeichen, das wüste Echo der Reklamewelt […].“ 106 Damit antizipiert er zeitgenössische Beobach‐ tungen einer Sprachatrophie, die mit der Reduktion von Syntax in Werbeslo‐ gans, SMS-Nachrichten und E-mails zu erklären ist. Dass sie die sich artikulie‐ rende Subjektivität und ihre Ausdrucksmöglichkeiten tangiert, will durchaus einleuchten. Der erste Eindruck, den die Lektüre der beiden Essays über Valéry und Beckett hinterlässt, ist der eines Widerspruchs: Während der erste Essay nach Möglichkeiten fragt, Subjektivität durch rigorose Negation des ideologischen und kommerziellen Vokabulars zu stärken, schildert der zweite Essay eine gesellschaftliche und sprachliche Situation, in der eine untergegangene Subjek‐ tivität auf der Bühne parodiert wird. Der Widerspruch ist im Zusammenhang mit Adornos Paradoxon zu erklären, von dem hier weiter oben die Rede war. Dieses Paradoxon ist soziologisch aus der ambivalenten Einstellung der Kri‐ tischen Theorie zum liberalen Individualismus ableitbar, in dem sie verwurzelt ist und den sie zugleich einer radikalen Kritik aussetzt. Während der Existenzia‐ lismus in seinen verschiedenen Varianten das individuelle Subjekt ontologisch setzt, ohne seine Entstehung und seinen Niedergang historisch-genetisch zu reflektieren, wie Bourdieu im Zusammenhang mit Sartre bemerkt 107 , verfolgt die Kritische Theorie die Peripetien des Individualismus bis zu dem Punkt, an dem er von der sozialen Entwicklung grundsätzlich in Frage gestellt wird. An diesem Punkt setzt Jean-François Lyotards postmoderne Philosophie ein. 4. Das Erhabene als Negation des Subjekts in der Postmoderne: Von Adorno zu Lyotard Zu Adornos ästhetischer Negativität gehört das prekäre Gleichgewicht zwi‐ schen dem Schönen und dem Erhabenen, das zu den wichtigsten Themen der Ästhetischen Theorie zählt. Nach Adorno nimmt moderne Kunst das Erhabene, das Kant auf den Bereich der Naturerscheinungen begrenzte, auf, um ihre Negativität zu steigern, um sich gegen die konsumierbare Kunst der Kulturin‐ dustrie abzugrenzen: „Das Erhabene, das Kant der Natur vorbehielt, wurde nach 120 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="121"?> 108 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-293. 109 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart, Reclam, 1971, S.-136. 110 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-292. 111 Ibid. 112 Ibid., S.-401. 113 Vgl. ibid., S.-407. 114 Vgl. W. Welsch, „Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen“, in: Ch. Pries (Hrsg.), Das Erhabene, Weinheim, VCH, 1989. 115 A. Wellmer, „Adorno, die Moderne und das Erhabene“, in: W. Welsch, Ch. Pries (Hrsg.), Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, Weinheim, VCH, 1991, S.-57. ihm zum geschichtlichen Konstituens von Kunst selber. Das Erhabene zieht die Demarkationslinie zu dem, was später Kunstgewerbe hieß. Kants Vorstellung von der Kunst war insgeheim die eines Dienenden. Kunst wird inhuman in dem Augenblick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie.“ 108 Indem moderne Kunst das Erhabene aufnimmt, das laut Kant „in keiner sinnlichen Form enthalten sein [kann]“ 109 und nur der Vernunft zugänglich ist, treibt sie ihre Negativität auf die Spitze und wird inhuman, weil sie „sinnlich nicht wohlgefällig und abstoßend“ 110 ist, wie Adorno sagt. Obwohl sie ihren Dienst am Menschen „aufkündigt“, hält sie den Menschen die Treue, weil sie sie als Subjekte durch ihre Schockwirkungen wachrüttelt. Im Zusammenhang mit dem Erhabenen spricht Adorno weiterhin von der „Emanzipation des Subjekts in der Kunst“. 111 Diese Emanzipation besteht darin, dass das erwachende Subjekt Erfahrungen macht, die es aus dem verhärteten Herrschaftszusammenhang hinausführen und es befähigen, über seine eigene Subjektivität nachzudenken: „Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen; nun jedoch, kraft der Einsicht ins Kunstwerk als Kunstwerk solche, in denen seine Verhärtung in der eigenen Subjektivität sich löst, seiner Selbstsetzung ihre Beschränktheit aufgeht.“ 112 Hier wird deutlich, dass Adornos Ästhetik keinen Verzicht auf Subjektivität leistet, sondern das Erhabene - wie auch das Hässliche 113 - als einen Aspekt des Ästhetisch-Negativen auffasst, das Subjekte „erschüttert“ und zur Selbstreflexion anhält. Insofern ist seine Ästhetik keine Ästhetik des Erhabenen, wie Wolfgang Welsch meint 114 , sondern eine Ästhetik des Negativ-Schönen. Dazu bemerkt Albrecht Wellmer: „Auch bei Adorno bleibt die Kategorie des Schönen insofern leitend, als die Realisierung des Kunsterhabenen an die Realisierung ästhetischer Stimmigkeit geknüpft bleibt […].“ 115 Man könnte hier statt „Stimmigkeit“ auch „Form“ sagen, die zu den Kernbegriffen von Adornos Ästhetik gehört. 4. Das Erhabene als Negation des Subjekts in der Postmoderne: Von Adorno zu Lyotard 121 <?page no="122"?> 116 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München, Fink, 1989 (2. Aufl.), S.-293. Als negative Ästhetik der Form reiht sich Adornos ästhetische Theorie unter die Ästhetiken und Poetiken der Spätmoderne ein, deren Vertreter - Mallarmé, Valéry und Proust - zu Adornos liebsten Bürgen gehören. Von diesen spätmodernen Ansätzen verabschiedet sich Jean-François Lyotard, wenn er die sprengende, subjektnegierende Wirkung des Erhabenen hervorhebt, um es gegen das individuelle Subjekt als Rezipienten zu wenden. Wie andere postmo‐ derne Denker - wie Foucault, Bauman und Baudrillard - stellt er individuelle Subjektivität grundsätzlich in Frage. Obwohl er eine ähnliche Entwicklung durchmacht wie Adorno, indem er sich nach seinem Ausscheiden aus der von Cornelius Castoriadis u. a. begründeten Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ (1949-1965) vom Marxismus und dessen revolutionären Hoffnungen abwendet, gilt sein Interesse nicht dem autonomen Individuum, sondern dem Widerstreit (différend). Nach der Abkehr postmo‐ derner Philosophen (Foucaults, Derridas, Deleuzes) vom subjekt-zentriertem Existenzialismus Sartres setzt sich in Frankreich eine Subjekt-Skepsis durch, die nicht unwesentlich dazu beiträgt, dass sich Lyotard dem Partikularen zuwendet, das nicht aufs Universelle und seine vom Subjekt verwaltete Begrifflichkeit reduziert werden sollte. Sein Programm fasst eine Schrift zusammen, die mit Beiträgen von Francis Guibal, Jacob Rogozinski, Jean-François Lyotard et al. 1989 erschien und den Titel trägt Témoigner du différend (Vom Widerstreit zeugen). Es geht darum, in einer fragmentierten oder pluralisierten Gesellschaft den kulturellen und sprach‐ lichen Partikularitäten Gehör zu verschaffen: sie gegen eine Vereinnahmung durch den begrifflichen Universalismus zu schützen, der in einer globalisierten Weltwirtschaft vom Kapital gefördert wird. Dazu bemerkt Lyotard in Der Widerstreit (Le Différend, 1983, dt. 1989): „Auf diese Weise verlangt der ökonomische Diskurs des Kapitals keineswegs das politisch-deliberative Dispositiv, das die Heterogenität der Diskurse zuläßt. Eher das Gegenteil: er verlangt deren Unterdrückung.“ 116 Gegen diese Unterdrückung durch den Tauschwert des Weltkapitals revoltiert die Philosophie des späten Lyotard. In dieser Hinsicht ist sie Adornos Theorie durchaus verwandt. Zugleich weicht sie radikal von ihr ab, weil sie das Partikulare oder Besondere nicht mit dem individuellen Subjekt, sondern mit dem besonderen Sprachspiel (im Sinne von Wittgenstein in La Condition postmoderne, 1979) und dem beson‐ deren Satz-Regelsystem oder der Diskursart in Le Différend (1983) identifiziert. Diese besonderen Sprachen können weder ineinander übersetzt noch in eine ihnen gemeinsame Sprache übergeleitet werden. Wo immer versucht wird, 122 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="123"?> 117 W. Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S.-314-315. 118 J.-F. Lyotard, Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S.-125. 119 Vgl. G. Vattimo, Al di là del soggetto. Nietzsche, Heidegger e l’ermeneutica, Mailand, Feltrinelli, 1991 (4. Aufl.), S.-50. sie einer Metasprache zu unterwerfen, entsteht ein Unrecht (tort), das die Partikularitäten und ihren Widerstreit negiert. Wolfgang Welsch veranschaulicht Lyotards Begriffe „Satz-Regelsystem“ und „Diskursart, wenn er erklärt: „Satz-Regelsysteme sind beispielsweise: Argumen‐ tieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen. Sie geben Regeln für Sätze und Sprachhandlungen vor. […] Beispiele für Diskursarten sind: einen Dialog führen, Unterrichten, Recht sprechen, Werben. Sie sind komplexer gebaut als Satz-Regelsysteme. In ihnen kommen jeweils Sätze unterschiedlicher Satz-Regelsysteme vor.“ 117 Lyotard kommt es auf diese Unterschiede an, die er zu unüberbrückbaren, „Widerstreite“ auslösenden Widersprüchen stilisiert. Es geht hier zwar nicht um Lyotards Sprachphilosophie; es sei aber angemerkt, dass in einem Gerichtsver‐ fahren grundverschiedene Diskursarten (Argumentationen, Beschreibungen, Erzählungen des Hergangs) zusammenwirken können, ohne dass sich das Verfahren in der Inkohärenz oder im Widerspruch auflöst. (Dies gilt auch für literarische Texte, die heterogene Diskurse zusammenführen, ohne auf Kohärenz zu verzichten.) Wichtiger als diese Überlegung ist in dem hier konstruierten Zusammenhang die Tatsache, dass Lyotard die Heterogenität der Sprachen gegen die Einheit des individuellen Subjekts wendet - und gegen Subjektivität insgesamt. Statt zu bedenken, dass individuelle oder kollektive Subjekte von ihm als heterogen oder inkommensurabel definierte Diskursarten (Argumentieren, Erzählen, Fragen) aufgrund ihrer Intentionen auf kohärente Art bündeln können, postuliert er die (sprachliche) Heterogenität des Individuums: „Jedes vorgebliche Individuum ist in verschiedene Partner aufteilbar und wahrscheinlich aufgeteilt.[…].“ 118 Hier wird das postmoderne Theorem des „gespaltenen Subjekts“ („soggetto scisso“) erkennbar, das sich auch Vattimo zu eigen macht. 119 Entscheidend ist, dass Lyotard den Begriff des Widerstreits (des différend) auf die Beziehung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen sowie auf die kom‐ plementäre Beziehung zwischen dem Erhabenen und dem individuellen Subjekt anwendet. Anders als Kant, der den Begriff des Erhabenen dem Naturbereich vorbehielt, wendet ihn Lyotard auf die Kunst und vor allem auf die Avantgarde an und behauptet, dass diese - wie das Erhabene der Natur - die mit Begriffen 4. Das Erhabene als Negation des Subjekts in der Postmoderne: Von Adorno zu Lyotard 123 <?page no="124"?> 120 J.- F. Lyotard, Leçons sur l’Analytique du sublime, Paris, Galilée, 1991, S.-154. 121 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, München, Fink, 1991, S.-163. 122 Vgl. Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-213. 123 J.-F. Lyotard, Analytik des Erhabenen, op. cit., S.-141. 124 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-213. und Zahlen arbeitende Vernunft anspricht und dadurch die Einbildungskraft des Subjekts übersteigt und sein Fassungsvermögen sprengt. Das Subjekt und seine Einbildungskraft sind auf die vom Verstand erfassbaren Kategorien des Schönen und seiner Formen angewiesen. Da das Erhabene als Unendliches, Unermessliches und Undarstellbares nur die alle Formen sprengende Vernunft anspricht, negiert es zugleich das individuelle Subjekt als Verstand, der nur im Rahmen begrenzter Formen zu denken vermag. Während Adorno das Erhabene dem Negativ-Schönen als Form subsumiert, um die Negativität moderner Kunst zu erklären und um zu zeigen, wie diese das Subjekt zu Selbstbesinnung und Reflexion treibt, postuliert Lyotard einen untilgbaren Widerstreit zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Zwischen dem Absolut-Undarstellbaren, das die Vernunft begrifflich denkt (etwa die Milliarden Lichtjahre des Kosmos oder den von Adorno als undarstellbar apostrophierten Atomkrieg), und dem Formal-Darstellbaren des Verstandes kann nicht vermittelt werden: „C’est en quoi leur conflit n’est pas un litige ordinaire, qu’une tierce instance peut saisir et trancher, mais ‚un différend‘, un ‚Widerstreit‘.“ 120 Im Subjekt weckt dieser Widerstreit unvereinbare Emotionen und bewirkt eine Zerrüttung des Rezipienten. Ästhetische Negativität stärkt nicht länger seine Autonomie und Reflexionskraft, sondern negiert seine Subjektivität: „Der Geschmack versprach ihm ein schönes Leben, das Erhabene droht ihm mit dem Tod.“ 121 Zugleich mit dem Einzelsubjekt wird auch die traditionelle Kunst verabschiedet, zu der Lyotard auch die spätmoderne Kunst rechnet, deren Formgebung Adorno mit kritischem Vermögen gleichsetzte. 122 Das postmoderne Erhabene konfrontiert sie mit einer unerfüllbaren Forderung: „Mach das Abso‐ lute, das ich begrifflich vorstelle, durch deine Formen präsent! “ 123 Diese Forderung ist im Rahmen der traditionellen - auch der spätmodernen - Kunst unerfüllbar, weil sie von Valéry bis Adorno der Form ihre Daseinsbe‐ rechtigung verdankt: „Kunst hat soviel Chance wie die Form, und nicht mehr.“ 124 Die Darstellung des Erhabenen, des Undarstellbaren und Unermesslichen, ist jedoch mit jeglicher Formgebung unvereinbar. Zusammen mit der Form stellt dieses Erhabene die Einheit des Subjekts in Frage. Lange vor seiner Analytik des Erhabenen (1991, dt. 1994) bemerkt Lyotard in Discours, figure (1971): „Man muss auf das Ich als einheitlich konstituierte 124 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="125"?> 125 J.-F. Lyotard, Discours, figure, Paris, Klincksieck, 1971, S.-18. 126 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, Böhlau-Passagen, 1986, S.-14. 127 Vgl. J.-F. Lyotard, Le Postmoderne expliqué aux enfants, Paris, Galilée, 1988, S.-35. Auch an dieser Stelle erscheint die Postmoderne als ein Neuanfang, weil vom Ende des „Volkssouveränität“ die Rede ist: „La postmodernité, c’est aussi la fin du peuple-roi des histoires.“ Instanz verzichten […].“ 125 So zwingt die Herausforderung durch das Erhabene Lyotards nachmodernen Künstler, den Gedanken an ein einheitliches Subjekt und ein geformtes Kunstwerk fahren zu lassen, um das Undarstellbare trotz aller Widrigkeiten darstellen zu können. Der Verzicht auf Subjektivität, Einheit, Form und Schönheit ist der Preis, den nach Lyotard die zeitgenössische Kunst zu entrichten hat, um das Unmögliche zu ermöglichen und das Erhabene, das für den Kapitalismus kennzeichnend sein soll, darzustellen. Obgleich Lyotard das Erhabene mit dem gegenwärtigen Zustand des Kapita‐ lismus verknüpft, stellt er sich das Verhältnis von Moderne und Postmoderne anders vor, als es hier konstruiert wurde. Er fasst die Postmoderne als einen Aspekt der Moderne auf, nicht als deren historische Nachfolgerin - widerspricht sich aber sporadisch, indem er von einem Ende der Moderne und einem Bruch mit ihren „Metaerzählungen“ spricht. 126 Zugleich unterscheidet er zwei einander ausschließende Ästhetiken der Post‐ moderne, von denen die eine ihm als konsumierbarer „Postavantgardismus“ im Sinne der Architekten Achille Bonito Oliva und Charles Jencks als inakzeptabel erscheint (man könnte auch John Barth, Umberto Eco und Gianni Vattimo hin‐ zufügen), während er sich selbst für die radikal andere, die radikal-avantgardisti‐ sche Postmoderne einsetzt, die sich am Widerstreit des Erhabenen orientiert und jeden Kompromiss mit den kommerziellen Ästhetiken der Marktgesellschaft ablehnt. In dieser Hinsicht knüpft Lyotard an die Negativität der spätmodernen Ästhetiken Valérys und Adornos an. Da er aber die Einheit eines allen Zwängen widerstehenden, kritischen Subjekts dem Widersteit des Erhabenen opfert, bricht er mit den spätmodernen Ästhetiken dieser Autoren und entwirft eine postmoderne Ästhetik, die trotz aller seiner Dementis 127 jenseits der subjektzentrierten Moderne liegt. Jedoch bleibt sein Begriff des Erhabenen nicht auf den ästhetischen Bereich begrenzt. Auf historischer Ebene versucht Lyotard in L’Enthousiasme (1986), einem Kommentar zu Kants Geschichtstheorie, zu zeigen, dass Zeiten des Umbruchs emotionale Wallungen hervorrufen, die ins Erhabene umschlagen können. Als pathologischer Effekt erscheint ihm politische Begeisterung als 4. Das Erhabene als Negation des Subjekts in der Postmoderne: Von Adorno zu Lyotard 125 <?page no="126"?> 128 J.-F. Lyotard, L’Enthousiasme. La critique kantienne de l’histoire, Paris, Galilée, 1986, S.-63. 129 Ibid., S.-61. 130 Ibid., S.-65. 131 Th. Pynchon, Gravity’s Rainbow, London. Picador, 1975, S.-434. 132 Die Indifferenz als strukturierendes Prinzip der Postmoderne wird analysiert in: P. V. Zima, Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, Francke (UTB), 2016 (4. Aufl.), Kap. IV. 2. 133 Vgl. B. Schmidt, Postmoderne - Strategien des Vergessens, Frankfurt, Suhrkamp, 1994 (4. Aufl.). am Rande des Wahnsinns angesiedelt: „Die historisch-politische Begeisterung befindet sich also am Rande des Wahnsinns (au bord de la démence).“ 128 An anderer Stelle erklärt er, weshalb diese Art von Begeisterung „ein extremer Modus des Erhabenen ist“ („un mode extrême du sublime“) 129 : Sie geht aus Ereignissen hervor, die jede Art von Eingrenzung als Formgebung sprengen. Sie sind „unästhetisch“ im Sinne des Schönen und des Verstandes: „Sie sind das Form- und Figurlose der historischen Menschennatur.“ 130 Diese unförmigen, na‐ turwüchsigen Ereignisse - von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg - tragen wesentlich zur Auflösung der Subjektivität bei: zu einer Auflösung, die von der postmodernen Kunst aufgenommen und verarbeitet wird. Um welche Kunst geht es? Lyotard nennt einige Werke der historischen Avantgarde zusammen mit den Filmen Syberbergs. Möglicherweise könnte man zur nachmodernen Kunst des Erhabenen auch die Texte zeitgenössischer Avant‐ gardisten hinzufügen, die eine einheitliche Erfahrung durch Fragmentierung der Erzählstruktur, durch Textcollage und eine Ästhetik der Gewalt ausschließen. Sollte Lyotards These, dass das Erhabene eine treffende Metapher für die Beschreibung des heutigen Kapitalismus ist, realistisch sein, so wäre ein Text wie Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow für die gegenwärtige Ästhetik des Erhabenen beispielhaft. Im Zustand der Anti-Paranoia löst sich Subjektivität auf, weil es keine erfass‐ baren Zusammenhänge mehr gibt. Das Subjekt wird der démence überantwortet, von der bei Lyotard die Rede ist: „Rain drips, soaking into the floor, and Slothrop perceives that he is losing his mind. If there is something comforting - religious, if you want - about paranoia, there is still also anti-paranoia, where nothing is connected to anything, a condition not many of us can bear for long.“ 131 Es ist eine conditio inhumana der Indifferenz 132 und des Vergessens 133 : der Austauschbarkeit von Ereignissen, Erinnerungen, Aussagen und Individuen. Diese Indifferenz als Austauschbarkeit führt in Oswald Wieners Die Verbes‐ serung von Mitteleuropa zu einer Negation der Subjektivität, die die historischen 126 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="127"?> 134 O. Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Reinbek, Rowohlt (1969), 1985, S. XIII. 135 J.-P. Sartre, Plaidoyer pour les intellectuels, Paris, Gallimard, 1972, S.-24. Avantgarden ankündigen und die von den nachmodernen Avantgarden voll‐ bracht wird: „ich will etwas sagen, mir fehlen nur die worte, der anlass, aber auch was ich sagen will.“ 134 Nicht nur Lyotards postmoderne Philosophie, auch die Literatur, die man als postmodern bezeichnen könnte, hat sich vom Subjekt des Individualismus verabschiedet. Eine Rettung „des Richtigen“ am Individualismus im Sinne von Musil wird nicht mehr erörtert. Auch von Adornos „seiner selbst mächtige[m] und bewußte[m] Subjekt“ ist nicht mehr die Rede. In der Postmoderne hat dieses Subjekt längst kapituliert. Seine Kapitulation wirkt sich auf die Stellung der noch verbleibenden Intellektuellen aus, deren Stimmen leiser werden und oft ungehört verhallen. 5 Die Negation des Subjekts als „Grab des Intellektuellen“ In seinem Plaidoyer pour les intellectuels (1971) sieht Sartre die Intellektuellen als Erben der Aufklärung und als Vertreter der Idee universeller Menschlichkeit. Zugleich kritisiert er sie als bürgerliche Kritiker des Bürgertums, die dazu neigen, ihren Universalismus auf die bürgerliche Klasse zu beschränken, und zwar nach dem Motto: „Jeder Mensch ist Bürger, jeder Bürger ist Mensch, und das nennt sich: bürgerlicher Humanismus.“ 135 In Wirklichkeit, bemerkt Sartre, ist dieser Universalismus partikularistisch, weil er nahezu alles ausgrenzt, was sich außerhalb des französischen Bürgertums befindet: die Arbeiter, die Bauern, die Kolonialvölker. In gewisser Hinsicht greift Lyotard in Grabmal des Intellektuellen (1984) Sartres Argumente auf, wendet sie aber gegen den Universalismus-Gedanken, den Sartre als engagierter Intellektueller der Spätmoderne immer wieder mit Leben erfüllte: etwa als Fürsprecher der maoistischen Zeitschrift La Cause du peuple. Als postmoderner Denker der kulturellen und sprachlichen Plura‐ lisierung und Partikularisierung wendet sich Lyotard gegen den modernen Universalismus als solchen - und deutet malgré lui an, dass die Postmoderne kein Aspekt der Moderne ist, sondern ein Neubeginn. Der Universalismus, meint er, setze sich mit seinem Streben nach Totalisie‐ rung über die Vielfalt (multiplicité) postmoderner Gesellschaften hinweg: „Der Untergang, und vielleicht sogar Zerfall, der Idee der Universalität kann das Denken und das Leben von der Obsession der Totalität befreien. Die Vielheit 5 Die Negation des Subjekts als „Grab des Intellektuellen“ 127 <?page no="128"?> 136 J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, Wien, Passagen, 2007 (2. Aufl.)., S.-19. 137 Zum Aufstieg des Partikularismus in der Moderne vgl. F. H. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990 (2. Aufl.), S.-118. der Verantwortlichkeiten, ihre wechselseitige Unabhängigkeit oder gar Unver‐ träglichkeit, verpflichten diejenigen, die sie, ob groß oder klein, übernehmen werden, zu Geschmeidigkeit, Toleranz und ‚Wendigkeit‘ […].“ 136 Hier spricht der Vertreter eines postmodernen Partikularismus 137 , der es als seine Hauptaufgabe ansieht, allenthalben vom Widerstreit (différend) zu zeugen und dafür zu sorgen, dass den zahlreichen politischen, ethnischen, religiösen Besonderheiten, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt, kein Unrecht (tort) angetan wird. Sie sollen keinem Universalismus - und schon gar nicht den universalisierenden Abstraktionen des Weltkapitals - unterworfen werden, die alles auf Quantität, auf das „Wieviel“ reduzieren. Der Zerfall der Universalidee, der Idee eines für alle Menschen geltenden Humanismus, zieht den Niedergang des Intellektuellen als kritisches Subjekt nach sich. In einer vielfältigen, vom Widerstreit der Partikularitäten geprägten Gesellschaft verliert der Intellektuelle sein von der Aufklärung geerbtes Recht, für andere zu sprechen, ihnen seine Sprache, seine Diskursart aufzuzwingen. Anders gesagt: Die postmoderne Partikularisierungstendenz stellt nicht nur den Universalismus der Moderne in Frage, sondern auch die Stellung des Intellektuellen, der als bürgerlicher Kritiker des Bürgertums den Gedanken einer allgemein gültigen Menschlichkeit vertrat. Seine Stellung wird jedoch nicht nur von der postmodernen Partikularisie‐ rung untergraben, sondern auch von einer Entwicklung, die schon die „Klas‐ siker“ der Soziologie Durkheim und Max Weber ankündigen und auf die auch Lyotard eingeht: die Arbeitsteilung als Spezialisierung. Im ersten Kapitel wurde hier schon der von Max Weber angekündigte Übergang vom Kulturmenschen zum „Fachmenschen ohne Geist“ erwähnt. Was vom spätmodernen Weber eher als Prognose oder Warnung ausgesprochen wurde, wird dem postmodernen Lyotard zu einem fait accompli. Bildung, die noch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts propagierten, weil sie hofften, Partikularismen wie nationalistische Engstirnigkeit durch kulturelle Horizonterweiterung vermeiden zu können, hat in der zeitgenössischen Gesell‐ schaft keine Priorität mehr. Was der spätmoderne Max Weber mit einer gewissen Besorgnis ankündigte, wird beim postmodernen Lyotard zur Wirklichkeit: „Niemand erwartet heute von der Schule, die überall in Ungnade fiel, dass sie aufgeklärte Bürger heranbilde, sondern nur, dass sie auf eine erfolgreiche 128 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="129"?> 138 J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, op. cit., S.-18. 139 Ibid. 140 F. Furedi, Where Have All the Intellectuals Gone? , London-New York, Continuum (2004), 2005 (2. Aufl.), S.-72. 141 Ibid., S.-13. Berufstätigkeit vorbereite.“ 138 Lyotard fügt hinzu: „Unwissenheit ist kein Un‐ recht und Wissenserwerb eine Berufsqualifikation, die ein höheres Einkommen sichert.“ 139 Komplementär dazu spricht Frank Furedi von einem „displacement of the thinker by the expert“ 140 und erklärt: „Allerdings bestand das Besondere und Schätzenswerte an der künstlerischen und intellektuellen Arbeit darin, dass sie nicht vom instrumentellen Ethos beherrscht wurde.“ 141 In seinem Buch Where Have All the Intellectuals Gone? (2004) wirft er britischen Universitäten vor, das instrumentelle, marktkonforme Denken zu privilegieren und eher Experten oder Fachmenschen als kritische Individuen auszubilden. Ein Beispiel aus dem akademischen Bereich, in dem man noch hofft, hin und wieder Intellektuellen zu begegnen: Eine Musikwissenschaftlerin, Spezialistin für moderne Musik, fragt uns, wo wir 2009 unseren Urlaub verbracht haben. Die Antwort lautet: auf der Krim. Sie kann mit dieser Bezeichnung nichts anfangen und bittet uns, dort eine Stadt zu nennen. Die Antwort lautet: Jalta, bewirkt aber nicht den gewünschten Aha-Effekt. Schließlich bereitet eine ausführlichere Erklärung der Verlegenheit ein Ende. Hochspezialisierte Fachmenschen dieser Art sind nicht in der Lage, zu politischen Ereignissen wie dem „Brexit“ oder dem Ukraine-Konflikt kritisch Stellung zu nehmen. Im Gegenteil, sie sind der Propaganda beider Seiten hilflos ausgeliefert. Sie werden möglichweise glauben, dass die ukrainische Regierung den russischen Angriffskrieg tatsächlich provoziert hat. (Den russischen Angriff auf Georgien / Grusinien haben sie u. U. vergessen - und Stalins Winterkrieg gegen Finnland zwischen 1939 und 1941 höchstwahrscheinlich auch.) Oder sie werden sich für einen ukrainischen Sieg stark machen, ohne zu fragen, ob die ukrainischen Streitkräfte die Halbinsel Krim ohne eine nennenswerte Kriegs‐ flotte befreien können oder - möglicherweise gegen den Willen der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung - erobern sollen. Bei solchen Menschen ersetzt Ratlosigkeit oder ideologisches Schwarz-Weiß-Denken kritische Reflexion. Ihre Subjektivität als intellektuelle Autonomie ist drastisch eingeschränkt. In vielen Fällen verlassen sie sich auf ideologische oder kommerzialisierte Ste‐ reotypen, von denen Adorno sagt, dass sie die Intellektuellen „demoralisieren“: „Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur 5 Die Negation des Subjekts als „Grab des Intellektuellen“ 129 <?page no="130"?> 142 Th. W. Adorno, Minima Moralia, GS IV, op. cit., S.-114. 143 Zum Nexus von Indifferenz und Gewalt in der Postmoderne vgl. P. V. Zima, „In‐ différence et violence à l’âge postmoderne“, in: ders., Texte et société. Perspectives sociocritiques, Paris, L’Harmattan, 2011, S.-207-214. das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei.“ 142 Adornos Kritik ist zwar ästhetischen Ursprungs und setzt Mallarmés und Valérys Kritiken an der kommerzialisierten Kommunikation, an der „univer‐ sellen Reportage“ (Mallarmé), fort; sie hat aber für den hier entworfenen Zu‐ sammenhang eine besondere Bedeutung, weil hochspezialisierte Fachmenschen nicht in ihren Fachsprachen miteinander kommunizieren können und daher auf „das vom Kommerz geprägte Wort“ (von der „Lebensqualität“ bis zur „Genussfähigkeit“) angewiesen sind. Sprachliche Kreativität wird im E-Mail- und SMS-Zeitalter kaum noch erwartet. Sie bildet aber - zusammen mit Wort‐ schatz und Syntax - eine der Grundlagen von Subjektivität und intellektueller Autonomie. Lyotard kritisiert zwar die Ausrichtung des Bildungs- oder Erziehungssys‐ tems auf instrumentalisierbares Expertenwissen, bedenkt aber nicht, dass die vielen kulturellen und sprachlichen Partikularitäten, die er in Schutz nimmt, analog zu den Fachsprachen, auf eine gesamtgesellschaftliche Verständigung angewiesen sind, die vom Tauschwert und dem „vom Kommerz geprägten Wort“ beherrscht wird. Auf interkultureller Ebene setzt sich ein rudimentäres Englisch durch, das zumeist Preisfragen und technische Probleme zum Gegenstand hat: vom trading bis zum know-how. Die pluralisierte Gesellschaft der Partikularitäten (Sekten, ethnischer, ideologischer Gruppen, Bewegungen), die Lyotard vorschwebt, ist letztlich eine Gesellschaft in der alle Partikularismen austauschbar werden, weil im Gesamtzusammenhang nicht ihre Besonderheiten relevant sind, sondern ihre - stets notwendige, lebenswichtige - Verständigung in einer durch den Tauschwert vermittelten gemeinsamen Sprache. Deren semantische, politische, moralische de facto Indifferenz  143 setzt sich in einem postmodernen Kontext durch, in dem die eine Partikularität der anderen unverständlich ist. Die Sprache des Kapitalismus (des Geldes) müssen aber alle Beteiligten verstehen, wenn sie überleben wollen. Indem er die Vielzahl der Partikularitäten als Pluralismus verteidigt, bestätigt Lyotard lediglich die Herrschaft des Tauschwerts und seiner Abstraktionen in einer umfassenden Indifferenz. So ist es zu erklären, dass er - wie Bauman - keine Alternative zum Status quo sieht: „Das bedeutet, dass es zum Kapitalismus keine globale Alternative gibt, im Rahmen eines dialektischen Denkens und einer revolutionären Politik, versteht 130 III. Von Theodor W. Adorno zu Michel Foucault und Jean-François Lyotard <?page no="131"?> 144 J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, op. cit., S.-22. 145 Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1969), 1972, S.-53. sich.“ 144 Die Alternative zu dieser eindimensionalen Politik der Postmoderne skizziert Adorno in seinem Beitrag zum „Positivismusstreit“: „Ob, wie Marx lehrte, die kapitalistische Gesellschaft durch ihre eigene Dynamik zu ihrem Zusammenbruch getrieben wird oder nicht, ist nicht nur eine vernünftige Frage, solange man nicht schon das Fragen manipuliert: es ist eine der wichtigsten, mit denen der Sozialwissenschaft sich zu beschäftigen anstünde.“ 145 Diese Frage richtet sich an die Intellektuellen, die ein Jenseits des Kapita‐ lismus anpeilen, dessen Zerstörungen sie in der Natur und unter den Menschen beobachten. Es ist eine Frage an das „seiner selbst mächtige und bewußte Subjekt […], das nicht kapituliert“. Postmoderne Denker wie Foucault und Lyotard kündigen den Verlust dieses Subjekts an. Zusammen mit ihm droht auch Kritik in einer Gesellschaft, die den Intellektuellen nicht mehr kennt, zu atrophieren. 5 Die Negation des Subjekts als „Grab des Intellektuellen“ 131 <?page no="133"?> 1 M. Horkheimer, „Was wir Sinn nennen, wird verschwinden. Gespräch mit Georg Wolff und Helmut Gumnior“, in: ders., Gesammelte Schriften (im Folgenden: GS), Bd. VII: Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973 (Hrsg. G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 2014 (2. Aufl.), S.-346. 2 Ibid. 3 Vgl. G. Hillmann (Hrsg.), Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition, Reinbek, Rowohlt, 1967, Kap. I. 3: „Die Kronstädter Kommune“. IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli: Der Verlust der liberalen Individualität Wie seinen Zeitgenossen Walter Benjamin und Theodor W. Adorno erscheint auch Max Horkheimer die soziale Evolution als ein Niedergang der drei Hoffnungsträger einer kritischen Gesellschaftstheorie, die zusehends an den Rand des Weltgeschehens abgedrängt wird: des revolutionären Proletariats, des Liberalismus und des individuellen Subjekts. Während der um drei Jahre ältere und mit Bertolt Brecht befreundete Walter Benjamin trotz des erstarkenden Nationalsozialismus alle seine Hoffnungen auf das Proletariat setzte, musste Horkheimer nach dem Sieg der Nationalsozialisten im Jahre 1933 erkennen, dass diese Hoffnungen unberechtigt waren. Diesen Gesinnungswandel schildert er selbst in einem Gespräch mit Georg Wolff und Helmut Gumnior aus dem Jahr 1970: „Der Marxismus schien mir die Antwort auf die Schreckensherrschaft des Totalitären von rechts. Während des Zweiten Weltkriegs begann ich mich jedoch vom Marxismus zu entfernen.“ 1 Auf die Frage „Warum? “ seiner beiden Gesprächspartner antwortet Horkheimer: „Weil ich feststellte, dass der Nationalsozialismus auch auf andere Weise - jedenfalls durch Krieg - beseitigt werden konnte. Dafür, dass die Revolution auch zum Terror führen könnte, war Stalins Schreckensherrschaft ein Symbol.“ 2 Die Aufgabe der revolutionären Hoffnungen hängt - ähnlich wie bei Adorno - mit zwei Faktoren zusammen: mit der Erkenntnis, dass das von Marx mit einer historischen Aufgabe beauftragte Proletariat kein homogener Kollektiv-Aktant war, der in der Lage gewesen wäre, der nationalsozialistischen Bewegung die Stirn zu bieten, und mit der Vereinnahmung der Oktoberrevolution durch eine totalitäre Partei, die spätestens nach der Niederschlagung der Kronstädter Arbeiter- und Matrosen-Revolte im Jahre 1921 die Sowjetunion in eine Partei‐ diktatur verwandelte. 3 <?page no="134"?> 4 M. Horkheimer, „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937), in: GS IV: Schriften 1936- 1941 (Hrsg. A. Schmidt), Frankfurt, Fischer, 2009 (2. Aufl.), S.-187. 5 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen aus Deutschland (Hrsg. W. Brede), Frankfurt, Fischer, 1974, S.-281. 6 Vgl. E. A. Nordlinger, The Working Class Tories. Authority, Deference and Stable Democ‐ racy, Berkeley, Univ. of California Press (1967), 2021. Nordlinger bezieht sich zwar auf die britische Gesellschaft der 1960er Jahre, sein Buch stellt jedoch alle Versuche in Frage, die Arbeiterklasse umstandslos im linken Bereich des politischen Spektrums anzusiedeln. 7 H. Gumnior, in: M. Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior, Hamburg, Furche-Verlag, 1970, S.-12. In dieser Situation konnte Horkheimer nicht mehr an die privilegierte Position des Proletariats glauben, dem bei Marx und vor allem in Lukács̕ Ge‐ schichte und Klassenbewußtsein (1923) das avancierteste historische Bewusstsein bescheinigt wurde. Es klingt wie eine Replik auf Lukács̕ umstrittenes Buch, wenn Horkheimer in seinem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) bemerkt: „Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis.“ 4 Das soziologische Problem besteht darin, dass die Arbeiterklasse der Vor‐ kriegszeit eine recht heterogene - zwischen Kommunismus, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus schwankende - Gruppierung war, die zu keinem Zeitpunkt dem mythisch-heroischen „Proletariat“ entsprach, das Marx und Lukács vorschwebte. So ist es zu erklären, dass Horkheimer in Dämmerung von der „Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse“ 5 spricht. Denn diese Klasse steht nicht nur für den Sozialismus, den Internationalismus oder die „klassenlose Gesellschaft“, sondern auch für Konservatismus 6 , Nationalismus, Materialismus und Ressentiment (vgl. Abschn. 2). Wie Benjamin und Adorno ist Horkheimer großbürgerlicher Herkunft und oszilliert in den 1930er Jahren, wie seine beiden Weggefährten, zwischen der Hoffnung auf eine proletarische Revolution und der Sehnsucht nach einem liberalen Zeitalter, das aus seiner Sicht von Besitz, Bildung und individueller Au‐ tonomie geprägt war (vgl. Abschn. 1). Über Horkheimers Familienverhältnisse schreibt Helmut Gumnior: „Der königlich-bayrische Kommerzienrat Moriz Horkheimer, Herr über eine Textilfabrik und eine feudale Villa in Stuttgart-Zuf‐ fenhausen, war der Typ des Unternehmers, wie ihn nur der Liberalismus des 19. Jahrhunderts hervorbringen konnte, jene ‚bürgerliche Epoche‘, in der die Entfaltung des Einzelnen möglich war. Moriz Horkheimer war ein konserva‐ tiver, kein orthodoxer Jude und ein nationalliberaler Deutscher. […] Die Mutter war dem Manne wie dem Sohn liebend ergeben, ergeben auch der Tradition, den Vorschriften und Geboten ihrer Religion.“ 7 134 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="135"?> 8 M. Horkheimer, „Philosophie als Kulturkritik“, in: GS VII, op. cit., S.-91. 9 K. Marx, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S.-548. 10 M. Horkheimer, „Kritische Theorie gestern und heute“, in: ders., Gesellschaft im Übergang (Hrsg. W. Brede), Frankfurt, Fischer, 1972, S.-162. 11 Zu Adornos Kritik der historischen Immanenz vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebil‐ dung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Narr-Francke-Attempto (UTB), 2020, Kap. VI. 6: „Die marxistische Kritik an der Kritischen Theorie und Adornos mögliche Replik“. Diese biografischen Daten sind nicht unwichtig, wenn man Horkheimers - durchaus kritische - Aufwertung des liberalen Individualismus im Kontext verstehen will; wenn man verstehen will, warum er auch von Marx und vom Marxismus eine Befreiung des Einzelnen erwartet: „Marx ging es in der Freiheit des Ganzen um die Freiheit des einzelnen.“ 8 Diese Marx-Deutung ist zwar möglich, aber nicht über jeden Zweifel erhaben und sicherlich nicht zwingend. Denn im Kommunistischen Manifest heißt es zur „Diktatur des Proletariats“: „Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.“ 9 Die „Freiheit des einzelnen“ sollte anscheinend später kommen - wurde im realen Sozialismus aber ad calendas graecas vertagt. Angesichts der sozialistischen Entwicklungen in Osteuropa, die durchaus auf einige Programmpunkte des Manifests zurückzuführen sind, nähert sich Horkheimer, wie sich im dritten Abschnitt dieses Kapitels zeigen wird, der individualistischen Position Arthur Schopenhauers. Marx und Schopenhauer sind die beiden Pole zwischen denen sich Horkheimers Denken bewegt. Davon zeugen einige autobiographische Bemerkungen in „Kritische Theorie gestern und heute“ (1969), die sich auch auf Adorno beziehen: „Wir beide sind bürgerli‐ cher Herkunft und haben die Welt auch durch unsere Väter, die Kaufleute waren, kennengelernt. Wir haben eine tiefe Liebe zu unserer Familie gehabt. […] Die beiden Philosophen, welche die Anfänge der Kritischen Theorie entscheidend beeinflußt haben, waren Schopenhauer und Marx.“ 10 Während revolutionäre Visionen im Sinne von Marx Horkheimers Denken der 1930er Jahre beherrschen, weil Horkheimer hofft, dass die - auch von Ben‐ jamin und Brecht ersehnte - proletarische Revolution der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus ein Ende bereiten würde, setzt sich nach der Machter‐ greifung des Jahres 1933 und während der Konsolidierung des Kapitalismus in der Nachkriegszeit in seinem Denken der Einfluss Schopenhauers durch. Diesem Gesinnungswandel entspricht auf philosophischer Ebene eine Ab‐ kehr von der hegelianisch-marxistischen Immanenz, die auch Adornos geistige Entwicklung prägt (vgl. Abschn. 2). 11 Sie geht einher mit der Erkenntnis, dass die IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli 135 <?page no="136"?> 12 K. Lenk, Von Marx zur Kritischen Theorie. Dreißig Interventionen, Münster, UN‐ RAST-Verlag, 2009, S.-150. 13 K. Lenk, „Ideologie und Ideologiekritik im Werk Horkheimers“, in: A. Schmidt, N. Altwicker (Hrsg.), Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung, Frankfurt, Fischer, 1986, S.-251. bessere, humanere Gesellschaft nicht aus den Widersprüchen und Kämpfen der bestehenden sozialen Ordnung hervorgehen kann. Die Vorstellung von einer Alternative zum Bestehenden ist während des Krieges und vor allem nach 1945 sowohl bei Horkheimer als auch bei Adorno beim kritischen Einzelnen aufbe‐ wahrt: beim isolierten Individuum, auf dessen Erfahrungen auch Schopenhauers Denken gründet, wie sich hier im dritten Abschnitt zeigen wird. Diese Rückkehr zu den Werten der liberalen Ära und ihres Individualismus wirkt in der zeitgenössischen Gesellschaft in manchen Kreisen anachronistisch. Dazu bemerkt Kurt Lenk in einer „Nachlese zum Adorno-Jahr (2004)“: „In einer Epoche der ‚nachauratischen Soziologie‘ wie der unsrigen, so hieß es, sei die nostalgische Suche nach einer längst verlorenen Aura endgültig obsolet geworden.“ 12 Solche Skepsis einer kritischen Gesellschaftstheorie gegenüber, die trotz aller trends an der Kritikfähigkeit des autonomen Individuums festhält, prägt auch ein postmodernes Denken, das bei Foucault die Unterwerfung der Individuen unter die staatlich organisierte Disziplinierung und Biopolitik hervorhebt und bei Lyotard den Zerfall des Einzelsubjekts vor dem kapitalistisch verwalteten Erhabenen beobachtet. Das Erbe des liberalen Individualismus scheint in nach‐ moderner Zeit seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dennoch knüpfen postmoderne Philosophen immer wieder an die Gedan‐ kengänge Adornos und Horkheimers an: vor allem dort, wo sie den von den Frankfurter Denkern analysierten Niedergang individueller Subjektivität im Prozess der Naturbeherrschung (vgl. Abschn. 4) beobachten. Sie unterscheiden sich dadurch wesentlich von diesen Denkern, dass sie ihre Argumente radi‐ kalisieren und die von Horkheimer ins Auge gefasste „‚rettende Kritik‘ am Liberalismus“, 13 wie Lenk es ausdrückt, nicht mehr akzeptieren. Dies gilt auch für den im fünften Abschnitt kommentierten postmodernen Soziologen Gilles Lipovetsky, der in L’Ere du vide zeigt, wie Individuen ihre eigenen Körper narzisstisch instrumentalisieren, um in einer Gesellschaft, in der überindividuelle (politische, moralische, religiöse) Werte atrophieren, erfolg‐ reich zu sein. Seine Befunde und Argumente sind durchaus an die Horkheimers und Adornos in der Dialektik der Aufklärung (1947) anschließbar, weil er zeigt, wie extreme Formen der Naturbeherrschung letztlich auch den medizinisch zugerichteten menschlichen Körper erfassen. 136 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="137"?> 14 Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, VCH, 1991, S. 36: „Postmo‐ derne ist so der Zustand, in dem die Moderne nicht mehr reklamiert werden muß, sondern realisiert wird.“ Was bei Lipovetsky fehlt, ist die von Horkheimer immer wieder aufgewor‐ fenen Frage nach dem „ganz Anderen“: nach der Alternative zu Naturbeherr‐ schung, Körpermanipulation und Selbstverstümmelung (etwa durch Anorexie). Diese Frage nach der Alternative, nach der „zweiten Dimension“ im Sinne von Marcuse (vgl. Kap. V), verschwindet in einer von der Eindimensionalität geprägten Postmoderne. Im Gegensatz zu Lipovetsky, der den postmodernen Narzissmus und die mit ihm einhergehende Instrumentalisierung durchaus kritisiert und mit seiner Kritik einige Argumente der Kritischen Theorie weiterentwickelt, verabschiedet sich der Soziologe Michel Maffesoli, dem der sechste Abschnitt gewidmet ist, explizit von der Moderne und ihrem Individualismus. Er sieht in der Postmo‐ derne nicht etwa (wie Wolfgang Welsch) 14 eine Fortsetzung der Moderne oder eine Verwirklichung von deren Versprechen, sondern eine radikale Alternative. Diese Alternative hat jedoch nichts mit Horkheimers Vorstellung vom „ganz Anderen“ zu tun, sondern kann als deren Negation aufgefasst werden. Die Randgruppen, auf die sich Maffesoli beruft - die Hippies, Rocker und Techno-Fans -, läuten eine neue Ära ein, in der das liberale Individuum und seine Autonomie der Gruppensolidarität und dem Kollektivbewusstsein geopfert werden. Dabei wird Horkheimers Theorie, die sich für die Autonomie des Einzelnen dem Kollektiv gegenüber einsetzt und jeglichen Kollektivismus ablehnt, negiert. Das Individuum wird abgewertet und sein Aufgehen im postmodernen Kollektiv gefeiert. Zwar kritisiert Maffesoli mit der Kritischen Theorie die „prometheische“ Naturbeherrschung der Moderne und den Kapita‐ lismus, zieht jedoch aus seiner Kritik ganz andere Schlüsse als Horkheimer und Adorno: Schlüsse, die den Positionen der Kritischen Theorie diametral entgegengesetzt sind. Das Interessante am Übergang von der spätmodernen Kritischen Theorie zu postmodernen Denkmustern ist die beobachtbare Tatsache, dass die Vertreter der Postmoderne in wesentlichen Punkten (Kapitalismus-Kritik, Naturbeherr‐ schung, Niedergang des Subjekts) an die Frankfurter Theoretiker anknüpfen, aber nur um deren Gedanken und Argumente gegen sie zu wenden. Lyotard kehrt das Erhabene Adornos, das die Kritikfähigkeit der Kunst und des Einzelnen stärken sollte, gegen das Subjekt, Maffesoli beobachtet zwar mit Horkheimer und Adorno den Niedergang des individuellen Subjekts, feiert jedoch dessen Unterwerfung unter die Gruppe als postmodernen Fortschritt. Im fünften Kapitel wird sich zeigen, dass Baudrillard zwar an die marxistische IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli 137 <?page no="138"?> 15 M. Horkheimer, „Die oppositionellen Studenten und der Liberalismus“, in: GS XIV: Nachgelassene Schriften 1949-1972 (Hrsg. G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 1988, S.-471. 16 M. Horkheimer, Notizen, op. cit., S.-110. 17 A. Skuhra, Max Horkheimer. Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart, Kohlhammer, 1974, S.-82. Kritik des Tauschwerts anknüpft, letztlich jedoch zu dem Schluss gelangt, dass die Herrschaft des Tauschwerts so umfassend ist, dass der Gebrauchswert (der „Wahrheitswert“, Marcuse) als Archimedischer Punkt der Kritik nicht mehr bezeichnet werden kann. So erscheint die Postmoderne als eine Fortsetzung der Spätmoderne und als radikaler Bruch mit ihr. 1. Liberalismus und Individualismus: Nostalgie, Kritik und Tragik Sowohl bei Adorno als auch bei Horkheimer kann eine Aufwertung des Libe‐ ralismus beobachtet werden, die als „rettende Kritik“ zwar ambivalent ist, insgesamt aber eher auf Rettung als auf Kritik zielt. Die Rettung betrifft vor allem den Individualismus, dem sich nicht nur die Autoren der Kritischen Theorie, sondern auch spätmoderne (modernistische) Schriftsteller wie Robert Musil, Hermann Hesse und Thomas Mann verpflichtet fühlen. Der Nexus von Liberalismus und Individualismus tritt vor allem im folgenden Text Horkheimers hervor, den der Gedanke durchzieht, dass die oppositio‐ nellen Studierenden des Jahres 1968 Wertsetzungen verteidigten, welche ihre bürgerlichen Väter in den Jahren des Nationalsozialismus verraten haben: „Der Liberalismus förderte die Entfaltung der Persönlichkeit, Freiheit und der Gerechtigkeit. Er hatte Vertrauen in die Gesellschaft und in die Zukunft. Die Rechte des Individuums wurden grundsätzlich anerkannt. Er stellt eine gewaltige Verbesserung gegenüber den vergangenen Jahrhunderten dar.“ 15 Dass Horkheimer die gesellschaftliche Entwicklung als Niedergang be‐ trachtet, wird im folgenden Satz aus den Notizen klar: „Mit dem im monopol‐ itischen Kapitalismus notwendig sich überlebenden Liberalismus aber verliert auch die Vorstellung von der Bedeutung jedes Einzelnen ihre Aktualität.“ 16 Diese nostalgische Aufwertung der liberalen Ära findet sich auch bei Adorno, zu dessen Denkansatz Anselm Skuhra bemerkt: „Adorno nennt sogar den bewußt antiautoritären Typ den ‚echten Liberalen‘. Dies ist ein weiter Weg und das andere Extrem der These, daß die Wahrheit des Liberalismus der Faschismus sei.“ 17 Diese These macht sich - wenn auch mit Einschränkungen - Herbert Marcuse zu eigen (wie sich im fünften Kapitel zeigen wird). 138 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="139"?> 18 M. Crozier, Le Phénomène bureaucratique, Paris, Seuil, 1963, S.-352-353. 19 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1969, S.-210. 20 M. Horkheimer, „Die Vernunft im Widerstreit mit sich selbst. Einige Bemerkungen zur Aufklärung“ (1946), in: GS XII: Nachgelassene Schriften 1931-1949 (Hrsg. G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 1985, S.-114. Der Umstand, dass Horkheimer trotz seiner kritischen Einstellung weitaus häufiger die positiven Aspekte des Liberalismus hervorhebt als die negativen, zeugt von einer nostalgischen Betrachtungsweise, die von dem Organisati‐ onssoziologen Michel Crozier relativiert wird. Er ist der Meinung, „dass die traditionelle kapitalistische Ethik der Minderheit der Unternehmer möglicher‐ weise mehr Freiheit und Handlungsspielraum bot, doch um den Preis einer Unterwerfung aller ihrer Mitarbeiter, sogar auf höchster Ebene“. 18 Wie in der Antike und im Mittelalter - nur in einem ganz anderen sozialen Kontext - wurde somit die Freiheit eines Einzelnen auf Kosten aller anderen errungen. Die von Horkheimer auch erwähnte liberale „Gerechtigkeit“ sollte daher nicht überbewertet werden. Und was ist von der Kinderarbeit zu halten, die Marx, den Horkheimer für den Analysten des liberalen Kapitalismus hält, beschreibt: „Also fünfzehnstündige Arbeit für ein siebenjähriges Kind! “ 19 Es geht hier nicht darum, Horkheimers Darstellungen des liberalen Indivi‐ dualismus zu widerlegen oder pauschal zu diskreditieren. Die hier angeführten Relativierungen seiner Position sollten deren Einseitigkeit veranschaulichen und die Vermutung bestätigen, dass es sich um die nostalgische Aufwertung einer Epoche handelt, deren Facettenreichtum auf einige Aspekte reduziert wurde. Diese Reduktion ist jedoch nicht willkürlich und enthält einen wahren Kern. Er kommt im Begriff der Autonomie zum Ausdruck. Das lässt die folgende Passage aus Horkheimers Aufsatz „Die Vernunft im Widerstreit mit sich selbst“ (1946) erkennen: „Gedächtnis und Vorausschau, begriffliches Denken, die Inte‐ gration aller Erfahrungen in ein identisches Gewissen, das sich in Vergangenheit und Zukunft als ein und dasselbe weiß, alle diese Elemente wurden durch die ökonomische Lage des unabhängigen Produzenten und Geschäftsmannes ungeheuer gestärkt.“ Von ihm sagt Horkheimer: „Sich selbst dachte er als ein autonomes Subjekt […].“ 20 Auf dieses Subjekt und seine Autonomie kommt es Horkheimer und der gesamten Kritischen Theorie an. Die nostalgische Betrachtungsweise hängt primär damit zusammen, dass dieses Subjekt des Individualismus allmählich verschwindet. Horkheimer beob‐ achtet wohl richtig, wenn er erklärt: „Der heutige Trend geht in die Richtung immer stärkerer Anpassung und Konformität, dahin, ein gutes Mitglied von 1. Liberalismus und Individualismus: Nostalgie, Kritik und Tragik 139 <?page no="140"?> 21 Ibid., S.-115. 22 Z. Bauman, D. Lyon, Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwa‐ chung, Frankfurt, Suhrkamp, 2018 (4. Aufl.), S.-78-79. 23 M. Horkheimer, Notizen, op. cit., S.-94-95. 24 Ibid., S.-110. Verbänden, Körperschaften, Gewerkschaften und Teams zu werden.“ 21 Ihm kommt es - wie Adorno - auf das an, was im Übergang zu einer neuen Gesellschaft verloren geht. Diese Machtverschiebung vom autonomen Individuum des Liberalismus, vom tycoon zum Team bestätigen nicht nur Tom Burns und G. M. Stalker in ihrem Buch The Management of Innovation (1961), sondern auch der postmo‐ derne Zygmunt Bauman, der die Aushöhlung individueller Autonomie durch Teamarbeit und elektronische Überwachung beobachtet: „Wie die Schnecke, die ihr Haus immerzu bei sich trägt, so müssen die Beschäftigten in der schönen neuen flüchtig-modernen Welt ihr jeweils persönliches Panoptikum selbst her‐ vorbringen und auf dem eigenen Buckel mitschleppen. Sie sind uneingeschränkt verantwortlich dafür, sich in gebrauchsfähigem Zustand zu erhalten und ihren störungsfreien Betrieb zu gewährleisten (wer sein Mobil- oder Smartphone zu Hause läßt, um einen Spaziergang zu machen, und sich damit der lückenlosen Verfügung seiner Vorgesetzten entzieht, kann in ernsthafte Schwierigkeiten geraten).