Literatur im Museum und literarische Musealität
Theorien und Anwendungsbeispiele (Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq)
0120
2025
978-3-3811-2792-4
978-3-3811-2791-7
Gunter Narr Verlag
Jan Rheinhttps://orcid.org/0000-0002-3830-841X
10.24053/9783381127924
Unter Rückgriff auf Ansätze der Museologie und der kulturwissenschaftlich erweiterten Literaturwissenschaft entwickelt die Studie Analysemodelle, um literarische Praktiken im Museum und museale Aspekte in der Literatur zusammenzudenken. Dies eröffnet neue Zugänge zu Autorinnen und Autoren, die in beiden Feldern aktiv sind, und ungewöhnliche Perspektiven auf deren Gesamtwerk.
Erprobt werden diese Ansätze anhand zweier Autoren, die hier erstmals ausführlich unter dem Aspekt der Musealität untersucht werden: Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq. Toussaints Ausstellung Livre/Louvre und Houellebecqs Ausstellung Rester Vivant werden jeweils im Kontext des literarischen Gesamtwerks beider Autoren betrachtet.
<?page no="0"?> lendemains ISBN 978-3-381-12791-7 Unter Rückgriff auf Ansätze der Museologie und der kulturwissenschaftlich erweiterten Literaturwissenschaft entwickelt diese Studie Analysemodelle, um literarische Praktiken im Museum und museale Aspekte in der Literatur zusammenzudenken. Dies eröffnet neue Zugänge zu Autorinnen und Autoren, die in beiden Feldern aktiv sind, und bietet ungewöhnliche Perspektiven auf deren Gesamtwerk. Erprobt werden diese Ansätze anhand zweier Autoren, die hier erstmals ausführlich unter dem Aspekt der Musealität untersucht werden: Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq. Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und Houellebecqs Ausstellung Rester Vivant werden dazu jeweils im Kontext des literarischen Gesamtwerks der Autoren betrachtet. Rhein Literatur im Museum und literarische Musealität Jan Rhein Literatur im Museum und literarische Musealität Theorien und Anwendungsbeispiele (Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq) edition lendemains 53 <?page no="1"?> Literatur im Museum und literarische Musealität <?page no="2"?> edition lendemains 5533 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel) † und Andreas Gelz (Freiburg) <?page no="3"?> Jan Rhein Literatur im Museum und literarische Musealität Theorien und Anwendungsbeispiele (Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq) <?page no="4"?> Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine an der Europa-Universität Flensburg unter dem Titel „Literatur im Museum und literarische Musealität: Theoreti‐ sche Konzepte und ihre Anwendung auf die Werke von Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq“ angenommene Dissertation. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381127924 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck und Bindung: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-381-12791-7 (Print) ISBN 978-3-381-12792-4 (ePDF) ISBN 978-3-381-12793-1 (ePub) Umschlagabbildung: Fotos und Idee: Jan Rhein Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 I 11 1 13 2 14 2.1 14 2.2 18 2.3 20 2.4 31 2.5 35 II 41 1 43 1.1 43 1.2 51 1.3 53 1.4 57 2 60 2.1 61 2.2 75 2.3 81 2.4 84 2.5 91 Inhalt Siglen bei Zitaten im Fließtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansatz und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungs- und Literaturlage, Desiderat der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literar-museale Referenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgreich, männlich, gegensätzlich: Warum Toussaint und Houellebecq? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugänge und theoretische Grundierungen . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ausgeweitete Kampfzonen‘ zwischen new museology und littérature hors du livre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . littérature plasticienne und néolittérature . . . . . . . . . . . . Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt: Text und Welt, Text und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semiophoren und Semiosphären, vitrine und miroir: (kultur-)semiotische, narratologische und mediale Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Museumsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musealisierung (von Dingen, von Welt) . . . . . . . . . . . . . Rahmung, Auratisierung, punctum und kaïros . . . . . . . Sammlung, Sammler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.6 96 2.7 100 3 102 3.1 102 3.2 133 3.3 144 3.4 149 3.5 156 3.6 160 4 161 4.1 163 4.2 190 4.3 219 III 225 1 227 2 235 2.1 237 2.2 241 3 244 3.1 244 3.2 270 3.3 282 4 283 4.1 284 4.2 300 4.3 309 Kuratieren, Kurator, Ausstellungsmacher (und Autoren als Künstler-Kuratoren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit - Das Museum als Ort, Konzept, Motiv und ästhetischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präsentation und Repräsentation, Sehen und Lesen - zur Nähe von Ausstellung und Literatur . . . . . . . . . . . . Mediale Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrativität und Fiktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Museum als Zeichen der Stadt, die Stadt als lesbares Museum - Stadttopographien zwischen visible und lisible . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingänge und Ausgänge: Paratexte als Medien- und Textschwellen zwischen Innen und Außen . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetik literarischer Musealität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt und Objekt in Museum und Literatur . . . . . . . . Raum und Zeit im Konkurrenz-Verhältnis der Künste . Literarische Musealität - eine Zusammenführung . . . Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur . . Zur Ausstellung: Literatur für main und regard . . . . . . . . . . . Medien und Medienkonkurrenz: Zum Werkbegriff . . . . . . . . Appareil-photo und Télévision: Thematisierte Medienkonkurrenz und Platz des Buchs . . . . . . . . . . . . „Serait-ce jamais fini avec Marie ? “ - Toussaints transmediales Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fotografie Quelques amis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Licht und Literatur. Jean-Philippe Toussaints univers . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte literarischer Musealität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekte und Subjektkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . Objekte und Materialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur als Museum, ‚Welt als Museum‘: Literarische Räume, erschriebene Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4.4 323 4.5 334 4.6 335 5 340 5.1 341 5.2 346 5.3 352 5.4 355 6 356 IV 361 1 363 1.1 363 1.2 365 1.3 369 2 377 2.1 377 2.2 392 2.3 395 2.4 399 2.5 404 2.6 408 2.7 412 2.8 413 3 414 3.1 415 „Après l’espace, le temps“: Zeitdimensionen zwischen actuel und contemporain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit - Literarische (Meta-)Musealität . . . . . . . . . . . . . . Annex: Toussaints musée imaginaire . . . . . . . . . . . . . . . Bilder des Museums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „en direction du Louvre“: westliche, zentrale Museen . Asiatische, dezentrale Museen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Möglichkeiten einer Insel: Steinerne maisons-musées und Ruinen am Mittelmeer . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtfazit - Toussaints néo(n)littérature . . . . . . . . . . . . . . . . Michel Houellebecqs Ausstellung Rester Vivant und seine Literatur . . . . Kontext: Michel Houellebecq und seine Ausstellung Rester Vivant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michel Houellebecq im Palais de Tokyo . . . . . . . . . . . . . The artist is (very) present: Beschreibung der Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Oublions Robbe-Grillet“: Houellebecqs Literatur- und Werkbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ausstellung als Teil eines medienüberschreitenden Werks Houellebecq als „créature transmédiatique“ und „ennemi publique“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rester Vivant: Leben, Weiterleben, Überleben in Ausstellung und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Autorität und Subjektivität: Ausstellungseingang und erstes Exponat . . . . . . . . . . . . Museumsreflexion im Museum, Literaturreflexion in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narration und juxtaposition: Lyrik und Prosa in Ausstellung und Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Désolation und consolation: Das Leben als Palliativmaßnahme - Museum und Literatur als Trost „Pas de lecture sans arrêt“: Limitation und Langsamkeit in Museum und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte literarischer Musealität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt: „[L]e grand Non à la vie“, das Leiden am décor Inhalt 7 <?page no="8"?> 3.2 429 3.3 441 3.4 454 3.5 465 4 468 4.1 469 4.2 471 4.3 477 4.4 479 5 480 V 485 VI 499 1 501 1.1 501 1.2 503 1.3 505 2 509 3 554 559 Objekte und Materialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raumdimension: Die ‚Welt als Museum‘ . . . . . . . . . . . . Zeitdimension: „[L]’Histoire avec sa grande Hache“ . . Fazit: Literatur als melancholisches Museum . . . . . . . . „Louvre, Beaubourg, ce genre de choses“: Museen und maisons-musées . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Mais je sais pas, j’étais peut-être à un vernissage“: Empfänge als Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Anti-)Maisons-musées und Räume in Räumen . . . . . . . Erinnerungsorte und letzte Orte: das Museum als white cube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtfazit - Houellebecqs literar-museales Projekt als „livre unique“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur- und Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean-Philippe Toussaint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michel Houellebecq . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Siglen bei Zitaten im Fließtext Werke von Jean-Philippe Toussaint -SdB LaSalle de Bain (1985) MMonsieur (1986) AP L’Appareil-photo (1988) RLa Réticence (1991) TV La télévision (1997) AE Autoportrait (à l’Etranger) (1999) FA Faire l’Amour (2002) FFuir (2005) VM La Vérité sur Marie (2009) UP L’urgence et la patience (2012) MR La Main et le Regard (2012) NNue (2013) FFootball (2015) M.M.M.M. Romantetralogie Marie Madeleine Marguerite de Montalte, bestehend aus Faire l’Amour, Fuir, La Vérité sur Marie, Nue (2017 in einem Band veröffentlicht) MC Made in China (2017) USB La Clé USB (2019) Werke von Michel Houellebecq -HPL H.P. Lovecraft. Contre le monde, contre la vie (1991) EL Extension du domaine de la lutte (1994) RV Rester vivant suivi de La poursuite de bonheur (1997) PE Les particules élémentaires (1998) PPlateforme (2001) PI La possibilité d’une île (2005) EP Ennemis publics (2008, gem. mit Bernard-Henri Lévy) CT La Carte et le Territoire (2010) SSoumission (2015) PS En Présence de Schopenhauer (2017) ST Sérotonine (2019) - <?page no="10"?> Formales Direkte Zitate werden in „doppelte Anführungszeichen“ gesetzt, andere Hervor‐ hebungen in ‚einfache‘ Anführungszeichen. Kursivierungen in direkten Zitaten sind grundsätzlich aus dem Original übernommen. Hervorhebungen des Ver‐ fassers in direkten Zitaten werden fett markiert. Quellen werden bei der ersten Erwähnung vollständig zitiert, bei weiteren Erwähnungen in Kurzform. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf durchgängiges ‚Gendern‘ verzichtet (es sei denn, es sind konkrete Autorinnen oder Künstlerinnen gemeint). Stets ausdrücklich mitgedacht sind alle Leser*innen, Autor*innen, Besucher*innen. 10 Siglen bei Zitaten im Fließtext <?page no="11"?> I Einführung <?page no="13"?> 1 Vgl. dazu weiter Kap. IV.2.2. 2 Vgl. Pierre de Bonneville: Houellebecq, son chien, ses femmes, Paris: L’Éditeur 2017. Vgl. zur Ausstellung weiter Kap. IV.3. 3 Dieser Solidaritätsbekundung hatte sich Houellebecq in der Fernsehsendung Le Grand Journal wenige Tage nach dem Attentat angeschlossen, vgl. Gaël Vaillant: „Houellebecq, très ému : ‚Oui, je suis Charlie‘“, in: Le Journal du Dimanche, 12.01.2015, online unter: h ttps: / / www.lejdd.fr/ Culture/ Michel-Houellebecq-tres-emu-dans-sa-derniere-interview -Oui-je-suis-Charlie-712276. 1 Ausgangspunkt Die Idee zu der folgenden Studie entstand aus einem Moment der Verwunderung beim Besuch der Ausstellung Rester Vivant im Pariser Palais de Tokyo (23. Juni bis 11. September 2016). Als deren commissaire d’exposition firmierte der bekannte Autor Michel Houellebecq, der im Jahr nach den Charlie-Hebdo-At‐ tentaten und der Veröffentlichung des Romans Soumission - beides am 7. Januar 2015 - noch mehr als ohnehin schon im Licht der Öffentlichkeit stand. 1 Darum überraschte an der Ausstellung, dass Soumission und Frankreichs bewegte Gegenwart hier keine Rolle spielten: Im Palais de Tokyo schien es, als hätte das zurückliegende Jahr nicht stattgefunden. Gleichzeitig war aber die ‚Handschrift‘ Houellebecqs in der Ausstellung durch die Themen und Motive, auf die Rester Vivant sichtbar Bezug nahm, zweifelsohne zu erkennen: Tourismus und Globa‐ lisierung, künstliche Reproduktion und künstliche Menschen, Literatur und bildende Kunst, Sex, Tod und ewiges Leben. Neben diesen aus seinen Romanen bekannten Aspekten ging es auch um ihn selbst, um ehemalige Geliebte und seinen toten Hund, kurz: um „Houellebecq, son chien, ses femmes“ 2 . Aus dieser einerseits enttäuschten (wo war Houellebecqs ‚Je suis Charlie‘ 3 , wo Soumission? ), andererseits erfüllten (‚Typisch Houellebecq! ‘) Erwartung gingen einfache, dann sich als komplexer erweisende Fragen zu Format und Funktion der Autorenausstellung und ihrem Verhältnis zum literarischen Werk hervor: Wie lässt sich besagte ‚Handschrift‘ eines Autors im Ausstellungsraum genauer fassen, wie seine ‚Selbstmusealisierung‘? Welche Bezüge kann eine solche Ausstellung zu einem literarischen Werk aufweisen, welche Perspektiv‐ verschiebungen auf dieses Werk können sich daraus ergeben? Mit welchen Kategorien lassen sich Übergänge und Zusammenhänge zwischen Museum und Literatur beschreiben? Die Studie widmet sich zwei (sich) ausstellenden Autoren und ihrem Werk: neben Houellebecq und Rester Vivant auch Jean-Philippe Toussaint und dessen Ausstellung Livre/ Louvre (7. März bis 11. Juni 2012, Musée du Louvre). Besonders gut eignen sich diese beiden Autoren, da bei ihnen ein ausgeprägtes Interesse für das Museum und das Museale zu erkennen ist. Hierfür sind nicht nur ihre 1 Ausgangspunkt 13 <?page no="14"?> 4 Vgl. dazu Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen: Francke 2002, S. 79, der zufolge eine „explizite Systemerwähnung“ eines Mediums in einem anderen zwar ein Beleg einer intermedialen Beziehung ist, aber nicht der einzige; vgl. weiter Kap. II.3.2.2. 5 Vgl. zum Forschungsstand Kap. I.2.3. Ausstellungen ein Beleg - das Museum prägt vielmehr als Narrativ und Narra‐ tion auch ihre Literatur, wo es sich in expliziten Museumsthematisierungen und impliziten Übernahmen musealer Aspekte niederschlägt. 4 Dies erlaubt den Blick auf gemeinsame Themen und Motive sowie übergreifende ästhetische Verfahren in beiden Medien, mithin auf ganze literar-museale Komplexe. Ausgehend von den beiden Ausstellungen widmet sich die Studie also der Literatur im Museum, dem Museum in der Literatur, der ‚Ausstellung‘ der Literatur und durch die Literatur in Museum und literarischem Text. Mit dieser verbindenden Sicht auf zwei umfangreiche (Gesamt-)Werke geht sie über kulturwissenschaftliche Ansätze hinaus, die in den vergangenen Jahren verstärkt nach einem ‚musealen Erzählen‘ oder aber nach Formen und Formaten der Literatur im Museum gefragt haben. 5 Sie muss dazu einen offenen Literatur- und Museumsbegriff angelegen und einen weitgespannten (literatur-)geschicht‐ lichen und theoretischen Bezugsrahmen heranziehen. Wenngleich dieser keine endgültige ‚Systematik‘ zur Analyse literar-musealer Komplexe bieten kann und will, muss er aufgrund der Unterschiedlichkeit der beiden Autoren doch so differenziert ausfallen, dass er potentiell auch auf andere literar-museale Komplexe anwendbar ist. 2 Ansatz und Aufbau Die folgenden Abschnitte dienen der genaueren Konturierung des Untersu‐ chungsfokus. Dazu werden zunächst einige mit dem Thema und dem analyti‐ schen Rahmen verbundene Probleme angeführt (Kap. I.2.1.). Es folgt eine Dar‐ stellung des Vorgehens (Kap. I.2.2.), der Literaturlage (Kap. I.2.3.), der gewählten literar-musealen Referenzen (Kap. I.2.4.) und schließlich eine Begründung zur Wahl der beiden Autoren Toussaint und Houellebecq (Kap. I.2.5.). 2.1 Problemachsen Die Betrachtung musealer Ausstellungen vor dem Hintergrund eines literari‐ schen Werks und die Konfrontation der Literatur mit Fragen des Museums verspricht erhebliches Potential für eine Kontextualisierung und Neulektüre 14 I Einführung <?page no="15"?> 6 Vgl. Heike Gfrereis: „Archiv und Literaturmuseum“, in: Susanne Scholz u. Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S. 383-385, hier: S. 384: „Archive und Museen sind konkret, die Materialien, die sie sammeln, bewahren und zeigen, real. […] Doch […] ihre Bedeutung für die Literaturwissenschaft, die cultural und material studies haben Archive und Museen in erster Linie nicht der Wirklichkeit und den konkreten Gegenständen zu verdanken, sondern […] als Begriff und Mythos.“ 7 Vgl. dazu Eva-Maria Troelenberg u. Melania Savino (Hg.): Images of the Art Museum. Connecting Gaze and Discourse in the History of Museology, Berlin/ Boston: de Gruyter 2017. 8 Vgl. te Hessen: Theorien des Museums, S. 13-14; vgl. Jean-Louis Déotte: Le musée, l’origine de l’esthétique, Paris: L’Harmattan 1993, S. 128: Déotte versteht Museen als „des institutions, des réalités, des concepts, des idées, des imaginaires, des temporalités : bref des référents pour des genres de discours parfaitement distincts“. 9 Mieke Bal: Kulturanalyse, Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2006, S. 34; vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S. 11-12; vgl. Ulrike Goldschweer: Trügerische Zuflucht. Das Museum als Motiv der russischen Literatur: Lüge - Tod - Gewalt, Habilitationsschrift, Ruhr-Universität Bochum 2003, online unter: https: / / hss-opus.ub.ruhr-uni-bochum.de/ opus4/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 2925, S.-76, die für das Museum von „Komplexität durch Ambivalenz“ spricht. 10 te Hessen: Theorien des Museums, S. 148. Vgl. auch ebd.: S. 160: „Auch wenn niemand […] sagen kann, was unter ‚Museumsanalyse‘ zu verstehen ist, so trägt der Begriff doch die tröstliche Sicherheit mit sich, man könnte es bestimmen.“ auch bereits umfänglich analysierter Werke, bringt jedoch einige methodische Komplikationen mit sich. Zunächst das Problem des Konzepts ‚Museum‘: Die Studie muss sowohl reale als auch literarische Formen der Musealität einbeziehen und das Museum darum als „Begriff und Mythos“ 6 , als Institution und musée imaginaire betrachten 7 - eine Bedeutungsoffenheit, die ohnehin in dem Begriff angelegt ist. 8 Schon das begehbare Museum als Ort und Institution, mit seiner Geschichte und seinen Funktionen, seiner äußeren Erscheinung und seinen unsichtbaren Aspekten zu erfassen, „verlangt […] Interdisziplinarität“ 9 . Es ist einerseits ein „geschlossenes System“ mit klar zu unterscheidendem „Innen und Außen“, andererseits aber ein „bewegliches Gefüge“, das in „mit ihm verbundene[] Ideologien und gesell‐ schaftliche[] Entwicklungen“ 10 eingebunden ist. So richtet auch die Museologie ihren Fokus auf die „Gesamtheit der Eigenschaften und Aussagen, die den komplexen Prozess des Sammelns, Bewahrens, Erschließens und Ausstellens 2 Ansatz und Aufbau 15 <?page no="16"?> 11 Katharina Flügel: Einführung in die Museologie, 3. überarbeitete Auflage, Darmstadt: WBG 2014 [2005], S. 16. Vgl. auch ebd., S. 17: Auch Ausstellungen, Galerien etc. können museale Funktionen („museales Sammeln, Bewahren, Forschen und Mitteilen“) erfüllen. Dazu sind „museale Bedingungen“ und „museologisch intendiertes Handeln“ nötig (ebd.). So wäre auch die folgende Arbeit durchaus als ‚museologische‘ Untersuchung zu verstehen, insofern sie einen Zusammenhang zwischen dem literarischen Werk und den jeweiligen Autorenausstellungen annimmt und literarische Werke auch als Präfigurationen und Gegenstücke von Literaturausstellungen versteht. 12 Sarah Schmidt: „Sammeln - Sammlungen“, in: Susanne Scholz u. Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S. 82-90, hier: S.-82. Vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-12: „Es gibt nicht die Wissenschaft vom Museum, sondern ein weitaus komplizierteres Geflecht, das andere Institutionen und Fächer in der Beschreibung und Analyse eines musealen Phänomens miteinbeziehen muss und nicht aus sich selbst erklärt werden kann.“ 13 Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S.-62-65, vgl. Kap. II.1.3 u. II.1.4. 14 Vgl. Cornelia Ortlieb: „Materialität und Medialität“, in: Susanne Scholz u. Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S. 38-46; Vgl. Marie-Clémence Régnier: „Ce que le musée fait à la littérature. Muséalisation et ex‐ position du littéraire“, in: Interférences littéraires/ Literaire interferenties, 16, 2015, S. 7-20, hier: S. 8, die sich dem Komplex mit literaturwissenschaftlichen, anthropologischen, kunstgeschichtlichen oder medienwissenschaftlichen Zugriffen nähert; auch Hamon geht das Verhältnis von Ausstellung in der Welt und Ausstellung in der Literatur aus unterschiedlichen Richtungen an - „référentiel […], thématique […], générique […], stylistique […]“ ( Jean-Pierre Leduc-Adine: „Philippe Hamon, Expositions, littérature et bestimmter beweglicher Objekte im musealen Kontext charakterisieren“; ihr „Erkenntnisziel“ ist das Phänomen, „das zur Entstehung des Museums führt.“ 11 Gerade, dass das Museum und mit ihm zusammenhängende Konzepte we‐ niger „homogene Forschungsfelder“ als vielmehr hybride „Gegenstandsfelder“ 12 bilden, kann ihre Anschlussfähigkeit an literaturwissenschaftliche Ansätze erleichtern. Ein solcher Begriff des Museums und des Musealen ist zudem nützlich, um das wiederum in Texten präsente Bild von der ‚Welt als Museum‘ einzubeziehen, das eine wichtige Rolle für museales Erzählen besitzt (vgl. u. a. Kap. II.2.3., II.3.4.). Ein weiteres Problem betrifft die methodische Fassung literar-musealer Kom‐ plexe: Literatur und Museum, literarische und museale Verfahren und Diskurse in Literatur und Museum gemeinsam zu beschreiben, bedeutet, den Blick auf Text und Kontext, auf écriture und écran, auf das visible und das lisible, auf „Semiotizität und Multimedialität“ 13 , Präsentation und Repräsentation beider Seiten zu richten. Einer Literatur, die nicht nur in Form ‚motivischer‘, immate‐ rieller Bezüge in den Bereich des Musealen hineinragt, sondern auch in ihrer materiellen Realisierung, lässt sich nur mit verschiedenen Konzepten nähern, die zueinander offen sein, teils aber auch im Widerspruch stehen können. 