Das literarische Subjekt
Zwischen Spätmoderne und Postmoderne
1014
2024
978-3-3811-2712-2
978-3-3811-2711-5
A. Francke Verlag
Peter V. Zima
10.24053/9783381127122
Dieser Band zeichnet Peripetien individueller Subjektivität in der spätmodernen und postmodernen Literatur nach. Während in der Spätmoderne (bei Mallarmé, Valéry, Adorno) Negativität, das Schöne und das Erhabene der Stärkung subjektiver Autonomie dienten, schlägt in nachmodernen Texten - etwa in Pynchons Gravity's Rainbow - das Erhabene in Subjektnegation um. So verwandelt sich das Schreiben, das im Modernismus Prousts, Virginia Woolfs, Svevos zur Subjektkonstitution beitrug, in der Postmoderne Jürgen Beckers, Oswald Wieners oder Maurice Roches in eine Subversion individueller Subjektivität. Zima zeigt, wie in einigen nachmodernen Texten (bei Robbe-Grillet, Süskind, Del Giudice) Subjektivität auf reine Körperlichkeit reduziert wird. Diese Reduktion prägt auch das Werk Foucaults, das im Mittelpunkt des neuen Schlusskapitels steht. Sie bewirkt, dass das Individuum als Körper in verschiedene, durch Diskontinuitäten voneinander isolierte Kontexte integriert werden kann.
"ein wegweisendes Buch" - Sandro M. Moraldo, Germanistik 45,1/2 (2004)
"eine beachtenswerte geistige Leistung" - István Fried, Sprachkunst 33,2 (2002)
"Abschließend sei herausgestellt, daß die vorliegende Studie in komprimierter Form einen ausgezeichneten Überblick über den aktuellen Stand und Fragen des literarischen Subjekts im Kontext des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts bietet." - Angela Oster, Romanische Forschungen116,2 (2004)
<?page no="0"?> Das literarische Subjekt Peter V. Zima Zwischen Spätmoderne und Postmoderne 2., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="1"?> Das literarische Subjekt <?page no="3"?> Peter V. Zima Das literarische Subjekt Zwischen Spätmoderne und Postmoderne 2., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381127122 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Elanders GmbH Waiblingen ISBN 978-3-381-12711-5 (Print) ISBN 978-3-381-12712-2 (ePDF) ISBN 978-3-381-12713-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 1 15 1.1 18 1.2 26 1.3 37 49 2 51 2.1 53 2.1.1 53 2.1.2 57 2.1.3 60 2.2 65 2.2.1 66 2.2.2 73 2.2.3 76 3 81 3.1 84 3.2 94 3.3 104 4 113 4.1 115 Inhalt Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne . Subjektivität und Ambivalenz: Die spätmoderne Problematik Spätmoderne Formen der Subjektivität: Dandyismus, Ästhetizismus, Existentialismus und Avantgarde . . . . . . . . . . Postmoderne Subjektlosigkeit oder: „Disidentità“ . . . . . . . . . . Erster Teil: Negation als Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons . . . . . . . . . . . . . . Der Dandy als Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristokratismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik des Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narzißmus und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Künstler contra Dandy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruch mit der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwandlung des Narzißmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negation und Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard. Konstruktion und Krise des Subjekts zwischen Moderne und Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stéphane Mallarmé oder Subjektivität als Negation . . . . . . . . Von Valéry zu Adorno: „Le Beau est négatif “ . . . . . . . . . . . . . . Lyotards Ästhetik des Erhabenen als Negation des Subjekts . Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lyotard und die Ästhetik des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4.2 118 4.3 123 131 5 133 5.1 135 5.2 139 5.3 145 6 149 6.1 150 6.2 158 6.3 166 6.4 173 7 179 7.1 180 7.2 187 7.3 192 7.4 199 209 8 211 8.1 213 8.2 216 8.3 220 9 225 9.1 227 Von Saint-Exupéry und Dorgelès zu Céline: Vom Humanen zum Inhumanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Céline zwischen Spätmoderne und Postmoderne . . . . . . . . . . . Zweiter Teil: Natur, Kultur und Subjekt in der Spätmoderne . . . . . . . . . . . . Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zufall und Zerfall bei Hegel und den Hegelkritikern . . . . . . . . Der naturwüchsige Zufall als Bedrohung des Subjekts: Sartre, Moravia, Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zufall als Glücksfall: Proust, Hesse, Breton . . . . . . . . . . . . Robert Musil und die Spätmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Spätmoderne: Versuch einer Definition . . . . . . . . . . . . . . . Der Mann ohne Eigenschaften: Ein spätmoderner Roman . . . . Die Schwärmer als Antidrama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Triptychon der Spätmoderne: Musil, Broch, Svevo . . . . . . Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Unamunos Niebla und Pirandellos Uno, nessuno e centomila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die spätmoderne Krise des individuellen Subjekts . . . . . . . . . . Unamuno und Pirandello als „umoristi“ und „humoristas“ . . . Niebla oder die Selbstkonstruktion des Subjekts . . . . . . . . . . . Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Uno, nessuno e centomila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Teil: Intertextualität und Subjektivität in der Nachmoderne . . . . . . Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätmoderne Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intertextualität und Subjektivität in der Postmoderne . . . . . . . Der postmoderne Zerfall des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitat - Intertextualität - Subjektivität. Zum Funktionswandel des literarischen Zitats zwischen Moderne und Postmoderne . . . . . . . . . Theorie: Intertextualität und Zitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 9.2 232 9.3 240 10 251 10.1 252 10.2 253 10.3 255 10.4 257 10.5 259 10.6 264 11 269 11.1 270 11.2 272 11.3 274 11.4 279 283 285 Zitat und Intertextualität in Moderne und Spätmoderne: Subjektkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitat und Intertextualität als Spiel: Postmoderne als Subjektzerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne: Von der Subjektivität zur Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsche in Deutschland und in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . Die Partikularisierung der Vernunft bei Valéry und Sartre . . . Von Nietzsche zu Foucault: Für eine Philosophie des Körpers Von Nietzsche zu Deleuze, Derrida und Barthes: Der Körper der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Subjektivität zur Individualität des Körpers . . . . . . . . Eine Literatur der Körperlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Foucault, Nietzsche und die Postmoderne: Diskontinuität . . . Subjekt, Werk und Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt und Werk als „instaurateurs de discursivité“ . . . . . . . Kontinuität und Diskontinuität: Foucault, Lukács, Sartre (Schlußbetrachtung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Vorwort zur zweiten Auflage Dieses Buch gehört zu einer Art Trilogie, die im Laufe der Jahre beim Tübinger Francke-Verlag erschienen ist und die Peripetien individueller Subjektivität zwischen Moderne und Postmoderne zum Gegenstand hat: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne (2000, 2016, 4. Aufl.) sowie Das Subjekt in Literatur und Kunst. Festschrift für Peter V. Zima (Hrsg. Simona Bartoli Kucher, Dorothea Böhme, Tatiana Floreancig), 2011. In diesem Triptychon stellt Das literarische Subjekt einen Versuch dar, die Subjekt-Problematik im Übergang von der literarisch-philosophischen Spätmo‐ derne zur Postmoderne nachzuzeichnen und zu konkretisieren. In allen drei Bänden kommt die prekäre Stellung des Subjekts zur Sprache, die die Entwicklung von einer modern-spätmodernen zu einer postmodernen Probelmatik erkennen läßt. Während bei Philosophen und Schriftsellern der Spätmoderne wie Theodor W. Adorno, Hermann Broch oder Robert Musil Zweifel an der Kohärenz und der Autonomie des individuellen Subjekts auf‐ kommen, folgen die meisten spätmodernen Denker noch Musils Maxime: „Der Individualismus geht zu Ende. (…) Aber das Richtiger wäre hinüberzuretten.“ Von dieser Maxime verabschieden sich Vertreter der Postmoderne wie Jean-François Lyotard, Michel Foucault, Thomas Pynchon, Alain Robbe-Grillet oder Jürgen Becker. Symptomatisch für die gesamte Entwicklung ist das Buch Disidentità von Giampaolo Lai, das hier am Ende des ersten Kapitels kommen‐ tiert wird. Angezweifelt werden in diesem Buch die tradierten Vorstellungen vom Subjekt als einer mit sich selbst identischen, kohärenten Einheit: „Woher stammt also der Gedanke, die Forderung nach notwendiger Permanenz, nach einer Iden‐ tität, die hinter den Veränderungen zu suchen wäre, nach einer Selbstgleichheit hinter der Verschiedenheit, nach einer Kontinuität hinter den Diskontinuitäten, nach einer Einheit hinter der Vielheit? “ (Und doch ist ein Baum, der wächst, der alte Blätter verliert und neue bekommt, ein und derselbe Baum - wie der Mensch, der sich an ein gegebenes Versprechen oder ein begangenes Verbrechen erinnert, wie Paul Ricœur sagt.) Das neue Kapitel, das nun das Buch abschließt und das nach Erscheinen der ersten Auflage (2001) aus einem Vortrag über Foucault am Bielefelder Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZIF) hervorging (2004) und sich mit dem Subjekt- und Werkbegriff in Foucaults Philosophie befaßt, wirft zusammen mit der Frage nach dem Subjekt die komplementäre Frage nach dem Werk auf, das in der Vergangenheit von der Anwesenheit eines Autor-Subjekts zeugte. <?page no="10"?> Foucault zweifelt sowohl die Gegenwart des Subjekts im Werk als auch dessen Kohärenz an, die immer wieder aus einer subjektiven Intentionalität abgleitet wurde. Damit fordert er das Kohärenz- und Kontinuitätspostulat einer etablierten Hermeneutik, die auch dem hegelianischen Marxismus zugrunde liegt, mit Nietzsches Gedanken heraus, daß das Subjekt und seine Logik Fik‐ tionen sind, die sich bei näherer Betrachtung auflösen. Das letzte Kapitel zeigt, daß spätmoderne Zweifel am Subjekt bei Autoren wie Musil, Kafka oder Adorno in der Postmoderne in eine wachsende Skepsis individueller Subjektivität gegenüber übergehen, die zur Folge hat, daß der Subjektbegriff von Philosophen wie Lyotard und Foucault abgelehnt und von Schriftstellern wie Thomas Pynchon, Oswald Wiener oder Jürgen Becker kri‐ tisch zerlegt und parodiert wird. Musils Vorhaben, vom Individualismus das „Richtige hinüberzuretten“, scheint nicht länger Bestandteil des postmodernen Projekts zu sein. 10 Vorwort zur zweiten Auflage <?page no="11"?> 1 Vgl. G. Vattimo, Al di là del soggetto. Nietzsche, Heidegger e l’ermeuneutica, Milano, Feltrinelli, 1991 (4. Aufl.), S. 49. (Dort ist von einer „individualità come molteplicità“ die Rede.) 2 Vgl. G. Lai, Disidentità, Milano, F. Angeli, 1999 (2. Aufl.), sowie das erste Kapitel in diesem Band, Abschn. 3. Vorwort zur ersten Auflage In diesem Buch, das neben einigen Originalbeiträgen Aufsätze aus den 90er Jahren zusammenführt, geht es primär darum, die Peripetien literarischer Sub‐ jektivität zwischen Spätmoderne und Postmoderne nachzuzeichnen. Konkreter ausgedrückt: Es soll gezeigt werden, wie spätmoderne Autoren versuchen, die Autonomie des individuellen Subjekts in extremis zu retten, während Autoren der Nachmoderne den modernen Entwurf einer autonomen und mündigen Subjektivität mit Skepsis betrachten oder gar ablehnen. Während in der Spätmoderne (als Modernismus) so verschiedene Dichter und Schriftsteller wie Mallarmé, Valéry, Musil, Unamuno oder Pirandello alle ihnen zur Verfügung stehenden ästhetischen und stilistischen Mittel einsetzen, um die Autonomie, Integrität und Identität des Einzelnen zu wahren, scheinen sich postmoderne Literaten, Philosophen und Psychologen mit der Fragmentierung des Subjekts abzufinden. Sie folgen darin Vattimos Plädoyer für eine vielfältige oder plurale Subjektivität 1 und Giampaolo Lais dekonstruktivem Entwurf einer disidentità, den der Psychoanalytiker zwar nicht als postmodern präsentiert, der aber in jeder Hinsicht postmodern ist. 2 Postmodern im Sinne eines antimodernen Affekts oder gar einer antimo‐ dernen Wende ist auch Francesco Remottis anthropologische Studie Contro l’identità (1996), die aus der „Logik der Identität“ ausbricht und einige extreme Positionen nachmoderner Literatur zu bestätigen scheint: Positionen, von denen aus spätmoderne Begriffe wie Autonomie, Kritik, Nichtidentität und Utopie als Anachronismen erscheinen, die von den allmählich verschwindenden kriti‐ schen Intellektuellen in quichottesken Rückzugsgefechten verteidigt werden. An die Stelle von Adornos Nichtidentität, die eine Distanzierung vom Beste‐ henden (von den „powers that be“) meinte, tritt Lais disidentità, die bestätigt, was der Autor der Minima Moralia zur spätmodernen Subjektivität anmerkte: „Der Narzißmus, dem mit dem Zerfall des Ichs sein libidinöses Objekt entzogen ist, wird ersetzt durch das masochistische Vergnügen, kein Ich mehr zu sein, und über ihrer Ichlosigkeit wacht die heraufziehende Generation so eifersüchtig <?page no="12"?> 3 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp, 1951, 1970, S.-79. 4 H. Hesse, Eigensinn. Autobiographische Schriften, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S.-102. wie über wenigen ihrer Güter, als einem gemeinsamen und dauernden Besitz.“ 3 Inzwischen ist die „heraufziehende Generation“ fest etabliert und genießt - möglicherweise masochistisch - eine Literatur der disidentità, die ihr bestätigt, was sie z.T. unbewußt schon immer herbeisehnte: das Recht auf Vielfalt, Inkohärenz und Freiheit vom Identitätsgebot. Freilich macht sich die Neigung, die Zwangsjacke der Identität abzustreifen, schon bei spätmodernen Autoren wie Hesse, Svevo oder Pirandello bemerkbar, deren Kritik gesellschaftlicher Konventionen immer wieder in eine Kritik an den kulturellen Determinanten des eigenen Ichs umschlägt. Das Unbehagen in der Kultur, dessen Pathologien Freud untersuchte, führt zu der Erkenntnis, daß das eigene Ich an den unglaubwürdig werdenden Konventionen einer krisengeschüttelten Kultur teil hat, auf die Modernisten und Avantgardisten mit destruktiver Kritik reagieren, ohne allerdings individuelle Subjektivität preiszugeben. Insofern halten sie alle - Musil, Kafka, Proust, Broch - an Hesses Prinzip des Eigensinns fest: „Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘.“ 4 Spätmoderne Gesellschafts- und Sprachkritik, auch die der Surrealisten und Existentialisten, ist ohne diesen „Eigensinn“ als Streben nach Autonomie kaum vorstellbar. Die surrealistische und futuristische Sprachkritik scheint Louis-Ferdinand Célines Werk noch zu überbieten. Die Radikalität seiner Revolte kündigt postmoderne Textexperimente (Pynchons, Ransmayrs, Schwabs) an, in denen der destruktive Impuls zusammen mit den diskreditierten und verhaßten Kon‐ ventionen die individuelle Subjektivität erschüttert. Vor allem im ersten Teil, der mit einer Analyse von Célines Voyage au bout de la nuit schließt, soll dargetan werden, wie das Erhabene, das bei Mallarmé, Valéry und Adorno im Rahmen einer spätmodern-negativen Ästhetik dem Schönen untergeordnet wurde, bei Céline diesen Rahmen sprengt und bei Lyotard letztlich gegen das individuelle Subjekt gewendet wird. Während im ersten Teil die ästhetischen Begriffe des Schönen und des Erhabenen im Vordergrund stehen, stellt der zweite Teil die Kontingenz und den Zufall in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Das kontingente Ereignis, das Modernisten wie Proust, Svevo, Moravia, Unamuno und Pirandello zum Thema wird, erscheint als ein zutiefst ambivalentes Phänomen: Es kann einer‐ seits das handelnde Subjekt, dessen narratives Programm es scheitern läßt, in Frage stellen; es kann andererseits als glückbringendes Ereignis die Kreativität 12 Vorwort zur ersten Auflage <?page no="13"?> 5 Einen wenig überzeugenden Versuch, Moderne und Postmoderne anhand von stilisti‐ schen Merkmalen zu unterscheiden, unternimmt I. Hassan, „Postmoderne heute“, in: W. Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim, VCH, 1988, S.-50-51. 6 Zur Abgrenzung der spätmodernen von der postmodernen Problematik vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2001 (2. Aufl.), Kap. I und IV. des Subjekts anstacheln und neue ästhetische Konstruktionen ermöglichen. Vor allem der Kommentar zu den Romanen Unamunos und Pirandellos soll erkennen lassen, wie sehr Kontingenz, Dekonstruktion und Selbstkonstruktion des Subjekts zusammenhängen. Zugleich wird die Ambivalenz der spätmodernen Naturauffassung er‐ kennbar: Während Autoren wie Sartre, Moravia oder Kafka die Natur - zu‐ sammen mit der naturwüchsigen Kontingenz - als eine Bedrohung individueller Subjektivität erscheint, erblicken Proust, Hesse und Breton in ihr eine befreiende Kraft, die sich auch im Unbewußten und im Zufall als Glücksfall manifestiert. Im dritten Teil wird die Wende von der spätmodernen zur postmodernen Li‐ teratur noch einmal auf der Ebene der Intertextualität und des Zitats dargestellt. Während in modernen und spätmodernen Werken sowohl Intertextualität als auch Zitat die Funktion erfüllen, Subjektivität selbstkritisch zu konstituieren und zu stärken, tragen sie in postmodernen Texten zur Auflösung der Subjek‐ tivität bei. Insgesamt wird deutlich, daß der Unterschied zwischen Spätmoderne (Mo‐ dernismus) und Postmodernde nicht so sehr im Auftreten neuer stilistischer Merkmale und Begriffe besteht, sondern im Funktionswandel schon bekannter Erscheinungen u. a. im Hinblick auf das Problem der individuellen Subjektivität. Ironie, Sprachkritik, Kontingenz, Intertextualität und Zitat sind sicherlich nicht als Besonderheiten postmoderner Texte zu verstehen, zumal sie nicht nur in der spätmodernen, sondern auch in der romantischen und vorromantischen Literatur aufgezeigt werden können. 5 Ihre Funktion ändert sich jedoch von Pro‐ blematik zu Problematik 6 : Während Ironie und Intertextualität im Modernismus noch die Funktion erfüllten, eine kritische und selbstkritische Subjektivität zu begründen, leiten sie in der Postmoderne die Auflösung der Subjektivität im Textexperiment ein. Ein Charakteristikum der Spätmoderne fehlt möglicherweise im postmo‐ dernen Kontext: Pirandellos und Unamunos umorismo oder humorismo. Als sentimento del contrario (Pirandello), das fast stets Tragik und Komik vereint, bezieht sich der „Humorismus“ auf die ambivalente Situation des Subjekts, das sich zwischen Glück und Unglück, Zerfall und Konstruktion bewegt. Ohne Vorwort zur ersten Auflage 13 <?page no="14"?> diese Bewegung und ohne die Sorge um den Einzelnen, die auch bei Robert Musil, Thomas Mann, Marcel Proust und Jean-Paul Sartre zum Ausdruck kommt, gibt es keinen umorismo. Da die postmoderne Problematik die Sorge um das Einzelsubjekt im Sinne von Thomas Manns Erzähler Zeitblom, im Sinne von Svevo, Broch oder Moravia nicht mehr kennt, verliert sie auch den Sinn für einen tragi-komischen „Humorismus“, welcher aus der vom jungen Lukács beschriebenen Zerrissenheit der Subjektivität zwischen Denken und Sein hervorgeht. Die tragi-komische Ambivalenz des spätmodernen Subjekts geht unter in der postmodernen Austauschbarkeit identitätsloser Individuen. Die postmoderne Frage befällt uns gleichsam aus der Vogelperspektive und ist schwer von der Hand zu weisen: Wie wichtig ist Leverkühns, Marcels oder K.’s Schicksal eigentlich? Die hier gesammelten Aufsätze knüpfen einerseits an die Gedankengänge von Roman und Ideologie (1986) im Bereich der Subjektproblematik an und sollen andererseits die in Moderne/ Postmoderne (1997) und in der Theorie des Subjekts (2000) angestrebte Gesamtschau konkretisieren und korrigieren. Obwohl die theoretischen Prämissen dieser beiden Studien in die hier vorgelegten Modell‐ analysen eingegangen sind, so daß es naiv wäre, von einer unvoreingenom‐ menen Überprüfung am Textmaterial zu sprechen, kann der Autor hoffen, durch Auseinandersetzungen mit Einzelproblemen - wie Kontingenz, umorismo oder Intertextualität - seine Auffassungen von Spätmoderne, Postmoderne und Subjektivität näher erläutert und plausibler gemacht zu haben. Freilich hat diese Plausibilität auch ihre Kehrseite. Denn es könnte unschwer gezeigt werden, daß das vielfältige Material, das die Theorie bisweilen „von oben herab“ sichtet und zusammenführt, in Wirklichkeit, d. h. in den Einzel‐ analysen, auseinanderstrebt. Entzieht sich ein Autor wie Céline nicht der spätmodern-postmodernen Periodisierung? Wer im Anschluß an Hume, Croce oder gar Derrida so partikularistisch-dekonstruktivistisch argumentiert, kann stets mit einem Erfolgserlebnis rechnen. Er sollte selbst einen Entwurf wagen: Do it yourself. 14 Vorwort zur ersten Auflage <?page no="15"?> 1 Vgl. P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2017 (4., erw. Aufl.). 2 Vgl. F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: ders., Werke VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S.-627. 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne Der Titel scheint eine Gesamtdarstellung zu versprechen, die in einer einlei‐ tenden Betrachtung nicht zu leisten ist: die Entwicklung individueller Subjek‐ tivität in der Literatur des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. In Wirk‐ lichkeit geht es primär - obwohl nicht ausschließlich - um den vom Wörtchen „zwischen“ angedeuteten Übergang von einer spätmodernen (modernistischen) zu einer nachmodernen Problematik. Die These, die nicht nur dieser Einleitung, sondern dem Buch in seiner Gesamtheit zugrunde liegt, lautet: Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts Autoren wie Baudelaire, Dostoevskij und Nietzsche den Zweifel an der Einheitlichkeit des individuellen Subjekts in den Mittelpunkt der literarisch-phi‐ losophischen Problematik stellen, wird nach dem Zweiten Weltkrieg (seit den 50er und 60er Jahren) die Frage nach dem Subjekt negativ beantwortet oder an die Peripherie einer neuen, postmodernen Problematik abgedrängt. Die Gründe für diesen hier postulierten Vorgang sind vielfältig und können nur in einem interdisziplinären Kontext, wie er in der Theorie des Subjekts 1 ins Auge gefaßt wurde, konkret dargestellt werden. Hier geht es nicht mehr um die interdisziplinäre Bestandsaufnahme der vielschichtigen Verlagerung des Subjektproblems, sondern um eine genauere Erforschung der literarischen Schicht. Daß diese nicht völlig unabhängig von Philosophie, Psyche und Gesellschaft untersucht werden kann, versteht sich von selbst. Denn Autoren wie Luigi Pirandello oder Robert Musil wird ein rein literaturimmanenter Ansatz, der von Alfred Binets Studie Les Altérations de la personnalité (1892) und Ernst Machs Die Analyse der Empfindungen (1886) abstrahiert, nicht gerecht: nicht nur weil Binet Pirandello und Mach Musil beeinflußt hat, sondern auch deshalb, weil der Zweifel an Subjektivität und Ich-Identität seit Nietzsches Subjektkritik 2 um die Jahrhundertwende allmählich zu einem Gemeinplatz philosophischer, psychologischer und literarischer Debatten wurde. Paul Bourget und Marcel Proust in Paris, Hermann Bahr, Arthur Schnitzler und Robert Musil in Wien, Luigi Pirandello und Italo Svevo in Italien ließen sich von Philosophen wie <?page no="16"?> 3 Zum Thema „multiple Persönlichkeit“ vgl. u. a. R. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Bern-Stuttgart-Wien, Huber, 1973, S. 180-208. An diesen Problemkom‐ plex knüpft gegenwärtig U. Link-Heer an: „‚Alterationen der Persönlichkeit‘ und die Frage nach dem ‚Normalzustand‘. Fallgeschichten aus Psychiatrie und Experimenteller Psychologie 1875-1900“, in: W. Sohn, H. Mehrtens (Hrsg.), Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen-Wies‐ baden, Westdeutscher Vlg., 1999, S.-163-164: „Doch hat dieser ‚Paradigmawechsel‘ die Doppelpersönlichkeit mit der ihr impliziten Problematik des ‚normalen Ichs‘ nicht ein für allemal zu den Akten gelegt. Vielmehr erlebte diese in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, vor allem in Nordamerika (USA und Kanada) eine neue Blüte und Extension unter dem Namen ‚Multiple Personality‘, die Ian Hacking 1995 in seinem Buch Rewriting the Soul. Multiple Personality and the Science of Memory wissenschafts- und institutionshistorisch dokumentiert hat.“ 4 S. Freud, in: H. Scheible, „Nachwort“, in: A. Schnitzler, Die Braut. Traumnovelle, Stuttgart, Reclam, 1976, S.-105. 5 Zur Parallelentwicklung von Roman und Psychoanalyse vgl. Vf., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, Fink, 1999 (Nachdruck), Kap. IV. Nietzsche und Mach, von Theoretikern der Psyche wie Binet (Pirandello) und Freud (Svevo, Schnitzler) inspirieren, sooft sie in ihren Erfahrungen und Werken mit den Unwägbarkeiten des Unbewußten, der „multiplen Persönlichkeit” 3 oder dem Zerfall des Ichs zwischen Tag und Traum konfrontiert wurden. Es kommt hinzu, daß Affinitäten im Bereich des Subjektproblems nicht nur auf der genetischen Ebene des Einflusses, sondern auch auf typologischer Ebene nachgewiesen werden können. So gesteht beispielsweise Freud in einem Brief an Schnitzler, daß er den Schriftsteller beneidet, der seiner Intuition bestimmte Erkenntnisse verdankt, die sich der Psychoanalytiker mühsam erarbeiten muß: „Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen könnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objekts erworben und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert.“ 4 Es kann hier folglich von einer typologischen Parallel‐ entwicklung literarischer, psychoanalytischer und philosophischer Diskurse die Rede sein, die historisch und gesellschaftlich bedingt ist. 5 Immer häufiger diagnostizieren Literaten, Psychoanalytiker und Philosophen eine Krise des individuellen Subjekts, die sich im Übergang von der Romantik und dem Realismus zur Spätmoderne als Modernismus verschärft. Während Romantiker wie Novalis, Wordsworth, Chateaubriand oder Lamar‐ tine in der individuellen Innerlichkeit noch eine Zufluchtsstätte subjektiver Freiheit und Kreativität erblicken konnten, erscheint bei spätmodernen Dich‐ tern wie Baudelaire und Rimbaud das Ich als zerrissene, zerfallende Instanz. Die Romantiker meinen, in der subjektiven Innerlichkeit, die mit den als leblos empfundenen sozialen Konventionen konkurriert, eine neue Wahrheit entdeckt 16 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="17"?> 6 M. Condé, La Genèse sociale de l’individualisme romantique. Esquisse historique de l’évolution du roman en France du dix-huitième au dix-neuvième siècle, Tübingen, Niemeyer, 1989, S.-56-57. 7 T. Greiner, Ideal und Ironie. Baudelaires Ästhetik der ‚modernité‘ im Wandel vom Verszum Prosagedicht, Tübingen, Niemeyer, 1993, S.-300. 8 G. Simmel, Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin, Wagenbach, 1984, S.-219. 9 Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt, Suhrkamp, 1980 (3. Aufl.), S. 377, sowie L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg-Berlin, VSA, 1977, S.-138-140. zu haben: „Diese subjektive Wahrheit, die das romantische Bekenntnis in Szene setzt, existiert nur durch ihre Einzelheit, d. h. durch die Distanz zwischen ihr und der Welt der sozialen Erfordernisse (…).“ 6 In der Spätmoderne zerfällt diese subjektive Wahrheit in der Ambivalenz, die Wahrheit und Lüge, Ich und Nicht-Ich, Erhabenes und Triviales, Echtes und Unechtes so zusammenführt, daß das Ich in seiner Zerrissenheit und Heterogenität als Zufluchtsort nicht mehr in Frage kommt: „Durchgängiges Merkmal der Baudelaireschen Texte ist ein Spiel mit der Perspektive, das auf der Funktionsgemeinschaft zweier Ich-Instanzen beruht. Dies ist ein Grund, warum ein Werk wie die Fleurs du mal mit herkömmlichen Kategorien - etwa der des lyrischen Ichs - nicht mehr zu erschließen ist. Rimbauds ‚Je est un autre‘ gilt bereits für den, den er als ‚wahren Gott‘ verehrt (…).“ 7 Anders gesagt: Das Ich als träumend Schaffendes, das bei Dichtern wie Eichendorff oder Lamartine als Alternative zum anbrechenden Industriezeitalter erschien, wird bei Autoren wie Baudelaire und Rimbaud als eine von Widersprüchen zerrissene Welt erkannt. Der Soziologe Georg Simmel erklärt weshalb: „Die Folgen freilich, die die unbeschränkte Konkurrenz und die arbeitsteilige Vereinseitigung der Indivi‐ duen für deren innere Kultur ergeben hat, lassen sie nicht gerade als die geeignetsten Mehrer dieser Kultur erscheinen.“ 8 Durch die arbeitsteilig bedingte Vereinseitigung ist der Einzelne immer weniger in der Lage, als Träger dieser Kultur aufzutreten. Er wird ihr entfremdet und fällt bald Ideologien, bald Marktgesetzen zum Opfer, die ihm Kulturersatz anbieten und ihn zu einem Pseudosubjekt machen: zu einem Unterworfenen, einem sujet assujetti im Sinne von Foucault und Althusser 9 , das zu autonomem Denken und Handeln nicht mehr fähig ist. Im folgenden sollen die Peripetien individueller Subjektivität zwischen einer spätmodernen rettenden Kritik und einer nachmodernen Verabschiedung des Subjektbegriffs nachgezeichnet werden. Während aristokratisch sich gebär‐ dende Dandies ebenso wie Schriftsteller des frühen und späten Modernismus (vom Symbolismus bis zum Existentialismus) versuchen, das Einzelsubjekt in einer von Großkonzernen, Massenbewegungen und Marktmechanismen 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne 17 <?page no="18"?> 10 Vgl. M. Bradbury, J. McFarlane (Hrsg.), Modernism 1890-1930, Sussex-New Jersey, Harvester Press-Humanities Press, 1978, Kap. I. 11 D. W. Fokkema, Literary History, Modernism, and Postmodernism (The Harvard University Erasmus Lectures, Spring 1983), Amsterdam-Philadelphia, Benjamins, 1984, S.-33. 12 L. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, London-New York, Routledge, 1988, S.-88. beherrschten Gesellschaft in extremis zu retten, werden im Übergang von der Spätmoderne (hier: von ca. 1850-1950) zur Postmoderne immer mehr Stimmen laut, die Subjektivität - zusammen mit anderen „alteuropäischen“ (Luhmann) Begriffen wie „Herrschaft“, „Kritik“ und „Utopie“ - verabschieden möchten. Am Ende dieser Entwicklung steht Giampaolo Lais Buch Disidentità (1988), dessen Autor sich mit postmoderner Gebärde von der psychoanalytischen Suche nach subjektiver Identität distanziert. Er spricht von einem identitären Vorurteil (pregiudizio identitario) und plädiert unerschrocken für Inkohärenz. Es geht hier nicht darum, gegen dieses Plädoyer ideologisch-dualistisch ein Identitätspostulat ins Feld zu führen, sondern zu zeigen, welche literarischen Entwicklungen diesem Postulat entsprechen. 1.1 Subjektivität und Ambivalenz: Die spätmoderne Problematik Die Spätmoderne als Modernismus (Modernism) lassen viele englischsprachige Autoren erst um die Jahrhundertwende beginnen. Insofern hat der von Bradbury und McFarlane herausgegebene Band Modernism 1890-1930 symptomatischen Wert. 10 Bei diesen beiden Autoren fällt der literarische Modernismus mit der Schriftstellergeneration von 1870 zusammen, deren Vertreter - etwa Gide (1869-1951), Proust (1871-1922), Joyce (1882-1941), Svevo (1861-1928) - ihre ersten Werke in den 90er Jahren veröffentlichen. Gegen diese Konstruktion ist nichts einzuwenden, sofern man sich in erster Linie vornimmt, den Modernismus als ein Phänomen der Jahrhundertwende gegen verwandte Strömungen wie Symbolismus, Ästhetizismus und Avantgarde abzugrenzen. Charakteristisch für diese Auffassung ist D. W. Fokkemas Behaup‐ tung, der „modernistische Kode“ hebe sich „schroff vom koexistierenden Kode des Surrealismus ab“. 11 Sie ist vertretbar, solange man den Modernismus mit Werken von Autoren wie Proust, Valéry, T. S. Eliot, Thomas Mann oder Ezra Pound identifiziert, denen eine (stets variierende) Autonomieästhetik zugrunde liegt. In diesem Kontext mag man mit Linda Hutcheon von einem „hermetischen, ahistorischen Formalismus und Ästhetizismus“ 12 sprechen, dem politisches 18 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="19"?> 13 Hutcheons Versuch, Brechts Episches Theater der Postmoderne anzunähern (A Poetics of Postmodernism, op. cit., S. 218-221), zeugt nicht nur von einer oberflächlichen Lektüre, sondern auch von einer Fehleinschätzung von Brechts Marxismus, dessen revolutionäres Projekt mit der nachmodernen Eindimensionalität unvereinbar ist. 14 Zur Verwandtschaft zwischen Proust und Breton vgl. P. V. Zima, L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L’Harmattan , 2002 (2. Aufl.), S.-336-347. Engagement fremd ist. Symbolismus (Mallarmé, Rimbaud) und Ästhetizismus (Wilde, Huysmans) mögen dann als verwandte „autonomistische Strömungen“ erscheinen oder gar in einem als „elitär“, „formalistisch“ und „ästhetizistisch“ apostrophierten Modernismus aufgehen. Allerdings ist dies nur ein Aspekt des Modernismus, in dem man durchaus die Symbolisten Mallarmé und Rimbaud sowie die Ästhetizisten Wilde und Huysmans erkennen kann. Haben diese Autoren nicht die spätmoderne Zerris‐ senheit des Subjekts antizipiert, die in den Werken des „High Modernism“, in den Romanen Prousts, Joyces, Svevos oder Hesses, in Szene gesetzt wird? Doch schon die Namen Joyce und Hesse evozieren jenen anderen Moder‐ nismus, den Literaturwissenschaftler wie Fokkema und Hutcheon ausblenden müssen, um die von ihnen angestrebte Abgrenzung gegen Avantgarde und Episches Theater 13 plausibel zu machen: den radikalen, gesellschaftskritischen Modernismus, der sich in Hesses Der Steppenwolf, Döblins Berlin Alexander‐ platz, Joyces Ulysses oder Célines Voyage au bout de la nuit zu Wort meldet. Es ist absurd, diesen Modernismus als „hermetisch“, „ahistorisch“, „formalistisch“ oder gar „ästhetizistisch“ bezeichnen zu wollen; er ist das Gegenteil aller dieser Epitheta. Er erweist sich bei näherer Betrachtung auch als enger Verwandter des französischen Surrealismus, dessen mitunter gewalttätiges Traumszenario in Hesses „Magischem Theater“ (am Ende des Steppenwolf-Romans) als integraler Bestandteil des Modernismus erscheint. Aber auch Prousts Recherche mündet - fernab von Gewalt und Revolte - in den Surrealismus: Auf onirischer Ebene antizipiert die mémoire involontaire die auf das Unbewußte ausgerichtete attente mystique der Surrealisten, und Traumgegenstände wie die Madeleine oder die ungleichen Pflastersteine am Ende von Le Temps retrouvé weisen eine frappierende Ähnlichkeit mit den objets trouvés auf. 14 Schon deshalb ist es sinnvoll, die Avantgarden (die Surrealismen und Futu‐ rismen, den Expressionismus und den Vorticismus) mit Astradur Eysteinsson der modernistischen oder spätmodernen Problematik zuzurechnen: „In that case, ‚modernism‘ is necessarily the borader term while the concept of the ‚avant-garde‘ has proven to enjoy a good deal of ‚free-play‘ within the overall reach of modernism. At the same time nothing that is modernist can escape the 1.1 Subjektivität und Ambivalenz: Die spätmoderne Problematik 19 <?page no="20"?> 15 A. Eysteinsson, The Concept of Modernism, Ithaca-London, Cornell Univ. Press, 1990, S.-177. 16 Vgl. Kap. II in diesem Buch. 17 J.-K. Huysmans, A Rebours, Paris, Fasquelle, 1970, S.-244. 18 Zum Verhältnis von Ambivalenz und Roman vgl. Vf., L’Ambivalence romanesque, op. cit., sowie Roman und Ideologie, op. cit. 19 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, Hrsg. S. Landshut, Stuttgart, Kröner, 1971, S.-301. touch of the avant-garde.“ 15 Dies sollte hier durch die beiden Hinweise auf die surrealistischen Elemente bei Hesse und Proust veranschaulicht werden. Sowohl modernistische als auch avantgardistische Elemente finden sich allerdings auch in den Werken Mallarmés und Huysmans’, Baudelaires und Dostoevskijs. Während Mallarmé eine Ästhetik des Erhabenen ins Auge faßt, die die individuelle Subjektivität in Frage stellt 16 , und der Huysmans von A Rebours (1884) lange vor Musil und Svevo einen „essayistischen“ Roman ohne Handlung entwirft („roman concentré en quelques phrases“) 17 , visieren Dostoevskij und Baudelaire das zentrale Problem der Spätmoderne an: die Ambivalenz aller Werte, die sowohl das Denken als auch das Handeln des Subjekts in Frage stellt. Diese Ambivalenz sollte nicht als rein literarisches Problem mißverstanden werden, das vor allem im spätmodernen Roman anzutreffen ist. 18 Denn sie ist ein Phänomen der entwickelten Marktgesellschaft, die so sehr von Tauschwert und Geldmedium beherrscht wird, daß Werte, die jede Religion, jede Ideologie rigoros trennen, jäh als Verwandte erscheinen. Der junge Marx sagt vom Geld, es zwinge „das sich Widersprechende zum Kuß“. 19 Diese Aussage ist auf zwei Ebenen zu lesen: auf der Ebene der Krise und auf der Ebene der Kritik. Wenn unvereinbare Werte wie Gut und Böse, Freiheit und Unfreiheit, Liebe und Haß, Wahrheit und Lüge zusammengeführt werden, so entsteht einerseits ein Krisenbewußtsein, welches das individuelle Subjekt handlungsunfähig machen kann; andererseits kann aber der kritische Gedanke aufkommen, daß Gegen‐ sätze dialektisch zusammengedacht werden sollten, auch wenn die Hegelsche Synthese nicht mehr zu bewerkstelligen ist. Das spätmoderne oder modernistische Bewußtsein der Ambivalenz vereinigt also Krise und Kritik, wobei das individuelle Subjekt einerseits geschwächt, andererseits gestärkt wird: Es wird geschwächt, weil es feststellen muß, daß das kulturelle Wertsystem der spätkapitalistischen Gesellschaft allmählich zerfällt; es wird zugleich gestärkt, weil es jenseits von allen religiösen und ideologischen Manichäismen und Dualismen beobachten kann, wie sehr Gegensätze zusam‐ menhängen. Anders gesagt: Das spätmoderne Subjekt ist das nachmetaphysische, nietz‐ scheanische und freudianische Subjekt, dessen Handeln zwar problematisch 20 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="21"?> 20 F. Nietzsche, „Götzen-Dämmerung“, in: ders., Werke IV, op. cit., S.-958. 21 S. Freud, „Über die weibliche Sexualität“, in: ders., Studienausgabe V, Frankfurt, Fischer, 1982, S.-284. 22 S. Freud, „Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert“, in: ders., Studienausgabe VII, op. cit., S.-301. 23 Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: ders., Œuvres complètes I, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1975, S.-678. 24 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: ders., Werke V, op. cit., S.-314. 25 Vgl. L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, op. cit., S.-138-140. wird - wie das Handeln der Romanhelden Pirandellos, Unamunos, Prousts und Musils -, dessen Denken aber über die reduktionistischen Dualismen von Religion, Metaphysik und Ideologie hinausgeht. Dieses Hinausgehen über tradierte Wertsysteme hat seinen Preis, denn das kritische Subjekt muß sich von Nietzsche sagen lassen: „Die ‚scheinbare‘ Welt ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur hinzugelogen…“ 20 Es muß Freuds Thesen zur Kenntnis nehmen, daß beim Zwangsneurotiker „Liebe und Haß einander die Waage halten“ 21 und „daß Gott und Teufel ursprünglich identisch waren“. 22 Diese Erkenntnisse mögen das Subjekt verunsichern; sie schärfen aber auch seinen Blick für die Verflechtungen einer immer komplexer werdenden sozialen Wirklichkeit, in der nur noch Ideologen als große Vereinfacher eindeutig Gut und Böse bezeichnen können. Gegen sie wendet sich Charles Baudelaire, der (um 1860) zusammen mit Nietzsche und Dostoevskij an der Schwelle zu einer Spätmoderne steht, die zur Selbstkritik, zur Reflexion der gesamten Moderne als Neuzeit wird. Anticartesianisch, antihegelianisch und nietzscheanisch ist sein Sprachduktus, wenn er in der Mystik ein Bindeglied zwischen Heidentum und Christentum erkennt oder wenn er feststellt: „La superstition est le réservoir de toutes les vérités.“ 23 Auf diese Destruktion der metaphysischen Wahrheit, die Baudelaire um 1859 vornahm, scheint Nietzsche mit seiner Zerlegung des Wahrheitsbegriffs zu antworten: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen (…).“ 24 Die Wahrheit als Aberglaube, als bewegliche Konstellation, die jäh zerfällt und ihre rhetorischen Wurzeln zutage treten läßt: Aus dieser ambivalenten Betrachtung aller meta‐ physischen Gegensätze, aller modernen Wertsetzungen gehen die skeptisch-iro‐ nischen Diskurse der literarischen Spätmoderne hervor, die in Ästhetizismus, Symbolismus und Avantgardismus trotz aller Gegensätze einen gemeinsamen Nenner aufweisen, den Hermann Broch mit dem Ausdruck „Zerfall der Werte“ bezeichnet und Nietzsche mit der Metapher vom „Tode Gottes“ umschreibt. Geht man mit Althusser von dem Gedanken aus, daß Gott als höchstes Subjekt alle anderen Individuen zu Subjekten macht 25 , so ergibt sich aus dem 1.1 Subjektivität und Ambivalenz: Die spätmoderne Problematik 21 <?page no="22"?> 26 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: ders., Werke VI, op. cit., S. 440. 27 J.-P. Sartre, „L’Engagement de Mallarmé“, in: Obliques 18-19 (Sondernummer „Sartre“), 1979, S.-190. 28 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders., Gesammelte Werke I, Hamburg, Rowohlt, 1978, S.-229. 29 Ibid. 30 H. Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantriologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S.-77. Tode Gottes die von Nietzsche, Mallarmé und den Existentialisten erkannte Notwendigkeit, die menschliche Subjektivität ohne metaphysische Garantien neu zu begründen. Während Nietzsche den Nihilismus als „Zerfall der Werte“ durch den Übermenschen zu überwinden sucht - „Nicht ‚Menschheit‘, sondern Übermensch ist das Ziel! “ 26 -, fassen Mallarmé, Proust und der junge Sartre eine Überwindung des Nihilismus in der Sprache der Dichtung ins Auge. „L’absolu c’est le Moi pur comme simple déterminabilité et comme négation de la subjectivité empirique“ 27 , bemerkt Sartre in seinem Artikel „L’Engagement de Mallarmé“ (1979), in dem er nicht nur mit Mallarmés Ästhetizismus, sondern indirekt auch mit dem von La Nausée (1938) abrechnet, den er schon in Les Mots selbstkritisch relativierte. Tatsache ist aber, daß nicht nur Mallarmé und Proust, sondern auch der Autor von La Nausée versucht, die „empirische Subjektivität“, die an den Widersprüchen der Wirklichkeit zu scheitern droht, durch einen ästhetisch-literarischen Entwurf zu retten. Wie sehr diese „empirische Subjektivität“ von der extremen Ambivalenz und dem aus ihr ableitbaren „Zerfall der Werte“ in Frage gestellt wird, lassen die Romane von Musil und Broch erkennen. Beide Autoren erblicken in der von Marktgesetzen, ideologischen Konflikten und arbeitsteiligen Prozessen ausge‐ lösten Krise der Werte die Hauptursache für die Krise des individuellen Subjekts. Nach Nietzsches Destruktion und Baudelaires Demaskierung der Wahrheit (als Aberglaube) vermag Musils Romanheldin Diotima nicht mehr ohne weiteres am metaphysischen Wahrheitsbegriff festzuhalten: „Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt.“ 28 Der Ausbruch einer solchen spätmodernen, nachmetaphysischen Skepsis kann Handlungsunfähigkeit zur Folge haben: „Jedesmal, wenn Diotima sich beinahe schon für eine solche Idee entschieden hätte, mußte sie bemerken, daß es auch etwas Großes wäre, das Gegenteil davon zu verwirklichen.“ 29 Vor dieser Ratlosigkeit, die das Subjekt zur Passivität verurteilt, fliehen Hermann Brochs Helden Pasenow und Esch in die manichäische Eindeutigkeit der Ideologie: „Denn im Kasino war alles eindeutig und es galt ja, ja, und nein, nein (…).“ 30 So ähnlich denkt der Ideologe Esch im zweiten Roman der Brochschen Trilogie: 22 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="23"?> 31 Ibid., S.-280. 32 L. Pirandello, Uno, nessuno e centomila, in: ders., Tutti i romanzi II, Milano, Mondadori, 1973, S.-794. 33 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders., Gesammelte Werke IV, op. cit., S. 1457. 34 H. Broch, Die Schlafwandler, op. cit., S.-65 und S.-127-128. 35 Als Selbstkritik ist Musils Ironie durchaus mit Pirandellos „umorismo“ und Unamunos „humorismo“ vergleichbar. 36 Vgl. L. Pirandello, „L’umorismo“, in: ders., Saggi, poesie, scritti vari, Milano, Mondadori, 1960, S.-18. „Auch tat es ihm wohl, daß hier ein Mensch war, der eindeutig und bestimmt sich darstellte, ein Mensch der wußte, wo sein Rechts und sein Links, sein Gut und sein Böse zu finden ist.“ 31 Dualistisch reagiert der Ideologe auf die Ambivalenz, um handlungsfähig zu bleiben. Eine ganz andere Haltung nimmt der spätmoderne Schriftsteller oder sein Erzähler an, der in der Ambivalenz nicht nur ein Symptom der Krise, sondern zugleich den Ausgangspunkt seiner Kritik erblickt. So decken beispielsweise Italo Svevo und Luigi Pirandello mit einer von Paradoxien durchsetzten Ironie die Ambivalenzen der Vater-Sohn-Beziehung auf: Hat der sterbende Vater in La coscienza di Zeno seinem Sohn Zeno absichtlich oder schon jenseits von Absicht und Bewußtsein eine Ohrfeige gegeben? War es überhaupt eine Ohrfeige oder nur eine letzte Geste des Sich-Aufbäumens gegen den Tod? Diese Zweideutigkeit, die vom Erzähler ironisch reflektiert wird, findet der Leser in Pirandellos Uno, nessuno e centomila wieder, wo die Vater-Sohn-Beziehung als von allen (von Freuds Psychoanalyse erforschten) Ambivalenzen durchwirkt erscheint. Ein Kapitel trägt gar den Titel: „Il buon figliuolo feroce“. 32 Musils Held Ulrich, der dem Erzähler des Romanfragments in mancher Hinsicht nahe steht, relativiert den Eifer des dualistisch dozierenden Ideologen Schmeißer mit ironischer Ambivalenz: „‚Dann behaupte ich‘, ergänze Ulrich lächelnd seinen Satz, ‚daß Sie an etwas anderem scheitern werden, zum Beispiel daran, daß wir imstande sind, jemand Hund zu schimpfen, auch wenn wir unseren Hund mehr lieben als unsere Mitmenschen‘.“ 33 In Brochs Romantrilogie bringt wiederum der Ironiker Eduard von Bertrand die Ideologen Pasenow und Esch aus der Fassung, indem er ihnen auf subtile Art die Einheit der Gegensätze ohne Synthese vor Augen führt. 34 Aus dieser spätmodernen Zusammenführung der Gegensätze ohne hegelia‐ nische Aufhebung geht nicht nur Musils Ironie hervor, die zugleich Selbstironie und Selbstkritik ist 35 , sondern auch Pirandellos umorismo, der in vieler Hinsicht mit Miguel de Unamunos humorismo verwandt ist. Von Pirandello selbst wird der umorismo in seinem bekannten Aufsatz gleich zu Beginn mit der Melancholie, der malinconia, verknüpft 36 und immer wieder als sentimento del 1.1 Subjektivität und Ambivalenz: Die spätmoderne Problematik 23 <?page no="24"?> 37 L. Pirandello, „L’umorismo“, in: ders., Saggi, poesie, scritti vari, op. cit., S. 145 und S. 156. 38 Ibid., S.-146. 39 Ibid. 40 M. de Unamuno, Nebel, Berlin, Ullstein, 1997, S.-21. 41 Vgl. S. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophi‐ schen Brocken, in: ders., Gesammelte Werke, 16. Abt., Gütersloh, Mohn, 1982, S. 213 sowie S.-214-215. 42 Zur Ambivalenz-Problematik bei Dostoevskij vgl. M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostevskijs, München, Hanser, 1971, S.-141-143. contrario (Bewußtsein vom Gegenteil) definiert. 37 Was den Humoristen vom Ko‐ miker oder Satiriker, auch vom Ironiker im gebräuchlichen Sinn, unterscheidet, das ist dieses Bewußtsein vom Gegenteil, das letztlich als das spätmoderne oder modernistische Bewußtsein der Ambivalenz zu verstehen ist. Der Humorist im Sinne des englischen humour lacht über die Wirklichkeit oder die Protagonisten seines Dramas oder Romans, nicht jedoch Pirandellos umorista: „Durch das Lächerliche hindurch (…) nimmt er die ernste und schmerzliche Seite wahr.“ 38 Der Sinn fürs Gegensätzliche hält ihn zur Reflexion an: „Diese Reflexion dringt scharf und subtil überall ein und zerlegt alles: jede Gefühlsvorstellung, jede Idealfiktion, jeden Schein der Wirklichkeit, jede Illusion.“ 39 Dieser Satz ist nicht nur nietzscheanisch, sondern für die literarische Spätmoderne als ganze charakteristisch. Er entspricht der kritisch-analytischen Attitüde des spanischen humorista Miguel de Unamuno. Wie Pirandello verknüpft auch Unamuno seinen humorismo mit einer ambi‐ valenten Einstellung, wenn er in seinem Roman Niebla (1914) das Komische mit dem Tragischen einhergehen läßt. Was in Víctor Gotis Vorwort zu diesem Roman steht, könnte aus Pirandellos Humorismus-Aufsatz sein: „Zuweilen habe ich Don Miguel behaupten hören, daß das, was man hier Humor - den echten nämlich - nennt, in Spanien nie recht Wurzeln geschlagen habe und daß er dort in absehbarer Zeit schwerlich Wurzeln schlagen könne. Die Leute, die sich Humoristen nennen, sind, nach der Ansicht Don Miguels, entweder der Satiriker oder Ironiker, wenn sie nicht gar einfache Spaßmacher sind.“ 40 Im Gegensatz zu allen diesen Pseudohumoristen ist Unamuno ein umorista im Sinne von Pirandello: ein Denker der Ambivalenz, der Komik und Tragik, Leben und Tod, Lachen und Weinen zusammenführt, ohne auf höherer Ebene Synthesen anzubieten. Insofern ist er Nietzscheaner und Erbe von Søren Kierkegaard, der der Hegelschen Aufhebung absagte und das Paradoxon unaufgelöst stehen ließ. 41 Er ist auch Erbe Dostoevskijs, eines Romanciers der extremen Ambivalenz 42 , der zusammen mit Nietzsche und Baudelaire die spätmoderne Selbstkritik der Moderne in die Wege leitet. Auch Dostoevskij kann als Humorist im Sinne von 24 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="25"?> 43 R. Neuhäuser, F. M. Dostoevskij: Die großen Romane und Erzählungen. Interpretationen und Analysen, Wien-Köln-Weimar, Böhlau, 1993, S.-33. 44 Wie die Zweideutigkeit als Ambiguität in den Romanen des 18. und frühen 19. Jahr‐ hunderts überwunden wird, zeigt Vf. in: Roman und Ideologie, op. cit., S.-22-25. 45 R. Musil, Gesammelte Werke IX, op. cit., S.-1682. Unamuno und Pirandello gelesen werden: „Humor und Witz an sich kommen in Dostoevskijs Texten kaum vor. Sie sind stets mit hintergründiger Ironie und Satire gepaart, bzw. sind ständig in Gefahr, in die Absurdität überzugehen. Auch ist die Komik bei Dostoevskij nie weit von der Tragik entfernt, wie beispielsweise in einer Episode aus Schuld und Sühne. Svidrigajlov zieht den Revolver, um Selbstmord zu begehen, als ihn ein Wachtposten auf der Straße auf die Ordnungswidrigkeit seines Verhaltens hinweist: ‚He, das dürfen Sie hier nicht…‘.“ 43 Der Zufall spielt hier eine ähnliche - komisch-absurde - Rolle wie in den Romanen Svevos, Pirandellos und Moravias: Während in Moravias Gli indif‐ ferenti der Held zufällig vergißt, seinen Revolver, mit dem er seinen Widersacher Leo Merumeci erschießen will, zu laden, wird Svidrigajlovs selbstzerstörerische Absicht vom zufälligen Auftauchen des Wachtpostens durchkreuzt. In beiden Fällen verwandelt der Zufall Tragik in Komik. Zugleich offenbart er die Ohnmacht des Subjekts in der Spätmoderne: in einer Zeit, in der Schriftsteller die grundlegende Ambivalenz nicht mehr erzählerisch überwinden 44 , sondern nur noch humoristisch-essayistisch verarbeiten können. Ihre Protagonisten sind - wie Musils fragmentarischer, essayistischer Roman zeigt - passive Gestalten, deren reflexiver, analytischer Scharfsinn sie am Handeln hindert. Musils Ulrich, Prousts Jean Santeuil und Marcel, Pirandellos Vitangelo Moscarda und Joyces Stephen verkörpern allesamt eine problema‐ tisch gewordene Subjektivität, die sich nicht mehr auf eindeutig definierbare Werte stützen kann. Musil selbst hat die Literatur seiner Zeit als eine Literatur der Ambivalenz aufgefaßt: „Diese Überzeugung von der Übergänglichkeit der menschlichen Erscheinungen ineinander, die tiefere Verwandtschaft der moralischen Gegen‐ sätze kann man geradezu als ein Kennzeichen der zeitgenössischen Literatur im Unterschied zu früheren Zeiten ansprechen.“ 45 Es ist jedoch nicht nur eine Literatur passiver Helden, sondern zugleich - wie sich gezeigt hat - eine Literatur des umorismo, der Selbstreflexion und der Kritik: eine Literatur, die von Nietzsche bis Sartre neue Subjektivitäten, neue Subjektentwürfe entstehen läßt. 1.1 Subjektivität und Ambivalenz: Die spätmoderne Problematik 25 <?page no="26"?> 46 M. Krleža, Povratak Filipa Latinovicza, Split, Logos, 1985, S. 36. Zur Künstler-und Subjektproblematik bei Krleža vgl. auch A. Leitner, Die Gestalt des Künstlers bei Miroslav Krleža, Heidelberg, Winter, 1986, S. 128-129: „Filip wird als seelisch und geistig zerrütteter, nervlich überreizter und körperlich kränkelnder Décadent geschildert.“ Leitner vergleicht ihn mit dem Protagonisten von Hofmannsthals Chandos-Brief: „Filips Krankheit ähnelt in auffallender Weise der Krankheit des Philipp Lord Chandos in Hugo von Hofmannsthals berühmtem Chandos-Brief.“ Vgl. auch P. V. Zima, Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen, Francke, 2008, Kap. III: „Krležas und Sartres ambivalente Rettung der Kunst: Die Rückehr des Filip Latinovicz und Der Ekel“ 47 Ibid., S.-35. 48 Zur Definition der spätmodernen (modernistischen) und der postmodernen Proble‐ matik vgl. P. V. Zima, Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), Kap. IV. 1.2 Spätmoderne Formen der Subjektivität: Dandyismus, Ästhetizismus, Existentialismus und Avantgarde Eines der wesentlichen Anliegen der Spätmoderne, durch das sie sich klar von der gesamten postmodernen Problematik abhebt, hat Miroslav Krleža in seinem Roman Povratak Filipa Latinovicza (1932) in wenigen Worten wiedergegeben: „Biti subjekt i osjećati identitet svoga subjekta! ” („Subjekt sein und die Identität des eigenen Subjekt-Seins fühlen! ”) 46 Kaum ein anderer modernistischer Autor hat dieses zentrale Vorhaben der spätmodernen Philosophie und Literatur so knapp und klar formuliert. Sechs Jahre vor Sartres Antoine Roquentin denkt Krležas Held „über die Identität des eigenen ‚Ichs‘“ 47 nach und stellt fest, daß er dieses Ich nur sehr unklar und verschwommen wahrnimmt. Seine Antwort auf die Frage nach dem Subjekt ist anders geartet als die Antworten Huysmans’, Mallarmés, Sartres, Svevos oder Pirandellos. Dieser Tatsache soll das Wort „Problematik“ Rechnung tragen, das ein Ensemble von verwandten Problemen oder Fragestellungen bezeichnet, auf die jeder Autor, jede Autorengruppe, die im Rahmen einer Problematik schreibt, anders reagiert. Entscheidend ist die Verwandtschaft der einzelnen Probleme, die eine Problematik ausmachen, eine Verwandtschaft, die beispielsweise die Frage nach dem Subjekt mit den analogen Fragen nach der Form, dem kritischen Gehalt, der Autonomie und der Negation des Bestehenden verbindet. 48 Der Umstand, daß Vertreter des Ästhetizismus, des Symbolismus, des Existentialismus und der Avantgarde immer wieder versuchen, auf diese Fragen zu antworten, läßt ihre Zugehörigkeit zur spätmodernen Problematik erkennen. Daß diese Problematik weit über den literarischen (künstlerischen) Bereich hinausgeht, zeigt der Dandyismus als zugleich soziales und ästhetisches Phänomen diesseits der Kunst. 26 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="27"?> 49 Ch. Baudelaire, „Le Dandy“, in: ders., Œuvres complètes II, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1976, S.-710. 50 Ibid., S.-711. Denn der Dandy, der Schriftsteller von Barbey d’Aurevilly und Baudelaire bis Oscar Wilde und Marcel Proust fasziniert hat, ist wohl eine der originellsten Antworten auf die Frage nach dem Subjekt. Dennoch ist er eine Antwort in „dürftiger Zeit“: in einer Zeit, in der ethische, ästhetische und politische Werte in zunehmendem Maße als durch den Tauschwert vermittelt erscheinen. Die riches mariages, zu denen der europäische Adel von Geldnöten gezwungen wird, laufen darauf hinaus, daß Land und Adelstitel von Millionären käuflich erworben werden. Durch diese Art von Geldheirat verwandelt sich beispiels‐ weise in Prousts Roman die reiche Madame Verdurin in die Prinzessin von Guermantes. In solch einer Situation, in der nahezu alles vom Kommerz erfaßt wird, stellt sich die Frage nach dem wahren, dem qualitativen Unterschied. Dies ist wohl der Grund, weshalb Baudelaire vom Dandy sagt, er sei „vor allem auf Unterscheidung aus“ („épris avant tout de distinction“). 49 Deutet man diese Diagnose - gleichsam retrospektiv - im Zusammenhang mit Bourdieus Studie über Die feinen Unterschiede (La Distinction, 1979), so hat man das kulturelle Feld der mondänen Gesellschaft vor sich, in der Dandies als Modekünstler und geistreiche Causeurs versuchen, ihr qualitatives Anderssein unter Beweis zu stellen. Sie sind anders als verbürgerlichte Adelige, die das authentische Auftreten ihrer Ahnen verlernt haben; sie unterscheiden sich radikal von bürgerlichen Parvenus, die sich in verarmte Adelsgesellschaften eingekauft haben; vor allem aber distanzieren sie sich von all den utilitaristisch denkenden Bürgern und Arbeitern, die einer nützlichen Tätigkeit nachgehen. Sie entwickeln und pflegen einen Habitus, der nicht jedermanns Sache ist. Denn nicht jeder kann mit einer eleganten Erscheinung aufwarten, als Causeur die richtige Bemerkung im richtigen Augenblick einwerfen und seine impertinence so brillant verkleiden, daß sie nie an plumpe Dreistigkeit erinnert. Anders gesagt: Der Dandy kann hoffen, alle seine mondänen Rivalen aus dem Feld zu schlagen, weil er bestimmte Archaismen der untergegangenen höfischen Gesellschaft mit neuem Leben erfüllt. Und er tut dies zu einem Zeitpunkt, da solche Archaismen zwar noch verstanden und goutiert werden, aber dennoch zum Aussterben verurteilt sind. So ist auch Baudelaires bekannte Feststellung zu deuten: „Le dandysme est le dernier éclat d’héroïsme dans les décadences (…).” 50 Der Dandy ist ein Held, weil er in einer sich demokratisierenden und verbür‐ gerlichenden Gesellschaft unerschrocken aristokratische Allüren kultiviert. 1.2 Spätmoderne Formen der Subjektivität 27 <?page no="28"?> 51 Vgl. z. B. P. Bourdieu, Les Règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris, Seuil, 1992, S. 152-154, wo zwar nach den Produktionsbedingungen von Flauberts oder Prousts Werk gefragt wird, wo aber die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Form (der Schrift) unterbleibt. 52 Ch. Baudelaire, „Le Dandy“, in: ders., Œuvres complètes II, op. cit., S.-710. 53 Ibid. 54 H. Gnüg, Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart, Metzler, 1988, S. 26. Vgl. auch H. Gnüg, „Dandy“, in: K. Barck et al. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe I, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2000, S. 821: „Der Dandy ist zwar ein ‚solitaire‘, er ist einsam, einzigartig, empfindet sein Anderssein, aber er unterscheidet sich vom Sonderling oder Exzentriker gerade dadurch, daß seine Andersartigkeit der Gesellschaft nicht ins Auge sticht.“ Diese soziologische Skizze greift deshalb zu kurz, weil sie das Subjekt-Pro‐ blem ausblendet. Ein ähnlicher Einwand gilt auch für einige Studien Bourdieus 51 , in denen das emsige Agieren sozialer Akteure in einem champ dargestellt wird, ohne daß die Frage aufkommt, mit welchem Wahrheitsanspruch sie auftreten. Nun ist „Wahrheit“ ein durchaus metaphysischer Begriff, der seit Nietzsches Kritik - nicht nur unter Soziologen - skeptisches Achselzucken auslöst. Dennoch ist die „Strategie“ der Dandies ohne Wahrheitsbegriff, ohne den Gedanken an einen Wahrheitsanspruch nicht zu verstehen. Denn es ist nicht nur der „Kult des Ichs“, „culte de soi-même“ 52 , wie Baudelaire sagt, der das Verhalten des Dandys erklärt, sondern auch und vor allem „le besoin ardent de se faire une originalité“ 53 , von dem ebenfalls bei Baudelaire die Rede ist. Es geht darum, mitten in der Tauschgesellschaft unverwechselbar zu sein, d. h. nicht dem subjekttötenden Mechanismus der Austauschbarkeit zum Opfer zu fallen: „Subjekt sein und die Identität des eigenen Subjekt-Seins fühlen“, würde Krleža sagen. Diese kritisch-subjektive Komponente des Dandyismus, die sich gegen die Marktgesellschaft richtet und das Wahrheitsmoment des mondänen Ästhetizismus ausmacht, sollte nicht übersehen werden, zumal sie den Nexus von Subjektivität und Kritik zutage treten läßt. Das Streben des Dandys nach Subjektivität und Originalität kann sich freilich nicht in reiner Idiosynkrasie erschöpfen; es setzt trotz aller Distinktions- und Distanzierungsversuche gesellschaftliche Anerkennung voraus. Dies ist Hiltrud Gnüg aufgefallen: „Das heißt, seine Originalität, sein Wille zur Andersartigkeit, macht den Dandy zwar zum Außenseiter, aber die subtile Weise, in der er diese ausdrückt, läßt ihn für die Gesellschaft akzeptabel bleiben.“ 54 Vom vulgären Snob, dem nichts wichtiger erscheint, als in die von ihm bewunderte Bezugs‐ gruppe (reference group) aufgenommen zu werden, unterscheidet sich der Dandy durch sein Selbst-Bewußtsein, d. h. durch eine kritisch-reflexive Einstel‐ lung zur eigenen Subjektivität, die ihn den anderen als überlegen erscheinen 28 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="29"?> 55 Ibid., S.-38. 56 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-115. 57 P. Favardin, L. Boüexière, Le Dandysme, Lyon, La Manufacture, 1988, S.-87. 58 Ibid., S.-85. läßt: „Die ‚éternelle supériorité du Dandy‘, von der Baudelaire spricht (…), liegt in der Überwachheit eines Bewußtseins, das sich zum Beobachter des fühlenden, denkenden Ichs macht.“ 55 Der grundsätzliche Widerspruch des Dandyismus besteht darin, daß seine Protagonisten einerseits von Distinktion und Distanz leben, andererseits aber auf Kommunikation und die bewundernden Blicke der anderen angewiesen sind. Ja, sie leben geradezu von der Kommunikation. Das Schlimmste, was einem Dandy widerfahren kann, ist eine Verbannung in die Provinz, in der niemand sein Auftreten und seine Konversation goutiert. Er verdankt seine - in jeder Hinsicht - narzißtische Subjektivität der mondänen Kommunikation. Von ihr sagt aber Adorno: „Denn Kommunikation ist die Anpassung des Geistes an das Nützliche, durch welches er sich unter die Waren einreiht, und was heute Sinn heißt, partizipiert an diesem Unwesen.“ 56 Hier wird die Sackgasse des Dandyismus sichtbar: Durch seine Abhängigkeit von der mondänen Nachfrage, durch sein Für-Andere-Sein liefert sich der Dandy dem Tauschprinzip der Marktgesellschaft aus, gegen das er revoltiert. Zu Recht stellen deshalb Favardin und Boüexière fest, daß Baudelaire als Schriftsteller zum Dandy nicht taugte: „Baudelaire ist vor allem Dichter.“ 57 Der Dandy hingegen hat mit Dichtung als Produktion und Arbeit nichts im Sinn: „Die Kunst ist nur ein liebenswerter Zeitvertreib: Der Dandy verabscheut jede Art von Spezialisierung.“ 58 Nicht nur vor der Spezialisierung schrickt er zurück, sondern vor dem produktiven poein, dem kreativen Dasein. In diesem wesentlichen Punkt unterscheiden sich die Schriftsteller der Spät‐ moderne vom Dandy. Anders als der mondäne Held, der von der Kommunika‐ tion lebt, erhoffen sie sich von der künstlerischen Produktion, die nur fernab vom mondänen Treiben möglich ist, eine Rettung der Subjektivität. Freilich würde man die modernistische Problematik grob verzerren, wollte man alle ihre Vertreter als Verfechter einer Kunstideologie verstehen. Weder D.H. Lawrence noch James Joyce, weder Camus noch Svevo sind im Rahmen einer solchen Ideologie interpretierbar. Wichtige Autoren der Spätmoderne haben aber das Schicksal des individu‐ ellen Subjekts mit dem literarisch-ästhetischen Entwurf verknüpft. In ihren Augen erscheint eine Verwirklichung von Krležas programmatischem Ausruf nur jenseits der gesellschaftlichen Kommunikation möglich. 1.2 Spätmoderne Formen der Subjektivität 29 <?page no="30"?> 59 Zum Begriff der „Reflektorfigur“ vgl. F. K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen, Vandenhoeck-Ruprecht, 1979, Kap. VI. 60 Vgl. P. Favardin, L. Boüexière, Le Dandysme, op. cit., S.-138 und S.-144. Sie brechen mit dem Realismus-Naturalismus des 19. Jahrhunderts, verab‐ schieden sich vom mimetischen Projekt ihrer Vorgänger und fassen die Kon‐ struktion einer mit der Wirklichkeit konkurrierenden ästhetischen Welt ins Auge, deren Entstehung sie kritisch-selbstkritisch reflektieren. Ihre Literatur ist einem reflexiven Konstruktivismus verpflichtet, dem zusammen mit der individuellen Subjektivität das anekdotische Erzählen der Klassik, der Romantik und des Realismus zum Problem wird. Eines der wichtigsten Modelle dieser anbrechenden Spätmoderne (als Selbst‐ kritik der Moderne) ist zweifellos Joris-Karl Huysmans’ essayistischer Roman A Rebours (1884), dessen literarhistorische Zuordnung zum „Ästhetizismus“ („es‐ thétisme“) nicht über seine Verwandtschaft mit Prousts Recherche, Mallarmés Dichtung und Sartres La Nausée hinwegtäuschen sollte. Zugleich erscheint Huysmans’ existentielle Suche, die vom Naturalismus über den Ästhetizismus und den Satanismus (Là Bas, 1891) zum Katholizismus (La Cathédrale, 1898) verläuft, als eine modernistische Suche par excellence: eine recherche, die nicht nur Prousts großen Roman ankündigt, sondern auch die Werke Joyces, Svevos, der Surrealisten und Existentialisten. Wird A Rebours in diesem Kontext gelesen, so treten drei Komponenten des Romans in den Vordergrund: die soziale Isolierung und Vereinsamung des Subjekts (des Erzählers und seines Helden des Esseintes), die Suche nach einer ästhetischen Identität und die komplementäre Suche nach einer zeitgemäßen (modernen) Kunst. Im ersten Punkt treffen sich Erzähler und Held mit dem Dandy. Während der Erzähler in einer personalen Erzählsituation in entscheidenden Augenblicken den Standpunkt seiner „Reflektorfigur“ 59 des Esseintes einnimmt, tritt mit des Esseintes ein Dandy als Romanheld auf den Plan, der, angeekelt von der mon‐ dänen Gesellschaft und der Erotik, mit der sozialen Welt bricht und sich in eine stark ästhetisierte, mit schönen Gegenständen ausgeschmückte Privatsphäre zurückzieht. Es scheint ein Konsens darüber zu bestehen, daß er dem Dandy und Dichter Robert de Montesquiou (1855-1921) nachempfunden ist, dem auch Marcel Prousts Baron de Charlus wesentliche Charakterzüge verdankt. 60 Erschöpfte sich der Roman in der Ästhetisierung der Wirklichkeit durch einen Dandy, so wäre er längst in Vergessenheit geraten. Seine Bedeutung besteht jedoch nicht in seinem „Ästhetizismus“ oder seiner „Dekadenz“, sondern in seiner modernistischen Fragestellung, die die erste Komponente (Isolierung des Dandy-Subjekts) mit den beiden anderen Komponenten (Suche nach der 30 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="31"?> 61 F. Livi, J.-K. Huysmans, A Rebours et l’esprit décadent, Paris, Nizet, 1991 (3. Aufl.), S.-184-185. 62 J.-K. Huysmans, A Rebours, op. cit., S.-244. 63 Ibid., S.-223. eigenen Identität, Suche nach einer zeitgemäßen Kunst) verknüpft. Die Ästheti‐ sierung der Wirklichkeit (der Privatspähre) ist als Metapher für eine literarische recherche zu lesen, die auf intertextueller Ebene fortschreitet. Denn des Esseintes umgibt sich in seinen vier Wänden nicht nur mit schönen, exotischen Objekten, sondern auch und vor allem mit Büchern, mit älteren und zeitgenössischen Texten, von denen manche ausführlich zitiert und kommentiert werden. Es ist sicherlich kein Zufall, daß er sein Augenmerk vor allem auf die Werke Baudelaires und Mallarmés richtet. Es handelt sich jedoch keineswegs um den Blick eines passiv genießenden Ästheten, sondern um den eines kreativen Künstlers. Dies ist François Livi aufgefallen, der des Esseintes’ (und indirekt Huysmans’) Stellung zwischen den beiden Dichtern schildert: „Zwischen dem Subrealismus der Naturalisten und dem Surrealismus, den die Dichtung Mallarmés ankündigt, wird der einzig begehbare Weg von Baudelaire gewiesen, ‚denn jener war fast der einzige, dessen Verse unter ihrer prachtvollen Rinde ein wohltuendes und nahrhaftes Mark enthielten‘. (…) Wenn des Esseintes von einem neuen Baudelaire-Werk träumt, so träumt er in Wirklichkeit von einer Lösung für den zeitgenössischen Roman.“ 61 Mit Baudelaires Hilfe soll hier die Sackgasse des realistisch-naturalistischen Romans aufgebrochen werden: und zwar durch ein auf das Prosagedicht ausge‐ richtetes Sprachexperiment, aus dem ein Roman hervorgeht, der aus einigen wenigen Sätzen besteht („roman concentré en quelques phrases“) 62 und wie Mallarmés Dichtung alles Redundante rigoros tilgt. Ein solcher Roman ist utopisch - wie Mallarmés Livre. Aber diese ästhetische Utopie ist von der Suche des Subjekts nach seiner Identität nicht zu trennen. Gegen Ende des Romans (Kap. XIV) zeichnet sich eine Symbiose zwischen Subjektivität und literarischer Produktion ab, die in Prousts Recherche und Sartres La Nausée intensiviert wird: „Il voulait, en somme, une œuvre d’art et pour ce qu’elle était par elle-même et pour ce qu’elle pouvait permettre de lui prêter; il voulait aller avec elle, grâce à elle, comme soutenu par un adjuvant (…).“ 63 Zwar geht es hier immer noch um die Suche des raffinierten und blasierten Lesers nach dem zeitgemäßen modernen Kunstwerk, das die Comédie humaine ersetzen könnte; zugleich spricht hier aber der Ästhet als Produzent und als Vorläufer Prousts und Sartres. Der Huysmans von A Rebours ist insofern ein Vorläufer Prousts, als er die unwillkürliche Erinnerung und deren Gegenstände antizipiert. Ein Brief‐ 1.2 Spätmoderne Formen der Subjektivität 31 <?page no="32"?> 64 Ibid., S.-215. 65 Ibid., S.-99. 66 Ibid., S.-134. 67 Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: ders., Œuvres complètes I, op. cit., S.-677. 68 H. R. Jauß, „Ursprünge der Naturfeindschaft in der Ästhetik der Moderne“, in: K. Maurer, W. Wehle (Hrsg.), Romantik, Aufbruch zur Moderne, München, Fink, 1991, S.-381. beschwerer setzt den Erinnerungsprozeß in Bewegung: „Ce presse-papiers remua, en lui, tout un essaim de réminiscences.“ 64 Er ist auch ein Vorläufer des jungen Sartre, dessen antibürgerliche Gesellschaftskritik er zusammen mit dessen Existenzekel vorwegnimmt. Ähnlich wie in La Nausée werden die Bürger als „utilitaires et imbéciles“ 65 definiert. Wie in Sartres Erstlingsroman lösen Kontakte mit dem Natürlich-Weiblichen Ekelanfälle aus, die sich am Ende des achten Kapitels zu einem Alptraum verdichten. 66 In dieser Hinsicht ist des Esseintes ein Erbe Baudelaires, der in „Mon cœur mis à nu“ in der Frau den Antipoden des naturfremden Dandy zu erkennen meint: „La femme est le contraire du Dandy. Donc elle doit faire horreur.“ 67 Zugleich erscheint er aber auch als Vorläufer Roquentins, der alles Natürliche und Weibliche mit der sinnlosen existence assoziiert. Es zeigt sich hier, wie verschiedene Komponenten der modernistischen Problematik auf literarischer Ebene eine Einheit bilden: Naturfeindschaft, Miso‐ gynie, Ästhetizismus und die Erforschung des Unbewußten begleiten die Suche des männlichen Subjekts nach dem Kunstwerk, dem literarischen Schreiben, das seine Identität sichern soll. Auf den ersten Blick wird hier Hans Robert Jauß’ These über die „Austreibung der Natur aus der Ästhetik der Moderne“ 68 bestätigt. Doch diese These wird der Komplexität der literarischen Spätmoderne nicht gerecht, der so „naturzugewandte“ Autoren wie Nietzsche, Hesse und Camus angehören. André Gides Werk läßt erkennen, wie sehr asketische Natur‐ feindschaft (La Porte étroite) und Natureuphorie (L’Immoraliste, Les Nourritures terrestres) im Modernismus zusammengehören. Auch Marcel Prousts Recherche ist als „naturfeindlicher“ Roman nicht zu verstehen, denn sie knüpft nicht an die Naturallergie von A Rebours, sondern an die Experimente dieses Romans mit dem Unbewußten, mit der unwillkürlichen Erinnerung an. Wie sehr dieser Bereich des instinct artistique (Proust) zur Grundlage einer neuen literarischen Subjektivität wird, zeigt sich in Le Temps retrouvé, wo der Erzähler mit Hilfe bestimmter onirischer Gegenstände (der „serviette empesée“, der „pavés inégaux“) seine Identität als Künstler findet. Das Ende des Romans ist dem Nachdenken über die Verbindung zwischen un‐ willkürlicher Erinnerung, künstlerischem Instinkt und künstlerischer Identität gewidmet: „Que ce fût justement et uniquement ce genre de sensations qui dût 32 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="33"?> 69 M. Proust, A la recherche du temps perdu III, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1954, S.-918. 70 M. Proust, Le Carnet de 1908 (éabli et présenté par P. Kolb), Paris, Gallimard (Cahiers Marcel Proust), 1976, S.-71. 71 Ibid., S.-98. 72 J.-P. Sartre, La Nausée, in: ders., Œuvres romanesques, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1981, S.-210. 73 J.-P. Sartre, L’Imaginaire, Paris, Gallimard, 1940, S.-357. conduire à l’œuvre d’art, j’allais essayer d’en trouver la raison objective (…).“ 69 Dieser Grund ist in der Zufallsbedingtheit der unwillkürlichen Erinnerung zu suchen, die sich durch ihre Kontingenz dem Einfluß des kalkulierenden, räsonierenden Intellekts der mondänen Gesellschaft entzieht. Damit wird Prousts Entdeckung der unbewußten Grundlagen von Kunst und Literatur zum Ausgangspunkt seiner Gesellschaftskritik: Die mondäne Gesellschaft, die nur den brillanten Intellekt des Causeurs gelten läßt, muß zwangsläufig den Künstler verkennen, der im Gegensatz zum Dandy die Einsamkeit sucht: „Silence contact avec/ soi-même“ 70 , heißt es in Prousts nachgelassenen Schriften, wo auch zwischen den authentischen „Ecrivains solitude“ und den falschen „Ecrivains société“ 71 unterschieden wird. Wie Prousts littérature richtet sich auch das Schreiben des jungen Sartre gegen die bürgerliche Gesellschaft, die schon in A Rebours als „utilitaristisch“, „korrupt“ und „verdummt“ gegeißelt wird. Wie Huysmans’ und Prousts Erzähler wendet sich Sartres Ich-Erzähler Antoine Roquentin von der bürgerlichen Gesellschaft ab, um im ästhetisch-literarischen Bereich eine Identität zu finden. Auf die Frage, ob es möglich sei, seine Existenz zu rechtfertigen, antwortet er mit einem fiktionalen Entwurf, der über der Wirklichkeit der nicht zu rechtfertigenden, kontingenten existence der Bürger von Bouville liegt. Von der Geschichte, die er jenseits der sozialen Wirklichkeit erfinden will, sagt er: „Il faudrait qu’elle soit belle et dure comme de l’acier et qu’elle fasse honte aux gens de leur existence.“ 72 Von Prousts Erzähler unterscheidet sich Roquentin wesentlich durch seine Ablehnung von Zufall, Kontingenz und Natur, die er mit der negativ konno‐ tierten existence assoziiert. Mit Prousts Erzähler meint er aber, im literarisch-fik‐ tionalen Bereich die authentische Subjektivität zu finden, die dem Bürgertum von Bouville ebenso fehlt wie Prousts mondäner Welt des Faubourg Saint-Ger‐ main. Mit Huysmans und Proust vertritt der junge Sartre die Ansicht, daß Literatur nicht realistisch-mimetische Wiedergabe ist, sondern Konstruktion im fiktionalen Sinn. Es geht nicht um die Wiedergabe von Wahrnehmung (perception), sondern um eine „Nichtigung“ der Welt, die ihre Rekonstruktion im Imaginären vorbereitet, um eine „constitution et néantisation du monde“. 73 1.2 Spätmoderne Formen der Subjektivität 33 <?page no="34"?> 74 I. Svevo, La Coscienza di Zeno, Milano, Dall’Oglio, 1938, S. 443. (Zeno Cosini, Hamburg, Rowohlt, 1959, S.-417.) 75 Vgl. J. Lacan, „Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse“, in: ders., Ecrits, Paris, Seuil, 1966, S. 247: „Parole vide et parole pleine dans la réalisation psychanalytique du sujet“. Entscheidend ist nun, daß diese Neukonstitution der Welt mit einer Selbst‐ konstruktion des Subjekts einhergeht. Ja, sie ist Grundlage dieser Selbstkon‐ struktion, die zum zentralen Anliegen der literarischen Spätmoderne als Selbstreflexion der Moderne wird. In einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der alle tradierten Werte von der Ambivalenz und vom „Zerfall der Werte“ (Broch) erfaßt werden, erscheint eine Rekonstruktion der Wertskala als Selbstkonstruktion des Subjekts vielen als der einzige Ausweg. Freilich kann diese Rekonstruktion auch einen politischen (Brecht, Malraux) oder religiösen (Bernanos, Claudel) Charakter annehmen und weit über den ästhetischen Be‐ reich hinausgehen; aber die Selbstsuche als literarisch-ästhetische Suche ist für den Modernismus besonders charakteristisch. Wenn nicht die Kunst als solche, so wird doch das Schreiben immer wieder zur Grundlage schriftstellerischer Subjektivität. Von Italo Svevo kann sicherlich nicht behauptet werden, er habe Sinn, Subjektivität und Identität mit dem Schicksal der Kunst liiert. Aber auch sein Ich-Erzähler Zeno sagt schließlich einer als inauthentisch empfundenen sozialen, familiären und psychoanalytischen Wirklichkeit ab, um sich dem Schreiben zuzuwenden: „Per rimpiazzare la psico-analisi, io mi rimetto ai miei cari fogli.“ („Um die Zeit auszufüllen, die sonst der psychoanalytischen Behandlung gewidmet war, widme ich mich von neuem meinen geliebten Blättern.“) 74 In dem hier konstruierten Kontext erscheint es keineswegs als Zufall, daß die Psychoanalyse vom Schreiben abgelöst wird. Denn die parole pleine oder parole vraie, die nach Lacan am Ende der Behandlung ertönen sollte 75 , scheint eher ein Privileg des neurotischen Dichters zu sein. Die Psychoanalyse hingegen wird von Svevos Erzähler mit einer abenteuerlichen Waldwanderung verglichen, während der wir nicht wissen, ob wir einem Räuber oder einem Freund begegnen werden. Beides ist stets möglich, und die von der Ambivalenz geprägte Psychoanalyse zeugt - wie Svevos Roman - von der Krise des sozialen Wert‐ systems und des Wertbewußtseins des Subjekts. Dieses versucht schließlich, im Schreiben, in der literatischen Produktion, eine neue Identität zu finden. Auch in Virginia Woolfs Orlando-Roman, dessen Hauptthema die konstitu‐ tive Ambivalenz des androgynen Subjekts ist, steht das literarische Schreiben am Ende einer essayistischen Identitätssuche, die den anekdotischen Aufbau 34 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="35"?> 76 V. Woolf, Orlando. A Biography, Oxford, Univ. Press, 1992, S.-257. 77 Ibid., S.-263. 78 Ibid., S.-309-310. 79 J.-K. Huysmans, A Rebours, op. cit., S.-105. des realistischen Romans als nebensächlich erscheinen läßt. Orlando verzichtet (wie Musils Ulrich) auf die vita activa und setzt ihr/ sein Leben im Imaginären fort. Die Erzählerin stellt diesen Abschied vom anekdotischen Romandiskurs ironisch dar: „If then, the subject of one’s biography will neither love nor kill, but will only think and imagine, we may conclude that he or she is no better than a corpse and so leave her.“ 76 Aus modernistischer Sicht gibt es aber Wichtigeres als das „wahre Abenteuer“ des 18. oder 19. Jahrhunderts: „It was her manuscript. ‚The Oak Tree‘.“ 77 Wie in Prousts Text Le Temps retrouvé (1927), der ein Jahr vor Orlando erschien, zeichnet sich am Ende von Woolfs Roman im literarischen Schreiben eine Alternative zur kommerzialisierten sozialen Wirklichkeit und vor allem zum Literaturbetrieb ab: „She was reminded of old Greene getting upon a platform the other day comparing her with Milton (save for his blindness) and handing her a cheque for two hundred guineas. She had thought then, of the oak tree here on its hill, and what has that got to do with this, she had wondered? What has praise and fame to do with poetry? “ 78 Nicht der vom Dandy begehrte bewundernde Blick der anderen erscheint hier wesentlich, sondern das Schreiben, das zur Grundlage des spätmodernen Subjekts wird. Dieses Schreiben ist jedoch alles andere als apolitisch, wie die Romane Prousts, Musils und Woolfs zeigen. Es ist nicht nur gesellschaftskritisch, weil es sich gegen die entstehende Kulturindustrie, gegen Ideologie und Herrschaft wendet, sondern auch deshalb, weil es ein Jenseits der bestehenden Verhältnisse anpeilt. In A Rebours geschieht dies gleichsam ex negativo, etwa wenn des Esseintes einem unerfahrenen Burschen die Lust der käuflichen Liebe finanziert in der Hoffnung, aus ihm einen Feind der Gesellschaft zu machen: „un ennemi de plus pour cette hideuse société qui nous rançonne“. 79 Als Alternativen erscheinen später der Satanismus von Là-Bas und schließlich der Katholizismus von La Cathédrale. Doch es gibt andere Lösungen: etwa die des Surrealismus, der Politik und Ästhetik auf explosive Art zusammenführt. Mit Huysmans’ scheinbar apoli‐ tischem „Ästhetizismus“ verbindet ihn die modernistische Ablehnung einer bürgerlich-utilitaristischen Gesellschaftsordnung. Diese Ablehnung läuft bei André Breton auf eine spätmoderne Reflexion der neuzeitlichen Entwicklung hinaus, die den Surrealisten als Erben der Romantik mit Unbehagen erfüllt: „Ce 1.2 Spätmoderne Formen der Subjektivität 35 <?page no="36"?> 80 A. Breton, Manifestes du surréalisme, Paris, Gallimard, 1969, S.-62. 81 S. Lash, Sociology of Postmodernism, London-New York, Routledge, 1990, S.-158. 82 A. Breton, Manifestes du surréalisme, op. cit., S.-28. 83 Ibid., S.-64. monde dans lequel je subis ce que je subis (n’y allez pas voir), ce monde moderne, enfin, diable! que voulez-vous que j’y fasse? “ 80 Hier wird deutlich, wie sehr Astradur Eysteinsson recht hat, wenn er die surrealistische Avantgarde als Bestandteil der modernistischen Problematik auffaßt: Weit davon entfernt, sich „schroff vom Modernismus abzuheben“ wie Fokkema meint (s. o.), ist Bretons Surrealismus ein „nach außen gekehrter“ Mallarmé oder Proust. Während diese beiden Dichter im „einsamen Schreiben“ die einzig adäquate Antwort auf frühe Kulturindustrie und mondäne Kommu‐ nikation erblickten und die authentische Subjektivität mit der literarischen Produktion identifizierten, meinten die Surrealisten, in der Politisierung der Kunst die richtige Antwort auf die spätmoderne Problematik zu erkennen. In dieser Hinsicht sind sie Geistesverwandte Brechts, der sich als Marxist unter „politischer Kunst“ freilich etwas anderes vorstellte als Breton oder Soupault. Wenn Scott Lash unbekümmert feststellt: „I take the avant-garde of the 1920s to be postmodernist“ 81 , so setzt er sich über die Tatsache hinweg, daß die Surrealisten - ähnlich wie Mallarmé, Proust, Sartre oder Woolf - die individuelle Subjektivität im literarischen Schreiben verankern wollten, während die post‐ moderne Literatur die Frage nach dem Subjekt entweder negativ beantwortet (das Subjekt als Einheit gibt es nicht) oder gar nicht stellt. Er übersieht ferner, daß die Surrealisten die bei Mallarmé, Huysmans, Proust oder Woolf implizite oder resignierende Gesellschaftskritik offen und auf militante Art gegen die Gesellschaft („société qui nous rançonne“, Huysmans) wenden. Die Dichtung wird zur revolutionären Kraft. Von ihr sagt Breton: „Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et rompe seule le pain du ciel pour la terre! “ Einige Zeilen weiter folgt die bekannte Aufforderung: „Qu’on se donne seulement la peine de pratiquer la poésie! “ 82 Es scheint geradezu absurd, diese revolutionäre und aufs Utopische ausge‐ richtete Subjektivität mit einer eindimensionalen Postmoderne zu assoziieren, die zwar die ohnmächtige Revolte (etwa bei Werner Schwab) kennt, sich im übrigen aber von Subjektivität, Kritik, Überwindung und Utopie verabschiedet hat. Der Surrealist Breton jedoch schrieb: „L’existence est ailleurs.“ 83 36 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="37"?> 84 Vgl. M. Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“ (1983), in: ders., Dits et écrits IV, Paris, Gallimard, 1994, S. 446: „Qu’est-ce qu’on appelle la postmodernité? Je ne suis pas au courant.“ 85 Als Strukturalist erscheint Foucault z. B. in: G. Schiwy, Der französische Struktura‐ lismus, Hamburg, Rowohlt, 1969, S.-203-207. 86 M. Foucault, La Pensée du dehors, Paris, Fata Morgana, 1986, S.-15. 87 Ibid., S.-56. 88 Wie Sartre, Deleuze, Guattari und Lyotard setzt sich auch Foucault für Revolten gegen Gesellschaft und Staat ein: Vgl. M. Foucault, „Die Intellektuellen und die Macht“ (Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze), in: W. Seitter (Hrsg.), Von der Subversion des Wissens, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1978, S.-139. 1.3 Postmoderne Subjektlosigkeit oder: „Disidentità“ Es mutet bizarr an, wenn Michel Foucault, der sich kurz vor seinem Tod nach der Bedeutung des Wortes „Postmoderne“ erkundigte 84 , in englischsprachigen und deutschsprachigen Ländern flugs der Postmoderne zugeordnet wird. Trotz der (postmodernen) Vereinfachungen und Verzerrungen, die sie mit sich bringt, ist diese Zuordnung nicht völlig willkürlich: Denn Foucault, der Strukturalist und Systematiker 85 , kehrt das spätmodern-modernistische Verhältnis von Sub‐ jekt und Sprache um. Während Vertreter des literarischen Modernismus von Huysmans und Mallarmé bis Svevo und Woolf versuchten, sich jenseits von Kulturindustrie und Ideologie als Subjekte mit Hilfe der Sprache zu behaupten, wendet Foucault die Sprache gegen das Subjekt. Die Sprache stellt sich ihm nicht länger als Helferin des Subjekts in schwieriger Zeit dar, sondern als mit jeglicher Subjektivität unvereinbar. „Das Sein der Sprache als solches erscheint nur im Verschwinden des Subjekts“ („n’apparaît que dans la disparition du sujet“) 86 , heißt es in La Pensée du dehors. Im Zusammenhang mit Mallarmé stellt er schließlich apodiktisch fest: „Man weiß inzwischen, daß das Sein der Sprache im sichtbaren Verschwinden dessen, der spricht, besteht“ („est le visible effacement de celui qui parle“). 87 Zusammen mit der subjektiven Überwindung der bestehenden Verhältnisse in der Sprache erscheinen bei Foucault die religiösen und politischen Formen der Überwindung als Illusionen. Die spätmodernen Hoffnungen auf eine Überwin‐ dung des Bestehenden werden bei ihm sporadisch durch diffusen Widerstand, lokale Revolten und subversives Handeln ersetzt. 88 Verschwunden ist der spät‐ moderne Anspruch auf globale, qualitative Veränderung, die nur von kritisch reflektierenden Subjekten ausgehen kann. Daß diese Art von Subjektivität, für die Adorno trotz aller Skepsis plädiert, von postmodernen Denkern verabschiedet wird, läßt die psychoanalytische Studie Disidentità (1988) von Giampaolo Lai erkennen. In ihr wird das spät‐ moderne Streben nach Kohärenz, Authentizität und Identität grundsätzlich 1.3 Postmoderne Subjektlosigkeit oder: „Disidentità“ 37 <?page no="38"?> 89 G. Lai, Disidentità, Milano, Feltrinelli, 1988, F. Angeli, 1999, S.-24. 90 Ibid., S.-25. 91 Ibid., S.-13. 92 Ibid. 93 G. Vattimo, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Stuttgart, Metzler, 1992, S.-48. 94 G. Vattimo, Al di là del soggetto. Nietzsche, Heidegger e l’ermeneutica, Milano, Feltrinelli, 1991 (4. Aufl.), S.-48. 95 G. Lai, Disidentià, op. cit., S.-13. angezweifelt. Am Anfang steht die Frage nach dem Ursprung subjektiver Identitätsvorstellungen: „Woher stammt also der Gedanke, die Forderung nach notwendiger Permanenz, nach einer Identität, die hinter den Veränderungen zu suchen wäre, nach einer Selbstgleichheit hinter der Verschiedenheit, nach einer Kontinuität hinter den Diskontinuitäten, nach einer Einheit hinter der Vielheit? “ 89 Diese Forderung, meint Lai, gehe aus dem Identitätsvorurteil, dem pregiudizio identitario 90 , hervor. Er selbst versucht, einen Weg aufzuzeigen, der aus der von diesem Vorurteil dominierten psychologischen, psychiatrischen, philosophischen und literarischen Tradition hinausführt. Kurzum, es geht darum, durch einen - recht oberflächlichen - Rekurs auf modernistische Autoren wie Pirandello und Wilde 91 der gesamten Spätmoderne als problema‐ tischer, von Ambivalenzen geprägter Suche nach dem Ich abzusagen und eine Ära der disidentità, der „multiplen Persönlichkeit“ 92 , einzuläuten. Bei Lai wird diese neue Zeit zwar nicht als „Postmoderne“ bezeichnet, aber seine Ausführungen überschneiden sich in wesentlichen Punkten mit dem postmodernen Diskurs eines Gianni Vattimo, der in seinem Buch über Friedrich Nietzsche schreibt: „Das Bewußtsein ist ein Gebiet, auf dem sich unterschiedliche ‚Teile‘ des Ich bekämpfen, ohne daß gesagt werden kann, welches dieser verschiedenen Ichs das authentische ist.“ 93 Im Anschluß an Nietzsche hebt er in Al di là del soggetto (1981) den „grundsätzlich gespaltenen Charakter des Subjekts“ („carattere costitutivamente scisso del soggetto“) 94 hervor und bestätigt im philosophischen Kontext den von Lai verwendeten älteren Ausdruck der „multiplen Persönlichkeit“, der aus der Psychiatrie stammt. Lai selbst beschränkt sich nicht auf einen Kommentar zu seinen Fallbei‐ spielen. Er erblickt in der disidentità eine kulturelle Erscheinung, die man in dem hier konstruierten Kontext als postmodern bezeichnen könnte: „Die Identitäts‐ losigkeit (disidentità), wie wir sie beschreiben, ist kein Naturprodukt, sondern eine kulturelle, sprachliche und literarische Erscheinung, ein erzählerisches Moment, um das sich die Konversationen mit den Sprechenden drehen.“ 95 Er bringt sogar Beispiele aus dem politischen Alltag, wenn er in frappierender 38 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="39"?> 96 Zur ausführlicheren Darstellung dieses Modells vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne, op. cit., Kap. I und IV. 97 G. Lai, Disidentità, op. cit., S.-16. 98 Ibid. 99 Vgl. F. Remotti, Contro l’identità, Bari, Laterza, 1996, S. 103: „L’uscita dalla logica dell’identità consiste allora in una sorta di elogio della precarietà, che è poi la ‚libertà‘ a cui si è ricondotti o a cui si è condannati tutte le volte che si depongono, sia per un istante, maschere e finzioni.“ Für Remotti gibt es Identität nur als „Maske“ oder „Fiktion“. 100 G. Lai, Disidentità, op. cit., S.-103. Übereinstimmung mit dem hier vorgeschlagenen Modell 96 drei Generationen unterscheidet, von denen die erste nach Kohärenz strebt, die zweite von der Ambivalenz als unaufhebbarer Einheit der Gegensätze erfaßt wird, während die dritte der Indifferenz als Austauschbarkeit verfällt. Amerikanische Präsidenten, die um die Jahrhundertwende zur Welt kamen, etwa Eisenhower (1890) und Reagan (1911), streben noch nach Kohärenz und Identität. „Die folgende Generation, der Bill Clinton und die zwischen 1946 und 1964 geborenen Babyboomer angehören, die in den 80er Jahren zwischen 18 und 40 waren, und aus der zahlreiche westliche Regierungschefs hervorgegangen sind wie Bill Clinton, Massimo D’Alema und Tony Blair, ist von der Leidenschaft der Zersplitterung, der Inkohärenz und der Neigung geprägt, verschiedene Richtungen einzuschlagen (die Ehefrau und die kindliche Geliebte; der Sozia‐ lismus und die kriegerische Intervention). In unserer Terminologie ausgedrückt: Wenn Eisenhower und Reagan im Zeichen der Einheit und der starken Identität handelten, so handeln Clinton, D’Alema und Blair im Zeichen der Vielheit, der schwachen Identität oder der Identitätslosigkeit (disidentità).“ 97 Während die Politiker der Jahrtausendwende noch zwischen schwacher Identität und Identitätslosigkeit schwanken, bewegt sich die junge Generation der 90er Jahre (Lai bringt als Beispiel Monica Lewinski) im Bereich einer Nichtidentitält im Sinne der Austauschbarkeit, der Indifferenz: „dolcemente vagante nella passione del caos degli anni novanta“. 98 Ähnlich wie Vattimo erblickt Lai in diesem nachmodernen Chaos keine Ver‐ fallserscheinung, sondern eine Art „Befreiung vom Ich“, vom Identitätszwang. Wie Francesco Remotti, der in seinem Buch Contro l’identità (1996) auf anthro‐ pologischer Ebene gegen alle Identitätsvorstellungen im kollektiven Bereich plädiert 99 , verabschiedet er sich vom postmodernen Streben nach Kohärenz und Identität. Er rät zu einem „Austreten aus der Identitätslogik“ („uscita dalla logica dell’identità“). 100 Seine Studie zeugt von einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der sich ehemalige Angehörige der SS wortgewandt für Demokratie engagieren, während Politiker, die sich als liberal oder demokratisch bezeichnen, offen mit 1.3 Postmoderne Subjektlosigkeit oder: „Disidentità“ 39 <?page no="40"?> 101 A. Robbe-Grillet, Le Voyeur, Paris, Minuit, 1955, S.-35. 102 Ibid., S.