“ 22 Von dieser Überwachung sind auch die mächtigsten Manager nicht ausgenommen, weil sie einander in ihrer Teamarbeit beobachten, bisweilen sogar belauern. Der Niedergang des Individualismus macht sich aus Horkheimers Sicht nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im sozialen Bereich bemerkbar. Sowohl in den westlichen Demokratien als auch im real existierenden Sozialismus ist eine Tendenz zur Aufwertung des Kollektivs und der Masse auf Kosten des Einzelnen und seiner Freiheit zu beobachten. Diese wird dem Wohlergehen künftiger Generationen geopfert: „Indem nun die sozialistische Theorie die Menschheit anstelle des Einzelnen setzt, damit er zu sich selbst komme - und das Bürgertum hat die sozialistische Theorie in der Massengesellschaft längst eingeholt -, erscheint das Individuum vor dem Kollektiv, sei es Nation oder Staatenblock, bereits als quantité négligeable. Der Einzelne gilt als Nichts, damit es allen Einzelnen gut gehen soll.“ 23 Als Alternative schwebt Horkheimer eine Gesellschaft vor, „in der trotz seiner Nichtigkeit der Einzelne den Zweck des Ganzen bildete, dem zu dienen eben darum für ihn sinnvoll wäre“. 24 Diese Vorstellung von einer Symbiose zwischen Individuum und Gesellschaft entspricht zwar dem liberalen Credo eines John Locke, dessen Modellgesellschaft aus Menschen besteht, die beschließen „to 140 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="141"?> 25 J. Locke, On Politics, Religion, and Education (Hrsg. M. Cranston), London-New York, Collier-Macmillan, 1965, S.-49. 26 M. Horkheimer, „Der Mensch wird überflüssig”, in: GS XIV, op. cit., S.-59. join and unite into a community for their comfortable, safe, and peaceable living“ 25 , setzt sich jedoch über die wachsende Komplexität zeitgenössischer Gesellschaften hinweg, in denen es zu aufwendig und zu teuer wäre, individuelle Unterschiede zu berücksichtigen. Eine der Folgen ist, dass einerseits sowohl Bedürftige als auch Wohlhabende in den Genuss von Zuschüssen (etwa für Heizungskosten) kommen, andererseits ein sozial Schwacher unter die Räder kommen kann, weil sein Einzelfall von der Verwaltung nicht erfasst wird. Überzeugender als seine Darstellungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft sind Horkheimers Überlegungen zu einer sich fatal auswirkenden Wechselbeziehung von Technik und individueller Subjektivität. In seinen Augen erscheint Technik nicht so sehr als Helferin des Menschen, sondern als Instanz, die auf subtile Art die Atrophie seines Geistes beschleunigt: „Die Diktierma‐ schine läßt nicht bloß den guten Stil, sondern schließlich noch die Fähigkeit zu stenographieren verkümmern. Und dann gibt es ja noch das Tonband. Es ist alles so viel einfacher. Der Mensch wird - in dieser Gesellschaft - überflüssig, vorher schwinden seine Fähigkeiten.“ 26 Die Beispiele sind sicherlich überholt und wirken im zeitgenössischen Kon‐ text antiquiert. Doch die These über die schwindenden Fähigkeiten ist hochak‐ tuell. Wo SMS-Nachrichten den Brief verdrängen, dort leidet nicht nur der Stil, den so mancher Zeitgenosse für überflüssig halten mag; es leidet auch die Syntax, ohne die Logik und klares Denken nicht möglich sind. Unvollständige oder fehlerhafte Sätze zerstören die Logik und lassen den Argumentationszu‐ sammenhang zerfallen. Eine andere technische Errungenschaft, die das Denken verkümmern lässt, ist die Digitalisierung. Wenn etwa Studierende Texte aus dem Netz „herunter‐ laden“, statt sich anhand von Aufsätzen und Büchern eigene Gliederungen, Argumente und Formulierungen zu überlegen, geht nicht nur Kreativität ver‐ loren (und die Lust an ihr), sondern auch geistige Autonomie: der Wunsch, etwas Eigenes hervorzubringen und das bearbeitete Material kritisch zu beurteilen. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass der Mensch zu einem Anhängsel der Maschine wird, die seiner Entfaltung dienen sollte, ihn aber verkümmern lässt. Diese von der Technik begünstigte Passivität der Individuen geht einher mit einer Atrophie der Bildung, die dazu führt, dass der gebildete Bürger zu einem „Fachmenschen ohne Geist“ im Sinne von Max Weber (vgl. Kap. I. 3) verkommt. Dazu heißt es bei Horkheimer - komplementär zu den Überle‐ gungen Max Webers: „Mit dem Untergang des Liberalismus und dem Übergang 1. Liberalismus und Individualismus: Nostalgie, Kritik und Tragik 141 <?page no="142"?> 27 M. Horkheimer, „Entfaltung des Menschen“, in: GS XIV, op. cit., S.-383. 28 M. Horkheimer, „Der Fachmann“, in: GS XIV, op. cit., S.-359. 29 M. Horkheimer, „Warum das gedruckte Wort heute nur noch wenig Wirkung hat“ (12. Mai 1966), in: GS XIV, op. cit., S.-357. zur verwalteten, automatisierten Gesellschaft, werden autonome Individuen nicht mehr gewünscht. Man braucht Spezialisten […].“ 27 Horkheimer setzt diesen Gedankengang fort, wenn er notiert: „Die Menschen werden heute zu ‚Fachleuten‘ erzogen. Das heißt aber, daß sie nichts mehr verstehen als ihr engstes Fach und daß ihnen eigenes Denken und Fühlen abgewöhnt wird […].“ 28 Das Problematische an dieser fachlichen Verengung nimmt gegenwärtig die „ganzheitliche Medizin“ wahr, die verhindern möchte, dass Patientinnen und Patienten auf eines ihrer Organe reduziert werden (etwa auf ihren Magen, wenn die Magenbeschwerden mit der Überlastung des vegetativen Nervensystems zusammenhängen). Dass „Fachleute“ oder Spezialisten mit Bildung nichts im Sinn haben, sogar an Universitäten, wo sie bisweilen ironisch von (den noch existierenden) „Buch‐ wissenschaften“ sprechen, wird in Horkheimers Bemerkungen zum Schicksal des Buches und der Lektüre deutlich. Auf die Frage, „warum das gedruckte Wort heute nur noch geringe Wirkung hat“, lautet seine - durchaus aktuelle - Antwort (vom 12. Mai 1966): „Dafür gibt es viele Gründe: keine Ruhe zum Lesen; Überangebot von Stoff; Rückgang der Konzentrationsfähigkeit; mangelnde Tra‐ dition, an die das geschriebene Wort anknüpfen könnte; mangelndes Bedürfnis an Erkenntnis, die nicht in sensationeller Form geboten wird […].“ 29 Alle diese Faktoren hängen mit den hier angeführten Entwicklungen zu‐ sammen: Die fehlende „Ruhe zum Lesen“ und der „Rückgang an Konzentrati‐ onsfähigkeit“ sind auf technische Neuerungen wie Fernsehen, Internet und Smartphone zurückzuführen, die auf Geschwindigkeit und Beschleunigung eingestellt sind. Das channel switching vor dem Fernseher ersetzt sowohl die Suche nach einem anderen Buch als auch die konzentrierte Lektüre, das Internet ersetzt mit seinen Fertigprodukten die eigene Produktion, und das Reflexe verarbeitende Smartphone ersetzt den Brief, der zum Nachdenken einlädt. Dieser Rückgang von Bildung, Erkenntnis und Kritik führt dazu, dass das Individuum zu einem passiven Rezipienten der Kulturindustrie wird, der sich mit kommerzialisierten Stereotypen identifiziert. Dazu bemerken Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung: „In der Kulturindustrie ist das Individuum illusionär nicht bloß wegen der Standardisierung ihrer Produkti‐ onsweise. Es wird nur so weit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht. Von der genormten Improvisation im Jazz 142 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="143"?> 30 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940-1950, in: Horkheimer, GS V (Hrsg. G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 2014 (4. Aufl.), S.-181. 31 M. Horkheimer, „Theorie des Intellektuellen“, in: GS XIV, op. cit., S.-308. 32 Ibid. 33 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-181. bis zur originellen Filmpersönlichkeit, der die Locke übers Auge hängen muß, damit man sie als solche erkennt, herrscht Pseudoindividualität.“ 30 Sie verträgt sich nicht mit der Individualität des Intellektuellen, der versucht, jenseits aller Stereotypen zu denken. Horkheimer bestätigt Adornos und Lyo‐ tards skeptische Kommentare zur Stellung des Intellektuellen in der heutigen Gesellschaft, wenn er schreibt: „Der Intellektuelle ist ein Überrest des kritischen und kämpferischen Bürgertums des achtzehnten und neunzehnten Jahrhun‐ derts. Aber während das frühere Bürgertum die Kraft hatte, seinen Willen und seine Kritik durchzusetzen, ist der Intellektuelle heute ohnmächtig.“ 31 Horkheimer stellt einen Zusammenhang zwischen dem Niedergang des Intel‐ lektuellen und dem „um die Macht kämpfenden Unternehmer[s]“ 32 her. In Wirklichkeit dürfte der Gesamtzusammenhang weitaus komplexer sein, weil die Ohnmacht der Intellektuellen in der heutigen Gesellschaft mit all den Faktoren zusammenhängt, die weiter oben aufgeführt wurden und die auch Horkheimer selbst analysiert. In der Dialektik der Aufklärung bemerken Horkheimer und Adorno zum Thema „Tragik“: „Die Liquidation der Tragik bestätigt die Abschaffung des Individuums.“ 33 Da die Vertreter der Kritischen Theorie an diese „Liquidation“ nicht wirklich glauben wollen, wie sich im dritten Kapitel gezeigt hat, drängt sich der Gedanke auf, dass ihrem Willen, das Untergehende zu retten, zu stärken, Tragik innewohnt. Diese Tragik mag mit der prekären Stellung der Intellektuellengruppe, die unter dem Namen Frankfurter Schule bekannt wurde, im Nationalsozialismus, im amerikanischen Exil und in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zusam‐ menhängen. Ihre Stellung ist der des französischen Beamtenadels (noblesse de robe) vergleichbar, die Lucien Goldmann in Le Dieu caché (1955) in allen Einzelheiten darstellt. In dieser Studie zeigt er, dass sich der Beamtenadel, den Ludwig XIV durch von ihm abhängige Intendanten ersetzt und damit an den Rand der Gesellschaft verbannt, dem radikalen Jansenismus (des flämischen Theologen Jansenius oder Jansen) zuwendet, der das politische Leben als eine Welt der Sünde verurteilt. So sind die Angehörigen des Beamtenadels als radikale Jansenisten ge‐ zwungen, in einer Welt zu leben, die sie aus religiösen Gründen ablehnen. Aus 1. Liberalismus und Individualismus: Nostalgie, Kritik und Tragik 143 <?page no="144"?> 34 Vgl. L. Goldmann, Le Dieu caché. Etude sur la vision tragique dans les « Pensées » de Pascal et dans le théâtre de Racine, Paris, Gallimard, 1959, S.-66. 35 Eine minutiöse Rekonstruktion der frühen Kritischen Theorie der 1930er Jahre findet sich in: H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978. Auf S. 66 wird deutlich, dass die Vertreter der Kritischen Theorie schon in ihrer „materialistischen Phase“ an der zukunftswei‐ senden Rolle des Proletariats zweifeln: „Schon für die ‚materialistische Phase‘ des Frankfurter Kreises war die Auffassung kennzeichnend gewesen, daß die historischen Umstände dazu nötigen, die Fortbildung materialistischer Gesellschaftstheorie jenseits proletarischen Klassenbwewußtseins vorzunehmen.“ 36 A. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt, Suhrkamp, 1999, S.-76. dieser gesellschaftlichen Situation geht das tragische Bewusstsein dieser Gruppe hervor. In seinen Analysen von Blaise Pascals Pensées und Jean Racines Dramen zeichnet Goldmann die Peripetien dieser Weltanschauung nach und zeigt, wie der Beamtenadel zwischen radikaler Ablehnung der Welt und einem politischen Engagement in ihr schwankt. Er spricht von einem refus intramondain, einer innerweltlichen Ablehnung der Welt, die dem tragischen Bewusstsein des Beam‐ tenadels, den Pensées Pascals und den Tragödien Racines zugrunde liegt. 34 Parallelen zwischen dem Bewusstsein dieser Gruppe und den Angehörigen des Instituts für Sozialforschung werden sichtbar, wenn man Horkheimers und Adornos Schwanken zwischen einer radikalen Ablehnung ihrer Gesellschaft (der „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“, Horkheimer) und einer kritischen oder gar revolutionären Praxis betrachtet, die die revoltierenden Studenten‐ gruppen des Jahres 1968 - gegen Horkheimers und Adornos Willen - wieder‐ beleben wollten. Während für die frühe Kritische Theorie der 1930er Jahre 35 eine solche Praxis im Sinne des Marxismus noch in Frage kam, zeichnete sich im amerikanischen Exil und im Nachkriegsdeutschland eher die Tragik einer „innerweltlichen Ablehnung der Welt“ ab, die vor allem mit der Integration des Proletariats in eine „verwaltete Welt“ (Adorno, Horkheimer) zusammenhing. Aber schon nach dem Sieg des Faschismus herrscht nach Axel Demirović am Institut für Sozialforschung die Meinung vor, „daß sich ein letzter Rest der Weltvernunft zu einigen wenigen Menschen geflüchtet hat, vor allem denen dem Institut angeschlossenen, die sie bewahren und ihr eine Zukunft zu geben versuchen sollten“. 36 Dieses Gefühl, marginal und isoliert zu sein, teilen Horkheimer und Adorno mit dem jansenistischen Beamtenadel, dessen „innerweltliche Ablehnung der Welt“ die Tragik der zunehmend isolierten Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts antizipiert und veranschaulicht. In diesem Kontext ist auch eine Bemerkung Adornos in einem 144 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="145"?> 37 Th. W. Adorno an Horkheimer, Frankfurt a. M., 30. 1. 1957, in: Th. W. Adorno - Max Horkheimer. Briefwechsel, Bd. IV: 1950-1969 (Hrsg. Ch. Gödde, H. Lonitz), Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S.-382. 38 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch mit Otmar Hersche, in: GS VII, op. cit., S.-375. 39 Vgl. K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: ders., Die Frühschriften, op. cit., S. 223: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen […].“ 40 M. Horkheimer, Notizen, op. cit., S.-282. Brief an Horkheimer zu lesen: „daß wir in dem restaurativen Deutschland nicht zu sehr in Isolierung kommen sollten“. 37 2. Kritik des Hegelianismus und Marxismus als Kritik der Immanenz Dem tragischen Bewusstsein der Frankfurter Intellektuellen geht in den 1930er Jahren die Hoffnung voraus, dass sich die Weltvernunft, von der Demirović spricht, auf revolutionärem Weg in der Welt verwirklichen könnte. Dazu bemerkt Horkheimer in einem Gespräch mit Otmar Hersche: „Ich habe die Marxsche Theorie insofern akzeptiert, als sie sagt, die bessere Gesellschaft könne sich nur durch die Revolution verwirklichen.“ 38 Aber schon in den 30er Jahren beginnt Horkheimer an der Einheit und der Motivation der Arbeiterklasse zu zweifeln. Das „Proletariat“, das vor allem beim jungen Marx als homogener kollektiver Aktant auftritt 39 , erscheint nun - stärker noch als beim Autor des Kapitals - als eine heterogene Einheit, deren Hand‐ lungsfähigkeit bezweifelt wird. Zur Heterogenität der Arbeiterschaft notiert Horkheimer in den Notizen: „Sie, die regulären, ordentlichen Arbeiter, befinden sich im Gegensatz zu jenen, die auch noch heute nichts zu verlieren haben als ihre Ketten. Zwischen den in Arbeit stehenden und den nur ausnahmsweise oder vielmehr gar nicht Beschäftigten gibt es heute eine ähnliche Kluft wie früher zwischen der gesamten Arbeiterklasse und dem Lumpenproletariat.“ 40 Das Problem, das sich hier abzeichnet, ist das Problem der historischen Immanenz. Die Frage lautet, ob innerhalb der Gesellschaft eine Kraft am Werk ist, die eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse bewirken und die Entstehung einer neuartigen Gesellschaftsordnung ermöglichen kann - oder nicht. Dies war nicht nur die Kernfrage des Marxismus, sondern auch die Hegels, der im Gegensatz zu Kant und den Kantianern, die der schlechten Wirklichkeit ein abstraktes Ideal entgegensetzten, beobachtete, wie das Bessere als höhere Entwicklungsstufe aus den Widersprüchen des Bestehenden hervorging. 2. Kritik des Hegelianismus und Marxismus als Kritik der Immanenz 145 <?page no="146"?> 41 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, Werke, Bd. XX, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1986, S.-408. 42 K. Marx, „Die deutsche Ideologie“, in: ders., Die Frühschriften, op. cit., S.-361. 43 M. Horkheimer, „Die Problematik der Marxschen Geschichtstheorie“, in: GS XIV, op. cit., S.-438. Fichte - und indirekt Kant - wirft Hegel vor, er gelange „nicht zur Idee der Vernunft, als der vollendeten, realen Einheit des Subjekts und Objekts, oder des Ich und Nicht-Ich; sie ist ein Sollen, wie bei Kant, ein Ziel, ein Glauben, daß dies beides an sich eins sei, aber ein Ziel, dessen Erreichung derselbe Widerspruch wie bei Kant ist, nicht die gegenwärtige Wirklichkeit an ihm hat“. 41 Dies bedeutet, dass die Vorstellungen und Erwartungen, die das Subjekt in die Welt projiziert, abstrakte Ideale bleiben, die an keine reale Kraft innerhalb dieser Welt gebunden sind, die sie verwirklichen könnte. Marx hat diese Argumentation Hegels auf struktureller Ebene übernommen. Ihm geht es nicht darum, der kapitalistischen Wirklichkeit ein Ideal als Utopie entgegenzusetzen, sondern darum, an die Widersprüche und Klassengegensätze in der Wirklichkeit anzuknüpfen in der Hoffnung, dass sie eine neue, bessere Wirklichkeit entstehen lassen. Von dieser geschichts- und gesellschaftsimma‐ nenten Betrachtungsweise zeugen etliche Passagen aus seinem Frühwerk, in denen er sich von den utopischen Sozialisten Owen und Saint-Simon distanziert, die die von ihnen kritisierte Gesellschaft mit Idealvorstellungen konfrontieren: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ 42 Die Klassenkämpfe in Frankreich und Großbritannien mögen Marx in seinem Glauben an diese geschichtsimmanente Bewegung, die den „jetzigen Zustand aufhebt“ und in ein höheres Entwicklungsstadium hinüberleitet, bestärkt haben. Horkheimer und Adorno finden nichts im amerikanischen Exil und im „re‐ staurativen“ (s. o.) Nachkriegsdeutschland, das auf eine solche Bewegung im Sinne von Marx hindeutet. Im Gegenteil, sie beobachten die Stillstellung der Klassenkämpfe und die Eingliederung des ehemals revolutionären Proletariats in die bestehende Ordnung: „In dem Maße, wie die herrschenden Gruppen in den Industrieländern sich bereitgefunden haben, zum Zwecke der Sicherung ihrer Machtposition das ‚Proletariat‘ an dem wachsenden gesellschaftlichen Reichtum teilnehmen zu lassen, hat das Proletariat aufgehört seinem eigenen Begriff zu entsprechen, geschweige die messianischen Erwartungen, die Marx in es gesetzt hat, zu erfüllen.“ 43 146 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="147"?> 44 Zu den marxistischen Kritiken an der Kritischen Theorie vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Narr-Francke-Attempto (UTB), 2020, Kap. VI. 6. 45 G. Rohrmoser, Das Elend der Kritischen Theorie, Freiburg, Rombach, 1970, S.-61. Für die Kritische Theorie bedeutet dies nicht nur eine Enttäuschung, sondern zugleich auch einen Anstoß zur Rückkehr in den selbstkritischen bürgerlichen Individualismus und zu einer Verteidigung des autonomen Subjekts in einem staatlich organisierten Kapitalismus. Der Marxismus als gemeinsame Ausgangs‐ position, die Horkheimer und Adorno in den 30er Jahren mit Benjamin teilten, wird aufgegeben, und die Frankfurter Philosophen geraten in eine Situation, in der nur noch die tragische „innerweltliche Ablehnung der Welt“ möglich erscheint. Die Studierenden und Jugendlichen des Jahres 1968 haben diese Situation in ihrer Gesamtheit nicht verstanden, weil viele von ihnen marxistisch oder neomarxistisch (im Sinne von Leo Kofler, Georg Lukács, Lucien Goldmann und Antonio Gramsci) dachten und die Verlassenheit des kritischen Intellektu‐ ellen nicht wahrnahmen. Ihre Einstellung findet sich in den zahlreichen Kritiken wieder, die Marxisten in den 60er und 70er Jahren an die Adresse Adornos und Horkheimers richteten. Die meisten ihrer Argumente zielen auf den Bruch der Kritischen Theorie mit der hegelianisch-marxistischen Vorstellung, dass sich Gesellschaft durch die ihr innewohnenden Widersprüche und Konflikte entwickelt und verbessert. Dieser Bruch der Kritischen Theorie mit der historischen Immanenz des hegelianischen Marxismus geht einher mit einer Auflösung des Nexus von Theorie und Praxis und einer wachsenden Skepsis allen Klassenkampftheorien gegenüber. An ihnen halten jedoch die marxistischen Kritiker fest. Es ist hier nicht der Ort, alle marxistischen Kritiken an der Kritischen Theorie Revue passieren zu lassen, zumal sich einige auf die nicht mehr aktuellen Erfolge des realen Sozialismus in Osteuropa berufen. 44 Eine gewisse Bedeutung kommt auch gegenwärtig den Argumenten von Günter Rohrmoser in seinem Buch Das Elend der Kritischen Theorie (1970) zu, das sich ohne Umschweife zur historischen Immanenz bekennt: „Die negative Dialektik bei Marx besagt nichts anderes als eben dies, daß die Geschichte aus sich selbst heraus den Träger einer möglichen Überwindung ihrer eigenen Negativität erzeuge.“ 45 Dies ist zwar richtig, aber Vertretern der Kritischen Theorie dürfte es nicht schwerfallen zu zeigen, dass dieser hegelianische Automatismus („aus sich selbst heraus“) nicht funktioniert. Rohrmoser mag im Jahre 1970 noch gehofft haben, dass sich in Osteuropa ein demokratischer Sozialismus herausbilden und die Bevölkerungsmehrheit in Westeuropa ermutigen könnte, radikale Reformen zu fordern. 2. Kritik des Hegelianismus und Marxismus als Kritik der Immanenz 147 <?page no="148"?> 46 Ibid., S.-49. 47 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York, Routledge, 1992, S.-175. 48 Vgl. S. Best, D. Kellner, Postmodern Theory. Critical Interrogations, Basingstoke, Mac‐ millan, 1991, S.-224-225, wo von „Adorno’s proto-postmodern theory“ die Rede ist. 49 J. Ritsert, C. Rolshausen, Der Konservativismus der kritischen Theorie, Frankfurt, Euro‐ päische Verlagsanstalt, 1971, S.-90. 50 Ibid., S.-101. 51 M. Horkheimer, „Die Vernunft im Widerstreit mit sich selbst“, in: GS XII, op. cit., S. 106. Relevanter in dem hier entworfenen Zusammenhang erscheint sein Einwand, dass Adornos Negativität und Horkheimers „Sehnsucht nach dem ganz An‐ deren“ letztlich den kapitalistischen Status quo festschreiben, weil sie dazu angetan sind, „das Bestehende als notwendig zu fixieren“. 46 Hier wird ein Problem der Postmoderne antizipiert, das Zygmunt Bauman in seinem Buch Intimations of Postmodernity (1992) in wenigen Worten zusammenfasst: „Living without an alternative“. 47 Abermals zeigt sich, dass Horkheimer und Adorno die postmoderne Problematik 48 antizipieren, zu der sie als Intellektuelle der Spätmoderne jedoch nicht gehören. Im Sinne der historischen Immanenz argumentieren auch Jürgen Ritsert und Claus Rolshausen in ihrem Buch Der Konservativismus der Kritischen Theorie (1971). Die Autoren werfen Habermas, Apel und Claus Offe vor, Individuen aufklären zu wollen, statt sich für revolutionäres Engagement einzusetzen: „Die Aufklärung eines Bewußtseins und nicht die Befreiung durch kollektive Handlung eines Subjekts, das Objekt historisch konkreter Herrschaft und Zwänge ist, wird mit Emanzipation gleichgesetzt.“ 49 Ihre Abhandlung endet mit einer Kritik an Adornos Negativität, der sie „Unwirksamkeit“ vorwerfen: „Die Reinheit der Idee, die Negativität des Denkens ist das Signum der Resistenz. Adorno übersieht, daß es auch das Signum der Unwirksamkeit ist.“ 50 Dieser Einwand mag durchaus berechtigt sein; er verdeckt jedoch die Tatsache, dass alle sozialistischen Revolutionen so wirksam waren, dass sie in Diktaturen mündeten, und die russische Revolution von 1917, nachdem sie misslungen war, schließlich zu einer Oligarchie mit Diktator verkam. Dies ist wohl einer der Gründe, warum Horkheimer den Fortschritt, der in Ost und West gefeiert wurde und weiterhin gefeiert wird, grundsätzlich in Frage stellt: „Doch dieser Fortschritt ist seinerseits eine Folge des Kampfs für die Prinzipien, die jetzt in Gefahr sind, zum Beispiel die des Individuums und seines Glücks. Der Fortschritt hat die Tendenz, genau die Ideen zu zerstören, die er verwirklichen und entfalten soll.“ 51 Dies gilt sowohl für den kapitalistischen als auch für den sozialistischen Fortschritt. Horkheimer und der gesamten Kriti‐ schen Theorie geht es nach dem Zweiten Weltkrieg darum, die Aufmerksamkeit von der misslungenen kollektiven Praxis auf die bedrohte Autonomie des 148 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="149"?> 52 G. Brandt, „Max Horkheimer und das Projekt einer materialistischen Gesellschafts‐ theorie“, in: A. Schmidt, N. Altwicker (Hrsg.), Max Horkheimer heute, op. cit., S.-287. 53 Ibid., S.-286. 54 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, in: GS XI (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S.-193. Einzelnen zu lenken. So kommt es zu dem „entschiedenen Perspektivenwechsel zugunsten des Besonderen und Einzelnen“ 52 , von dem Gerhard Brandt im Zusammenhang mit Horkheimer spricht. Er kommt dadurch zustande, dass der hegelianisch-marxistische Standpunkt der historischen Immanenz zugunsten von Arthur Schopenhauers Denken aufgegeben wird, in dem das Individuum zentral ist. 3. Fluchtpunkt Schopenhauer In der Einleitung wurde bereits Horkheimers Bemerkung zitiert, dass die „beiden Philosophen, die die Anfänge der Kritischen Theorie beeinflusst haben, Schopenhauer und Marx waren“. Zu Recht erinnert Gerhard Brandt daran, dass Schopenhauers Denken Horkheimer seit seiner Jugend begleitet, und erklärt: „Mit Schopenhauer wendet sich Horkheimer in den Notizen gegen jede Geschichtsphilosophie, gegen alle Versuche, den Lauf der Geschichte von einem ihm innewohnenden Sinn her zu rechtfertigen, gleich ob das wie bei Hegel unter Berufung auf den in der Geschichte sich auslegenden Geist oder aber wie in der Marxschen Tradition unter Berufung auf die Selbstverwirklichung der Gattung als eines ‚absoluten Subjekts‘ geschieht.“ 53 Diese geistige Wende, die Horkheimer nach seinen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und einem konsolidierten Kapitalismus im Nachkriegs‐ deutschland vollzieht, zeugt von einer tiefen Enttäuschung angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung. Nach ihren Erfahrungen im amerikanischen Exil und ihrer Rückkehr in ein im Wiederaufbau befindliches Deutschland der Nachkriegskonjunktur erkennen Horkheimer und Adorno die Sinnlosigkeit revolutionärer Bestrebungen und kehren zu ihren bürgerlichen Ursprüngen zurück: zu einem kritisch reflektierten, zugleich aber nostalgisch aufgewerteten liberalen Individualismus, der das Schicksal des autonomen Individuums (des Intellektuellen) in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rücken lässt. Während Adorno auf ästhetischer Ebene zu zeigen versucht, wie kritische Kunst zur Stütze eines „seiner selbst mächtigen und bewußten Subjekts“ werden kann, das „nicht kapituliert“ 54 , kehrt Horkheimer zu Schopenhauers Position zurück, die der hegelianisch-marxistischen entgegengesetzt ist. Sie ist nicht 3. Fluchtpunkt Schopenhauer 149 <?page no="150"?> 55 Vgl. A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart, Reclam, 2019, S.-26. 56 Vgl. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I. 1, Köln, Könemann, 1997, S.-22. 57 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II. 2, op. cit., S.-586. 58 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, op. cit., S.-453. 59 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II. 2, op. cit., S.-589. auf den historischen Prozess ausgerichtet, den kollektive Aktanten (Weltgeist, Völker und Klassen) in Bewegung halten, sondern auf das individuelle Subjekt, den Einzelnen oder „Einen“, wie es in Schopenhauers Aphorismen zur Lebens‐ weisheit heißt. 55 In der Geschichte der Philosophie tritt Schopenhauer immer wieder als Antipode Hegels auf, und sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819, 1859, Endfassung) zeugt von einer Betrachtungsweise, die der Hegelschen diametral entgegengesetzt ist. Sie steht in einem schroffen Gegensatz zu ihr, weil Schopenhauer - anders als Hegel, aber in Übereinstimmung mit Kant 56 - vom Individuum und vom Einzelereignis ausgeht und bestreitet, dass es in der Geschichte feststellbare Gesetzmäßigkeiten oder gar Gesetze (im Sinne von Hegel oder Comte) geben könnte. Die Wissenschaften, meint - nicht zu Unrecht - Schopenhauer, haben es stets mit dem Allgemeinen, Gattungsmäßigen zu tun, während die Geschichte Individuen in den Blick nimmt und daher keine Wissenschaft sein kann: „Die Wissenschaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen. Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Indi‐ viduen; welches einen Widerspruch besagt.“ 57 Mit diesen Behauptungen wirft Schopenhauer Hegel, der meint, „in der Philosophie [könne] nichts Einzelnes entwickelt werden“ 58 , den Fehdehandschuh hin. Dass es sich um eine philosophische Fehde handelt, wird im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung deutlich, wo es im Kapitel 38 „Ueber Geschichte“ heißt: „Der Stoff der Geschichte hingegen ist das Einzelne in seiner Einzelheit und Zufälligkeit, was Ein Mal ist und dann auf immer nicht mehr ist, die vorübergehenden Verflechtungen einer wie Wolken im Winde beweglichen Menschenwelt, welche oft durch den geringfügigsten Zufall ganz umgestaltet werden.“ 59 Diese Antithese zu Hegels Grundsatz, die Wissenschaft von der Geschichte habe es mit dem Allgemeinen zu tun, ist richtig und falsch zugleich. Sie ist richtig, weil immer wieder zu Recht bemerkt wird, dass in der Geschichte keine Wiederholungen stattfinden (möglich sind), die den unter gleichen Bedingungen wiederholbaren Experimenten in den Naturwissenschaften ver‐ gleichbar wären und Verallgemeinerungen rechtfertigen könnten. Sie ist falsch, 150 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="151"?> 60 Ibid., S.-589-590. 61 Ibid., S.-590. 62 M. Horkheimer, „Zum Begriff der Freiheit“, in: GS VII, op. cit., S.-153. 63 M. Horkheimer, „Zur Aktualität Schopenhauers“ (1961), in: GS VII, op. cit., S.-138. weil sehr wohl festgestellt werden kann, dass etwa technische Neuerungen (Dampfmaschine, Internet) gesellschaftliche Umstrukturierungen bewirken oder dass mit zunehmender Urbanisierung die Anonymität des Zusammenle‐ bens zunimmt, die eine Entwicklung von gemeinschaftlichen zu gesellschaftli‐ chen Verhältnissen und Beziehungen im Sinne von Tönnies (vgl. Kap. I) zur Folge hat. Jedenfalls polemisiert Schopenhauer in dem von ihm konstruierten Kontext gegen Hegels teleologische Geschichtsauffassung: „Was endlich das, besonders durch die überall so geistesverderbliche und verdummende Hegelsche After‐ philosophie aufgekommene Bestreben, die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen, oder, wie sie es nennen, ‚sie organisch zu konstruiren‘, betrifft; so liegt demselben eigentlich ein roher und platter Realismus zum Grunde, der die Erscheinung für das Wesen an sich der Welt hält […].“ 60 Entscheidend für die Schopenhauer-Rezeption des älteren Horkheimer mag die folgende Feststellung aus dem Kapitel „Ueber Geschichte“ sein: „In Wahrheit hat nur der Lebenslauf jedes Einzelnen Einheit, Zusammenhang und wahre Bedeutsamkeit […].“ 61 Angesichts der Bedrohung individueller Autonomie in Massengesellschaft, Werbung und Kulturindustrie wendet sich Horkheimer der „wahren Bedeutsamkeit“ des Individuums und seines Schicksals in einer sozialen Welt zu, die zunehmend durchorganisiert und „verwaltet“ wirkt. Die Freiheit des Einzelnen, meint Horkheimer mit Schopenhauer, sollte im Vorder‐ grund stehen und nicht die Selbstverwirklichung überindividueller Einheiten - etwa der Staaten oder Nationen: „Einzig im Hinblick auf die Konzeption der individuellen Freiheit hat die der Nationen ihren Sinn.“ 62 Mit Schopenhauer und gegen Hegel argumentiert Horkheimer, wenn er feststellt, dass nach der Französischen Revolution die Freiheit und Würde des Einzelnen dem Primat des Nationalen weichen musste: „Mit jedem Aufstand, der der großen Revolution in Frankreich folgte, so will es scheinen, nahm die Substanz des humanistischen Inhalts ab und der Nationalismus zu.“ 63 Schopen‐ hauers auf das Individuum ausgerichtete Philosophie denunziert die Götzen des Kollektivs, des Nationalismus und des Staates: „Die Lehre Schopenhauers hat in der Gegenwart schon darum Bedeutung, weil sie unbeirrbar die Götzen denunziert und sich doch weigert, in der schlauen Vorstellung dessen, was je schon ist, den Sinn der Theorie zu sehen. Sie ist nüchtern, ohne philosophisch 3. Fluchtpunkt Schopenhauer 151 <?page no="152"?> 64 Ibid., S.-139. 65 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, „Wie ist Bewußtsein der Negativität möglich? “ (3. Oktober 1946), in: Horkheimer, GS XII, op. cit., S.-595. resigniert zu sein. Die Doktrin vom blinden Willen als dem Ewigen entzieht der Welt den trügerischen Goldgrund, den die alte Matephysik ihr bot.“ 64 Diese Zeilen könnten als eine Kritik an Hegels Apologie des Bestehenden und der Staatsräson gelesen werden und zugleich als ein Plädoyer für Schopenhauers These, dass dem Weltgeschehen ein blinder Wille innewohnt, der sich auf kein Ziel, kein Telos zubewegt. Zusammen mit der Vergottung des Überindividuellen (der Geschichte, des Staates, der Nation) verwirft Schopenhauer die Recht‐ fertigung der bestehenden Gesellschaftsordnung, die aus dieser Vergottung hervorgeht. Bei ihm tritt an die Stelle der hegelianischen Teleologie der blinde Wille des Menschen, der auch allen Kräften der organischen und anorganischen Natur zugrunde liegt und kein geplantes oder planbares Ziel anvisiert, sondern dem Leben und seiner Entfaltung dient. Auf die marxistische Problematik bezogen kann Schopenhauers Denken auch als eine antizipierende Negation der historisch-materialistischen Ausrichtung auf das Telos der „klassenlosen Gesellschaft“ gedeutet werden. Da sich Scho‐ penhauer weigert, das Individuum und seinen Willen höheren Zielsetzungen unterzuordnen, entwirft er eine altruistische Moral des Mitleids, nach welcher der Einzelne das eigene Leiden im Leiden des Anderen (auch des Tieres) wiedererkennt und entsprechend solidarisch handelt. Dies ist das einzige Sinnresiduum, das aus Schopenhauers Denken herauszu‐ lesen ist. In einem Gespräch mit Adorno bestätigt Horkheimer die Erkenntnis der Sinnlosigkeit der Welt und des Einzellebens, die Schopenhauers Philosophie zugrunde liegt: „Sie lehnen Schopenhauer ab. Aber indem [er] alles bloß als sinnlos bezeichnet, nimmt er die Sinnlosigkeit als Sinn.“ 65 Dieses Argument ist für eine gesellschaftliche und sprachliche Situation symptomatisch, in der der Nationalsozialismus die Suche nach einem Sinn der Geschichte ad absurdum führte und in der der Marxismus als Apologie einer Parteidiktatur unglaubwürdig wurde. Nicht nur die Geschichtsphilosophien Hegels und der Marxisten verlieren in dieser Situation ihren Sinn, sondern auch der Neopositivismus, der die Entfaltung der naturbeherrschenden „instrumentellen Vernunft“ (vgl. Abschn. 4) begleitet. Abermals tritt Schopenhauer als Horkheimers liebster Bürge auf, weil er mit seiner Kritik der conditio humana und seinem Pessimismus zu einer „Bewahrung von Kultur“ ermutigt: „Je entschiedener menschliches Denken auf rein instrumentelle Aktivität sich reduzieren muß, desto genauer entspricht Bewahrung von Kultur dem Schopenhauerschen ‚Eingeständnis, daß unser 152 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="153"?> 66 M. Horkheimer, „Schopenhauers Denken im Verhältnis zu Wissenschaft und Religion“ (1971), in: GS VII, op. cit., S.-251. 67 Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: GS VI (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2020 (9. Aufl. ), S.-15. 68 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-78. Zustand ein höchst elender und zugleich sündlicher ist‘, selbst dann, so ließe sich hinzufügen, wenn nach den barbarischen Epochen der Vergangenheit die Gleichheit in der als Gattung funktionierenden Menschheit sich ausbreiten sollte.“ 66 Hier wird deutlich, wie eine Gruppe von Intellektuellen, die in den 1930er Jahren noch viele Hoffnungen auf den Marxismus und eine revolutionäre Arbeiterklasse setzte, nach dem Krieg zum Umdenken gezwungen wurde. Für dieses Umdenken ist der schon zitierte Satz Adornos aus der Negativen Dialektik charakteristisch: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 67 Bei Adorno ist es eine auf die Mimesis der Kunst ausgerichtete Philosophie des Essayismus und der Parataxis; bei Horkheimer eine Philosophie, die als Kritik der „instrumentellen Vernunft“ und als Moral des Mitleidens ihre Zuflucht bei Schopenhauers Pessimismus sucht. 4. Die Metamorphose des Subjekts durch die Instrumentalisierung der Vernunft Horkheimers und Adornos Rückkehr zum liberalen Individualismus, eine Rück‐ kehr, die nach dem Scheitern der proletarischen Revolution unvermeidlich schien, jedoch alles andere als eine Lösung der sich häufenden sozialen Probleme war, führte zur Frage nach dem individuellen Subjekt. Diese Frage wies über den Horizont Marxscher und marxistischer Betrachtungen hinaus. Sie hatte nicht deren Ausblendung zur Folge, sondern bewirkte, dass sie in einem neuen Zusammenhang angestellt wurden. Im Mittelpunkt dieses Zusammenhangs standen das individuelle Subjekt (als Geist) und seine Einstellung zur Natur. In der von Horkheimer und Adorno ge‐ meinsam verfassten Dialektik der Aufklärung ging es darum, eine „Urgeschichte der Subjektivität“ 68 nachzuzeichnen: einer Subjektivität, die vom Prinzip der Naturbeherrschung nicht zu trennen ist. Die von Marx und den Marxisten beschriebenen Klassenkämpfe erscheinen aus dieser Sicht nicht mehr als die treibenden Kräfte der Geschichte, weil sie als Kämpfe um die Herrschaft vom Prinzip der Naturbeherrschung eingefasst 4. Die Metamorphose des Subjekts durch die Instrumentalisierung der Vernunft 153 <?page no="154"?> 69 Ibid., S.-26. 70 Ibid. 71 Ibid., S.-28. 72 Ibid., S.-30. und in Bewegung gehalten werden. Horkheimer und Adorno leugnen nicht die Bedeutung des Klassenkampfes, holen aber sehr viel weiter aus als Marx und Engels, weil sie sehen, dass die Revolution von 1917 in neue Herrschaftsverhält‐ nisse mündete und die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Demokratie in weite Ferne rücken ließ. Es galt daher, das Herrschaftsprinzip als solches ins Auge zu fassen. Dieses Prinzip setzt sich im Laufe der Menschheitsgeschichte daher durch, weil sich der Mensch als Geist gezwungen sieht, sein Denken, seine Vernunft in ein Instrument der Naturbeherrschung zu verwandeln, um in einer übermäch‐ tigen und oft feindseligen Natur überleben zu können. Technisches Bewusstsein bildet den Kern dieser Instrumentalisierung: „Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital.“ 69 Hier wird deutlich, dass Adorno und Horkheimer die Klassenherrschaft im Sinne von Marx durchaus in ihre Problematik aufnehmen, jedoch um sie in den allgemeineren Kontext der Naturbeherrschung zu projizieren. Dazu heißt es in der Dialektik der Aufklärung: „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt.“ 70 Die Aufklärung, die auftrat, um die Mythen und das mythische Denken zu überwinden, übernimmt vom Mythos das naturbeherrschende Moment und verstrickt sich dadurch ins Mythische. Um die Natur zu beherrschen, verbleibt sie in dem fatalen naturwüchsigen Zyklus, in dem nur ein Gesetzt gilt: Fressen oder gefressen werden. Logik, Vermessung und Technik sind die wesentlichen Aspekte eines aufge‐ klärten instrumentellen Denkens, das der Naturbeherrschung dient, denn „was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig“. 71 Insofern ist die bürgerliche Gesellschaft als ganze eine Erbin der Aufklärung: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung.“ 72 Nietzsche könnte als ein Vorläufer dieses Gedankens gelesen werden. Auch er ist der Meinung, dass der Mensch „Ungleichnamiges komparabel“ machen muss, um inmitten einer bedrohlichen Natur zu überleben. Das begriffliche Klassifizieren und Subsumieren wird in der Fröhlichen Wissenschaft zur Über‐ 154 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="155"?> 73 F. Nietzsche, „Die Fröhliche Wissenschaft“, in: Werke, Bd. III (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S.-118-119. 74 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-29. 75 Ibid. lebensweisheit: „Wer zum Beispiel das ‚Gleiche‘ nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumtion war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet.“ 73 Es ist, als wollten die Autoren der Dialektik der Aufklärung Nietzsches Ge‐ dankengang fortsetzen und konkretisieren, wenn sie die formale Logik als einen Aspekt der subsumierenden, gleichmachenden Gesinnung dem instrumentellen Herrschaftsdenken zurechnen: „Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt.“ 74 Um die Auswirkungen an einem individuellen Fall zu veranschaulichen, analysieren Adorno und Horkheimer den im dritten Kapitel bereits kommen‐ tierten Odysseus-Mythos. Um den ihn und seine Gefährten bedrohenden Natur‐ gewalten trotzen zu können, muss der Held der Odyssee sich selbst Gewalt antun, indem er sich den Naturgewalten angleicht. „Das Schema der odysseischen List“, erklären die Autoren, „ist Naturbeherrschung durch solche Angleichung.“ Sie fügen hinzu, dass der Listige nur überlebt, indem er die mythischen Gesetze der Natur anerkennt und sich schließlich gezwungen sieht, seine Gefährten zu opfern, „welche Szylla aus dem Schiff reißt“. 75 Wird hier nicht der kapitalistische Unternehmer antizipiert, der sich ge‐ zwungen sieht, einen Teil seiner Belegschaft zu entlassen, zu „opfern“, um sich selbst und sein Unternehmen zu retten? Nun ist aber der Sprung vom antiken Mythos zum liberalen Unternehmer so groß, dass er als Grundlage einer soziologischen oder sozialphilosophischen Argumentation nicht in Frage kommt. Aus soziologischer Sicht wäre es notwendig zu zeigen, an welcher Stelle oder zu welchem Zeitpunkt in der sozialen Evolution sich das „instrumentelle Denken“ durchgesetzt hat. Dieser Zeitpunkt wird in der Kritischen Theorie nicht bezeichnet, und Horkheimer trägt nicht zur Lösung dieses Problems bei, wenn er - analog zum antiken Mythos - vom sich ankündigenden Prinzip der Naturbeherrschung in der Bibel spricht. „Die Ausbeutung der Natur“, erklärt er, „kann bis auf die ersten Kapitel der Bibel zurückverfolgt werden. Alle Kreaturen sollen dem Menschen untertan sein. Nur die Methoden und Manifestationen dieser Unterwerfung 4. Die Metamorphose des Subjekts durch die Instrumentalisierung der Vernunft 155 <?page no="156"?> 76 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Notizen 1949-1969, in: GS VI (Hrsg. A. Schmidt), Frankfurt, Fischer, 2008, 2. Aufl., S.-79. 77 Ibid., S.-27. 78 Ibid., S.-78. 79 Ibid., S.-28. haben sich geändert.“ 76 Das erinnert an den lateinischen Spruch „nihil novum sub sole“. Wenn es die Naturbeherrschung als Grundprinzip schon immer gab, wie soll sie jemals abgeschafft werden, zumal sie immer intensiver wirkt? Immerhin unterscheidet Horkheimer eine „objektive“ von einer „subjektiven Vernunft“ und beschreibt letztere wie folgt: „Diese Art von Vernunft kann subjektive Vernunft genannt werden. Sie hat es wesentlich mit Mitteln und Zwecken zu tun, mit der Angemessenheit von Verfahrensweisen an Ziele, die mehr oder minder hingenommen werden und sich vermeintlich von selbst verstehen. Sie legt der Frage wenig Bedeutung bei, ob die Ziele als solche vernünftig sind.“ 77 Horkheimers Argumentationen legen die Vermutung nahe, dass sich diese subjektive Vernunft zwar schon in der Antike und in der Bibel bemerkbar macht, aber vor allem in der Moderne und im Kapitalismus zum Durchbruch gelangt. Tatsächlich spricht Horkheimer vom „Übergang von der objektiven zur subjektiven Vernunft“ und lässt durchblicken, dass dieser Übergang mit der Säkularisierung, der Aufklärung und der Verwissenschaftlichung zusammen‐ hängt: „Aber der Übergang von der objektiven zur subjektiven Vernunft war kein Zufall, und der Prozeß der Entwicklung von Ideen kann nicht willkürlich in einem gegebenen Augenblick rückgängig gemacht werden. Wenn die subjektive Vernunft in Gestalt der Aufklärung die philosophische Basis von Glaubensüber‐ zeugungen aufgelöst hat, die ein wesentlicher Bestandteil der abendländischen Kultur gewesen sind, so war sie dazu imstande, weil diese Basis sich als zu schwach erwiesen hat.“ 78 Die „objektive Vernunft“ ist für den deutschen Idealismus charakteristisch, vor allem für Hegels Philosophie, die auch nach dem rationalen Charakter der Zwecke fragt und das Ganze nie aus dem Blick verliert. Zur „objektiven“ Variante der Vernunft heißt es bei Horkheimer: „Dieser Begriff von Vernunft schloß subjektive Vernunft niemals aus, sondern betrachtete sie als partiellen, beschränkten Ausdruck einer umfassenden Vernünftigkeit, von der Kriterien für alle Dinge und Lebewesen abgeleitet wurden. Der Nachdruck lag mehr auf den Zwecken als auf den Mitteln.“ 79 Mit dem Gegensatz zwischen subjektiver und objektiver Vernunft antizipiert Horkheimer nicht nur Habermas̕ Unterscheidung von „technischem“, „prakti‐ schem“ und „emanzipatorischem Erkenntnisinteresse“ (wobei das „technische 156 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="157"?> 80 Vgl. Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darm‐ stadt-Neuwied, Luchterhand (1969), 1972. 81 Vgl. J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1982. 82 Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.), Kap. V: „Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno“. In seiner Kritik der frühen Kritischen Theorie beanstandet Habermas die tendenzielle Ineinssetzung von Wissenschaft und instrumenteller Ver‐ nunft: S.-137-138. 83 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-49. 84 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: GS VI, op. cit., S.-109. 85 M. Horkheimer, „Vernunft und Selbsterhaltung“, in: GS V, op. cit., S.-334. Erkenntnisinteresse“ der subjektiven oder instrumentellen Vernunft entspricht), sondern auch den „Positivismusstreit“ 80 und die Habermas-Luhmann-Debatte 81 . In beiden Debatten wirft Habermas im Anschluss an die Dialektik der Aufklärung den kritischen Rationalisten und Luhmanns Systemtheorie vor, ausschließlich das Mittel-Zweck-Verhältnis vor Augen zu haben und die Frage nach der Vernunft der Zwecke auszublenden. Insofern ist eine Kontinuität in der Ent‐ wicklung der Kritischen Theorie feststellbar - trotz Habermas̕ Kritik an Adorno und Horkheimer in seinem Buch Der philosophische Diskurs der Moderne. 82 Diese Kontinuität gründet auf der Ablehnung des instrumentellen Herrschafts‐ denkens, das nicht nur die Natur, sondern auch den einzelnen Menschen unterwirft und ihn zwingt, den Imperativen des wirtschaftlich-technischen Erfolgs zu folgen. In der Dialektik der Aufklärung ist davon die Rede, dass „Subjekt und Objekt beide nichtig [werden]“. 83 Wie es zu dieser doppelten Vernichtung kommt, beschreibt Horkheimer ausführlich in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1967, engl. Eclipse of Reason, 1947): „Die ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte nehmen den Charakter blinder Naturmächte an, die der Mensch, um sich zu erhalten, beherrschen muß, indem er sich ihnen anpaßt.“ 84 Das Resultat ist ein abstraktes, atrophiertes Ich auf der einen Seite und eine auf reines Material reduzierte Natur auf der anderen. Zum Zerfall der Vernunft in eine „objektive“ und eine „subjektive“ oder instrumentelle bemerkt Horkheimer in Vernunft und Selbsterhaltung: „Der Zerfall der Vernunft und der des Individuums sind eines.“ 85 Dies bedeutet, dass die sich verselbständigende und alles beherrschende instrumentelle Vernunft schließlich auch das individuelle Subjekt unterwirft, zu einem Instrument im Prozess der Naturbeherrschung degradiert. Dazu heißt es in der Dialektik 4. Die Metamorphose des Subjekts durch die Instrumentalisierung der Vernunft 157 <?page no="158"?> 86 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-51. 87 M. Horkheimer, „Kritische Theorie und Theologie“ (Dezember 1968), in: GS XIV, op. cit., S.-508. 88 K. Lenk, Von Marx zur Kritischen Theorie, op. cit., S.-131. der Aufklärung: „Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen.“ 86 Obwohl der die Ökonomisierung der Gesellschaft begleitende technische Fortschritt Vorteile bietet und Erleichterungen mit sich bringt, unterwirft er schließlich die Individuen seinen Regeln und seinem Rhythmus. In einer seiner nachgelassenen Schriften zeigt Horkheimer, wie das Mittel letztlich zum Zweck wird: „Schließlich beherrscht das Mittel, angeblich zur besseren Versorgung der Menschen und der Verkürzung der Arbeit bestimmt, ihr ganzes Leben. Das technische Ziel wird erreicht. Durch die Automatisierung des Lebensprozesses der Gesellschaft wird unglaublich viel an Not und Schmerzen abgeschafft. Der Preis, der dafür bezahlt wird, ist das Verschwinden alles dessen, was das Leben bisher lebenswert gemacht hat.“ 87 Man denke an die voneinander isolierten Angestellten, die reihenweise vor Computerschirmen sitzen, an Kassiererinnen in Supermärkten, die Reihen von Kassen bedienen, ohne mit den Waren, die sie verkaufen, vertraut zu sein (im Gegensatz zu traditionellen Verkäuferinnen). Man mag auch an die Angestellten einer Chicagoer Firma denken, die ihr (ohnehin auf 45 Minuten reduziertes) Mittagessen ausfallen lassen, um an einer Videokonferenz mit ihren New Yorker Kollegen teilnehmen zu können, die das Mittagessen wegen der Zeitverschiebung schon hinter sich haben. Die Herrschaft der „subjektiven“, instrumentellen Vernunft hat nicht nur ein Leben auf Sparflamme zur Folge, sondern verbannt auch Kritik und den kritischen Intellektuellen, der Muße haben muss, um jenseits vom Betrieb an Sinn und Zweck zu denken, an den Rand der Gesellschaft. Über Adorno und Horkheimer schreibt Kurt Lenk: „Das Erlöschen alles nicht zweckgebundenen Denkens, der Triumph der instrumentellen Vernunft über den kritischen Geist der Aufklärung bedeuten für sie die Infragestellung des Sinnes von Kultur und Zivilisation überhaupt.“ 88 Wie schon im vorigen Kapitel stellt sich hier die Frage nach der Alterna‐ tive zur „subjektiven“ oder instrumentellen, naturbeherrschenden Vernunft. In der Dialektik der Aufklärung antizipieren Adorno und Horkheimer Adornos Arbeiten zur Ästhetik, wenn sie bemerken, „mit fortschreitender Aufklärung [hätten] es nur die authentischen Kunstwerke vermocht, der bloßen Imitation 158 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="159"?> 89 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-40. 90 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: GS VI, op. cit., S.-179. 91 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-41. dessen, was ohnehin schon ist, sich zu entziehen“. 89 Konkreter drückt es Horkheimer in der Kritik der instrumentellen Vernunft aus, wenn er erklärt: „Die Philosophie ist mit der Kunst darin einig, daß sie vermittels der Sprache das Leiden reflektiert und es damit in die Sphäre der Erfahrung und Erinnerung überführt.“ 90 In diesen Erinnerungsprozess reihen sich auch die Verluste ein, die die Menschen im Verlauf eines unaufhaltsamen Fortschritts erleiden: Verluste im Bereich der Sprachbeherrschung, der Bildung, der individuellen Autonomie. Das Ausweichen der Kritischen Theorie in den Bereich der Kunst und Horkheimers religiös motivierte „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ mögen den Eindruck von Ohnmacht erwecken. Doch die Krise der postmodernen Wirtschaftsgesellschaft und ihrer technischen Zivilisation mag ein Indiz dafür sein, dass die Naturbeherrschung an ihre Grenzen stößt und dass Horkheimers und Adornos Kritik neben ihren nostalgischen durchaus ihre realistischen Seiten hat. Denn in der Dialektik der Aufklärung wird zur Industriegesellschaft auch angemerkt: „Natur soll nicht mehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrscht werden.