14 16 I Einführung <?page no="17"?> architecture au XIX siècle“, in: Romantisme, 67, 1, 1990, S. 119-121, hier: S. 120). Vgl. auch Kap. II.4.2.1.1. 15 Vgl. Werner Wolf: „Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen: Ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien“, in: Janine Hauthal u. a. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien: Theoretische Grundlagen---Historische Perspektiven---Metagattungen-- Funktionen, Berlin/ Boston: de Gruyter 2007, S. 25-64, hier: S. 38. Nach Wolf meint Metareflexivität Aussagen „innerhalb eines semiotischen Systems“, die „über dieses System als solches oder über Teilaspekte desselben gemacht oder impliziert werden“. 16 Wolfgang Ullrich beschreibt dies in einem Interview als allgemeine Tendenz der Gegenwartskunst: „Da Kunst […] heute so oft als Reaktion auf etwas entsteht, das situativ ist und von außen kommt, ja von Kurator*innen, themenbezogenen Events oder von Ausschreibungen und Jurys beeinflusst ist, verschwindet unmerklich die Idee einer werkspezifischen Entwicklungslogik“, in: Peter Truschner: „Luxus, Moral und Absolution. Über Bücher, Bilder und Ausstellungen“, in: Fotolot, 11.07.2019, online unter: https: / / www.perlentaucher.de/ fotolot/ wolfgang-ullrich-ueber-kunst-fuer-den-marktund-kunst-fuer-kuratoren.html. Hinzu kommt eine starke Selbstreferenzialität und metareflexive Dimen‐ sion 15 , die einerseits im modernen (Meta-)Museum angelegt ist, andererseits nicht selten in postmoderner Literatur, die jedoch auch eine Eigenheit li‐ terar-musealer Komplexe bildet, welche über die Thematisierung und Ausstel‐ lung von Literatur und Museums auch wieder auf sich selbst oder auf das andere Medium zurückweisen können. Wie sich zeigen wird, betreiben auch die hier betrachteten Autoren Museums- und Literaturreflexion jeweils in Ausstellung und Buch, und dies nicht selten im wechselseitigen Bezug beider Medien aufeinander. Dadurch sind etwa literarische oder museale Ding- oder Subjektreflexionen zugleich Analysekriterien und Themen des literar-musealen Komplexes. Es muss somit um eine Auseinandersetzung mit Literatur und Museum in beiden Medien gehen, nicht nur um das Verhältnis zwischen ihnen. Da eine Autorenausstellung nicht nur Teil eines Werks ist, sondern dieses auch aufgreift, ergibt sich außerdem ein Fokussierungsproblem, weil sich Ausstellung und literarisches Werk sowohl in Einzelreferenzen aufeinander beziehen (Bezüge auf bestimmte literarische Werke oder Werkaspekte), als auch auf große Linien im Gesamtwerk (‚die Ästhetik‘ oder die Poetologie des Autors). Schließlich das Problem ‚Werk und Welt‘: Die Arbeit geht von Wechselbe‐ zügen zwischen künstlerisch-ästhetischen Verfahren und dem realen Wirken des Autors im Ausstellungsraum aus. Letzteres ist nicht losgelöst von kulturpo‐ litischen Aspekten, Fragen des Literaturmarketings und von Eigenlogiken der Institution Museum zu verstehen - was u. a. die Vorstellung eines organisch gewachsenen, autorzentrierten ‚Gesamtwerks‘ in den Hintergrund rückt. 16 Andererseits wird durch Musealisierung im Ausstellungsraum ein solches Werk 2 Ansatz und Aufbau 17 <?page no="18"?> 17 Vgl. Stephen Greenblatt: „Kultur“, in: Moritz Baßler: New Historicism. Literaturge‐ schichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/ M.: Fischer 1995, S. 48-59, hier: S. 51: „[E]ine kulturbezogene Analyse [muss sich] einer rigiden Unterscheidung zwischen dem, was innerhalb und was außerhalb eines Textes liegt, prinzipiell widersetzen.“ Diese Perspektive auf Text und Kontext zugleich ist freilich nicht unproblematisch; vgl. dazu Rajewsky, die ähnlich in Bezug auf intertextuell basierte Studien konstatiert, „daß doch immer wieder versucht wird, konkrete Textphänomene […] zu erfassen, zu beschreiben und zu analysieren; auch dann, wenn in den theoretischen Ausführungen ein weitgefasstes Intertextualitätskonzept im Sinne Kristevas zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht wurde“; Rajewsky: Intermedialität, S. 55-56. Vgl. auch Kap. II.1.3. 18 Vgl. Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S.-7. gerade suggeriert. So müssen Ausstellungen und literarische Texte zwar als distinkte, dabei sich aufeinander beziehende Einheiten verstanden werden, aber auch vor einem offeneren ‚Kultur-als-Text‘-Paradigma, das erlaubt, sie einer umfassenden Lektüre vor dem Hintergrund bestimmter literar-musealer Kontexte zu unterziehen. 17 Deutlich wird an dieser ‚Problemlage‘, dass die folgende Analyse ein Neben‐ einander unterschiedlicher theoretischer Konzepte zwischen Text und Kontext, Werk und Welt (Kap. II.1.3.) bedingt; vorgeschlagen wird ein Zugang, der sich insbesondere auf (kultur-)semiotische, narratologische und (inter-)mediale Ansätze stützt (vgl. Kap. II.1.4.). 2.2 Vorgehen und Aufbau Nach einer Darstellung des Forschungsstands, des gewählten literar-musealen Referenzrahmens und einer Begründung zur Wahl der beiden Schwerpunktau‐ toren etabliert und beschreibt ein umfangreiches Hauptkapitel Theorie und Ästhetik literar-musealer Komplexe (Kap. II). Unter der Überschrift ‚Zugänge‘ situiert Kap. II.1. zunächst das Phänomen ‚Autorenausstellung‘ im gegenwär‐ tigen literarischen und musealen Feld; sodann werden die beiden in der fran‐ zösischen Literaturwissenschaft und Museologie kursierenden Begriffe der néolittérature und der littérature plasticienne eingeführt, die anschließend mit Konzepten des new historicism, der Kultursemiotik, der Intermedialitätstheorie und der Narratologie zusammengedacht werden. Der folgende Teil (Kap. II.2.) beschreibt zentrale, auf literarische Musealität anwendbare ‚Begriffe‘ des Museums. Wie schon deutlich wurde, soll das Mu‐ seum dabei als kulturelles wie literarisches Faktum, als konkreter Ort und als produktives Konzept 18 gefasst werden - gleiches gilt für weitere angrenzende Termini (etwa Musealisierung, Sammlung, kuratieren). Besondere Relevanz 18 I Einführung <?page no="19"?> 19 Vgl., bezogen auf das Museum, Nora Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S. 22-31; vgl., bezogen auf die Literatur, Julia Brühne u.a.: „Re-Konstruktion und Realismus heute: Varianten in der Romania“, in: dies. u. a. (Hg.): Re-Konstruktion des Realen. Die Wiederentdeckung des Realismus in der Romania, Göttingen: Mainz University Press/ V&R 2021, S. 9-17, hier: S. 9; vgl. Dominique Viart u. Bruno Vercier: La littérature française au présent. Héritage, modernité, mutations, 2 e édition augmentée, Paris: Bordas 2008, S.-213-234. kommt dabei dem Begriff der Ausstellung/ exposition zu, der neben dem Museum als zweiter zugleich musealer wie literarischer Aspekt beschrieben wird. Die unter der Überschrift ‚Paratexte und Passagen‘ (Kap. II.3.) aufgeführten Analyseansätze dienen zur Beschreibung ganzer literar-musealer Komplexe und bilden zugleich thematische Zugänge, da die hier vorgestellten Konzepte auch in Literatur und Museum reflektiert werden. Operiert wird zunächst mit den beiden Begriffen der Präsentation und der Repräsentation: Es geht um die Ausstellung der Literatur und die Ausstellungskapazität des Literarischen, die Präsentation der Literatur im Museum (Literaturausstellung) und die Präsenta‐ tion durch die Literatur (Literatur als Ausstellung). Der Aspekt der Repräsen‐ tation zielt auf das Verhältnis von Museen und Literatur zur Welt, was auch eine beide Medien betreffende ‚Repräsentationskrise‘ impliziert. 19 Ein weiteres Kapitel widmet sich der medialen Dimension: Inwiefern sind Museen Medien, inwiefern sind sie einer Medienkonkurrenz ausgesetzt, inwiefern wird diese in Museum und Literatur wieder aufgegriffen und innerhalb literar-musealer Komplexe realisiert? Ähnlich ist in Bezug auf den Aspekt der Narrativität zu diskutieren, ob und wie eine Ausstellung literaturartig ‚erzählt‘, und wenn ja, ob ihre Erzählung sich sowohl über Ausstellung als auch über das literarische Werk erstrecken kann. Anschließend wird die Kategorie der Lesbarkeit eingeführt; sie erlaubt, Museum, Stadt und Literatur gemeinsam in den Blick zu nehmen. Mit ihr lässt sich auch der Begriff der ‚Welt als Museum‘ schärfen, der wiederum in den analysierten Texten und Ausstellungen wirksam wird. Zuletzt lenkt der Aspekt des Paratexts als Zone zwischen Text und Welt die Aufmerksamkeit auf Vorworte und Ausstellungseingänge. Kap. II.4. stellt schließlich die Literatur ins Zentrum und beschreibt eine Ästhetik literarischer Musealität. Es zieht insbesondere literarhistorische, mo‐ tivgeschichtliche und narratologische Aspekte heran. Neben theoretischen Ansätzen stellt Kap. II. einen Korpus an literarischen Museumsszenen und museologischen Diskursen bereit, die für museale Lite‐ ratur wie auch Literaturausstellung gleichermaßen relevant sind, und die ein umfangreiches Instrumentarium zur Analyse der beiden Beispielautoren und ihrer Werke bieten. 2 Ansatz und Aufbau 19 <?page no="20"?> 20 Da nur Rester Vivant durch den Verfasser besucht wurde, stützt sich die Darstellung von Livre/ Louvre auf verfügbare Dokumente (etwa die Homepage des Autors), die von Toussaint selbst ‚autorisiert‘ wurden und im weiteren Sinne als Teil des Werks be‐ trachtet werden können, sowie auf weitere Dokumentationen, etwa unveröffentlichte Arbeitspläne und Rezensionen, vgl. Kap. III.1. Vgl. Antonia Wunderlich: Der Philosoph im Museum. Die Ausstellung ‚Les Immatériaux’ von Jean François Lyotard, Bielefeld: transcript 2015, S. 105-248, v. a. S. 105, die zur Analyse der von ihr nicht besuchten Lyotard-Ausstellung ähnlich verfährt. 21 Ähnlich geht auch Goldschweer vor: „Der Theoriekomplex zeigt die möglichen Dimen‐ sionen des Motivs auf, die aber von den Texten nicht unbedingt eingelöst werden müssen“ (dies.: Trügerische Zuflucht, S.-11). 22 Lis Hansen u.a.: „Das Immaterielle ausstellen. Zur Einführung“, in: dies. (Hg.): Das Immaterielle ausstellen: Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst, Bielefeld: transcript 2018, S.-1-31, hier: S.-15. Der Aufbau der beiden Detailuntersuchungen zu Toussaint (Kap. III.) und Houellebecq (Kap. IV.) vollzieht die Denkrichtung des Theorieteils nach: Am Beginn stehen jeweils die Ausstellungen als Ausgangspunkte und Belege eines ausgeprägten Interesses beider Künstler für Museumsfragen. Im Anschluss werden anhand ausgewählter Analysen einzelner Exponate Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur gezogen 20 , bevor schließlich das literarische Werk unter dem Aspekt der Musealität gelesen wird. Der These folgend, dass das Museum als Handlungsort zwar berücksichtigt werden muss, die Analyse sich allerdings nicht allein darauf stützen kann (vgl. Kap. II.3.2.2.), situieren die beiden Kapitel die Ausstellungen zunächst im Kontext des literarischen Werks, erfassen dann die Dimension der literarischen Musealität, und beschreiben erst im Anschluss daran explizite literarische Museumsdarstellungen. Der Komplexität des Museumsbegriffs und der Unterschiedlichkeit der beiden Werke entsprechend, werden die im Theorieteil herausgearbeiteten Kategorien nicht schematisch auf das Analysekapitel übertragen, sondern sinnführend herangezogen. Darum lässt sich die Gliederung des Theorieteils nicht passgenau auf beide Analysen anlegen 21 : Was im Theorieteil getrennt voneinander betrachtet wird, greift in der Analyse ineinander. 