-84. dem Nationalsozialismus und der SS liebäugeln (etwa der ehemalige Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider). Sie zeugt von einem Zustand, in dem ein Literaturwissenschaftler wie Paul de Man, der mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, allen Ideologien absagt und mit romantischer Ironie die Unent‐ scheidbarkeit als Aporie feiert. Diese Unentscheidbarkeit, die jede Art von in‐ dividueller oder kollektiver Subjektivität sprengt, ist natürlich modernistischen Ursprungs, weil sie ein Aspekt der extremen Ambivalenz ist. Während aber spät‐ moderne Autoren noch versuchten, jenseits der Ambivalenz religiöse (Claudel, Bernanos), politische (Brecht, Malraux) und ästhetische (Proust, Sartre) Werte zu setzen, aus denen eine neue Subjektivität hervorgehen konnte, verzichten die Postmodernen auf Wertsetzung und Subjektivität. Zusammen mit den im Modernismus proklamierten Werten erscheint ihnen die modernistische Identitätssuche als Anachronismus. In diesem Kontext könnte der Hauptakteur von Alain Robbe-Grillets Roman Le Voyeur (1955), einer der ersten postmodernen „Helden“, als ein Beispiel für Vattimos soggetto scisso und Lais disidentità angeführt werden. Der Handels‐ reisende Mathias ist insofern ein gespaltenes Subjekt, als er zwei teilweise unvereinbaren Impulsen gehorcht: Er versucht während seines eintägigen Aufenthalts auf einer Insel, den Inselbewohnern möglichst viele Armbanduhren zu verkaufen; zugleich wird er von dem Verlangen getrieben, ein Mädchen namens Violette mit Pflöcken und Stricken an den Boden zu fesseln und zu ver‐ gewaltigen. So verdoppelt sich das narrative Programm des voyeur-voyageur: Während der Handelsreisende Mathias die Zeit optimal nutzen möchte, um einen möglichst hohen Absatz zu erzielen, betrachtet der Sexualtäter Mathias Raum und Zeit ausschließlich aus der Sicht des geplanten Verbrechens: violer Violette. „Mathias tenta d’imaginer cette vente idéale qui ne durait que quatre minutes (…)“ 101 , heißt es gleich zu Beginn des Romans. Zu dieser Vorstellung gesellt sich alsbald die sexuelle Obsession: „Violette avait les jambes ouvertes mais appliquées néanmoins toutes les deux contre le tronc, les talons touchant la souche mais écartés l’un de l’autre de toute la largeur de celle-ci - quarante centimètres environ.“ 102 Auf narrativer Ebene werden die beiden Programme auf polyseme Art miteinander verflochten, so daß die zentrale Frage, ob, wann und wie Mathias das Mädchen umgebracht hat, offen bleibt. Möglicherweise erschöpft sich seine Täterschaft im Phantasma eines verklemmten Handelsrei‐ senden… 40 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="41"?> 103 Ibid., S.-224. 104 A. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris, Gallimard, 1963, S.-33. 105 J. Ryan, „Pastiche und Postmoderne. Patrick Süskinds Roman Das Parfum“, in: P. M. Lützeler (Hrsg.), Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt, Fischer, 1991, S. 99. Das Pastiche ist auch - wie Prousts Werk erkennen läßt - für die Spätmoderne charaktersitisch, und U. Link-Heer zeigt in „Pastiches und multiple Persönlichkeiten als Kulturmodell an zwei Jahrhundert‐ wenden“, in: V. Borsò, B. Goldammer (Hrsg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahr‐ hundert, Baden-Baden, Nomos, 2000, S. 254, wie Pastiche, Subjektspaltung und multiple Persönlichkeit um 1900 zusammenhängen: „Auch unter dem zentralen Aspekt der Subjekt- und Identitätsbildung unter den Bedingungen der Moderne erscheint die Konfiguration von Pastiche und multipler Persönlichkeit als modellhaft.“ Dieser Handelsreisende ist aber ein gespaltenes Subjekt ohne Identität: ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, ohne Charakter und ohne Beziehung zu den anderen. Auch diese anderen sind ohne Identität: „Deux personnages sont debout face à face: Jean Robin - qui s’appelle Pierre - et, beaucoup plus petite, la très jeune femme sans identité.“ 103 Inszeniert werden im Roman Kommunika‐ tionssituationen zwischen gespaltenen Subjekten im Sinne von Vattimo ( Jean Robin heißt Pierre) und identitätslosen Akteuren. In Pour un nouveau roman fragt sich Robbe-Grillet, wie viele Leser sich noch an die Namen der Erzähler von La Nausée und L’Etranger erinnern. Es wäre absurd, sagt er, in diesen Erzählern Menschen oder Charaktere erkennen zu wollen. Schon Kafkas Romane, schon die existentialistischen Romane kündigen also den programmatischen Satz des nouveau romancier an: „Der Personen‐ roman gehört sicherlich der Vergangenheit an, denn er ist für eine bestimmte Epoche kennzeichnend: die Epoche, in der die Entfaltung des Individuums ihren Höhepunkt erreichte.“ 104 Als postmoderne Gattung zeugt der nouveau roman vom Niedergang des Individuums, von der Spaltung des Subjekts und dem Zerfall der Identität: der disidentità. Diese nimmt in Patrick Süskinds Das Parfum (1985) eine besondere Form an. Man hat diesen Roman aufgrund seiner intertextuellen Anspielungen und Par‐ odien als postmodern bezeichnet. So meint beispielsweise Judith Ryan, im Be‐ reich der Subjektivität auch Subjekt-Parodien aus Süskinds Text herauslesen zu können: „Das gespaltene Ich der Romantik wird zunächst durch das aufgelöste, unbestimmbare Ich des Ästhetizismus ersetzt. Daraus jedoch zu schließen, daß dieser Roman eine neue Vorstellung der menschlichen Subjektivität entwickle, hieße Unterscheidungen verwischen, die im Parfum doch noch aufrechterhalten werden.“ 105 Sie beschreibt den Bildungsweg des Hauptakteurs Grenouille als eine Entwicklung von der „romantisch gespaltenen Künstlerpersönlichkeit“ 1.3 Postmoderne Subjektlosigkeit oder: „Disidentità“ 41 <?page no="42"?> 106 Ibid. 107 P. Süskind, Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders, Zürich, Diogenes, 1985, 1994, S.-57. 108 Ibid. 109 Ibid., S.-33. 110 Ibid., S.-34. zur „ästhetizistische(n) Auflösung“ des Ichs, das „schließlich als postmodernes ‚kannibalisiertes‘ Ich seinen Tod“ 106 findet. Wie kommt aber die Parodie der romantischen und ästhetizistischen Sub‐ jektivität zustande? Sie ist die Folge einer drastischen Karnevalisierung und Trivialisierung des Kunst- und Subjektbegriffs. Die Kunst, die von Romanti‐ kern und Modernisten (Ästhetizisten, Symbolisten, Existentialisten) mit Sehen und Hören, mit Literatur, Malerei und Musik assoziiert wurde, wird in Das Parfum auf den Geruchssinn reduziert. Grenouille, der „bisher bloß animalisch existiert“ 107 hatte, entdeckt recht bald, „daß sein Leben Sinn und Zweck und Ziel und höhere Bestimmung habe: nämlich keine geringere, als die Welt der Düfte zu revolutionieren; und daß er allein auf der Welt dazu alle Mittel besitze: nämlich seine exquisite Nase (…).“ 108 Man mag diese Passage durchaus als Parodie modernistischer Künstlerromane lesen (etwa von La Nausée), die vor allem dadurch zustande kommt, daß Kunst durch Parfumerie ersetzt wird. Dies geschieht in einer Situation, in der kulturelle Werte und vor allem die Sprache, die für Mallarmé, Proust, Woolf und Sartre so wichtig war, vom Par‐ fumkünstler abgewertet und der Indifferenz überantwortet werden: „So lernte er sprechen. Mit Wörtern, die keinen riechenden Gegenstand bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und moralischer Natur, hatte er die größten Schwierigkeiten. Er konnte sie nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie als Erwachsener ungern und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut, Dankbarkeit usw. - was damit ausgedrückt sein sollte, war und blieb ihm schleierhaft.“ 109 Der Umstand, daß die Sprache die Mannigfaltigkeit der Gerüche nur sehr mangelhaft auszudrücken vermag, ließ „den Knaben Grenouille am Sinn der Sprache überhaupt zweifeln“. 110 Beschrieben wird hier die gesellschaftliche und sprachliche Situation in einer nachmodernen Ära der Austauschbarkeit, in der Werte und die Wörter, die sie bezeichnen, „verwechselt“ werden; in der an der Sprache als solcher gezweifelt wird. Es ist die Ära einer sich abzeichnenden Sprachlosigkeit, in der audiovisuelle Medien und olfaktorische Künste die Wortkunst ins Abseits drängen. Während Modernisten wie der junge Sartre noch versuchten, über die dahinvegetierende existence mit Hilfe des Wortes hinauszugelangen, verharrt 42 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="43"?> 111 Ibid., S.-90. 112 Vgl. z. B. W. Fluck „Literarische Postmoderne und Poststrukturalismus: Thomas Pyn‐ chon“, in: K. W. Hempfer (Hrsg.), Poststrukturalismus - Dekonstruktion - Postmoderne, Stuttgart, Steiner, 1992. 113 Th. Pynchon, Gravity’s Rainbow, London, Pan Books-Picador, 1973, S.-434. der sprachlose Grenouille in der „animalischen Existenz“ des Geruchs. Immer wieder wird er, der junge Mädchen mordet, um sich ihren Geruch anzueignen, mit der Zecke verglichen: „Der Zeck hatte Blut gewittert.“ 111 Hier wird mensch‐ liche Subjektivität inmitten von Wertindifferenz und Sprachlosigkeit auf ihr animalisches Minimum zurückgeführt: auf mechanische Triebhaftigkeit. In dieser Hinsicht erinnert Grenouille an den Voyeur-Voyageur in Robbe-Grillets Roman: Beide „Protagonisten“ zeichnen sich durch Triebhaftigkeit, Automa‐ tismus und Subjektlosigkeit aus. Während Mathias mechanischen, biologischen und ökonomischen Gesetzen gehorcht, folgt Grenouille seinem Geruchssinn wie ein Hund. Letztlich sind sie beide Residualhelden einer Wirtschaftsgesellschaft, deren Marktgesetze zusammen mit dem Wertsystem auch Sprache und Subjek‐ tivität aushöhlen. Die Reduktion kultureller Subjektivität aufs Natürlich-Animalische ist jedoch nicht die einzige Reaktion postmoderner Literatur auf das Subjektproblem. Manche ihrer Texte setzen die modernistischen Experimente mit der „multiplen Persönlichkeit“, dem zerfallenden Subjekt, fort. Sie zeugen von einer genuinen disidentità im Sinne von Lai. Es gibt mehrere Modelle dieser literarischen Identitätslosigkeit. So stehen beispielsweise in Thomas Pynchons als postmodern rezipiertem Werk 112 Gravity’s Rainbow zwei subjektive Zustände einander gegenüber: Paranoia und Anti-Paranoia. Während das individuelle Subjekt im ersten Zu‐ stand einer Zwangskohärenz zum Opfer fällt, die Offenheit und Vieldeutigkeit ausschließt und alle Zeichen zu Symptomen eines Sachverhalts oder Sinnes werden läßt, verfällt es im Zustand der Anti-Paranoia der Inkohärenz. Slothrop, einer der Protagonisten, oszilliert zwischen diesen beiden Zuständen: „If there is something comforting - religious, if you want - about paranoia, there is still also anti-paranoia, where nothing is connected to anything, a condition not many of us can bear for long. Well right now Slothrop feels himself sliding onto the anti-paranoid part of his cycle (…).“ 113 Der Zustand der Anti-Paranoia stellt Subjektivität zunächst durch Bezie‐ hungslosigkeit, Fragmentierung und Pluralisierung in Frage. So viele verschie‐ dene oder mögliche Welten konkurrieren miteinander, daß der Einzelne außer‐ stande ist, sie alle aufeinander zu beziehen. Brian McHale sieht es so: „The breakthrough will not come until Pynchon’s next novel, Gravity’s Rainbow, 1.3 Postmoderne Subjektlosigkeit oder: „Disidentità“ 43 <?page no="44"?> 114 B. McHale, Postmodernist Fiction, London, Methuen, 1987, Routledge, 1993, S.-24-25. 115 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart, Reclam, 1971, S.-171. 116 F. Lyotard, Das Inhumane, Wien, Passagen, 1989, S.-184. 117 J. Tabbi, Postmodern Sublime. Technology and American Writing from Mailer to Cyberpunk, Ithaca-London, Cornell, 1995, S.-78. where, no longer constrained by the limits of modernism, he will freely exploit the artistic possibilities of the plurality of worlds, the transgression of bounda‐ ries between worlds, the ‚kiss of cosmic pool balls‘.“ 114 Zwischen diesen Welten aber wird das Subjekt zerrieben und der von Lai analysierten postmodernen disidentità überantwortet. Möglicherweise scheitert es am Naturwüchsig-Erhabenen einer kapitalisti‐ schen Gesellschaft, die - wie Kants Erhabenheit der Natur - den Betrachter widersprüchlichen Regungen aussetzt und als Einheit in Frage stellt. „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.“ 115 Das Erhabene vereinigt im Betrachter Lust und Schrecken; es gefällt und schreckt zugleich ab. In diesem Zusammenhang bemerkt Lyotard: „Es ist etwas Erhabenes in der kapitalistischen Ökonomie.“ 116 Denn diese Ökonomie setzt den Einzelnen widersprüchlichen Erfahrungen, Erkenntnissen und Wer‐ tungen aus: ähnlich wie Pynchons Roman, dessen Protagonisten aus dem „erhabenen“ Zustand der Anti-Paranoia nur in die Paranoia flüchten können, in der Subjektivität atrophiert. Joseph Tabbi scheint Lyotards Argumentation im fiktionalen Bereich fortzusetzen, wenn er zu zeigen versucht, wie in Gravity’s Rainbow der Zerfall aller Sinnsysteme schließlich auch den „menschlichen“ Sinn destruiert: „Pynchon’s sublime does not construct a world system but subverts the status quo of all systems, be they scientific, linguistic, or ideologically inscribed as ‚human‘.“ 117 An dieser Stelle wird deutlich, weshalb das Erhabene (im Sinne von Lyotard) im postmodernen Kontext wiederentdeckt, aktualisiert wird: Es ist ein Aspekt der Indifferenz als Austauschbarkeit von Wertsetzungen. Wo der Einzelne die auf ihn eindringenden Ereignisse und Tatsachen weder in einen Sinnzusam‐ menhang (métarécit) eingliedern noch bewerten kann, dort erscheinen sie ihm als naturwüchsige Phänomene jenseits von menschlicher Intention und Subjektivität. Anders als in der Spätmoderne ist das Subjekt der nachmodernen Autoren nicht mehr in der Lage, ästhetischen, politischen oder religiösen Sinn in die Welt zu projizieren. Es kapituliert vor der schier undurchschaubaren Heterogenität, die es nun als „erhaben“ bezeichnet. Von dieser Kapitulation zeugt vor allem auf narrativer Ebene Michel Butors Roman Degrés (1960), dessen Erzähler Pierre Vernier an dem scheinbar einfa‐ chen Vorhaben scheitert, die Schulklasse, die er als Gymnasiallehrer betreut, 44 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="45"?> 118 M. Butor, Degrés, Paris, Gallimard, 1960, S.-225-226. 119 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, München, DTV (Gesamtausgabe XXI), 1968 (2. Aufl.), S.-16. 120 Vgl. J. Becker, „Gegen die Erhaltung des literarischen status quo“, in: L. Kreutzer (Hrsg.), Über Jürgen Becker, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 19: „Erst jenseits des Romans findet das Schreiben den Sinn des Authentischen; erst seine aufgelösten Kategorien entlassen den utopischen Text, der jedem Roman schon eingeschrieben ist.“ vollständig zu beschreiben. Er möchte nach Verwandtschaftsgraden (degrés) vorgehen, um durch die allmähliche Ausdehnung von ineinandergreifenden Totalitäten schließlich den Gesamtzusammenhang zu erfassen. Dabei lehnt er Werturteile und wertende Interpretationen ab; er möchte nur das zulassen, was sich empirisch einwandfrei nachweisen läßt. Doch mit diesem von der „Paranoia“ beseelten Anspruch scheitert er an einer Wirklichkeit, die als solche, als objektive Welt, keinen Sinnzusammenhang preisgibt. Die Sprache läßt den ersten Erzähler Pierre Vernier im Stich, so daß sein Neffe Pierre Eller, an den er die Erzählerfunktion delegiert, feststellen muß: „(…) Mais bientôt, malgré tout ton désir d’avancer, les mots ont commencé à se brouiller sous ton regard, à se perdre dans ton esprit (…).“ 118 Der paranoiden Phase folgt ein Zustand der „Anti-Paranoia“ im Sinne von Pynchon, und das Erzählen als Streben nach Sinnkonstitution löst sich in diesem Zustand auf. Denn auch dem dritten Erzähler Henri Jouret gelingt es nicht, die von Vernier vermuteten familiären und sozialen Zusammenhänge aufzudecken oder zu rekonstruieren. Man könnte dieses Scheitern des dreifachen Erzählers in Butors Degrés ei‐ nerseits mit Pynchons Anti-Paranoia, andererseits mit Lais disidentità erklären. Das subjektive Streben nach Sinn zerbricht an einer heterogenen und opaken Wirklichkeit, die als solche nicht sinnvoll ist. Sie erscheint dem Subjekt aber nicht mehr als mit Sinn erfüllt, weil es im postmodernen Kontext nicht mehr in der Lage ist, auf axiologischer und sprachlicher Ebene Sinn zu konstituieren. Wo Werte austauschbar, in-different werden, verlieren auch die Wörter, die sie bezeichnen, ihre Aussagekraft und lassen das erzählende und handelnde Subjekt im Stich. Zusammen mit diesem Subjekt wird der Roman als Erzählung und Handlung, d. h. als „subjektive Epopee“ 119 im Sinne von Goethe, in Frage gestellt. Deshalb löst ihn Jürgen Becker Anfang der 70er Jahre in der Prosa auf 120 , in einer experimentellen Prosa, in der sich Subjektivität nur noch als Multipli‐ zität und disidentità manifestiert. Er scheint an die Problematik von Degrés anzuknüpfen, wenn er in den Feldern zusammen mit dem Ort der Wahrnehmung den Wahrnehmenden auflöst: „Das Wahrnehmen allen Geschehens, des gegen‐ wärtigen wie des vergangenen, bringt jeden festen Ort, an dem es vielleicht 1.3 Postmoderne Subjektlosigkeit oder: „Disidentità“ 45 <?page no="46"?> 121 J. Becker, Felder, Ränder, Umgebungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S.-80. 122 Vgl. H.-U. Müller-Schwefe, Schreib’ alles. Zu Jürgen Beckers „Rändern“, „Feldern“, „Umgebungen“, München, Fink, 1977, S.-120-128. 123 J. Becker, Felder, Ränder, Umgebungen, op. cit., S.-292. 124 J. Barth, Lost in the Funhouse, New York-London-Toronto, Doubleday-Anchor, 1988, S.-93. 125 Ibid., S.-97. sich einrichten ließe (Abhörzentrale, Schöne Aussicht), zum Verschwinden. Ja, immer auf Trab. Der Wahrnehmende selber löst sich auf (…).“ 121 Ähnlich wie die spätmodernen Romanautoren, ähnlich wie Robbe-Grillet und Butor macht auch Becker das Schreiben immer wieder zum Thema. 122 Wie schon im Nouveau Roman büßt es jedoch die metaphysischen Konnotationen der Spätmoderne ein und hört auf, eine Stütze des schreibenden Subjekts zu sein. Im Gegenteil: Der Schreibprozeß führt immer wieder zu der Einsicht, daß die erzählenden und handelnden Instanzen vielfältig, identitätslos sind: „Bei dieser Schreibweise ist es schwer beim Thema zu bleiben, denn sobald die Rede auf einen bestimmten Bereich kommt, ist er sofort durchdrungen von der sich einmischenden Nachbarschaft anliegender Stimmen.“ 123 Wie in Degrés verliert sich auch hier das Subjekt im weiten Feld der Sprache, die es nicht mehr für seine Zwecke zu instrumentalisieren vermag. Literatur als sprachliche Suche nach Identität und Erlösung gehört einer spätmodernen Vergangenheit an. Kein Text zeugt eindeutiger von diesem Bruch zwischen Spätmoderne und Postmoderne als John Barths Lost in the Funhouse. Der zum Schriftsteller prädestinierte Ambrose entdeckt - wie die Protagonisten spätmoderner Künstlerromane oder Künstlernovellen -, daß er ein Outsider dieser Gesellschaft ist: „Ambrose understood not only that they were all so relieved to be rid of his burdensome company that they didn’t even notice his absence, but that he himself shared their relief.“ 124 An dieser Stelle unterscheidet sich Ambrose kaum von James Joyces Stephen, Prousts Marcel oder Thomas Manns Tonio Kröger. Was ihn von diesen Künstlergestalten trennt, ist seine postmoderne Auffas‐ sung der Kunst als funhouse. Er weiß wie seine literarischen Vorgänger, daß er am fun des funhouse nicht teilnehmen kann: „He wishes he had never entered the funhouse. But he has. Then he wishes he were dead. But he’s not. Therefore he will construct funhouses for others and be their secret operator - though he would rather be among the lovers for whom funhouses are designed.“ 125 Literatur als funhouse? Weshalb nicht, würden die Postmodernen sagen und sich auf John Barth berufen, der sich auf die vormodernistische „middle class 46 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="47"?> 126 J. Barth, „The Literature of Replenishment. Postmodernist Fiction“, in: Atlantic Monthly, Januar, 1980, S.-70. 127 M. Proust, A la recherche du temps perdu III, op. cit., S.-895. 128 Ibid., S.-880. 129 Vgl. J. Wertheimer, P. V. Zima (Hrsg.), Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft, München, Beck, 2001. 130 J. Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man, London, Penguin, 1972, S.-65. 131 F. de Azúa, Historia de un idiota contada por él mismo o El contenido de la felicidad, Barcelona, Anagrama, 1986, S.-125. popular culture“ 126 berief, als es galt, die Negativität der spätmodernen Literatur zu überwinden. Literatur soll wieder unterhalten. Sie ist nicht mehr Mallarmés großer Weigerung verpflichtet; sie ist auch nicht mehr mit Proust als „la vraie vie, la vie enfin découverte et éclaircie“ 127 , als „la plus austère école de la vie, et le vrai Jugement dernier“ 128 aufzufassen, sondern als Zeitvertreib. Aber gegen diese Vereinnahmung durch die Fun-Gesellschaft 129 haben die Modernisten schon immer revoltiert. Etwa Joyces Stephen, der bald erkennt „that he was different from others“, zugleich aber feststellt, daß das Spiel nichts für ihn ist: „He did not want to play. He wanted to meet in the real world the unsubstantial image which his soul so constantly beheld.“ 130 Die Suche nach dieser „unsubstantial image“, die bald religiöse, bald politische, bald ästhetische Formen annehmen kann, ist der Postmoderne abhanden gekommen. Da sie Literatur als Experiment im Sinne des Nouveau Roman oder als experimentelle Unterhaltung im Sinne von Barth begreift, kann sie sie nicht als Wahrheitssuche eines kritischen Subjekts betrachten, das sich gegen die beste‐ henden Verhältnisse auflehnt. Subjektivität zerfällt entweder in der disidentità des Sprachexperiments oder wird durch die Aktualisierung alter Erzählformen zu Unterhaltungszwecken wiederbelebt. Für die postmoderne Literatur ist die laipdare Feststellung von Felix de Azúas Ich-Erzähler charakteristisch: „Escribo SIN RAZÓN.“ („Ich schreibe OHNE GRUND.“) 131 Für die Funhouse-Literatur à la Barth, der Azúas Werk nicht angehört, haben sich Autoren wie Umberto Eco oder John Fowles entschieden. Beide stellen Subjektivität im Rahmen tradierter Erzählmuster dar und würden si‐ cherlich Robbe-Grillets These, der zufolge „der Personenroman sicherlich der Vergangenheit angehört“, als avantgardistische Übertreibung zurückweisen. Sind die Helden von Il nome della rosa, von A French Lieutenant’s Woman nicht „Personen“, wie sie die „middle class popular culture“ kennt und fordert? Es sind Personen, deren ironisch inszenierter Anachronismus die Krisen des Einzelsubjekts in der zeitgenössischen Gesellschaft verschleiert. Während Pynchons, Süskinds oder Robbe-Grillets Darstellungen der disidentità noch die Negativität nachmoderner Zustände erkennen lassen und dadurch die Spätmo‐ 1.3 Postmoderne Subjektlosigkeit oder: „Disidentità“ 47 <?page no="48"?> 132 U. Eco, Nachschrift zum „Namen der Rose“, München, DTV, 1987 (8. Aufl.), S.-78. 133 J. Fowles, The French Lieutenant’s Woman, London, Picador-Jonathan Cape, 1992, S. 85. derne als Kritik (ohne Anspruch auf Überwindung, ohne Utopie) fortsetzen, richten sich Autoren wie Eco und Fowles im eindimensionalen Funhouse ein. Von der negativen Ästhetik der Modernisten wenden sie sich ab und aktualisieren tradierte Erzählmuster, um die Leserschaft zu unterhalten. Sie tun es „mit Ironie, ohne Unschuld“ 132 , wie Eco sagt, und deuten so an, daß alles, was sie schreiben, cum grano salis rezipiert werden sollte. Vielleicht ist es nur ein Spiel, bemerkt der Erzähler-Autor in Fowles’ A French Lieutenant’s Woman: „So perhaps I am writing a transposed autobiography; perhaps I now live, in one of the houses I have brought into the fiction; perhaps Charles is myself disguised. Perhaps it is only a game.“ 133 Wie der fiktive Amb‐ rose (der Barth nachempfunden ist) konstruieren Eco und Fowles funhouses und bedienen sich dabei der membra disiecta des zerfallenen bürgerlichen Romans. Dieser hat aufgehört, eine „subjektive Epopee“ im Sinne von Goethe zu sein, denn diese Epopee war eine Suche nach Wahrheit und Identität. 48 1 Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne <?page no="49"?> Erster Teil: Negation als Kritik <?page no="51"?> 1 P. Favardin, L. Boüexière, Le Dandysme, Lyon, La Manufacture, 1988, S. 87: „Baudelaire est avant tout poète. Baudelaire n’est pas un dandy de tempérament, mais il a besoin du dandysme.“ 2 R. R. Wuthenow, Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus, Frankfurt, Suhr‐ kamp, S.-190. 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons Die vielfältigen Beziehungen zwischen Dandy und Künstler sind in der Ver‐ gangenheit häufig zum Gegenstand historischer, philosophischer und literatur‐ wissenschaftlicher Betrachtungen gemacht worden. 1 Dabei fiel den meisten Autoren der narzißtische Einschlag beider Gestalten auf, deren Verwandtschaft vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher zutage trat. Man hat diese Verwandtschaft immer wieder im Zusammenhang mit dem „Ästhetizismus“ dargestellt und erklärt, einem Begriff, der im Laufe der Zeit zum gemeinsamen Nenner verschiedener Weltbilder wurde, in denen die Ab‐ lehnung des Utilitarismus und des Demokratismus, des Häßlichen und des Mittelmäßigen zum Ausdruck kommt. Es geht hier nicht darum, die Hauptcharakteristika des „Ästhetizismus“, die Autoren wie R. V. Johnson (Aestheticism, Methuen, 1969), E. Carassus oder R. R. Wuthenow im philosophischen oder historischen Zusammenhang erörtert haben, noch einmal zu beschreiben, sondern darum, die Beziehungen zwischen Dandy, Narziß und Künstler auf soziologischer und ideologiekritischer Ebene zu erklären. Dabei wird sich herausstellen, daß der Begriff „Ästhetizismus“ keineswegs eine homogene kulturelle Erscheinung bezeichnet, sondern ein Ensemble von Weltbetrachtungen, die einander teilweise ausschließen und als Gegensätze dar‐ stellbar sind. Es wird sich zeigen, daß der Dandy zwar eine „Verkleidungsform des Künstlers“ und eine „Erscheinungsweise des Ästhetentums“ ist, um es mit R. R. Wuthenow zu sagen 2 , daß er aber zugleich als Widerpart des produzierenden Schriftstellers oder Künstlers aufgefaßt werden kann. Der Gegensatz zwischen dem Dandy Montesquiou und dem Dichter Mal‐ larmé soll in Erscheinung treten, ebenso wie die Distanz zwischen Proust und Wilde oder Proust und Huysmans: eine Distanz, die der Begriff „Ästhetizismus“ reduziert und in ein undifferenziertes Nebeneinander verwandelt. Die Verwendung von Sammelbezeichnungen wie „Realismus“, „Natura‐ lismus“ oder „Ästhetizismus“ wird, wie unvermeidlich sie in der Literaturge‐ <?page no="52"?> schichte oder der Komparatistik auch scheinen mag, problematisch, wenn sich herausstellt, daß „ein Werk der Todfeind des anderen“ ist (Adorno): daß das Wesentliche nicht im gemeinsamen Nenner, sondern in der Differenz erscheint. Um den Unterschied zwischen den einzelnen Texten geht es hier in erster Linie, wobei ihr gemeinsamer Ursprung in einer spätmodernen sprachlichen Situation nicht geleugnet werden soll. In den Unterschieden und Gegensätzen zwischen den Autoren und Werken ist deren gesellschaftlicher Modus auszumachen und nicht in einem Sammelbegriff wie „Ästhetizismus“ oder „Realismus“, dem sie häufig aus kommerziellen, institutionellen oder ideologischen Gründen subsumiert werden. Viele Schriftsteller traten als Dandies auf; viele Dandies hielten sich für Dichter. Dennoch schien es bisher sinnvoll, von der Annahme auszugehen, daß es zwischen Dandy und Dichter einen grundsätzlichen Unterschied gibt. Dieser ist allerdings noch nicht in einem gesellschaftlichen Kontext erklärt worden. - Weshalb hielt man den Dandy für frivol und die Werte, die er vertrat, für ephemer, während man dem Dichter im allgemeinen mehr Achtung zollte? Weshalb erscheint der Dandy in manchen literarischen Texten als ein verhinderter Künstler, während George Brummell dazu neigt, die künstlerische Arbeit zu verachten? - Und schließlich: Welche gesellschaftliche Rolle spielt der Narzißmus im Dasein des Dandy und des Künstlers? Anders ausgedrückt: Wie unterscheidet sich der Narzißmus eines Dandy von dem eines Künstlers? Diese Fragen sollen im Zusammenhang mit der folgenden Hypothese erörtert werden: Sowohl das Dandytum als auch die Literatur, die man bisher - faute de mieux - als „ästhetizistisch“ bezeichnet hat, haben einen narzißtischen Cha‐ rakter und können als zwei oft unvereinbare Revolten gegen den Utilitarismus des aufstrebenden Bürgertums und die Herrschaft des Tauschwerts in der sich konsolidierenden Marktgesellschaft aufgefaßt werden. Es geht darum zu zeigen, daß die Texte von Autoren wie Mallarmé, Hu‐ ysmans, Proust und George als Proteste gegen die kommerzialisierte Öffent‐ lichkeit gelesen werden können, als stille Revolten von isolierten und sich isolierenden Künstlern, deren Suche nach der echten (qualitativen) Wertskala später in einem anderen Kontext von den Avantgarde-Bewegungen fortgesetzt wird. Dabei läßt vor allem Huysmans’ Entwicklung erkennen, daß die Kritik an der Tauschgesellschaft nicht in allen Fällen zu einer Parteinahme für die Literatur, für das Schreiben führt, sondern sich an Werten orientieren kann, die jenseits des ästhetischen Bereichs zu finden sind. Dies bedeutet, daß die ästhetische oder künstlerische Reaktion auf die Krise der Werte in der spätmodernen Marktgesellschaft nur eine mögliche Reaktion ist, die politische, religiöse oder metaphysische Reaktionen ergänzen. 52 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="53"?> 3 Ch. Baudelaire, „Le Dandy“, in: Œuvres complètes II, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1976, S.-711. 2.1 Der Dandy als Künstler In einer soziologischen und historischen Betrachtung ist es zunächst wichtig, die gesellschaftlichen Determinanten des Dandy-Daseins näher zu bestimmen, damit das Dandytum nicht (wie etwa in Carlyles einseitiger Kritik) als reine Modeerscheinung verkannt wird. Natürlich lebt der Dandy von der Mode, die er zu beherrschen sucht und die ihn in Wirklichkeit beherrscht. Er ist aber kein bloßes Modeprodukt, ebensowenig wie der Schriftsteller, der sich hin und wieder am Geschmack seines Publikums orientiert. Denn beiden ist es in erster Linie darum zu tun, ihre Subjektivität auszudrücken und eine Identität zu finden, die in der von der Nachahmung und vom Stereotyp beherrschten Marktgesellschaft endgültig verlorenzugehen droht. Die Reaktion der Dandies auf die Herrschaft des Marktes weist - ähnlich wie die der ästhetisierenden, nach Autonomie strebenden Kunst - drei Aspekte auf: 1. Aristokratismus; 2. Antiutilitarismus; 3. Narzißmus und das Streben nach Einmaligkeit (Unverwechselbarkeit). 2.1.1 Aristokratismus Als erster hat wohl Charles Baudelaire eine Affinität zwischen dem Dandyismus und dem vom Bürgertum bedrängten, vom Untergang bedrohten Adel erkannt. In seiner oft zitierten Darstellung des Dandy erscheint dieser als ein Rebell, der gegen die Uniformität der bürgerlichen, demokratischen Gesellschaft auf‐ begehrt und sich dabei an einem Adel orientiert, der seine politische Macht noch nicht völlig eingebüßt hat: „Le dandysme apparaît surtout aux époques transitoires où la démocratie n’est pas encore toute-puissante, où l’aristocratie n’est que partiellement chancelante et avilie.“ Es folgt der bekannte Satz: „Le dandysme est le dernier éclat d’héroïsme dans les décadences…“ 3 . Sieht man sich die Geschichte des Dandyismus näher an, so stellt sich heraus, daß er aus dem Spannungsverhältnis zwischen Adel und Bürgertum hervorging und nur dort gedeihen konnte, wo sich die Abtrünnigen und die Rebellen der Gesellschaft am Aristokratismus einer zerfallenden politischen Klasse orientieren konnten. George Brummells mondäne Karriere ist für das von Baudelaire skizzierte soziale Interregnum typisch. Es hat sich gezeigt, daß Salonsnobismus und Dandytum für eine Gesellschaft charakteristisch sind, in der der alte Adel sowohl im politischen als auch im 2.1 Der Dandy als Künstler 53 <?page no="54"?> 4 Vgl. Vf., Le Désir du mythe. Une lecture sociologique de Marcel Proust, Paris, Nizet, 1973. 5 G. Franci, „The Dandy, an Improbable Life“, in: Comparison 11 (Univ. of Warwick), Summer, 1980, S.-25. 6 J. Barbey d’Aurevilly, Du Dandysme et de George Brummell, Paris, F. Bernouard, 1927, S.-244. kulturellen Leben noch eine bedeutende Rolle spielt 4 . Ein Teil des aufstrebenden und wirtschaftlich erstarkenden Bürgertums, den man mit Thorstein Veblen als die „leisure class“ bezeichnen könnte, ziert sich mit käuflichen Adelstiteln und nimmt aristokratische Allüren an, um seinem Anspruch auf soziale Gleich‐ berechtigung auf kultureller Ebene Nachdruck zu verleihen. Obwohl George („Beau“) Brummell nicht gerade zu den Reichsten seiner Gesellschaft gehörte, zeugt seine Entwicklung von den neuen Ambitionen des englischen Bürgertums der Regency-Zeit und des beginnenden 19. Jahrhun‐ derts. Sie zeigt außerdem, daß Dandytum und Snobismus einander keineswegs ausschließen, wie Giovanna Franci meint, wenn sie im Anschluß an Thackeray schreibt: „The Snob is he, who feeling himself inferior, tries to hide the fact under the mask of pretence.“ 5 Denn gerade diese herabsetzende Definition, die den Unterschied zwischen dem tonangebenden Dandy und dem kriecherisch nachahmenden Snob plau‐ sibel machen soll, ist zumindest teilweise auf Brummell, den ersten und wohl bekanntesten Dandy, anwendbar. Wie so viele seiner bürgerlichen Zeitgenossen betrachtet er den Adel als seine „Bezugsgruppe“: als eine Gruppe, deren Lebens‐ stil der Außenseiter nachahmt in der Hoffnung, eines Tages als vollwertiges Mitglied und als „Insider“ anerkannt und behandelt zu werden. Brummells Streben nach adeliger Anerkennung wird in allen Einzelheiten von Barbey d’Aurevilly in seiner bekannten Schrift Du Dandysme et de George Brummell beschrieben. Sein Umgang mit dem Prince of Wales öffnet ihm die Türen der adeligen Gesellschaft, deren „faveurs“ er - anfangs jedenfalls - keineswegs verschmäht: „Tant de distinction groupe immédiatement autour de lui, sur le pied de la familiarité la plus flatteuse, l’aristocratie des salons: lord Petersham, lord R. D. Somerset, Charles Ker, Charles et Robert Manners.“ 6 Freilich kann es sich der erfolgreiche Dandy später leisten, seine ehemaligen Gönner zu vernachlässigen; in manchen Fällen traktiert er sie sogar - wie Brummell - mit der für den Dandy charakteristischen „impertinence“ oder „froideur“. Der Unterschied zwischen Snob und Dandy ist daher nicht absolut: Der Snob ist ein „Dandy in spe“, einer der noch nicht „angekommen“ („arrivé“) ist, einer, der noch auf die Anerkennung der „Gesellschaft“ wartet. Umgekehrt ließe sich der Dandy als ein erfolgreicher Snob definieren, der es nicht mehr 54 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="55"?> 7 J. Lever, Dandies, London, Weidenfeld and Nicoloson, 1968, S.-45. 8 E. Moers, The Dandy. Brummell to Beerbohm, London, Secker and Warburg, 1960, S. 101. 9 W. M. Thackeray, Book of Snobs. By one of Themselves, Old Woking (Surrey), Gresham Books, 1980, S.-82. nötig hat, sich vor den Mitgliedern seiner ehemaligen reference group zu verneigen. Das Leben und die schriftstellerische Tätigkeit späterer Dandies zeigen deutlich, daß sowohl der Snobismus (wie er etwa von Thackeray oder Proust beschrieben wird) als auch das Dandytum nicht vom politischen und kulturellen Einfluß des Adels in der englischen und französischen Gesellschaft des 19. Jahr‐ hunderts zu trennen sind. Obwohl James Lever in seinem Buch Dandies kategorisch feststellt: „Bulwer had no need to enter society“ 7 , versteht es sich von selbst, daß der großbürger‐ liche Schriftsteller Bulwer in seinem bekanntesten Roman Pelham die adelige Gesellschaft darstellt. Noch deutlicher erscheint die Rolle des Adels als Bezugs‐ gruppe bei Benjamin Disraeli, der sich teils auf seine Phantasie, teils auf Bulwers Ratschläge verlassen mußte, wenn es galt, im Roman einen „jungen Herzog“ (The Young Duke) zu porträtieren. Disraelis Vater, Isaac Disraeli, soll jedenfalls, als er von den schriftstellerischen Ambitionen seines Sohnes hörte, ausgerufen haben: „The Young Duke! … What does Ben know of dukes? “ 8 Das Interesse für den Stil der herrschenden Schicht mag sich wesentlich von Thackerays Karikatur unterscheiden: „But our aristocracy! - that’s a different matter. They are the real leaders of the world - the real old original land no-mistake nobility. Off with your cap snob; down on your knees, snob and truckle.“ 9 Daß es sich aber auch bei Disreali um das Interesse für die Bezugsgruppe handelt, steht außer Frage. Kenner werden an dieser Stelle vielleicht einwenden, daß es auch unter den Adeligen große Dandies gab; sie mögen Namen wie d’Orsay und Montesquiou nennen und darauf hinweisen, daß diese beiden mondänen Gestalten keiner Bezugsgruppe bedurften und daß sie beim besten Willen nicht als von aristo‐ kratischen Würden faszinierte Bürger („roturiers“) darstellbar sind. Dieser Einwand erweist sich als oberflächlich; denn es bedarf nicht langer Nachforschungen, um herauszufinden, daß auch d’Orsay und Robert de Mon‐ tesquiou im Zusammenhang mit einer Wertekrise zu verstehen sind, die sich aus dem Zerfall der adeligen Macht und aus dem Erstarken des bürgerlichen Utilitarismus und Demokratismus erklärt. Wie fragwürdig Adelstitel in einer Gesellschaft werden, die immer mehr vom Kommerz lebt, zeigen James Levers Bemerkungen über d’Orsays Vergangenheit: „D’Orsay was an authentic Count, in the sense that his forbears, in the 2.1 Der Dandy als Künstler 55 <?page no="56"?> 10 J. Lever, Dandies, op. cit., S.-52-54. 11 P. Jullian, Robert de Montesquiou. Un Prince 1900-1930, Paris, Perrin, 1965, S.-161. eighteenth century, had purchased a country estate which carried the title with it: there was nothing unusual in this under the ancien régime.“ 10 Das - in der Werbung so beliebte - Wort „authentisch“ deutet bereits an, daß es sich hier nicht, wie noch etwa im 11. oder 12. Jahrhundert, um die Bezeichnung einer einfachen feudalen Funktion handelt, sondern um einen Begriff, dessen Zweideutigkeit sich aus dem Kauf des Nichtkäuflichen (des feudalen Erbes) erklärt. In diesem Sinne kann d’Orsay als „bürgerlicher Graf “ bezeichnet werden, und die Zweideutigkeit, die dieser Bezeichnung zugrunde liegt, könnte sehr wohl erklären, weshalb er es wie einige seiner bürgerlichen Zeitgenossen für nötig hielt, sich als Dandy eine künstliche (ästhetische) Persön‐ lichkeit zu schaffen. Denn der Dandyismus kann als ein kollektiver Versuch auf‐ gefaßt werden, der gleichschaltenden, vereinheitlichenden Tauschgesellschaft mit einem eigenen („authentischen“) Wertsystem und einer selbstgemachten Identität entgegenzutreten. Auch bei Robert de Montesquiou fällt auf, daß der Adelstitel sowie die Distanz zum Bürgertum und dessen Utilitarismus keineswegs selbstverständlich waren. Es ist gewiß nicht unwichtig, daß Roberts Vater eine gewisse Mme Duroux, eine reiche Protestantin, heiratete, um die hohen Kosten seines standesgemäßen Lebenswandels bestreiten zu können. Besonders aufschlußreich scheint in diesem Zusammenhang P. Jullians Erklärung von Montesquious Streben nach Distinktion und „grandeur“ zu sein: „On peut aussi croire que si sa mère était née Noailles ou Mortemart, il se serait montré bien moins attentif à rappeler la grandeur des Montesquiou.“ 11 Im Anschluß an Baudelaire ließe sich zusammenfassend sagen, daß der bürgerliche und adelige Versuch, sich an feudalen Werten zu orientieren, für eine Gesellschaft typisch ist, in der alle Werte in zunehmendem Maße als durch den Tauschwert oder Marktwert vermittelt erscheinen. Die Kritiker der bürgerlichen Ordnung (sowohl Dandies als auch Schriftsteller) lehnen sich gegen ein System auf, das neben dem Tauschwert keine qualitativen ästhetischen, religiösen oder ethischen Werte gelten läßt. Dabei stützen sie sich häufig, wie Montesquiou, wie Prousts Baron de Charlus und Oriane de Guermantes, auf Sitten und Bräuche des feudalen Adels und des Feudalismus: eines Gesellschaftssystems, das nicht vom Marktgesetz beherrscht wurde. Wesentlich für den Dandy ist seine Erkenntnis, daß es keine Subjektivität ohne ein bestimmtes Wertsystem, ohne eine bestimmte Wertskala gibt und daß er deshalb in einer Gesellschaft, die einzig den Nutzen und den Tauschwert als 56 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="57"?> 12 Ch. Baudelaire, „Salon de 1846“, in: Œuvres complètes II, op. cit., S.-415. 13 Ch. Baudelaire, „Mon Cœur mis à nu“, in: Œuvres complètes I, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1975, S.-684. 14 Ibid., S.-679. 15 E. Moers, The Dandy, op. cit., S.-44-45. Maßstäbe anerkennt, seine Identität nur gegen die Gesellschaft verwirklichen kann. Die Frage ist, woher er eine Wertskala nehmen soll, die jenseits der Vermittlung durch den Tauschwert wäre. 2.1.2 Kritik des Utilitarismus Diese Frage beschäftigte auch Schriftsteller wie Baudelaire und Huysmans, die als Dandies auftraten und sich mit einer Gesellschaft auseinanderzusetzen hatten, die immer mehr vom Utilitarismus des Bürgertums und vom Kommerz beherrscht wurde. Bekannt ist Baudelaires ironische Ansprache (Salon de 1846), in der er die Bourgeois vom Nutzen der Kunst zu überzeugen sucht: „Vous êtes la majorité, - nombre et intelligence; - donc vous êtes la force, qui est la justice. Les uns savants, les autres propriétaires; - un jour radieux viendra où les savants seront propriétaires, et les propriétaires savants. Alors votre puissance sera complète, et nul ne protestera contre elle.“ 12 Der ironische Ton, der in dieser Passage nicht zu überhören ist, kündigt Baudelaires kompromißlose Kritik des bürgerlichen Utilitarismus an. Sie kommt am deutlichsten in seinen Analysen des Dandytums zum Ausdruck, wo der Dichter sich mit dem unnützen Dandy gegen den Bürger solidarisiert, „Un Dandy ne fait rien“, lesen wir in „Mon Cœur mis à nu“. 13 An anderer Stelle klingt der Protest gegen den herrschenden Utilitarismus durch: „Etre un homme utile m’a paru toujours quelque chose de bien hideux.“ 14 Bei Baudelaire - ähnlich wie bei Huysmans und Proust - ist der Dandyismus eine Provokation der Bürgerlichkeit, des „embourgeoisement“ und des Nützli‐ chen. Darin ist er dem englischen Dandytum verwandt, dessen Anhänger durch ihr „exclusivism“ eine von Geld und Tauschwert unabhängige Wertskala zu begründen suchten: „Wealth was no guarantee of admission“, schreibt E. Moers über den exklusiven Londoner Club Almack’s, „for defences were up against the nouveaux riches, the vulgar roturiers.“ 15 (Es ist aufschlußreich zu beobachten, wie in der zeitgenössischen Werbung das Wort „exklusiv“ als Synonym bzw. Euphemismus für „teuer“ verwendet wird.) Die Suche nach qualitativen, vom Tauschwert unabhängigen Werten macht den Dandy zum Verwandten des Schriftstellers (Prousts, Huysmans oder Ge‐ orges) und könnte als die gesellschaftskritische Komponente des Dandytums betrachtet werden. Es drängt sich allerdings die Frage auf, weshalb die ästheti‐ 2.1 Der Dandy als Künstler 57 <?page no="58"?> 16 G. Franci, „The Dandy, an Improbable Life“, op. cit., S.-23. 17 M. Du Camp, Souvenirs d’un demi-siècle, Paris, Hachette, 1949, S. 21. (Du Camp schreibt: „… Une aristocratie d’argent se substituera à l’aristocratie de naissance.“) 18 J.-K. Huysmans, A Rebours, Paris, Fasquelle, 1970, S.-267. 19 Ibid., S.-99. sche Revolte gegen die Tauschgesellschaft im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte und nicht in dem vom Markt völlig beherrschten 20. Jahrhundert. Wenn es stimmt, was G. Franci schreibt: „So the Dandy personally became opposition, opposing his reality of Beauty as uselessness to Victorian ugliness as utilitarianism“ 16 , dann möchte man wissen, weshalb sich in der zeitgenössischen Gesellschaft keine Dandies finden, die sich dem postmodernen Utilitarismus widersetzen. Diese Frage kann nur im Zusammenhang mit dem historischen Kompromiß zwischen Adel und Bürgertum, der für die britische und französische Gesell‐ schaft des 19. Jahrhunderts charakteristisch war, beantwortet werden. Die politische und kulturelle Präsenz des Adels, die sich in Frankreich noch unter der Dritten Republik bemerkbar machte, nährte die Sehnsucht nach nichtbürgerli‐ chen Werten sowie die Entrüstung über die Kommerzialisierung des Alltags. Diese Entrüstung kommt in Huysmans A Rebours zum Ausdruck, wo die „Aristokratie des Geldes“, von der auch bei Maxime Du Camp die Rede ist 17 , geschmäht wird: „Après l’aristocratie de la naissance, c’était maintenant l’aris‐ tocratie de l’argent; c’était le califat des comptoirs, le despotisme de la rue du Sentier, la tyrannie du commerce aux idées vénales et étroites, aux instincts vaniteux et fourbes.“ 18 Es ist die Welt, aus der sich der fiktive Dandy des Esseintes zurückzieht, um sich weitab vom leeren Ritual des Faubourg Saint-Germain und von käuflichen Literaten den Träumen seines intérieur zu widmen: „Tel qu’un ermite, il était mûr pour l’isolement…“ 19 Reif für die Abgeschiedenheit: dies ist die Lösung des Literaten oder des Schriftstellers, nicht die des Dandy. Dieser lebt in und von der Gesellschaft, deren Geld er in einer „conspicuous consumption“ (Veblen) ausgibt. Hier erscheint der grundlegende Widerspruch des Dandy-Daseins: Der Lebenskünstler, der den Spießbürger wegen seines Utilitarismus und seiner Arbeitsmoral verachtet, ist als Herr und Parasit auf das Geld und den Überschuß angewiesen, die bürgerliche Arbeit hervorbringt. Die meisten Dandies hatten Schulden und sahen sich immer wieder gezwungen - wie George Brummell oder d’Orsay -, vor ihren Gläubigern zu fliehen. Nicht zu Unrecht haben in der Vergangenheit verschiedene Autoren die kritischen Aspekte dieser Lebensweise hervorgehoben. Carassus beispielsweise hält Sartres Kritik, die den Dandyismus der „gratuité“ zeiht, entgegen: „(…) On 58 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="59"?> 20 E. Carassus, Le Mythe du Dandy, Paris, Armand Colin, 1971, S.-60. 21 Ch. Baudelaire, „Le Dandy“, Œuvres complètes II, op. cit., S.-710. 22 O. Wilde, Lady Windermere’s Fan, cit. nach K. Reijnders, Onder dekmantel van etiket, Amsterdam, Atheneum, 1972, S.-33. 23 O. Wilde, The Picture of Dorian Gray, London, Penguin, 1949, 1981, S.-85. 24 Ibid., S.-24. peut discerner là une conception esthétique de l’existence, fondée sur la dépense, l’ostentation, la beauté: sans aller à l’encontre du système social, elle le corrode marginalement, le mine de l’intérieur (…).“ 20 Baudelaire legt allerdings den Finger auf die Wunde, wenn er einerseits beteuert, daß Geld für einen Dandy unwesentlich ist, andererseits aber - fast beiläufig - bemerkt, ein uneingeschränkter Kredit könne ihm genügen: „Mais le dandy n’aspire pas à l’argent comme à une chose essentielle; un crédit indéfini pourrait lui suffire…“ 21 In diesem Satz tritt der Widerspruch offen zutage: Der Dandy lebt von dem Prinzip, das zu negieren er vorgibt: von der Akkumulation des Kapitals. Es wäre sogar möglich, Baudelaires Behauptung umzukehren und zu sagen, daß das Dandytum als ganzes ein Produkt der Geldwirtschaft ist. Nun geht es keineswegs darum, etwas nachzuweisen, was ohnehin bekannt ist, sondern die Folgen des hier aufgezeigten Widerspruchs in Betracht zu ziehen. Es zeigt sich nämlich, daß der Dandy, der vom Tauschwert lebt, außer‐ stande ist, eine ästhetische Wertskala zu finden oder zu erschaffen, die jenseits des Tauschwerts wäre. Seine Subjektivität ist ein Produkt der Tauschgesellschaft. Dieses Problem wird in aller Kürze in Oscar Wildes Lady Windermere’s Fan zusammengefaßt, wo Lord Darlington auf die Frage „What is a cynic? “ antwortet: „A man who knows the price of everything and the value of nothing.“ 22 Der Gegensatz zwischen price und value, dem in vieler Hinsicht der zwischen Tauschwert und Gebrauchswert (Qualität) entspricht, ist auch für ein besseres Verständnis von Wildes The Picture of Dorian Gray wesentlich, wo Lord Henry Wotton als erfahrener Dandy den „Preis“ aller Gegenstände und Erscheinungen angibt, ohne sich um deren Wert zu kümmern. Seinem ästhetischen Weltbild liegt - anders als etwa dem ästhetischen Weltbild von Prousts Marcel - keine Werthierarchie zugrunde, in der die Kunst an oberster Stelle stünde. Er lehnt es ab, einem bestimmten Wert den Vorzug zu geben: „I never approve, or disapprove, of anything now. It is an absurd attitude to take towards life.“ 23 Lord Wottons Weltbild ist das des wertfrei denkenden Wissenschaftlers: „There is no such thing as a good influence, Mr. Gray. All influence is immoral - immoral from the scientific point of view.“ 24 2.1 Der Dandy als Künstler 59 <?page no="60"?> 25 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-115. 26 Ibid., S.-337. 27 S. Freud, Gesammelte Werke X, Frankfurt, Fischer, 1976, S. 141. (Dort heißt es u.a.: „Wir bilden so die Vorstellung einer ursprünglichen Libidobesetzung des Ichs.“) 28 Vgl. J. Lacan, Ecrits I, Paris, Seuil, 1966, S. 95: „Ce moment où s’achève le stade du miroir inaugure, par l’identification à l’imago du semblable et le drame de la jalousie primordiale (…), la dialectique qui dès lors lie le je à des situations socialement élaborées.“ Der Dandy, der im Konsum und in der Mode lebt, verdankt seine Identität der Kommunikation und der Meinung (Bewunderung) der anderen. Von der Kommunikation aber heißt es in Adornos Ästhetischer Theorie: „Denn Kommu‐ nikation ist die Anpassung des Geistes an das Nützliche, durch welche er sich unter die Waren einreiht (…).“ 25 An anderer Stelle heißt es: „Das Prinzip des Fü‐ randeresseins, scheinbar Widerpart des Fetischismus, ist das des Tausches und in ihm vermummt sich die Herrschaft.“ 26 So kehren Tauschwert und Marktgesetz, die der Dandy aus seinem Dasein verbannen möchte, durch die Hintertür der Vermittlung wieder ein. Denn es ist nicht möglich, vom Tauschwert als Mode zu leben und zugleich dessen Nichtigkeit zu beweisen. 2.1.3 Narzißmus und Kommunikation In welchem Maße der Dandy seine Identität der Kommunikation verdankt, zeigt sein Narzißmus, der sowohl mit dem Prinzip des „Füranderesseins“ als auch mit dem Herrschaftsprinzip verquickt ist. Wenn Narzißmus einerseits mit Freud als „Libidobesetzung des Ichs“ definiert wird 27 , andererseits mit Lacan als eine Erscheinung des „ordre imaginaire“, eines Entwicklungsstadiums, in dem das Kind sich mit dem Anderen identifiziert (sich im Anderen spiegelt) und dadurch seine Einheit als Spiegelbild herstellt 28 , dann wird deutlich, weshalb der Dandyismus als eine Reaktion auf die gesellschaftlich bedingte Identitätskrise verstanden werden kann: Der Dandy kann sich selbst nur dann als Totalität, als „Identität“ erfahren, wenn er sich im Spiegel oder in den Augen der anderen betrachtet. Sein Dasein ist ausschließlich für die anderen, die ihm als Spiegel dienen. Das Interesse, das er dem Anderen entgegenbringt, ist stets durch die Selbstliebe vermittelt und existiert nicht unabhängig von dieser. Der Dandy liebt nicht den Anderen (als Objekt), sondern das Verlangen (désir) des Anderen nach seinem eigenen narzißtischen Ich. In Wirklichkeit liebt er das Verlangen selbst (le désir du désir): Er sehnt sich nach der Liebe und Bewunderung des Anderen. In dem Augenblick aber, wo seine Sehnsucht befriedigt wird und der Andere Gegenliebe und Bewunderung erwartet oder gar fordert, tritt der narzißtische 60 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="61"?> 29 Ch. Baudelaire, „Mon Cœur mis à nu“, in: Œuvres complètes I, op. cit., S.-678. 30 Vgl. P. Jullian, Robert de Montesquiou, op. cit., S.-64: „Le dandy est un narcisse. Il veut se refléter dans des yeux admiratifs et recherche dans le portrait les compliments de son miroir.“- Vgl. auch M. Lemaire, Le Dandysme de Baudelaire à Mallarmé, Paris, Klincksieck, 1978, S.-117. 31 E. Moers, The Dandy, op. cit., S.-78. 32 Ibid. Charakter des mondänen Verlangens zutage: Der Andere wird abgewiesen, weil dem Narziß jedes Liebesobjekt nur Vorwand, nur Spiegel ist. Es lohnt sich, die Stadien des narzißtischen Verlangens in Prousts Werk nachzuzeichnen: Jedesmal, wenn es dem Helden Marcel gelingt, sich seinem Liebesobjekt zu nähern und seine Sehnsucht zu befriedigen, schwindet sein Verlangen, und die bewunderte, oft geheimnisvolle Gestalt hört auf, begehrens‐ wert zu sein. Ähnlich verhalten sich die beiden Dandies Charles Swann und Baron de Charlus zu ihrer Umwelt: Der Andere ist ihnen nur Vorwand. „Le Dandy doit aspirer à être sublime sans interruption; il doit vivre et dormir devant un miroir.“ 29 Baudelaires Bemerkungen zeigen nicht nur, daß der Dandy ein Narziß ist; sie weisen zugleich darauf hin, daß seine Subjektivität auf dem „ordre imaginaire“ (Lacan) gründet: Sie ist das Spiegelbild des Ichs im Anderen. Wie prekär diese Spiegelidentität ist, läßt die Forderung des Dichters vermuten, der Dandy müsse ununterbrochen „sublim“ sein und müsse „vor einem Spiegel leben und schlafen“. Denn der Narziß löst sich im Nichts auf, sobald sein Spiegelbild (die Bewunderung und das Verlangen der anderen) ihn verläßt. Baudelaires Aussagen über den wirklichen Dandy, die von P. Jullian in seinem Buch über Montesquiou bestätigt werden 30 , stimmen weitgehend mit der Charakteristik des fiktiven Dandys überein. E. Moers antizipiert in mancher Hinsicht neuere Untersuchungen über die Snobs und Dandies der Proustschen Welt, wenn sie über Bulwers Pelham bemerkt: „Pelham’s dandyism is self-love - a subject on which Bulwer was, from all accounts, something of an authority.“ 31 Besonders aufschlußreich sind Moers’ Bemerkungen über die narzißtische Erzählweise in Bulwers Pelham: „Self-love is also the principle behind Pelham’s method of narration. Though he himself figures only remotely in the main events of the story, he manages to arrange every scene with himself at the centre. He observes himself as observer.“ 32 Vor allem im letzten Satz wird deutlich, wie sehr der Dandy (Pelham) den Anderen als Spiegel braucht, um sich seiner Subjektivität zu vergewissern. Diese Beziehung zwischen dem narzißtischen Ich und dem Anderen tritt an zahlreichen Stellen von Prousts Recherche in Erscheinung, wo das erlebende 2.1 Der Dandy als Künstler 61 <?page no="62"?> 33 Vgl. Vf., L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L’Harmattan, 2002 (2. Aufl.), Kap. VI. 34 O. Wilde, The Picture of Dorian Gray, op. cit., S.-100. 35 Ibid., S.-112. 36 M. Proust, Les Plaisirs et les jours, Paris, Gallimard, 1924, S.-214. Ich vom erzählenden Ich dargestellt und analysiert wird. Die erzählerische Verdoppelung des Ichs wird bei Proust zu einem Mittel der Selbstdarstellung und Selbstanalyse. 33 Der Gedanke, daß der Dandy an „Objektverlust“ leidet, daß er beim Anderen lediglich das Verlangen nach dem eigenen Ich sucht, wird an entscheidenden Stellen in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray bestätigt. Dorian interessiert nicht der Ruhm, den seine Freundin Sibyl Vane als berühmte Schauspielerin geerntet hätte, sondern die Bewunderung (das Verlangen), die ihm, dem Gemahl der begehrten Frau, zuteil geworden wäre: „The world would have worshipped you, and you would have borne my name.“ 34 Die von Dorian „angebetete“ Frau ist in Wirklichkeit ein Vorwand, ein Mythos des narzißtischen Verlangens; und es ist sicherlich kein Zufall, daß Dorian ihr seinen ersten leidenschaftlichen Liebesbrief schreibt, als sie schon tot - unwirklich - ist: „Strange, that my first passionate love-letter should have been addressed to a dead girl.“ 35 Sonderbar ist dies keineswegs: denn der Dandy als Narziß sucht gerade die unbekannte, die verschollene, die tote Geliebte, die ihm ewig treu bleibt, die ihn ewig bewundert, die aber in Wirklichkeit ein Produkt seines eigenen solipsistischen Verlangens ist. In Les Plaisirs et les jours begnügt sich Prousts Erzähler vorab mit einer imaginären Geliebten: „Je ne t’avais jamais parlé et tu étais même loin de mes yeux cette année-là. Mais que nous nous sommes aimés alors en Engadine! “ 36 Das narzißtische Verlangen, das nicht befriedigt werden will (kann), erscheint somit als eine reine Form, die die natürliche geschlechtliche Liebe ausschließt, weil das Subjekt sich selbst zum Objekt wird. Der Dandy darf nicht lieben oder bewundern, weil er im Anderen nur sich selbst sucht und deshalb unablässig versuchen muß, das Verlangen der anderen an sich zu binden: Er will, daß man sich nach ihm sehnt. Daraus erklärt sich seine Unnatürlichkeit, die zwei Aspekte aufweist: Ähnlich wie die mondäne (oder höfische) Dame, die ihren Anbetern die kalte Schulter zeigt, muß er darauf bedacht sein, seine Leidenschaften zu beherrschen und sein sexuelles Verlangen zu unterdrücken, um das Verlangen der anderen zu erhalten oder zu steigern. Seine „große Liebe“ gilt der abwesenden oder toten Frau, die nicht die Verwirklichung des sexuellen Verlangens (die „passion“) fordern kann. Der Dandy erscheint daher immer als kalt, beherrscht und unnatürlich. Dazu 62 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="63"?> 37 Ch. Baudelaire, „Mon Cœur mis à nu“, in: Œuvres complètes I, op. cit., S.-677. 38 Princesse de Bibesco, Noblesse de robe, Paris, Grasset, 1928, S.-87. bemerkt Baudelaire: „La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du Dandy.“ 37 Der Dandy wirkt immer künstlich, und sein künstlicher Charakter kommt in zwei einander ergänzenden Zeichensystemen zum Ausdruck: in der Mode und in der Konversation. Der gemeinsame Nenner beider Systeme ist ihre Nutzlosigkeit, ihre „gratuité“: Kleidung und Sprache werden dem Dandy - scheinbar - zum Selbstzweck. Barbey d’Aurevilly spricht von einer „manière d’être, entièrement composée de nuances“; zugleich bemerkt er, daß der Dandy reine Äußerlichkeit ist, weil seine Identität mit dem „materiell Sichtbaren“ zusammenfällt. Hier tritt der Grundwiderspruch des Dandytums nochmals im Zusammenhang mit der Mode zutage: Der Dandy sucht die Einmaligkeit und die Unverwechselbarkeit, indem er eine ästhetisierende Haltung annimmt; darin ist er als Lebenskünstler oder als wandelndes Kunstwerk dem Dichter verwandt. Er sucht jedoch die Einmaligkeit und die Distanz, die Benjamin zufolge wesentliche Bestandteile der Aura sind, in einem gesellschaftlichen Bereich, der von der Kommunikation, der Nachahmung und der Reproduktion beherrscht wird: in einer Welt, in der die Einmaligkeit täglich negiert wird. In der spätmodernen Gesellschaft ist die Mode ein Zeichensystem, das ausschließlich um des Profits willen entwickelt, geändert und erneuert wird. Wie sehr der Gebrauchswert der Kleidung in diesem Prozeß verdrängt wird, fiel bereits Mme de Bibesco in ihrem Büchlein Noblesse de robe auf: „Un ouvrier, me disais-je, n’est jamais mal habillé. Ses vêtements, si usés qu’ils soient, tombent toujours bien. Comment se fait-il que tant de bourgeois soient toujours si laidement vêtus? “ 38 Der Unterschied zwischen dem Arbeiter und dem Dandy besteht darin, daß der Arbeiter sich am Gebrauchswert der Kleidung orientiert, während der Dandy unbewußt ihren Tauschwert kultiviert. Dieser hat zwei Aspekte: Die modische Kleidung wird für den Markt als Nachfrage produziert, und der Dandy paßt sich diesem Prozeß an, selbst dann (oder gerade dann), wenn er zur Entwicklung der Mode wesentlich beiträgt (wie etwa Brummell). Der Dandy trägt Kleider um der Kommunikation willen: um die Bewunderung der anderen hervorzurufen, um in ihren Augen als einmaliges und begehrenswertes Individuum zu erscheinen. Er kultiviert den Schein und die Maske, die Hülle. Er ist letztlich mit den verschiedenen Masken identisch, die die Einheit und Einmaligkeit seiner Person gewährleisten sollen. 2.1 Der Dandy als Künstler 63 <?page no="64"?> 39 R. Barthes, „Le Dandysme et la mode“, in: E. Carassus, Le Mythe du dandy, op. cit., S.-314-315. 40 K. Reijnders, Onder dekmantel van etiket, op. cit., S.-36. Der Scheincharakter der modischen Identität tritt dann zutage, wenn die Marktgesetze, denen die Mode gehorcht (die Nachahmung und die Reproduk‐ tion), gerade die Einmaligkeit und Aura negieren, die der Dandy in der Mode sucht. Roland Barthes hat deshalb durchaus recht, wenn er bemerkt, daß in der Mode die Einmaligkeit des Individualismus zur Massenware wird. Dadurch wird das Streben des Dandy nach Einmaligkeit ad absurdum geführt: „Réduit à une liberté d’achat (et non de création), le dandysme n’a pu que s’asphyxier et mourir (…). La Mode a exterminé toute singularité pensée du vêtement, en prenant tyranniquement en charge sa singularité institutionnelle.“ Barthes schließt mit der Bemerkung: „C’est bien la mode qui a tué le dandysme.“ 39 Der Dandy ist jedoch nicht nur Modekünstler; er ist auch Causeur, Wort‐ künstler. Er verwirklicht seinen Narzißmus nicht nur in der Perfektion der Kleidung, sondern auch in der verbalen Kommunikation der Salongesellschaft. Als Meister der überraschenden repartie, der impertinence und der froideur distanziert er sich vom gesellschaftlichen Mittelmaß und versucht dadurch, seine Einmaligkeit zu wahren. Den anderen erscheint er als bewundernswert oder begehrenswert, nicht weil er etwas weiß oder eine Wahrheit verkündet, sondern weil er immer zur rechten Zeit mit dem richtigen Bonmot sein Auditorium überrascht. Er redet, ohne etwas zu sagen, und nimmt der Sprache gegenüber eine scheinbar ästhetische oder ästhetisierende Haltung an. Einer der wenigen, die sich mit der Konversation des Dandy befassen, ist K. Reijnders in seinem Buch Onder dekmantel van etiket: „Der Dandy behauptet nichts, lehrt nichts, will nicht überzeugen: Er ist der Causeur, der sich mit dem kunstvollen Wortspiel begnügt.“ 40 Ihm ist die Sprache scheinbar Selbstzweck. Doch nur scheinbar: Denn in Wirklichkeit gebraucht der Causeur das Wort, um in den Augen des Anderen jemand zu sein, um sein narzißtisches Verlangen in der Kommunikation, im Wortspiel zu befriedigen. Proust zeigt an zahlreichen Stellen seiner Recherche, wie der Causeur seine Eitelkeit in der Konversation befriedigt und zugleich danach strebt, den anderen auszustechen, ihn lächerlich zu machen. Man denke an den Dandy Charlus, der seine jungen Bewunderer mit seiner impertinence und mit unerwarteten Diatriben tyrannisiert; oder an den Herzog von Guermantes, der den Historien de la Fronde demütigt. 64 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="65"?> 41 Vgl. F. Hörner, Die Behauptung des Dandys. Eine Archäologie, Bielefeld, Transcript, 2008, S.-68: „Das Wort als Waffe“. 42 O. Wilde, The Picture of Dorian Gray, op. cit., S.-55. 43 Die Salonkonversation als Soziolekt der „leisure class“ wird ausführlich in L’Ambiva‐ lence romanesque, op. cit., Kap. II, dargestellt. 44 E. Carassus, Le Mythe du dandy, op. cit., S.-51. Die Sprache ist dem Dandy also nur Mittel und Herrschaftsinstrument, das Fernand Hörner ausführlich darstellt. 41 Der Dandy verwendet sie nicht, um einen ethischen oder ästhetischen Wert oder eine Wahrheit auszudrücken, sondern um sich selbst zu schmeicheln, um bewundert zu werden. In seinem wertfreien Sprachgebrauch werden die sprachlichen Zeichen vertauschbar, weil ihr semantischer Gehalt gleichgültig wird. Die mondänen Gespräche in Wildes The Picture of Dorian Gray (oder in The Importance of Being Earnest) verdeutlichen, was gemeint ist: „We have had such a pleasant chat about music. We have quite the same ideas. No; I think our ideas are quite different. But he has been most pleasant. I am so glad I have seen him.“ 42 „Quite the same“ und „quite different“ werden gleichgültig, weil es in der Konversation, ähnlich wie in Mallarmés „universel reportage“, um einen Worttausch geht, den man ebensogut durch den stillen Tausch von Münzen ersetzen könnte. Hier zeigt sich, wie sehr das „Prinzip des Füranderesseins“, das der Dandy in der Mode und in der Kommunikation kultiviert, „das des Tausches“ ist, und wie sehr die Salonkonversation als Soziolekt der „leisure class“ 43 ein durch den Tauschwert und das Herrschaftsprinzip vermittelter Sprachgebrauch ist. Indem der Dandy seine Lebenskunst und seine Subjektivität in der Kommunikation - in der Mode und der causerie - verwirklicht, liefert er sich dem Tauschwert aus, der alle qualitativen Werte negiert. Carassus hat deshalb recht, wenn er ihn als einen „chevalier du néant“ bezeichnet 44 . Doch dieser Nihilismus der Dandies hat zugleich eine kritische Dimension: Er spricht die Wahrheit über die bürgerliche Marktgesellschaft aus, die alles tut, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, daß sie vom Geld und vom Profitdenken regiert wird. Der Dandy sucht den wahren, ästhetischen Wert und trägt, ohne es zu wissen, dessen Negat zur Schau: den Marktwert. 2.2 Künstler contra Dandy Der Dandy versteht sich als Lebenskünstler: als Künstler der Mode, der Geste und der Konversation. Er will die ästhetische Weltanschauung leben, nicht darstellen. „And certainly, to him Life itself was the first, the greatest, of the arts, 2.2 Künstler contra Dandy 65 <?page no="66"?> 45 O. Wilde, The Picture of Dorian Gray, op. cit., S.-144. 46 E. Moers, The Dandy, op. cit., S.-100. 47 O. Wilde, in: K. Reijnders (Hrsg.), Couperus bij van Deyssel. Een chronische konfrontatie in beschouwingen, brieven en notities, Atheneum - Polak & Van Gennep, Amsterdam, 1968, S.-486-487. 48 E. Carassus, Le Mythe du dandy, op. cit., S.-33. 49 Vgl. K. Reijnders, Onder dekmantel van etiket, op. cit., S.-35. and for it all the other arts seemed to be but a preparation“ 45 , sagt der Erzähler über den Dandy Dorian Gray. Dandies wie Oscar Wilde, Robert de Montesquiou oder Benjamin Disraeli waren aber nicht nur Lebenskünstler, sondern auch Schriftsteller. Es zeigt sich allerdings, daß sie sich des Widerspruchs zwischen ihrer mondänen und ihrer schriftstellerischen Existenz bewußt waren. Den Widerspruch zwischen Leben und Schreiben (der selbst in Sartres La Nausée noch eine Rolle spielt) kommentieren Disraeli und Wilde jeder auf seine Art. Über Disraeli heißt es bei Ellen Moers: „‚Poetry is the safety valve of my passions‘, he confided to his diary, - ‚but I wish to act what I write‘.“ 46 Ungewöhnlich für einen Schriftsteller ist das Geständnis, das Wilde in einem Gespräch mit André Gide ablegt. Seinen Roman The Picture of Dorian Gray stellt er nicht als Ergebnis einer ästhetischen oder moralischen Suche dar, sondern als Zufallsprodukt einer Wette: „Je l’ai écrit en quelques jours, parce qu’un de mes amis prétendait que je ne pourrais jamais écrire un roman. Cela m’ennuie tellement d’écrire! “ 47 Beim ersten großen Dandy, bei „Beau Brummell“, stellt Carassus sogar „eine gewisse Verachtung der Künstler“ („un certain mépris à l’égard des artistes“) fest. 48 „Un dandy ne fait rien“, sagt Baudelaire. Der Dandy ist als Mitglied der „leisure class“ in erster Linie ein Konsument, der von der „conspicuous consumption“ (Veblen) lebt und jede Art von produktiver Arbeit meidet. Ihm, der sich als „chevalier du néant“ am Tauschwert orientiert, ist die Hervorbringung, die Produktion von qualitativen (ästhetischen, ethischen oder religiösen) Werten gleichgültig. Die kreative Arbeit des Künstlers ist ihm ebenso suspekt wie die vom Utilitarismus motivierte des Durchschnittsbürgers. 49 2.2.1 Bruch mit der Kommunikation Der Künstler kritisiert zwar auch die Herrschaft des Tauschwerts und des Marktes in der modernen Gesellschaft, nicht aber indem er sie provozierend zur Schau trägt, um dem Bürgertum seinen eigenen Nihilismus vor Augen zu führen, sondern indem er sich der Produktion des ästhetischen Gebrauchswerts zuwendet und einen Bruch mit der durch den Tauschwert vermittelten Kom‐ munikation vollzieht. Anders als der Dandy, der von der Kommunikation lebt 66 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="67"?> 50 Th. Gautier, Mademoiselle de Maupin, Paris, Garnier, 1955, S. 23. (Dort heißt es: „Les choses sont belles en proportion inverse de leur utilité“.) 51 „Le ‚Ten O’Clock‘ de M. Whistler“ (übers. von S. Mallarmé), in: S. Mallarmé, Œuvres complètes, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1945, S.-573. 52 S. Mallarmé, Œuvres complètes, op. cit., S.-366. 53 Ibid., S.-368. und sich als Narziß in dieser verwirklicht, definiert sich der Schriftsteller des „Ästhetizismus“ im Gegensatz zur Kommunikation. Dandyismus und Kunst als Produktion schließen einander zwar nicht aus, stehen aber auch im Widerspruch zueinander. Dandy und Künstler könnte man als verfeindete Brüder betrachten, die im Dasein eines und desselben Individuums koexistieren. Zu den französischen Schriftstellern, die nach Gautier (in dessen bekanntem Vorwort zu Mademoiselle de Maupin) 50 die Kommerzialisierung der Gesellschaft und vor allem der Kommunikation kritisierten, gehörte in der zweiten Hälfte des 19.-Jahrhunderts Stéphane Mallarmé. Seine Kritik erklärt - zumindest teilweise - sein Interesse für Whistler, das sich unter anderem in der bekannten Übersetzung des Ten O’Clock nieder‐ schlägt. Dort heißt es über die Auswirkungen der Kommerzialisierung auf die Kunst: „Et les siècles se passèrent en ces coutumes, et le monde fut inondé de tout ce qui était beau, jusqu’à ce que se leva une classe nouvelle qui découvrit le bon marché et prévit la fortune dans la fabrication du faux. (…) Le goût du commerçant supplanta la science et l’artiste (…).“ 51 Mallarmé gehörte zu den ersten, die deutlich sahen, daß der Warencharakter der Kunst dieser nicht äußerlich bleibt, daß der literarische Text, der Lesbarkeit und Kommunizierbarkeit anstrebt, dem Kommerz verfällt: „Parler n’a trait à la réalité des choses que commercialement (…)“ 52 , lesen wir in Crise de vers. Er versucht deshalb, die kommerzielle, d. h. die kommunikative Komponente der Sprache abzuschwächen, um dem „universel reportage“ zu entgehen, „dont, la littérature exceptée, participe tout entre les genres d’écrits contemporains“. 53 Es geht ihm bekanntlich nicht nur darum, die Sprache zu erneuern, sondern eine neue Sprache zu entwickeln, die nicht mehr dem heteronomen und zufallsbedingten Mechanismus der Kommunikation gehorcht. Seine Erneuerung der Sprache hat zwei Aspekte, die in dem hier entworfenen Zusammenhang besonders wichtig sind: 1. Es geht darum, das Wortzeichen aus dem Kontext der Alltagssprache herauszulösen und dabei den einmaligen Signifikanten dem vertauschbaren Signifikat, dem Begriff gegenüber, zu stärken. Zugleich wird das im Rahmen der sprachlichen Konvention automatisierte Band zwischen dem Signifikanten und dem Referenten gelockert. 2. Diese Verfahren 2.2 Künstler contra Dandy 67 <?page no="68"?> 54 H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg, Rowohlt, 1956, 1970, S.-113. 55 S. Mallarmé, Œuvres complètes, op. cit., S.-368. 56 Vgl. Vf., „Der mimetische Diskurs“, in: ders., Kritik der Literatursoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 2015 (2. Aufl.). sind nicht rein formal zu erklären, sondern dienen in ihrer Negativität dazu, die lyrische Sprache gegen Kommerz und Ideologie zu immunisieren. Daß Mallarmés Bruch mit der Kommunikation ein Versuch war, sich der Vermittlung durch den Tauschwert zu entziehen, fiel bereits Hugo Friedrich auf: „Mallarmé führt jenen Prozeß weiter, der seit der Wende zum 19. Jahrhundert die Dichtung in den Widerstand gegen die kommerzialisierte Öffentlichkeit und gegen die wissenschaftliche Austreibung des Weltgeheimnisses geführt hat.“ 54 Mallarmés Kritik an der kommunikativen Sprache sollte nicht nur als eine Revolte gegen die Herrschaft des Tauschwerts verstanden werden, sondern auch als ein Versuch, den ideologischen Diskursen des ausgehenden 19. Jahrhunderts abzusagen. Durch seine Polysemie entzieht sich der poetische Signifikant dem Zugriff der ideologischen Rhetorik, deren Schwarz-Weiß-Schema weder die Vieldeutigkeit (Koexistenz verschiedener, oft widersprüchlicher Bedeutungen) noch die offene Frage zuläßt. Wörter wie „azur“, „vierge“, „blanc“ haben bei Mallarmé verschiedene, miteinander konkurrierende Bedeutungen. Der Dichter spricht in diesem Zusammenhang von einer „virtualité“ der poetischen Sprache, die nicht auf die denotative und referentielle Dimension des kommunikativen Sprachgebrauchs reduzierbar ist: „Au contraire d’une fonction de numéraire facile et représentatif, comme le traite d’abord la foule, le dire, avant tout, rêve et chant, retrouve chez le Poëte, par nécessité constitutive d’un art consacré aux fictions, sa virtualité.“ 55 Der Prosadichter, der in dieser Hinsicht Mallarmé am nächsten steht, ist trotz seiner Kritik an Mallarmés „Dunkelheit“ wohl Marcel Proust. Es mag sein, daß man Prousts Recherche - und dort vor allem Noms de pays: le nom - näherkommt, wenn man sie im Zusammenhang mit Mallarmés Bruch mit der kommunikativen Sprache liest. 56 Es zeigt sich nämlich, daß Prousts Roman eine ganz besondere Variante der verbalen Kommunikation verarbeitet: die Konversation der mondänen Gesellschaft, einer Gruppe der „leisure class“, deren Mitglieder als „rentiers“ von Aktien und Obligationen, d.-h. vom Tauschwert leben. Für die gesellschaftliche Problematik des Dandytums ist nun von Bedeutung, daß Prousts Held Marcel am Ende des Romans (in der Wiedergefundenen Zeit) mit dem mondänen Soziolekt der Konversation radikal bricht und sich der Schrift zuwendet, wobei der den Roman strukturierende semantische Gegensatz zwischen parole und écriture zutage tritt. 68 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="69"?> 57 M. Proust, A la recherche du temps perdu III, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1954, S.-897. 58 M. Proust, Contre Sainte-Beuve, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1971, S.-215. 59 M. Proust, A la recherche du temps perdu III, op. cit., S.-898. 60 M. Proust, Contre Sainte-Beuve, op. cit., S.-265. Marcels Absage an die durch das Prinzip des „Füranderesseins“ (Adorno) und durch den Tauschwert vermittelte Konversation der Salongesellschaft läßt den Schriftsteller als einen Gegner der „mondanité“ und des Dandyismus erscheinen: „Plus que tout j’écartais ces paroles que les lèvres plutôt que l’esprit choisissent, ces paroles pleines d’humour, comme on en dit dans la conversation, et qu’après une longue conversation avec les autres on continue à s’adresser facticement à soi-même (…).“ 57 Den Dandies der Recherche, Charles Swann und Baron de Charlus, wirft Prousts Erzähler vor, das mondäne Auftreten, die Konversation und die Erotik mit der Kunst zu verwechseln. Sie erscheinen ihm als verhinderte Künstler, in deren Leben zwar wahre Momente und Handlungen vorkommen, die aber nur mit den Augen des Künstlers wahrnehmbar sind. Den beiden Dandies bleiben sie verborgen, weil Swann und Charlus immer wieder versuchen, sich in der mondänen Kommunikation, in der Konversation oder in der Erotik zu verwirklichen. Dabei vergessen sie, daß es keine „Lebenskunst“ gibt, daß der wahre Künstler allein lebt und daß das Schreiben ein Produkt der Stille und der Einsamkeit ist. Die intelligenten, welterfahrenen und beredten Geister wissen nicht „que l’artiste vit seul, que la valeur absolue des choses qu’il voit n’importe [pas] pour lui, que l’échelle des valeurs ne peut être trouvée qu’en lui-même“, heißt es in Contre Sainte-Beuve. 58 In der Wiedergefundenen Zeit kommt Proust auf Sainte-Beuves Methode zurück und schreibt: „Les vrais livres doivent être les enfants non du grand jour et de la causerie mais de l’obscurité et du silence.“ 59 Diese Kritik an Sainte-Beuve, die Proust zugleich an Balzacs Adresse richtet, weil der Autor der Comédie Humaine auch dazu neigt, Leben und Fiktion (Schreiben) zu verwechseln 60 , kann nur im Zusammenhang mit seiner Ableh‐ nung der mondänen Konversation verstanden werden, eines Soziolekts, dessen „exchange of ideas“ die Wörter zu vertauschbaren Einheiten degradiert. Sie verlieren ihre Besonderheit und werden gleichgültig, indifferent. Um die Überwindung dieser kommunikations- und marktbedingten Indiffe‐ renz geht es Proust in seinem Roman: vor allem in Noms de pays: le nom. Wie Mallarmé versucht er dort, das Wort, den Namen (le Nom) aus dem kommunikativen Zusammenhang herauszulösen und für das Unbewußte der „unwillkürlichen Erinnerung“ fruchtbar zu machen. Die Namen Parma, Swann, 2.2 Künstler contra Dandy 69 <?page no="70"?> 61 Vgl. Vf., „Der mimetische Diskurs“, op. cit. 62 W. Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 142. (Benjamin schreibt: „Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der mémoire involontaire auftauchen, darin sieht, daß sie eine Aura haben, so hat die Photographie an dem Phänomen eines ‚Verfalls der Aura‘ entscheidend teil.“) 63 J.-K. Huysmans, A Rebours, op. cit., S.-33. 64 Ibid. Balbec büßen allmählich ihre kommunikative Funktion ein und werden als Signifikanten, deren Signifikate und Referenten in Vergessenheit geraten, zu onirischen Zeichen, die in der Erinnerung des Subjekts Assoziationen hervor‐ rufen. 61 Ihre Einmaligkeit und Unvertauschbarkeit hat Walter Benjamin nicht zu Unrecht „auratisch“ genannt. 62 Durch ihre „Aura“ unterscheiden sie sich grundsätzlich von den Zeichen der Alltagssprache, die Proust als Wörter (les mots) bezeichnet. Während die Namen in der Recherche mit der unwillkürlichen Erinnerung, dem künstlerischen Instinkt und der Kunst assoziiert werden, gehören die Wörter der Sphäre der Kommunikation (conversation, action, monde etc.) an. An dieser Stelle treten sowohl Gemeinsamkeiten als auch grundsätzliche Unterschiede zwischen dem Dandy und dem Künstler in Erscheinung: Beide streben nach Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit in einer kommerziali‐ sierten, demokratischen Gesellschaft, deren Kommunikationssystem Unter‐ schiede einebnet. Während aber der Dandy diese Einmaligkeit in der Kommu‐ nikation und im Konsum zu verwirklichen sucht, glauben Autoren wie Mallarmé und Proust, sie noch am ehesten in der Einsamkeit (solitude) der literarischen Produktion verwirklichen zu können. Wenn man diese Unterschiede als wesentlich anerkennt, so kann man nicht umhin, gleichzeitig einen Gegensatz zwischen Mallarmé und Proust einerseits und Huysmans und Wilde andererseits zu erkennen. Dieser Gegensatz, der nun kurz kommentiert werden soll, läßt erkennen, wie heterogen die Spätmoderne ist. Huysmans’ A Rebours ist Prousts Recherche durchaus verwandt: Auch des Esseintes bricht mit der mondänen Gesellschaft, um sich in der eigenen Inner‐ lichkeit (in der Privatsphäre) einzurichten: „Son mépris de l’humanité s’accrut; il comprit enfin que le monde est, en majeure partie, composé de sacripants et d’imbéciles.“ 63 Wie Marcel überzeugt er sich von der Unmöglichkeit, den Sinn im erotischen Bereich zu entdecken: „Une seule passion, la femme, eût pu le retenir dans cet universel dédain qui le poignait, mais celle-là était, elle aussi, usée.“ 64 Mit den Helden des jungen Proust (in Les Plaisirs et les jours) gelangt des Esseintes schließlich zu der Überzeugung, daß der Traum der Wirklichkeit 70 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="71"?> 65 Ibid., S.-21. 66 Ibid., S.-215. vorzuziehen sei. Am Ende dieser Betrachtung wird sich allerdings zeigen, daß diesem Traum eine gewisse Militanz nicht fehlt. A Rebours und die Recherche stimmen nicht nur thematisch in einigen wesentlichen Punkten überein, sondern auch auf narrativer Ebene. Proust, der gegen die parole schreibt, wendet sich schließlich auch gegen das erzählende Wort (gegen die parole narrative) und gibt seinem Roman eine eher semanti‐ sche denn syntaktische, narrative Struktur. Die paradigmatische Verkettung verdrängt bei ihm die narrative Kausalität. Ähnliches ließe sich von A Rebours sagen, einem Roman, dessen anekdotisch-syntaktische Struktur besonders schwach ist, und der - ähnlich wie Prousts oder Musils Romane - einen essayistischen Charakter hat. In seinem bekannten (nachträglich verfaßten) Vorwort zu A Rebours erklärt Huysmans, worum es ihm beim Schreiben seines Romans ging. Wichtig war für ihn - wie später für Proust - die Kritik an der traditionellen Erzählstruktur, an der „intrigue“: „Moi, c’était cela qui me frappait surtout à cette époque, supprimer l’intrigue traditionnelle, voire même la passion, la femme, concentrer le pinceau de lumière sur un seul personnage, faire à tout prix du neuf.“ 65 Lange vor Proust setzt sich Huysmans mit der unwillkürlichen Erinnerung auseinander, wenn er von des Esseintes sagt: „Ce presse-papiers remua, en lui, tout un essaim de réminiscences.“ 66 Nur kommt er - im Gegensatz zu Proust - nicht auf den Gedanken, die Mechanismen des Unbewußten zu seiner eigenen assoziativen Schreibweise in Beziehung zu setzen und das Schreiben als solches zu thematisieren. Hier tritt der wesentliche Unterschied zwischen Proust und Huysmans zu‐ tage, ein Unterschied, den ein Sammelbegriff wie „Ästhetizismus“ oder „Moder‐ nismus“ einebnet: Während Proust (ähnlich wie Huysmans) die mondäne Ge‐ sellschaft und die Konversation radikal kritisiert, um schließlich die literarische Produktion der Kommunikation und die écriture der parole entgegenzusetzen, geht des Esseintes über die Sphäre des Konsums und der Rezeption nicht hinaus. Des Esseintes bricht zwar mit der Kommunikation, bleibt aber in einem wesentlichen Punkt dem Dandyismus und der „mondanité“ verhaftet: Sein Traum und seine Einsamkeit haben keinen produktiven Charakter. Als Leser bewundert er zwar Mallarmé und Baudelaire, ist aber außerstande, dem Beispiel der beiden Dichter zu folgen und sich der Produktion eines ästhetischen Wertes zuzuwenden. Er spielt zwar mit dem Gedanken an einen unmöglichen Roman von ein bis zwei Seiten („Le roman, ainsi conçu, ainsi condensé en une page ou 2.2 Künstler contra Dandy 71 <?page no="72"?> 67 Ibid., S.-244. 68 R. de Montesquiou, Mémoires III. Les Pas effacés, Paris, Emile Paul, 1923, S.-112. deux“) 67 ; gibt ihn aber bald wieder auf und wendet sich seiner ästhetisierenden Lektüre zu. Es ist sicherlich kein Zufall, daß sowohl Prousts Baron de Charlus als auch Huysmans’ des Esseintes dem wirklichen Dandy Robert de Montesquiou nachempfunden sind. Montesquiou war, wie die beiden fiktiven Dandies, in vieler Hinsicht ein verhinderter Künstler, der die Assoziationen der „mémoire involontaire“ ebenso kannte wie Huysmans oder Proust, aber außerstande war, sie für seine Schreibweise fruchtbar zu machen. Er blieb zeit seines Lebens der mondänen Kommunikation und dem ästhetisierenden Konsum verhaftet, deren Einflüsse in seiner Dichtung deutlich in Erscheinung treten. „Rien que le style du rêve, enchaîné par l’association des idées“ 68 , heißt es in Les Pas effacés, den Memoiren Montesquious. In seinen Gedichten sucht man diesen Stil vergebens. Die Frage, weshalb ein Autor wie Huysmans trotz seiner Kritik am mondänen Sprachgebrauch das Schreiben und die literarische Produktion nicht in den Vordergrund stellte und weshalb er sie im Gegensatz zu Mallarmé und Proust nicht als Alternativen zu den depravierten sozialen Werten auffaßte, ist nicht leicht zu beantworten. Plausibel scheint allerdings die Annahme zu sein, daß die moralischen und christlichen Diskurse, die Huysmans beschäftigten und in sein Werk Eingang fanden, ihn daran hinderten, die Ästhetisierung der Sprache konsequent weiterzutreiben und wie Mallarmé, Proust und der junge Sartre (in La Nausée) in der literarischen Produktion die neue Wertskala zu entdecken. Diese Annahme wird nicht nur am Ende des Romans bestätigt, wo ein christ‐ licher Diskurs die ästhetisierenden Betrachtungen ablöst, sondern auch von Huysmans’ späteren Arbeiten und seiner Bekehrung zum Christentum. Plausibel erscheint sie auch deshalb, weil in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray ähnliche Widersprüche und Probleme auftreten wie in A Rebours. Deutlicher als in A Rebours wird in Wildes Roman die Kunst als die eigentliche, die wahre Wirklichkeit dargestellt: Das Schöne ist nicht - wie Dorian meinte - im Leben realisierbar, sondern nur im Kunstwerk. So könnte man im Anschluß an Proust Wildes Text interpretieren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß es bei Wilde (anders als bei Proust) nicht um die Überwindung des Dandyismus oder der mondänen Le‐ bensauffassung durch die Kunst geht, sondern um eine moralische (christliche) Kritik am Narziß Dorian, der am Ende des Romans grausam bestraft wird. In dem Augenblick, wo Dorian Gray sich anschickt, sein von Basil Hallward gemaltes Porträt zu zerstören, um sein sichtbar gewordenes schlechtes Gewissen zu 72 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="73"?> 69 O. Wilde, The Picture of Dorian Gray, op. cit., S.-244. 70 Ibid., S.-175. beseitigen, wird er getötet. Die Strafe, die aus der Sicht des Erzählers längst fällig war, ereilt ihn: „Ah! in what a monstrous moment of pride and passion he had prayed that the portrait should bear the burden of his days, and he keep the unsullied splendour of eternal youth! All his failure had been due to that. Better for him that each sin of his life had brought its sure, swift penalty along with it. There was purification in punishment. Not ‚Forgive us our sins‘, but ‚Smite us for our iniquities‘ should be the prayer of a man to a most just God.“ 69 Gerade der Künstler, der für die Kunst als ästhetischen Wert, für die Kunstpro‐ duktion als Alternative zum Dandyismus und zur mondänen Rhetorik plädieren könnte, spricht bei Wilde einen moralistischen Diskurs: „‚Pray, Dorian, pray‘, he murmured. ‚What is it that one was taught to say in one’s boyhood? ‘ ‚Lead us not into temptation. Forgive us our sins. Wash away our iniquities‘. ‚Let us say that together‘.“ 70 Der Künstler, der für sich und den narzißtischen Dandy den Sinn (die Wertskala) in der Kunstproduktion entdeckten könnte, versucht, den Helden zur Religion zu bekehren. Im Namen bestimmter moralischer und religiöser Werte wird schließlich der Lebenskünstler und Dandy Dorian bestraft, getötet. Weit davon entfernt, als eine neue, authentische Wirklichkeit zu erscheinen, erfüllt das Kunstwerk (das Bild) in Wildes Roman die Funktion eines moralischen deus ex machina. Es ist das Gewissen (das Überich), dessen Schönheit moralische Konnotationen annimmt. Als fragwürdig erscheint Wildes These in seinem Vorwort: „No artist has ethical sympathies.“ Der Autor von De Profundis hätte seinen eigenen Text auch anders lesen können. Ähnlich wie bei Huysmans stößt in Wildes The Picture of Dorian Gray die ästhetisierende mondäne Rhetorik mit einem moralischen (christlichen) Diskurs zusammen, der eine Überwindung des mondänen Soziolekts durch die literarische Produktion und den ästhetischen Wert verhindert. 2.2.2 Verwandlung des Narzißmus Hier wird deutlich, daß Huysmans und Wilde das Problem des Narzißmus anders lösen als Proust oder Mallarmé, und es läßt sich zeigen, daß ihre Lösung nicht von den moralischen und religiösen Elementen ihrer Romane zu trennen ist. Dorian Grays „verdiente“ Strafe und des Esseintes’ religiöse Neigungen könnten als Alternativen zu der Verwandlung des Narzißmus bei Proust und Mallarmé aufgefaßt werden. Doch diese Alternativen sind durchaus 2.2 Künstler contra Dandy 73 <?page no="74"?> 71 M. Proust, Le Carnet de 1908 (établi et présenté par P. Kolb), Paris, Gallimard (Cahiers Marcel Proust), 1976, S.-100. konventioneller Art, weil sie den Narzißmus moralisch negieren, statt ihn für die literarische Produktion fruchtbar zu machen. Indem Dichter wie Mallarmé und Proust mit der Kommunikation brechen und ihr Heil beim vieldeutigen Signifikanten (Mallarmés „virtualité“, Prousts „Nom“) oder im hermetischen Vers suchen, geben sie zugleich dem Narzißmus eine neue Bedeutung. Narzißmus bedeutet ihnen nicht mehr: „Für-den-Anderen-Sein“, sich in den Augen des Anderen spiegeln, sondern: sich versenken in die eigene Produktion und die unbewußten Vorgänge zur Sprache bringen, die zu Triebfedern dieser Produktion werden. Diese Verwandlung der narzißtischen Libido richtet sich nicht nur gegen den vom Tauschwert beherrschten mondänen Narzißmus, der sich von der Kommu‐ nikation nährt, sondern auch gegen alle Varianten der moralischen Rede, die der fruchtbaren, produktiven Aufhebung (und Bewahrung) des Narzißmus im Wege steht. Dies erklärt zum Teil, weshalb Mallarmés und Prousts Arbeiten für die spätere literarische Produktion (etwa der Tel-Quel-Gruppe) von weitaus größerer Bedeutung waren als Huysmans’ A Rebours oder Wildes The Picture of Dorian Gray. Man könnte sagen, daß die Verwandlung des mondänen Narzißmus bei Au‐ toren wie Proust und Mallarmé eher mit Freuds als mit Lacans Narzißmus-De‐ finition übereinstimmt. Denn es geht nicht mehr um die Suche nach dem Spiegelbild, nach der Bewunderung und dem Verlangen des Anderen, sondern darum, das Ich in der Selbstanalyse zum Gegenstand der eigenen Libido zu machen. „Rien dans les autres“ 71 , schreibt Proust in einem seiner postum veröffent‐ lichten Carnets. Dieser Satz, der sich in erster Linie gegen die Sprache der Salongesellschaft richtet, richtet sich auch - zumindest indirekt - gegen den ästhetischen Lebenswandel des Dandy, der seinen Narzißmus in der Kommuni‐ kation (in der Mode und der Konversation) befriedigt. Die Selbstanalyse, die bei Proust im Bereich der unwillkürlichen Erinnerung und des „instinct artistique“ die mondäne „vanité“ ersetzt, steht jedoch nicht in einem absoluten Gegensatz zur Haltung des Causeurs, des Dandy. Sie sollte eher als eine Aufhebung und Umgestaltung des mondänen Ästhetizismus in der écriture denn als dessen einfache Negation begriffen werden. Es ist sicherlich kein Zufall, daß sich sowohl Mallarmés als auch Prousts Äs‐ thetisierung der Sprache durch deren Herauslösung aus dem kommunikativen Prozeß in der französischen Salongesellschaft der Jahrhundertwende vollzog. 74 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="75"?> 72 J.-K. Huysmans, A Rebours, op. cit., S.-178. Dieser Gesellschaft gehörten auch Dandies wie Robert de Montesquiou an, die sich um eine Synthese von Dandy und Dichter bemühten und dabei übersahen, daß die vom Tauschwert beherrschte mondäne Kommunikation die Produktion des ästhetischen Wertes ausschloß. Der Versuch aber, die Sprache um ihrer selbst willen zu gebrauchen, sie zu „ästhetisieren“, ist dem Causeur und dem Dichter gemeinsam. Eine weitere Gemeinsamkeit, aus der letztlich ein Gegensatz hervorgeht, ist das narzißtische Verlangen, das weder beim Dandy noch beim Dichter befriedigt werden will. Davon, daß der Dandy seine natürlichen Triebe unterdrücken und sich stets zurückhalten muß, war bereits die Rede; auch davon, daß er den Besitz des begehrten Objekts nicht wünschen kann, weil er befürchten muß, daß er nach der natürlichen Befriedigung des Verlangens dem Anderen nicht mehr als begehrenswert erscheint. Die literarische Verwandlung des Narzißmus hat zur Folge, daß das Verlangen (wie beim Dandy) unbefriedigt bleibt, daß sein Objekt aber völlig verschwindet. Der eigene Traum ersetzt den Anderen: „Aimai-je un rêve? “ fragt sich Mallarmés Faun. Den eigenen Traum liebt auch des Esseintes, der schließlich auf eine geplante Reise nach London verzichtet, weil er die eigenen Vorstellungen und Assoziationen der Wirklichkeit (dem Objekt) vorzieht: „En somme, j’ai éprouvé et j’ai vu ce que je voulais éprouver et voir. Je suis saturé de vie anglaise depuis mon départ; il faudrait être fou pour aller perdre, par un maladroit déplacement, d’impérissables sensations.“ 72 Des Esseintes begnügt sich mit dem Imaginären und verzichtet, ähnlich wie Prousts Erzähler in Les Plaisirs et les jours und später in der Recherche, auf das Ziel der Reise, auf das Objekt. Dadurch emanzipiert sich das narzißtische Verlangen nicht nur im erotischen Bereich, sondern in der Kommunikation ganz allgemein, von seinen Gegenständen und von der Gegenständlichkeit. Wesentlich ist nun, daß bei Mallarmé und Proust das absolute, aus dem Kommunikationszusammenhang herausgelöste Verlangen nicht nur, wie bei Huysmans, thematisch dargestellt, sondern auch in der Schrift praktiziert wird. Prousts Namen sind onirische Wörter, die das Reisen überflüssig machen. Wie vor ihm des Esseintes, verzichtet Marcel (in Noms de pays: le nom) auf eine Reise nach Venedig, weil die Vorstellung, die er mit dem Namen Venedig verknüpft, in ihm übermächtig wird und ihn unfähig macht zu reisen. Mallarmés „virtualité“, die zum Ausgangspunkt des Verlangens und des Traums wird, kann als ein Versuch aufgefaßt werden, die Wirklichkeit und deren Gegenstände auszublenden. Nicht zu Unrecht schreibt Charles Mauron über 2.2 Künstler contra Dandy 75 <?page no="76"?> 73 Ch. Mauron, Mallarmé l’obscur, Paris, Corti, 1968, S.-29. 74 S. George, Der siebente Ring, Düsseldorf-München, Küpper Vlg., 1965, S.