“ 91 Die zeitgenössische Gesellschaft scheint sich nicht mehr ohne Bedenken nach dieser Maxime zu richten. Der Slogan der „Nachhaltigkeit“ evoziert eher einen Willen zur Angleichung als zu blinder Herrschaft. Sollte er symptomatisch für eine neue Richtung der gesellschaft‐ lichen Entwicklung sein, dann hat die Kritische Theorie diese Richtung in Ansätzen vorgezeichnet. 5. Übergang zur Postmoderne I: Gilles Lipovetskys „L’Ere du vide“ und die Instrumentalisierung des Körpers Die Tatsache, dass sowohl Sozialismus als auch Spätkapitalismus gezwungen sind, die Grenzen des Wirtschaftswachstums zu erkennen und ihr Wirtschaften allmählich (möglicherweise aber zu spät) nachhaltiger, naturfreundlicher zu gestalten, bedeutet keineswegs, dass die von der Kritischen Theorie diagnos‐ tizierten Folgen der Naturbeherrschung verschwinden. Im Gegenteil: Neuere soziologische Analysen des Individualismus lassen eine immer intensivere 5. Übergang zur Postmoderne I 159 <?page no="160"?> 92 Lipovetsky bezeichnete in den 1980er Jahren die zeitgenössische Gesellschaft als „postmodern“, ging aber in den 90er Jahren dazu über, sie als „hypermodern“ zu bezeichnen. Aus terminologischen Gründen bezieht sich dieser Text ausschließlich auf seine Analysen der Postmoderne. 93 M. Horkheimer, „Vernunft und Selbsterhaltung“, in: GS V, op. cit., S.-325. 94 Ibid., S.-342. Herrschaft über das Selbst erkennen, die nicht dem unmittelbaren Überleben, sondern dem narzisstisch besetzten Status des Einzelnen in der Gesellschaft gilt. Autoren, die sich der Postmoderne (später der „Hypermoderne“) 92 zurechnen wie Gilles Lipovetsky, knüpfen zwar nicht an die Kritische Theorie Horkheimers oder Adornos an, greifen aber Themen auf, die auch die Werke der Kritischen Theorie durchziehen. Allerdings werden diese Themen auf zeitgenössische, postmoderne Verhältnisse bezogen und radikalisiert. Wenn Horkheimer etwa in Vernunft und Selbsterhaltung bemerkt, „das Individuum [habe] sich Gewalt an‐ zutun“ 93 , so meint er vor allem das Individuum, das sich den Arbeitsbedingungen anpassen muss, die von der sich beschleunigenden technischen Entwicklung gestaltet werden. Er zielt u. a. auf die Automatisierung, von der weiter oben die Rede war. An anderen Stellen seines Werks antizipiert er jedoch die zeitgenössischen Verhältnisse, in denen Körper in Übereinstimmung mit den Marktgesetzen in Waren verwandelt werden, deren Tauschwert in den Augen anderer gesteigert werden soll: „In der Massengesellschaft werden die Geschlechter darin nivel‐ liert, daß sie beide zu ihrem Sexus als zu einer Sache sich verhalten, über die sie kalt und illusionslos, anpreisend und vorsichtig verfügen. Das Mädchen sucht so schlau wie möglich in der Konkurrenz mit anderen abzuschneiden. Der Flirt dient dem Prestige mehr als der künftigen Lust. Es faßt mit Kant sein Geschlecht als Eigenschaft, die Tauschwert hat […].“ 94 Diese Passage wiederholt zunächst das mythische Szenario aus der Dialektik der Aufklärung, in dem Odysseus Verzicht leisten muss, um zu überleben. Um auf dem Liebesmarkt zu überleben, sieht sich das Mädchen genötigt, Prestige aufzubauen und die Lust zu verschieben. Zugleich antizipiert der Text aber die postmodernen Verhältnisse, in denen Lust und Liebe tendenziell verschwinden, weil sich in einer stark individualisierten, atomisierten Gesellschaft ein extremer Narzissmus durchgesetzt hat, der fast ausschließlich dem Aufbau des Prestiges dient und sich an den bewundernden Blicken der Anderen - also am Tauschwert - orientiert, ohne mit dem sozialen Umfeld sprachlich zu kommunizieren. An diesem Punkt setzen die Analysen von Gilles Lipovetsky ein, die eine Gesellschaft zum Gegenstand haben, in welcher der „Neonarzissmus“, der einer Steigerung der Subjektivität dienen sollte, schließlich zur Zerstörung des 160 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="161"?> 95 G. Lipovetsky, L’Ere du vide. Essai sur l’individualisme contemporain, Paris, Gallimard (1983), 1993, S.-303. 96 Zum malignen Narzissmus, in dem der Andere dem Narzissten als Vorwand dient, vgl. P. V. Zima, Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen, Francke, 2009, S.-97. 97 G. Lipovetsky, L’Ere du vide, op. cit., S.-78. 98 Vgl. R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin, Berlin Verlag, 2013 (2. Aufl.), S.-393. 99 Vgl. G. Lipovetsky, L’Ere du vide, op. cit., S.-91-92. 100 Ibid., S.-159. individuellen Subjekts führt. Hier ist Lipovetskys Fazit als Zeitdiagnose: „Indem die postmoderne Gesellschaft den Individualismus hervorhebt und dessen Inhalt durch die Logik des Narzissmus ändert, steigert sie seine Tendenzen zur Selbstzerstörung.“ 95 Lipovetsky beschreibt auch diese Entwicklung, die zur Selbstverstümme‐ lung, ja sogar zur Selbstvernichtung und letztlich zu einem Anwachsen der Selbstmordraten führt. Es ist eine Entwicklung, die schon in der Dialektik der Aufklärung skizziert wird, ohne dort jedoch mit der postmodernen Nar‐ zissmus-Problematik verknüpft zu werden. Sie weist bei Lipovetsky drei As‐ pekte auf: 1. die Radikalisierung des Individualismus in einer Postmoderne, die die Selbstverwirklichung betont und den Egozentrismus begünstigt, zugleich aber selbstzerstörerische Impulse freisetzt; 2. die Selbstisolierung vom Anderen, dessen bewundernde Blicke dem Narzissten lediglich als Spiegel (als Vorwand) 96 dienen, ihn zugleich aber dem zersetzenden Urteil der Anderen und deren ver‐ änderlicher Nachfrage unterwerfen; 3. das Verschwinden verbindlicher sozialer, politischer und moralischer Wertsetzungen und Normen, die für Kommunika‐ tion und Solidarität mit Anderen wesentlich sind. Alle drei Punkte werden auch von der Kritischen Theorie berührt. Mehr noch, diese Theorie ist zum Zeitpunkt ihrer individualistischen Wende, wie sich gezeigt hat, aus dem Zerfall des (proletarischen) Klassenbewusstseins hervorgegangen. Bei Lipovetsky werden alle drei Punkte in den postmodernen Kontext projiziert und radikalisiert. Zum Zerfall des politischen Kollektivbewusstseins (Punkt 3) heißt es in L’Ere du vide: „So hat das Selbst-Bewusstsein (autoconscience) das Klassenbewusst‐ sein, das narzisstische Bewusstsein das politische Bewusstsein ersetzt […].“ 97 Wie Richard Sennett, der zeigt, wie sich das postmoderne Individuum von der Öffentlichkeit abwendet und diese zerfallen lässt 98 , beschreibt Lipovetsky, der sich auf Sennett beruft 99 und von einer „démotivation pour la chose publique“ 100 spricht, eine soziale Situation, in der Narzissten in einem Hobbesschen „Krieg aller gegen alle“ gegeneinander antreten und den letzten Rest von Solidarität 5. Übergang zur Postmoderne I 161 <?page no="162"?> 101 Ibid., S.-97-98. 102 Vgl. Y. Boisvert, Le Monde postmoderne. Analyse du discours sur la postmodernité, Paris, L’Harmattan, 1996, S.-86-88. 103 G. Lipovetsky, L’Ere du vide, op. cit., S.-179. 104 Ibid., S.-160. 105 Ibid., S.-244. zerfallen lassen: „Die menschlichen, öffentlichen und privaten, Beziehungen haben sich in Herrschaftsbeziehungen verwandelt, in ein Konfliktverhalten, das auf kühlkalkulierter Verführung und Einschüchterung gründet.“ 101 Die Folgen der Naturbeherrschung, die Adorno und Horkheimer vorwiegend auf Wirtschaft, Politik und Kulturindustrie beziehen, haben hier die Privatsphäre und alle menschlichen Beziehungen erfasst - auch die intimsten. Die konkurrierende und oft feindselige Ausrichtung auf die Anderen ist im Wesentlichen eine Ausrichtung auf Markt, Mode und Konsum, wie Yves Boisvert im Zusammenhang mit Lipovetsky bemerkt. 102 Die „Logik der Leere“, erklärt Lipovetsky, ist die „der Mode und des Marketing“ („de la mode et du marketing“). 103 Angesichts dieser ständig wechselnden Orientierung des Einzelnen an den Marktgesetzen, denen alle Modeerscheinungen unterliegen, nimmt es nicht wunder, dass das individuelle Subjekt schließlich zerfällt (Punkt 2). Sein Zerfall ist für den Neonarzissmus charakteristisch: „Der Neonarzissmus ist von der Entzweiung, vom Zerfall der Persönlichkeit geprägt, sein Gesetz ist die friedliche Koexistenz der Gegensätze.“ 104 Dieser Zerfall hängt auch damit zusammen, dass der neue Narzissmus alle Libido in den Körper und nicht in das Ich oder in Freuds stets sozialisiertes Ichideal investiert. Er ist labil geschichtet, weil die Körperkultur immer neuen Moden folgt und als Marktphänomen von stabilisierenden sozialen Wertungen und Normen relativ unabhängig ist. Sie gehorcht den auf schnellen Gewinn ausgerichteten Marktgesetzen. Dazu bemerkt Lipovetsky: „Die Mode und ihre Zyklen haben sich des Narzissmus selbst bemächtigt.“ 105 Als einzige Konstante bleibt das Ideal des stets jungen, gesunden, durch‐ trainierten Körpers, dem kosmetische Industrie und Body Shop die ewige Wiederkehr inmitten neuer Produkte und Therapien versprechen. Doch dieser Körper ist nicht umsonst zu haben; seine Permanenz erfordert Anstrengung, Selbstdisziplin und die Art von Selbst-Beherrschung, die in der Dialektik der Aufklärung analysiert wird (Punkt 1). Kurzum: „Das Individuum hat sich Gewalt anzutun“, wie Horkheimer es ausdrückt (s.-o.). Wie diese Selbstvergewaltigung aussieht, schildert Lipovetsky an verschie‐ denen Stellen seiner Studie. Er spricht von „Schlankheitskuren“, „verschiedenen 162 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="163"?> 106 Ibid., S.-160. 107 D. Le Breton, Anthropologie du corps et modernité, Paris, PUF (1990), 2011, S.-236. 108 Vgl. den Band von J. McDougal et al., Anorexie, addictions et fragilités narcissiques, Paris, PUF, 2002 (2. Aufl.) - vor allem den Beitrag von V. Marinov, „Le narcissisme dans les troubles de conduites alimentaires“. 109 D. Le Breton, Anthropologie du corps et modernité, op. cit., S.-239. 110 Ibid., S.-228. 111 R. Wiggershaus, Max Horkheimer, op. cit., S.-154. Sportarten“ und „Psychotherapien“. 106 Sehr viel expliziter ist der Körpersozio‐ loge David Le Breton, der zeigt, was Herrschaft über den Körper (als Natur) in der heutigen Zeit bedeuten kann. Wie Lipovetsky stellt Le Breton fest, dass in einer Gesellschaft des radikalen Individualismus und der Vereinsamung der Narzisst sich einredet, niemandem etwas schuldig und sein eigener Schöpfer zu sein: „Er will niemandem etwas verdanken. Er treibt im Fanatismus der Selbstzeugung.“ 107 Dieser Fanatismus schreckt auch vor Selbstverstümmelung nicht zurück. Während die Frau die Schlankheitskur bis zur Magersucht treibt und das Risiko eingeht, ihrem Körper irreparablen Schaden zuzufügen 108 , versuchen Männer ihren Körper nach dem von der Werbung propagierten Männlichkeitsideal zu formen. Le Breton berichtet, dass zahlreiche Amerikaner Steroide einnehmen, um ihre Muskulatur zu stärken und um ihren Brustkorb eindrucksvoller zu gestalten. Einige nehmen sogar Operationen in Kauf, um ihren Penis zu ver‐ größern: „Die Operation ist der Preis, den man zahlt, um einem bestimmten Männlichkeitsbild zu entsprechen, bei dem es eher um das Erscheinen in den Augen der anderen (Männer) geht als um die Beziehung zur Frau.“ 109 Le Breton bestätigt hier zwei Aspekte von Lipovetskys Zeitdiagnose: die narzisstische Selbstisolierung (Punkt 2) und die Atrophie sozialer Kommunikation (Punkt 3). Zu diesem Punkt heißt es in Le Bretons Buch Anthropologie du corps et mo‐ dernité: „Man spricht umso mehr von Kommunikation, Kontakt, Wärme, Wohl‐ befinden, Liebe, Solidarität und Authentizität, wie diese Werte aus dem sozialen Feld verschwinden.“ 110 Hier kehrt die Argumentation zu ihrem Ausgangspunkt zurück: Inmitten von postmoderner Individualisierung und Vereinsamung, die mit dem Zerfall des bürgerlichen Wertsystems einhergeht, erfasst das Prinzip der Naturbeherrschung auch die intimsten sozialen und psychischen Bereiche. Die Herrschaft des Menschen über die Natur wird zur Herrschaft über die Natur (den Körper) eines jeden Individuums: zur Selbst-Beherrschung. Zu den Folgen dieser Selbst-Beherrschung bemerkt Rolf Wiggershaus im Zusammenhang mit Horkheimer: „Der Spaziergang wird in Bewegung, die Speise in Kalorien verwandelt. So bleibt der menschliche Körper ‚die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird‘.“ 111 Hier wird die Kritik postmoderner 5. Übergang zur Postmoderne I 163 <?page no="164"?> 112 A. Lorenzer, „Psychoanalyse als kritische Theorie“, in: A. Schmidt, N. Altwicker (Hrsg.), Max Horkheimer heute, op. cit., S.-270. 113 G. Lipovetsky, L’Ere du vide, op. cit., S.-179. Autoren wie Lipovetsky und Le Breton antizipiert. Allerdings lässt diese Kritik erkennen, wie sehr sich die Krise des menschlichen Zusammenlebens verschärft hat. Was Horkheimer noch als Tendenz beschreibt, wurde zum „Fazit der Beschädigung“, wie Adorno sagen würde. Lipovetsky argumentiert durchaus im Sinne der Kritischen Theorie und würde wahrscheinlich auch mit Alfred Lorenzer übereinstimmen, der im Zu‐ sammenhang mit Horkheimer schreibt: „Anpassung an schlechte Realität darf nicht als Persönlichkeitsleistung vorgestellt werden, sie muß als Beschädigung erkannt und auch strukturell ausgewiesen werden.“ 112 Als Autor der Postmoderne oder Hypermoderne setzt Lipovetsky zwar einige Gedankengänge der Kritischen Theorie fort und bestätigt auch ihre heutige Relevanz, verzichtet jedoch auf die Frage nach dem „ganz Anderen“. Die „au‐ thentische Kunst“, die bei Horkheimer und Adorno dieses Andere evoziert, wird bei ihm - ähnlich wie bei Bauman (vgl. Kap. II. 4) - zum integralen Bestandteil des kommerzialisierten Betriebs. „Die Kunst, die Mode, die Werbung hören auf, sich radikal zu unterscheiden“ 113 , erklärt Lipovetsky und verabschiedet - zumindest implizit - die Hoffnungen der Spätmoderne auf eine Überwindung der herrschenden Verhältnisse mit Hilfe der Kunst. Im letzten Abschnitt soll gezeigt werden, dass auch der Soziologe Michel Maf‐ fesoli in mancher Hinsicht die Gedankengänge der Kritischen Theorie fortsetzt - jedoch nur, um sie gegen die Intentionen und Hoffnungen der spätmodernen Kritiker zu wenden. Seine Kritik am prometheischen Herrschaftsprinzip, die er nicht nur mit Adorno und Horkheimer, sondern vor allem auch mit Marcuse (vgl. Kap. V) teilt, mündet in die Apologie einer Postmoderne, die das principium individuationis negiert und das Aufgehen des Einzelnen im Gruppenkollektiv feiert. Der liberale Individualismus, den Adorno und Horkheimer teils kritisch, teils nostalgisch betrachten, wird von Maffesoli schlicht desavouiert. 6. Übergang zur Postmoderne II: Michel Maffesolis Soziologie der „Stämme“ oder die Verabschiedung der individuellen Autonomie Vom liberalen Unternehmer und Vater heißt es in einem von Horkheimers Aufsätzen aus den Jahren 1960: „Er war selbst sein Herr, und eben deshalb brauchte seine Herrschaft nicht Tyrannei zu sein. Im günstigen Fall hatte er in 164 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="165"?> 114 M. Horkheimer, „Der Mensch in der Wandlung seit der Jahrhundertwende“, in: ders., Gesellschaft im Übergang, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1972, S.-95. 115 M. Horkheimer, „Ende des Individuums (I)“, in: GS XIV, op. cit., S.-128. 116 Ibid., S.-128-129. seinem Wesen Autonomie, Entschlußkraft, Erinnerung, Weitblick dem Kinde dargestellt […].“ 114 Dieser durchaus euphorischen Einschätzung des liberalen Individualismus entspricht symmetrisch Horkheimers Befürchtung, dass die Autonomie des Einzelnen in dem sich ausbreitenden Kollektivgeist untergehen könnte. In einer Notiz aus den 1960er Jahren mit der Überschrift „Ende des Individualismus“, in der vom „Rückgang des autonomen, ja des individuellen Subjekts“ 115 die Rede ist, heißt es auch: „Mehr und mehr ausschließlich werden die Emotionen auf die Gruppe bezogen, der einer zugehört. […] Schmerz bleibt Schmerz, Lust bleibt Lust, doch sie wird dem Element des Stammes zugeordnet, einem Exemplar, nicht einem eigenen Subjekt.“ 116 Wer sich für die Übergänge von der Spätmoderne zur Postmoderne interes‐ siert und sowohl Kontinuitäten als auch Brüche beobachtet, wird feststellen, dass Michel Maffesoli in seinem Buch Le Temps des tribus. Le déclin de l’indivi‐ dualisme dans les sociétés postmodernes (1988, 2000) ebenso wie Horkheimer von Stämmen (tribus) spricht und davon, dass Individuen als Angehörige von Stämmen ihre Autonomie einbüßen, diesen Vorgang aber als postmoderne Entwicklung begrüßt. Während Lipovetsky die Gedankengänge der Kritischen Theorie fortsetzt und sie zugleich radikalisiert, indem er zeigt, wie das Herr‐ schaftsprinzip als Selbst-Beherrschung und Selbst-Kontrolle das Subjekt in Leistungswahn und Anorexie zerstört, wendet Maffesoli die Beobachtungen und Argumente, die ihn mit Adorno und Horkheimer verbinden, gegen die Kritische Theorie. Er bejaht, was die Frankfurter Denker befürchten und verurteilen. Maffesolis Argumentation bewegt sich zwischen zwei mythischen Polen, die zugleich zwei unvereinbare Prinzipien bezeichnen: zwischen Prometheus und Dionysos. Während Prometheus für Aufklärung, Leistung und Individualismus steht, verkörpert Dionysos das Nichtrationale, Libidinöse und Überindividuelle (Kollektive). Maffesoli identifiziert Prometheus und das prometheische Prinzip mit der ausgehenden Moderne und Dionysos mit der anbrechenden Postmo‐ derne, die seiner Meinung nach eine Befreiung vom modernen Arbeitsethos und dessen Leistungsprinzip verspricht. Prometheus steht nicht nur für das kapita‐ listische, sondern auch für das sozialistische Arbeitsethos und die proletarische Revolution, die den Arbeitenden und der Arbeit zum Sieg verhelfen soll, indem sie den Menschen das göttliche Feuer als Licht- und Energiequelle bringt. So sieht Maffesoli die zeitgenössische Auseinandersetzung zwischen Mo‐ derne und Postmoderne, Prometheus und Dionysos: „Dionysos ist ein chtoni‐ 6. Übergang zur Postmoderne II 165 <?page no="166"?> 117 M. Maffesoli, Le Rythme de la vie. Variation sur les sensibilités postmodernes, Paris, La Table Ronde, 2004, S.-70. 118 M. Maffesoli, L‘Ombre de Dionysos. Contributions à une sociologie de l’orgie, Paris, Klincksieck, 1985, S.-37. 119 M. Maffesoli, La Part du diable. Précis de subversion postmoderne, Paris, Flammarion. 2002, S.-246. 120 Vgl. P. V. Zima, Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Mon‐ taigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2024 (2. Auflage), Kap. IV. 121 H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, in: Schriften, Bd. V, Springe, Zu Klampen, 2004, S.-140. 122 Ibid., S.-141. 123 Vgl. F. Schlegel, Lucinde. Ein Roman, Frankfurt, Insel, 1985, S. 50: „Nicht so dieser Prometheus, der Erfinder der Erziehung und Aufklärung. Von ihm habt ihr es, daß ihr nie ruhig sein könnt und euch immer so treibt […].“ scher, irdischer Gott, ein verwurzelter Gott, ein Gott des Genusses. Er symbo‐ lisiert die Bejahung des Lebens.“ 117 Angesichts solch positiver Eigenschaften hat Prometheus in dem von Maffesoli inszenierten Zweikampf kaum noch Chancen: „Der Verdacht lastet auf Prometheus. […] Wie die Thematik der Befreiung hat die des ‚Energismus‘ ausgedient.“ 118 Während sich die „Befreiung“ auf die gescheiterten Revolutionen bezieht, bezieht sich der „Energismus“ sowohl auf den Kapitalismus als auch auf den Sozialismus, die sich beide den wirtschaftlichen Wachstumsraten verschrieben haben. Angesichts dieser semantischen Zweiteilung der Argumentation kommt Maffesolis Prognose gar nicht unerwartet: „Im andauernden Tanz der Götter schickt sich Prometheus an, dem aufbrausenden Dionysos Platz zu machen.“ 119 Abermals berührt sich hier ein postmoderner Diskurs (Maffesoli selbst tritt als postmoderner Soziologe auf) mit dem Diskurs der Kritischen Theorie. Denn auch Herbert Marcuse (vgl. Kap. V) distanziert sich, in romantischer Tradition stehend 120 , vom prometheischen Prinzip, wenn er in Eros and Civilization (1955, Triebstruktur und Gesellschaft, 1968) vorschlägt, Prometheus als Vertreter des kapitalistischen Unternehmertums und des Leistungsprinzips durch Narziss und Orpheus abzulösen: „Prometheus ist der Archetypus des Helden des Leistungs‐ prinzips. Und in seiner Welt erscheint Pandora, das weibliche Prinzip, Sexualität und Lust, als Fluch - zersetzend und zerstörend.“ 121 Ergänzend heißt es etwas später: „Orpheus und Narziss stehen für eine sehr andere Wirklichkeit […].“ 122 Es ist die Wirklichkeit der Naturnähe, des weiblichen Eros und der Kunst, die auch von Friedrich Schlegel beschworen wird. 123 An eine etwas andere Wirklichkeit denkt Maffesoli, wenn er die antiprome‐ theische, dionysische Postmoderne mit den Stämmen, den Randgruppen der Gesellschaft, assoziiert, zu denen er vor allem die Rocker, die Techno-Gruppen 166 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="167"?> 124 Zum postmodernen Partikularismus vgl. F. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990 (2. Aufl.), S. 118. 125 M. Maffesoli, La Part du diable, op. cit., S.-64. 126 M. Maffesoli, Du Nomadisme. Vagabondages initiatiques, Paris, La Table Ronde, 2006, S.-140. und die Hippies zählt. In ihrem Widerstand gegen Individualismus, Rationa‐ lismus und Universalismus stehen sie für den postmodernen Partikularismus 124 , das Nichtrationale und das libidinös besetzte Kollektiv. Dieses Kollektiv unterscheidet sich - aus Maffesolis Sicht - wesentlich von den Jugendbewegungen der späten 60er Jahre, die größtenteils im Namen des Marxismus, des Maoismus und der Revolution handelten. Die neuen „Stämme“ streben nicht nach der Überwindung bestehender Verhältnisse, sondern revol‐ tieren gegen alle Arten der Ordnung und leben im Übrigen in den Tag hinein: „Während die Jungen der sechziger und siebziger Jahre die Macht der Älteren herausforderten, um ihren Platz einzunehmen, nehmen die jungen Barbaren unserer Städte nicht an Wahlen teil, streben nicht nach Listenplätzen. Den Er‐ mahnungen der Erwachsenen setzen sie die Passivität von Rauchern entgegen, wachen nur gelegentlich auf, um an grausamen Auseinandersetzungen mit der Polizei teilzunehmen.“ 125 Diese Textpassage ist insofern symptomatisch, als sich Maffesoli in ihr nicht nur von der prometheischen Moderne der „Älteren“ distanziert, sondern auch von den Revolutionären der 1968er Generation, denen er unterstellt, dass sie lediglich die freiwerdenden Plätze ihrer Eltern einnehmen wollten. Hiermit deutet er an, dass die Revolutionäre, die im Namen des Marxismus und des Sozialismus agierten, in der prometheischen Tradition verharrten. Im Gegensatz zu ihnen peilen die neuen „Stämme“ keine neue Ordnung an, sondern folgen einem dionysischen Vitalismus, der als einziges Prinzip das carpe diem kennt. Dem „Vitalismus“ ist bei Maffesoli der „leidenschaftliche Nomadismus“ verwandt, der die Gruppen der Hippies, der Rocker und der Techno-Fans charakterisiert: „Einer dieser Werte ist wohl die Rückkehr des leidenschaftli‐ chen Nomadismus, eines Mittels, sich der tödlichen Sklerose des Institutionali‐ sierten zu entziehen.“ 126 Diese Beschreibung der Randgruppen mag abermals an Marcuses Aufwertung marginaler Gruppierungen und Protestbewegungen im Spätkapitalismus erinnern, zumal bei Maffesoli - ähnlich wie bei Marcuse - der „vernünftige Erwachsene“ als Vertreter des prometheischen Prinzips zur Zielscheibe der Kritik wird. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die auf den Liberalismus zurück‐ gehende individuelle Autonomie in Maffesolis Postmoderne pauschal negiert wird. Der Untertitel von Maffesolis bekanntestem Buch Le Temps des tribus 6. Übergang zur Postmoderne II 167 <?page no="168"?> 127 M. Maffesoli, Le Temps des tribus. Le déclin de l’individualisme dans les sociétés postmo‐ dernes, Paris, La Table Ronde (1988), 2000, S.-174. 128 M. Maffesoli, Le Réenchantement du monde. Une éthique pour notre temps, Paris, Perrin, 2009, S.-67. 129 M. Maffesoli, Le Temps des tribus, op. cit., S. X. kündigt die Abkehr von den Gesellschaftskritiken Adornos, Horkheimers und Marcuses an: Le déclin de l‘individualisme dans les sociétés postmodernes (Der Niedergang des Individualismus in postmodernen Gesellschaften). In diesem Buch erklärt Maffesoli, „dass die individuelle Autonomie, die nicht länger die treibende Kraft des Individuums ist, auf den ‚Stamm‘ übergeht, die kleine gemeinschaftliche Gruppe“. 127 In einem wesentlich später erschienenen Werk, in Le Réenchantement du monde (2007), bestätigt er diese These, wenn er erklärt, „dass das Individuum kaum zählt, während die Gruppe aufgewertet wird“. 128 Schon der Titel des Buches deutet an, dass er diese Aufwertung bejaht: Die Wiederverzauberung der Welt. Solche Befunde, die an zahlreichen Stellen von Maffesolis Werk anzutreffen sind, erinnern an die Beobachtungen Horkheimers und Adornos. Sie gehören je‐ doch einem ganz anderen Diskurs an, in dem zusammen mit dem Rationalismus und dem Universalismus der Individualismus der liberalen Ära abgewertet und für obsolet erklärt wird. Aufgewertet werden die revoltierenden Jugendgruppen, die das sich (in Maffesolis Diskurs) durchsetzende dionysische Bewusstsein der Postmoderne ankündigen. Schon im dritten Kapitel mag deutlich geworden sein, dass sich postmoderne Theorien punktuell mit der Kritischen Theorie thematisch und argumentativ berühren (etwa in Lyotards Kritik an Adorno), aber nur um die Argumente der Frankfurter Philosophen gegen sie zu wenden. Ein Beispiel ist Maffesolis Kritik am prometheischen Prinzip, die ihn scheinbar mit Marcuse verbindet. Während aber Marcuse trotz seiner Kritik an diesem Prinzip an der Autonomie und Entscheidungsfreiheit des Individuums festhält, lässt Maffesoli Individualität im dionysischen Rausch einer vitalistischen Postmoderne aufgehen. Charakte‐ ristisch für seine Betrachtungsweise ist eine Wortfolge aus dem Vorwort zu Le Temps des tribus: „le sentiment de fraternité, la nostalgie d’une fusion pré-indi‐ viduelle“ („das Gefühl der Brüderlichkeit, die Nostalgie einer vor-individuellen Verschmelzung“). 129 So sehen es Marcuse und Horkheimer nicht. Sie bewegt eine ganz andere Nostalgie: die Sehnsucht nach dem autonomen Individuum der liberalen Ära. Dazu heißt es in einem Aufsatz Marcuses über „Philosophie und kritische Theorie“: „Immerhin bewahrte die Sorge um das Individuum den Idealismus lange davor, der Aufopferung des Individuums im Dienste falscher Kollektiv‐ 168 IV. Von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli <?page no="169"?> 130 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 (9. Aufl.), S.-109. 131 M. Horkheimer, „Mit dem Markt verschwindet der Logos“, in: GS XIV, op. cit., S.-55. 132 J.-F. Lyotard, Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S.-115. 133 M. Foucault, „La torture, c’est la raison“, in: ders., Dits et écrits, Bd. III (Hrsg. D. Defert, F. Ewald), Paris, Gallimard, 1994, S.-395. itäten seinen Segen zu geben.“ 130 Horkheimer ergänzt den gesellschaftlichen Kontext, in dem „die Sorge um das Individuum“ noch im Mittelpunkt des maß‐ geblichen Denkens stehen konnte: „Cicero sprach auf dem Forum, dem Markt. Mit dem Schwinden des Marktes, mit seiner Ersetzung sei es durchs Monopol, sei es durch eine diktatorische Bürokratie schwindet auch die Vernunft als Organ des Einzelnen.“ 131 Die Postmoderne bricht mit dieser Art von Denken, das Individualität und Vernunft als Einheit betrachtet. Sie verkündet mit Lyotard, dass die Vernunft „vielfältig“ ist („la raison est multiple“) 132 , betrachtet mit Foucault das Indivi‐ duum und seine Vernunft als Produkte machtvermittelter Systeme und unter‐ wirft beide der Disziplin und der Folter: „La torture, c’est la raison“ 133 , heißt es bei Foucault. Bei Maffesoli werden Individualismus, individuelle Autonomie und Vernunft einem dionysischen Vitalismus geopfert, der in einem neuen „Stammesbewusstsein“ zum Ausdruck kommt. Postmoderne Denker gehen zwar von einigen Prämissen der spätmodernen Kritischen Theorie aus, deuten sie aber radikal um und brechen mit der Moderne, ihrem Individualismus und ihrem Vernunftbegriff. 6. Übergang zur Postmoderne II 169 <?page no="171"?> 1 Vgl. D. Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikani‐ schen Charakters, Darmstadt-Berlin-Neuwied, Luchterhand, 1956. 2 Vgl. P. A. Baran, Paul M. Sweezy, Monopoly Capital. An Essay on the Economic and Social Order, Harmondsworth, Penguin, 1966, Kap. VIII: „On the History of Monopoly Capitalism“. V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard: Der Verlust der individuellen Autonomie und der „zweiten Dimension“ Im Übergang von der Spätmoderne Herbert Marcuses zur Postmoderne Michel Maffesolis und Jean Baudrillards geht nicht nur die individuelle Autonomie der liberalen Ära verloren, sondern auch die „zweite Dimension“, deren Ver‐ schwinden Marcuse in seinem bekanntesten Buch Der eindimensionale Mensch (1964, dt. 1967) befürchtet. Im Folgenden soll deutlich werden, dass Marcuse als spätmoderner Denker nicht bloß in Rückzugsgefechten verteidigt, was später Maffesoli und Baudrillard im Rahmen einer postmodernen Problematik verwerfen oder fahren lassen, sondern dass er als Vertreter der Kritischen Theorie durchaus Tendenzen antizipiert, die sich später im postmodernen Denken durchsetzen. Um diese Tendenzen geht es hier im ersten und im vierten Abschnitt. Es geht einerseits um den sowohl von Marcuse als auch von Maffesoli (in grundverschiedenen Kontexten) diagnostizierten Niedergang individueller Au‐ tonomie, den Marcuse zusammen mit Adorno, Horkheimer und David Riesman 1 im Übergang vom liberalen zum monopolistischen Kapitalismus 2 beobachtet; andererseits um den Verlust der „zweiten Dimension“, die in Marcuses Denken metaphorisch ein soziales Bewusstsein bezeichnet, das über die spätkapitalis‐ tischen Verhältnisse hinausgeht und nach Alternativen Ausschau hält. Baud‐ rillard versucht, die gegenwärtige Unmöglichkeit eines solchen Bewusstseins nachzuweisen (Abschn. 4). Wie bei Adorno und Horkheimer hängt bei Marcuse das Festhalten an individueller Autonomie mit dem Ursprung seines Denkens im Individualismus der liberalen Epoche zusammen, die seiner Meinung nach vom Monopolkapi‐ talismus als globaler Konzernwirtschaft abgelöst wurde. Im zweiten Abschnitt soll seine ambivalente, durchaus kritische, Einstellung zu Liberalismus und Individualismus näher kommentiert werden. <?page no="172"?> 3 J. Habermas, in: „Theorie und Politik“ (Gesprächsteilnehmer: Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Heinz Lubasz, Tilman Spengler), in: J. Habermas, S. Bovenschen et al., Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (2. Aufl.), S.-28. 4 H. Marcuse, in: ibid., S.-28. 5 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 (9. Aufl.), S.-126. 6 Ibid. 7 H. Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Berlin, Suhrkamp, 2020, S.-259. Zur Verdeutlichung werden jetzt schon die Grundgedanken skizziert. Den Übergang vom liberalen zum Monopolkapitalismus spricht Habermas in einer Diskussion mit Marcuse an: „Der Vergesellschaftungsprozeß ist im Spätkapita‐ lismus so integral geworden, daß er sozusagen natürliche Substrate angreift, die im liberalen Kapitalismus noch im Schutz der bürgerlichen Familie unangetastet geblieben sind.“ 3 Marcuse ergänzt diese Bemerkungen mit Hinweisen auf die „systematische Indoktrinierung von Gewalt, die systematische Abschaffung der Privatsphäre, neue Formen, viel wirksamere Formen der sozialen Kontrolle“. 4 In einem seiner Aufsätze, die auch in Kultur und Gesellschaft I veröffentlich wurden, führt er aus, worum es in der Kultur des liberalen Bürgertums ging. In ihrem Mittelpunkt stand der autonome Einzelne, der später als freier Unternehmer der staatlich regulierten Konzernwirtschaft zum Opfer fällt: „Überdeckt von einer Tatsächlichkeit, in der die vollständige Opferung des Individuums beinahe schon selbstverständlich und an der Tagesordnung ist, ist diese Kultur schon so verschwunden, daß die Beschäftigung mit ihr nicht mehr eine solche des trotzigen Stolzes, sondern der Trauer ist.“ 5 Es folgt ein Satz, der auch von Adorno oder Horkheimer stammen könnte und in diesem Buch zum Leitmotiv wurde: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es ihr um die Zukunft geht.“ 6 Diese Vergangenheit ist das liberal-individualistische Erbe, das auf tragische Weise unterzugehen droht. Die Zukunft soll, wenn es nach Marcuse geht, auf höherer historischer Ebene und durch eine Revolution im Sinne von Marx diese Vergangenheit neu beleben und die Autonomie des Individuums in einer vom globalen Kapitalismus befreiten Gesellschaft neu begründen. So ist es zu erklären, dass Marcuse die proletarische Revolution immer wieder auf die Befreiung des Einzelnen ausrichtet. Schon in Vernunft und Revolution (engl. Orig. 1941) spricht er vom „kommu‐ nistischen Individualismus“ 7 und erklärt: „Die Marxsche Idee einer vernünftigen Gesellschaft schließt eine Ordnung ein, in welcher nicht die Universalität der Arbeit, sondern die umfassende Entwicklung aller individuellen Anlagen das 172 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="173"?> 8 Ibid., S.-258. 9 Vgl. L. Goldmann, Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den ‚Pensées‘ Pascals und im Theater Racines, Neuwied-Darmstadt, Luchterhand, 1973, Kap. VI-VII. 10 H. Marcuse, „Die Bewegung in einer neuen Ära der Repression. Eine Bestandsauf‐ nahme“, in: Nachgelassene Schriften, Bd. IV: Die Studentenbewegung und ihre Folgen (Hrsg. P.-E. Jansen), Springe, Zu Klampen, 2004, S.-114. Prinzip der gesellschaftlichen Organisation ausmacht.“ 8 Nicht alle Marxisten würden sich dieser Deutung des Marxschen Werks anschließen, zumal es bei Marx nicht an kollektivistischen Gedanken fehlt. Es ist eine Deutung, die Aspekte liberal-individualistischer Nostalgie auf‐ weist, die in eine ersehnte, mögliche oder utopische Zukunft projiziert werden. Marcuses Deutung der Marxschen Philosophie, die von Marxʼ Frühschriften geprägt ist, ist durchaus mit den Interpretationen des Jansenismus durch einige Angehörige des französischen Beamtenadels zu vergleichen, der im 17. Jahrhundert durch vom König abhängige Intendanten ersetzt und - wie Lucien Goldmann zeigt 9 - an den Rand der Gesellschaft verbannt wurde. Marcuses Versuch, die marxistische oder proletarische Revolution auf das Telos individueller Befreiung auszurichten, zeitigt Widersprüche, weil Marcuse - mit Adorno und Horkheimer - der Ansicht ist, dass das revolutionäre Prole‐ tariat als historisches Subjekt, das die Revolution hätte durchführen können, in die spätkapitalistische Gesellschaft integriert wurde. So entsteht eine Situation, in der das Subjekt, das die „klassenlose Gesellschaft“ und die Befreiung der Individuen verwirklichen könnte, fehlt. Der erste Widerspruch entsteht dadurch, dass Marcuse einerseits feststellt, dass es das revolutionäre Proletariat im Sinne von Marx nicht mehr gibt und dennoch dieses historische Subjekt oder ein Äquivalent sucht. Sein gesamtes Werk von Vernunft und Revolution (1941) bis zur Permanenz der Kunst (1977) ist dieser Suche gewidmet. Der zweite Widerspruch besteht darin, dass er zwar Prometheus und die prometheische Tradition der Leistung, der Arbeit und der Revolution (mit Romantikern wie Friedrich Schlegel: vgl. Kap. IV. 6) ablehnt, zugleich aber verschiedene Formen der Revolution als umwälzender (prometheischer) Praxis ins Auge fasst. Eine weitere Zweideutigkeit seines Denkens besteht darin, dass er einerseits an einem marxistischen Diskurs festhält, sich eine „marxistische Analyse“ 10 vornimmt, andererseits aber sehr viel weiter ausholt als Marx, indem er den von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung zugrunde gelegten Gegensatz Naturverständnis / Naturbeherrschung übernimmt, ohne zu erklären, V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard 173 <?page no="174"?> 11 Vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Narr-Francke-Attempto (UTB), 2020, Kap. VI. 12 H. Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1978 (6. Aufl.), S.-141. wie er den spezifischeren marxistischen Gegensatz Arbeit / Kapital in Adornos und Horkheimers viel allgemeineren Gegensatz integrieren will. Adorno verzichtet zwar nicht auf den „stillgelegten“ oder „verwalteten“ Gegensatz von Arbeit und Kapital, ordnet ihn aber dem Gegensatz Naturver‐ ständnis / Naturbeherrschung unter und versucht, die gesellschaftliche Entwick‐ lung im Rahmen dieses Gegensatzes zu erklären. Zugleich verabschiedet er sich vom Marxismus, indem er den zentralen marxistischen Gedanken aufgibt, dass die Gesellschaft immanent, im Rahmen des Gegensatzes Arbeit / Kapital durch den Kassenkampf verändert wird. Da in seinen Augen sowohl Spätkapitalismus als auch realer Sozialismus auf dem Prinzip der Naturbeherrschung gründen, ist eine immanente, d. h. der Gesellschaft innewohnende Dynamik der Veränderung nicht in Sicht. Nur das autonome Individuum und die kritische Kunst erscheinen ihm als Statthalter dieser - einst möglichen - Veränderung zum Besseren, zum „ganz Anderen“ (Horkheimer). Marcuse hält zwar wie Adorno an der Negation des Bestehenden sowie am kritischen Potenzial des Individuums und der Kunst fest, lehnt es aber ab, den Marxismus und seinen zentralen, von Hegel geerbten Gedanken preiszugeben, dass sich die Gesellschaft immanent, durch innere Widersprüche und Konflikte verändert und dass die neue Gesellschaftsordnung aus der alten hervorgeht. Dadurch nimmt er Ungereimtheiten, Zweideutigkeiten und Spekulationen in Kauf, die Adorno und Horkheimer vermeiden, indem sie der hegelianisch-mar‐ xistischen Immanenz absagen 11 und konsequent an einer negativen Dialektik der Nichtidentität festhalten. Im Gegensatz zu ihnen schwankt Marcuse zwischen einer marxistischen Immanenz, die besagt, dass die neue Gesellschaft aus den Antagonismen der alten hervorgeht, und einer Negativität, die - wie bei Adorno - mit der Kunst identifiziert wird. Von der historischen Immanenz im hegelianisch-marxisti‐ schen Sinn zeugt die folgende Passage aus Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft: „Die Aufhebung der kapitalistischen durch die sozialistische Ge‐ sellschaft ist eine in der gegebenen gesellschaftlichen Situation selbst wirksame geschichtliche Tendenz.“ 12 Wesentlich später erscheint Kunst als Statthalterin einer Kritik, die von keiner sozialen Klasse oder Gruppierung getragen wird: „Künstlerische Entfremdung macht das Kunstwerk, das Universum von Kunst zu etwas wesentlich Unwirklichem - sie schafft eine Welt, die es nicht gibt, eine Welt des Scheins, der Erscheinung, der Illusion. Aber in dieser Transformation 174 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="175"?> 13 H. Marcuse, Kulturrevolution und Revolte, Frankfurt, Suhrkamp (1972), 1973, S.-116. 14 Vgl. H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt, Suhrkamp (1969), 2008, S. 58 und S.-90. 15 Vgl. ibid., S.-80. 16 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (Hrsg. P.-E. Jansen), Springe, Zu Klampen, 2014, S.-265. 17 Ibid., S.-77. der Wirklichkeit in Schein, und nur in ihr, erscheint die subversive Wahrheit der Kunst.“ 13 Das Oszillieren zwischen marxistischer Immanenz und ästhetischer Trans‐ zendenz des Bestehenden prägt Marcuses Denken und zeitigt Widersprüche auf struktureller, argumentativer Ebene. Die Suche nach dem Subjekt der sozialen Veränderung verzweigt sich schließlich und schlägt Richtungen ein, die nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen sind. Bisweilen erscheint die Arbeiterklasse doch noch als mögliches revolutionäres Subjekt, dann wieder als mögliche Verbündete des Faschismus. An ihre Stelle treten in den 1960er Jahren die Studierenden und Randgruppen wie Hippies, Beatniks und Rocker. Auch der „neuen Arbeiterklasse“ 14 und den ehemaligen Kolonialvölkern wird trotz ihrer nachweislich heterogenen Lagen und Interessen in Marcuses Diskurs eine emanzipatorische Rolle zuteil. 15 Insgesamt wird man Marcuse zustimmen können, wenn er am Ende des Eindimensionalen Menschen resümierend feststellt: „Eine Antwort könnte sich aufdrängen, wenn man die kritische Theorie an ihrem schwächsten Punkt betrachtet - ihrer Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der be‐ stehenden Gesellschaft aufzuweisen.“ 16 Dies ist jedoch auch eine Unfähigkeit des Neomarxismus, dem Marcuse durchaus noch anhängt. Es ist kein Manko von Adornos Negativer Dialektik, die explizit auf historische Immanenz und Identifizierung mit besonderen gesellschaftlichen Kräften verzichtet. Maffesolis und Baudrillards postmoderne Soziologien oder Sozialphiloso‐ phien zeigen, auf welche Hürden alle Versuche stoßen, die Philosophie gesell‐ schaftsimmanent zu verwirklichen. Maffesoli schildert, wie die von Marcuse euphorisch konnotierten Randgruppen der Hippies und Rocker individuelle Subjektivität vereinnahmen, und Baudrillard analysiert einen (zum Teil fanta‐ sierten) Prozess, in dessen Verlauf sich Marcuses „Wahrheitswert“ 17 , auf dem die „zweite Dimension“ gründet, im allgegenwärtigen Tauschwert auflöst. Es geht hier aber nicht nur um Kontraste zwischen spätmodernem und post‐ modernem Denken; es geht auch darum zu zeigen, dass Marcuses Argumente punktuell die Überlegungen der beiden, ihrem Selbstverständnis nach postmo‐ V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard 175 <?page no="176"?> 18 Vgl. P. V. Zima, „Herbert Marcuse: Prométhée désavoué“, in: ders., L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, Editions Universitaires, 1974, Paris, L’Harmattan, 2005 (erw. Aufl.). 19 H. Marcuse, „Children of Prometheus“, in: ders., Ecology and the Critique of Society Today: Five Selected Papers for the Current Context (S. Surak, P.-E. Jansen, Ch. Reitz Hrsg.), Santa Barbara, Univ. of California, 2019, S.-43. 20 Vgl. S. Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“ (1929-1939), in: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt, Fischer (1974), 1982. dernen Autoren vorwegnehmen. Die Postmoderne bricht zwar an wesentlichen Stellen mit der Spätmoderne, setzt diese aber auch fort. 1. Marcuse und Maffesoli oder die Abkehr vom prometheischen Prinzip: Dionysos und Eros, Orpheus und Narziss Im Folgenden spielen Mythen und mythische Gestalten eine wesentliche Rolle. In Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung soll der Odys‐ seus-Mythos die Unterwerfung des Subjekts unter die Naturbeherrschung veranschaulichen, Maffesoli spielt den naturwüchsig aufbrausenden Dionysos gegen den rationalen Revolutionär Prometheus aus, und Marcuse beruft sich auf Orpheus und Narziss in seiner Kritik an dem von Prometheus verkörperten Leistungsprinzip. 18 Da sich sowohl Marcuse als auch Maffesoli von Prometheus distanzieren, weil dieser in ihren Augen Rationalisierung, Fortschritt und Arbeit verkörpert, könnte man, auf die Grundsätze der Argumentationslogik vertrauend, erwarten, dass sie zu identischen oder zumindest ähnlichen Ergeb‐ nissen gelangen. Dies ist nicht der Fall, weil Marcuse zwar die prometheische Einstellung zurückweist und in „Children of Prometheus“ von einer „primacy of control over nature at the expense of freedom“ 19 spricht, zugleich aber am Projekt der Revolution und am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft festhält. Im Gegensatz zu ihm lehnt Maffesoli alles Prometheische - also auch Revolution und Sozialismus - ab und verknüpft die postmoderne Alternative zur promethei‐ schen, rationalistischen Moderne mit Dionysos (Bacchus), dem tanzenden Gott des Rausches, des Wahns und des Weines. Dies entspricht nicht dem Ansinnen Marcuses, der vor allem in Triebstruktur und Gesellschaft den Übergang zur neuen sozialen Ordnung im Zeichen des Eros betrachtet. Dabei beruft er sich auf Freud, der zwar - vor allem in „Das Unbehagen in der Kultur“ 20 - die Kultur aus der Sublimierung der Triebe hervorgehen lässt, zu‐ gleich aber, gleichsam malgré lui, zu verstehen gibt, dass der Eros die Grundlage 176 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="177"?> 21 A. Schmidt, „Herbert Marcuses politische Dechiffrierung der Psychoanalyse“, in: H. Marcuse, Nachgelassene Schriften, Bd. III: Philosophie und Psychoanalyse (Hrsg. P.-E. Jansen), Springe, Zu Klampen, 2002, S.-71. 22 H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Schriften, Bd. V, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S.-184. 23 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, op. cit., S.-39. 24 H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, op. cit., S.-141. von Gesellschaft und Kultur bildet. Dazu bemerkt Alfred Schmidt: „Wichtig an alldem ist für Marcuse: Freud selbst ist zu entnehmen, daß am Anfang der Kultur der Eros und nicht der Logos steht. Was in ferner Vergangenheit einmal möglich war, darin besteht die utopische Hoffnung Marcuses, ist durch das Wachstum der Produktivkräfte erneut möglich geworden.“ 21 Tatsächlich hofft Marcuse, dass dieses Wachstum (etwa die Automatisierung) zu einer Befreiung von Arbeit und Mühsal führen würde oder jedenfalls die noch notwendige Arbeit in ein libidinös oder erotisch besetztes Spiel verwandeln könnte. Marcuse selbst erklärt: „Es ist nun gerade so eine Reaktivierung der polymorphen Erotik, die als Folge der Überwindung von Mangel und Entfremdung erschien. Die veränderten sozialen Bedingungen würden daher eine Triebgrundlage für die Umwandlung der Arbeit in Spiel liefern.“ 22 Der Frage, ob und wie die stets notwendige Müllentsorgung in einer „authentischen sozia‐ listischen Gesellschaft“ 23 spielerisch und auf libidinöse Art bewältigt werden könnte, soll hier nicht nachgegangen werden. Auf der Ebene der Diskursstruktur ist die Tatsache wichtiger, dass bei Mar‐ cuse Prometheus durch die mythischen Gestalten Orpheus und Narziss - und am Rande auch durch Dionysos - herausgefordert wird. Prometheus verkörpert bei ihm, ähnlich wie bei Maffesoli, Arbeit, Fortschritt und Unterdrückung. Er ist ein Vertreter des Freudschen Realitätsprinzips und der Ananké als Lebensnot: „Ist Prometheus der Kulturheld der Mühsal, der Produktivität und des Fortschritts durch Unterdrückung, dann müssen die Symbole eines anderen Realitätsprin‐ zips auf dem entgegengesetzten Pol zu finden sein. Orpheus und Narziß stehen für eine sehr andere Wirklichkeit (wie Dionysos, dem sie verwandt sind: der Antagonist des Gottes, der die Logik der Herrschaft, das Reich der Vernunft sanktioniert). […] Die Dichtung hat ihr Urbild bewahrt - so in Sonette an Orpheus.“ 24 Hier folgt Marcuse Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, in der Produktivität und Fortschritt als mit Naturbeherrschung und Herrschaft liiert erscheinen. Anders als Adorno und Horkheimer, denen eine mimetische Vernunft als Alternative zur herrschenden „instrumentellen Vernunft“ (Hork‐ 1. Marcuse und Maffesoli oder die Abkehr vom prometheischen Prinzip 177 <?page no="178"?> 25 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, op. cit., S.-43. 26 Vgl. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-96-97. 27 H. Marcuse, „Die 68er Bewegung zehn Jahre danach“, in: Nachgelassene Schriften, Bd. IV, op. cit., S.-135. 28 A. Breton, Manifestes du surréalisme, Paris, Gallimard, 1969, S. 28: „Qu’on se donne seulement la peine de pratiquer la poésie.“ 29 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, op. cit., S.-51-52. 30 A. Münster, Herbert Marcuse et le ‚Grand Refus‘. Vers une société non répressive ? , Paris, L’Harmattan, 2022, S.-119. heimer) vorschwebt (vgl. Kap III und IV), plädiert Marcuse für eine Erotisierung und Ästhetisierung der Gesellschaft im Zeichen von Orpheus und Narziss. Die gesellschaftlichen Gruppen, die sich von Orpheus, Narziss und Dionysos inspirieren lassen und vor allem in Versuch über die Befreiung eine „neue Sensibilität“ 25 verbreiten, sind die Studierenden und Randgruppen wie Beatniks, Hippies und Rocker. Diese Randgruppen stehen auch im Mittelpunkt von Maffesolis Soziologie, erfüllen dort aber eine ganz andere Funktion als bei Marcuse, der ihnen eine Erotisierung und Ästhetisierung des Alltags zutraut. Sie sollen sich der herrschenden „repressiven Entsublimierung der Sexualität“ 26 entgegenstellen, die nur scheinbar befreit, weil sie Sexualität systematisch kom‐ merzialisiert, d. h. dem Markt und dem Tauschwert unterwirft - und zerstört. Marcuse spricht an anderer Stelle, eine neue soziale Ordnung vorwegnehmend, vom „Anstieg von erotischer über destruktive Energie“. 27 André Bretons surrealistische Forderung, man möge Dichtung in Praxis überleiten („pratiquer la poésie“) 28 , soll Wirklichkeit werden: „Wenn nun, in der Rebellion der jungen Intelligenz, das Recht und die Wahrheit der Phantasie zu Forderungen politischer Aktion werden, wenn surrealistische Protest- und Ver‐ weigerungsformen sich ausbreiten, dann kann diese scheinbar unbedeutende Entwicklung einen grundlegenden Wandel der Lage markieren. Der politische Protest wird total und reicht nun in eine Dimension hinein, die vorher als ästhe‐ tische Dimension wesentlich apolitisch war.“ 29 Arno Münster spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ästhetisierung des Alltags und der Lebenswelt“ 30 , mit der die Studierenden der 1960er Jahre und die ihnen verwandten Randgruppen betraut werden. Die Atmosphäre der 60er Jahre, die auch Lyotards Dérive à partir de Marx et Freud (1973) und seine Economie libidinale (1974) prägt, ist nicht zu übersehen. Lyotard, der nach seiner Trennung von Socialisme ou Barbarie (1949-1965), einer von Castoriadis u. a. gegründeten Gruppe, nicht mehr vom „Sozialismus“ als erstrebenswertem Ziel spricht, erhoffte sich noch Anfang der 70er Jahre eine Subversion des Kapitalismus durch alternativ auftretende Gruppen am Rande der Gesellschaft. 178 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="179"?> 31 E. Carretero Pasín, „Michel Maffesoli, la passion pour le quotidien“, in : G. Durand (Hrsg.), Dérive autour de l’œuvre de Michel Maffesoli, Paris, L’Harmattan, 2004, S.-184. 32 M. Maffesoli, La Connaissance ordinaire. Précis de sociologie compréhensive, Paris, Klincksieck (1985), 2007, S.-37. Mit einer ganz anderen Art von Subversion beauftragt Maffesoli Rand‐ gruppen wie Hippies, Rocker und Techno-Fans. Seine (scheinbare) Nähe zur Kritischen Theorie, die auf seine Kritik des prometheischen Leistungsprinzips zurückzuführen ist, wurde verschiedentlich hervorgehoben - etwa von Enrique Carretero Pasín: „Tatsächlich entwickelt Maffesoli seinen Ansatz in der Per‐ spektive von Denkern wie Theodor Adorno und Max Horkheimer, Walter Benjamin, Georg Simmel oder Max Weber, die die verheerenden Auswirkungen der Fortschrittsideologie, der modernen Ideologie des Westens, in der Lebenswelt beobachtet haben.“ 31 Diese Einschätzung mag nicht ganz abwegig sein, setzt sich aber über die Tatsache hinweg, dass aus dem von Maffesoli postulierten Gegensatz zwischen Prometheus und Dionysos ein Diskurs hervorgeht, der weder zur Revolution noch zum Sozialismus führt, sondern eine postmoderne Welt ankündigt, in der bürgerliche Werte wie Vernunft, Emanzipation und individuelle Autonomie pauschal negiert werden. Obwohl Maffesoli wie Adorno, Horkheimer und Marcuse mit einer Kritik am prometheischen Prinzip der Rationalisierung, der Naturbeherrschung und des technologischen Fortschritts anhebt (vgl. Kap. IV. 6), zieht er ganz andere Schlüsse als die Vertreter der Kritischen Theorie. Sein postmodernes Denken führt - wie das Lyotards und Foucaults - aus dem Humanismus, dem Universalismus der Vernunft und dem Individualismus hinaus: in Partikularismus, Irrationalismus und Eindimensionalität als Bejahung bestimmter „vitaler“ Aspekte der kapitalistischen Gegenwart. Maffesolis Soziologie verzichtet expressis verbis auf Kritik und bekennt sich ohne Umschweife zur Affirmation: „Dies ist übrigens der Grund, weshalb die kritische Perspektive der Affirmation weicht. Da wir nicht das Gute oder das Böse zu beurteilen haben, begnügen wir uns damit zu sagen, was der Fall ist […].