2.3 Forschungs- und Literaturlage, Desiderat der Forschung Das Verhältnis von Literatur und Museum ist unter dem Aspekt der Aus‐ stellbarkeit von Literatur bereits umfangreich behandelt worden. Der lange vorherrschenden Auffassung, Museen könnten etwas leisten, das die Literatur nicht vermöge, und Literaturausstellungen seien „Substitutionen“ 22 der Lite‐ ratur, stehen inzwischen vielfältige Ansätze entgegen. 23 Allerdings betrachten die wenigsten Arbeiten das literar-museale Feld medienübergreifend, sondern 20 I Einführung <?page no="21"?> 23 Vgl. ebd., S. 21, sowie Britta Hochkirchen u. Elke Kollar: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Zwischen Materialität und Ereignis. Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven, Bielefeld: transcript 2015, S. 7-22. Die These von der Nicht-Ausstellbarkeit der Literatur wird mit derartiger Regelmäßigkeit wiederholt, dass manche Autoren nicht nur auf die These selbst verweisen, sondern auch auf deren häufige Wiederholung, vgl. Erhard Schütz: „Literatur. Ausstellung. Betrieb“, in: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011, S. 65-75, hier: S. 65. Inzwischen stellt sich weniger die Frage nach dem ‚Ob‘, als nach dem ‚Wie‘ des Ausstellens von Literatur (vgl. Hansen u.a.: „Das Immaterielle ausstellen“, S. 14). Vgl. für einen neueren Forschungsstand zur „Ausstellbarkeitsdebatte um Literatur“ Vanessa Zeissig: Die Zukunft der Literaturmuseen. Ein aktivistisches Manifest, Bielefeld: transcript 2022, S.-73-102. 24 So betrachtet der Band Kafkas Gabel reale Ausstellungen, Literaturhäuser oder -museen (auch) vor dem Hintergrund der darin thematisierten literarischen Werke. Vgl. Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur, Bielefeld: transcript 2013. 25 Margret Westerwinter: Museen erzählen. Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in litera‐ rischen Texten des 20. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2008, S. 27. Ulrike Vedder stellt an Texten des 19. Jahrhunderts (etwa Adalbert Stifter) nicht nur eine Problematisierung der Institution Museum fest, sondern auch die Übernahme von Museumstechniken ins Erzählen selbst; vgl. dies.: „Zwischen Depot und Display. Museumstechniken in der Li‐ teratur des 19. Jahrhunderts“, in: Daniela Gretz u. Nicolas Pethes (Hg.): Archiv/ Fiktionen. Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br./ Berlin/ Wien: Rombach 2016, S.-35-49, hier: S.-40. 26 Johanna Stapelfeldt u. a. (Hg.): „Museales Erzählen. Zur Einleitung“, in: dies. u. a. (Hg.): Museales Erzählen. Dinge, Räume, Narrative, Paderborn: Brill/ Fink 2020, S. 1-11, hier: S. 6. Fragen des Bands lauten etwa: „Sind die Dinge in Texten anders aufgehoben als im Museum? Welche musealen Räume, Vitrinen, Depots ‚baut‘ die Literatur? Welche Rolle spielen museale Praktiken und poetische Verfahren des Sammelns, Inventarisierens, Kuratierens und Ausstellens in literarischen Texten? Wie werden Wissensbestände und Wahrnehmungsmodi in Literatur und Museum generiert, geordnet und in Frage gestellt? Welche erzählerischen Rückkopplungen mit Museumsnarrativen lassen sich beobachten, und welche Kehrseiten des Archivs und der Repräsentation treten dabei zu Tage? “ (ebd., S.-7). blicken jeweils von einer der beiden Seiten auf den Komplex, wenngleich einige aktuellere Arbeiten eine ‚Öffnung‘ zum jeweils anderen Medium mitdenken. 24 Andererseits wurden bereits literarische ‚Museumstechniken‘ untersucht, dann aber vornehmlich ohne Einbezug realer Literaturausstellungen. Wester‐ winter 25 versteht Texte als Speicher des kulturellen Gedächtnisses und ‚Display‘ vorangegangener Werke, und schreibt ihnen museale Funktionen zu. „Dass das Museum als eine zentrale Reflexionsfigur der Literatur fungiert - und umgekehrt museale Logiken sprachlich-literarisch geprägt sind“, lautet auch eine Grundthese des Bands Museales Erzählen. 26 Auch hier werden aber die un‐ tersuchten literarischen Texte nicht zu realen Ausstellungen in Bezug gesetzt. 27 2 Ansatz und Aufbau 21 <?page no="22"?> 27 Vgl. ebd.; eine Ausnahme in diesem Band bildet ein Artikel zu Orhan Pamuks Museum der Unschuld (Ulrike Vedder: „Poetik des Sammelns und der Liebe. Orhan Pamuks Museum der Unschuld“, S.-95-112). 28 Régnier: „Ce que le musée fait à la littérature“, S.-8. 29 Ebd., S.-7. 30 Catherine Mayaux: „Introduction. Quand les écrivains font leur musée : des questions esthétiques aux engagements spirituels et existentiels“, in: dies. (Hg.): Quand les écrivains font leur musée…, Brüssel u.a.: P.I.E. Peter Lang 2017, S. 9-17. Der Band widmet sich auch Gegenwartsliteraturen und hat den Anspruch, die „intuition muséographique de l’écrivain“ (S. 9) auf mehreren Ebenen herauszuarbeiten. Er versammelt dazu Studien zu „Muséographies d’écrivains“ (Texte, in denen Schriftsteller alternative Museumsent‐ würfe entwickeln), „Visites guidées, détours et musées en mots“ (literarische reale oder imaginierte Museumsbesuche), „L’imaginaire muséal des écrivains“ (Texte, die selbst durch Zusammenstellung und Beschreibung von Kunstwerken oder anderer Objekte „imaginäre Museen“ erschaffen) und schließlich „Collections et maisons-musées d’éc‐ rivains“ (Schriftsteller, die zu Lebzeiten ihre eigene Musealisierung betrieben). Durch den Sammelbandcharakter ergibt sich jedoch auch hier keine zusammenhängende Argumentationslinie. 31 Elisa Bricco (Hg.): Le bal des arts. Le sujet et l’image: écrire avec l’art, Macerata: Quodlibet, 2015. 32 Denis Laoureux (Hg.): Écriture et art contemporain. Dossier der Zeitschrift textyles. Revue des lettres belges de langue francaise, 40, 2010. 33 Corentin Lahouste u. David Martens (Hg.): Inspirations littéraires de l’exposition. D’une matrice curatoriale contemporaine. Themendossier der Zeitschrift Captures, 6, 2, 2021, online unter: https: / / revuecaptures.org/ dossier/ inspirations-litt%C3%A9raires-de-l%E2 %80%99exposition. 34 Philippe Hamon u. Ségolène Le Men: „Introduction“, in: Romantisme, 173, 3, 2016, S.-5-14, sowie Revue d’Histoire littéraire de la France, 1, 1995. 35 Matteo Anastasio u. Jan Rhein (Hg.): Transitzonen zwischen Literatur und Museum, Berlin/ Boston: de Gruyter 2021. Die vorliegende Studie grenzt sich von diesen Ansätzen auch insofern ab, als hier nicht nur von ‚musealem Erzählen‘, sondern weitergefasst von ‚literarischer Musealität‘ gesprochen wird (vgl. Kap. II.4.). Übergreifende Ansätze zu Literaturausstellung und musealen Verfahren in der Literatur sind indessen stärker im frankophonen Raum zu finden. Régnier möchte eine „vision d’ensemble des enjeux et des modalités de la muséalisation du littéraire“ 28 herausarbeiten: „Ainsi, le musée peut faire l’objet de re-présen‐ tations littéraires […]. La littérature peut, sur un autre plan, contribuer à la vie du musée […].“ 29 Ähnlich angelegt sind auch die Sammelbände und Dossiers von Mayaux 30 , Bricco 31 , Laoureux 32 sowie Lahouste und Martens 33 , für das 19. Jahrhundert auch zwei Sonderausgaben der Zeitschriften Romantisme und Revue d’Histoire littéraire de la France 34 . Auf diese Ansätze aufbauend, vereint der Sammelband Transitzonen zwischen Literatur und Museum 35 Beiträge, die ent‐ 22 I Einführung <?page no="23"?> 36 Vgl. Régnier: „Ce que le musée fait à la littérature“, S. 8. Vgl. auch das Forschungsver‐ bundprojekt Les Contemporain·e·s. Littérature, arts visuels, théorie (2011-2016): Die Seite https: / / contemporains.hypotheses.org dokumentiert Kolloquien zum Thema und stellt Bibliographien und Rezensionen zu relevanten Publikationen bereit. Zu verweisen ist auch auf den Forschungsverbund RIMELL, der sich einem erweiterterten Verständnis von Literatur als Ausstellungskunst widmet, mit dem Ziel „[d’]étudier l’histoire et les pratiques actuelles en matière d’expositions du livre et de la littérature“ (https: / / www.litteraturesmodesdemploi.org/ presentation-2). Hier ist auch eine laufend aktualisierte Bibliographie zu finden. 37 So will Westerwinter in verschiedenen Einzeluntersuchungen „Argumentationslinien auf[zeigen], die sich in der Gesamtschau zu Diskursparadigmen verdichten“ (dies.: Museen erzählen, S. 29), doch besagte Gesamtschau bleibt durch die Leserschaft zu leisten. 38 Vgl. Peter M. McIsaac: „Literatur und das Museum: kulturwissenschaftliche Schnitt‐ punkte“, in: Literatur für Leser, 30/ 2, 2007, S.-111-119, Jean-Michel Rey: „The Discourse of the Exhibition“, in: Jérôme Game (Hg.): Porous Boundaries. Texts and Images in Twentieth-Century French Culture, Bern: Peter Lang 2007, S. 123-135; Peter Goßens: „Photoalbum, Museum, Katalog. Narrative Modelle der neueren Erzählliteratur“, in: Monika Schmitz-Emans u. Christian A. Bachmann (Hg.): Bücher als Kunstwerke. Von der Literatur zum Künstlerbuch, Essen: Bachmann Verlag 2013, S.-173-200, hier: S.-181. 39 Vgl. Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S.-7. 40 Ebd., S. 74 u. S. 76, wo sie die folgenden „komplexitätsrelevante[n]“ Kriterien des Museums in literarischen Texten betrachtet: „(1) den Umgang mit Raum und Zeit (Still‐ stand vs. Dynamik), (2) seine Funktion als Gedächtnisort (Sammeln/ Konservieren vs. Ausstellen; Speicher vs. Inszenierung; Erinnern vs. Vergessen), (3) seine Selbstwahrneh‐ weder vom Museum oder der Literatur ausgehend das jeweils andere Medium einbeziehen. Insgesamt ist also noch immer der Diagnose Régniers zuzustimmen, dass das Forschungsfeld im deutsch- und englischsprachigen Raum zwar stärker ausge‐ prägt, ein intermedial offener, beide Medien zugleich in den Blick nehmender Ansatz hingegen eher in der frankophonen Literaturwissenschaft zu finden ist 36 - beide Umstände schlagen sich auch in der vorliegenden Arbeit nieder. Auch aufgrund ihrer Sammelband- oder Zeitschriftenform zeigen die ge‐ nannten Publikationen zwar ein breites Spektrum literar-musealer Ausprä‐ gungen, analysieren jedoch weder ein literar-museales Gesamtwerk noch lite‐ rarische Musealität in der Tiefe - meist werden einzelne museale Teilbereiche (etwa das Sammeln, Deponieren oder Ausstellen) und einzelne Fallbeispiele ins Zentrum gestellt. 37 Zur Abgrenzung und Anknüpfung lohnt sich auch der Blick auf weitere Phi‐ lologien: Wie verschiedene Einzeluntersuchungen 38 betrachtet Goldschweers slawistische Arbeit das Museum „als kulturelles und als literarisches Faktum“, als literarisches Motiv und als prägende Institution. 39 Indem sie die im Museum per se angelegte „spezifische Komplexität“ 40 auf mehreren Ebenen (motivisch, 2 Ansatz und Aufbau 23 <?page no="24"?> mung und -darstellung (Wunderkammer vs. Bildungsanstalt), (4) seine Medialität (Text vs. ganzheitliches Erlebnis) und schließlich (6) seine Liminalität oder Schwellenposition (Todesanerkenntnis vs. Todesverleugnung).“ [sic; der Aufzählungspunkt (5) fehlt auch in der Quelle; J.R.] 41 Catherine E. Paul: Poetry in the Museums of Modernism. Yeats, Pound, Moore, Stein, Ann Arbor: University of Michigan Press 2002; Klappentext. 42 Ebd., S.-38. 43 Ebd., S.-6. 44 Peter M. McIsaac: Museums of the Mind. German Modernity and the Dynamics of Collecting, University Park: Pennsylvania State University Press 2007, S.-5. semiotisch, medial…) beschreibt, ähnelt der Ansatz ihrer Arbeit der vorlie‐ genden - doch auch Goldschweer verzichtet auf eine tiefergehende Analyse literar-musealer (Gesamt-)Werke. Einen ähnlichen Versuch unternimmt Paul in Bezug auf die Lyrik von Yeats, Pound, Moore und Stein, indem sie contextualizes these writers’ poetry and prose in the gallery spaces, curatorial practices, displayed objects, and exhibition objectives of the museums that inspired them, exposing the ways in which museums helped develop literary modernism. 