-158. Mallarmés Versuch, die Wirklichkeit aus seiner Schreibweise zu verbannen: „Le curieux est que presque toujours la médiation esthétique, dans sa recherche de la pureté, insiste d’abord sur ce qui la blesse, ce qu’il faut exclure: la réalité, dit-elle, ne doit pas envahir la page ou le cadre, réservés à tout ‚autre chose‘. Voici donc la réalité chassée.“ 73 Die Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“ mag als radikale Negation der Wirklichkeit auch die Sehnsucht nach dem Nichts, nach dem Tode sein; sicher ist, daß sie jenes „rien“, „blanc“ oder „vierge“ zum „Gegenstand“ hat, an dem der Autor des Salut in einem „blanc souci“ verzweifelt. Auch Stefan George, der zahlreiche Gedichte Mallarmés nachdichtete, drückt in seinen Versen die verabsolutierte, gegenstandslose Sehnsucht aus. Das fol‐ gende Gedicht aus dem Siebenten Ring nennt das Verlangen beim Namen, das aus der „virtualité“, aus der Vieldeutigkeit der Schrift, spricht: Im windes-weben War meine frage Nur träumerei. Nur lächeln war Was du gegeben. Aus nasser nacht Ein glanz entfacht - Nun drängt der mai Nun muß ich gar Um dein aug und haar Alle tage In sehnen leben. 74 2.2.3 Negation und Avantgarde Zum Abschluß soll die Beziehung zwischen einer nach Autonomie strebenden Literatur und der militanten, scheinbar heteronomen Kunstauffassung der Avantgarde näher betrachtet werden. Der eher passive Charakter der Dandies und die autonome Kunstauffas‐ sung Mallarmés, Prousts und Georges lassen einen Vergleich zwischen diesen Autoren und den revoltierenden Vertretern der Avantgarde-Bewegungen auf den ersten Blick nicht zu. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß die Autonomieästhetik, die den Gedichten Mallarmés oder Georges zugrunde liegt, ein politisches Engagement keineswegs ausschließt. Die Ablehnung der kom‐ 76 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="77"?> 75 Vgl. G. D’Annunzio, „Adua“, „La vita di Cola di Rienzo“, „L’armata d’Italia“, in: G. D’Annunzio, Prose di ricerca III, Milano, Mondadori, 1950, 1963. (Das narzißtische Verlagen des Dandy tritt deutlich in D’Annunzios „Solus ad solam“ in Erscheinung, wo die Abwesenheit der Geliebten - ähnlich wie bei Proust - als eine „présence réelle“ aufgefaßt wird. Vgl. op. cit., S.-693-807.) 76 S. George, in: M. Winkler, George-Kreis, Stuttgart, Metzler, 1972, S.-57. 77 M. Winkler, George-Kreis, op. cit., S.-62. 78 A. Camus, L’Homme révolté, in: ders., Essais, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1965, S.-462. 79 R. Runcini, „Il dandysmo quale mondo di scelte e di consumi superiori“, in: ders., Illusione e paura nel mondo borghese. Da Dickens a Orwell, Bari, Laterza, 1968, S. 157. merzialisierten bürgerlichen Gesellschaft durch den Dandy und den Künstler hat durchaus ihre militanten Seiten. Diese treten nicht nur bei Gabriele D’Annunzio zutage, der gleichzeitig Dichter, Dandy und Soldat war und sich bemühte, den militärischen Bereich zu ästhetisieren 75 , sondern auch bei Stefan George, der feststellt: „Heut ist wirklich, ‚die Kunst ein bruch mit der Gesellschaft‘.“ 76 Zum Verhältnis von Geist und Tat bei George bemerkt M. Winkler: „Der Gegensatz von Geist und Welt, der durch den Schönheitskult des Dandy sich aufs krasseste offenbart hatte, sollte durch die Autorität des asketisch prophetenhaften Dichter-Sehers überbrückt werden, was aber als angemaßte Autorität, der die objektive Norm fehlt, zur dichterischen Ideologie und damit zur politischen Rhetorik führt.“ 77 Diese Hinweise auf D’Annunzio und George erhärten die Hypothese, der zufolge ästhetisierende Weltbilder in nuce avantgardistische Elemente enthalten können: Autonomieästhetik und militante (avantgardistische) Gesin‐ nung schließen einander nicht aus. Die Beziehung zwischen Dandytum und Revolte hat bereits Camus aufgezeigt: „Le dandy est par fonction un oppositi‐ onnel. Il ne se maintient que dans le défi.“ 78 Was Romolo Runcini über den Konflikt zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der imaginären Welt der Dandies sagt, ließe sich auch auf die Erfahrungen der surrealistischen Avant‐ garde anwenden. Die Rache der Dandies an der Gesellschaft kündigt Bretons „éclatante revanche sur le réel“ an: „Damals rächte sich das Imaginäre an der Wirklichkeit, indem es sie aller ihrer Inhalte beraubte.“ 79 Im ästhetischen Bruch mit der Gesellschaft der Jahrhundertwende sind Revolte und Gewaltanwendung zumindest potentiell enthalten. Die Behauptung, daß George und D’Annunzio eine Brücke von der Poetik zur Politik schlagen und auf diese Weise die praktizierte Poesie der Surrealisten anti‐ zipieren, ist allerdings nicht neu. Auch auf die Beziehung zwischen D’Annunzios Ästhetisierung des Kriegsgeschehens und der Kriegskunst der Futuristen ist häufig hingewiesen worden. 2.2 Künstler contra Dandy 77 <?page no="78"?> 80 J.-K. Huysmans, A Rebours, op. cit., S.-105. 81 M. Proust, A la recherche du temps perdu I, op. cit., S.-479. Weniger bekannt scheinen die „militanten“ Passagen bei Autoren wie Huys‐ mans und Proust zu sein, deren Werke in den Augen der meisten Leser von der Abgeschiedenheit und Einsamkeit des Künstlers oder Ästheten zeugen. Dennoch kündigt ein Buch wie A Rebours die ästhetische Revolte der Avantgarden an: Des Esseintes’ Einsiedlerdasein schließt die Rache am Bür‐ gertum keineswegs aus; es wird vielmehr zum Nährboden einer zu keinem Kompromiß bereiten antibourgeoisen Gesinnung. Des Esseintes führt einen etwa fünfzehnjährigen Straßenjungen in das Bordell der Mme Laure ein, zahlt ihm seine Freuden und verspricht, ihm auch in Zukunft einen regelmäßigen Bordellbesuch zu finanzieren. Eines Tages wird er aber aufhören zu zahlen, und dem an regelmäßigen Geschlechtsverkehr gewöhnten Jungen wird nichts anderes übrigbleiben, als sich das fürs Freudenhaus benötigte Geld mit Gewalt zu verschaffen. Er wird zu einem Feind der Gesellschaft, zum Kriminellen. Des Esseintes stellt sich die Entwicklung seines Zöglings folgendermaßen vor: „En passant les choses à l’extrême, il tuera, je l’espère, le monsieur qui apparaîtra mal à propos tandis qu’il tentera de forcer son secrétaire; - alors, mon but sera atteint, j’aurai contribué, dans la mesure de mes ressources, à créer un gredin, un ennemi de plus pour cette hideuse société qui nous rançonne.“ 80 Der Ästhet trägt sich hier mit dem Gedanken, an der „häßlichen Gesellschaft, die uns ausbeutet“, Rache zu nehmen. Soviel Aggressivität provoziert die „Wirtschaftsgesellschaft“ in Prousts Roman nicht; die Außenseiterrolle des Erzählers bringt dort allerdings einen Verlust des Wirklichkeitssinns mit sich, der gewalttätigen Phantasien Tür und Tor öffnet. Unterhalb der Oberfläche des mondänen Intellekts und der soziali‐ sierten Affekte entdeckt der Erzähler seine pathologische Bewunderung für Mme Swann, die er geheimhält, weil sie mit den Konventionen der Gesellschaft unvereinbar ist. Er vergleicht sie mit der Reaktion eines Psychopathen, den wir als solchen noch nicht erkannt haben, der uns aber, während wir uns mit ihm über die Passanten unterhalten, ganz beiläufig gesteht: „C’est malheureux que je n’aie pas mon revolver; il n’en serait resté pas un seul (…).“ 81 Hier geht es nicht um die schlichte Analogie zu Bretons „acte surréaliste le plus simple“, sondern um den gemeinsamen Ursprung dieser Phantasien in der Krise der Werte, die auf die Arbeitsteilung, die Vermittlung durch den Tauschwert und die ideologischen Konflikte zurückzuführen ist. Sie wird in allen Einzelheiten in A Rebours beschrieben, wo vor allem die Vermittlung als Ursache der Krise diagnostiziert wird. 78 2 Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons <?page no="79"?> Wo die tradierten Wertmuster unglaubwürdig werden, bietet sich der Rückzug in die Innerlichkeit, in Narzißmus und Traum vielen als der einzige Ausweg an. Vor allem bei Mallarmé, George und Proust erscheint die Kunst, die Schrift, als die wahre Wirklichkeit, als die einzige Alternative zum falschen Schein der Welt. Nur scheinbar brechen die Surrealisten mit der Autonomieästhetik der Dichter: Denn die surrealistische Forderung nach einer Beseitigung der Barriere, die Kunst und Gesellschaft trennt, ist nichts anderes als ein Versuch, Mallarmés und Prousts Ästhetik in Praxis umzusetzen. Wenn die Kunst oder die Literatur die wahre Wirklichkeit ist, dann muß die falsche, die bürgerliche Wirklichkeit ihr weichen. Bretons Einstellung zur Autonomieästhetik (Prousts) wäre in diesem Zusammenhang durchaus mit Marxens Kritik an Hegel und an der deutschen klassischen Philosophie zu vergleichen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“ - „Die Schriftsteller haben in der Dichtung die wahre Wirklichkeit erkannt; es kommt nur darauf an, die Dichtung zu praktizieren“, könnte die surrealistische Paraphrase der 11. These über Feuerbach lauten. 2.2 Künstler contra Dandy 79 <?page no="81"?> 1 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S.-396. 2 Ibid. S.-395. 3 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Köln, Könnemann, 1997, S.-36. 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard. Konstruktion und Krise des Subjekts zwischen Moderne und Postmoderne Daß Kant in seiner kritizistischen Phase die Grenzen subjektiver Erkenntnis abgesteckt und dadurch den Totalitätsanspruch der Hegelschen Philosophie antizipierend in Frage gestellt hat, ist ihm von Schopenhauer und später Adorno hoch angerechnet worden. Negative Dialektik wird sich nicht „bei sich“ beruhigen, „als wäre sie total“: „Kant hat in der Lehre vom transzendenten Ding an sich jenseits der Identifikationsmechanismen davon etwas aufgezeigt.“ 1 Als Denker des „Blocks“ (Adorno), der Grenze und der Selbstbeschränkung des erkennenden Subjekts erscheint eher Kant als Vorläufer der philosophisch-lite‐ rarischen Skepsis der Spätmoderne und der negativen Dialektik denn Hegel, dessen Absolutes Adorno als „Säkularisation der Gottheit“ 2 zurückweist. Jedoch ist diese antihegelianische Perspektive umkehrbar, weil die von Kant aufgezeigten Anschauungsformen des Raums und der Zeit zusammen mit den anderen transzendentalen Denkformen nicht nur als Grenzen, sondern zugleich positiv als neue Grundlagen der Erkenntnis zu betrachten sind: als Fundamente einer subjektiven Autonomie, auf die sich auch die Kritische Theorie - trotz aller Kritiken an Kant - immer wieder berief. Daß es bei Kant nicht nur um einen Begrenzungsversuch, sondern auch um eine Neubegründung der Subjektivität ging, klingt zu Beginn von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung an, wo neben Kants Plädoyer für Begrenzung auch die Neubegründung subjektiver Erkenntnis hervorgehoben wird. Sie besteht darin, „daß die wesentlichen und daher allgemeinen Formen alles Objekts, welche Zeit, Raum und Kausalität sind, auch ohne die Erkenntniß des Objekts selbst, vom Subjekt ausgehend gefunden und vollständig erkannt werden können, d. h. in Kants Sprache, a priori in unserem Bewußtseyn liegen. Dieses entdeckt zu haben, ist ein Hauptverdienst Kants und ein sehr großes“. 3 Im folgenden soll dargetan werden, wie die von Kant begründete Autonomie des Subjekts, die a priori räumlich und zeitlich konstituiert wird, sich zugleich aber im kategorischen Imperativ und in der Betrachtung des Schönen mit interesselosem Wohlgefallen gegen die psychische, die wirtschaftliche und die <?page no="82"?> 4 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart, Reclam, 1971, S.-91. 5 Ibid., S.-156. 6 Vgl. ibid., S.-139-144. politische Heteronomie kehrt, von Mallarmé, Valéry und Adorno ex negativo verteidigt, von Lyotard aber einer nachmodernen Negativität geopfert wird. Während die spätmodernen Dichter und Adorno versuchen, die von Kant entworfene ästhetische und kognitive Autonomie des Subjekts durch extreme Negationen des Bestehenden zu retten, opfert Lyotard in einer Dialektik der Verzweiflung das Subjekt der avantgardistischen Negativität, die es retten sollte. Dadurch leitet er Adornos spätmodernen Negativismus in eine nachmoderne, weil subjektlose Problematik über. In diesem Prozeß der Subjektnegation fällt Kants Ästhetik eine Schlüsselpo‐ sition zu. Denn diese Ästhetik gründet auf zwei Kernbegriffen, die einander möglicherweise widersprechen: auf dem Begriff des Schönen und auf dem des Erhabenen. Während das Schöne von Kant als eine von Verstand und Einbildungskraft empfundene Harmonie definiert wird, erscheint das Erhabene als Widerstreit oder Widerspruch, der die Einheit des Subjekts radikal in Frage stellt. Vom Schönen heißt es beispielsweise: „Diese bloß subjektive (ästhetische) Beurteilung des Gegenstandes, oder der Vorstellung wodurch er gegeben wird, geht nun von der Lust an demselben vorher, und ist der Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen (…).“ 4 Kontrastiv wird das Erhabene als Widerstreit definiert: „Denn, so wie Einbildungskraft und Verstand in der Beurteilung des Schönen durch ihre Einhelligkeit, so bringen Einbildungskraft und Vernunft hier durch ihren Widerstreit, subjektive Zweckmäßigkeit der Ge‐ mütskräfte hervor (…).“ 5 Das Erhabene, das Lust und Unlust, Bewunderung und Schrecken vereinigt, zerstört die subjektiv empfundene Harmonie des Schönen. Freilich beziehen sich Kants Überlegungen fast ausschließlich auf die Natur und (was das Erhabene angeht) auch auf die mathematische Unendlichkeit. 6 Jean-François Lyotard knüpft zwar an Kants Theorie des Erhabenen an, versucht aber, sie auf Kunst und Literatur anzuwenden: auf eine Literatur, die der „Erhabenheit“ des Spätkapitalismus entspricht. Diese Wirtschafts- und Gesellschaftsform wird ihm zu einem schier unfaßbaren Phänomen, dem nur eine Kunst des „Erhabenen“, welche die Subjektivität zerrüttet, gerecht werden kann. In dieser Hinsicht (als „Versprachlichung“ des Erhabenen) ähnelt seine Argu‐ mentation der des Longinus, der das Erhabene nicht nur als Naturphänomen, sondern auch und vor allem als rhetorische (sprachlich-ästhetische) Geste auffaßt, d.h sich eine „erhabene“ Redeweise vorzustellen sucht. Allerdings ist Longinus weit davon entfernt, die Wahrnehmung des Erhabenen mit einer 82 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="83"?> 7 Longinus geht es u.a darum, den persuasiven Charakter der Rhetorik rhetorisch zu kaschieren, damit im Hörer nicht das berechtigte Gefühl aufkommt, manipuliert zu werden: „Erhabenheit und Pathos sind deshalb Mittel gegen den Argwohn beim Ge‐ brauch von Redefiguren und eine wunderbare Hilfe, und ein geschickt herangezogener Kunstgriff bleibt ansonsten durch Schönheit und Größe verborgen und entgeht jedem Verdacht.“ (Longinus, Vom Erhabenen [Griechisch/ Deutsch], Stuttgart, Reclam, 1988, S.-55.) 8 Daß hier - wie in allen Diskursen - Relevanzkriterien eine entscheidende Rolle spielen, zeigt Bertrand Russells Kommentar, der (wie so oft) dazu neigt, Kants Gegensätze einzuebnen und den Gegensatz zwischen dem Schönen und dem Erhabenen zu baga‐ tellisieren: „Like everybody else at that time, he wrote a treatise on the sublime and the beautiful. Night is sublime, day is beautiful; the sea is sublime, the land is beautiful; man is sublime, woman is beautiful; and so on.“ (History of Western Philosophy, London, Allen-Unwin, 1961, S. 679.) Adornos und Lyotards Kommentare lassen erkennen, daß Kants Gegensatz zwischen dem Schönen und dem Erhabenen so trivial nicht ist. 9 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen (Kant-Lektionen, Kritik der Urteilskraft, §§ 23-29), München, Fink, 1994, S.-141. 10 Ibid., S.-163. 11 J.-F. Lyotard, Das Inhumane, Wien, Passagen, 1989, S. 184. (L’Inhumain, Paris, Galilée, 1988, S.-116.) Zerrüttung der Subjektivität zu verknüpfen. Im Gegenteil, sowohl das Schöne als auch das Erhabene, die er keineswegs als Gegensätze definiert, sollen zur besseren rhetorischen Selbstdarstellung des Sprechenden beitragen. 7 Mit Longinus verbindet Lyotard der Gedanke, daß es so etwas wie eine erhabene Sprache geben kann. Daß diese Sprache beim postmodernen Philosophen eine ganz andere Funktion erfüllt als beim römischen Rhetoriker, liegt auf der Hand. In seinen Leçons sur l’Analytique du sublime (1991) hat Lyotard - zu Recht oder zu Unrecht 8 - den Gegensatz zwischen dem Schönen, das vom Verstand und dem Erhabenen, das von der Vernunft erfaßt wird, als globalen, unversöhnlichen Widerstreit in Kants Ästhetik gedeutet und mit dem Subjektproblem verknüpft: „Anstelle des Verstandes betritt also die Vernunft die ‚Szenerie‘. Sie fordert das einbildende Denken heraus: mach das Absolute, das ich begrifflich vorstelle, durch deine Formen präsent! Die Form ist nun aber Begrenzung (…). Sie kann das Absolute nicht darstellen.“ 9 Für das Subjekt, das bei Lyotard in Anführungszei‐ chen erscheint (wie alle Schlüsselbegriffe der Moderne, wenn sie postmodern relativiert werden sollen), bedeutet dies: „Der Geschmack versprach ihm ein schönes Leben, das Erhabene droht ihm mit dem Tod.“ 10 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daran zu erinnern, daß Lyotard meint, nur eine Ästhetik des Erhabenen könne dem zeitgenössischen Gesell‐ schaftssystem des Spätkapitalismus gerecht werden, denn: „Es ist etwas Erha‐ benes in der kapitalistischen Ökonomie“. („Il y a du sublime dans l’économie capitaliste.“) 11 Die Ästhetik des Schönen sei den nachmodernen Verhältnissen 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard 83 <?page no="84"?> 12 Vgl. J.-F. Lyotard, L’Inhumain. Causeries sur le temps, Paris, Galilée, 1988, S.-139. 13 Zum Begriff des Modernismus als Spätmoderne siehe: Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), S.-8-18. 14 Vgl. J. Scherer, Le „Livre“ de Mallarmé, Paris, Gallimard, 1977 (2. Aufl.). 15 Th. W. Adorno, „George“, in: ders., Noten zur Literatur IV, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S.-48. 16 S. George, „Über Dichtung“, in: ders., Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen, Berlin, Bondi (1903), 1958, S.-85. 17 Ibid., S.-86. nicht mehr adäquat. Somit fällt der zeitgenössischen Avantgarde, die nach Lyotard nichts mit Jencks’, Ecos oder Vattimos postmoderner Ästhetik zu tun haben sollte 12 , der schier unerfüllbare Auftrag zu, das Undarstellbare oder Erhabene darzustellen. Daran kann das ästhetische Subjekt zugrunde gehen. Die These, die hier im Anschluß an das bisher Gesagte entwickelt wird, lautet: Während Mallarmé, Valéry und Adorno einer Ästhetik das Wort reden, die trotz ihrer Negativität und ihrer partiellen Abkehr von Kant (Adorno) der Einheit und der Autonomie des produzierenden und des rezipierenden Subjekts verpflichtet ist, entwirft Lyotard eine Ästhetik, die die moderne und modernistische (spät‐ moderne) 13 Subjektivität durch die Kategorie des Erhabenen radikal negiert. Diese Negation des Subjekts und des Subjektbegriffs ist allerdings schon in den verzweifelten Negationen Mallarmés, Valérys und Adornos angelegt, die die postmoderne Zerreißprobe ankündigen. Die Dialektik der spätmodernen Sub‐ jektivität ist so zu verstehen, daß der immer radikaler werdende Negativismus der Dichter, der das individuelle Subjekt retten sollte, diesem schließlich ein Ende bereitet. 3.1 Stéphane Mallarmé oder Subjektivität als Negation Wäre man gezwungen, Mallarmés Position in Sprache und Gesellschaft in wenigen Worten zusammenzufassen, so müßte man sagen, daß er den Wider‐ stand Baudelaires und des Ästhetizismus gegen Ideologie, Utilitarismus und Tauschwert auf allen sprachlichen Ebenen radikalisiert und schließlich die Aus‐ sichtslosigkeit seines Vorhabens einsieht. Davon zeugt sein unvollendetes Livre, dessen Skizzen und Fragmente Jacques Scherer veröffentlicht hat. 14 Das „lyrisch noch tragfähige sprachliche Material“ 15 , von dem Adorno im Zusammenhang mit George spricht, reichte bei keinem der Dichter aus, um „die notwendige folge des einen aus dem anderen“ 16 zu begründen, von der bei George die Rede ist. Es gestattete keinem von ihnen, jederzeit nach Georges Maxime zu handeln, an die sich auch Mallarmé hielt: „Strengstes maass ist zugleich höchste freiheit.“ 17 84 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="85"?> 18 Mallarmés Vereinsamung in der Gesellschaft kommentiert Joseph Jurt, der sich auf Bourdieus Soziologie der intellektuellen Felder beruft: „Les Mécanismes de constitution des groupes littéraires: l’exemple du symbolisme“, in: Neophilologus 70, 1986, S. 21-29. Jurt zeigt u.-a., daß die Dichtung als Gattung vom Roman marginalisiert wird: S.-29. 19 Siehe: B. Marchal, La Religion de Mallarmé. Poésie, mythologie et religion, Paris, Corti, 1988, S.-553. 20 J.-P. Sartre, „L’Engagement de Mallarmé“, in: Obliques (Sondernummer „Sartre“), 18-19, 1979, S. 170: „Dieu meurt, les mots retombent sur eux-mêmes, reste un nominalisme désespéré.“ 21 H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg, Rowohlt, 1970 (3. Aufl.), S.-113. 22 Siehe: Ch. Baudelaire, „Salon de 1846“ („Aux bourgeois“), in: ders., Œuvres complètes II, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1976, S.-415. 23 Th. Gautier, Mademoiselle de Maupin („Préface“), Paris, Gallimard (Folio), 1973, S. 267. 24 J.-K. Huysmans, A Rebours, Paris, Fasquelle, 1970, S.-99. 25 Ibid., S.-267. 26 S. Mallarmé, „Etalages“, in: ders., Œuvres complètes, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1945, S.-373. 27 Ibid., S.-374. Konsens scheint darüber zu bestehen, daß Mallarmés Ausgangssituation eine vom Säkularisierungsprozeß entzauberte Gesellschaft und eine von Tauschwert, Kommerz und Ideologie depravierte Sprache war. 18 Auf den Tod Gottes als eine der Voraussetzungen von Mallarmés Dichtung gehen so verschiedene Autoren wie Bertrand Marchal 19 und vor ihm Jean-Paul Sartre in seinem bekannten Aufsatz „L’Engagement de Mallarmé“ 20 ein. Daß die Kommerzialisierung gesell‐ schaftlicher Kommunikation nicht nur Gautiers, Baudelaires und Huysmans’ sondern auch Mallarmés Widerstand provoziert, fällt Hugo Friedrich auf, der sich ansonsten mit soziologischen Erklärungen eher zurückhält: „Mallarmé führt jenen Prozeß weiter, der seit der Wende zum 19. Jahrhundert die Dichtung in den Widerstand gegen die kommerzialisierte Öffentlichkeit und gegen die wissenschaftliche Austreibung des Weltgeheimnisses geführt hat.“ 21 Anders als Baudelaire, der offen gegen den bürgerlichen Utilitarismus pole‐ misiert 22 , anders als Gautier, der in seiner bekannten „Préface“ zu Mademoiselle de Maupin behauptet, „tout ce qui est utile est laid“ 23 , oder Huysmans, der in A Rebours zusammen mit den „utilitaires et les imbéciles“ 24 die „aristocratie de l’ar‐ gent“ und die „tyrannie du commerce“ 25 geißelt, denkt Mallarmé die Vermittlung durch den Tauschwert als sprachliches Problem. Wie Huysmans beobachtet er die Komerzialisierung der Kultur und spricht vom „haut commerce de lettres“ 26 und von der „mentale denrée“ 27 ; aber klarer als seine Zeitgenossen erkennt er die Auswirkungen der Tauschgesetze auf das Wort: „Narrer, enseigner, même décrire, cela va et encore qu’à chacun suffirait peut-être pour échanger la pensée humaine, de prendre ou de mettre dans la main d’autrui en silence une pièce de 3.1 Stéphane Mallarmé oder Subjektivität als Negation 85 <?page no="86"?> 28 S. Mallarmé, „Crise de vers“, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S.-368. 29 Vgl. J.-P. Sartre, „L’Engagement de Mallarmé“, op. cit., S. 190: „La vérité c’est qu’il n’a rien à dire, ayant jeté d’avance son interdit sur tout.“ 30 H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, op. cit., S.-117. 31 S. Mallarmé, „Quant au livre“, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S.-378. 32 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-289. 33 S. Mallarmé, „Crise de vers“, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S.-363. monnaie, l’emploi élémentaire du discours dessert l’universel reportage dont, la littérature exceptée, participe tout entre les genres d’écrits contemporains.“ 28 Die Bedeutung dieser so häufig kommentierten Passage hängt wohl damit zusammen, daß sie die zwei Pole bezeichnet, zwischen denen Mallarmés Dich‐ tung auf tragische Art oszilliert: den Pol der Literatur oder des Schreibens („la littérature exceptée“) und den des Schweigens („silence“). Nun ist der Hinweis auf das bei Mallarmé stets drohende Verstummen beileibe nicht neu: Er findet sich sowohl bei Sartre 29 als auch bei Hugo Friedrich, der die „Nähe des Schwei‐ gens“ 30 betont; er ist inzwischen zu einem Gemeinplatz der Mallarmé-Forschung geworden. Er hängt jedoch mit einer Antinomie zusammen, der man bisher wenig Beachtung schenkte, die aber die Dynamik der zitierten Passage ausmacht: mit dem auch von Mallarmé nicht konsequent reflektierten Widerspruch zwischen dem sich auf alle Kommunikationsformen ausdehnenden Tauschgesetz und der Möglichkeit einer „poésie pure“. Ist es nicht eine Frage der Zeit, bis der Tausch auch die „littérature“ erfaßt? Hat er sie nicht bereits erfaßt, als Mallarmé die hier wiedergegebenen Zeilen schrieb? Wie tragfähig war das „lyrisch noch tragfähige Material“ zu jenem Zeitpunkt? Nicht auf die Beantwortung dieser Fragen kommt es hier an, sondern darauf, den nicht ausgetragenen Widerspruch weiterzudenken. Er besteht darin, daß Mallarmé sich trotz seiner Neigung zur Negativität an einem Schönheitsideal orientiert, das von der Harmonie geprägt ist. Der Dichter, der von einem „pacte avec la Beauté“ 31 des Poëte spricht, kann sich nicht vorstellen, daß Schönheit zum Klischee verkommt; daß es, wie Adorno sagt, „immer weniger Gutes aus der Vergangenheit“ 32 gibt: „Je ne vois, et ce reste mon intense opinion, effacement de rien qui ait été beau dans le passé (…).“ 33 Diese Überzeugung hängt durchaus mit Mallarmés Literatur- und Sprachthe‐ orie zusammen, die auf eine Überwindung der Kontingenz, des Zufalls abzielt. Alle Anstrengungen Mallarmés und Georges, den Zufall zu bannen und der das Subjekt bedrohenden Kontingenz zu entgehen, konvergieren in der Suche nach jenem „strengsten maass“, von dem bei George die Rede ist: in der Suche nach phonetischer, semantischer und syntaktischer Stimmigkeit, die in Mallarmés 86 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="87"?> 34 S. Mallarmé, „Quant au livre“, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S. 387. - Über den Zufall in Mallarmés Igitur schreibt Erich Köhler in seinem wichtigen Buch Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München, Fink, 1973, S. 63: „Doch der ‚Acte‘, der Würfelwurf des ‚nombre unique‘, eröffnet mit der Ausschaltung der kontingenten Zeitlichkeit nicht das Unendliche und Absolute, vielmehr erweist dieses sich als identisch mit dem Nichts.“ 35 S. Mallarmé, „Variations sur un sujet“, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S.-368. 36 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S.-145. und Georges Übersetzungen aus dem Englischen so stark ausgeprägt ist. Sowohl in Mallarmés Poe-Übersetzungen als auch in Georges Nachdichtungen einiger Sonette Shakespeares wird die gebundene Rede durch die Übertragung ins Fremde auf allen Ebenen verstärkt. Mallarmés „Idéal“, von dem bei ihm immer wieder die Rede ist, ist einerseits zwar von der Negation der kommerzialisierten Kommunikation geprägt, andererseits jedoch durchaus auf die Harmonie des Schönen im Sinne von Kant ausgerichtet. Als Alternative zu dem „Wort für Wort besiegten Zufall“, dem „hasard vaincu mot par mot“ 34 , zeichnet sich die Harmonie des Schönen ab: eine Harmonie, die aus einer rigorosen Herrschaft über Wort und Satz hervorgehen soll. Vieldeutigkeit („virtualité“), Verfremdung, Innovation und Esoterik prägen zwar Mallarmés Sprache ebenso wie die der Avantgarden, vor allem der Surrealisten; sie sind aber Funktionen eines Diskurses, der auf Harmonie aus ist. Mallarmés „virtualité“ ist als „Traum und Gesang“ nicht von Georges „höchster freiheit“ des schreibenden und des lesenden Subjekts zu trennen. Sie soll diese Freiheit als Autonomie des Subjekts steigern und dadurch die Subjektivität festigen: „Au contraire d’une fonction de numéraire facile et représentatif, comme le traite d’abord la foule, le dire, avant tout, rêve et chant, retrouve chez le Poëte, par nécessité constitutive d’un art consacré aux fictions, sa virtualité.“ 35 Die Not‐ wendigkeit als „nécessité constitutive“ und als subjektive Sprachbeherrschung soll zugleich die größtmögliche Freiheit des Subjekts gewährleisten. Adorno mag durchaus recht haben, wenn er in der Ästhetischen Theorie auf die Verwandtschaft zwischen Mallarmés Ästhetizismus und den Traumexperi‐ menten der surrealistischen Avantgarde hinweist und bemerkt, daß die „extrem vergeistigte Kunst wie die von Mallarmé her datierende und die Traumwirrnis des Surrealismus (…) darin viel verwandter [sind], als es dem Bewußtsein der Schulen gegenwärtig ist (…)“. 36 Die hier angesprochene Verwandtschaft Mallarmés und Bretons in der „virtualité“, im „rêve“ und im „chant“ gründet allerdings auf dem gemeinsamen romantischen Erbe, in dem Traum und Gesang wesentliche Komponenten der subjektiven Autonomie und Freiheit waren. 3.1 Stéphane Mallarmé oder Subjektivität als Negation 87 <?page no="88"?> 37 Vgl. J.-P. Sartre, Qu’est-ce que la littérature? , Paris, Gallimard, 1948, S. 220. „Il s’agit d’anéantir, d’abord, les distinctions reçues entre vie consciente et inconsciente, entre rêve et veille. Cela signifie qu’on dissout la subjectivité.“ 38 A. Breton, Point du jour, Paris, Gallimard, 1970, S.-70. 39 Ibid., S.-15. 40 Vgl. K. H. Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, Frankfurt, Suhrkamp, 1978 - sowie „Surrealismus und Terror oder die Aporien des Juste-milieu“, in: ders., Die gefährdete Phantasie oder Surrealismus und Terror, München, Hanser, 1970, S.-32-36. 41 Zur „transmentalen Sprache“ der russischen Futuristen siehe u. a. A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, Wien, Bundesverlag, 1978, S.-101. Sartre mochte der Meinung sein, daß die Traumexperimente der Surrealisten zur Auflösung der Subjektivität führen würden 37 ; die Surrealisten selbst sahen es anders. Ihnen war die Traumfähigkeit des Subjekts eine Garantie für seine Autonomie in einer durchorganisierten Gesellschaft. Bekanntlich hoffte Breton, daß der Traum, die „attente mystique“ und die „hallucination volontaire“ zu neuen Grundlagen der Subjektivität jenseits des gesellschaftlich gegängelten Bewußtseins werden könnten: „Tout dépend de notre pouvoir d’hallucination volontaire“ 38 , lesen wir in Point du jour. Die von Adorno aufgezeigte Verwandtschaft zwischen Mallarmé und dem Surrealismus ist folglich eine Verwandtschaft im Schönen und in der Subjekti‐ vität, die jedoch im Surrealismus zunehmend in Frage gestellt werden. Während in der Dichtung Eluards und in einigen Gemälden Magrittes noch das Schöne im Sinne der Kantischen Harmonie vorherrscht, schlägt der surrealistische Traum bei Dalí, Max Ernst, Antonin Artaud und stellenweise auch bei Breton ins Undarstellbar-Erhabene um: ins Schreckliche, Gewalttätige und Indifferente, das jenseits aller Schönheitsideale anzusiedeln ist. „L’indifférent seul est admi‐ rable“ 39 , heißt es ebenfalls in Point du jour. Dies bedeutet, daß der Surrealismus zwar noch der modernistischen Problematik angehört, in nuce jedoch eine „Ästhetik des Schreckens“ 40 und des Erhabenen enthält, die Lyotard und andere Autoren veranlaßt hat, ihn für die Postmoderne zu reklamieren. Man würde allerdings grob vereinfachen, wollte man Mallarmés ästhetisches „Idéal“ schlicht als kantianisch definieren und seine Ästhetik (Poetik) als eine Autonomieästhetik im Sinne der Kantianer, im Sinne der New Critics etwa, auffassen. Einem reduktionistischen Versuch dieser Art widersprächen die avantgardistischen Elemente in seinem Werk, die allesamt aus der Negation der entstehenden Kommunikations- und Tauschgesellschaft ableitbar sind: Innovation, Verfremdung, Hermetismus und eine „transmentale Sprache“ 41 im Sinne der russischen Futuristen, die vom Neologismus lebt. Alle diese Elemente werden vom Dichter zwar (wie sich gezeigt hat) einem nach Harmonie strebenden Diskurs einverleibt; sie drohen aber diesen Diskurs zu sprengen, 88 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="89"?> 42 Vgl. U. Eco, Nachschrift zum „Namen der Rose“, München, DTV, 1987 (8. Aufl.), S. 78: „Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weitergehen kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmöglichen Texten spricht.“ 43 Vgl. L. W. Marvick, Mallarmé and the Sublime, Albany, State Univ. of New York Press,1986. weil sie als Negativa schließlich die Grenzen der Sprachbeherrschung und der Subjektivität zutage treten lassen. Sie kündigen das Verstummen des Subjekts an, weil, wie Eco richtig gesehen hat, 42 Innovation, Hermetismus und Verfrem‐ dung nicht endlos weiterentwickelt werden können und weil eine asketisch gesäuberte Sprache schließlich mit dem Undarstellbaren konfrontiert wird. Was etwa in der Romantik im Rahmen bestehender lyrischer Diskurse dargestellt werden konnte, wird nun als undarstellbar vom Dichter verflucht. Geht man mit Louis Wirth Marvick, der sich auf Longinus beruft, davon aus, daß der Begriff des Erhabenen auf Kunst und Literatur anwendbar ist 43 , so kommt man zu dem Schluß, daß Mallarmés bekanntes Jugendgedicht L’Azur in vieler Hinsicht - wenn auch im Kontext einer modernistischen Ästhetik des Schönen - die postmoderne Aporie des Erhabenen antizipiert, wie sie von Lyotard be‐ schrieben wird. Während der Lektüre dieses Gedichts meint der zeitgenössische Leser, die Stimme von Lyotards Vernunft zu hören, die an Stelle des Verstandes die Bühne betritt: „Mach das Absolute, das ich begrifflich vorstelle, durch deine Formen präsent! “ Die Formen der Lyrik aber beinhalten eine Begrenzung, und der Dichter vermag das Absolute nicht zu vergegenwärtigen. Wie sieht nun diese postmoderne Allegorie bei Mallarmé aus? L’Azur, ein Gedicht aus dem Jahr 1866, das immer von neuem kommentiert wird, kann hier nicht in seiner Gesamtheit analysiert werden. Eine selektive Lektüre der ersten und der letzten Strophe, die in dem hier entworfenen Kontext symptomatisch erscheinen, läßt eine Verknüpfung des Schönen mit dem Erhabenen (im Sinne von Kant und Lyotard) erkennen: De l’éternel Azur la sereine ironie Accable, belle indolemment comme les fleurs, Le poëte impuissant qui maudit son génie A travers un désert stérile de Douleurs. (…) 3.1 Stéphane Mallarmé oder Subjektivität als Negation 89 <?page no="90"?> 44 S. Mallarmé, L’Azur, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S.-37-38. 45 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, op. cit., S.-134. 46 L.W. Marvick, Mallarmé and the Sublime, op. cit., S.-71. 47 Vgl. ibid. Kap. XII-XIII: „The Context of the Word ‚Sublime‘ in Mallarmé’s Prose“, S. 97. 48 S. Mallarmé, „Variations sur un sujet“, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S.-368. Il roule par la brume, ancien et traverse Ta native agonie ainsi qu’un glaive sûr; Où fuir dans la révolte inutile et perverse? Je suis hanté. L’Azur! l’Azur! l’Azur! l’Azur! 44 Die Ewigkeit des Azur, des blauen Himmels (die deutsche Übersetzung ist zum Scheitern verurteilt), könnte, wäre sie mit euphorischen Konnotationen besetzt, das Erhabene nicht evozieren. Nur als Negativität, die in accable, impuissant und maudit zum Ausdruck kommt, kann sie in die Nähe des Erhabenen gerückt werden. Denn es heißt bei Kant: „Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm, oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird (…).“ 45 Auf Mallarmés Azur scheint Kants Definition in jeder Hinsicht zuzutreffen: Es ist formlos, unbegrenzt und evoziert zugleich eine schier undarstellbare Totalität. Insofern gilt Louis Wirth Marvicks Postulat: „Kant’s ideas are fit to be applied to the writings of Mallarmé.“ 46 (Allerdings wendet der amerikanische Li‐ teraturwissenschaftler den Begriff des Erhabenen nicht auf Mallarmés Gedichte an, sondern konzentriert sich auf die Frage, wie der Dichter das Wort „sublime“ verwendet.) 47 Die zweifache Ironie der beiden ersten Zeilen besteht darin, daß die Schönheit des strahlenden Himmels, die noch von Romantikern in den verschiedensten Versformen besungen wurde, nun unzertrennlich vom sprachlich Undarstell‐ baren begleitet wird. Der Vergleich mit den ästhetisch harmlosen, weil immer noch darstellbaren Blumen setzt diese Ironie fort, weil er suggeriert, daß sich einst auch die Blume dem sprachlichen Zugriff des Dichters entziehen könnte. Zwanzig Jahre später, in Crise de vers (1886), erscheint ihm nur noch die erfundene, die imaginäre Blume darstellbar, die in keinem Strauß zu finden ist: „Je dis: une fleur! et, hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose d’autre que les calices sus, musicalement se lève, idée même et suave, l’absente de tous bouquets.“ 48 Diese Passage läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Vergessen sind die wohlbekannten Blumen im Garten, weil sie 90 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="91"?> 49 P. Bénichou, Selon Mallarmé, Paris, Gallimard, 1995, S.-82. durch die sprachlich-ideelle Blume des Dichters ersetzt werden, die in jedem Strauß fehlen muß. Die hier ausgedrückte Negativität gibt auch in L’Azur den Ton an; sie erscheint dort aber nicht nur als Sprachbeherrschung und asketischer Verzicht, sondern auch und in noch stärkerem Maße als Bedrohung des lyrischen Subjekts, das sich in einer „öden Wüste aus Schmerz“ seine „Ohnmacht“ eingestehen muß und sein Genie verflucht. Dabei wird ein möglicher Übergang vom Schönen zum Erhabenen sichtbar. Der Dichter, der auf immer mehr kommunizierbare, aber kommerzialisierte Stereotypen der Sprache verzichtet und sich auf das „noch tragfähige lyrische Material“ beschränken muß, wird mit der Undarstell‐ barkeit des ehemals Schönen konfrontiert. Es schlägt ins Erhabene um, weil die Darstellbarkeit vom Betrachter abhängt - und vom Zustand der Sprache. Die „heitere Ironie“ des ewigen Azur wird zwar noch als „belle“ bezeichnet, aber ihre Schönheit sprengt die Grenzen des Schönen. Der Neologismus indo‐ lemment (indolent = indolore, indifférent, insensible, apathique; schmerzlos, gleichgültig) führt zusammen mit dem Verb „accable“ das Schöne ins Gleich‐ gültig-Schöne, ins Erhabene über. Denn die unempfindlich-gleichgültige Schön‐ heit ist jenseits der Menschen und wird vom lyrischen Subjekt als Bedrohung und Qual empfunden. Wie akut sich das Subjekt von der gleichgültigen und unempfindlichen Schönheit des Azur bedroht fühlt, wird in der letzten Strophe deutlich, in der der strahlende Himmel - allen Beschwörungen des ohnmächtigen Dichters zum Trotz - zum Vorschein kommt und die ihm „angeborene Agonie“ mit „sicherem Schwert“ durchbohrt. Der Dichter („le poëte impuissant“) muß sich eingestehen, daß seine Revolte „nutzlos und pervers“ war: Angesichts der Herausforderung durch das Erhabene hat sich sein sprachliches Material als nicht mehr tragfähig erwiesen. Er muß zugeben, daß er hanté, besessen ist. Paul Bénichou weist in seinem Kommentar zu L’Azur darauf hin, daß die viermalige Wiederkehr des Wortes Azur in der letzten Zeile zusammen mit der Unendlichkeit eine „geistige Anomalie“ evoziert: „Die gängige Rhetorik läßt seit der Bibel die dreifache Wiederholung als gebräuchliche Figur zu; er aber ruft viermal: ‚L’Azur! ‘ Die Zahl 4 wird hier zum Signal einer endlosen Wiederholung, d. h. einer geistigen Anomalie.“ 49 Sowohl das Unendliche als auch die „geistige Anomalie“ deuten auf die Problematik des Erhabenen hin. Als Vernunftbegriff entzieht sich das Unend‐ liche der ästhetischen Darstellung durch das Subjekt; zugleich bewirkt es einen Widerstreit, der zur Spaltung des Subjekts angesichts des Gleichgültig-Men‐ 3.1 Stéphane Mallarmé oder Subjektivität als Negation 91 <?page no="92"?> 50 Siehe: J.-P. Richard, L’Univers imaginaire de Mallarmé, Paris, Seuil, 1961, S. 16-18 und S.-412-422. 51 Ibid., S.-16. 52 Ibid., S.-377. 53 J. Derrida, La Dissémination, Paris, Seuil, 1972, S.-303. 54 Ibid. 55 S. Mallarmé, Soupir, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S.-39. 56 J.-P. Richard, L’Univers imaginaire de Mallarmé, op. cit., S.-424. schenleer-Schönen führt. „Der Geschmack versprach ihm ein schönes Leben, das Erhabene droht ihm mit dem Tod“, erläutert Lyotard diesen Sachverhalt (s. o.). Die „geistige Anomalie“, von der der viermalige Ausruf des besessenen Dichters zeugt, evoziert den möglichen Tod des Subjekts. Ihn wollen jedoch Mallarmé, Valéry und Adorno mit allen verfügbaren Mitteln abwenden. Nach dem bisher Gesagten ist klar, daß Mallarmé nicht, wie Jean-Pierre Richard meint, an eine Subjektivität im Sinne von Hegel glauben konnte. 50 Und Jacques Derrida mag recht haben, wenn er Richards Behauptung zurückweist, daß Mallarmé eine „Vereinheitlichung der Welt“ 51 durch das Buch oder die Schrift anstrebte. Indem Richard immer wieder nachzuweisen versucht, daß Mallarmé sich bemüht, „das Verstreute zu gruppieren, die Dinge zu vereinheit‐ lichen, über die Kontingenz hinauszugelangen“ 52 , neigt er dazu, den Dichter als Hegelianer erscheinen zu lassen und sich über die irreduzible Ambivalenz von Wörtern wie azur, pli, blanc oder vierge hinwegzusetzen. Diese Ambivalenz stellt Derrida in den Vordergrund, wenn er Richards Interpretation eine „atmo‐ sphère intimiste, symboliste et néohégélienne“ 53 vorwirft und über Mallarmés Wort pli (Falte) schreibt, es bedeute nicht nur - wie Richard meint - Einheit und Geborgenheit, sondern auch das Gegenteil, nämlich „Öffnung, Dissemination, räumliche und zeitliche Verteilung“ („tout ce qui dans le pli marque aussi la déhiscence, la dissémination, l’espacement, la temporisation“). 54 Ähnliches ließe sich von l҆ ҆ ҆ ’azur sagen. In einem Jugendgedicht, das den Titel Soupir trägt, im Jahre 1864 entstanden und zwei Jahre später erschienen ist, ist von einem „Azur attendri d’Octobre pâle et pur“ 55 die Rede. Mit anderen Worten, wenn Jean-Pierre Richard von Mallarmés Metapher schreibt, sie sei eine „Vereinigung (accouplement) und die dialektische Synthese eine Reduktion des Zweifachen auf das Eine“ 56 , so hegelianisiert er einen Dichter, der als spätmoderner Dichter, als Modernist, aus der hegelianischen Synthese ausbrach, sie hinter sich ließ. Für ihn ist nicht so sehr Hegels Aufhebung kenn‐ zeichnend, sondern die Ambivalenz als Einheit der Gegensätze ohne Synthese, die nach Nietzsche den gesamten literarisch-philosophischen Modernismus prägt. Insofern ist Robert Greer Cohn recht zu geben, der feststellt: „Mallarmé ist nicht ‚Hegelianer‘ (auch nicht ‚Platoniker‘). (…) Der bekannten Hegelschen 92 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="93"?> 57 R. Greer Cohn, Vues sur Mallarmé, Paris, Nizet, 1991, S.-277. 58 Zur Beziehung von Ambivalenz, Offenheit und Anti-Synthese vgl. Vf., Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 1995 (2. Aufl.), S.-31-48. 59 S. Mallarmé, Igitur, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S.-442. 60 F. Th. Vischer, „Der Traum. Eine Studie zu der Schrift: Die Traumphantasie von Dr. Johann Volkelt“, in: ders., Kritische Gänge IV, München, Meyer-Jessen, 1922, S.-482. 61 F. Nietzsche, „Wir Philologen“, in: ders., Werke V, München, Hanser, 1980, S.-323. 62 P. Campion, Mallarmé. Poésie et philosophie, Paris, PUF, 1994, S.-118. Triade These-Antithese-Synthese hat er einen Terminus hinzugefügt, den wir erfinden mußten: die ‚Anti-Synthese‘.“ 57 Diese „Anti-Synthese“, die für Offen‐ heit, Vieldeutigkeit, Paradoxie, Parataktik, Essayistik und Ironie sorgt, ist das zentrale Strukturelement modernistischer Romane und Dramen von Wilde und Proust bis Svevo und Musil. 58 Bei Mallarmé tritt die Ambivalenz als Paradoxie und als Widerspruch ohne Aufhebung (Synthese) vor allem im Zusammenhang mit dem Zufall (le hasard) zutage. „Der Zufall ist und ist nicht“, heißt es in Igitur: „car il y a et n’y a pas de hasard“. 59 Die Anerkennung des Zufalls als eines unleugbaren und unaufhebbaren Faktors ist für die modernistische Ära charakteristisch, die nach dem Zerfall des Hegelschen Systems in der Mitte des 19. Jahrhunderts anbricht und von den Junghegelianern angekündigt wird. Zu ihnen gehört der Noch-Hegelianer Friedrich Theodor Vischer, der in seiner großen Ästhetik zwar vorwiegend hegelianisch argumentiert, in seinen späteren Schriften jedoch dem Meister vorwirft, er habe seine Synthese von Natur und Begriff in der „Weltvernunft“ nicht wirklich plausibel machen können: „Ist also die Natur nicht wirklich abgeleitet, so ist es auch der mit ihr gegebene Zufall nicht, und hieraus folgt zugleich, daß Hegel vom Zufall in der Naturseite des Geistes, also auch vom Traume, geringschätzig wie von allem Zufälligen, nur flüchtig und beiläufig redet.“ 60 Das tut Mallarmé, dessen letztes großes Werk - Un Coup de Dés - die Untilgbarkeit des Zufalls zum Gegenstand hat, keineswegs. Wie Nietzsche weiß er, „wie wenig Vernunft, wie sehr der Zufall unter den Menschen herrscht“. 61 Dennoch nimmt er sich in einem des Übermenschen würdigen Werk vor, der Notwendigkeit und einer den Zufall beherrschenden Subjektivität zum Durchbruch zu verhelfen. Deshalb wird er als Hegelianer mißverstanden. Aber das Projekt des Livre scheitert wie so manches modernistische Projekt und geht als „livre irréalisé“ in die Geschichte der modernen Literatur ein: „Das Buch wäre die Summe alles Seienden in sprachlicher Form gewesen (…).“ 62 Sein Scheitern zeugt nicht nur von der Unmöglichkeit, den Zufall zu bändigen, sondern 3.1 Stéphane Mallarmé oder Subjektivität als Negation 93 <?page no="94"?> 63 G. Inboden, Mallarmé und Gauguin. Absolute Kunst als Utopie, Stuttgart, Metzler, 1978, S.-26. 64 P. Campion, Mallarmé, op. cit., S.-119. zugleich vom „anti-synthetischen“, ambivalenten und offenen Charakter des spätmodernen Textes. Komplementär zum Scheitern des Livre verhält sich das mögliche Scheitern des Subjekts, das zwar weiterhin die Harmonie des Schönen anstrebt, zugleich jedoch vom Widerstreit des Erhabenen bedroht wird. Dieses Erhabene ist mit Nietzsches Dionysischem verwandt, das - wie das Erhabene - die apollinische Harmonie oder Synthese sprengt. Es ist nicht subjektiv beherrschbar und stellt sich allen Versuchen des Subjekts in den Weg, die Identität mit sich selbst hegelianisch wiederherzustellen. „Die Identität in Hegels Denken des Denkens ist in Mallarmés Dichten des Dichtens nicht erreicht und soll nicht erreicht werden“ 63 , bemerkt Gudrun Inboden in ihrem Buch über Mallarmé und Gauguin. Sie soll nicht erreicht werden, weil das modernistische Bewußtsein allzu sehr vom Widerspruch, von Ambivalenz und Kontingenz durchdrungen ist, als daß es sich noch den Glauben an Synthese und Absolute Idee bewahren könnte. Daher ist Pierre Campion recht zu geben, wenn er trotz des Hegelschen Erbes, das bei Mallarmé noch anzutreffen ist, dessen Dichtung mit der Philosophie Nietzsches verknüpft: „Was Mallarmé angeht, so ist zweifellos Nietzsches Phi‐ losophie der wichtigste Bezugspunkt.“ 64 Sie ist nicht nur deshalb wesentlich, weil sie Ambivalenz, Kontingenz und Zufall in den Mittelpunkt der Diskussion stellt, sondern auch deshalb, weil sie einen Zerfall des Subjekts im Dionysisch-Erha‐ benen ins Auge faßt. Diesen Zerfall versuchen nach Mallarmé auch Valéry und Adorno aufzuhalten, indem sie Kunst als Form - trotz Widerspruch, Ambivalenz und Kontingenz - mit dem Schönen und der Autonomie des Subjekts verknüpfen. 3.2 Von Valéry zu Adorno: „Le Beau est négatif“ Es gibt einen kurzen Text von Paul Valéry, der den Titel trägt „Le Beau est négatif “ und der in mancher Hinsicht Mallarmés Überlegungen aus Crise de vers fortzusetzen scheint. Der Text beginnt mit der Überlegung, daß das Schöne „Unsagbarkeit“, „Unbeschreibbarkeit“, „Unaussprechbarkeit“ beinhaltet. Sogleich verstrickt sich diese Negation, die - wie bei Mallarmé - eine Rettung des lyrischen Subjekts anstrebt, in eine modernistische Paradoxie, die in eine Aporie übergeht. Der Dichter soll das Verstummen beredt machen: „Or, si l’on veut produire un tel effet au moyen de CE QUI DIT, - du langage, - ou si 94 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="95"?> 65 P. Valéry, „Le Beau est négatif “, in: ders., Œuvres I, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1957, S.-374. 66 P. Valéry, „Tel Quel“, in: ders., Œuvres II, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1960, S.-705. 67 Zur Bedeutung von Mallarmés und Valérys Dichtung für Adornos Ästhetik vgl. P. V. Zima, Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2018 (2., erw. Aufl.), Kap. IV: „Ästhetische und politische Negation bei Adorno: Das Subjekt zwischen dem Schönen und dem Erhabenen“. 68 P. Valéry, „Lettre sur Mallarmé“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S.-641. 69 P. Valéry, „Je disais quelquefois à Stéphane Mallarmé“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S. 647. 70 Ibid. l’on ressent, causé par le langage, un tel effet, il faut que le langage s’emploie à produire ce qui rend muet, exprime un mutisme.“ 65 Die Aporie, die in der Forderung zum Ausdruck kommt, ein Verstummen auszudrücken, ist für die gesamte literarische Spätmoderne charakteristisch, die es sich nach Mallarmé nicht mehr erlauben kann, das durch Kommerz und Ideologie depravierte sprachliche Zeichen aufzunehmen. Wie Mallarmé fordert auch Valéry eine „vage“, vieldeutige Dichtung, die in keiner Ideologie aufgeht, weil sie nicht auf den Begriff zu bringen ist. Valéry, der wie Mallarmé die „indétermination de la musique“ 66 bewundert, wehrt sich gegen alle Auffassungen der Literatur, die deren ideellen Gehalt in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen und das Ästhetische in den Kommuni‐ kationszusammenhang integrieren. Wie später Adorno 67 faßt er literarisches Schreiben als negativen Prozeß der Ablehnung, der Aussonderung und des Abstoßens von kulturindustriell mißbrauchtem sprachlichem Material auf: „Le travail sévère, en littérature, se manifeste et s’opère par des refus. On peut dire qu’il est mesuré par le nombre de refus.“ 68 Diese Negativität wird sowohl bei Mallarmé als auch bei Valéry zur Grundlage einer Subjektivität, die nur noch als Auflehnung gegen den organisierten Kommunikationszusammenhang vorstellbar ist. Von Mallarmé, der seine Leser als „intelligences séparées“ 69 einzeln für sich gewinnen mußte, sagt Valéry, er habe ein Werk geschaffen, in dem alle Gemeinplätze der marktabhängigen Kommunikationsgesellschaft ausgemerzt wurden: „Point d’éloquence; point de récits; point de maximes, ou profondes; point de recours direct aux passions communes; nul abandon aux formes familières; rien de ce ‚trop humain‘ qui avilit tant de poèmes; une façon de dire toujours inattendue; une parole jamais entraînée aux redites et au délire vain du lyrisme naturel, pure de toutes les locutions de moindre effort; perpétuellement soumise à la condition musicale (…).“ 70 3.2 Von Valéry zu Adorno: „Le Beau est négatif “ 95 <?page no="96"?> 71 Vgl. z. B. François Rastiers semiotische Analyse von Mallarmés Gedicht Salut: F. Rastier, „Systématique des isotopies“, in: Essais de sémiotique poétique, Paris, Larousse, 1972, S.-96. 72 P. Valéry, Le Sylphe, in: ders., Œuvres I, op. cit., S.-136-137. Die zahlreichen Negationen in dieser Passage (viermal kehrt das Wort „point“ wieder), die sich allesamt gegen die erstarkende Forderung nach Kommunizier‐ barkeit auflehnen, sind auch für Mallarmés Dichtung und Poetik kennzeich‐ nend. Grundverschiedene - psychoanalytische und semiotische - Analysen seiner Texte haben die Bedeutung von Wörtern wie rien, vierge oder nul hervortreten lassen. 71 Auch bei Valéry wird diese Negation zur schrumpfenden Substanz einer stets prekärer werdenden Subjektivität: LE SYLPHE Ni vu ni connu Je suis le parfum Vivant et défunt Dans le vent venu! Ni vu ni connu Hasard ou génie? A peine venu La tâche est finie! Ni lu ni compris? Aux meilleurs esprits Que d’erreurs promises! Ni vu ni connu, Le temps d’un sein nu Entre deux chemises! 72 Die beiden ersten Strophen, in denen der Sylphe (Sylphus) als Genius der Lüfte spricht, werden von der für den gesamten Modernismus charakteristischen Ambivalenz geprägt: „Vivant et défunt“, „Hasard ou génie? “ Diese paradoxe Einheit der Gegensätze bewirkt, daß sich das Gedicht gegen jede Art von Sinnzuordnung sperrt. Der Sylphe, der im Wind herankommt, ist zugleich lebendig und tot, und in der zweiten Strophe werden Zufall und Genius in einer offenen Frage zusammengeführt. Offengelassen wird die Beziehung zwischen beiden: Wie verhalten sich Zufall und Genie zueinander? Sind sie nicht auf Gedeih und Verderb miteinander verzahnt, weil das Genie - wie Valéry in einem Kommentar zu seinem Gedicht Le Cimetière marin sagt - auf den glücklichen 96 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="97"?> 73 Vgl. P. Valéry, „Au sujet du Cimetière marin“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S. 1503: „Quant au Cimetière marin, cette intention ne fut d’abord qu’une figure rythmique vide (…).“ Siehe auch den Kommentar zu Le Cimetière marin von Monique Parent: „Le cimetière marin, poème du dépassement“, in: J. Schmidt-Radefeldt (Hrsg.), Paul Valéry, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1978, S. 73: „La vision est devenue métaphore, quand, après avoir donné le pas à l’impression sensible sur le concept, on a continué à accorder la première place aux conséquences de cette impression première.“ 74 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S.-231. 75 Ibid., S.-216. 76 P. Valéry, „Je disais quelquefois à Stéphane Mallarmé“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S. 668. Zufall angewiesen ist, den es weder bannen kann noch will? 73 Die Beantwortung dieser Fragen wird in die zweite Hälfte des Gedichts verlagert, in der die Rolle des Lesers ironisch kommentiert wird: Die besten Leser werden sich vielfach irren. Aber auch Irrtümer können fruchtbar sein. Schließlich verbirgt sich der Sinn wieder: wie der - den Bruchteil einer Sekunde lang - erspähte „Busen zwischen zwei Hemden“. Auch die hier vorgeschlagene Kurzcharakteristik des Gedichts legt es auf keinen Sinn fest, sondern beschreibt eher die in ihm ausgedrückte Sinnegation, von der in Adornos Ästhetischer Theorie immer wieder die Rede ist: „Die sinnlosen oder sinnfremden Werke des obersten Formniveaus sind darum mehr als bloß sinnlos, weil ihnen Gehalt in der Negation des Sinns zuwächst.“ 74 Nicht nur in Le Sylphe, sondern in nahezu allen Gedichten Valérys und Mallarmés fallen Negation und Formprinzip zusammen. Stets von neuem wird Adornos Maxime bestätigt: „Form konvergiert mit Kritik.“ 75 Was Valéry über Mallarmés Dichtung schreibt, antizipiert und bestätigt in jeder Hinsicht Adornos Ästhetische Theorie, die den beiden französischen Dichtern soviel verdankt. Über Dichtung als besonderen, abweichenden Sprach‐ gebrauch und über den formalen Unterschied von Dichtung und Prosa heißt es in Valérys wichtigem Kommentar „Je disais quelquefois à Stéphane Mallarmé“: „On aurait dit qu’il voulait que la poésie, qui doit essentiellement se distinguer de la prose par la forme phonétique et la musique, s’en distinguât aussi par la forme du sens. Pour lui, le contenu du poème devait être aussi différent de la pensée ordinaire que la parole ordinaire est différente de la parole versifiée.“ Valéry fügt hinzu: „C’était là un point capital.“ 76 In Valérys Le Sylphe fallen Phonetik, Grammatik und Semantik insofern zusammen, als das „Ni“ auf phonetischer Ebene die von beiden Dichtern angestrebte Negativität konnotiert und sie auf grammatischer und semantischer Ebene ausdrückt: durch eine konsequente Negation des Sinnes. Form als negatives Prinzip und als Kritik bildet bei Mallarmé, Valéry und Adorno die ästhetische Grundlage der spätmodernen Subjektivität: Nur wenn 3.2 Von Valéry zu Adorno: „Le Beau est négatif “ 97 <?page no="98"?> 77 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp, 1958, S.-193. 78 P. Valéry, „Je disais quelquefois à Stéphane Mallarmé“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S. 670. 79 Ibid. 80 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 229-230: „Deshalb bleibt es auch für das eigentlich Poetische gleichgültig, ob ein Dichtwerk gelesen oder angehört wird, und es kann auch ohne wesentliche Verküm‐ merung seines Werts in andere Sprachen übersetzt, aus gebundener in ungebundene Rede übertragen und somit in ganz andere Verhältnisse des Tönens gebracht werden.“ 81 Zum Thema „Autonomie und Selbstbestimmung“ bei Adorno vgl. P. Jepsen, Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012. Darin vor allem die Kapitel III und IV: „Die Widersprüchlichkeit individueller Selbstbestimmung“ und „Das Ende der Autonomie“. es gelingt, jenseits des Kommunikationsbetriebs Formen hervorzubringen, die den Leser zum kritischen Nachdenken anstacheln, kann noch von Subjektivität die Rede sein. Über Valéry heißt es in Adornos bekanntem Essay „Der Artist als Statthalter“: „Kunstwerke konstruieren heißt ihm: dem Opiat sich verweigern, in das die große sinnliche Kunst seit Wagner, Baudelaire und Manet sich verwandelt hat; die Schmach abzuwehren, welche die Werke zu Medien und die Konsumenten zu Opfern psychotechnischer Behandlung macht.“ 77 Valéry mochte geahnt haben, daß die Hybris, die heute mit dem Schlagwort „Intermedialität“ bezeichnet wird, Mallarmés und seiner eigenen negativen Poetik widersprach, denn er betont, wie sehr eine „intermediale“ Verflechtung von Dichtung und Musik gegen Mallarmés Intention verstieß, der Musikalität der Sprache Gehör zu verschaffen. Ihr galten alle seine Anstrengungen; nicht einer Kombination von Sprache und Musik, die Wagner vorschwebte, die aber der asketische Dichter (Valéry zufolge) als einen „véritable attentat contre la poésie“ 78 betrachtet hätte. Die intermediale Kulturindustrie antizipierend, lehnte er alle Synthesen ab, in denen er kluge Konzessionen an den kommerziellen Geschmack erkannte. Dies ist wohl der Grund, weshalb er von Debussys Vertonung seines L’Après-Midi d’un Faune nicht angetan war: „Mallarmé n’a pas été très satisfait de voir Claude Debussy écrire une partition de musique pour son poème.“ 79 Er wußte - im Gegensatz zu Hegel 80 - wie sehr jede Übertragung des lyrischen Textes in ein anderes Medium dem Wort Abbruch tut. Die Kombination heterogener Medien lenkt von der besonderen musikali‐ schen oder literarischen Konstruktion ab und ist deshalb - sowohl bei Mallarmé als auch bei Valéry und Adorno - abzulehnen. 81 Wie eng Negativität, Konstruk‐ tion und Subjektivität zusammenhängen, wird in Adornos Kommentar zu Valéry klar: „Das Kunstwerk, welches das äußerste von der eigenen Logik und der eigenen Stimmigkeit wie von der Konzentration des Aufnehmenden verlangt, 98 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="99"?> 82 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, op. cit., S.-192-193. 83 Aus Valérys Kommentaren zu Descartes’ Philosophie geht sein Festhalten an einem modernistisch relativierten (d. h. partikularisierten) Subjektbegriff hervor: P. Valéry, „Une vue de Descartes“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S. 838: „Ce qui enchante en lui et nous le rend vivant, c’est la conscience de soi-même, de son être tout entier rassemblé dans son attention (…).“ - Aus seinem Glauben an die Einheit der Person macht Valéry kein Hehl: „(…) Car il faut assurer la continuité de personnage non seulement à l’égard des tiers, mais de soi-même“, heißt es in „Tel Quel“, Œuvres II, op. cit., S. 762. (Hier tritt Valéry als ein Antipode der französischen Postmoderne auf.) 84 P. Valéry, „Une vue de Descartes“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S.-842. 85 P. Valéry, „Mallarmé“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S.-706. 86 P. Valéry, „Léonard et les philosophes“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S.-1246. 87 Ibid., S.-1245. ist ihm Gleichnis des seiner mächtigen und bewußten Subjekts, dessen, der nicht kapituliert.“ 82 Keine andere Mallarmé- oder Valéry-Deutung drückt so unmißverständlich die Zugehörigkeit der beiden französischen Dichter zur literarischen Spätmo‐ derne aus: Sowohl der Hegel-Kritiker und Nietzscheaner Mallarmé als auch der Cartesianer und Descartes-Kritiker Valéry unternahmen alles, um das in der Postmoderne vielgeschmähte Subjekt auf sprachlicher Ebene zu stärken. 83 Insofern waren sie Vorläufer und Geistesverwandte der Kritischen Theorie (Adornos, Horkheimers), deren Pascalscher pari der Rettung der subjektiven Autonomie galt. Von diesem Rettungsversuch zeugen bei Mallarmé und Valéry - ebenso wie bei Adorno - zwei komplementäre Begriffe: volonté und construction. Der Wille, das sprachliche Material zu formen, zu (re-)konstruieren, ist ihnen die letzte Gewähr für das Überleben des Subjekts im anbrechenden Zeitalter der Kulturindustrie. Valéry, der mit Bewunderung die „personnalité forte et témé‐ raire du grand Descartes“ 84 kommentiert, hebt die Rolle des konstruierenden Willens bei Mallarmé hervor, dessen Absicht es gewesen sei, „de soumettre à la volonté réfléchie la production d’un ouvrage (…)“ 85 , ohne den Charme und die Grazie zu zerstören, die den Leser von der Schönheit des kritischen Gedankens überzeugen: Le Beau est négatif. Wie radikal-konstruktivistisch Valérys Poetik ist, zeigt sich in seiner Ab‐ handlung über „Léonard et les philosophes“ (1929). Nicht nur Dichter, auch Philosophen, heißt es dort, sind Erfinder: „des créateurs qui s’ignorent“. 86 Lange vor den Radikalen Konstruktivisten stellt Valéry lapidar fest: „Peut-être que l’on ne conçoit bien que ce que l’on eût inventé.“ 87 Die Chancen von Dichtung und Subjektivität liegen in der Konstruierbarkeit der Welt als Negation des nicht mehr tragfähigen sprachlichen Materials. 3.2 Von Valéry zu Adorno: „Le Beau est négatif “ 99 <?page no="100"?> 88 Ibid., S.-1250-1251. 89 P. Valéry, „Mallarmé“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S.-710. 90 Vgl. P. Valéry, „Tel Quel“, in: ders., Œuvres II, op. cit., S. 582: „Il y a bien plus de chances pour qu’une rime procure une ‚idée‘ (littéraire) que pour trouver la rime à partir de l’idée.“ 91 Th. W. Adorno, „Valéry Proust Museum“, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesell‐ schaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S.-224. Jede philosophische und literarische Konstruktion erscheint Valéry - wie schon Mallarmé - als prekäre Dialektik von Zufall und Notwendigkeit. Von den Philosophen, deren Werke er als Kunstwerke, als ästhetische Konstruktionen be‐ wundert, sagt Valéry: „Ils semblent avoir possédé je ne sais quelle science intime des échanges continuels entre l’arbitaire et le nécessaire.“ 88 Diese Einschätzung trifft auch auf Mallarmé und Valéry selbst zu. Mallarmés Konstruktionsprozeß stellt Valéry als hartnäckigen Kampf gegen Chaos, Zufall und Zerfall dar: „Chaque vers devient une entité, qui a ses raisons physiques d’existence. Il est une découverte, une sorte de ‚vérité‘ intrinsèque arrachée au hasard. Quant au monde, l’ensemble du réel n’a d’autre excuse d’être que d’offrir au poète de jouer contre lui une partie sublime, perdue d’avance.“ 89 Die letzten Worte lassen erkennen, daß der Modernist sich nicht länger der hegelianischen Illusion hingibt, er könne den Zufall in der Notwendigkeit aufgehen lassen. Längst hat er mit F. Th. Vischer und Nietzsche den prekären Nexus von Zufall und Notwendigkeit durchschaut und erkannt, daß der Glücksfall, der sich, wie Valéry zeigt 90 , so oft auf phonetischer Ebene einstellt, das Gelingen einer als notwendig empfundenen Konstruktion bedingt: „Un coup de dés (…) jamais (…) n’abolira (…) le hasard“. Doch in der Spätmoderne, die in manchen ihrer Regungen bereits die Nachmoderne ankündigt, erscheint Subjektivität nicht nur angesichts des un‐ gebändigten nietzscheanischen Zufalls prekär, sondern auch angesichts der immer lauter werdenden Zweifel an den Prinzipien von Harmonie, Kohärenz und Schönheit. „Le Beau est négativ“, sagt Valéry und antizipiert darin manche Aspekte von Adornos negativer Ästhetik. Adorno aber, der als Benjamin-Leser und Avantgardist die Negativität bis zu dem Punkt treibt, wo sie in die Negation des Kunstwerks und des Subjekts umzuschlagen droht, wirft ihm Naivität vor, weil er ohne Einschränkungen an das autonome Kunstwerk glaubt: „Aber er war in der Tat naiv insofern, als er keinen Zweifel an der Kategorie des Kunstwerks als solcher hegte. Er nahm es, nach einer englischen Redensart, for granted (…).“ 91 Valéry erschien nicht nur das Kunstwerk als eine Selbstverständlichkeit, sondern auch dessen Einheit und Schönheit. Das Schöne war zwar nur als 100 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="101"?> 92 P. Valéry, „Tel Quel“, in: ders., Œuvres II, op. cit., S. 569. Wie sehr das Schöne bei Valéry mit der Harmonie assoziiert wird, zeigt der folgende Satz: „La puissance des vers tient à une harmonie indéfinissable entre ce qu’ils disent et ce qu’ils sont.“ (Œuvres II, S.-637.) Dichtung entzieht sich zwar durch ihre Vieldeutigkeit dem begrifflichen Denken, aber Harmonie gehört weiterhin zu ihrer Wesensbestimmung. 93 P. Valéry, „Léonard et les philosophes“, in: ders., Œuvres I, op. cit., S.-1240-1241. 94 Wie sehr die claritas weiterhin das Schönheitsideal der modernistischen Literatur und Kunst prägt, zeigt J. J. A. Mooy: „De glans van het schone“, in: M. van Nierop, R. van de Vall, A. van der Schoot (Hrsg.), Mooie dingen. Over de esthetica van het object, Meppel-Amsterdam, Boom, 1993, S.-35-36. Negation des Bestehenden vorstellbar, aber diese Negation war schön und mit den Kategorien einer Ästhetik der Schönheit beschreibbar. Es ist wohl kein Zufall, daß er das Schöne mit dem Edlen zusammendenkt: „J’appelle un beau livre celui qui me donne du langage une idée plus noble et plus profonde. Ainsi la vue d’un beau corps ennoblit notre idée de la vie.“ 92 Unterschwellig spricht aus dieser Passage das klassische Ideal der Harmonie: der Kohärenz und der Klarheit. Es gibt jedoch bei Valéry - wie schon bei Mallarmé - einen zweiten Schön‐ heitsbegriff, der dem harmonischen Ideal, dem von Kant bis Hegel und Croce auch die Philosophen huldigten, widerspricht. Trotz seines eigenen Festhaltens an der Kohärenz und Klarheit der ästhetischen Konstruktion stellt Valéry in dem schon zitierten Text „Léonard et les philosophes“ (“Lettre à Léo Ferrero“, 1929) unumwunden fest, daß das harmonische Schönheitsideal der Vergangenheit angehört. Die moderne Ästhetik faßt er - sieben Jahre vor Benjamins Kunst‐ werk-Aufsatz, der sich auf ihn beruft, - als eine Ästhetik des Schocks auf, die die harmonische Schönheit ins Reich der Toten relegiert: „A quelle occasion, d’ailleurs, former, préciser le dessein de ‚faire une Esthétique‘? - Une science du Beau? … Mais les modernes usent-ils encore de ce nom? Il me semble qu’ils ne le prononcent plus qu’à la légère? Ou bien … c’est qu’ils songent au passé. La Beauté est une sorte de morte. La nouveauté, l’intensité, l’étrangeté, en un mot, toutes les valeurs de choc l’ont supplantée. L’excitation toute brute est la maîtresse souveraine des âmes récentes; et les œuvres ont pour fonction actuelle de nous arracher à l’état contemplatif, au bonheur stationnaire dont l’image était jadis intimement unie à l’idée générale du Beau.“ 93 Diese Passage, die Walter Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz leider nicht zitiert, die aber seine Theorie der Zertrümmerung der Aura vorwegnimmt, gehört zu den wichtigsten in Valérys Werk. Sie läßt - vor allem, wenn sie parallel zu Mallarmés L’Azur gelesen wird - den modernistischen Übergang von einer Ästhetik der Schönheit als Harmonie, Kohärenz und Klarheit 94 zu einer Ästhetik der Zerrüttung und des Schocks erkennen, die nicht nur für die futuristischen 3.2 Von Valéry zu Adorno: „Le Beau est négatif “ 101 <?page no="102"?> 95 Zum Widerspruch zwischen einer kantianischen Autonomieästhetik und dem hetero‐ nomen „engagement“ der Avantgarden siehe: Vf., „Formalismus und Strukturalismus zwischen Autonomie und Engagement“, in: W. F. Schwarz (Hrsg.), Prager Schule: Kontinuität und Wandel. Arbeiten zur Literaturästhetik und Poetik der Narration, Frankfurt, Vervuert, 1997, S.-311. 96 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, op. cit., S. 195. - Zur Autonomie des Subjekts bei Valéry siehe auch: M. Jarrety, Valéry devant la littérature. Mesure et limite, Paris, PUF, 1991, S. 428: „Si le souci de préserver la force du Sujet et de l’unir au monde se maintient, comprendre le monde, ce sera désormais le fonder.“ (Auch hier tritt Valérys Konstruktivismus zutage.) 97 Siehe: K. Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, Leipzig, Reclam, 1990, S. 40: „Nur in der Kombination mit dem Schönen erlaubt die Kunst dem Häßlichen das Dasein (…).“ 98 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S.-407. 99 Ibid., S.-78-79. und surrealistischen Avantgarden, sondern auch für Joyce, Céline und Hermann Hesses Steppenwolf-Roman kennzeichnend ist. Daß diese beiden Ästhetiken stets von neuem zueinander in Widerspruch geraten, zeigen sowohl der russische Formalismus als auch der tschechische Strukturalismus, die sich einerseits für die Autonomie der Kunst (im Sinne von Kant) einsetzen, andererseits die „valeurs de choc“ der Innovation und der Verfremdung in den Vordergrund treten lassen. 95 Adornos Hinweise auf die Koexistenz und das Ineinandergreifen dieser beiden Ästhetiken in der literarischen Moderne führen in seiner Ästhetischen Theorie jedoch zu keiner Synthese - ebensowenig wie bei Mallarmé oder Valéry. Trotz seiner Kritik an Valéry glaubt auch Adorno an die Autonomie der Kunst und des Subjekts sowie des Künstlers als „Statthalter(s) des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“. 96 Er neigt dazu, die Widersprüchlichkeit des Erhabenen, die später bei Lyotard als „Widerstreit“ („différend“) aufbricht, der Negativität der Kunst zu subsu‐ mieren. Daß seine Ästhetik nicht schlicht als eine Ästhetik des Schönen im Sinne von Kant oder Hegel zu verstehen ist, ist vorauszusetzen. Denn das Schöne ist bei ihm noch in einem ganz anderen Sinne negativ als bei Valéry: Es hat das Häßliche, dessen Autonomie Karl Rosenkranz noch hegelianisch leugnet 97 , als Widerspruch in sich aufgenommen: „In der Absorption des Häßlichen ist Schön‐ heit kräftig genug, durch ihren Widerspruch sich zu erweitern.“ 98 An anderer Stelle erscheint das Häßliche als unverzichtbarer Aspekt der gesellschaftskriti‐ schen Negativität: „Kunst muß das als häßlich Verfemte zu ihrer Sache machen, nicht länger um es zu integrieren, zu mildern oder durch den Humor, der abstoßender ist als alles Abstoßende, mit seiner Existenz zu versöhnen, sondern um im Häßlichen die Welt zu denunzieren, die es nach ihrem Bilde schafft und reproduziert (…).“ 99 Auf das Beckettsche „Comment c’est“ kommt es an: auf das Sichtbarmachen der Diskrepanz zwischen dem ideologischen Schein und der 102 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="103"?> 100 Ibid., S.-82. 101 Ibid., S.-80. 102 In diesem Zusammenhang kritisiert Wellmer zu Recht Welschs Annahme, Adornos Ästhetik sei eine Ästhetik des Erhabenen: „Im Gegensatz zu Welsch glaube ich aber, daß die Kategorie des Erhabenen bei Adorno eine zentrale Stelle innerhalb seiner versöhnungsphilosophischen Konstruktion der Kunst besetzt hält (…).“ Wellmer weist unmißverständlich auf die Dominanz des Schönen bei Adorno hin: „Auch bei Adorno bleibt die Kategorie des Schönen insofern leitend, als die Realisierung des Kunsterha‐ benen an die Bedingung ästhetischer Stimmigkeit geknüpft bleibt (…).“ (A. Wellmer, „Adorno, die Moderne und das Erhabene“, in: W. Welsch, Ch. Pries [Hrsg.], Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, Weinheim, VCH, 1991, S. 47 u. S. 57. Vgl. auch: W. Welsch, „Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen“, in: Ch. Pries [Hrsg.], Das Erhabene, Weinheim, VCH, 1989.) 103 Ibid., S.-296. 104 Ibid. Wirklichkeit als solcher. Ein solches Sichtbarmachen bewirkt Verfremdung und Schock; es soll dem rezipierenden Subjekt die Augen öffnen. Dennoch erscheint Adornos Ästhetik als eine Ästhetik des Negativ-Schönen und der Form im Sinne von Mallarmé und Valéry. Schön werden Kunstwerke durch ihre Negation des Bestehenden: „(…) Schön werden Gebilde kraft ihrer Bewegung gegen das bloße Dasein.“ 100 Komplementär dazu heißt es an anderer Stelle: „Je reiner die Form, je höher die Autonomie der Werke, desto grausamer sind sie.“ 101 Anders gesagt: Schönheit ist eine Art der Negation, der Formung und der Autonomie. Durch ihre Form und ihre Negativität definieren sich Kunstwerke als das Andere der Gesellschaft und wahren dadurch nicht nur ihre eigene Autonomie, sondern auch die Autonomie der rezipierenden, ihrer „selbst mächtigen und bewußten Subjekte“ (s.-o.). Adornos Bemerkungen zu Kants Begriff des Erhabenen sind einerseits durchaus im Rahmen seiner Ästhetik des Negativ-Schönen zu lesen, wie Albrecht Wellmer richtig erkannt hat; 102 andererseits weisen sie - wie die Spuren des Erhabenen bei Mallarmé und Valéry - über diese Ästhetik hinaus. Zwar definiert Adorno das Erhabene in der Kunst im Anschluß an Kant und in Übereinstimmung mit seiner eigenen Ästhetik „durch den Widerstand des Geistes gegen die Übermacht“ 103 und als „ungemilderte Negativität“ 104 ; aber diese Negativität droht, die Form zu sprengen und zusammen mit dem Begriff des Schönen den des Kunstwerks und des Subjekts in Frage zu stellen: „Werke, in denen die ästhetische Gestalt, unterm Druck des Wahrheitsgehalts, sich transzendiert, besetzen die Stelle, welche einst der Begriff des Erhabenen meinte. In ihnen entfernen Geist und Material sich voneinander im Bemühen, Eines zu werden. Ihr Geist erfährt sich als sinnlich nicht Darstellbares, ihr Material, das, woran sie außerhalb ihres Confiniums gebunden sind, als unversöhnbar 3.2 Von Valéry zu Adorno: „Le Beau est négatif “ 103 <?page no="104"?> 105 Ibid., S.-292. 106 Vgl. Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 192. Vom Rätselcharakter heißt es dort: „Er hat aber in der Kunst jenen anti-ästhetischen Aspekt, den Kafka unwiderruf‐ lich aufriß.“ 107 Ibid., S.-293. 108 P. Valéry, „Tel Quel“, in: ders., Œuvres II, op. cit., S.-621. 109 Vgl. M. Foucault, Les Mots et les choses, Paris, Gallimard, 1969, S.-398. mit ihrer Einheit des Werkes. Der Begriff des Kunstwerks ist Kafka so wenig mehr angemessen, wie der des Religiösen je es war.“ 105 An anderer Stelle ist von Kafkas Antiästhetik die Rede. 106 Hier wird deutlich, daß auch bei Adorno das Erhabene nicht einfach als ein weiterer Aspekt der ästhetischen Negativität darstellbar ist: weil es dem Negativ-Schönen nicht subsumiert werden kann. Es weist - wie schon bei den beiden französischen Dichtern - darüber hinaus. Es weist zugleich über die Subjektivität hinaus - auf das bei Lyotard in den Mittelpunkt der Betrachtung rückende Inhumane. Im Zusammenhang mit dem Erhabenen bemerkt Adorno zur Rolle der Kunst in der spätkapitalistischen Gesellschaft: „Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität.“ 107 Wie sind aber Inhumanität und das Erhabene als Zerrüttung der Form und als Negation des Schönen mit dem Subjektbegriff zu vereinbaren? Lange vor Lyotard wies Valéry darauf hin, daß sich Wissenschaft und Politik in ihrer vernunftgesteuerten Abstraktheit jenseits des bon sens und jenseits der Menschen entfalten: „Mais la recherche et même les pouvoirs s’éloignent de l’homme. L’Humanité s’en tirera comme elle pourra. L’inhumanité a peut-être un bel avenir …“ 108 Mit diesen Worten antizipiert der Dichter nicht nur Lyotard, der sich eine Kunst des Erhabenen vorstellt, die dem inhuman-erhabenen Charakter des Spätkapitalismus adäquat wäre, sondern auch Foucault, der in allen Einzelheiten zu zeigen versucht, wie das menschliche Subjekt der Arbeitsteilung und Fragmentierung der Sozialwissenschaften zum Opfer fällt. 109 3.3 Lyotards Ästhetik des Erhabenen als Negation des Subjekts Obwohl Adornos Ästhetik in ihrer Gesamtheit noch als eine Ästhetik des Negativ-Schönen betrachtet werden kann, weist sie über sich hinaus: auf die Zerrüttung von Kunst und Subjekt durch das Erhabene. Der Grundwiderspruch zwischen den Autonomieästhetiken Mallarmés, Georges und Valérys einerseits und Kafkas oder Becketts Ästhetiken der Zerrüttung andererseits wird zwar von der Ästhetischen Theorie überspielt, kündigt aber das Auseinandertreten von Schönem und Erhabenem an. Im Zusammenhang mit letzterem ist sogar 104 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="105"?> 110 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S.-294. 111 Ibid., S.-293-294. 112 Ibid., S.-296. 113 Ibid., S.-82. 114 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, op. cit., S.-163. 115 Lyotard scheint Adornos Schriften recht gut zu kennen, wie L’Inhumain, op. cit., S. 114, zeigt; aber auf Adornos Theorie des Erhabenen beruft er sich nicht. von einem „Sturz formaler Schönheit“ die Rede. Dieser Sturz beschleunigt die „Aszendenz des Erhabenen“ 110 , wie Adorno sagt: „Je dichter die empirische Realität dagegen sich sperrt, desto mehr zieht sich Kunst ins Moment des Erhabenen zusammen; zart verstanden, war, nach dem Sturz formaler Schönheit, die Moderne hindurch von den traditionellen ästhetischen Ideen seine allein übrig.“ 111 Durch seine extreme Negativität sprengt das Erhabene die Formen des Negativ-Schönen: „Erbe des Erhabenen ist die ungemilderte Negativität, nackt und scheinlos wie einmal der Schein des Erhabenen es verhieß.“ 112 Dennoch weigert sich Adorno, auf den Begriff des Schönen zu verzichten; ihn der extremen Negativität des Erhabenen zu opfern. Insofern bleibt er - wie Mallarmé und Valéry - dem Modernismus als Spätmoderne verhaftet. 113 Dadurch unterscheidet er sich wesentlich vom nachmodernen Lyotard, der eine avantgardistische Ästhetik der Negativität entwirft, die den sich bei Adorno und den französischen Dichtern ankündigenden Bruch mit dem Schönen voll‐ zieht und das Erhabene zu ihrem Schlüsselbegriff macht. Das Erhabene ist des‐ halb nicht mehr dem Modernismus zuzurechnen, weil es den zentralen Begriff der gesamten Moderne radikal in Frage stellt: den des Subjekts. „Das Erhabene droht ihm mit dem Tod“ 114 , sagt Lyotard und bezieht diese Todesdrohung auf den dem Erhabenen innewohnenden Widerstreit. Dieser Widerstreit besteht - wie eingangs bereits erwähnt - in der aporetischen Bewegung, die das Erhabene beim Betrachter auslöst: ein kaum zu ertragendes Oszillieren zwischen Lust und Unlust, Bewunderung und Angst, Anziehungskraft und Abscheu. Diese grundsätzliche Ambivalenz droht das Subjekt zu zerreißen. Obwohl einiges von dem, was Adorno über das Erhabene sagt, an Lyotards Theorie erinnert (so daß sich der Gedanke an eine Beeinflussung aufdrängt) 115 , ist der entscheidende Unterschied nicht zu übersehen: Lyotards sublime ist eine eindeutige Negation des autonomen Individuums, für das die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers als spätmoderner Diskurs und als Diskurs über die Spätmoderne einsteht. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, Lyotards Begriff des Widerstreits (différend) näher zu betrachten. Dieser Begriff, den der französische Philosoph später seiner Sprach- und Kommunikationstheorie zugrunde legt, ist ästhetischen Ursprungs. In seinem 3.3 Lyotards Ästhetik des Erhabenen als Negation des Subjekts 105 <?page no="106"?> 116 J.-F. Lyotard, Discours, figure, Paris, Klincksieck, 1971, S.-18. 117 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, op. cit., S.-141. 118 J.-F. Lyotard, Discours, figure, op. cit., S.-18. 119 J.-F. Lyotard, L’Inhumain, op. cit., S.-139. Buch Discours, figure (ursprünglich Thèse d’Etat), das 1971 erschien, steht der Widerstreit zwischen Wort und Bild, Diskurs und Figur im Mittelpunkt der Betrachtungen. Ähnlich wie Adorno geht Lyotard von dem Gedanken aus, daß das Gemälde nicht im verbalen, begrifflichen Denken aufgeht. Aber anders als Adorno versucht er nicht, einen „mimetischen Diskurs“ zu entwickeln, der Geist und Kunst, Geist und Natur versöhnt, sondern postuliert die radikale Diskrepanz zwischen Wort und Bild. Es ist eine Diskrepanz, die immer wieder in die Aporie mündet: „Aber man will, daß die Wörter den Vorrang der Figur sagen, man will das Andere der Bedeutung bedeuten.“ 116 Die Figur bleibt aber unsagbar, und das Andere der Bedeutung kann nicht bedeutet, mit Worten ausgedrückt werden. Hier klingt zum ersten Mal in Lyotards Werk die unversöhnliche Forderung des Erhabenen an die traditionelle Kunst an: „Mach das Absolute, das ich begrifflich vorstelle, durch deine Formen präsent! “ 117 Dazu ist aber die künst‐ lerische Form als Begrenzung ungeeignet: Sie vermag zwar der Forderung des Verstandes nach Schönheit und Harmonie nachzukommen, nicht jedoch der Forderung der Vernunft nach der Darstellung des Undarstellbaren, des Unermeßlichen. Dieses Undarstellbare (z. B. das Bild als Bild, jenseits der Worte) stellt schon in Discours, figure die Einheit des Subjekts in Frage: „Man muß auf das Ich als einheitlich konstituierte Instanz verzichten (…).“ 118 Die Herausforderung durch das Erhabene zwingt den modernen und nachmodernen Künstler, auf die Einheit des Subjekts und des Kunstwerks zu verzichten, um das Undarstellbare dennoch darstellen zu können. Der Verzicht auf Subjekt, Einheit, Harmonie und Schönheit ist der Preis, den die zeitgenössische Kunst zu entrichten hat, um das Unmögliche zu ermöglichen und das Erhabene, das für den Spätkapitalismus kennzeichnend sein soll (vgl. Einleitung), darzustellen. Obwohl Lyotard das Erhabene mit dem gegenwärtigen Zustand des Kapita‐ lismus assoziiert, stellt er sich das Verhältnis von Moderne und Postmoderne anders vor, als es hier konstruiert wurde: Er faßt die Postmoderne als einen Aspekt der Moderne auf, nicht als deren historische Nachfolgerin. Zugleich unterscheidet er zwei Ästhetiken der Postmoderne, von denen die eine ihm als konsumierbarer „Postavantgardismus“ im Sinne der Architekten Achille Bonito Oliva und Charles Jencks erscheint (man könnte auch Eco und Vattimo hinzufügen) 119 , während er selbst für die andere, die radikal-avantgardistische Postmoderne plädiert, die sich am Widerstreit des Erhabenen orientiert und alle 106 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="107"?> 120 J.-F. Lyotard, Le Postmoderne expliqué aux enfants, Paris, Galilée, 1988, S.-20-23. 121 H. Bertens, The Idea of the Postmodern. A History, London-New York, Routledge, 1995, S.-132-133. 122 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, op. cit., S.-142. Kompromisse mit den kommerziellen Ästhetiken der Marktgesellschaft ablehnt. In dieser Hinsicht setzt Lyotard die negativen Ästhetiken Mallarmés, Valérys und Adornos fort. Sofern er die Einheit des Subjekts der Radikalität des Widerstreits im Erha‐ benen opfert, bricht er aber mit den spätmodernen Ästhetiken dieser Autoren und entwirft eine postmoderne Ästhetik, die trotz aller seiner Dementis 120 jenseits der subjektzentrierten Moderne liegt. Hans Bertens drückt es so aus: „Both modern and postmodern aesthetics are aesthetics of the sublime, equally concerned with the unpresentable. The modern sublime, however, is a nostalgic sublime, and its form ‚continues to offer to the reader or viewer matter for solace or pleasure‘. It cannot shake its longing for the merely beautiful.“ 121 Dieser Kommentar ist deshalb interessant, weil er einerseits - mit Lyotard - das Erhabene sowohl für die moderne als auch für die postmoderne Kunst re‐ klamiert und dadurch implizit ein Nacheinander von Moderne und Postmoderne leugnet, und weil er andererseits - gegen Lyotard - ein Nacheinander von mo‐ derner Schönheit und postmoderner Erhabenheit suggeriert, da er das moderne Erhabene dem Schönen annähert. Insgesamt bestätigt Bertens’ Darstellung die hier zugrundegelegte Konstruktion: Die Spätmoderne als Modernismus ist die Ära des Negativ-Schönen und der Autonomie des Subjekts, während die Postmoderne Lyotards vom Erhabenen als Subjektnegation beherrscht wird. Um der Negativität und der Revolte willen wird das Subjekt geopfert. Daß das Erhabene schon der Negativität der literarischen Spätmoderne innewohnt, sollte hier im Zusammenhang mit Mallarmé, Valéry und vor allem Adorno gezeigt werden. Von Lyotard wird es allerdings als das radikal Andere des Schönen aufgefaßt, das die Einheit des Empfindens - und folglich des Subjekts - grundsätzlich in Frage stellt. Zwischen dem Absolut-Undarstellbaren, das die Vernunft begriff‐ lich denkt, und dem Formal-Darstellbaren des Verstandes kann nicht vermittelt werden: „Darum ist ihr Konflikt auch kein gewöhnlicher Rechtsstreit, der vor eine dritte Instanz gebracht und dort entschieden werden könnte, sondern ein ‚Widerstreit‘.“ 122 Dieser Widerstreit weckt unvereinbare Emotionen und führt zu einer Zerrüttung des Subjekts als Rezipient. Dazu bemerkt Lyotard in seinem Kommentar zu Kants Kritik der Urteilskraft: „Dieses [das Erhabene] ist eine Rührung, eine gewaltsame Rührung, die der Unvernunft nahe ist und das Denken zu äußerster Lust und Unlust drängt - von der freudigen Begeisterung 3.3 Lyotards Ästhetik des Erhabenen als Negation des Subjekts 107 <?page no="108"?> 123 Ibid., S.-251. 124 J.-F. Lyotard, L’Inhumain, op. cit., S.-109. 125 J.-F. Lyotard, Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien, Passagen, 1988, S.-63. 126 Ibid., S.-60. 127 Ibid., S.-64. bis zum Schrecken, so voller intensiver Spannung zwischen dem affektuellen Ultraviolett und dem Infrarot wie die Achtung ‚blank‘, weiß bzw. unbeschrieben ist.“ 123 Dieses kaum vorstellbare Weiß kann als Metapher für die Auslöschung des Subjekts gelesen werden. Das Subjekt wird zwischen den Kräften der Vernunft und denen der Einbil‐ dungskraft zerrissen. Denn das Erhabene ist zwar als Vernünftiges begrifflich denkbar, jedoch nicht ästhetisch (als Form) erfaßbar. Das Gefühl des Erhabenen, sagt Lyotard, ist verallgemeinerungsfähig, jedoch auf der Ebene der Vernunft und des Begriffs und nicht auf der der Einbildungskraft und des Geschmacks. Dadurch kommt es zu einer „Spaltung des Subjekts“ („clivage dans le sujet“) 124 , das hin- und hergerissen wird zwischen dem, was es denken und dem, was es sich vorstellen kann. Auf historischer Ebene versucht Lyotard in L’Enthousiasme, einem Kom‐ mentar zu Kants Geschichtstheorie, zu zeigen, daß Zeiten des Umbruchs emotionale Wallungen hervorrufen, die ins Erhabene umschlagen können. Als pathologischer Affekt erscheint politische Begeisterung am Rande des Wahnsinns angesiedelt: „Der historisch-politische Enthusiasmus ist also am Rande des Wahnsinns (…).“ 125 An anderer Stelle erklärt er, weshalb diese Art von Begeisterung „ein extremer Modus des Erhabenen“ 126 ist: Sie geht aus Ereignissen hervor, die jede Art von Eingrenzung als Formgebung sprengen. Sie sind „unästhetisch“, „unförmig“ im Sinne des Schönen und des Verstandes: „Sie sind das Formlose und das Ungestalte in der geschichtlichen, menschlichen Natur.“ 127 Diese unförmigen, naturwüchsigen Ereignisse - von der Französi‐ schen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg - tragen wesentlich zur Auflösung der Subjektivität bei: zu einer Auflösung, die von der postmodernen Kunst aufgenommen und verarbeitet wird. Um welche Kunst geht es? Lyotard nennt einige Werke der historischen Avantgarde zusammen mit den Filmen Syberbergs. Möglicherweise könnte man zur nachmodernen Kunst des Erhabenen auch die subjektlosen Texte zeitgenössischer Avantgardisten rechnen, die einheitliche Erfahrung durch Fragmentierung der Erzählstruktur, Textcollage und eine Ästhetik der Gewalt ausschließen. Wenn Lyotards These stimmt, daß das Erhabene eine treffende Metapher für die Beschreibung des heutigen Kapitalismus ist, so wäre ein Text 108 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="109"?> 128 Th. Pynchon, Gravity’s Rainbow, London, Picador, 1975, S.-434. 129 Zur Bedeutung des Indifferenz-Begriffs für die Postmoderne vgl. Vf., Moderne/ Postmo‐ derne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.). 130 Zur Rolle des Vergessens in postmoderner Zeit siehe: B. Schmidt, Postmoderne - Strategien des Vergessens, Frankfurt, Suhrkamp, 1994 (4. Aufl.). 131 O. Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Hamburg, Rowohlt, 1969, 1985, S. XIII. 132 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S.-295. 133 Vgl. G. Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität. Entwurf einer Psycho‐ ästhetik des modernen Theaters, Stuttgart, Metzler, 1981, S. 128-129: „Das Endgame demaskiert also nicht Sinn, sondern Struktur, und zwar die Struktur einer sinnstiftenden und zugleich sinnverschleiernden Subjektivität, um deren Gewahrwerden und Erschüt‐ terung es geht.“ 134 B. McHale, Constructing Postmodernism, London-New York, Routledge, 1992, S.-47. wie Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow für die gegenwärtige Ästhetik des Erhabenen beispielhaft. Im Zustand der Anti-Paranoia löst sich Subjektivität auf, weil es keine erfaßbaren Zusammenhänge mehr gibt. Das Subjekt wird der démence überantwortet, von der bei Lyotard die Rede ist: „Rain drips, soaking into the floor, and Slothrop perceives that he is losing his mind. If there is something comforting - religious, if you want - about paranoia, there is still also anti-paranoia, where nothing is connected to anything, a condition not many of us can bear for long.“ 128 Es ist eine conditio inhumana der Indifferenz 129 und des Vergessens 130 : der Austauschbarkeit von Ereignissen, Erinnerungen, Aussagen und Individuen. Diese Indifferenz als Austauschbarkeit führt in Oswald Wieners Die Verbes‐ serung von Mitteleuropa zu einer Negation der Subjektivität, die die historischen Avantgarden ankündigten und die von den nachmodernen Avantgarden voll‐ bracht wird: „ich will etwas sagen, mir fehlen nur die worte, der anlass, aber auch was ich sagen will.“ 131 Man wird hier an Adornos Bemerkung erinnert, daß Erhabenes und Komisches nah beieinander wohnen und daß das eine jäh in das andere umschlagen kann: „Dem Tragischen selber schreibt avancierte Kunst die Komödie, Erhabenes und Spiel konvergieren.“ 132 Insofern erscheinen die Texte Pynchons und Wieners im Rahmen der postmodernen Problematik als komplementär. Zur Postmoderne im Sinne von Lyotards Ästhetik des Erhabenen gehören u. U. auch der zweite Teil von Joyces Ulysses-Roman, Finnegans Wake und Becketts Spätwerk, das ebenfalls das „Endspiel mit der Subjektivität“ 133 insze‐ niert, wie Gabriele Schwab sagt. Zum zweiten Teil des Ulysses bemerkt Brian McHale: „The ‚other‘ Ulysses, the Ulysses that runs roughly from ‚Sirens‘ to the end, excluding ‚Nausicaa‘ and ‚Penelope‘ but including ‚Aeolus‘, has eluded modernist codifiers (…).“ 134 Abgesehen von der Tatsache, daß „codifiers“ fast immer „eluded“ werden, wird hier deutlich, wie sehr Spätmoderne und 3.3 Lyotards Ästhetik des Erhabenen als Negation des Subjekts 109 <?page no="110"?> 135 H. Nagl-Docekal, „Das heimliche Subjekt Lyotards“, in: M. Frank, G. Raulet, W. Van Reijen (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S.-241. 136 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, op. cit., S.-165. 137 Dies tut z. B. Peter Bürger, der Lyotards Ästhetik der Moderne zurechnet: P. Bürger, „Eine Ästhetik des Erhabenen“, in: Ch. Bürger, „Moderne als Postmoderne. Jean-Fran‐ çois Lyotard“, in: Ch. Bürger, P. Bürger (Hrsg.), Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S.-138. Nachmoderne ineinandergreifen, einander überlagern. Dies sollte hier auch im Zusammenhang mit Mallarmés und Valérys Gedichten dargetan werden, die zwar eindeutig der Ästhetik des „beau négatif “ zugeordnet werden können, zugleich aber über diese Ästhetik hinausweisen: auf eine postmoderne Proble‐ matik, in der das Subjekt und der Subjektbegriff radikal in Frage gestellt oder gar eliminiert werden. Schon deshalb wird man Lyotards Philosophie nicht gerecht, wenn man ver‐ sucht, in ihr ein geheimes Subjekt ausfindig zu machen, um sie im Rahmen des Kantschen Denkens zu deuten. So schreibt beispielsweise Herta Nagl-Docekal: „Als Bilanz aus dem Bisherigen ergibt sich zum einen, daß das von Lyotard verabschiedete Subjekt nicht jenes ist, von dem Kant in seiner praktischen Philosophie spricht (und in dem seine Rechtsebenso wie seine Geschichts‐ philosophie begründet ist); und zum anderen, daß Lyotard implizit auf eben dieses Subjekt Kants zurückgreift.