“ 32 Dies soll zwar - Maffesolis Selbstverständnis nach - wie ein Bekenntnis zu Webers Wertfreiheit klingen, erweist sich bei näherer Betrachtung jedoch als rhetorische Fassade, sobald klar wird, welche Aspekte der Gegenwart der Sozialphilosoph bedenkenlos aufwertet. Er scheint noch denselben Weg zu gehen wie Marcuse, wenn er das Spiel euphorisch konnotiert und versucht, die Arbeit spielerisch zu verwandeln. Dazu bemerkt Aurélien Fouillet unter dem Motto „Le travail n’est plus central“: „Die Langeweile in der Arbeitsgesellschaft lädt uns ein, ins Spiel einzutauchen und ein abenteuerliches Leben zu suchen, in dem das Wunderbare, das Risiko und 1. Marcuse und Maffesoli oder die Abkehr vom prometheischen Prinzip 179 <?page no="180"?> 33 A. Fouillet, „Le jeu prend de la valeur au travail“, in: M. Maffesoli, B. Perrier (Hrsg.), L’Homme postmoderne, Paris, F. Bourin Editeur, 2012, S.-51. 34 F. La Rocca, „Habiter la hype city“, in: M. Maffesoli, B. Perrier (Hrsg.), L’Homme postmoderne, op. cit., S.-85. 35 M. Maffesoli, L’Ordre des choses. Penser la postmodernité, Paris, CNRS Editions, 2014, S.-173. 36 M. Maffesoli, Etre postmoderne, Paris, Editions du Cerf, 2018, S.-60. 37 M. Maffesoli, Le Temps revient. Formes élémentaires de la postmodernité, Paris, Desclée de Brouwer, 2010, S.-167. 38 M. Maffesoli, Du Nomadisme. Vagabondages initiatiques, Paris, La Table Ronde, 2006, S.-35. 39 M. Maffesoli, Etre postmoderne, op. cit., S.-66. 40 M. Maffesoli, Notes sur la postmodernité. Le lieu fait lien, Paris, Editions du Félin, 2003, S.-102. die Gemeinschaft aufs Neue miteinander verbunden werden. Die Arbeit ist nicht länger im Mittelpunkt unseres Lebens, und wir erforschen neue Bereiche und neue Verbindungen.“ 33 Fabio La Rocca ergänzt: „Die festliche ersetzt die produktive Stadt.“ 34 Dies alles geschieht jedoch in der bestehenden Markt- und Wirtschaftsgesellschaft, in der globalisierten Welt der Großkonzerne - nicht in Marcuses „authentischem Sozialismus“. Maffesolis Denken zeugt von einer postmodernen Verwindung im Sinne von Gianni Vattimo (vgl. Abschn. 6), weil es den Gedanken an eine Überwindung der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse endgültig verabschiedet hat. Verabschiedet hat es auch Marcuses Streben nach kollektiver und individu‐ eller Befreiung, weil es Marcuses aus der liberalen Ära stammenden Individua‐ lismus aufgegeben hat, ja ihn durch eine drastische Aufwertung der Gruppe und der Gemeinschaft als modernes Relikt schlicht negiert. Zwar kehrt sich Maffesoli - wie Marcuse - gegen „die Figur des seriösen Erwachsenen, des rationalen Produzenten und Reproduzenten“ 35 , stellt ihm aber nicht den kritischen Intellek‐ tuellen (Marcuses „Studenten“) gegenüber und auch nicht die alternativ lebende und eine „neue Sensibilität“ verkörpernde Gruppe, sondern den „jugendlichen Vitalismus“ von Hippies, Rockern, Fußball-Fans und Techno-Gruppen. 36 Diese Gruppen vergleicht er mit „primitiven Stämmen, die sich um ein Totem gruppieren“ 37 , und nennt sie in Du Nomadisme (2006) auch beim Namen: „Hip‐ pies, Vagabunden, Dichter, orientierungslose Jugendliche oder auch Touristen als Gefangene in Rundfahrten programmierter Pauschalreisen.“ 38 Er nennt auch die spanischen „Indignados“, die deutsche „Piratenpartei“ 39 und in regelmäßigen Abständen „Techno-Paraden auf Pariser Straßen“. 40 Was aus soziologischer Sicht auffällt, ist die Heterogenität dieser Gruppen. Können sie jemals gemeinsam handeln und die von Maffesoli angekündigte postmoderne Gesellschaft verwirk‐ lichen? Wohl kaum. Aufschlussreich ist jedoch eine weitere Überschneidung 180 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="181"?> 41 M. Maffesoli, Le Temps des tribus. Le déclin de l’individualisme dans les sociétés postmo‐ dernes, Paris, La Table Ronde (1988), 2000, S.-174. 42 M. Maffesoli, Le Réenchantement du monde. Une éthique pour notre temps, Paris, Perrin, 2009, S.-67. 43 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, op. cit., S.-52. 44 M. Maffesoli, „Un homme entre deux ères. Entretien avec Michel Maffesoli“, in: L’Homme postmoderne, op. cit., S.-159. dieses Diskurses mit dem von Marcuse, der die „neue Sensibilität“ ebenfalls mit Gruppen wie Hippies und Rockern verknüpft. Der Umstand, dass bei Maffesoli die „Studenten“ fehlen, ist wohl kein Zufall, denn sie stehen bei Marcuse für individuelle, intellektuelle Autonomie und die Universalität der Vernunft - beides moderne Wertsetzungen. Sie werden in Maffesolis postmoderner Theorie dem Stammesbewusstsein geopfert. So heißt es etwa in Le Temps des tribus, „dass die individuelle Autonomie, die nicht länger die treibende Kraft des Individuums ist, auf den ‚Stamm‘ übergeht, die kleine gemeinschaftliche Gruppe“. 41 Komplementär dazu erklärt Maffesoli in Le Réenchantement du monde (2007), „dass das Individuum kaum zählt, während die Gruppe aufgewertet wird“. 42 Von diesem Niedergang zeugt der Untertitel von Le Temps des tribus (Zeit der Stämme): Le déclin de l’individualisme dans les sociétés postmodernes (Der Niedergang des Individualismus in den postmodernen Gesellschaften). Entscheidend ist, dass dieser Niedergang nicht - wie bei Marcuse und in der gesamten Kritischen Theorie - mit Bedauern und Kritik zur Kenntnis genommen, sondern bejaht wird. Denn Maffesoli betrachtet die gesellschaftliche Entwicklung aus der Sicht der „dionysisch“, „vitalistisch“ sich gebärdenden Jugendgruppen, nicht aus der Sicht einer kritischen, auf das Individuum aus‐ gerichteten Vernunft. Kontrastiv zu seinen Ausführungen sei an einen Satz aus Marcuses Versuch über die Befreiung erinnert: „Sinnlichkeit und Vernunft vereinigend, wird die Vorstellungskraft ‚produktiv‘, sobald sie praktisch wird: eine leitende Kraft bei der Rekonstruktion der Wirklichkeit […].“ 43 Bei Maffesoli wird die Sinnlichkeit gegen die Vernunft ausgespielt. Zusammen mit dem autonomen Individuum wird diese Vernunft dem Partikularismus und Vitalismus der sich abschottenden, revoltierenden Gruppen geopfert. Die Postmoderne wird von Maffesoli daher auch als eine Rückkehr zum Partikula‐ rismus der Vergangenheit aufgefasst: „Was wir faute de mieux als Postmoderne bezeichnen, bringt eine Rückkehr zum Vergangenen mit sich: zum Stamm, zu den Emotionen, zur Gegenwart.“ 44 Diese Rückkehr stellt die gesamte Kritische Theorie in Frage: ihr Plädoyer für individuelle Autonomie, für eine universelle 1. Marcuse und Maffesoli oder die Abkehr vom prometheischen Prinzip 181 <?page no="182"?> 45 F. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1989, S.-118. 46 Vgl. H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, op. cit., S. 27: „Aber im liberalistischen Ra‐ tionalismus sind schon jene Tendenzen präformiert, die dann später, mit der Wendung vom industriellen zum monopolistischen Kapitalismus, irrationalistischen Charakter annehmen.“ 47 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek, Rowohlt, 1952, S.-1578. Vernunft, gegen Partikularismus und Irrationalismus sowie für eine Überwin‐ dung der schlechten Gegenwart. Den sich ankündigenden Partikularismus der Postmoderne und ihrer Gruppen bringt auch der Soziologe Friedrich Tenbruck in seinem Buch Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne (1989) zur Sprache: „Denn seit langer Zeit sind wieder Lehren offensichtlich erfolgreich, welche sich nicht an universalistischen Wahrheitskriterien orientieren. Es sind auch nicht nur religiöse Sekten und Kulte, welche sich rein für das anbieten, was sie sind, ohne nach anderen Bekenntnissen zu fragen. Auch durch die neue Jugendkultur weht mächtig der partikularistische Zug, der nach der eigenen Lebensform, der eigenen Gruppe, dem eigenen Kult sucht ohne allen weiteren Gültigkeitsanspruch.“ 45 Dies ist eine recht konkrete Beschreibung der gesellschaftlichen und sprach‐ lichen Situation, in der Maffesolis Soziologie entstanden ist. Im Gegensatz zu Tenbrucks Beschreibung ist sie zugleich auch ein Plädoyer für Partikularismus, Vitalismus und die Solidarität postmoderner Gruppen, das zusammen mit der individuellen Autonomie den (seit Descartes und Kant) auf Allgemeingültigkeit zielenden Wahrheitsbegriff bürgerlicher Philosophie in Frage stellt. 2. Marcuses liberales Erbe: Sein Festhalten an individueller Autonomie und Vernunft Obwohl Marcuse den Individualismus der liberalen Ära wesentlich skeptischer und kritischer beurteilt als Adorno und Horkheimer (in seinen Augen antizipiert der „liberalistische Rationalismus“ den Irrationalismus der monopolistischen Ära) 46 , handelt auch er nach Robert Musils Grundsatz: „Der Individualismus geht zu Ende. […] Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“ 47 Was ist nun für Marcuse „das Richtige“? In einem Kommentar zur „bewahrende[n] Aufhebung dessen, was das neunzehnte Jahrhundert noch repräsentierte“, erklärt er: „Die Erbschaft sollte auch das retten, was die Kultur der bürgerlichen Gesellschaft bei allem Elend und aller Ungerechtigkeit doch für die Entfaltung und für das Glück des 182 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="183"?> 48 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, op. cit., S.-126. 49 Ibid. 50 Vgl. dazu Alberto Moravias Roman Il conformista, Mailand, Bompiani, 1951. 51 H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, op. cit., S.-86. Individuums beigebracht hatte.“ 48 Er fügt hinzu: „Die Situation der Erbschaft hat sich inzwischen gewandelt. Zwischen der bisherigen Wirklichkeit der Vernunft und ihrer Verwirklichung in jener Gestalt, wie die Theorie sie meint, liegt heute schon nicht mehr ein Stück neunzehntes Jahrhundert, sondern die autoritäre Barbarei.“ 49 Marcuses Kritik an der liberalen Ära und ihrer bildungsbürgerlichen Kultur ist somit eine „rettende Kritik“, die zur Verwirklichung der Wertsetzungen und Versprechen dieser Kultur in einer neuen, nachkapitalistischen Gesellschaft beitragen möchte. Im Rückblick erscheint diese Verwirklichung als ein prekäres, ja utopische Vorhaben, weil nicht nur italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus allen die Nichtigkeit des Einzelnen und seiner Vernunft vor Augen geführt haben 50 , sondern weil auch in der kommerzialisierten und technisierten Massenkultur die Stimme von Einzelpersonen kaum gehört wird. Gehört werden die sich in den Massenmedien durchsetzenden Meinungen von Medienkonzernen, Parteien und internationalen Organisationen, in denen Gremien das Sagen haben. Am ehesten können noch Umwelt-, Frauen- und Friedensbewegungen, auf die Marcuse sporadisch zu sprechen kommt, hoffen, sich Gehör zu verschaffen. Gerade in seiner Kritik der „affirmativen Kultur“ des liberalen Zeitalters wird deutlich, wie sehr Marcuse den Werten dieser bildungsbürgerlichen Kultur verbunden ist, deren Verwirklichung er in einer neuen Gesellschaft einfordert. Im Liberalismus, der Zeit des Bildungsbürgertums, ist diese Kultur affirmativ, weil ihre Ideale - individuelle Autonomie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit - in die Privatsphäre des Einzelnen und der Familie verbannt werden und nicht an die Öffentlichkeit treten, die sie verändern sollten. Im Übergang vom Liberalismus zum Konzernkapitalismus, der alle Varianten der Kritischen Theorie geprägt hat, wird auch diese Kultur mit ihrem kritischen, fortschrittlichen, aber unverwirklichten Potenzial in das bestehende System integriert. Wie die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen dieser Kultur ausgehöhlt werden, schildert Marcuse in Triebstruktur und Gesellschaft: „Das unabhängige Familienunternehmen und späterhin der unabhängige persönliche Unternehmer hören auf, die Bausteine des Gesellschaftssystems zu sein; sie werden von den unpersönlichen Gruppenbildungen und Vereinigungen großen Maßstabes aufgesaugt.“ 51 Dies hat zur Folge, dass individuelle Autonomie ero‐ diert: „Gleichzeitig wird der Sozialwert des Einzelnen vor allem in Begriffen 2. Marcuses liberales Erbe: Sein Festhalten an individueller Autonomie und Vernunft 183 <?page no="184"?> 52 Ibid. 53 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, op. cit., S.-92. 54 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 (8. Aufl.), S. 154-155. 55 Ibid., S.-158. 56 Ibid., S.-155. standardisierten Könnens und der Anpassungsfähigkeit bemessen, statt nach autonomem Urteil und persönlicher Verantwortung.“ 52 Diese Beschreibung erinnert an analoge Beschreibungen bei Max Horkheimer, dem Sohn des Kom‐ merzienrats und Unternehmers Moritz Horkheimer (vgl. Kap. IV, Einleitung und Abschn. 1). Marcuse erklärt, wie die teilweise Mobilmachung menschlicher Ressourcen, die noch den Liberalismus prägte, in dem Ideale wie Autonomie, Freiheit und Gerechtigkeit im privaten, familiären Bereich der „Innerlichkeit“ beschützt und gehegt wurden, in der monopolistischen Ära zur totalen Mobilmachung wird, die zusammen mit der Privatsphäre auch diese Ideale vereinnahmt: „Jetzt kommt das Bürgertum mit seiner eigenen Kultur in Konflikt. Die totale Mobilmachung der monopolkapitalistischen Epoche ist mit jenen um die Idee der Persönlichkeit zentrierten, fortschrittlichen Momenten der Kultur nicht mehr zu vereinen. Die Selbstaufhebung der affirmativen Kultur beginnt.“ 53 Dies bedeutet keineswegs, dass Bildung nichts mehr gilt und dass Kultur nicht mehr wahrgenommen wird; ganz im Gegenteil: „Die höhere Kultur besteht noch. Sie ist zugänglicher denn je. Sie wird von mehr Leuten gelesen, gesehen und gehört als je zuvor; aber die Gesellschaft hat längst die geistigen Bereiche abgeriegelt, worin diese Kultur in ihrem Erkenntnisgehalt, ihrer bestimmten Wahrheit verstanden werden konnte. Die oppositionellen Elemente der Kultur werden so abgebaut: die Zivilisation übernimmt, organisiert, kauft und verkauft die Kultur […].“ 54 Man achte auf den Sprachgebrauch in dieser Passage und vor allem auf die auch von Alfred Weber gehandhabte Unterscheidung von „Kultur“ und „Zivilisation“ (vgl. Kap. I. 4). Ähnlich wie Weber ist Marcuse der Meinung, dass die kommerzialisierte technische Zivilisation die Kultur im Rahmen des „Kulturbetriebs“ in eine Ware unter anderen verwandeln und dadurch zur Wir‐ kungslosigkeit verurteilen könnte. Marcuse spricht von der „administrative[n] Aufsaugung der Kultur durch die Zivilisation“ 55 und fügt hinzu: „Das Ergebnis: die autonomen, kritischen Kulturgehalte werden pädagogisch, erbaulich, zu etwas Entspannendem - ein Vehikel der Anpassung.“ 56 Die Kultur wird kultur‐ industriell dem Status quo angepasst wie der ehedem autonome Einzelne. Im 184 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="185"?> 57 Vgl. zu den Themen Selbstmanagement, Selbstdisziplinierung und Selbstvermarktung: M. Moldaschl, G. G. Voß (Hrsg.), Subjektivierung von Arbeit, München-Mering, Rainer Hampp Verlag, 2002 sowie U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt, Suhrkamp, 2007. 58 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-70. 59 Ibid. 60 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, op. cit., S.-126. 61 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft II, op. cit., S.-105. Spätkapitalismus entsteht eine Kultur der Anpassung: in Teamwork, other-direc‐ tedness (Riesman) und Selbstmanagement. 57 Hier zeichnet sich der Verlust der zweiten Dimension ab, der im Zentrum von Marcuses bekanntestem Werk Der eindimensionale Mensch steht. Der kulturindustriell verwaltete Wohlfahrtsstaat organisiert die Anpassung als Eindimensionalität, indem er seinen Konsumenten alles Materielle und Geistige liefert, das sie begehren: „Und wenn die Individuen derart präformiert sind, daß zu den befriedigenden Gütern auch Gedanken, Gefühle und Wünsche gehören, warum sollten sie selbst denken, fühlen und sich etwas vorstellen? “ 58 Und abermals bezeichnet Marcuse den Standort, von dem seine Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft ausgeht - den Liberalismus: „Die Kritik des Wohlfahrtsstaates im Sinne des Liberalismus und Konservativismus (ob mit dem Präfix ‚Neo‘ oder nicht) stützt sich in ihrer Gültigkeit auf das Vorhandensein eben der Bedingungen, über die der Wohlfahrtsstaat hinausgegangen ist - nämlich auf eine niederere Stufe des gesellschaftlichen Reichtums und der Technik.“ 59 Freilich mündet diese Kritik nicht in einen Vorschlag, zu dieser vergangenen und niedereren Entwicklungsstufe zurückzukehren. Sie wird jedoch von ihrer Rückbesinnung auf Vergangenes gespeist, das als Aufgehobenes und Bewahrtes nicht nur überholt ist, sondern auch in eine bessere Zukunft weist. In diesem Kontext ist der eingangs schon zitierte Satz Marcuses zu verstehen: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es ihr um die Zukunft geht.“ 60 Ihn ergänzt eine lapidare Bemerkung aus Kultur und Gesellschaft II: „Was veraltet ist, ist deswegen nicht falsch.“ 61 Zu dem Veralteten, aber durchaus noch Wahren gehört bei Marcuse die Kunst. Ihre Wirkung ist zwar in der liberalen Ära des Bildungsbürgertums durch ihren auf Privatsphäre und Innerlichkeit begrenzten Status drastisch eingeschränkt; ihr kritisches Potenzial könnte aber durchaus entfesselt werden, zumal Marcuse mit Adorno der Ansicht ist, dass die sich in der Kunst manifes‐ tierende Vernunft als Alternative zur naturbeherrschenden „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) aufgefasst werden könnte. „Die Funktion der Vernunft“, 2. Marcuses liberales Erbe: Sein Festhalten an individueller Autonomie und Vernunft 185 <?page no="186"?> 62 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-249. 63 Vgl. M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Schriften, Bd. V: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940-1950 (Hrsg. A. Schmidt, G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 2014 (4. Aufl.), S.-40. 64 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, in: GS XI (Hrsg. R. Tiedemann), 2022 (8. Aufl.), S.-126. 65 H. Marcuse et al., „Theorie und Politik“, in: J. Habermas, S. Bovenschen et al., Gespräch mit Herbert Marcuse, op. cit., S.-44. 66 Ibid., S.-45. heißt es in Der eindimensionale Mensch, „fällt dann mit der Funktion der Kunst zusammen.“ 62 Diese Nähe zur Dialektik der Aufklärung  63 und zu Adornos Ästhetischer Theorie sollte jedoch nicht die wesentlichen Unterschiede zwischen den Kunst‐ auffassungen der beiden Denker verdecken. Während Adorno bei der ästheti‐ schen Negativität von Kunstwerken wie Becketts Theater, Valérys Dichtung oder Schönbergs Zwölftonmusik verharrt und einen Künstler wie Valéry „zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“ 64 erhebt, das mit dem Prole‐ tariat verschwunden ist, hält Marcuse an der marxistischen Immanenz fest. Zumindest oszilliert er zwischen der Einsamkeit des kritischen Intellektuellen und seiner Kunst und einer historischen Immanenz, die ihn weiterhin zum Fahnden nach kollektiven Subjekten gesellschaftlicher Veränderung nötigt. Es geht hier nicht um die Frage nach dem „Ende der Kunst“ durch ihre Verwirklichung in einer neuen Gesellschaft, die Surrealisten wie Breton ins Auge gefasst haben und die Marcuse u. a. in seinem Aufsatz „Über den affir‐ mativen Charakter der Kultur“ (1937) für möglich hielt. Später, vor allem in Die Permanenz der Kunst, revidierte er diese avantgardistische Ansicht. Es geht um seine viel allgemeinere und nie revidierte These, die ihn von Adorno trennt, dass Kunst als Katalysator im revolutionären Prozess fungieren könnte: als entscheidender Beitrag zur Bewusstseinsänderung von Individuen und Gruppen. In einem Gespräch mit Habermas u. a. bemerkt Marcuse, Kunst sei „Versinn‐ lichung des Begriffs, das bedeutet: verändernde Entwirklichung der gegebenen Realität“. 65 Er fügt hinzu: „Zu alledem kommt in der Kunst die Erinnerung als schöpferische Kraft: Erinnerung an das vergangene Glück und die vergangene Trauer - nicht nur als rückwärtsgewandte Klage, sondern auch als Antrieb zur Verwirklichung der ‚konkreten Utopie‘ (Ernst Bloch), als regulative Idee einer zukünftigen Praxis.“ 66 Wie er sich diese Praxis konkret vorstellt, führt Marcuse im Versuch über die Befreiung (1969) aus. Dort betrachtet er die Kunst als Katalysator in der Ausbreitung einer „neuen Sensibilität“ und als Helferin rebellierender Gruppen 186 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="187"?> 67 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, op. cit., S.-71. 68 K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S.-224. 69 Zur Definition des Aktanten vgl. A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette 1979 sowie P. V. Zima, Diskurs und Macht. Einführung in die herrschaftskritische Erzähltheorie, Opladen-Toronto, Budrich (UTB), 2022, S.-148-143. - der Studierenden, Hippies, Beatniks und Rocker. Zu diesem Zeitpunkt fasst er noch die Möglichkeit einer Auflösung der Kunst im ästhetisierten Alltag ins Auge, die er in Die Permanenz der Kunst (1977) bestreitet: „Wir deuteten die historische Möglichkeit von Bedingungen an, unter denen das Ästhetische zur gesellschaftlichen Produktivkraft werden und als solche zum ‚Ende‘ der Kunst durch ihre Verwirklichung führen könnte.“ 67 Diese Möglichkeit hat Adorno nie erwogen, weil er vor allem in seiner Negativen Dialektik (1966) der hegelianisch-marxistischen Immanenz eine klare Absage erteilt hat. Im Gegensatz zu ihm hält Marcuse an dieser historischen Immanenz fest. Fast sein gesamtes Werk könnte als eine Suche nach dem Subjekt oder den Subjekten gelesen werden, die die bestehende soziale Ordnung mit ihren Widersprüchen sprengen und in eine neue Gesellschaft überführen könnten. 3. Zwischen marxistischer Immanenz und einer Flucht ins Ästhetische: Die Suche nach dem verlorenen Subjekt Obwohl Marx immer wieder eine „Klasse an sich“, der das Selbstbewusstsein fehlt, von einer selbstbewusst handelnden „Klasse für sich“ unterscheidet und diese Unterscheidung sowohl auf die Bauernschaft als auch auf das Proletariat anwendet, stellt er die Existenz des Proletariats als treibender Kraft der Geschichte nie in Frage. Davon zeugen die folgenden Sätze aus den Frühschriften („Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“), die Marcuse nachhaltig beeinflusst haben: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ 68 Nicht der Frage, inwiefern „das Proletariat“ in Marx̕ Diskurs der empirischen Arbeiterklasse entspricht oder ein mythischer Aktant 69 ist, der die in ihn projizierten Sehnsüchte und Wünsche der Marxisten nicht erfüllen kann, soll 3. Zwischen marxistischer Immanenz und einer Flucht ins Ästhetische 187 <?page no="188"?> 70 Vgl. H. Marcuse, Vernunft und Revolution, op. cit., S.-257. 71 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-203. 72 Vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung, op. cit. Kap. IV. 4. 73 H. Marcuse, „Zur Aktualität der Dialektik bei Hegel und Marx“, in: Nachgelassene Schriften, Bd. VI: Ökologie und Gesellschaftskritik (Hrsg. P.-E. Jansen), Springe, Zu Klampen, 2009, S.-154. hier nachgegangen werden, sondern der Frage nach der Funktion des Subjekts oder Subjekt-Aktanten in Marx̕ Diskurs. Das historische Subjekt „Proletariat“, das sich im Konflikt mit Bürgertum und Kapital befindet, soll in diesem Diskurs eine Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse herbeiführen und - nach der proletarischen Diktatur - eine „klassenlose Gesellschaft“ ermöglichen, die die Freiheit und Gleichheit aller garantiert. Wie Adorno und Horkheimer steht Marcuse vor dem Problem, dass die Ar‐ beiterklasse der Nachkriegszeit in die Wohlfahrtsgesellschaft des Kapitalismus integriert wurde und in keiner Weise mehr dem revolutionären Proletariat des Marxismus entspricht. Während er in Vernunft und Revolution bis zu einem gewissen Grad noch dem diskursiven Schema der hegelianisch-marxistischen Immanenz folgt 70 , revidiert er dieses Schema in Der eindimensionale Mensch (1964, dt. 1967) und entdeckt den mythischen Charakter des Marxschen Ak‐ tanten „Proletariat“: „Die Wirklichkeit der arbeitenden Klassen in der fortge‐ schrittenen Industriegesellschaft macht das Marxsche ‚Proletariat‘ zu einem mythologischen Begriff; die Wirklichkeit des heutigen Sozialismus macht die Marxsche Idee zu einem Traum.“ 71 Es fragt sich, ob die „Marxsche Idee“ nicht schon im 19.-Jahrhundert ein Traum war. 72 Statt mit Adorno auf das kritische Individuum und die ideologiekritische Negativität der Kunst zu setzen, wandelt Marcuse diesen Traum ab, indem er nach einem Ersatz für das integrierte Proletariat fahndet. Einerseits verharrt er in der marxistischen Immanenz, weil er hegelianisch-marxistisch die neue Gesellschaft aus den Widersprüchen der bestehenden hervorgehen lassen möchte, andererseits verlässt er sie, indem er sich eine Veränderung „von außen“ vorstellt. In einem postum veröffentlichten Vortrag (wohl 1970) kommt diese Zweideutigkeit zum Ausdruck: „Der Marxsche Begriff des Umschlags liess das neue geschichtliche Ganze, den Sozialismus, in und aus dem bestehenden Ganzen (durch die Revolution) entstehen; jetzt scheint es, dass das neue Ganze ‚ausserhalb‘ des bestehenden entstehen müsste und dass der Umschlag es ‚von aussen‘ treffen würde.“ 73 Aus Marcuses Sicht ist dieses „Außen“ eigentlich ein „Innen“, weil „die dieser Gesellschaft noch nicht eingegliederten, aber von ihr ausgebeuteten und bekämpften Völker, Schichten, Gruppen […] das potentielle (und wo sie im 188 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="189"?> 74 Ibid. 75 A. Schmidt, „Herbert Marcuse - Versuch einer Vergegenwärtigung seiner sozialphilo‐ sophischen und politischen Ideen”, in: Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Kritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse, Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S.-40. 76 W. F. Haug, „Das Ganze und das ganz Andere. Zur Kritik der reinen revolutionären Transzendenz“, in: J. Habermas (Hrsg.), Antworten auf Herbert Marcuse, Frankfurt, Suhrkamp, 1969 (4. Aufl.), S.-52. 77 H. Marcuse, Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967, Frankfurt, Verlag Neue Kritik, 1980, S.-21. Kampf stehen - aktuelle) geschichtliche Subjekt des Umsturzes [wären]“. 74 Nicht nur die metaphorisch verwendeten Wörter „innen“ und „außen“ tragen zur Vagheit der Argumentation bei, sondern auch der Umstand, dass nicht klar wird, von welcher Gesellschaft die Rede ist. Der Ausdruck „bekämpfte Völker“ suggeriert, dass es sich um eine imaginierte „Weltgesellschaft“ handelt. Gegen diese Deutung spricht jedoch der Ausdruck „Schichten, Gruppen“, die nur in einer bestimmten staatlich organisierten Gesellschaft „bekämpft“ werden können. Aber in welcher? Für die Vagheit des Ausdrucks ist auf diskursiver Ebene Marcuses Schwanken zwischen marxistischer Immanenz und einer Veränderung durch außenste‐ hende Instanzen und Kräfte verantwortlich. Dieses Schwanken als eine etwas ratlose Suche nach dem Subjekt der Revolution kommentiert auch Alfred Schmidt: „Gleichwohl soll an die Stelle des revolutionären Klassensubjekts nicht die eingestandene Ohnmacht einer auf sich selbst verwiesenen Kritik treten, sondern der spontane Protest der Einzelnen an den Rändern des Systems.“ 75 Aus marxistischer Sicht merkt Wolfgang Fritz Haug an: „Wie aber kommen Begriffe ‚von außen‘? ‚Von außen‘ übersetzt sich in Utopie. Kolonisierte und Outcasts werden zu Trägern des letzten Widerspruchs von außen.“ 76 So eindeutig-einfach ist jedoch Marcuses Position nicht. Sein ständiges Schwanken zwischen marxistischer Immanenz und einem die Gesellschaft transzendierenden „Außen“ macht es nahezu unmöglich, diese Position kritisch zu treffen. Immer wieder kehrt Marcuse ins Zentrum der Gesellschaft und zur Immanenz zurück, um „negative“ oder negierende Kräfte ausfindig zu machen. Die von ihm sporadisch erwähnten und bisweilen sogar unterstützten „Stu‐ denten“ sind schließlich keine Außenseiter der Gesellschaft, sondern werden oft als deren „Hoffnungsträger“ bezeichnet. In einer Diskussion über „Das Ende der Utopie“ bemerkt er: „[…] Und hier scheue ich mich nicht, wiederum zu nennen die Opposition der Intellektuellen, besonders der Studenten.“ 77 Die Atmosphäre der 1960er und 70er Jahre, in der diese Beobachtungen und Argumente entstanden sind, prägt Jürgen Links großen Roman Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee, in dem sich der Protest mit der 3. Zwischen marxistischer Immanenz und einer Flucht ins Ästhetische 189 <?page no="190"?> 78 J. Link, Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerin‐ nerung, Oberhausen, Asso-Verlag, 2008, S.-792. 79 Karl Mannheim geht von dem Gedanken aus, dass die Intellektuellen als Gruppe sozial so ungebunden, so „freischwebend“ sind, dass sie sich über die ideologischen Konflikte erheben und eine neutrale oder wertfreie Sicht der Dinge erzielen können. Die Wirklichkeit zeigt jedoch, dass gerade die Intellektuellen (man denke an Georges Sorel, Lenin, Bakunin oder Alfred Rosenberg) zu den eifrigsten Verfechtern ideologischen Denkens gehören. Dies gilt auch für die Gruppe der Studierenden, die schon im Jahre 1968 in Anarchisten, Kommunisten, Trotzkisten, Konservative und Faschisten zerfiel. Vgl. K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, Verlag G. Schulte Bulmke, 1978 (6. Aufl.), S.-221. 80 H. Marcuse, Das Ende der Utopie, op. cit., S.-21. Suche nach den verändernden Kräften paart: „Dann sehen wir uns sitzen wie die Ältesten von uns 1968 in der besetzten Sorbonne am 30. Mai, einem Donnerstag, bei der Rede des aus dem Schwarzwald wieder aufgetauchten De Gaulle, damals in einem Amphitheater jetzt auf dem Pflaster […].“ 78 Unbeantwortet bleibt die Frage nach dem „Wir“ und seinem Programm. Denn um die Studierenden (und Intellektuellen) 79 steht es so ähnlich wie um die Arbeiterklasse: Aufgrund ihrer Stellung als junge Auszubildende der Hoch‐ schulen, als Stipendiaten und Angehörige des Wissenschaftssystems mögen sie auf den ersten Blick als homogene Gruppe erscheinen; sie sind ideolo‐ gisch-politisch jedoch überaus heterogen. Das haben die Pariser Ereignisse des Jahres 1968 gezeigt. Aus den Fakultäten für Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaften und Naturwissenschaften haben nur wenige Studierende an den „Mai-Ereignissen“ teilgenommen. Die meisten Engagierten kamen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften und bezeichneten ihre Kommilitonen aus der Jura-Fakultät als „reaktionär“ („réac“). Marcuse, der sich in Der eindimensionale Mensch vom „mythologischen“ Begriff des Marxschen „Proletariats“ distanziert, weil er die Arbeiterklasse für integriert hält, zögert nicht, im Gespräch über die Utopie zur marxistischen Immanenz zurückzukehren, und beruft sich (im Falle von Europa) auf „jene Teile der Arbeiterklasse, die noch nicht dem Integrationsprozeß verfallen sind“. Er erklärt: „Das sind tendenziell die Kräfte der Umwandlung […].“ 80 Wie bei Lucien Goldmann, André Gorz und Serge Mallet spielt bei Marcuse auch die extrem heterogene „neue Arbeiterklasse“ („nouvelle classe ouvrière“), die sich aus Arbeitern, Angestellten und Technikern zusammensetzt, eine gewisse Rolle, wenn es um die immanente Veränderung der Gesellschaft geht. Goldmann klingt recht zuversichtlich, wenn er rät, „dass wir uns an dieser neuen 190 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="191"?> 81 L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S.-170. 82 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, op. cit., S.-85. 83 H. Marcuse in: H. Marcuse, K. R. Popper, Revolution oder Reform? Eine Konfrontation, München, Kösel, 1972 (3. Aufl.)., S.-13. 84 G. Raulet, Herbert Marcuse. Philosophie de l’émancipation, Paris, PUF, 1992, S.-147. 85 Detlev Claussen, in: Zur Aktualität der Philosophie Herbert Marcuses. Dokumentation einer Veranstaltung an der Freien Universität Berlin am 17. Juli 2003, AStA der Freien Universität Berlin, Berlin, Hochschulpolitische Reihe, Bd. XII, 2005, S.-106. Mittelschicht von Angestellten (nouvelle couche moyenne salariée), an dieser neuen Arbeiterklasse orientieren sollten“. 81 Es klingt fast wie eine Replik auf diese Empfehlung, wenn Marcuse in Versuch über die Befreiung schreibt: „Die ‚neue Arbeiterklasse‘ könnte aufgrund ihrer Stellung die Produktionsweise und die Produktionsverhältnisse sprengen, um‐ organisieren und -dirigieren. Hierzu hat sie indessen weder das Interesse noch das Bedürfnis: sie ist gut integriert und wird gut bezahlt.“ 82 Abermals scheitert die Suche nach dem Subjekt der Revolution, und es bleibt bei Spekulationen. Von ihnen zeugt Marcuses schwankende Haltung im Hinblick auf das historische Subjekt der Veränderung: „Die Integration der Arbeiter besteht. Aber wie gesagt, ich glaube, sie wird schwächer […].“ 83 Solche Behauptungen werden bei Marcuse nie durch empirische Untersuchungen gestützt, auch nicht, wenn sie sich auf die Studierenden oder die Randgruppen beziehen. Die Behauptung von Gérard Raulet, dass diese Randgruppen von den „engen Grenzen der Integrationsfähigkeit des Systems“ 84 zeugen, ist wenig überzeu‐ gend, weil es in allen Gesellschaftssystemen Randgruppen gegeben hat, die nichts Wesentliches verändert haben. Hinzu kommt, dass eine Randgruppe wie die Hippies als integraler Bestandteil kommerzialisierter Folklore seit langem zum System gehört. Auch einige die Randgruppen der Gesellschaft betreffende Bemerkungen von Detlef Claussen zielen ins Leere: „Es ist überhaupt nie die Idee von Marcuse gewesen, dass die Außenseitergruppen eine Revolution machen, sondern diese Außenseitergruppen geben nur ein Zeichen, und zwar ein materielles Zeichen.“ 85 Aber wem? Der integrierten (neuen) Arbeiterklasse, dem verschreckten Bürgertum? Möglicherweise gilt dieses Zeichen allen Individuen, die ein ästhetisches Bedürfnis verspüren, ein Bedürfnis nach „neuer Sensibilität“. Dazu heißt es in einem Text Marcuses über die „Kulturrevolution“: „In ihrem Streben nach Tota‐ lität hat die Kulturrevolution eine vernachlässigte oder unterdrückte Grundlage der Revolution entdeckt (oder besser: wiederentdeckt), nämlich das Individuum, oder, genauer, die Sensibilität des Menschen. Auf wahrhaft dialektische Weise 3. Zwischen marxistischer Immanenz und einer Flucht ins Ästhetische 191 <?page no="192"?> 86 H. Marcuse, „Kulturrevolution“, in: Nachgelassene Schriften, Bd. I: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie (Hrsg. P.-E. Jansen), Springe, Zu Klampen, 1999, S.-83. 87 Ibid., S.-110. 88 Ibid. 89 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, in: GS XI, op. cit., S.-126. 90 H. Marcuse, „Danksagung“, in: „Die Permanenz der Kunst“, in: Konterrevolution und Revolte. Zeit-Messungen. Die Permanenz der Kunst, Schriften, Bd. IX (Hrsg. P.-E. Jansen), Springe, Zu Klampen, 2004, S.-193. 91 Ibid., S.-206. 92 Ibid. entsteht eine neue Lebenstotalität in einem neuen Individuum. Die neue Gesell‐ schaft soll in den Individuen selbst ihren Ursprung haben […].“ 86 Anscheinend sollen nun die Individuen zu den Adressaten der die neue Sensibilität verbreitenden Randgruppen (Hippies, Beatniks, Rocker) werden. Nicht die ehemals revolutionäre Klasse und auch nicht die „neue Arbeiterklasse“ soll als Subjekt der Umwandlung auftreten, sondern jeder Einzelne. Abermals kommt hier der immer wieder von Marcuse beschworene (und kritisierte) Individualismus der liberalen Ära zur Geltung - und mit ihm der kritische Bildungsbürger, der die verwaltete Gesellschaft des Spätkapitalismus nicht verkraftet und ablehnt. Er ersetzt als Intellektueller „ein Subjekt, das sich durch seine Abwesenheit enthüllt, durch das, was fehlt“. 87 Von diesem Subjekt sagt Marcuse: „Darum kann es nicht mit Hilfe des common sense oder der gewöhnlichen Wahrnehmung erfahren und ausgedrückt werden; vielmehr ist das Vehikel für seine Darstellung die Einbildungskraft, und sein Medium sind die Künste.“ 88 Hier nähert sich Marcuse, angesichts des fehlenden Kollektivsubjekts, das die gesellschaftliche Veränderung immanent herbeiführen könnte, der Position Adornos, der das kritische Individuum und vor allem den kritischen Künstler zum „Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“ 89 macht. In Marcuses letztem größeren Werk, das den Titel Die Permanenz der Kunst (1977) trägt und das, wie Marcuse selbst bemerkt, „Adorno viel verdankt“ 90 , wird gar die in seinem Werk rekurrierende „Revolution“ in Frage gestellt. Zunächst stellt der Autor fest, dass in den „vollkommensten Werken“ die Revolution nicht genannt wird. Dann folgt der enigmatische Satz: „Es scheint, daß in ihnen die Notwendigkeit der Revolution vorausgesetzt ist: als Apriori der Kunst.“ 91 Anschließend wird der Sinn der Revolution angezweifelt: „Damit ist aber die Revolution gleichsam überholt - vielleicht sogar in Frage gestellt, soweit sie keine Antwort auf die Not des menschlichen Daseins gibt und nicht einen Bruch mit der menschlichen Vergangenheit in sich trägt.“ 92 192 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="193"?> 93 Ibid., S.-215. 94 Ibid., S.-209. Nicht zufällig erinnert dieser Satz an den ersten Satz von Adornos Negativer Dialektik, in dem festgestellt wird, dass sich Philosophie am Leben erhält, „weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“. Dies gilt mutatis mutandis auch für die Kunst, über deren Verwirklichung und Auflösung im Alltag Marcuse mit André Breton spekuliert. In Die Permanenz der Kunst heißt es von der neuen oder befreiten Gesellschaft: „Aber auch eine solche Gesellschaft wäre nicht das Ende der Kunst.“ 93 Denn die Kunst würde weiterhin von einer anderen, besseren Wirklichkeit zeugen, die möglicherweise auch Revolutionen nicht herbeiführen können. Es ist die Wirklichkeit des Eros und der Sinne, die Wirklichkeit der „neuen Sensi‐ bilität“, für die nach Marcuse die Studierenden und die Randgruppen kämpfen. Für sie steht in Die Permanenz der Kunst Mallarmés Werk: „Am extremen Beispiel Mallarmés: seine Lyrik erschließt Weisen der Perzeption, des Hörens, der Gebärde - eine Feier der Sinne, die mit der repressiven Erfahrung bricht und ein radikal anderes Realitätsprinzip, eine andere Sinnlichkeit antizipiert.“ 94 Es ist die Sinnlichkeit, die Marcuse in Triebstruktur und Gesellschaft beschreibt: eine Sinnlichkeit des Eros, die sich der repressiven, kommerzialisierten Entsub‐ limierung entzieht und andere zwischenmenschliche Beziehungen ankündigt. Es ist allerdings auch eine Sinnlichkeit, die bei Adorno stets zur Zielscheibe der Kritik wird, weil sie leicht zum Instrument der Kulturindustrie (also der Kommerzialisierung) werden kann. Adorno hätte Mallarmé ganz anders gelesen als Marcuse: als einen Dichter, der Verse in schroffem Gegensatz zum universel reportage (Mallarmé), zur kommerzialisierten Sprache der Kulturindustrie, kon‐ struiert und jedes von dieser Sprache missbrauchte Wort meidet. Diese Differenz, die die beiden Vertreter der Kritischen Theorie trennt, ist darauf zurückzuführen, dass Marcuse auch in seinem von Adornos Ästhetik geprägten letzten Werk die Kunst aus der Sicht der Immanenz betrachtet und deshalb danach fragt, wie sie wirkt und durch ihre Wirkung gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen könnte. Adornos Ästhetik der Negativität lässt sich hingegen auf keine Kompromisse mit der Marktgesellschaft ein. Sie folgt Mallarmés Negationen aus „Crise de vers / Verskrise“: „Erzählen, lehren, selbst beschreiben, das geht, und wiewohl es Jedem vielleicht zum Austausch des menschlichen Denkens genügen würde, aus der Hand des Nächsten eine Münze zu nehmen oder in sie zu legen, unterhält der elementare Gebrauch der Rede 3. Zwischen marxistischer Immanenz und einer Flucht ins Ästhetische 193 <?page no="194"?> 95 S. Mallarmé, „Crise de vers / Verskrise“ (Französisch / Deutsch), in: ders., Kritische Schriften (Hrsg. G. Goebel, B. Rommel), Gerlingen, Lambert Schneider, 1998, S.-229. 96 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-476. 97 K. Marx, Das Kapital, Bd I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1969, S.-19. die universelle Reportage, an der, die Literatur ausgenommen, alles teilhat im gegenwärtigen Schrifttum.“ 95 Der von der Münze symbolisierte Tauschwert bedroht alle kritischen Ver‐ suche, sich für die Revolution, den Sozialismus, die Sinnlichkeit oder die Hippie-Kultur zu engagieren. Alle diese Ideale sind von Kulturindustrie und Politik als „universelle Reportage“ vereinnahmt worden: Die Werbung preist das „revolutionäre Waschmittel“ an, die Che Guevara-Mützen sind ausverkauft, die Worthülse „Sozialismus“ wird sogar von linken Parteien gemieden, Sinnlichkeit wird alle Jahre wieder in Bestsellern und Hollywood-Filmen erneuert, und die kommerzialisierte Hippie-Kultur, die noch in zerlumpten Jeans zu Höchst‐ preisen angeboten wird, provoziert kein kritisches Nachdenken mehr, sondern wird als eine der vielen bizarren Alltagsroutinen achselzuckend zur Kenntnis genommen. Im Vorgriff auf diese gesellschaftliche und sprachliche Situation verschrieb sich Adorno der kompromisslosen Negation. Er zielte nicht auf die „Feier der Sinne“, die Marcuse an Mallarmés Dichtung rühmt, sondern auf den „Schock“, den die Negation des Bestehenden bewirkt: „Künstlerisch zu erreichen sind die Menschen überhaupt nur noch durch den Schock, der dem einen Schlag erteilt, was pseudowissenschaftliche Ideologie Kommunikation nennt; Kunst ihrerseits ist integer einzig, wo sie bei der Kommunikation nicht mitspeilt.“ 96 4. Gegen Eindimensionalität: Die Suche nach dem „Wahrheitswert“ Bei Marx und im Marxismus vertrat das Proletariat die Welt der Arbeit, in der Gebrauchswerte entstanden, die auf dem kapitalistischen Markt vorwiegend als durch den Tauschwert vermittelte Waren wahrgenommen wurden. So kommt es nach Marx zu einer Abstraktion vom Gebrauchswert: „Andererseits ist aber das Austauschverhältnis der Waren augenscheinlich charakterisiert durch die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten.“ 97 Mit der Welt dieser globalen Abstraktion setzt sich Marcuse in seinem Buch Der eindimensionale Mensch auseinander. Allerdings erweitert er dort den Begriff „Gebrauchswert“, indem 194 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="195"?> 98 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-69. 99 Ibid., S.-84. er ihn aus dem ökonomischen Bereich hinausführt und auf Wertbegriffe wie „Freiheit“ ausdehnt. Die folgende Passage ist für das Verständnis des Argumentationszusammen‐ hangs in diesem Buch zentral. In ihr wird verdeutlicht, warum eine immanente Überwindung der spätkapitalistischen Verhältnisse, d. h. eine Überwindung, die auf innere Antagonismen und Konflikte zurückzuführen wäre, schwierig oder gar unmöglich erscheint: „Die wachsende Arbeitsproduktivität schafft ein zunehmendes Mehrprodukt, das […] erhöhten Konsum gestattet - ungeachtet der vermehrten Mannigfaltigkeit der Produktivität. Solange diese Konstellation herrscht, schmälert sie den Gebrauchswert der Freiheit; es besteht kein Grund auf Selbstbestimmung zu dringen, wenn das verwaltete Leben das bequeme und sogar das ‚gute‘ ist. Das ist der rationale und materielle Grund für die Vereinigung der Gegensätze, für eindimensionales politisches Verhalten. Auf diesem Boden werden die transzendierenden politischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft gehemmt, und qualitative Änderung scheint möglich nur als eine von außen.“ 98 Dies bedeutet konkret: „Freiheit“ wird als wesentlicher, aber abwesender Gebrauchswert von den meisten nicht mehr wahrgenommen, weil sie sich an‐ gesichts der zahlreichen Konsumangebote in Bereichen wie Verkehr, Tourismus oder Unterhaltung frei wähnen. Ähnliches gilt für andere Gebrauchswerte wie Kultur, Kunst, Bildung und Information. Ihr Überangebot im Wohlfahrtsstaat lässt die Meinung Platz greifen, dass sie unbeschränkt zur Verfügung stehen. Die Frage, was mit ihnen in der kommerzialisierten Gesellschaft des Tauschwerts geschieht, wird gar nicht aufgeworfen. Die zweite, kritische Dimension der Kunst wird durch ihre kommerzielle Ver‐ einnahmung verdeckt, in den Betrieb integriert. Die der Gesellschaft entfrem‐ deten Kunstwerke, die mit Verfremdung im formalistischen Sinne reagieren, werden nach Marcuse der herrschenden Kommunikation angepasst, verein‐ nahmt. „Die Werke der Entfremdung“, erklärt er, „werden selbst dieser Gesell‐ schaft einverleibt und zirkulieren als wesentlicher Bestandteil der Ausstattung, die den herrschenden Zustand ausschmückt und psychoanalysiert. Sie werden zu Reklameartikeln - sie lassen sich verkaufen, sie trösten oder erregen.“ 99 Hier drängt sich die Frage auf, ob es nicht gerade die von Marcuse im Zusammenhang mit Mallarmé gefeierte Sinnlichkeit und die „neue Sensibilität´“ sind, die eine Funktionalisierung der Kunst im Bestehenden ermöglichen, ja fördern. Marcuse selbst fragt sich, wie sich Kunst gegen die Assimilierung 4. Gegen Eindimensionalität: Die Suche nach dem „Wahrheitswert“ 195 <?page no="196"?> 100 H. Marcuse, „Die Permanez der Kunst“ in: ders., Konterrevolution und Revolte. Zeitmes‐ sungen. Die Permanenz der Kunst, op. cit., S.-202. 101 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-213. 102 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-77. 103 Ibid., S.-264. in die Massenkultur wehren könnte, und hebt in Die Permanenz der Kunst nicht so sehr „Sinnlichkeit“ und „Sensibilität“ hervor, sondern die Form: „Die kritische Funktion der Kunst, ihr Beitrag zum Kampf um Befreiung, liegt in ihrer ästhetischen Form.“ 100 Damit macht er sich ein Kernargument aus Adornos Ästhetischer Theorie zu eigen, in der es heißt: „Kunst hat soviel Chance wie die Form, und nicht mehr.“ 101 Sowohl Marcuse als auch Adorno ist es aber um das Hervortreten des „Wahrheitswerts“ (des Gebrauchswerts) zu tun, der vom herrschenden Tausch‐ wert verschüttet, unkenntlich gemacht wird. „Die Musik der Seele“, erklärt Marcuse in seinem Eindimensionalen Menschen, „ist auch die der Verkaufstüch‐ tigkeit. Der Tauschwert zählt, nicht der Wahrheitswert. In ihm faßt sich die Rationalität des Status quo zusammen, und alle andersartige Rationalität wird ihr unterworfen.“ 102 In Der eindimensionale Mensch stimmen „Wahrheitswert“ und „zweite Dimension“ weitgehend überein. Solange der „Wahrheitswert“ als Gebrauchswert noch bezeichnet werden kann und - zumindest sporadisch - zu erkennen ist, besteht Hoffnung auf eine qualitative Umwandlung der bestehenden Zustände. Diese Hoffnung wird dadurch gedämpft, dass nicht nur die Wirtschaft mit dem in ihr dominierenden Tauschwert die „wahren Werte“ (als Gebrauchswerte) unkenntlich zu machen droht, sondern auch die Technik, die schon bei Alfred Weber als wirtschaftlich gelenkte Kraft erscheint, die sich anschickt, Mensch und Kultur auszulöschen. (Vgl. Kap. I. 4.) Marcuse betrachtet diese bedrohliche Entwicklung aus der Sicht von Hork‐ heimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, wenn er feststellt, dass „mit der zunehmenden technischen Unterwerfung der Natur […] die des Menschen durch den Menschen [zunimmt]“. 103 Anders als Alfred Weber, der weitab vom Marxismus von dem für ihn relevanten Gegensatz Kultur / Zivilisation ausgeht und zu einem kulturpessimistischen Fazit gelangt, liest Marcuse Marx (zumin‐ dest sporadisch) im Rahmen des in der Dialektik der Aufklärung postulierten Gegensatzes Naturverständnis / Naturbeherrschung und leitet die kapitalistische Herrschaft über Mensch und Natur vom allgemeinen Herrschaftsprinzip ab. Dass er dieses Prinzip - wie Adorno und Horkheimer - aus der Sicht des Liberalismus betrachtet, einer vergangenen Phase der kapitalistischen Entwicklung, in der Wirtschaft und Technik noch nicht alle Bereiche der 196 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="197"?> 104 Ibid., S.-86. 105 A. Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek, Rowohlt, 1996 (9. Aufl.), S.-42. 106 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-172. Wirklichkeit erfassten, wird an verschiedenen Stellen von Der eindimensionale Mensch deutlich. In der folgenden Passage wird nostalgisch das Verschwinden einer Welt ohne Flugzeuge, Autobahnen und Motorboote evoziert, die zugleich für die „zweite Dimension“ als eine vergangene steht: „Offenkundig hat die materielle Umgestaltung der Welt die geistige Umgestaltung ihrer Symbole, Bilder und Ideen im Gefolge. Wenn Städte, Autobahnen und Naturschutzgebiete die Dörfer, Täler und Wälder ersetzen, wenn Motorboote über die Seen rasen und Flugzeuge den Himmel durchstoßen - dann verlieren diese Bereiche offenkundig ihren Charakter als eine qualitativ andere Wirklichkeit, als Gebiete des Widerspruchs.“ 104 Aber des Widerspruchs gegen was? Gegen Urbanisierung, gegen Auto‐ bahnen, die wohl auch Elektroautos befahren werden, und gegen Naturschutz‐ gebiete, die Natur vor Ausbeutung und Vernichtung schützen sollen? Marcuse würde wahrscheinlich auch die vielen aus dem Wald herausragenden Windräder und die Solarzellen auf den Dächern der Schwarzwaldhäuser nicht goutieren. Die nostalgisch beschworenen „Dörfer, Täler und Wälder“ erinnern (außer an Eichendorff) an Landschaftsbeschreibungen in Hermann Hesses Narziss und Goldmund, und die negativ konnotierten Autobahnen lassen Traumszenen aus Hesses Der Steppenwolf aufleben, in denen im „Magischen Theater“ eine surrea‐ listisch anmutende „Hochjagd auf Automobile“ geschildert wird. Nicht nur aus Hesses Werk, auch aus dem von Marcuse immer wieder zitierten Surrealismus André Bretons spricht ein nostalgischer Geist, der den sich beschleunigenden Prozess der Modernisierung nicht verträgt. So erklärt etwa am Ende des Ersten Manifests des Surrealismus der von der Romantik faszinierte Breton: „Diese Welt, in der ich ertrage, was ich ertrage (man frage nicht was), diese moderne Welt also, zum Teufel! Was soll ich nur damit anfangen? “ 105 Parallel zur „Technologie als Form sozialer Kontrolle und Herrschaft“ 106 kri‐ tisiert Marcuse die mit dieser Technologie liierte Massendemokratie. Abermals nimmt er den Standpunkt des liberalen Bürgers und Individualisten ein, der die „Vorrechte der Privatsphäre“ allen gewähren möchte, um die Kultur zu demokratisieren: „Auch in dieser Hinsicht offenbart die ‚Kultur‘ ihre feudalen Ursprünge und Schranken. Sie kann nur durch die Abschaffung der Massende‐ mokratie demokratisch werden, wenn es nämlich der Gesellschaft gelingt, die Vorrechte der Privatsphäre wiederherzustellen, indem sie sie allen gewährt und 4. Gegen Eindimensionalität: Die Suche nach dem „Wahrheitswert“ 197 <?page no="198"?> 107 Ibid., S.-255. 108 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, op. cit., S.-106. 109 Ibid., S.-120. bei jedem einzelnen schützt.“ 107 Auch hier erscheint die „zweite Dimension“ als Restitution eines vergangenen Zustandes: der liberalen Privatsphäre. Aber wer soll die intermedial, elektronisch gestützte Massendemokratie in einer Zeit abschaffen, in der Fernsehen, Internet und Smartphone eine immer größere Rolle in öffentlicher Meinungsbildung und beim Wahlverhalten spielen? Geht es nicht eher darum, die Massendemokratie mit Hilfe der neuesten Kommunikationsmittel zu vervollkommnen und zu stärken? Der liberale Versuch, die „Vorrechte der Privatsphäre“ wiederherzustellen, ist nicht nur anachronistisch (wie die unberührten „Dörfer, Täler und Wälder“); er ist zum Scheitern verurteilt in einer Gesellschaft, deren Wirtschaft zwar aus ökologischen Gründen an ihre Grenzen stößt, die aber immer mehr durch ihren Markt beherrscht wird, der sich zunehmend am Tauschwert und an den von ihm ableitbaren quantitativen Kriterien orientiert. Eine solche, zur Eindimensionalität tendierende Gesellschaft kann nicht radikal von innen, nicht immanent, wie Marcuse bisweilen hofft, verändert werden. Denn einer globalen Veränderung von innen steht auch die Komplexität dieser Gesellschaft im Weg: die Komplexität von Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Wissenschaft, die zwar notwendige Reformen verkraftet, aber keinen revolutionären Umbruch. Dies ist wohl der Grund, weshalb Marcuse in seinem Versuch über die Befreiung (1969) nach Instanzen sucht, die notfalls von außen zu einem Kollaps des Spätkapitalismus beitragen könnten. Die Kernthese des Buches lautet jedoch, „daß die Revolution nur dann befreiend wäre, wenn sie von den nicht-repressiven Kräften getragen würde, welche die bestehende Gesellschaft aufrütteln“. 