41 Die Beschäftigung mit Museen ziehe wiederum museale Schreibweisen nach sich: „the poets found in museum culture something vital that enabled them both to collect and organize the artifacts of their memories and imaginations and to exhibit them for visitors to their books.“ 42 Es geht ihr also um die Untersuchung einer sowohl von poetischen als auch von realen Museumserfahrungen und -bildern geprägten Lyrik: I argue that museums provided for these writers an entire epistomological framework that uses objects to convey meaning, that considers the relationship between objects and texts that have meaning beyond any individual object or text - and I am using ‚object‘ in the loosest possible sense here, to include both museum objects and poetic objects […]. 43 Ähnlich argumentiert in seiner germanistischen Studie Museums of the Mind auch McIsaac, dessen Prämisse lautet, that the forces that lead curators, artists, and politicians in a given culture to produce museums lead authors to produce certain kinds of literary writing. And […] the values and priorities that make a museum possible and desirable are also articulated in literary form. 44 Als sich in Museum wie Literatur niederschlagende „museum function“ definiert er dabei „the way objects are valorized, acquired, and discarded, organized, displayed, and hidden in a particular society“ 45 : 24 I Einführung <?page no="25"?> 45 Ebd., S.-12. 46 Ebd., S.-13. 47 Vladimir Martinovski: Les Musées Imaginaires. C. Baudelaire, W.C. Williams, S. Janevski, V. Urosevic, J. Ashbery et Y. Bonnefoy, Paris: L’Harmattan 2009, S.-10. 48 Vgl. ähnlich James A.W. Heffernan: Museum of Words. The Poetics of Ekphrasis from Homer to Ashbery, Chicago: The University of Chicago Press 2004; vgl. Kap. II.3.1.1.2.2. 49 Vgl. den grundlegenden Artikel von Philippe Hamon: „Le Musée et le texte“, zuerst in: Revue d’histoire littéraire de la France, 1, 1995, S. 3-12; Wiederabdruck als erweiterte Fassung in ders.: Imageries, S. 81-117 (Kap. „L’image exposée: Musées“). Vgl. ders.: „Ecrire le Louvre“, in: -Revue d’Histoire littéraire de la France, 3, 2019, S.-523-532. 50 Ders.: Expositions. Littérature et Architecture au XIXe siècle, Paris: José Corti 1989, S. 18. 51 Ebd. Rather than see the establishment of a particular museum and a particular literary text as isolated phenomena, the museum function prompts us to look for a confluence of cultural discourses capable of producing a particular museum and a particular literary text. 46 Gegenüber den Studien Goldschweers, Pauls und McIsaacs erscheint die kom‐ paratistische Arbeit Martinovskis reduktionistischer, der den Begriff des musée imaginaire als einen „dialogue entre la poésie et la peinture à travers la descrip‐ tion des œuvres plastiques dans le discours poétique“ 47 versteht - letztlich geht es ihm also um verschiedene Ausprägungen von Ekphrasis, einem wichtigen, aber nicht dem einzigen Aspekt literarischer Musealität. 48 Besonders in Bezug auf Konzepte wie die ‚Welt als Museum‘ (vgl. Kap. II.2.3.) sind die Arbeiten von Hamon grundlegend, die nicht nur das Museum 49 , sondern vielmehr die exposition als relevanten Querschnittsbereich in den Mit‐ telpunkt stellen. Hamon möchte „le ‚système‘ ou la structure“ 50 der Interferenzen zwischen Literatur und Architektur im 19. Jahrhundert beschreiben. Seine vielschichtige „poétique textuelle“ umfasst la fonction de certains objets, de certaines métaphores, de certains schèmes textuels particuliers : textes-expositions, personnages exposés/ s’exposant/ s’affichant/ ‚posant‘ (l’actrice, le badaut, le parvenu, le commis-voyageur etc., ces personnages-types du siècle forment, quelque part, système, ont tous quelque chose à voir avec l’exposi‐ tion de soi, des autres, des choses), topoï d’exposition et d’incipits romanesques, ruines modernes et anciennes, ‚tableaux’ étalant du savoir, descriptions-catalogues, portes-tropes, hypotyposes naturalistes, livres-guides et livres-galeries etc. 51 Wie in seiner Folgestudie Imageries (vgl. Kap. II.3.1.1.2.) geht es Hamon um Wahrnehmungs- und Ausstellungsdispositive, die das städtische Dasein durch‐ dringen und ihren Niederschlag in der Literatur finden - und vice versa. Dabei deckt er zwar beide Bereiche ab, denkt diese aber getrennt voneinander, indem er 2 Ansatz und Aufbau 25 <?page no="26"?> 52 Hamon: Imageries, S.-84-85. 53 Vgl. etwa Henri Mitterand: L’illusion réaliste. De Balzac à Aragon, Paris: Presses Universitaires de France 1994, vgl. insbes. das Kapitel „Le musée dans le texte“, S. 105-118 (zuerst in: Cahiers naturalistes, 66, 1992, S. 13-22); Bertrand Bourgeois: Poétique de la maison-musée (1847-1898). Du réalisme balzacien à l’œuvre d’art ‚décad‐ ente‘, Avant-propos de Jean-Louis Cabanès, Paris: L’Harmattan 2009; Dominique Pety: Poétique de la collection au X I Xe siècle: Du document de l’historien au bibelot de l’esthète, Nanterre: Presses universitaires de Paris Nanterre, 2010; dies.: „L’âme des choses. Descriptions d’intérieurs de Baudelaire à Rodenbach“, in: Vincent Jouve u. Alain Pagès (Hg.): Les lieux du réalisme. Pour Philippe Hamon, Paris: Éditions L’Improviste/ Presses Sorbonne Nouvelle 2005, S. 87-97; Andrea Del Lungo: La fenêtre. Sémiologie et histoire de la représentation littéraire, Paris: Éditions du Seuil 2014. 54 Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-19. 55 Deutlich macht dies auch die Arbeit von Matthieussent, der Formen der exposition in literarischen Werken von Zolas Au bonheur des Dames bis zu Don de Lillos Mao II nachzeichnet. Vgl. Brice Matthieussent: Expositions. Pour Walter Benjamin, Paris: Fourbis 1994. 56 Magali Nachtergael: „Ecritures plastiques et performances du texte-: une néolittérature-? “, in: Elisa Bricco (Hg.): Le bal des arts : Le sujet et l’image : écrire avec l’art, Macerata: Quodlibet 2015, S. 307-325; dies.: „Art contemporain et ‚new literature’“, in: L’Art même, 55, 2012, S. 4-6; Jean-Max Colard: „Pour une littérature plasticienne“, in: Critique d’art, 54, 2020, online unter: http: / / journals.openedition.org/ critiquedart/ 61956. 57 Littérature, 160, 2010 (= Sondernummer La littérature exposée. Les écritures contempora‐ ines hors du livre, hg. v. Olivia Rosenthal u. Lionel Ruffel), auch Littérature, 192, 2018 (= Sondernummer La Littérature exposée 2, hg. v. Olivia Rosenthal u. Lionel Ruffel). Transfers zwischen realem Stadtraum und Literatur auf „deux voies“ beschreibt: „d’une part étudier comment le Musée représente la littérature […]. La deuxième voie consisterait à étudier comment la littérature représente le Musée“. 52 Ha‐ mons Arbeiten haben eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen beeinflusst 53 , denen es um verschiedene Ausprägungen eines „discours littéraire de et sur la collection, le musée et l’exposition“ 54 geht, und die mit narratologischen und (kultur-)semiotischen Ansätzen Interferenzen zwischen Architektur und Lite‐ ratur, Museum und Literatur, Bild und Literatur im 19. Jahrhundert behandeln. Unter diesen ist besonders eine Studie von Bourgeois hervorzuheben, der eine Lektüre realer und literarischer maisons-musées unternimmt: so der (realen) von Gustave Moreau und der (literarischen) der Figur Des Esseintes in Huysmans’ Roman À rebours. Auch durch ihre Korpora sind diese Arbeiten wertvoll: Auf das literarische Referenzsystem des ‚Jahrhunderts der Ausstellung‘ rekurriert noch die Gegenwartsliteratur. 55 Weitere Untersuchungen betrachten Literatur vor dem Hintergrund von und als Teil der Gegenwartskunst. Zu nennen sind besonders die Arbeiten von Nachtergael, Colard 56 und zwei Bände der Zeitschrift Littérature 57 , die sich Überschneidungen von Literatur und exhibition art widmen. Die dort vertretene 26 I Einführung <?page no="27"?> 58 Anders als diese denkt jedoch die vorliegende Arbeit weniger Literatur und Kunstaus‐ stellung zusammen, als Literatur und Literaturausstellung. 59 Eva-Maria Troelenberg: „Images of the Art Museum. Connecting Gaze and Discourse in the History of Museology. An Introduction“, in: dies. u. Melania Savino (Hg.): Images of the Art Museum. Connecting Gaze and Discourse in the History of Museology, Berlin/ Boston: de Gruyter 2017, S. 1-27, hier: S. 12. Vgl. Jean Arnaud: „Manières de dire, manières de raconter“, in: ders. (Hg.): Espaces d’interférences narratives. Art et récit au XXIe siècle, Toulouse: Presses universitaires du Midi 2018, S. 15-33, der sich in einem weitgefassten kultursemiotischen Ansatz mit dem Erzählen in verschiedenen Künsten befasst und eine „sortie du textualisme“ (ebd., S. 22) anstrebt. Dazu widmet er sich Formen des Erzählens etwa in Installationen, geht aber nicht auf die Literatur ein. Vgl. auch weitere Studien zu Theater, Film und Museum: Aurélie Mouton-Rezzouk: „Exposer le théâtre ? “, in: Bernadette Dufrêne u. Jérôme Glicenstein (Hg.): Histoire(s) d’expositions. Exhibitions’ Stories, Paris: Hermann Éditeurs 2016, S. 169-180; Mieke Bal: „Exhibition as Film“, in: Robin Ostow (Hg.): (Re)visualizing national history. Museums and national identities in Europe in the new millennium, Toronto u.a.: University of Toronto Press 2008, S. 15-43. Vgl. Norbert M. Schmitz: „Scottie Sees Beauty. Representations of the Museum in Classic Cinema“, in: Eva-Maria Troelenberg u. Melania Savino (Hg.): Images of the Art Museum. Connecting Gaze and Discourse in the History of Museology, Berlin/ Boston: de Gruyter 2017, S. 289-300. Vgl. zu Museum und Philosophie Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hg.): Das Museum als Provokation der Philosophie. Beiträge zu einer aktuellen Debatte, Bielefeld: transcript 2018. 60 Vgl. Hella Straubel: Zum Museum der Literatur: Schriftstelleranthologien in Deutschland und Frankreich, Heidelberg: Winter 2015. Auffassung einer sich (auch) im Ausstellungsraum ausdrückenden néolittérature wird hier übernommen, um eine nicht an das Medium Buch gebundene Literatur zu bezeichnen (vgl. Kap. II.1.2.). 58 Auch diese Ansätze rücken das ‚Ausstellen‘ in den Mittelpunkt, wohingegen das ‚Museum‘ als Denkfigur unterbelichtet bleibt; die vorliegende Arbeit hingegen versteht die ‚Ausstellung‘ als zentrale, aber nicht einzige Funktion des ‚Museums‘ (vgl. Kap. II.2.). Weiterhin zu erwähnen sind Arbeiten zu ‚musealen Transitzonen‘ in angren‐ zenden Disziplinen: so der Band Images of the Art Museum, der aus Sicht der Museologie auf Museumsrepräsentationen in anderen Medien blickt und dabei auch Praktiken berücksichtigt, bei denen „the aesthetic or visual dimension of the museum as such is utilized or negotiated through an artistic meta-discourse and becomes part of a semiotic system of references within a larger narrative“. 59 Erwähnenswert sind schließlich drei Studien, die jeweils Teilaspekte der vorliegenden Untersuchung behandeln: Straubel versteht das Museum (beson‐ ders das musée imaginaire) als produktive Metapher für von Schriftstellern konzipierte Anthologien. 60 Sie deckt damit den Aspekt des Buchs als Museum ab, der auch in vorliegender Arbeit zu berücksichtigen ist. Quednau widmet sich literarischen und musealen Phänomenen, die das Konzept des imaginären Museums explizit aufgreifen; alle von ihr untersuchten Beispiele „können als 2 Ansatz und Aufbau 27 <?page no="28"?> 61 Anna Quednau: Museen des Imaginären. Zeigen. Erscheinen lassen. Literarisieren, Biele‐ feld: transcript 2022, S.-296. 62 Sandra Potsch: Literatur sehen. Vom Schau- und Erkenntniswert literarischer Originale im Museum, Bielefeld: transcript 2019, S.-60. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd., S.