“ 135 Am Ende dieser Betrachtung ist es zwar nicht möglich, Kants und Lyotards Subjektbegriffe systematisch miteinander zu vergleichen. Zu Herta Nagl-Docekals These sei aber angemerkt, daß sie eine nachmoderne Philosophie in den kantianischen Bereich zurückprojiziert, die nicht nur jenseits dieses Bereichs liegt, sondern zugleich ein (möglicherweise fragwürdiger) Versuch ist, Kant als Philosophen des Erhabenen postmodern umzudeuten. Dazu sagt Lyotard am Ende seines Kapitels „Das Erhabene als dynamische Synthese“: „Danach dürfte man ziemliche Schwierigkeiten haben, den Kantianismus unter die Philosophien des Subjekts einzuordnen, wie es manchmal geschieht.“ 136 Mit anderen Worten: Kant als Philosoph des Erhabenen kündigt die subjektlose Postmoderne an. Selbst wenn man sich diese extreme Deutung nicht zu eigen macht, weil Kant - im Unterschied zu Nietzsche - nicht als Vorläufer der Postmoderne zu ver‐ stehen ist, so wird man alle Versuche mit Skepsis betrachten, Lyotard als einen Autor der spätmodernen oder modernistischen Negativität zu lesen. 137 Denn Lyotards Revolte gegen die zeitgenössische Gesellschaft ist eine Revolte jenseits von Subjektivität und Kritik, d. h. jenseits der Moderne. Sie ist ein Denken 110 3 Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard <?page no="111"?> 138 Es zeigt sich immer wieder, daß Lyotard aus Verzweiflung mit der Gewaltanwendung liebäugelt - etwa in: J.-F. Lyotard, Das Patchwork der Minderheiten, Berlin, Merve, 1977, S.-38-39. der unausdenkbaren Verzweiflung, des Selbstverzichts und der Gewalt 138 ; ein Denken, das auch mit Adornos Kritischer Theorie der autonomen, ihrer „selbst mächtigen und bewußten Subjekte“ endgültig gebrochen hat. Der Begriff des Erhabenen (im Sinne von Lyotard) ist ein Symptom dieser postmodernen Verzweiflung, das - wie bereits angedeutet - aus dem Indiffe‐ renzzusammenhang hervorgeht. Wo kein religiöser oder politischer métarécit natürliche und politische Ereignisse teleologisch mit Sinn versieht, wo sich angesichts der Austauschbarkeit aller Wertsetzungen diese Ereignisse der Sinngebung und Bewertung entziehen, dort erscheinen sie dem Einzelnen als unfaßbar-erhabene facta bruta, die seine subjektiven Sinnentwürfe natur‐ wüchsig negieren. In dieser Perspektive ist das Erhabene der Postmoderne als ästhetisches Fazit einer von der Indifferenz durchwirkten, restlos säkularisierten Gesellschaft darstellbar. 3.3 Lyotards Ästhetik des Erhabenen als Negation des Subjekts 111 <?page no="113"?> 1 Vgl. die Darstellung der Céline-Kritik in der frz. Presse in: D. Latin, Le Voyage au bout de la nuit de Céline: roman de la subversion et subversion du roman, Bruxelles, Palais des Académies, 1988, S.-14-32. 2 G. Altman, in: D. Latin, Le Voyage au bout de la nuit de Céline, op. cit., S.-20. 3 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-293. 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard Célines unbändige, gewalttätige und schockierende Schreibweise rief gleich nach Erscheinen von Voyage au bout de la nuit (1932) zahlreiche Kommenta‐ toren, Interpreten und Kritiker auf den Plan 1 , von denen die einen den Roman vorwiegend aus moralischen Gründen verurteilten, während die anderen sich von diesem sprachlich-literarischen Ereignis überrascht und angeregt zeigten. So spricht beispielsweise Georges Altman von „einem Buch, das im Leser ein Gefühl weckt, das die serielle Literaturproduktion ihm genommen hat: die Überraschung“. 2 Schroffe Ablehnung und freudige Überraschung bilden insofern einen be‐ deutsamen Nexus, als Céline durch seinen auf Volkssprache, Argot und Sakrileg ausgerichteten Stil einen ästhetischen Prozeß beschleunigt, der in der futuristi‐ schen, surrealistischen und expressionistischen Avantgarde einsetzte, um in der Postmoderne (bei Pynchon, Vonnegut, Ransmayr, Schwab) seinen Höhepunkt zu erreichen: die Herauslösung des Erhabenen aus einer Ästhetik des Schönen, in der sowohl das Erhabene als auch das Häßliche dem Schönheitsideal unter‐ worfen waren. Diese Herauslösung ermöglicht zwar eine neue Schreibweise, die nicht mehr auf Kohärenz, Sinngebung und literarische Autonomie ausgerichtet ist; zugleich negiert sie aber die individuelle Subjektivität, die der ästhetischen Autonomie und der Frage nach Sinn (auch in deren negativer Ausprägung) verpflichtet ist. Nicht zufällig ordnet Adorno, der sowohl an der Autonomie des Kunstwerks als auch an der des Einzelnen in der Gesellschaft festhielt, das Erhabene und das Häßliche dem Negativ-Schönen unter. Einerseits trennt das Erhabene die spät‐ moderne Kunst von einer humanistischen Ideologie harmonischer Identitäten und vom Kunstgewerbe: „Das Erhabene, das Kant der Natur vorbehielt, wurde nach ihm zum geschichtlichen Konstituens von Kunst selber. Das Erhabene zieht die Demarkationslinie zu dem, was später Kunstgewerbe hieß.“ 3 Andererseits stellt es das Subjekt in Frage, ohne es jedoch schlicht zu negieren: „Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen (…). Hat das Subjekt in <?page no="114"?> 4 Ibid., S.-401. 5 Zu den Themen „Erfahrung“, „Spontaneität“ und „Kreativität“ in Adornos Ästhetik vgl. H. Pacher, Die Spontaneität der Literatur. Studien zur Literaturtheorie Adornos, St. Ingbert, Röhrig Universitätsverlag, 2010, Kap. VIII: „Spontaneität“. 6 Ibid., S.-410. 7 Ibid. 8 A. Wellmer, „Adorno, die Moderne und das Erhabene“, in: W. Welsch, Ch. Pries (Hrsg.), Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, Weinheim, VCH, 1991, S.-57. 9 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S.-407. 10 M. Henrez, „Tableaux choisis. Bruegel, Bosch et Gen Paul: trois peintres privilégiés par Céline et dont les influences traversent son œuvre“, in: Magazine littéraire („Louis-Fer‐ dinand Céline“) 292, Oktober 1991, S.-56. der Erschütterung sein wahres Glück an den Kunstwerken, so ist es eines gegen das Subjekt; darum ihr Organ das Weinen, das auch die Trauer über die eigene Hinfälligkeit ausdrückt. Kant hat davon etwas in der Ästhetik des Erhabenen gespürt, die er von der Kunst ausnimmt.“ 4 Letztlich bewirkt das Ästhetisch-Erhabene also eine Stärkung der Subjektivität, das befähigt wird, genuine Erfahrungen zu machen. 5 Das Subjekt wird in Adornos Ästhetik nicht vom Erhabenen negiert, weil dieses dort dem Negativ-Schönen der Kunst subsumiert wird. Als Bestandteil des Schönen trägt das Erhabene bei Adorno wesentlich zur Versöhnung von Subjekt und Natur bei, zum „Eingedenken von Natur“: „Dieser Augenblick bewegt das Subjekt vorm Erhabenen zum Weinen.“ 6 Insofern verstärkt es die Wirkung eines Negativ-Schönen, das den Identitätszwang, der von der Naturbeherrschung ausgeht, sprengt: „Weil das Schöne der vom Subjekt den Phänomenen aufgezwungenen Naturkausalität nicht sich unterordnet, ist sein Bereich eines möglicher Freiheit.“ 7 Daher hat Albrecht Wellmer durchaus recht, wenn er bemerkt, „bei Adorno bleib(e) die Kategorie des Schönen (…) leitend“. 8 Diese Dominanz des Schönen wird von Célines Voyage au bout de la nuit radikal in Frage gestellt, weil alle Stilmittel dieses Romans dazu angetan sind, eine Verselbständigung des Erhabenen und Häßlichen zu bewirken. Célines Text scheint sich gegen eine der Kernthesen aus Adornos Ästhetischer Theorie auf‐ zulehnen: „In der Absorption des Häßlichen ist Schönheit kräftig genug, durch ihren Widerspruch sich zu erweitern.“ 9 In Voyage wird diese von Kant und Hegel geerbte ästhetische Hierarchie durch den Einbruch des Erhaben-Häßlichen in die Literatur gesprengt. Der Krieg, so wie er von Céline versprachlicht wird, ist nicht nur eine Verselbständigung des Häßlichen und Grotesken 10 , sondern negiert durch seine Maßlosigkeit und Unfaßbarkeit auch das menschliche Subjekt. In Kantischer 114 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="115"?> 11 J.-F. Lyotard, Das Inhumane, Wien, Passagen, 1989, S. 184. (L’Inhumain, Paris, Galilée, 1988, S.-116.) 12 Ph. Lejeune, Je est un autre. L’Autobiographie, de la littérature aux médias, Paris, Seuil, 1980, S.-217. Perspektive erscheint er als naturwüchsige Gewalt, die zwar von der Vernunft kalkuliert werden kann, jedoch weit über das Verstandesvermögen und die Urteilskraft hinausgeht. Mit Kant und Lyotard ließe sich sagen, daß die Kriegs‐ gewalt der Kategorie des Erhabenen zuzurechnen ist, die in der Kritik der Urteilskraft die Wirkung der Naturgewalten erklären soll. Im Anschluß an Kant versucht Lyotard, diese Kategorie umzudeuten, um den zeitgenössischen Kapitalismus und die avantgardistischen Reaktionen auf sein destruktives Wirken in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. „Es ist etwas Erhabenes in der kapitalistischen Wirtschaft“, „il y a du sublime dans l’économie capitaliste“ 11 , erklärt er, und fügt hinzu, daß die Avantgarde das Ästhetisch-Erhabene gegen die moderne Realität wendet. Sie versucht, den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu bekämpfen. Im folgenden soll gezeigt werden, wie Céline in Voyage eine Ästhetik des Erhabenen im Sinne von Lyotard entwirft, um auf den monströsen Charakter des Ersten Weltkriegs zu reagieren. Philippe Lejeune spricht von der „sprachli‐ chen Gewalttätigkeit Célines“ 12 und unterstreicht den unversöhnten Charakter seines Gesamtwerks. Im Anschluß an diese Deutung, die mittlerweile zum Gemeinplatz der Céline-Forschung wurde, soll die zentrale These dieser kurzen Studie entwickelt werden: Im Unterschied zu Autoren wie Roland Dorgelès oder Antoine de Saint-Exupéry, die die zerstörerische Gewalt des Krieges inszenieren, ohne über den Rahmen einer Ästhetik des Schönen hinauszugehen, reagiert Céline mit einem gewalttätigen Stil, dem insofern etwas Erhabenes innewohnt, als er durch seine beabsichtigte Inhumanität alle Normen des humanistischen Schönheitsideals leugnet. 4.1 Lyotard und die Ästhetik des Erhabenen Anders gesagt: Um Céline in dem hier entworfenen Zusammenhang zu ver‐ stehen, erscheint eine kurze Auseinandersetzung mit Lyotards Ästhetik des Erhabenen notwendig, die der französische Philosoph auf die moderne Kunst und vor allem auf die Avantgarde anwendet. Allerdings sollte Lyotards litera‐ rische Moderne nicht mit der Spätmoderne Baudelaires, Mallarmés, Valérys, Benjamins und Adornos verwechselt werden. Denn es handelt sich um eine nachmoderne Moderne, die mit den komplementären Begriffen der Schönheit, 4.1 Lyotard und die Ästhetik des Erhabenen 115 <?page no="116"?> 13 J.-F. Lyotard, L’Inhumain, op. cit., S.-105. 14 Vgl. G. Böhme, „Lyotards Lektüre des Erhabenen“, in: Kant-Studien 2, 1998, S. 206-208. 15 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen (Kant-Lektionen, Kritik der Urteilskraft, §§ 23-29), München, Fink, 1994, S.-141. 16 Ibid., S.-257. der Form und der Subjektivität bricht, an denen Vertreter einer kritischen Spätmoderne noch festhielten. Wenn er in L’Inhumain, einem in vieler Hinsicht adornianischen Text, schreibt, daß „das Erhabene möglicherweise der künstlerische Modus ist, der die Modernität (modernité) charakterisiert“ 13 , so entfernt sich Lyotard nur um einen Schritt von Mallarmés, Valérys und Adornos Ästhetik des Negativ-Schönen. Aber dieser Schritt ist entscheidend. Er ist entscheidend, weil er die hierarchi‐ sche Synthese zwischen dem Negativ-Schönen und dem Erhabenen sprengt und zugleich das Erhabene gegen das Schöne und das Subjekt wendet, deren Dasein von dem der Form nicht zu trennen ist. Im Gegensatz zu Adorno, der im Anschluß an Valéry und Mallarmé von dem Gedanken ausgeht, daß die Autonomie der Kunst und des Einzelsubjekts in der künstlerischen Form verankert ist, beruft sich Lyotard auf Kant - oder vielmehr auf seine eigene Rekonstruktion der Kantschen Ästhetik, wie Gernot Böhme zu Recht bemerkt 14 -, um das formsprengende Erhabene gegen das Schöne als Form und Fundament ästhetischer Subjektivität ins Feld zu führen. Vergeblich fordert die Vernunft als Vertreterin des Erhabenen, daß dieses von der Einbildungskraft dargestellt werde. Denn die Einbildungskraft als Formgebung ist begrenzt. Um diese Situation zu veranschaulichen, bedient sich Lyotard der Allegorie: „Anstelle des Verstandes betritt also die Vernunft die ‚Szenerie‘. Sie fordert das einbildende Denken heraus: mach das Absolute, das ich begrifflich vorstelle, durch deine Formen präsent! Die Form ist nun aber Begrenzung (…). Sie kann das Absolute nicht darstellen.“ 15 Letztlich ist der Widerspruch, der das Subjekt vor dem Erhabenen scheitern läßt, aus der Inkommensurabilität zwischen Verstand und Einbildungskraft einerseits und der Vernunft andererseits ableitbar. Obwohl sie jederzeit in der Lage ist, das Schöne als Form darzustellen, scheitert die Einbildungskraft am Erhabenen, das jenseits aller Formen ist. Lyotard siedelt diese Inkommensurabilität innerhalb des Erhabenen an: „Der Widerstreit ist ausweglos. Aber er kann als solcher, als Widerstreit, gefühlt werden. Darin besteht das Erhabene Gefühl.“ 16 Dies ist so zu verstehen, daß das Erhabene aus dem absoluten Gegensatz zwi‐ schen Verstand und Vernunft hervorgeht und das Subjekt diesem Konflikt zum Opfer fällt. „Der Geschmack versprach ihm eine schönes Leben, das Erhabene 116 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="117"?> 17 Ibid., S.-163. 18 J.-F. Lyotard, Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien, Passagen, 1988, S.-60. 19 Ibid., S.-63. 20 Zum Begriff des „Massenwahns“ vgl. H. Broch, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik, Frankfurt, Suhrkamp, 1979. 21 Vgl. J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, Wien-Graz-Köln, Passagen, 1985, S.-86. 22 Vgl z.-B. das Gespräch zwischen Céline und Guy Bechtel: „Rabelais ou la crudité juste. Version intégrale d’un entretien où Céline, invité à parler de Rabelais, pourfend le style académique pour mieux célébrer la crudité juste de la langue vulgaire“, in: Magazine littéraire („Louis-Ferdinand Céline“) 292, Oktober 1991, S.-40. 23 Vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), Kap. I und IV. droht ihm mit dem Tod“ 17 , erläutert Lyotard diesen Sachverhalt in Leçons sur l’Analytique du sublime. Seine Ästhetik des Erhabenen beinhaltet eine Negation der von Modernisten wie Proust, Musil und Adorno verteidigten individuellen Subjektivität. Es wird sich zeigen, daß Céline in diesem Kontext insofern eine besondere Position einnimmt, als sein Werk - parallel zu Lyotards Ästhetik - die Subjektivität negiert, ohne jedoch postmodern zu sein. Es errichtet auf den Trümmern der Kritik eine vitalistische Utopie. Schließlich sei daran erinnert, daß eine rein ästhetische Betrachtungsweise Lyotards Theorie des Erhabenen nicht gerecht wird, weil die Kategorie des Erhabenen in L’Enthousiasme (ein Buch, das vor den Leçons im Jahre 1986 herauskam) auf historische und politische Ereignisse ausgedehnt wird. Dort erscheint etwa die historisch-revolutionäre Begeisterung als „extremer Modus des Erhabenen“. 18 Zugleich wird sie „am Rande des Wahnsinns“ 19 geortet. Dieser historisch-politische Wahnsinn, der in Revolutionen, Bürgerkriegen und Kriegen ausbricht, negiert in seiner gewalttätigen Erhabenheit die individuelle Subjektivität. Diese geht im kollektiven Massenwahn 20 unter. Lyotard erblickt in der Postmoderne keine neue Epoche, sondern einen von der Moderne verdrängten Aspekt, den es zu beleuchten gilt. Ihm erscheinen nicht nur Freud, Duchamp, Bohr und Gertrude Stein als Vertreter einer avant‐ gardistischen Postmoderne, sondern auch ältere Autoren wie Rabelais und Sterne, weil sie das Paradoxon und die Inkommensurabilität des Erhabenen hervortreten lassen. 21 Céline, der als Stilist immer wieder mit Rabelais verglichen wurde 22 , fügt sich insofern in diese „postmoderne“ Tradition ein, als auch er die Inkommensurabilität von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt zutage treten läßt. Geht man nun entgegen Lyotards Absicht von einem historischen Bruch zwischen Spätmoderne und Postmoderne aus 23 , so erscheint Céline als Vorbote einer postmodernen Literatur, die Subjektivität systematisch zerstört oder nicht mehr ernst nimmt. 4.1 Lyotard und die Ästhetik des Erhabenen 117 <?page no="118"?> 24 L. Althusser, Positions, Paris, Editions Sociales, 1976, S.-122. 4.2 Von Saint-Exupéry und Dorgelès zu Céline: Vom Humanen zum Inhumanen Die beiden Weltkriege wirkten auf viele Schriftsteller wie maßlose, menschen‐ negierende Ereignisse, die nicht nur das alte Europa aus den Fugen geraten ließen, sondern auch individuelle Subjektivität im humanistischen Sinne radikal in Frage stellten. Während Antoine de Saint-Exupéry und Roland Dorgelès noch eine Möglichkeit sahen, die verheerenden Kriegsereignisse aus humanistischer Sicht darzustellen, sie gleichsam mit einem Trostwort zu versehen, führt Céline eine Sprache ein, die wie das Erhabene bei Kant und Lyotard Lust und Schrecken auf destruktive Art vereinigt. Sie ist ebenso ausweglos wie Lyotards ästhetischer Widerstreit, weil sie jede Art von humanem Trost zurückweist. Im Gegensatz zu Céline hat Saint Exupéry, der Schriftsteller der „solitude fraternelle“, der Abenteurer und Dichter des Abenteuers, nie aufgehört, sich zum Ideal der menschlichen Solidarität zu bekennen. Sein Roman Pilote de guerre, der während des Zweiten Weltkriegs und nach dem Krieg so viele junge Leser begeisterte, erschien 1942 bei Gallimard, mitten in der Besatzungszeit, und wurde sofort ins Deutsche übersetzt. Wie ist dieser Erfolg in Feindesland zu erklären? Der Roman ist weder als anti-deutsch noch als pazifistisch zu bezeichnen, sondern eher als Produkt einer Abenteuerliteratur zu verstehen, die menschlichen Erwartungen zu entsprechen sucht und deren humanisti‐ scher Unterton kaum zu überhören ist. Der nationalsozialistische Diskurs konnte diesen Roman ohne weiteres vereinnahmen, da der Autor einerseits das Abenteuer verherrlicht, andererseits schockierende Assoziationen und andere Extremismen, welche die Identität des Subjekts in Frage stellen könnten, meidet. Es sei hier an Louis Althussers These erinnert, der zufolge „die Ideologie die Individuen als Subjekte anruft“ („l’idéologie interpelle les individus en sujets“). 24 Die nationalsozialistische Ideologie, die den Franzosen als eine alle Europäer vereinigende Weltanschauung angeboten wurde, konnte ohne Bedenken einen humanistischen Abenteuerroman aufnehmen, der erkennen läßt, wie sehr das Subjekt des menschlichen Abenteuers beiderseits der Grenze gleich ist. Der Erzähler als Abenteurer entrüstet sich gegen den zugleich unsichtbaren und unmenschlichen Charakter des Krieges und integriert letztlich ein potentiell erhabenes Ereignis, das jedem Verstehen trotzt, in eine humanistische Ideologie und eine ihr entsprechende Ästhetik des Schönen. Er erzählt die Erlebnisse einer Gruppe französischer Soldaten, die zögern, einigen Frauen in Not beizustehen, weil sie, wie sie selbst sagen, Krieg führen und sich folglich nicht um das 118 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="119"?> 25 A. de Saint-Exupéry, Pilote de guerre, Paris, Gallimard (Livre de poche), 1942, S.-131. 26 Ibid. 27 Ibid., S.-132. 28 R. Dorgelès, Les Croix de bois, Paris, Albin Michel (Livre de poche), 1919, S.-229. Schicksal von Zivilisten kümmern können: „On fait la guerre“ 25 , wiederholen sie unablässig, um sich zu rechtfertigen. Unmerklich gelingt es dem Erzähler, ihre Worte und Taten seinem humanis‐ tischen Diskurs einzuverleiben: einem Diskurs, der „Abenteuer“ inszenieren kann, weil er den Menschen zum Maß aller Dinge macht: „Ils ne savent plus très bien ce qu’ils disent. Ils ne savent plus très bien s’ils font la guerre.“ 26 Eine Seite weiter heißt es: „Les soldats ont été convertis à la paix. Parce qu’ils ne trouvaient pas la guerre. - Parce qu’est invisible la musculature de guerre. Parce que le coup que vous donnez, c’est un enfant qui le reçoit. Parce qu’au rendez-vous de guerre vous butez sur des femmes qui accouchent. Parce qu’il est aussi vain de prétendre communiquer un renseignement, ou recevoir un ordre, que d’entamer une discussion avec Sirius. Il n’est plus d’armée. Il n’est que des hommes.“ 27 Was ist geschehen? Auf semantischer Ebene wird der offizielle, staatlich sank‐ tionierte Gegensatz zwischen Soldaten und Zivilisten zugunsten einer huma‐ nistischen Solidarität aufgehoben. Komplementär dazu werden auf aktantieller Ebene die scheinbar unerbittlichen Krieger („on fait la guerre“) jäh ins Zivilleben zurückgeworfen. Mitten in einem als absurd dargestellten Krieg werden sie zum Frieden bekehrt. Damit suggeriert Saint-Exupérys Roman, daß sogar das Unmenschliche des Krieges begrenzt ist und daß menschliche Gefühle auch Grenzerfahrungen der Existenz prägen. Sein ideologisches Moment kommt in dem affirmativen Gestus zum Ausdruck, dem zufolge das individuelle Subjekt in allen denkbaren Lagen intakt bleibt. Seine Intaktheit wird in Roland Dorgelès’ Roman Les Croix de bois (1919) angezweifelt, wo täglich massenweise in den Laufgräben gestorben wird. Eines Tages hört eine Gruppe von Soldaten, wie die Deutschen einen Tunnel zu ihrem Unterstand bohren, um an seinem Ende eine Mine anzubringen, die alles in die Luft jagen wird. Halb resigniert, halb verzweifelt bereiten sie sich auf ihren Tod vor, haben aber unerwartet Glück: Sie werden abgelöst. Eine neue Kompagnie kommt an, und sie verlassen mit ihrem Leutnant den Graben. Wenige Stunden später tritt die Katastrophe ein: „Alors, brusquement, venu de loin, un bruit sourd ébranla la nuit: un bruit tonnant de catastrophe, que l’écho répéta longuement. La mine avait sauté.“ 28 Auf den ersten Blick haben wir es im Falle von Dorgelès mit einem Text zu tun, der sich wesentlich von dem Saint-Exupérys unterscheidet: Die mensch‐ liche Versöhnung, die der Schriftsteller-Pilot inszeniert, weicht der sinnlosen 4.2 Von Saint-Exupéry und Dorgelès zu Céline: Vom Humanen zum Inhumanen 119 <?page no="120"?> 29 A.-C. Damour, J.-P. Damour, L.-F. Céline. Voyage au bout de la nuit, Paris, PUF, 1994 (3. Aufl.), S.-92. 30 Ph. Lejeune, Je est un autre, op. cit., S.-219. 31 Vgl. B. McHale, Postmodernist Fiction, London-New York, Methuen, 1987, Routledge, 1993, S. 12: „Samuel Beckett makes the transition from modernist to postmodernist poetics in the course of his trilogy of novels of the early 1950s (…).“ Brutalität des kollektiven Todes. Dennoch können die beiden Romane einander auf ideologischer Ebene angenähert werden, denn Dorgelès schildert - wie Saint-Exupéry - die menschliche Solidarität vor dem Tod. Die abziehende, gerettete Kompagnie hört in der Ferne die gewaltige Explosion und bleibt stehen: Es herrscht Stille, sogar die Artillerie schweigt, als wollte sie den Toten oder Sterbenden die letzte Ehre erweisen. Die Überlebenden schweigen, denn sie gehören allesamt einem humanistischen Szenario an, das Respekt vor dem Menschen und seinem Tod zur Voraussetzung hat. So erweist sich auch Dorgelès als Schriftsteller einer humanen Harmonie, die das Unmenschliche des Krieges im Rahmen einer humanistischen Ideologie zu bändigen sucht. Diesen Rahmen sprengt Céline. Er unterscheidet sich radikal von den beiden anderen Autoren, weil er eine Schreibweise entwickelt, deren unversöhnte Gewalt die Schranken des humanistischen Diskurses durchbricht und die Ein‐ heit des Subjekts zerfallen läßt. „Der rationalistische Humanismus scheitert an der Wirklichkeit“ 29 , kommentieren A.-C. und J.-P. Damour diesen Sachverhalt in ihrem Buch über Voyage; und Philippe Lejeune erkennt in Bardamu, dem Protagonisten von Voyage, einen negativen, unversöhnten Helden, der das Unmenschliche verkörpert: „Einer der Gründe, weshalb Voyage au bout de la nuit einen Skandal ausgelöst hat, ist wohl in der Tatsache zu suchen, daß Céline mit der Romangestalt Bardamus einen Zeugen eingesetzt hat, der von der Norm abweicht. Bardamu versucht nicht, die Tugend zu verkörpern, er bietet dem ratlosen Leser kein Modell und keine Lösung an, er stärkt nicht sein gutes Gewissen.“ 30 Durch diesen kompromißlosen Verzicht auf Affirmation und Versöhnung evoziert Célines Text die Negativität von Becketts Werk, das bisweilen für die Ästhetik einer revoltierenden Postmoderne im Sinne von Lyotard reklamiert wird. 31 Diese Ästhetik, die jede Art von ethischer, politischer oder künstlerischer Affirmation ablehnt, läßt alle kulturellen Werte als austauschbar, als auf den Tauschwert reduzierbar erscheinen, dessen Indifferenz der Autor von Voyage immer wieder zutage treten läßt. In den USA, wo Bardamu in den Autofabriken von Ford arbeitet, hat der Dollar alle Religionen, auch die humanistische Religion eines Saint-Exupéry, verdrängt: „Quand les fidèles entrent dans une Banque, faut pas croire qu’ils peuvent se servir comme ça selon leur caprice. 120 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="121"?> 32 L.-F. Céline, Voyage au bout de la nuit, Paris, Gallimard (Folio), 1952, S.-248. 33 Ibid., S.-576. 34 Ibid., S.-44-45. 35 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S.-36. Pas du tout. Ils parlent à Dollar en lui murmurant des choses à travers un petit grillage, ils se confessent quoi.“ 32 Parallel zum wertindifferenten Tauschwert, der die gesellschaftlichen Bezie‐ hungen in Célines Roman beherrscht, erscheint die Kommunikation zwischen Individuen als in den Indifferenzzusammenhang eingebettet. „On s’accordait à coups d’indifférence“ 33 , erläutert der Ich-Erzähler seine Beziehung zu Parapine. Dennoch ist Voyage kein Roman der Indifferenz im postmodernen Sinn, weil er, wie noch zu zeigen sein wird, auch einem nietzscheanischen Vitalismus das Wort redet, der über den Nihilismus des Tauschwerts hinausweist und eher der spätmodernen oder modernistischen Problematik zuzurechnen ist. Vorerst sollen Célines Kriegsszenen mit denen der beiden anderen Roman‐ ciers konfrontiert werden, damit der Gegensatz zwischen einer humanistischen Ästhetik des Schönen und einer inhumanen Ästhetik des Erhabenen schärfere Kontouren annimmt. Denn das Erhabene als sprachliche Gewalt geht aus der Indifferenz hervor, die bisweilen als globale Karnevalisierung (Bachtin) der europäischen Kultur zutage tritt: „On faisait queue pour aller crever. Le général même ne trouvait plus de campements sans soldats. Nous finîmes par coucher tous en pleins champs, général ou pas. Ceux qui avaient encore un peu de cœur l’ont perdu. C’est à partir de ces mois-là qu’on a commencé à fusiller des troupiers pour leur remonter le moral.“ 34 Diese Passage markiert den Bruch zwischen Célines Voyage und den hu‐ manistischen Romanen der beiden anderen Autoren. Die Solidarität weicht der Verachtung, die Versöhnung dem unaufhebbaren Widerstreit, die huma‐ nistische Harmonie dem Sarkasmus und der Revolte in der Sprache. Man erschießt die Soldaten, um ihnen Mut zu machen. Aus dieser absurden Paradoxie spricht das Grotesk-Inhumane. Sinnlos wäre in diesem Zusammenhang der referentielle Einwand, daß die Wirklichkeit so absurd und inhuman nicht ist, daß sich Menschliches letztlich doch zu Wort meldet. Ein solches Argument verkennt den unversöhnten und radikalen Charakter spätmoderner Texte, die nicht eine mimetische Abbildung des Realen anstreben, sondern das Scheitern der ideologischen Diskurse inszenieren, die immer mehr zum Realitätsersatz werden. Im Zusammenhang mit Céline könnte man wiederholen, was Adorno über Kafka schrieb: „Kafkas Kraft schon ist die eines negativen Realitätsgefühls; was an ihm dem Unverstand phantastisch dünkt, ist ‚Comment c’est‘.“ 35 An anderer 4.2 Von Saint-Exupéry und Dorgelès zu Céline: Vom Humanen zum Inhumanen 121 <?page no="122"?> 36 Ibid., S.-192. 37 D. Latin, Le Voyage au bout de la nuit de Céline, op. cit, S.-20. 38 Ibid., S.-15. 39 L.-F. Céline, Voyage au bout de la nuit, op. cit., S.-28-29. 40 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, op. cit., S.-251. Stelle spricht er vom „anti-ästhetischen Aspekt“ 36 der Kunst, den Kafkas Werk hervortreten läßt, das wie Célines Roman das Beckettsche „Comment c’est“ augenfällig macht. Auch im Zusammenhang mit Célines Voyage wurde dieses „negative Reali‐ tätsgefühl“ bemerkt. So spricht beispielsweise Danièle Latin von einer „wilden Ästhetik“, einer „esthétique sauvage“ 37 , und weist auf die „unreduzierbare Negativität“ 38 von Célines Werk hin. Wie sich diese Negativität von der anderer Modernisten unterscheidet, soll ansatzweise in der Schlußbetrachtung darge‐ stellt werden. Auf die infantile Frage „Comment c’est, la guerre? “, die in Becketts Par‐ odien durchaus denkbar wäre, antwortet Céline mit einer scheinbar infantilen Sprache, die durch eine Vorliebe für das ekelerregende Detail gekennzeichnet wird. Der Kolonel und der Kavallerieoffizier werden von einer Granate getroffen und verenden, völlig verstümmelt, in einer ungewollten Umarmung: „Ils s’em‐ brassaient tous les deux pour le moment et pour toujours, mais le cavalier n’avait plus sa tête, rien qu’une ouverture au-dessus du cou, avec du sang dedans qui mijotait en glouglous comme de la confiture dans la marmite. Le colonel avait son ventre ouvert, il en faisait une sale grimace.“ 39 Keine Ehrerbietung, kein Respekt, kein Mitleid: Eine fiese Grimasse, das ist das Gesicht des Krieges bei Céline. Dies ist sicherlich eine Art, dem Humanismus und seiner ästhetischen Ideologie der harmonischen Totalität und des historischen Sinnes (im Sinne von Hegel) den Rücken zu kehren. Es ist auch eine Art, mit den Stereotypen des Heldentums, des Patriotismus und der Kriegskameradschaft zu brechen. Zugleich mit seiner sprachlichen Negativität führt Céline eine literarische Anti-Ästhetik ein, die in der Aporie des Erhabenen, des Formlosen und Unbe‐ grenzten ausmündet. Zum Erhabenen bemerkt Lyotard: „Dieses ist eine Rührung, eine gewaltsame Rührung, die der Unvernunft nahe ist und das Denken zu äußerster Lust und Unlust drängt - von der freudigen Begeisterung bis zum Schrecken.“ 40 In diesem grenzenlosen Schrecken zerfällt das individuelle Subjekt bei Lyotard und Céline: in zwei Ästhetiken, die mit allen Sinnformen brechen, auf denen die humanistische Subjektivität gründete. 122 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="123"?> 41 Zur Definition der Postmoderne als Problematik (als ein Ensemble von Problemen und Fragen) vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne, op. cit., Kap. I und IV. Die Tatsache, daß auch Célines Werke im nationalsozialistischen Deutsch‐ land übersetzt wurden (Voyage, 1933, Mort à crédit, 1936, Bagatelles pour un massacre, 1938), zeigt indessen, daß auch Negativität unter bestimmten Bedingungen ideologisch vereinnahmt werden kann: als Negativität einer „dekadenten Demokratie“, die nur durch die neue Ideologie (welche auch immer) zu überwinden ist. So ist es auch zu erklären, daß im Frankreich des Jahres 1932 Voyage von der extremen Linken mit Begeisterung aufgenommen wurde: als Kritik am „kapitalistischen System“. Für dualistisch denkende Ideologen sind Darstellungen negativer Zustände stets eine Aufforderung, mit positiven Alter‐ nativen aufzuwarten. In Célines Fall kommt hinzu, daß sein Antisemitismus der späten 30er Jahre selbst eine solche Alternative anzubieten schien, die von den Nationalsozialisten propagandistisch ausgeschlachtet wurde. Im Gegensatz zum globalen Negativismus eines Céline sind theoretische und literarische Diskurse, die komplementär zu ihrer Kritik Werte setzen, ideologisch schwer zu vereinnahmen. Wer wie Adorno, Bachtin oder Musil Ideo‐ logiekritik mit einem Plädoyer für das Besondere, für Alterität und Individualität kombiniert, der wird von Ideologen kaum goutiert. Denn Ideologie ist stets monomanisch, monologisch und alteritätsfeindlich. Auf dieser Ebene erscheint Céline als ein Ideologe par excellence. Seine Negation als Rundumschlag ist keine Kritik. 4.3 Céline zwischen Spätmoderne und Postmoderne Im Anschluß an Célines und Lyotards Ästhetiken des Erhabenen stellt sich die Frage nach dem postmodernen Charakter von Célines Werk, wobei die Postmoderne hier - anders als bei Lyotard - als eine neue Problematik 41 aufgefaßt wird, die zwar einige Probleme und Verfahren der Spätmoderne übernimmt, insgesamt aber mit dieser Problematik bricht. Sie bricht mit ihr vor allem in zwei Bereichen, die hier eine entscheidende Rolle spielen: im Bereich der Subjektivität und der Wertung. Während die Spätmoderne als Modernismus (Musils, Kafkas, Adornos, Horkheimers) alles unternahm, um das individuelle Subjekt in extremis zu retten, meinen Vertreter der Postmoderne, im Subjekt ein Epiphänomen der versprachlichten Macht (Foucault), ein Residuum der Metaphysik (Deleuze, Guattari) oder eine idealistische Schimäre (Lyotard) zu erkennen, die von der Ästhetik des Erhabenen global in Frage gestellt wird. Im Gegensatz zu spätmodernen Schriftstellern wie Kafka, Gide, Hesse oder Proust 4.3 Céline zwischen Spätmoderne und Postmoderne 123 <?page no="124"?> 42 Vgl. A. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris, Gallimard, 1963, S.-20-27. 43 Y. Pagès, Les Fictions du politique chez L.-F. Céline, Paris, Seuil, 1994, S. 20. Vgl. auch, Y. Pagès, „Fragments d’un discours libertaire“, in: Magazine littéraire („Céline. Voyage au bout de la nuit“) 317, Januar, 1994, S. 44: „L’anarchisme y figure la plupart du temps en creux, comme un fonds subversif dont la part d’utopie demeure soumise à un perpétuel travail du deuil.“ 44 A. Henry, Céline écrivain, Paris, L’Harmattan, 1994, S.-16. 45 Ibid. fragen nachmoderne Autoren wie Barth, Pynchon, Eco oder Süskind nicht mehr nach der authentischen Wertskala, die auch den jungen Sartre in La Nausée beschäftigt. Der Nouveau Roman ist insofern postmodern, als er die modernis‐ tische Frage nach dem wahren Leben zusammen mit dem Anthropomorphismus des Subjektbegriffs als metaphysisch verabschiedet. So ist Robbe-Grillets Bruch mit den Existentialisten Sartre und Camus in Pour un nouveau roman zu verstehen: Die existentialistische Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt, Ich und Welt erscheint dort als humanistische Anthropologie. 42 Wo steht nun Céline in diesem Koordinatensystem der historischen Proble‐ matiken? Er erschüttert zwar die individuelle Subjektivität durch eine Heraus‐ lösung des Erhabenen aus der Ästhetik des Schönen; er negiert aber nicht das Subjekt auf postmoderne Art. Er zersetzt zwar die humanistische Wertskala durch eine drastische Karnevalisierung der Sprache (im Sinne von Bachtin); aber er verabschiedet die spätmoderne Frage nach historisch-politischen Alter‐ nativen nicht als sinnlos. Sein politisches Engagement ist jedoch populistisch, anarchistisch und zweideutig. Auf den anarchistischen, nietzscheanischen und junghegelianischen Entste‐ hungszusammenhang von Célines Diskurs ist in der Vergangenheit des öfteren hingewiesen worden. So versucht beispielsweise Yves Pagès zu zeigen, „wie die subversive Kraft von Célines Werk aus der Thematik des goldenen Zeitalters der Anarchie hervorgeht“. 43 Anne Henry konkretisiert diesen Kontext, wenn sie Céline als Nietzscheaner liest und zugleich seine geistige Verwandtschaft mit dem anarchistischen Junghegelianer Max Stirner hervorhebt. Von Nietzsche sagt sie, er sei „stets der unsichtbare Weggefährte“ 44 Célines gewesen, und erklärt an anderer Stelle, worin Célines Nietzscheanismus besteht: „Céline stimmte als einziger völlig mit Nietzsches Kerngedanken überein, mit dem radikalen Vitalismus, der den Anspruch erhebt, aus einer dunklen, zerrissenen Immanenz das Prinzip seiner eigenen Umgestaltung abzuleiten.“ 45 Nun ist Nietzsches Vitalismus, dessen Bedeutung für Céline Anne Henry möglicherweise überbetont, ein modernistisches Prinzip par excellence, das auf so verschiedene Schriftsteller wie Pío Baroja, André Gide und Albert Camus nachhaltig eingewirkt hat. Zur „vitalistischen“ Verwandtschaft zwischen 124 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="125"?> 46 B. Rosenthal, Die Idee des Absurden: Friedrich Nietzsche und Albert Camus, Bonn, Bouvier, 1977, S.-16. 47 Y. Pagès, Les Fictions du politique chez Céline, op. cit., S.-17. 48 Vgl. A.-C. und J.-P. Damour, L.-F. Céline. Voyage au bout de la nuit, op. cit., S.-78-80. 49 Vgl. ibid., S.-68. 50 L.-F. Céline, Voyage au bout de la nuit, op. cit., S.-300. 51 Ibid., S.-301. Nietzsche und Camus bemerkt beispielsweise Bianca Rosenthal: „Beider Denken ist auf das Diesseits gerichtet, das Leben ist für sie höchster Wert (…).“ 46 Hier wird deutlich, daß der Vitalismus jenseits des zerfallenden, diskreditierten Wertsys‐ tems eine neue Wertordnung postuliert, die auf das Leben selbst ausgerichtet ist. Eine solche Wertsetzung wäre in der postmodernen Literatur, die alle Werte spielerisch pluralisiert und relativiert und die Frage nach dem obersten Wert und der richtigen Wertskala als anachronistisch verabschiedet, kaum vorstellbar. Sie ist das Ergebnis einer modernistischen Suche (zu Recht spricht Pagès von einer „quête politico-littéraire“ Célines) 47 , die auch für Prousts, Kafkas, Musils oder Gides Werke kennzeichnend ist. Die Bedeutung dieser Suche oder „quête“ wird auch von A.-C. und J.-P. Damour hervorgehoben. 48 Célines vitalistische, nietzscheanische Suche erreicht in Voyage ihren Hö‐ hepunkt in Bardamus Liebesbeziehung zu der amerikanischen Prostituierten Molly, einer Romanfigur, deren zugleich menschliche und euphorische Kon‐ notationen in schroffem Gegensatz zur Negativität des Krieges und der kapi‐ talistischen Gesellschaft stehen. Zugleich scheint diese Beziehung die letzte Zufluchtstätte einer Subjektivität zu sein, die sich nietzscheanisch jenseits von Gut und Böse neu konstituiert: in der menschlichen Natur. Man kann zwar auch Mollys sozial-affektive Rolle relativieren und auf ihre Versuche hinweisen, Bardamu in das nordamerikanische Gesellschaftssystem zu integrieren 49 : Eine solche Deutung läßt jedoch die Beziehung zwischen den beiden Protagonisten unberücksichtigt sowie den Umstand, daß Molly die einzige Frau ist, der gegenüber Bardamu Zuneigung zeigt. Bardamu, der sich im Umgang mit seiner verständnisvollen und großzügigen Freundin als „bien affectueux“ 50 erweist, kommt sich kalt und schäbig vor, als er Molly verläßt, und gibt als Ich-Erzähler seinen destruktiven Diskurs auf, wenn er sich an seinen Aufenthalt in Amerika erinnert: „(…) Tant de gentillesse et de rêve Molly m’a fait cadeau dans le cours de ces quelques mois d’Amérique.“ 51 Doch diese Lebens- und Liebesenklave in einer Welt der Zerstörung und des Todes vermag keine neue Wertskala zu begründen: ebensowenig wie Meursaults wertfreie, vitalistische Beziehung zu seiner Freundin Marie in Camus’ Roman L’Etranger. Beide Beziehungen sind letztlich als nietzscheanische Alternativen zu einer 4.3 Céline zwischen Spätmoderne und Postmoderne 125 <?page no="126"?> 52 Vgl. Ch. Caudwell, Studies and Further Studies in a Dying Culture, New York-London, Monthly Review Press, 1971, S. 116: „The only real alternative to bourgeois economy is proletarian economy, i.e. socialism, and therefore one either participates in bourgeois economy or is a proletarian revolutionary.“ Dieser Satz läßt erkennen, wie stark der ideologische Dualismus in den 30er Jahren wirkte. 53 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: ders., Werke VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S.-440. 54 A. Henry, Céline écrivain, op. cit., S.-53. 55 D. Latin, Le Voyage au bout de la nuit de Céline, op. cit., S.-462. 56 Vgl. ibid., S.-26-27. depravierten Kultur darstellbar. In beiden Fällen erscheint das Lebensprinzip als Antwort auf das Unbehagen in einer „sterbenden Kultur“. 52 Doch dieses Prinzip war schon bei Nietzsche und bleibt auch bei Camus und Céline äußerst ambivalent: Es kann sowohl eine Politik der Nächstenliebe als auch eine Politik der Gewaltherrschaft legitimieren. Während Nietzsche vor allem das Überleben der großen, starken Individuen im Auge hatte und notierte: „Nicht ‚Menschheit‘, sondern Übermensch ist das Ziel“ 53 , plädierte Camus sowohl in seinen philosophisch-politischen Schriften als auch in seinen literarischen Werken für eine Solidarität aller Menschen vor dem Tod. Sein Caligula-Drama läßt indes die Ambivalenz des Lebensprinzips erkennen: Wäh‐ rend der Senator Chéréa eine selbstauferlegte Mäßigung im Sinne von Camus’ „mittelmeerischem Denken“ („pensée de midi“) befürwortet, schrickt Caligula vor „übermenschlicher“ Gewaltanwendung und Willkür nicht zurück. Célines Vitalismus ist im Kontext dieser modernistischen Ambivalenz zu betrachten. „Céline setzt auf ‚die vitalen Instinkte‘“ 54 , bemerkt Anne Henry, ohne hinzu‐ zufügen, daß diese Instinkte ebenso ambivalent sind wie das Lebensprinzip, aus dem sie hervorgehen. Sie können in Liebe und Leidenschaft ebenso wie in Haß und Rachsucht zum Ausdruck kommen. Ein Moment dieser Ambivalenz hält Danièle Latin fest, wenn sie im Zusammenhang mit Célines Werk fragt: „Eine Revolte des Subjekts gegen die objektive Negativität? Oder eine subjektive Revolte, die ihre eigenen Negationen hervorbringt? “ 55 Tendenziell bringt diese Negativität, wie sich gezeigt hat, eine Negation des Subjekts mit sich, die nur durch den vitalistischen Impuls teilweise zurückge‐ nommen wird. Insofern aber, als sich dieser Impuls vor allem auf sprachlicher Ebene mit der Negativität paart, kehrt er sich gegen den Anderen, vor allem den Andersartigen, der für die gesellschaftlichen Katastrophen verantwortlich ge‐ macht wird. Das Lebensprinzip kann sowohl als Solidaritätsprinzip als auch als Herrschaftsprinzip, als „Recht des Stärkeren“ gedeutet werden. In Célines Werk koexistieren beide Deutungen, und es erscheint kaum möglich, im Anschluß an einige Literaturkritiker 56 einen „guten“ Céline, den Autor von Voyage, vom 126 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="127"?> 57 R. Musil, Gesammelte Werke VII, Hamburg, Rowohlt, 1978, S.-904. Autor der antisemitischen Pamphlete (z. B. Bagatelles pour un massacre) zu trennen. Denn im Rahmen der spätmodernen Problematik können Célines radikale Gesellschaftskritik und sein nietzscheanisch-anarchistischer Vitalismus sowohl in der „proletarischen Solidarität“ der Kommunisten als auch im Faschismus oder Nationalsozialismus ausmünden. Während die extreme Linke im Jahre 1932 dem Voyage Beifall zollte, wurde die Schrift Bagatelles pour un massacre (1937) von der extremen Rechten mit Dankbarkeit und Genugtuung aufgenommen. Diese scheinbar widersprüchlichen Rezeptionen zeugen nicht so sehr von einer politischen Bekehrung Célines zum Faschismus, sondern von der Ambi‐ valenz spätmoderner Revolten und vom Schwanken des Autors zwischen den Extremen. Von Céline gilt, was Robert Musil über Mussolini schrieb: „Zum ideologischen Durcheinander der Zeit und seiner großen Bedeutung vgl. den Werdegang Mussolinis in D.N.R. Mai 1924. Er oszilliert tatsächlich zwischen den verschie‐ denen Polen.“ 57 Mea culpa (1936), ein Pamphlet Célines, das eine Absage an den Sowjetkommunismus enthält, setzt ein Interesse für die proletarische Revolte und die kommmunistische Kritik am Bürgertum voraus. Daß dieser Desillusionsschrift die antisemitischen Pamphlete und eine Annäherung an den Nationalsozialismus und Faschismus folgten, ist kaum als Zufall zu werten. Die spätmoderne Suche kann viele verschiedene Wege einschlagen, von denen der eine zum Christentum (Huysmans), der andere zur Kunst (Mallarmé, Proust) und der dritte zur revolutionären Utopie des Marxismus führt. Daß eine radikale Abrechnung mit dem Bürgertum und seiner Demokratie auch zum Faschismus führen kann, zeigt Mussolinis Entwicklung vom Anarchosyndikalisten im Sinne von Georges Sorel zum Faschisten. Beschränkt man den Modernismus nicht auf kanonisierte Autoren wie Joyce, Proust, Svevo und Musil, sondern bezieht auch rechte Vertreter der Problematik wie Drieu la Rochelle, Brasillach, Wyndham Lewis und Ezra Pound ein, dann hat man eine mehrdimensionale Konstellation vor sich, in der Gesellschaftskritik, Systemüberwindung und Utopie wider‐ sprüchliche, aber durchaus komplementäre Bedeutungen annehmen. Freilich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, weshalb Autoren wie Proust, Musil oder Svevo in einer eher apolitischen, aber keineswegs unkritischen Skepsis verharren, während Autoren wie Céline, Auden, Sartre oder Brecht offen Partei ergreifen und dabei gegensätzliche Stellungen beziehen. Die exemplarische Entwicklung Huysmans’ vom Naturalismus zum Ästheti‐ zismus und zum Christentum läßt abermals die Ambivalenz der spätmodernen 4.3 Céline zwischen Spätmoderne und Postmoderne 127 <?page no="128"?> 58 Vgl. J.-P. Mugnier, L’Enfance meurtrie de Louis-Ferdinand Céline, Paris, L’Harmattan, 2000, S. 51: „Le recours à un langage cru voire ordurier est par ailleurs fréquent chez les enfants victimes d’abus“. 59 G. Bernanos, in: D. Latin, Le Voyage au bout de la nuit de Céline, op. cit., S.-29. 60 Zu den Ideologiekritiken Brochs und Musils vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. X. 61 J.-F. Lavis, Une écriture des excès. Analyse sociologique de Voyage au bout de la nuit, Montréal, Balzac-Le Goriot, 1997, S.-85. 62 Ibid., S.-213. Problematik erkennen, für die das Oszillieren zwischen den verschiedenen politischen Positionen charakteristisch ist, ein Oszillieren, dem auch Sartre, Lukács und Malraux ausgesetzt waren. Dadurch unterscheidet sie sich von der postmodernen Problematik, die das politische (ökologische, feministische, ethnische oder revolutionäre) Engagement durchaus kennt, jedoch nicht den Druck, der vor allem in der Zwischenkriegszeit von den rivalisierenden Groß‐ ideologien (Marxismus-Leninismus vs. Faschismus und Nationalsozialismus) ausging. Damit ist die Frage jedoch nicht beantwortet, denn man möchte wissen, weshalb es gerade Céline zum Faschismus drängte, weshalb sich gerade er mit antisemitischen Haßtiraden exponierte. Abgesehen von psychischen Prädispo‐ sitionen, die Adorno und seine Mitarbeiter in The Authoritarian Personality (1950) untersucht haben und die J.-P. Mugnier im Zusammenhang mit Céline analysiert 58 , spielt hier das soziale Milieu als sozio-linguistischer Kontext eine entscheidende Rolle. Im Gegensatz zu einem Autor wie Proust, der in seiner Re‐ cherche von einer Kritik der mondänen Konversation ausgeht, der er schließlich das literarische Schreiben als authentische Alternative gegenüberstellt, geht Céline vom populären Argot aus, den er literarisiert, um, wie Bernanos sagt, das auszudrücken, „was die Sprache der Elenden nie wird ausdrücken können“ („ce que le langage des misérables ne saura jamais exprimer“). 59 Dies ist natürlich eine Ausgangsposition, die vorab eine andere diskursive Richtung vorgibt als Prousts Kritik an der Konversation oder Brochs und Musils Ideologiekritiken. 60 Diese Richtung hat Jean-François Lavis in Une écriture des excès nachge‐ zeichnet, wo er Célines Romandiskurs als eine im „langage oral populaire“ 61 verankerte Sprachform untersucht, die den monologischen Anspruch der of‐ fiziellen Literatursprache in Frage stellt. Konkret geht es um das populäre Französisch der Pariser Unterschichten in den 20er Jahren, um die „parole populaire parisienne des années 20“. 62 Es handelt sich also um die sprachliche Kehrseite der Belle Epoque, insbesondere der mondänen Konversation des Faubourg Saint-Germain. 128 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="129"?> 63 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg, Rowohlt, 1952, S.-1578. 64 L.-F. Céline, Mort à crédit, Paris, Gallimard, 1952, S.-69. 65 Zu den diskursiven Strukturen des Boulangismus und der Action française unter der Dritten Republik vgl. Vf., L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris-Bern-Frankfurt, Peter Lang, 1988 (2. Aufl.), Kap. II: „La situation socio-linguistique sous la Troisième république et avant“. 66 L.-F. Céline, Voyage au bout de la nuit, op. cit., S.-99-100. Liest man Lavis’ an Bachtins Theorie des polyphonen Romans anknüpfende Interpretation parallel zu Bernanos’ früher Diagnose, dann ergibt sich folgendes Bild: Céline artikuliert die Interessen und Gedanken der deklassierten Klein‐ bürger, Proletarier und Außenseiter, die sich eine individuelle Subjektivität kaum leisten können. Musils bekanntes Dictum „Der Individualismus geht zu Ende. (…) Aber das Richtige wäre hinüberzuretten“ 63 , ist ihnen kein Anliegen, weil sie sich eine Individualität im bildungsbürgerlichen Sinne nie leisten konnten. Der Ich-Erzähler von Célines autobiographischem Roman Mort à crédit mißhandelt seinen Hund so, wie er von seinem Vater mißhandelt wird: „J’ai voulu lui faire comme mon père. Je lui foutais des vaches coups de pompes quand on était seuls. Il partait gémir sous un meuble. Il se couchait pour demander pardon. Il faisait comme moi exactement.“ 64 Dies ist der Grund, weshalb Céline, der im Namen der Deklassierten schreibt, die individuelle Subjektivität angesichts des Erhabenen als quantité négligeable beiseite schieben kann. Damit läßt er die Kehrseite von Prousts, Musils und Svevos Romanen hervortreten: Er zeigt, daß die subjektive Selbstsuche, die in diesen Romanen im Mittelpunkt steht, den subjektlosen Unterschichten, die vorwiegend kollektive Interessen und kollektives Leiden wahrnehmen, als Luxus einer parasitären Oberschicht erscheinen muß, die im Extremfall Kleinbürger und Proletarier bedenkenlos opfert. So ist möglicherweise auch Célines Antisemitismus zu erklären, der sich in der Zeit der Dritten Republik sowohl im populistischen Boulangismus als auch in der Action française 65 artikulierte: als synekdochisch gebündelter Haß auf die Bildungsbürger und Intellektuellen, die sich Kontemplationen, Selbstanalysen und Psychoanalysen leisten können, während die Söhne der Proletarier zu Tausenden vor Verdun fallen. Zu Proust bemerkt der Erzähler von Voyage: „Proust, mi-revenant lui-même, s’est perdu avec une extraordinaire ténacité dans l’infinie, la diluante futilité des rites et démarches qui entortillent autour des gens du monde, gens du vide, fantômes de désirs, partouzards indécis attendant leur Watteau toujours, chercheurs sans entrain d’improbables Cy‐ thères.“ 66 Dieser Kritik an der mondänen Gesellschaft, die freilich den Künstler 4.3 Céline zwischen Spätmoderne und Postmoderne 129 <?page no="130"?> 67 Mit dem Verhältnis von Subjektivität, Ideologie und Romangattung hat sich Vf. In Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München Fink, 1986, 1999, ausführlich befaßt. Proust völlig außer acht läßt, kann man einen gewissen Wahrheitsgehalt nicht absprechen. Dennoch treffen sich Céline und Proust in einem wesentlichen Punkt: in ihrer poetologischen Ansicht, daß der Roman als subjektive Gattung (als „subjektive Epopee“, würde Goethe sagen) immer problematischer wird. Wo das Subjekt als zerfallende Instanz durch ein auf die unwillkürliche Erinnerung ausgerichtetes Schreiben oder durch extremen Vitalismus gerettet werden muß, dort wird auch die Zukunft des Romans als Suche nach dem Ich ungewiß. 67 Célines Voyage antizipiert all jene Romane der Postmoderne, welche die Gattungsbezeichnung zwar beibehalten, auf die Suche aber verzichten oder sie als Anachronismus museal-spielerisch aktualisieren: die Texte Thomas Pyn‐ chons, John Barths, Umberto Ecos, John Fowles’ oder Patrick Süskinds. Thomas Pynchon knüpft in Gravity’s Rainbow insofern an Célines Ästhetik an, als er das Destruktiv-Erhabene des Zweiten Weltkriegs darstellt, auf die ästhetische, politische oder vitalistische Suche nach einer authentischen Subjektivität jedoch verzichtet. Ihm würde sogar Céline als Metaphysiker erscheinen: als Opfer einer spätmodernen Paranoia, als verzweifelter Modernist, der sich mit der Wirklichkeit nicht abfinden will. Angesichts dieses postmodernen Verzichts auf die spätmodern-modernisti‐ sche recherche stellt sich die Frage, weshalb zeitgenössische Autoren einerseits mit der Metaphysik brechen, andererseits das Erhabene als ästhetisches und stilistisches Prinzip (im Anschluß an Longinus, Burke und Kant) wiederentde‐ cken. Die beiden Komponenten dieser Frage bilden insofern zwei Aspekte eines Problems, als in einer radikal säkularisierten, von der Indifferenz beherrschten Gesellschaft sowohl Natur als auch Geschichte dem Einzelnen als wertindif‐ ferente Prozesse erscheinen. Das Erhabene der natürlichen und historischen Ereignisse wird in einer sozialen und sprachlichen Situation sichtbar, in der diese Ereignisse weder in eine metaphysische (religiöse, politische) Erzählung integriert noch im Rahmen einer solchen Erzählung sinnvoll bewertet werden können. Sie werden zu facta bruta, die durch ihre kontingente Sinnfreiheit die individuelle Subjektivität in Frage stellen. In dieser von der Indifferenz geprägten Situation entdecken Autoren wie Lyotard das Erhabene, das im postmodernen Zusammenhang eine ganz andere Bedeutung annimmt als beim modernen Metaphysiker Kant oder beim römischen Rhetoriker Longinus. 130 4 Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard <?page no="131"?> Zweiter Teil: Natur, Kultur und Subjekt in der Spätmoderne <?page no="133"?> 1 Der Modernismus wird hier als eine spätmoderne Kritik der Moderne (nach Baudelaire, Dostoevskij und Nietzsche) aufgefaßt. 2 Zum Problem der Periodisierung vgl. U. Schulz-Buschhaus, „Klassik zwischen Kanon und Typologie: Probleme um einen Zentralbegriff der Literaturwissenschaft“, in: Ar‐ cadia 1, 1994; U. Schulz-Buschhaus, „Gattungsmischung - Gattungskombination - Gattungsnivellierung. Überlegungen zum Gebrauch des literarhistorischen Epochen‐ begriffs ‚Barock‘“, in: H. U. Gumbrecht, U. Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 und U. Schulz-Buschhaus, „Critica e recupero dei generi - Considerazioni sul ‚Moderno‘ e sul ‚Postmoderno‘“, in: Problemi 101, 1995. Zur Definition von Moderne und Postmoderne als Problematiken vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), Kap. I. 3 Zur literarischen und politischen Heterogenität der Romantik vgl. G. Hoffmeister, Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart, Metzler, 1978, „Einleitung“ und Kap. I. Und: A. von Bormann (Hrsg.), Volk - Nation - Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1998. 4 Vgl. L. Surette, The Birth of Modernism. Ezra Pound, T. S. Eliot, W. B. Yeats and the Occult, Montreal-London-Buffalo, McGill-Queen’s Univ. Press, 1993: „Introduction“. 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls Es ist deshalb prekär, allgemein von „Modernismus“ oder „Spätmoderne“ zu sprechen 1 , weil diese Termini keine homogene Erscheinung bezeichnen. Ähn‐ lich wie der Romantik-Begriff beziehen sie sich im literarischen Bereich auf eine Problematik 2 , deren Fragestellungen von den ihr angehörenden Autoren und Autorengruppen unterschiedlich und kontrovers behandelt werden. Wie die Romantik, die uns bald ein konservatives, bald ein revolutionäres oder (bei Shelley) anarchistisches Gesicht zeigt 3 , erweist sich der Modernismus als spätmoderne Selbstkritik der neuzeitlichen Moderne bei näherem Hinsehen als widersprüchliche Einheit. Er geht nicht in der konservativen Ideologie oder Ästhetik auf, mit der ihn einige Theoretiker der Spätmoderne und Postmoderne voreilig identifizierten, indem sie T. S. Eliot oder Ezra Pound zu seinem Hauptvertreter ausriefen. 4 Von Joris-Karl Huysmans bis André Malraux und Hermann Hesse wird immer wieder das Schwanken der Modernisten zwischen gesellschaftskritischen und konservativen Positionen erkennbar: ein Schwanken, das von der politischen Heterogenität der modernistischen Problematik zeugt. Diese Heterogenität ist auch im philosophisch-ästhetischen Bereich zu beob‐ achten, wo Phänomene wie Natur und Kontingenz von Autoren wie Sartre, Moravia und Kafka ganz anders bewertet werden als von Proust, Hesse oder <?page no="134"?> 5 H. R. Jauß, „Ursprünge der Naturfeindschaft in der Ästhetik der Moderne“, in: K. Maurer, W. Wehle (Hrsg.), Romantik, Aufbruch zur Moderne, München, Fink, 1991, S.-381. 6 Zum Naturbegriff bei Baroja und Lawrence vgl. Vf., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.), Kap. IV. 7 Zur literarisch-philosophischen Verwandtschaft von Moravia und Sartre im Rahmen des Existentialismus vgl. Vf., Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia und Camus, Trier, WVT, 2004. Breton. Während die einen in der Natur und ihren kontingenten Ereignissen eine Gefahr für das individuelle Subjekt zu erkennen meinen, feiern die anderen den naturwüchsigen Zufall als befreiendes Ereignis, das die verkrusteten gesell‐ schaftlichen Konventionen durchbricht und das Unbewußte als authentischen Kern des Ichs zu Kritik und Kreativität befähigt. Insofern nimmt Jauß nur die asketisch vergeistigte Hälfte der Spätmoderne wahr, wenn er pauschal von der „Austreibung der Natur aus der Ästhetik der Moderne“ 5 spricht. Er scheint nur die naturfeindlichen Werke Baudelaires oder Huysmans’ zu betrachten, nicht jedoch die naturzugewandten Ästhetiken Nietzsches, Pío Barojas, D. H. Lawrences oder Hermann Hesses. 6 Er übersieht die ambivalente Einheit der Spätmoderne (des Modernismus), die darin besteht, daß die Frage nach der Bedeutung von Natur und Kontingenz für das individuelle (männliche) Subjekt widersprüchlich beantwortet wird: Natürliche Kontingenz wird bald als Gefahr, bald als Befreiung wahrgenommen. Dennoch erscheint der Modernismus retrospektiv als Einheit, weil er diese Frage in den Mittelpunkt stellt: eine Frage, die der Realismus in dieser Form nicht kannte und die in der Postmoderne an die Peripherie der Problematik abgedrängt wird. In der postmodernen Literatur (Ecos, Calvinos, Süskinds, Pynchons oder Azúas) geht es nicht mehr um die Bedeutung von Natur und Kontingenz für das Subjekt, weil der Subjektbegriff als metaphysisches (modernistisches) Relikt verabschiedet wurde. Im folgenden soll in einem ersten Schritt die Entstehung dieser Fragestellung aus dem Zerfall des Hegelschen Systems bei Nietzsche und den Junghegelianern nachgezeichnet werden. Im Anschluß daran wird in einem zweiten und einem dritten Schritt die Ambivalenz des Zufalls in der modernistischen Literatur dargestellt. Es wird sich u. a. zeigen, daß die Existentialisten Sartre und Moravia 7 Geistesverwandte Kafkas sind und daß - gleichsam an der Kehrseite der Problematik - eine Entwicklungslinie von Marcel Proust zu André Breton verläuft. 134 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls <?page no="135"?> 8 F. J. Wetz, „Kontingenz der Welt - Ein Anachronismus“, in: G. von Graevenitz, O. Marquard (Hrsg.), Kontingenz, München, Fink, 1998, S.-95. 9 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke XII, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, 1976, S.-31. 10 Ibid., S.-22. 5.1 Zufall und Zerfall bei Hegel und den Hegelkritikern Zu Recht weist Franz Josef Wetz darauf hin, daß das Problem der Kontingenz nicht unabhängig von der Vorstellung einer Gegenwart Gottes im Weltge‐ schehen zu betrachten sei: „An die Stelle der ursprünglichen Bedeutung von Kontingenz der Welt ist deren absolutes Gegenteil getreten. Einst erschien das Ganze als kontingentes Faktum und war gerade als solches gerechtfertigt, da es Gottes Erwählung und Bejahung sicher sein konnte. Jetzt erscheint es als ungerechtfertigt, weil es keinen letzten Grund und Zweck mehr besitzt. Daß alles ganz anders sein könnte und überhaupt nicht zu sein brauchte, beweist nur noch, daß es besser wäre, wenn es überhaupt nicht existierte.“ 8 Zwischen dem „Einst“ und dem „Jetzt“ zerfällt Hegels System der Geschichte, das als säkularisierte Theologie den göttlichen Willen als Willen des Weltgeistes im Weltgeschehen nachzuweisen sucht. Nicht zufällig tritt in seiner Philosophie der „Naturzufall“ 9 stets mit negativen Konnotationen auf: Denn Natur und Kontingenz sind Erscheinungen, die sich der Herrschaft des Geistes, des Sub‐ jekt-Logos, über die Welt tendenziell entziehen. Dies ist der Grund, weshalb sie Hegel sowohl im historischen und politischen als auch im ästhetischen Kontext bagatellisiert. Er will keine Zweifel an der Herrschaft des Geistes und seiner Logik in diesen Bereichen aufkommen lassen. Daß es sich um eine geistige Gewalttour handelt, die Hegel-Kritiker von Vischer und Kierkegaard bis Sartre und Derrida in verschiedenen Zusammen‐ hängen aufgezeigt haben, läßt die Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erkennen. Denjenigen, die das Walten der Vernunft in der Welt noch nicht erkannt haben, rät Hegel, daß sie „wenigstens den festen, unüberwindlichen Glauben haben, daß Vernunft in derselben ist, und auch den, daß die Welt der Intelligenz und des selbstbewußten Wollens nicht dem Zufalle anheimgegeben sei, sondern im Lichte der sich wissenden Idee sich zeigen müsse“. 10 Das System gründet also auf dem festen Glauben Hegels und auf einer philosophisch-theologischen Doxa, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch verteidigt werden konnte. Doch schon bald nach Hegels Tod (1831) kommen auch unter Hegelianern Zweifel an der Einheit von Subjekt und Objekt, von Geist und Natur auf. War Hegel noch der Meinung, der Weltgeist als Subjekt der Geschichte durchwirke 5.1 Zufall und Zerfall bei Hegel und den Hegelkritikern 135 <?page no="136"?> 11 F. Th. Vischer, „Der Traum. Eine Studie zu der Schrift: Die Traumphantasie von Dr. Johann Volkelt“, in: ders., Kritische Gänge IV, München, Meyer-Jessen, 1922, S.-482. 12 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970. 13 F. Th. Vischer, „Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik“, in: Kritische Gänge IV, op. cit., S.-175. 14 Vgl. F. Th. Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Erster Teil: Die Metaphysik des Schönen, Leipzig, Mäcken, 1846, S. 511, wo allerdings Hegel vorgeworfen wird, er „werde ungerecht gegen den Humor“. Hier kündigt sich die Herauslösung des Komischen und des Grotesken aus der klassischen Harmonie an. 15 Vgl. F. Th. Vischer, „Kritik meiner Ästhetik“, in: ders., Kritische Gänge IV, op. cit., S. 287. Natur und Weltgeschehen und wohne auch dem Handeln der Einzelsubjekte inne, so weist bereits der Hegel-Schüler Friedrich Theodor Vischer auf die Kluft hin, die sich zwischen Geist und Natur, Subjekt und Objekt aufgetan hat. Von Hegel sagt er relativierend: „(…) Er meint, in seiner Weltvernunft die Natur mit dem Begriff beisammen zu haben, aber er hat ihre scheinbar absolute Spaltung, ihre Diremtion, er hat aus der Idee das ‚Anderssein‘ nicht erklärt; daher, weil das Anderssein unerklärt daneben liegen bleibt, fallen sie doch auseinander und ist die Wesensfülle in seiner Vorstellung von der Weltvernunft nur seine ehrliche Vorstellung. Ist also die Natur nicht wirklich abgeleitet, so ist es auch der mit ihr gegebene Zufall nicht, und hieraus folgt zugleich, daß Hegel vom Zufall in der Naturseite des Geistes, also auch vom Traume, geringschätzig wie von allem Zufälligen, nur flüchtig und beiläufig redet.“ 11 Es lohnt sich, diese Passage aus Vischers Rezension von Johannes Volkelts Buch über den Traum näher zu betrachten, weil sie einige der wichtigsten Fragen des Modernismus als spätmoderner Kritik der Moderne aufwirft. Zu‐ gleich erklärt sie, weshalb Vischer in seinem „Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik“ im Gegensatz zu Hegel (der der symbolischen und klassischen die christlich-romantische Kunstform folgen ließ) 12 „das Moderne als eine selb‐ ständige Hauptform des ästhetischen Ideals“ 13 betrachtet: Der scheinbar treue Hegel-Schüler, der seine große Ästhetik 14 noch auf hegelianischem Boden errichtet hat, bricht aus seinem eigenen Konstrukt aus und kündigt den Moder‐ nismus als Selbstkritik der Moderne an. Diese Selbstkritik, die durchaus auch als persönliche Selbstkritik Vischers zu lesen ist 15 , weist drei wesentliche Aspekte auf: 1. Subjekt und Objekt bilden nicht wirklich eine Einheit, wie Hegel meint. 2. Parallel zu Subjekt und Objekt treten Geist und Natur, Begriff und Natur auseinander, und die begriffslose, unerklärte Natur wird als das Andere des Geistes, als opakes Anderssein, sichtbar. 3. Zugleich mit ihr erscheinen „in der Naturseite des Geistes“, wie Vischer sagt, Phänomene wie Zufall und Traum, die wenige Jahrzehnte später Modernisten bald verherrlichen, bald verdammen werden. Entscheidend ist vorerst nicht ihre 136 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls <?page no="137"?> 16 Vischer war nicht nur Philosoph, sondern auch Dichter und Romancier. Sein Roman Auch Einer ist u.-a. eine literarische Kritik an Hegel. 17 F. Th. Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft II, Tübingen, Schwäbische Verlags‐ gesellschaft (Reprint, s. d.), 1879, S.-418. 18 Ibid., Bd.-1, S.-38. 19 Ibid., Bd. II, S.-461. Bejahung oder ihre Ablehnung dieser Erscheinungen, sondern die Tatsache, daß letztere allmählich ins Zentrum der philosophisch-ästhetischen Problematik rücken. Aus dieser Sicht erscheint der Schriftsteller und Romanautor Vischer 16 als ein Vorläufer modernistischer Autoren wie Sartre, Camus, Svevo, Pirandello oder Proust. Von ihnen unterscheidet er sich wesentlich dadurch, daß er Natur und Zufall weder verdammt noch verherrlicht, sondern mit hegelkritischer Ironie zur Kenntnis nimmt. Der Anspruch auf Weltherrschaft, den Hegels „Geist“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhebt, wird in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts von Vischer in einem grotesk-komischen Kontext relativiert. In seinem Roman Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (1879) entfaltet er seine spätmoderne Hegel-Kritik in satirischer Form, indem er zeigt, wie sehr sich das Objekt der subjektiven Herrschaft entziehen kann, wie die Natur gegen den Geist revoltiert und wie der Zufall das Weltgeschehen beherrscht. Vischers Erzähler und sein Held betrachten die Natur zwar durchaus mit versöhnlichem Blick (im Gegensatz zu Hegel), stellen aber fest, daß sie dem Einzelsubjekt als fremde, unbeherrschbare Macht entgegentritt. Wohl als erster schildert Vischer „die Tücke des Objekts“ 17 , die er - wie der Ausdruck bereits erkennen läßt - mit anthropomorphen Konnotationen versieht. Die Objekte, die im Roman vorwiegend dem Naturbereich angehören, nehmen Tarnfarben an wie Tiere und entgleiten dem verzweifelten Subjekt: „Zum Beispiel rotbraunes Brillenfutteral versteckt sich auf rotbraunem Möbel; doch Haupttücke des Objekts ist, an den Rand kriechen und sich da von der Höhe fallen lassen, aus der Hand gleiten, - du vergissest dich kaum einen Augenblick, und ratsch“ - 18 Zugleich mit der Tücke des Objekts, die die Herrschaft des Subjekts als Geist radikal in Frage stellt, treten Kontingenz und Zufall in den Vordergrund. Parodiert wird die Notwendigkeit der Hegelschen Vorsehung, die Geschichte als metaphysischer Entwurf: „Vorsehung. Man sollte eigentlich sagen: Nachsehung. Es handelt sich doch vom Zufall.“ 19 Solche Ansichten klingen in nachmoderner Zeit keineswegs revolutionär, sondern bestätigen lediglich die weitverbreitete, durch Nietzsche und den Existentialismus antizipierte Erkenntnis, daß der Geschichtsprozeß nicht sinnvoll ist. Im Jahre 1879 klangen sie jedoch - vor 5.1 Zufall und Zerfall bei Hegel und den Hegelkritikern 137 <?page no="138"?> 20 G. R. G. Mure, The Philosophy of Hegel, London-New York-Toronto-Oxford, Univ. Press, 1965, S.-129. 21 Stirners Der Einzige und sein Eigentum war Nietzsche bekannt und hat seine Vorstel‐ lung vom Übermenschen beeinflußt. 22 F. Nietzsche, „Wir Philologen“, in: ders., Werke V, München, Hanser, 1980, S.-327. 23 F. Nietzsche, Werke II, op. cit., S.-873. 24 Zu Nietzsches Präsenz in dekonstruktivistischen Theorien (Derrida, de Man, Hartman) vgl. Vf., Die Dekonstruktion, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (2. Aufl.). 25 F. Nietzsche, Werke V, op. cit., S.-314. allem in hegelianischen Ohren - als Häresie. Denn aus Hegels Sicht erschienen das Mögliche und das Kontingente als in der Notwendigkeit aufgehoben. G. R. G. Mure faßt diese Dialektik prägnant zusammen: „As the actual sublates the possible, so the necessity in it is the sublation of contingency.“ 20 Mit anderen Worten: Kontingenz als Vielzahl widersprüchlicher Möglichkeiten geht stets in der historischen Notwendigkeit auf. An diese Art von Teleologie können Vischer und die anderen Junghegeli‐ aner (Stirner, Ruge, Feuerbach) nicht mehr glauben. Unter ihnen macht sich eine Skepsis bemerkbar, die Friedrich Nietzsche als Kenner junghegelianischer Kritiken 21 radikalisiert. Das Tun der Menschen partizipiert nicht mehr am grand design eines Weltgeistes, sondern erscheint dem radikalsten Denker der anbrechenden Spätmoderne als kontingent: „Die meisten Menschen sind offenbar zufällig auf der Welt: es zeigt sich keine Notwendigkeit höherer Art in ihnen.“ 22 In dieser partikularisierenden Perspektive nehmen auch Vernunft und Wahr‐ heit, Hegels Universalia par excellence, kontingente Züge an. Die abendländi‐ sche Vernunft stellt sich Nietzsche als kontingent dar, weil sie aus der Unver‐ nunft hervorgeht: „Daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, läßt sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen - ich meine unsre menschliche Vernunft -, nicht allzu vernünftig ist.“ 23 Der Kontingenz überantwortet wird auch der Wahrheitsbegriff; denn Nietzsche, dem Philologen und Vorläufer der Dekonstruktion 24 , ist Wahrheit lediglich eine rhetorische Konvention, „ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen (…)“. 25 So werden Vernunft, Begrifflichkeit und Wahrheit, die dem Subjekt als Geist seine Herrschaft über Natur und Objekt sichern sollten, der Partikularität und der Kontingenz überantwortet. Zugleich mit ihnen wirkt Subjektivität selbst kontingent, zufallsbedingt. Wie die Junghegelianer und Kierkegaard deckt Nietzsche den kontingenten Ursprung von Hegels System auf. Der von Hegel in Szene gesetzte Gott als Weltgeist macht nicht die Geschichte, sondern ist ihr (zeitgebundenes) Produkt. Zugleich ist er an Hegels Person gebunden: „Dieser Gott aber wurde sich selbst 138 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls <?page no="139"?> 26 F. Nietzsche, Werke I, op. cit., S.-263. 27 S. Kierkegaard, Das Buch über Adler, Düsseldorf-Köln, Diederichs, 1962, S.-106. 28 Zu Recht bemerkt Pierre Campion in Mallarmé. Poésie et philosophie, Paris, PUF, 1994, S. 119, daß Mallarmé als Nietzscheaner zu verstehen ist: „Ainsi la référence philosophique privilégiée, quand il s’agit de Mallarmé, est-elle sans doute celle de Nietzsche.“ 29 J.-P. Sartre, „L’Engagement de Mallarmé“, in: Obliques (Sondernummer „Sartre“) 18-19, 1979, S.-192. innerhalb der Hegelschen Hirnschalen durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektischen Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so daß für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen.“ 26 Das Schlüsselwort dieses Satzes ist: „Existenz“. Hegels Denken erscheint kontingent, weil an seine Person gebunden. Diesen Gedankengang setzt Søren Kierkegaard fort, wenn er das Hegelsche System mit der Existenz des Philoso‐ phen verknüpft und sich gegen alle hegelianischen Versuche wendet, individu‐ elles Dasein objektiv-historisch zu rechtfertigen. Zum Rechtfertigungsbedürfnis des fiktiven Hegelianers Magister Adler bemerkt er, daß es niemandem gelingen kann, Kontingenz und Zufall aus seinem Dasein zu verbannen: „Sogar das Verständnis und die Erklärung seines Lebens, die Magister Adler in seinem Innersten zu eigen haben kann, wird etwas Zufälliges einschließen, weil kein wirklicher Mensch reine Idealität ist (…).“ 27 Damit wird Subjektivität selbst als kontingentes Faktum erkannt. Nach der Herauslösung des Objekts und der Natur aus dem Herrschaftsbereich des idealistischen Subjekts wird nun dieses als Bestandteil einer von Zufällen durchwirkten Wirklichkeit aufgefaßt. 5.2 Der naturwüchsige Zufall als Bedrohung des Subjekts: Sartre, Moravia, Kafka Mallarmés Versuche, den Zufall in einer nachhegelianischen, nietzscheani‐ schen 28 Situation zu bannen, kommentiert Sartre in einer seiner letzten Publi‐ kationen, die den Titel „L’Engagement de Mallarmé“ trägt. Was immer der Mensch tun mag, er wird den Zufall nicht besiegen; darin kommt seine Tragik zum Ausdruck: „Die Tragödie entsteht dadurch, daß der Mensch sich jedesmal ködern läßt: Diesmal wird es gelingen; die Einheit wird hervortreten, die Totalität, die organische Synthese. Der Zufall wird besiegt sein, das Reich des Menschlichen wird sich durchsetzen. Aber nein: ‚In einer Handlung, in welcher der Zufall im Spiel ist, ist es stets der Zufall, der seine Idee verwirklicht, indem er sich behauptet oder selbst negiert‘.“ 29 In Sartres Mallarmé-Zitat wird der Zufall 5.2 Der naturwüchsige Zufall als Bedrohung des Subjekts: Sartre, Moravia, Kafka 139 <?page no="140"?> 30 J.-P. Sartre, „L’Universel singulier“, in: Kierkegaard vivant, Paris, Gallimard, 1966, S. 39. 31 J.-P. Sartre, La Nausée, Œuvres romanesques, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1981, S.-150. - ähnlich wie das tückische Objekt bei Vischer - auf anthropomorphe Art mit „Ideen“ und Intentionen versehen. Dies ist ein idealistisches Residuum aus metaphysischer Zeit. Denn inzwi‐ schen ist klargeworden, daß der Zufall als rein kontingentes Faktum weder von Ideen noch von Intentionen beseelt ist; er tritt unmotiviert, unerwartet auf und bringt dem Einzelsubjekt Glück oder Unglück. Das Hegelsche System als solches wirkt auf Sartre - ähnlich wie auf Kierkegaard - wie ein Stück kontin‐ genter und partikularer Geschichte. Weit davon entfernt, die Notwendigkeit der historischen Idee plausibel zu machen, zeugt es lediglich von der historischen Bedingtheit seines Urhebers. Um diese Kontingenz geht es seit der junghegelianischen Kritik am Meister des Idealismus, seit Nietzsches und Kierkegaards Kritik am idealistischen System, dem sie vorwerfen, seine kontingenten Momente zu eskamotieren. Sartre bündelt die zentralen Argumente dieser Kritik, wenn er in einem Vortrag über Kierkegaard dieses System als persönlichen Entwurf Hegels auffaßt: „So gesehen steht am Anfang des Hegelschen Systems nicht das Sein, sondern die Person Hegels, so wie sie gemacht wurde, so wie sie sich selbst gemacht hat.“ 30 Diese Erkenntnis hat weitreichende Folgen für die Subjekttheorie: Das Einzelsubjekt kann sich nicht mehr auf übergeordnete Absichten einer Gottheit oder eines Weltgeistes berufen. Es fällt aus der eschatologisch-historischen Teleologie heraus. Es ist auf sich selbst gestellt und muß nun seine eigene Geschichte konstru‐ ieren: gegen die Natur und den naturwüchsigen Zufall. In seinem Erstlings‐ roman La Nausée läßt Sartre den Ich-Erzähler Antoine Roquentin auftreten, der mit allen Mitteln versucht, die Kontingenz „in der Naturseite des Geistes“, wie Vischer sagen würde, zu überwinden. Naturerscheinungen nimmt er nicht mehr wie Vischer als „tückische Objekte“ wahr, sondern als Tatsachen oder Ereignisse, die sich der kulturellen Sinngebung entziehen und dadurch Kultur und Sprache in Frage stellen. Die berühmte Wurzel des Kastanienbaums, die einen seiner Ekelanfälle auslöst, stellt durch ihre sinnfreie Gegebenheit sein gesamtes Weltbild in Frage: „Les mots s’étaient évanouis et, avec eux, la signification des choses, leurs modes d’emploi, les faibles repères que les hommes ont tracés à leur surface. J’étais assis, un peu voûté, la tête basse, seul en face de cette masse noire et noueuse, entièrement brute et qui me faisait peur.“ 31 Die unförmige Masse der Naturerscheinung flößt Roquentin Angst ein, weil er eine „Rückverwandlung 140 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls <?page no="141"?> 32 Vgl. G. Steinwachs, Mythologie des Surrealismus oder Die Rückverwandlung von Kultur in Natur, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1971, vor allem Kap. I und II. 33 J.-P. Sartre, La Nausée, op. cit, S.-189. 34 J.-P. Sartre, La Nausée, op. cit., S.-1685 (Anhang). 35 J.-P. Sartre, La Nausée, op. cit., S.-210. von Kultur in Natur“ 32 wahrzunehmen meint, etwa wenn er von einer Anhöhe aus die Stadt Bouville betrachtet und ausruft: „Mon Dieu! Comme la ville a l’air naturelle, malgré toutes ses géométries (…).“ 33 Zusammen mit der Stadt und der Zivilisation bedroht in La Nausée die Natur das Subjekt, das sich als körperliche Natur und physis in einen Gegenstand zu verwandeln droht: in ein kontingentes Objekt unter vielen. Daß Kontingenz und Zufall die eigentlichen Gegner des jungen Sartre und seines Erzählers sind, läßt eine der nachgelassenen Aufzeichnungen erkennen, in der eine Beziehung zwischen contingence, existence und Subjektivität her‐ gestellt wird. Dabei wird deutlich, daß - wie schon bei Vischer - die Kontingenz das Subjekt bedroht, indem sie sich als sinnlos existierendes factum brutum seiner Einwirkung entzieht: „Le possible est une catégorie de la pensée prépa‐ ratoire du nécessaire parce que dans le nécessaire il y a choix, élimination. Mais dans le contingent: pas d’élimination. Ce qui existe entraîne ce qui existe et l’entraîne sans que ce soit nécessairement, le lien entre eux est aussi contingent. Le rapport entre deux faits existants ne peut donc être ni de principe à conséquence ni de moyen à fin. C’est une transformation sans rigueur d’un fait en un autre fait. Ne possède pas la puissance de s’affirmer, ni d’exister tel quel, glisse hors du sujet.“ 34 Der letzte Satz läßt die Sartresche Unvereinbarkeit von existence und Subjektivität erkennen. Das Ende des Romans ist bekannt: Der Erzähler Roquentin beschließt, die Kontingenz des bloß Existierenden durch das fiktionale Schreiben, durch die ästhetische Konstruktion zu bezwingen: „Une autre espèce de livre. Je ne sais pas très bien laquelle - mais il faudrait qu’on devine, derrière les mots imprimés, derrière les pages, quelque chose qui n’existerait pas, qui serait au-dessus de l’existence.“ 35 War das aber nicht auch Hegels Anliegen, obgleich auf höherer, historischer Ebene? Hat nicht auch der Systemtheoretiker versucht, durch den schaffenden Geist als Weltgeist über die kontingente Existenz der Natur hinauszugelangen? Sartre würde diese Fragen zweifellos bejahen und hinzufügen, daß Hegel dieses persönliche Anliegen als solches hätte deklarieren sollen. In dem Fall hätte er aber die historische Ebene verlassen und Existentialist werden müssen. Allerdings mußte Sartre später - in Les Mots - erkennen, daß auch auf individueller Ebene eine Bändigung der Kontingenz und eine Rechtfertigung des 5.2 Der naturwüchsige Zufall als Bedrohung des Subjekts: Sartre, Moravia, Kafka 141 <?page no="142"?> 36 Vgl. J.-P. Sartre, Les Mots, Paris, Gallimard, 1964, S. 196: „Les hasards n’existaient pas: je n’avais affaire qu’à leurs contre-façons providentielles.“ 37 Vgl. J.-P. Sartre, Critique de la raison dialectique I. Théorie des ensembles pratiques, Paris, Gallimard, 1960. 38 A. Moravia, Gli indifferenti, Milano, Bompiani 1966. (Die Gleichgültigen, Hamburg, Rowohlt, 1963, S.-312.) 39 Ibid., S.-277. (Ibid., S.-297.) Daseins als ästhetischer Konstruktion nicht möglich ist. 36 In Critique de la raison dialectique kehrte er zum historischen Entwurf zurück, indem er versuchte, die individuelle Perspektive des Existentialismus in den Historischen Materialismus zu integrieren. 37 So konsequent war der junge Moravia nicht, als er in seinem Erstlingsroman Gli indifferenti (1929) die Subjektivität seines Helden Michele Ardengo am Zufall als Fehlleistung (im Sinne von Freud) scheitern ließ. Das Unbewußte, dessen Allianz mit dem Surrealismus Sartre stets mit großem Mißtrauen betrachtete (vgl. Abschn. 3), läßt das Vorhaben des Helden, sich an seinem Gegenspieler Leo Merumeci zu rächen und die Ehre seiner Schwester zu retten, mißlingen. Er „vergißt“, seine Pistole zu laden: „‚E scarica‘, comprese alfine atterrito, ‚e le palle le ho in tasca io‘.“ („Er ist nicht geladen, begriff er endlich entsetzt, und die Kugeln habe ich in der Tasche.“) 38 Freilich mag es sich aus freudianischer Sicht nicht um einen reinen Zufall handeln, etwa wenn man davon ausgeht, daß sich Michele unbewußt mit seinem Gegner identifiziert. Auch aus soziologischer Sicht ist die Fehlleistung erklärbar: im Zusammenhang mit Micheles Indifferenz, die aus der sich durchsetzenden Austauschbarkeit aller Wertsetzungen in der spätkapitalistischen Gesellschaft hervorgeht: „‚Ecco‘, avrebbe alfine concluso: ‚ho ucciso Leo senza odio, a mente fredda … senza sincerità‘ … Avrei potuto con la stessa indifferenza dirgli invece: ‚Mi congratulo con te, mia sorella è una bella figliuola‘… . ‚Questo è il mio vero delitto … ho peccato d’indifferenza‘…“. („‚Sehen Sie‘, würde er schließlich zusammenfassen, ‚ich habe Leo ohne Haß, kalten Blutes umgebracht, ohne Aufrichtigkeit … Ich hätte statt dessen mit derselben Gleichgültigkeit zu ihm sagen können: Ich gratuliere dir, meine Schwester ist ein hübsches Mädchen … Das ist mein wahres Verbrechen … Ich habe mich der Gleichgültigkeit schuldig gemacht …‘.“) 39 In einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der Wertsetzungen austauschbar werden wie in dieser Passage, ist der Zufall König, weil alles möglich, kontingent erscheint. Man nimmt sich etwas vor, weiß aber, daß man ebensogut das Gegenteil davon tun könnte. Insofern trifft Erich Köhler ins Schwarze, wenn er auf soziologischer Ebene Indifferenz und Zufall miteinander 142 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls <?page no="143"?> 40 E. Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München, Fink, 1973, S.-109. 41 H. Lübbe, „Das Spiel mit dem Zufall“, in: G. von Graevenitz, O. Marquard (Hrsg.), Kontingenz, München, Fink, 1998, S.-35. 42 Th. Mann, „Freud und die Zukunft. Rede gehalten in Wien am 8. Mai 1936 zur Feier von Sigmund Freuds 80. Geburtstag“, in: S. Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt, Fischer, 1953, S.-138. 43 Zu Recht weist H. Krauss auf den authentischen Charakter von Roquentins Rechtfer‐ tigungsversuch hin und distanziert sich von Interpretationen, die die Hinwendung des jungen Autors zur Kunst als einen Akt der „mauvaise foi“ mißverstehen: H. Krauss, Die Praxis der „Littérature engagée“ im Werke Jean-Paul Sartres (1938-1948), Heidelberg, Winter, 1970, S.-44. verknüpft und die Argumentation der Junghegelianer fortsetzt: „Der Zufall ist absolut wertindifferent, keine höhere Einsicht waltet über ihm, auch keine ‚List der Vernunft‘.“ 40 Die Vernunft selbst erscheint als überlistete, geblendete Macht, weil das planende, kalkulierende Subjekt in Moravias Roman in seinem Entwurf (projet, Sartre) durch die eigene Fehlleistung in Frage gestellt wird: Zufällig vergißt Michele, die Pistole zu laden. Oder ist es doch kein Zufall, sondern ein Deter‐ minismus des Unbewußten? Oder ist das Subjekt gar mit dem Unbewußten identisch, wie Lacan im Anschluß an Freud meint? - Im Hinblick auf Micheles geplanten Handlungsablauf handelt es sich zweifellos um ein kontingentes Ereignis. „In der praktischen Philosophie“, bemerkt Hermann Lübbe, „nennen wir Ereignisse oder Vorgänge ‚kontingent‘, sofern sie mit Handlungen hand‐ lungssinnunabhängig interferieren.“ 41 Dies trifft in jeder Hinsicht auf Micheles Fehlleistung zu. Sie erscheint als eine besondere Form des Zufalls, die mit dem wertindiffe‐ renten Unbewußten liiert ist. Von diesem sagt Thomas Mann: „Wertungen kennt es nicht, kein Gut und Böse, keine Moral.“ 42 Darin ist es dem wertfreien Zufall verwandt. Und diese Verwandtschaft von Unbewußtem und Zufall, die zur Grundlage einer surrealistischen Ästhetik wird, tritt dort in den Vordergrund, wo Indifferenz als Austauschbarkeit der Werte in alle Lebensbereiche eindringt. Von diesem soziohistorischen Prozeß zeugt Moravias Jugendroman. In ihm erscheint Indifferenz noch als „Sünde“: „ho peccato d’indifferenza …“ Analog dazu wird die kontingent-komische Fehlleistung als Versagen des rational agierenden Subjekts gedeutet. In diesem Punkt trifft sich Michele mit Sartres Erzähler Roquentin: Beide sehen sich als Kämpfer gegen sinnfreie Existenz und Kontingenz; gegen Indifferenz und Subjektzerfall. Während es aber Roquentin gelingt, sich durch einen ästhetischen Entwurf zu rechtfertigen 43 , wird Michele als handelndes Subjekt von Indifferenz und Kontingenz überwältigt. 5.2 Der naturwüchsige Zufall als Bedrohung des Subjekts: Sartre, Moravia, Kafka 143 <?page no="144"?> 44 F. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt, Fischer, 1964, S.-7. 45 Zur aufklärerischen Haltung Kafkas vgl. Th. W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1955, 1976, S. 337: „Kafka reagiert im Geiste der Aufklärung auf deren Rückschlag in Mythologie.“ 46 F. Kafka, Der Prozeß, op. cit., S.-36. 47 F. Kafka, „Der Landarzt“, in: ders., Das Urteil, Frankfurt, Fischer, 1952, S.-79. Diesen Mächten „in der Naturseite des Geistes“ fallen auch Kafkas Helden zum Opfer, die vergeblich gegen Naturkräfte, infantil-tierische Mitmenschen und Zufälle aller Art ankämpfen. Am Anfang des Prozeß-Romans steht mögli‐ cherweise der Zufall: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ 44 Vergeblich lehnt sich Kafkas Held als unbeirrbarer Rationalist und Aufklärer 45 gegen Kontingenz und Willkür auf. Seine öffentlich verkündete Vermutung, der gegen ihn ergangene Haftbefehl sei ein zufallsbedingter Irrtum, wird nicht zur Kenntnis genommen: „Ich wurde früh im Bett überfallen, vielleicht hatte man - es ist nach dem, was der Untersuchungsrichter sagte, nicht ausgeschlossen - den Befehl, irgendeinen Zimmermaler, der ebenso unschuldig ist wie ich, zu verhaften, aber man wählte mich.“ 46 Sollte diese Deutung zutreffen, dann können nur Zufall und Willkür im Spiel sein. Es ist aber keineswegs sicher, daß K.’s Deutung der Wirklichkeit entspricht; möglicherweise kennt er nur den Gesamtzusammenhang nicht, auf den sich die Hegelianer auf ihrer Suche nach Sinn und Sittlichkeit immer wieder beriefen. So evoziert der modernistische Roman, der aus dem Zerfall der hegelianischen Totalität hervorgeht, weiterhin das Ganze als das Wahre: als untergegangenen Mythos des Idealismus. Bei Kafka sind Kontingenz und Naturgewalt unzertrennlich miteinander verflochten. Wie bei Sartre und Moravia sind sie stets negativ konnotiert. In der Erzählung „Der Landarzt“ beschert ein phantastischer Zufall einem Arzt, dessen Pferd eingegangen ist, der aber über die Nachtglocke zu einem Kranken im zehn Meilen entfernten Nachbardorf gerufen wird, zwei starke Pferde und einen vom Geschlechtstrieb besessenen Pferdeknecht, der es nur auf Rosa, das Dienstmädchen des Arztes, abgesehen hat. Diesem tierischen Menschen, der die Pferde beherrscht, gelingt es, bei Rosa zu bleiben und den Arzt mit den Pferden auf einen für ihn verhängnisvollen Patientenbesuch auszuschicken, von dem er nicht mehr zurückkehrt: „Nackt, dem Froste dieses unglückseligen Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich alter Mann mich umher.(…) Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen.“ 47 Wie in Kafkas Romanen sind auch hier alle Aspekte der äußeren und der inneren Natur (als Sexualität) mit negativen Vorzeichen versehen: Der Winter scheint sich mit den kräftigen Pferden und der 144 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls <?page no="145"?> 48 A. Camus, Essais, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1965, S.-87. 49 Zum Verhältnis von Camus und Nietzsche vgl. B. Rosenthal, Die Idee des Absurden: Friedrich Nietzsche und Albert Camus, Bonn, Bouvier, 1977. 50 A. Camus, L’Etranger, in: ders., Théâtre, récits, nouvelles, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1962, S.-1193. unbändigen Sexualität des Pferdeknechts gegen den Landarzt zu verschwören. Er fällt dem Fehlläuten seiner Nachtglocke zum Opfer: einem Zufall. 5.3 Der Zufall als Glücksfall: Proust, Hesse, Breton Die hier kommentierten Werke Kafkas, Moravias und Sartres scheinen Jauß’ These über „die Austreibung der Natur aus der Ästhetik der Moderne“ zu bestätigen. In ihnen wird die Natur als subjektnegierende Gewalt dargestellt: als bedrohliche Welt jenseits von Kultur und Vernunft, als „nature sans hommes“ 48 , wie Camus es ausdrückt. Aber schon beim Nietzscheaner 49 Camus ist die Natur alles andere als eine feindliche Macht. Sie ist die Welt der „guten Instinkte“, die der Autor von L’Etranger und La Peste als Alternative zur christlichen und hegelianisch-mar‐ xistischen Teleologie auffaßt. Deshalb erblickt er im Zufall, den er in L’Etranger eng mit den Naturelementen „Feuer“ und „Wasser“ verknüpft, ein befreiendes Ereignis, welches das Sinn- und Notwendigkeitspostulat der Ideologen ins Wanken bringt. Der Erklärung des Ich-Erzählers Meursault, die Sonne und der Zufall seien dafür verantwortlich, daß er auf einen Araber schoß, kann das Gericht als Exponent einer christlich-humanistischen Ideologie (Teleologie) keinen Glauben schenken: „Le procureur a retorqué que le hasard avait déjà beaucoup de méfaits sur la conscience dans cette histoire.“ 50 Vom Gericht wird Meursaults Geschichte ideologisch-teleologisch umgedeutet, und diese Umdeutung läuft auf eine Tilgung der Kontingenz hinaus: Weder die Sonne noch der Zufall ist verantwortlich, sondern ein vernunftbegabtes, planendes und strafbares Subjekt. Der Gegensatz zwischen dem „Existentialisten“ Camus und dem „Existen‐ tialisten“ Sartre könnte nicht krasser sein: Während der junge Sartre ver‐ sucht, die naturwüchsige Kontingenz durch einen ästhetischen Entwurf zu überwinden, und der ältere Sartre sich bemüht, seinen Existentialismus in die hegelianisch-marxistische Geschichtsauffassung zu integrieren, möchte Camus den Menschen „in der Naturseite des Geistes“ von allen ideologischen Teleolo‐ gien befreien. Ihre unvereinbaren Auffassungen von Geschichte, Natur und Kontingenz haben die beiden Autoren entzweit und zu der von L’Homme révolté 5.3 Der Zufall als Glücksfall: Proust, Hesse, Breton 145 <?page no="146"?> 51 Vgl. Camus, Essais, op. cit., S. 762, wo sich Camus gegen die Kritiken in Les Temps modernes verteidigt. 52 M. Proust, A la Recherche du temps perdu I, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1954, S.-44. 53 Ibid., Bd. III, S.-879. (1951) ausgelösten Kontroverse geführt. 51 Sie lassen nicht nur die Heterogenität des Existentialismus als literarisch-philosophischer Bewegung zutage treten, sondern die des gesamten Modernismus, der eine „naturfeindliche“ und eine „naturzugewandte“ Seite zu haben scheint. Im Gegensatz zum jungen Sartre, der in La Nausée versucht, auf Natur‐ wüchsigkeit, Kontingenz und existence eine ästhetische Antwort zu finden, scheint rund zwei Jahrzehnte vor ihm Marcel Proust an Friedrich Theodor Vischers Aufwertung des kontingenten Faktums anzuknüpfen. Seine mémoire involontaire, die er dem Intellekt des mondänen Causeurs überordnet, lebt geradezu vom Zufall: von der jähen Koinzidenz eines äußeren Ereignisses mit einer Empfindung. Schon in Du côté de chez Swann stellt der Erzähler antizipierend fest: „Il en est ainsi de notre passé. C’est peine perdue que nous cherchions à l’évoquer, tous les efforts de notre intelligence sont inutiles. Il est caché hors de son domaine et de sa portée, en quelque objet matériel (en la sensation que nous donnerait cet objet matériel) que nous ne soupçonnons pas. Cet objet, il dépend du hasard que nous le rencontrions avant de mourir, ou que nous ne le rencontrions pas.“ 52 Trotz der Verwandtschaft zwischen La Nausée und Prousts Recherche, die auf genetischer Ebene, auf der Sartres Roman als parodierender Pastiche auf die Recherche reagiert, zu erklären ist, wird hier der Bruch sichtbar, der den Modernismus durchzieht: Während Sartres Roman als rationalistischer projet mit allen Mitteln die Kontingenz zu bannen versucht, lebt Prousts Roman von ihr. In Le Temps retrouvé bestätigt der Erzähler seinen früheren Befund: „Je n’avais pas été chercher les deux pavés inégaux de la cour où j’avais buté. Mais justement la façon fortuite, inévitable, dont la sensation avait été rencontrée, contrôlait la vérité du passé qu’elle ressuscitait, des images qu’elle déclenchait, puisque nous sentons son effort pour remonter vers la lumière, que nous sentons la joie du réel retrouvé.