108 Dieser These widerspricht allerdings die Tatsache, dass sich Marcuse wenige Seiten weiter auf die kubanischen und vietnamesischen Guerilleros beruft, die beim besten Willen nicht als „nicht-repressive Kräfte“ eingestuft werden können: „Die Kubanische Revolution und der Vietkong haben bewiesen, daß es zu schaffen ist; es gibt eine Moral, eine Humanität, einen Willen und eine Überzeugung, die der riesigen technischen und ökonomischen Macht der kapitalistischen Expansion widerstehen und sie aufhalten können.“ 109 Die Beseitigung der korrupten Diktaturen Fulgencio Batistas und Nguyen Van Thieus wird kaum jemand bedauern, der Wert auf Humanität legt; er wird aber auch nicht die neuen, nach sowjetischem Vorbild organisierten Diktaturen Kubas und Vietnams begrüßen, die Marcuse ideologisch als „elementaren Sozialismus“ definiert und von dem er sagt, „dieser elementare Sozialismus in 198 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="199"?> 110 Ibid., S.-120-121. 111 Ibid., S.-126. 112 H. Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied-Berlin, Luch‐ terhand, 1964, S.-105. Aktion [habe] der Radikalität der Neuen Linken Form und Gehalt gegeben; auch in dieser ideologischen Hinsicht wurde die Revolution draußen ein wesentliches Moment der Opposition in den kapitalistischen Metropolen“. 110 Etwas später wird auch die Rolle der Sowjetunion in diesem Geschehen gewürdigt, obwohl Marcuse daran zweifelt, dass diese „noch imstande sei, zu einer freien Gesellschaft überzugehen“. Trotzdem fügt er hinzu: „Und dennoch ordnet die bloße Dynamik der imperialistischen Expansion die Sowjetunion dem anderen Lager zu: wären der wirksame Widerstand in Vietnam und der Schutz Kubas ohne sowjetische Hilfe möglich? “ 111 Was von diesem „anderen“, positiv konnotierten Lager zu halten war und zu halten ist, zeigen der Zerfall der Sowjetunion und die Entwicklung der Russischen Föderation zu einer kapitalistischen Oligarchie mit Diktator. Diese Entwicklung widerlegt auch die marxistische These von der „Unumkehrbarkeit“ der sozialistischen Revolution oder Entwicklung, an die Marcuse noch trotz seiner Zweifel und Zweideutigkeiten zu glauben scheint. In Soviet Marxism (1958, dt. 1964) hält er an dieser These und am marxistischen Diskurs fest und geht von der „Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus“ aus: „Das höchst wichtige Ziel, den toten Punkt zu überwinden, kann nur durch eine Umwandlung der Sowjetgesellschaft erreicht werden, die die ökonomische und kulturelle Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus herbeiführen, den Sozialismus ‚durch Ansteckung‘ verbreiten und so die Grundlage zum Auftauen des Klassenkampfes in der kapitalistischen Welt liefern soll.“ 112 Rund drei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von Marcuses Buch und nach der Massenflucht aus Kuba und Vietnam („boat people“) breitete sich die ‚Ansteckung“ in entgegengesetzter Richtung aus. Die osteuropäischen Bevölkerungen wandten sich mehrheitlich dem Kapitalismus zu: nicht nur weil der Sozialismus wirtschaftlich scheiterte (es sei als pars pro toto nur der durch Korruption verursachte, katastrophale Zusammenbruch des Agrokomerc in Jugoslawien genannt), sondern auch weil der nationale Faktor eine sprengende Wirkung hatte. Diese Wirkung hatte er nicht nur in Jugoslawien, sondern auch in der Sowjetunion, deren (in der Sowjethymne „freie“: „респулик своьодных“) baltische Republiken in den 90er Jahren und nach 2000 (2004) nichts Eiligeres zu tun hatten, als sich in EU und NATO in Sicherheit zu bringen (gefolgt von Finnland und Schweden). 4. Gegen Eindimensionalität: Die Suche nach dem „Wahrheitswert“ 199 <?page no="200"?> 113 Zum Begriff des Aktanten vgl. A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979. 114 Vgl. P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. I: Cours au Collège de France 1981-1983 (Hrsg. P. Champagne et al.), Paris, Seuil, Raisons d’agir, 2015, S.-16-26. 115 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Bd. XII, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 42 und S. 69. Während Hegel die Klasse und den Klassenkampf vernachlässigt, vernachlässigen Marx und die Marxisten die Nation und den Kampf der Völker. 116 Vgl. J. A. Hobson, Imperialism. A Study, New York, James Pottock & Co, 1902 sowie W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), Berlin, Dietz, 1962 (6. Aufl.). Lenin übernimmt wesentliche Gedanken von Hobson. In seinem Buch über den sowjetischen Marxismus erwähnt Marcuse die Rolle des großrussischen Nationalismus mit keinem Wort - und missversteht die UdSSR als Staat. Denn in der Sowjethymne heißt es auch, die „Union freier Republiken“ habe „für immer das große Russland besiegelt“ („ϲплатила нaвеки Великая Рус“). Die Formel lautet folglich: Dem sowjetischen Sozialismus und den im Jahre 1921 in Kronstadt entmündigten Sowjets liegt der russische Nationalismus zugrunde, der als Ideologie noch heute die russische Politik bestimmt - und den Marxismus-Leninismus zur Gänze ersetzt hat. Marcuses strukturelles Problem besteht darin, dass er - im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer - am marxistischen Diskurs festhält und die gesell‐ schaftliche Entwicklung im Rahmen dieses Diskurses zu erzählen versucht: eines Diskurses, dessen Scheitern er teilweise eingesteht. Sein Aktantenmodell  113 gründet auf dem Marxschen Klassekampf, der als Erzählschema die neueren Entwicklungen nicht mehr erklären kann. Obwohl die Strukturierung der Gesellschaft nach Klassen durchaus noch eine Rolle spielt, wie Bourdieu zeigt 114 , wurden nationale Konflikte, deren Bedeutung schon Hegel unterstrich 115 , in den letzten Jahrzehnten zu Triebfedern gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie trugen nicht nur zum Zerfall der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei bei, sondern machen auch der EU, China und (in einem viel kleineren Maßstab) Bosnien-Herzegowina zu schaffen, das als Föderation Milorad Dodiks großserbischem Nationalismus zum Opfer fallen könnte. Der marxistische Diskurs ist auf den kollektiven Aktanten „Klasse“ fixiert und räumt dem Aktanten „Nation“ keinen Platz ein. So kommt es, dass Marcuse (wie Hobson und Lenin) 116 „Imperialismus“ ausschließlich mit dem westlichen Hochkapitalismus verknüpft und für den russisch-sowjetischen Aggressions‐ krieg gegen Finnland („Winterkrieg“ 1939-1941) oder den Imperialismus der chinesischen Kommunisten in Tibet (1957) kein Auge hat. 200 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="201"?> 117 Vgl. P. V. Zima, Diskurs und Macht. Einführung in die herrschaftskritische Erzähltheorie, Opladen-Toronto, Budrich (UTB), 2022, Kap. IV. 118 M. Foucault, „Méthodologie pour la connaissance du monde: comment se débarrasser du marxisme“, in: ders., Dits et écrits, Bd. III (Hrsg. D. Defert, E. Ewald), Paris, Gallimard, 1994, S.-595. 119 J. Baudrillard, Die göttliche Linke, München, Matthes und Seitz, 1986, S.-18. Ein Diskurs ist nur so „schlau“ wie seine Relevanzkriterien und Selek‐ tionen. 117 Gründet er weiterhin auf dem Gegensatz Kapitalismus / Sozialismus (Kapital / Arbeit), wird er sicherlich noch einiges erklären können, aber längst nicht alles. Lebte Marcuse heute noch, müsste er im Rahmen seines neomar‐ xistischen Diskurses erklären, warum in Osteuropa die Geschichte „vom So‐ zialismus zum Kapitalismus“ gleichsam „zurückgespult“ wurde. Er könnte es nicht erklären, weil der marxistische Diskurs von den Ereignissen größtenteils widerlegt wurde. Baudrillard ist (wohl zu Unrecht) sogar der Meinung, dass er als Kritik des Kapitalismus, die auf dem semantischen Gegensatz Gebrauchswert / Tauschwert gründet, sein Erkenntnispotenzial eingebüßt hat. Im nächsten Abschnitt sollen seine postmodernen Argumente näher betrachtet werden. 5. Baudrillards postmoderne Replik: Das Verschwinden des Gebrauchswerts, der Politik und der Kunst Die Anfänge der französische Postmoderne, die Jean-François Lyotard, Michel Maffesoli und Jean Baudrillard - jeder auf seine Weise - vertreten, fallen mit dem Niedergang des französischen Marxismus zusammen. Die von Cornelius Castoriadis, Claude Lefort, Jean- François Lyotard u. a. im Jahre 1949 gegründete Zeitschrift Socialisme ou Barbarie wird 1965 eingestellt, und zwei Jahre später löst sich auch die gleichnamige Organisation auf: zwei Jahre vor Marcuses Versuch über die Befreiung (1969). Jean-François Lyotard, der bis 1964 dieser Organisation angehörte, verabschiedet sich vom Marxismus und stellt in der letzten Phase seines postmodernen Denkens die Autonomie des individuellen Subjekts, eines der Hauptanliegen der Kritischen Theorie, radikal in Frage. Komplementär zu Lyotards Bruch mit dem marxistischen Diskurs fragt sich Michel Foucault in einem Artikel, der nach 1968 entstand, „wie man den Marxismus loswird“. 118 Vor diesem Hintergrund einer wachsenden nachmodernen Skepsis dem Marxismus gegenüber ist Jean Baudrillards Kritik einiger Marxscher und mar‐ xistischer Grundsätze zu betrachten. „Schluß mit dem großen marxistischen Versprechen“ 119 , stellt er im Jahre 1986 fest und zweifelt schon in seinem 5. Baudrillards postmoderne Replik 201 <?page no="202"?> 120 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, op. cit., S.-267. 121 J. Baudrillard, Le Miroir de la production ou l’illusion critique du matérialisme historique, Paris, Galilée, 1975, S.-10. Frühwerk die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert an, die den Argumentationen des jungen und des alten Marx zugrunde liegt und auch Marcuses Denken strukturiert. Davon zeugt der folgende Satz aus Vernunft und Revolution: „Indem die Kategorie des Gebrauchswerts wieder ins Zentrum der ökonomischen Analyse gerückt wird, bedeutet dies eine scharfe Befragung des ökonomischen Prozesses darauf hin, ob und wie er die wirklichen Bedürfnisse der Individuen befrie‐ digt.“ 120 Im Zusammenhang mit Marcuses Der eindimensionale Mensch wurde deutlich, dass der Begriff „Gebrauchswert“ vom Autor metaphorisch erweitert wird und nicht nur den Wert von Gegenständen (Waren) bezeichnet, sondern sich auch auf die „Freiheit“ und folglich auch auf andere Werte wie den „Frieden“ oder die „Lebensqualität“ („Dörfer, Täler und Wälder“: s.-o.) bezieht. Baudrillard stellt diese Terminologie mitsamt den Argumentationen, die sie begründet, in Frage, indem er den Gegensatz von Gebrauchswert und Tausch‐ wert für obsolet erklärt. Wie Lyotard knüpft auch er an einige Gedankengänge von Marx an, jedoch nur, um mit dem marxistischen Diskurs unversehens zu brechen. In Le Miroir de la production (1973), einem Buch, das durchaus noch im marxistischen Kontext zu lesen ist, kommt ein kritischer Gedanke auf, der nicht nur die Grundlagen des Marxismus, sondern auch die der Kritischen Theorie zu erschüttern droht. Die Kritik nimmt die Form eines Paradoxons an: „Dort, wo die marxistische Analyse am überzeugendsten ist, dort tritt auch ihre Schwäche zutage: nämlich in der Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert.“ 121 Indem Baudrillard von dem Gedanken ausgeht, dass in der zeitgenössischen Gesellschaft der Tauschwert so dominant wird, dass er alle Gebrauchswerte verdeckt, unkenntlich macht, lässt er auch den Archimedischen Punkt ver‐ schwinden, von dem aus die spätkapitalistische Gesellschaft als Konsumgesell‐ schaft und Kulturindustrie kritisiert werden könnte. Hier ist auch die Tatsache von Bedeutung, dass Marcuse den Begriff „Gebrauchswert“ auf einen Wert wie „Freiheit“ ausdehnt und auf diesen Wert rekurrieren kann, um die „total verwaltete“ Gesellschaft zu kritisieren und auf ihre Überwindung zu drängen. Der Untertitel von Le Miroir de la production ist in diesem Kontext zu lesen: L’illusion critique du matérialisme historique (Die kritische Illusion des Historischen Materialismus). Wo die Gebrauchswerte in einem erweiterten, metaphorischen Sinne (etwa „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ oder „Lebensqualität“) nicht mehr bezeichnet werden können, dort greift auch Kritik zu kurz, weil sie ihren Bezugspunkt, den „Wahrheitswert“ im Sinne von Marcuse, verliert. 202 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="203"?> 122 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-236. 123 J. Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin, Merve, 1992, S.-11. 124 Ibid. Sie kann sich nicht auf das beziehen, was anders, jenseits der bestehenden Verhältnisse wäre: auf „Widerspruch und Transzendenz“ 122 , wie es bei Marcuse heißt. Zugleich mit dieser „Transzendenz“ und der sie anvisierenden Kritik geht auch die „zweite Dimension“ verloren, nach der in Marcuses Buch über den eindimensionalen Menschen noch gefahndet wird. Den fortschreitenden Verlust beschreibt Baudrillard von Buch zu Buch, von seinem Frühwerk Pour une critique de l’économie politique du signe (1972) bis zu La Transparence du Mal (1990, dt. Transparenz des Bösen, 1992), indem er ein vierstufiges Modell entwickelt, das die sich ausbreitende Herrschaft des Tausch‐ werts nachzeichnet. In Pour une critique konstruiert er ein dreistufiges Modell, das erkennen lässt, wie sich mit der Zeit der Tauschwert als herrschender Wert dem Gebrauchswert gegenüber durchsetzt. In La Transparence du Mal kommt eine vierte Stufe hinzu. So sieht das Nacheinander der vier Stufen aus: Einem natürlichen Stadium, das der Tausch von Gebrauchswerten prägt (Tauschhandel), folgt ein „kommer‐ zielles Stadium“ („stade marchand“), und aus diesem geht ein „strukturales Stadium“ hervor, in dem der Tauschwert als Zeichenwert dominiert. In diesem dritten Stadium, heißt es in Transparenz des Bösen, herrschte ein Code, „und der Wert entfaltete sich hier unter Bezugnahme auf ein Ensemble von Modellen“. 123 Dies bedeutet, dass der Wert nicht mehr auf bestimmte Gegenstände bezogen werden kann. Am Ende steht das „fraktale Stadium“: „Im vierten Stadium, dem fraktalen oder vielmehr viralen oder noch besser bestrahlten Stadium des Werts, gibt es überhaupt keinen Bezugspunkt mehr, der Wert strahlt in alle Richtungen, in alle Lücken, ohne irgendeine Bezugnahme auf irgendetwas, aus reiner Kontiguität.“ 124 Vor diesem Hintergrund spricht Baudrillard vom „Wert“ („valeur“) allgemein, weil nach dem Verschwinden des Gebrauchswerts auch der Tauschwert als Antonym nicht mehr bezeichnet werden kann. Dies ist zweifellos eine von Baudrillards vielen Übertreibungen, weil die sich ausbreitende Herrschaft des Tauschwerts zwar nachgewiesen werden kann (sogar an Hochschulen, an denen Fächer in zunehmendem Maße nach der Einwerbung von „Drittmitteln“ beurteilt werden), aber der Gebrauchswert von Gegenständen, Erkenntnissen und Einrichtungen dennoch sichtbar bleibt. Insofern gilt auch Wolfgang Hoebigs These, die lautet: „Das Kapital ist zwar 5. Baudrillards postmoderne Replik 203 <?page no="204"?> 125 W. Hoebig, Bedürftigkeit - Entfremdung der Bedürfnisse im Kapitalismus, Berlin, Max Planck Institut für Bildungsforschung, 1984, S.-263. 126 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-77. 127 G. Simmel, Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin, Wagenbach, 1984, S.-194. gleichgültig gegen den Gebrauchswert, nichtsdestotrotz aber nur Kapital, so‐ lange es Gebrauchswerte produziert.“ 125 Baudrillards Übertreibung ist insofern von Interesse, als sie durchaus eine Tendenz bezeichnet, die in abgeschwächter, gemäßigter Form schon in Mar‐ cuses Der eindimensionale Mensch beschrieben wird. Schon in diesem Buch ist, wie bereits erwähnt, von der Unterwerfung des Gebrauchswerts durch den Tauschwert die Rede: „Der Tauschwert zählt, nicht der Wahrheitswert. In ihm faßt sich die Rationalität des Status quo zusammen, und alle andersartige Rationalität wird ihr unterworfen.“ 126 Baudrillard geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass „alle andersartige Rationalität“ von der Rationalität des Tauschwerts verdeckt wird und verschwindet. Dieser entscheidende, möglicherweise verhängnisvolle Schritt trennt die Spätmoderne von der Postmoderne. Während ein spätmoderner Denker wie Marcuse immer noch die Rationalität des Gebrauchswerts oder „Wahrheits‐ werts“ verteidigt und seine Verteidigung mit der Suche nach der „zweiten Dimension“ und der Überwindung des Kapitalismus zusammenfallen lässt, lässt Baudrillard die Frage nach der „zweiten Dimension“ zusammen mit dem Gebrauchswert verschwinden. Nach Baudrillard geht aus der Herrschaft des Tauschwerts, vor allem im vierten, „fraktalen“ Stadium der Entwicklung (s. o.), eine Scheinwelt hervor, in der alle Qualitäten oder Gebrauchswerte von der aufs Quantum zielenden Frage nach dem „Wieviel“ überdeckt werden. Schon Georg Simmel (vgl. Kap. I. 2) stellte fest, dass die „Individualität der Erscheinungen“ in der Geldwirtschaft tendenziell verschwindet: „Denn das Geld fragt nur nach dem, was ihnen allen gemeinsam ist, nach dem Tauschwert, der alle Qualität und Eigenart auf die Frage nach dem bloßen Wieviel nivelliert.“ 127 Wo wissenschaftliche Fächer von Verwaltern oder Laien primär nach ihren Erfolgen bei der Einwerbung von Drittmitteln beurteilt werden, dort verschwindet auch ihre Eigenart als Gebrauchswert, als Erkenntniswert. Dadurch entsteht eine neue Welt des Scheins, die den Marktgesetzen gehorcht. Als Welt der Wirtschaft, der Werbung und des Marktes dringt diese Welt mitsamt ihren Gesetzen in die Medienwelt ein und bestimmt ihre Mechanismen. Die These, dass die vom Tauschwert beherrschte Medienwelt zu einer auto‐ nomen Welt sui generis wird, übernimmt Baudrillard von Guy Debord, der in Die Gesellschaft des Spektakels zur Wirkung des Spektakels bemerkt, es sei 204 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="205"?> 128 G. Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin, Verlag Klaus Bittermann, 2013 (2. Aufl.), S.-185. 129 J. Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, München, Matthes und Seitz, 1996, S.-17. 130 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-25. 131 J. Baudrillard, Die göttliche Linke, op. cit., S.-19. „die Verwischung der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten Wahrheit unter der von der Organisation des Scheins gewährleisteten reellen Präsenz der Falschheit“. 128 Dadurch entsteht eine Welt der Hyperrealität und der Simulacra, die die wirkliche Welt, ja sogar die Frage nach dieser Welt, verschwinden lässt. In in Le Crime parfait (1995, dt. Das perfekte Verbrechen, 1996) spricht Baudrillard von einer „totalen Simulation“ und erklärt: „So ist die Prophezeiung eingetroffen: wir leben in einer Welt, in der es die wichtigste Aufgabe des Zei‐ chens ist, die Realität verschwinden zu lassen und dieses Verschwinden zugleich zu vertuschen.“ 129 Dies ist zweifellos eine von Baudrillards Übertreibungen, denn für die meisten Menschen sind die Medien - etwa das Fernsehen - immer noch halbwegs zuverlässige Informationsquellen, deren Gebrauchswert bisweilen kritisch beurteilt wird. Allerdings hängt dieser Gebrauchswert von der Art der Rezeption ab: Wer nur eine vage Vorstellung von Geographie hat und das channel switching vor dem Fernsehschirm zur Gewohnheit werden lässt, mag tatsächlich in einer Ersatzwelt leben, in der Werbespots, Vulkanausbrüche, Flugzeugabstürze und Kanonendonner einander abwechseln. Baudrillards Medientheorie mag noch am ehesten auf die Werbung anwendbar sein, die suggeriert, dass alle Probleme mit Hilfe der angepriesenen Waren flugs zu lösen sind, so das am Ende stets ein erleichtertes Lächeln zu erwarten ist. Zu dieser Euphorie heißt es bei Marcuse: „Das Ergebnis ist dann Euphorie im Unglück. Die meisten der herrschenden Bedürfnisse, sich im Einklang mit der Reklame zu entspannen, zu vergnügen, zu benehmen und zu konsumieren, zu hassen und zu lieben, was andere hassen und lieben, gehören in diese Kategorie falscher Bedürfnisse.“ 130 Baudrillards Einwand liegt auf der Hand: Diese Bedürfnisse können nur als „falsch“ bezeichnet werden, weil Marcuse vom Gebrauchswert als „Wahrheitswert“ ausgeht. Wo sich dieser im Tauschwert als „Wert“ schlechthin aufgelöst hat, dort gibt es keine falschen Bedürfnisse mehr, sondern nur Bedürfnisse, die sich in einer eindimensionalen Welt auf den „Wert“ („la valeur“) beziehen. In dieser Welt kommt es nach Baudrillard zu einer „Involution des Politi‐ schen“ und einer „Resorption des Politischen“. 131 In La Gauche divine (Die gött‐ liche Linke) erklärt er, warum dies vor allem für die kommunistische Linke gilt: 5. Baudrillards postmoderne Replik 205 <?page no="206"?> 132 J. Baudrillard, La Gauche divine, Paris, Grasset, 1985, S.-19. 133 Vgl. M. Laudrain, La Voie française au socialisme, Paris, Maison du livre français, 1963. 134 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-98. 135 J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München, Matthes und Seitz, 1982, S.-20-21. „Weil sie sich seit Stalin und seinem Tod am Gebrauchswert orientiert haben, an dem naiven Glauben an eine mögliche Transparenz der Geschichte, des So‐ zialen […].“ 132 Wo aber der „Gebrauchswert“ als „Wahrheitswert“ verschwindet, dort ist auch der wahre Sinn der Geschichte und des Sozialen unauffindbar. Tatsächlich hat sich der marxistische Glaube an einen notwendigen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus als illusorisch erwiesen, und die Suche nach einem „französischen Weg zum Sozialismus“ 133 war vergeblich. Als vergeblich erweist sich im Rückblick auch Marcuses Suche nach einem „authentischen Sozialismus“ (s.-o.). Auch diese „Resorption des Politischen“ wird in Der eindimensionale Mensch antizipiert: „Ganz wie diese Gesellschaft im Bereich der Politik und höheren Kultur dazu tendiert, die Opposition (die qualitative Differenz! ) abzubauen, ja aufzusaugen, so auch in der Triebsphäre.“ 134 Freilich spricht hier Marcuse im Namen der „qualitativen Differenz“ - aber diese ist bei Baudrillard ver‐ schwunden, weil sich alle qualitativen Differenzen in der herrschenden Aus‐ tauschbarkeit des Tauschwerts aufgelöst haben. Dazu bemerkt Baudrillard: „Das Zeitalter der Simulation wird überall eröffnet durch die Austauschbarkeit von ehemals sich widersprechenden oder dialek‐ tisch einander entgegengesetzten Begriffen. Überall die gleiche Genesis der Simulakren: die Austauschbarkeit des Schönen und Häßlichen in der Mode, der Linken und Rechten in der Politik, des Wahren und Falschen in allen Botschaften der Medien, des Nützlichen und Unnützen auf der Ebene der Gegenstände, der Natur und der Kultur auf allen Ebenen der Signifikation.“ 135 Wieder eine Übertreibung? Sicherlich; aber sie trifft teilweise auch zu. Denn bisweilen fällt es tatsächlich schwer, fake news von wahren Nachrichten zu unterscheiden. (Wenn Donald Trump von fake news spricht und die amerikanischen Medien denunziert, dann sind seine Denunziationen selbst fake news.) Wie das Politische fällt in Baudrillards Ansatz auch die von Marcuse und Adorno hochgehaltene Kunst dem Tauschwertmechanismus zum Opfer. Baud‐ rillards These lautet, dass sich zeitgenössische Kunst im Kommerz auflöst, weil sie eine Wirklichkeit reproduziert, die sich bedingungslos den Gesetzen des Marktes fügt. Nicolas Poirier merkt wohl zu Recht an, dass Baudrillard „im 206 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="207"?> 136 N. Poirier, „Présentation“, in: N. Poirier (Hrsg.), Baudrillard, cet attracteur intellectuel étrange, Lormont, Le Bord de l’Eau, 2016, S.-32. 137 J. Baudrillard, Simulacres et simulation, Paris, Galilée, 1981, S.-102. 138 J. Baudrillard, Le Pacte de lucidité ou l’intelligence du mal, Paris, Galilée, 2004, S.-89. 139 J. Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, op. cit., S.-126. 140 J. Baudrillard, Le Complot de l’art. Illusion et désillusion esthétiques, Paris, Sens & Tonka, 2005, S.-48. 141 Ibid. 142 Ibid., S. l45. 143 J.-P. Curnier, „Baudrillard et le ‚complot de l’art‘ (Nullité et nudité des idoles)“, in : N. Poirier (Hrsg.), Baudrillard, cet attracteur intellectuel étrange, op. cit., S.-188. 144 Y. Michaud, La Crise de l’art contemporain, Paris, PUF, 1997, S.-59-60. Anschluss an die von der Frankfurter Schule vorgebrachte Kritik“ 136 argumen‐ tiert. Aber auch hier lässt Baudrillard die „zweite Dimension“, die bei Adorno und Marcuse Kunst als Gesellschaftskritik sichtbar macht, verschwinden. Er spricht in Simulacres et simulation vom „Hypermarkt der Kultur“ 137 und weist in Übereinstimmung mit Bauman (vgl. Kap. II. 4) darauf hin, dass zeitgenössische Kunst von der Werbung kaum noch zu unterscheiden ist: „Nichts unterscheidet sie von den Verfahren der Technik, der Werbung, der Medien und der Rechner.“ 138 Als Beispiel führt Baudrillard das Werk von Andy Warhol an: „Das, worum es in seinem Werk geht, ist eine Herausforderung an die Vorstellung selbst von Kunst und Ästhetik.“ 139 Diese Herausforderung mag originell sein, mündet letztlich jedoch in eine Angleichung an den Markt. Zwar greift Warhol 1965 mit seiner Darstellung aufgereihter Suppendosen „den Begriff der Originalität auf originelle Art an“. 140 Wesentlich später (1986) wiederholt er aber das Experiment und „reproduziert das Nichtoriginelle auf nichtoriginelle Art“. 141 Baudrillard gelangt zu dem Schluss: „Abermals ästhetisiert offizielle Kunst die Ware […].“ 142 Dass diese These für Warhols Nachahmer gilt, versteht sich für Baudrillard fast von selbst. Jean-Paul Curnier fasst zusammen: „[…] Was in den Werken der ganz offiziell anerkannten und geförderten Künstler, die ich hier genannt habe, bewundert wird, das ist der Markt selbst.“ 143 An Gegenargumenten fehlt es auch in diesem Falle nicht. Können Künstler wie Neo Rauch oder Anselm Kiefer in diesem Kontext verstanden oder gar kri‐ tisiert werden? Wohl nicht. Allerdings sollte hier auch jemand wie Yves Michaud zu Wort kommen, der zu bedenken gibt, „dass die Höhenkammkultur […] nicht nur von der kommerzialisierten Kultur marginalisiert, sondern […] außerdem in Übereinstimmung mit divergierenden Interessen von Konsumentengruppen zerstückelt [wurde]“. 144 Dies zeugt von der Ohnmacht der Kultur und in ihr der Kunst, die die Wahl hat, im Strom der Kommerzialisierung aufzugehen oder zu einer Randerscheinung für sich streitende Kenner zu werden. 5. Baudrillards postmoderne Replik 207 <?page no="208"?> 145 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, op. cit., S.-19. 146 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, op. cit., S.-92. Obwohl er noch an einer zweiten, kritischen Dimension der Kultur und der Kunst festhält, antizipiert Marcuse die von Markt und Medien dominierte Eindimensionalität Baudrillards, wenn er erklärt: „Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt.“ 145 Dass es diese Alterna‐ tiven über den Tauschwert integriert, wird auch in Marcuses Versuch über die Befreiung deutlich, einem Buch, das die französische Übersetzung als eine Über‐ windung der Resignation ankündigt, die aus einigen Kapiteln des Eindimensio‐ nalen Menschen herauszuhören ist: Au-delà de l’Homme unidimensionnel. Dort ist zwar von den verschiedenen Revolten der Studierenden und der Randgruppen die Rede, aber das Fazit lautet: „Der Markt hat diese Rebellion unterlaufen und zu einem Geschäft gemacht; aber sie ist gleichwohl ein ernstes Geschäft.“ 146 Ein schaler Trost, wenn das ernste Geschäft trotz allen Ernstes zu einem Geschäft wird. Baudrillard übertreibt zwar, wenn er behauptet, dass der Gebrauchswert verschwindet, nicht mehr wahrgenommen wird; er übertreibt aber nicht, wenn er - nach Marcuse - die Gewalt der kapitalistischen Integrationsmechanismen beschreibt, die im Übergang von der Spätmoderne zur Postmoderne ungeahnte Ausmaße angenommen hat. 6. Verwindung? (Epilog) Während Marcuse und die anderen Vertreter der Kritischen Theorie eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ins Auge fassen und in ihrer Suche nach der zweiten Dimension in Kultur und Kunst nicht nachlassen, gehen postmoderne Denker wie Baudrillard und Zygmunt Bauman davon aus, dass diese zweite Dimension nicht mehr bezeichnet werden kann. Ihr Argument lautet, dass sich die Gebrauchswerte als qualitative Werte und Grundlagen der Kritik im Tauschwert aufgelöst haben (Baudrillard), so dass Alternativen nicht mehr vorstellbar sind (Bauman). „Living Without an Alternative“, lautet eine Kapitel-Überschrift in Baumans Buch Intimations of Postmodernity. Im Rahmen dieser postmodernen Problematik denkt auch Gianni Vattimo, wenn er in Das Ende der Moderne die Postmoderne als Problematik der „Verwin‐ dung“ zu verstehen sucht und sie so von der Moderne und Spätmoderne, die sich vom Gedanken an eine revolutionäre Überwindung der Verhältnisse leiten ließen, differenziert. 208 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="209"?> 147 G. Vattimo, Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S.-178. 148 Ibid., S.-180. 149 Vgl. P. V. Zima, Soziologische Theoriebildung, op. cit., Kap. VI. 4. 150 G. Vattimo, Al di là del soggetto. Nietzsche, Heidegger e l’ermeneutica, Mailand, Feltrinelli, 1991 (4. Aufl.), S.-49. Ausgehend von Nietzsche und Heidegger sowie von dessen Begriff „Verwin‐ dung“, erklärt Vattimo: „Es ist nun genau der Unterschied zwischen Verwindung und Überwindung, der uns helfen kann, das ‚post‘ der Postmoderne philoso‐ phisch zu bestimmen.“ 147 Denn Vattimo ist mit Nietzsche der Meinung, „daß die Überwindung eine typisch moderne Kategorie und daher gänzlich ungeeignet ist, einen Ausweg aus der Moderne anzugeben“. 148 Nicht um die Frage geht es hier, wie Vattimos Deutung von Nietzsche und Heidegger einzuschätzen sei, sondern um die Frage, ob es sinnvoll sei, auf den kritischen Begriff der Überwindung zu verzichten und sich mit einer postmodernen Eindimensionalität abzufinden. Die Antwort der Kritischen Theorie (in allen ihren Varianten) liegt auf der Hand: In einer Zeit, da sich eine von Menschen verursachte ökologische Katastrophe abzeichnet, die in den 1980er und 90er Jahren, als Baudrillard, Bauman und Vattimo ihre Bücher veröffentlichten, noch nicht so klare und bedrohliche Konturen angenommen hatte, ist eine unreflektierte Ausbeutung der Natur, die von Marktgesetzen und technologischem Fortschrittsdenken angetrieben wird, radikal zu kritisieren. Radikal bedeutet hier: nicht im Rahmen eines Marxismus, der lediglich eine Überwindung kapitalistischer Verhältnisse anvisiert und das Scheitern des realen Sozialismus auf wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Ebene nicht mitdenkt, sondern ausgehend von der Dialektik der Aufklärung. Deren Autoren holten schon in den 1940er Jahren sehr viel weiter aus 149 als Marcuse, der noch einen „authentischen Sozialismus“ im Blick hat, indem sie nicht den marxistischen Gegensatz Arbeit / Kapital zugrunde legten, sondern den Gegen‐ satz Naturverständnis / Naturbeherrschung. Im Rahmen dieses Gegensatzes ist auch eine Kritik des realen Sozialismus möglich, der von der ehemaligen UdSSR bis zur heutigen Volksrepublik China die beherrschte Natur zerstört - und mit ihr den unterworfenen Menschen. Dies bedeutet, dass ein Umdenken im Sinne von Adorno und Horkheimer vonnöten ist. Einem solchen Umdenken steht der postmoderne Verzicht auf ein autonomes, kritisches Subjekt (bei Lyotard, Maffesoli und Vattimo) im Wege. Wenn Vattimo von einem pluralen und „gespaltenen Subjekt“ („soggetto scisso“) 150 spricht und an anderer Stelle hinzufügt, dass dieses Subjekt „sich selbst als unterworfenes Subjekt (soggetto-assoggettato), als letzte Inkarnation 6. Verwindung? (Epilog) 209 <?page no="210"?> 151 G. Vattimo, Le avventure della differenza. Che cosa significa pensare dopo Nietzsche e Heidegger, Mailand, Garzanti, 1980, S.-121. 152 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: Noten zur Literatur I, in: GS XI, op. cit., S.-125. von Herrschaftsstrukturen zerlegt, disloziert, destrukturiert“ 151 , so ist diese dekonstruierende Auffassung des Subjekts als eine Ergänzung zur „Verwindung“ aufzufassen: als Eingeständnis der Ohnmacht in einer eindimensionalen Welt ohne Alternative. Indessen werden alle existierenden Systeme - vom Kapitalismus bis zum realen Sozialismus - von den Gewalten der Natur und der drohenden Kata‐ strophe zum Umdenken und zu radikalen Reformen gezwungen. Dieses Um‐ denken im Sinne der Dialektik der Aufklärung sollte auf individueller und kollektiver Ebene von kritischen Subjekten ermutigt und beschleunigt werden. Festzuhalten ist daher vor allem an dem auch von Marcuse verteidigten in‐ dividuellen Subjekt sowie an dem Gedanken eines „seiner selbst mächtigen und bewußten Subjekts, dessen, der nicht kapituliert“ 152 , wie es Adorno im Zusammenhang mit Paul Valéry ausdrückt. 210 V. Von Herbert Marcuse zu Michel Maffesoli und Jean Baudrillard <?page no="211"?> 1 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.), S.-155. 2 Vgl. G. Kiss, Paradigmawechsel in der Kritischen Theorie: Jürgen Habermasʼ intersubjek‐ tiver Ansatz, Stuttgart, Enke, 1987, S.-27 und S.-32. VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard: Der Zerfall von Homogenität und Konsens in der Postmoderne Von Kapitel zu Kapitel lautete die These dieses Buches, dass der Ausgangspunkt der Kritischen Theorie der liberale Individualismus des 19. Jahrhunderts ist, der von den Frankfurter Philosophen einerseits als Herrschaftsprinzip kritisiert, ja sogar als Vorläufer des Faschismus betrachtet, anderseits aber als Ursprung individueller Autonomie bejaht wird. Während Marcuse an der historischen Immanenz im Sinne des hegelianischen Marxismus festhält und immer wieder die Frage nach einem neuen Subjekt gesellschaftlicher Veränderung aufwirft (z. B. die „neue Arbeiterklasse“, die Studierenden), verzichten Adorno und Hork‐ heimer auf immanente Gesellschaftskritik und vertrauen kritisches Denken dem autonomen Einzelnen und der Negativität der Kunst an. Von beiden Standpunkten, von der Suche nach einem neuen historischen Subjekt, das das revolutionäre Proletariat ersetzten könnte, und von der Iden‐ tifizierung des kritischen Bewusstseins mit dem autonomen Einzelsubjekt, distanziert sich Habermas. In seiner Kritik an Horkheimer und Adorno (vor allem an der Dialektik der Aufklärung) wirft er den beiden Autoren eine „eingeengte Optik“ vor, „die gegenüber den Spuren und den existierenden Formen kommunikativer Rationalität unempfindlich macht“. 1 Als Alternative bietet er in Übereinstimmung mit dieser Kritik eine Theorie des kommunikativen Handelns an, die zwar an der Herrschaftskritik Adornos und Horkheimers festhält, aber den Subjektbegriff, auch den Begriff des kri‐ tischen Subjekts, durch den kommunikationsorientierten Begriff der Intersub‐ jektivität ersetzt. 2 Er soll zur Grundlage einer idealisierten herrschaftsfreien Kommunikation werden. (Der Frage, inwiefern der Begriff „Intersubjektivität“ den Subjektbegriff - sowohl den individuellen als auch den kollektiven - umfasst und voraussetzt und welche Folgen dies für die intersubjektive Kom‐ munikation hat, wird hier in Abschn. 2 nachgegangen.) Angesichts dieses terminologischen Wandels, der eine Abkehr vom auto‐ nomen (individuellen) Subjekt als kritischer Instanz mit sich bringt, scheint die <?page no="212"?> 3 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 (9. Aufl.), S.-126. 4 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand, 1978 (9. Aufl. ), S.-42. Annahme berechtigt, Habermas habe mit dem liberalen und individualistischen Erbe, auf das sich Marcuse in einem hier (in Kap. V) zitierten Text beruft, nichts mehr zu tun. Marcuses für die gesamte Kritische Theorie symptomatischer und schon zitierter Satz lautet: „Die kritische Theorie hat es in einem bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es ihr um die Zukunft geht.“ 3 Gilt dieser Satz noch für Habermas, der das autonome Individuum, das aus Marcuses Revolution befreit und gestärkt hervorgehen sollte, seiner Theorie nicht mehr zugrunde legt? Der Satz gilt auch für ihn; aber in einem anderen Sinn als für Marcuse, Adorno und Horkheimer. Im ersten Abschnitt soll hier gezeigt werden, dass auch für Habermas die Erfahrungen der liberalen Ära von entscheidender Bedeutung sind. Es ist jedoch weder der autonome Einzelne noch der Künstler als „Statthalter des Gesamt‐ subjekts“ (Adorno), der im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht, sondern die Kommunikation innerhalb eines liberalen Bürgertums, das im Liberalismus eine nicht unbedeutende Rolle spielt, wenn es um die Kontrolle der Wirtschaft und der politischen Beschlüsse staatlicher Instanzen geht. In Habermasʼ sozio‐ logischer Erzählung sind Entstehung und Niedergang einer liberal-bürgerlichen Öffentlichkeit zentral, die als Kontrollinstanz des gesellschaftlichen Geschehens betrachtet werden kann. Sie entsteht mit der Konsolidierung bürgerlicher Herrschaft, die im Europa des 19. Jahrhunderts in unterschiedlich verlaufenden Entwicklungsphasen die höfische Öffentlichkeit der feudal-absolutistischen Zeit ablöst. Sowohl in Ha‐ bermasʼ Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) als auch in seinem viel später erschienenen Buch Ein neuer Strukturwandel der Öffent‐ lichkeit und die deliberative Politik (2022) ist von einer Öffentlichkeit die Rede, die weitgehend mit der „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ 4 zusammenfällt. Das Argument des ersten Abschnitts lautet nun, dass diese liberale Öffentlich‐ keit „der zum Publikum versammelten Privatleute“ Habermas als Grundlage seiner Theorie des kommunikativen Handelns dient. Die relative Homogenität dieses liberalen Publikums wird von ihm (als Idealtypus im Sinne von M. Weber) vorausgesetzt und begründet seine Annahmen einer homogenen, allen gemeinsamen Lebenswelt, einer „idealen Sprech- oder Kommunikationssitua‐ tion“ und einer gemeinsamen Konsenssuche. Die komplementären Begriffe „Gemeinsamkeit“, „Verständigungswille“ und „Konsenssuche“, die der Theorie 212 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="213"?> des kommunikativen Handelns zugrunde liegen, sind aus Habermasʼ Auffassung der liberalen Öffentlichkeit des 19.-Jahrhunderts ableitbar. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels setzt sich vornehmlich mit den beiden komplementären Begriffen „Intersubjektivität“ und „Lebenswelt“ auseinander. Untersucht wird in diesem Abschnitt die von Habermas beschriebene Einbet‐ tung intersubjektiver Kommunikation in eine relativ homogene Lebenswelt und eine gemeinsame Sprache, die Verständigung und Konsenssuche ermöglichen. Die Untersuchung führt zu der Frage, ob verschiedene individuelle und kollek‐ tive Subjekte, die stets von mehr oder weniger heterogenen Gruppensprachen (Soziolekten) und Diskursen als Reden zu Subjekten gemacht werden, jemals - auch im Idealfall - eine gemeinsame Sprache finden können, in der Wörter wie „Kunst“, „Demokratie“ oder „Kapitalismus“ identische Bedeutungen annehmen. Der dritte Abschnitt ist insofern eine Fortsetzung des zweiten, als in ihm im Anschluss an den Schlüsselbegriff „Lebenswelt“ die Begriffe „Intersubjektivität“ und „ideale Sprechsituation“ (Habermas) näher betrachtet werden. Es soll deut‐ lich werden, dass Habermas zwar den Begriff „Diskurs“ als klärendes Gespräch (als Metagespräch) einführt, sich aber über den Diskurs im semiotischen Sinne als semantisch-narrative Struktur mit Aktantenmodell hinwegsetzt. An Stelle dieses Diskurses setzt er die anglo-amerikanische Sprechakttheorie ein, die über den Satz im pragmatischen Sinne nicht hinausgeht und daher den Nexus von Sprache (Soziolekt, Diskurs) und Subjektkonstitution nicht berücksichtigen kann. Wird dieser Nexus berücksichtigt, werden die Hürden sichtbar, die in einer heterogenen gesellschaftlichen und sprachlichen Welt der Verständigung zwi‐ schen Subjekten im Wege stehen und die Homogenität von „Lebenswelt“ und „Kommunikationsgemeinschaft“ (Apel) grundsätzlich in Frage stellen. Der Glaube an diese Homogenität und an die intersubjektive Verständigung in einer gemeinsamen Lebenswelt und ihrer Sprache geht im Übergang von der Spätmo‐ derne zur Postmoderne verloren. Vor diesem Hintergrund erscheint Habermas als ein spätmoderner Autor, der die Fragmentierung und Pluralisierung, die postmoderne Denker wie Zygmunt Bauman und Jean-François hervorheben, nicht zur Kenntnis nimmt oder als ultima ratio nicht akzeptieren kann. Auf grundverschiedene Arten setzen sich Bauman und Lyotard für Vielfalt, Abweichung und eine plurale Gesellschaft ein, die sich von den vereinheitli‐ chenden Mythen der Moderne abwendet (Abschn. 4-5). Wie Habermas, der das Herrschaftsprinzip kritisch zerlegt, gehen sie von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung aus, ziehen aber ganz andere Schlüsse als der Denker des „kommunikativen Handelns“. Für sie sind die folgenden Sätze aus der Dialektik der Aufklärung entscheidend: „Die formale Logik war die große Schule VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard 213 <?page no="214"?> 5 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. V (Hrsg. A. Schmidt, G. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 2014 (4. Aufl.), S.-29. 6 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt, Fischer, 1995, S.-127. 7 Vgl. J. Habermas, „Braucht Europa eine Verfassung? “ in: ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays 1980-2001, Frankfurt, Suhrkamp, 2003, S. 233, wo Habermas „für eine energische Fortführung des europäischen Projektes“ plädiert. 8 J. Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Frankfurt, Suhrkamp, 2022, S.-20. der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt.“ 5 Für Bauman ist die Aufklärung eine Metonymie oder Synekdoche der Mo‐ derne. Denn er vertritt die - etwas extreme - Meinung, dass die Moderne nicht nur auf Herrschaft und Berechenbarkeit, sondern auch auf Vereinheitlichung ausgerichtet war. Im vierten Abschnitt soll gezeigt werden, dass seine Auffassung moderner Gesellschaften in schroffem Gegensatz zu Habermasʼ Streben nach Homogenität und Gemeinsamkeit steht. Zur Veranschaulichung von Baumans Position mögen vorerst einige Sätze aus seinem Buch Moderne und Ambivalenz genügen: „Ja, die Postmoderne dreht die Zeichen der Werte, die für die Moderne zentral sind, um, wie Gleichförmigkeit und Universalismus. Und sobald erst einmal wahrgenommen worden ist, daß die Vielfalt der Lebensformen unreduzierbar ist und es unwahrscheinlich ist, daß sie konvergieren, werden sie nicht nur widerstrebend akzeptiert, sondern in den Rang eines höchsten positiven Wertes erhoben, der weder in eine Lebensform aufzulösen ist, welche auf Universalität zielt, noch durch eine Form degradiert wird, die nach universaler Herrschaft strebt.“ 6 Dieser Wille zu Vielfalt und Heterogenität, den Bauman dem staatlich organisierten Nationalismus entgegensetzt, der nach ethnischer Homogenität strebt und auf alles Abweichende mit Sanktionen reagiert, verträgt sich nicht mit Habermasʼ Annahme einer homogenen Lebenswelt und seinem Streben nach Verallgemeinerung und Konsens. Nun ist Habermas, der sich unmissverständ‐ lich für die europäische Integration einsetzt 7 , alles andere als Nationalist. Seine Betonung lebensweltlicher Homogenität und sein Konsensdenken sind auf die relative Homogenität einer liberal-bürgerlichen Öffentlichkeit zurückzuführen, auf die er sich auch in seiner Analyse des „neuen Strukturwandels der Öffent‐ lichkeit“ (2022) beruft. Es ist „die frühliberale Vorstellungswelt des vormärzli‐ chen Liberalismus“. 8 Es fragt sich, ob dieses Streben nach Verständigung und Konsens in eine von Fragmentierung und Pluralismus geprägte Postmoderne 214 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="215"?> 9 J. Habermas, Theorie und Praxis (1963), Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S.-11. hinübergerettet werden kann. Dieser Frage widmen sich vor allem die Abschnitte 5 und 6. In ihnen wird versucht, Lyotards partikularistische und allen Verallgemeine‐ rungstendenzen abholde Sprachtheorie dialogisch auf Habermas’ konsensori‐ entierte Philosophie der Sprechakte zu beziehen. Während Lyotard die Ansicht vertritt, dass „Sprachspiele“ im Sinne von Ludwig Wittgenstein und „Satz-Re‐ gelsysteme“ nicht metasprachlich aufeinander zu beziehen sind, weil ihnen jeder Versuch, sie in einer universellen, übergreifenden Struktur aufzulösen, Unrecht tut, sind Habermas und Apel - nicht zu Unrecht - der Ansicht, dass die Umgangssprache als letzte Metasprache stets eine Brücke von einer besonderen Sprache zur anderen schlagen kann. Im letzten Abschnitt soll klar werden, dass ein beziehungsloses Nebenein‐ ander von universalisierender (Spät-)Moderne und partikularisierender Post‐ moderne nicht als der Weisheit letzter Schluss hingenommen werden muss. Denn im Dialog scheinbar unvereinbarer Positionen können neue Erkenntnisse gewonnen werden (wie etwa in den Auseinandersetzungen zwischen russischen Formalisten und Marxisten) - ohne dass eine neue Supertheorie entsteht, die sich monologisch mit der Wirklichkeit identifiziert und dem Weiterdenken einen Riegel vorschiebt. 1. Das liberal-individualistische Erbe bei Habermas und der Übergang zur Massengesellschaft Habermasʼ eingangs erwähnten Werken zum Thema „Strukturwandel der Öf‐ fentlichkeit“ kommt deshalb eine grundsätzliche Bedeutung zu, weil sie in nuce seine Großerzählung über die „Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systeme Geld und Macht“ enthalten. Nach Habermasʼ eigenen Worten geht es in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) um „den historischen Zusammenhang der kapitalistischen Entwicklung mit Entstehung und Zerfall der liberalen Öffentlichkeit“. 9 Die Analyse dieses historischen Zusammenhangs führt zu der Einsicht, dass mit der Entstehung einer bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit Herrschaftskritik zwar institutionalisiert, im Laufe der Entwicklung zum Mo‐ nopolkapitalismus als Konzernwirtschaft aber wieder in Frage gestellt wurde. Habermas selbst erklärt: „Einerseits ist die Fiktion einer Herrschaft auflö‐ senden diskursiven Willensbildung zum ersten Mal im politischen System des bürgerlichen Rechtsstaates wirksam institutionalisiert worden; andererseits 1. Das liberal-individualistische Erbe bei Habermas 215 <?page no="216"?> 10 Ibid. 11 J. Habermas, „Öffentlichkeit“ (Ein Lexikonartikel), in: ders., Kultur und Kritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S.-63. 12 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, op. cit., S.-42. 13 M. Horkheimer, „Vernunft und Selbsterhaltung“, in: Gesammelte Schriften, Bd. V, op. cit., S.-334. 14 Th. W. Adorno, „Individuum und Organisation“, in: Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften, Bd. VIII (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S.-454. zeigt sich die Unvereinbarkeit der Imperative des kapitalistischen Wirtschafts‐ systems mit Forderungen eines demokratisierten Willensbildungsprozesses.“ 10 In dieser Darstellung kristallisiert sich der semantische Gegensatz heraus, der Habermasʼ gesellschaftskritischem Diskurs in dessen Gesamtheit die Richtung vorgibt: der Gegensatz zwischen einer in der Lebenswelt verankerten kommu‐ nikativen Vernunft und den „sprachlosen“ Medien „Macht“ und „Geld“. Obwohl dieser Gegensatz im älteren Buch über den „Strukturwandel“ nicht so stark in den Vordergrund tritt wie in späteren Werken, liegt er dem Kernargu‐ ment dieser Schrift zugrunde, das lautet: Nach dem Niedergang der höfisch-ab‐ solutistischen Gesellschaft, in der Fürsten ihre Herrschaft „statt für das Volk ‚vor‘ dem Volk repräsentierten“ 11 , bildet sich eine bürgerliche Öffentlichkeit, die vornehmlich aus Geistlichen, Offizieren, Ärzten und Wissenschaftlern besteht und von Habermas als „Sphäre der zum Publikum versammelten Pri‐ vatleute“ 12 definiert wird. Es sind mehrheitlich liberale Bildungsbürger, auf die sich auch Marcuse, Adorno und Horkheimer beziehen, die die Entwicklungen in Wirtschaft, Politik und Kultur kritisch kommentieren und bisweilen sogar beeinflussen. Im Übergang von der liberal-individualistischen zur spätkapitalistischen Massen- und Mediengesellschaft zerfällt allmählich die „Sphäre der zum Pu‐ blikum versammelten Privatleute“. Großkonzerne und Medienmagnaten ver‐ fügen im Spätkapitalismus über ein Informations- und Meinungsmonopol, und individuelle Meinungsbildung, die wirksame Kontrolle ermöglicht, wird zu einer Randerscheinung der Gesellschaft. Parallelen zu den Gedankengängen Adornos, Horkheimers und Marcuses sind nicht zu übersehen. Der Unterschied, der Habermas von seinen Vorgän‐ gern trennt, ist auf seine kommunikative, intersubjektive Betrachtungsweise zurückzuführen. Während bei Adorno und Horkheimer das individuelle Sub‐ jekt als vernunftbegabte und kritische Instanz im Vordergrund steht, so dass Horkheimer den „Zerfall der Vernunft“ und den des Individuums ineinssetzen kann 13 , und Adorno hofft, „daß der ohnmächtige Einzelne durchs Bewußtsein der eigenen Ohnmacht doch seiner selbst mächtig bleibe“ 14 , lässt Habermas die 216 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="217"?> 15 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, op. cit., S.-86. 16 Ibid., S.-133. 17 Ibid., S.-173-174. Kommunikation zwischen autonomen Bildungsbürgern in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rücken. Diese Kommunikation hat einen Doppelcharakter: Die Bürger, deren Au‐ tonomie auf „Besitz und Bildung“ gründet, kommunizieren nicht nur unter‐ einander, sondern treten zugleich in einen kritischen Dialog mit staatlichen Institutionen, etwa mit den Abgeordneten, ein: „Das politische Räsonnement des Publikums hat sich bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts immerhin so weit organisiert, daß es in der Rolle eines permanenten kritischen Kommentators die Exklusivität des Parlaments definitiv aufgebrochen und sich zum offiziell bestellten Diskussionspartner der Abgeordneten entwickelt hat.“ 15 Hier wird deutlich, dass die individuelle Autonomie der einzelnen Bürger zwar vorausge‐ setzt, dass aber nicht das isolierte Subjekt als kritische Instanz fokussiert wird, sondern kommunizierende, sich verständigende Individuen. In Habermasʼ Spät‐ werk treten diese Individuen als Vertreter einer von Macht und Geld bedrohten Lebenswelt wieder auf. Wie im Spätwerk, aber auf anderer Ebene, beruft sich Habermas in seiner Habilitationsschrift auf Kant, um Vernunft kommunikativ und konsensuell zu begründen. Insofern ist Kant für seine Philosophie mindestens so wichtig wie Hegel oder Marx: „Schon in der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant dem öffentlichen Konsensus der Räsonierenden untereinander die Funktion einer pragmatischen Wahrheitskontrolle zugeschrieben.