-64. 66 Vgl. Bal: Kulturanalyse; dieser von Bal zusammengestellte Band mit Artikeln unter‐ schiedlicher Herkunft existiert in dieser Form nur in deutscher Übersetzung. Vgl. dies.: Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, New York/ London: Routledge 1996; dies.: The Mottled Screen: Reading Proust Visually, Translated by Anna-Louise Milne, Stanford: Stanford University Press 1997; dies.: „E: Ethics-Exhibiting“, in: dies.: Lexikon der Kulturanalyse, aus dem Englischen von Brita Pohl, Wien/ Berlin: Turia+Kant 2016, S.-33-40. 67 Auch Bal beruft sich auf Hamon, vgl. etwa dies.: Kulturanalyse, S.-73. Literarisierungen im Museum verstanden werden, als ausstellende Romanpro‐ jekte oder die Verbindung von beidem“ 61 . Damit liefert sie nützliche Anknüp‐ fungspunkte, strebt allerdings ebenfalls keine literar-museale Lektüre vor dem Hintergrund eines umfassenden literarischen Werks an. Potschs Arbeit Literatur sehen schließlich geht auf die „ausstellende“ Dimension der Literatur ein, indem sie eine „Öffnung des Interpretations- und Deutungsraums“ 62 hin zu deren materieller Vorstufe vornimmt, dem literarischen Manuskript: Literatur wird hier nicht nur als Erzählraum verstanden, sondern auch „ihre sichtbare Oberfläche, ihre Textur und ihre Materialität [werden] als Zeichen gelesen“ 63 . Diese ‚Grenzüberschreitung‘ des literarischen Interpretationsraums hat sie mit der vorliegenden Arbeit gemeinsam. „Darf man das? “ 64 , fragt Potsch - und gibt selbst die Antwort: Warum […] nicht neben den sprachlichen Zeichen versuchsweise auch die materiellen und visuellen Spuren, neben dem Text auch das Original in die Interpretation aufnehmen? Auf diese Weise würden die materiellen und visuellen Phänomene des Originals selbst zu semiotischen Zeichen, die, ganz ähnlich wie schriftliche Zeichen, auf etwas Immaterielles, Abwesendes verweisen […]. 65 Aufgrund ihres Einflusses sind außerdem die Arbeiten Bals zum Museum, zum Ausstellen, sowie zur Intermedialität und zum transmedialen Erzählen hervorzuheben. 66 In mehreren ihrer auf Deutsch in dem Band Kulturanalyse veröffentlichten Aufsätze denkt sie narratologische und museologische Ansätze zusammen, legt einen kultursemiotischen Blick auf die von ihr beschriebenen Stadttopographien an, und arbeitet so außerliterarische Formen des Ausstellens heraus. 67 28 I Einführung <?page no="29"?> 68 Vgl. etwa Michael Wetzel: Der Autor-Künstler. Ein europäischer Gründungsmythos vom schöpferischen Individuum, Bonn: Bonn University Press 2020. 69 Vgl. etwa Julia Dettke: Raumtexte. Georges Perec und die Räumlichkeit der Literatur, Leiden: Wilhelm Fink 2021. 70 Joachim Rönneper (Hg.): Die Welt der Museen. Literarische Besuche in den Museen der Welt, Frankfurt/ M.: Insel 1993, Christoph Stölzl (Hg.): Menschen im Museum. Eine Sammlung von Geschichten und Bildern, Berlin: Deutsches Historisches Museum 1997; Walter Grasskamp (Hg.): Sonderbare Museumsbesuche von Goethe bis Gernhardt, München: C.H. Beck 2006. 71 François Dagognet: Le musée sans fin, Seyssel: Éditions du Champs Vallon 1984, S.-99-173. 72 Jean Galard (Hg.): Visiteurs du Louvre. Un florilège, Paris: Réunion des musées natio‐ naux/ Seuil 1993; ders. (Hg.): Promenades au Louvre. En compagnie d’écrivains, d’artistes et de critiques d’art, Paris: Robert Laffont 2010, v. a. S. 125-140. Zu nennen ist außerdem Musée du Louvre (Hg.): Petit Pan de mur jaune. 22 écrivains du côté du Louvre, Paris: Musée du Louvre 2010. 73 Serge Chaumier u. Isabelle Roussel-Gillet (Hg.): Le goût des musées, Paris: Le Petit Mercure 2020. Nur knapp erwähnt seien grundlegende museums-, literatur- und kulturwis‐ senschaftliche Studien, die sich durch die gesamte Arbeit ziehen: Einführungen und Übersichtsdarstellungen zum Museum, Theorien der new museology, aktu‐ elle Museumskritik und Überlegungen etwa zur Ausstellung des Autorensub‐ jekts 68 oder der Räumlichkeit der Literatur 69 . Weitere theoretische Bezüge (u. a. Benjamin, Foucault, Barthes, Said, Pratt, Didi-Huberman) ergeben sich entweder aus direkten Bezügen in den analysierten literar-musealen Werken, oder aus ihrer wichtigen Rolle für Literatur- und Museumsdiskurse (man denke etwa an Benjamins ‚Aura‘-Begriff). Zum Überblick über literarische Museumsszenen sind auch verschiedene Anthologien hilfreich: in Deutschland die Bände Die Welt der Museen, Menschen im Museum und Sonderbare Museumsbesuche 70 ; in Frankreich eine Zusammen‐ stellung literarischer und essayistischer Texte in dem Band Le musée sans fin 71 , die Bände Visiteurs du Louvre und Promenades au Louvre 72 , schließlich die 2020 erschienene Anthologie Le goût des Musées, die von Zola und Proust bis Echenoz und Toussaint v. a. französische Beispiele versammelt. 73 Diese Werke bieten nützliche Korpora literarischer Museumsthematisierungen, fußen aber auf einem eher eng gefassten Begriff des Museums und widmen sich diesem vor allem als literarischem Schauplatz. Dadurch bleiben implizite Thematisierungen des Museums unberücksichtigt, und literarische Museumsszenen werden nicht in ihren größeren (Erzähl-)Kontexten sichtbar - seien es die literarischen Topographien der Romane, denen sie entstammen, oder die übrigen Werke ihrer Autoren. 2 Ansatz und Aufbau 29 <?page no="30"?> 74 Gérard Genette: Seuils, Paris: Seuil 1987, S. 332, der so u. a. Barthes, Sartre und Borges bezeichnet. 75 David Ruffel: „Une littérature contextuelle“, in: Littérature, 160, 2010, S. 61-73, hier: S. 62. (= Sondernummer La littérature exposée. Les écritures contemporaines hors du livre, hg. v. Olivia Rosenthal u. Lionel Ruffel) 76 Vgl. Olivia Rosenthal u. Lionel Ruffel: „Introduction“, in: Littérature, 160, 2010, S.-3-13, hier: S. 6-7: „L’‚autre‘ du narratif existe bien entendu, mais il peine à atteindre une visibilité dans l’espace public littéraire car il ne repond pas aux critères génériques et formels étroits qu’un système normatif a mis en place.“ Die Bibliographie umfasst schließlich auch umfangreiche Sekundärliteratur zu den behandelten Autoren. Berücksichtigt wurden insbesondere Artikel und Studien zu Aspekten, die den literar-musealen Komplex thematisieren oder streifen - also etwa Untersuchungen zu intermedialen Fragen, Raum- und Subjektkonzepten oder Autorschaftsdiskursen. Mit Genettes Worten könnte man beide Autoren als „grands communica‐ teurs“ 74 bezeichnen, die ihr Werk in zahlreichen Interviews und Meinungsbei‐ trägen kommentieren und damit selbst zur Situierung ihrer Literatur und ihrer Ausstellungen beitragen. Die Ausrichtung der Arbeit erlaubt es, diese Äuße‐ rungen ebenso in den Blick zu nehmen wie etwa Essays, Zeitschriftenbeiträge, Vorworte zu Kunstkatalogen und weitere Formen einer „littérature qui se fait […] ‚en contexte‘“ 75 - literarische ‚Randerscheinungen‘, die gemeinhin weniger wissenschaftliche und kulturjournalistische Beachtung als das jeweilige Roman‐ werk erfahren. 76 Zur Ausstellungstätigkeit beider Autoren liegt erst wenig Forschungsliteratur vor; trotz ihrer Prominenz und ihrer breiten Rezeption ist ihr künstlerisches Schaffen außerhalb des Buchs bisher wenig untersucht. Wäh‐ rend Toussaints Museumsinterventionen inzwischen vereinzelt thematisiert 30 I Einführung <?page no="31"?> 77 Vgl. David Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre. Les pas de côté du commissaire Toussaint“, in: Recherches & Travaux, 100, 2022, online unter: http: / / jour nals.openedition.org/ recherchestravaux/ 5094; Claire Olivier: „Un ‚hommage visuel au livre‘. Livre/ Louvre de Jean-Philippe Toussaint“, in: Captures, 6/ 2, 2021, online unter: http: / / www.revuecaptures.org/ node/ 5367; Marie-Clémence Régnier: „‚J’ai plus de sou‐ venirs que si j’avais mille ans‘: le musée et ses avatars chez Jean-Philippe Toussaint“, in: L’Entre-deux, 9, 1, 2021, online unter: https: / / www.lentre-deux.com/ ? b=160; Jan Rhein: „Licht und Literatur. Jean-Philippe Toussaints transmediale Museumskritik“, in: Matteo Anastasio u. ders. (Hg.): Transitzonen zwischen Literatur und Museum, Berlin/ Boston: de Gruyter 2021, S. 163-187; Arcana Albright: „Visual Traces of a Literary Manifesto: Jean-Philippe Toussaint’s Livre/ Louvre“, in: Contemporary French and Francophone Studies, 18, 3, 2014, S.-306-313. 78 Dies gilt gerade für den deutschsprachigen Raum, wo Houellebecq in den Jahren 2015 und 2020 in einer Auswertung der meistrezensierten Titel in 25 deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen auf dem ersten Platz lag. Vgl. Veronika Schuchter: „Fünf Ausgaben ‚Literaturkritik in Zahlen’“, in: Literaturkritik.at, 14.03.2022, online unter: https: / / www.uibk.ac.at/ literaturkritik/ zeitschrift/ fuenf-ausgaben--literaturkritik-in-za hlen-.html. 79 Vgl. für eine auf Erich Auerbachs Mimesis aufbauende Charakterisierung des literari‐ schen Realismus Philippe Hamon: Le personnel du roman. Le système des personnages dans les Rougon-Macquart d’Emile Zola, Genève: Droz 1998 [1983], S.-28-30. 80 Die drei Titel Sartres, Perecs und Foucaults stehen hier stellvertretend für die Hinterfra‐ gung von Subjekt und Ding; vgl. Claude Burgelin: Album Georges Perec, Paris: Gallimard 2017, S.-68, der diese drei Titel zusammenführt. wurden 77 , gilt dies bisher kaum für Houellebecq, den wohl meistuntersuchten und -rezipierten Autor 78 der französischen Gegenwartsliteratur. 2.4 Literar-museale Referenzen Die Analyse der literar-musealen Komplexe Toussaints und Houellebecqs er‐ folgt vor einem breiten Horizont literar-historischer Referenzen: Werke, die bereits als Beispiele musealen Erzählens kanonisiert sind, die zur Abgrenzung dienen können und/ oder auf die sich Toussaint und Houellebecq beziehen. Wie schon der Überblick über den Forschungsstand gezeigt hat, und wie noch weiter auszuführen sein wird, kommen Formen literarischer Musealität besonders im französischen Realismus und Naturalismus 79 zur Entfaltung - also im ‚Jahrhun‐ dert der Ausstellung‘, als zugleich das Museum seinen Aufschwung erlebte (vgl. insbes. Kap. II.3.2.3.). Wer aber aus der Gegenwart auf die Literatur des 19. Jahrhunderts blickt, kann nicht vorbeisehen an Nouveau Roman und Tel Quel, an Les Mots (1964), Les Choses (1965) und Les Mots et les Choses (1966). 80 Literatur und Literaturtheorie im Frankreich der 1950er und 1960er Jahre markieren eine Scharnierstelle zwischen dem réalisme des 19. Jahrhunderts und einem retour du réel, an der das literarische Erzählen von Zeit und Raum, Subjekt und Objekt 2 Ansatz und Aufbau 31 <?page no="32"?> 81 Vgl. etwa zur Thematisierung und Ausstellung von Räumlichkeit der Literatur in einigen Werken des Nouveau Roman und der Oulipo-Bewegung Dettke: Raumtexte, S.-109. 82 Robbe-Grillet grenzt sich auch von der Avantgarde des frühen zwanzigsten Jahrhun‐ derts ab, indem er „Flaubert, Dostoïevsky, Proust, Kafka, Joyce, Faulkner, Beckett“ in eine Ahnenreihe stellt. Vgl. ders.: „Nouveau roman homme nouveau“ [1961], in: ders.: Pour un nouveau roman, Paris: Gallimard 1963, S.-143-153, hier: S.-146. 83 Roland Barthes: „L’effet de réel“, in: Communications, 11, 1968, S. 84-89, hier: S. 89: „il s’agit […], aujourd’hui, de vider le signe et de reculer infiniment son objet jusqu’à mettre en cause, d’une façon radicale, l’esthétique séculaire de la ‚représentation‘“. 84 Vgl. Nathalie Sarraute: L’ère du soupçon. Essais sur le roman, Paris: Gallimard 1987 [1956], v.-a. S.-59-66. 85 Vgl. Henri Mitterand: La littérature française du XX e siècle, 2 e édition, Paris: Armand Colin 2007, S.-91. 