“ 53 Drei Wörtern kommt hier eine besondere Bedeutung zu: fortuite, inévitable und vérité. Sie bilden insofern eine Einheit, als die Unvermeidlichkeit des auf das Unbewußte einwirkenden Zufalls dem Erzähler zur Wahrheitsgarantie wird. Freilich handelt es sich um eine andere Art von Wahrheit als die von Sartre, Moravia und Kafka gesuchte. Es ist die Wahrheit des Unbewußten, des instinct 146 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls <?page no="147"?> 54 H. Hesse, Der Steppenwolf, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 216. (Zur Bedeutung der wiedergefundenen Kindheit für die Spätmoderne vgl. F. Cabo Aseguinolaza, Infancia y modernidad literaria, Madrid, Ed. Biblioteca Nueva, 2001, S.-90-99.) 55 Ibid., S.-209. 56 Ibid., S.-196. 57 Ibid., S.-200. 58 Ibid., S.-201. 59 J.-P. Sartre, Qu’est-ce que la littérature? , Paris, Gallimard, 1948, S.-220. artistique (Proust), nicht die des Intellekts und des Bewußtseins. Es ist die andere Wahrheit des Modernismus, die - parallel zu Marcel Proust - Hermann Hesse und die französischen Surrealisten entdecken. Hesses Roman Der Steppenwolf ist darin mit Prousts Recherche verwandt, daß er das Unbewußte dem von Konventionen geprägten Bewußtsein gegenüber aufwertet und mit Hilfe dieses Unbewußten die eigene Vergangenheit wieder‐ zubeleben trachtet. Im Magischen Theater, das als Metapher für das Unbewußte und Onirische zu deuten ist, werden - ähnlich wie in der mémoire involontaire - Szenen aus einer fernen Vergangenheit zu neuem Leben erweckt: „Ich erlebte eine Stunde aus meinen letzten Kinderjahren wieder (…).“ 54 Zugleich zerfällt aber das Ich in unzählige, auch widersprüchliche Wünsche, Sehnsüchte und Ansichten: „Er hielt mir einen Spiegel vor, wieder sah ich darin die Einheit meiner Person in viele Ichs zerfallen (…).“ 55 Das Magische Theater wirkt ähnlich wie eine Psychoanalyse, die dem Patienten seine widersprüchlichen (aber verdrängten) Regungen vor Augen führt. In der unbewußten Welt des Magischen Theaters herrscht ein surrealistischer Zufall, der sich mit Gewaltanwendung paart. Eine der Traumszenen trägt die Inschrift: „Auf zum fröhlichen Jagen! Hochjagd auf Automobile“. 56 In dieser Szene schießen der Erzähler und sein Jugendfreund Gustav zwar nicht „wahllos in die Menge“ (Breton), sondern auf herannahende Fahrzeuge: „Es ist aber in der Tat gleichgültig, wie die Leute heißen, die wir da umbringen. Sie sind arme Teufel wie wir, auf die Namen kommt es nicht an.“ 57 Etwas später fragt eines der Opfer: „Schießen Sie denn auf jedermann, ohne Wahl? “ - „Gewiß.“ 58 Im Zusammenhang mit Prousts und Hesses Einstellung zum Unbewußten und zum Zufall hätte Sartre wiederholen können, was er über die surrealisti‐ schen Experimente und die écriture automatique schrieb: „Il s’agit d’anéantir, d’abord, les distinctions reçues entre vie consciente et inconsciente, entre rêve et veille. Cela signifie qu’on dissout la subjectivité.“ 59 So hätten es Proust und Hesse nicht gesehen; so sahen es auch Breton und die Surrealisten nicht. In Point du jour stellt Breton im Anschluß an eine Gegenüberstellung von Surrealismus und Spiritismus fest: „Le surréalisme ne se propose rien moins 5.3 Der Zufall als Glücksfall: Proust, Hesse, Breton 147 <?page no="148"?> 60 A. Breton, Point du jour, Paris, Gallimard, 1970, S.-181. 61 A. Breton, Manifestes du surréalisme, Paris, Gallimard, 1969, S.-54. 62 A. Breton, L’Amour fou, Paris, Gallimard, 1937, S.-36. que d’unifier cette personnalité.“ 60 Diese Vereinheitlichung im Bereich des Unbewußten wird bei Breton - ähnlich wie bei Proust und Hesse - als ein Regreß in die Welt der Kindheit aufgefaßt. Durch das Eintauchen ins Unbewußte eignet sich der Surrealist sein Kindesalter wieder an: „L’esprit qui plonge dans le surréalisme revit avec exaltation la meilleure part de son enfance.“ 61 Allerdings wird diese Suche nach dem wahren, von sozialen Konventionen verschütteten Ich vom Zufall als hasard objectif und dem Unbewußten be‐ herrscht. Diese Doppelherrschaft des Unbewußten und des Kontingenten wird von Breton als Befreiung gefeiert, weil sie den Einzelnen aus den Automatismen der gesellschaftlichen Routine herausführt: „La trouvaille d’objet remplit ici rigoureusement le même office que le rêve, en ce sens qu’elle libère l’individu (…).“ 62 Man könnte sich an dieser Stelle allerdings fragen, ob Breton nicht einen subjektnegierenden Automatismus durch einen anderen ersetzt: nämlich den sozialen durch den psychischen. Zugleich tritt die Ambivalenz des avantgardistisch-modernistischen Experi‐ ments zutage: Während den Surrealisten, Hesse und Proust das Unbewußte als das authentische Ich erscheint, möchten Kafka, Moravia und Sartre das kultu‐ relle Subjekt stärken (wenn auch nicht das von Konventionen vereinnahmte Subjekt). Während die Vertreter der naturfeindlichen Tendenz des Modernismus dazu neigen, alles Unbewußte und Kontingente aus dem Bereich der Subjekti‐ vität zu verstoßen, vertrauen sich die Autoren „in der Naturseite des Geistes“ dem Traum und dem Zufall an, um den Automatismen einer diskreditierten Kultur zu entgehen. Es wäre jedoch verfehlt, einen absoluten Gegensatz zwischen diesen beiden Seiten des Modernismus zu konstruieren. Denn alle hier kommentierten Au‐ toren verbindet ein in der modernistischen Problematik zentrales Anliegen: individuelle Subjektivität durch Gesellschaftskritik und Reflexion zu stärken. Dadurch unterscheiden sie sich wesentlich von Autoren einer Postmoderne, die im individuellen Subjekt entweder eine durch Struktur und Ideologie verdinglichte oder eine zerfallene Schein-Instanz erblicken und deshalb auf den Subjektbegriff verzichten. 148 5 Subjektivität und Kontingenz in der spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls <?page no="149"?> 1 Vgl. U. Japp: „Kontroverse Daten der Modernität“, in: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 8, Tü‐ bingen, Niemeyer, 1986, S.-133-134. 2 Obwohl avantgardistische Elemente wie die Kritik der Syntax und die Entdeckung des Unbewußten bei modernen Autoren wie Musil, Broch und Svevo eine wichtige Rolle spielen, sind diese weit davon entfernt, alle Formen surrealistisch oder futuristisch aufzulösen. 3 Auch der deutsche Begriff der literarischen „Moderne“ ist mit dem anglo-amerikani‐ schen des „modernism“ oder dem spanischen des „modernismo“ nicht deckungsgleich; alle diese Begriffe überschneiden sich jedoch in wesentlichen Punkten. 6 Robert Musil und die Spätmoderne Diese Studie geht nicht vom Gegensatz zwischen Moderne und Postmoderne aus, in dessen Rahmen die Postmoderne bald als eine Radikalisierung der Moderne, bald als ein Bruch mit ihr gedeutet wird 1 , sondern ist ein Versuch, die Eigenart spätmoderner Literatur anhand von Musils Werk modellhaft dar‐ zustellen. Dabei spielt nicht nur Der Mann ohne Eigenschaften als Romantorso und Paradebeispiel spätmoderner oder modernistischer Kunst eine wichtige Rolle, sondern auch Musils Drama Die Schwärmer, das trotz aller Gattungs‐ unterschiede aus einer ähnlichen Problematik hervorgegangen ist wie der unvollendete Roman. Eine Definition der Spätmoderne (als Modernismus) scheint unter zwei Bedingungen möglich zu sein: wenn sie einerseits über den literarischen Bereich hinausgeht und gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen miterfaßt; wenn sie sich andererseits an einem spezifischen Textcorpus orien‐ tiert und anhand dieses Modells konkretisiert wird. Freilich birgt ein solches Verfahren, das die Frage, was modernistisch sei, auf ein Einzelwerk ausrichtet, die Gefahr der Einseitigkeit, der Kontingenz: Ist Musils Spätmoderne die Spät‐ moderne tout court? Sicherlich würde man die Komplexität unzulässig reduzieren, wollte man diese Frage ohne Bedenken bejahen. Immerhin werden von manchen Lite‐ raturkritikern und Literaturwissenschaftlern auch die avantgardistischen Be‐ wegungen zur Spätmoderne (im englischen Sprachraum zum Modernism) gerechnet - und Musil ist sicherlich kein avantgardistischer Autor im Sinne von Breton oder Marinetti. 2 Die bisher vorgeschlagenen Definitionen der Spätmo‐ derne oder des Modernismus sind jedoch so diffus und disparat 3 , daß es sinnvoll erscheinen mag, das Risiko der Kontingenz in der Hoffnung einzugehen, daß <?page no="150"?> die Definition des Modernismus anhand eines spezifischen Textcorpus besser in den Griff zu bekommen ist. Damit die in allen theoretischen Betrachtungen unvermeidliche Heuristik nicht in Willkür ausartet, soll im letzten Teil dieser Darstellung das hier vorge‐ schlagene Konzept im Zusammenhang mit Hermann Brochs Schlafwandler-Tri‐ logie und Italo Svevos La coscienza di Zeno überprüft und ergänzt werden. Diese Erweiterung des Objektbereichs widerspricht nicht dem Spezifischen, Modellhaften dieser Studie, da Broch und Svevo nicht nur Zeitgenossen Musils sind, sondern - wie er - auf die gesellschaftliche und sprachliche Situation der Donaumonarchie der Jahrhundertwende reagieren. So greifen hier Besonderes und Allgemeines ineinander, und der Autor kann hoffen, daß die durchgeführten Analysen zu einer konkreteren Begriffsbestimmung der Spätmoderne und einem besseren Verständnis von Musils Werk beitragen. 6.1 Die Spätmoderne: Versuch einer Definition Die Spätmoderne ist zunächst als eine Zeit der Krise aufzufassen, die überlieferte Metaphysiken und Ideologien als unglaubwürdig erscheinen läßt und eine Kritik seitens der Intellektuellen, der Philosophen, Schriftsteller und Journalisten, her‐ vorruft. Eine solche Kritik setzte sowohl in Frankreich als auch in Deutschland um 1848 ein, als radikale Denker wie Pierre Joseph Proudhon, die Junghegelianer Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Max Stirner u. a. die idealistischen Metaphysiken mit anarchistischen und materialistischen Mitteln in Frage stellten und Friedrich Nietzsches radikaler Metaphysik- und Religionskritik den Weg ebneten. Für die deutsche Spätmoderne ist die Mitte des 19. Jahrhunderts auch deshalb wichtig, weil zu diesem Zeitpunkt das Hegelsche System von den junghegelianischen Polemiken zerrüttet wird und seine hegemoniale Stellung in den Institutionen allmählich verliert. Während Stirner die absolutistische Monarchie als eine Form partikularer Willkürherrschaft erscheint, entlarvt Arnold Ruge die Herrschaftsmechanismen des preußischen Polizeistaates, der bei Hegel noch auf idealistische Art mit dem Prinzip der Sittlichkeit identifiziert wurde: „Hegel - meint Ruge - konnte sich in seinem Verhältnis zum Staat noch ‚abstrakt‘, unter Absehen vom wirklichen Staat, einseitig, auf seiten der Theorie, d. h. seiner Staatsphilosophie behaupten, weil der wirkliche preußische Polizeistaat die Prinzipien seiner Philosophie anerkannt und nicht, wie im Fall 150 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="151"?> 4 K. Löwith, „Philosophische Theorie und geschichtliche Praxis in der Philosophie der Linkshegelianer“, in: K. Löwith, Die Hegelsche Linke, Stuttgart-Bad Canstatt, Frommann, 1962, S.-29. 5 F. Th. Vischer, „Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik“, in: ders., Kritische Gänge IV, München, Meyer und Jessen, 1922, S.-175. 6 Vgl. W. Benjamin, Charles Baudelaire, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 99: „Wenn der Sprachgeist von Baudelaire irgendwo dingfest zu machen ist, so in dieser brüsken Koinzidenz.“ 7 K. Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1973, S. 52. von Kant, angefeindet hat.“ 4 Schließlich kritisiert der Linkshegelianer Marx Hegels Synthese von Staat und bürgerlicher Gesellschaft als ideologisches Manöver, das die Partikularität der Klassenherrschaft verdecken soll. Die Mitte des 19. Jahrhunderts ist somit eine Zeit der Kritik, in der herr‐ schende Denkformen als Instrumente der Herrschaft zerlegt und diskreditiert werden. Zugleich werden unter den Junghegelianern Zweifel an Hegels Äs‐ thetik, an seiner Einteilung der Kunstepochen laut, und es ist wohl kein Zufall, daß Friedrich Theodor Vischer, der sich selbst für einen Hegelianer hielt, Hegels letzter, nämlich romantisch-christlicher Kunstepoche eine „moderne“ folgen ließ: „Indem ich nun das Moderne als eine selbständige Hauptform des ästheti‐ schen Ideals aufstelle, halte ich dennoch die dreigliedrige Einteilung dadurch fest, daß ich die orientalische Phantasie nicht als eine eigene Form aufstelle, sondern als eine nur vorbereitende unter das antike Ideal subsumiere.“ 5 Nicht der Versuch, das triadische Schema des Hegelschen Diskurses beizubehalten, ist hier entscheidend, sondern die Tatsache, daß Vischer sich gezwungen sieht, jenseits der christlich-romantischen (Hegel) eine moderne Ära anzuvisieren, die nicht mehr von Hegels klassizistischem Prinzip der harmonischen Totalität beherrscht wird, sondern Einseitigkeiten, Dissonanzen und Widersprüche auf‐ weist, auf die auch Walter Benjamin in seinen Arbeiten über Baudelaire und die Moderne eingeht. 6 Auf sie kommt auch Karl Rosenkranz in seiner Ästhetik des Häßlichen zu sprechen, wenn er eine Zeit vorausahnt, die sich am Disparaten und Häßlichen weidet: „Ein solches Zeitalter liebt die gemischten Empfindungen, die einen Widerspruch zum Inhalt haben. Um die abgestumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Unerhörteste, Disparateste und Widrigste zusammengebracht. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich an dem Häßlichen, weil es für sie gleichsam das Ideal ihrer negativen Zustände wird.“ 7 Es fällt nicht schwer, in der hier skizzierten Ära die Spätmoderne zu erkennen, die immer wieder mit Hilfe 6.1 Die Spätmoderne: Versuch einer Definition 151 <?page no="152"?> 8 Vgl. K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin-Göttingen-Heidelberg, Springer, 1960 (5. Aufl.), S.-232-247. 9 D. W. Fokkema, Literary History, Modernism and Postmodernism, Amsterdam-Phil‐ adelphia, Benjamins, 1984, S.-19. 10 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, Hrsg. S. Landshut, Stuttgart, Kröner, 1971, S.-301. 11 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Werke IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S.-568. 12 K. Marx, Die Frühschriften, op. cit., S.-378. von Begriffen wie Widerspruch, Antinomie ( Jaspers), 8 Zweifel und Fragment beschrieben wird. So erwähnt beispielsweise Douwe Fokkema in einer literarhistorischen Studie neben dem fragmentarischen Bewußtsein den „epistemologischen Zweifel“ („epistemological doubt“), die „metalinguale Skepsis“ („metalingual scepsis“) des modernen Autors sowie den Respekt für die Idiosynkrasien des Lesers“ („respect for the idiosyncrasies of the reader“). 9 Allerdings fällt auf, daß Fokkemas - reichlich fragmentarische - Charakte‐ ristik eher formalen Charakter hat, während die Darstellung des Hegelianers Anspielungen auf die „negativen Zustände“, also auf die gesellschaftliche Situa‐ tion, enthält. Deutlicher als beim konservativen Hegelianer Rosenkranz tritt diese beim linken Junghegelianer und Hegel-Kritiker Marx in Erscheinung. Schon in seinen Jugendschriften geht er auf den Grundwiderspruch der Mo‐ derne ein, der für alle anderen Antinomien und Verzerrungen verantwortlich ist: auf den Widerspruch zwischen Marktgesetz und Kultur, zwischen Tauschwert und Gebrauchswert. Vom Geld heißt es in den Frühschriften u.a.: „Es ist die Verbrüderung der Unmöglichkeiten, es zwingt das sich Widersprechende zum Kuß.“ 10 Wenn dies der Fall ist, dann hat auch Nietzsche recht, sooft er als Hegel-Kri‐ tiker und Erbe der Junghegelianer den absoluten, undialektischen Gegensatz der idealistischen Metaphysik in Frage stellt und in Jenseits von Gut und Böse feststellt: „Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werte. (…) Es wäre sogar noch möglich, daß, was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise ver‐ wandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.“ 11 Während der Junghegelianer Marx von der „Illusion der Ideologen“ spricht 12 und die Ideologie als Produkt der Arbeitsteilung und Apologie der Herrschafts‐ verhältnisse kritisiert, attackiert Nietzsche ihre Dichotomien, ihre dualistischen Schemata, mit deren Hilfe die Trennung von „Gut“ und „Böse“, „Wahrheit“ und „Lüge“, „Held“ und „Widersacher“ gerechtfertigt wird. Doch in einer 152 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="153"?> 13 Zu Nietzsches Einfluß auf Musil gibt es zahlreiche Publikationen, von denen hier nur zwei neuere erwähnt werden: Ch. Dresler-Brumme, Nietzsches Philosophie in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis, Frankfurt, Athenäum, 1987 und J. Strutz, „Von der biegsamen Dialektik. Notiz zur Bedeutung Kants, Hegels und Nietzsches für das Werk Musils“, in: Josef und Johann Strutz (Hrsg.), Robert Musil - Literatur, Philosophie und Psychologie, München, Fink (Musil-Studien 12), 1984. 14 J. Strutz, Politik und Literatur in Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, Königstein/ Ts., Hain, 1981, S.-72. gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation, in der das Geld das sich Widersprechende zum Kuß zwingt, wird dieser metaphysische Dualismus unglaubwürdig, verfällt der Ideologiekritik. In dieser Situation, die von der Zerstörung der Kulturwerte durch den Tausch‐ wert und von der Ideologiekritik, die auf diese Krise des Wertsystems reagiert, geprägt ist, entstehen Bewußtseinsformen, die man als spätmodern oder moder‐ nistisch definieren könnte: das Bewußtsein von der Widersprüchlichkeit oder Ambivalenz aller Werte und die komplementäre Kritik am Wahrheitsbegriff; der Zweifel am (Hegelschen) System und an der Möglichkeit, die Entwicklung der Menschheit in einem großangelegten Makrosyntagma darzustellen; die Kritik an der narrativen Syntax (der „anekdotischen Erzählung“) in der modernen Prosa; das Bewußtsein von einer Krise des individuellen Subjekts und der Subjektivität allgemein; die Betonung des Zufalls und der Kontingenz der Notwendigkeit gegenüber (bekanntlich versuchte Hegel, den Zufall in die Notwendigkeit zu integrieren); das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt sowie das „Unbehagen in der Kultur“ und die Darstellung der Natur als einer Befreiung oder Gefährdung des Subjekts. Es wird sich zeigen, daß alle diese Elemente der Spätmoderne in Musils Der Mann ohne Eigenschaften und in seinem Drama Die Schwärmer anzutreffen sind. Beide Texte können an die junghegelianische und nietzscheanische Proble‐ matik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angeschlossen werden. 13 Obwohl Musil weder als Marxist noch pauschal als Nietzscheaner bezeichnet werden kann, reagiert er - ähnlich wie die Junghegelianer und Nietzsche - auf die Zerstörung der Kultur durch die Marktgesetze, auf den Zerfall der herrschenden Ideologien und ihrer „Erzählungen“ (der „métarécits“, würde Lyotard im Zu‐ sammenhang mit der „Postmoderne“ sagen), die Krise der Subjektivität und den Ausbruch der Naturkräfte aus der sie domestizierenden Kultur. Musils Kapitalismus-Begriff widerspricht in vieler Hinsicht dem der Mar‐ xisten; insofern hat Josef Strutz recht, wenn er bemerkt: „Musils Begriff von ‚Kapitalismus‘ ist nüchtern und genau; im Gegensatz zu Max Adler fehlt ihm die Dogmatik, die in Analyse und Utopie des Austromarxismus steckt.“ 14 Mit 6.1 Die Spätmoderne: Versuch einer Definition 153 <?page no="154"?> 15 D. H. Lawrence, The Collected Letters, Hrsg. H. T. Moore, London, Penguin, 1962, S.-316-317. Recht weist er auch auf die Tatsache hin, daß sich Musil - als Individualist - von der Annahme leiten ließ, daß Ichsucht und Geldinteressen schließlich die Klassensolidarität und den Klassenantagonismus unterlaufen würden. Dennoch zeigt sich immer wieder, daß Musil an die Kritik Marxens und der Junghegelianer anknüpft, etwa wenn er über das Verhältnis von Markt und Bildung schreibt: „Auch die Bildung ist nur bis zu einem gewissen Grad organisatorisch geschützt, im übrigen aber von der kapitalistischen Gesellschaft sich selbst auf dem freien Markt überlassen worden.“ (GW 8, 1122) Diese Kritik an der Marktgesellschaft ist für die gesamte Spätmoderne charakteristisch und findet sich bei so verschiedenen Autoren wie Joris-Karl Huysmans (in A Rebours), André Breton, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Alberto Moravia (La disubbidienza), Hermann Hesse und D. H. Lawrence. Dieser schreibt beispielsweise in einem Brief an Bertrand Russell: „Wir müssen einen anderen Maßstab als den Geldmaßstab finden, um den gesamten Alltag zu messen.“ („We must provide another standard than the pecuniary standard, to measure all daily life by.“) 15 Komplementär zu dieser Kritik am Marktgesetz verhält sich bei den Autoren der Spätmoderne die Ideologiekritik, die bei Musil in eine Kritik der „Erzählung“, der narrativen Syntax, ausmündet: „Äußerlich ist die gegenwärtige Krise des Romans so in Erscheinung getreten. - Wir wollen uns nichts mehr erzählen lassen, betrachten das nur noch als Zeitvertreib. Für das, was bleibt, suchen nicht ‚wir‘, aber unsere Fachleute eine neue Gestalt. Das Neue erzählt uns die Zeitung, das gern Gehörte betrachten wir als Kitsch. - Das ist aber nun nicht ganz richtig. Kommunisten u[nd] Nationalisten u[nd] Katholiken möchten sich sehr gern etwas erzählen lassen. Das Bedürfnis ist sofort wieder da, wo die Ideologie fest ist. Wo der Gegenstand gegeben ist.“ (GW 8, 1412) Im letzten Abschnitt dieser Darstellung wird sich zeigen, daß auch Hermann Broch den dualistisch strukturierten ideologischen Diskurs in Frage stellt, indem er - vor allem in seiner Schlafwandler-Triologie - die Ambivalenz aller Erscheinungen aufdeckt, die den Manichäismus des Ideologen Lügen straft. Die extreme Ambivalenz als unaufhebbare Einheit der Gegensätze gehört zu den Grundstrukturen von Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Die Schwärmer. Sie wird thematisch die beiden nächsten Abschnitte beherrschen, da sie ein wesentliches Charakteristikum der Spätmoderne ist, das nicht nur bei Nietzsche, sondern schon in der Philosophie und Prosa einiger Junghegelianer eine wichtige Rolle spielte. So schreibt beispielsweise Ewald Volhard über 154 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="155"?> 16 E. Volhard, Zwischen Hegel und Nietzsche. Der Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer, Frankfurt, Klostermann, 1932, S.-197-198. 17 Zum Verhältnis von Hegel und Balzac siehe G. Lukács, Balzac und der französische Realismus, in: ders., Probleme des Realismus III, Werke VI, Neuwied-Berlin, Luchter‐ hand, 1965, S.-497. 18 R. Musil, Aus den Tagebüchern, Frankfurt, Suhrkamp, 1971, S.-53. 19 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg, Rowohlt, 1952, S.-1578. F. Th. Vischers satirischen Roman Auch einer (1879): „Vischers Bestreben war stets, das kontradiktorische Entweder-Oder durch das noch viel mehr kontradiktorische Sowohl-Als-auch zu ersetzen. Dies Verfahren allein ist bei der Interpretation des Auch Einer anwendbar.“ 16 In diesem Roman ist nicht nur die Ambivalenz als coincidentia oppositorum zentral, sondern auch der naturwüchsige, unbeherrschte Zufall, dessen Tücke sich gegen alle subjektiven Entwürfe durchsetzt. Ein subjektiver Entwurf par excellence ist das Hegelsche System, und es ist sicherlich kein Zufall, wenn Musil, der Erbe Nietzsches und der Junghegelianer, in seinem großen Romanfragment diesen Entwurf als repressives „grand design“ radikal kritisiert. Von Ulrich heißt es dort: „Er war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.“ (GW 1, 253) Diese Kritik ist nicht nur junghegelianisch und nietzscheanisch, sondern schlechthin spätmodern, weil sie zusammen mit dem philosophischen System auch die narrativen Systeme des 19. Jahrhunderts verabschiedet, deren Autoren - etwa Balzac - mit dem hegelianischen Anspruch auftraten, die Wirklichkeit erzählerisch zu erfassen. 17 Wo der systematische und narrative Anspruch des Subjekts, die Wirklichkeit als Objekt zu beherrschen, zurückgewiesen wird, dort kann die Identität des Subjekts, ja der Subjektbegriff selbst, fragwürdig erscheinen. Musil, der in seinen Tagebüchern bemerkt, ihm werde „alles zu Bruchstücken eines theore‐ tischen Systems“, 18 sieht sich mit dem Niedergang des Individualismus und der individuellen Subjektivität konfrontiert. Zu diesem Problem heißt es in seinen nachgelassenen Schriften: „Der Individualismus geht zu Ende. Ulrich liegt nichts daran. Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“ 19 Dieses Bewußtsein vom Niedergang des individuellen Ichs ist für die gesellschaftliche und sprachliche Situation der österreichisch-ungarischen Jahrhundertwende charakteristisch. Daher hat Robert Pynsent recht, wenn er im Zusammenhang mit der österrei‐ chischen Literatur der Jahrhundertwende Ernst Machs dictum zitiert: „Das Ich 6.1 Die Spätmoderne: Versuch einer Definition 155 <?page no="156"?> 20 R. B. Pynsent, „Conclusory Essay: Decandence, Decay and Innovation“, in: R. B. Pynsent (Hrsg.), Decandence and Innovation. Austro-Hungarian Life and the Turn of the Century, London, Weidenfeld and Nicholson, 1989, S.-143. 21 H. Hesse, Kurgast, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-53. ist unrettbar“, und hinzufügt, daß diese Erkenntnis so verschiedenen Autoren wie Schnitzler, Hofmannsthal, Kafka und Musil gemeinsam ist. 20 Die Ohnmacht des Einzelnen und die Allgegenwart einer anonymen Orga‐ nisation werden dem Musil-Leser gleich im ersten Kapitel des Mannes ohne Eigenschaften vorgeführt, wo ein Verkehrsunfall dargestellt wird. Keiner der Passanten vermag dem Unfallopfer zu helfen, auch nicht der Herr und die Dame, die sich unter die Schaulustigen mischen. Schließlich versucht der Herr, den Vorfall als Zufall in eine notwendige Ordnung zu integrieren, indem er der Dame erklärt, die Kraftwagen hätten einen zu langen Bremsweg. Sie weiß nicht, was ein Bremsweg ist, aber: „Es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.“ (GW 1, 11) Diese Flucht in eine anonyme Ordnung ist deshalb fragwürdig, weil sich in den folgenden Kapiteln des Romans herausstellt, daß die Ordnung selbst nicht rational ist und sich der Kontrolle des Subjekts längst entzogen hat. In dieser Hinsicht ist Der Mann ohne Eigenschaften als ein „Anti-Hegel“ in Romanform und als ein Manifest der Spätmoderne zu lesen. Zur Spätmoderne gehört schließlich auch die Erfahrung des Subjekts, daß das Objekt ihm tückisch entgleitet und die Natur sich verselbständigt. Vor allem in den Schwärmern wird das Subjekt selbst als nicht-soziale und nicht-rationale energeia dargestellt, die nur den naturwüchsigen, zufallsbedingten Impuls gelten läßt: „Denn nun ist es wie in der Welt der Hunde. Der Geruch in deiner Nase entscheidet. Ein Seelengeruch! Da steht das Tier Thomas, dort lauert das Tier Anselm.“ (GW 6, 360) Diese Verwandlung ins Tierische spielt nicht nur bei Musil und Kafka, sondern auch bei Autoren wie Hermann Hesse und D. H. Lawrence eine wichtige Rolle und erscheint dort bald als Befreitung, bald als Bedrohung des Subjekts. Während im Steppenwolf-Roman Harry Haller im Magischen Theater dem Zerfall seines Ichs im Unbewußten beiwohnt und den Prozeß der Loslösung von kulturellen Zwängen mit gemischten Gefühlen beobachtet, erblickt der Protagonist der Kurgast-Novelle in der Natur eine befreiende Kraft. Ihn faszinieren zwei gefangene junge Marder: „Solang es noch Marder gab, noch Duft der Urwelt, noch Instinkt und Natur, solange war für einen Dichter die Welt noch möglich, noch schön und verheißungsvoll.“ 21 Ähnlich wie Hesse schwankt auch Lawrence als Vertreter der Spätmoderne zwischen dem kulturellen und dem natürlichen Pol: Während er in seiner 156 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="157"?> 22 D. H. Lawrence, The Fox und The Virgin and the Gipsy, in: ders., The Complete Short Novels, Harmondsworth, Penguin, 1982. 23 F. Th. Vischer, Kritische Gänge IV, München, Meyer und Jessen, 1922, S.-482. Novelle The Virgin and the Gipsy zeigt, wie nach einem Dammbruch die Natur‐ gewalten zusammen mit dem Haus des Vikars (der Rectory) eine unglaubwürdig gewordene Moral hinwegfegen, läßt er in The Fox die repressiven Züge von Nietzsches naturwüchsigem Machtinstinkt hervortreten und stellt in seinem Buch über die Psychoanalyse diese als eine Bedrohung von Kultur und Moral dar. 22 Diesen Ausbruch der Natur aus dem kulturellen Herrschaftsbereich des Sub‐ jekts antizipiert der Junghegelianer F. Th. Vischer, wenn er zu Hegels These von der Identität zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Natur skeptisch bemerkt: „Er [Hegel] meint, in seiner Weltvernunft die Natur mit dem Begriff beisammen zu haben, aber er hat ihre scheinbar absolute Spaltung, ihre Diremtion, er hat aus der Idee das ‚Anderssein‘ nicht erklärt; daher, weil das Anderssein unerklärt daneben liegen bleibt, fallen sie doch auseinander und ist die Wesensfülle in seiner Vorstellung von der Weltvernunft nur seine ehrliche Vorstellung. Ist also die Natur nicht wirklich abgeleitet, so ist es auch der mit ihr gegebene Zufall nicht, und hieraus folgt zugleich, daß Hegel vom Zufall in der Naturseite des Geistes, also auch vom Traume, geringschätzig wie von allem Zufälligen, nur flüchtig und beiläufig redet.“ 23 In dieser Passage treten zusammen mit dem semantischen Raster junghegelianischer Diskurse wesentliche Elemente der spätmodernen Ära in Erscheinung: das Auseinanderstreben von Subjekt und Objekt, der Ausbruch der Natur (des „Andersseins“) aus dem Herrschaftssystem des Subjekts, die Aufwertung von Zufall, Traum und Körperlichkeit. Nietzsches Verdienst besteht u. a. darin, daß er alle diese Elemente der Spät‐ moderne, die zugleich Zerfallsprodukte des Hegelschen Systems sind, zu einer neuen Philosophie gebündelt hat. Es nimmt nicht wunder, daß diese radikale Philosophie auf Autoren des Modernismus wie Musil, Baroja, Lawrence, Hesse und Gide eingewirkt hat, denn diese Autoren setzen sich mit einer Problematik auseinander, die Nietzsche antizipiert: mit der Ambivalenz der Kultur, der aus ihr resultierenden Krise des Subjekts und des (narrativen) Systems, der Aufwertung der Natur, des Unbewußten, des Traums und der Herrschaft der Kontingenz. Alle diese Komponenten der Spätmoderne sind in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften eingegangen. 6.1 Die Spätmoderne: Versuch einer Definition 157 <?page no="158"?> 6.2 Der Mann ohne Eigenschaften: Ein spätmoderner Roman Eines der hervorstechendsten Merkmale dieses Romanfragments ist die Ideolo‐ giekritik, die bei Musil aus einer individualistischen Skepsis dem Staat, der politischen Organisation und allen kollektiven Instanzen gegenüber hervorgeht. Entscheidend ist, daß die Ideologiekritik im Mann ohne Eigenschaften für die Romanproblematik und Romanstruktur konstitutiv ist und daher nicht als etwas Hinzukommendes, Nebensächliches behandelt werden sollte. Denn dem ideologischen Dualismus und Manichäismus opponiert im Roman die Ambivalenz als Einheit der Gegensätze, als Verknüpfung unvereinbarer Werte; sie zersetzt den dualistischen Diskurs und liefert ihn der Ironie aus. Wie dies geschieht, zeigen die „Unterhaltungen mit Schmeißer“, in denen die dualistische Rhetorik des allwissenden sozialistischen Ideologen mit der von Ambivalenzen durchsetzten Ironie des Erzählers und Ulrichs zusammenstößt. Der individualistischen Kritik begegnet der Dogmatiker mit Kollektivismus und Parteidisziplin: „Die Partei hat solche Abenteuer nicht nötig; wir kommen auf unserem eigenen Weg ans Ziel! “ (GW IV, 1455) Die Paradoxien und Ambi‐ valenzen der ironischen Rede quittiert der überzeugte Sozialist mit eisigem Schweigen: „‚Dann behaupte ich‘, ergänzte Ulrich lächelnd seinen Satz, ‚daß Sie an etwas anderem scheitern werden, zum Beispiel daran, daß wir imstande sind, jemand Hund zu schimpfen, auch wenn wir unseren Hund mehr lieben als unsere Mitmenschen! ? ‘ - Ein Spiegel beruhigte Schmeißer, indem er ihm das Bild eines jungen Mannes zeigte, der eine scharfe Brille unter einer harten Stirn trug. Antwort gab er keine.“ (GW IV, 1457) Dem Paradoxon, der Antinomie und der Ironie hat der Ideologe nichts entgegenzusetzen: denn diese kritischen und „dekonstruktiven“ (Derrida) Elemente des Modernismus gehen in seinem linearen, auf Dichotomien gegründeten Diskurs nicht auf; sie können von ihm nicht verarbeitet werden, weil im ideologischen Bereich die Eindeutigkeit der Subjekte, Handlungen und Aussagen nicht angezweifelt werden darf. Zweifel an der ideologischen Eindeutigkeit könnten - wie schon bei den Junghegelianern und Nietzsche - jenseits von Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Links und Rechts zusammenführen: „Ironie ist: einen Klerikalen so darstellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist (…).“ (GW V, 1939) Der Roman aber, der die ideologischen Diskurse kritisch zersetzt, zerstört zugleich seine eigenen Grundlagen, weil die Romanerzählung als Aktantenmo‐ dell und narrative Syntax (im Sinne von Greimas), d. h. als Erzählschema, in dem Helden und Antihelden, Helfer und Widersacher, Auftraggeber und Gegenauftraggeber aufeinandertreffen und um Objekte kämpfen, mehr oder weniger klare Gegensätze und Gegensatzpaare voraussetzt. Zwar wurden diese Gegensätze schon im psychologischen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts 158 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="159"?> 24 M. Charrière-Jacquin, „Der Mann ohne Eigenschaften als Suche nach einer hermaph‐ roditischen Sprache: Wechselspiel des Konvexen und Konkaven“, in: Josef und Johann Strutz (Hrsg.), Robert Musil - Literatur, Philosophie und Psychologie, München, Fink (Musil-Studien 12), 1984, S.-90. relativiert und vor allem durch psychische Zweideutigkeiten in Frage gestellt. Der Roman der Jahrhundertwende, der Roman der extremen Ambivalenz stellt aber das Schema als solches in Frage, weil er im Anschluß an Nietzsche zeigt, wie Wahrheit und Lüge, Wissenschaft und Mythos, Gut und Böse, Vernunft und Wahnsinn, Held und Schurke unentwirrbar „verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich“ sind. (Nietzsche) Seine Ideologiekritik ist zugleich Selbstkritik, die zur Auflösung des Aktan‐ tenmodells (Held/ Widersacher) und der narrativen Syntax führt. Musil muß dieses Problem gesehen haben, als er die verlorene Eindeutigkeit epischer Gestalten und Handlungen zur Sprache brachte: „Das Problem entsteht na‐ türlich erst mit dem Roman. Im Epos, auch im wirklich epischen Roman, ergibt sich der Charakter aus der Handlung. D.h. die Charaktere waren viel unverrückbarer in die Handlungen eingebettet, weil auch diese viel eindeutiger waren.“ (GW 5,1941) Im Mann ohne Eigenschaften ist diese Eindeutigkeit - ähnlich wie in Hermann Brochs Schlafwandler-Triologie und in Italo Svevos La coscienza di Zeno - längst verlorengegangen: Nicht nur das Rationale und das Irrationale, Genauigkeit und Seele, Mathematik und Mystik gehen ineinander über, sondern auch das männliche und das weibliche Prinzip bilden eine ambivalente Einheit, die in der Gestalt des Hermaphroditen (Clarisse) und in der Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe zum Ausdruck kommt. Zu diesem Thema bemerkt Marianne Charrière-Jacquin: „Die Vereinigung von Ulrich und Agathe wäre dann das Gleichnis von der erträumten Totalität, die der Dichtung ihre Richtung weist. Schließt der Inzest-Mythos als Variante zum Ouroboros-Mythos symbolisch den Kreis, so verkörpert der Hermaphrodit das ursprüngliche ‚geteilt-einige‘ (…) Verhalten des Menschen zur Welt.“ 24 Dieses geteilt-einige Verhalten wird schließlich in Musils Textfragment „Die Reise ins Paradies“ zur fiktionalen Realität. Nicht nur die Dyade Agathe-Ulrich zeugt als hermaphroditische Einheit der Gegensätze von der Ambivalenzproblematik des Romans, sondern auch Ulrich als handelnde und denkende Instanz. Von ihm heißt es gleich zu Beginn: „Ein solcher Mann ist aber keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit.“ (GW 1, 17) Ähnliches ließe sich von den anderen Akteuren behaupten, die entweder 6.2 Der Mann ohne Eigenschaften: Ein spätmoderner Roman 159 <?page no="160"?> 25 Vgl. B. Neymeyer, Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Heidelberg, Winter, 2005: III. 2: „Clarisse: Androgyne Obsessionen und hysterische Symptome“. 26 K. Corino, „Ein Mörder macht Literaturgeschichte. Florian Großrubatscher, ein Modell für Musils Moosbrugger“, in: Josef und Johann Strutz (Hrsg.), Robert Musil und die kulturellen Tendenzen seiner Zeit, München, Fink (Musil-Studien 11), 1983, S.-131. - wie z. B. Clarisse - hermaphroditische Tendenzen 25 aufweisen oder wie der Sexualverbrecher Moosbrugger als eine „typische Mischung aus Brutalität und Gotteskindschaft“ 26 zu charakterisieren sind. Alle diese Formen der Ambivalenz sind in den gesellschaftlichen Gesamt‐ zusammenhang eingebettet, in dem sie entstanden sind. Es geht um den dialektischen Widerspruch zwischen wertindifferentem Markt (als Tauschwert) und wertender Ideologie, der in der Gestalt Arnheims, des Kaufmanns und Großschriftstellers, zum Ausdruck kommt: „Durch dieses Zusammenhängen aller Lebensgebilde, das nur blinder Ideologenhochmut vergessen kann, kam Arnheim dazu, im königlichen Kaufmann die Synthese von Umsturz und Beharren, Macht und bürgerlicher Zivilisiertheit, vernünftigem Wagnis und charaktervollem Wissen zu erblicken, zuinnerst aber eine Symbolgestalt der sich vorbereitenden Demokratie (…).“ (GW 2, 389) Es ist wohl kein Zufall, daß in dieser Passage gerade der Kaufmann, der Vertreter der Wirtschaft und des Marktes, als Widersacher des Ideologen und seines Hochmuts erscheint, als jemand, der in der Lage ist, Wirtschaft und Kultur, Technik und Seele, Quantität und Qualität in einer großangelegten Synthese zu vereinigen. Obwohl Musil und sein Erzähler diese Synthese, die auf eine Unterordnung der Kultur unter den Tauschwert hinausläuft, kritisieren und parodieren, lassen sie immer wieder erkennen, daß das „zarte Zusammen‐ hängen aller Lebensgebilde“ die Realität der Spätmoderne ausmacht und daß in dieser Realität alle ideologischen Dichotomien (etwa Alfred Webers Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation) fragwürdig werden. Wo die Eindeutigkeit sowohl im gesellschaftlichen Kontext als auch im Bereich der Romanfiktion von der Ambivalenz als Einheit der Gegensätze und Doppelwertigkeit verdrängt wird, steht - wie bereits angedeutet - der narrative Ablauf des Romans in Frage: Sowohl auf der Ebene der Erzählung (der énonciation) als auch auf der Ebene der Handlung (des énoncé) wird die anekdotisch-kausale Verknüpfung von Episoden problematisch. Davon zeugen Musils autoreflexive Schreibweise und seine Bemerkungen zur Schwierigkeit oder Unmöglichkeit des Erzählens: „? Paradoxon: den Roman schreiben, den man nicht schreiben kann“, heißt es in den nachgelassenen Schriften. (GW 7, 876) Dies bedeutet keineswegs, daß Musil nicht an die Bedeutung und das kritische 160 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="161"?> 27 T. Todorov, „La Lecture comme construction“, in: Poétique 24, 1974, S.-421. Potential des Romans glaubte; es bedeutet vielmehr, daß er an einer Gattung festhielt, deren ideologische Grundlagen (Dichotomie, Held-Antiheld-Schema, Aktantenmodell) er kritisch und selbstkritisch in Frage stellte. So ist das von ihm erwähnte „Paradoxon“ zu verstehen. Dieses Paradoxon tritt auch auf der Ebene des énoncé, des Handlungsablaufs, in Erscheinung, wo die vom Autor konzipierte Geschichte nicht mehr erzählt werden kann. „Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.“ (GWS 5, 1937) Diese Unmöglichkeit der Erzählung als narrativer Darstellung eines Hand‐ lungsablaufs hängt unmittelbar mit der Ambivalenzproblematik zusammen: mit der Schwierigkeit, Charaktere, Handlungen und Situationen eindeutig zu bestimmen und kausal in neue Situationen überzuleiten. „Le trait de caractère est la cause de l’action“, „der Charakterzug ist die Ursache der Handlung“, schreibt Tzvetan Todorov. 27 Dies ist sicherlich der Fall und trifft auf alle psychologischen Romane zu. Wo aber - wie in Musils Der Mann ohne Eigenschaften - jeder Charakter als eine ambivalente und wider‐ sprüchliche Einheit erscheint, dort verliert Todorovs Maxime ihre Geltung. Die von ihm und anderen Narratologen aufgezeigte „causalité psychologique“ („psychologische Kausalität“) wird in einer fiktionalen Welt außer Kraft gesetzt, deren Akteure als „Möglichkeitsmenschen“ auftreten, die nach allen Seiten hin offen sind und sowohl A als auch das Gegenteil von A tun können. Ein Möglichkeitsmensch par excellence ist Ulrichs mondäne Bekannte Dio‐ tima, die - wie andere Anhänger der „Parallelaktion“ - zur Passivität verurteilt ist, weil sie unschlüssig zwischen den Gegensätzen schwankt: „Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt.“ (GW 1, 229) Die Verdoppelung der Wahrheit, die einen der Ausgangspunkte von Nietzsches Kritik der Metaphysik bildet, stellt die Hand‐ lungsfähigkeit des Subjekts grundsätzlich in Frage: „Jedesmal, wenn Diotima sich beinahe schon für eine solche Idee entschieden hätte, mußte sie bemerken, daß es auch etwas Großes wäre, das Gegenteil davon zu verwirklichen.“ (GW 1, 229) Dieses Schwanken zwischen den Möglichkeiten ist auch für den Hauptakteur des Romans, für Ulrich, charakteristisch: Seine „drei Versuche, ein bedeutender Mann zu werden“, die den Kern des Romananfangs bilden und in einem tradi‐ tionellen Roman den Handlungsablauf auslösen würden, münden bekanntlich in die Erkenntnis, daß er für die vita activa des Offiziers oder des Ingenieurs 6.2 Der Mann ohne Eigenschaften: Ein spätmoderner Roman 161 <?page no="162"?> 28 J.-F. Lyotard, La Condition postmoderne, Paris, Minuit, 1979, S. 7. (Das postmoderne Wissen, Wien, Passagen, 1986, S.-14.) 29 Vgl. z. B. J.-P. Sartres La Nausée/ Der Ekel, ein Roman, dessen Held Roquentin an der Geschichte („histoire“) als Geschichtswissenschaft zweifelt. (Kap. 9 und 10) nicht taugt, so daß für ihn nur die vita contemplativa des Mathematikers, des Wissenschaftlers oder - genauer - des in die Wissenschaft verliebten Dilettanten in Frage kommt: „Er war weniger wissenschaftlich als menschlich verliebt in die Wissenschaft.“ (GW 1, 40) Auch in diesen „drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden“, klingt Musils Paradoxon an: „den Roman schreiben, den man nicht schreiben kann“. Die Paradoxie besteht darin, daß der Tatendrang des Helden, der zur Triebfeder traditioneller Romane wird, schon nach wenigen Seiten verpufft und Ulrich sich für ein kontemplatives Dasein entscheidet, das bestenfalls das Ende eines konventionellen Desillusionsromans bilden könnte. Der spätmoderne Roman jedoch fängt ironisch mit der Desillusion an, und der Handlungsablauf wird in Frage gestellt, ja er wird überflüssig. Daher trägt auch das erste Kapitel die zugleich ironische und gattungskritische Überschrift: „Woraus bemerkens‐ werter Weise nichts hervorgeht“. Nach der Lektüre dieser Worte kann der an Spannungssteigerung gewöhnte Leser marktgängiger Erzählungen das Buch zuklappen. Musil ist es freilich nicht um Spannung und abenteuerliche Katastrophen‐ schürzungen im traditionellen Sinn zu tun, sondern um die Kritik eines ideolo‐ gisierten Romandiskurses, der sich am „Geschichten-Erzählen“ (Broch) orien‐ tiert und ohne ideologische Aktantenmodelle (Held-Antiheld-Schemata) nicht auskommt. Auf seine Romanauffassung ist nicht nur die Bezeichnung „spät‐ modern“, sondern auch der schillerende Terminus „postmodern“ anwendbar, wenn man ihn mit Lyotard als „incrédulité à l’égard des métarécits“ („Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“) definiert. 28 Lyotard übersieht allerdings, daß diese „incrédulité“ oder „Skepsis“ schon in der junghegelianischen Kritik an Hegel (Feuerbach, Stirner, Vischer) eine entscheidende Rolle spielte, und verwechselt auf narrativer Ebene Spätmoderne und Postmoderne. (Die Skepsis dem marxistisch-hegelianischen „métarécit“ gegenüber klingt in zahlreichen spätmodernen Romanen an.) 29 In diesen Zusammenhang gehört auch die leidige Frage, wie der fragmenta‐ rische Charakter des Mannes ohne Eigenschaften zu erklären sei. Als unzurei‐ chend erscheinen vor allem rein biographische Erklärungen, die sich ausschließ‐ lich vom common sense leiten lassen und den fehlenden Abschluß des Romans mit Musils jähem Tod verknüpfen. „Das Rätsel und der Reichtum des Unvollen‐ deten“, „het raadsel en de rijkdom van het onvoltooide“, von denen in Jacques 162 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="163"?> 30 J. Kruithof, De rijkdom van het onvoltooide. ‚Een soort inleiding‘ bij Robert Musil en ‚De man zonder eigenschappen‘, Amsterdam, Meulenhoff, 1988, S.-83. 31 H. Cellbrot, Die Bewegung des Sinnes. Zur Phänomenologie Roberts Musils im Hinblick auf Edmund Husserl, München, Fink, 1988, S.-96. 32 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S.-174. 33 R. Musil, Aus den Tagebüchern,op. cit, S.-19. 34 Vgl. F. de Saussure, Cours de linguistique générale, op. cit., S.-171, 178. Kruithofs Musil-Studie die Rede ist, 30 sind nicht mit Common-Sense-Annahmen, sondern nur auf struktureller Ebene zu beschreiben und zu lösen. Der Roman wurde nicht vollendet, weil er als offene, parataktische Struktur konzipiert worden war und nicht als syntaktisch-narrativer Ablauf mit Endpunkt. In einem von der Ambivalenz strukturierten Text ist ein solcher linearer Ablauf nicht mehr möglich. Dies fiel auch Hartmut Cellbrot auf, der in seiner phänomenolo‐ gischen Studie zu Musils Romanfragment schreibt: „In Wahrheit jedoch werden Varianten offengehalten, und jede von ihnen bedeutet neue Möglichkeiten der Weiterführung.“ 31 Was Cellbrot im phänomenologischen Kontext beschreibt, wäre semiotisch als paradigmatische Textanordnung darstellbar. Bekanntlich definiert Saussure das Paradigma als offene, assoziative Struktur, die unendlich viele Elemente in unbestimmter Reihenfolge kombinieren kann („ni en nombre défini, ni dans un ordre déterminé“). 32 Es ist aufschlußreich zu beobachten, daß Musil sich nicht nur die Auflö‐ sung oder paradigmatische Umwandlung des narrativen Makrosyntagmas, des Romansyntagmas, vornimmt, sondern zugleich versucht, das Satzsyntagma paradigmatisch zu dehnen oder gar zu sprengen: „Solange man in Sätzen mit Endpunkt denkt, lassen sich gewisse Dinge nicht sagen - höchstens vage fühlen. Andererseits wäre es möglich, daß man sich so auszudrücken lernt, daß gewisse unendliche Perspektiven, die heute noch an der Schwelle des Unbewußten liegen, dann deutlich und verständlich werden.“ 33 Es ist sicherlich kein Zufall, daß Saussure die assoziative Struktur des Paradigmas mit dem Unbewußten („inconsciemment“) verknüpft; denn im Ge‐ gensatz zum Syntagma, das eine bewußte, kausallogisch fundierte Konstruktion ist, geht das Paradigma aus unbewußten Assoziationen hervor. 34 Diese bilden eine der Grundlagen des Mannes ohne Eigenschaften, eines Romans, der zwar nicht das Satzgefüge in Frage stellt, der aber durch seine radikale Kritik der narrativen Syntax jene „unendlichen Perspektiven“ eröffnet, von denen in Musils Tagebucheintragung die Rede ist. Eine solche Kritik erweist sich jedoch als zweischneidiges Schwert: Einerseits befreit sie das Sub‐ jekt von syntaktischen Zwängen und erweitert seinen assoziativen Horizont; andererseits stellt sie die Grundlagen der Subjektivität in Frage, denn diese 6.2 Der Mann ohne Eigenschaften: Ein spätmoderner Roman 163 <?page no="164"?> 35 Zweifel am Roman finden sich nicht nur bei Musil, sondern auch bei Proust: „Faut-il en faire/ un roman, une étude philsophique, suis-je romancier? “, Le Carnet de 1908, Paris, Gallimard (Cahiers Marcel Proust 8), 1976, S.-61. kann sich nicht anders konstituieren als auf syntaktischer Ebene: mit Hilfe von Satzgefügen und narrativen Konstruktionen. Somit ist Musils (Prousts, Joyces, Svevos) Kritik der Syntax seiner Romankritik homolog. Beide münden in eine Aporie, weil sie die Subjektivität des Erzählers, der Akteure und der Romanform in Frage stellen. 35 Subjektivität ist nur als diskursive, d. h. syntaktisch-narrative Anordnung möglich: als Intentionalität und Finalität. Die Auflösung der Syntax zieht notwendig die Auflösung des Subjekts in der „Utopie des anderen Zustands“, im „ekstatischen“ oder „allozentrischen Erlebnis“ nach sich. Dieses Erlebnis schildert Musil in dem wichtigen Kapitel „Sonderaufgabe eines Gartengitters“: „Allozentrisch heißt, überhaupt keinen Mittelpunkt mehr haben. Restlos an der Welt teilnehmen und nichts für sich zurücklegen. Im höchsten Grad, einfach aufhören zu sein. Ich könnte auch Hereinwendung der Welt und Hinauswendung des Ich sagen. Es sind die Ekstasen der Selbstsucht und Selbstlosigkeit.“ (GW 4, 1407) Aus diesen Erläuterungen Ulrichs geht hervor, daß „Selbstsucht“ und „Selbst‐ losigkeit“ eine ambivalente Einheit bilden, weil die Suche nach dem eigenen Ich jenseits der bewußten Zwänge (Moral, Logik, Syntax) die Auflösung des Ichs im Unbewußten - im „allozentrischen Zustand“ - bewirkt. Eine solche Auflösung des Ichs wird in Musils Roman - ähnlich wie in anderen Romanen der Spätmoderne - nicht nur als Befreiung, sondern auch als Bedrohung empfunden: als Auslieferung an den Zufall und an die Zwangsme‐ chanismen der Alltagsroutine, denen Ulrich entgehen möchte. Er versucht, eine neue Gesetzmäßigkeit jenseits von Subjektivität und Objektivität zu finden, die er als die „Utopie des motivierten Lebens“ bezeichnet: „Diese Willensfreiheit ist die Fähigkeit des Menschen, freiwillig zu tun, was er unfreiwillig will. Aber Motivation hat mit Wollen keine Berührung; sie läßt sich nicht nach dem Gesetz von Zwang und Freiheit einteilen, sie ist tiefster Zwang und höchste Freiheit.“ (GW 4, 1421) Es geht also darum, durch eine Synthese von Freiheit und Zwang die zerfallene Subjektivität wiederherzustellen. Wie Svevo, Hesse und D. H. Lawrence stößt Musil in seiner Kritik der Ideo‐ logien, der moralischen und erzählerischen Konventionen schließlich auf den Traum, das Unbewußte und das Tierische: auf Elemente, die jenseits der Kultur und des von ihr verursachten Unbehagens die Integrität des Subjekts in Frage stellen. Es sind Elemente des kritischen Bewußtseins, die zum ersten Mal in der junghegelianischen Kritik an Hegels System in Erscheinung traten und von 164 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="165"?> 36 Th. Mann, „Freud und die Zukunft“, in: S. Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt, Fischer, 1953, S.-138-139. 37 Vgl. B. Neymeyer, Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays, Heidelberg, Winter, 2009. Darin vor allem: „I. 1: Der Essay als Medium von Kulturdiagnose und Poetologie“. Nietzsche zu einer Philosophie der Spätmoderne geformt wurden. Auch in dieser Philosophie erscheint die Natur bald als Befreiung von einer unglaubwürdig gewordenen Moral, bald als Bedrohung des sozialisierten Subjekts, das sich im blinden Machtstreben aufzulösen droht. Das spätmoderne Dilemma „zwischen Natur und Kultur“ stellte Thomas Mann in seiner Rede zu Sigmund Freuds 80. Geburtstag anschaulich dar, als er auf das Verhältnis von „Es“ und „Ich“ zu sprechen kam: „Denn das Unbewußte, das Es, ist primitiv und irrational, es ist rein dynamisch. Wertungen kennt es nicht, kein Gut und Böse, keine Moral. (…) Was nun das Ich selbst und überhaupt betrifft, so steht es fast rührend, recht eigentlich besorgniserregend damit. Es ist ein kleiner, vorgeschobener, erleuchteter und wachsamer Teil des ‚Es‘ - ungefähr wie Europa eine kleine, aufgeweckte Provinz des weiten Asiens ist.“ 36 Nicht die Frage, ob „Es“ und „Unbewußtes“ identifiziert werden können, ist hier entscheidend, sondern das Dilemma der Spätmoderne, das hier in Erscheinung tritt: Es geht darum, Kultur, Ideologie und konventionelle Subjektivität zu kritisieren, ohne das Subjekt preiszugeben, es der Natur und der Verdinglichung auszuliefern. Der Romancier Musil versucht, dieses Dilemma durch eine „Utopie des Essayismus“ zu lösen, die in mancher Hinsicht als das formale pendant zur „Utopie des motivierten Lebens“ anzusehen ist. 37 Es gilt, dem systematischen (hegelianischen, syntagmatischen) Zwang abzusagen, ohne den Gedanken an verbindliche Wahrheiten preiszugeben: „Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, - denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein - glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten anzusehen und behandeln zu können.“ (GW 1, 250) Der Essay ist modern, d. h. nachhegelianisch, weil er der junghegelianischen (Vischer, Marx) Erkenntnis Rechnung trägt, daß Subjekt und Objekt nicht identisch sind und daß ein bestimmtes Objekt von verschiedenen Theorien unterschiedlich dargestellt wird. Soll es adäquat erkannt werden, dann darf es nicht seinen „Umfang“ verlieren, darf nicht zu einer Abstraktion, einem Begriff zusammenschrumpfen. 6.2 Der Mann ohne Eigenschaften: Ein spätmoderner Roman 165 <?page no="166"?> 38 Zur Analyse von Musils essayistischem Roman vgl. P. V. Zima, Essay/ Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012. Darin vor allem Kap. VII: „Spätmoderner Essay‐ ismus als Konstruktivismus und Utopie: Pirandello und Musil“. 39 Vgl. Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp, 1958, S.-22-23. 40 Zum paradigmatischen Schreiben bei Musil vgl. P. V. Zima, Textsoziologie. Eine kritische Einführung in die Diskurssemiotik, Stuttgart, Metzler, 2021 (2. Aufl.). Darin vor allem Kap. VI: „Textsoziologische Modelle: Proust, Musil“. 41 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie (Schriften 7), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S.-541. 42 G. Vattimo, La fine della modernità. Nichilismo ed ermeneutica nella cultura post-mo‐ derna, Milano, Garzanti, 1958, S.-22-23. Diese Einstellung dem Objekt gegenüber ist zweifellos spätmodern und verbindet den Autor des großen essayistischen Romans 38 mit dem kritischen Theoretiker Adorno, der vom Essay die Darstellung des Besonderen, des Ein‐ maligen und die Befreiung vom Systemzwang erwartete. 39 Die parataktische und zugleich paradigmatische (a-syntaktische) Anordnung seiner Ästhetischen Theorie erinnert an Musils essayistisches und paradigmatisches Schreiben. 40 Von diesem gilt, was Adorno von seinem posthum erschienenen großen Werk sagt: „Das Buch muß gleichsam konzentrisch in gleichwertigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken.“ 41 Spätmodern sind beide Autoren auch deshalb, weil sie an einem problema‐ tisch gewordenen Wahrheitsbegriff festhalten. Gianni Vattimo mag recht haben, wenn er behauptet, daß die Moderne dort endet, wo der Wahrheitsbegriff verabschiedet wird („la stessa nozione di verità si dissolve“). 42 Eindeutiger noch als Nietzsche, den Vattimo in diesem Zusammenhang zitiert, haben sich - im Anschluß an Nietzsche - Autoren der Dekonstruktion wie Derrida und Paul de Man vom „metaphysischen“ Wahrheitsbegriff distanziert. Ob sie schon deshalb einer „postmodernen“ Epoche angehören, soll hier nicht entschieden werden, da andere Komponenten ihres Denkens - etwa die Kritik des Rationalismus und des Systems - ohne weiteres als spätmodern zu bezeichnen sind. Von Musil und Adorno unterscheiden sie sich wesentlich durch ihre Abkehr von der alten Metaphysik: dadurch, daß sie sich nicht mehr mit der Metaphysik „im Augenblick ihres Sturzes“ solidarisch erklären. 6.3 Die Schwärmer als Antidrama Nur scheinbar sind Die Schwärmer - formal betrachtet - ein traditionelles Thea‐ terstück, in dem die drei klassizistischen („aristotelischen“) Einheiten gewahrt 166 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="167"?> 43 E. Naganowski, „Die Schwärmer als Bühnenstück“, in: Josef und Johann Strutz (Hrsg.), Robert Musil - Theater, Bildung, Kritik, München, Fink (Musil-Studien 13), 1985, S. 65. 44 E. Naganowski, „Die Schwärmer als Bühnenstück“, op. cit., S.-67. 45 P. Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt, Suhrkamp, 1969 (6. Aufl.), S.-88. 46 Zur gesellschaftlichen Funktion der mondänen Konversation bei Musil vgl. A. Honold, Geschichte als Ordnungsproblem. Topographisches Erzählen in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, Magisterarbeit, F.U. Berlin 1990, S. 138-153 sowie Vf., „Oscar Wilde und Hugo von Hofmannsthal“, in: ders., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.). werden. Insofern hat Egon Naganowski recht, wenn er feststellt: „Die Einheit der Zeit wurde also vollkommen und die des Ortes fast genau eingehalten. Man könnte auch von einer Einheit der Handlung sprechen (…).“ 43 Dennoch hält Naganowski Die Schwärmer nicht für ein traditionelles Drama, denn: „So wie Musil schon früher im Törleß und vor allem in den Vereinigungen auf ‚das Äußere‘, ‚auf die Handlung keinen Wert legte‘, wollte er auch in den Schwärmern keine konventionelle Geschichte erzählen (…).“ 44 Mit Recht weist er darauf hin, daß sich die Dialoge in diesem Stück verselbständigen und nicht dazu da sind, die Handlung voranzutreiben. In dieser Hinsicht stimmt es strukturell mit dem Mann ohne Eigenschaften überein, dessen Handlungsablauf ebenfalls durch sich verselbständigende Dialoge und durch eine essayistisch-paradigmatische Anordnung geschwächt wird. Es weist auch Ähnlichkeiten mit anderen modernen Dramen auf, in denen die Konversation auf Kosten der dramatischen Handlung entwickelt wird. Im Gegensatz zum Dialog, der folgenträchtig ist und zur kausalen Verknüpfung von Handlungen beiträgt, erscheint die Konversation in Peter Szondis Theorie des modernen Dramas als antidramatisches Element: „Sie hat keinen subjektiven Ursprung und kein objektives Ziel: sie führt nicht weiter, geht in keine Tat über. (…) Weil die Konversation keinen subjektiven Ursprung hat, kann sie keine Menschen definieren.“ 45 Diese Bemerkungen Szondis führen mitten in die Problematik der Schwärmer, die allerdings nicht ohne weiteres als Konversationsdrama im Sinne von Hofmannsthals Der Schwierige zu bezeichnen sind. Während sich in Hofmannsthals Lustspiel die stark formalisierte und ästhetisierte Konversation als mondäne Gruppensprache des Großbürgertums und des Wiener Salonadels verselbständigt und vom Grafen Bühl kritisch reflektiert wird, 46 erfüllt sie in Musils Drama, das in einem liberalen Intellektuellenmilieu spielt, eine kritisch-essayistische Funktion. Insofern gehört sie einem anderen Diskurstyp an als die Konversation Hofmannsthals. Beiden Konversationstypen ist jedoch gemeinsam, daß sie den dramatischen Dialog und die Handlung erheblich schwächen. 6.3 Die Schwärmer als Antidrama 167 <?page no="168"?> Zur Schwächung der Handlung trägt in den Schwärmern - ähnlich wie im Mann ohne Eigenschaften - die Ideologiekritik bei, die zusammen mit dem ideologischen Dualismus das traditionelle Aktantenschema (Held/ Anti‐ held) zerstört. Während der Universitätsprofessor Josef, ein „Mann mit Eigen‐ schaften“, versucht, den gescheiterten Dozenten Anselm, der ihm seine Frau Regine abspenstig macht, als „Feind“ und Antihelden zu bekämpfen, bemüht sich Thomas, ein Schwärmer und „Mann ohne Eigenschaften“, die ideologischen Erzählschemata zu dekonstruieren: JOSEF: (…) Wir stehen dem gleichen Feind gegenüber. THOMAS hartnäckig beschaulich: Die Fälle sind ganz verschieden (…). (GW 6, 398) Josef, der liberale Bürger und Tatenmensch, der den Detektiv Stader einsetzt, um Regine und Anselm des Betrugs überführen zu können, wird mit der polymor‐ phen Welt der „Schwärmer“ Anselm, Maria, Regine und Thomas konfrontiert, in der sich die festen ideologischen Gegensätze in Ambivalenz und Antinomie auflösen. Der intelligenteste Vertreter dieser Welt ist zweifellos Thomas, der - ähnlich wie Ulrich - dem „Mann mit Eigenschaften“ die Ungereimtheiten seiner ideologischen Voraussetzungen vor Augen führt: THOMAS: (…) Du verlangst Ideale; aber auch, daß man keinen extremen Gebrauch von ihnen mache. Du läßt die Witwer wieder heiraten, aber erklärst die Liebe für unendlich, damit die Wiederverehelichung erst nach dem Tode erfolgt. Du glaubst an den struggle of life, aber milderst ihn durch das Gebot: Liebe deinen Nächsten. Du glaubst an die Nächstenliebe, aber milderst sie durch den struggle of life. Du verschaffst den Gesetzen unbedingt Geltung, aber begnadigst hinterdrein. Du bist für Besitz und Wohltätigkeit. Du erklärst, daß man für die höchsten Güter sterben müsse, weil du schon voraussetzt, daß keiner auch nur eine Stunde lang für sie lebt. (GW 6, 399) Die Ironie dieser ideologiekritischen Replik, die auch im Mann ohne Eigen‐ schaften stehen könnte, wird von der Ambivalenz genährt und erinnert an Ulrichs Gespräch mit dem Sozialisten Schmeißer, welches u. a. zeigt, „daß wir imstande sind, jemand Hund zu schimpfen, auch wenn wir unseren Hund mehr lieben als unsere Mitmenschen“. Den Ideologen Schmeißer und Josef ist gemeinsam, daß sie diese Antinomien, die die ideologischen Diskurse im Laufe der Jahrhunderte ausgezehrt und ausgehöhlt haben, nicht wahrnehmen (wollen). Wo die Ideologie zerfällt und die Ambivalenz herrscht, dort sind auch die Akteure nicht eindeutig zu definieren, und Thomas übertreibt nicht, wenn er Josef kurz nach dessen Ankunft in Thomas’ Haus auf diese Schwierigkeit 168 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="169"?> 47 J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S.-55. aufmerksam macht: „Ich habe dich in meinem Brief auf schwer bestimmbare Menschen vorbereitet.“ (GW 6, 366) Die Schwärmer sind deshalb schwer zu bestimmen, weil sie wandelnde Beweise für Nietzsches These sind, daß Gut und Böse, Wahrheit und Lüge miteinander „verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich“ sind (s. o.). Am Ende des zweiten Aufzugs tritt ihre Ambivalenz (diesmal auch im psychoanalytischen Sinne als „gleichzeitige Anwesenheit einander entgegenge‐ setzter Strebungen“) 47 besonders kraß in Erscheinung: REGINE: Was wütest du gegen ihn! Er haßt dich nicht mehr als er jeden hassen muß, aber er liebt dich viel mehr. THOMAS: Mich liebt er? ! Hergekommen, um Maria zu entwenden! REGINE: Dich liebt er wie einen Bruder, der stärker ist als er. ANSELM hat sich mühsam aufgerichtet: Ich hasse dich. Wohin ich gehen wollte, immer warst du zuvor. (GW 6, 378) Kurz vor Ende des zweiten Aufzugs wird uns noch einmal die Verwandtschaft der Gegensätze vor Augen geführt, und ihre Wesensgleichheit erscheint möglich. Von Anselm heißt es dort: THOMAS: Er hat einen falschen Selbstmord versucht. Aber wahres Gefühl und falsches sind wohl am Ende beinahe das gleiche. REGINE: Es gibt Menschen, die wahr sind hinter Lügen und unaufrichtig vor der Wahrheit. THOMAS: Man findet einen Gefährten und es ist ein Betrüger! Man entlarvt einen Betrüger und es ist ein Gefährte! (GW 6, 379) Der ambivalente Charakter, der in den Schwärmern auf Schritt und Tritt inszeniert wird, ist zugleich ein Möglichkeitsmensch im Sinne des Mannes ohne Eigenschaften. Anselm, Thomas, Maria und Regine sind stets nach allen Seiten offen, und Thomas beschreibt treffend ihre Einstellung, wenn er sagt, „daß das, was wirklich geschieht, ganz unwichtig ist neben dem, was geschehen könnte“. (GW 6, 330) Diese Betrachtungsweise macht ihn zu einem Geistesverwandten Ulrichs, der die geronnene Welt der Wirklichkeitsmenschen, der Realisten, durch seinen Möglichkeitssinn wieder in Fluß bringt. Von beiden gilt, was der Erzähler des Romanfragments von den Möglichkeitsmenschen allgemein sagt: „Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven (…).“ (GW 1, 16) 6.3 Die Schwärmer als Antidrama 169 <?page no="170"?> 48 E. Naganowski, „Die Schwärmer als Bühnenstück“, op. cit., S. 71. Vgl. auch E. Naga‐ nowski, Podróż bez końca. O życiu i twórczości Roberta Musila, Kraków, Wydawnictwo Literackie, 1980, S.-201-216. Hier ist zugleich von der Welt der Schwärmer die Rede, die nicht nur von unverwirklichten Möglichkeiten und vom Traum, sondern auch vom Zufall beherrscht wird. „Zufällig hat nicht er, sondern Thomas Maria geheiratet“, erläutert Regine die Rolle des Zufalls dem entrüsteten Fräulein Mertens, das wie Josef ideologisch denkt und „Eigenschaften“ besitzt. (GW 6, 320) Den globalen Zusammenhang faßt Naganowski zusammen: „Im ersten Akt erfahren wir, daß Maria seinerzeit nur ‚zufällig‘ Thomas und nicht Anselm geheiratet hat, so wie Regine auch nur ‚zufällig‘ Johannes und nicht Anselm oder Thomas, denn allen war es eigentlich fast egal, wer mit wem die Ehe schließt.“ 48 Naganowski hat zwar recht, wenn er den Zufall im Hinblick auf die sich durchsetzende Indifferenz (als Vertauschbarkeit der Personen) deutet; in dem hier konstruierten Zusammenhang erscheint er jedoch als ein Element der Spät‐ moderne, das die Assoziationen des Unbewußten und des Traums beherrscht und die Kohärenz des Subjekts in Frage stellt. Denn der Zufall, den Hegel der Notwendigkeit unterordnete und den die Jungehegelianer (Vischer) nach dem Zerfall des Hegelschen Systems wiederentdeckten, hat etwas Naturwüchsiges an sich, das die rationale und systematische Herrschaft über die Wirklichkeit negiert. In den Schwärmern hat das Subjekt längst auf diesen Herrschaftsanspruch verzichtet und wird an entscheidenden Stellen mit der nackten Natur konfron‐ tiert. Am bekanntesten ist wohl die eingangs bereits erwähnte Szene, in der der kulturelle Firnis zerbröckelt, die soziale Subjektivität sich auflöst und die beiden Akteure Anselm und Thomas einander als animalische Individuen gegenüberstehen: THOMAS: (…) Denn nun ist es wie in der Welt der Hunde. Der Geruch in deiner Nase entscheidet. Ein Seelengeruch! Da steht das Tier Thomas, dort lauert das Tier Anselm. Nichts unterscheidet sie vor sich selbst, als ein papierdünnes Gefühl von geschlossenem Leib und das Hämmern des Bluts dahinter. Habt ihr kein Herz, das zu begreifen? ! Jagt es uns nicht in den Tod oder - einander in die Arme? ! (GW 6, 360) Im letzten Satz treten abermals die wesentlichen Aspekte der Spätmoderne in den Vordergrund: Ambivalenz, Vertauschbarkeit, Zufall. An dieser Stelle des Dramas sind sie in den naturwüchsigen Zusammenhang eingebettet, in dem sich die Subjektivität zeitweise aufgelöst hat und die reine Individualität als Körperlichkeit in Erscheinung tritt. Es gehört jedoch zu der besonderen (essayistischen) Dynamik des Dramas, daß der Zerfall der Subjektivität im 170 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="171"?> 49 Vgl. B. Cetti Marinoni, Essayistisches Drama. Die Entstehung von Robert Musils Stück „Die Schwärmer“, München, Fink, 1991. Grenzbereich zwischen Natur und Kultur, Traum und Wachen, Zufall und Absicht wieder zurückgenommen, d. h. subjektiv reflektiert und überwunden wird. Ähnliches geschieht am Ende des Törleß-Romans, wo der Protagonist die durchwanderte Traumlandschaft der Innerlichkeit verläßt: „Er wußte nun zwischen Tag und Nacht zu scheiden; - er hatte es eigentlich immer gewußt, und nur ein schwerer Traum war verwischend über diese Grenzen hingeflutet, und er schämte sich dieser Verwirrung: aber die Erinnerung, daß es anders sein kann, daß es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen gibt, daß fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen, - auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse Schatten aus.“ (GW 6, 140) Auch Die Schwärmer bewegen sich zwischen Tat und Traum, zwischen Absicht und Zufall, zwischen Subjektivität und deren Zerfall. Diese prekäre - man könnte sagen modernistische - Situation des Dramas, die an die Szenarien anderer spätmoderner Werke (etwa des Steppenwolf-Romans) erinnert, erklärt nicht nur die essayistische Struktur des Textes, sondern auch dessen langen Entstehungsprozeß, mit dem sich Bianca Cetti Marinoni ausführlich befaßt. 49 Der aus Ambivalenzen und Antinomien hervorgehende Essayismus ist aus strukturellen Gründen mit dem kausalen Ablauf des traditionellen Dramas unvereinbar. Die Tatsache, daß Musil für die Fertigstellung der Schwärmer mehr als zehn Jahre gebraucht hat, kann sicherlich auch im biographischen Zusammenhang erklärt werden. Die eigentliche Ursache scheint jedoch struk‐ tureller Art zu sein wie im fragmentarischen Roman, „den man nicht schreiben kann“. Das Drama, das in seiner traditionellen Form durch vorwärtsdrängende Handlung gekennzeichnet wird, verträgt weder die Ambivalenz der Akteure noch den die Handlung verzögernden Essayismus. Diese beiden Elemente sind jedoch nicht einfach als Zerfallsprodukte oder gar als Erscheinungen der „Dekadenz“ aufzufassen. Ambivalenz und Essayismus sind sowohl im Roman als auch im Drama Aspekte spätmoderner (modernis‐ tischer) Kritik, die die ideologischen Grundlagen traditioneller Roman- und Dramenformen nicht mehr unbesehen akzeptiert. Sie läßt vielmehr erkennen, wie brüchig diese scheinbar unerschütterlichen Grundlagen geworden sind, indem sie zeigt, daß der Charakter nicht eindeutig bestimmbar ist, daß das Subjekt (als handelnde oder erzählende Instanz) keine Einheit bildet und daß 6.3 Die Schwärmer als Antidrama 171 <?page no="172"?> 50 Vgl. U. Eco, Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, München, DTV, 1986, S. 76-82; vgl. auch: H. R. Jauß, „Italo Calvino. ‚Wenn ein Reisender in einer Winternacht‘. Plädoyer für eine postmoderne Ästhetik“, in: ders., Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S.-280-285. 51 U. Japp, „Kontroverse Daten der Modernität“, in: Kontroversen, alte und neue. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 8, Tübingen, Niemeyer, 1986, S.-133. folglich die überlieferten Aktantenmodelle (Greimas) der Literatur nicht mehr funktionieren. In diesem Kontext sind Musils kritische Bemerkungen zur Struktur und Funktion des traditionellen und des kommerziellen Dramas zu verstehen: „Man schätzt es, wenn man gleich durch die erste Szene wie durch ein Loch in einen Ausblick fällt, wenn viel geschieht, die Personen rasch wechseln und elegante Schürzungen kleinen Verwicklungen einen überraschenden Auslauf geben, den man schon erwartet hat. Wenn man müd ins Theater geht, will man eben, daß auf der Bühne oben etwas gegen diese Müdigkeit geschieht, das sie gleichzeitig berücksichtigt. Fast alles, was Technik des Dramas heißt, ist von dieser Art.“ (GW 8, 1120) Dies ist nicht nur eine radikale Kritik kulturindustrieller Schemata, sondern zugleich eine Negativdefinition von Musils eigenem dramatischen Projekt. Die Frage lautet konkret: Ist der Roman, ist das Drama als Ideologiekritik und Kritik der Kulturindustrie möglich und in welcher Form? - Der Versuch, diese Frage zu bejahen, mündet - wie Adornos Entwurf einer nicht-diskursiven, nicht-theoretischen Theorie - in eine Aporie: in den Roman, „den man nicht schreiben kann“, in ein Antidrama wie Die Schwärmer. Das Experiment mit diesen kritischen Formen war jedoch nicht vergeblich; denn es läßt alle „postmodernen“ Versuche als fragwürdig erscheinen, die Spät‐ moderne durch Rückgriff auf Tradition und „Verständlichkeit“ zu überwinden. Eine so - etwa von Jauß oder Eco 50 - verstandene Postmoderne ist nichts anderes als eine dürftig verschleierte, d. h. traditionalistisch verbrämte Konzession an das Marktgesetz. Freilich wäre es auch möglich, die Postmoderne als eine Radikalisierung der Spätmoderne aufzufassen, sofern man es nicht als störend empfindet, daß dieser Ausdruck angesichts spätmoderner Radikalität eine Art Pleonasmus ist. Dazu bemerkt Uwe Japp: „Nun muß man allerdings bezweifeln, ob der Anspruch der Moderne, insofern er in einer Poetik des Experiments zentriert ist, überhaupt überboten werden kann - oder ob nicht gerade in der (z. B.) von T. S. Eliot betonten Unabschließbarkeit des Experiments das ‚Schicksal‘ der Moderne, kein Ende finden zu können, begründet ist.“ 51 172 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="173"?> 52 Vgl. M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, Kap. 5. 53 H. Broch, Das Weltbild des Romans, in: ders., Schriften zur Literatur II. Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S.-115. 54 Ibid. 6.4 Ein Triptychon der Spätmoderne: Musil, Broch, Svevo Am Ende einer Darstellung, in deren Mittelpunkt das Werk Robert Musils steht, kann kein ausführlicher Vergleich dieser drei Autoren ins Auge gefaßt werden. Im folgenden wird lediglich versucht, den hier vorgeschlagenen Begriff der Spätmoderne auf seine Verallgemeinerungsfähigkeit hin zu testen und ihn auf einige Texte von Hermann Broch und Italo Svevo anzuwenden. Bekanntlich sind diese beiden Schriftsteller nicht nur Zeitgenossen Musils, sondern auch Vertreter einer österreichisch-ungarischen Gesellschaft und Kultur, die vor ihren Augen zerfällt. Mit Broch verbindet Musil das Streben nach einer Erneuerung des Romans, den beide vor dem Sturz in Kommerz und Ideologie bewahren möchten. Der Roman darf sich nicht in ideologischen Entwürfen erschöpfen, er darf sich nicht auf ein ideologisches Weltbild festlegen und soll zu einer Überwindung des ideologischen Dualismus oder Manichäismus beitragen. In diesem Kontext ist Hermann Brochs bekannter Vortrag über „Das Weltbild des Romans“ zu lesen, in dem das Plädoyer für einen „polyhistorischen Roman“ dominiert: für einen Roman, der sich nicht auf ein ideologisches Weltbild reduzieren läßt, sondern heterogene Weltbilder dialogisch-kritisch aufeinander bezieht. Der Leser wird an Michail M. Bachtins karnevalistisch-kritisches Konzept eines „polyphonen“ Romans 52 erinnert, wenn er bei Broch liest: „Ja, der Roman hat Spiegel aller übrigen Weltbilder zu sein, aber sie sind ihm genau so Reali‐ tätsvokabeln wie jede andere Vokabel der Außenwelt. Und genau wie jede der anderen Realitätsvokabeln, die er von der Außenwelt bezieht, hat er sie in seine eigene dichterische Syntax zu setzten.“ 53 An anderer Stelle heißt es ergänzend: „Der moderne Roman ist polyhistorisch geworden. Seine Realitätsvokabeln sind die großen Weltbilder der Zeit.“ 54 Romane, die in einzelnen Weltbildern aufgehen, machen sich der Schönfär‐ berei schuldig und verkommen zu Kitsch und Ideologie. Obwohl Broch sieht, daß Zolas Werk als ganzes weit über die kommerzialisierte Kitsch-Literatur hinausgeht, zeigt er, daß Zolas Roman-Zyklus der Jahrhundertwende Quatre Evangiles nicht weit von der Ideologie entfernt ist: „(…) Da wird im Rahmen eines naturalistischen Romans ein völlig utopischer Zustand geschildert, ein Zustand, wie er auch nach Erreichung der klassenlosen Gesellschaft sicherlich niemals eintreten wird, ein Zustand, in dem das Gut und Böse nicht nach den 6.4 Ein Triptychon der Spätmoderne: Musil, Broch, Svevo 173 <?page no="174"?> 55 Ibid., S.-97-98. 56 Ibid., S.-116. 57 H. Broch, Die Schlafwandler, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S.-77. 58 Ibid., S.-226. 59 H. Broch, Die Schuldlosen, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S.-146. künftigen, sondern nach den 1880 entstandenen moralischen Begriffen auf die guten Sozialisten und die bösen Antisozialisten verteilt wird (…).“ 55 Mit anderen Worten: die sozialistische Ideologie wird nicht im „polyhistori‐ schen“ Kontext kritisch durchleuchtet und relativiert, sondern ästhetisch ver‐ brämt, „ästhetisiert“. Dadurch nähert sich Zolas Roman, der im sozialistischen Weltbild aufzugehen droht, dem Kitsch. In der hier zitierten Passage tritt ein weiterer Aspekt von Brochs Ideologie- und Romankritik in Erscheinung, der an Musils kritischen Essayismus gemahnt, den Broch in seinem Vortrag und an anderen Stellen lobend erwähnt: 56 die Kritik des ideologischen Dualismus, der die Welt in „gute Sozialisten“ und „böse Anti‐ sozialisten“ einteilt und die Ambivalenz nicht wahrhaben will. Die Tatsache, daß Musil weniger von Brochs Werk angetan war („er macht den philosophischen Roman suspekt“ - GW 7, 850), sollte nicht über die Verwandtschaft der beiden Autoren hinwegtäuschen, die vor allem im Bereich der Ideologiekritik, der Ambivalenz- und Subjektproblematik sowie in der gemeinsamen Entdeckung der inneren Natur, des Unbewußten und des Zufalls zum Ausdruck kommt. In seiner Schlafwandler-Trilogie gelingt es Broch, seine Romantheorie in die Praxis umzusetzen und die verschiedenen ideologischen Weltbilder - das romantische, das anarchistische und das sachlich-kaufmännische - dialogisch aufeinander zu beziehen. Die ideologischen Diskurse werden nicht nur relati‐ viert, sondern auch als manichäische Schemata in Frage gestellt. Sowohl der preußische Offizier Junker Pasenow als auch der Anarchist August Esch erscheinen als Manichäer, die sich nur im Rahmen eines Schwarz-Weiß-Schemas orientieren können. Darin gleichen sie dem Sozialisten Zola, den Broch in seinem Vortrag kritisiert. Der Romantiker Pasenow gerät in Panikstimmung, sooft er mit ambivalenten Situationen oder Aussagen konfrontiert wird, und flieht ins Offizierscasino: „Denn im Kasino war alles eindeutig und es galt ja, ja und nein, nein (…).“ 57 Die radikal andere politische Gesinnung des Anarchisten hindert ihn nicht daran, in dieser Hinsicht mit dem romantischen Junker übereinzustimmen: „Nichts ist eindeutig, dachte Esch voll Zorn, nicht einmal an solch schönem Frühlingstag (…).“ 58 In den Schuldlosen attackiert der Lehrer Zacharias, ein Vorbote der Nationalsozialisten, die politische Neutralität, die er mit Krämergeist und Geld assoziiert: „(…) Der Mensch muß wissen, wo er hingehört, rechts oder links.“ 59 174 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="175"?> 60 H. Broch, Die Schlafwandler, op. cit., Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S.-338-339. 61 Ibid., S.-326. 62 H. Broch, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S.-133. Dieser ideologische Dualismus wird bei Broch - ähnlich wie bei Musil - durch Ambivalenz und Ironie zersetzt. Im zweiten Roman der Schlafwandler-Trilogie wird der Ideologe Esch durch den ironischen und von der Ambivalenz struktu‐ rierten Diskurs des weltmännisch auftretenden Managers Eduard von Bertrand aus dem Gleichgewicht gebracht: Was Eduard von Bertrand, den Esch für das Unglück des Strichjungen Harry verantwortlich macht, zu seiner Verteidigung vorbringt, ist so einleuchtend, „daß das Wagnis, seine ironische Miene nachzu‐ ahmen, fast zur Verpflichtung, fast zum Einverständnis werden wollte (…)“. 60 Dennoch zeigt ihn Esch bei der Polizei an, um den ideologischen Manichäismus zu erhalten und seine eigene, von Bertrands ambivalenter Ironie bedrohte Subjektivität zu retten: „Man weiß ohnehin nicht mehr, was schwarz und was weiß ist. Alles geht durcheinander.“ 61 Der Ideologe sorgt dafür, daß es anders wird: Seine Anzeige treibt Bertrand in die Enge und führt seinen Selbstmord herbei. Radikale Ideologiekritik, wie sie von Broch und Musil praktiziert wird, zersetzt nicht nur die manichäischen Muster ideologischer Diskurse, sondern auch die Subjektivität, die sich in diesen Diskursen (im Rahmen bestimmter Dichotomien und Aktantenmodelle) artikuliert. Wie fragwürdig diese Subjekti‐ vität in der spätmodernen Ära geworden ist, läßt Brochs Massenwahntheorie erkennen: ein Buch, in dem - ähnlich wie in David Riesmans The Lonely Crowd - die Unverantwortlichkeit, die other-directedness des Einzelnen zur Sprache kommt. Das Individuum lebt nicht mehr bewußt, sondern in einer Art Traumzustand, den Broch als „Dämmerzustand“ bezeichnet. In dieser Situation der Unverantwortlichkeit und Subjektlosigkeit setzt sich das Naturhafte des Einzelnen durch: „Seine vegetativ-animalische Natur hat die Oberhand in ihm gewonnen, und was immer er denkt, plant oder unternimmt, handelnd oder nur vorstellungsmäßig, umweltfreundlich oder umweltfeindlich, es ist restlos ins Instinkthafte zurückgeglitten, es dient nur noch den unmittelbaren Trieb‐ befriedigungen, und es vollzieht sich im Rahmen der vorhandenen Umwelt, im Rahmen der hic et nunc gegebenen Umweltbedingung, deren Akzeptierung ihm von seinem Hindämmern geheißen wird. Es ist eine äußerst an das Tierhafte angenäherte Haltung (…).“ 62 In dieser Passage treten - stärker noch als in Musils Darstellungen des Triebverbrechers Moosbrugger - die naturhaften Elemente der Spätmoderne in den Vordergrund: Subjektlosigkeit, Traum, Triebhaftigkeit, Instinkt. 6.4 Ein Triptychon der Spätmoderne: Musil, Broch, Svevo 175 <?page no="176"?> 63 I. Svevo, La cosziena di Zeno, Milano, Bompiani, 1938, S. 171. (Zeno Cosini, Hamburg, Rowohlt, 1959, S.-141.) Alle diese Elemente sind auch für das Werk Italo Svevos kennzeichnend, vor allem für seinen großen Roman La coscienza di Zeno, der die Ambiva‐ lenz-Problematik in deren psychoanalytischer Form verarbeitet. Bewußtsein und Handeln Zeno Cosinis werden immer wieder von einer ambivalenten Einstellung seinem Freund Guido oder seiner Frau Augusta gegenüber in Frage gestellt. Eine der Folgen dieser Krise der Subjektivität ist die Triebhaftigkeit von Zenos Handeln, das in entscheidenden Augenblicken vom Zufall beherrscht wird. Zeno läßt die Gelegenheit, den geliebt-gehaßten Freund Guido von einer zehn Meter hohen Mauer stürzen zu lassen, ungenutzt, weil ihm zufällig der Gedanke kommt, er würde nach einer solchen Missetat nicht schlafen können: „Come avrei potuto dormire se avessi amazzato Guido? Quest’idea salvò me e lui.“ („Wie aber wäre dieser Schlaf möglich gewesen, wenn ich Guido vorher umgebracht hätte? Dieser Gedanke rettete Guido und mich.“) 63 Überhaupt wird der Handlungsablauf von Svevos Roman vom Zufall be‐ herrscht und nicht mehr vom ideologisch fundierten Programm eines Helden, dem ein Antiheld entgegentritt. Aufgrund eines tragikomischen Zufalls schei‐ tert Zenos Liebesglück. Während seines Besuchs bei der Familie Malfenti versucht er, unter dem Tisch mit der schönen Ada zu flirten, berührt jedoch irrtümlich den Fuß ihrer Schwester Augusta, und diese Fehlleistung hat gravie‐ rende Folgen: Zeno heiratet Augusta, bei der er zwar Treue und Zuneigung findet, nicht jedoch das erhoffte Liebesglück, das er später bei einem um viele Jahre jüngeren Mädchen sucht. Zufallsbedingt ist auch das Leben seines Freundes Guido, der Ada heiratet: Um von seiner Frau mehr Geld zu bekommen, täuscht der unablässig von Geldnöten Geplagte einen Selbstmord vor, der zufällig gelingt. In Guidos Tod verschmelzen Ambivalenz und Zufall zu einer unauflösbaren Einheit: Der tragische Charakter des Todes wird von der Komik des Zufalls relativiert. Wo Ambivalenz und Zufall herrschen, wird zusammen mit der ideologischen Erzählung als Notwendigkeit der Wahrheitsbegriff angezweifelt. In Svevos Aufzeichnungen findet sich ein Text, der zeigt, daß der Glaube an Wesen und Wahrheit der nachhegelianischen Moderne abhanden gekommen ist: „L’amore alla verità si manifesta in due modi: Affermando il vero e amandolo, o negando il falso e odiandolo. Naturalmente che vero e falso possono scambiarsi, ma amando un’affermazione che si dice vera e odiandone un’altra che si dice falsa, si può asserire di amare la verità, forse ingannandosi.“ („Die Wahrheitsliebe kann auf zwei Arten zum Ausdruck kommen: Man kann das Wahre bejahen und es 176 6 Robert Musil und die Spätmoderne <?page no="177"?> 64 I. Svevo, Racconti, Saggi, Pagine sparse (Opere III), Milano, Bompiani, 1968, S.-586. 65 Vgl. S. J. Schmidt, „Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdiszi‐ plinären Diskurs“, in: ders., Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S.-43. lieben oder das Falsche verneinen und es hassen. Natürlich sind Wahrheit und Unwahrheit vertauschbar; aber indem man eine Behauptung liebt, die man als wahr bezeichnet und eine andere haßt, die man als unwahr bezeichnet, kann man beteuern, die Wahrheit zu lieben, und sich dabei täuschen.“) 64 Wenn heute Vertreter des Radikalen Konstruktivismus gegen den Wahrheits‐ begriff polemisieren, weil er ihnen inadäquat oder fragwürdig erscheint 65 , so entwerfen sie kein neues „Paradigma“, sondern verharren mit ihren Gedanken durchaus im Rahmen der Spätmoderne, deren Autoren - von den Junghegelia‐ nern und Nietzsche bis Musil oder Svevo - die ideologisch-metaphysischen Grundlagen des Denkens zersetzten, die Natur gegen den Geist, das Objekt gegen das Subjekt, den Zufall gegen die Notwendigkeit und das Unbewußte gegen das Bewußtsein ausspielten. Der Wahrheit stellten sie die extreme Am‐ bivalenz als unaufhebbare Einheit der Gegensätze gegenüber und inszenierten so den Sturz der Metaphysik. N.B.: Alle Zitate aus Musils Werk stammen aus der folgenden Ausgabe: R. Musil, Gesammelte Werke, Hrsg. A. Frisé, Hamburg, Rowohlt, 1978. 6.4 Ein Triptychon der Spätmoderne: Musil, Broch, Svevo 177 <?page no="179"?> 1 Vgl. V. Žirmunskij, „Die literarischen Strömungen als internationale Erscheinungen“, in: H. Rüdiger (Hrsg.), Komparatistik. Aufgaben und Methoden, Stuttgart, Kohlhammer, 1973, S.-119. 2 Vgl. G. R. Kaiser, Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Forschungs‐ stand - Kritik - Aufgaben, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1980, Kap. 4.2. sowie Vf. Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.), Kap. III. 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Unamunos Niebla und Pirandellos Uno, nessuno e centomila Als Miguel de Unamuno im Jahre 1923 seinen kurzen Artikel „Pirandello y yo“ veröffentlichte, zeigte er sich selbst von den vielen Affinitäten überrascht, die italienische Literaturkritiker in ihren Kommentaren zur italienischen Über‐ setzung seines Romans Niebla zwischen ihm und Pirandello gefunden hatten. Freilich entstanden in den 20er Jahren eher impressionistische Skizzen einer spontan empfundenen Geistesverwandtschaft als vielschichtige Analysen im philosophischen oder literaturhistorischen Sinn. Trotz eines längeren Piran‐ dello-Zitats, das Unamuno mit der Phrase „dice Pirandello“ einleitet, läßt der Artikel des spanischen Schriftsteller-Philosophen erkennen, daß er seinen italienischen Zeitgenossen und Geistesverwandten eher vom Hörensagen kennt und daß er seine Kenntnisse vorwiegend den von italienischen Rezensenten angestellten Vergleichen verdankt. Dennoch hat sein Artikel einen eminent methodologischen Wert, weil er gleich im ersten Absatz die Bedeutung der typologischen Analogie für die vergleichende Literaturgeschichte hervorhebt. Ein gutes Jahrzehnt vor der Entdeckung dieser Analogie durch den russischen Komparatisten Viktor Žir‐ munskij 1 zeigt sich Unamuno von frappierenden Parallelentwicklungen zweier Werke und zweier Autoren fasziniert, die in verschiedenen Kulturen leben und wirken, voneinander aber nichts wissen. Der Schriftsteller nimmt intuitiv vorweg, was vergleichende Literaturwissen‐ schaftler und andere Komparatisten später als den „typologischen Vergleich“ bezeichnen werden 2 , wenn er in den einleitenden Bemerkungen von den verwandten Geistern spricht, die, ohne einander zu kennen, den gleichen Weg zurückgelegt haben, analoge Auffassungen vertreten und zu den gleichen Ergebnissen gelangen: „Es ist ein merkwürdiges Phänomen, das immer wieder in der Geschichte der Literatur, der Kunst, der Wissenschaft oder der Philosophie <?page no="180"?> 3 M. de Unamuno, „Pirandello y yo“, in: R. Gullón (Hrsg.), El modernismo visto por los modernistas, Barcelona, Labor, 1980, S.-494. 4 Ibid. 5 Zur Definition der Spätmoderne als Modernismus vgl. den einleitenden Aufsatz in diesem Band sowie: Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, 2016 (4. Aufl.), Kap. I. 6 In Moderne/ Postmoderne (vgl. Anm. 5) ging es u. a. darum zu zeigen, daß Moderne, Spätmoderne und Postmoderne weder Ideologien noch Weltanschauungen sind, son‐ dern Problematiken, von denen jede aus einem Ensemble von verwandten Fragen oder Problemen besteht, die von jedem Autor, von jedem Werk anders beantwortet oder gelöst werden. vorkommt: der Umstand, daß zwei Geister, die einander weder persönlich noch durch ihre Werke kennen, die nie zueinander Kontakt hatten, denselben Weg zurücklegten, analoge Vorstellungen entwickelten oder zu denselben Ergebnissen gelangten.“ 3 Er erklärt diese Verwandtschaft mit Hinweisen auf etwas, „das in der Luft hängt“ („algo que flota en el ambiente“) oder „das in den Tiefen der Geschichte verborgen ist“ („algo que late en las profundidades de la historia“). 4 7.1 Die spätmoderne Krise des individuellen Subjekts Die Metaphern „in der Luft hängen“ oder „in den Tiefen der Geschichte verborgen sein“ können einerseits als Verlegenheitsgesten gedeutet werden, mit denen ein Dichter auf eine mysteriöse Wahlverwandtschaft reagiert; sie können auch als rhetorische Versuche gewertet werden, die Probleme einer spätmodernen oder modernistischen Zeit zu bezeichnen, die sowohl den spa‐ nisch-amerikanischen modernismo und die Generación del 98 als auch die italienische Jahrhundertwende umfaßt. Denn sowohl in den Werken der mo‐ dernistas Juan Ramón Jiménez, José Martí und Rubén Darío als auch in denen der Generación del 98 (Unamuno, Azorín, Baroja) zeichnen sich Fragen ab, die zugleich Pirandellos Dramen und Romane durchziehen: die Frage nach der Wirklichkeit, die Frage nach der Wahrheit und dem wahren Wert und die komplementäre Frage nach dem individuellen Subjekt und dessen Identität. Es sind Fragen, die Nietzsche, Kierkegaard, Baudelaire und Dostoevskij der gesamten Spätmoderne als Modernismus 5 vorgegeben haben; Fragen, die durch ihren Zusammenhang eine Problematik bilden 6 , in deren Rahmen Autoren wie Unamuno, Pirandello, Baroja, Svevo, Musil oder Gide zwar sehr verschiedene Positionen beziehen, zugleich aber auf Probleme reagieren, die ihnen allen gemeinsam sind. Es sind Probleme, die schon Nietzsche und Kierkegaard als Hegel-Kritiker in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellten, und die alle 180 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="181"?> 7 J. R. Jiménez, „El modernimo poético en España y en Hispanoamérica“, in: R. Gullón (Hrsg.), El modernismo visto por los modernistas, op. cit., S.-150. 8 Vgl. P. Baroja, „Nietzsche y la filosofía“, in: ders., Obras completas VII, Madrid, Biblioteca Nueva, 1952, sowie „Nietzsche íntimo“, in: ders., Escritos de juventud (1890-1904), Hrsg. M. Longares, Madrid, Editorial Cuadernos para el diálogo, 1972. 9 G. Azam, El modernismo desde dentro, Barcelona, Anthropos, 1989, S.-80. 10 Während Unamuno Nietzsche, den er immer wieder zitiert (z. B. in Del sentimiento trá‐ gico de la vida, Madrid, Espasa-Calpe, 1967, 11. Aufl., S. 80-81), wahrscheintlich recht gut kannte, ist Nietzsches Einfluß auf Pirandello kaum nachweisbar. Vgl. dazu M. Rössner, „Nietzsche und Pirandello. Parallelen und Differenzen zweier Denk-Charaktere“, in: J. Thomas (Hrsg.), Pirandello-Studien. Akten des I. Paderborner Pirandello Symposiums, Paderborn, Schöningh, 1984, S. 10-11. Rössner kommt zu dem Schluß, daß Nietzsches Einfluß auf Pirandello zu vernachlässigen ist und daß die bisweilen frappierende aus dem Zerfall der Hegelschen Synthese von Subjekt und Objekt, Denken und Sein, Geist und Natur hervorgingen. In diesem Kontext kann es nicht als Zufall erscheinen, daß Nietzsche auf nahezu alle Modernisten nachhaltig eingewirkt hat und daß Unamuno intensiv Kierkegaard (im Original) rezipierte. Möglicherweise bildet Nietzsches Werk die wichtigste Klammer, die den amerikanisch-spanischen modernismo mit der Generación del 98 und der europäischen Spätmoderne (Lawrence, Gide, Musil, Th. Mann) verbindet. Juan Ramón Jiménez, der in seinem Artikel „El modernismo poético en España y en Hispanoamérica“ (1946) seine Beziehungen zu Miguel de Unamuno, Rubén Darío und Antonio Machado beschreibt, erwähnt - zusammen mit Baudelaire, Verlaine, Rimbaud und Mallarmé - auch Nietzsche: „Ich las viel - und zum ersten Mal Nietzsche.“ 7 Angehörige der Generación del 98 wie Pío Baroja und Azorín ( José Martínez Ruiz) beziehen sich in ihren Romanen immer wieder auf den deutschen Philosophen der Spätmoderne, und Baroja setzt sich in verschiedenen Artikeln polemisch-kritisch mit ihm auseinander. 8 Insofern ist Gilbert Azam recht zu geben, wenn er die Generación del 98 und den modernismo als einen Komplex auffaßt: „Während die 98er Generation (…) das Spanien-Problem anschneidet, schneidet der Modernismus das Problem einer Neubestimmung der menschlichen Werte in der modernen Welt an. Deshalb ist es völlig unmöglich, die beiden Bewegungen zu trennen. Weit davon entfernt, Gegensätze zu sein, sind sie eng verwandt.