“ 16 Für Kant wie für Habermas ist in diesem Kontext der Unterschied zwischen „Überreden“ und „Fürwahrhalten“ essentiell. Dies bedeutet zugleich, dass sowohl beim frühen als auch beim späten Ha‐ bermas Wahrheit durch kommunikative Verfahren gewonnen wird und sich nicht wie bei Adorno und bis zu einem gewissen Grad auch bei Marcuse im Wahr‐ heitsgehalt kritischer Kunstwerke herauskristallisiert. Die bürgerliche Kommu‐ nikation, die im liberalen Zeitalter eine zugleich kritische und kontrollierende Funktion erfüllt, hat auch für den späteren Habermas eine richtungsweisende Bedeutung: trotz des Niedergangs der liberal-individualistischen Konstellation, die im Spätkapitalismus durch das Heranwachsen einer marktvermittelten, massenmedialen Kommunikation marginalisiert wird. Zu dieser Entwicklung bemerkt Habermas: „Seit der großen Depression, die 1873 beginnt, geht die liberale Ära, mit einem sichtbaren Umschwung auch in der Handelspolitik, zu Ende.“ 17 Die Entwicklung, die durch zunehmend aggressiv auftretende Großkonzerne beherrscht wird, geht dahin, dass, wie 1. Das liberal-individualistische Erbe bei Habermas 217 <?page no="218"?> 18 Vgl. R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin, Berlin Verlag, 2013 (2. Aufl.), Kap. XI: „Das Ende der öffentlichen Kultur“. 19 J. Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, op. cit., S.-64. 20 Ibid., S.-20. 21 Ibid., S.-31. Richard Sennett zugleich mit Habermas betont 18 , die kritikfähige politische Öffentlichkeit zerfällt. Habermas spricht in seinem neuesten Werk zum „Struk‐ turwandel“ vom (temporären) „Zerfall der Öffentlichkeit“ und erklärt: „Nicht die Häufung von Fake News ist für eine verbreitete Deformation der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit signifikant, sondern der Umstand, dass aus der Perspektive der Beteiligten Fake News gar nicht mehr als solche identifiziert werden können.“ 19 So entsteht eine zweite, medienvermittelte Wirklichkeit, die - nach Baudrillard (vgl. Kap. V. 5) - die eigentliche Wirklichkeit verdeckt, so dass diese nicht mehr wahrgenommen wird. Dadurch wird Kritik (krinein = entscheiden) grundsätzlich in Frage gestellt, weil das Wahre vom Unwahren, das Wirkliche vom Unwirklichen nicht mehr zu unterscheiden ist. Dennoch hält Habermas an der Möglichkeit einer kommunikativen Wahr‐ heitssuche im bürgerlich-liberalen Stil fest. Auch in seinem zweiten Buch zum „Strukturwandel“ vertritt er die Meinung, dass gerade in einer stark pluralisierten oder diversifizierten Gesellschaft eine „deliberative Politik“ im frühliberalen Sinne Not tut: „Der auf die frühliberale Vorstellungswelt des vormärzlichen Liberalismus zurückgehende, aber inzwischen sozialstaatlich entfaltete Ansatz deliberativer Politik empfiehlt sich vor allem damit, dass er erklärt, wie in pluralistischen Gesellschaften ohne gemeinsame Religion oder Weltanschauung politische Kompromisse vor dem Hintergrund eines intuitiven Verfassungskonsenses überhaupt zustande kommen können.“ 20 (Allerdings sind Kompromiss- und Wahrheitssuche, um die es in Habermasʼ Theorie des kom‐ munikativen Handelns auch geht, grundverschieden: vgl. Abschn. 3.) Habermasʼ auf Kommunikation und Konsens ausgerichtete Theorie stützt sich auch auf die konsensorientierten Soziologien Emile Durkheims und Talcott Parsonsʼ, sooft sie eine „gemeinsame politische Kultur“ geltend macht, die den Rahmen abgibt, in dem Diskussionen oder Deliberationen stattfinden. Gerade angesichts einer fortschreitenden Fragmentierung zeitgenössischer Ge‐ sellschaften insistiert Habermas auf „der reziproken Einbeziehung von Fremden, die füreinander Fremde bleiben wollen, in eine gemeinsame politische Kultur […]“. 21 Beim Lesen dieser Zeilen kann jemandem, der den Nexus von Semantik und Syntax ernst nimmt und nicht aus den Augen verliert, nicht ganz wohl sein. Die „reziproke Einbeziehung von Fremden“ ist in der internationalen Politik als 218 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="219"?> 22 „Donald Trump’s Speech ‚Save America‘“ (6. Januar 2021, Rally Transcript), S.-4. Diplomatie nicht zu vermeiden. Die Verständigung mit Sowjetdiplomaten war unumgänglich, sooft es galt, Abkommen zu unterzeichnen, um militärischen Auseinandersetzungen zuvorzukommen. Dies gilt auch für Gespräche mit den Vertretern der Volksrepublik China oder Saudi Arabiens. Aber kein europäischer oder amerikanischer Diplomat wäre auf den Gedanken gekommen, dass solche Gespräche im Rahmen einer „gemeinsamen politischen Kultur“ stattfinden, zumal kommunistische Regierungen ein völlig anderes Verständnis von Demo‐ kratie haben als „westliche“ (vgl. „demokratischer Zentralismus“). Dies gilt auch für innenpolitische oder innergesellschaftliche Kommunikation: Man kann mit Islamisten oder (in den USA) mit radikalen Republikanern zwar reden, wird sich aber nicht der Illusion hingeben, dass sie demokratische Verfassungen ernst nehmen oder die Gleichberechtigung von Frauen für eine Selbstverständlichkeit halten. Wenn Donald Trump in seiner Brandrede vom 6. Januar 2021 das Wort „Demokratie“ verwendet, erfüllt er es mit einem ganz anderen semantischen Inhalt als Biden, die Demokraten oder gemäßigte Republikaner (etwa Anhänger des Lincoln Project): „Now it is up to Congress to confront this egregious assault on our democracy.“ 22 Auch der Name „America“ nimmt in seinen Reden („Make America great again“) andere Konnotationen und semantische Inhalte an als in den Reden anderer Politiker (etwa Bidens). Dies bedeutet: Die „Einbeziehung von Fremden“ ist möglich und notwendig, aber nicht im Rahmen einer „gemeinsamen politischen Kultur“. Habermas nimmt hier einen semantischen Widerspruch in Kauf, der seine gesamte Kom‐ munikationstheorie durchwirkt. Immer wieder postuliert er eine gemeinsame „Lebenswelt“, „Kultur“ oder „Sprache“, wo religiöse, ideologische, politische oder wissenschaftliche Heterogenität herrscht. Um einer Kritik zu entgehen, die seine Thesen mit Hinweisen auf eine heterogene, fragmentierte Wirklichkeit widerlegt, unterscheidet er - wie sich in Abschn. 2 und 3 zeigen wird - eine „ideale“ oder „formalpragmatische Lebenswelt“ oder „Kommunikationsgemein‐ schaft“ (K.-O. Apel) von der konfliktreichen wirklichen. Es wird sich zeigen, dass dies nicht sinnvoll ist, zumal bei Habermas Ideal und Wirklichkeit immer wieder ineinander übergehen - weil sie nicht zu trennen sind. Im vierten und fünften Abschnitt soll deutlich werden, dass die „frühlibe‐ rale Vorstellungswelt“, die Habermas als Grundlage der Kommunikation in die Gegenwart herüberretten möchte, weder bei Zygmunt Bauman noch bei Jean-François Lyotard dem Selbstverständnis heutiger (postmoderner) Gesell‐ schaften entspricht. 1. Das liberal-individualistische Erbe bei Habermas 219 <?page no="220"?> 23 J. Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, op. cit., S.-30. 24 Ibid., S.-38-39. 25 Ibid., S.-38. Beide Denker stellen nicht nur Partikularisierungs- und Fragmentierungsten‐ denzen fest, sondern ergreifen zudem Partei für Partikularität und Vielfalt. Bei Lyotard wird diese Vielfalt im sprachlichen Bereich zu einer unüberwindlichen Hürde für Verständigung und Universalisierung. Direkt oder indirekt stellen Bauman und Lyotard als Vertreter der Postmoderne Habermasʼ Versuche, Verständigung und Konsens durch die Postulate einer homogenen und allen gemeinsamen Lebenswelt oder Sprache zu ermöglichen, radikal in Frage. So gehen abermals spätmoderne Hoffnungen und Lösungsvorschläge in der post‐ modernen Problematik verloren. 2. Das Postulat einer homogenen Lebenswelt als Erbe des liberalen Individualismus Das Kernargument dieses Kapitels lautet: So wie Adorno und Horkheimer am autonomen Individuum der liberalen Ära festhalten, so hält Habermas an der kritischen Kommunikation unter autonomen, mündigen und vernunftbegabten Bürgern des Liberalismus fest. In beiden Fällen geht es um die Rettung des kritischen Denkens, das den Vertretern der Kritischen Theorie - trotz aller Vorbehalte gegenüber dem liberalen Kapitalismus - als im liberalen Bürgertum beheimatet erscheint. Im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer versucht Ha‐ bermas, über das subjektzentrierte Denken seiner Vorgänger hinauszugelangen und Kritik in der intersubjektiven Kommunikation zu fundieren. Die Schwierigkeit, auf die er stößt, besteht darin, dass es zwar trotz der Schwächung der Intellektuellen in einer hochdifferenzierten und von Speziali‐ sierung geprägten Gesellschaft kritische Einzelne noch geben mag, dass aber die „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ (s. o.) einer Vergan‐ genheit angehört, deren Wiederbelebung aussichtslos erscheint. Dennoch spricht sich Habermas - auch in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit (2022) - für eine „liberale politische Kultur“ aus: „Eine aktive Bürgerschaft verlangt erstens eine im Großen und Ganzen liberale politische Kultur, die aus einem verletzbaren Gewebe von Einstellungen und kulturellen Selbstverständlichkeiten besteht.“ 23 Er meint zwar, Elemente dieser politischen Kultur sogar in der öffentlichen Kommunikation von Massengesellschaften zu beobachten 24 , spricht aber auch von der „Auszehrung der bestehenden demokratischen Regimes“ 25 und nennt als Beispiel den „Brexit“, dessen Befür‐ 220 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="221"?> 26 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt, Suhr‐ kamp (1999), 2004, S.-124. 27 Ibid. 28 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S.-200. 29 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (6. Aufl.), S.-35. worter ihre Meinung unter anderem dem vereinfachenden Nationalismus der Murdoch-Presse (und davor schon der Beaverbrook-Presse) verdankten. Es geht hier jedoch nicht um die Frage, ob Habermasʼ Plädoyer für eine „liberale politische Kultur“ plausibel ist, sondern um die Frage, welche Funktion es in seinem Diskurs erfüllt. Die These lautet, dass es in diesem Diskurs primär darum geht, dieses Ideal mit Hilfe von einheitsstiftenden Begriffen wie Kultur, Lebenswelt, Kommunikation und Konsens trotz fortschreitender sozialer Fragmentierung zu retten. Es soll den Einwirkungen postmoderner Fragmentierung und Partikularisierung entzogen werden. Einer aufmerksamen Lektüre von Habermasʼ Schriften wird nicht entgehen, dass das Diskurssubjekt Selektionen und Definitionen vornimmt, die eine teleologische Ausrichtung auf Einverständnis und Konsens ermöglichen. So ist beispielsweise in Wahrheit und Rechtfertigung von einer „objektiven Welt“ die Rede, „die für alle dieselbe ist“. 26 Verständigung in dieser Welt ist möglich, weil sie von allen Beteiligten „intersubjektiv geteilt wird“. 27 An Hinweisen auf eine gemeinsame Kultur, die den Konsens erleichtert, fehlt es nicht: „Die Gemeinsamkeit beruht gewiß auf konsentiertem Wissen, einem kulturellen Wissensvorrat, den die Angehörigen teilen.“ 28 In einer gemeinsamen Welt und einer allen Beteiligten gemeinsamen Kultur kann auch der Gedanke an eine gemeinsame Sprache als plausibel erscheinen: „Die Idealität der Bedeutungsallgemeinheit prägt die Zusammenhänge kommu‐ nikativen Handelns insofern, als die Beteiligten gar nicht die Absicht fassen können, sich miteinander über etwas in der Welt zu verständigen, wenn sie nicht auf der Basis einer gemeinsamen (oder übersetzbaren) Sprache unterstellen, daß sie den verwendeten Ausdrücken identische Bedeutungen beilegen.“ 29 Es sei jetzt schon (im Vorgriff auf Abschn. 3) angemerkt, dass nur eine gewisse Naivität zu der Annahme verführen kann, dass unsere Gesprächspartner Wörter wie „Kunst“, „Wissenschaft“ oder „Demokratie“ mit den selben Bedeutungen verwenden wie wir. Selbst in der Rede eines Gesprächspartners können diese Bedeutungen variieren (vgl. Abschn. 3 und 4). Auch der Lebenswelt-Begriff, den Habermas von Edmund Husserl und Alfred Schütz übernimmt, ist von Homogenität, Gemeinsamkeit und Konsensorientie‐ 2. Das Postulat einer homogenen Lebenswelt als Erbe des liberalen Individualismus 221 <?page no="222"?> 30 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S.-234. 31 A. Linkenbach, Opake Gestalten des Denkens. Jürgen Habermas und die Rationalität fremder Lebensformen, München, Fink, 1986, S.-268. 32 J. Habermas, „Entgegnung“, in: A. Honneth, H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S.-372-373. rung geprägt. Angesichts der Tatsache, dass wesentliche Komponenten der Lebenswelt wie Kultur und Sprache als homogen und allen Kommunizierenden gemeinsam aufgefasst werden, ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Lebenswelt in ihrer Gesamtheit von Habermas als homogener Raum betrachtet wird. Er soll allen in ihr Lebenden gemeinsam sein und Verständigung ermög‐ lichen. Freilich handelt es sich um eine Idealvorstellung, die Habermas im Anschluss an Emile Durkheims Untersuchungen über Stammesgesellschaften ausarbeitet. Dazu heißt es in der Theorie des kommunikativen Handelns: „Der Entwurf einer kollektiv geteilten homogenen Lebenswelt ist gewiß eine Idealisierung; aber aufgrund ihrer familialen Gesellschafts- und mythischen Bewußtseins‐ strukturen nähern sich archaische Gesellschaften diesem Idealtypus mehr oder weniger an.“ 30 Antje Linkenbach ergänzt diese von Durkheim geprägte Auffas‐ sung der Lebenswelt, wenn sie sie als Grundlage von Sprache und Handlung deutet: „Das Konzept der Lebenswelt scheint für Habermas seine Stütze am ehesten in den archaischen Gesellschaften zu finden, in denen die sprachlich vermittelten, normgeleiteten Strukturen der Interaktion auch die tragenden Sozialstrukturen darstellen.“ 31 Habermasʼ Hervorhebung von Homogenität, Gemeinsamkeit und Konsens‐ suche in Kultur, Sprache und Lebenswelt wirkt befremdend in einer fragmen‐ tierten Postmoderne, in der Nachbarn, Lehrkräfte und Schüler, Aktivisten und Polizisten, Touristen und Einheimische in ganz verschiedenen Welten zu leben scheinen und oftmals keine gemeinsame Sprache finden. Einwänden, die auf diese Art von Erfahrung zurückgehen, begegnet Habermas mit dem Hinweis auf die für ihn wesentliche Unterscheidung von formalpragmatischer und soziolo‐ gischer Lebenswelt. In einer seiner „Entgegnungen“ auf Kritik erklärt er: „Das Mißverständnis, ich sei kategorial genötigt, Dissens- und Machtphänomene aus der Lebenswelt auszuschließen, geht, wie ich vermute, wiederum auf die Ver‐ wechslung des formalpragmatischen mit dem soziologischen Lebensweltbegriff zurück. […] Aber soziologisch betrachtet gehören natürlich auch strategische Interaktionen zu der als Lebenswelt konzeptualisierten Gesellschaft.“ 32 Der formalpragmatische Begriff der Lebenswelt ist zugleich Idealvorstellung und Richtlinie für ein verständigungsorientiertes Sprechen und Handeln. Sie 222 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="223"?> 33 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg, Meiner, 1998, S.-47-49. 34 A. Heller, „Habermas and Marxism“, in: J. B. Thompson, D. Held (Hrsg.), Habermas Critical Debates, London, Macmillan, 1982, S.-27. wird - nach Habermas - von den Kommunizierenden „kontrafaktisch unter‐ stellt“ und hat transzendentalen Charakter. Sie ist Kants Erkenntnissen und Urteilen a priori vergleichbar, von denen es in der Kritik der reinen Vernunft zur Veranschaulichung heißt: „Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache haben müsse, dazu dienen […].“ 33 Der Unterschied zwischen diesem Beispiel, das die a priori Unterstellung eines Nexus zwischen Veränderung und Ursache veranschaulicht, und Haber‐ masʼ Postulat, dass in jeder Kommunikation, in jedem Gespräch das Ideal einer gemeinsamen Lebenswelt (Kultur, Sprache) unterstellt wird (s. o.), besteht darin, dass Kants Unterstellung von der Erfahrung bestätigt wird, während Habermasʼ Unterstellung von der empirischen Welt (von der „soziologischen Lebenswelt“) auf allen Ebenen widerlegt wird. Diese Welt ist durchwirkt von religiösen, ideologischen und wissenschaftli‐ chen Antagonismen. Nicht nur internationale und innenpolitische Konflikte zeugen davon, sondern auch der „Positivismusstreit“ (1969) und die Ha‐ bermas-Luhmann-Debatte. In beiden Diskussionen, von denen im nächsten Abschnitt noch die Rede sein wird, stießen heterogene Sprachen aufeinander, und jede der beiden Diskussionen endete mit einem Dissens. In beiden Fällen konnte von einer gemeinsamen, homogenen Lebenswelt nicht die Rede sein. Insofern ist Habermas’ Trennung von idealer oder formalpragmatischer und soziologischer oder empirischer Lebenswelt weder plausibel noch hilfreich als Anleitung zu einer besseren Verständigung oder zur Konsenssuche. Wenig plausibel scheint auch seine komplementäre Trennung von kommunikativen (verständigungsorientierten) und „strategischen“ (machtvermittelten) Interak‐ tionen zu sein (s. o.), die er von der „instrumentellen Vernunft“ im Sinne von Horkheimer ableitet. Diese Trennung wurde schon in den von Thompson und Held edierten Critical Debates (1982) beanstandet. So wendet beispielsweis Agnes Heller ein, dass auch der Klassenkampf eine Synthese von strategischem und kommunikativem Verhalten erfordere, denn „der Klassenkampf kann nicht […] als rein strategisches Handeln beschrieben werden […]“. 34 Ergänzend be‐ merkt Lucio Cortella, dass auch Emanzipationsbestrebungen von Bewegungen 2. Das Postulat einer homogenen Lebenswelt als Erbe des liberalen Individualismus 223 <?page no="224"?> 35 Vgl. L. Cortella, Crisi e razionalità. Da Nietzsche ad Habermas, Neapel, Guida, 1981, S.-126. 36 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S.-232-233. 37 Ibid., S.-581. eine Wechselwirkung von strategischem und kommunikativem Handeln mit sich bringen. 35 Habermasʼ Trennungsdenken, das er von Kant und Husserl erbt und das ihn vom dialektischen Vermittlungsdenken Hegels und Marxʼ entfernt, führt bei ihm auch zu einer unvermittelten Gegenüberstellung von Lebenswelt einerseits und System(-en) andererseits. Während die Lebenswelt sprachliche Verständi‐ gung und Konsenssuche ermöglicht, kommen die Systeme „Geld“ und „Macht“ (Politik, Verwaltung) ohne Sprache aus und versuchen, die Lebenswelt den Imperativen „Markt“ und „Technik“ zu unterwerfen. Die beiden Systeme, die durch Differenzierungsprozesse innerhalb der Le‐ benswelt ermöglicht wurden, verselbständigen sich im Laufe der Entwicklung und schicken sich an, die Lebenswelt zu „kolonisieren“. Habermas sieht es so: „Wenn man diesen Trend der Entkoppelung von System und Lebenswelt auf die Ebene der systematischen Geschichte der Verständigungsformen abbildet, verrät sich die unaufhaltsame Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsproz‐ esses: die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht eine Steigerung der Systemkomplexität, die so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimpe‐ rative die Fassungskraft der Lebenswelt, die von ihnen instrumentalisiert wird, sprengen.“ 36 Wie das strategische Denken (s. o.) erscheinen hier die Systeme „Geld“ und „Macht“ als Vertreter der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer). Aus Habermasʼ Sicht geht die kritische, alternative Praxis von den sich verständigenden Individuen in der Lebenswelt aus. Allerdings haben sie den „sprachlosen“ Systemen und ihren Zwängen nicht mehr entgegenzusetzen als ihre konsensorientierte Kommunikation: „Die alternative Praxis richtet sich gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen die konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen und persönlichen Lebensstilen.“ 37 Wie in seinen Schriften über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ wendet sich Habermas auch hier gegen die Übermacht der Wirtschaft und der Markt‐ gesetze in der zeitgenössischen Gesellschaft. Selbst wenn man mit seiner Kritik weitgehend einverstanden ist, wird man nicht die Tatsache übersehen wollen, dass Lebenswelt und die in ihr entstandenen Systeme nicht zu trennen sind. 224 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="225"?> 38 N. Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen (Hrsg. K.-U. Hellmann), Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S.-71. 39 Zum Vergleich von K. Mannheim und J. Habermas vgl. P. V. Zima, Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. III: „Jenseits der Ideologie: ‚Freischwebende Intelligenz‘ und ‚ideale Sprechsituation‘“. Verständigungsorientiertes Handeln und Konsenssuche spielen auch in Banken und Machtzentren eine wichtige Rolle, und die Lebenswelt wird seit langem von Machtkämpfen in Familien, Nachbarschaften und Schulen heimgesucht. Insofern muss man Luhmann wohl Recht geben, wenn er Habermasʼ Tren‐ nung von System(-en) und Lebenswelt, die sich in dem metaphorischen Aus‐ druck „Entkoppelung der Systeme von der Lebenswelt“ niederschlägt, in Zweifel zieht: „Es ist ganz unmöglich zu sagen, ein System operiere außerhalb der Lebenswelt. Es ist doch Alltag überall, in jeder Bürokratie, in jeder Börse, bei jedem Aktienkauf.“ 38 Das ist sicherlich der Fall, und vor diesem Hintergrund ist nicht mehr der Gedanke abzuwehren, dass sich Habermas widerspricht, wenn er einerseits von einer „Entkoppelung von System und Lebenswelt“ spricht, andererseits aber eine Theorie oder Erzählung der Gesellschaft entwirft, in der eine „Koloniali‐ sierung der Lebenswelt durch die Systeme Macht und Geld“ behauptet wird. Eine „Kolonialisierung“ kann es nur geben, wenn es zu einer Interpenetration zweier Bereiche zugunsten des überlegenen Bereichs kommt - und nicht zu deren Trennung. In Habermasʼ Diskurs (als Rede, Erzählung) erfüllt diese Trennung jedoch eine wichtige Funktion, weil sie die Annahme rechtfertigt, dass zumindest die formalpragmatische, idealisierte Lebenswelt eine homogene, von einer allen gemeinsamen Kultur getragene Welt ist, die Verständigung und Konsenssuche ermöglicht. Wäre diese Welt voller systemischer Interferenzen, wäre es un‐ möglich, strategisches Denken und Handeln von ihr fernzuhalten. Habermasʼ Problem besteht darin, dass er einerseits von einer „Kolonialisierung der Lebens‐ welt“ spricht und die reale oder „soziologische“ Lebenswelt meint, in der instru‐ mentell gedacht und strategisch gehandelt wird, andererseits eine homogene, formalpragmatische Lebenswelt einführt, die anscheinend über dem Prozess der Kolonialisierung schwebt - wie die „freischwebenden Intellektuellen“ Karl Mannheims, die über den ideologischen Konflikten schweben. 39 Es kommt hinzu, dass es in Habermas’ Werk sporadisch zu semantischen Interferenzen zwischen „realer“ und „formalpragmatischer Lebenswelt“ kommt (vgl. weiter unten). Aber welchen Sinn kann es haben, diese „formalpragmatische Lebenswelt“ als Grundlage der Verständigung zu postulieren, wenn der Begriff angesichts 2. Das Postulat einer homogenen Lebenswelt als Erbe des liberalen Individualismus 225 <?page no="226"?> der Vereinnahmung der realen Lebenswelt durch die Systeme „Macht“ und „Geld“ die heterogene, konfliktreiche Wirklichkeit nicht erklärt, sondern von ihr auf allen Ebenen widerlegt wird - etwa im „Positivismusstreit“ oder in der Habermas-Luhmann-Debatte? Der eigentliche Sinn innerhalb von Habermasʼ Diskurs besteht wohl darin, „die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ (vgl. Abschn. 1) aus der liberalen Ära in die kommerzialisierte und fragmentierte Postmoderne hinüberzuretten. Insofern gilt auch für Habermas - wie für Adorno, Horkheimer und Marcuse - Musils Grundsatz: „Der Individualismus geht zu Ende. […] Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“ Für Habermas ist das Richtige nicht das isolierte autonome Individuum, sondern die kritische Kommunikation zwischen vernunftbegabten Bürgern des Liberalismus, die innerhalb einer relativ homo‐ genen Gruppe - oder Lebenswelt - stattfand. 3. „Lebenswelt“, „ideale Sprechsituation“ und „Diskurs“ Dieses Bild einer aus autonomen und vernunftbegabten Bürgern bestehenden homogenen Gemeinschaft der liberalen Ära überträgt Habermas auf eine postmoderne Situation, die von Fragmentierung, Vielfalt und Partikularismus geprägt ist. Sein Diskurs ist vom Willen beseelt, ein Denken zu entwickeln, das den sich ausbreitenden Partikularismus durch universalistische Abstraktionen kompensiert. Nur so kann der liberale Konsens, der in einer relativ homogenen Gruppe noch möglich war, in einer fragmentierten, pluralisierten Gesellschaft gerettet werden. Die Devise lautet: universelle Geltung von Sprach- und Handlungsnormen durch systematische Abstraktion von realen Kontexten. Habermas übersieht die zunehmende soziale Vielfalt keineswegs, versucht aber, die Verständigungs‐ hindernisse, die sie mit sich bringt, durch abstrahierende Universalisierung zu überwinden. Davon zeugt die folgende Passage aus Erläuterungen zur Diskursethik (1991), die hier wegen ihrer Bedeutung für das Buch und die gesamte Theorie des kommunikativen Handelns in extenso wiedergegeben wird. Sie ist ein Versuch, die Diskursethik zu rechtfertigen: „Allerdings stellt dieser Umstand [die Verschiedenheit sozialer Gruppen] den universalistischen Ansatz der Diskursethik weniger in Frage, als er ihn bestätigt. Je mehr sich nämlich Gleichheitsgrundsätze in der gesellschaftlichen Praxis durchsetzen, um so vielfältiger differenzieren sich die Lebensformen und Lebensentwürfe voneinander. Und je größer diese Vielfalt, eine umso abstraktere Gestalt müssen die Regeln und Prinzipien annehmen, welche die Integrität und gleichberech‐ 226 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="227"?> 40 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt, Suhrkamp, 1991, S.-202. 41 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, op. cit., S.-354. tigte Koexistenz der für einander immer fremder werdenden, auf Differenz und Andersheit beharrenden Subjekte und Lebensweisen schützen.“ 40 Diese Differenzierung als Vielfalt versucht Habermas durch Idealisierungen, die von konkreten Kontexten abstrahieren, zu neutralisieren. Zu den Idealisie‐ rungen gehört an erster Stelle die formalpragmatisch aufgefasste „Lebenswelt“, die, gleichsam for argument’s sake, die von Dissens und Konflikt heimgesuchte reale Lebenswelt ausblendet. In der idealen, nicht in der realen, konfliktreichen und von sprachlichen (ideologischen) Verzerrungen durchwirkten Lebenswelt soll Verständigung in der zeitgenössischen Gesellschaft stattfinden. Dazu heißt es in Wahrheit und Rechtfertigung (2004): „Danach bildet die Lebenswelt den Horizont für eine Verständigungspraxis, in der kommunikativ handelnde Sub‐ jekte gemeinsam mit ihren alltäglichen Problemen fertig zu werden suchen. Moderne Lebenswelten sind in die Bereiche der Kultur, der Gesellschaft und der Person ausdifferenziert.“ 41 Legt man die von Habermas selbst erläuterte Unterscheidung von realer („soziologischer“) und „formalpragmatischer Lebenswelt“ (vgl. Abschn. 2) zu‐ grunde, die zu den semantischen Grundlagen seines Diskurses gehört, so springt eine merkwürdige Zweideutigkeit in der oben zitierten Satzfolge ins Auge. Im ersten Satz erscheint die „Lebenswelt“ im Singular und dient als „Horizont für eine Verständigungspraxis“. Es liegt daher nahe, sie mit der formalpragmati‐ schen Lebenswelt als Grundlage der Verständigung zu identifizieren. Im zweiten Satz ist von „Lebenswelten“ im Plural die Rede und von ihrer Differenzierung in „Kultur“, „Gesellschaft“ und „Person“. Diese Lebenswelten können nicht alle dem Ideal einer „formalpragmatischen Lebenswelt“ entsprechen, zumal sie auch auf die „Gesellschaft“ bezogen werden. So drängt sich der Gedanke auf, dass es sich im zweiten Satz um reale, „soziologische Lebenswelten“ handelt, in denen (nach Habermas) „strategische Interaktionen“ gang und gebe sind, die keineswegs der Verständigung dienen. Diese Überlegungen sind insofern von Bedeutung, als Habermas in seiner Theorie der intersubjektiven Kommunikation immer wieder von einer gemein‐ samen Sprache ausgeht und erwartet, dass verschiedene Sprecher einen be‐ stimmten Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen verwenden. Es wird sich hier zeigen, dass diese Forderung schon deshalb unerfüllbar ist, weil sogar in der Rede eines einzelnen Sprechers ein Ausdruck wie „Lebenswelt“ verschiedene Bedeutungen annehmen kann: von Satz zu Satz, von Absatz zu Absatz und von Text zu Text. 3. „Lebenswelt“, „ideale Sprechsituation“ und „Diskurs“ 227 <?page no="228"?> 42 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S.-123. 43 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, op. cit., S.-95. 44 J. Habermas, „Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Le‐ benswelt“ in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (2. Aufl. ), S.-65. 45 Vgl. J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frank‐ furt, Suhrkamp, 1997, S.-354. 46 J. Habermas, „Deliberative Demokratie. Ein Interview“, in: ders., Ein neuer Struktur‐ wandel der Öffentlichkeit, op. cit., S.-69. Im Folgenden soll deutlich werden, dass die Probleme, die in Habermasʼ homogener und verständigungsorientierter Lebenswelt auftreten, in seinen Darstellungen der „idealen Sprechsituation“ wiederkehren. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da ja die Lebenswelt im formalpragmatischen Sinne die Grund‐ lage idealer Kommunikationsbedingungen bildet. Dazu heißt es in der Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. I): „Diese intersubjektiv geteilte Lebenswelt bildet den Hintergrund fürs kommunikative Handeln.“ 42 Ergänzend ist in Wahrheit und Rechtfertigung von den „komplementären Grundbegriffen des kommunikativen Handelns und der Lebenswelt“ 43 die Rede, und an anderer Stelle wird die allen gemeinsame Lebenswelt evoziert, um den Gedanken an eine gemeinsame und homogene Sprache plausibel zu machen, die Allgemeingültig‐ keit beanspruchen kann: „Man muß dieselbe Sprache sprechen und gleichsam in die von einer Sprachgemeinschaft intersubjektiv geteilte Lebenswelt eintreten, um aus der eigentümlichen Reflexivität der natürlichen Sprache Vorteil zu ziehen […].“ 44 Dass Individuen und Gruppen „dieselbe Sprache“ sprechen und in eine „intersubjektiv geteilte Lebenswelt“ eintreten“, ist tatsächlich nur in einer idealisierten Wirklichkeit denkbar, der auch die „ideale Sprechsituation“ angehört. Zu diesem Ausdruck sei angemerkt, dass Habermas sich von ihm in seinen späteren Schriften - etwa in Die Einbeziehung des Anderen (1996) 45 - distanziert. In einem Interview, das in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit (2022) veröffentlicht wurde, erklärt er, „dass ich den irreführenden Ausdruck seit 1972 - in einem Aufsatz über ‚Wahrheitstheorien‘ - nicht mehr gebraucht und längst revidiert habe […]“. 46 Das ist leider nicht ganz richtig, denn im ersten Band seines Hauptwerks, der Theorie des kommunikativen Handelns (1981), verwendet er diesen Ausdruck (S. 47), und noch im Jahre 1984 wird in den Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns die „ideale Sprechsituation“ wie folgt ausführlich definiert: „Ich möchte es damit erklären, dass Argumentationsteil‐ nehmer gemeinsam so etwas wie eine ideale Sprechsituation unterstellen. Die 228 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="229"?> 47 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S.-118. 48 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, op. cit., S.-316. 49 Vgl. H. Gripp, Jürgen Habermas, Paderborn, Schöningh (UTB), 1984, S. 46-55 sowie Th. McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S.-348-349. 50 Vgl. J. R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge, Univ. Press (1969), 1977, S.-68. ideale Sprechsituation soll dadurch bestimmt sein, daß jeder Konsens, der unter ihren Bedingungen erzielt werden kann, per se als vernünftiger Konsens gelten darf. Meine These heißt: Der Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation gibt allein Gewähr dafür, daß wir mit einem faktisch erzielten Konsensus den Anspruch des vernünftigen Konsenses verknüpfen dürfen […].“ 47 Es ist beim Lesen dieser Zeilen schwer vorstellbar, dass „ideale Sprechsitua‐ tion“ ein beiläufig verwendeter, „irreführender Ausdruck“ aus dem Jahr 1972 sein soll. Es kommt hinzu, dass Habermas diesen Ausdruck auch noch im Jahre 2004, in Wahrheit und Rechtfertigung, verwendet, wo er seinen Namen mit ihm verknüpft: „[…] Wahr ist, was unter idealen epistemischen Bedin‐ gungen (Putnam) oder in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft (Apel) bzw. idealen Sprechsituation (Habermas) als gerechtfertigt akzeptiert würde.“ 48 Nicht zufällig kommt in einigen Gesamtdarstellungen von Habermasʼ Denken der Ausdruck „ideale Sprechsituation“ an zentralen Stellen vor. 49 Habermasʼ Texte wurden hier nicht primär deshalb wiedergegeben, um zu zeigen, dass die „ideale Sprechsituation“ auch in seinen späteren Werken ein Schlüsselbegriff ist, sondern um diesen Begriff näher zu bestimmen. Denn um ihn geht es im Folgenden. Es gilt zu zeigen, dass Habermas in seinen Erläuterungen der „idealen Sprechsituation“ so stark von der Wirklichkeit abstrahiert, um Allgemeingültigkeit zu erzielen, dass es vor allem in den Berei‐ chen „Intersubjektivität“ und „Diskurs“ (als klärendes Gespräch) zu erheblichen Ungereimtheiten kommt. Zu seinem Streben nach größtmöglicher Abstraktion, die kontextuelle Parti‐ kularismen ausschließen soll, gehört wesentlich die Einführung der anglo-ame‐ rikanischen Sprechakttheorie von John L. Austin und John R. Searle, die vier Sprechakttypen unterscheidet: Kommunikativa, Konstativa, Repräsentativa und Regulativa.  50 Diesen vier Typen von Sprechakten entsprechen bei Habermas vier Kriterien, die in einer „idealen Sprechsituation“ berücksichtigt werden müssen, wenn Verständigung ermöglicht werden soll: „Verständlichkeit“, „Wahrheit“, „Wahrhaftigkeit“ und „Richtigkeit“. Dies bedeutet, dass ein Sprecher sich ver‐ ständlich ausdrücken, die Wahrheit sagen, an das Gesagte selbst glauben und 3. „Lebenswelt“, „ideale Sprechsituation“ und „Diskurs“ 229 <?page no="230"?> 51 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, op. cit., S.-354-355. 52 J. Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz (Vorlage für Zwecke einer Seminardiskussion)“, in: J. Habermas, N. Luh‐ mann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1982, S.-122. 53 Ibid., S. 103. (Auch in der Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I findet Kommu‐ nikation bei Habermas in Sätzen statt. Dort heißt es auf S. 148, „daß Sprecher, indem sie Sätze verständigungsorientiert verwenden, Weltbezüge aufnehmen […].“ Aber Sprecher kommunizieren zumeist nicht in isolierten Sätzen, sondern in transphrastisch strukturierten Diskursen.) seine Aussage in Übereinstimmung mit den herrschenden Normen formulieren soll (etwa: „Dort ist jemand ins Wasser gefallen, wir müssen ihn herausholen…“). Habermas soll selbst erklären, was es mit den für ihn so wichtigen Sprech‐ akten, die eine der Grundlagen der „idealen Sprechsituation“ bilden, auf sich hat: „Der Sprecher muß einen verständlichen Ausdruck wählen, damit Sprecher und Hörer einander verstehen können; der Sprecher muß die Absicht haben, einen wahren propositionalen Gehalt mitzuteilen, damit der Hörer das Wissen des Sprechers teilen kann; der Sprecher muß seine Intentionen wahrhaftig äußern wollen, damit der Hörer an die Äußerung des Sprechers glauben (ihm vertrauen) kann; der Sprecher muß schließlich eine im Hinblick auf bestehende Normen und Werte richtige Äußerung wählen, damit der Hörer die Äußerung akzeptieren kann, so daß beide, Hörer und Sprecher, in der Äußerung bezüg‐ lich eines anerkannten Hintergrunds miteinander übereinstimmen können.“ 51 Zu diesen Sprechakttypen bemerkt Habermas, „daß sie und genau sie die zureichenden Konstruktionsmittel für den Entwurf der idealen Sprechsituation sind“. 52 Hier zeigt sich, dass die für Habermas wesentliche Sprechakttheorie von der Begriffsbestimmung der „idealen Sprechsituation“ nicht zu trennen ist. Tatsächlich ist das von ihm anvisierte Abstraktions- oder Verallgemeine‐ rungsniveau so hoch, weil Sprechakte kommunikativ oder pragmatisch verwen‐ dete Sätze sind. Die Satzform der Sprechakte bestätigt Habermas, wenn er erklärt: „Ein Sprechakt erzeugt die Bedingungen dafür, daß ein Satz in einer Äußerung verwendet werden kann; aber gleichzeitig hat er selbst die Form eines Satzes.“ 53 Das Problem besteht darin, dass sinnvolle Kommunikation auf Sprechakt-Ebene zwar möglich ist und vorkommt, aber nichts über die Subjektivität eines Individuums aussagt: „Wo ist hier der Bahnhof, bitte? “ - „Immer geradeaus und dann die erste Straße nach rechts.“ Der Fragende geht für gewöhnlich davon aus, dass seine Auskunftsperson die Wahrheit sagt und „wahrhaftig“ ist, d. h. ihn nicht täuschen will. Eine völlig andere sprachliche Situation entsteht, wenn 230 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="231"?> 54 Vgl. Z. Harris, „Discourse Analysis“, in: Language, Bd.-28, 1952. 55 J.-Cl. Coquet, „L’Ecole de Paris“, in: J.-Cl. Coquet (Hrsg.), Sémiotique. L’Ecole de Paris, Paris, Hachette, 1982, S.-33. zwei Personen zusammen mit ihren diskursiven Konstruktionen der Welt ihre Subjektivitäten enthüllen: „Was halten Sie von der gefährlichen Ausdehnung der NATO nach Osten? “ - „Wieso Ausdehnung der NATO? Polen, die baltischen Staaten und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine auch Finnland mussten sich eiligst in Sicherheit bringen.“ In diesem Fall stoßen nicht einfach Sätze, sondern in den Sätzen Diskurse als semantisch-narrative Strukturen zusammen, die Zeitgeschichte und Welt auf unvereinbare Arten konstruieren und einen Konsens sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen. Er ist unwahrscheinlich, weil die den Diskurs begründenden Relevanzkrite‐ rien und semantischen Selektionen unvereinbar sind. Während der erste Diskurs von dem für das sprechende Subjekt relevanten Gegensatz expandierende NATO / bedrohtes Russland ausgeht und entsprechende semantische Selektionen vornimmt (z. B. Angriffe auf Russland aus der Vergangenheit: 1708, 1812, 1941), erklärt der zweite Diskurs den Gegensatz demokratischer Westen / russische Diktatur für relevant und wählt außer dem Krieg gegen die Ukraine den russi‐ schen Krieg gegen Georgien / Grusinien sowie den sowjetischen Winterkrieg (1939-41) gegen Finnland aus. Entscheidend ist, dass die beiden unvereinbaren Diskurse zugleich Subjektkonstruktionen sind. In ihren unterschiedlichen Auf‐ fassungen der Zeitgeschichte geben sich die Kommunizierenden als antagonis‐ tische ideologische und (geschichts-)wissenschaftliche Subjekte zu erkennen. Sollte es auf beiden Seiten an Selbstironie und Großzügigkeit fehlen, könnte es sogar geschehen, dass der Eine sich weigert, die Frage des Anderen nach dem Bahnhof zu beantworten. Kommunikation ist sehr viel mehr als Austausch von Sprechakten; sie findet in Diskursen als semantisch-syntaktischen und narrativen Strukturen statt, die individuelle und kollektive Subjektivität konstituieren. Diese muss vorausgesetzt werden und nicht eine homogene (ideale) Lebenswelt. Um diesen Aspekt der Sprache als Diskurs geht es in der Kritik der Strukturalen Semiotik an Zellig Harrisʼ Theorie des Diskurses, die den Diskurs als Verkettung von Sätzen darstellt. 54 Anstelle dieser interphrastischen Auffassung des Diskurses schlägt Jean-Claude Coquet, ein Vertreter der Strukturalen Semiotik, einen transphras‐ tischen Ansatz vor: „Wenn wir neue Ursachen der erkenntnistheoretischen und methodologischen Verwirrung vermeiden wollen, sollten wir den Bereich des Interphrastischen (Z. Harris) vom Bereich des transphrastischen (semiotischen) unterscheiden.“ 55 3. „Lebenswelt“, „ideale Sprechsituation“ und „Diskurs“ 231 <?page no="232"?> 56 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, op. cit., S.-39. 57 W. Schluchter, Grundlegung der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck (UTB), 2015 (2. Aufl.), S.-481. 58 Vgl. L. Quéré, „Vers une anthropologie alternative pour les sciences sociales? “, in: Ch. Bouchindhomme, R. Rochlitz (Hrsg.), Habermas, la raison, la critique, Paris, Les Editions du Cerf, 1996, S.-128. 59 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, op. cit., S.-164. Diese semiotisch-linguistische Diskussion nimmt Habermas nicht zur Kenntnis. Bei ihm ist vom Diskurs als interphrastischer oder transphrastischer Struktur nie die Rede. Er blendet die diskursive Ebene im semiotischen Sinn aus und versteht unter „Diskurs“ ein klärendes Gespräch. Er fasst es als ein Metagespräch auf, das notwendig wird, wenn es in der primären Kommunikation oder Dis‐ kussion nicht zu dem erhofften Einverständnis kommt. Er stellt dieses Gespräch als eine „Form der Argumentation“ dar, „in der kontroverse Wahrheitsansprüche zum Thema gemacht werden“. 56 Wie soll es aber auf dieser Metaebene zu einer Verständigung kommen, wenn die Gesprächspartner weiterhin an ihren heterogenen Sprachen (Diskursen), die sie zu Subjekten machen, festhalten? Wolfang Schluchter gelangt zu dem folgenden Schluss: „Dann treten freilich dieselben Schwierigkeiten wie bei der Kommunikation erster Ordnung auf. Es droht also ein infiniter Regress.“ 57 Diese Schwierigkeiten treten auf, weil Habermas die Tatsache außer Acht lässt, dass in jedem Gespräch (auch in einem Metagespräch) zwei oder mehrere heterogene Diskurse zusammenkommen, in denen sich Subjektivitäten artikulieren, von denen eine jede mit ihrem Diskurs ihre Identität (sich selbst) rechtfertigt und verteidigt. Intersubjektivität, auf die sich Habermas immer wieder beruft, ist anders nicht denkbar. Sie ist Kommunikation und Interaktion zweier oder mehrerer Subjekte, und Louis Quéré hat völlig Recht, wenn er bemerkt, dass Habermas den Subjektbegriff nicht aufgibt. 58 Dies bestätigt Habermas selbst, wenn er in der Theorie des kommunikativen Handelns zum „Sinnverstehen“ bemerkt: „Es erfordert die Aufnahme einer intersubjektiven Beziehung mit dem Subjekt, das die Äußerung hervorgebracht hat.“ 59 Diese Beziehung ist zugleich jedoch eine zwischen heterogenen Diskursen und ihren Semantiken (ihren semanti‐ schen Selektionen: s. o.). Diese Semantiken können ähnlich sein, wenn die Diskurse und ihre Subjekte einer Gruppensprache (einem Soziolekt: etwa dem Marxismus, dem Feminismus oder der Systemtheorie) angehören; sie können sehr verschieden sein, wenn Diskurse aus grundverschiedenen Soziolekten - etwa Feminismus und Systemtheorie - hervorgehen. Diese Heterogenität, die mit dem Diskurs als semantisch-narrativer Struktur und seiner Entstehung in einem besonderen Soziolekt zusammenhängt, blendet 232 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="233"?> 60 Ibid., S.-412. 61 L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg-Berlin, VSA, 1977, S.-140. Habermas aus und versucht, Einwände im Sinne von Schluchter durch weitere Vereinheitlichungen und Verallgemeinerungen auszuräumen. Er setzt nicht nur eine gemeinsame Lebenswelt, sondern auch eine gemeinsame Sprache voraus. Dazu bemerkt er im ersten Band der Theorie des kommunikativen Handelns: „Der Terminus ‚Verständigung‘ hat die Minimalbedeutung, daß (mindestens) zwei sprach- und handlungsfähig Subjekte einen sprachlichen Ausdruck identisch verstehen“. 60 Ein solches Einverständnis kann nur in Ausnahmefällen voraus‐ gesetzt werden: etwa wenn zwei Habermas-Schüler über die „Lebenswelt“ im Sinne von Habermas diskutieren - oder zwei Phänomenologen über „Lebens‐ welt“ im Sinne von Husserl. In allen anderen Fällen muss die Heterogenität der kommunizierenden Sub‐ jektivitäten vorausgesetzt werden sowie die Heterogenität ihrer Diskurse, die aus verschiedenen Soziolekten - etwa aus dem Feminismus, dem Kritischen Rationalismus oder der Kritischen Theorie - hervorgehen können. Dies ist kein „Kontextualismus“, wie Habermas einwenden könnte, sondern Soziologie, die stets voraussetzt, dass jedes sprachbegabte Subjekt seine Subjektivität Sozialisie‐ rungsprozessen in Gesellschaft, Kultur und Sprache verdankt. Dies bedeutet, dass Habermasʼ Voraussetzung einer „idealen Sprechsituation“ oder Apels Voraussetzung einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ nur plausibel klingen kann, wenn der Soziolekt und der Diskurs (im semiotischen Sinne) als subjektkonstituierende Strukturen übersehen oder als irrelevant aus‐ geblendet wurden. Sobald sie als Elemente der sozialen Wirklichkeit wieder eingeblendet werden, ändert sich die Situation radikal, weil sich zeigt, dass die Kommunizierenden „sprachliche Ausdrücke“ keineswegs „identisch verstehen“, sondern Wörter wie „Demokratie“, „Theorie“ oder „Diskurs“ mit stark divergie‐ renden Bedeutungen versehen, die ihren Ursprung in den Soziolekten haben, aus denen die kommunizierenden Subjekte - als sprachbegabte Subjekte - her‐ vorgehen. Diese Soziolekte bilden die lexikalischen und semantischen Grundlagen der Diskurse, die Subjekte zu dem machen, was sie sind (nach Louis Althussers Maxime: „Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an“). 61 Nicht nur Ideologie, auch Wissenschaft, Religion und Moral konstituieren Individuen als Subjekte. Diese Konstitution von Subjektivität, die in jeder intersubjektiven Kommunikation stets vorauszusetzen ist, kann nur durch eine vollständige Rückkehr zum Idealismus neutralisiert werden: zu Descartesʼ cogito oder zu Kants „Ich denke“, das alle sozialen (ideologischen, kulturellen, reli‐ giösen) Determinanten ausklammert. Sowohl Foucaults als auch Adornos und 3. „Lebenswelt“, „ideale Sprechsituation“ und „Diskurs“ 233 <?page no="234"?> 62 Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, op. cit., S.-138. 63 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S.-218. 64 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, op. cit., S.-321. 65 A. Sayer, Method in Social Science. A Realist Approach, London, Hutchinson, 1984, S. 205. 66 J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S.-97. Horkheimers Einwände gegen den Idealismus schließen eine solche „Klammer“ aus. Sie drängt sich jedoch als letzte Konsequenz aus Habermasʼ kantianischen Idealisierungen (der Lebenswelt, der Sprechsituation) geradezu auf. Dass Ha‐ bermas diese Konsequenz nicht zieht, ist angesichts seiner eigenen Kritik des Idealismus und seiner Bekenntnisse zu den kritischen Sozialwissenschaften - etwa in Der philosophische Diskurs der Moderne   62 - nicht weiter verwunderlich. Vor diesem Hintergrund kann auch nicht angenommen werden, dass sich in einer idealen Kommunikationssituation letztlich „die Autorität des besseren Arguments“ 63 durchsetzt und „gute Gründe“ von allen Beteiligten anerkannt werden: „In der Argumentation hängt es einzig von guten Gründen ab, ob sich eine problematisch gewordene Überzeugung als rational akzeptabel erweist.“ 64 Das Argument, die Kritische Theorie sei nicht wissenschaftlich, weil sie in ihrer Gesamtheit und in ihren Teilen nicht falsifizierbar (widerlegbar) sei, mag alle überzeugen, die innerhalb des kritisch-rationalistischen Soziolekts sozialisiert und von diesem zu Subjekten gemacht wurden. Es wird Sprecher anderer Soziolekte, etwa kritische Theoretiker, nicht überzeugen - und auch jemanden wie Andrew Sayer nicht, der meint, dass Widerlegung im Sinne von Popper in den Sozialwissenschaften nicht anwendbar sei: „virtually impossible to put into practice“. 65 Wie soll in diesem Fall Einvernehmen zwischen Sprechern oder Subjekten verschiedener Diskurse (Soziolekte) hergestellt werden? Der „Positivismusstreit“ (1969) hat gezeigt, dass es nicht hergestellt werden kann, weil die interagierenden Diskurse zu heterogen sind und jeder Diskurs Argu‐ mente und „gute Gründe“ anders bewertet. Habermas, dem im „Positivismusstreit“ eine prominente Rolle zufiel, mag gespürt haben, dass nicht Homogenität (der Lebenswelt, der Sprache) die Regel ist und reagierte daher - vor allem in Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983) - mit universalistischen Vorschlägen zur Vereinheitlichung. Als Beispiel führt er (im Anschluss an R. Alexy) die Regel an: „Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen.“ 66 Da aber „verschiedene Sprecher“ verschiedene Diskurse (und indi‐ rekt Soziolekte) ins Treffen führen, sind abweichende Bedeutungen gleichsam vorprogrammiert. 234 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="235"?> 67 Vgl. J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien, Passagen, 1988, S.-300. 68 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt, Suhrkamp, 2008, S.-97. 69 T. Bonacker, „Ungewißheit und Unbedingtheit. Zu den Möglichkeitsbedingungen des Normativen“, in: S. Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit „Erkenntnis und Interesse“, Frankfurt, Suhrkamp, 2000, S.-127. Solche Abweichungen sind umso wahrscheinlicher, als es sogar im Diskurs eines einzelnen Sprechers zu semantischen Abweichungen bei der Wiederholung eines Wortes kommen kann. Derrida spricht von „Iterabilität“ als Sinnverschie‐ bung durch Wiederholung innerhalb eines Textes. 67 Es hat sich gezeigt (Abschn. 2), dass Habermasʼ Begriff „Lebenswelt“ zwischen der idealen (formalpragmati‐ schen) und der realen (soziologischen) Lebenswelt oszilliert - und dies in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen. Seine Versuche, Eindeutigkeit, Homogenität und Konsens herzustellen, sind auf seine idealisierende Vorstellung von einer politischen Kultur in der liberalen Ära zurückzuführen, die in einer fragmentierten Postmoderne (vgl. Abschn. 4 und 5) anachronistisch wirkt. Sie wirkt nicht nur anachronistisch, sondern weist auch repressive Züge auf, weil sie sich durch die Verordnung von Einheit, Eindeutigkeit und „Sinnpräsenz“ (Derrida) einem Logozentrismus verschreibt, der zur Sterilität führen kann. Habermas, der im Anschluss an Adornos und Horkheimers Kritik des Herrschaftsprinzips (als Naturbeherrschung) eine herr‐ schaftsfreie Kommunikation unter Gleichen ins Auge fasste, verfällt in einen herrschaftlichen, nach Einheit strebenden Logozentrismus. Insofern mag man Luhmann zustimmen, der gegen das vereinheitlichende Konsensdenken einwendet: „Aber Kommunikation findet überhaupt nur da und deswegen statt, weil und wenn es Differenzen gibt. Bei völlig gleichen Interessenlagen erübrigt sich Kommunikation.“ 68 Wird auf einer Tagung über „zeitgenössische Kunst“ den Teilnehmenden untersagt, den Begriff „Kunst“ „mit verschiedenen Bedeutungen“ zu benutzen, muss man die Tagung erst gar nicht stattfinden lassen, denn sie lebt als produktiver Dialog von abweichenden Definitionen des umstrittenen Begriffs „Kunst“. Dass Habermasʼ Streben nach Einheit und Eindeutigkeit Sterilität zur Folge haben kann, bestätigt auch Thorsten Bonacker: „In der idealen Kommunikationsgemeinschaft wäre keine Kommunikation mehr nötig.“ 69 Die repressiven Züge in Habermasʼ Theorie der Kommunikation deuten darauf hin, dass diese Theorie zwar nach Verallgemeinerungsfähigkeit und Universalismus strebt, im Grunde aber partikular ist, etwa weil Habermas für die Sprechakttheorie stillschweigend universelle Anerkennung und Geltung 3. „Lebenswelt“, „ideale Sprechsituation“ und „Diskurs“ 235 <?page no="236"?> 70 Vgl. H. Meschonnic, „Le langage chez Habermas ou Critique, encore un effort“, in: H. Meschonnic (Hrsg.), Critique de la Théorie critique. Langage et histoire, Paris, PUV, 1985, S. 160 : „Si un élément aussi important que la théorie du langage ressortit à la théorie traditionnelle, l’ensemble bascule dans la théorie traditionnelle.“ 71 Vgl. F. Nietzsche, „Unzeitgemäße Betrachtungen“, in: Werke, Bd. I (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 263 sowie J.-P. Sartre, „L’Universel singulier“, in: Kierkegaard vivant. Colloque organisé par L’UNESCO à Paris du 21 au 23 avril 1964, Paris, Gallimard, 1966, S.-39. 72 J. Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig, Reclam, 1990, S.-52. 73 Ibid., S.-53. beansprucht. 70 Nicht nur die Sprechakttheorie, Habermasʼ Philosophie als ganze ist partikular wie die Philosophie Hegels, die mit dem Anspruch auftrat, alle partikularen Positionen zu umfassen und über sie zur „absoluten Idee“ hinauszugelangen, schließlich aber einer durchaus partikularen Auffassung der Geschichte und des Staates verhaftet blieb - und dadurch sowohl auf Nietzsche als auch auf Sartre dogmatisch wirkte. 