86 Museum und museales Schreiben spielen eine wichtige Rolle bei beiden; vgl. Joris-Karl Huysmans: À rebours [1884], in: ders.: Romans et nouvelles, Édition publiée sous la direc‐ tion d’André Guyaux et de Pierre Jourde, Paris: Gallimard 2019, S. 535-714; vgl. zu Huys‐ mans Bourgeois: Poétique de la maison-musée; zu Perec Florian Scherübl: „Das Museum des Unvermögens. Musealität des Alltags in Georges Perecs Les Choses“, in: Johanna Stapelfeldt u. a. (Hg.): Museales Erzählen. Dinge, Räume, Narrative, Paderborn: Brill/ Fink 2020, S. 55-73; Dettke: Raumtexte; beide Autoren ‚leben im Raum weiter‘ und haben auch Ausstellungsprojekte inspiriert, etwa die Installation À rebours (Kap. II.3.1.1.1.) oder die Ausstellung L’Œil de Huysmans: Manet, Degas, Moreau (2.10.2020-7.02.2021, Musée d’art moderne et contemporain, Straßburg); vgl. zu Perec Jean-Max Colard: „Perec et l’exposition“, in: Cahiers Georges Perec, 10, 2010, S.-51-65. 87 Vgl. André Guyaux: „À rebours. Notice“, in: Joris-Karl-Huysmans: Romans et nouvelles, Édition publiée sous la direction d’André Guyaux et de Pierre Jourde, Paris: Gallimard 2019, S.-1541-1553, hier: S.-1544-1545, sowie S.-1552. 88 Vgl. Franz Penzenstadler: „Das Leben als Kunst in Bild und Text. George Perecs La Vie mode d’emploi als Alternative zum Nouveau Roman“, in: Lendemains, 140, 2010, S. 44-72; vgl. Jean-Luc Joly: „La Vie mode d’emploi. Notice“, in: Georges Perec: Œuvres, Bd. II, Édition publiée sous la direction de Christelle Reggiani, Paris: Gallimard 2017, S.-1003-1032, hier: S.-1026-1027. radikal hinterfragt wird. 81 Sie zeigen eine Absatzbewegung vom realistischen Erzählen und teils auch vom ‚Erzählen‘ schlechthin 82 , was sich in einer Ambition „de vider le signe“ 83 niederschlägt und u. a. von Sarraute 84 und Robbe-Grillet ausformuliert wird. Mit Joris-Karl Huysmans und Georges Perec seien zwei wichtige Referenzen besonders hervorgehoben, die als „[é]toiles en gravitation libre“ 85 eine unein‐ deutige Stellung zum literarischen Feld und zur literarischen réel-Diskussion ihrer Zeit einnehmen, und deren Werk eine relevante literar-museale Dimension aufweist. 86 Beide sind Grenzgänger: Wie Huysmans angesichts Zolas und des literarischen Naturalismus, von dem er sich später abwandte 87 , nahm Perec im Kontext der Theoriedebatten seiner Zeit und ganz besonders angesichts des Nouveau Roman eine Zwischenstellung ein (vgl. Kap. II.4.1.2.1.2.). 88 Sein 32 I Einführung <?page no="33"?> 89 Vgl. Georges Perec: L.G., une aventure des années soixante, Paris: Seuil 1992; vgl. Claude Burgelin: Album Georges Perec, Paris: Gallimard 2017, S.-55. 90 Georges Perec: La vie mode d’emploi. Romans, Paris: Fayard 2010. [1978] 91 Dettke: Raumtexte, S.-295; vgl. Burgelin: Album Georges Perec, S. 159, vgl. Joly: „La Vie mode d’emploi. Notice“, S. 1021. Joly klassifiziert Perecs Werk als „offenes Kunstwerk“ im Sinne Ecos, als „œuvre participative, interactive, pour ne pas dire hypertextuelle.“ 92 2008 zeigte eine Ausstellung unter ebendiesem Titel von Perec beeinflusste Werke der Gegenwartskunst. Die Liste der vertretenen Künstler - u. a. Fischli&Weiss, Annette Messager, Erwin Wurm, Christian Boltanski - ist lang und zeugt vom Einfluss des Künstlers auf das Feld der Kunst. Vgl. N.N.: „Regarde de tous tes yeux, regarde! L’art contemporain de Perec“, in: Paris Art, o.D., online unter: https: / / www.paris-art.com/ regarde-de-tous-tes-yeux-regarde-lart-contemporain-de-perec/ . 93 Georges Perec: Tentative d’épuisement d’un lieu parisien, Paris: Bourgois [1975]; vgl. Jean-Max Colard: „Écritures in situ“, in: Claude Burgelin u. a. (Hg.) Georges Perec, Paris: Éditions de l’Herne 2016, S.-154-160. 94 Georges Perec: Je me souviens, Paris: Hachette 2009. [1978] 95 Vgl. zu extrême contemporain und littérature contemporaine Simon Daireaux u. Amélie Pacaud: Nouvelles formes du récit. Parcours dans la littérature contemporaine, Paris: Gallimard 2013; vgl. Roswitha Böhm u.a.: „Observatoire de l’extrême contemporain. Ein Ort der Beobachtung, Fokussierung und Entdeckung“, in: dies. (Hg.): Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, Tü‐ bingen: Narr 2009, S. ix-xviii, hier: S. x-xii; vgl. Dominique Viart: „Introduction. Écrire le présent : une ‚littérature immédiate‘? “, in: ders. u. Gianfranco Rubino (Hg.): Écrire le présent, Paris: Armand Colin 2012, S.-17-36. Projekt eines „livre ‚total‘“, konzeptuell in der nie erschienen Literaturzeitschrift La Ligne générale angedacht 89 , und mit La Vie mode d’emploi 90 umgesetzt, strebt nach einer allumfassenden, panoramatischen Erzählung, was auch eine Überschreitung der Grenzen des Buchs und eine dauernde, „selbstreflexive Analogie zwischen Text und Raum“ 91 impliziert. Das diesen romans (so der Untertitel von La vie) vorangestellte Zitat „Regarde de tous tes yeux, regarde“ 92 mag sich an den Lesenden genauso richten wie es dem Autor als Motto dient. Grenzen von Literatur und Buch verschiebt Perec auch mit seinen anderen Werken, sei es durch Praktiken der in situ-Literaturproduktion im öffentlichen Raum (etwa in Tentative d’épuisement d’un lieu parisien) 93 , sei es durch eine explizite Inszenierung der Literatur als Erinnerungensarchiv (Je me souviens) 94 . Diese und andere Texte und Theorien des 19. Jahrhunderts, der 1950er bis 1970er Jahre sowie der ‚Gegenwart‘ 95 bilden einen Referenzrahmen, der somit nicht nur Phasen der Neuausrichtung des Museums (vgl. Kap. II.1.1. u. II.2.1.), sondern auch ‚Reflexionsmomente‘ des literarischen Erzählens abbildet, an denen Fragen der literarischen (Re-)Präsentation intensiv diskutiert werden (vgl. Kap. II.3.1. u. II.4.1.2.1.2.). Dieses Verhältnis der Literatur zur außerli‐ terarischen Realität und zum innerliterarischen réel wird sich als zentrales 2 Ansatz und Aufbau 33 <?page no="34"?> 96 Vgl. André Malraux: Les voix du silence [1947-1951], in: ders.: Écrits sur l’art, I, volume publié sous la direction de Jean-Yves Tadié, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. IV, Paris: Gallimard 2004, S.-198-961. Das musée imaginaire nach Malraux ist nicht nur Substitut eines nicht existierenden Museums, sondern wird selbst zu einem Museum, einem „lieu imaginaire qui n’existe que par lui“, vgl. Joël Loehr: „Le Musée Imaginaire et l’imaginaire du roman“, in: Poétique, 142, 2, 2005, S. 169-184, hier: S. 172; vgl. Jean-Claude Larrat: Sans oublier Malraux, Paris: Classiques Garnier 2016, S. 201-228. In Malraux’ Werk ist das ortlose musée imaginaire selbst ortlos, denn es scheint darin an verschiedenen Stellen auf: Zuerst erwähnt wurde es im ersten Teil (der 1947 auch separat erschienenen) Trilogie Psychologie de l’art (gemeinsam mit den Bänden La Création artistique und La Monnaie de l’absolu, erschienen bis 1949). 1951 wurden diese drei Bände zu Les voix du silence zusammengefasst und um den Abschnitt Les Métamorphoses d’Apollon erweitert. Anschließend wurde der Titel erneut aufgegriffen und für die Trilogie Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale (1952-54) genutzt. Vgl. Walter Grasskamp: André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon, München: C.H.Beck 2014, S.-47. 97 Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld, München: Hanser 2008; ders.: Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul, München: Hanser 2012; Pamuks Museum der Unschuld als wohl prominentestes Beispiel eines literar-musealen Komplexes in der Gegenwartsliteratur hat inzwischen eine ganze Reihe an Untersu‐ chungen hervorgebracht. Vgl. Quedeau: Museen des Imaginären, S. 249-288; Ulrike Vedder: „Poetik des Sammelns und der Liebe. Orhan Pamuks Museum der Unschuld“, in: Johanna Stapelfeldt u. a. (Hg.): Museales Erzählen. Dinge, Räume, Narrative, Paderborn: Brill/ Fink 2020, S. 95-112; Olaf Mückhain: „Die Sprache der Dinge. Orhan Pamuks Museum der Unschuld“, in: Britta Hochkirchen u. Elke Kollar (Hg.): Zwischen Materia‐ lität und Ereignis. Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen, Archiven, Bielefeld: transcript 2015, S. 103-122; Charlotte Chastel-Rousseau: „Vertiges et vestiges d’Istanbul. Orhan Pamuk ouvre son musée secret“, in: Grande Galerie. Le Journal du Louvre, 21, 2012, S.-58. 98 Mückhain: „Die Sprache der Dinge“, S. 118; vgl. Quedneau: Museen des Imaginären, S.-288. Differenzkriterium zwischen Toussaint und Houellebecq erweisen (vgl. u. a. Kap. III.3.1.1.2. u. IV.1.3.). Punktuell herangezogen werden auch weitere Beispiele literar-musealer Komplexe oder literarischer Musealität zwischen buchgewordenem Museum (etwa André Malraux’ Musée imaginaire 96 , eine Erweiterung des Museums ins Buch) und museumgewordenen Buch (etwa Orhan Pamuks Museum der Un‐ schuld 97 , eine „Verlängerung der Poesie in die Welt“ 98 ). Zwischen diesen beiden Polen situieren sich Texte so unterschiedlicher Autorinnen und Autoren wie Marcel Proust, Cécile Wajsbrot, Édouard Levé oder Annie Ernaux. Wenigstens in kurzen Zitaten werden auch entlegenere Beispiele berücksichtigt - verbunden mit der symbolischen Absicht, den durch zwei etablierte, vieluntersuchte, kanonisierte Autoren gesteckten Horizont der Studie zu weiten. 34 I Einführung <?page no="35"?> 99 Wetzel: Der Autor-Künstler, S. 15; vgl. McIsaac: Museums of the Mind, S. 256, der in seinem Fazit unterstreicht, dass „[o]ne thing that the persistent literary perception of collecting and exhibiting as a ‚masculine domain‘ might express is that a power asymmetry inheres to accumulation and display“ (ebd.). 100 Bemerkenswert ist etwa, dass in der langen Geschichte des Louvre erst 2021 mit Laurence des Cars die erste Leiterin des Museums gewählt wurde. Vgl. für eine historische Perspektive etwa Charlotte Foucher Zarmanian: „Le Louvre des femmes. Sur quelques présupposés à l’égard des femmes dans les musées en France au XIX e siècle“, in: Romantisme, 173, 3, 2016, S. 56-67. Vgl. zur Situation in Deutschland, besonders bezogen auf Literaturmuseen Zeissig: Die Zukunft der Literaturmuseen, S.-12-13. 2.5 Erfolgreich, männlich, gegensätzlich: Warum Toussaint und Houellebecq? Die beiden Autoren Toussaint und Houellebecq sind aus zahlreichen prak‐ tisch-konzeptuellen wie auch ästhetisch-inhaltlichen Gründen geeignet, um literar-museale Aspekte herauszuarbeiten und zu vergleichen. Ihre Ausstellungen fanden jeweils in großen Pariser Museen und in zeitlicher Nähe (2012 und 2016) statt. Beide erhielten carte blanche und verfügten über eine relativ große Autonomie bei der Konzeption ihrer Ausstellung (vgl. Kap. III.1. u. IV.1.1.); dass sie ihre Ausstellungen als ‚Werke‘ autorisieren, wird sich u. a. an ihren Selbstäußerungen und Begleitpublikationen zu den Ausstellungen zeigen. Ihr Werk ist jeweils umfangreich, wodurch durchgängige Tendenzen, aber auch Zäsuren darin erkennbar werden, und sich die Ausstellungen nicht nur mit einzelnen literarischen Titeln, sondern mit übergreifenden ästhetischen Verfahren oder Motiven zusammendenken lassen. Da Autorenausstellungen auch Autorenselbstausstellungen sind, ist das öf‐ fentliche Bild des Autors im Kontext des literar-musealen Komplexes einzu‐ beziehen (vgl. v. a. Kap. II.4.1.1.3.). Aus diesem Grund sind Prominenz und öffentliche Sichtbarkeit beider Figuren relevante Faktoren, die nicht nur als Einladungsgrund ins Museum, sondern auch als Thema beider Ausstellungen eine Rolle spielen. Dass beide Autoren männlich sind, spiegelt wider, was auch Wetzel in seiner Untersuchung feststellt: „ein Bild maskuliner Macht-Dispositive […], in dem weibliche Kreativität gerade ausgeschlossen wurde“ 99 - und teilweise noch wird. Gerade die ‚Maskulinität‘ von Museen und (Literatur-)Ausstellungen - wie auch ihre meist westliche, eurozentristische Ausrichtung - ist Ausdruck einer Gleichgewichtsstörung, die diese bis heute prägt - sowohl, was ihre Strukturen und ihr (Leitungs-)Personal 100 , als auch, was die ausstellenden und ausgestellten Autorinnen und Autoren betrifft 101 : Ein vergleichbarer literar-mu‐ 2 Ansatz und Aufbau 35 <?page no="36"?