“ 9 Daß eine sinnvolle Trennung der beiden Strömungen kaum möglich ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß die „Neudefinition der menschlichen Werte“, die Azam als ein Charakteristikum des modernismo hervorhebt, auch für die Generation des Jahres 98 kennzeichnend ist. Sie ist ein Anliegen der gesamten spätmodernen oder modernistischen Pro‐ blematik, in deren Kontext Autoren wie Hesse, Svevo, Pirandello, Kafka, Musil, Proust und Unamuno versuchen, im Anschluß an Nietzsche und Kierkegaard 10 7.1 Die spätmoderne Krise des individuellen Subjekts 181 <?page no="182"?> Verwandtschaft der beiden Denker typologischer Art ist. Daß diese Verwandtschaft von Bedeutung ist, fiel M. Schmitz-Emans auf: „Das gespaltene Ich. Pirandellos Theorie des Subjekts und ihre Korrespondenzen zu philosophischen Konzeptionen Schopenhauers und Nietzsches“, in: J. Thomas (Hrsg.), Pirandello-Studien. Akten des I. Paderborner Pirandello Symposiums, op. cit., S.-39: „Die Ähnlichkeit der so beschriebenen Struktur des Nietzscheschen Machtwillens mit der Struktur des von Pirandello beschriebenen Ichs ist auffallend. Was dieser über die im Streit liegenden und sich zu labilen Gebilden vereinigenden ‚Seelen‘ des Menschen ausführt, ließe sich durch verschiedene Anmerkungen Nietzsches ergänzen.“ 11 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: ders., Werke VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S.-627. dem „Zerfall der Werte“ im Sinne von Hermann Broch mit neuen Wertsetzungen zu begegnen. Dieser Prozeß, der als Dialektik von Wertzerfall und Wertsetzung aufgefaßt werden kann, ist zugleich ein Prozeß des Subjektzerfalls und der Subjektkonstitution, in dem Autoren wie Nietzsche, Baroja, Gide, Hesse, Proust oder Musil politische, ethische oder ästhetische Utopien entwerfen, um das in‐ dividuelle Subjekt als Übermensch, Politiker, Träumer oder Künstler in extremis zu retten. In diesem Zusammenhang erscheint Nietzsches Zweifel am metaphysischen Subjektbegriff als eines der Leitmotive der Spätmoderne, die als Reflexion oder Selbstkritik der Moderne (seit der Aufklärung) zugleich eine Selbstkritik des Subjekts ist. Dazu bemerkt Nietzsche: „Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter allen den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehen diesen Glauben als Wirkung einer Ursache, - wir glauben an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die ‚Wahrheit‘, ‚Wirklichkeit‘, ‚Substantialität‘ überhaupt imaginieren. - ‚Subjekt‘ ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären: aber wir haben erst die ‚Gleichheit‘ dieser Zustände geschaffen; das Gleich-setzen und Zurecht-machen derselben ist der Tatbestand, nicht die Gleichheit (- diese ist vielmehr zu leugnen -).“ 11 Diese bekannte Passage enthält in nuce die wesentlichen Argumente, die spätmoderne Philosophen und Schriftsteller gegen den Subjektbegriff selbstkri‐ tisch ins Feld führen: 1. Dieser Begriff gründet auf einem Glauben, der einer luziden Reflexion nicht standhält. 2. Die Einheit des individuellen Subjekts ist eine Fiktion - ähnlich wie die Vorstellungen von einer „Wirklichkeit“ und einer „Wahrheit“. 3. Die von uns gesetzte und geschaffene Einheit des Subjekts ist eine - möglicherweise willkürliche - Konstruktion, die analog zu unseren Konstruktionen von „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“ zustande kam. Damit ist der moderne (Cartesische, Kantische, Hegelsche) Glaube an Wirklichkeit, Wahrheit und Subjektivität erschüttert. 182 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="183"?> 12 F. J. Martín, „Conciencia nacional y conciencia desdichada del sujeto (El noventayo‐ chismo y el desplazamiento semántico de la metáfora del ‚problema de España‘)“, in: Imprévue 2, 1999 („L’interpellation du sujet dans l’essai chez Unamuno et Ganivet“), S.-31. 13 Vgl. Azorín ( José Martínez Ruiz), La Voluntad, in: ders., Obras completas I, Madrid, Aguilar, 1947-1960, S. 917-930 sowie P. Baroja, Camino de perfección, New York, Las Américas Publishing Co., 1952, S.-99-118. 14 Vgl. D. Shaw, La generación del 98, Madrid, Cátedra, 1982 (4. Aufl.), S.-261. 15 M. de Unamuno, „Ibsen y Kierkegaard“, in: ders., Mi religión y otros ensayos breves, Madrid, Espasa Calpe, 1964 (4. Aufl.), S.-54. Freilich wirkt sich diese Erschütterung in jedem Land, in jedem kulturellen Kontext anders aus. Nimmt man den von Unamuno angeregten und von Komparatisten wie Žirmunskij praktizierten typologischen Vergleich ernst, so wird man die Krise und die auf sie reagierende Kritik des Subjekts nicht einfach von Nietzsches Einfluß ableiten wollen, sondern wird sie in Spanien mit der Krise des Jahres 1898 und in Italien mit den verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges und dem aufkommenden Faschismus verknüpfen - sofern es sich um Pirandellos Werke aus den 20er Jahren handelt. Denn es scheint ein Konsens darüber zu bestehen, daß, wie Francisco José Martín betont, die spanische „crisis del sujeto“ um die Jahrhundertwende mit einer sich verschärfenden „crisis nacional“ und einer komplementären „crisis artística“ 12 einherging. Diese dreifache Krise kommt nicht nur in Unamunos Niebla (1914), sondern auch in Romanen wie Azoríns La Voluntad (1902) und Barojas Camino de perfección (1902) zum Ausdruck, die die jahrhundertealte kastilische Hegemonie in Frage stellen, die Literatur vor allem thematisch erneuern und eine neue Subjektivität jenseits von Herrschaftsprinzip und Askese entwerfen. 13 Diese Verflechtung von kollektiv-politischen, ästhetisch-literarischen und individuell-psychischen Faktoren, die auch Donald Shaw kommentiert 14 , erklärt, weshalb Unamuno in seinem Essay „Ibsen y Kierkegaard“ (1907) versucht, das Denken Nietzsches und der beiden skandinavischen Autoren der „spanischen Misere“ entgegenzusetzen. Er faßt es als Protest auf: „Ein Protest gegen die Kleinkariertheit der damaligen spanischen Geschichte, gegen die Zeit der spanischen Misere, in der Ibsens verehrter Name zusammen mit dem nicht weniger verehrten Namen Nietzsches dazu herhalten mußte, die Ignoranz zu rechtfertigen, die nur darauf aus ist, Karrieren und soziale Positionen zu sichern.“ 15 Tatsächlich erscheint Nietzsche auch Azorín und Baroja als Kritiker eines Zeitalters, das keinerlei menschliche Größe mehr duldet, sondern droht, von einer kommerzialisierten Geschäftigkeit überwuchert und erstickt zu 7.1 Die spätmoderne Krise des individuellen Subjekts 183 <?page no="184"?> 16 Vgl. z.-B. Azorín, La Voluntad, op. cit., S.-968. 17 L. Pirandello, Sei personaggi in cerca d’autore, Milano, Mondadori, 1948 (14. Aufl.), S. 16. 18 I. Martens, „Die Aktualität Pirandellos. Zur Frage nietzscheanischer und neostruktu‐ ralistischer Affinitäten in seinem Werk“, in: M. Rössner (Hrsg.), Pirandello zwischen Avantgarde und Postmoderne, Wilhelmsfeld, Gottfried Egert Verlag, 1997, S.-172. 19 W. Krysinski, Le Paradigme inquiet. Pirandello et le champ de la modernité, Montréal, Le Préambule, 1989, S.-457. werden. 16 Sie lesen den deutschen Philosophen einerseits als Zerstörer tradierter Wertvorstellungen und Subjektformen, andererseits als Verkünder einer neuen Menschlichkeit, einer neuen Subjektivität. In dieser Hinsicht sind sie Autoren wie Pirandello, Proust, Hesse oder D. H. Lawrence vergleichbar, die ebenfalls Nietzsches Zerlegung metaphysischer Begriffe wie „Wirklichkeit“, „Wahrheit“ und „Subjektivität“ nachvollziehen, zugleich aber nach neuen Formen von Subjektivität fragen und versuchen, sie durch eine neue ästhetisch-literarische Formgebung zu stützen. Die gesamte spätmoderne oder modernistische Literatur könnte als ein großangelegter Ver‐ such aufgefaßt werden, auf die Krise des Subjekts und die mit ihr einhergehende philosophisch-literarische Kritik mit innovativen Schreibweisen und Formex‐ perimenten zu reagieren. Unamunos Niebla und Pirandellos Uno, nessuno e centomila (1926) stellen zwei solche Formexperimente dar, die - ähnlich wie Prousts Recherche oder Svevos La coscienza di Zeno - einerseits individuelle Subjektivität kritisch zerlegen, andererseits Rettungsversuche unternehmen. Daß Pirandello - wie Azorín, Baroja und Unamuno - Nietzscheaner ist und als Nietzscheaner der spätmodernen Problematik angehört, ist vielen seiner Interpreten aufgefallen. So erkennt beispielsweise Ina Martens in Pirandellos Gedanken an eine „molteplice personalità d’ognuno“ 17 , den der Schriftsteller in seinem Vorwort zu Sei personaggi in cerca d’autore entwickelt, einen Nietzscheanismus: „Diese agnostische Denkform, wonach der Einzelmensch in seelischer Hinsicht keine Einheit, sondern eine Vielheit ist, und jederzeit das rational gewollte So-sein eines Menschen von der Übergewalt des Lebensstroms zerstört werden kann, verweist auf die (…) teilweise in frappierender Weise parallel laufenden Gedanken bei Nietzsche.“ 18 Auch in anderen kulturellen Kontexten wurde auf diese Parallelen hinge‐ wiesen. So ortet beispielsweise Wladimir Krysinski Pirandellos Werk in einem spätmodernen Koordinatensystem, dessen Achsen von Kierkegaards Existenz‐ philosophie und Nietzsches Kritik der Metaphysik gebildet werden: „Pirandellos Moderne reicht somit in ein neues Paradigma hinein, in dem der Einzelne seiner Maske gewahr wird.“ 19 Er fügt hinzu: „Sein Weg in die Moderne kreuzt die Wege Bergsons und Nietzsches. Doch mit seinem ‚Vitalismus‘ und seiner 184 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="185"?> 20 Ibid. 21 Zur Affinität zwischen Pirandello und einigen deutschen Autoren vgl. M. Schmitz-Emans, „Erzählen als Kunst der Selbstfindung - Pirandellos ‚Mattia Pascal‘ und einige seiner deutschen Verwandten“, in: M. Rössner, F.-R. Hausmann (Hrsg.), Pirandello und die europäische Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. (Akten des 4. Pirandello-Kolloqiums in Aachen vom 7.-9. Oktober 1988), Bonn, Romanistischer Verlag, 1990. 22 Von einem möglichen Einfluß J. Morenos auf Pirandello spricht L. Russo in „Pirandello e la psicoanalisi“, in: S. Milioto, E. Scrivano (Hrsg.), Pirandello e la cultura del suo tempo, Milano, Mursia, 1984, S.-45. 23 Ibid., S.-48. 24 Ibid., S.-49. 25 Vgl. A. Binet, Les Altérations de la personnalité, Paris, L’Harmattan, 2000 sowie F. Wallner, „Musil als Philosoph“, in: J. Strutz (Hrsg.), Robert Musil und die aktuellen Tendenzen der Zeit, München, Fink, 1983, S.-97-102: Zum Subjekt-Problem. ‚Intuition‘ bringt Pirandello die existentielle Reflexion ins Spiel zusammen mit der Introspektion, die beide an Kierkegaards ‚Furcht‘ und ‚Zittern‘, an Heideggers ‚Sorge‘ und ‚Geworfenheit‘ sowie an Jaspers’ ‚Grenzerfahrung‘ erinnern.“ 20 Pirandello ist nicht nur ein Erbe Nietzsches und Kierkegaards, sondern auch ein Geistesverwandter anderer Modernisten wie Kafka, Musil, Svevo, Joyce, Proust - oder Miguel de Unamuno. 21 Und diese typologische Ver-wandtschaft, von der eingangs die Rede war, geht nicht nur auf ähnliche Zustände in den verschiedenen europäischen Kulturen zurück, sondern auch auf einen ge‐ meinsamen Wissensvorrat, der von Kierkegaards und Nietzsches Philosophien, Alfred Binets und Ernst Machs Persönlichkeitstheorien sowie von Freuds Psy‐ choanalyse und zahlreichen anderen Diskursen - etwa denen Jacob Morenos 22 oder Théodule Ribots - gebildet wird. In diesem Kontext erscheint es nicht so wichtig, einen unmittelbaren Ein‐ fluß Freuds auf Pirandello oder Unamuno nachzuweisen, weil der Zweifel an der Einheit des individuellen Subjekts um die Jahrhundertwende von sehr verschiedenen Philosophen, Schriftstellern und Wissenschaftlern gleichzeitig angemeldet wurde. Mit Luigi Russo könnte man von einem „gemeinsamen epistemischen Hintergrund“, einem „comune sfondo epistemico“ 23 und einem „gemeinsamen Urprung“, einem „patrimonio genetico“ 24 sprechen, aus dem Modernisten wie Unamuno und Pirandello an der Schwelle zum 20. Jahrhundert schöpften. Eindeutig nachweisbar ist allerdings der Einfluß von Alfred Binets Les Altérations de la personnalité (1892) in Pirandellos Werk, und dieser Einfluß könnte typologisch parallel zu Ernst Machs Wirkung in Musils Der Mann ohne Eigenschaften betrachtet werden. 25 Auf dieser Ebene wäre die gesamte Spätmoderne als ein Netzwerk von Einflüssen und typologischen Ähnlichkeiten 7.1 Die spätmoderne Krise des individuellen Subjekts 185 <?page no="186"?> 26 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, op. cit., S.-624. 27 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, Stuttgart, Kröner, Hrsg. S. Landshut, 1971, S.-301. darstellbar, wobei Nietzsche und Kierkegaard, Baudelaire und Dostoevskij als die Autoren erscheinen, die entscheidende Impulse zur Bildung dieser neuen Konstellation gaben. In deren Mittelpunkt steht die Ambivalenz als Zusammenführung unverein‐ barer Werte: als sprengende Paradoxie, die kein synthetisierendes, vereinheit‐ lichendes Bewußtsein im Sinne von Hegel mehr zuläßt. Sie ist eines der Leit‐ motive von Nietzsches Denken: „Gesamt-Einsicht: der zweideutige Charakter unserer modernen Welt - eben dieselben Symptome können auf Niedergang und auf Stärke deuten.“ 26 So wird der Gang der Geschichte unentscheidbar und zusammen mit ihm die Wertsetzungen, auf die sich ein einheitliches Subjekt beruft: Gut und Böse, Wahr und Falsch, Sinn und Unsinn werden in der ausgehenden Moderne immer wieder zusammengeführt, sprengen alle sinnvollen Totalitäten und lassen - zumindest aus Nietzsches Sicht - jedes Streben nach Kohärenz scheitern. Diese Ambivalenz, die der junge Marx als eine Folge der Vermittlung durch den Tauschwert deutet, stellt das gesamte Wertsystem als kulturelle Taxonomie in Frage. Vom Geld sagt Marx: „Es ist die Verbrüderung der Unmöglichkeiten, es zwingt das sich Widersprechende zum Kuß.“ 27 Das ein solcher Kuß Ekel und Zerfall zur Folge hat, lassen die Werke der Modernisten erkennen, indem sie uns vor Augen führen, wie in der sich durchsetzenden Marktgesellschaft Wahrheit und Lüge, Schönheit und Schund zu einer ambivalenten Einheit verschmelzen, die das Gegenteil einer sinnerfüllten Totalität ist. Doch diese Ambivalenz zeitigt nicht nur Ekel und Zerfall, sondern auch ein kritisches Bewußtsein, das bei Unamuno und Pirandello die Form eines tragikomischen Humors annimmt, der alles andere als eine oberflächliche Einladung zum Lachen ist. Dieser Humor, der sowohl in Niebla als auch in Uno, nessuno e centomila die Diskurse der Erzähler begleitet, ist eine Reaktion des individuellen Subjekts auf die spätmoderne Ambivalenz und ein Versuch, diese destruktive Verknüpfung in ein kritisches Instrument zu verwandeln. Gelingt diese Verwandlung, kann das Subjekt noch hoffen, die Krise erzählerisch zu bewältigen. 186 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="187"?> 28 L. Pirandello, „L’umorismo“, in: ders., Saggi, poesie, scritti varii, Milano, Mondadori, 1977 (4. Aufl.), S.-156. 29 Ibid. 30 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer, 1963 (10. Aufl.), S.-22. 31 J. Derrida, Points de suspension. Entretiens, Paris, Galilée, 1922, S.-226. 32 L. Pirandello, „L’umorismo“, op. cit., S.-103. 7.2 Unamuno und Pirandello als „umoristi“ und „humoristas“ Bekanntlich definiert Pirandello den umorismo als ein „Bewußtsein vom Wi‐ derspruch“, als „sentimento del contrario“. 28 Man könnte ihn auch als ein Bewußtsein der extremen Ambivalenz auffassen, das Illusionen zersetzt, indem es die Kehrseite der menschlichen Medaille erscheinen läßt. Es ist das dekonst‐ ruktivistische Bewußtsein avant la lettre, das dort Kontingenz, Widerspruch und Aporie wahrnimmt, wo der Alltag Vorsehung, Einheit und Sinngegenwart postuliert. Einer der größten Humoristen, erklärt Pirandello, sei, ohne es zu wissen, Kopernikus gewesen, der „unsere selbstherrliche Vorstellung von der Welt auseinandernahm“: „che smontò non propriamente la macchina dell’universo, ma l’orgogliosa immagine che ce n’eravamo fatta“. 29 Smontare bedeutet u. a. zerlegen, demontieren. Das Wort erinnert nicht nur an Heideggers „Destruktion der Metaphysik“, sondern auch an Derridas Dekonstruktion, die nicht Zerstö‐ rung, sondern „Zerlegung“ sein will. Heidegger selbst faßt seine „Destruktion der Geschichte der Ontologie“ als „Auflockerung der verhärteten Tradition und (…) Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen“ 30 auf. Im Anschluß daran beschreibt Derrida seine Dekonstruktion: „Es war natürlich auch eine aktive und ein wenig sinnverschiebende Übersetzung von Heideggers Wort ‚Destruktion‘ als Destruktion der Ontologie, das auch nicht Annullierung, Vernichtung der Ontologie bedeutet, sondern eine Strukturanalyse der traditio‐ nellen Ontologie.“ 31 Möglicherweise bedeutet auch Pirandellos smontatura nicht mehr und nicht weniger als eine kritische Strukturanalyse - des Kosmos, der Wirklichkeit, des Subjekts -, die ihre tragischen und ihre komischen Seiten hat. Denn die Ambivalenz des umorismo besteht darin, daß er Tragik und Komik so fest miteinander verklammert, daß er eindimensional - d. h. als Komödie oder „Humor“ im kommerziellen Sinne - überhaupt nicht zu verstehen ist. Dies wird in Pirandellos bekanntem Aufsatz klar, wo Cervantes’ Don Quijote-Roman - zusammen mit Werken wie Sternes Tristram Shandy - als humoristisches Werk erscheint, das Komik und Tragik, Lachen und Schmerz zusammenführt. Von dem zu sich gekommenen, reflektierenden Ritter aus der Mancha heißt es dort: „Er sieht sich und lacht über sich selbst: Es lachen alle seine Schmerzen. Ah, verrückt! verrückt! verrückt! Fort, ins Feuer mit allen Ritterromanen! “ 32 „Es 7.2 Unamuno und Pirandello als „umoristi“ und „humoristas“ 187 <?page no="188"?> 33 Ibid. 34 Ibid., S.-145. 35 R. Musil, Gesammelte Werke V, Hamburg, Rowohlt, 1978, S.-1939. 36 V. Woolf, Orlando, Oxford, Univ. Press, 1992, S.-294-295. lachen alle seine Schmerzen“: Dieser Satz, der die von Nietzsche, Baudelaire und Dostoevskij begründete spätmoderne Problematik weiterentwickelt, drückt die extreme Ambivalenz als Einheit der Gegensätze ohne Synthese aus. Sie wird von der Reflexion, vom selbstkritischen Nachdenken des Subjekts über sich selbst begleitet: „Denn die Reflexion, eine Frucht bitterer Erfahrung, gab dem Autor das Gefühl der Gegensätzlichkeit ein (il sentimento del con‐ trario), das ihn sein Unrecht erkennen läßt und dazu führt, daß er sich selbst bestraft, indem er sich dem Gelächter der anderen aussetzt.“ 33 Vom Autor selbst ist hier die Rede und nicht nur von seinem Helden, denn die Autorinnen und Autoren des umorismo - von Virginia Woolf und Simone de Beauvoir bis Svevo und Musil - kennen alle die bittere Erfahrung, die das selbstkritische Lachen und das Nachdenken über den Roman als Form einleitet. Pirandello unterscheidet den umorismo von einer rhetorischen Ironie oder Satire, die ein „sentimento del contrario“ 34 nicht kennt. Gerade in diesem Kontext könnte aber Musils Ironie-Begriff dem des umorismo angenähert werden. Denn für Musil ist Ironie Selbstreflexion und Lachen über sich selbst in einem: „Ironie ist: einen Klerikalen so darstellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist, einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: das bin ich ja zum Teil selbst. Diese Art Ironie die konstruktive Ironie ist im heutigen Dtschld. ziemlich unbekannt. (…) Man hält Ironie für Spott u[nd] Bespötteln.“ 35 Diese „rhetorische“ Ironie grenzt Pirandello gegen seinen selbstkritischen umorismo ab. Aber in Musils reflexiver Ironie hätte er möglicherweise eine Variante des umorismo erkannt. Dieser begleitet auch den Erzählerdiskurs in Virginia Woolfs selbstkritischem und selbstironischem Antiroman Orlando, der zusammen mit dem individuellen Subjekt die biographische Romanform in Frage stellt. Von der androgynen Hauptfigur Orlando heißt es an entscheidender Stelle: „For she had a great variety of selves to call upon, far more than we have been able to find room for, since a biography is considered complete if it merely accounts for six or seven selves, whereas a person may well have as many thousand.“ 36 Der umorismo dieser Passage, der auch als Musilsche Ironie zu lesen wäre, besteht in der ambivalenten und dekonstruktiven Erkenntnis, daß der biographische Roman bei gründlicher Betrachtung zerfällt, weil Heldin und Held nicht die üblichen sechs Seelen in ihrer Brust vereinigen, sondern unzählige. Diese sind aber im 188 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="189"?> 37 W. Schabouk, „Relativismus und Perspektivismus. Zum Standort des Erzählers bei Pirandello, Kafka und V. Woolf“, in: M. Rössner, F.-R. Hausmann (Hrsg.), Pirandello und die europäische Erzählliteratur des 19. und 20.-Jahrhunderts, op. cit., S.-119. 38 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp, 1951, 1970, S.-76. 39 G. Mazzacurati, Pirandello nel romanzo europeo, Bologna, Il Mulino, 1987, S.-196. 40 Ibid., S.-190. 41 C. Vicentini, L’estetica di Pirandello, Milano, Mursia, 1985 (2. Aufl.), S.-115. 42 Zur Avantgarde als Strömung innerhalb des Modernismus vgl. A. Eysteinsson, The Concept of Modernism, Ithaca-London, Cornell Univ. Press, 1990, S.-177: „In that case, ‚modernism‘ is necessarily the broader term, while the concept of the ‚avant-garde‘ has proven to enjoy a good deal of ‚free play‘ within the overall reach of modernism. At the same time, nothing that is modernist can escape the touch of the avant-garde.“ Roman als biographischer oder autobiographischer Gattung nicht darstellbar, und die Romanform als solche erscheint fragwürdig. Dies gilt auch für Pirandellos Roman-Antiroman Uno, nessuno e centomila, der den umorismo als Ambivalenz, Selbstreflexion, Subjekt- und Romankritik auf die Spitze treibt. „Uno, nessuno e centomila ist in vieler Hinsicht eine Art ‚summa‘ des Pirandelloschen Denkens“, stellt Werner Schabouk fest und sagt über Pirandello: „Er selbst hatte den Roman in der ersten Phase der Konzeption um 1912 als ‚profondamente umoristico‘ bezeichnet.“ 37 Der Roman ist vor allem deshalb humoristisch, weil er - analog zur Kopernikanischen Wende - dem Einzelsubjekt vor Augen führt, wie sehr seine Einheit auf Selbsttäuschung oder auf dem Meinungsterror der anderen gründet. Diese Erkenntnis ist einerseits komisch, weil sie die „Persönlichkeit als Lebenslüge“ 38 enttarnt und die kollek‐ tive Illusionsbildung zerfallen läßt; sie ist andererseits tragisch, weil sie das Ich des Helden zerstört. Sie ist dekonstruktivistisch avant la lettre, weil sie zeigt, daß metaphysische Begriffe wie „Subjekt“, „Persönlichkeit“ oder „Charakter“ einer kritischen Ana‐ lyse nicht standhalten. Es ist wohl kein Zufall, wenn Giancarlo Mazzacurati im Zusammenhang mit Il fu Mattia Pascal (1904) von einer „Zerfallsstruktur“, einer „struttura di de-composizione“ 39 , spricht und diesen Roman als Antiroman liest: als „Beispiel für einen Roman als praktische Kritik seiner eigenen ‚Gat‐ tungsnormen‘“. 40 Komplementär dazu äußert sich Claudio Vicentini, wenn er das humoristische Werk als anti-organische Einheit liest, als „opera (…) priva di organicità“. 41 Diese Charakteristik ist wohl auf alle modernistischen Texte anwendbar, die diese Bezeichnung verdienen - nicht nur auf die avantgardistischen. 42 Daher erscheint Pirandellos umorismo als eine Synekdoche für die gesamte modernistische oder spätmoderne Problematik, wie sie hier dargestellt wurde. Denn er vereinigt - gleichsam als pars pro toto - die wesentlichen Aspekte 7.2 Unamuno und Pirandello als „umoristi“ und „humoristas“ 189 <?page no="190"?> 43 M. de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, Madrid, Espasa-Calpe, 1967 (11. Aufl.), S.-231. 44 Ibid., S.-236. 45 Ibid., S.-237. dieser Konstellation: Ambivalenz als unaufhebbare Einheit der Gegensätze, Reflexion und Selbstreflexion, Kritik der Metaphysik und des metaphysischen Subjektbegriffs sowie Kritik am organischen Kunstwerk. Indem das individuelle Subjekt die von der Ambivalenz ausgelöste Krise der Werte reflektiert, beginnt es, am objektiven Begriff der Wirklichkeit und an seiner eigenen Einheit zu zweifeln. Zugleich erkennt es in seiner Wirklichkeit eine nur mögliche Konstruktion, der die Selbstkonstruktion des eigenen Ichs entspricht. In diesem Kontext erscheint Unamuno als spanischer humorista und als spätmoderner Geistesverwandter Pirandellos. In seinem Buch Del sentimiento trágico de la vida (1913), das ein Jahr vor Niebla erschien, wird der fahrende Ritter Don Qujote - eine „ente de ficción“, wie es später in Niebla heißt - aus der Sicht eines humorista porträtiert, dessen Denken wie das seines italienischen Zeitgenossen vom „Gefühl des Gegenteils“ geprägt ist. In Quijotes Gestalt verschmelzen Tragik und Komik, Trauer und Gelächter: „Und die andere Tragödie, die menschliche und zwischenmenschliche Tragödie, ist die Don Quijotes, dem sie das Gesicht eingeseift haben, damit die Dienerschaft der Herzöge und die Herzöge selbst - darin selbst Diener - über ihn lachen. ‚Hier ist der Narr‘, sagen sie sich -. Und die komische, irrationale Tragödie geht aus der Leidenschaft des Lachens und der Verachtung hervor.“ 43 Don Qujotes Wahnsinn, der, wie Unamuno bemerkt, aus der vergeblichen Auflehnung des Mittelalters gegen die anbrechende Moderne hervorgeht 44 , ist tragisch und komisch zugleich, weil er einerseits Werte wie Ehre, Verantwortung und Selbstlosigkeit verteidigt, andererseits erkennen läßt, daß diese Werte dem sich durchsetzenden Besitzindividualismus zum Opfer fallen und nicht mehr zu retten sind. Insofern aber, als an ihrer Bedeutung, ja an ihrer Aktualität nicht zu zweifeln ist, ist - nach Unamuno - der Don Quijote, der sich nicht bekehrt hat, der in seinem Wahn verharrt, weiterhin eine ernst zu nehmende Gestalt, die nicht stirbt, der wir folgen sollten, auch auf die Gefahr hin, daß wir uns dem Gelächter der Menge aussetzen: „Dieser hat sich nicht bekehrt; er ermuntert uns weiterhin, uns dem Gelächter auszusetzen; er darf nicht sterben“. 45 Mit anderen Worten: Das Lachen, mit dem der Humorist Quijote begegnet, ist ein trauriges Lachen, das seine Paradoxien selbstironisch reflektiert. Pirandello scheint an Unamunos Gedankengänge anzuknüpfen, wenn er auf die Ambivalenz des Lachens eingeht, das Don Quijote beim umorista auslöst. 190 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="191"?> 46 L. Pirandello, „L’umorismo“, op. cit., S.-129. 47 Zur Wertproblematik bei Proust und Sartre vgl. P. V. Zima L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L’Harmattan, 2002 (2. Aufl.) sowie ders., Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia und Camus, Trier, WVT, 2004 (2. Aufl.). Wir möchten lachen, aber ins Lachen mischt sich dessen Gegenteil: „Wir möchten lachen, doch das Lachen kommt nicht lauter und leicht über unsere Lippen; wir spüren, daß sich ihm etwas in den Weg stellt; es ist ein Gefühl des Erbarmens, des Leidens und auch der Bewunderung; denn wenn auch die heroischen Abenteuer dieses armen Ritters außerordentlich lächerlich sind, so ist kaum daran zu zweifeln, daß er selbst in all seiner Lächerlichkeit wirklich heldenhaft ist.“ Und Pirandello beschließt seine Analyse „humoristisch“, wenn er hinzufügt: „Durch das Komische hindurch bahnt sich auch hier das Gefühl der Gegensätzlichkeit seinen Weg.“ 46 Liest man Pirandellos L’umorismo und Unamunos Del sentimiento trágico de la vida parallel, so versteht man beide Texte besser. Der italienische Text erscheint als eine Abhandlung über das Tragische aus humoristischer Sicht, und der spanische Text gibt sich als Auseinandersetzung mit dem Komischen und Absurden aus tragischer Sicht zu erkennen. Die Parallelleküre schützt beide Werke vor einer eindimensionalen Rezeption. Sie führt auch dazu, daß der Nexus von Ambivalenz, umorismo und Subjek‐ tivität zutage tritt: Denn beide Autoren verknüpfen die Krise der Werte und der Wirklichkeitsvorstellungen mit der Krise des Subjekts, das seine Kontingenz und Konstruiertheit erkennen muß. Es muß u. a. erkennen, daß seine soziale Persönlichkeit von den anderen konstruiert wird - und von jedem anders. Zugleich zeichnet sich aber die Möglichkeit ab, aus der Not der Kontingenz eine ästhetische Tugend zu machen und auf die Krise des Einzelsubjekts mit der fiktionalen Selbstkonstruktion zu antworten. Wie Proust, wie später der junge Sartre 47 , reagieren Unamuno und Pirandello auf den „Zerfall der Werte“ (Broch), auf Ambivalenz, Kontingenz und Subjekt-Krise mit einem fiktionalen Schreiben, das seine Konstruktionen reflektiert und als ästhetischer Entwurf zur Selbstkonstruktion des Subjekts wird. Sowohl Niebla als auch Uno, nessuno e centomila können in diesem Zusammenhang als reflexive und konstruktivistische Reaktionen auf die Krisenerscheinungen der Spätmoderne (des Modernismus) gelesen werden. 7.2 Unamuno und Pirandello als „umoristi“ und „humoristas“ 191 <?page no="192"?> 48 M. de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, op. cit., S.-73. 49 Zur junghegelianischen Aufwertung der Natur vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjekti‐ vität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2017 (4. Auf.), Kap. II, 3. 50 M. de Unamuno, Niebla (Nivola), Madrid, Espasa-Calpe, 1978 (16. Aufl.), S.-12. 51 Ibid. 7.3 Niebla oder die Selbstkonstruktion des Subjekts Niebla ist insofern als ästhetische Antwort auf Unamunos Del sentimiento trágico de la vida zu lesen, als in dieser Schrift die rational nachweisbare Unmöglichkeit menschlicher Unsterblichkeit auf tragische Art mit dem Streben des Einzelsubjekts nach Ewigkeit konfrontiert wird. In ihrem Mittelpunkt steht Nietzsches und Kierkegaards These, der zufolge systematische Wissenschaft die Existenz des Einzelnen nicht rechtfertigen kann. Im Gegenteil, wissenschaft‐ liche Vernunft negiert sein Streben nach Unsterblichkeit: „Wie man die Sache auch betrachtet, stets zeigt sich, daß sich die Vernunft unserem persönlichen Streben nach Unsterblichkeit entgegenstellt und uns widerspricht. Und darin ist die Vernunft im Extremfall eine Feindin des Lebens.“ 48 Der letzte Satz mag eine nachhegelianische Vereinfachung sein, die aus dem Zerfall der Hegelschen Geschichtsauffassung und den junghegelianischen Reak‐ tionen auf diesen Zerfall 49 hervorgeht. Tatsache ist aber, daß das Einzelsubjekt an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in zunehmendem Maße auf sich selbst gestellt ist und selbst die Frage nach Sinn und Wert beantworten muß. Diese Frage stellt sich nahezu allen Modernisten in einer von der Ambivalenz und der Krise der Werte erfaßten Kultur, in der alle wertenden Gegensätze nietzscheanisch angezweifelt werden. Auf diese Ambivalenz als Krise reagiert Unamunos Roman mit Ambivalenz als Kritik: als „bufonada trágica“ oder „tragedia bufa“ 50 , wie es in Víctor Gotis „Prolog“ heißt. Diese ambivalente, tragikomische Gesinnung geht aus einem „mürrisch-rauhen, alles vermengenden Humorismus“, „adusto y áspero humo‐ rismo confusionista“ 51 hervor, der so sehr Bitterkeit und Heiterkeit, „Galle“ und Ironie vermischt, daß er am Ende als zweiwertiger malhumorismo erscheint. Vom Autor des Niebla-Romans sagt Goti, der als fiktive Gestalt in die Roman‐ handlung eingeht: „Y no admite eso de la ironía sin hiel ni del humorismo discreto, pues dice que donde no hay alguna hiel no hay ironía y que la discreción está reñida con el humorismo, o, como él se complace en llamarle: malhumorismo.“ („Und er will nichts hören von dieser Ironie ohne Galle, noch von dem sogenannten feinen diskreten Humor, denn er sagt, da, wo die Galle fehle, gäbe es auch keine Ironie, und er behauptet, daß die Diskretion stets mit dem Humor oder, wie er sich auszudrücken liebt, mit dem ‚Unhumor‘ im Streite 192 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="193"?> 52 Ibid. (M. de Unamuno, Nebel, Berlin, Ullstein, 1997 [3. Aufl.], S.-24.) 53 In dem hier entworfenen Zusammenhang sind die Vergleiche mit dem frühen Sartre aufschlußreich. Vgl. z. B. A. Serrano-Plaja, „Nausea y Niebla (Sartre y Unamuno)“, in: Revista de Occidente 26, 1969. 54 M. de Unamuno, Niebla, op. cit., S.-20. (Nebel, op. cit., S.-7.) läge.“) 52 Hätte nicht auch Pirandello seinen umorismo, den er immer wieder gegen eine platte Lachkultur abgrenzt, als malumorismo bezeichnen können? Im folgenden geht es nicht darum, alle Aspekte dieses vieldiskutierten Romans 53 zu untersuchen, sondern darum zu zeigen, wie sich das erzählende Subjekt durch eine radikale Kritik an der realistisch-metaphysischen Wirklich‐ keits- und Subjektauffassung neu konstituiert. Die grundsätzliche Ambivalenz des Romans besteht darin, daß er die Krise des Subjekts humoristisch-malhu‐ moristisch in ein neues Konstruktionsprinzip verwandelt. Er ist Dekonstruktion und Rekonstruktion des Romansubjekts in einem. Ambivalenz schleicht sich dekonstruktiv in den tradierten Gegensatz von Wirklichkeit und Fiktion ein, wenn es in der von Unamuno später (1935) dem Roman vorangestellten „Historia de Niebla“ im Zusammenhang mit Don Quijote heißt: „¿Ente de ficción? ¿Ente de realidad? De realidad de ficción, que es ficción de realidad.“ („Ein Geschöpf der Phantasie? Ein Geschöpf der Wirklichkeit? Die Wirklichkeit der Phantasie ist die Phantasie der Wirklichkeit.“) 54 Realität und Fiktion erscheinen hier als untrennbar, als „confundidas“ im Sinne des „humorismo confusionista“, der nicht als „Verwirrung“ oder „Verwechslung“, sondern als Einheit der Gegensätze ohne Aufhebung zu verstehen ist. In diesem Kontext sollte auch der in Klammern gesetzte Untertitel des Romans gelesen werden: Nivola. Er evoziert als Neologismus nicht nur das spanische Wort für Roman - novela -, sondern auch den Haupttitel Niebla, der nicht nur Nebel, sondern auch Verwirrung bedeuten kann. Diese wird hier analog zum „humorismo confusionista“ als eine weitere Metapher für extreme Ambivalenz oder Einheit der Gegensätze gelesen. Eine sich selbst dekonstruierende Einheit verkörpert der Romanheld Augusto Pérez, der als wandelnde Paradoxie auftritt: Zwar ist er als Angehöriger der oberen Mittelschicht und im Vergleich mit den damaligen spanischen Romanhelden für eine steile soziale Karriere, für Erfolg und Erotik geradezu prädestiniert. Aber zu diesem sozialen Aspekt gesellt sich dekonstruktiv dessen Gegenteil, denn Augusto Pérez „lebt politisch abstinent und bleibt bis zu seinem Ende ein Theoretiker in Frauenfragen, der in unendlichen Selbstgesprächen und im Dialog mit befreundeten Ratgebern (hauptsächlich mit Víctor Goti) all die Möglichkeiten der Beziehung zwischen Mann und Frau in Gedanken 7.3 Niebla oder die Selbstkonstruktion des Subjekts 193 <?page no="194"?> 55 G. Müller, „Unamuno. Niebla“, in: V. Roloff, H. Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.), Der spani‐ sche Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf, Schwann-Bagel, 1986, S.-295. 56 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders., Gesammelte Werke I, Hamburg, Rowohlt, 1978, S.-17. 57 M. de Unamuno, Tres novelas ejemplares y un prólogo, Madrid, Espasa Calpe, 1999 (23. Aufl.), S. 50. Vgl. auch: Azorín ( J. M. Ruiz), Voluntad, in: ders., Obras Completas I, Madrid, Aguilar, 1947-60. In diesem Roman wird die Willensschwäche als ein spanisches Phänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts dargestellt. Es handelt sich jedoch um ein Phänomen der Spätmoderne oder des Modernismus, wie die Romane Prousts, Musils, Pirandellos und Svevos zeigen. Unamunos noluntad erinnert in vieler Hinsicht an Svevos inettitudine und an den Charakter des inetto. durchspielt, die ein señorito vom Schlage des Juanito Santa Cruz in der Praxis erprobt hatte“. 55 Zu Recht vergleicht Gerhard Müller diesen passiven Helden Unamunos mit anderen willensschwachen Romanfiguren der Generación del 98. Augusto Pérez ist aber auch ein modernistischer Geistesverwandter von Prousts Marcel, Svevos Zeno Cosini, Pirandellos Vitangelo Moscarda und Musils Ulrich. Alle diese Antihelden stehen im Gegensatz zu den hombres de acción spanischer Abenteuerromane oder zu den aktiven Helden des Balzacschen Realismus (z. B. Vautrin). Als „Möglichkeitsmenschen“ sind sie Schicksalsgefährten des Mannes ohne Eigenschaften, von dem Musils Erzähler sagt: „Ein solcher Mann ist aber keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit.“ 56 Dies gilt auch für Augusto Pérez, der - ähnlich wie Ulrich oder Zeno Cosini - auf die vita activa verzichtet, um sich essayistisch mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Dabei wendet er seinen „Möglichkeitssinn“ (Musil) und seinen Essayismus sowohl auf die Wirklichkeit als auch auf sich selbst und die anderen an. Seine Überlegungen zur Konstruktion des Realen und des Subjekts überschneiden sich mit denen Pirandellos in Il fu Mattia Pascal und nehmen den dekonstruktiven Konstruktivismus Vitangelo Moscardas vorweg. Dieser Konstruktivismus ist durchaus als (mal-)humoristische Attitüde zu verstehen, weil er einerseits die vita activa der großen Helden (Stendhals, Balzacs, Scotts) parodiert und den Antihelden in einem komischen Licht erscheinen läßt, und weil er andererseits die aktive Selbstverwirklichung des Helden blockiert. Den modernen Willen (voluntad) zur Selbstverwirklichung verdrängt bei den Autoren der Generación del 98 der Verzicht auf Willensäußerung oder die noluntad, wie Unamuno an anderer Stelle sagt: „Hay héroes del querer no ser, de la noluntad.“ („Es gibt Helden des Selbstverzichts, des Nichtwillens.“) 57 Diese essayistisch-humoristische Situation stellt anschaulich eine Passage aus Niebla dar. Augusto folgt verträumt einer attraktiven jungen Dame und stellt 194 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="195"?> 58 M. de Unamuno, Niebla, op. cit., S.-60. (Nebel, op.cit., S.-96-97.) 59 Ibid. (Ibid., S.-97.) 60 Ibid., S.-102. (Ibid., S.-177.) fest, daß der andere uns nur als unsere Konstruktion erscheint und daß jeder für den anderen ein anderer ist. Er selbst wird zu diesem anderen und sieht sich mit fremden Augen: „Soy otro, soy el otro - prosiguió Augusto mientras seguía a la de la cesta -; pero ¿es que no hay otras? ¡Sí, hay otras para el otro! Pero como la una, como ella, como la única, ¡ninguna! Todas éstas no son sino remedios de ella, de la una, de la única, ¡de mi dulce Eugenia! “ („‚Ich bin der andere, ich selbst‘, fuhr Augusto fort, während er dem Mädchen mit dem Korb folgte. ‚Aber gibt es denn nicht auch andere für mich? Aber gewiß doch, es gibt andere für den anderen! Doch so eine wie sie, die einzige, gibt es keine! Keine mehr! Sie alle sind nur ein Notbehelf für sie, die einzige, meine süße Eugenia‘.“) 58 Das humoristische oder „malhumoristische“ Hauptproblem besteht in diesem Fall darin, daß die von Augusto verehrte Eugenia schon einen novio, einen Geliebten hat, so daß sich Augusto als Möglichkeitsmensch mit der von ihm konstruierten Schimäre begnügen muß. Denn es gibt zwei „Eugenias“: „¿Hay una sola Eugenia, o son dos, una la mía y otra la de su novio? Pues si es así, si hay dos, que se quede él con la suya, y con la mía me quedaré yo.“ („Gibt es nur eine Eugenia oder zwei: eine, die mir gehört, und eine andere, die ihr Verlobter besitzt? Nun wohl, wenn es so ist, wenn es wirklich zwei gibt, so mag er doch seine behalten, ich behalte die meine.“) 59 Diesen Sätzen fehlt es nicht an Komik: Denn in Wirklichkeit gibt es nur die eine Eugenia des novio, der sie heiraten wird. Dabei geht der Träumer - wie immer - leer aus. Oder doch nicht? Möglicherweise ist die Eugenia des Träumers „die richtige“, und der novio heiratet ein Phantom, das er frei erfunden hat, so wie später, in Uno, nessuno e centomila, Dida ihren Gengè, alias Vitangelo Moscarda, erfindet. Aber auch Augustos Schimäre ist wohl nur eine Konstruktion - und nicht mit der Wirklichkeit identisch. Wo ist die Wirklichkeit? Diese Frage beschäftigt Augusto Pérez so sehr, daß sie seine eigene Identität erfaßt, und der modernistische Roman wird zu einer Paraphrase von Rimbauds bekanntem Satz „Je est un autre“: „¡Tú no eres tú! ¡Yo no soy yo! Y esos pobres árboles, ¿son ellos? “ („Du bist nicht mehr du. Ich bin nicht ich selbst! Und diese armen Bäume, sind sie noch sie selbst? “) 60 Die Wirklichkeit und das eigene Ich geraten in Bewegung und gleichen Heraklits Fluß, der jeden Augenblick ein anderer ist. Das Subjekt entdeckt sich selbst als Fiktion („ente de ficción“) und faßt die Wirklichkeit als ein Ensemble von Fiktionen auf. 7.3 Niebla oder die Selbstkonstruktion des Subjekts 195 <?page no="196"?> 61 Ibid., S.-147. (Ibid., S.-264.) 62 Ibid., S.-96. (Ibid., S.-165.) 63 Zu den surrealistischen und existantialistischen Reaktionen auf die Entwertung der Sprache vgl. Vf., Der gleichgültige Held, op. cit., Kap. II und IV. Explizit wird Descartes’ cogito-Argumentation umgekehrt, wenn es gegen Ende des Romans heißt, der Begründer des modernen Rationalismus sei eine Fiktion oder Erfindung der Geschichte gewesen: „Porque como Descartes no ha sido más que un ente ficticio, una invención de la historia, pues … ¡ni existió … ni pensó! “ („Denn da Descartes ja nur eine Fiktion ist, eine Erfindung der Geschichte ist, hat er weder existiert … noch gedacht.“) 61 Dieses Mißtrauen, mit dem der modernistische Roman sowohl dem Subjekt (dem subjektiven cogito) als auch dessen Wirklichkeit begegnet, hängt nicht nur mit der ästhetischen Ablehnung realistisch-mimetischer Verfahren, sondern - wie schon bei Nietz‐ sche - auch mit der Krise der kulturellen Werte und der Sprache als deren Artikulation zusammen. Der Zweifel an der Sprache ist es, der sowohl Nietzsche als auch seine spät‐ modernen Nachfahren an Subjektivität, Wirklichkeit und Wahrheit zweifeln läßt. Im 18. Kapitel von Niebla stößt der Leser auf einen Monolog des Helden Augusto, der zwar weder die Ansichten Unamunos noch die des Erzählers wiedergibt, aber als spätmodern-nietzscheanische Diagnose für den Roman als ganzen charakteristisch ist: „No hay más verdad que la vida fisiológica. La palabra, este producto social, se ha hecho para mentir. Le he oído a nuestro filósofo que la verdad es, como la palabra, un producto social, lo que creen todos, y creyéndolo se entienden. Lo que es producto social es la mentira.“ („Es gibt keine andere Wahrheit als die Physiologie. Das Wort, ein soziales Produkt, wurde für die Lüge geschaffen. Ich habe einen unserer Philosophen sagen hören, daß die Wahrheit, ebenso wie das Wort, dieses soziale Produkt ist, an das alle glauben, und indem sie es glauben, verständigen sie sich. Die Lüge ist also auch ein soziales Produkt.“) 62 Man stößt auf zahlreiche vergleichbare Passagen bei Hugo von Hofmannsthal, den Surrealisten, Sartre und Camus. 63 Da die von Kommerz, Arbeitsteilung und ideologischen Konflikten entwertete Sprache nicht mehr als wirklich empfunden wird, findet sich das individuelle Subjekt in einer sprachlichen Situation wieder, in der es nichts Wahres mehr ausdrücken kann, die Wirklichkeit nicht mehr zu erfassen vermag (weil es sich beim Lügen ertappt) und die eigene Subjektivität daher als schimärenhaft empfindet. Zugleich empfindet es sich als zufallsbedingt und kontingent. Wie bei Piran‐ dello, Svevo und Moravia spielt auch bei Unamuno der Zufall eine zentrale Rolle. Immer wieder wird Augusto Pérez mit dem Zufall, dem azar, konfrontiert: „¡El azar! El azar es el íntimo ritmo del mundo, el azar es el alma de la poesía.“ 196 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="197"?> 64 M. de Unamuno, Niebla, op. cit., S.-31. (Nebel, op. cit., S.-43.) 65 F. Nietzsche, „Wir Philologen“, in: ders., Werke V, op. cit., S.-327. 66 Vgl. die entsprechende Passage in G. W. F. Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, 1986, S. 22, wo von der Weltgeschichte behauptet wird, „daß Vernunft in derselben ist (…), daß die Welt der Intelligenz und des selbstbewußten Wollens nicht dem Zufalle anheimgegeben sei, sondern im Lichte der sich wissenden Idee sich zeigen müsse“. 67 Zum Begriff der „causalité événementielle“ vgl. T. Todorov, „Poétique“, in: O. Ducrot u.-a., Qu’est-ce que le structuralisme, Paris, Seuil, 1968, S.-124-125. 68 G. Müller, „Unamuno. Niebla“, op. cit., S.-302 und S.-299. („Der Zufall! Der Zufall ist der tiefste Rhythmus dieser Welt, der Zufall ist die Seele der Poesie.“) 64 Ohne es zu ahnen, spricht der verliebte Held, der hier von seiner „azarosa Eugenia“ schwärmt, ein zentrales Problem der modernistischen Literatur an: die Auseinandersetzung mit der Kontingenz. In einer Situation, in der Sprache und Subjektivität ihren Wahrheitsgehalt einbüßen, drängt sich die Frage nach der Kontingenz der Subjekte auf. „Die Menschen sind offenbar zufällig auf der Welt: es zeigt sich keine Notwendigkeit höherer Art in ihnen“ 65 , bemerkt Nietzsche. Diese Einsicht in die Zufallsbedingtheit individueller Subjektivität, die Hegel noch historisch absichern wollte 66 , führt nun in der spätmodernen Literatur und Philosophie einen Wendepunkt herbei, den Unamunos und Pirandellos Romane nachvollziehen. Auf die Kontingenzerfahrung, die aus der Krise des Wert- und Sprachsystems hervorgeht, reagieren sie mit einem radikalen Konstruktivismus avant la lettre: Wenn der Mensch zufällig auf der Welt ist, argumentieren sie vorexistentialistisch, so ist er seines eigenen Schicksals Schmied und soll sich selbst in einem originären Entwurf erfinden. Dieser Entwurf trägt in Unamunos Roman die Namen Niebla und nivola. Während das Wort niebla (Nebel, Verwirrung) als Metapher für „Fiktion“ (S. 158) oder als „Einheit der Gegensätze“ (S. 12) gelesen werden kann, bezieht sich das phonetisch verwandte, parodistische Wort nivola auf die Romangattung oder besser: auf den Bruch mit ihr. Denn Niebla bricht nicht nur mit der mime‐ tisch-realistischen novela des 19. Jahrhunderts, sondern stellt als Antiroman eine neue, modernistische Textsorte dar, die den anekdotisch konstruierten, erzählenden Roman mit seiner causalité événementielle 67 in Frage stellt. Deshalb spricht Gerhard Müller zu Recht von einem „Anti-Roman“ und von einer „Desavouierung der Beschreibungsmanier des realistisch-naturalistischen Romans“. 68 Wie Pirandellos und Svevos Spätwerk legt Unamunos Niebla die narrativen und illusionsbildenden Verfahren der Romangattung bloß und pro‐ blematisiert dadurch einen narrtiven Diskurs, der sich mit der Wirklichkeit iden‐ tisch wähnt. Zugleich stellt der experimentelle Text den ideologischen Diskurs 7.3 Niebla oder die Selbstkonstruktion des Subjekts 197 <?page no="198"?> 69 Zur Struktur des ideologischen Diskurses vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurs‐ kritik, Tübingen-Basel, Francke, 1989, Kap. VIII. 70 J. Alazraki, „Motivación e invención en ‚Niebla‘ de Unamuno“, in: Romanic Review 58, 1967. 71 M. de Unamuno, Niebla, op. cit., S.-92. 72 Ibid., S.-92. (Ibid., S.-158.) 73 Ibid., S.-91. (Ibid., S.-157.) 74 Ibid. 75 Ibid., S.-160. (Ibid., S.-290.) bloß, der sich nicht nur der Wirklichkeit gleichsetzt, sondern auch dualistisch und monologisch Wahrheiten verkündet. 69 Gerade diese Wahrheiten werden aber von einem spätmodernen Roman wie Niebla angezweifelt: zusammen mit dem Subjektbegriff und dem Wirklichkeitsbegriff. Doch der Subjektbegriff wird nicht auf postmoderne Art aufgelöst oder aufgegeben. Im Gegenteil, er wird durch sprachliche „Erfindung“ („invención“, wie Jaime Alazraki sagt) 70 neu begründet - ähnlich wie in Prousts Recherche oder in Sartres La Nausée. 71 Denn Unamunos erzählendes Subjekt entdeckt, wie später Sartres Ich-Erzähler Antoine Roquentin, daß Sinn und Zusammenhang nicht in der historischen oder sozialen Wirklichkeit zu finden sind, sondern auf fiktionaler Ebene erfunden, konstruiert werden müssen. Im 17. Kapitel erzählt Víctor Goti seinem Freund Augusto Pérez, daß er einen Roman schreibt. Auf Augustos Frage, wie denn dieser Roman beschaffen sein werde, antwortet er, es werde nicht ein Roman der Handlung, sondern ein Roman des Dialogs sein: „Lo que hay es diálogo; sobre todo diálogo“. („Es gibt darin viele Dialoge; vor allem Dialoge.“) 72 Seine Darstellung der Protagonisten und Charaktere erinnert an Musils Der Mann ohne Eigenschaften: „Y a las veces su carácter será el de no tenerlo.“ („Ja, zuweilen sollte ihr Charakter darin bestehen, keinen zu haben.“) 73 Augusto erkennt sich in dieser Skizze und sagt: „Sí, como el mío.“ („So wie der meine.“) 74 Er ist nicht nur ein Möglichkeitsmensch, sondern auch ein „Mann ohne Eigenschaften“ und ein Träumer, der nicht in der Lage ist, die verwirrende, formlose Wirklichkeit durch fiktionale Formgebung zu bezwingen. Dadurch unterscheidet er sich sowohl von Prousts Marcel als auch von Sartres Roquentin. Ein Vorläufer dieser beiden Romangestalten ist jedoch Unamunos Ich-Er‐ zähler (der fiktive Unamuno), der nach dem von ihm inszenierten Selbstmord Augustos im 31. Kapitel auf den Plan tritt und den personalen Erzähler ablöst: „Cuando recibí el telegrama comunicándome la muerte del pobre Augusto (…).“ („Als ich das Telegramm mit der Nachricht vom Tode des armen Augusto erhielt …“) 75 Augusto erscheint dem Autor-Erzähler im Traum und bittet ihn, die nivola seiner „Abenteuer“ zu schreiben. Don Miguel antwortet: „¡Ya está 198 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="199"?> 76 Ibid., S.-161. (Ibid., S.-290.) 77 A. F. Zubizarreta, Unamuno en su nivola, Madrid, Taurus, 1960, S. 142. Zugleich ist der Mensch als Autor, als Schöpfer seiner Werke ein „Sohn seiner Protagonisten“: „hijo de sus personajes“: S. 148. In diesem Zusammenhang ist auch Unamunos Schrift Como se hace una novela, 1927 wichtig, in welcher der Selbstschaffungsprozeß in allen Einzelheiten beschrieben wird: „Und ich will dir, Leser, erzählen wie man einen Roman macht, wie du selbst deinen Roman machst und machen sollst.“ (M. de Unamuno, Wie man einen Roman macht, Graz-Wien, Droschl, 2000, S.-112.) 78 Vgl. P. Köster, Der sterbliche Gott. Nietzsches Entwurf übermenschlicher Größe, Maisenheim-Glan, Hain, 1972, S.-101. escrita! “ („Ich habe sie ja schon geschrieben! “) 76 Dies ist zugleich die Geburt der neuen, konstruktivistischen Subjektivität, die die realistisch-mimetische Subjektivität des 19. Jahrhunderts ablöst. Insofern hat Zubizarreta recht, wenn er im Zusammenhang mit Unamunos Roman von einer „Selbstschaffung des Menschen“, einer „autocreación del hombre“, spricht. 77 Es ist eine nietzscheanische Subjektivität der „Selbstbemächtigung“ 78 , wie Peter Köster im Zusammenhang mit dem Mythos des Übermenschen sagt. Sie geht aus dem zerfallenden Wertsystem und der Krise der Sprache hervor und gründet auf Kierkegaards Überlegung, daß nur der Einzelne in der Lage ist, Sinn zu konstituieren. Dies ist einer der Gründe, weshalb in Niebla das fiktionale Konstruieren von Situationen, Handlungen und Charakteren so stark hervorge‐ hoben wird: Nur die philosophische oder literarische Konstruktion erscheint um die Jahrhundertwende als adäquate Antwort auf die Kontingenzerfahrung des Subjekts, den „Zerfall der Werte“ (Broch) und den Wirklichkeitsverlust. Moder‐ nisten wie Pirandello, Svevo, Proust und Sartre haben später mit vergleichbaren Entwürfen auf diese gesellschaftliche und sprachliche Problematik reagiert. 7.4 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Uno, nessuno e centomila Wie Unamunos Antiroman, wie Huysmans’ A Rebours (1884), dessen Autor ästhetizistisch-modernistisch gegen die Konventionen von Realismus und Na‐ turalismus aufbegehrt, wendet sich Pirandellos Uno, nessuno e centomila gegen die Romankonzeption der Veristen, deren Einfluß er sich entzieht. Mit seinen Ausführungen in „Soggettivismo e oggettivismo nell’arte narrativa“ stellt er die Antithese zur realistisch-naturalistischen Poetik der italienischen Veristen auf, die von der Möglichkeit objektiver Wiedergabe überzeugt waren. In seiner manifestartigen Einleitung zu der Novelle L’amante di Gramigna fordert beispielsweise Giovanni Verga, das Aussagesubjekt möge alle Spuren, 7.4 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Uno, nessuno e centomila 199 <?page no="200"?> 79 G. Verga, „‚Introduzione‘ a L’amante di Gramigna“, in: P. Pullega, Leggere Verga. Antologia della critica verghiana, Bologna, Zanichelli, 1973, S.-361. 80 L. Pirandello, „Soggettivismo e oggettivismo nell’arte narrativa“, in: ders., Saggi, poesie, scritti varii, Milano, Mondadori, 1960, S.-200. 81 L. Pirandello, Il fu Mattia Pascal, Milano, Mondadori, 1983, S. 121. (Mattia Pascal, Berlin, Wagenbach, 2000, S.-111.) 82 Ibid., S.-126. (Ibid., S.-118.) die von seiner Gegenwart zeugen, tilgen, um die Wirklichkeit als solche hervortreten zu lassen: „(…) daß die Hand des Künstlers völlig unsichtbar bleibt, so daß das Kunstwerk einem wirklichen Ereignis gleicht und als aus sich selbst entstanden erscheint“. 79 Auf das Sichtbarmachen des „wirklichen Ereignisses“ kommt es Verga an und auf die völlige Ausblendung des Konstruktionsvorgangs. Pirandello spricht im Zusammenhang mit dieser Variante des Naturalismus, der jede Art von subjektiver Präsenz ausschalten möchte, von der Negation der Persönlichkeit, die deren Apotheose in der Romantik folgt: „Nach dem wahnhaften Triumph der Persönlichkeit nun deren Negation.“ 80 Seine Antwort auf diesen Gegensatz zwischen Persönlichkeitsverherrlichung und Persönlich‐ keitsverneinung ist ein Dekonstruktionsversuch avant la lettre: Subjektivität soll analysiert und dabei in ihre Bestandteile zerlegt werden. Zusammen mit ihr soll auch der literarische Diskurs - ähnlich wie bei Unamuno - als Konstruktionsprozeß erscheinen, der nicht vorgibt, mit der Wirklichkeit oder deren „Ereignissen“ identisch zu sein, sondern unsere monistisch-realistische Wirklichkeitsauffassung einem radikalen Zweifel aussetzt. In Pirandellos Romanen beginnt der Zweifel an der Wirklichkeit der Realisten und Veristen beim Subjekt selbst. Schon Il fu Mattia Pascal (1904) stellt sowohl das individuelle Subjekt als auch die Wirklichkeit und den Roman als „realis‐ tische Geschichte“ oder „realistischen Ablauf von Ereignissen“ grundsätzlich in Frage. Der totgesagte Mattia Pascal, der sich als Adriano Meis eine neue Identität, eine neue Lebensgeschichte zulegt, muß feststellen, daß es ihn als „wirkliche“ Person gar nicht gibt. Er ist seine eigene Erfindung: „Or che cos’ero io, se non un uomo inventato? “ („Was war ich denn jetzt anderes als ein erfundener Mensch? “) 81 Symmetrisch zum Subjekt wird im neunten Kapitel, das den symptomatischen Titel „Un po’ di nebbia“ („Etwas Nebel“) trägt, auch das Objekt - als sein Objekt - zur Konstruktion, zur Fiktion: „Nell’oggetto, insomma, noi amiamo quel che vi mettiamo di noi (…).“ („Kurzum, wir lieben an den Gegenständen das, was wir in sie hineinlegen …“) 82 Das Objekt als solches entzieht sich unserer Erkenntnis; wir kennen es nur als „unser Objekt“. Darauf hat Kant bereits vorkonstruktivistisch hingewiesen; aber Modernisten wie Pirandello gehen noch einen Schritt weiter und stellen die komplementäre 200 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="201"?> 83 M. Maślanka Soro, Il tema della morte nella narrativa di Luigi Pirandello, Firenze, Lalli, 1990, S.-51. 84 M. Schmitz-Emans, „Erzählen als Kunst der Selbstfindung - Pirandellos ‚Mattia Pascal‘ und einige seiner deutschen Verwandten“, in: M. Rössner, F.-R. Hausmann (Hrsg.), Pirandello und die europäische Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, op. cit., S.-176. 85 G. Mazzacurati, Pirandello nel romanzo europeo, op. cit., S.-196. These auf, wonach auch das Subjekt „als solches“, „an sich“ nicht darstellbar ist, sondern nur als Konstruktion des anderen oder der anderen erscheint. Diese Entdeckung, die der Ich-Erzähler von Il fu Mattia Pascal macht, wird - ähnlich wie in Niebla - in einem von der Ambivalenz strukturierten, tragi-komischen Kontext möglich, in dem Leben und Tod, Trauer und Lachen, Identität und Identitätszerfall unauflöslich miteinander verflochten sind. Der trivial-lächerliche Zufall löst eine Lebenstragödie aus, die immer wieder ins Komische umschlägt. Nicht zu Unrecht spricht in diesem Zusammenhang Maria Maślanka Soro von einem „grausamen Scherz des Zufalls“ („crudele scherzo del caso“), 83 denn sowohl Mattia Pascal (alias Adriano Meis) als auch rund zwei Jahrzehnte später Vitangelo Moscarda werden von einem trivialen Zufall humoristisch („malhumoristisch“, könnte Unamuno sagen) einem tragischen Identitätszerfall überantwortet. Ein solcher Zerfallsprozeß, der Subjekt und Wirklichkeit gleichzeitig erfaßt, ist nur in einer sozialen und sprachlichen Situation vorstellbar, deren Wertsystem zerbricht. Auf diese Situation reagiert Pirandello - ähnlich wie Unamuno - mit einem konstruktivistisch-dekonstruktivistischen Antiroman, der auch als Versuch zu werten ist, der Krise der Wirklichkeitsvorstellung, des Subjekts und der Roman‐ gattung auf den Grund zu gehen. Monika Schmitz-Emans sieht es so: „Jenseits der großen realistischen Romantradition, die sich mit Hegelschen Kategorien durchaus treffend beschreiben ließ, beginnt das Spiel der Autoren mit den verschiedenen Möglichkeiten der Konstruktion ihrer Helden - mit Konstrukti‐ onsverfahren, die sich als solche zu erkennen geben und den Entwurfscharakter ihrer Produkte nicht verschweigen. Der repräsentative Romanheld (…) ist gleichsam das ‚Ich‘-in-Arbeit, das vorläufige Ich.“ 84 Komplementär dazu wird der Roman zu einem Antiroman, zu einer „Zerfallsstruktur“ oder „struttura di de-composizione“ 85 , wie Giancarlo Mazzacurati sagt. Wie Niebla ist Pirandellos Uno, nessuno e centomila nahzu ein Idealtypus dieses spätmodernen Textexperiments. Der Roman ist - wie Prousts Recherche, Kafkas Der Prozeß, Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Svevos La coscienza di Zeno und Unamunos Niebla - ein Werk der extremen Ambivalenz. Ähnlich wie bei den anderen Autoren, denen die Vater-Sohn-Beziehung zu einem zentralen 7.4 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Uno, nessuno e centomila 201 <?page no="202"?> 86 L. Pirandello, Uno, nessuno e centomila, Milano, Mondadori, 1985, S. 75. (Einer, keiner, hunderttausend, in: L. Pirandello, Die Ausgestoßene. Einer, keiner, hunderttausend, Gesammelte Werke V, Berlin, Propyläen, 1998, S.-323.) 87 Ibid., S.-77. (Ibid., S.-325.) 88 Ibid. (Ibid.,S. 326.) Thema wird, erscheint auch bei Pirandello der Vater als äußerst ambivalente Figur, die Zärtlichkeit (tenerezza) und Bosheit (malizia) zusammenführt. Hinter dem zärtlichen Gesichtsausdruck verbirgt sich die Fratze (ghigno): „E quella tenerezza per me, affiorando e brillando negli occhi da quel ghigno nascosto, m’appariva ora orribilmente maliziosa: tante chose mi svelava a un tratto che mi fendevano di brividi la schiena.“ („Seine Zärtlichkeit für mich, die aus seinen Augen sprach und zugleich das verborgene Grinsen widerspiegelte, erschien mir jetzt erschreckend boshaft: sie enthüllte mir plötzlich viele Dinge, die mir Schauer über den Rücken jagten.“) 86 Möglicherweise ist das Wort svelare (enthüllen, offenbaren, aufdecken) zu eindimensional; denn es verdeckt die Tatsache, daß sich hinter den Masken der Ambivalenz keine eindeutig bestimmbare „Wirklichkeit“ verbirgt. Die Vatergestalt, die Gegensätze vereinigt, ist nicht auf eine Bedeutung festzulegen - ebensowenig wie die Gestalten in Kafkas, Svevos oder Prousts Romanen. Dem nachdenklich gewordenen Sohn erscheint der verehrte Vater jäh als na‐ turwüchsiges Wesen, dessen kontingent-obszönem Geschlechtstrieb der Sohn seine Existenz verdankt: „Notare com’alcunché d’osceno che ci mortifica, laddove è il padre per noi che si rispetta. Notare, dico, che gli altri non dànno e non possono dare a questo padre quella stessa realtà che noi gli diamo.“ („In dem, was an unserem Vater für uns verehrungswürdig war, gleichsam etwas Obszönes feststellen zu müssen, das uns mit Scham erfüllt. Ich meine, feststellen zu müssen, daß die anderen unserem Vater nicht die gleiche Wirklichkeit geben oder geben können, die wir ihm geben.“) 87 Diese beiden Sätze enthalten in nuce die gesamte Problematik des Romans: die Ambivalenz, den aus ihr hervorgehenden Zweifel an gängigen Wirklichkeitsvorstellungen (realtà) und einen impliziten Konstruktivismus-Dekonstruktivismus, der Wirklichkeit und Subjekt erfaßt. Denn zwischen Vater und Sohn tut sich ein Abgrund auf, und das einst Nahe und Vertraute wird zum Fernen und Fremden: „Quello che stava tanto vicino, eccolo balzato lontano e intravisto là come un estraneo.“ („Der Mann, der uns so nahesteht, ist mit einemmal von uns weit fortgerückt, wir sehen ihn wie einen Fremden.“) 88 Das Wort estraneo gehört zu den Schlüsselwörtern des Romans: Dessen Handlungsablauf beginnt mit der Entdeckung des Helden Moscarda, daß er eine schiefe Nase hat. Doch diese Entdeckung macht er nicht spontan, 202 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="203"?> 89 Ibid., S.-7. (Ibid., S.-263.) 90 Ibid., S.-19-20. (Ibid., S.-274.) 91 Ibid. 92 I. Svevo, La coscienza di Zeno, Milano, Dall’Oglio, 1938, S.-369. 93 Zum Verhältnis von Ambiguität und Ambivalenz vgl. Vf., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, Fink, 1986, 1999, S.-21-28. sondern mit Hilfe seiner Frau Dida, die ihn, während er im Spiegel nach einer kleinen Verletzung sucht, auf diese Unebenheit aufmerksam macht: „Ma sí, caro. Guàrdatelo bene: ti pende verso destra.“ (Gewiß, Liebster. Schau sie dir nur gut an: sie steht schief. Nach rechts.“) 89 In diesem Augenblick tritt Vitangelo Moscarda (den Dida vertraulich-läppisch Gengè nennt) eine verhängnisvolle Reise an: eine Reise in die Welt der anderen, die zu der Entdeckung führt, daß sein Selbstverständnis oder Selbstbild nicht mit den unzähligen Vorstellungen oder Bildern übereinstimmt, die sich andere von ihm machen. Denn Dida macht ihn nicht nur auf seine schiefe Nase aufmerksam, sondern auf weitere Unregelmäßigkeiten seines Körpers (asymmetrische Ohren, ein ungerades Bein usw.), von denen er sich selbst überzeugen kann. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, und Moscarda fängt an, sich mit den Augen Didas zu betrachten. Er wird sich selbst zum Fremden, zum estraneo: „Così volevo io esser solo. Senza me. Voglio dire senza quel me ch’io già conoscevo, o che credevo di conoscere. Solo con un certo estraneo, che già sentivo oscuramente di non poter piú levarmi di torno e ch’ero io stesso: l’estraneo inseparabile da me.“ („Solcherart wollte ich allein sein. Ohne mich. Das heißt, ohne das Ich, das ich bereits kannte oder zu kennen glaubte. Allein mit einem Fremden, den ich, wie ich bereits dunkel fühlte, nicht mehr aus meiner Nähe verbannen konnte und der ich selber war: der von mir untrennbare Fremde.“) 90 Nicht nur der Vater erscheint im Kontext der Ambivalenz als ein Fremder; auch die eigene Subjektivität wird gespalten und sich selbst entfremdet. Parallel zur Frage nach der Identität des Vaters stellt sich die Frage nach dem eigenen Ich: „Chi ero io? “ („Wer war ich denn? “) 91 Sie verweist auf die verwandte, ebenfalls aus der Ambivalenz hervorgehende Frage des spätmodernen Zeno Cosini: „Ero io buono o cattivo? “(„War ich gut oder schlecht? “) 92 Beide Fragen bleiben offen, denn die extreme Ambivalenz kann im Gegensatz zur Ambiguität des psychologischen und realistischen Romans nicht aufgelöst werden. 93 Sie mündet bei Pirandello in ein dekonstruktives Verfahren, das von der Erkenntnis in Gang gesetzt wird, daß die anderen mich ganz anders sehen, als ich mich selbst sehe: „L’idea che gli altri vedevano in me uno che non ero io quale mi conoscevo (…).“ („Die Vorstellung, daß die anderen in mir einen 7.4 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Uno, nessuno e centomila 203 <?page no="204"?> 94 L. Pirandello, Uno, nessuno e centomila, op. cit., S.-24. 95 L. Pirandello, „Stefano Giogli, uno e due“, in: ders., Novelle per un anno III, Firenze, Giunti, 1994, S.-2667. 96 Ibid. 97 Ibid., S.-2668. 98 M. Schmitz-Emans, „Potenzierte Spiegelungen. Zur Fiktionalisierung des erkenntnis‐ kritischen Diskurses bei Pirandello“, in: M. Rössner (Hrsg.), Pirandello zwischen Avantgarde und Postmoderne, op. cit., S.-142. Menschen sahen, der nicht ich war, so wie ich mich kannte …“) 94 Nun könnte sich dieses Selbstverständnis als das wahre durchsetzen, die Bilder der anderen könnten sich als Illusionen erweisen und auflösen. Auf diese realistische Lösung, die ein Erwachen aus dem Alptraum wäre, hofft noch Stefano Giogli, der Held einer Novelle, die kurz vor Uno, nessuno e centomila entstand und eine ähnliche Thematik behandelt. Auch in diesem Fall fällt der Held dem Bild zum Opfer, das sich seine Frau von ihm macht: „(…) Si era creato quello Stefano Giogli che più le conveniva (…).“ („Sie hatte sich den Stefano Gioli geschaffen, der ihr am meisten behagte …“) 95 Stefano Giogli kann sich nicht vorstellen, daß es dabei bleibt. Mit Josef K. hofft er auf eine realistische Auflösung der Schimäre: „Doveva avvenir per forza l’urto tra lui qual’era veramente e quello che sua moglie s’era finto nel tempo (…).“ („Es mußte notgedrungen zu einem Konflikt kommen zwischen ihm, wie er wirklich war, und dem, den sich seine Frau im Laufe der Zeit eingebildet hatte …“) 96 Aber zu diesem Zusammenstoß von Wirklichkeit und Illusion kommt es nicht mehr, denn die Wirklichkeit erscheint nun ebenso problematisch wie die Identität des Subjekts: „Conosceva egli forse una realtà fuori di sé? “ („Kannte er denn eigentlich eine Wirklichkeit außerhalb seiner selbst? “) - fragt Stefano Giogli. 97 Diese Frage führt zurück zu Pirandellos letztem Roman, in dem sowohl Realität als auch Subjektivität als Konstruktionen aufgefaßt werden, die sich aufzulösen beginnen, sobald der Gedanke aufkommt, daß jeder von uns sie anders konstruiert. Für jeden anderen ist Vitangelo Moscarda oder Gengè ein an‐ derer. Insofern ist die Spiegelmetapher, die gleichsam als Urszene die Handlung einleitet, für den Roman konstitutiv. Dazu bemerkt Monika Schmitz-Emans: „Das ‚Subjekt‘ konstituiert ‚sich‘ selbst künstlich durch Bespiegelung (also gleichsam, indem es sich von sich ein Bild macht); aber: es ist eben dadurch nichts Un-Vermitteltes, nichts Ursprüngliches, da es ja der ‚Spiegel‘ bedarf. ‚Hinter‘ diese Bespiegelung kann es nicht zurück; seine Identität ist abgeleitet und instabil.“ 98 Sie ist instabil, weil die anderen für Moscarda zu Spiegeln werden und weil in jedem Spiegel eine andere Wahrheit erscheint, die die anderen Wahrheiten ganz oder teilweise widerlegt. In diesem Zusammenhang erscheint das Selbstbildnis nicht wahrer als die Bilder der anderen, die mit ihm konkur‐ 204 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="205"?> 99 Ibid., S.-143. 100 L. Pirandello, Uno, nessuno e centomila, op. cit., S. 38. (Einer, keiner, hunderttausend, op. cit., S.-291.) 101 Ibid., S.-64. (Ibid., S.-314.) rieren, denn: „(…) Es gibt keinen Standort, von dem her die Reflexionskrise ‚von außen‘ zu betrachten wäre.“ 99 Im zweiten Kapitel des „Libro secondo“ wird klar, in welchem Kontext sowohl der Subjektals auch der Wirklichkeitsverlust zu betrachten sind. Wie Nietzsche und Mallarmé vor ihm, wie später Sartre führt sie Pirandellos Erzähler - zumindest indirekt - auf den Tod Gottes zurück, des obersten Subjekts, das durch seine Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart den Wirklichkeitsbegriff des Menschen meta-physisch garantiert. Verschwindet dieses Subjekt, so zerfällt die Wirklichkeit. Wißt ihr worauf alles gründet? - fragt der Erzähler gleich zu Beginn des Kapitels und antwortet: „Ve lo dico io. Su una presunzione che Dio vi conservi sempre. La presunzione che la realtà, qual’è per voi, debba essere e sia ugual‐ mente per tutti gli altri.“ („Ich will es Ihnen sagen. Auf einer Einbildung, die Gott Ihnen stets erhalten möge. Auf der Einbildung, daß die Wirklichkeit für Sie und für alle anderen die gleiche sein müsse.“) 100 Der zweite Satz ist keine rhetorische Floskel, sondern ironisch gemeint: Der Gott, der alles wieder ins rechte Lot rücken könnte, ist tot. Folglich ist die Annahme, daß es eine Wirklichkeit gibt, die allen gleich erscheint, ein Anachronismus und der vom Erzähler geäußerte fromme Wunsch reine, spätmoderne Ironie. Freilich ist der Zerfall der realistisch-hegelianischen Wirklichkeitsauffassung nicht einfach (nietzscheanisch) mit dem Tod des metaphysischen Gottes oder mit dem „Sturz der Metaphysik“ zu erklären. Wie in Niebla finden sich auch in Pirandellos letztem Roman Hinweise auf konkrete Ursachen: auf die Fragmen‐ tierung von Gesellschaft und Sprache sowie auf die Entwertung der Sprache, ihrer Wort-Werte. Zunächst stellt der Erzähler Moscarda fest, daß die Wörter für ihn eine ganz andere Bedeutung haben als für seine Frau Dida, die sie als Wörter eines gewissen Gengè aufnimmt, der mit Moscardas Vitangelo nichts zu tun hat. „Era manifesto che il senso che io davo alle mie parole era un senso per me; quello che poi esse assumevano per lei, quali parole di Gengè, era tutt’altro.“ („Es war offensichtlich, daß der Sinn, den ich meinen Worten gab, ein bestimmter Sinn für mich war; der Sinn aber, den diese Worte als Gengès Worte für Dida annahmen, war ein ganz anderer.“) 101 Dieses dyadische Aneinander-Vorbeireden ist als Symptom und Synekdoche des gesamtgesellschaftlichen Zustandes verallgemeinerungsfähig. Und der Er‐ zähler verallgemeinert auch, wenn er die Krise der Sprache folgendermaßen 7.4 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Uno, nessuno e centomila 205 <?page no="206"?> 102 Ibid., S.-47. (Ibid., S.-299.) 103 Vgl. R. Behrens, „Metaphern des Ich. Romaneske Entgrenzung des Subjekts bei D’An‐ nunzio, Svevo und Pirandello“, in: H. J. Piechotta, R. R. Wuthenow, S. Rothemann (Hrsg.), Die literarische Moderne in Europa I, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1994, S. 351. Im Zusammenhang mit Moscarda spricht Behrens von einer „Divergenz von Form und Leben“. Doch der Autor Pirandello überwindet diese Divergenz, indem er eine neue Romanform schafft. 104 Ibid., S.-217. (Ibid., S.-451.) 105 Ibid., S.-225. (Ibid., S.-457.) darstellt: „Ma che colpa abbiamo, io e voi, se le parole, per sé, sono vuote? Vuote, caro mio. E voi le riempite del senso vostro, nel dirmele; e io nell’accoglierle, inevitabilmente, le riempio del senso mio. Abbiamo creduto d’intenderci; non ci siamo intensi affatto.“ („Aber welche Schuld haben wir, ich und Sie, wenn Wörter an sich leer sind? Leer mein Allerbester. Sie erfüllen sie, während Sie sie mir sagen, mit Ihrem Sinn; und ich erfülle sie, während ich sie aufnehme, unvermeidlicherweise mit meinem Sinn. Wir hatten geglaubt, uns zu verstehen; wir haben uns überhaupt nicht verstanden.“) 102 Die Wörter sind leer, weil der Gott, der die Welt zusammenhielt, nicht mehr wacht, weil das arbeitsteilige Prinzip sie mit widersprüchlichen Bedeutungen assoziiert, weil Ideologen sie in Propagandaschlachten täglich entwerten und weil Marktgesetz und Werbung sie ad absurdum führen. Wo das Wort „Paradies“ einst biblische Vorstellungen wachrief, dort lockt heute die „Paradies-Creme“ im Supermarkt. In dieser Situation, in der Sprache, Wirklichkeit und Subjektivität als dem Zerfall preisgegeben erscheinen, resigniert der Ich-Erzähler Moscarda und wendet sich dem Anderen der Kultur zu: der Natur. Während Sartres Erzähler Roquentin einen Rückfall in die Natur, in die Welt der Dinge, als äußerste Schmach empfindet, die dem Subjekt widerfahren kann, resigniert Moscarda als Subjekt und geht bewußt-vitalistisch 103 in der Natur auf: „Ah, perdersi là, distendersi e abbandonarsi, cosí tra l’erba, al silenzio dei cieli (…).“ („Oh, sich ganz verlieren, hingestreckt und hingegeben im Gras liegen, unter den schweigenden Himmeln …“) 104 Manche mögen noch das Bedürfnis haben, an den Tod zu denken, zu beten. Moscarda hat auch dieses Bedürfnis nicht mehr: „Io non l’ho piú questo bisogno; perché muojo ogni attimo, io, e rinasco nuovo e senza ricordi: vivo e intero, non piú in me, ma in ogni cosa fuori.“ („Ich bedarf dessen nicht mehr, denn ich - ich sterbe mit jedem Augenblick und werde wieder geboren, neu und ohne Erinnerungen: lebendig und ganz, nicht mehr in mir, sondern in jedem Ding da draußen.“) 105 Dieser Tod des Subjekts als Verdinglichung in der Natur, die keineswegs als Bedrohung, sondern eher als Erlösung erscheint, erinnert an den Tod des Augusto Pérez in Niebla. Wie Pérez ist Moscarda ein „Möglichkeitsmensch“ und 206 7 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts <?page no="207"?> 106 Ibid., S.-60. (Ibid., S.-311.) 107 Zur Parallelentwicklung von Roman und Psychoanalyse (anhand von Svevos La coscienza di Zeno) vgl. Vf., Roman und Ideologie, op. cit., Kap. IV. ein Träumer, wie Pérez entdeckt er die Schimärenhaftigkeit, „Nebelhaftigkeit“ und Konstruiertheit der Welt: „Io mi costruisco di continuo e vi costruisco, e voi fatte altrettanto.“ („Ich konstruiere mich andauernd, und ich konstruiere Sie, und Sie tun dasselbe.“) 106 Wie Pérez ist er jedoch außerstande, diese konstruktivistische Erkenntnis ins Konstruktiv-Fiktionale zu wenden, um wie Víctor Goti Schriftsteller zu werden. Sowohl Augusto Pérez als auch Vitangelo Moscarda gehen als Subjekte unter, weil sie nur den dekonstruktiven Aspekt des Konstruktivismus wahrnehmen und praktizieren. Die Schriftsteller Unamuno und Pirandello hingegen übertragen die dekonst‐ ruktiven Erkenntnisse ins Konstruktiv-Fiktionale. Unamuno tut dies explizit, indem er in Niebla als fiktiver Schöpfer seines Romans auftritt, der zu einem Roman über die Romangattung wird. Beide Autoren entwerfen essayistisch-ex‐ perimentelle Antiromane, die die Krise des metaphysischen Subjekts und seiner Wirklichkeit ästhetisch verarbeiten und dadurch Vorschläge zu einer neuen Subjektivität und einer neuen Romangattung machen. Der modernistische Roman ist kein Versuch mehr, die Realität mimetisch einzufangen, sondern ein Versuch, Realität neu zu konstruieren. Dabei wird das fiktionale Konstrukt zur Grundlage einer originären Subjektivität, die sich auf den ersten Blick von allen anderen Subjektivitäten unterscheidet. Wer wollte schon Niebla oder Uno, nessuno e centomila mit Musils Der Mann ohne Eigenschaften vergleichen? Doch bei genauerem Hinsehen werden die diesen Romanen gemeinsamen Merkmale des Modernismus erkennbar: Ambivalenz, Möglichkeitssinn, Essayismus, Parataxis, Konstruktivismus - und Humorismus. Alle diese spätmodernen Merkmale zeugen vom Versuch einer nietzscheanischen „Selbstbemächtigung“ des Subjekts. Das Subjekt reagiert auf die Krise mit einer radikalen Selbstanalyse, die parallel zur Psychoanalyse Freuds verläuft. 107 Bei Unamuno und Pirandello geht es noch darum, nach der Möglichkeit von Subjektivität zu fragen. Es ist ein Charakteristikum der postmodernen Literatur, daß sie diese Frage aus dem Zentrum der Problematik an deren Peripherie verbannt hat. 7.4 Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Uno, nessuno e centomila 207 <?page no="209"?> Dritter Teil: Intertextualität und Subjektivität in der Nachmoderne <?page no="211"?> 1 J. Kristeva, Sémeiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris, Seuil, 1969, S.-144. 2 T. Todorov, „Intertextualité“, in: ders., Mikhaïl Bakhtine. Le principe dialogique suivi de Ecrits du Cercle de Bakhtine, Paris, Seuil, 1981, S.-98. 8 Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne Intertextualität ist häufig mit dem Zitat verwechselt, auf das Zitat eingeengt worden. Sie umfaßt ihrer Extension nach auch das Zitat, ist mit diesem aber nicht identisch. Was ist nun Intertextualität, wie soll sie aufgefaßt werden? - Es ist die dialogische Reaktion literarischer und nichtliterarischer Texte auf zeitgenössische oder historische Diskurse und Diskursgattungen: Bewundernde Nachahmung, Pastiche, Parodie, Zitat, ironischer Kommentar sowie unbewußte Verarbeitung von Gehörtem oder Gelesenem gehören in den Bereich der Intertextualität. Von Michail M. Bachtin, der in seiner Theorie des Romandialogs und der literarischen Polyphonie zugleich eine Theorie der Intertextualität avant la lettre entwickelt hat, heißt es in einem frühen Aufsatz von Julia Kristeva, die den Terminus Intertextualität in die Diskussion eingeführt hat: „Bachtin stellt den Text in den Zusammenhang der Geschichte und der Gesellschaft, die selbst als Texte betrachtet werden, die der Schriftsteller liest, in denen er aufgeht, indem er sie umschreibt.“ 1 Tzvetan Todorov radikalisiert Kristevas Darstellung, wenn er in seinem Buch über Bachtin bemerkt: „Es gibt keine Aussage ohne eine intertextuelle Dimension.“ 2 Nun ist dies wahrscheinlich eine Übertreibung, denn es gibt zweifellos monologische Aussagen (etwa die schlichte Mitteilung: „Klimaanlage funktioniert nur bei geschlossenen Fenstern“); sie erinnert aber an die Tatsache, daß es keinen religiösen, sozialwissenschaftlichen, philosophischen oder litera‐ rischen Text gibt, den man aus sich selbst und in sich selbst, gleichsam als fensterlose Monade verstehen und erklären könnte. Wir wissen, daß Kants Philosophie ein permanenter Dialog mit der Aufklärung, mit Hume und den Diskursen der französischen Revolution ist und daß man Marx nicht versteht, ohne Hegel, die Junghegelianer, Adam Smith und Ricardo zu kennen. Wer modernistische Romane wie Thomas Manns Doktor Faustus oder Italo Svevos La coscienza di Zeno verstehen will, der wird eine Auseinandersetzung mit Nietz‐ <?page no="212"?> 3 Vgl. J. Strutz, „Komparatistik regional - Venetien, Istrien, Kärnten“, in: P.V. Zima, Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 1992, darin vor allem: „Zwischen Alpen und Adria: Von Kärnten nach Triest“. Sowie: J. Strutz, „Istrische Polyphonie - Regionale Mehrsprachigkeit und Literatur“, in: J. Strutz, P. V. Zima (Hrsg.), Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur, Tübingen, Narr, 1996, darin vor allem: „Die sprachliche Situation in Istrien“. 4 Vgl. P. V. Zima, Textsoziologie. Eine kritische Einführungin die Diskurssemiotik, Stuttgart, Metzler, 2021 (2., erw. Aufl.), Kap. IV: „Gesellschaft als Text“. 5 E. Coseriu, „Thesen zum Thema Sprache und Dichtung“, in: W. D. Stempel (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik, München, Fink, 1971, S.-184. sches Philosophie, Freuds Psychoanalyse und dem Verhältnis von italienischer Hochsprache und Triestiner Dialekt 3 kaum vermeiden können. Hier zeigt sich, daß Intertextualität in der Literatur nicht einfach als „inner‐ literarischer Dialog“ aufzufassen ist, sondern als Dialog mit allen denkbaren Textsorten. Deshalb wurde in der Textsoziologie 4 der Vorschlag gemacht, eine „interne“ und eine „externe“ Intertextualität im literarischen Bereich zu unter‐ scheiden. Während die interne Intertextualität den innerliterarischen Dialog meint, bezieht sich die externe Intertextualität auf die literarische Verarbeitung nichtliterarischer Diskurse: Diskurse der Philosophie, der Politik, der Wissen‐ schaft und der Werbung. Auch sie können explizit oder in Anspielungen parodiert, ironisch kommentiert oder im Pastiche nachgeahmt werden. So manchem mag sich nun die Frage aufdrängen, weshalb der Begriff Intertextualität, der aus der literarischen Diskussion hervorging, vorwiegend auf die Literatur angewandt wird. Hat sich nicht gezeigt, daß auch Politik, Philosophie, Wissenschaft und Werbung intertextuelle Erscheinungen sind? Reagieren Politiker, Wissenschaftler und Werbefachleute nicht unterschwellig - durch Anspielungen, Pastiches und Parodien - auf die Diskurse ihrer Rivalen? Diese Fragen beantwortet - zumindest indirekt - Eugenio Coseriu in seinen „Thesen zum Thema Sprache und Dichtung“ (1971), wenn er im Gegensatz zu Roman Jakobson die These aufstellt, daß die Sprache der Dichtung oder der Literatur nicht ein besonderer Sprachgebrauch mit einer besonderen Funktion ist (die darin besteht, daß der Text sich selbst zum Gegenstand wird), sondern die Universalsprache par excellence, in der alle sprachlichen Möglichkeiten und Experimente im Prinzip zu verwirklichen sind: „Somit erscheint die dichterische Sprache nicht als ein Sprachgebrauch unter anderen, sondern als Sprache schlechthin, als Verwirklichung aller sprachlichen Möglichkeiten.“ 5 Es geht hier nicht darum, die Kontroverse zwischen Coseriu und Jakobson auszutragen, zumal sich bei näherem Hinsehen zeigt, daß die beiden Stand‐ punkte einander auch ergänzen, sondern darum, den Text - vor allem den 212 8 Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne <?page no="213"?> 6 Vgl. J. Lotman, „Text und Funktion“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologie‐ kritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S.-152-153. literarischen Prosatext - als Universalexperiment mit der Sprache, ja mit der Kultur als ganzer, aufzufassen. Was ist damit konkret gemeint? Gemeint ist das Gestaltungspotential des literarischen Textes: seine Möglichkeit, die der politische, der wissenschaftliche oder der juristische Text in dieser Form nicht hat, alle diskursiven Formen von der Werbung und der politischen Rede bis zum Traum aufzunehmen, aufeinander zu beziehen und im ästhetischen Gesamtzusammenhang umzugestalten. Im folgenden geht die Argumentation von drei komplementären Gedanken aus: 1. von der Annahme, daß Intertextualität als sprachliches Universalexpe‐ riment im Sinne von Coseriu die gesamte Literatur von der Antike bis zur Postmoderne kennzeichnet, daß sie aber ein besonders stark ausgeprägtes Merkmal des literarischen Modernismus und der Postmoderne ist; 2. von der Annahme, daß die modernistische Intertextualität noch von der Suche nach Sinn (Wahrheit) und subjektiver Identität beherrscht wird, während die postmoderne Intertextualität ohne diese Suche auszukommen scheint; 3. von der Annahme schließlich, daß das postmoderne Subjekt zu einer intertextuellen Vereinheitlichung nicht mehr fähig ist oder sie bewußt ablehnt. 8.1 Spätmoderne Intertextualität Es geht hier nicht um eine ausführliche Darstellung der spätmodernen oder mo‐ dernistischen Intertextualität, die Hunderte von Seiten füllen könnte, sondern um einige Beispielanalysen, die eine kontrastive Definition des postmodernen Textexperiments erleichtern. Es soll u. a. gezeigt werden, daß im spätmodernen oder modernistischen Text literarische, politische, wissenschaftliche und phi‐ losophische Diskurse in eine semantisch-metaphysische Suche eingebunden sind, die nicht nur der Sinn-, sondern auch der Subjekt- und Identitätskonsti‐ tution dient. In der postmodernen Literatur hingegen scheint diese Suche zu verschwinden oder nur noch in relativierter, parodierter oder ironisierter Form vorzukommen. Grob vereinfacht lautet die Schlüsselfrage: Weshalb beziehen sich Autoren in ihren Werken auf fremde Texte? Eine Antwort - im Sinne von Coseriu - könnte lauten: Weil sie nicht in völliger Abgeschiedenheit schreiben und wirken, sondern bejahend oder ablehnend auf die Texte ihrer Kultur 6 und ihrer gesellschaftlich-sprachlichen Situation reagieren. Die konkretere Antwort lautet: Weil sie sich an den fremden Diskursen orientieren, um ihren eigenen 8.1 Spätmoderne Intertextualität 213 <?page no="214"?> 7 V. N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie, Hrsg., S. M. Weber, Frank‐ furt-Berlin-Wien, Ullstein, 1975, S.-120. 8 I. Svevo, La coscienza di Zeno, Milano, Dall’Oglio, 1938, S. 457-458. (Zeno Cosini, Hamburg, Rowohlt, 1959, S.-431.) Standpunkt zu bestimmen und um ihre Subjektivität (Identität) zu konstituieren. Dazu bemerken Bachtin und Vološinov: „Wir sprechen in Wirklichkeit keine Wörter aus und hören keine Wörter, sondern hören Wahrheit oder Lüge, Gutes oder Schlechtes, Angenehmes oder Unangenehmes usw. Das Wort ist immer mit ideologischem oder aus dem Leben genommenem Inhalt und Bedeutung erfüllt.“ 7 Wir hören Wahrheit oder Lüge, Gutes oder Schlechtes: Inwiefern gilt diese These für die literarische Welt - etwa des Modernismus? Schon Nietzsches Philosophie, die den Weg zum Modernismus (1850 oder 1870-1950) oder zur Moderne im Sinne von Adorno und Benjamin geebnet hat, wäre nicht ohne die Polemik gegen die „falschen“, die „verlogenen“ Diskurse der religiösen Asketen, der naiven Metaphysiker, der Demokraten, Sozialisten und Darwinisten zu verstehen. Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, daß sie sich durch diese Polemik als Sprach- und Existenzphilosophie erst konstituiert. Dies gilt auch für die Werke der Spätmoderne. Zu den bekanntesten mitteleuropäischen Modernisten, die ihr Schreiben als permanente Polemik gegen einen modischen Diskurs der damaligen Ge‐ sellschaft aufgefaßt haben, gehört der bekannte Triestiner Autor Italo Svevo. In seinem Spätwerk La coscienza di Zeno, das unter dem Titel Zeno Cosini ins Deutsche übersetzt wurde, läßt er seinen Erzähler unermüdlich gegen die Rhetorik einer Tiefenpsychologie polemisieren, die sich in seinen Augen durch ihre leeren, nicht überprüfbaren Spekulationen diskreditiert hat. Vielleicht sollte man nicht von Polemik, sondern von ironischer Verarbeitung, von ironischer Umarmung sprechen: „Proprio cosí: quando s’inizia una simile analisi è come se ci si recasse in un bosco non sapendo se c’imbatteremo in un brigante o in un amico. E non lo si sa neppure quando l’avventura è passata. In questo la psico-analisi ricorda lo spiritismo.“ („Ja, das stimmt: wenn man sich einer solchen Analyse unterzieht, so ist es, als begäbe man sich in einen Wald, ohne zu wissen, ob man einem Räuber oder einem Freund begegnen wird. Man weiß auch nicht genau, wann eigentlich das Abenteuer vorbei ist. In dieser Hinsicht erinnert die Psychoanalyse an den Spiritismus.“) 8 Am Ende des Romans bestimmt der Erzähler-Schriftsteller Zeno sein Schreiben, sein literarisches Schaffen im Gegensatz zu den Diskursen der Psychoanalyse: „Per rimpiazzare la psico-analisi, io mi rimetto ai miei cari fogli.“ („Um die Zeit auszufüllen, die sonst der psychoanalytischen Behandlung gewidmet war, widme ich mich von neuem 214 8 Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne <?page no="215"?> 9 I. Svevo, La coscienza di Zeno, op. cit., S.-443. (Zeno Cosini, op. cit., S.-417.) 10 M. Proust, A la recherche du temps perdu III, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1954, S.-897. 11 Ibid., S.-898. meinen geliebten Blättern.“) 9 - Wir hören Angenehmes oder Unangenehmes: Svevo und sein Erzähler hörten aus der Sprache der Psychoanalyse eher Unangenehmes heraus und trugen dadurch wesentlich zur Entstehung einer ironischen Schreibweise bei, die sich gegen die Psychoanalyse richtet. Ähnlich beschaffen ist die intertextuelle Situation in Marcel Prousts Roman A la recherche du temps perdu: Prousts Erzähler Marcel ist von der mondänen Konversation der großbürgerlich-adeligen Gesellschaft des Faubourg Saint-Ger‐ main fasziniert, weil ihn ein kollektiver Sprachgebrauch beeindruckt, der den brillanten Einwurf, das erheiternde Bonmot und die unerwartete repartie mit literarischen Zitaten und adeligen Archaismen kombiniert. Die ästhetisierende, vom Causeur gepflegte Salonkonversation ist insofern mit der Literatur ver‐ gleichbar, als auch sie von der Intertextualität lebt: Der mondäne Redner muß alle erdenklichen gesellschaftlichen Sprachspiele beherrschen - von der Philosophie und der Literatur bis zur Wissenschaft -, um die Anwesenden beeindrucken und unterhalten zu können, um zu glänzen. Prousts Erzähler entdeckt jedoch im Laufe seiner langen Suche, daß der Causeur nicht die wahre Sprache spricht, weil er nicht das wahre Wort sucht, sondern ein Wort, das gefällt, beeindruckt, amüsiert. Die Konversation ist ein Diskurs für die anderen: für deren oberflächliches Gehör, deren flüchtigen Geschmack und unreflektierte Assoziationslust. Diese Entdeckung veranlaßt Prousts Erzähler zu einer radikalen Kritik an der Konversation, die er als fremdbestimmtes gesprochenes Wort ablehnt und durch die Schrift, die Literatur ersetzt, die er als ein Produkt der Einsamkeit und der Nichtkommunikation auffaßt: „Plus que tout j’écartais ces paroles que les lèvres plutôt que l’esprit choisissent, ces paroles pleines d’humour, comme on en dit dans la conversation, et qu’après une longue conversation avec les autres on continue à s’adresser facticement à soi-même (…).“ 10 Literatur entsteht nicht inmitten von Causerie und mondäner Kommunikation, sondern ist das Ergebnis einer einsamen Suche: „Les vrais livres doivent être les enfants non du grand jour et de la causerie mais de l’obscurité et du silence.“ 11 Ähnlich wie Svevo faßt Proust also sein Schreiben als intertextuelle Kritik und Polemik im Gegensatz zu einem anderen Sprachgebrauch auf, der selbst eine Form von Intertextualität ist. Man könnte nun von dieser Ebene der externen Intertextualität (Konversa‐ tion-Literatur) zur Ebene der internen Intertextualität überwechseln und zeigen, daß Proust Balzacs Comédie humaine vor allem deshalb kritisiert, weil sie nicht 8.1 Spätmoderne Intertextualität 215 <?page no="216"?> 12 Zu Musils Utopie-Begriff vgl. B. Neymeyer, Utopie und Experiment. Zur Literatur‐ theorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays, Heidelberg, Winter, 2009, Kap. IV. 13 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg, Rowohlt, 1952, S.-1578. 14 Ibid., S.-1579. aus der Einsamkeit und der Stille hervorging, sondern im Stil der Konversation verfaßt wurde: als causerie. Aber nicht darauf kommt es hier an, sondern eher auf den Gedanken, daß sowohl Svevo als auch Proust ihren Sinn und ihre Subjektivität (Ich-Identität) konstituieren, indem sie sich polemisch-inter‐ textuell gegen die falschen Sprachen der Gesellschaft abgrenzen: gegen die Lüge, würden Bachtin und Vološinov sagen. Auch in Robert Musils Werk - in seinem Roman Der Mann ohne Eigen‐ schaften oder seinem Drama Die Schwärmer - werden zahlreiche falsche Dis‐ kurse relativiert, parodiert, im Pastiche nachgeahmt oder ironisch kommentiert: die Diskurse des aufkeimenden Faschismus, des Sozialismus, des Pazifismus und des Militarismus, der Wissenschaft und der Philosophie, des Klerikalismus und des Antiklerikalismus. Musils Roman ist ein großangelegtes intertextuelles Experiment und ein Modell von Universalsprache im Sinne von Coseriu. Auch der modernistische Versuch, Sinn und Subjektivität zu begründen, fehlt nicht, obwohl er nicht so erfolgreich, nicht so zuversichtlich endet wie bei Proust, dem die Wahrheit der Literatur als letztes Urteil, als „Jugement dernier“, erscheint. Musils Utopien, vor allem seine „Utopie des anderen Zustands“, entziehen sich allen Bestimmungsversuchen mit Endgültigkeitsanspruch. Ins‐ gesamt geht es aber auch in Musils utopischer Suche 12 um die Rettung des Wesentlichen: des Individuums, des Subjekts und seiner Wahrheit, deren Ver‐ allgemeinerungsfähigkeit im Modernismus in Frage gestellt wird. Besonders prägnant drückt diesen Zusammenhang eine Bemerkung aus Musils nachgelas‐ senen Fragmenten aus: „Der Individualismus geht zu Ende. Ulrich liegt nichts daran. Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“ 13 8.2 Intertextualität und Subjektivität in der Postmoderne Der postmodernen Literatur sind die Utopien, die auch die revolutionäre Gesinnung der Avantgarden prägten, abhanden gekommen. Rückblickend auf die 80er Jahre und die gesamte Nachkriegszeit, könnte man geneigt sein, eine Bemerkung Musils zum Ausgangspunkt postmoderner Erfahrungen zu machen: „Die Utopien sind zu keinem praktikablen Ergebnis gekommen.“ 14 216 8 Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne <?page no="217"?> 15 G. Benn, zit. nach: W. Falk, Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus, Salzburg, O. Müller, 1961, S.-409. 16 W. Falk, Leid und Verwandlung, op. cit., S.-409. 17 Ibid. Diese Zeitdiagnose kann man angesichts der neuesten Entwicklungen nur bestätigen. Von ihr gehen postmoderne Autoren wie Umberto Eco, John Fowles und Jürgen Becker aus, wenn sie einerseits das intertextuelle Experiment radikali‐ sieren, andererseits aber auf die modernistische Suche nach Sinn, Subjektivität und Identität verzichten. Das postmoderne Textexperiment ist keineswegs un‐ kritisch oder unverbindlich: Gesellschaftskritik als Diskurskritik spielt sowohl bei Eco als auch bei Fowles und Becker eine wesentliche Rolle. Aber diese Kritik wirkt eindimensional und spielerisch, weil sie die utopische, die modernistische Frage nach einer authentischen Wirklichkeit und einer ihr entsprechenden Subjektivität preisgibt. In der Postmoderne wird die Kritik tendenziell zum Spiel. Sie kennt weder eine ästhetische noch eine politische Utopie im Sinne von Proust, Musil, Sartre oder Malraux. Deshalb wird sie selbst zweitrangig und dem Textexperiment als ästhetischem Spiel untergeordnet. Kritik ist zwar ohne Utopie möglich (das lassen die Diskurse des Kritischen Rationalismus erkennen), nicht jedoch ohne Wertung, ohne eine stabile Wertskala. Diese Entwicklung sagte bereits Gottfried Benn voraus, als er schrieb: „Ar‐ tistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist der Versuch, gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz der schöpferischen Lust.