71 4. Postmodernes Plädoyer für Vielfalt I: Zygmunt Bauman In seiner Kritik der Postmoderne neigt Habermas dazu, diese historische Kon‐ stellation als durch antimoderne konservative Entwürfe geprägte Strömung aufzufassen. In Die Moderne - ein unvollendetes Projekt (1990) ist vom „Postmo‐ dernismus der Neukonservativen“ 72 die Rede, und Habermas bemerkt zu diesen postmodernen Neukonservativen: „Im übrigen empfehlen sie eine Politik der Entschärfung der explosiven Gehalte der kulturellen Moderne.“ 73 Das mag für Autoren wie Peter Koslowski (Die postmoderne Kultur, 1988) gelten, hat aber mit der Postmoderne von Zygmunt Bauman oder Jean-François Lyotard nichts zu tun. Auf diese Autoren geht Habermas, der in seinem Buch über die Moderne den deutschsprachigen Bereich nicht verlässt, nicht ein. Sie können als „neukonservative“ Denker überhaupt nicht verstanden werden, zumal sie ihre postmodernen Theorien nach einer Abkehr vom Mar‐ xismus entwickelt haben, aber weiterhin marxistische Begriffe verwenden. Von Baumans marxistischen Anfängen, die bis in seine polnische Vergangenheit der 1960er Jahre reichen, als er Dozent an der Warschauer Universität war, zeugt u. a. eines seiner frühen Werke: Socialism: The Active Utopia (1976). Trotz seiner Distanzierung vom Marxismus gab Bauman nie das Projekt einer kritischen Soziologie auf, die er von Werk zu Werk als postmoderne Soziologie und Soziologie der Postmoderne entwickelt. Von der Soziologie heißt es in 236 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="237"?> 74 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York, Routledge, 1992, S.-26. 75 Z. Bauman, „Is there a Postmodern Sociology? “, in: Theory, Culture and Society, Bd. V: „Postmodernism“, London, Sage, 2-3 Juni, 1988, S.-226. 76 Z. Bauman, Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (4. Aufl.), S.-9. 77 K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II: Das Apriori der Kommunikationsge‐ meinschaft, Frankfurt, Suhrkamp (1973), 1976, S.-355. 78 J. Habermas, „Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik: eine Replik“, in: P. Niessen, B. Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S.-432. seinem Buch Intimations of Postmodernity (1992); „It must transform itself into a postmodern sociology.“ 74 Dies bedeutet zugleich, dass er die Moderne „aus der Sicht und der Erfahrung der ‚Postmoderne‘“ 75 definiert - und nicht umgekehrt (wie Habermas). Obwohl er in mancher Hinsicht mit Habermas übereinstimmt - etwa in seiner Kritik des Kapitalismus als Konsumgesellschaft -, kommt es in seiner postmodernen Soziologie zu einer Umkehrung von Habermasʼ Sichtweise. Dem von Habermas (und Apel) angestrebten Universalismus in Ethik, Sprache und Argumentation stellt er eine postmoderne Vielfalt und Partikularisierung gegenüber, die er unermüdlich - trotz der Brüche, die sein Werk durchziehen - gegen alle modernen Versuche der Vereinheitlichung verteidigt. Dies geht deutlich aus seiner kritischen Betrachtung der Gemeinschaft hervor. Während Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas eine „ideale Kommu‐ nikationsgemeinschaft“ (Apel) voraussetzen und von einem „Hintergrundkon‐ sens“ (Habermas) sprechen, betrachtet Bauman die Gemeinschaft im Sinne von Tönnies als „verlorenes Paradies“. 76 Für Apel und Habermas ist sie das keineswegs, sondern ist ein Ideal, das in jeder Kommunikationssituation vor‐ ausgesetzt wird, ja vorausgesetzt werden muss. Apel spricht vom „regulativen Prinzip der kritischen Konsensbildung in einer, in der realen Kommunikationsge‐ meinschaft allererst herzustellenden, idealen Kommunikationsgemeinschaft“ 77 , und Habermas beruft sich im Zusammenhang mit dem „Hintergrundkonsens“ auf ein „Vertrauenskapital, das die Diskursteilnehmer im Laufe vergangener Diskurse gemeinsam angespart haben“. 78 „Gemeinschaft“ und „Gemeinsamkeit“ sind hier die Schlüsselbegriffe. Sie stellt Bauman grundsätzlich in Frage, indem er die Gemeinschaft vor dem Hintergrund postmoderner Pluralisierungs- und Partikularisierungstendenzen ins Reich der Schimären relegiert. Zum „verlorenen Paradies“ der Gemeinschaft bemerkt er: „Ob nun verloren oder erst noch zu finden; es ist jedenfalls nicht der Ort, an dem wir leben, und auch keiner, den wir aus eigener Erfahrung 4. Postmodernes Plädoyer für Vielfalt I: Zygmunt Bauman 237 <?page no="238"?> 79 Z. Bauman, Gemeinschaften, op. cit., S.-9. 80 Vgl. F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (Hrsg. A. Bammé), München-Wien, Profil Verlag, 2017, S.-211-214. 81 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, op. cit., S.-217. 82 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, op. cit., S.-29. 83 Z. Bauman, Postmodern Ethics, Oxford-Cambridge, Blackwell, 1993, S.-135. 84 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, op. cit., S.-87. 85 Vgl. A. Touraine, Pourrons-nous vivre ensemble? Egaux et différents, Paris, Fayard, 1997. kennen.“ 79 Tönnies würde dies möglicherweise bestreiten und auf die Rolle der Gemeinschaft in Dörfern oder Kleinstädten hinweisen. 80 Tatsache ist, dass Baumans postmoderner Diskurs nicht auf „Gemeinschaft“, „Gemeinsamkeit“, „Homogenität“ (der Lebenswelt) und „Konsens“ ausgerichtet ist, sondern auf Vielfalt, Heterogenität und Partikularisierung. Im Gegensatz zu Habermas, der die „Vollendung der Moderne“ reklamiert, kritisiert Bauman die Moderne aus postmoderner Sicht als eine Ära des Univer‐ salismus und der Vereinheitlichung. Insofern steht er Adorno und Horkheimer wesentlich näher als dem Autor der Universalpragmatik. Es nimmt daher nicht wunder, dass er in einem Interview erklärt: „I don’t like Habermas, however.“ 81 Er wäre jedoch mit Adorno und Horkheimer einverstanden, die in der Dialektik der Aufklärung schreiben: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert.“ 82 Die Kritik der Vereinheitlichung ist auch das Hauptthema von Baumans Abrechnung mit der Moderne. Ihr wirft er einen Universalismus vor, der danach strebt, alles Partikulare, Lokale, Abweichende auszumerzen. In Baumans Postmodern Ethics etwa heißt es wörtlich: „The war against the local, the irregular and the spontaneous was merciless […].” 83 Die für diesen Krieg ver‐ antwortliche Instanz war der moderne Nationalstaat: „Nationalstaaten fördern den ‚Nativismus‘, die Bevorzugung der Einheimischen vor den Einwanderern, und verstehen unter ihren Untertanen ‚die Einheimischen‘. Sie unterstützen und fördern die ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Homogenität.“ 84 Niemand wird Habermas als Vertreter einer nationalistischen Ideologie dieser Art auffassen wollen. Mit der von Bauman kritisierten Moderne der National‐ saaten verbindet ihn dennoch das Streben nach sprachlicher Homogenität (der Lebenswelt, der Kommunikation), die den Konsens ermöglichen soll. Im Gegen‐ satz dazu versucht Bauman, ähnlich wie Alain Touraine 85 , sich ein friedliches und produktives Zusammenleben in Heterogenität und Vielfalt vorzustellen, „dem Pluralismus Raum zu gewähren und ihn in den Dienst der Humanität zu stellen - mithin ‚Diskussionen über eine gemeinsame Konzeption des Guten‘ zu 238 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="239"?> 86 Z. Bauman, Gemeinschaften, op. cit., S.-171. 87 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, op. cit., S.-127. 88 F. Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham (North Carolina), Duke Univ. Press, 1991, S.-62. ermöglichen und zu ermutigen“. 86 Die Frage ist, ob es angesichts der kulturellen Vielfalt, die Bauman selbst beschreibt, eine „gemeinsame Konzeption des Guten“ überhaupt geben kann. Tatsache ist, dass Bauman einen Konsens durch gesteigerte Abstraktion, durch das Abstrahieren von psychischen, sozialen, ideologischen oder religiösen Partikularitäten, nicht goutieren kann. Denn er stellt sich die Postmoderne als nichtreduzierbare Vielfalt vor, in der „diese nicht nur widerstrebend akzeptiert, sondern in den Rang eines höchsten positiven Wertes erhoben“ 87 wird. Es mag verlockend sein, angesichts der neuesten Plädoyers für Diversität mit Bauman die Vielfalt zu feiern, aber bei genauerer Betrachtung wird möglicher‐ weise deutlich, dass sie ebenso problematisch ist wie der von Habermas mit Hilfe einer homogenen Lebenswelt konstruierte Universalismus. Denn was ist von der Lebensform einer muslimischen Familie zu halten, die sich - esoterischen Glaubensbekenntnissen folgend - weigert, ihren Töchtern eine Ausbildung angedeihen zu lassen, die sie ihren Söhnen ohne Zögern gewährt? Soll sie auch in den Rang „eines höchsten positiven Wertes erhoben“ werden? Was für die muslimische Familie gilt, gilt auch für Ideologen und Sektengründer, die ihre Anhänger und Jünger ins Verderben führen. Soziologie sollte sich wieder mehr um stringente Argumentation und terminologische Schärfe im Sinne von Durkheim oder Max Weber bemühen und nicht blindlings einer Gesinnung folgen, die gerade im „Trend“ liegt. Weder Habermasʼ Versuch, von sozialer Vielfalt zu abstrahieren, noch Bau‐ mans Plädoyer für Vielfalt als höchstes Gut ist überzeugend. Im letzten Ab‐ schnitt dieses Kapitels soll eine Alternative skizziert werden, die kultureller und sprachlicher Heterogenität Rechnung trägt, ohne die Suche nach Allge‐ meingültigkeit und Wahrheit preiszugeben. Die Kritische Theorie soll nicht in der postmodernen Problematik der Vielfalt aufgehen; sie soll aber produktiv auf sie reagieren: durch ein Festhalten am modernen Universalismus in der Postmoderne. Dabei gilt es, die Diagnose des Marxisten Fredric Jameson zu berücksichtigen, der in seinem Buch Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism (1991) schreibt: „The point is that we are within the culture of postmodernism to the point where its facile repudiation is as impossible as any equally facile celebration of it is complacent and corrupt.” 88 Dies bedeutet im vorliegenden Fall, 4. Postmodernes Plädoyer für Vielfalt I: Zygmunt Bauman 239 <?page no="240"?> 89 Vgl. P. V. Zima, Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen, Francke (UTB), 2011 (2. Aufl.), Kap. VII. 2. 90 Vgl. S. Best, D. Kellner, „Adorno’s Proto-Postmodern Theory“, in: dies., Postmodern Theory. Critical Interrogations, London, Macmillan, 1991, S. 232: „He vindicates other‐ ness, difference, and particularity as consistently and brilliantly as any postmodern theorist.“ dass die Kritische Theorie auf die Problematik der Postmoderne reagieren muss, ohne in dieser Problematik aufzugehen, ohne selbst postmodern zu werden. Dies setzt voraus, dass die Postmoderne nicht einseitig - wie bei Habermas - auf eine Ideologie oder Weltanschauung (Konservatismus) festgelegt, sondern in ihrer Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit erkannt wird. Wie die eu‐ ropäische Romantik 89 , die in ihren Fragestellungen und Problemen zwar ein System bildet, in ihren Antworten auf die angeschnittenen Probleme jedoch sehr heterogen ist (Platens und Eichendorffs Konservatismus koexistiert mit Victor Hugos Gesellschaftskritik und Shelleys Anarchismus), so bildet auch die Postmoderne ein heterogenes System. In ihm wirken verschiedene Strömungen zusammen: Konservatismus und avantgardistische Tendenzen ( John Barth, Jürgen Becker), Kritiken der Avantgarde (Umberto Eco) sowie Plädoyers für Partikularität oder Vielfalt (Bauman, Lyotard). Indem Habermas vorwiegend die konservativen Tendenzen aufs Korn nahm, übersah er die andere Postmoderne, die sich jenseits der deutschen Grenzen für eine nichtreduzierbare kulturelle und sprachliche Heterogenität einsetzte, die durch den Begriff einer sprachlich homogenen Lebenswelt nicht zu zähmen ist. Er übersah die Postmoderne Baumans, Vattimos, Maffesolis und Lyotards. 5. Postmodernes Plädoyer für Vielfalt II: Jean-François Lyotard Affinitäten und Verbindungen zwischen Lyotards Postmoderne und der Kri‐ tischen Theorie können zweifellos festgestellt werden und wurden auch bemerkt. 90 Vor allem Adornos Akzentuierung des Partikularen und Individu‐ ellen, das er gegen Hegels historischen Universalismus verteidigt, kann als Antizipation einer postmodernen Problematik gedeutet werden, in der die Skepsis modernen Universalisierungstendenzen gegenüber sowohl in der So‐ ziologie (Bauman, Maffesoli) als auch in der Philosophie (Lyotard, Vattimo) zugenommen hat. Dies bedeutet keineswegs, dass Adornos Philosophie oder gar die Kritische Theorie als ganze der postmodernen Problematik angehört. Schon im zweiten Kapitel sollte deutlich geworden sein, dass Adornos Hauptanliegen - die 240 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="241"?> 91 J.-F. Lyotard, Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S.-125. 92 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, op. cit., S.-202. Stärkung individueller Subjektivität, der ästhetische Wahrheitsgehalt und das Emanzipationsversprechen - von Lyotards Ästhetik des Erhabenen negiert werden. Lyotards Kultur- und Sprachtheorie setzt diese Negation insofern fort, als sie individuelle Subjektivität in einander widersprechende Subjektivitäten auflöst und dadurch die postmoderne Tendenz zur Verabschiedung des Subjekts fortsetzt: „Jedes vorgebliche Individuum ist in verschiedene Partner aufteilbar und wahrscheinlich aufgeteilt […].“ 91 Dies entspricht Vattimos Auffassung des Subjekts als „soggetto scisso“, bedeutet aber nicht, dass das Subjekt grundsätz‐ lich uneinheitlich ist und zerfallen muss. Adornos schon zitierte Maxime „gegen sich selbst denken, ohne sich preiszugeben“, der das vorliegende Buch folgt, veranschaulicht, was gemeint ist. Bei Lyotard geht nicht nur die moderne Auffassung von Subjektivität ver‐ loren, sondern auch der moderne Universalismus, den Habermas gegen alle Versuche verteidigt, die Allgemeingültigkeit von Vernunft und Wahrheit in einer Vielzahl von Partikularismen aufzulösen. Sein Lösungsvorschlag läuft - etwas verkürzt ausgedrückt - auf ein Abstrahieren von diesen Partikularitäten hinaus. Sie sollen nicht negiert werden, sondern auf abstraktester Ebene soll der ihnen gemeinsame und einen Konsens ermöglichende Kern gefunden werden. Es sei hier nochmals an die einschlägige Passage aus Habermasʼ Erläuterungen zur Diskursethik erinnert: „Und je größer diese Vielfalt, eine um so abstraktere Gestalt müssen die Regeln und Prinzipien annehmen, welche die Integrität und gleichberechtigte Koexistenz der füreinander immer fremder werdenden, auf Differenz und Andersheit beharrenden Subjekte und Lebensweisen schützen.“ 92 Doch auch auf dieser abstraktesten Ebene, auf der die Gleichheit aller Beteiligten (sowie die Austauschbarkeit von Rollen und Perspektiven) vorausgesetzt wird, ist eine gemeinsame Sprache sowie eine gemeinsame Anerkennung von „Regeln und Prinzipien“ nicht gewährleistet: wenn sich etwa herausstellt, dass nicht alle Teilnehmenden bereit sind, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern als selbstverständlich vorauszusetzen - aus religiösen oder anderen Gründen. In dem Fall erscheinen auch die abstraktesten und scheinbar allgemeinsten Grundsätze als kulturell kontingent und partikular. In dieser gesellschaftlichen und sprachlichen Situation bleibt dann als einziger Ausweg das Argument, dass „bei uns in Europa oder im ‚Westen‘ eben diese Regel gilt“ (in der Antike und im Mittelalter galt sie mitnichten). Die abweichende Meinung wird auf diese Art zwar ausgeschlossen, „exkommuniziert“, aber in den Augen des Dissidenten 5. Postmodernes Plädoyer für Vielfalt II: Jean-François Lyotard 241 <?page no="242"?> 93 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, Böhlau, 1986, S.-175. 94 Ibid., S.-14. 95 G. Warmer, K. Gloy, Lyotard. Darstellung und Kritik seines Sprachbegriffs, Aachen, Ein-Fach-Verlag, 1995, S.-112. keineswegs widerlegt. Er meint, dass ihm ein „tort“, ein „Unrecht“ im Sinne von Lyotard geschehen ist. Aus Lyotards postmoderner, partikularistischer Sicht kann Habermas nur deshalb so argumentieren, weil er nicht nur den modernen Universalismus zugrunde legt, sondern im Rahmen dieses Universalismus auch die von der Kritischen Theorie geerbte „Emanzipationserzählung“. Zu Habermas heißt es in Lyotards Buch Das postmoderne Wissen: „Diese Konzeption beruht aber auf der Gültigkeit der Emanzipationserzählung.“ 93 Diese Konzeption wird jedoch von Lyotard, der die Postmoderne als „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ 94 , also als Zweifel an Christentum, Aufklärung, Marxismus und dgl., definiert, als partikular und willkürlich verabschiedet. Zweifellos trifft hier Lyotard einen wunden Punkt in Habermasʼ Philosophie: denn er stellt nicht zu Unrecht fest, dass die nach Universalkonsens strebende Theorie selbst partikular ist. Dieser Einwand wurde im Zusammenhang mit Habermasʼ weiter oben kritisierter Variante der Sprechakttheorie verständlich. Sie ist nur eine mögliche Sprach- und Kommunikationstheorie und wird z. B. von der Strukturalen Semiotik, die über den Satz zum Diskurs als semantisch-nar‐ rativer (transphrastischer) Struktur hinausgehen möchte, nicht in jeder Hinsicht akzeptiert. Es kommt hinzu, dass Lyotard meint, die Sprechakttheorie, die Habermas verwendet, um die Allgemeingültigkeit seiner Theorie plausibel zu machen, zu einer der Grundlagen seines Partikluarismus machen zu können. Dazu bemerken Gebhard Warmer und Klaus Gloy: „Lyotard betont, die einzelnen Arten von Sprechakten und Sprachspielen seien so verschieden, daß sie nicht ineinander ‚übersetzt‘ werden können.“ 95 Hier zeigt sich, wie vieldeutig und fungibel eine Theorie sein kann: Sie kann sowohl für den Universalismus als auch für den Partikularismus reklamiert werden. Gegen Habermasʼ moderne, auf Universalität zielende „Emanzipationserzäh‐ lung“ führt Lyotard seine Theorie der Sprachspiele (in Das postmoderne Wissen) und der Satz-Regelsysteme (in Der Widerstreit) ins Feld. Es geht hier nicht um eine ins Einzelne gehende Gesamtdarstellung dieser Theorie, sondern um den Kontrast zu Habermas und zur Kritischen Theorie insgesamt. Lyotards These lautet, dass Sprachspiele im Sinne von Wittgenstein oder Satz-Regelsysteme so heterogen sind, dass sie nicht ineinander übersetzt werden können. Sie sind inkommensurabel. Er stellt Habermasʼ modernem Universa‐ 242 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="243"?> 96 W. Reese-Schäfer, Lyotard. Eine Einführung, Hamburg, Junius,1988, S.-63. 97 J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, Wien, Passagen, 2007 (2. Aufl.), S.-66. 98 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München, Fink, 1989 (2. Aufl.), S.-293. lismus einen postmodernen Partikularismus gegenüber, der die Konsenssuche im Rahmen einer gemeinsamen, sprachlich homogenen Lebenswelt ausschließt. Zum „Grundgedanken“ von Lyotards Buch Der Widerstreit bemerkt Walter Reese-Schäfer: „,Die‘ Sprache ist nicht einheitlich, sondern heterogen. Es gibt unterschiedliche Diskursarten: Wissen, Lehren, Rechthaben, Verführen, Rechtfertigen, Erschüttern, Kontrollieren usw. Es gibt nicht ‚die Sprache‘ im allgemeinen, es sei denn als Gegenstand einer Idee.“ 96 Dies bedeutet u. a., dass Apels und Habermasʼ durchaus plausible Vorstellung von der Umgangssprache als letzter, von allen gleichermaßen verwendbarer Metasprache hinfällig wird. Während in Das postmoderne Wissen von heterogenen Sprachspielen die Rede ist, wird in Der Widerstreit der wesentlich ausführlicher definierte Begriff des Satz-Regelsystems eingeführt. Für beide Begriffe gilt die partikularistische Beschreibung der Sprachformen in Lyotards Grabmal des Intellektuellen, in der sich der Autor auf Kants These über die Heterogenität der Vermögen bezieht: „Die Prüfung der Sprachspiele konstatiert und bekräftigt, wie die Kritik der Vermögen, die Trennung der Sprache von sich selbst. Die Sprache ist ohne Einheit, es gibt nur Sprachinseln, jede wird von einer anderen Ordnung beherrscht, keine kann in eine andere übersetzt werden.“ 97 Jeder Versuch, sie ineinander zu übersetzen oder in einer Metasprache zusammenzufassen, zeitigt ein „Unrecht“, ein „tort“, das sich über die Heteroge‐ nität der beteiligten Sprachen hinwegsetzt. Ein solches Unrecht auf höchster, abstraktester Ebene begeht der Diskurs des globalisierten Kapitals, der alle sprachlichen Besonderheiten negiert, indem er sie auf die Frage nach dem „Wieviel? “ reduziert: „Auf diese Weise verlangt der ökonomische Diskurs des Kapitals keineswegs das politisch-deliberative Dispositiv, das die Heterogenität der Diskurse zuläßt. Eher das Gegenteil: er verlangt deren Unterdrückung.“ 98 An dieser Stelle wird trotz aller Differenzen eine Affinität zwischen Lyotard und Habermas sichtbar - und zwar im Hinblick auf den Gegensatz zwischen dem Geldsystem, das genuine Verständigung den Imperativen der Marktgesetze un‐ terwirft, und dem „politisch-deliberativen Dispositiv“, das bei Habermas in der Verständigung ermöglichenden Lebenswelt angesiedelt ist. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Denkern besteht darin, dass bei Habermas Deliberation zum Konsens führt (oder führen soll), während sie bei Lyotard vom Widerstreit (différend) zwischen den Sprachspielen oder Satz-Regelsystemen zeugt. 5. Postmodernes Plädoyer für Vielfalt II: Jean-François Lyotard 243 <?page no="244"?> 99 J.-F. Lyotard et al., Témoigner du différend. Quand phraser ne se peut, Paris, Ed. Osiris, 1989, S.-119. 100 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, op. cit., S.-58. 101 J.-F. Lyotard, Le Différend, Paris, Minuit, 1983, S.-180. „Témoigner du différend“, „vom Widerstreit zeugen“ 99 ist letztlich Lyotards Hauptanliegen, das er in einem Gespräch mit Francis Guibal, Jacob Rogozinski et al. verteidigt. Auf Habermas bezogen bedeutet dies, dass die Feststellung des Widerstreits und der sprachlichen Heterogenität der Weisheit letzter Schluss ist - und nicht der Konsens im Rahmen einer gemeinsamen Sprache (der Umgangssprache) der Lebenswelt. Lyotards Kritik an bestimmten Diskursen, die sich ein tort zuschulden kommen lassen, zeugt vom Widerstreit, von der nichtreduzierbaren Heteroge‐ nität und Besonderheit der Sprachspiele oder Satz-Regelsysteme: „Die Diskurs‐ arten bestimmen Spieleinsätze, sie unterwerfen die Sätze unterschiedlicher Regelsysteme einer einzigen Zweckbestimmung: In der juridischen Rhetorik sind die Frage, das Beispiel, die Beweisführung, der Erzählakt, der Ausruf heterogene Mittel, um jemanden zu überzeugen. Daraus folgt nicht, daß der Widerstreit zwischen den Sätzen ausgeschlossen bleibt.“ 100 Es dürfte jedoch nicht allzu schwerfallen, in Lyotards Texten genau diese Kombination von Frage, Beispiel und Beweisführung zu finden. Le Différend ist voller Fragen, Beispiele und Beweisführungen. Es kommt hinzu, dass Lyotard in seinem Werk heterogene Theorien, die ganz verschiedene Anliegen artikulieren, zusammenführt: In Dérive à partir de Marx et Freud (1973) sind es Marx und Freud; in Le Différend (1983) Kant, Wittgenstein und Emmanuel Lévinas. In der Philosophie und der Soziologie sind derlei Synthesen nicht ungewöhnlich und sollten auch nicht verächtlich gemacht werden, zumal sie durchaus produktiv sein können. Aber Freudianer könnten sehr wohl auf Stellen hinweisen, an denen Marxʼ und Freuds Diskurse einander „widerstreiten“, und auch die Sprachen von Kant und Wittgenstein sind nicht ohne Weiteres auf einen Nenner zu bringen. So begeht Lyotard selbst den tort, vor dem er in seinem Spätwerk so wortgewandt warnt. Es kommt hinzu, dass manche seiner Argumente auch nach mehrmaligem Lesen nicht einleuchten wollen. So heißt es beispielsweise in Le Différend (Kritik sollte sich stets ans Original halten): „Un ‚abîme‘ […] sépare toute phrase descriptive, y compris le métalangage critique de la déduction, de la phrase prescriptive.“ („Ein Abgrund […] trennt jeden deskriptiven Satz, auch die kriti‐ sche Metasprache der Deduktion, vom präskriptiven Satz.“) 101 Aus semiotischer und textlinguistischer Sicht ist diese Behauptung unhaltbar, weil ein Satz wie „Draußen ist Glatteis“ auf pragmatischer Ebene aufgrund seiner Konnotationen 244 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="245"?> 102 M. Frank, Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S.-79. 103 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, op. cit., S.-28; Le Différend, op. cit., S.-25. sowohl deskriptiv als auch präskriptiv aufgefasst wird. Die Angesprochenen werden ihn nicht einfach als deskriptive, interessante Mitteilung aufnehmen, sondern auch als präskriptive Warnung („Passt auf! “). Von einem „Abgrund“ (abîme) kann also nicht die Rede sein. Insofern ist Kritikern Recht zu geben, die Lyotards These über die Inkom‐ mensurabilität von Sprachspielen oder Satz-Regelsystemen grundsätzlich in Frage stellen. Ein Widerstreit oder Widerspruch kann nur auftreten, wenn eine gemeinsame semantische Grundlage gegeben ist. Manfred Frank erklärt: „So wie Identifikation, soll sie nichttrivial sein, eine Verschiedenheit wenigstens in einem Aspekt […] voraussetzt, so würde umgekehrt auch Widerspruch nicht festgestellt werden können, wenn die Entgegengesetzten in allen Merkmalen sich unterschieden. Also kann kein ‚différend‘ total sein. Da die Vollständigkeit und totale Unvermittelbarkeit des Streits aber die Definition des ‚différend‘ ausmachen, muß man weitergehen und sagen: ein ‚différend‘, so wie ihn Lyotard bestimmt, ist logisch unmöglich.“ 102 Dies wird noch am ehesten durch den für den ehemaligen Marxisten Lyotard so wichtigen „Widerstreit zwischen Arbeitskraft und Kapital“ veranschaulicht: „le différend entre la force de travail et le capital“. 103 Von Inkommensurabilität kann in diesem Fall nicht die Rede sein, weil sowohl Kapitalisten als auch Arbeiter von dem für sie relevanten semantischen Gegensatz Arbeit / Kapital ausgehen und sich somit auf einer gemeinsamen semantischen Ebene bewegen. Die Tatsache, dass sie die einander bekämpfenden Akteure - Arbeiter und Kapitalisten - gegensätzlich bewerten, schließt gegenseitiges Verständnis nicht aus. Davon zeugen die zahlreichen Kompromisse, die Arbeitskämpfen immer wieder ein Ende bereiten. Davon zeugt auch das Verhalten eines Angeklagten, der vom Gericht des Betrugs geziehen wird: Er weiß sehr wohl, wovon die Rede ist, bestreitet allerdings, ein Betrüger zu sein. Die Kritik an Lyotard war nicht das Hauptanliegen dieses Abschnitts. Viel‐ mehr sollte gezeigt werden, dass Lyotard im Rahmen einer postmodernen Problematik nicht nur den Subjekt-Begriff der Kritischen Theorie in Frage stellt, sondern auch die Gegenthese zu Habermasʼ Universalpragmatik aufstellt, die die Möglichkeit einer universellen Geltung sprachlicher Äußerungen behauptet und die Chancen von begrifflicher Übereinstimmung und Konsens auslotet. Lyotards Antwort lautet, dass diese Art von Konsens nicht möglich ist, weil Sprachspiele, Satz-Regelsysteme und Diskursarten unübersetzbar und inkom‐ mensurabel sind. So geht innerhalb der postmodernen Problematik nicht nur 5. Postmodernes Plädoyer für Vielfalt II: Jean-François Lyotard 245 <?page no="246"?> 104 U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S.-12. die Sprachgemeinschaft im Sinne von Apel und Habermas, sondern auch der moderne Universalismus-Gedanke verloren. Er weicht der sich verstärkenden Tendenz zur Partikularisierung. 6. Von der Postmoderne lernen: Dialogizität in der Heterogenität Es hat wenig Sinn, die Postmoderne mit Habermas als ein Ensemble konserva‐ tiver Reaktionen auf das „unvollendete Projekt der Moderne“ zu verzerren oder mit Ulrich Beck den Postmoderne-Begriff kurzerhand zu verabschieden: „Bei der ‚Postmoderne‘ beginnt bereits alles zu verschwimmen.“ 104 Mit etwas gutem Willen zur terminologischen Klärung kann man feststellen, dass eine Strömung innerhalb der postmodernen Problematik, die nicht mit „Weltanschauung“ oder „Ideologie“ verwechselt werden sollte, auf Partikularisierung, Vielfalt und eine Infragestellung des modernen Subjekt-Begriffs zielt. Diese Strömung vertreten Autoren wie Foucault (Kap III), Bauman (Kap. II, VI) und Lyotard (Kap. III, VI). Manche ihrer Argumente mögen extrem und fragwürdig sein, aber sie können nicht einfach übergangen werden, zumal einige ihrer Plädoyers für Partikularsierung und Vielfalt an Adornos Rationalismus- und Hegel-Kritiken anknüpfen. Eine Kritische Theorie, die Standpunkte der Spätmoderne vertritt (auch im vorliegenden Fall), aber außerstande ist, von Vertretern der Postmoderne zu lernen, obwohl sie sich mitten in einer nachmo‐ dernen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation befindet (wie F. Jameson feststellt: s.-o.), ist zu Sterilität und Stagnation verurteilt. Dies ist der Grund, warum hier zum Abschluss für eine dialogische Erneue‐ rung der Kritischen Theorie plädiert wird, die postmoderne Kritiken an der (Spät-) Moderne ernst nimmt und den Universalismus der Kritischen Theorie mit dem Partikularismus der postmodernen Denker dialektisch zusammenführt. Es geht darum, den „Kontextualismus“, den Habermas kurzerhand verabschiedet, ernst zu nehmen und zu verstehen, dass Intersubjektivität nur als Kommunika‐ tion zwischen Subjekten aufgefasst werden kann, die von ihren Diskursen und Soziolekten (Gruppensprachen wie Feminismus, Marxismus, Dekonstruktion oder Konservatismus) zu dem gemacht werden, was sie sind. Über diesen diskursiven Schatten können sie nicht springen und eine gemeinsame Sprache vereinbaren, die es weder in der realen Lebenswelt noch in einer idealisierten Kommunika‐ 246 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="247"?> 105 Vgl. P. V. Zima, „Kritische Theorie als Dialogische Theorie“, in: R. Winter, P. V. Zima (Hrsg.), Kritische Theorie heute, Bielefeld, Transcript, 2007 sowie ders., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen, Francke (UTB), 2017 (2. Aufl.), Kap. XIII und Kap. XIV und ders., Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Narr-Francke-Attempto (UTB), 2020. 106 Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: GS VI (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2020 (9. Aufl.), S.-144. tionssituation geben kann (es sei denn, man reduziert Kommunikation auf den Austausch von Trivialitäten mit Satz-Charakter). Aus diesem scheinbaren Nachteil, der den Kommunizierenden aus der sprach‐ lichen Vielfalt postmoderner Gesellschaften erwächst, kann ein Vorteil werden, sofern es gelingt, die Partikularitäten dialogisch aufeinander zu beziehen, damit in der Auseinandersetzung zwischen Theorien (und um diese geht es hier, nicht um Kulturen, Ideologien oder gar Religionen) gegenseitige Kritik und Selbstkritik zu einer Korrektur und Verbesserung sozialwissenschaftlicher oder kulturwissenschaftlicher Diskurse beitragen. Diese dialogische Ausrichtung der Kritischen Theorie soll an die Stelle einer Orientierung am „Proletariat“ (Benjamin), an der „neuen Arbeiterklasse“ (Marcuse, Goldmann) und an der Negativität einer bestimmten Kunstart (Adorno) treten. Sie soll auch Haber‐ masʼ Theorie des kommunikativen Handelns ersetzten, die auf Wissenschaft, Politik und Ethik anwendbar sein soll, sich aber über die konkreten, sprachlich bedingten Subjektivitäten, die jeder Intersubjektivität vorausgehen, durch Abs‐ traktionen hinwegsetzt. Im Folgenden soll im Anschluss an verschiedene Publikationen des Autors 105 die Kritische Theorie als Dialogische Theorie weiterentwickelt werden - und zwar in Übereinstimmung mit Adornos schon erwähnten Vorschlag aus der Negativen Dialektik „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“: „Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.“ 106 In diesem Satz ist zweierlei von Bedeutung: der Vorschlag, dass Denken nicht als Monolog, sondern dialogisch aufgefasst werden sollte, als „Denken gegen sich selbst“ oder als Ausrichtung auf Alterität, sowie das Festhalten an der eigenen Position, das jeglichen Relativismus, jegliche pragmatisch-politisch motivierte Kompromissbereitschaft ausschließt. Dies ist der Grund, warum hier der theoretisch-wissenschaftliche Dialog als Modell dient, nicht ein Dialog der Kulturen oder Religionen. Während im theoretischen Bereich stets die Bereit‐ schaft zu Kritik und Selbstkritik vorausgesetzt wird, weil Kritik Erkenntnis und Wahrheitssuche fördert, kann ein Dialog der Religionen nur auf Verständnis und 6. Von der Postmoderne lernen: Dialogizität in der Heterogenität 247 <?page no="248"?> 107 O. Neurath, „Pseudorationalismus der Falsifikation“ (1935), in: Gesammelte philoso‐ phische und methodologische Schriften, Bd. II (Hrsg. R. Haller, H. Rutte), Wien, Hölder-Pichler-Tempsky, 1991, S.-638. 108 Vgl. J.-Cl. Passeron, Le Raisonnement sociologique. L’espace non-poppérien du raisonne‐ ment naturel, Paris, Nathan, 1991. Toleranz zielen, keineswegs auf eine Änderung oder Korrektur der beteiligten Diskurse, die auf Glaubensbekenntnissen und Dogmen gründen. Dies gilt auch für Kulturen, die in den meisten Fällen religiös geprägt sind. Man kann das Weihnachtsfest als „Konsumfest“ kritisieren (von welchem Standort auch immer), aber die Kritik kann das Fest nicht als solches treffen, weil es im Glauben verankert ist, den man auch aus wissenschaftlichen Gründen zwar ablehnen, aber nicht auf logisch-empirischer Ebene kritisieren kann wie eine wissenschaftliche Theorie. Im theoretisch-wissenschaftlichen Dialog als Diskussion, Theorienvergleich oder Geistergespräch (im Sinne von Manfred Franks Geistergespräch zwischen Habermas und Lyotard) geht es sicherlich auch um Verständnis, aber zugleich um gegenseitige Kritik, die zu Reflexion, Selbstreflexion und Selbstkritik führen kann und soll. Dabei kommt einer Zusammenführung heterogener Theorien besondere Be‐ deutung zu, weil verwandte, einander ähnliche Theorien (etwa Kritische Theorie und Marxismus) aus terminologischen Gründen dazu neigen, ge‐ meinsame Fragestellungen, Grundsätze oder Annahmen zu bestätigen, festzu‐ schreiben. Dies gilt in noch stärkerem Maße für Diskussionen und kritische Überprüfungen innerhalb eines Theorienkomplexes, etwa des Kritischen Ra‐ tionalismus, dessen Vertreter stillschweigend von der Annahme ausgehen, dass wissenschaftliche Theorien „falsifizierbar“, d. h. anhand neuer Daten widerlegbar sein sollten. Erst ein kritischer Blick, der über die Grenzen einer wissenschaftlichen Gruppensprache, eines Soziolekts (wie des Kritischen Rationalismus oder der Kritischen Theorie) hinausgeht, kann die von allen Sprechern dieses Soziolekts geteilte Doxa in Frage stellen oder „erschüttern“, wie Otto Neurtah in seiner Kritik an Poppers Falsifizierungspostulat sagt: „Wo Popper an die Stelle der ‚Verifikation‘ die ‚Bewährung‘ einer Theorie treten läßt, lassen wir an die Stelle der ‚Falsifizierung‘ die ‚Erschütterung‘ einer Theorie treten […].“ 107 Im Dialog kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien kann es, wie Jean-Claude Passeron überzeugend nachweist 108 , keine Widerlegung im mathe‐ matisch-naturwissenschaftlichen Sinne geben, sondern nur eine Erschütterung im Sinne von Neurath. Diese Erschütterung in einer Diskussion, einem Theori‐ envergleich oder einem Geistergespräch kann folgende Ergebnisse zeitigen: (a) 248 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="249"?> 109 P. Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S.-118. ein besseres Verständnis der beteiligten Theorien, das Verzerrungen ausschließt; (b) Korrekturen, Verbesserungen oder Erweiterungen einer oder mehrerer Theorien; (c) Theoriesynthesen; (d) im Extremfall die Aufgabe einer Theorie und die Entstehung einer neuen, besseren. Paul Lorenzen beschreibt diese Möglichkeiten (zumindest teilweise), wenn er in Konstruktive Wissenschaftstheorie den theoretischen Dialog als Kommunika‐ tion zwischen Fachsprachen oder „Orthosprachen“ auffasst. Seine Darstellung ergänzt den hier vorgeschlagenen Dialog, weil sie auf ein Zusammentreffen heterogener Positionen ausgerichtet ist. Lorenzen, der zwischen der Skylla der fachsprachlichen Dogmatisierung (nur die eigene „Orthosprache“ gilt) und der Charybdis der umgangssprachli‐ chen Naivität (es geht auch ohne Fachsprachen) ein produktives dialogisches Verhältnis der Kollektivsprachen anpeilt, beschreibt die Möglichkeiten des Dialogs in drei Schritten: „Erstens können die ermittelten exemplarischen und terminologischen Bestimmungen genügend Anhalt dafür geben, ein Wort (oder einen Satz) des Autors als synonym mit gewissen Ausdrücken der eigenen Orthosprache (die man aufgrund eigener systematischer Bemühungen um den Gegenstand hat) einzusetzen. Das wäre der Fall einer Übersetzbarkeit in die eigene Orthosprache. Zweitens kann der Vergleich der Autorenorthosprache mit der eigenen ergeben, daß die erstere gewisse Termini (also begriffliche Unterscheidungen) hat, die dem eigenen systematischen Nachdenken bisher entgangen waren. Dann kann man den Text nicht in seine eigene Sprache übersetzen, man kann aber seine eigene Sprache durch die neuen Unterschei‐ dungen des Textes erweitern. Drittens kann der Versuch einer Übersetzung in die eigene Orthosprache oder deren Erweiterung durch Termini des Textes zu Widersprüchen führen. Dann müssen das eigene Denken und die Resultate des Autors noch einmal systematisch überprüft werden.“ 109 Dass die Auseinandersetzung mit der fremden Theorie zu ihrem besseren Verständnis führt, setzt Lorenzen voraus, wenn er von der Übersetzbarkeit bestimmter Termini der fremden Theorie in die eigene „Orthosprache“ spricht. Auf die hier unter Punkt (b) genannten „Korrekturen, Verbesserungen oder Er‐ weiterungen“ geht er unter „Zweitens“ ein, wenn er von der Möglichkeit spricht, die eigene Sprache durch die Unterscheidungen der fremden Sprache („Ortho‐ sprache“) zu „erweitern“. Die unter „Drittens“ angeführten „Widersprüche“ sind für die hier vorgeschlagene Dialogische Theorie wohl der wichtigste Aspekt des Dialogs: Er zeigt, dass die fremde Theorie die Wirklichkeit anders konstruiert - mit Hilfe anderer Relevanzkriterien und semantischer Einteilungen - und 6. Von der Postmoderne lernen: Dialogizität in der Heterogenität 249 <?page no="250"?> 110 Zur Rolle von Reflexion und reflexiver Selbstkritik vgl. P. V. Zima, Was ist Theorie? , op. cit., Kap. XII: „Subjektivität, Reflexion und Objektkonstruktion im Diskurs“. dass die eigene Theorie Lücken aufweist, die geschlossen werden könnten - oder auch nicht, weil sie die Kohärenz der Theorie sprengen würden. Immerhin führt die Feststellung dieses Widerspruchs und der Lücken zum kritischen Nachdenken über den eigenen Ansatz - und möglicherweise zu dessen Revision (vgl. die Punkte [c] und [d]). Der „Positivismusstreit“, der zwischen der Kritischen Theorie und dem Kritischen Rationalismus ausgetragen wurde, führte zwar nicht zu neuen Erkenntnissen der beteiligten Philosophen, er lässt aber bei näherer Betrachtung sowohl Konsens als auch Dissens erkennen. Die wesentliche Übereinstimmung beider Theorien besteht wohl in der Annahme, dass das autonome Individuum die eigentliche kritische Instanz ist und nicht die revolutionäre Klasse, die Partei oder ein anderes Kollektiv (wie beim jungen Lukács). Ein weiterer Konsens zeichnet sich im Bereich der Ideologiekritik ab, weil sowohl die Vertreter der Kritischen Theorie als auch die kritischen Rationalisten die Ideologie als dualistisches Schema kritisieren. Adorno, der Ideologie als „Identitätsdenken“ auffasst, steht Popper und Hans Albert recht nahe, wenn sie der Ideologie eine Immunisierung gegen Kritik vorwerfen. Denn ein Diskurs, der sich mit der Wirklichkeit identifiziert (und sich selbst nicht als nur mögliche, kontingente Konstruktion versteht), immunisiert sich zugleich gegen Kritik. Dies bedeutet, dass bestimmte Begriffe der Kritischen Theorie auf entsprechende (aber nicht Synonyme) Begriffe im Kritischen Rationalismus bezogen werden können. Dabei könnten die Begrifflichkeiten beider Theorien konkretisiert werden. Solche Ähnlichkeiten sollten die Differenzen nicht verdecken. Die kritischen Rationalisten kritisieren zwar alle Arten des Totalitarismus, haben aber für die Kapitalismus-Kritik der Kritischen Theorie wenig Verständnis. Ihnen fehlt auch das Verständnis für die Versuche der Kritischen Theorie, den Kapitalismus als vom Tauschwert vermittelten Gesamtzusammenhang zu verstehen. Aber gerade diese Differenzen zwischen zwei heterogenen Theorien, die dennoch in wichtigen Punkten konvergieren, machen einen Dialog sinnvoll und produktiv, weil er beide Seiten zur selbstkritischen Reflexion einlädt und Korrekturmög‐ lichkeiten in beiden Theorien erkennen lässt. 110 Dass diese Reflexion in den Debatten des Jahres 1969 nicht stattfand - oder nur ansatzweise - hängt u. a. mit den ideologischen Barrieren zusammen, die zeigen, dass Habermasʼ „ideale Sprechsituation“ kaum herzustellen ist, weil eine gemeinsame Lebenswelt fehlt. Jeder denkt und spricht innerhalb seines Soziolekts. 250 VI. Von Jürgen Habermas zu Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard <?page no="251"?> Dennoch sind Soziolekte nicht inkommensurabel. Sie haben einander etwas zu sagen, wie das hier inszenierte Zusammentreffen von Habermasʼ spätmo‐ dernem mit Lyotards postmodernem Diskurs zeigt. In der dialogischen Konfron‐ tation werden beide Theorien in dem Sinne erschüttert, dass die eine die Lücken der anderen sichtbar macht. Während sich Habermas über die sprachlichen, kulturellen und ideologischen Besonderheiten der kommunizierenden Subjekte abstrahierend hinwegsetzt und der Partikularität seines eigenen Universalismus nicht Rechnung trägt, übersieht Lyotard die Kommunizierbarkeit der Partiku‐ laritäten (der „Sprachspiele“ und „Satz-Regelsysteme“), die stets in eine allen gemeinsame „Umgangssprache als letzte Metasprache“ (im Sinne von Apel und Habermas) eingebettet sind, die den Kommunizierenden als Mittel der Verständigung dient. So könnten beide Theorien im Sinne von Paul Lorenzen „erweitert“ werden: die eine durch eine Berücksichtigung der besonderen sozialen Subjektivität der Kommunizierenden, die andere durch eine Analyse der Gemeinsamkeiten, die einen Konsens im Dissens ermöglichen. In der hier vorgeschlagenen Dialogi‐ schen Theorie halten Konsens und Dissens einander die Waage, und der Dissens zwischen heterogenen Theorien sorgt dafür, dass die Doxa, die in einer Theorie als Soziolekt (Gruppensprache) herrscht, in der Konfrontation mit der fremden Theorie aufgebrochen wird. Im vorliegenden Fall erscheint es wesentlich produktiver, den modernen Uni‐ versalismus als Wahrheitssuche, den auch Adorno und Horkheimer vertreten, mit Hilfe des postmodernen Partikularismus zu korrigieren und zu ergänzen, als die Postmoderne auf Konservatismus zu reduzieren und kurzerhand zu verabschieden. 6. Von der Postmoderne lernen: Dialogizität in der Heterogenität 251 <?page no="253"?> 1 Habermas geht später auf die von postmodernen Denkern postulierte sprachliche Frag‐ mentierung ein, insistiert aber wieder auf seinem Konzept einer „geteilten Lebenswelt“ und argumentiert an Bauman und Lyotard vorbei. Vgl. Habermas, „Konzeptionen der Moderne. Ein Rückblick auf zwei Traditionen“, in: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt, Suhrkamp, 2013 (6. Aufl.), S.-224. 2 Vgl. E. Mach, Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychi‐ schen, Jena, Gustav Fischer, 1922, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1991 (Reprint), S.-20: „Das Ich ist unrettbar.“ VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) Habermas mag mit seiner Kritik an der Postmoderne in mancher Hinsicht Recht behalten. Dennoch erscheint es in der gegenwärtigen Situation, angesichts der Publikationen von Bauman, Baudrillard, Foucault und Lyotard, wenig sinnvoll, die Postmoderne als ein Konglomerat konservativer Rückzugsgefechte mit der Moderne aufzufassen und sich von ihr abzuwenden - zumal Habermas nur den deutschen Kontext berücksichtigt. 1 Sinnvoller und dringlicher scheint eine Auseinandersetzung der Kritischen Theorie mit postmodernen Entwürfen zu sein, die sie einerseits fortsetzen, andererseits in Frage stellen. Baumans Kritik der Kommerzialisierung und „Kommodifizierung“ knüpft stellenweise an die Kritische Theorie an, desavouiert aber sowohl ihre revolu‐ tionären Hoffnungen als auch ihre Aufwertung der Kunst als kritischer Instanz. Dies gilt auch für Baudrillard, der eine „eindimensionale“, vom Tauschwert beherrschte Gesellschaft beschreibt, die alle Hoffnungen auf eine Überwindung durch zweidimensionales Denken als illusorisch erscheinen lässt. Die negative Ästhetik des späten Lyotard verdankt Adorno zahlreiche Impulse, lässt aber das individuelle Subjekt, das Adorno retten möchte, im Erhabenen zerfallen. Offensichtlich schätzen die Vertreter der Postmoderne das liberale Erbe, auf das sich die Frankfurter Denker direkt oder indirekt berufen, sehr viel skepti‐ scher ein als Adorno, Horkheimer oder Habermas. Die Einheit und Autonomie des Individuums halten sie für eine Schimäre (insofern sind sie Erben Ernst Machs) 2 , und konsequent zweifeln sie auch an einer konsensorientierten Inter‐ subjektivität, die eine gemeinsame Lebenswelt und eine einheitliche Sprache voraussetzt. Aus ihrer Sicht entwickelt sich die Postmoderne im Zeichen einer nichtreduzierbaren Vielfalt, in der weder eine gemeinsamen Kultur noch eine gemeinsame Sprache vorausgesetzt werden kann. Kritische Theorie sollte sich nicht über die postmodernen Gedankengänge und Einwände hinwegsetzten und unreflektiert ihr modernes, liberales Erbe <?page no="254"?> verteidigen. Es gilt, mit Adorno, dialektisch „gegen sich selbst [zu] denken, ohne sich preiszugeben“. Und dies bedeutet, dass einerseits die eigenen Prämissen punktuell revidiert werden und dass andererseits einige Argumente der Post‐ modernen - vor allem ihr Insistieren auf Vielfalt und Heterogenität - ernst genommen und in der Umgestaltung der Kritischen Theorie berücksichtigt werden. Die Revision der eigenen Prämissen betrifft vor allem das Verhältnis zu Marxismus und Sozialismus, von denen sich Philosophen der Postmoderne wie Bauman, Lyotard, Foucault und Baudrillard distanziert haben. Mit diesem Thema befassen sich die Abschnitte 1 und 2. Im dritten Abschnitt geht es um die Überwindung des Kapitalismus, für die Adorno immer wieder plädiert, ohne allerdings einen Ausweg weisen zu können. Die Antwort auf diese Aus‐ weglosigkeit, in der sich Adorno und Horkheimer mit Bauman („living without an alternative“) und Lyotard befinden, ist eine Rückkehr zur historischen Immanenz, die jedoch ganz anders aufgefasst wird als bei Marcuse (vgl. Kap. V). Festgehalten wird im vierten Abschnitt - gegen Foucault und Lyotard - an der Autonomie des Individuums, einem wesentlichen Aspekt des liberalen Erbes, und an der kritischen Dimension einer bestimmten Kunst, die mit Adorno als Stütze individueller Autonomie aufgefasst wird. Eine weitere Stütze dieser Autonomie ist das im fünften Abschnitt kommentierte europäische Projekt, das mit seiner Vielsprachigkeit und Dialogizität ideologische Monologe (vor allem die des Nationalismus) grundsätzlich in Frage stellt und daran hindert, Individuen zu vereinnahmen, zu Subjekten zu machen. Mit dieser Hervorhebung von Vielfalt und Dialogizität wird ein postmodernes Theorem in die Kritische Theorie aufgenommen und zugleich Habermasʼ Beharren auf kultureller und sprachlicher Homogenität aufgegeben. In dem hier entworfenen Zusammenhang muss es als Anachronismus erscheinen. Im sechsten Abschnitt wird schließlich eine dialogische Wahrheitssuche in der Wissenschaft als Analogon zur europäischen Vielstimmigkeit noch einmal skizziert. Es geht auch in der Wissenschaft darum, stets die Stimme des Anderen zu hören: als Inspirationsquelle und Korrektur des eigenen Denkens. 1. Abschied vom Marxismus als Klassenkampftheorie Die Postmoderne ist eine Problematik, in der sich viele Denker (Bauman, Lyotard, Baudrillard), die in den Anfangsphasen ihrer Entwicklung ihrem Selbstverständnis nach Marxisten waren, vom Marxismus distanzierten. Ohne sich zur Postmoderne zu bekennen oder diese Bezeichnung auch nur zu ver‐ wenden (vgl. Kap. III. 2), drückt Foucault den Geist der Postmoderne aus, wenn 254 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="255"?> 3 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: GS VI (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2020 (9. Aufl.), S.-316. 4 L. Goldmann, „La Mort d’Adorno“, in: La Quinzaine littéraire, du 1 er au 15 septembre 1969. er einen seiner Texte mit dem Titel überschreibt: „Méthodologie pour la con‐ naissance du monde: comment se débarrasser du marxisme? “ („Methodologie zur Welterkenntnis: Wie wird man den Marxismus los? “) Die Kritische Theorie ist zu modern, um einen so radikalen Bruch mit dem Marxismus, aus dem sie hervorging, zu vollziehen. Sie ist aber spätmodern genug, um die Moderne mitsamt dem Marxismus selbstkritisch zu reflektieren 3 und zu ihren ehrgeizigen Entwürfen auf Distanz zu gehen. Zu diesen Entwürfen gehört auch die hegelianisch-marxistische Teleologie, die Adorno und Hork‐ heimer im Rahmen einer wachsenden spätmodernen Skepsis mit Misstrauen betrachten. Die spätmodernen Reaktionen Adornos und Horkheimers auf die moderne Zuversicht Hegels, Marxʼ und Comtes ergänzen die wenig zuversichtlichen Prognosen Georg Simmels, Max Webers und Alfred Webers über die „Tragödie der Kultur“, die „Entzauberung der Welt“ und die Vernichtung des Menschen durch Wirtschaft und Technik. Sie stecken den Kontext ab, in dem es in der Postmoderne schließlich zu einer Abkehr vom revolutionären Marxismus kommt, die von Adorno und Horkheimer in ihren nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Werken vorweggenommen wird. Beide Vertreter der Kritischen Theorie verzichten (wie sich im dritten und vierten Kapitel gezeigt hat) auf die hegelianisch-marxistische Auffassung einer historischen Immanenz, der zufolge die höhere, bessere Gesellschaft aus den Antagonismen und Konflikten der bestehenden hervorgeht. Der Verzicht auf diese Immanenz gehört zu den wichtigsten Mängeln, die der internationale Marxismus Adorno und der Kritischen Theorie zum Vorwurf macht. Charakteristisch für die marxistischen Kritiken ist Lucien Goldmanns Nachruf auf Adorno, in dem Goldmann zu den Frankfurter Philosophen bemerkt: „Da sie es ablehnten, sich mit einer der existierenden sozialen Kräfte zu identifizieren oder sich ihr in dieser Gesellschaft anzuschließen, nahmen sie einen radikalen kritischen Standpunkt ein, indem sie alle Urteile über die Geschichte der Philosophie revidierten und sogar Denkern, auf die sie sich in erster Linie beriefen, nämlich Hegel und Marx, ihr teilweise Einverständnis mit der Wirklichkeit, das ihre Doktrin enthält, vorwarfen.“ 4 Diese Zeilen treffen zwar auf Adorno und Horkheimer zu, deren Nachkriegs‐ denken nicht mehr als marxistisch bezeichnet werden kann, weil es die hegeli‐ anisch-marxistische Immanenz ablehnt, nicht aber auf Marcuse, der, wie sich im sechsten Kapitel gezeigt hat, zwischen Immanenz und radikaler Ablehnung 1. Abschied vom Marxismus als Klassenkampftheorie 255 <?page no="256"?