“ 15 Zu dieser These merkt Walter Falk an, daß Autoren des 20. Jahrhunderts immer wieder versucht haben, aus diesem Artistizismus auszubrechen und „der Kunst wieder Inhalte zuzuführen“, indem sie auf Zeiten zurückgriffen, „in denen eine verbindliche Wertordnung bestanden hatte“. 16 Er selbst scheint eher dem Modernisten Hermann Hesse recht zu geben, der in seinem Glasperlenspiel die Ansicht vertrete, „daß die Zeit, in der eigentliche Kulturtaten möglich waren, vorüber sei und daß an deren Stelle ein kunstvolles Spiel treten werde, welches die kulturellen Werte der Vergangenheit vergegenwärtigte - auf faszinierende und unverbindliche Weise: das Glasperlenspiel“. 17 Daß die Vergangenheit „auf faszinierende und unverbindliche Weise“ verge‐ genwärtigt wird, bestätigt genau 40 Jahre nach Erscheinen des Glasperlenspiels (1943) Umberto Eco in seiner Nachschrift zum „Namen der Rose“ (1983), wo er von der Vergangenheit sagt, sie müsse „auf neue Weise ins Auge gefaßt werden 8.2 Intertextualität und Subjektivität in der Postmoderne 217 <?page no="218"?> 18 U. Eco, Nachschrift zum ,Namen der Rose‘, München, DTV, 1987 (8. Aufl.), S.-78. 19 U. Eco, Il nome della rosa, Milano, Bompiani, 1980, S.-9. 20 Ibid., S.-163. 21 W. Hüllen, „Erzählte Semiotik. Betrachtungen zu Umberto Ecos ,Der Name der Rose‘“, in: R. Haas, Ch. Klein-Braley (Hrsg.), Literatur im Kontext, Sankt Augustin, Richarz, 1985, S.-128. (…): mit Ironie, ohne Unschuld“. 18 Er tut dies auch, wenn er in Il nome della rosa gleich zu Beginn des Romans die Lektüre einem Verfremdungseffekt aussetzt, indem er das Konstruktionsverfahren bloßlegt: „Natürlich, ein Manuskript“, „naturalmente, un manoscritto“. 19 Was folgt, ist das zugleich gelehrte und amüsante intertextuelle Spiel mit einem fiktiven Manuskript („Le manuscrit de Dom Adson de Melk, traduit en français d’après l’édition de Dom Mabillon“), dessen labyrinthischer Erzählung der Leser folgt wie den spannenden Mäandern eines Kriminalromans. Der Intertext, in den zahlreiche Hinweise auf die Bibel, mittelalterliche Berichte und philosophische Diskurse eingeflochten sind, ist auch als Kriminal‐ roman zu lesen (mit Jorge als Bösewicht), wobei allerdings die Frage nach dem metaphysischen Gegensatz von Gut und Böse im Rahmen der spielerischen Konstruktion zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt. Im Gespräch zwischen Gug‐ lielmo und dem alten Alinardo da Grottaferrata erscheint der Antichrist („Ah, l’Anticristo … Egli sta per venire, il millennio è scaduto. Lo attendiamo“/ „Ah, der Antichrist … Er wird bald kommen, das Millennium ist um. Wir warten auf ihn“) 20 als negative Instanz in einem narrativen Schema, dessen verschiedene intertextuelle Möglichkeiten systematisch durchgespielt werden. Erzähler und Leser stimmen stillschweigend in der Ansicht überein, daß dieser Instanz nicht einmal die symbolische Funktion zuteil wird, die ihr noch in Thomas Manns Doktor Faustus zufiel. Werner Hüllen liest Ecos Roman nicht zu Unrecht als „erzählte Semiotik“ (er hätte sagen können: als „erzählte Intertextualität“) in „sehr konventioneller Form“: „Er erzählt vom Umgang mit Codes. Er interpre‐ tiert nicht eine gegebene Welt, sondern interpretiert das Interpretieren.“ 21 Das tut Kafka freilich auch, wenn er im Prozeß-Roman K. und den Geistlichen die Parabel „Vor dem Gesetz“ widersprüchlich auslegen läßt; aber man würde Kafka, der das „Schreiben als Form des Gebetes“ auffaßte, grob mißverstehen, wollte man diese Auslegungen als hermeneutische oder semiotische Spiele deuten. Wie Bloßlegung des Konstruktionsverfahrens und konventionelles (genieß‐ bares) Erzählen spielerisch ineinandergreifen können, zeigt auch John Fowles in seinem Roman The French Lieutenant’s Woman. Sooft sein Ich-Erzähler seine gegenwärtige Situation zur Sprache bringt, verfremdet er sowohl die Erzählung als auch die Handlung und macht dem Leser klar, daß alles nur konstruiert und 218 8 Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne <?page no="219"?> 22 J. Fowles, The French Lieutenant’s Woman, London, Picador, 1992, S.-54. 23 Ibid., S.-84. 24 Ibid., S.-85. 25 J. Becker, „Ränder“, in: ders., Felder, Ränder, Umgebungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S.-141. gespielt ist: „I risk making Sarah sound like a bigot.“ Und: „I cannot say what she might have been in our age (…).“ 22 Auf die Fragen „Who is Sarah? “ und „Out of what shadows does she come? “ 23 , die am Ende des 12. Kapitels auf recht konventionelle Art die Spannung steigern sollen, antwortet der Erzähler zu Beginn des 13. Kapitels mit einem Verfremdungseffekt, der die Handlung unterbricht und jäh die ganze intertex‐ tuelle Konstruktion, in der Robbe-Grillet und Roland Barthes zu Protagonisten werden, bloßlegt: „I do not know. This story I am telling is all imagination. These characters I create never existed outside my own mind. If I have pretended until now to know my characters’ minds and innermost thoughts, it is because I am writing in (…) a convention universallly accepted at the time of my story: that the novelist stands next to God. He may not know all, yet he tries to pretend that he does. But I live in the age of Alain Robbe-Grillet and Roland Barthes; if this is a novel, it cannot be a novel in the modern sense of the word. - So perhaps I am writing a transposed autobiography; perhaps I now live in one of the houses I have brought into the fiction; perhaps Charles is myself disguised. Perhaps it is only a game.“ 24 Ja, vielleicht haben wir tatsächlich nur ein Spiel mit Gattungen und Diskursen vor uns. Für die Abgrenzung von spätmoderner und postmoderner Literatur ist diese Passage von großer Bedeutung: erstens, weil sie Ecos Forderung nach einer neuen, ironischen und nicht-naiven Aufarbeitung der literarischen Vergangen‐ heit erfüllt; zweitens, weil sie der modernistischen „Bloßlegung des Verfahrens“ im Sinne von Šklovskij eine extreme Form gibt; drittens, weil sie sich vom traditionellen Roman verabschiedet und die Gattungsgrenzen intertextuell in Frage stellt („perhaps I am trying to pass off essays on you“), und schließlich, weil sie den Spielcharakter des postmodernen Textes zutage treten läßt. „Der Roman lebt und lebt./ Uns ist das alles ziemlich egal“ 25 , schreibt Jürgen Becker in den Rändern. Angesichts dieser resignierenden Zeitdiagnose kann der postmoderne Roman entweder in ein reines Sprachexperiment im Sinne von Coseriu aufgelöst werden, wie es bei Becker geschieht, oder mit Eco und Fowles als ironisches Spiel mit der Gattung Roman weitergeschrieben werden: ohne Unschuld, ohne Mimesis, ohne Wahrheits- oder Utopieanspruch. An dieser Stelle wird eine grundsätzliche Verwandtschaft zwischen den konventionellen Erzählungen Ecos oder Fowles’ und den Sprachexperimenten Beckers, Oswald 8.2 Intertextualität und Subjektivität in der Postmoderne 219 <?page no="220"?> 26 R. Barthes, Sade, Fourier, Loyola, Paris, Seuil, 1971, S.-188. 27 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2017 (4. Aufl.), Kap. I, 1, c. 28 O. Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Hamburg, Rowohlt (1969), 1985. 29 G. Vattimo, Le avventure della differenza. Che cosa significa pensare dopo Nietzsche e Heidegger, Milano, Garzanti, 1980, S.-57. Wieners, Robbe-Grillets oder Barthes’ erkennbar. Denn mit Barthes könnten die Romanciers Eco und Fowles sagen: „Nicht die Wahrheit führt meine Hand, sondern das Spiel, die Wahrheit des Spiels.“ 26 In der Postmoderne verdrängt das intertextuelle Spiel mit historischen und zeitgenössischen Sprachformen die intertextuelle Suche der Moderne: die Suche nach Wahrheit, Wertsetzung, Subjektivität und Identität 27 sowie das Streben nach Utopie. Die Gesellschaftskritik ist im postmodernen Kontext durchaus präsent: Das zeigen die Werke von Fowles, Becker und Pynchon, in denen literarische Formen parodistisch hinterfragt, Ideologien ironisch relativiert werden. Aber sie mündet nicht mehr in eine Suche nach Alternativen. Auch eine befreite, alternative, nichtbürgerliche Subjektivität im Sinne von Hesse, Musil oder Breton wird nicht mehr gesucht. Es scheint das zu herrschen, was Oswald Wiener in Die Verbesserung von Mitteleuropa als die „edle Oberflächlichkeit“ 28 bezeichnet. 8.3 Der postmoderne Zerfall des Subjekts Der Gedanke, daß postmoderne Intertextualität nicht mehr der romantischen, realistischen oder modernistischen Subjektkonstitution dient, sondern sich in ein unverbindliches Spiel mit Formen verwandelt, wird in der postmodernen Philosophie konkretisiert, die gegen jede Form von diskursiver Vereinheitli‐ chung aufbegehrt. Gianni Vattimo spricht von einem „Sinnverlust des Subjekt‐ begriffs“ („perdita del senso del concetto di soggetto“) 29 , und Jean-François Lyotard bemüht sich sowohl in La Condition postmoderne als auch in seinem Hauptwerk über den Widerstreit - Le Différend -, die Unmöglichkeit nachzu‐ weisen, verschiedene Textsorten diskursiv zu kombinieren und zu vereinheitli‐ chen. Lyotards Spätwerk stellt geradezu beispielhaft dar, wie sich heterogene Aussagen, die aus unvereinbaren Diskurstypen oder Satzregelsystemen hervor‐ gehen, gegen jede Art von Vereinheitlichung durch ein Subjekt sperren. Da‐ durch wird Subjektivität als solche fragwürdig, weil jeder Diskurs, der verschie‐ denartige Diskurse intertextuell vereinigt, entweder als metaphysische Illusion oder als sprachlich inkarniertes Unrecht erscheint. Tatsächlich behauptet Lyo‐ 220 8 Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne <?page no="221"?> 30 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien, Böhlau-Passagen, 1986, S.-109. 31 W. Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transver‐ salen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S.-334. 32 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München, Fink, 1989 (2. Aufl.), S.-293. 33 J.-F. Lyotard, Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S.-121. tard, daß jeder Versuch, Sätze (phrases) aus verschiedenen Satzregelsystemen miteinander zu verketten, zu einem tort, einem Unrecht, führt. Ausgehend von Wittgensteins Sprachspiel-Begriff, den er für seine Zwecke umdeutet, und von dem Gedanken, daß Sprachspiele heterogen sind, weil sie verschiedenen, oft inkommensurablen Regelsystemen gehorchen, stellt Lyotard die These auf, „daß es weder eine mögliche Vereinheitlichung noch eine Totalisierung der Sprachspiele in einem Metadiskurs gibt“. 30 Die Aufgabe des postmodernen Philosophen kann nicht darin bestehen, zwischen den Sprachspielen zu vermitteln oder sie gar zu einem homogenen Diskurs zu bündeln, sondern darin, von dem täglich begangenen Unrecht Zeugnis abzulegen, das diejenigen zu verantworten haben, die Heterogenes idealistisch-totalitär zusammenzwingen, um die Welt auf noetischer, ethischer oder ästhetischer Ebene als Einheit erscheinen zu lassen. Verbindungen zwi‐ schen den heterogenen Sprachspielen „werden wohl hergestellt“, erklärt W. Welsch, „aber nur durch die ‚blind kalkulierende Vernunft‘ des ‚Kapitals‘ (…).“ 31 Lyotard selbst konkretisiert diesen Gedanken, wenn er bemerkt: „Auf diese Weise verlangt der ökonomische Diskurs des Kapitals keineswegs das politisch-deliberative Dispositiv, das die Heterogenität der Diskursarten zuläßt. Eher das Gegenteil: er verlangt deren Unterdrückung.“ 32 Gegen diese Unterdrückung bäumen sich die Diskurse postmoderner Philo‐ sophen auf: Sie rebellieren gegen die Vereinheitlichung des noetischen Bereichs durch eine homogene Metasprache als Metatheorie oder Wissenschaftstheorie, gegen die Vereinheitlichung des ethischen Bereichs durch eine allgemeinver‐ bindliche Universalethik und gegen die Vereinheitlichung des ästhetischen Be‐ reichs durch eine allgemeingültige ästhetische Norm. Lyotard bestreitet immer wieder die (von Rawls und Habermas gesuchte) Verallgemeinerungsfähigkeit ethischer Kriterien und trennt die Ethik als Theorie der Heterogenität, des Wi‐ derstreits und der inkommensurablen Ansprüche von den kognitiven Verfahren der formalen Logik: „Wenn das Gesetz erkennbar wäre, würde sich die Ethik in einem kognitiven Verfahren auflösen.“ 33 Eine solche Auflösung ist jedoch buchstäblich undenkbar, weil das ethische (präskriptive) Sprachspiel nicht an das formallogische (deskriptive) anschließbar ist: „Eine Kluft (…) trennt jeden 8.3 Der postmoderne Zerfall des Subjekts 221 <?page no="222"?> 34 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, op. cit., S.-207. 35 G. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, Graz-Wien, Passagen, 1986, S. 63. (Al di là del soggetto. Nietzsche, Heidegger e l’ermeneutica, Milano, Feltrinelli, 1991, 4. Aufl., S.-49.) 36 G. Vattimo, Al di là del soggetto, op. cit., S.-48-50. 37 J. Becker, „Felder“, in: ders., Felder, Ränder, Umgebungen, op. cit., S.-110. deskriptiven Satz (die kritische Metasprache der Deduktion eingeschlossen) vom präskriptiven Satz.“ 34 Hier kommt es nicht so sehr auf die Überlegung an, daß sich Lyotard selbst über die von ihm verkündete Heterogenität der Sprachspiele hinwegsetzt, indem er grundverschiedene Diskurse wie Marxismus und Psychoanalyse, Kantia‐ nismus und Wittgensteins Sprachphilosophie miteinander verbindet, sondern auf die Erkenntnis, daß postmoderne Theorien dem nach Vereinheitlichung strebenden modernen Subjekt drei schwer zu überwindende Hindernisse in den Weg stellen: Heterogenität, Pluralität und Partikularität. Während die sprachliche Heterogenität das diskursive Kontinuum der Sub‐ jektivität immer wieder unterbricht und zerfallen läßt, sorgen die postmodernen Aufwertungen des Pluralen dafür, daß dieser Zerfall als Befreiung von univer‐ salistischen, von systematischen Zwängen erscheint. So stellt sich beispiels‐ weise Vattimo den postmodernen Menschen als ein Individuum vor, das seine eigene Vielheit oder Pluralität akzeptiert und auf die moderne Subjektivität als Einheit oder Vereinheitlichung verzichtet hat: „Individualität als Vielfalt“ („individualità come molteplicità“). 35 In diesem Zusammenhang stellt sich auf ethischer Ebene die Frage, wie ein solches Individuum als „gespaltenes Subjekt“ („soggetto scisso“) 36 für irgendeine Handlung oder Aussage verantwortlich gemacht werden kann. In der postmodernen Literatur erscheint schon seit den 70er Jahren sowohl das individuelle als auch das kollektive Subjekt als labil geschichtete Vielfalt, als reine Polyphonie. Sie wird von Jürgen Becker in den Feldern anschaulich dargestellt: „Er vervielfältigt sich in die Figuren, die alle er vorgespielt findet. Auf sich selber gestellt, übersieht er sich kaum, hört er alle die Stimmen, die durcheinanderreden in seine Köpfen. Er in der Mehrzahl sieht, hört und spricht in der Mehrzahl. Das Wort wir drückt diesen Sachverhalt ungenau aus (er spricht darum oft immer anders und falsch). Es täuscht einen Verein vor. Die erste Person Mehrzahl ist, vergleichsweise, nur ein Aufenthaltsraum; Gedränge oft, und manchmal leer. Man liegt sich in den Haaren; man geht sich aus dem Weg; man macht sich Komplimente; man befördert sich durch die Türen. Wir.“ 37 Für die postmoderne Intertextualität ist diese Passage deshalb symptoma‐ tisch, weil sie den Zerfall der individuellen und kollektiven Subjektivität in der Polyphonie des Alltags veranschaulicht und dem Leser vor Augen führt, wie „In‐ 222 8 Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne <?page no="223"?> 38 T. Todorov, Mikhaïl Bakhtine, op. cit., S.-156. 39 Dazu: I. M. Zavala, „Bakhtin versus the Postmodern“, in: Sociocriticism 8, 1988 („How to Read Bakhtin“). 40 J.W. Goethe, Maximen und Reflexionen, München, DTV, 1968 (2. Aufl.), S.-16. dividualität als Vielfalt“ (Vattimo) konkret aussehen könnte. Diese Vielfalt hängt - wie bereits angedeutet - mit der Tatsache zusammen, daß das postmoderne Subjekt anscheinend nicht mehr in der Lage ist, die intertextuellen Beziehungen, die seine sprachliche und gesellschaftliche Substanz bilden, wertend-diskursiv zu bündeln, zu vereinheitlichen: „Er spricht darum oft immer anders und falsch.“ Ist das nicht eine treffende Kurzdarstellung des zeitgenössischen Politikers, der dementiert, klarstellt, präzisiert und im Anschluß an peinliche Aussagen unglaubwürdig versichert, er sei falsch zitiert worden? Es ist nicht nur eine zeitgemäße Darstellung des Politikers, sondern auch des Schriftstellers, der in postmoderner Zeit nicht mehr den Anspruch erhebt, mit Hilfe bestimmter Relevanzkriterien und Taxonomien einen Diskurs der Wahrheitsfindung zu entfalten, der narrativ-teleologisch für Sinnkonstitution bürgt. Bachtin, der den Polyphonie-Begriff in die literaturwissenschaftliche Dis‐ kussion eingeführt hat, ist insofern als Modernist zu bezeichnen, als er an diesem Anspruch stets festhielt und sogar Dostoevskij tadelte, wenn dieser seinen polyphonen Experimenten eine extreme Form gab. Dazu bemerkt Tzvetan Tod‐ orov: „Bachtin wirft hier Dostoevskij vor, er habe die umfassende Exotopie, die Stabilität und Zuverlässigkeit des Autorenbewußtseins, die dem Leser stets die Wahrheitsfindung ermöglichte, in Frage gestellt.“ 38 Möglicherweise könnte man Bachtin auch anders interpretieren und behaupten, er habe die intertextuelle Polyphonie der Postmoderne antizipiert. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß er das polyphone Experiment mit einem Prozeß der Wahrheitsfindung verband, der eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft und die Befreiung des Volkes von feudaler und marxistisch-leninistischer Bevormundung zum Ziel hatte. 39 Sicher ist, daß Bachtin an der Romangattung als oppositioneller und gesell‐ schaftskritischer Form festhielt. Diese Form setzt aber, wie Goethe und später Lukács, Benjamin und Adorno wußten, Subjektivität als gesellschaftliche und ontologische Kategorie voraus. Goethe bezeichnet den Roman als „subjektive Epopee“ 40 , und Adorno ergänzt später, im Zusammenhang mit dem Moder‐ nismus: „Wenn Lukács in seiner Theorie des Romans vor vierzig Jahren die Frage aufwarf, ob die Romane Dostojewskys Bausteine zukünftiger Epen, wo nicht selber bereits solche Epen seien, dann gleichen in der Tat die heutigen Romane, die zählen, jene, in denen die entfesselte Subjektivität aus der eigenen 8.3 Der postmoderne Zerfall des Subjekts 223 <?page no="224"?> 41 Th.W. Adorno, „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp, 1958, S.-71. 42 Dazu ausführlicher: Vf., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, Fink, (1986), 1999. 43 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, op. cit., S.-14. 44 Vgl. H. Broch, Die Schlafwandler, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S.-618-624. 45 J. Becker, Felder, Ränder, Umgebungen, op. cit., S.-141. Schwerkraft in ihr Gegenteil übergeht, negativen Epopöen. Sie sind Zeugnisse eines Zustands, in dem das Individuum sich selbst liquidiert (…).“ 41 Der postmoderne Roman als Nouveau Roman, als unterhaltendes Glasper‐ lenspiel oder radikales Romanexperiment gleicht einer subjektiven Epopöe ohne Subjekt: einer recherche, die im Nichts ausmündet, weil die Wertsetzungen und die ihnen entsprechenden diskursiven Grundlagen 42 , die noch im moder‐ nistischen Roman die Subjektivität ausmachten, nicht mehr existieren. Kafkas Gesetz, Prousts Literatur und Musils Utopie des anderen Zustandes fallen einer postmodernen Skepsis zum Opfer, die Lyotard als „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ 43 auffaßt. Denn Utopie und Wahrheit, Kunst und Revolution sind nur innerhalb von großangelegten métarécits zu legitimieren, denen auch der romantische, der realistische und der modernistische Roman seine Daseinsberechtigung verdankt. Diese Daseinsberechtigung wird zweifelhaft nach dem von Hermann Broch angekündigten „Zerfall der Werte“ 44 , dem ein Zerfall der auf diesen Werten gegründeten Metaerzählungen folgt: „Der Roman lebt und lebt. Uns ist das alles ziemlich egal“ 45 , schreibt Jürgen Becker. Möglicherweise ist es uns deshalb egal, weil im postmodernen Spiel mit der Gattung, das bei Eco ebenso zum Ausdruck kommt wie bei Fowles, der moderne Anspruch, Subjektivität zu konstituieren und Leser als Subjekte anzusprechen, längst aufgegeben wurde. 224 8 Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne <?page no="225"?> 1 Zum Verhältnis von juristischen und nichtjuristischen Diskursen vgl. z. B. A. J. Greimas, „Analyse sémiotique d’un discours juridique“, in: ders., Sémiotique et sciences sociales, Paris, Seuil, 1976, S.-113-118. 2 A. Compagnon, La Seconde main, Paris, Seuil, 1979, S.-359. 3 J. Mukařovský, Kunst, Poetik, Semiotik, Hrsg. K. Chvatík, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S.-133. 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität. Zum Funktionswandel des literarischen Zitats zwischen Moderne und Postmoderne Da das Zitat nicht nur in der Literatur, sondern in nahezu allen Textsorten vor‐ kommt, erscheint es angebracht, mit der Frage zu beginnen, weshalb hier gerade das literarische Zitat kommentiert werden soll. Sicherlich wäre es auch lohnend, die Rolle des Zitats in politischen, juristischen oder theoretischen Texten zu untersuchen und z. B. der Frage nachzugehen, in welchem Ausmaß das Zitieren den philologischen Diskurs ermöglicht, der in vielen Fällen zur Exegese neigt und seinem Selbstverständnis nach ein Textkommentar ist. Ähnliches könnte von juristischen Diskursen gesagt werden, die sich häufig mit der Auslegung von Gesetzen oder einzelnen Paragraphen befassen und schon deshalb nicht auf Zitate verzichten können. 1 Allen Arten von Zitaten ist gemeinsam, wie Antoine Compagnon bemerkt, daß sie verschiedene semiotische Systeme miteinander verknüpfen. 2 Im Vergleich zu wissenschaftlichen, juristischen, politischen und anderen pragmatischen Diskursen scheint Literatur insofern eine Sonderstellung einzu‐ nehmen, als ihre Fähigkeit, nahezu alle Textsorten - vom Evangelium bis zur Reklame - mit Zustimmung oder Ablehnung zu zitieren, im Pastiche nachzu‐ ahmen, zu parodieren oder ironisch zu relativieren, schier unbegrenzt ist. Wäh‐ rend von einem wissenschaftlichen oder juristischen Text aus institutionellen Gründen erwartet wird, daß er sich mit der eindeutig durch Anführungszei‐ chen gekennzeichneten zitierten Passage sachlich auseinandersetzt und damit einer geltenden wissenschaftlichen oder juristischen Norm gehorcht, wird dem literarischen Experiment eine spielerisch-polemische Auseinandersetzung mit geltenden - vor allem mit ästhetischen - Normen zugestanden. Schon Mukařovský und andere Strukturalisten haben in der Zwischenkriegszeit auf diesen Umstand hingewiesen: „Zusammenfassend können wir feststellen, daß der spezifische Charakter der ästhetischen Norm darin besteht, daß sie dazu neigt, eher verletzt als eingehalten zu werden.“ 3 <?page no="226"?> 4 Vgl. J. Mukařovský, „Probleme der ästhetischen Norm“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textse‐ miotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S.-173. 5 Vgl. R. Jakobson, „Linguistik und Poetik“, in: J. Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik I, Frankfurt, Athenäum, 1972, S. 108: „Die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen, ist die poetische Funktion der Sprache.“ 6 E. Coseriu, „Thesen zum Thema Sprache und Dichtung“, in: W.-D. Stempel (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik, München, Fink, 1971, S.-184. Anders gesagt: Der literarische Text ist im Gegensatz zum wissenschaftlichen oder juristischen im Umgang mit Zitaten nicht an bestimmte Normen und Regeln gebunden. Im Gegenteil, man erwartet von ihm, daß er die geltende ästhetische Norm verletzt und neue Formen des Zitierens, Parodierens, Ver‐ fremdens und Ironisierens hervorbringt. Freilich gilt Mukařovskýs von der avantgardistischen Praxis inspirierte These über die Normverletzung nur für die neuere, vom Individuations- und Innovationsprinzip beseelte Literatur seit der Romantik; sie gilt nicht für die Zeit des Klassizismus und der Regelpoetiken, wie Mukařovský selbst einräumt. 4 Komplementär zu dieser These verhält sich der Ansatz des Textlinguisten Eugenio Coseriu, der gegen Jakobson die radikale, aber durchaus fruchtbare An‐ sicht vertritt, daß die Sprache der Dichtung oder Literatur nicht ein besonderer Sprachgebrauch mit einer besonderen Funktion ist (die nach Jakobson darin besteht, daß der Text als ästhetische Nachricht auf sich selbst verweist) 5 , sondern die Universalsprache par excellence, in der alle sprachlichen Möglichkeiten und Experimente zumindest im Prinzip zu verwirklichen sind: „Somit erscheint die dichterische Sprache nicht als ein Sprachgebrauch unter anderen, sondern als Sprache schlechthin, als Verwirklichung aller sprachlichen Möglichkeiten.“ 6 Für das literarische Zitat bedeutet dies, daß es im Gegensatz zum wissen‐ schaftlichen oder juristischen Zitat, das eine vorwiegend begrifflich-argumen‐ tative Funktion erfüllt, eine Vielzahl von Rollen spielen kann und im Verlauf der literarischen Evolution einen ständigen Bedeutungs- und Funktionswandel durchmacht. Während im wissenschaftlichen Diskurs das Zitat fast ausschließ‐ lich der Textanalyse oder der kritischen Auseinandersetzung mit anderen Positionen dient (wobei Ironie und Polemik keinesfalls fehlen müssen), kann es in der Literatur parodistisch, ironisch, in einer Textcollage oder in Anagrammen verarbeitet werden. Gerade in postmodernen Textexperimenten, die nicht mehr der metaphysischen Suche oder einer revolutionär-utopischen Gesellschafts‐ kritik verpflichtet sind, ist eine spielerische Befreiung der Schrift vom Druck sprachlicher, ästhetischer und ethischer Normen zu beobachten. Von einem spielerisch-experimentellen Umgang mit dem Zitat zeugt der folgende Text aus 226 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="227"?> 7 M. Roche, Compact, Paris, UGE, 1966, S.-87. Maurice Roches Compact, der Mitte der 60er Jahre die Erfahrungen des Nouveau Roman kritisch und ironisch reflektiert: I L F AL LAIT à N O U V E AU R E P A R TI R à ZÉ R O . Il fait l’article, il ravaude dans le vide, il rapièce sa camelote de détails (rectangles d’enregistrements) cousus de boniments : : ET VÉNUS EST VENUE ÈVE NUE AI VEINE EUE |… « car précieux secrétaire taquine la muse et sait à l’occasion « traduire haï kaï en vers holorime… « chanter opéra : dans le texte, sur « fac-similé manuscrit original…; déclamer tragiques KUKLON‘ « HELIOU KALO |: jouer théâtre élisabéthain OR NOT TO « SLEEP PERCHANCE TO BE |-; ou dire pièce moderne « GLOUPS AOUK AOUK NIAF |-; … non-! ça, c’est bande à « l’envers… prélèvement maladroit-: mauvais montage. 7 Roches Textcollage verdeutlicht, was Coseriu mit „Verwirklichung aller sprach‐ lichen Möglichkeiten“ meint: Literatur kann sowohl die Ebene der Signifikanten als auch die der Signifikate deformieren, verfremden, zerstückeln und erneuern, ohne im Rahmen bestehender sprachlicher, wissenschaftlicher oder juristischer Normen verurteilt zu werden. Das einzige Normensystem, dem sie Rechenschaft schuldig ist, fördert in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation das Experiment, die Innovation. 9.1 Theorie: Intertextualität und Zitat Das Verhältnis von Intertextualität und Zitat kann noch am ehesten durch eine zweifache Definition verdeutlicht werden: Jedes Zitat ist eine Form von Inter‐ textualität, aber nicht jede Art der Intertextualität ist ein Zitat. Maurice Roches Textcollage läßt das Ineinandergreifen von Zitat und intertextueller Umformung erkennen: Während der Notentext als „wörtliches“ Zitat aus einer musikalischen Komposition gelesen werden kann, ist „ OR NOT TO “ als atrophiertes Zitat oder als intertextueller Hinweis auf die vielzitierte Phrase „to be or not to be“ aus Shakespeares Hamlet zu lesen. ET VENUS EST VENUE VENUE EVE NUE AI VEINE EUE ist ein Beispiel für anagrammatische Intertextualität: UND VENUS IST GEKOMMEN GEKOMMEN NACKTE EVA HABE GLÜCK GEHABT . (Es gehört zu den Besonderheiten vieler Textcollagen und fast aller Anagramme, unübersetzbar zu sein.) 9.1 Theorie: Intertextualität und Zitat 227 <?page no="228"?> 8 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Hrsg. R. Grübel, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S.-198. 9 Vgl. M. M. Bachtin, Die Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S.-284-308. Die Unterscheidung von Intertextualität und Zitat ist deshalb sinnvoll, weil die grundsätzliche Erkenntnis, daß Intertextualität der übergeordnete Begriff ist und das Zitat eine Form von Intertextualität, weitere Erkenntnisse zutage fördert. An erster Stelle steht die Überlegung, daß das Zitat als wörtliche oder explizite Form der Intertextualität vom dialogischen Charakter der Literatur (und aller „zitierenden“ Diskurse) zeugt. Literatur ist, wie schon Bachtin wußte, nicht monologisch-monolithisch zu verstehen, sondern als dialogische (ironi‐ sche, parodistische, kritische) Auseinandersetzung mit anderen Texten: „Die fremde Rede, die erzählte, nachgeäffte, in einem bestimmten Licht vorgeführte, bald in kompakten Massen angeordnete, bald sporadisch verstreute, meist unpersönliche (…) Rede ist nirgendwo deutlich von der Autorrede abgegrenzt: die Grenzen sind absichtlich fließend und zweideutig gehalten, oft verlaufen sie durch ein syntaktisches Ganzes, oft durch einen Satz, manchmal jedoch zertrennen sie die Hauptglieder des Satzes.“ 8 Aus Bachtins Bemerkungen geht hervor, daß die fremde Rede auf viele verschiedene Arten in den dialogischen Text (des Romans) 9 eingehen kann. Das Zitat ist nur ein Aspekt der literarischen Dialogizität und daher nur im Rahmen dieser Dialogizität konkret zu verstehen. Weitere Aspekte sind (wie Roches Textcollage zeigt): 1. die Andeutung oder Konnotation (bekannte Reden, Redewendungen, Titel oder Werke können durch Andeutungen konnotiert werden); 2. die fragmentarische Wiedergabe eines fremden Textes ohne Anfüh‐ rungszeichen (etwa Butors Histoire extraordinaire, in der Baudelaires Texte fragmentarisch wiedergegeben und neu geordnet werden -, oder Claude Simons La Bataille de Pharsale, ein Experiment, in dessen Verlauf Passagen aus Prousts A la recherche du temps perdu neu montiert werden); 3. das sehr häufige Zitieren von literarischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Titeln, die für den Autor-Erzähler von Bedeutung sind; 4. Hinweise auf eigene Werke oder Titel, die bisweilen als bekannt vorausgesetzt werden; 5. Hinweise auf erfundene Werke oder Titel, die vom Autor selbst oder von fiktiven Autoren stammen können; 6. schließlich die implizite oder explizite Parodie (oder Pastiche) eines literarischen oder nichtliterarischen Textes in seiner Gesamtheit oder in Auszügen. Im folgenden geht es nicht darum, alle diese Aspekte der Intertextualität zu kommentieren und zu illustrieren, sondern darum, das eigentliche Zitat, das als solches von der erzählenden Instanz gekennzeichnet wird, in den umfassenden Kontext der Intertextualität einzufügen, um seinen Stellenwert innerhalb der literarischen Dialogizität näher bestimmen zu können. Denn die Gegenwart 228 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="229"?> 10 A. Compagnon, La Seconde main, op. cit., S.-34. 11 J. Kristeva, La Révolution du langage poétique. L’Avant-garde à la fin du XIX e siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris, Seuil, 1974, S.-59-60. 12 L. Jenny, „La Stratégie de la forme“, in: Poétique 27, 1976, S.-262. 13 J. Kristeva, Séméiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris, Seuil, 1969, S.-144. des Zitats, nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Wissenschaft oder der Politik, zeugt von der dialogisch-polemischen Ausrichtung des Diskurses. Schreiben ist umschreiben, betont Antoine Compagnon: „Ecrire, car c’est tou‐ jours récrire, ne diffère pas de citer.“ 10 Man könnte hinzufügen, daß jedes Schreiben eine intertextuelle Auseinandersetzung mit dem fremden Wort ist. In ihrer späteren Auffassung der Intertextualität, die sie im Anschluß an Bachtins Theorie des Dialogs definiert, distanziert sich Julia Kristeva von dem reduktionistischen Mißverständnis, das Intertextualität der Zitat- oder Quellen‐ forschung gleichsetzt: „Der Terminus Intertextualität bezeichnet die Transposi‐ tion eines (oder mehrerer) Zeichensysteme in ein anderes; da aber der Terminus des öfteren die banale Bedeutung von ‚Quellenforschung‘ angenommen hat, ziehen wir ihm den der Transposition vor, der den Vorteil hat, daran zu erinnern, daß der Übergang von einem Bedeutungssystem zum anderen eine neue Artikulation des Thetischen erforderlich macht - der aussagenden und bezeichnenden Positionalität.“ 11 Laurent Jenny kommentiert diese Definition, indem er ganz zu Recht daran erinnert, daß Intertextualität nicht empiristisch als die Gesamtheit der Einflüsse, die in einen Text eingegangen sind, mißverstanden werden darf, sondern als „Umdeutung und Assimilation verschiedener Texte, für die ein zentrierender Text verantwortlich ist, dem bei der Sinnzuweisung eine führende Rolle zufällt“ („un texte centreur qui garde le leadership du sens“), aufgefaßt werden sollte. 12 Sowohl in Kristevas als auch in Jennys Kommentar fällt auf, daß Intertex‐ tualität nicht mechanistisch, additiv, sondern dynamisch-konstruktivistisch betrachtet wird. Davon zeugen Ausdrücke wie „Transposition“ und „leadership du sens“, die zugleich einen Begriff evozieren, dem im folgenden eine Schlüs‐ selrolle zufallen wird: den Subjektbegriff. Denn der Prozeß der Intertextualität ist letztlich nichts anderes als die von der Intentionalität eines sprechenden oder schreibenden Subjekts geleitete und organisierte Rekonstruktion (Kombination) von gesprochenen oder geschriebenen Texten, die in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation zusammenwirken. Kristeva beschreibt diese Intentionalität des Subjekts, wenn sie zu Bachtins Dialogizität bemerkt: „Bachtin stellt den Text in den Zusammenhang der Geschichte und der Gesellschaft, die selbst als Texte betrachtet werden, die der Schriftsteller liest, in denen er aufgeht, indem er sie umschreibt.“ 13 Auch dieser 9.1 Theorie: Intertextualität und Zitat 229 <?page no="230"?> 14 R. Lachmann, „Intertextualität als Sinnkonstitution. Andrej Belyjs Petersburg und die ‚fremden‘ Texte“, in: Poetica 15, 1983, S.-78. 15 R. Barthes, Le Bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris, Seuil, 1984, S.-61. Passage liegt der Gedanke an eine subjektive Intentionalität als Umgestaltung von bestehendem Textmaterial zugrunde: als Schöpfung (durchaus im Sinne traditioneller Poetiken, von denen sich die Autorin von La Révolution du langage poétique, 1974 selbstverständlich distanzieren würde). Zugleich kommt hier jedoch der gegenläufige Gedanke zum Ausdruck, der Intertextualität nicht so sehr als Subjektkonstitution erscheinen läßt, sondern als deren Gegenteil: als Auflösung der Subjektivität. Denn Kristeva spricht nicht nur vom Umschreiben als Produktion (Hervorbringung) und Neuschöpfung, sondern auch davon, daß „der Schriftsteller [Texte] liest, in denen er aufgeht“. Das Wort „aufgehen“ konnotiert jedoch eher eine Zerfallserscheinung als einen Konstruktionsprozeß. Diesen Aspekt der Intertextualität läßt Renate Lachmann hervortreten, wenn sie Textproduktion als Wortspiel versteht, das Sinnzerfall bewirkt, statt Sinn zu stiften: „Nach dem Muster des kontaminatorischen Wortspiels kann ein ganzer Text Textspiel sein, indem er sich stilistischer, narrativer, thematischer ‚Materialien‘ aus anderen Texten versichert und deren angestammte Funktion unterläuft. Literatur, die auf diese Weise aus Literatur gemacht ist, eben durch Dekonstruktion und Mischung, erscheint als eine Bündelung heterogener Text‐ zeichen, die in Kontakt treten als vorsätzliche Nichtbestätigung vorhandenen Sinns.“ 14 Hier wird deutlich, daß Kristevas Metaphorik des „Aufgehens“ („in denen er aufgeht“) nicht einfach in den Bereich der Rhetorik relegiert werden sollte: Intertextualität kann auch als Sinnzersetzung durch Kombination von hetero‐ genen Einheiten aufgefaßt werden. Demnach weist der intertextuelle Prozeß zwei konträre Aspekte auf, die nicht auf hegelianische Art zur Synthese gebracht werden können: Sinnkons‐ titution und Sinnzerfall, Subjektkonstitution und Subjektzerfall. Aus diesen Überlegungen und aus der Ambivalenz der Intertextualität geht die These hervor, die dieser Betrachtung in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt: Während in der modernen Literatur Intertextualität und Zitat die Funktion erfüllten, Subjektivität selbstkritisch zu konstituieren und zu stärken, tragen sie in post‐ modernen Texten zur Auflösung der Subjektivität bei. In diesem Kontext sind Roland Barthes’ radikale Aussagen über den Tod des Autors (in „La Mort de l’auteur“, 1968) zu verstehen. Als nachmoderner Post‐ strukturalist, der Descartes’ rationalistischeas Ego-Ideal dekonstruiert, kann er behaupten, „die Stimme verlier(e) ihren Ursprung“, „der Autor geh(e) seinem Tod entgegen, die Schrift beginn(e)“. 15 „C’est le langage qui parle“, „die Sprache 230 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="231"?> 16 Ibid., S.-62. 17 R. Barthes, Sade, Fourier, Loyola, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S.-188. spricht“ 16 , heißt es etwas später. Doch diese heideggerianische Behauptung gilt eher für die Postmoderne, deren Prozesse Barthes zur Sprache bringt, als für die Moderne, die nie auf das handelnde und sprechende Subjekt verzichtet hat. Mit „moderner“ Literatur ist hier nicht nur die Literatur des Modernismus (1850-1950 oder 1870-1950) gemeint, sondern die gesamte literarische Tradition seit der Aufklärung, die auf ästhetischer, ethischer, didaktischer und politischer Ebene darauf aus war, Subjektivität zu begründen und zu entfalten. Der Moder‐ nismus (Musils, Prousts, Kafkas, Svevos oder Sartres) ist insofern ein kritischer und selbstkritischer Erbe der gesamten Moderne, als er an der Subjektivität und an dem sie begleitenden Prozeß der Sinnfindung festhält und Intertextualität als Bestandteil dieser Sinnfindung versteht. Im Gegensatz zu diesem Modernismus, der die neuzeitliche Moderne (selbst-)kritisch reflektiert, bricht postmoderne Literatur den Prozeß der Subjekt- und Sinnkonstitution ab und faßt Intertextu‐ alität (zusammen mit dem Zitat) als spielerisch-dekonstruktivistische Tätigkeit auf. Symptomatisch für die postmoderne Situation ist eine Bemerkung von Roland Barthes aus Sade, Fourier, Loyola (1971): „Nicht die Wahrheit führt meine Hand, sondern das Spiel, die Wahrheit des Spiels.“ 17 Die Wahrheit des Spiels ist aber nichts anderes als die Dekonstruktion von Sinn und Subjektivität, eine Dekonstruktion, die von Nietzsches Kritik der Metaphysik eingeleitet wurde und von Autoren wie Derrida, Deleuze, J. Hillis Miller und Geoffrey H. Hartman weitergeführt wird. Während die modernistischen Autoren noch versuchten, Sinn und Subjek‐ tivität ideologiekritisch zu retten und reflexiv durch eine Selbstkritik der Moderne (etwa des Rationalismus, der Herrschaft, des Fortschrittsglaubens) neu zu begründen, führen uns die Postmodernen den Zerfall der Subjektivität im Sprachexperiment vor Augen. Das Zitat, das hier gleichsam synekdochisch (als pars pro toto) die Peripetien der Intertextualität veranschaulichen soll, wird in der Postmoderne nicht mehr eingesetzt, um die erzählerische Kohärenz des Diskurses und der Subjektivität zu stärken, sondern um sie zu zersetzen und das Kohärenzpostulat als solches in Frage zu stellen. 9.1 Theorie: Intertextualität und Zitat 231 <?page no="232"?> 18 Vgl. A. J. Greimas, Du Sens II, Paris, Seuil, 1983, S.-49-66. 19 J. W. Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Stuttgart, Reclam, 1967, S.-29. 20 Zur „schwarzen Romantik“ vgl. M. Praz, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München, DTV, 1981. 21 Zur Verdoppelung des Subjekts bei E. T. A. Hoffmann vgl. E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, Die Elixiere des Teufels sowie: S. M. Moraldo, Wandlungen des Doppelgän‐ gers. Shakespeare - E.T.A. Hoffmann - Pirandello, Frankfurt-Berlin-Paris, Peter Lang, 1996. 22 R. de Chateaubriand, René, Paris, Larousse, 1966, S.-40 23 G. Hoffmeister, Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart, Metzler, 1978, S.-124-135. 9.2 Zitat und Intertextualität in Moderne und Spätmoderne: Subjektkonstitution Seit der Klassik, der Romantik und dem Realismus erfüllen Intertextualität und Zitat die Aufgabe, die Position des erzählenden Subjekts und die Identität der handelnden Subjekte zu stärken. Es geht u. a. darum, die Ideologie des Erzählers und des Helden zu erläutern oder gar zu rechtfertigen und die allen oder einigen Aktanten (actants du récit, Greimas) 18 gemeinsamen Ideologeme hervortreten zu lassen, um den Kommunikationszusammenhang eines Romans, einer Novelle oder eines Dramas transparent und plausibel zu machen. Wenn beispielsweise in Goethes Werther andeutungsweise eine Ode von Klopstock zitiert wird, eine Ode, die die beiden zentralen Figuren des Brief‐ romans - als Gemeinplatz im wörtlichen Sinne - im Gedächtnis haben, so fällt Licht auf den Kommunikationszusammenhang und die shared values der Akteure: „(…) Sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte - Klopstock! - Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß.“ 19 Auch in der französischen Romantik dient Intertextualität primär der Arti‐ kulation subjektiven Empfindens. Trotz der prekären Stellung, die das Subjekt in einigen Phasen der Romantik - etwa in der „schwarzen Romantik“ 20 oder bei E.T.A. Hoffmann 21 - einnimmt, dienen auch bei einem Autor wie Chateaubriand intertextuelle Hinweise oder Andeutungen der Ausgestaltung der subjektiven Welt. Chateaubriands „Intertext“ (Virgil, Homer und Ossian) geht in den Diskurs seines Helden René ein: „Sur les monts de la Calédonie, le dernier Barde qu’on ait ouï dans ces déserts me chanta les poèmes dont un héros consolait jadis sa vieillesse.“ 22 Ähnlich wie Klopstocks und Homers Werke in Goethes Werther tragen bei Chateaubriand die (fiktiven) Gesänge der Barden zur Konkretisierung eines subjektiven Entwurfs bei, der zu einem der kollektiven Topoi der europäi‐ schen Romantik wird. 23 232 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="233"?> 24 G. Eliot, Adam Bede, London, Penguin, 1985, S.-246. 25 G. Eliot, Silas Marner, London, Penguin, 1977, S.-3. 26 Zum Übergang von Romantik zur Moderne vgl. K. Maurer, W. Wehle (Hrsg.), Romantik, Aufbruch zur Moderne, München, Fink, 1991. 27 Zur Darstellung des Realismus als Modernismus vgl. J. Barzun, Classic, Romantic, and Modern, Chicago-London, Univ. of Chicago Press, 1943, 1975, S. 99: Barzun geht von der anregenden, aber möglicherweise nicht konsensfähigen Hypothese aus, daß alle „Ismen“ seit der Romantik (also auch der Realismus) romantischen Ursprungs sind. Trotz ihrer materialistischen Neigungen, die sie als Feuerbach-Leserin im Laufe der Jahre entwickelte, verläßt sich George Eliot in ihren Romanen auf Bibelzitate, die nicht nur das religiöse Empfinden der englischen Landbevölke‐ rung des 19. Jahrhunderts wiedergeben, sondern auch stärken sollen. In einer Zeit fortschreitender Arbeitsteilung und zunehmender Anomie (im Sinne von Durkheim) fällt der realistischen Literatur in Eliots Werk die moralische Aufgabe zu, die christliche conscience collective zu konsolidieren: „The old psalm-tunes have many a wail among them, and the words - Thou sweep’st us off as with a flood; We vanish hence like dreams - seemed to have a closer application than usual, in the death of poor Thias.“ 24 Im Rahmen dieses Diskurses, der im Namen eines aufgeklärten und säkula‐ risierten Christentums gesellschaftliche Solidarität predigt, ist auch das Words‐ worth-Zitat zu lesen, das die Autorin ihrem Roman Silas Marner vorangestellt hat: A child, more than all other gifts That earth can offer to declining man, Brings hope with it, and forward-looking thoughts. 25 Die pauschale Behauptung, im Modernismus ändere sich die Funktion von Intertextualität und Zitat schlagartig, wäre sicherlich eine unzulässige Schema‐ tisierung, die den Nachteil hätte, den Ausblick auf Ähnlichkeiten und Übergänge zwischen Romantik und Modernismus 26 oder Realismus und Modernismus 27 zu verstellen. Dennoch ist innerhalb der Höhenkamm-Literatur, die stets eine Literatur für die Intellektuellen ist, eine Verschiebung zugunsten der Kritik, insbesondere der Sprach- und Ideologiekritik, feststellbar. Diese Hervorhebung modernistischer Kritik soll keineswegs die gesellschaftskritische Ausrichtung der Romantik (Shelley) oder des Realismus (Keller, Spielhagen, Galdós) verde‐ cken, sondern an die Akzentverschiebung zugunsten der Kritik erinnern, die eine der fundamentalen Ambivalenzen des Modernismus begründet: den oft aporetischen Versuch, die ideologischen Grundlagen der Subjektivität radikal 9.2 Zitat und Intertextualität in Moderne und Spätmoderne: Subjektkonstitution 233 <?page no="234"?> 28 Während Balzac als Legitimist seine Gesellschaft eher von einer konservativen Warte aus betrachtet (etwa in La Duchesse de Langeais), setzt sich G. Eliot zumindest indirekt für ein aufgeklärtes Christentum ein. 29 Zur Auflösung der Subjektivität im Roman vgl. Vf., Roman und Ideologie. Zur sozial‐ geschichte des modernen Romans, München, Fink (1986), 1999, Kap. II, S.-38-48. 30 Zum Modernismus als Selbstkritik der Moderne vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Ge‐ sellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), S.-29-52. 31 G. R. Kaiser, Proust. Musil. Joyce. Zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft am Paradigma des Zitats, Frankfurt, Athenäum, 1972, S.-236. zu kritisieren und zugleich das Subjekt gegen die es bedrohenden Auflösungs‐ tendenzen zu verteidigen. Anders als der Realismus, der in der Figur des allwissenden Erzählers (Balzacs, Eliots, Kellers) seinen Glauben an das Subjekt und dessen konservative oder christlich-aufklärerische Ideologie zum Ausdruck bringt 28 , neigt der modernistische Diskurs Musils, Joyces, Svevos, Sartres dazu, die ideologischen Grundlagen des Romans und der Subjektivität kritisch auszu‐ zehren, auszuhöhlen und schließlich das Subjekt - zusammen mit dem Roman 29 - aufzulösen. Daß es im Modernismus nicht so weit kommt, daß Subjekt und Roman nicht (wie in einigen Experimenten der Postmoderne) aufgelöst werden, hängt mit der gegenläufigen Tendenz des Modernismus zusammen: mit seinem konsequenten Festhalten an einer problematisch gewordenen Subjektivität, deren herrschaft‐ liche, ideologische und kunstfeindliche Grundlagen von der modernistischen Selbstkritik der Moderne 30 immer wieder bloßgelegt wurden. Da modernistische Literatur unablässig zwischen dem Pol der Subjektkritik und dem der Subjektbe‐ gründung oszilliert, ist auch ihre Einstellung zur Intertextualität und zum Zitat ambivalent: zitiert wird bald in selbstkritisch-subversiver, bald in subjektzent‐ rierter, konstruktiver Absicht. Dies soll im folgenden veranschaulicht werden, wobei das Zitat „in der eingeschränkten Bedeutung einer wortlautgerechten Anführung“, wie Gerhard R. Kaiser 31 sagt, im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen soll. Es wird allerdings immer wieder auf den umfassenden Zusammen‐ hang der Intertextualität bezogen. Wenn Gerhard R. Kaiser die Funktion des Zitats in Musils Der Mann ohne Eigenschaften als „eine() spezifische() Art von Literaturkritik“ beschreibt, so erfaßt er ein wesentliches Moment des Modernismus: „Wir erinnern uns an einige Beispiele: Durch Arnheims Hyperion-Zitat wird nicht nur der idealistisch sprechende, doch rein pragmatisch handelnde Großkapitalist entlarvt, sondern auch die Geschichte einer pervertierten Aneignung Hölderlins skizziert. Dio‐ timas Eichendorff-Zitat charakterisiert treffend die empfindungsvolle Dame, zugleich aber steht es exemplarisch für das Phänomen der ‚Dünnromantik‘. Und Lindners Verhältnis zu Goethe erscheint nicht nur als typischer Zug des 234 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="235"?> 32 Ibid., S.-142. 33 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders., Gesammelte Werke IV, Hrsg. A. Frisé, Hamburg, Rowohlt, 1978, S.-1091. 34 Ibid., Bd. III, S.-704. 35 S. Mallarmé, „Variations sur un sujet“, in: ders., Œuvres complètes, Hrsg. H. Mondor, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1945, S.-368. pedantischen Pädagogen, sondern repräsentiert eine biedermeierliche Variante der Goethe-Rezeption.“ 32 Der modernistische Roman erscheint hier als opposi‐ tionelle Gattung und als Kritik im Sinne der - ebenfalls zur modernistischen Problematik gehörenden - Kritischen Theorie. Doch der Leser von Musils Roman stößt auch auf literarische Zitate, die das neue Selbstgefühl des modernistischen Subjekts ausdrücken sollen: ein Selbstgefühl jenseits von ideologischen Stereotypen. So erinnert sich Ulrich an die „wildschönen Verse Shakespeares“ 33 , die seine Schwester Agathe nach dem Begräbnis ihres Vaters aufgesagt hat: die durch eine scheinbar unbeholfene Schüler-Übersetzung entfremdeten, wilden Verse des englischen Dichters, die der Lehrer Hagauer „nach der Ratsche der Schlegel-Übersetzung“ (Agathe) „korrigiert“: „‚Und es war doch schön‘, - fragte sie - ‚daß der Kleine in seiner Schule, mit dem er nicht zufrieden war, die Worte so wörtlich und schaurig übersetzt hat, wie er sie da liegen fand wie einen Haufen auseinandergefallener Steine? ‘ Und sie wiederholte: ‚Feige sterben oftmal vor ihrem Tod - Die Tapfern kosten niemals vom Tode außer einmal - Von all den Wundern, die ich noch habe gehört, es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten - sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende - wird kommen, wann er will kommen …! ! ! ‘“ 34 Dieses Zitat (aber ist es ein Zitat im herkömmlichen Sinne? ist es nicht eine besondere Form von Intertextualität als erfundene, verfremdete Übersetzung? ) erfüllt eine ganz andere Funktion als die Bildungszitate Arnheims, Diotimas und Lindners. Es zeugt von der spätmodernen Suche nach einer wahren Sprache, die jenseits der kommerzialisierten Kommunikationsklischees angesiedelt wäre; jenseits des „universel reportage“, wie Mallarmé 35 sagt, jenseits der „Ratsche“. Es wird sich zeigen, daß die bedeutenden Texte des Modernismus von dieser Suche geprägt sind, die nur selten teleologisch angelegt ist und sich manchmal im Ungewissen verliert. Der mit Zustimmung oder Ablehnung zitierte, der parodierte oder paraphra‐ sierte Text begleitet diese Suche und dient dem sprechenden (erzählenden) oder handelnden Subjekt als Bezugspunkt, als Orientierungshilfe. Entscheidend ist in den meisten Fällen, wer zitiert und zu welchem Zweck: Zitiert der Erzähler, um seine Position oder seinen Diskurs zu rechtfertigen - oder zitiert einer der 9.2 Zitat und Intertextualität in Moderne und Spätmoderne: Subjektkonstitution 235 <?page no="236"?> 36 Vgl. G. Lukács, „Erzählen oder beschreiben“, in: R. Brinkmann (Hrsg.), Begriffsbestim‐ mung des literarischen Realismus, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1974, S.-36-37. 37 J.-K. Huysmans, A Rebours, Paris, Fasquelle, 1970, S.-45. 38 Ibid., S.-62. Protagonisten, um dem Erzähler beizupflichten, ihn zu kritisieren, oder einen Rivalen oder gar sich selbst bloßzustellen? Wie Gerhard R. Kaiser gezeigt hat, dienen viele von Musils Zitaten der Selbstentlarvung der Protagonisten und der Ideologiekritik. Andere wiederum - etwa die verfremdete Shakespeare-Über‐ setzung - weisen ins Utopische und dienen der Selbstfindung des Subjekts. In diesen Prozeß der Selbstfindung sind die meisten Zitate in Joris-Karl Huysmans’ Roman A Rebours (1884) eingebunden, der einen Bruch mit der realistisch-naturalistischen Tradition herbeiführt und zugleich als Manifest des Ästhetizismus und des Modernismus gelesen werden kann. Er gehört dem Äs‐ thetizismus an, weil er zusammen mit dem Mimesis-Postulat („Objektivität“) das moralisch-politische und das didaktische Engagement der Realisten ablehnt; er ist modernistisch, weil er lange vor Musil, Proust oder dem jungen Sartre auf die anekdotisch aufgebaute Handlung verzichtet, das „Erzählen“ dem „Beschreiben“ im Sinne von Lukács opfert 36 und sich auf die widersprüchliche Erlebniswelt des besonderen, von der demokratischen Gesellschaft marginalisierten Subjekts konzentriert. Die Marginalisierung des ästhetischen Subjekts in einer bürgerlichen, vom Utilitarismus beherrschten Welt schlägt sich im Titel eines Baudelaireschen Prosagedichts nieder, das des Esseintes, der Held des Romans, liest: „Any where out of the world. - N’importe où, hors du monde“. 37 Die Alternativwelt, die sich des Esseintes nach seiner Flucht aus der mondänen Welt der Pseudointellektu‐ ellen und Literaten aufbaut, setzt sich zusammen aus schönen Gegenständen, Träumen, Büchern und - Zitaten. Auf der einen Seite stehen die Werke, die er trotz einer gewissen Sympathie ablehnt, auf der anderen die Werke, die seine Suche nach der ästhetischen Wahrheit begleiten. Abgelehnt wird im Anschluß an Baudelaire und Mallarmé das Natürliche und Naturwüchsige, das Ungeformte: „(…) Tout au plus, lisait-il quelques pages du De cultu feminarum où Tertullien objurgue les femmes de ne pas se parer de bijoux et d’étoffes précieuses, et leur défend l’usage des cosmétiques parce qu’ils essayent de corriger la nature et de l’embellir. - Ces idées, diamétralement opposées aux siennes, le faisaient sourire (…).“ 38 Huysmans’ und des Esseintes’ liebster Bürge ist nicht Baudelaire, sondern Mallarmé, der alles Natürliche und Spontane geringschätzt und der ästhetischen Konstruktion unterordnet. Gustave Moreaus Darstellung der Hérodiade evo‐ ziert die folgenden Verse aus Mallarmés gleichnamigem Gedicht: 236 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="237"?> 39 Ibid., S.-241. 40 Ibid. 41 M. Proust, A la recherche du temps perdu III, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1954, S.-880. 42 M. Proust, Le Carnet de 1908, Paris, Gallimard, 1976, S.-98. … O miroir! Eau froide par l’ennui dans ton cadre gelée Que de fois, et pendant les heures, désolée Des songes et cherchant mes souvenirs qui sont Comme des feuilles sous ta glace au trou profond, Je m’apparus en toi comme une ombre lointaine! Mais, horreur! des soirs dans ta sévère fontaine, J’ai de mon rêve épars connu la nudité! 39 Der Kommentar des Erzählers bestätigt des Esseintes’ ästhetische Ideologie, die die Flucht des Dichters aus der demokratisch-utilitaristischen Gesellschaft als einzigen Ausweg darstellt: „Ces vers, il les aimait comme il aimait les œuvres de ce poète qui, dans un siècle de suffrage universel et dans un temps de lucre, vivait à l’écart des lettres, abrité de la sottise environnante par son dédain, se complaisant, loin du monde, aux surprises de l’intellect, aux visions de la cervelle (…).“ 40 Diese Darstellung Mallarmés als eines Ästheten und Außenseiters ist nicht nur eine Selbstdarstellung Huysmans’ und seines Helden des Esseintes, sondern trifft in mancher Hinsicht auch auf Proust und seinen Ich-Erzähler Marcel zu. Während Huysmans’ Suche nach Sinn und Identität vom Naturalismus (Zolas) und dem Ästhetizismus von A Rebours über den Satanismus von Là-Bas zum Katholizismus von La Cathédrale (1898) und Les Foules de Lourdes (1906) führt, endet die Suche des Proustschen Helden im ästhetischen Bereich, wo die Kunst als letzte Wahrheit, als „Jugement dernier“ 41 , erscheint. Ähnlich wie der Huysmans der ästhetizistischen Phase unterscheidet Proust in der Recherche, in Contre Sainte-Beuve und in seinen Aufzeichnungen die mondänen Gesell‐ schaftsdichter von den echten Dichtern, die in der Einsamkeit verharren: „(…) ne pas oublier: / Ecrivains solitude et / Ecrivains société (…).“ 42 Dieser Gegensatz, der in Prousts Cahier des Jahres 1908 festgeschrieben wird, könnte als die Tiefenstruktur der Recherche aufgefaßt werden: eines Romans, in dem der semantische Gegensatz zwischen der mondänen Welt der Konversation und der Einsamkeit des schreibenden Künstlers den Handlungsablauf bestimmt und gleich zu Beginn des Romans die modernistische Suche (recherche) auf ein Telos festlegt. 9.2 Zitat und Intertextualität in Moderne und Spätmoderne: Subjektkonstitution 237 <?page no="238"?> 43 Zum Verhältnis von Konversation und Literatur bei Proust vgl. Vf., L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L‘Harmattan (2. Aufl.), Kap. III. 44 Vgl. M. Proust, Contre Sainte-Beuve, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1971, S. 269. Balzacs Stil wird dort kritisiert und mit der negativ konnotierten Salonkonversation verglichen. 45 M. Proust, A la recherche du temps perdu III, op. cit., S.-919. Obwohl es sicherlich übertrieben wäre, alle Zitate in Prousts Roman auf das Telos der Kunst beziehen zu wollen, kann dennoch gezeigt werden, daß der Grundgegensatz zwischen mondäner Konversation und Literatur (Schrift) für die Funktionsbestimmung des Proustschen Zitats wesentlich ist. 43 Während Autoren des Realismus wie Balzac oder die Brüder Goncourt in der Recherche - wie schon in Contre Sainte-Beuve 44 - der mondänen causerie angenähert werden, evozieren Zitate aus Chateaubriands Mémoires d’Outre-Tombe und aus Baudelaires Dichtung den instinct artistique, die mémoire involontaire und die literarische Schrift. Chateaubriands Erfahrungen mit dem Gedächtnis erscheinen in Le Temps retrouvé als Vorboten der madeleine und der unwill‐ kürlichen Erinnerung: „N’est-ce pas à une sensation du genre de celle de la madeleine qu’est suspendue la plus belle partie des Mémoires d’Outre-Tombe: ‚Hier au soir je me promenais seul … je fus tiré de mes réflexions par le gazouillement d’une grive perchée sur la plus haute branche d’un bouleau. A l’instant, ce son magique fit reparaître à mes yeux le domaine paternel (…)‘.“ 45 Es ist kein Zufall, daß in der Recherche zusammen mit Nerval der Roman‐ tiker Chateaubriand zitiert wird: Wie der romantische Diskurs, an den sie anknüpft, konstruiert Prousts Erzählung mit Hilfe von Zitaten eine Subjekti‐ vität, die auf der unwillkürlichen Erinnerung, dem instinct artistique und dem Schreiben gründet. Allerdings kommt diese Subjektivität nicht einfach im Bereich des Zitats zustande, sondern auf intertextueller Ebene, wo Schriftsteller danach beurteilt werden, ob sie im Stil der Konversation schreiben (Balzac, Sainte-Beuve) oder im Sinne der mémoire involontaire und der Einsamkeit („écrivains solitude“). Anders ausgedrückt: In Prousts Recherche kommt Sub‐ jektivität in ständiger dialogisch-polemischer Auseinandersetzung mit den Dis‐ kursen der Konversation zustande, die als depravierte Sprachen der mondänen Gesellschaft kritisiert werden. Hier zeigt sich, wie Zitat und Intertextualität ineinandergreifen und wie die Funktion des Zitats für die Subjektivität von der umfassenden Intertextualität überdeterminiert wird. Dies ist auch in Jean-Paul Sartres Erstlingsroman La Nausée der Fall, wo - analog zu der von Proust kritisierten mondänen Konversation - auf intertextu‐ eller Ebene die ideologischen Diskurse der Bürger von Bouville dialogisch-po‐ lemisch kommentiert werden. Zu ihnen gehört der des Autodidakten, den der 238 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="239"?> 46 J.-P. Sartre, La Nausée, in: Œuvres romanesques, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1981, S.-133. 47 Ibid., S.-207. 48 Ibid., S.-72. 49 Ibid., S.-209-210. Held Roquentin in der Stadtbibliothek trifft, wo er den Humanismus predigt: „Il y a un but, monsieur, il y a un but … il y a les hommes.“ 46 Anders als in Prousts Roman wird den diskreditierten bürgerlichen Sprachen nicht die Romantik oder der Ästhetizismus entgegengesetzt, auch nicht die Sonate des fiktiven Vinteuil, den Prousts Erzähler verehrt, sondern der Text eines Ragtime: „Et à ce moment précis, de l’autre côté de l’existence, dans cet autre monde qu’on peut voir de loin, mais sans jamais l’approcher, une petite mélodie s’est mise à danser, à chanter: ‚C’est comme moi qu’il faut être; il faut souffrir en mesure.‘ - La voix chante: Some of these days You’ll miss me honey.“ 47 Wir haben es hier mit einer mehrschichtigen Intertextualität zu tun, die nicht im Begriff des „Zitats“ aufgeht: Ein wirkliches oder fiktives Lied wird zum Leitmotiv eines Romans, in dem Barrès’ und Mallarmés Ästhetizismus gegeißelt wird 48 , in dem Prousts fiktive Vinteuil-Sonate parodistisch durch einen Popsong ersetzt wird. Sartres Bruch mit dem Ästhetizismus hindert ihn jedoch nicht daran, in seinem Erstlingsroman Proust zu folgen und im literarischen Schreiben (in der Fiktion) eine Alternative zur existence, zum depravierten sozialen Leben, zu entdecken: „Est-ce que je ne pourrais pas essayer … Naturellement, il ne s’agirait pas d’un air de musique … mais est-ce que je ne pourrais pas, dans un autre genre? … Il faudrait que ce soit un livre: je ne sais rien faire d’autre.“ 49 Wie Prousts Recherche endet auch La Nausée mit einem Buchprojekt, das von Zitaten angekündigt wird: insbesondere von dem englischen Ragtime-Zitat, das zum Leitmotiv der Suche wird. Thomas Manns Doktor Faustus kehrt das Verhältnis von Literatur und Musik bisweilen um. Ähnlich wie bei den Modernisten Proust und Sartre begleitet auch bei Thomas Mann das Zitat die existentiell-ästhetische Suche des künstlerischen Subjekts: „Adrian war zu der Zeit, als ich nach Freising kam, mit der Komposition einiger Lieder und Gesänge beschäftigt, deutscher und fremdsprachiger, näm‐ lich englischer. Erstens war er auf William Blake zurückgekommen und hatte ein sehr sonderbares Poem dieses ihm so lieben Autors, ‚Silent, silent night‘, 9.2 Zitat und Intertextualität in Moderne und Spätmoderne: Subjektkonstitution 239 <?page no="240"?> 50 Th. Mann, Doktor Faustus, Frankfurt, Fischer, 1980, S.-263-264. 51 Ibid., S.-264. in Töne gesetzt, jenen Vierstropher zu je drei gleichlautend gereimten Versen, deren letzte Gruppe, befremdlich genug, lautet: But an honest joy Does itself destroy For a harlot coy.“ 50 Sowohl bei Thomas Mann als auch bei Proust und Sartre gehen Zitatkunst und Intertextualität in Intermedialität über: Literatur, Musik und Malerei greifen im Künstlerroman ineinander und führen schließlich zu der gesuchten Sinnkons‐ tellation, die die stets labil geschichtete Grundlage des modernistischen Subjekts bildet. In Doktor Faustus ist es die verfremdete Kunst des unverstandenen Außenseiters, der an seiner Isolation zugrunde geht. Blakes Verse, die sich Adrian Leverkühn musikalisch aneignet, erscheinen dem Erzähler nicht nur als „befremdlich“, sondern auch als „geheimnisvoll anstößig“: „Diesen geheim‐ nisvoll anstößigen Versen nun hatte der Komponist sehr simple Harmonien verliehen, die im Verhältnis zu der Tonsprache des Ganzen - ‚falscher‘, zerris‐ sener, unheimlicher wirkten als die gewagtesten Spannungen, tatsächlich das Ungeheuerlich-Werden des Dreiklangs erfahren ließen.“ 51 Es ist sicherlich kein Zufall, daß Blake von vielen für einen Vorläufer Nietzsches gehalten wird: Denn seine Verse und ihre fiktive Vertonung durch Adrian Leverkühn zeugen von der prekären Stellung des Künstlersubjekts in der bürgerlichen Welt. Seine Kunst wirkt „anstößig“, „falsch“, „zerrissen“, „unheimlich“. Einige Vertreter der Postmoderne nahmen sich vor, aus diesem isolement auszubrechen und die modernistische Schreibweise zu entschärfen, um weniger „falsch“, „anstößig“ und „fremd“ zu wirken. 9.3 Zitat und Intertextualität als Spiel: Postmoderne als Subjektzerfall Freilich ist der Versuch, die modernistische Entfremdung, Zerrissenheit und Un‐ heimlichkeit zu überwinden, nicht für die gesamte Postmoderne kennzeichnend, sondern nur für jene zeitgenössischen Autoren wie Eco, Fowles, Süskind oder John Barth, die der Meinung sind, daß Modernismus und Avantgarde in eine selbstgebaute Sackgasse geraten, weil sie alle populären Formen verschmähen und damit der Esoterik zum Opfer fallen. „Es kommt jedoch der Moment“, erläutert Eco diesen Sachverhalt, „da die Avantgarde (also die Moderne) nicht 240 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="241"?> 52 U. Eco, Nachschrift zum „Namen der Rose“, München, DTV, 1987, S.-78. 53 J. Barth, „The Literature of Replenishment. Postmodern Fiction“, in: Atlantic Monthly, Januar 1980, S.-70. 54 U. Eco, Nachschrift zum „Namen der Rose“, op. cit., S.-78. 55 G. R. Kaiser, Proust. Musil. Joyce, op. cit., S.-164. mehr weitergehen kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmöglichen Texten spricht (die Concept Art).“ 52 Nach Eco besteht die postmoderne Antwort auf diese moderne impasse in einer Anerken‐ nung der Vergangenheit und ihrer von den Modernisten verachteten, aber beim Publikum noch sehr beliebten Formen. John Barths postmoderner Autor besinnt sich auf die Errungenschaften der vormodernistischen Romantradition, die in der volkstümlichen Kultur der Mittelklasse beheimatet ist: „whose historical roots are famously and honorably in middle-class popular culture“. 53 Es fragt sich, welche Rolle Intertextualität und Zitat in einer Literatur erfüllen können, die zwar die Formen der realistischen (viktorianischen) oder romantischen Literatur aufarbeitet oder imitiert, ohne aber die Subjekt- und Wertproblematik des Realismus und der Romantik ernst nehmen zu können, d. h. ohne das soziale Engagement der Realisten oder die Sehnsucht der Roman‐ tiker nachzuvollziehen. Denn Eco erklärt ganz zu Recht, die Vergangenheit könne nur „mit Ironie, ohne Unschuld“ 54 ins Auge gefaßt werden. Deshalb kann auch das postmoderne Zitat nur eine ironisch-spielerische Funktion erfüllen. Komplementär dazu büßt es seine subjektkonstituierende Funktion ein. Es begleitet das erzählende oder handelnde Subjekt nicht mehr auf dessen Suche nach Wahrheit, sondern zeugt vom Zerfall, von der Abwesenheit der Subjekti‐ vität. Da Eco und Fowles in ihren Romanen diesen Zerfall nicht unmittelbar darstellen, sondern durch die Verwendung alter Formen eher verdecken, ist ein Umweg über die andere, die experimentelle Postmoderne notwendig, die an den experimentierenden Modernismus anknüpft, zugleich jedoch mit dessen metaphysischer Suche (nach dem Ich und der Wahrheit) bricht. Wäre man gezwungen, den wesentlichen Unterschied zwischen Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man und seinem Ulysses-Roman in wenigen Worten zusammenzufassen, so müßte man wohl sagen, daß der Künstlerroman die Geschichte einer metaphysischen Suche ist, die sich im Ulysses, einem „hy‐ pertexte“ und „palimpseste“ im Sinne von Genettes Palimpsestes (1982), in der Textcollage auflöst. Collage bedeutet nicht Zusammenhanglosigkeit, sondern, wie Gerhard R. Kaiser gezeigt hat, Kombination und thematische Verdichtung: „Joyce hat mit Hilfe von Zitaten nicht nur die verschiedenen Figuren des Ulysses, sondern oft auch das erzählte Geschehen treffend charakterisiert.“ 55 Er fügt hinzu: „Die wichtige Aufgabe der Zitate liegt in der eindringlichen 9.3 Zitat und Intertextualität als Spiel: Postmoderne als Subjektzerfall 241 <?page no="242"?> 56 Ibid., S.-181. 57 G. Deleuze, F. Guattari, Rhizom, Berlin, Merve, 1977, S.-27. 58 J. Joyce, Ulysses, London, Penguin, 1971, S.-643. 59 B. McHale, Constructing Postmodernism, London, Routledge, 1992, S.-10. Evokation der einzelnen Bezugssysteme, in symbolischer Verdichtung und, wie besonders einzelne Kontaminationen zeigen, in einem Kontaktieren auch noch des anscheinend Heterogensten.“ 56 Dieses Zusammenführen des Heterogenen hat eher rhizomatischen Charakter im Sinne von Deleuze und Guattari 57 und ist deshalb nicht geeignet, Sinn zu stiften und Subjektivität zu begründen. Die folgende Passage, die mit dem symptomatischen Wort „quote“ („zitiere“) beginnt, läßt einerseits Literatur als universelles Textexperiment im Sinne von Coseriu erscheinen, zeigt andererseits jedoch, daß die Zitierkunst sich verselbständigt und aufhört, eine Begleiterscheinung der metaphysischen Suche zu sein: „Quote the textual terms in which the prospectus claimed advantages for this thaumaturgic remedy. - It heals and soothes while you sleep, in case of trouble in breaking wind, assists nature in the most formidable way, insuring instant relief in discharge of gases, keeping parts clean and free natural action, an initial outlay of 7/ 6 making a new man of you and life worth living.“ (Zitat geht weiter.) 58 Wir sind hier nicht nur weit von Lottes Ausruf „Klopstock! “ entfernt, der von einer poetischen Gemeinschaft der Liebenden zeugte, sondern auch von Prousts Recherche, in der Chateaubriands Mémoires d’Outre-Tombe teleologisch die Entdeckung der mémoire involontaire ankündigten. Joyces Zitierkunst bildet zwar durchaus ein thematisches Netzwerk auf der Grundlage der intertextuell evozierten Odyssee, sie ist aber auf kein Telos gerichtet und löst sich schließlich in Mollys stream of consciousness auf. In dieser Hinsicht kündigt sie den postmodernen Intertext an, der ein rhizo‐ martiges Geflecht bildet, das jenseits von narrativen Kausalitäten, Teleologien und Subjektkonstruktionen das Spiel mit Bedeutungen inszeniert. Insofern ist Brian McHale recht zu geben, wenn er Joyces Ulysses-Roman als einen Übergangstext zwischen Spätmoderne und Postmoderne liest: „Split roughly down the middle, its first half has long served as a norm for ‚High Modernist‘ poetics, while only recently have we begun to regard its second half as normatively postmodernist.“ 59 Es kommt hier nicht so sehr auf die Frage an, ob diese Interpretation oder Konstruktion - in Anbetracht von tausenden Joyce-Kommentaren - konsensfähig ist, sondern auf den Gedanken, daß sich das intertextuelle Spiel bei Joyce allmählich verselbständigt (vor allem in der zweiten Ulysses-Hälfte) und nicht länger der metaphysischen Suche nach Sinn und Subjektivität untergeordnet wird. 242 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="243"?> 60 Th. Pynchon, Gravity’s Rainbow, London, Picador-Jonathan Cape, 1975, S.-129. 61 Ibid., S.-403. 62 W. Fluck, „Literarische Postmoderne und Poststrukturalismus: Thomas Pynchon“, in: K. W. Hempfer (Hrsg.), Poststrukturalismus - Dekonstruktion - Postmoderne, Stuttgart, Steiner, 1992, S.-29. Jenseits dieser Suche, aber durchaus in ideologiekritischer Absicht, schrieb auch Thomas Pynchon sein Textexperiment Gravity’s Rainbow, in dessen Mittelpunkt der Zweite Weltkrieg steht. Das Buch enthält - ähnlich wie Joyces Ulysses - zahlreiche echte und fiktive Zitate, von denen einige von der Absicht des Autors zeugen, sich kritisch mit deutschen Kulturstereotypen (aus der Sicht des Amerikaners) auseinanderzusetzen: „(…) A program tonight of plainsong in English, forays now and then into polyphony: Thomas Tallis, Henry Purcell, even a German macaronic from the fifteenth century, attributed to Heinrich Suso: In dulci jubilo Nun singet und seid froh! Unsers Herzens Wonne Leit in praesipio Leuchtet vor die Sonne Matris in gremio. Alpha es et O.“ 60 Daß Pynchon nicht einfach auf neue intertextuelle Kombinationen als Effektha‐ scherei aus ist, sondern eine Auseinandersetzung mit der „deutschen Ideologie“ sucht, läßt eine Passage über Kurt Mondaugen erkennen: „Kurt Mondaugen took it as a sign. One of these German mystics who grew up reading Hesse, Stefan George, and Richard Wilhelm, ready to accept Hitler on the basis of Demian-metaphysics, he seemed to look at fuel and oxidizer as paired opposites, male and female principles uniting in the mystical egg of the combustion chamber: creation and destruction, fire and water, chemical plus and chemical minus -“ 61 Dennoch ist Pynchons Diskurs - im Gegensatz zu Hesses - nicht auf Sinn‐ stiftung und Identitätssuche aus, sondern will ein neues Universalexperiment mit allen Sprachformen im Sinne von Coseriu sein. Daß ihm Sinn im Verlauf der Rezeption(en) zugeschrieben werden kann, wie Werner Fluck behauptet 62 , ist durchaus möglich: aber dieser Sinn ist vielfältig und fragmentarisch. Vom postmodernen Charakter des Textes zeugt auch die Aufnahme neuar‐ tiger Zitate, die man im Modernismus vergeblich suchte: etwa das Pseudozitat, das in Gravity’s Rainbow das vierte Kapitel („The Counterforce“) einleitet: 9.3 Zitat und Intertextualität als Spiel: Postmoderne als Subjektzerfall 243 <?page no="244"?> 63 Th. Pynchon, Gravity’s Rainbow, op. cit., S.-617. 64 M. Roche, Compact, op. cit., S.-145. 65 G. A. Höfler, „‚Stop Making Sense‘ Werner Schwabs Pop-Stück ‚Mesalliance aber wir ficken uns prächtig‘ - ein postmodernes Volksstück? “, in: A. Berger, G. E. Moser (Hrsg.), Jenseits des Diskurses. Literatur und Sprache in der Postmoderne, Wien, Passagen, 1994, S.-330. 66 J. Becker, Ränder, Felder, Umgebungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S.-61. 67 Ibid., S.-68. „‚What‘ - Richard M. Nixon“. 63 In dieses polyseme Wort, dessen pragmatischer Kontext längst verschollen ist, kann der Leser alles mögliche hineininterpre‐ tieren. Strenggenommen ist es kein Zitat mehr, sondern dessen Parodie. Zitatparodien nehmen extreme Formen bei dem schon erwähnten Maurice Roche an, der in Compact das Experiment bisweilen auf die phonetische Ebene verlagert: „(‚… Nous Ouy-Yyouououyyyouyououîîmes hin hinhinhinhisffui! - tiquetrochelor-ffui‘ […])“ 64 (Zitat geht weiter.) Hier kann nicht mehr von einer Funktion des Zitats im Hinblick auf eine metaphysische Suche nach Wahrheit und Subjektivität die Rede sein. Eindeutiger noch als in Pynchons Gravity’s Rainbow scheint sich hier der postmoderne oder postmodernistische Diskurs nach dem von Günther A. Höfler zitierten Motto „stop making sense“ 65 zu organisieren. Wo der Sinn zerbröckelt, dort erübrigt sich auch die Frage nach dem Subjekt. Daß das postmoderne Zitat aufhört, eine subjektstützende oder subjektkons‐ tituierende Funktion zu erfüllen, läßt Jürgen Beckers Prosa erkennen, in der Großes und Triviales, Ernstes und Lächerliches auf „karnevalistische“ (Bachtin) Art assoziiert werden, bis sich jeglicher Sinn verflüchtigt - etwa wenn in den Feldern gleichsam in einem Atemzug Goethe und die Zahnpasta zitiert werden: „man halte sich an’s fortschreitende Leben (Goethe) / modern wie die nächste Minute (Zahnpasta).“ 66 Bei Becker fällt auf, daß nicht mehr auf traditionelle Art zitiert, sondern intertextuell umgestaltet und parodiert wird. Auch der folgende Text ist eher als intertextuelle Verarbeitung einer Ade‐ nauer-Rede zu lesen, denn als „korrektes“ Zitat, das auf das allzu wörtliche phonetische Parodieren verzichten müßte: „Dieser Platz wurde dereins jeweiht durch die Worte: ‚Dem Jeiste deutscher Einichkeit un Kraft sollen die Dompf‐ orten Tore des herrlichen Triumphes werden.‘ Auf diesem jeheilichten Platz haben die fremden Truppen jestanden; laßt uns ihm von neuem die Weihe jeben! (…)“ 67 Becker geht es zwar - ähnlich wie Pynchon und Roche - um eine parodistische und ideologiekritische Relativierung herrschender Diskurse, nicht aber um die (modernistische) Suche nach der wahren Sprache oder dem wahren Diskurs. 244 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="245"?> 68 Ibid., S.-110. 69 O. Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Hamburg, Rowohlt, 1985, S. XIII. 70 Ibid., S. XVII. Der Gedanke an eine wahre Sprache, der bei Musil, den Surrealisten und dem Modernisten Adorno noch im Vordergrund stand, weicht bei Becker und Roche dem ironisch-parodistischen Textexperiment. Zusammen mit der metaphysischen Suche nach Wahrheit und Identität wird in diesem Experiment die Vorstellung von einem einheitlichen Subjekt der radikalen Polyphonie geopfert, die schon bei Bachtin anklingt: „Er vervielfältigt sich in die Figuren, die alle er vorgespielt findet. Auf sich selber gestellt, übersieht er sich kaum, hört er alle die Stimmen, die durcheinanderreden in seinen Köpfen. Er in der Mehrzahl sieht, hört und spricht in der Mehrzahl.“ 68 Diese Pluralisierung des Ichs, die von modernistischen Romanen wie Hesses Der Steppenwolf, Prousts Recherche, Musils Der Mann ohne Eigenschaften und vor allem Pirandellos Uno, nessuno e centomila angekündigt wird, wird von den Postmodernen ins Extreme gesteigert und führt sowohl in der Literatur als auch in der Philosophie (etwa bei Lyotard oder Baudrillard) zum Zerfall des Subjekts. Das Fazit dieses Zerfalls wird von Oswald Wiener in Die Verbesserung von Mitteleuropa kommentiert: „ich will etwas sagen, mir fehlen nur die worte, der anlass, aber auch was ich sagen will“. 69 Komplementär dazu wird in einer Fußnote zitiert: „‚Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken‘, sagt Der Dunkle in seinen postsokratischen fragmenten. - drückt sich was in der sprache aus? vielleicht gar ‚die Struktur der Wirklichkeit‘? kennt sich einer aus? “ 70 Nein, denn sich auskennen ist nur möglich, wenn ein Subjekt in der Lage ist, anhand bestimmter Wertsetzungen ein Erkenntnismodell zu konstruieren, an das es glaubt: „Credo ut intelligam“, schrieb der Hl. Augustinus, und Blaise Pascal machte sich dieses Axiom zu eigen. Die Postmodernen verzichten auf das Credo, an dem die Modernisten noch festhielten, weil die Wertsetzungen, die die Grundlage des Glaubens bildeten, ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Zugleich verlieren die Erkenntnismodelle ihre ideologische Grundlage und werden austauschbar. Der Umstand, daß andere postmoderne Autoren wie John Fowles und Umberto Eco nicht den Zerfall von Sinn und Subjektivität inszenieren, son‐ dern durchaus kohärent erzählen und scheinbar sinnvolle Handlungsabläufe darstellen, könnte nun so manchen Betrachter der postmodernen Szene dazu veranlassen, dem bisher Gesagten mit Skepsis zu begegnen: Ist Sinnstiftung in postmoderner Zeit nicht doch wieder möglich geworden? Sind Fowles’ neo-viktorianischer Roman The French Lieutenant’s Woman und Ecos „mittel‐ 9.3 Zitat und Intertextualität als Spiel: Postmoderne als Subjektzerfall 245 <?page no="246"?> 71 J. Fowles, The French Lieutenant’s Woman, London, Picador-Jonathan Cape, 1969, S. 211. 72 B. Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, Frankfurt, Suhrkamp, 1964, S.-6. alterlicher“ Kriminalroman Il nome della rosa nicht als Suchen nach neuem Sinn und neuer Subjektivität zu lesen? Es ist hier aus Platzgründen unmöglich, sich eine Analyse dieser vielkommen‐ tierten Texte vorzunehmen; aber die Zitierkunst beider Romane deutet an, daß es sich auch in diesen beiden Fällen um - durchaus ideologiekritische - Spiele mit dem Text handelt. Wie die postmodernen Experimentierer Roche, Becker und Wiener versucht auch Fowles, die repressiven Aspekte herrschender (vik‐ torianischer) Diskurse bloßzulegen; aber von den Modernisten unterscheidet auch er sich dadurch, daß er auf Sinnstiftung und Subjektivität verzichtet. Die Zitate in The French Lieutenant’s Woman erfüllen vor allem die Funktion, den Text auf literarischer (Hardy, Tennyson), literaturkritischer (Matthew Arnold) oder wissenschaftlicher (Darwin, Marx) Ebene zu ergänzen. Dabei ist es wichtig, Zitate, die in den einzelnen Kapiteln vorkommen, von Zitaten zu unterscheiden, die den Kapiteln vorangestellt wurden. Denn der erste Zitattypus bezieht sich auf einzelne Szenen oder Dialoge, während der zweite den Sinn des gesamten Kapitels - gleichsam synekdochisch - erfassen und ankündigen soll. Es ist jedoch kein Sinn, der wie das Chateaubriand-Zitat in der Recherche oder das Ragtime-Zitat in La Nausée eine Subjektkonstruktion am Ende des Romans ankündigt; denn der Roman endet auf drei verschiedene Arten und läßt als postmodernes Textexperiment alles offen. Auch das ideologiekritische Marx-Zitat, das das 30. Kapitel einleitet, kündigt keine Alternative im Sinne einer revolutionären Bewegung oder gar einer Utopie an (ebensowenig wie das Marx-Zitat, das den Roman eröffnet). Es bezieht sich auf die viktorianische Ära und ist selbst historisch, d.-h. „mit Ironie, ohne Unschuld“ (Eco) zu lesen - und spielerisch zu genießen: „But the more these conscious illusions of the ruling classes are shown to be false and the less they satisfy common sense, the more dogmatically they are asserted and the more deceitful, moralizing and spiritual becomes the language of established society.“ 71 Die puritanische und repressive Moral der Mrs. Poulteney, die die Heldin Sarah unterdrückt, ausbeutet und schließlich entläßt, ist im Zusammenhang mit dem Marx-Zitat sicherlich konkreter zu verstehen; aber das Zitat leitet keine Suche ein im Sinne der Auden-Generation oder im Sinne von Brecht. Es ist nicht mit der messianischen Bemerkung zu vergleichen, die der Marxist Brecht seinem Drama Der gute Mensch von Sezuan vorangestellt hat: „Die Provinz Sezuan der Parabel, die für alle Orte stand, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden, gehört heute nicht mehr zu diesen Orten.“ 72 Dieses „nicht 246 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="247"?> 73 J. Fowles, The French Lieutentant’s Woman, op. cit. S.-85. 74 U. Eco, Der Name der Rose, München, DTV, 1986, S.-5. 75 Ibid., S.-12. 76 U. Eco, Il nome della rosa, Milano, Bompiani, 1980, S.-495. mehr“ ist der Postmoderne fremd geworden, weil sie den utopischen Entwurf nicht mehr kennt. Der utopische Text selbst wird zum Bestandteil des postmodernen Spiels, das die Ironie radikalisiert und den naiven Ernst der Unschuld meidet: „So perhaps I am writing a transposed autobiography; perhaps I now live in one of the houses I have brought into the fiction; perhaps Charles is myself disguised. Perhaps it is only a game.“ 73 Dieses „Vielleicht“ geht in Wahrscheinlichkeit über, wenn Fowles’ Roman im Kontext gelesen, d. h. mit anderen postmodernen Texten verglichen wird. Denn Umberto Ecos Spiel mit dem Text wird gleich zu Beginn von Il nome della rosa vom Erzähler angekündigt: „Natürlich, eine alte Handschrift.“ 74 Wer seine Erzählung mit einem ironischen Hinweis auf „das obligate Manuskript“ eröffnet (mit dem die Leser seit Jahrhunderten sporadisch konfrontiert werden), der gibt zu verstehen, daß alles, was folgt, cum grano salis zu rezipieren sei. Im Vorwort, in dem er den Fund des fiktiven Manuskripts beschreibt („Le manuscrit de Dom Adson de Melk, traduit en français d’après l’édition de Dom J. Mabillon“), bezieht sich der Autor ausdrücklich auf die 60er Jahre, auf eine Epoche, die von der Literatur engagement und eine weltverändernde Perspektive erwartete. Nach mehr als zehn Jahren, erklärt Eco (und man kann davon ausgehen, daß er seine eigene Meinung kundtut), schreibt man wieder um des Schreibens willen: „Heute, mehr als zehn Jahre danach, ist es der Trost des homme de lettres (der damit seine höchste Würde zurückerlangt), wieder schreiben zu dürfen aus reiner Liebe zum Schreiben.“ 75 Dieses Plädoyer für ästhetische Autonomie ist jedoch nicht mit den Autono‐ mieästhetiken Mallarmés, Valérys oder Prousts zu verwechseln, in denen das spielerische Element keineswegs fehlte, die aber weit über das Spiel mit dem Schreiben hinauswiesen: auf die Utopie der Schrift. Davon zeugen einige Zitate bei Proust (etwa das Chateaubriand-Zitat), die im postmodernen Spiel nicht aufgehen. Davon zeugt auch die Intertextualität Thomas Manns und Musils. Bei Eco hingegen ist das Zitat in ein großangelegtes Spiel mit den Zeichen eingebunden, das zwar die „Wahrheit der Zeichen“ („verità dei segni“) 76 kennt, nicht jedoch die wertsetzende und subjektkonstituierende Wahrheit der Moder‐ nisten. Denn die triviale Erkenntnis des Kriminalromans, daß Jorge der Übeltäter ist (nach dem Schema der Londoner Detective Shows „Who done it? “), hat nichts mit dem Wahrheitsanspruch Brechts, Bretons, Th. Manns oder Adornos zu tun. 9.3 Zitat und Intertextualität als Spiel: Postmoderne als Subjektzerfall 247 <?page no="248"?> 77 U. Eco, Der Name der Rose, op. cit., S.-625. 78 P. Renard, „Ecos große Herausforderung“, in: B. Kroeber (Hrsg.), Zeichen in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“, München, Hanser, 1987, S.-272. 79 Eine gegenteilige Meinung vertritt Ulrich Schulz-Buschhaus, der Il nome della rosa als einen Kriminalroman der Aufklärung (im doppelten Sinne des Wortes) liest: „Demnach muß in Il nome della rosa als Kriminalroman eine Aufklärung - wenn nicht praktisch, so doch rational - gelingen, damit in dem Conte philosophique, den Il nome della rosa gleichfalls entwickelt, auch die Aufklärung gerettet werden kann.“ (U. Schulz-Buschhaus, „Funktionen des Kriminalromans in der postavantgardistischen Erzählliteratur“, in: U. Schulz-Buschhaus, K. Stierle [Hrsg.], Projekte des Romans nach der Moderne, München, Fink, 1997.) Es fragt sich allerdings, wie eine postmoderne „opera aperta“ eindeutig auf die Ideologie der Aufklärung festgelegt werden kann. Deshalb erscheint das ins Mittelhochdeutsche übertragene Wittgenstein-Zitat am Ende von Il nome della rosa als Kommentar zu einem spielerischen Kon‐ struktivismus ohne modernistischen Wahrheitsanspruch, ohne Gesellschafts‐ kritik: „Da hast du etwas sehr Schönes gesagt, Adson, ich danke dir. Die Ordnung, die unser Geist sich vorstellt, ist wie ein Netz oder eine Leiter, die er sich zusammenbastelt, um irgendwo hinaufzugelangen. Aber wenn er dann hinaufgelangt ist, muß er sie wegwerfen, denn es zeigt sich, daß sie zwar nützlich, aber unsinnig war. ‚Er muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er an ir ufgestigen‘…“ 77 Wahrheiten sind zwar Konstruktionen, aber sie sind auch weitaus mehr: Galileos Wahrheit war dem kirchlichen Dogma in einem ganz anderen als nur technischen Sinne überlegen; sie kündigte eine neue Gesellschaftsordnung an. Diese historische Wahrheit im Sinne von Hegel ist den Postmodernen ab‐ handen gekommen. Ecos Roman ist ein Zusammenspiel zahlreicher Wahrheiten - des Christentums, des Humanismus, der Aufklärung, der Semiotik. Aber sie alle werden zusammen mit Wittgensteins Leiter abgeworfen. Übrig bleibt das Spiel mit den Ideologien und Romanformen der Vergangenheit: „Was bleibt übrig nach dieser Tabula rasa? Die Zeichen, und Eco ist ihr Prophet. Sie sind es, die das Kaleidoskop der disparaten Elemente zusammenhalten: Wenn alles Zeichen ist, verweist alles auf alles in einem schwindelerregenden metaphysi‐ schen Spiel, in dem die Signifikanten sich unentwegt neu verknüpfen, lösen, überkreuzen und überlagern. Wenn dabei ab und zu Signifikate auftauchen, um so besser, doch sie sind trügerisch und folgenlos (daher auch Ecos ironische Negation aller Parallelen zur heutigen Welt).“ 78 Jeder Versuch, Ecos Text auf eine christliche, humanistische oder aufkläre‐ rische Ideologie festzulegen, scheitert somit an der Struktur dieses „offenen Kunstwerks“, das nur einen Wert kennt: die der Marktgesellschaft homologe Pluralität der Werte. 79 Deshalb ist Giuseppe Zaccaria recht zu geben, wenn er von 248 9 Zitat - Intertextualität - Subjektivität <?page no="249"?> 80 G. Zaccharia, „Avanguardia come consumo“, in: R. Giovannoli (Hrsg.), Saggi su „Il nome della rosa“, Milano, Bompiani, 1985, S.-285. Ecos Fähigkeit spricht, „Avantgarde und Konsum zusammenfallen zu lassen“ („di far coincidere l’avanguardia con il consumo“). 80 Dies aber ist das Ende des avantgardistischen und des modernistischen Versprechens. Zugleich erlischt die Freude des „Credo ut intelligam“, die Freude, die die Suche nach einer besseren Welt begleitet: But an honest joy Does itself destroy For a harlot coy. 9.3 Zitat und Intertextualität als Spiel: Postmoderne als Subjektzerfall 249 <?page no="251"?> 1 Vgl. J.-F. Lyotard, La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris, Minuit, 1979, S.-7. 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne: Von der Subjektivität zur Körperlichkeit Ein Charakteristikum des postmodernen Denkens, das bisher etwas vernach‐ lässigt wurde, weil viele (vor allem in den USA) dazu neigen, Postmoderne und Pluralismus zu identifizieren, ist die starke Partikularisierungstendenz, die sich nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Soziologie bemerkbar macht. Der Begriff der Universalvernunft, der die Moderne von der Aufklärung bis tief ins 19.-Jahrhundert prägte, wird in zunehmendem Maße in Frage gestellt. Für diese Tendenzwende sind mehrere Faktoren verantwortlich, die dem wissenschaftlichen, dem kulturellen und dem ökologischen Bereich angehören. Die sich beschleunigende wissenschaftliche Arbeitsteilung führt zu der Er‐ kenntnis, daß verschiedene Wissenschaftlergruppen verschiedene Sprachen sprechen, die nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen sind: zumindest nicht ohne erhebliche Übersetzungsschwierigkeiten. Die Kultur wirkt nicht mehr so homogen wie früher in einer Zeit, in der, etwa in Nordamerika, das Zusammenwirken oder das Gegeneinander zahlreicher ethnischer Gruppen zur Norm wird; in einer Zeit, die von einer stets engeren Verflechtung der europäischen National- und Regionalkulturen geprägt ist. Zudem lassen die sich verschärfenden ökologischen Probleme Zweifel an einer Universalvernunft aufkommen, die der Herrschaft über die Natur und dem rationalistischen Fortschrittsmythos verpflichtet war. Als diskreditiert und unzeitgemäß wirken nun die vom Fortschrittsglauben beseelten rationalistischen, hegelianischen und marxistischen Diskurse, die einem kulturellen Universalismus huldigen, der von der multikulturellen Wirk‐ lichkeit Lügen gestraft wird, und die ihre Verstrickung in das System der Na‐ turbeherrschung nicht selbstkritisch reflektieren. Es sind jene philosophischen, wissenschaftlichen und ideologischen Metaerzählungen, von denen Lyotard in seinem bekannten Buch sagt, daß wir ihnen mit zunehmendem Mißtrauen, mit wachsender „incrédulité“ begegnen. 1 Seine Alternative ist eine drastische Partikularisierung des Denkens als Sprachspiel, später als Satz-Regelsystem - eine Partikularisierung, die auf Kant zurückgeht. Wichtig ist vorerst die Tatsache, daß sowohl in Deutschland als auch in Frankreich eine Partikularisierung des Denkens zu beobachten ist, die noch <?page no="252"?> 2 A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S.-221. 3 F. H. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990 (2. Aufl.), S.-118. 4 „Nietzsches Spur in der Ästhetischen Theorie“ Adornos, von der Norbert W. Bolz spricht, kann hier nicht erörtert werden, ohne den Rahmen dieser Betrachtung zu sprengen. Vgl. N. W. Bolz, „Nietzsches Spur in der Ästhetischen Theorie“, in: B. Lindner, W. M. Lüdke (Hrsg.), Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1979. am ehesten als Reaktion auf den scheiternden Universalismus der Moderne gedeutet werden kann. Nicht nur die Philosophen, auch die Soziologen diesseits und jenseits des Rheins diagnostizieren eine sich verstärkende Neigung zum Partikularismus. So stellt beispielsweise Alain Touraine in seiner Critique de la modernité fest: „Die Postmoderne fördert unmittelbar einen kulturellen Ökologismus, der sich dem Universalismus der modernen Ideologie widersetzt (…).“ 2 In Deutschland wird diese Ansicht von dem eher konservativen Soziologen Friedrich H. Tenbruck bestätigt, der in anderen Fragen mit Touraine, dem Soziologen der action und des mouvement social, kaum einer Meinung wäre: „Denn seit langer Zeit sind wieder Lehren offensichtlich erfolgreich, welche sich nicht an universalistischen Wahrheitskriterien orientieren. Es sind auch nicht nur religiöse Sekten und Kulte, welche sich rein für das anbieten, was sie sind, ohne nach anderen Bekenntnissen zu fragen. Auch durch die neue Jugendkultur weht mächtig der partikularistische Zug (…).