> schwankt. Sein Denken ist dem Marxismus wesentlich näher als das Adornos und Horkheimers. Es ist insofern für die Position der Kritischen Theorie in der spätmodernen Konstellation charakteristisch, als es einerseits die moderne Teleologie als „Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden Weltplans zum Besseren“ (Adorno) mit Skepsis betrachtet, andererseits aber doch nach Kräften Ausschau hält (Arbeiter, Studierende, „neue Arbeiterklasse“), die die Gesellschaft immanent verändern und „zum Besseren“ führen könnten. Schließlich gibt Marcuse jedoch, wie im fünften Kapitel deutlich wurde, diese Hoffnung auf, wenn er feststellt, die „neue Arbeiterklasse“ sei „gut integriert und [werde] gut bezahlt“ (vgl. Kap. V. 3). Damit kündigt sich in der Kritischen Theorie eine Abkehr vom Marxismus an, die in Habermasʼ Philosophie besiegelt wird, sofern sie allen revolutionären Hoffnungen absagt und sich in einer Art Rückzugsgefecht auf die Verteidigung der Lebenswelt und der in ihr Kommunizierenden gegen die Systeme „Geld“ und „Macht“ konzentriert. Dies ist insofern eine spätmoderne Reaktion auf die Problematik der Postmoderne, als in dieser alle modernen „Metaerzählungen“ (Lyotard) mitsamt ihren Teleologien als anachronistisch verabschiedet werden. Vor allem die marxistische Teleologie, die auf der Vorstellung von Klassen‐ antagonismus und Klassenkampf gründet, verliert - bei Bauman, Lyotard, Baudrillard, Foucault und Vattimo - ihre Glaubwürdigkeit. Aus soziologischer Sicht hängt dies damit zusammen, dass das Marxsche Aktantenschema Bür‐ gertum / Proletariat, das aus dem Antagonismus von Kapital und Arbeit hervor‐ geht, auf die soziale Wirklichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr anwendbar ist. Der Antagonismus ist zwar weiterhin relevant, bewirkt aber keine dualisti‐ sche Klassenkonfrontation mehr, weil die Gesellschaft so fragmentiert ist, dass ihre zahlreichen Konflikte in ihrer Komplexität und Heterogenität nicht mehr im Rahmen eines binären Schemas wie Bürgertum / Proletariat erfasst werden können. Piloten, Ärztinnen und Ärzte, Metallarbeiter und Lehrkräfte geraten in Konflikte mit Arbeitgebern, die in der Wirtschaft die Kapitalseite vertreten; aber sie können als Arbeitnehmer nicht einer Kategorie, etwa einer „neuen Arbeiterklasse“, subsumiert und dem Kapital entgegengesetzt werden. Dazu sind ihre Interessen und Standpunkte zu heterogen. Das Problem besteht nicht nur darin, dass - wie Adorno und Marcuse feststellen - die Arbeiterschaft in das kapitalistische System integriert ist; es besteht zugleich darin, dass die Interessen der Gruppen, die mit dem Kapital Arbeitskämpfe austragen, zu stark divergieren. 256 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="257"?> 5 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VI (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-337. 6 Ibid., S.-466. Im Gegensatz zu Baudrillard, der den Tauschwert zum allumfassenden Wert („la valeur“) erklärt, halten die Frankfurter Philosophen an der Kritik des Tauschwerts vom Standpunkt der Gebrauchswerte fest. Darin besteht ihr marxistisches Erbe, das sie nicht aufgegeben haben und das auch hier nicht aufgegeben wird. Uneingeschränkt gilt weiterhin Adornos Satz aus der Ästhe‐ tischen Theorie über das Kunstwerk als Statthalter einer besseren Wirklichkeit: „Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschheit Zugerichteten.“ 5 Dies bedeutet, dass die von Marx initiierte Kritik der Warengesellschaft fortgeführt und intensiviert wird in einer Gesellschaft, die außer den Gebrauchs‐ gegenständen auch den Sport, die Medizin und die Kunst dem Profit unterwirft: „Unterhaltung, auch die gehobene und vollends die edel sich aufführende, wurde vulgär, seitdem die Tauschgesellschaft auch die künstlerische Produktion in die Fänge genommen und zur Ware präpariert hat.“ 6 In dieser Situation fällt dem kritischen Individuum, dem Intellektuellen, die Aufgabe zu, sich der Kommerzialisierung der Gesellschaft - auch der Dritt‐ mittel-Universität - auf allen Ebenen entgegenzustellen und den Standort des kritischen Kunstwerks im Sinne von Adorno einzunehmen. Denn es geht nicht nur um Kunst, Kultur und Kulturindustrie, sondern auch um die Ausdehnung des Wirtschaftsdenkens auf Bereiche wie Freizeit, Medizin, Tourismus und Bildung. Auf dieser Ebene setzt die Kritische Theorie die marxistischen Kritiken an der Warengesellschaft fort und distanziert sich von einem postmodernen Soziologen wie Baudrillard, der zu verstehen gibt, dass die Alternative zum Tauschwert (als Wert schlechthin) nicht mehr benannt werden kann. 2. Kapitalismus-Kritik, „authentischer Sozialismus“ und Naturbeherrschung Bis zu einem gewissen Grad setzen die Frankfurter Philosophen Marxʼ Kapi‐ talismus-Kritik fort, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Herrschaft des Tauschwerts und des Tausches, sondern als globale Kritik am kapitalistischen System. Adorno wirft im „Positivismusstreit“ den kritischen Rationalisten vor, dass sie sich über die Schattenseiten des Kapitalismus keine Gedanken machen (vgl. Kap. III. 5). 2. Kapitalismus-Kritik, „authentischer Sozialismus“ und Naturbeherrschung 257 <?page no="258"?> 7 Th. W. Adorno, Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 173. 8 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt, Suhrkamp (1969), 2008, S.-39. 9 H. Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1978 (6. Aufl.), S.-141. Im dritten Kapitel sollte hier deutlich geworden sein, dass Adorno keine Alternative zum kapitalistischen System ins Auge fasste und in dieser Hinsicht mit Horkheimer übereinstimmte, der nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls die marxistische Vorstellung von einer revolutionären Überwindung der kapitalis‐ tischen Verhältnisse als unrealistisch empfindet. Die Komplexität des Systems, auf die im vorigen Abschnitt in einem anderen Kontext hingewiesen wurde, lässt diese Vorstellung als schimärenhaft erscheinen. Adorno spricht - in Übereinstimmung mit Horkheimer - von einem „tech‐ nologischen Schleier“: „Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer und ich vor Jahrzehnten mit dem Begriff des technologischen Schleiers. Die falsche Identität zwischen der Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch die totale Expansion der Technik läuft auf die Bestätigung der Produktionsverhält‐ nisse hinaus, nach deren Nutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblich forscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind.“ 7 Dies bedeutet im Klartext, dass der proletarische Standort, von dem aus noch Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) die bürgerlich-kapi‐ talistische Gesellschaft kritisieren konnte, nicht mehr bezogen werden kann und dass die „Nutznießer“ oder Ausbeuter in der Anonymität globaler Wirtschafts‐ verflechtungen nicht mehr aufzufinden sind. Es bedeutet zugleich, dass eine Überwindung des Bestehenden, die Marx ankündigte und an die noch der junge Lukács in den 1920er Jahren glauben konnte, unglaubwürdig wird. Damit wird auch die historische Immanenz im hegelianisch-marxistischen Sinne, auf die sich Goldmann in seiner Kritik der Kritischen Theorie beruft, hinfällig. Im Zusammenhang mit Goldmanns Kritik wurde jedoch angemerkt, dass sie Herbert Marcuse nicht in jeder Hinsicht gerecht wird. Denn Marcuse erwähnt sporadisch die „neue Arbeiterklasse“ (Goldmanns „nouvelle classe ouvrière“), von der er sich wie Goldmann eine Umwälzung der Verhältnisse verspricht. Komplementär dazu ist bei ihm von einer „authentische[n] sozialistische[n] Gesellschaft“ 8 die Rede, und er argumentiert durchaus im Sinne der hegelia‐ nisch-marxistischen historischen Immanenz, wenn er erklärt (vgl. Kap V): „Die Aufhebung der kapitalistischen durch eine sozialistische Gesellschaft ist eine in der gegebenen gesellschaftlichen Situation selbst wirksame geschichtliche Tendenz.“ 9 258 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="259"?> 10 O. Šik, Plan und Markt im Sozialismus, Wien, Molden (1965), 1967, S.-212. 11 Ibid., S.-15. Diese historische Zuversicht, die, wie sich gezeigt hat, Marcuse selbst an anderer Stelle anzweifelt, geht in der Postmoderne bei Denkern wie Lyotard, Baudrillard oder Vattimo (der von „Verwindung“ im Gegensatz zur „Überwin‐ dung“ spricht) verloren. Dieser Verlust ist nicht nur aus der von Lyotard erwähnten „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ ableitbar, sondern ist auch auf die Peripetien des realen Sozialismus zurückzuführen, die schließlich in den Zusammenbruch des Ostblocks mündeten. Sie können hier freilich nicht nachgezeichnet werden. Es mag genügen, auf die durchaus wohlwollenden Kritiken der sozialistischen Wirtschaft bei kompetenten Reformern wie Evsej Liberman in der ehemaligen Sowjetunion, Oskar Lange in Polen und Ota Šik in der ehemaligen Tschechoslowakei hinzu‐ weisen. Alle drei Autoren betonen in ihren sehr verschiedenen Arbeiten die Notwendigkeit, die Marktgesetze im Sozialismus stärker zu berücksichtigen, den Betrieben mehr Autonomie auf dem Markt zu gewähren und mehr auf individuelle Konsuminteressen einzugehen. Ota Šik etwa spricht von der notwendigen „Ausnutzung der Marktbezie‐ hungen“ 10 und erklärt gleich im ersten Kapitel seines Buches Plan und Markt im Sozialismus (1965, dt. 1967): „[…] Weiterhin versuche ich die bisherige, vereinfachte Auffassung der sozialistischen Planung zu überwinden, die logisch mit einer strikten Ablehnung des Marktmechanismus im Sozialismus verbunden war […].“ 11 Dies entspricht inhaltlich weitgehend den damals fast zur gleichen Zeit er‐ schienenen zwei Artikeln Libermans in der Pravda: „план, прибыль, премия“ („Plan, Profit, Premie“, Pravda, 9. 9. 1962) sowie „Ещë раз o плане, прибыли, премии“ („Noch einmal zu Plan, Profit, Premie“, Pravda, 21. 11. 1965). Die Ge‐ dankengänge Šiks und Libermans überschneiden sich in wesentlichen Punkten mit denen Oskar Langes, der sich schließlich für einen „Konkurrenzsozialismus“ und einen „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus ausspricht. (Wer sich auch für den politischen Hintergrund der Debatten interessiert, wird mit Gewinn, aber vor allem zwischen den Zeilen, das Buch des ZK-Mitglieds und unermüdlichen GOSPLAN-Direktors Nikolaj Bajbakov [1955-58 und 1965-85] lesen: Сoрoк лет в правительстве [Vierzig Jahre in der Regierung], Moskau, Respublika, 1993.) Diese Skizze mag ausreichen, um die von Marcuse prognostizierte „Aufhe‐ bung der kapitalistischen durch eine sozialistische Gesellschaft“ anzuzweifeln. Denn der gemeinsame Nenner der auf Reformen ausgerichteten Argumente 2. Kapitalismus-Kritik, „authentischer Sozialismus“ und Naturbeherrschung 259 <?page no="260"?> 12 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-104. Langes, Libermans und Šiks heißt: mehr Markt und weniger Plan. Die Ent‐ wicklung Osteuropas und der Zerfall des „realen Sozialismus“ zeigen, dass die „geschichtliche Tendenz“, von der Marcuse spricht, in die entgegengesetzte Richtung verlief: zum Kapitalismus hin. Es ist sicherlich zu früh, Prognosen über die Entwicklung Chinas vorzulegen; es scheint sich aber ein struktureller Widerspruch zwischen dem sozialistischen Dirigismus des gegenwärtigen Regimes und der bisher relativ freien Entfaltung der Wirtschaft abzuzeichnen. (Tatsache ist, dass sowohl im Jahre 2022 als auch im Jahre 2023 ca. 300. 000 Fachkräfte China aus wirtschaftlichen und politischen Gründen verlassen haben.) Vor diesem Hintergrund erscheint Marcuses Vor‐ stellung von einer „authentischen sozialistischen Gesellschaft“ als Utopie ohne Verankerung in der wirklichen Welt. Insofern war Adorno sowohl vorsichtiger als auch weitsichtiger, als er es ablehnte, seine Dialektik hegelianisch-marxistisch ins Positive zu wenden. Er hat damit eine Postmoderne antizipiert, die sich sowohl vom Historischen Materialismus als auch vom Sozialismus distanziert hat. Sehr viel aktueller als Marcuses ansatzweise geschichtsimmanenter An‐ satz ist Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, die nicht vom marxistischen Gegensatz Arbeit / Kapital, sondern vom Gegensatz Naturver‐ ständnis / Naturbeherrschung ausgeht. Sie ist möglicherweise das heute aktu‐ ellste Element der Kritischen Theorie. Obwohl die Arbeiterbewegung und ihre Gewerkschaften den Kapitalismus zwangen, sozialer zu werden und sich in eine „soziale Marktwirtschaft“ zu verwandeln, haben sie sein ausbeuterisches Verhältnis zur Natur nicht wesentlich verändert. Eine drastische Veränderung auf dieser Ebene könnten die sich häufenden Naturkatastrophen bewirken. Allmählich führen sie zu der kollektiven Einsicht, „daß Natur, solange sie einzig durch ihre Antithese zur Gesellschaft definiert wird, noch gar nicht ist, als was sie erscheint“. 12 Diese Antithese könnte revidiert werden in einer Situation, in der allen Verantwortlichen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft vor Augen geführt wird, dass sich das Verhältnis von Natur und Gesellschaft von Grund auf ändern muss. Nach der sozialen Wende sieht sich der Kapitalismus genötigt, eine „grüne“ Wende herbeizuführen, wenn er die Natur als materielle Grundlage von Wirtschaft und Gesellschaft nicht zerstören und seine eigenen Überlebens‐ chancen nicht gefährden will. Eine Überwindung des kapitalistischen Systems bedeutet dies mitnichten. Die Herrschaft über Natur und Mensch nimmt nur neue Formen an, ohne zu verschwinden. 260 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="261"?> 13 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, GS V, Frankfurt, Fischer, 2014 (4. Aufl.), S.-78. Denn das Geld als Tauschwert und Selbstzweck beherrscht auch die „grüne Wende“, in die von allen Seiten investiert wird. Und dies hat zur Folge, dass „die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt“ 13 , wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt, festgeschrieben wird. Fortgesetzt wird auch - trotz des Strebens nach einer von Katastrophen diktierten Versöhnung mit der Natur - das von Adorno und Horkheimer kritisierte Herrschaftsprinzip, das auch die Herrschaft des Menschen über sich selbst (etwa im „Selbstmanagement“) und seine Mitmenschen meint, die das individuelle Subjekt in seiner Existenz bedroht. Diese existenzielle Bedrohung erfasst auch soziale Gruppen und Staaten, die sich laut Hobbes im „Naturzustand“ („state of nature“) befinden und einander nach dem Leben trachten. Sie handeln weiterhin nach dem naturwüchsigen Gesetz „fressen oder gefressen werden“, das Adorno und Horkheimer sporadisch kritisieren. Die Versöhnung mit der Natur, die allerorten verkündet und auch initiiert wird, scheint sich im Bereich der sozialen und internationalen Bezie‐ hungen nicht auszuwirken. Bewaffnete Banden liefern sich Schlachten mit Regierungstruppen, und auf internationaler Ebene werden in Kriegen immer effizientere Waffensysteme und andere Vernichtungsmittel eingesetzt. Dabei werden weder Zivilisten noch Kriegsgefangene verschont. Allmählich wird deutlich, dass sich das Streben nach einer weniger rücksichtslosen Nutzung von Naturressourcen als Milderung der Naturbeherrschung auf die Herrschaft von Menschen über ihresgleichen kaum auswirkt. Dabei wird die Nichtigkeit des Individuums allen vor Augen geführt. An dieser Stelle tritt das vom Liberalismus geerbte Hauptanliegen der Kritischen Theorie im Sinne von Adorno und Horkheimer zutage, das alle Gedankengänge der beiden Philosophen umkreisen: die Rettung des individu‐ ellen Subjekts. Immer wieder kehren sie zu der Frage zurück, ob seine Rettung in der gegenwärtigen Phase des Spätkapitalismus noch möglich sei. Von der Beantwortung diese Frage hängt auch die Möglichkeit von Kritik ab. 3. Das kritische Individuum als Erbe des Liberalismus Das liberal-individualistische Erbe der Kritischen Theorie gehört zu den Haupt‐ themen dieses Buches und wurde hier in allen Kapiteln kommentiert. Charak‐ 3. Das kritische Individuum als Erbe des Liberalismus 261 <?page no="262"?> 14 M. Horkheimer, Gesammelte Schriften, in: GS XIV: Nachgelassene Schriften 1949-1972 (Hrsg. Schmid Noerr), Frankfurt, Fischer, 1988, S.-309. 15 J. Baudrillard, La Transparence du Mal. Essai sur les phénomènes extrêmes, Parsi, Galilée, 1990, S.-19. 16 Vgl. J. Baudrillard, Ecran total, Paris, Galilée, 1997, S. 28, wo sich Gedächtnis und Ge‐ schichte in der Medienwirklichkeit auflösen: „Indifférence de la mémoire, indifférence à l’histoire égale aux efforts mêmes pour l’objectiver.“ 17 Th. W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. XIV (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S.-169. teristisch für dieses Erbe ist ein Satz aus Horkheimers „Notizen“: „Ein Beispiel für das Individuum ist der Unternehmer des neunzehnten Jahrhunderts.“ 14 In dieser Schlussbetrachtung geht es im Wesentlichen um drei Punkte: 1. um die schon kommentierte Verteidigung des liberal-individualistischen Erbes durch die Frankfurter Philosophen, die sie zu Gegnern postmoderner Strömungen werden lässt; 2. um den Nexus von individueller Subjektivität, Bildung und Kritikfähigkeit; 3. um den Vorschlag zu einer neuen Analyse des Herrschaftsprinzips, die möglicherweise zeigen würde, dass ein rücksichtsvol‐ lerer Umgang mit der Natur nicht als solcher die Herrschaftsansprüche unter den Menschen mindert. Baudrillard, der meint, dass die tauschwertvermittelten Medien als Welt sui generis die Wirklichkeit verschwinden lassen, spricht von einem Verschwinden des Politischen („le politique a bien disparu“) 15 und von der Unmöglichkeit einer Kritik, die hinter dem Schein der Simulakra die Wirklichkeit sichtbar machen könnte. 16 Insgesamt läuft seine Argumentation auf die Feststellung hinaus, dass das kritische Individuum in einer von Tauschwert und Medien beherrschten Welt ebenso ohnmächtig ist wie das Kollektiv: die Partei oder die Gewerkschaft. Obwohl sie (mit Musil) vom Niedergang des Individualismus und auch von der Ohnmacht des Einzelnen sprechen, lehnen Adorno und Horkheimer es ab, das autonome, kritikfähige Individuum als Relikt vergangener Epochen kur‐ zerhand aufzugeben. Zur „Dialektik zwischen dem Ich und seiner Auflösung“ bemerkt Adorno in einer seiner postum veröffentlichten Vorlesungen: „[…] Es gehört zu dieser Dialektik, um sie zu erkennen, wie zu jeglicher Einsicht in den gegenwärtigen Zustand, genau jene Stärke des Ichs, jene Unbeugsamkeit und Unbeirrbarkeit des Ichs gegenüber der vorwaltenden Tendenz dazu; jene Ich‐ stärke, die von der geschichtlichen Tendenz eingezogen wird und die in immer weniger Menschen überhaupt noch sich realisiert findet.“ 17 Hier wird deutlich, dass Adorno die Schwächung des individuellen Subjekts, des Intellektuellen und der Kritik, die auch von Lyotard, Baudrillard und Foucault beobachtet wird (vgl. Kap. III-V), durchaus wahrnimmt und mit Musil dennoch versucht, „das Richtige hinüberzuretten“. 262 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="263"?> 18 M. Horkheimer, „Verantwortung und Studium“ in: M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Sociologica II, Frankfurt, Europäische Verlagsgesellschaft, 1973 (3. Aufl.), S.-85. 19 Th. W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit,in: Nachgelassene Schriften, Abt. IV, Vorlesungen, Bd. XIII (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S.-100. 20 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-489. 21 M. Horkheimer, „Verantwortung und Studium“, in: M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Sciologica II, op. cit., S.-70. Dies gilt auch für Horkheimer, der in seinem Artikel „Verantwortung und Studium“ über die Vertreter der Studentenschaft schreibt: „Sie müssen Per‐ sonen bleiben, mit eigenen, stets wieder in Frage gestellten und doch jeweils bestimmten Ideen von dem, was die Universität trotz allem heute noch sein kann, und wie sie am besten die Vorbereitung auf den akademischen Beruf mit der für ein geistiges Dasein verbindet.“ 18 In Horkheimers Ausdruck „trotz allem“ klingt Adornos Hinweis auf die „geschichtliche Tendenz“ an, die dem Einzelnen nicht günstig ist. Bei Adorno wird jedoch deutlich, dass er der Vernunft des kritischen Einzelsubjekts noch einiges zutraut: „Ich würde also sagen: der kritische Maßstab, der es der Vernunft erlaubt und der die Vernunft nötigt und dazu verpflichtet, der Übermacht des Weltlaufs sich entgegenzustellen, der ist stets und in jeder Situation der Hinweis auf die konkrete Möglichkeit, es anders zu machen […].“ 19 Mit „Vernunft“ ist hier nicht die „instrumentelle Vernunft“ im Sinne der Aufklärung und des 18. Jahrhunderts gemeint, sondern eine mit der Natur ver‐ söhnte Vernunft, die sich an den mimetischen Momenten der Kunst orientiert. Zu ihr heißt es in der Ästhetischen Theorie: „Ratio ohne Mimesis negiert sich selbst.“ 20 Aus Horkheimers Sicht ist die „instrumentelle Vernunft“ gerade die, welche nicht nur die Natur, sondern auch den Menschen instrumentalisiert und als autonomes Subjekt in Frage stellt: „Heute liegt der Akzent auf dem Instrumentalen, auf allem, was, wie es heißt, zum Rüstzeug gehört. Rüstzeug sucht der Einzelne im Studium, zum gesellschaftlichen Rüstzeug gehört die ganze Wissenschaft, zum Rüstzeug droht der ganze Mensch zu werden.“ 21 Gegen diese Instrumentalisierung des Individuums, die, wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat, auch Alfred Weber vorausahnt (vgl. Kap I. 4), führen Adorno und Horkheimer die Bildung der liberalen Ära ins Feld, von der sie befürchten, dass sie in einer von Wirtschaft und Technik beherrschten Gesellschaft verloren geht. In seinem bekannten Artikel „Theorie der Halbbildung“ zeichnet Adorno den Niedergang der Bildung im liberal-bürgerlichen Sinne nach, schließt aber seine Betrachtung - eher unerwartet - mit einem Plädoyer für den (liberalen) „Anachronismus“: „Tut indessen der Geist nur dann das gesellschaftlich Rechte, solange er nicht in der differenzlosen Identität mit der Gesellschaft zergeht, 3. Das kritische Individuum als Erbe des Liberalismus 263 <?page no="264"?> 22 Th. W, Adorno, „Theorie der Halbbildung“, in: Soziologische Schriften I, GS VIII (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2022 (6. Aufl.), S.-121. 23 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: GS IV (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 2022 (14. Aufl.), S.-153. 24 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, in: GS XI, Frankfurt, Suhrkamp, 2022 (6. Aufl.), S.-125. 25 J. Baudrillard, L’Illusion de la fin. Ou La grève des événements, Paris, Galilée, 1992, S. 152. 26 J. Baudrillard, Le Crime parfait, Paris, Galilée,1995, S.-48. 27 Vgl. L. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, New York-London, Routledge (1988), 1992, S. 207. Dort wird (nicht zum ersten Mal) Adornos elitäre Gesinnung kommentiert: „[…] implied Adornian retreat into modernist high art and its elitists, hermetic escape from economic use.“ Es geht jedoch nicht um Eskapismus, son‐ dern um die Verteidigung politischer Bildung, die zu den Grundlagen der Demokratie gehört. so ist der Anachronismus an der Zeit: an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog.“ 22 In diesem Satz tritt eine der vielen Paradoxien von Adornos Gesellschafts‐ theorie zutage. Adorno setzt sich nostalgisch für den Anachronismus der Bildung ein, obwohl er im gleichen Atemzug feststellt, dass die Grundlage dieser Bildung weggebrochen ist. Seine Feststellung, „daß das Individuum mit Haut und Haaren liquidiert werde, ist noch zu optimistisch gedacht“ 23 , verhält sich paradox zu seinem Bekenntnis zu einem „seiner selbst mächtigen und bewußten Subjekt, dessen, der nicht kapituliert“. 24 Doch was wäre die Alternative zu diesem Paradoxon? Die Alternative skizziert der postmoderne Baudrillard, wenn er von der Indifferenz des Individuums spricht und den illusorischen Charakter der Kritik nachzuweisen sucht: Der „Indifferenz des Individuums sich selbst und den anderen gegenüber“ („l’indifférence de l’individu à lui-même et aux autres […]“) 25 entspricht „die Illusion der Kritik selbst“ („l’illusion de la critique elle-même“). 26 Hier hat das Individuum kapituliert, und seine Kapitulation zieht ein Verschwinden der Kritik nach sich. Dass dies nicht im Sinne der Kritischen Theorie sein kann, versteht sich von selbst. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Anachronismus der liberal-bürgerlichen Bildung anzuvertrauen und zu hoffen, dass doch nicht alle Intellektuellen im Sinne von Lyotard zu Grabe getragen werden und dass Max Webers „Fachmensch“ (vgl. Kap. I. 3) in entscheidenden Augenblicken von kritischen Geistern herausgefordert wird. Dies hat nichts mit Überheblichkeit, intellektuellem Snobismus oder elitärer Gesinnung zu tun, wie Linda Hutcheon meint 27 , sondern ist ein eminent politi‐ sches Anliegen. Denn in Adornos Bildungsanachronismus klingt unterschwellig auch ein Plädoyer für politische Bildung durch, die eine Voraussetzung für 264 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="265"?> 28 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, Gesamtausgabe, Bd. XXI, München, DTV, 1968 (2. Aufl.), S.-13. 29 Th. Hobbes, Leviathan (Hrsg. C. B. Macpherson), Harmondsworth, Penguin (1951), 1985, S.-185. politische Mündigkeit ist. Es geht nicht nur darum, in Goethes Maximen und Reflexionen nachzulesen: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen“ 28 ; es geht auch darum, die Geschichte des Balkans oder des Baltikums - Estlands, Lettlands und Litauens - wenigstens in großen Zügen zu kennen und zu wissen, was nach dem sowjetischen Angriff auf Finnland im Winter 1939 in dieser Region geschah und wie es sich auf die heutige Politik auswirkt. Ohne diese historische und geographische Bildung ist politische Mündigkeit, die eine Demokratie voraussetzen muss, nicht denkbar. Insofern zeichnet sich keine Alternative zu Adornos Anachronismus ab. Ob sich eine Verteidigung von Bildung und Kritik jemals auf die Herrschafts‐ verhältnisse innerhalb der Gesellschaft und auf internationaler Ebene auswirkt, ist eine ganz andere Frage. Sicherlich trägt Bildung (etwa im Bereich der Klimaforschung) dazu bei, dass das Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt viel intensiver reflektiert wird als bisher. Seit einiger Zeit macht sich in den meisten Gesellschaften Selbstkritik bemerkbar, die erste Ergebnisse zeitigt - wenn auch diese noch zu bescheiden sein mögen. Hingegen ist ein Umdenken in der internationalen Politik kaum zu beobachten. Im Gegenteil, innerhalb der Gesellschaften und zwischen Staaten scheinen Konflikte zuzunehmen und werden trotz aller Aufrufe zu mehr Humanität mit erstaunlicher Brutalität ausgetragen. Für die Kritische Theorie sind diese Beobachtungen insofern von Bedeutung, als sich die Frage aufdrängt, ob denn alle Herrschaftsformen tatsächlich vom Prinzip der Naturbeherrschung abgeleitet werden können - wie in der Dialektik der Aufklärung angenommen wird. Zu diesem Problem heißt es schon in Hobbesʼ Leviathan: „So that in the nature of man, we find three principall causes of quarell. First, Competition; Secondly, Diffidence; Thirdly, Glory. - The first, maketh invade for Gain; the second, for Safety; and the third, for Reputation.” 29 Auf unterster Ebene mag ein Schüler seinem Mitschüler nachweisen wollen, dass er stärker oder intelligenter ist als er und einen Konflikt vom Zaun brechen. Jemand mag sich von einem Nachbarn bedroht fühlen, weil dieser sich zwei aggressive Hunde angeschafft hat. Auf höchster Ebene überfällt ein Staat einen anderen und argumentiert mit Sicherheitsgründen: etwa die Sowjetunion Finnland im Jahre 1939 oder Russland die Ukraine im Jahre 2022. 3. Das kritische Individuum als Erbe des Liberalismus 265 <?page no="266"?> 30 Vgl. C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford, Clarendon Press (1962), 1965, S. 64-65 sowie F. Tönnies, Thomas Hobbes - Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), München-Wien, Profil Verlag, 2014, S.-375. 31 Th. W. Adorno, Minima Moralia, in: GS IV, op. cit., S.-55. Ferdinand Tönnies und C. B. Macpherson deuten Hobbesʼ „Naturzustand“ als eine mythische Darstellung der entstehenden Marktgesellschaft. 30 Adorno und Horkheimer würden dieser Deutung wohl zustimmen, zugleich aber die Natur‐ beherrschung als umfassendes Prinzip geltend machen. Es fragt sich jedoch, ob dieses Prinzip nicht zu abstrakt ist, um alle Konflikte und Herrschaftsformen zu erklären: etwa die Herrschaft der Römer über die Etrusker oder Griechen oder die Stammesfehden in Nordamerika. Der Odysseus-Mythos, den Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung analysieren, um ihre Thesen über den Nexus von Selbstbeherrschung und Herrschaft über andere zu veran‐ schaulichen, ist wenig überzeugend. Hier ist eine selbstkritische Weiterführung der Kritischen Theorie vonnöten. 4. Europa: Vielsprachigkeit, Dialog und eine neue Immanenz Bekannt ist Adornos Satz aus den Minima Moralia: „Das Ganze ist das Un‐ wahre.“ 31 Innerhalb dieses Unwahren hält Adorno aber am kritikfähigen Indi‐ viduum und am Wahrheitsgehalt einer bestimmten Kunst fest - und deutet malgré lui an, dass das Unwahre auch Wahres enthält. Hier hat sich im zweiten Abschnitt gezeigt, dass Naturkatastrophen das kapitalistische System gleichsam aus der Umwelt heraus zu Selbstkritik und Wandel zwingen könnten. Das System in seiner Gesamtheit kann somit nicht pauschal als „unwahr“ bezeichnet und der Negation als Verzweiflung überantwortet werden. Dem „unwahren Ganzen“ Adornos entspricht bei Horkheimer die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“, die das Bestehende ebenso pauschal ablehnt. Diese Art von globaler Negation setzt sich über Kräfte in der Gesellschaft hinweg, die zum Besseren drängen oder zumindest Schlimmeres verhindern. Eine solche Negation wurde von marxistischer Seite auf verschiedenen Ebenen kritisiert, und die meisten Marxisten haben gegen Adorno Argumente ins Feld geführt, die sich innerhalb der historischen Immanenz im Sinne des hegelianischen Marxismus bewegen. Charakteristisch für diese Argumentation sind die im dritten Kapitel schon erwähnten Einwände Günter Rohrmosers: der meint, „daß die Geschichte aus sich selbst heraus den Träger einer möglichen 266 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="267"?> 32 G. Rohrmoser, Das Elend der Kritischen Theorie, Freiburg, Rombach, 1970, S.-61. 33 Ibid., S.-49. 34 H. Marcuse, „Die Unterschiede zwischen alter und neuer Linker“, in: Nachgelassene Schriften, Bd. IV, Springe, Zu Klampen, 2004, S.-106. 35 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS VII, op. cit., S.-102. Überwindung ihrer eigenen Negativität erzeuge.“ 32 Rohrmoser fügt mit einem Seitenblick auf Adorno hinzu, dass die Vorstellung von einem „total Anderen“ wesentlich dazu beiträgt, „das Bestehende als notwendig zu fixieren“. 33 Als Alternative kann sich Rohrmoser als Marxist nur einen bestimmten Sozialismus vorstellen. In dieser Hinsicht bleibt auch Marcuse der historischen Immanenz und dem Marxismus verpflichtet, wenn er sich noch in einer seiner postum veröffentlichten Schriften zum Sozialismus als Alternative bekennt: „Die Alternative, die genau das zum Ausdruck bringt, das ist für mich immer noch der Sozialismus. Das ist weder der stalinistische noch der poststalinisti‐ sche, sondern der libertäre Sozialismus, der immer der eigentliche Sozialismus‐ begriff war, aber nur zu leicht geknebelt und unterdrückt wurde.“ 34 Das Problem besteht darin, dass dieser Sozialismus weder „geknebelt“ noch „unterdrückt“ werden konnte, weil es ihn nie gab (der „Prager Frühling“ hat nur wenige Monate gewährt und wäre zunächst in einer sozialdemokratisch verwalteten Marktwirtschaft ausgemündet). Der reale Sozialismus war und ist immer noch eine nationalistisch geprägte Parteidiktatur. Davon zeugen die sowjetischen Russifizierungsversuche des Baltikums, der Ukraine, Kasachstans und aller anderen Sowjetrepubliken ebenso wie die Unterdrückung Tibets und Uigurs durch China. Zudem zeigt die Zerstörung der Hongkonger Demokratie durch das Pekinger Regime, dass es einen „libertären Sozialismus“ nicht so bald geben wird. Er bleibt weiterhin „Sozialismusbegriff “, Ideal. Dennoch ist die Kritik an Adorno vom Standpunkt einer historischen Imma‐ nenz aus nicht sinnlos. Denn der Nationalismus, der sich im realen Sozialismus immer wieder durchgesetzt hat und sich auch im heutigen Europa wieder stärker zu Wort meldet, wird von der Europäischen Union auf wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene blockiert. Dies sollte im Sinne Adornos und der Kritischen Theorie sein, denn der Autor der Ästhetischen Theorie bemerkt: „Einer befreiten, zumal aller Nationalismen ledigen Menschheit vermöchte mit der Vergangenheit auch die Kulturlandschaft unschuldig zuteil werden.“ 35 Die „Menschheit“ wird sich des Nationalismus nicht so bald entledigen können (das weiß jeder, der in Skopje zeigt, dass er ein [nord! ]mazedonisches Lied kennt oder in Paris die Klarheit des Französischen rühmt, um die Tischge‐ nossen bei Laune zu halten). Aber es kommt nicht auf die „befreite Menschheit“ (die Kritische Theorie ist zu spekulativ), sondern auf die konkreten wirtschaft‐ 4. Europa: Vielsprachigkeit, Dialog und eine neue Immanenz 267 <?page no="268"?> 36 Vgl. J. Habermas, „Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 80-81 sowie A. Touraine, „Le Sujet comme mouvement social“, in: ders., Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992. 37 Vgl. „Großbritannien wieder Teil von Horizon-Programm“, in: Forschung und Lehre 10/ 23, S.-740. 38 P. M. Lützeler, Die Schriftsteller und Europa, München, Piper, 1992, S.-504. 39 Vgl. J. Leenhardt, R. Picht, Esprit / Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, München-Zürich, Piper, 1989. lichen, politischen und wissenschaftlichen Strukturen und Institutionen an, die in der EU entstanden sind. Sie sorgen dafür, dass heute im wirtschaftlichen Bereich die von den Faschisten erträumte „totale autarchia“ zusammen mit einer rein nationalen Politik und Wissenschaftsverwaltung ins Reich der Schimären relegiert wird. Es gibt folglich innerhalb des Ganzen Entwicklungen, die den destruktiven Tendenzen entgegenwirken und dafür sorgen, dass das Ganze nicht ganz „unwahr“ wird. Der EU bleibt keine andere Wahl, als den europäischen Ka‐ pitalismus zu verwalten und dafür zu sorgen, dass er sich in der globalen Konkurrenz bewährt. Sie kann sich aber auch im internationalen Kontext für eine fortschreitende Adaptierung der Wirtschaft an die Umwelt einsetzten. In diesem Bereich trauen sowohl Habermas als auch Alain Touraine den „grünen“ Bewegungen einiges zu. 36 Damit sind katastrophale Entwicklungen wie Naturdesaster und Kriege freilich nicht gebannt; aber es ist schon viel gewonnen, wenn die fortschreitende europäische Integration mit ihren supranationalen Institutionen und ihrer Vielsprachigkeit neue Höhenflüge des Nationalismus, die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bedrohen, verhindert. Als mächtige Garantin demokratischer Ordnung und wissenschaftlicher Entwicklung übt sie eine unübersehbare An‐ ziehungskraft sowohl auf die kandidierenden Balkanländer als auch auf das ausgetretene Großbritannien aus, das sich (in einem ersten Schritt) in das europäische Wissenschaftssystem reintegriert. 37 Der „europäische kulturelle Pluralismus“ 38 , von dem Paul Michael Lützeler spricht, und die europäische Vielsprachigkeit, die in allen EU-Institutionen die Regel ist, sind Voraussetzungen dafür, dass alle Probleme zunächst aus verschie‐ denen Perspektiven betrachtet und anschließend einer gemeinsamen Lösung zugeführt werden. „Geist“ und „esprit“ sind bekanntlich nicht Synonyme 39 , und auch „Diskurs“, „discours“ oder „discorso“ bezeichnen verschiedene sprachliche Strukturen, wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat. Erst wenn „Geist“ auf „es‐ prit“ und „Diskurs“ auf „discours“ und „discorso“ bezogen werden, entsteht das mehrdimensionale Bild eines Problems oder eines Phänomens, das im Rahmen 268 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="269"?> 40 D. Sorić, Die Genese einer europäischen Identität. George Herbert Meads Identitätskon‐ zeption dargestellt am Beispiel des europäischen Einigungsprozesses, Marburg, Tectum Verlag, 1996, S.-107. eines nationalsprachlichen Monologs nur unzureichend, eindimensional analy‐ siert werden kann. Nicht um einen Dialog zwischen Kulturen ging es im vorigen Kapitel, sondern um eine dialogische Überprüfung von Theorien. Aber das Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Sprachen zeigt, was gewonnen wird, wenn phi‐ losophische, sprachliche und gesellschaftliche (politische) Erscheinungen aus verschiedenen kulturellen und sprachlichen Richtungen angegangen werden. Nicht nur die eigene Sprache wird, wie Goethe zu Recht bemerkt, im vielsprachigen Kontext besser verstanden als im nationalen Monolog, sondern auch die eigene Identität, zu der Dragan Sorić bemerkt: „Im Bewußtsein eines jeden Europäers wurde deutlich, daß die jeweils andere Identitätsgemeinschaft viele Gemeinsamkeiten mit der eigenen hat.“ 40 Diese Erkenntnis kann durchaus zur Bildung und Stärkung kritisch reflektierender Individuen beitragen, und zwar in einem neuen Kontext, der jenseits des historischen Liberalismus liegt. 5. Dialogizität: Schlussbetrachtung Es kann hier nicht darum gehen, die Argumente aus dem sechsten Kapitel (Abschn. 6) zu rekapitulieren. Der Sinn dieser kurzen Schlussbetrachtung ist die Einbettung der Dialogizität und der Kritischen Theorie als Dialog in den europäischen und postmodernen Kontext. Der europäischen Integration und der Postmoderne ist ein Begriff gemeinsam: Vielfalt. Wenn die Kritische Theorie mehr sein will als eine nostalgische Rückbesinnung auf das liberale Erbe, muss sie der gesellschaftlichen, politischen und sprachlichen Situation der Gegenwart Rechnung tragen. Dies ist nicht möglich, wenn sie der zunehmenden Vielfalt mit einem Streben nach Einheitlichkeit der „Lebenswelt“ und nach einer einheitlichen Sprache begegnet, in der Sprecher einen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen versehen dürfen. Denn Begriffe wie „europäische Integration“, „Demokratie“ oder „Diskurs“ nehmen immer mehr Bedeutungen an, und es ist sehr unwahr‐ scheinlich, dass ihre Vieldeutigkeit in nächster Zukunft abnehmen wird. In dieser Situation, in der eine homogene „Lebenswelt“ oder Sprache nicht mehr vorausgesetzt werden kann, bietet sich die Lösung an, aus der Not eine Tugend zu machen und den theoretischen Dialog auf Vielfalt statt auf Vereinheit‐ lichung auszurichten. In der Vielfalt werden neue Möglichkeiten sichtbar: vor 5. Dialogizität: Schlussbetrachtung 269 <?page no="270"?> allem die Möglichkeit, die eigene Position durch die heterogenen Positionen, semantischen Einteilungen und Definitionen der anderen Kommunizierenden zu korrigieren und zu „erweitern“, wie Paul Lorenzen sagt (vgl. Kap. VI. 6). Auch hier fasst Goethes schon zitierter Satz einen wesentlichen komparatis‐ tischen Gedanken zusammen: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Dies gilt auch für Kultur und Theorie. Wer seine Theorie im sozialen und sprachlichen Kontext konkret verstehen will, muss sie mit anderen Theorien (Kulturen. Sprachen) konfrontieren. Denn nur in der dialogischen Konfrontation wird er angehalten, über Entstehung und Struktur des eigenen Diskurses nachzudenken, um zu verstehen, dass dieser Diskurs nur eine mögliche Konstruktion der Welt ist, die aus besonderen semantischen und syntaktischen Verfahren hervorgeht. Die anderen konstruieren die Welt möglicherweise ganz anders, und erst die Auseinandersetzung mit ihnen führt zu Selbstreflexion, Selbstkritik und einem besseren Verständnis der Gesamtsituation: des Eigenen und des Fremden. 270 VII. Kritische Theorie in der Postmoderne: Was ging verloren, was bleibt? (Ausblick) <?page no="271"?> Bibliografie Diese Bibliografie enthält ausschließlich die im Buch zitierten Texte. Adorno, Th. W., Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970. Adorno, Th. W., „Individuum und Organisation“, in: Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften, Bd. VIII (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1972. Adorno, Th. W., „Thesen über die Sprache des Philosophen“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I, Philosophische Frühschriften (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1973. Adorno, Th. W., „Der Essay als Form“ in: Noten zur Literatur I, Gesammelte Schriften, Bd. XI (Hrsg. R. 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L.-229 Baier, H.-74, 272 Bajbakov, N.-259 Bakunin, M. A.-190 Bammé, A.-23, 33, 35 ff., 74, 238, 266, 272, 287 Baran, P.-171, 272 Bartonek, A.-117, 272 Baudelaire, Ch.-23, 82, 114, 118 f., 272 f. Baudrillard, J.-27 f., 58, 61 f., 81, 93, 102, 108, 114 f., 122, 137, 171, 175, 201-209, 218, 253 f., 256 f., 259, 262, 264, 272 Bauman, Z.-27 f., 58, 60, 62, 65, 68 f., 81, 88-91, 93-96, 101, 110, 114 f., 122, 130, 140, 148, 164, 207 ff., 211, 213 f., 219 f., 236-240, 246, 253 f., 256, 272 f., 280 Baumgarten, H.-48 Beck, U.-104, 246, 273 Becker, J.-240 Beckett, S.-16, 100, 115, 119 f. Benjamin, W.-65-80, 82-86, 88-93, 95 ff., 101, 133 ff., 147, 179, 247, 272 ff., 276, 288 Bentham, J.-113 Best, S.-27, 148, 240, 274 Biden, J.-219 Bloch, E.-186 Boisvert, Y.-162, 274 Boltanski, L.-17 f., 274 Bolz, N.-274 Bonacker, T.-235, 274 Bonaparte, Napoleon I-76, 94 Borchardt, K.-52, 75, 288 Bouchindhomme, Ch.-232, 285 Bourdieu, P.-79, 120, 200, 274 Bovenschen, S.-172, 186, 277, 283 Brandt, G.-149, 274 Bräu, R.-55, 287 Brecht, B. 70, 76, 78, 81 f., 90 f., 93, 95 f., 133, 135, 274 Brede, W.-134 f., 278 Breton, A.-106, 163 f., 178, 186, 193, 197, 274, 280 Broch, H.-66, 106, 274 Brock, D.-38, 280 Bröckling, U.-111, 114, 185, 274, 276 Brunkhorst, H.-97, 274 Buck-Morss, S.-73, 274 Calvino, I.-108, 275 Carretero Pasín, E.-179, 275 Castoriadis, C. 28, 60, 93, 122, 178, 201, 275 Champagne, P.-200, 274 Clarac, P.-108, 285 Claussen, D.-191, 275 Comte, A.-22 f., 29, 31 f., 38, 58, 61, 65, 94, <?page no="291"?> 150, 275, 280 Coquet, J.-Cl.-231, 275 Cortella, L.-223 f., 275 Courtés, J.-187, 200, 276 Crozier, M.-139, 275 Curnier, J.-P.-207 Dahme, H.-J.-30, 39, 42 f., 275, 286 Debord, G.-65, 69, 87 f., 92 f., 95, 204 f., 275 Defert, D.-109 f., 169, 201, 275 f. Deleuze, G.-110 Demirović, A.-37, 144 f., 275 Derrida, J.-114, 235, 275 Dionysos/ Bacchus-165 f., 176-179, 282 Dubiel, H.-144 Durand, G.-179, 275 Durkheim, E.-22, 30, 32, 34 f., 53, 58, 90 f., 128, 222, 239, 275 Eco, U.-125, 240 Eichendorff, J. von-197 Elias, N.-53 f., 278 Engels, F.-31, 103, 109, 154 Eros-166, 176, 193 Ewald, F.-109 f., 169, 201, 275 f. Ferré, A.-108, 285 Fichte, J. G.-146 Foucault, M.-97, 108 ff., 112-115, 122, 131, 136, 169, 201, 246, 253 f., 256, 262, 275 f. Fouillet, A.-179 f., 276 Frank, M.-245, 248, 276 Freud, S.-105 f., 166, 176 ff., 244, 276, 282 Friedlander, E.-80, 276 Frisby, D. P.-41 f., 286 Frisé, A.-25, 59, 102, 284 Frizen, W.-16, 276 Fuld, W.-73, 77, 276 Furedi, F.-129, 276 Giddens, A.-29, 276 Gloy, K.-242, 287 Gneuss, Ch.-48, 74, 272, 281, 285 Gödde, Ch.-145, 272 Goebel, G.-118, 194, 282 Goethe, J. W.-48, 265, 269, 276, 284 Goldmann, L.-73, 104, 143 f., 147, 173, 190 f., 247, 255, 258, 276, 288 Gorz, André-190 Gramsci, A.-147 Greimas, A. J.-187, 200, 276 Gripp, H.-229, 276 Grossman, H.-24 Guibal, F.-122, 244 Gumnior, H.-24, 133 f., 278 f. Habermas, J.-28, 59, 65, 101, 148, 157, 172, 186, 189, 211-230, 232-246, 248, 251, 253, 268, 274-278, 280 f., 283 ff. Haller, R.-248, 284 Hanke, E.-49, 52, 74 f., 288 Harris, Z.-231, 278 Haug, W. F.-189, 278 Hebdige, D.-87 Hegel, G. W. F. 20 f., 23, 29 ff., 39, 45, 58, 61, 72, 103, 123, 146, 149 ff., 172, 174, 188, 200, 209 f., 217, 246, 255, 278, 283, 287 Held, D.-223, 278 Heller, A.-223, 278 Hellmann, K.-U.-225, 281 Herborth, B.-237, 277 Hersche, O.-25, 69, 145 Hesse, H.-138 Hillmann, G.-133, 278 Hinz, M.-53 f., 278 Hitler, A.-49, 69 f., 76, 94 Hobbes, Th.-35 f., 261, 265 f., 278, 282, 287 Hobson, J. A.-200, 278 Hoebig, W.-204 Register 291 <?page no="292"?> Hölderlin, F.-56 Honneth, A.-18, 222, 274, 277 Horkheimer, Max-15 f., 18 f., 24-29, 39 f., 42, 45, 47-54, 57, 59 f., 65, 69 f., 84 f., 97, 99, 105, 108 ff., 112 f., 115, 133-149, 151-160, 162-165, 168 f., 171, 173 f., 177 ff., 182, 184 ff., 188, 196, 200, 209, 211 f., 214, 216, 220, 223 f., 226, 238, 251, 253 ff., 258, 261 ff., 266, 272, 274, 278- 281, 286 Horkheimer, Moritz-184 Hörning, K. H.-87 Husserl, E.-221, 224, 233 Hutcheon, L.-264, 280 Hytier, J.-117, 287 Ianus-15 Jaeggi, R.-18, 274 Jameson, F.-239, 246, 280 Janouch, G.-15 Jansen, P. E.-26, 57, 143, 173, 175 ff., 188, 192, 283, 285 Jay, M.-15, 24, 280 Junge, M.-38, 280 Kaesler, D.-52, 66, 288 Kafka, F.-15 f., 98, 102, 119, 280 Kant, I.-25, 48, 91, 120 f., 123, 145 f., 150, 160, 182, 217, 223 f., 244, 280, 284 Kastner, J.-91, 280 Kaube, J.-48, 75, 280 Keats, J.-56 Kellner, D.-27, 148, 240, 274 Kiefer, A.-207 Kierkegaard, S.-29, 236, 285 Kipfer, D.-26, 98, 280 Kiss, G.-211, 280 Klee, P.-71 Koch, A. M.-49, 51, 280 Kocka, J.-48, 74, 272, 281, 285 Köhnke, K. Ch.-41, 286 Krähnke, U.-38, 280 Kramme, R.-42, 107, 286 Lafayette-48 Lafayette (M. J. Motier, Marquis de)-48 Lamartine, A. de-82 Lange, O.-259 f. La Rocca, F.-180, 280 Lash, S.-110, 280 Laudrain, M.-206 Le Breton, D.-163 f., 280 Leck, R. M.-39, 280 Leenhardt, J.-268, 280 Lefort, Cl.-93, 201 Lenin, W. I.-190, 200, 280 Lenk, K.-136, 158, 280 Lepsius, M. R.-48, 281 Lévinas, E.-244 Liberman, E.-259 Lichtblau, K.-36, 287 Lindner, B.-39, 117, 274, 284 Link, J.-189 f., 281 Linkenbach A.-222, 281 Lipovetsky, G.-28, 133, 136 f., 160 ff., 164 f., 281 Locke, J.-140 f., 143, 266, 281 f. Lonitz, H.-84, 100, 145, 272 Lorenzen, P.-249, 251, 270, 281 Lorenzer, A.-164, 281 Lubasz, H.-172, 277, 283 Lüdke, W. M.-39, 117, 274, 284 Ludwig XIV-143 Luhmann, N. 66 f., 157, 223, 225 f., 230, 235, 276, 281 Lukács, G.-73, 79, 104, 134, 147, 250, 258, 281 292 Register <?page no="293"?> Lützeler, P.-268, 281 Lyon, D.-140, 273 Lyotard, J.-F. 27 ff., 47, 53, 58-63, 65, 93, 97, 101 f., 114 f., 118, 120-131, 136 f., 169, 178, 201 f., 209, 211, 213, 215, 219 f., 236, 240-246, 248, 251, 253 f., 256, 259, 262, 264, 276, 281, 285, 287 ff. Mach, E.-105, 253, 281 Macpherson, C. B.-265 f., 278, 282 Maffesoli, M.-27, 133, 137, 164-169, 171, 175 ff., 179 ff., 201, 209, 240, 275 f., 280, 282 Maier, H.-48, 281 Mallarmé, S.-118, 122, 130, 193 ff., 282, 289 Mallet, S.-190 Mann, Th.-98, 100, 138, 272 Mannheim, K.-190, 225, 282 Marcuse, H.-17, 24 ff., 28, 39, 45 f., 48 ff., 52 f., 56 f., 59, 61, 65, 88, 97, 137 f., 164, 166-169, 171-206, 208-212, 216 f., 226, 247, 254 ff., 258 f., 267, 277 f., 282-285 Marinov, V.-163 Marx, K. 20-24, 29 ff., 33, 35, 37, 39, 50, 58, 61, 65, 72, 94, 96 f., 103, 109, 111, 117, 131, 133-136, 139, 145 ff., 149, 153 f., 158, 172 f., 178, 187 f., 194, 196, 200, 202, 217, 244, 255, 257 f., 273, 280, 283, 287 McDougal, J.-163, 283 Meamber, L. A.-95, 287 Mensching, G.-73, 284 Menzer, U.-43, 284 Merz-Benz, P.-U.-37, 284 Meschonnic, H.-236, 284 Michaud, Y.-207 Michel, K. M. 27, 97, 109, 112, 117, 133, 137, 139, 164 f., 171, 179, 181, 201, 275, 282, 284 Mirabeau-48, 284 Mirabeau (H. G. de Riqueti, Comte de Mirabeau)-48, , 284 Mitscherlich, A.-104 ff., 284 Moldaschl, M.-185, 284 Molotow, W. M.-70 Moravia, A.-284 Moreno, J.-68, 284 Müller-Doohm, S.-235, 274 Münster, A.-178, 284 Musil, R.-25 f., 33, 52, 59, 101 f., 115, 127, 138, 182, 262, 284 Mussolini, B.-49, 76, 94 Narziss-166, 176 ff., 197 Neckel, S.-111, 286 Neurath, O.-248, 284 Nguyen Van Thieu-198 Niessen, P.-237, 277 Nietzsche, F.-29, 39, 41, 50, 76, 98, 110, 114, 123, 154 f., 209 f., 224, 236, 275, 284, 286 f. Nordlinger, E. A.-134, 284 Norris, Ch.-284 Nutzinger, H. G.-66, 287 Odysseus-110 f., 155, 160, 176, 266 Offe, C.-148 Orpheus-166, 176 ff. Ortega y Gasset, J.-48, 284 Owen, R.-146 Pandora-166 Parsons, T.-38, 67, 280 Pascal, B.-144, 276 Passeron, J.-Cl.-248, 284 Perrier, B.-180, 276, 280, 282 Poirier, N.-206 f. Politzer, H.-15, 119, 280 Popper, K. R.-191, 234, 248, 250, 282 Register 293 <?page no="294"?> Pricken, M.-87, 285 Pries, Ch.-121, 288 Prokop, D.-17, 58, 85-88, 285 Prometheus-165 f., 173, 176 f., 179, 283 Proust, M.-102, 108, 122, 285 Pynchon, Th.-126, 285 Quéré, L.-232, 285 Racine, J.-144, 276 Rammstedt, O.-30, 42 f., 107, 275, 286 Rauch, N.-207 Raulet, G.-80, 191, 273, 285 Reese-Schäfer, W.-243, 285 Reitz, Ch.-176, 283 Rembrandt van Rijn-77 Ressel, W.-55 Ribbentrop, J. von-70 Riesman, D.-105, 171, 185, 285 Ritsert, R.-148, 285 Rochlitz, R.-232, 285 Rogozinski, J.-122, 244 Rohrmoser, G.-147, 267, 285 Rolshausen, C.-148, 285 Rommel, B.-118, 194, 282 Rorty, R.-60 Rosenberg, A.-190 Rousseau, J.-J.-20 f., 35 f., 285, 287 Rutte, H.-248, 284 Saint-Simon, H. de-146 Sartre, J.-P.-115, 120, 127, 236, 285 Sayer, A.-234, 285 Schlechta, K.-41, 155, 236, 284 Schlegel, F.-166, 173, 285 Schluchter, W.-52, 232 f., 285, 288 Schmid Noerr, G. 19, 26, 40, 110, 133, 138 f., 143, 186, 214, 262, 279 f. Schmidt, A.-134, 136, 149, 156, 164, 177, 186, 189, 214, 274, 279 ff., 285 Schmidt, B.-89, 126, 285 Schmidt-Glinzer, H.-51, 285 Schopenhauer, A.-39, 135, 149-152, 285 f. Schütz, A.-221 Schweppenhäuser, H.-65, 78, 273 Searle, J. R.-229, 286 Sennett, R.-91, 161, 218, 286 Šik, O.-259, 286 Simmel, G.-16, 19, 22 f., 25, 29 f., 32, 38-47, 52 f., 58, 73, 76, 107, 179, 204, 275, 280, 286 Skuhra, A.-138, 286 Sohm, R.-74 Sorić, S.-269, 286 Spancken, M.-16, 276 Spencer, H.-22, 32, 35, 58, 65, 94, 286 Spengler, T.-172, 277, 283 Stalin, J.-70, 76, 94, 206 Stauth, G-50, 76, 286 Surak, S.-176, 283 Süskind, P.-16, 276 Sweezy, P. M.-171, 272 Tenbruck, F. H.-128, 167, 182, 286 Thompson, J. B.-223, 278 Thuman, E.-286 Tiedemann, R.-18 f., 23 f., 26, 40, 44, 47, 63, 65, 68, 70, 72, 78, 81, 96-99, 103, 105, 149, 153, 186, 194, 216, 247, 255, 257, 262 ff., 271-274, 287 Tönnies, F.-19, 22 f., 25, 29 f., 32-38, 58, 73 f., 76, 151, 237 f., 266, 275, 287 Touraine, A.-238, 268, 287 Trump, D.-206, 219, 287 Valéry, P.-16, 99, 102, 115, 117-120, 122, 124, 186, 210, 287, 289 Vargas, Y.-21, 287 294 Register <?page no="295"?> Vattimo, G.-27 ff., 58, 61, 65, 102, 123, 125, 180, 208 ff., 240, 256, 259, 287 Venkatesh, A.-95, 287 Vergil-21 Vischer, F. Th.-31, 287 Voß, G. G.-185, 284 Wagner, G.-50, 76, 111, 118, 286 Warhol, A.-207 Warmer, G.-242, 287 Wawrzyn, L.-84 f., 287 Weber, A.-22, 25, 29, 40, 44 f., 53-57, 59, 66 f., 76, 184, 196, 255, 263, 287 Weber, M.-19, 22 f., 25, 29 f., 32, 44, 47-52, 56-59, 66 f., 69, 73-76, 94, 104, 128, 141, 179, 239, 255, 264, 272, 275, 280 ff., 285 f., 288 Weidner, D.-72, 288 Weil, F.-25 Weil, H.-25 Wellmer, A.-121, 288 Welsch, W.-121, 123, 137, 288 Wertheimer, J.-88, 288 Wesche, T.-18, 274 Wiener, O.-127, 288 Wiggershaus, R.-24 f., 97, 163, 288 Winckelmann, J.-51, 288 Winter, R.-87, 247, 278, 288 Witte, B.-72, 288 Wittgenstein, L.-122, 215, 242, 244 Wolff, G.-133, 279 Zima, P. V.-18, 25, 29, 34, 40, 50, 60, 73, 76, 88, 94, 98, 104, 115, 118, 126, 130, 135, 147, 161, 166, 174, 176, 187 f., 201, 209, 225, 240, 247, 250, 288 f. Zipprian, H.-50, 76, 286 Register 295 <?page no="301"?> ISBN 978-3-381-12701-6 Ausgehend von der Überlegung, dass die wichtigsten Vertreter der Kritischen Theorie (W. Benjamin, Th. W. Adorno, M. Horkheimer, H. Marcuse und J. Habermas) der sog. Frankfurter Schule im Bildungsbürgertum der liberalen Ära aufgewachsen sind, wird gezeigt, dass ihre Gesellschaftskritik von den Prämissen und Wertungen des liberalen Individualismus ausgeht. In diesem Kontext ist die Ambivalenz ihrer Kritik sowie Adornos und Horkheimers Satz aus der Dialektik der Aufklärung zu verstehen: „Nicht um der Konservierung der Vergangenheit, sondern um der Einlösung der vergangenen Hoffnungen ist es zu tun.“ Der nostalgische Ton, der in diesem Satz anklingt, durchzieht nahezu alle Werke der Frankfurter Philosophen. Obwohl postmoderne Autoren wie Z. Bauman, J.-F. Lyotard, M. Maffesoli und J. Baudrillard in mancher Hinsicht an die Kritische Theorie anknüpfen, verabschieden sie die aus dem liberalen Individualismus stammenden Wertsetzungen. Zima Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne Peter V. Zima Nostalgie als Kritik