“ 3 10.1 Nietzsche in Deutschland und in Frankreich In Anschluß an diese beiden Diagnosen soll nun die Kernthese formuliert und im folgenden entwickelt werden: Nietzsches Philosophie, die auf allen Ebenen mit dem begrifflichen Universalismus der rationalistischen Aufklärung und des totalisierenden Hegelianismus bricht, hat im Partikularisierungsprozeß, den die französische Philosophie der Nachkriegszeit durchgemacht hat, und der auch den Subjektbegriff erfaßt, wie ein starker Katalysator gewirkt. Auf dieser Ebene war ihre Wirkung im deutschen Sprachraum nicht so markant, zumal die Partikularisierungstendenzen innerhalb der Kritischen Theorie der Nachkriegszeit eher von Montaigne und Kant als von Nietzsche geprägt sind. 4 Offensichtlich haben wir es hier mit einer von jenen interkulturellen Para‐ doxien zu tun, die Komparatisten immer wieder beschäftigen: nämlich mit der Tatsache, daß einige Philosophen und Schriftsteller im fremden Kulturkontext nicht nur stärker, sondern auch anders wirken als im eigenen Land. Eine mögliche Erklärung für die divergierenden Nietzsche-Rezeptionen in der fran‐ 252 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne <?page no="253"?> 5 Vgl. J. Habermas, „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“, in: ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 283: „Die normale umgangssprachliche Kommunikation richtet sich nach intersubjektiv geltenden Re‐ geln: sie ist öffentlich. Die kommunizierten Bedeutungen sind für alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft grundsätzlich identisch.“ 6 Vgl. H. Bergson, „Die Philosophische Intuition“, in: ders., Denken und schöpferisches Werden, Frankfurt, Syndikat/ EVA, 1985, S.-126-148. zösischen und der deutschen Nachkriegszeit bietet natürlich die Vereinnahmung Nietzsches durch die Nationalsozialisten, die in Deutschland einer produktiven Auseinandersetzung mit seinem Werk nach 1945 einen Riegel vorschob. Es gibt allerdings noch eine zweite, komplementäre Erklärung: In der deut‐ schen Philosophie und Literaturwissenschaft setzte sich nach dem Krieg die seit Schleiermacher und Dilthey dominierende hermeneutische Tradition durch, die bei Gadamer, Apel und Habermas eher auf das „Besondere Allgemeine“ (wie M. Frank sagt) ausgerichtet ist, während in Frankreich schon die spätmoderne Literatur, die Philosophie Bergsons und der Existentialismus eine Abkehr vom Rationalismus und eine Partikularisierung des Denkens ankündigten. So kommt die Paradoxie zustande, die hier zutage tritt: Das nachmoderne französische Denken ist weitaus stärker von Nietzsches Philosophie geprägt als das deutsche, und Philosophen wie Foucault, Deleuze oder Derrida sind in ihrem nietzschea‐ nischen Partikularismus weitaus radikaler und einseitiger als der mit ihnen immer wieder verglichene Adorno, der weder auf Begrifflichkeit noch auf Subjektivität und subjektive Autonomie verzichten möchte. Zugleich treten sie als Widersacher des Universalpragmatikers Habermas auf. 5 Hier soll zunächst gezeigt werden, wie Paul Valérys und Jean-Paul Sartres Kritiken am cartesianischen Rationalismus und an Hegels Universalismus den postmodernen Partikularismus ankündigen. Im Anschluß daran werden vor allem zwei Aspekte der nachmodernen Partikularisierung beleuchtet: das Thema des Körpers, das Nietzsche mit Foucault verbindet, und das Thema der Sprache (konkreter: des Sprachkörpers), das eine Affinität zwischen Nietz‐ sche und einigen französischen Autoren wie Deleuze, Derrida und Barthes begründet. 10.2 Die Partikularisierung der Vernunft bei Valéry und Sartre Wie sehr Henri Bergson durch sein Mißtrauen gegen den kalkulierenden Intellekt, durch seinen Affekt gegen das Begriffliche und durch die Aufwertung der Intuition als Instinkt zur Abkehr der französischen Intelligenz vom Cartesia‐ nismus beitrug, ist hinlänglich bekannt und muß hier nicht ausgeführt werden. 6 10.2 Die Partikularisierung der Vernunft bei Valéry und Sartre 253 <?page no="254"?> 7 P. Valéry, „Une vue de Descartes“, in: ders., Œuvres I, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1957, S.-842. Wichtiger scheint in diesem Zusammenhang die Überlegung zu sein, daß ein Vertreter der französischen Spätmoderne wie Paul Valéry, dem man keine antirationalistische Tendenz nachsagen kann und der auch nicht als Gegner des Cartesianismus zu verstehen ist, ganz wesentlich zu einer Relativierung des rationalistischen cogito beigetragen hat. In seinen Kommentaren zu Descartes, die von großer Sympathie für den Philosophen zeugen und auch ein gewisses penchant für die Weltauffassung des Rationalismus durchschimmern lassen, macht sich zugleich die Neigung bemerkbar, Descartes’ cogito aus der individuellen, der partikularen Situation des denkenden Subjekts abzuleiten. Es ist eine argumentatio ad hominem, ad personam, die in Valérys Schrift „Une vue de Descartes“ entfaltet wird. Sie mündet in die fast als existentialistisch zu bezeichnende Erkenntnis, daß Des‐ cartes’ Philosophie möglicherweise nicht die Verwirklichung eines universellen, verallgemeinerungsfähigen Anliegens war (wie Generationen von Cartesianern meinten), sondern die Verwirklichung eines individuellen Projekts, eines projet im Sinne von Sartre. Valéry schließt seine Betrachtungen mit dem für die Spätmoderne (den Modernismus) charakteristischen Satz: „Deshalb habe ich die starke und unerschrockene Persönlichkeit Descartes’ so hervorgehoben, weil seine Philosophie möglicherweise (peut-être) von geringerem Wert für uns ist als sein Gedanke an ein großartiges und denkwürdiges Ich.“ 7 Die Skepsis, die in Valérys „peut-être“ anklingt, ist für den gesamten Moder‐ nismus als späte Selbstkritik der Moderne symptomatisch: Die von Descartes aufgezeigten Gesetzmäßigkeiten sind nur noch als curiosa einer verschollenen Zeit rezipierbar; nicht mehr als verallgemeinerungsfähige Maximen. Valérys Rettungsversucht gilt Descartes’ einmaligem projet, das seines Universalan‐ spruchs entledigt und der sich immer klarer abzeichnenden Kontingenz über‐ antwortet wird. Komplementär zu Valérys selbstkritischer Relativierung und Partikularisie‐ rung der cartesianischen Position verhält sich Jean-Paul Sartres Kritik an Hegels Universalismus, die in vieler Hinsicht die Hegel-Kritik der Junghegelianer und Søren Kierkegaards aktualisiert und fortsetzt. Wenn man bereit wäre, Einseitig‐ keiten und Vereinfachungen in Kauf zu nehmen, so könnte man behaupten, daß der gesamte Existentialismus aus einer drastischen Partikularisierung der Phänomenologie des Geistes hervorging, eines Werks, das mit allen Mittel versucht, die Partikularismen des Denkens zu überwinden. Dazu bemerkt Hegel in der Wissenschaft der Logik: „In der Phänomenologie des Geistes habe ich das 254 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne <?page no="255"?> 8 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Frankfurt, Suhrkamp, 1969, S.-42. 9 J.-P. Sartre, „L’Universel singulier“, in: Kierkegaard vivant, Paris, Gallimard, 1966, S. 39. 10 J.-P. Sartre, L’Etre et le Néant, Paris, Gallimard, 1943, S.-535. Bewußtsein in seiner Fortbewegung von dem ersten unmittelbaren Gegensatz seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten Wissen dargestellt.“ 8 Es ist wohl kein Zufall, daß Jean-Paul Sartre gerade in einem Aufsatz über Søren Kierkegaard Hegels Universalitäts- und Absolutheitsanspruch in Frage stellt. Analog zu Valéry, der den cartesianischen Rationalismus als persönliche Konstruktion des Philosophen neu bewertet, bringt Sartre Hegels Person ins Spiel: „So gesehen steht am Anfang des Hegelschen Systems nicht das Sein, sondern die Person Hegels, so wie sie gemacht wurde, so wie sie sich selbst gemacht hat.“ 9 Dies ist für Sartre eine zweideutige Entdeckung, die nur in der Skepsis ausmünden kann. Trotz dieser Skepsis, die auch den deutschen Existentialismus geprägt hat, versucht Sartre immer wieder, eine Brücke vom Besonderen zum Allgemeinen zu schlagen, etwa wenn er in L’Etre et la Néant behauptet, „la liberté du pour-soi est toujours engagée“. 10 Diese Brücke haben nachmoderne Denker wie Foucault, Deleuze, Derrida und Barthes hinter sich verbrannt. Als Nietzscheaner lehnen sie alle Versuche ab, zwischen Körper und Geist, Körper und Subjekt, Erscheinung und Wesen, Wortkörper und Begriff zu vermitteln. Die Sprache als solche wird von ihnen verkörperlicht, partikularisiert. 10.3 Von Nietzsche zu Foucault: Für eine Philosophie des Körpers Friedrich Nietzsche war wohl der erste Philosoph, der im Rahmen einer radi‐ kalen Kritik der europäischen Metaphysik den Körper und die Körperlichkeit zur Sprache brachte, und zwar so, daß nicht nur - wie etwa bei Hobbes - de corpore, also vom Körper die Rede war, sondern für den Körper, pro corpore plädiert wurde. Als konsequenter Kritiker des Idealismus spielt Nietzsche nicht nur die Erscheinung gegen das Wesen, sondern auch den Körper gegen den Geist und das Individuum als Physis gegen die Idee aus. Seine Polemiken kündigen Michel Foucaults Philosophie der Körperlichkeit an. Nietzsche, der Religions- und Moralkritiker, der Herausforderer der Meta‐ physik, geht aufs Ganze, wenn er den Körper, den Leib, wie er sagt, der Seele, dem Geist und der Wahrheit gegenüber aufwertet und behauptet, „daß man die allerersten Instinkte des Lebens verachten lehrte; daß man eine ‚Seele‘, einen 10.3 Von Nietzsche zu Foucault: Für eine Philosophie des Körpers 255 <?page no="256"?> 11 F. Nietzsche, Ecce homo, in: ders., Werke I, München, Hanser, 1980, S.-1157. 12 M. Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, in: ders., Dits et écrits II (1954-1988), Paris, Gallimard, 1994, S.-139. 13 M. Foucault, „Lettre à quleques leaders de la gauche“ (1977), in: ders., Dits et écrits III, op. cit., S.-398. ‚Geist‘ erlog, um den Leib zuschanden zu machen (…)“. 11 Hier geht es nicht nur um eine Kritik der Askese, an die Schriftsteller in ganz Europa - von D’Annunzio und D. H. Lawrence bis zu André Gide, Albert Camus und Hermann Hesse - anknüpften, sondern auch um einen tiefgreifenden Zweifel an metaphysischen Vokabeln wie „Wahrheit“, „Geist“, „Subjekt“ und „Begriff “. Anders als Gide und Camus, die mit Nietzsches Hilfe die Natur im Menschen entdeckten, visiert Michel Foucault den nietzscheanischen Nexus von Geist, Wahrheit und Körperlichkeit an. Auch er kommt zu dem Schluß, daß es nicht die universelle, begrifflich ableitbare Wahrheit gibt, sondern historisch kontingente Wahrheiten, die von Gesellschaft zu Gesellschaft von partikularen Machtinter‐ essen bedingt werden. Eine soziale Formation (etwa die der Renaissance), die im Wahnsinn noch Wahrheitsmomente zu erkennen meint, kann von einer neuen Formation (der des „âge classique“) abgelöst werden, die den Wahnsinn als das Andere der Vernunft definiert und ausgrenzt: die die Körper klinisch reglementiert und sie einer (stets kontingenten) Wahrheit und Wahrheitsmoral unterwirft. Wo Wissen als Machtausübung aufgefaßt wird, dort wird sein metaphy‐ sischer Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit drastisch eingeschränkt. Zugleich erscheint der einzelne Mensch nicht mehr als homo cogitans, als Statthalter der Universalvernunft, sondern als manipulierte Körperlichkeit. Dadurch erfährt das Denken eine Partikularisierung, die Foucault im Anschluß an Nietzsche feststellen läßt: „Die Wahrheit: eine Art Irrtum, dessen Stärke darin besteht, daß er nicht widerlegt werden kann, wohl deshalb nicht, weil er durch seine historische Verfestigung unabänderlich wurde.“ 12 Weiter kann man die Partikularisierung, die sich bereits in der Spätmoderne abzeichnet, schwerlich treiben: Wahrheit und Vernunft erscheinen als kontingente Produkte zufallsbedingter Machtkonstellationen. Foucault faßt dies in einem Titelsatz zusammen, wenn er lapidarisch bemerkt: „La torture, c’est la raison.“ 13 256 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne <?page no="257"?> 14 R. Barthes, Le Grain de la voix. Interviews, Paris, Seuil, 1981, S.-182. 15 R. Barthes, Le Bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris, Seuil, 1984, S.-207. 16 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: ders., Werke V, op. cit., S.-313. 17 J. Bessière, „De Bergson à Deleuze. Fabulation, image, mémoire - De quelques catégo‐ risations littéraires“, in: Neohelicon XXIV/ 2, 1997, S.-127-159. 18 G. Deleuze, Foucault, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S.-126. 10.4 Von Nietzsche zu Deleuze, Derrida und Barthes: Der Körper der Sprache Der partikularisierenden Reduktion des Geistes und der Wahrheit auf die Körperlichkeit entspricht bei Deleuze, Derrida und Barthes eine Gedankenbe‐ wegung vom Begriff als Signifikat zum vieldeutigen Signifikanten, der jenseits der Begrifflichkeit angesiedelt wird. Ist der Begriff aufgrund der ihm innewoh‐ nenden Abstraktion das Verallgemeinerungsfähige schlechthin, so stellt der Signifikant die zugleich nietzscheanische und postmoderne Herausforderung an die Begrifflichkeit dar. Daß er als Sprachkörper aufgefaßt wird, zeigt sich bei Roland Barthes, der schreibt: „Ermöglicht wird die Avantgarde immer dann, wenn der Körper schreibt und nicht die Ideologie.“ 14 Die Herrschaft der Ideologie ist bei Barthes stets mit dem herrschaftlich auftretenden Signifikat, mit dem Begriff, verbunden. „Ce monstre, le Dernier Signifié“ 15 , sagt Barthes in Le Bruissement de la langue. Diesem Monstrum stellt er die vieldeutigen Signifikanten gegenüber. Schon Nietzsche zog gegen den Universalanspruch des Begriffs zu Felde, als er versuchte, unsere Begrifflichkeit aus Nachlässigkeit und Irrtum abzuleiten. Wir bilden Begriffe, sagt er, weil wir uns über das Einmalig-Individuelle und über den Unterschied schlicht hinwegsetzen: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. (…) Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff (…).“ 16 Bei den Nietzscheanern Deleuze, Derrida und Barthes kommt es deshalb auf die Differenz, die Einmaligkeit der Erscheinungen und deren Alterität an. An Michel Foucaults Philosophie fasziniert Gilles Deleuze, den Jean Bessière als einen Geistesverwandten Bergsons interpretiert 17 , vor allem eines: die genea‐ logische, nietzscheanische Rückführung des Universellen auf das Partikulare: der Wahrheit auf die Macht und das Spiel, des Subjekts auf die reglementierte Körperlichkeit des Einzelnen und des Denkens auf das Leben. Wie Foucault und Nietzsche lehnt auch Deleuze den mit einem Universalanspruch auftretenden metaphysischen Wahrheitsbegriff ab und ersetzt ihn durch zahlreiche mitein‐ ander konkurrierende Wahrheiten. „Unterhalb des Universellen gibt es Spiele von Singularitäten“ 18 , heißt es in Deleuzes Buch über Foucault. 10.4 Von Nietzsche zu Deleuze, Derrida und Barthes: Der Körper der Sprache 257 <?page no="258"?> 19 G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, München, Fink, 1992, S.-346. 20 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S.-44. Auf sprachlicher Ebene läuft Deleuzes Nietzscheanismus auf eine Leugnung der begrifflichen Identität hinaus. Um diesen Gedanken plausibel zu machen, unterscheidet Deleuze zwei Arten der Wiederholung (eines Wortes, eines Be‐ griffs, eines Ereignisses): die platonische und die nietzscheanische. Während die platonische Wiederholung auf dem Gedanken gründet, daß die rekurrierende oder wiederholt auftretende Einheit ihre Identität wahrt, so daß sie als Replika des ursprünglichen Modells, der reinen Idee oder Form im Sinne von Plato er‐ scheint, gründet die nietzscheanische Art der Wiederholung auf dem Gedanken der Differenz. Dieser Auffassung zufolge ist jeder Gegenstand, ist jedes Wortzei‐ chen einmalig und unterscheidet sich von jedem anderen Gegenstand und jedem anderen Wort. Es gibt keine Wiederholung ohne Abweichung, und die sich wiederholenden Elemente können keinem gemeinsamen begrifflichen Nenner subsumiert werden. Mit anderen Worten: Es gibt nur Differenzen und keine Identität des Gedankens mit sich selbst - oder mit Deleuze ausgedrückt: „Das Trugbild ist jenes System, in dem sich das Differente mittels der Differenz selbst auf das Differente bezieht.“ 19 Komplementär zu Deleuzes Buch Différence et répétition, das im Jahre 1968 erschien, verhält sich das ein Jahr zuvor erschienene Buch von Jacques Derrida L’Ecriture et la différence. Auch Derrida geht von dem nietzscheanischen Gedanken aus, daß Wiederholung eines Wortes nur Differenzen zeitigt, die nicht auf einen gemeinsamen begrifflichen Nenner der rekurrierenden Einheiten reduzierbar sind. Derrida zeigt - etwa in seiner Kritik an Jean-Pierre Richards thematologischer Mallarmé-Interpretation - daß das Wort pli (Falte) in Mal‐ larmés Dichtung trotz Wiederholung kein kohärentes Thema bildet, sondern stets neue, widersprüchliche Bedeutungen annimmt, die nicht auf den Begriff gebracht werden können. Übrig bleibt schließlich das Partikulare als vieldeu‐ tiger, undefinierbarer Signifikant - oder mit Derridas eigenen Worten: „Die unbestimmte Rückverweisung eines Signifikanten auf einen Signifikanten.“ 20 Auch hier gilt also Nietzsches These, daß wir unsere Begrifflichkeit einem Irrtum verdanken. Wer Nietzsches radikalen Nominalismus ernst nimmt und sich bei der geringsten semantischen Abweichung weigert, begrifflich zu sub‐ sumieren, zu verallgemeinern, der wird Deleuze und Derrida folgen. Er wird auch Roland Barthes folgen, der Derridas „unbestimmte Rückverwei‐ sung eines Signifikanten auf einen Signifikanten“ als signifiance bezeichnet. Er faßt den Text - nicht nur den literarischen - als ein offenes Zusammenspiel von 258 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne <?page no="259"?> 21 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke III, op. cit., S.-73. 22 F. Nietzsche, „Nietzsche contra Wagner“, in: ders., Werke IV, op. cit., S.-1061. Signifikanten auf, dem keine Interpretation ein Ende bereiten kann, weil er als signifiance, d.-h. als offener Bedeutungsprozeß, keinen Abschluß zuläßt. Insgesamt wird hier deutlich, daß sich die Abkehr vom Universalismus im nachmodernen französischen Denken an den nietzscheanischen Gegensätzen Geist/ Körper, Begriff/ Bild und Wesen/ Schein orientiert, wobei dem Gegensatz Wesen/ Schein eine zentrale Rolle zufällt. „Was ist mir jetzt ‚Schein‘! “, ruft Nietzsche aus und fügt hinzu: „Wahrlich nicht der Gegensatz irgendeines Wesens - was weiß ich von irgendwelchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädikate seines Scheins! “ 21 Selbst wenn Nietzsche nicht mehr an semantische Gegensätze zu glauben scheint, weil er die Existenz von „Geist“, „Subjekt“, „Begriff “ und „Wesen“ leugnet, so sind diese Termini als Negativa seinem Diskurs eingeschrieben - ähnlich wie den Diskursen der nachmodernen Denker. Auch sie - auch Foucault, Deleuze, Derrida und Barthes - lassen nur die „Prädikate des Scheins“ gelten; auch ihnen wird die Oberfläche zur Wirklichkeit tout court. Wie sehr die Aufwertung der Oberfläche, des Scheins, des Körpers und des Wortkörpers als phonetischer Einheit, als Signifikant nietzscheanischen Ursprungs ist, läßt Nietzsches Lob der alten Griechen erkennen, die es verstanden, an der Ober‐ fläche zu verharren: „O diese Griechen! sie verstanden sich darauf, zu leben! Dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehnzubleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! “ 22 Das nachmoderne französische Denken könnte in diesem Sinn als eine nietzscheanische Rückkehr zur Oberfläche betrachtet werden. 10.5 Von der Subjektivität zur Individualität des Körpers Die Partikularisierungstendenz, die hier in verschiedenen Kontexten aufgezeigt wurde, führt auch dazu, daß das Subjekt als begrifflich-diskursive Instanz den nachmodernen Intellektuellen als ein schimärenhaftes Residuum abendländi‐ scher Metaphysik erscheint. Es wird unglaubwürdig, weil man es - analog zum Begriff - für eine Fiktion hält. Vergleicht man Nietzsches Äußerungen zum Begriff und zum Subjekt, so versteht man die nachmoderne Skepsis sowohl der Begrifflichkeit als auch der Subjektivität gegenüber besser: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen (…) (s. o.).“ Seine Kritik am Subjekt weist frappierende Ähnlichkeiten mit diesem antimetaphysischen Argument auf: „‚Subjekt‘ ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns 10.5 Von der Subjektivität zur Individualität des Körpers 259 <?page no="260"?> 23 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: ders., Werke VI, op. cit., S. 627. 24 Zu Roland Barthes’ Nietzscheanismus vgl. Vf. „Roland Barthes’ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten“, in: ders., Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2020 (3. Aufl.), Kap. VII. 25 Vgl. R. Barthes, Le Plaisir du texte, Paris, Seuil, 1973, S. 24, wo sich Barthes auf Nietzsche beruft. 26 R. Barthes, Le Bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris, Seuil, 1984, S.-265. 27 R. Barthes, Le Grain de la voix, op. cit., S.-182. 28 Vgl. A. Breton, Position politique du surréalisme, Paris, Denoël-Gonthier, 1972, S. 15-60. Sowie: K. Teige, „Poétisme“, in: Change 10, 1972 („Prague poésie“), S.-110. die Wirkung eines Substrats wären: aber wir haben erst die ‚Gleichheit‘ dieser Zustände geschaffen (…).“ 23 Anders gesagt: Auch Subjektivität ist eine Illusion, die durch das Gleichsetzen des Nichtgleichen entsteht, die Disparatheit und Widersprüchlichkeit metaphysisch verbrämt, überspielt. Vor diesem Hintergrund sind Barthes’, Derridas und Foucaults skeptische Äußerungen zu Begrifflichkeit und Subjektivität zu lesen. Roland Barthes’ nietzscheanisches Plädoyer für den Signifikanten 24 ist nicht nur aus seiner spielerisch-hedonistischen Einstellung zum Text ableitbar 25 , sondern auch und vor allem aus seiner Ablehnung des metaphysischen Begriffs, der die Viel‐ deutigkeit und Offenheit des literarischen Textes letztlich auf Eindeutigkeit reduzieren könnte: „Erst Mallarmé hat in unserer Literatur die Vorstellung eines freien Signifikanten ermöglicht, auf dem nicht länger die Zensur des falschen Signifikats lastet (…).“ 26 Die Zensur als ideologisch-begriffliche, als monosemie‐ rende Instanz stellt sich dem nachmodernen critique littéraire als Erbin einer repressiven Metaphysik dar, die die Gegenwart des Begriffs herbeiführt und dadurch dem vieldeutigen Spiel der Signifikanten ein Ende bereitet. Sie bildet die Grundlage einer machtvermittelten Subjektivität, die Barthes mit Derrida dekonstruktiv befreien möchte. Diese Befreiung läuft auf eine drastische Partikularisierung hinaus: Analog zum Signifikanten, zur phonetischen Einheit als „Sprachkörper“, entdeckt Bar‐ thes den schreibenden Körper, der an die Stelle des begrifflich argumentierenden metaphysischen Subjekts tritt. „Ermöglicht wird die Avantgarde immer dann, wenn der Körper schreibt und nicht die Ideologie“ 27 , heißt es in Le Grain de la voix (s. o.). Übergangen werden hier freilich alle Versuche der historischen Avantgarden - etwa des französischen Surrealismus oder des tschechischen Poetismus 28 - , die literarische Praxis diskursiv-begrifflich dem Marxismus anzunähern. Die Avantgarde wird partikularistisch auf Körper und Physis eingeengt. Der Autor von Le Plaisir du texte fragt nach der Bedeutung des von ihm im Anschluß an Derrida eingeführten Wortes signifiance und faßt es als Sinnlich‐ 260 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne <?page no="261"?> 29 R. Barthes, Le Plaisir du texte, op. cit., S.-97. 30 J. Derrida, Points de suspension. Entretiens, Paris, Galilée, 1992, S.-295. 31 J. Derrida, Glas II. Que reste-t-il du savoir absolu? , Paris, Denoël-Gonthier, 1981, S. 191. 32 J. Derrida, Glas I, op. cit., S.-11. 33 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S.-25. keit des Sinnes auf: „Es ist der Sinn, soweit er auf sinnlichem Wege produziert wird.“ („C’est le sens en ce qu’il est produit sensuellement.“) 29 Komplementär zu dieser Reduktion des Sinnes auf Sinnlichkeit verhält sich die Reduktion von Subjektivität auf Körperlichkeit. Vergleichbare Argumentationsmuster führen auch bei Derrida von der Kritik an einer im begrifflichen Denken verankerten cartesianischen, kantianischen oder hegelianischen Subjektivität zur Aufwertung des Signifikanten (als Sprach‐ körper) und des Individuums als Körperlichkeit. Derrida setzt Nietzsches Kritik am metaphysischen Subjektbegriff fort, wenn er Subjektivität aus der logo‐ zentrischen Gewaltherrschaft der Metaphysik ableitet: „Die virile Gewalt des erwachsenen Mannes, des Vaters, Gatten oder Bruders (…) gehört dem Schema an, das den Subjektbegriff beherrscht.“ 30 Es geht hier um den Subjektbegriff Descartes’, Kants, Hegels. Wie Barthes nimmt sich Derrida vor, die logozentrische Subjektivität durch eine Dekonstruktion der Begrifflichkeit aufzulösen. Dabei tritt immer wieder die individuelle Körperlichkeit zutage: etwa in der experimentellen Schrift Glas (Totenglocke), die aus einer radikalen Subversion von Hegels absolutem Wissen (der Untertitel lautet: Que reste-t-il du savoir absolu? ) den befreiten Sprachkörper des Signifikanten und den subjektlosen Körper des Individuums hervorgehen läßt. In diesem Text geht es - ähnlich wie in Adornos Negativer Dialektik - darum, das Einzelne, Besondere vom begrifflichen Zwang des Systems zu befreien. Zu diesem bemerkt Derrida: „Der Tod der Einzelheit ist stets eine Aufhebung.“ 31 So opfert das System, das von Aufhebung zu Aufhebung eilt, das Besondere der sich konstituierenden historischen Allgemeinheit. Das Besondere der Sprache selbst wird bei Hegel der Allgemeinheit als Begrifflichkeit geopfert: „Sie wird nur dadurch zur Sprache, daß sie sich im Begriff aufhebt.“ („Elle ne devient langue qu’en se supprimant/ conservant dans le concept.“) 32 Ähnlich wie Adorno möchte Derrida das Besondere der Sprache und der menschlichen Person jenseits des begrifflichen Systems beredt machen. Anders als Adorno, der sich vornimmt, „über den Begriff durch den Begriff “ 33 hinauszugelangen, konfrontiert Derrida Hegels System undialektisch mit dem Partikularen: dem Signifikanten als Sprachkörper, dem menschlichen Körper 10.5 Von der Subjektivität zur Individualität des Körpers 261 <?page no="262"?> 34 Zum Vergleich von Adornos negativer Dialektik und Derridas Dekonstruktion vgl. S. Zenklusen, Adornos Nichtidentisches und Derridas différance. Für eine Resurrektion negativer Dialektik, Berlin, Wiss. Verlag Berlin, 2002, S. 91: „Dekonstruktion als radikalisierte negative Dialektik“. 35 Vgl. J. Derrida, Glas I, op. cit., S.-64. 36 R. Smith, Derrida and Autobiography, Cambridge, Univ. Press, 1995, S.-12. als kontingenter Natur und Sexualität. 34 Wenn in der Textcollage Glas parallel zu Zitaten aus Hegels Werk immer wieder der unversöhnte Schriftsteller und Außenseiter Jean Genet zu Wort kommt, so deshalb, weil seine Texte das nicht‐ identische Partikulare in seiner Unaufhebbarkeit und Nichtintegrierbarkeit, in seiner sexuellen Perversion verkörpern. Es geht darum, Hegel mit Genet, also gegen den Strich zu lesen: d. h. biographisch, auf Natur, Kontingenz, Zufall und Sexualität bezogen. Daß in diesem Zusammenhang die dialektische Aufhebung mit der Erektion assoziiert werden kann 35 , überrascht kaum noch. Denn Derrida setzt in dieser Hinsicht die Partikularisierungstendenz (als Hang zur Verkörperlichung) fort, die mit den Junghegelianern und Nietzsche einsetzte und die Sartre in Hegels Person („la personne de Hegel“, s. o.) den Ursprung des historischen Systems erkennen läßt. An diese Tendenz knüpft Derrida dekonstruktivistisch an, wenn er Hegels System durch Anspielungen auf biographische Momente im Diskurs des Sys‐ temdenkers als besonderes, kontingentes Konstrukt erscheinen läßt. So kann sich beispielsweise Robert Smith vornehmen: „to make salient the re-elabora‐ tions of Hegelian thought by Derrida and to stress the importance of the autobi‐ ographical to them“. 36 Dies bedeutet aber, daß Adornos dialektisches Vorhaben, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“, nicht verwirklicht wird, weil in der Nachmoderne Allgemeines und Besonderes einander unvermittelt gegenüberstehen. Dies scheint auch bei Foucault der Fall zu sein, der im Gegensatz zur rationalistisch-hegelianischen Moderne in der Sprache nicht ein Instrument des denkenden Subjekts erblickt, sondern im denkenden Subjekt ein Produkt von sprachlich vermittelten Machtkonstellationen, das sein eigenes Produkt-Sein nicht durchschaut. Wie Barthes und Derrida, die die Begrifflichkeit durch radikale Partikularisie‐ rung (signifiance, différance, dissémination) dekonstruieren und dadurch dem Subjekt sein diskursives Instrumentarium aus der Hand schlagen, konfrontiert Foucault den Einzelnen mit einer opaken Sprache, die als Grundlage einer kritisch-reflektierenden Subjektivität nicht mehr in Frage kommt. 262 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne <?page no="263"?> 37 M. Foucault. „Les Mots et les choses“ (entretien avec R. Bellour), in: ders., Dits et écrits I, Paris, Gallimard, 1994, S.-503. 38 Ibid. 39 M. Foucault, Dits et écrits II, op. cit., S.-143. 40 Ibid., S.-147. 41 M. Foucault, Dits et écrits III, op. cit., S.-395. Auch Foucaults Gedankengänge in diesem Bereich sind nietzscheanischer Provenienz. Von Nietzsche sagt Foucault in einem Gespräch, er habe verstanden, „daß die Wiederentdeckung der sprachlichen Dimension mit dem Menschen unvereinbar ist“. 37 Er habe erkannt, „daß dort, wo das Zeichen ist, der Mensch nicht sein kann und daß dort, wo die Zeichen beredt werden (où on fait parler les signes), der Mensch wohl schweigen muß“. 38 Angesichts solcher Behauptungen kann der Satz „Das Subjekt konstituiert sich im Diskurs“ nur als rationalistische Illusion erscheinen, weil dem Sprechenden die Kräfte, die sein Zustandekommen bewirken, undurchsichtig sind. Es bleibt der individuelle Körper, der alles andere als eine Konstante ist: „Der Körper: Oberfläche, in die sich Ereignisse einschreiben (während die Sprache sie bezeichnet und die Ideen sie auflösen), Ort der Auflösung des Ichs (das er mit der Schimäre ineinssetzt, eine substantielle Einheit zu sein), ein Ding, das endlos zerbröckelt.“ 39 Zwischen sprachlosen Körper-Individuen ist Kommunikation, die von Descartes bis Hegel stets begrifflich fundiert war, kaum möglich. Es gibt nichts Festes, das der zwischenmenschlichen Kommunikation als Grundlage dienen könnte: „Nichts im Menschen - nicht einmal sein Körper - ist so fest, daß es gestatten würde, die anderen Menschen zu verstehen und sich in ihnen wiederzuerkennen.“ 40 Aber selbst wenn der Körper stabil wäre, gäbe er keine brauchbare Basis für rationale Kommunikation ab. Diese wird nur von verallgemeinerungsfähigen Begriffen gewährleistet, die Adorno nie aufgab, weil er wußte, daß ohne sie kritische Vernunft nicht möglich ist. Foucault betrachtet die Vernunfttradition von einer ganz anderen Warte aus. Vernunft erscheint ihm im französischen Kontext als mit der Folter identisch: „Im Französischen ist die Vernunft Folter.“ („En français, la torture, c’est la raison.“) 41 Mag sein, fügt er hinzu, daß im Deutschen das Wort Vernunft eine andere Bedeutung hat, aber das französische Wort raison evoziert in seinem Diskurs die Machtkonstellationen und Zwangsmechanismen, die den Menschen notfalls mit Hilfe physischer Maßnahmen Vernunft annehmen und rational handeln lassen. Vernunft als Folter, als physische Reglementierung und Disziplinierung bezieht sich nicht mehr auf das Subjekt als autonome Instanz, sondern auf den unterworfenen Körper. 10.5 Von der Subjektivität zur Individualität des Körpers 263 <?page no="264"?> 42 M. Foucault, Dits et écrits I, op. cit., S.-978. 43 Vgl. A. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris, Gallimard, 1963, S. 32: „Combien de lecteurs se rappellent le nom du narrateur dans la Nausée ou dans l’Etranger? “ - Vgl. auch M. Zéraffa, La Révolution romanesque, Paris, UGE, 10/ 18, 1972, S.-408-412. Deleuze, Barthes, Derrida und Foucault vertreten durchaus verschiedene Denkmodelle, und das Wort „postmodern“ scheint zunächst die zahlreichen Gegensätze und Differenzen zwischen ihnen zu verdecken. Zugleich bezeichnet es aber den gemeinsamen Nenner, der sie miteinander verbindet und erklärt, weshalb man sie - vor allem in der englischsprachigen Welt - oft gemeinsam auftreten läßt: die nietzscheanische Partikularisierungstendenz und den aus ihr hervorgehenden Zweifel an Begriff, Subjekt und Vernunft. Vor den allgemein‐ gültigen Begriff tritt der Signifikant, vor das nach Allgemeinheit strebende Subjekt der (Sprach-)Körper, vor die Vernunft der sie partikularisierende und entwertende Herrschaftsanspruch. Das Subjekt erscheint vor allem bei Foucault als unterworfene Instanz, als Spielball der Determinismen. Den Autor sieht Foucault nicht als autonomes Subjekt, sondern als diskursiven Modus: „un certain mode d’être du discours“. 42 10.6 Eine Literatur der Körperlichkeit? Auf dieser Ebene ist es durchaus möglich, Foucaults Subjekt-Skepsis (zusammen mit der Derridas und Barthes’) der einiger nachmoderner Schriftsteller anzunä‐ hern, die an das Subjekt, die Person oder den Romanhelden nicht mehr glauben können. Es ist oft bemerkt worden, daß schon die Romanhelden der Spätmo‐ derne bisweilen nur noch als atrophierte Subjekte, als anonyme Gestalten ohne Vergangenheit auftreten. 43 Können Josef K., Antoine Roquentin oder Leopold Bloom noch als Helden oder Protagonisten im Sinne von Goethes Werther, George Eliots Adam Bede oder Balzacs Vautrin oder Lucien de Rubempré aufgefaßt werden? Doch diese Frage ist nicht radikal genug, wenn sie im Zusammenhang mit dem Nouveau Roman oder einigen anderen Texten der Nachmoderne gestellt wird. Denn in der literarischen Nachmoderne treten Figuren auf den Plan, von denen einige die Bezeichnung „Subjekt“ nicht mehr verdienen. Während in Alain Robbe-Grillets Le Voyeur (1955) ein Handelsreisender und Voyeur (voya‐ geur-voyeur) von einem ökonomischen und einem sexuellen Impuls beherrscht wird (er möchte den Bewohnern einer Insel möglichst viele Armbanduhren verkaufen, sucht zugleich aber nach dem Mädchen Violette, um es zu verge‐ waltigen), läßt sich in Patrick Süskinds Roman Das Parfum (1985) ein Mörder 264 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne <?page no="265"?> 44 D. Del Giudice, „L’orecchio assoluto“, in: ders., Mania, Torino, Einaudi, 1997, S.-13. 45 Ibid. 46 Ibid., S.-37. 47 P. Süskind, Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders, Zürich, Diogenes, 1985, S.-58. namens Grenouille ausschließlich von seinem Geruchssinn leiten. Seine Suche nach dem idealen Parfum, das es ihm gestatten würde, seine Mitmenschen zu betören und zu beherrschen, wird zur Obsession, zur möderischen Manie. Diese verweist auf einen weiteren Text der Nachmoderne: auf Daniele Del Giudices Erzählungen Mania (1997). Vor allem die Erzählung „L’orecchio assoluto“ wird von einem akustischen Determinismus beherrscht, der an die Obsessionen des Voyeurs und Grenouilles erinnert. Der Ich-Erzähler erklärt, daß ihm die Musik, eine bestimmte Musik, das Handeln diktiert: „La musica aveva sempre deciso per me, strappandomi le azioni.“ („Die Musik hat bisher immer für mich entschieden, hat mir mein Handeln vorgegeben.“) 44 In seinem Edinburger Hotelzimmer dringt zufällig und schicksalhaft eine Melodie in sein Ohr, die ihn gleichsam hypnotisch beherrscht und ihm diktiert, jemanden zu töten. Jäh fühlt er das untilgbare Bedürfnis, einen Menschen um‐ zubringen: „il bisogno lucidissimo e insopprimibile di uccidere qualcuno“. 45 Wie Süskinds Grenouille, wie Robbe-Grillets Voyeur Mathias kennt der akustisch determinierte Ich-Erzähler Del Giudices weder Skrupel noch Gewissensbisse. Nach vollbrachter Tat vermag er nur, „ein seltsames Wohlbefinden und eine Art Euphorie“ zu empfinden: „uno strano benessere e una certa euforia“. 46 Auch der vom Parfum besessene Grenouille verspürt nach seinem ersten Mord keinerlei Gewissensbisse: „Daß am Anfang dieser Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn überhaupt bewußt, vollkommen gleichgültig. An das Bild des Mädchens aus der Rue des Marais, an ihr Gesicht, an ihren Körper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip des Dufts.“ 47 Obwohl sich auf argumentativer Ebene die Frage stellt, wieviel Ernst und wie viele Körnchen Salz in die Interpretationen dieser postmodernen Texte eingehen sollen, kann an der Subjektlosigkeit der Protagonisten kaum gezweifelt werden: Duft, Ton, Sexualität und Ökonomie beherrschen restlos die drei handelnden Instanzen, deren Subjektivität dem Determinismus zum Opfer fällt. Daß in diesem Kontext Wertungen, Skrupel oder Selbstreflexion nur noch als Überreste einer verschollenen metaphysischen Ära erscheinen können, versteht sich von selbst. Freilich sind längst nicht alle postmodernen Romane oder Erzählungen von einer Subjektlosigkeit dieser Art geprägt. Ecos, Fowles’, Calvinos oder Ransmayrs Werke sollten den subjektlosen Epopeen Robbe-Grillets, Süskinds 10.6 Eine Literatur der Körperlichkeit? 265 <?page no="266"?> 48 Vgl. P. V. Zima, Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tü‐ bingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), Kap. V, wo vier Grundmodelle der postmodernen Literatur unterschieden werden. 49 Vgl. P. V. Zima., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2017 (4. Aufl.), Kap. IV. 50 Th. Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von seinem Freunde, Frankfurt, Fischer, 1980, S.-48. 51 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders., Gesammelte Werke I, Hamburg, Rowohlt, 1978, Kap. XIII: „Ein geniales Rennpferd reift die Erkenntnis, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein.“ oder Del Giudices nicht angenähert werden. 48 Dennoch stellt sich die Frage, ob die Subjektlosigkeit einer bestimmten postmodernen Literatur die Romane Ecos und Fowles’, in denen der traditionelle Held spielerisch aktualisiert wird, nicht ergänzt. Denn von einer kritischen und selbstkritischen, sich selbst suchenden Subjektivität kann bei Eco und Fowles auch nicht die Rede sein. Ihre Romane lassen eine als anachronistisch erkennbare (mittelalterliche, viktorianische) Subjektivität wiederkehren, die vom ironisch rezipierenden Leser wiederer‐ kannt und genossen wird: wie der „Graf “ oder „Baron“ in der kleinbürgerlichen Operette, die mit der feudalen Zeit nichts mehr zu tun hat. So werden nahezu alle philosophischen und literarischen Diskurse der Post‐ moderne von einem Niedergang des individuellen Subjekts geprägt, der aus vier komplementären Faktoren ableitbar ist: 1. der Säkularisierung der Gesellschaft; 2. der Unterwerfung fast aller sozialen Bereiche unter das Marktgesetz; 3. der ideologischen und marktbedingten Zerstörung der Sprache und 4. dem arbeitsteiligen Prozeß, der auch die Freizeit erfaßt. Es ist hier nicht der Ort, alle diese Faktoren en détail zu analysieren. 49 Es sei nur daran erinnert, daß der Autor von Glas die Begrifflichkeit von Hegels Philosophie ganz zu Recht aus der christlichen Religion ableitet. Der Glaube an Hegels Formen der Subjektivität ist nur in einer Gesellschaft möglich, deren christliches Fundament noch nicht restlos zerbröckelt ist. In einer völlig säkularisierten Gesellschaft hingegen, in der Gott als höchstes Subjekt keinen Bezugspunkt mehr bildet, wird Subjektivität als solche fragwürdig - obwohl nicht unmöglich. Allerdings wird ihre Konstitution dadurch erschwert, daß bestimmte „absolute Werte“ 50 , an die Thomas Manns Erzähler Zeitblom noch glaubt, im nachmodernen Kapitalismus allesamt dem Marktgesetz zum Opfer fallen, dem alle Werte gerade gut genug sind, um den Umsatz als Tauschwert zu steigern: Vom „genialen Rennpferd“ 51 , das noch Musils Erzähler schockierte, ist es zur „genialen Motorhaube“ oder zum Waschpulver GENIE nicht mehr weit. Zerstört wird hier nicht nur das Wort Genie, sondern auch die Subjektivität, die es im 19.-Jahrhundert noch bezeichnete. 266 10 Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne <?page no="267"?> 52 Zum Verhältnis von Markt und Ideologie vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurs‐ kritik, Tübingen-Basel, Francke, 1989, Kap. I. 53 Vgl. G. Simmel, Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin, Wagenbach, 1984, darin vor allem: „Die Zukunft unserer Kultur“ sowie „Wandel der Kulturformen“. Markt und Ideologie mögen zwar Gegensätze sein, weil der Ideologe die Indifferenz des Marktes bekämpfen muß, um Individuen und Gruppen zu mobilisieren 52 , aber ihre Auswirkungen auf den sprachlichen Bereich sind ver‐ gleichbar: Werbung und ideologische Diskurse instrumentalisieren die Sprache und höhlen dadurch nicht nur die Wörter und die Werte, die sie bezeichnen, aus, sondern auch die Subjektivität, die ohne Wertsetzungen nicht auskommt. Schließlich wird das Einzelsubjekt durch den arbeitsteiligen Prozeß geschwächt, der u.a dazu führt, daß die Kluft zwischen subjektiver und objektiver Kultur, wie Georg Simmel sagt 53 , immer tiefer wird. Das hochspezialisierte Subjekt ist nicht mehr in der Lage, den von Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern angehäuften Wissensvorrat zu überblicken, geschweige denn zu verinnerlichen. Seine Kultur droht zu einer quantité négligeable zusammenzuschrumpfen. Es droht, als Kultursubjekt abzudanken und auf reine Natur als Körperlichkeit reduziert zu werden. Sicherlich ist der Endpunkt dieser Entwicklung noch nicht erreicht; aber die postmodernen Autoren antizipieren möglicherweise etwas von dem, was noch bevorsteht. 10.6 Eine Literatur der Körperlichkeit? 267 <?page no="269"?> 1 Vgl. P. V. Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen, Francke, 2016 (2., erw. Aufl.), Kap. VII: „Kritik der Dekonstruktion“. 2 J. Derrida, Limited Inc., Paris, Galilée, 1990, S.-270 (Übers. durch den Autor). 11 Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff Wo der Subjektbegriff in Frage gestellt oder gar verabschiedet wird, dort kommen auch Zweifel am komplementären Werkbegriff auf. Denn die Konti‐ nuität, Konsistenz und Kohärenz, die vor Nietzsches radikaler Abrechnung mit dem deutschen Idealismus sowohl dem individuellen Subjekt als auch seinem Werk zugesprochen wurde, ist seit langem keine Selbstverständlichkeit mehr. Ein Strukturalismus, der Verwerfungen und Brüche hervorhebt, eine Psychoanalyse, die das Subjekt auf paradoxe Art mit seinem Unbewußten identifiziert, und eine Dekonstruktion, welche die Gegenwart des Sinnes durch unaufhaltsame Sinnverschiebung ersetzt hat, fachen unsere Zweifel am Subjekt- und Werkbegriff immer von neuem an. Lyotard paraphrasierend ließe sich sagen, daß unser nachmodernes Zeitalter von einer Skepsis gegenüber dem Subjekt und seinen Erzählungen geprägt ist. Es hat sich jedoch gezeigt, daß die Neigung der Dekonstruktivisten, alle Texte in Widersprüchen, Aporien und Sinnversschiebungen (Differänz, Iterabilität) zergehen zu lassen, ein theoretischer Extremismus war. 1 Denn wenn es zutrifft, daß es nur die Differänz oder die Iterabilität als Sinnverschiebung gibt und daß Sinngegenwart als Definition oder Begriffsbestimmung undenkbar ist, dann bleibt auch der Sinn eines Textes, eines Werks undefinierbar: Er kann nicht vergegenwärtigt werden. Nun reagiert aber gerade Derrida auf Mißverständ‐ nisse und Verzerrungen seines Denkens besonders empfindlich und läßt sich in seiner Polemik gegen Searle zu der Behauptung hinreißen, Searles Definition des Dekonstruktivisten sei falsch: „(…) Cette définition du déconstructionniste est fausse (je dis bien fausse: non vraie) et faible; elle suppose une mauvaise lecture (je dis bien mauvaise: non bonne) et une lecture faible de nombreux textes, et aussi des miens, qu’il faut lire si on veut en parler.“ 2 („Diese Definition des Dekonstruktivisten ist falsch (ich sage falsch: nicht richtig) und schwach; sie setzt eine schlechte Lesart (ich sage schlechte: nicht gute) vieler, auch meiner Texte voraus, die man lesen muß, wenn man von ihnen reden will.“) Dies alles klingt durchaus klar und plausibel, weil jeder hermeneutisch und semiotisch geschulte Leser voraussetzt, daß es sinnvoll ist, richtige von falschen Auffassungen oder Rezeptionsweisen zu unterscheiden - daß es überdies einen <?page no="270"?> Autor gibt, der mit seinem Werk eine bestimmte Absicht verfolgt, die er am besten kennt. Die nicht intendierte Ironie von Derridas Replik besteht darin, daß sie von einem Dekonstruktivisten stammt, der Subjektivität, Intentionalität und Sinngegenwart radikal in Frage stellt, indem er sie der Differänz, der Iterabilität und der Dissemination überantwortet. Sobald jedoch sein eigenes Werk zur Debatte steht, möchte er am liebsten zur Sinngegenwart der begrifflichen Definition zurückkehren. Mag die Sprechakttheorie Austins und Searles noch so widersprüchlich sein; wenn es um Derridas Dekonstruktion geht, scheint nur eine richtige Lesart in Frage zu kommen: die des Autors, der für die Sinngegenwart in seinem Werk bürgt. Aus der Debatte zwischen Dekonstruktion und Sprechakttheorie geht als Fazit hervor, daß Sinnzersetzung als Iterabilität und Sinnkonstitution im se‐ miotisch-hermeneutischen Sinn komplementäre Prozesse sind, die jedem Text zugrunde liegen. Anders gesagt: Texte können anhand von Sinnverschiebungen und Widersprüchen dekonstruiert oder aber als Einheiten rekonstruiert werden. Sehr viel hängt von der Intention des theoretischen Subjekts und seines Meta‐ diskurses - und natürlich von der Beschaffenheit des Objekts ab. (Die Rekon‐ struktion oder Dekonstruktion einer dadaistischen Textcollage wird anders geartet sein als die eines romantischen Gedichts.) Analog zu diesen Überlegungen ließe sich die These formulieren, von der ich im folgenden ausgehen möchte: Auch die verwandten Begriffe „Subjekt“ und „Werk“ können und sollten von zwei gegensätzlichen, aber komplementären Standpunkten aus beleuchtet werden: vom Standpunkt der Diskontinuität oder des Zerfalls und vom Standpunkt der Kontinuität oder der Einheit. Alles hängt von unserer Konstruktion und von unserem Konstruktionswillen ab. Das Subjekt kann sowohl als hypokeimenon, als das Zugrundeliegende und Vorauszusetzende, als auch als subiectum, als das Unterworfene oder Abgeleitete, konstruiert werden. Analog dazu erscheint das Werk als Schöpfung eines autonomen (cartesischen oder kantischen) Urhebers oder als archäolo‐ gisches, naturwüchsiges Zufallsprodukt ineinandergreifender, kollidierender Diskursformationen. 11.1 Foucault, Nietzsche und die Postmoderne: Diskontinuität Nicht zufällig werden Autoren wie Foucault, Derrida, Lyotard und Vattimo der Postmoderne zugerechnet. Denn diese Problematik, die Lyotard zwar als Bruch mit alten Vorstellungen definiert, ohne sie aber als neue Epoche betrachten zu wollen, läßt grundsätzliche Zweifel an modernen Begriffen wie Subjekt, Autor, Werk, Sinn und Kohärenz aufkommen. Während Lyotard die großen 270 11 Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff <?page no="271"?> 3 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: Gesammelte Werke, Bd. VI, Hrsg. K. Schlechta, München, 1980, S.-627. 4 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: Gesammelte Werke, Bd. V, Hrsg. K. Schlechta, op. cit., S.-313. 5 M. Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“ (1971), in: ders., Dits et écrits, Bd. II, Hrsg. D. Defert, F. Ewald, Paris, Gallimard, 1994, S.-148. Metaerzählungen mit Skepsis betrachtet und Derrida nachzuweisen versucht, daß Sinn nur als Sinnverschiebung denkbar ist, stellt Foucault im Anschluß an Nietzsche Subjektivität, Historizität (als lineare Entwicklung) und Werkstruktur in Frage. Schon Nietzsche erschien der Subjektbegriff als Symptom eines Aberglau‐ bens: „Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter all den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehen diesen Glauben als Wirkung einer Ursache, - wir glauben an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die ‚Wahrheit‘, ‚Wirklichkeit‘, ‚Substantialität‘ überhaupt imaginieren. - ‚Subjekt‘ ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären: aber wir haben erst die ‚Gleichheit‘ dieser Zustände geschaffen (…).“ 3 Auch die Begrifflichkeit wird bei Nietzsche durch konsequente Differenzie‐ rung zersetzt: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen.“ 4 Was Nietzsche hier über den Begriff sagt, ist auch auf das Werk, auf den Text anwendbar: Seine Kohärenz, könnten er und seine nachmodernen Erben sagen, verdanken wir nur dem Umstand, daß wir das Nichtgleiche, das „Individuelle und Wirkliche“, wie Nietzsche auch sagt, übersehen. In seinem bekannten Aufsatz „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“ tritt Fou‐ caults geistige Verwandtschaft mit dem deutschen Philosophen besonders klar in Erscheinung. Der Aufsatz richtet sich vornehmlich gegen rationalistische und hegelianische Begriffe wie Kohärenz, Kontinuität und Teleologie: „Es gibt eine ganze (theologische oder rationalistische) Tradition, die dazu neigt, das Einzelereignis in einer idealen Kontinuität aufzulösen - als teleologische Bewegung oder natürliche Verkettung.“ 5 Gegen diese Historisierungstendenz richtet sich bekanntlich Foucaults Archäologie des Wissens, ein Buch, das zwei Jahre vor dem Aufsatz über Nietzsche erschien, nämlich im Jahre 1969. Auch dort wird der Gedanke an eine historische Kontinuität als illusorisch zurückgewiesen. Zusammen mit ihm wird der Subjektbegriff (im historisch-he‐ gelianischen und marxistischen Sinne) für obsolet erklärt: „Man darf sich darin aber nicht täuschen: was man so stark beweint, ist nicht das Verschwinden der Geschichte, sondern das Verwischen jener Form von Geschichte, die insgeheim, 11.1 Foucault, Nietzsche und die Postmoderne: Diskontinuität 271 <?page no="272"?> 6 M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt, Suhrkamp, 2020 (19. Aufl.), S.-26. 7 M. Foucault, „Une histoire restée muette“ (1966), in: ders., Dits et écrits, Bd. I, op. cit., S.-551. 8 M. Foucault, Archäologie des Wissens, op. cit., S.-30. 9 M. Foucault, La Pensée du dehors, Paris, Fata Morgana, 1986, S.-19. 10 Ibid., S.-23. aber völlig, auf die synthetische Aktivität des Subjekts bezogen war (…).“ 6 „Impossible de dire ‚je‘ à la place de Nietzsche“ 7 , bemerkt Foucault an anderer Stelle. Wo der Nexus von Subjektivität und Geschichte aufgelöst wird, dort steht auch der Werkbegriff zur Disposition. Bekannt sind die Sätze, die das Vorwort zu L’Archéologie du savoir (Die Archäologie des Wissens) abschließen: „Mehr als einer schreibt wahrscheinlich wie ich und hat schließlich kein Gesicht mehr. Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben (…).“ 8 Bei Foucault fällt die Wahrheit des Schreibens mit der Möglichkeit zusammen, nicht derselbe bleiben zu müssen - mit der Möglichkeit, sich untreu zu werden. Die Brüche in Foucaults Werk zeugen von dieser Einstellung. Das Schreiben wird zu einer „Bewegung, in der der Sprechende verschwindet“ („mouvement dans lequel disparaît celui qui parle“). 9 Dabei werden alle Kern‐ begriffe der Moderne und Spätmoderne, Begriffe, an denen noch Mallarmé, George und Valéry festhielten, angezweifelt: „Nicht die Reflexion, sondern das Vergessen; nicht der Widerspruch, sondern die tilgende Infragestellung (la contestation qui efface); keine Versöhnung, sondern Wiederholung (ressas‐ sement); kein Geist, der mühsam seine Einheit sucht, sondern eine unendliche, von außen herangetragene Zersetzung; keine Wahrheit, die am Ende der Tage aufleuchtet, sondern das Rinnen und die Ohnmacht einer Sprache, die schon immer begonnen hat.“ 10 Kurz zusammengefaßt lautet diese nachmoderne Botschaft: kein Subjekt, keine Geschichte, kein Werk. 11.2 Subjekt, Werk und Diskurs Was Foucault zum Problem des Werks und des Werkganzen zu sagen hat, erinnert an die Argumente einiger Dekonstruktivisten, vor allem an die Der‐ ridas, de Mans und Hillis Millers. Im Mittelpunkt stehen zwei dekonstrukti‐ vistische Begriffe, die allerdings implizit bleiben: die Unentscheidbarkeit und die Sinnverschiebung, die schon Derrida im Zusammenhang mit der offenen, unabschließbaren Totalität dargestellt hat. Es geht um die Edition von Nietz‐ sches Werk: „Man muß natürlich alles veröffentlichen, aber was besagt dieses ‚alles‘? Alles was Nietzsche selbst veröffentlicht hat, versteht sich. Die Kladden 272 11 Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff <?page no="273"?> 11 M. Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur? “, in: ders., Dits et écrits, Bd. I, op. cit., S.-794. 12 Ibid. 13 Ibid., S.-801. 14 Ibid., S.-798. 15 Ibid. 16 Ibid. seiner Werke? Natürlich. Die Aphorismus-Entwürfe? Ja. Auch die gestrichenen Passagen und die Notizen am unteren Seitenrand? Ja.“ 11 Anschließend stellt sich die Frage, ob auch Verabredungen oder Hinweise für die Kleiderreinigung zum „Werk“ gehören. Foucault schließt mit der Frage: „Wie kann man zwischen den Millionen von Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterläßt, das Werk definieren? “ 12 Was zum Werk gehört und was nicht, scheint unentscheidbar zu sein. Es kommt hinzu, daß es innerhalb eines Werks von Text zu Text zu Sinnver‐ schiebungen kommt, so daß von einer homogenen Autoren- oder Werkintention nicht mehr die Rede sein kann. Nimmt nicht in Sartres Werk das Wort „exis‐ tence“, das in La Nausée ausschließlich negativ konnotiert ist, später, etwa in L’Etre et le Néant, positive Bedeutungen an? Ist Foucaults eigenes Werk nicht voller Brüche, Verwerfungen und Widersprüche? Möglicherweise war der Werkbegriff nichts als eine moderne Illusion, die in den mikroskopischen Analysen der Postmoderne zergeht - wie die Fata Morgana, die sich bei näherer Betrachtung auflöst. „Wie soll man nun mehrere Diskurse einem und demselben Autor zurechnen? “ 13 - fragt Foucault nicht zu Unrecht. Trotz seiner postmodernen und nietzscheanischen Aversion gegen das Wesen, das sich hinter den Erscheinungen verbergen soll, erklärt Foucault, wie es sich „in Wirklichkeit“ verhält: „Letztlich fällt dem Namen des Autors die Funktion zu, einen bestimmten Seinsmodus des Diskurses zu bezeichnen (…).“ 14 Dieser Name fällt schließlich mit einem diskursiven Ereignis zusammen: „Il manifeste l’événement d’un certain ensemble de discours (…).“ 15 Anders gesagt: Der Name des Autors bezeichnet kein zugrundeliegendes Subjekt, kein hypo‐ keimenon, sondern einen Schnittpunkt von Diskursen, die gleichsam hinter dem Rücken des Subjekts zusammentreffen und dort ein Ereignis hervorrufen, das mit der Bezeichnung „Autor“ versehen wird. Für bestimmte Textsorten, etwa standardisierte Briefe, mag das gelten, und Foucault hat gar nicht so unrecht, wenn er bemerkt: „Ein Privatbrief mag durchaus einen Unterzeichneten haben; einen Autor hat er nicht.“ 16 Es fragt sich nur, ob dieser Satz auch für Mallarmés autobiographischen Brief an Verlaine gilt, in dem es heißt: „J’honore la rivière, qui laisse s’engouffrer dans son eau des journées entières sans qu’on ait l’impression de les avoir perdues, ni une 11.2 Subjekt, Werk und Diskurs 273 <?page no="274"?> 17 S. Mallarmé, Autobiographie. Lettre à Verlaine, Paris, L’Echoppe, 1991, S.-21. 18 Vgl. dazu M. Foucault, L’Ordre du discours, Paris, Gallimard, 1971, S.-9. 19 Vgl. M. Foucault, „Pouvoir et corps“, in: ders., Dits et écrits , Bd. II, op. cit., S. 756: „En effet, rien n’est plus matériel, rien n’est plus physique, plus corporel que l’exercice du pouvoir…“ ombre de remords.“ 17 Dieser Satz, der vor den Augen des Lesers ein ganzes Leben, ein ganzes Werk wiederauferstehen läßt, scheint doch einen Autor zu haben: nämlich Mallarmé, der mit seinem berühmt gewordenen Ausdruck „effacement d’auteur“ etwas ganz anderes meinte als die Postmodernen. Dennoch hat Foucault recht: Die Bezeichnungen Subjekt, Autor und Werk sind insofern Fiktionen, als sie idealistisch einen kontextunabhängigen Ur‐ sprung evozieren, den es nicht gibt. Es kann ihn gar nicht geben, weil jedes Einzelsubjekt zunächst in bestimmten gesellschaftlichen und sprachlichen Ver‐ hältnissen sozialisiert werden muß, bevor es sich als Subjekt artikulieren kann und als Subjekt wahrgenommen wird. Daß diese Verhältnisse zugleich Macht‐ verhältnisse sind, zeigt Foucault klarer als die meisten seiner Vorgänger oder Zeitgenossen. So besehen wäre Subjektivität nichts anderes als ein sprachlich vermitteltes Epiphänomen der Machtausübung. Wenn es eine Wahrheit bei Foucault gibt, so ist es die Einsicht, daß es nichts „Originäres“ im Sinne des deutschen Idealismus, im Sinne von Fichtes „Selbstsetzung“ geben kann: denn der Ursprung ist selbst schon sprachlich und gesellschaftlich vermittelt. 18 Subjekte werden in bestimmte machtvermittelte Diskursformationen hineingeboren und bis in ihre Körperlichkeit hinein 19 zu Subjekten, d.-h. zu Unterworfenen gemacht. Im vorletzten Teil meiner Betrachtung möchte ich zeigen, daß diese Wahr‐ heit - wie die meisten theoretischen Wahrheiten - ihre Kehrseite hat, die ebenso wahr ist und Foucaults richtige Erkenntnis durchaus ergänzt. Das Subjekt ist nicht nur Unterworfenes im Sinne von subiectum, sondern auch Zugrundeliegendes im Sinne von hypokeimenon. Diese Gegenwahrheit klingt als komplementäre Wahrheit sogar schon in Foucaults Vortrag „Qu’est-ce qu’un auteur? “ (1969) an, den ich hier mehrmals zitiert habe. 11.3 Subjekt und Werk als „instaurateurs de discursivité“ In diesem Text faßt Foucault das Werk nicht nur im engen Sinn als Einzel‐ werk oder Buch auf, sondern als Diskurs: als „discursivité“. Auf dieser Ebene erscheinen Autoren wie Homer oder Aristoteles, Marx oder Freud nicht so sehr als Schöpfer bestimmter Werke, sondern als „Begründer von Diskurs‐ 274 11 Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff <?page no="275"?> 20 M. Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur? “, in: ders., Dits et écrits , Bd. I, op. cit., S. 804-805. 21 Ibid., S.-804. 22 Ibid., S.-805. 23 Ibid. arten“, als „fondateurs“ oder „instaurateurs de discursivité“. 20 Angesichts solcher Ausdrücke, die an die idealistische Überlieferung des autonomen Subjekts anzuknüpfen scheinen, drängt sich die Frage auf, wie jemand eine Diskursart oder Diskursgattung begründen kann, wenn er als Subjekt - mitsamt seinem Werk - von ihr begründet wird. Anscheinend haben wir es hier mit einem alten Dilemma des materialisti‐ schen Determinismus zu tun, das der junge Karl Marx in seinen „Thesen über Feuerbach“ aufzulösen suchte, als er - ganz zu Recht - darauf hinwies, daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Es ging ihm bekanntlich auch darum, den Determinismus des mechanischen Materialismus, den er seit seiner Dissertation über Demokrit und Epikur kritisierte, mit den aktiven Momenten des Idealismus zu vermitteln. Auf diese aktiven Momente des Idealismus scheint sich auch Foucault zu besinnen, wenn er vom Autor, vor allem aber von Freud und Marx sagt, sie hätten nicht einfach ein Einzelwerk geschaffen, sondern „die Möglichkeit und die Regel, andere Texte hervorzubringen“ („la possibilité et la règle de formation d’autres textes“). 21 An anderer Stelle heißt es: „Sie haben die unbegrenzte Möglichkeit von Diskursen geschaffen“ („ils ont établi une possibilité indéfinie de discours“). 22 Das ist zweifellos richtig; dem Semiotiker stellt sich allerdings die Frage, wie diese „Regel“ oder die „Möglichkeit“, stets neue Diskurse hervorzubringen, ins Leben gerufen wird; wie sie genau aussieht. Auf diese Frage antwortet Foucault mit einer Konkretisation der von ihm angesprochenen Möglichkeit, wenn er hinzufügt, Freud und Marx hätten eine „Anzahl von Differenzen“ („un certain nombre de différences“) 23 ermöglicht. Der Semiotiker würde sagen, daß sie eine neue Taxonomie eingeführt haben, aus der neue Begriffsbestimmungen und neue Aktantenmodelle hervorgehen, die es dem Autor gestatten, die soziale Wirklichkeit anders zu erzählen als seine Vorgänger. Nichts anderes geschieht in der Sozialphilosophie oder der Soziologie, wenn Autoren wie Habermas oder Luhmann neue Unterscheidungen, neue semanti‐ sche Gegensätze einführen, um die Wirklichkeit im Rahmen von bestimmten semantisch-narrativen Strukturen anders zu erzählen. Die Differenzen, von denen Foucault spricht, entscheiden auch über die Unterschiede zwischen ihren Diskursen. Wenn Luhmann vom semantischen Gegensatz System/ Umwelt ausgeht, so begründet er einen ganz anderen Diskurs (und eine andere Diskur‐ 11.3 Subjekt und Werk als „instaurateurs de discursivité“ 275 <?page no="276"?> sivität) als Habermas, der den Gegensatz Systeme/ Lebenswelt zugrunde legt. Jedem dieser Diskurse wohnt ein besonderes Aktantemodell inne, mit dessen Hilfe die Wirklichkeit auf spezifische Weise erzählt wird. Der Ausdruck „zugrunde legen“ ist hier kein Zufall, sondern soll an das Sub‐ jekt als Zugrundeliegendes, als hypokeimenon erinnern. Der Einzelne wird zwar in bestimmte gesellschaftliche und sprachliche Verhältnisse hineingeboren, er kann diese Verhältnisse aber auch ändern, indem er an eine Gruppensprache und ihre Diskurse anknüpft, um sie in Übereinstimmung mit seinen Interessen und Ansichten mit neuen Bedeutungen zu versehen. Indem Marx Hegels Diskurs mit den Diskursen der Politischen Ökonomie und der Junghegelianer verknüpfte, führte er neue Relevanzkriterien und Taxonomien ein, aus denen eine brisante sprachliche Mischung hervorging. Zugleich trug er wesentlich zur Veränderung der gesamten gesellschaftli‐ chen und sprachlichen Situation des 20. Jahrhunderts bei. Kaum eine Gruppen‐ sprache, kaum ein Diskurs des 20. Jahrhunderts - weder der des Existentialismus noch der des Strukturalismus, weder die Psychoanalyse noch die Dekonstruk‐ tion - konnte das Werk und die Diskursivität von Karl Marx und Friedrich Engels schlicht ignorieren. Zeitweise stand das, was als Marxismus bezeichnet wurde, im Mittelpunkt der politischen, philosophischen und literarischen De‐ batten. Inzwischen hat sich die sprachliche Situation grundlegend gewandelt: wie das Bild im Kaleidoskop, das empfindlich auf die leichteste Drehung oder Erschütterung reagiert. Andere Gruppensprachen, andere Diskurse stehen im Mittelpunkt, deren Subjekte - etwa Habermas oder Luhmann - neue „Diskursivitäten“, wie Foucault sagen würde, begründen, indem sie von neuen semantischen Differenzen und Gegensätzen ausgehen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine zweite These, welche die eingangs formulierte These ergänzt: Das Subjekt ist einerseits ein Produkt verschiedener, auch widersprüchlicher gesellschaftlicher und sprachlicher Entwicklungen; zu‐ gleich liegt es aber diesen Entwicklungen zugrunde, weil es sie - als „Begründer von Diskursivität“ (Foucault) - entscheidend beeinflussen und verändern kann. Es ist sowohl hypokeimenon als auch subiectum. Man könnte hinzufügen, daß es erst subiectum ist und erst später, wenn es anfängt, seine Unterworfenheit kritisch und selbstkritisch zu reflektieren, zum hypokeimenon wird. Erst als reflektierendes hypokeimenon vermag es, ein Werk hervorzubringen - oder gar eine „Diskursivität“, eine Diskursgattung. (Deshalb spricht Jacques Lacan in der Diskussion, die Foucaults Vortrag folgte, 276 11 Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff <?page no="277"?> 24 J. Lacan, in: M. Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur? “, in: ders, Dits et écrits, Bd. II, op. cit., S.-820. 25 R. Bubner, „Wie wichtig ist Subjektivität? “, in: W. Hogrebe (Hrsg.), Subjektivität, München, Fink, 1998, S.-246. 26 M. Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur? “, in: ders., Dits et écrits, Bd. I, op. cit., S. 810-811. 27 Ibid., S.-811. 28 Vgl. M. Foucault, L’Ordre du discours, Paris, Gallimard, 1971, S. 60-61, wo der hegelia‐ nischen Auffassung der Geschichte eine Geschichte der „Diskontinuitäten“ gegenüber‐ gestellt wird. von einer „Abhängigkeit des Subjekts“, einer „dépendance du sujet“ - und nicht von dessen Negation.) 24 Diese These und die ihr folgenden Überlegungen scheinen auch auf Foucault selbst anwendbar zu sein. Sein Werk läßt einen Autor erkennen, der über die strukturelle, sprachliche, gesellschaftliche Determiniertheit der Subjekte nachdenkt, gleichzeitig aber die Möglichkeit unter Beweis stellt, diese Determi‐ niertheit zum Gegenstand kritischer Reflexion zu machen. Damit scheint er - freilich malgré lui - Rüdiger Bubners These zu bestätigen: „Reflexion vermag jedem Schicksal die Spitze zu nehmen.“ 25 Sie wird auch von spinozistischen Deterministen wie Althusser und Pêcheux bestätigt, die einerseits zeigen, wie das Subjekt von Ideologie und Interdiskurs zu einer nur scheinbar autonomen Instanz gemacht wird, uns andererseits aber immer von neuem vor Augen führen, wie sie selbst als Subjekte und Autoren diese Befangenheit in Ideologie und Sprache reflektieren und dadurch neue Werke und „Diskursivitäten“ jenseits von Ideologie und Interdiskurs begründen. Michel Foucault scheint dies alles anders zu sehen, wenn er am Ende von „Qu’est-ce qu’un auteur? “ zur deterministischen Fragestellung zurückkehrt: „Wie, unter welchen Bedingungen kann so etwas wie ein Subjekt in der Ordnung des Diskurses in Erscheinung treten? “ 26 Er schließt seine Zwischenbetrachtung mit dem Satz: „Kurzum, es gilt, dem Subjekt (oder seinem Ersatz) die Rolle des ursprünglichen Begründers zu nehmen und es als variable und komplexe Diskursfunktion zu analysieren.“ 27 Nun hat sich aber gezeigt, daß Foucault im selben Text, nur wenige Seiten zuvor, Freud und Marx als „instaurateurs de discursivité“ bezeichnet. Zwischen dem aktiven Moment des Idealismus, der die Autonomie des Subjekts hervorhebt, und dem deterministischen Moment des Materialismus, der die Determiniertheit aller handelnden Instanzen betont, klafft bei Foucault ein Widerspruch, der weder aufgehoben noch überbrückt wird. Daß er nicht dialektisch aufgehoben wird, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man Foucaults Kommentare zu Dialektik, Hegelianismus und Marxismus kennt. 28 Wie die meisten nachmodernen Denker - wie Lyotard, Derrida, de 11.3 Subjekt und Werk als „instaurateurs de discursivité“ 277 <?page no="278"?> 29 M. Foucault, L’Archéologie du savoir, op. cit., Klappentext. Man oder Hillis Miller - hat sich Foucault von dialektischen Begriffen wie Aufhebung, Vermittlung oder Einheit der Gegensätze distanziert. Er spricht einerseits von den „Begründern von Diskursivitäten“, von Werken, andererseits von der Funktionalisierung oder gar Auflösung des Subjekts im Diskurs. Dieser Widerspruch wird auch nicht argumentativ überbrückt, weil Foucault - strenggenommen - keinen Diskursbegriff im semiotischen oder textlinguis‐ tischen Sinne hat. Er kann deshalb nicht zeigen, wie sich das Subjekt (als Aussagesubjekt, als sujet d’énonciation) im Diskurs konstituiert: und zwar auf lexikalischer, semantischer, syntaktischer und narrativer Ebene. Er deutet es zwar im Zusammenhang mit Freud und Marx an, bleibt aber in seinem Gedankengang auf halbem Wege stehen: nämlich bei der originären Differenz, die ich hier als semantische Differenz gedeutet habe. Wären Subjekte (als Aussagesubjekte) restlos überdeterminiert und allen Ver‐ werfungen, allen Diskontinuitäten einer sprachlichen Situation ausgeliefert, so wären sie dazu verurteilt, Altbekanntes zu wiederholen, und die Sprache könnte sich nicht entwickeln. Sie entwickelt sich (anscheinend immer schneller), weil von den Sprechenden täglich neue Relevanzkriterien und Unterscheidungen, von denen bei Foucault durchaus die Rede ist, eingeführt werden; weil täglich neue Gruppen als Kollektivsubjekte ihre Interessen ausdrücken und dabei den etablierten Sprachgebrauch in Frage stellen, umstürzen. In seinem Klappentext zu L’Archéologie du savoir (1969) bestätigt Foucault die Vermutung, daß er sich selbst (ähnlich wie Derrida) als Kohärenz und Kon‐ tinuität oder zumindest als wiederherzustellende Kontinuität sieht: „Erklären, was ich in meinen bisherigen Büchern, in denen noch vieles im Dunkeln liegt, hatte tun wollen? Nicht nur, nicht so sehr, sondern ein wenig weiter gehen und dadurch in einer Art Spiralenbewegung hinter das schon Unternommene zurückkehren; zeigen, von wo aus ich sprach; den Raum abstecken, in dem diese Art von Untersuchungen möglich sind - und vielleicht noch andere, die ich nie verwirklichen werde; kurzum, dem Wort Archäologie, das ich leer gelassen hatte, eine Bedeutung geben.“ 29 Hier tritt nicht nur ein Streben nach Kontinuität und Kohärenz zutage, sondern auch ein Wille, die eigene subjektive Autonomie reflexiv zu behaupten. Ausdrücke wie „hinter das schon Unternommene zurückkehren“, „zeigen, von wo aus ich sprach“ usw. zeugen von dieser reflexiven Bewegung, die dem Selbstverständnis des Autors dient. Ihm geht es als Aussagesubjekt darum, das eigene Werk, die eigene Kohärenz und Semantik in den Griff zu bekommen. 278 11 Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff <?page no="279"?> 30 M. Foucault, L’Ordre du discours, op. cit., S.-60. 31 M. Foucault, Résumé des cours 1970-1982, Paris, Julliard, 1989, S.-145. Freilich ist im selben Text auch von einer „Ideengeschichte“, einer „histoire des idées“ die Rede, die von Diskontinuitäten durchsetzt ist. Es ist durchaus Foucaults Verdinest, im Gegenzug zu den Hermeneutikern und Dialektikern der Moderne auf diese Diskontinuitäten hingewiesen zu haben. Aber in seinem Diskurs - und Foucault ist in vieler Hinsicht ein „instaurateur de discours“ - bilden sie eine zusammenhängende, kontinuierliche semantische Isotopie, die für Kohärenz bürgt. Auch Diskontinuitäten und Brüche können thematisch zu einem Werkganzen gefügt werden, weil ich durchaus zusammenhängend über das Unzusammenhängende und Disparate sprechen kann. Das Subjekt ist einerseits überdeterminiert, andererseits autonom: Es kann den Diskurs, in dem es sich konstituiert und der es zum Subjekt macht, ändern; es kann ihn auch radikal erneuern. Nur eines kann es nicht: Es kann nicht bei Null anfangen. Denn es hat immer Vorgänger, die es zum Subjekt gemacht haben. 11.4 Kontinuität und Diskontinuität: Foucault, Lukács, Sartre (Schlußbetrachtung) Die französische Nachmoderne ist in ihrer Gesamtheit nicht nur nachhegelia‐ nisch, sondern auch antihegelianisch. Davon zeugen die drei Schlüsselbegriffe, die Foucault in L’Ordre du discours kursiv setzen ließ: hasard, discontinu, matérialité. Im Gegensatz zu Hegel, der bemüht war, den Zufall, die Diskonti‐ nuität und das widerstrebende Materielle in der Kontinuität der historischen Notwendigkeit aufzuheben, läßt Foucault den Augenblick und das Subjekt in der Diskontinuität zerfallen: „Eine solche Diskontinuität trifft und annulliert die kleinsten bislang anerkannten und am wenigsten angezweifelten Einheiten: den Augenblick und das Subjekt.“ 30 Foucault (abwesendes) Werk könnte als ein Beispiel für diese Art von Dis‐ kontinuität gelesen werden: Zwischen Les Mots et les choses und L’Archéologie du savoir, zwischen Histoire de la sexualité und dem Frühwerk werden Brüche sichtbar, die von der Unmöglichkeit zeugen, ein homogenes Werk zu schaffen, das auf die Intentionalität eines Subjekts oder Autors schließen läßt. Die Lektüre des Spätwerks läßt jedoch den Gedanken aufkommen, daß alles nur geschrieben wurde, um trotz und jenseits aller Brüche eine neue Subjektivität, eine neue Kohärenz und ein Werk ins Leben zu rufen. Kurzum, es geht um eine neue „Hermeneutik des Subjekts“ („L’Herméneutique du sujet“) 31 , in deren Verlauf das Subjekt seine Autonomie begründet, indem es erkennt, 11.4 Kontinuität und Diskontinuität: Foucault, Lukács, Sartre (Schlußbetrachtung) 279 <?page no="280"?> 32 Vgl. op. cit., S.-160. 33 Ibid., S.-150. 34 Vgl. Th. W. Adorno, „Erpreßte Versöhnung“, in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt, Suhrkamp (1961), 1970, S. 152. Vgl. auch L. Goldmann, „Introduction aux premiers écrits de Lukács“, in: G. Lukács, La Théorie du roman, Paris, Paris, Gonthier, 1963, S. 190: „Beaucoup plus tard, vers 1933-1936, Georges Lukács recommencera une œuvre considérable, qui se se situe cependant dans un tout autre contexte (…).“ daß die Wahrheit nicht in ihm selbst ist, sondern außerhalb von ihm. 32 Es geht hier um einen reflexiven Prozeß, der eine neue Subjektivität jenseits der idealistischen Selbstsetzungen ermöglicht. Was Foucault als „soin de soi“ bezeichnet, ist ein Aspekt dieser Subjektivität: „Es geht nun darum, sich um sich selbst zu sorgen, um seiner selbst willen.“ 33 In diesem Licht erscheint Foucaults Gesamtwerk - trotz aller Einschnitte und Brüche - als eine kontinuierliche Anstrengung, Subjektivität neu zu begründen. An dieser Stelle mag die Frage aufkommen, ob der Konstruktivismus nicht zu weit getrieben werde, ob es wirklich legitim sei, zwei einander widersprechende, sich aber keineswegs ausschließende Lesarten („Inkohärenz“ und „Kohärenz“, „Subjektlosigkeit“ und „Subjektivität“) vorzuschlagen. Sollte hier nicht trotz aller Widersprüche und Polysemien „Konsistenz“ hergestellt werden? Dialektisches und konstruktivistisches Bewußtsein hängen insofern zu‐ sammen, als die dialektische Zusammenführung der Gegensätze den Blick dafür schärft, daß es auch anders geht, daß auch ganz anders (nämlich gegensätzlich) konstruiert werden kann. Dabei muß der Sinn für Konsistenz und Kohärenz nicht auf der Strecke bleiben. Denn die These könnte lauten: daß Foucaults neuer Subjektbegriff aus dem systematischen Nachdenken über Subjektivität als Unterwerfung unter machtvermittelte Strukturen hervorging. Anders for‐ muliert: Nur das Nachdenken über das Subjekt als Unterworfenes kann zur Neubegründung des Subjekts als Zugrundeliegendes führen. Sollte diese These auf Foucaults Werk anwendbar sein, so wäre auch dessen Konsistenz gewahrt. Einschnitte und Brüche sind nicht nur bei Autoren zu beobachten, die sich (wie Foucault) der Identifizierung entziehen möchten. Auch das Werk des Hegelianers Georg Lukács weist Wendepunkte auf, die Zweifel an seiner Einheitlichkeit aufkommen lassen. Sowohl Lucien Goldmann, der Lukács’ Frühwerk zum Ausgangspunkt nahm, als auch Adorno, der nur Die Seele und die Formen (1913) goutierte, distanzierten sich vom „alten Lukács“, von seinem Spätwerk, seiner „großen Ästhetik“ der realistischen Widerspiegelung. Adorno spielt den frühen Lukács gegen den Systematiker aus, und seine Kritik erweckt bisweilen den Eindruck, als hätte die Essaysammlung mit dem späten systematischen Entwurf nichts zu tun. 34 280 11 Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werkbegriff <?page no="281"?> 35 G. Lukács, Die Seele und die Formen, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1971, S.-29. 36 Ibid., S.-31. 37 P. Valéry, Cahiers II, éd. établie, présentée et annotée par J. Robinson, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1974, S.-298. In Die Seele und die Formen heißt es jedoch: „Ruhig und stolz darf der Essay sein Fragmentarisches den kleinen Vollendungen wissenschaftlicher Exaktheit und impressionistischer Frische entgegen stellen, kraftlos aber wird seine reinste Erfüllung, sein stärkstes Erreichen, wenn die große Ästhetik gekommen ist.“ 35 Wird hier nicht - im Essay selbst - etwas angekündigt, was über Essayform und Essayismus hinausgeht und was im Spätwerk verwirklicht wird? Gleich‐ wohl heißt es am Ende von „Über Wesen und Form des Essays“: „Der Essay ist eine Kunstart, eine eigene restlose Gestaltung eines eigenen, vollständigen Lebens.“ 36 Dieser Satz scheint die Unaufhebbarkeit einer sich selbst genügenden, autarken Form im System zu proklamieren. Lukács’ Entwicklung zeigt aber, daß der erste Satz eine hegelianische Kontinuität ankündigt, die auf einen Bruch mit dem Essayismus hinausläuft. Auch in Jean-Paul Sartres Werk sind Kontinuität und Diskontinuität kaum zu entflechten: Obwohl sich der Autor von Les Mots von seinem Erstlingsroman La Nausée distanziert, setzt er - sowohl in seinen Dramen und in Les Chemins de la liberté - seine Kritik an einer bürgerlichen mauvaise foi fort, die vor der Ent‐ scheidung in erstarrte Konventionen flüchtet. Auch sein Versuch einer Synthese von Existentialismus und Marxismus in Critique de la raison dialectique, der einige phänomenologisch-idealistische Prämissen des Frühwerks desavouiert, bestätigt sein Festhalten am Prinzip der individuellen Entscheidungsfreiheit. Es trug Sartre den marxistischen Vorwurf des „Individualismus“ und des „Idea‐ lismus“ ein. In seinem bekannten Gedicht Le Cimetière marin stellt Paul Valéry das Meer als „tumulte au silence pareil“ („Aufruhr, der der Ruhe gleicht“) dar. Tatsächlich evoziert das Meer durch seine ununterbrochene wogende Bewegung die Ruhe selbst. Ähnlich wären das Subjekt und sein Werk als ständige Bewegung aufzufassen, die trotz allen Wandels mit sich identisch bleibt und daher benannt werden kann. Hier gilt Valérys lapidare Bemerkung: „Ce qui trouve qu’il est changé, cela n’a pas changé.“ („Was von sich selbst behauptet, es habe sich verändert, hat sich nicht verändert.“) 37 11.4 Kontinuität und Diskontinuität: Foucault, Lukács, Sartre (Schlußbetrachtung) 281 <?page no="283"?> Quellennachweise „Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne“ Originalbeitrag. „Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons“ erschienen in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 3/ 4, 1983 (leicht überarbeitete und ergänzte Fassung). „Diskurse der Negativität von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard. Konstruktion und Krise des Subjekts zwischen Moderne und Postmoderne“ erschienen in: Arcadia 2, 1998 (leicht überarbeitete und ergänzte Fassung). „Negativität und Grenzerfahrung: Das Erhabene und das Subjekt bei Céline und Lyotard“ Originalbeitrag. „Subjektivität und Kontingenz in der Spätmodernen Literatur: Die Ambivalenz des Zufalls“ erschienen in: W. Helmich, H. Meter, A. Poier-Bernhard (Hrsg.), Poetologi‐ sche Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, München, Fink, 2001 (leicht modifizierte Fassung). „Robert Musil und die Spätmoderne“ erschienen in: H. J. Piechotta, R.-R. Wuthenow, S. Rothemann (Hrsg.), Die literarische Modernde in Europa I, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1994 (über‐ arbeitete und modifizierte Fassung). „Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Unamunos Niebla und Piran‐ dellos Uno, nessuno e centomila“ Originalbeitrag. „Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne“ erschienen in: M. Csáky, R. Reichensperger (Hrsg.), Literatur als Text der Kultur, Wien, Passagen, 1999 (leicht überarbeitete Fassung). „Zitat - Intertextualität - Subjektivität. Zum Funktionswandel des literarischen Zitats zwischen Moderne und Postmoderne“ erschienen in: K. Beekman, R. Grüttemeier (Hrsg.) Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitat und Zitieren, Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 2000 (überarbeitete Fassung). <?page no="284"?> „Nietzsches Spur in der französischen Postmoderne: Von der Subjektivität zur Körperlichkeit“ erschienen in: Lendemains 91/ 92, 1998 (überarbeitete und stark erweiterte Fassung). „Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Zu Foucaults Subjekt- und Werk‐ begriff “, in: Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault (Hrsg. K.-M. Bogdal und A. Geisenhanslüke), Heidelberg, Synchron Verlag, 2006. 284 Quellennachweise <?page no="285"?> Personenregister Adler, M.-153 Adorno, Th. W.-9 f., 12, 29, 37, 52, 60, 69, 81 f., 84, 86 ff., 92, 94 f., 97-100, 102-107, 109, 113 f., 116 f., 121, 123, 128, 144, 166, 189, 214, 223 f., 245, 253, 261, 263, 280, 283 Alazraki, J.-198 Althusser, L.-17, 21, 118, 277 Altman, G.-113 Aristoteles-274 Arnold, M.-150, 246 Artaud, A.-88 Auden, W. H.-127, 246 Augustinus, Hl.-245 Azam, P.-181 Azorín ( José Martinez Ruiz)-180 f., 183 f., 194 Azúa, F. de-47, 134 Bachtin, M. M. 24, 121, 123 f., 173, 211, 214, 216, 223, 228 f., 244 f. Bahr, H.-15 Balzac, H. de-128, 155, 234, 238 Barck, K.-H.-28 Baroja, P.-124, 134, 157, 180-184 Barth, J.-46 ff., 124, 240 f. Barthes, R.-64, 219 f., 230 f., 253, 255, 257- 262, 264 Barzun, J.-233 Baudelaire, Ch.-15 ff., 20 ff., 24, 27 ff., 31 f., 51, 53, 56 f., 59, 61, 63, 66, 70 f., 84 f., 98, 115, 133 f., 151, 180 f., 186, 188, 228, 236, 238 Beauvoir, S.-188 Bechtel, G.-117 Becker, J.-9 f., 45 f., 217, 219 f., 222, 224, 244 ff. Beckett, S.-104, 109, 120, 122 Behrens, R.-206 Bénichou, P.-91 Benjamin, W.-18, 70, 100 f., 115, 151 f., 214, 223 Benn, G.-217 Berger, A.-244 Bergson, H.-253, 257 Bernanos, G.-34, 40, 128 f. Bertens, H.-107 Bessière, J.-257 Bibesco, Princesse de-63 Binet, A.-15, 185 Blair, T.-39 Blake, W.-239 f. Böhme, G.-9, 116 Bohr, N.-117 Bohrer, K. H.-88 Bolz, N.-252 Bonito Oliva, A.-106 Bormann, A. von-133 Borsò, V.-41 Boüexière, L.-29 f., 51 Bourdieu, P.-28 Bourget, P.-15 Bradbury, M.-18 Brasillach, R.-127 Brecht, B.-19, 34, 36, 40, 127, 246 f. Breton, A.-13, 19, 35 f., 88, 134, 145, 147 ff., 154, 220, 260 Broch, H. 9, 12, 14, 21 ff., 34, 117, 149 f., 154, 162, 173 ff., 182, 191, 199, 224 Brummell-52, 54 f., 58, 63, 66 Bubner, R.-277 Bulwer, E. G.-55, 61 <?page no="286"?> Bürger, P.-110 Butor, M.-45 f. Cabo Aseguinolaza, F.-147 Calvino, I.-172 Campion, P.-93 f., 139 Camus, A. 29, 32, 77, 124 ff., 134, 137, 145 f., 154, 191, 196, 256 Carassus, E.-51, 58 f., 64 ff. Caudwell, Ch.-126 Céline, L.-F. 12, 14, 102, 113 ff., 117 f., 120- 130, 283 Cellbrot, H.-163 Cetti Marinoni, B.-171 Charrière-Jacquin, M.-159 Chateaubriand, R. de-16, 232, 238, 246 f. Chvatík, K.-225 Claudel, P.-34, 40 Clinton, B.-39 Compagnon, A.-225, 229 Condé, M.-17 Corino, K.-160 Coseriu, E.-212 f., 216, 219, 226 f., 242 f. Croce, B.-14, 101 Dalí, S.-88 Damour, A.-C.-120 Damour, J.-P.-120, 125 Darío, R.-180 f. Darwin, Ch.-246 Debussy, Cl.-98 Deleuze, G.-37, 123, 231, 242, 253, 255, 257 ff., 264 de Man, P.-40, 138, 166, 272, 278 Derrida, J.-14, 92, 135, 138, 158, 166, 187, 231, 253, 255, 257-262, 264, 269 f., 272, 277 f. Descartes, R.-99, 196, 230, 254, 261, 263 Dilthey, W.-253 Disraeli, B.-55, 66 Dorgelès, R.-115, 118 f. Dostoevskij, F. 15, 20 f., 24 f., 133, 180, 186, 188, 223 Dresler-Brumme, Ch.-153 Drieu la Rochelle, P.-127 Duchamp, M.-117 Ducrot, O.-197 Eco, U. 47 f., 89, 106, 124, 172, 217-220, 224, 240 f., 245-248, 266 Eichendorff, J. von-17, 234 Eisenhower, D.-39 Eliot, G.-233 f., 264 Eliot, T. S.-18, 133, 172 Ellenberger, R.-16 Engels, F.-276 Ernst, M.-88 Eysteinsson, A.-19 f., 36, 189 Falk, W.-217 Favardin, P.-29 f., 51 Feuerbach, L.-79, 138, 150, 162, 233, 275 Fluck, W.-43, 243 Fokkema, D. W.-18 f., 36, 152 Foucault, M.-9 f., 17, 37, 104, 123, 253, 255 ff., 259, 262 ff., 270-280, 284 Fowles, J.-47 f., 130, 217-220, 224, 240 f., 245 ff., 265 Franci, G.-54, 58 Frank, M.-110, 253 Freud, S.-12, 16, 21, 60, 117, 142 f., 165, 274 f., 277 f. Friedrich, H.-68, 85 f. Galdós, B. P.-233 Gautier, Th.-67, 85 Genet, J.-262 George, S.-57, 76 f., 84, 86 f., 104, 113, 127, 286 Personenregister <?page no="287"?> 243, 280 Gide, A.-18, 66, 123 f., 157, 180 ff., 256 Giovannoli, R.-249 Gnüg, H.-28 Goethe, J. W. 45, 48, 130, 223, 232, 234, 244 Goldammer, B.-41 Goldmann, L.-280 Goncourt, E. und J.-238 Graevenitz, G.-135, 143 Greimas, A. J.-158, 172, 225, 232 Greiner, T.-17 Grübel, R.-228 Guattari, F.-37, 123, 242 Gullón, R.-180 f. Gumbrecht, H. U.-133 Haas, R.-218 Habermas, J.-221, 253, 275 f. Hacking, I.-16 Hardy, Th.-246 Hartman, G. H.-138, 231 Hassan, I.-13 Hausmann, F.-R.-185, 189, 201 Hegel, G. W. F. 79, 81, 92 f., 98 f., 101 f., 114, 122, 135-138, 141, 150-153, 155 ff., 162, 170, 180, 186, 197, 211, 248, 254 f., 261 ff., 279 Heidegger, M.-11, 38, 187, 220, 222 Hempfer, K. W.-43, 243 Henry, A.-59, 124, 126, 243 Hesse, h. 12 f., 19 f., 32, 123, 133, 145, 147 f., 154, 156 f., 164, 181, 184, 217, 220, 243, 256 Hillis Miller, J.-231, 272, 278 Hobbes, Th.-255 Hoffmann, E. T. H.-232 Hoffmeister, G.-133, 232 Höfler, G. A.-244 Hofmannsthal, H. von-156, 167, 196 Homer-232, 274 Honold, A.-167 Hüllen, W.-218 Hume, D.-14, 211 Hutcheon, L.-18 f. Huysmans, J.-K.-19 f., 26, 30 f., 33, 35 ff., 51 f., 57 f., 70-75, 78, 85, 127, 133 f., 154, 199, 236 f. Ibsen, H.-183 Ihwe, J.-K.-226 Inboden, G.-94 Jakobson, R.-212, 226 Japp, U.-149, 172 Jarrety, M.-102 Jaspers, K.-152, 185 Jauß, H. R.-32, 134, 145, 172 Jencks, Ch.-84, 106 Jenny, L.-229 Jiménez, M.-180 f. Johnson, R.-51 Joyce, J.-18 f., 29, 47, 102, 127, 185, 234, 241 f. Jullian, Ph.-56, 61 Jurt, J.-85 Kafka, F.-10, 12 f., 19, 41, 62, 104, 121 ff., 125, 129, 133 f., 139, 144 ff., 148, 156, 181, 185, 189, 191, 201 f., 217 f., 224, 231, 238 Kaiser, G. R.-179, 234, 236, 241 Kant, I.-44, 81-84, 87, 89 f., 101 ff., 110, 113-116, 118, 130, 151, 200, 251 f. Keller, G.-233 Ker, Ch.-54 Kierkegaard, S.-24, 135, 138 ff., 180 f., 183, 186, 255 Klein-Braley, Ch.-218 Köhler, E.-87, 142 f. Personenregister 287 <?page no="288"?> Kolb, P.-33, 74 Köster, P.-199 Krauss, H.-143 Kreutzer, L.-45 Kristeva, J.-211, 229 f. Krleža, M.-26, 28 Kroeber, B.-248 Kruithof, J.-163 Krysinski, W.-184 Lacan, J.-34, 60 f., 143, 276 f. Lachmann, R.-230 Lai, G.-9, 11, 37 ff., 43 f. Lamartine, A. de-16 Landshut, S.-20, 152, 186 Laplanche, J.-169 Lash, S.-36 Latin, D.-113, 122, 126, 128 Lavis, J.-F.-128 f. Lawrence, D. H.-29, 134, 154, 156 f., 164, 181, 184, 256 Leitner, A.-26 Lejeune, Ph.-115, 120 Lemaire, M.-61 Lever, J.-55 f. Lewis, W.-127 Lindner, B.-252 Link-Heer, U.-16, 41, 133 Livi, F.-31 Longares, M.-181 Longinus-82 f., 89, 130 Lotman, J.-213 Löwith, K.-151 Lübbe, H.-143 Lüdke, W. M.-252 Luhmann, N.-18, 275 f. Lukács, G.-14, 128, 155, 223, 236, 279 ff. Lützeler, P. M.-41 Lyotard, J.-F. 9 f., 12, 37, 44, 81-84, 88 f., 92, 95, 102-108, 110 f., 113-118, 120, 122 f., 130, 153, 162, 220 ff., 224, 245, 251, 269 f., 277, 283 Mach, E.-15, 155, 185 Machado, A.-181 Mallarmé, S. 11 f., 19 f., 22, 26, 30 f., 36 f., 42, 47, 51 f., 61, 65, 67-76, 79, 81 f., 84-105, 107, 110, 115 f., 127, 139, 181, 205, 229, 235 ff., 239, 247, 258, 260, 272 ff., 283 Malraux, A.-34, 40, 128, 133, 217 Man, P. de-40, 138, 272 Mann, Th.-14, 18, 46, 143, 165, 181, 211, 218, 239 f., 247, 266 Manners, R.-54 Marchal, B.-85 Marinetti, F. T.-149 Marquard, O.-135, 143 Martens, I.-184 Martí, J.-180 Martín, F.-183 Marvick, L. W.-89 f. Marx, K.-20, 150 ff., 165, 186, 211, 246, 274-278 Maurer, K.-32, 134, 233 Mauron, Ch.-75 f. Mazzacurati, G.-189, 201 McFarlane, J.-18 McHale, B.-43 f., 109, 120, 242 Mehrtens, H.-16 Milioto, S.-185 Moers, E.-55, 57, 61, 66 Mondor, H,-235 Montesquiou, R. de-30, 51, 55 f., 61, 66, 72, 75 Mooy, J. J. A.-101 Moraldo, S. M.-232 Moravia, A. 12 ff., 133 f., 139, 142, 144, 146, 148, 154, 191, 196 288 Personenregister <?page no="289"?> Mortemart-56 Moser, G. E.-244 Mugnier, J.-P.-128 Mukařovský, J.-225 f. Müller, G.-194, 197 Müller-Schwefe, H.-U.-46 Mure, G. R. G.-138 Musil, R.-9-12, 14 f., 19-23, 25, 35, 62, 71, 93, 117, 123, 125, 127 ff., 149 f., 153-167, 171-175, 177, 180 f., 185, 188, 191, 194, 198, 201, 207, 216 f., 220, 224, 231, 234 ff., 238, 241, 245, 247, 266, 283 Mussolini, B.-127 Naganowski, E.-167, 170 Nagl-Docekal, H.-110 Neuhäuser, R.-25 Nierop, M. van-101 Nietzsche, F.-11, 15 f., 21 f., 24 f., 32, 38, 92 f., 100, 110, 124 ff., 133 f., 137 ff., 145, 150, 152-155, 157 ff., 165 f., 177, 180- 184, 186, 188, 196 f., 205, 220, 222, 252 f., 255 ff., 259 f., 262 f., 270 ff. Noailles, A. de-56 Novalis-16 Ossian-232 Pagès, Y.-124 f. Pascal, B.-99 Petersham, Lord-54 Piechotta, H. J.-206, 283 Pirandello, L.-11 ff., 15, 23 ff., 38, 137, 166, 179 ff., 184-191, 193, 196, 199-207, 232 Pontalis, J.-B.-169 Praz, M.-232 Pries, Ch.-103, 114 Proudhon, P. J.-150 Proust, M.-12-15, 18-22, 25, 27 f., 30-33, 35 f., 40 ff., 46 f., 51 f., 54-57, 59, 61 f., 64, 68-79, 93, 100, 117, 123, 125, 127- 130, 133 f., 137, 145-148, 164, 166, 181 f., 184 f., 191, 194, 198 f., 201 f., 215 ff., 224, 228, 231, 234, 236-242, 245, 247 Pullega, P.-200 Pynchon, Th.-9 f., 12, 43 ff., 47, 109, 113, 124, 130, 134, 220, 243 f. Pynsent, R. B.-155 f. Rabelais, F.-117 Ransmayr, Ch.-113 Rastier, F.-96 Raulet, G.-110 Rawls, J.-221 Reagan, R.-39 Reijen, W. van-110 Reijnders, K.-59, 64, 66 Remotti, F.-39 Renard, P.-248 Ricardo, D.-211 Richard, J.-P.-92, 258 Rimbaud, A.-16, 19, 181 Robbe-Grillet, A.-9, 40 f., 43, 46 f., 124, 219 f., 264 f. Roche, M.-227 f., 244 ff. Roloff, V.-194 Rosenkranz, K.-102, 151 f. Rosenthal. B.-125, 145 Rössner, M.-181, 184 f., 189, 201, 204 Rothemann, S.-206, 283 Rüdiger, H.-179, 277 Ruge, A.-138, 150 Runcini, R.-77 Russell, B.-154 Russo, L.-185 Ryan, J.-41 Sainte-Beuve, Ch.-69, 237 f. Personenregister 289 <?page no="290"?> Saint-Exupéry, A. de-115, 118 ff. Sartre, J.-P.-13 f., 22, 25 f., 30-33, 36 f., 40, 42, 58, 66, 72, 85 f., 88, 124, 127, 133 ff., 137, 139-148, 154, 162, 191, 193, 196, 198 f., 205 f., 217, 231, 234, 236, 238 ff., 253 ff., 262, 273, 279, 281 Saussure, F. de-163 Schabouk, W.-189 Scheible, H.-16 Scherer, J.-84 Schlegel, A.-235 Schleiermacher, F.-253 Schmidt, B.-109 Schmidt, S. J.-177 Schmidt-Radefeld, J.-97 Schmitz-Emans, M.-182, 185, 201, 204 Schnitzler, A.-15 f., 156 Schoot, A. van der-101 Schopenhauer, A.-81 Schulz-Buschhaus, U.-133, 248, 283 Schwab, W.-36, 109, 113 Schwarz, W.-68, 102, 174 Scrivano, E.-185 Searle, J. L.-269 Seitter, W.-37 Serrano-Plaja, A.-193 Shakespeare, W.-232, 236 Shaw, D.-183 Shelley, P. B.-133, 233 Simmel, G.-17, 267 Simon, Cl.-228 Šklovskij, V.-219 Smith, A.-211 Smith, R.-262 Sohn, W.-16 Sorel, G.-127 Soro, M-201 Soupault, Ph.-36 Spielhagen, F.-233 Stanzel, F.-K.-30 Stein, G.-117 Steinwachs, G.-141 Stempel, W.-D.-212, 226 Sterne, L.-117 Stierle, K.-248 Stirner, M.-124, 138, 150, 162 Strutz, Johann und Josef-153, 159 f., 167 Strutz, Josef-153 Surette, L.-133 Süskind, P.-41 f., 47, 124, 130, 134, 240, 264 f. Svevo, I.-12, 14 f., 18, 20, 23, 29, 34, 37, 93, 127, 137, 149 f., 164, 173, 176 f., 180 f., 185, 188, 196, 199, 201, 203, 206, 214 ff. Szondi, P.-167 Tabbi, J.-44 Teige, K.-260 Tenbruck, F. H.-252 Tennyson, A.-246 Thackeray, W. M.-54 f. Thomas, J.-181 Todorov, T.-161, 197, 211, 223 Touraine, A.-252 Unamuno, M. de-11 f., 24 f., 179 ff., 183- 187, 190-201, 207 Valéry, P. 11 f., 18, 81 f., 84, 92, 94-105, 107, 110, 115 f., 247, 253 ff., 272, 281, 283 Vall, R. van der-101 Vattimo, G. 11, 38 f., 41, 106, 166, 220, 222 f., 270 Veblen, T.-54, 58, 66 Verga, G.-199 f. Verlaine, P.-181, 273 f. Vicentini, C.-189 Virgil-232 290 Personenregister <?page no="291"?> Vischer, F. Th. 93, 100, 135-138, 140 f., 151, 155, 157, 162, 165, 170 Volhard, E.-154 f. Vološinov, V. N.-214, 216 Vonnegut, K.-113 Watteau, A.-129 Weber, S. M.-214 Wehle, W.-32, 134, 233 Wellmer, A.-103, 114 Welsch, W.-103, 114, 221 Wentzlaff-Eggebert, H.-194 Wertheimer, J.-47 Wetz, F. J.-135 Whistler, J.-67 Wiener, O.-10, 109, 167, 220, 245 f. Wilde, O.-19, 27, 38, 51, 59, 62, 65 f., 70, 72 ff., 93, 167 Winkler, M.-77 Wittgenstein, L.-248 Woolf, V.-34-37, 42, 188 f. Wordsworth, W.-16, 233 Wuthenow, R.-51, 206, 283 Zaccaria, G.-248 Zavala, I.-223 Zéraffa, M.-264 Zima, P. V.-9, 15, 19, 26, 47, 95, 166, 191, 212 f., 226, 266, 269 Žirmunskij, V.-179, 183 Zola, E.-174 Zubizarreta, A. F.-199 Personenregister 291 <?page no="292"?> ISBN 978-3-381-12711-5 Dieser Band zeichnet Peripetien individueller Subjektivität in der spätmodernen und postmodernen Literatur nach. Während in der Spätmoderne (bei Mallarmé, Valéry, Adorno) Negativität, das Schöne und das Erhabene der Stärkung subjektiver Autonomie dienten, schlägt in nachmodernen Texten - etwa in Pynchons Gravity’s Rainbow - das Erhabene in Subjektnegation um. So verwandelt sich das Schreiben, das im Modernismus Prousts, Virginia Woolfs, Svevos zur Subjektkonstitution beitrug, in der Postmoderne Jürgen Beckers, Oswald Wieners oder Maurice Roches in eine Subversion individueller Subjektivität. Zima zeigt, wie in einigen nachmodernen Texten (bei Robbe- Grillet, Süskind, Del Giudice) Subjektivität auf reine Körperlichkeit reduziert wird. Diese Reduktion prägt auch das Werk Foucaults, das im Mittelpunkt des neuen Schlusskapitels steht. Sie bewirkt, dass das Individuum als Körper in verschiedene, durch Diskontinuitäten voneinander isolierte Kontexte integriert werden kann. „ein wegweisendes Buch“ - Sandro M. Moraldo, Germanistik 45,1/ 2 (2004) „eine beachtenswerte geistige Leistung“ - István Fried, Sprachkunst 33,2 (2002) „Abschließend sei herausgestellt, daß die vorliegende Studie in komprimierter Form einen ausgezeichneten Überblick über den aktuellen Stand und Fragen des literarischen Subjekts im Kontext des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts bietet.“ - Angela Oster, Romanische Forschungen 116,2 (2004)