> 101 Vgl. z.-B. Roswitha Muttenthaler u. Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsen‐ tation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2007. 102 Unter den bisher in große französische Museen eingeladenen Künstlerinnen war mit Toni Morrison bislang erst eine (jedoch anglophone) Autorin; vgl. zu dieser Ausstellung die Vorlesung von Bénédicte Savoy: „Histoire mondiale du Louvre“, Teil 9, Collège de France, Paris, 28.6.2021, Min. 39: 00-48: 00, online unter: https: / / www.college-defrance.fr/ agenda/ cours/ histoire-mondiale-du-louvre/ fecondations; zwar wurden schon Autorinnen als ‚Gastkuratorinnen‘ eingeladen, zeigten aber keine eigenen Werke, vgl. etwa die Ausstellung „Regards sur une collection. Christine Angot invitée au musée Delacroix“ (15.9.2017-8.1.2018). 103 Vgl. Vedder: „Poetik des Sammelns und der Liebe“, S.-107. sealer Komplex einer (frankophonen) Autorin existiert bisher schlicht nicht. 102 Diese ‚museale Männlichkeit‘ wird auch in den beiden Werkkomplexen ins Bild gesetzt, etwa in Toussaints Museums-Fotografie Quelques amis (Kap. III.3.1.) oder in der Beschreibung eines Museumsempfangs in Houellebecqs Soumission (vgl. Kap. IV.4.1.). Inwiefern darin Metakommentare (oder bloß Reproduktionen) aktueller Museumsbilder aufscheinen, ist zu diskutieren. In der Literatur beider Autoren jedenfalls wird ein musealer male gaze unterschiedlich umgesetzt, für Formen der literarischen Exposition genutzt (vgl. Kap. IV.3.2.3.) und bei Toussaint auch dekonstruiert (vgl. Kap. III.4.1.2.). Auch die jeweiligen Ausstellungsorte sind von Bedeutung, denn sie ermög‐ lichen einen ‚intermusealen‘ 103 Vergleich; in der Pariser Museumslandschaft konzentrieren sich zahlreiche Museen, die für Museumsdiskurse der vergan‐ genen Jahrzehnte prägend waren - sei es das Centre Pompidou, das Musée du quai Branly oder die Fondation Louis Vuitton. Innerhalb dieses Spektrums bilden das Musée du Louvre und der Palais de Tokyo zwei Extrempole: einerseits das meistbesuchte Museum der Welt, das bis heute von der Strahlkraft seiner Dauerausstellung zehrt, und mit seinen Filialen den Export eines bestimmten Museums- und Weltdeutungsmodells betreibt (vgl. Kap. II.2.1.); andererseits ein Ort, an dem im Sinne einer esthétique relationnelle Aushandlungsprozesse zwischen Kunst und Besuchern befördert werden (vgl. Kap. IV.1.1.). Diese sehr unterschiedlichen Schauplätze prägen die konkreten Ausstellungen und spannen ein Feld (möglicher) Museen und (literarischer) Museumsbilder auf. Und schließlich unterscheiden sich beide Ausstellungen signifikant in ihrer Anlage, Szenografie und Schwerpunktsetzung, wie schon die Titel Livre/ Louvre und Rester Vivant signalisieren: Bei Toussaint steht das Buch im Mittelpunkt, bei Houellebecq die Erzählung. Der eine Titel fokussiert Objekt und Raum, der andere Subjekt und Zeit. 36 I Einführung <?page no="37"?> 104 Der Einfluss dieser Literaturströmung auf beide Autoren wird etwa an deren jeweils expliziter Auseinandersetzung mit dem Tod Alain Robbe-Grillets im Jahr 2008 deutlich (Houellebecq in seinem Aufsatz „Coupes de sol“, Toussaint in seinem Roman Made in China); vgl. Kap. III.3.1.1.1. u. IV.1.3. 105 Vgl. Jan Rhein: „Räume und Realitäten bei Jean-Philippe Toussaint“, in: Julia Brühne u. a. (Hg.): Re-Konstruktion des Realen. Die Wiederentdeckung des Realismus in der Romania, Göttingen: Mainz University Press/ V&R 2021, S. 303-317, hier: S. 303; vgl. im selben Band Julia Brühne u.a.: „Re-Konstruktionen und Realismus heute. Varianten in der Ro‐ mania“, S. 9-17, sowie Wolfgang Asholt: „Michel Houellebecq. Eine ‚Wiederentdeckung‘ des Realismus? “, S.-345-343. 106 So könnte man mit Gödel/ Lamp knapp zusammenfassen: Wird bei Toussaint die Realität „vom realen Weltganzen ab- und in die Sprache hineingezogen“, so im Fall Houellebecqs „rückgebunden an den Autor und an die Geschichte“ (Florian Gödel u. Christian Lamp: „Realität“, in: Patrick Durdel u. a. (Hg.): Literaturtheorie nach 2001, Berlin: Matthes & Seitz 2020, S.-109-116, hier: S.-111-112); vgl. Rhein: „Räume und Realitäten“, S.-314. Neben diesen das ‚Äußere‘ literar-musealer Komplexe betreffenden Aspekten lassen sich auch literarisch-ästhetische Gründe für die Wahl der Autoren anführen: Musealität bedeutet künstliche und künstlerische Welterzeugung und -repro‐ duktion, (Re-)Präsentation und Repräsentanz (vgl. Kap. II.3.1.); der Blick auf literarische Musealität impliziert demnach auch die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, nach der Repräsentationskapazität der Literatur, aber auch nach den Weltbezügen innerliterarischer Subjektinstanzen. Dieser für die Musealität der Literatur und in der Literatur entscheidende Aspekt ist ein deutliches Differenzkriterium zwischen Houellebecq und Toussaint. So hat bei beiden der Nouveau Roman unterschiedliche Spuren hinterlassen. 104 Nach dessen Absage an den Realismus des 19. Jahrhunderts schlug die französische Li‐ teratur verschiedene Richtungen ein, und zwischen den Labels eines renouveau du réalisme, eines retour du réel und eines renouveau romanesque repräsentieren Toussaint und Houellebecq zwei gegensätzliche Tendenzen 105 , sowohl bezüglich ihres unterschiedlichen Umgangs mit einem innerliterarischen réel, als auch mit einem literarischen Realismus. 106 Dies soll mit einer Fokussierung auf Aspekte der Musealität noch genauer herausgearbeitet werden. Beide Autoren betätigen sich jeweils in mehreren Kunstfeldern (vgl. Kap. III.2. u. IV.2.1.1.), und Kunst, Kunstmarkt und Museum spielen in ihrer Literatur eine Rolle. Damit zusammenhängend, thematisieren sie - in der Ausstellung, in der Literatur, in ihren poetologischen Schriften und öffentlichen Äußerungen - die eigene Eventisierung auf dem Literaturmarkt, ihren Platz in der Literatur(-ge‐ schichte), aber auch ihre Schreibverfahren, die Materialität ihrer Literatur und weitere für den literar-musealen Kontext relevante Aspekte. 2 Ansatz und Aufbau 37 <?page no="38"?> 107 Vgl. Genette: Seuils, S.-337-340. 108 Vgl. Jochen Mecke u. Anne-Sophie Donnarieix (Hg.): La délocalisation du roman. Esthétiques néo-exotiques et redéfinition des espaces contemporains, Berlin: Peter Lang 2020; darin zu Toussaint Andreas Gelz: „‚Comme une scène de théâtre vide’? - le Japon et la Chine dans l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint (Made in China, 2017, La Clé USB, 2019)“, S. 57-69; zu Houellebecq Frédéric Martin-Achard: „Uniformisation du discours, standardisation du monde : banalités et clichés touristiques dans quelques romans contemporains (Houellebecq, Rolin, Fabcaro)“, S.-71-84. 109 Der Museums-‚Boom‘ seit den 1970er Jahren hat einerseits zu einem ‚Kulturexport‘ des europäischen Museums in andere Weltteile geführt (vgl. Kap. II.2.1.), andererseits zu einer Ausweitung von den Metropolen in die Provinz. Vgl. Pomian: Le musée, I, S. 42-43. 110 Vgl. Niklas Maaks Rezension, die dies bereits im Titel auf den Punkt bringt: „Die Weisheit der Badezimmerfliesen. Jenseits aller Kampfzonen. Der große belgische Beide Autoren beteiligen sich aktiv an der Festschreibung ihres Werks. Als Teil dieser Selbstsituierungen spielen ihre Ausstellungen als „[a]utocommen‐ taires tardifs“ 107 eine Rolle - aber eben auch als Bestandteile einer werküber‐ greifenden néolittérature. Diese intermedialen und metareflexiven Dimensionen versprechen einen Erkenntnisgewinn und eine produktive Lektüre der Literatur durch das Museum und vice versa. Das Werk beider Autoren steht für eine délocalisation des metropolitanen Romans. 108 Obwohl sehr unterschiedlich umgesetzt, ist jeweils eine literarische Topographie zu erkennen, in der Paris und/ oder europäische Zentralität noch immer prägend sind, dabei in unterschiedlicher Weise hinterfragt werden, wodurch sich Analogien zwischen literarischen und musealen Topographien herausarbeiten lassen (vgl. Kap. II.2.1., III.4.3.2., IV.3.3.1.). 109 Auch zeigen beide Autoren ein Interesse für detailliert herausgearbeitete literarische Räume, ins‐ besondere für Hotels, Flughäfen oder andere non-lieux (vgl. Kap. II.4.2.1.1.4.), sowie auch für Inseln als erzählerische Sonderzonen - mithin eine besondere Aufmerksamkeit für die Kategorien des ‚Innen‘ und des ‚Außen‘, des ‚Privaten‘ und des ‚Öffentlichen‘. Diese Raumaspekte sind für literarische Musealität entscheidend (vgl. u.-a. Kap. III.4.3.3., IV.3.3.2.). In Bezug auf literarische Subjektthematisierungen bestehen ebenfalls Ähn‐ lichkeiten, die sich bei näherer Betrachtung als Unterschiede herausstellen: Ihre Werke verfügen über männliche, europäische Hauptfiguren, die mit markanten Charaktereigenschaften ausgestattet sind. Die impassibilité ihrer Hauptfiguren ist ein Charakteristikum der Literatur Toussaints, und der houellebecqsche Mann in der midlife-crisis stellt schon fast eine eigene Sozialfigur der Literatur‐ geschichte dar. Dabei könnte aber das literarisch vermittelte Weltbild beider Autoren kaum weiter voneinander entfernt sein - in ihrer réticence leiden die toussaintschen Charaktere nicht an jenen ‚Kampfzonen‘ der Gegenwart, die die houellebecqschen Figuren gemeinhin in die Depression treiben. 110 Dennoch 38 I Einführung <?page no="39"?> Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint und sein neuer Roman ‚Fuir‘“, in: FAZ, 23.10.2005, S. 30; vgl. Michel Biron: „L’effacement du personnage contemporain. L’exemple de Michel Houellebecq“, in: Études françaises, 41, 1, 2005, S. 27-41, hier: S. 41: Der houellebecqsche Protagonist „s’évanouit de lui-même, corps et âme, il se déteste comme il déteste le monde dans lequel il se trouve. Ce qui, vers 1950, pouvait constituer une expérimentation formelle est devenu aujourd’hui une nécessité ontologique“. Vgl. Anne Amend-Söchting: Ichkulte. Formen gebündelter Subjektivität im französischen Fin de Siècle-Roman, Heidelberg: Winter 2001, S. 345: Amend-Söchting beobachtet anhand Toussaints Monsieur, der Rückzug aus der Welt bleibe hier - anders als etwa bei Huysmans oder Houellebecq - „pures Spiel. Monsieur holt die Welt in sein Ich, erlangt eine gewisse Zufriedenheit nur auf der Stufe der Ataraxie, der gleichmütigen Indifferenz, die es ihm weiterhin erlauben wird, Komponenten der Welt kommentarlos in sein Ich aufzunehmen, ohne sich davon zersetzen zu lassen.“; vgl. Rhein: „Räume und Realitäten“, S.-308. 111 Vgl. Markus Messling: Universalität nach dem Universalimus. Über frankophone Litera‐ turen der Gegenwart, Berlin: Matthes&Seitz 2019, S.-54. 112 Ebd., S.-56. 113 Messling verweist etwa auf die Sieger des Prix Goncourt der letzten Jahre: Littell (2005), Leroy (2007), Houellebecq (2010), Jenni (2011), Ferrari (2012), Enard (2015); vgl. ebd., S. 53-54. Er resümiert, dass „die überwältigende Zahl der genannten Titel in den Bereich dessen fallen, was man als einen Anfang der 1980er-Jahre aufkommenden, sich seit 1989 immer deutlicher etablierenden Neorealismus […] bezeichnen kann […]. Die Intensität, die diese Literatur hervorbringt, ist eine Melancholie des Verlusts. Verloren gegangen ist die Möglichkeit, in der Welt Individualität und aus der Welt Sinn zu schöpfen“ (ebd., S.-56). 114 Vgl. Daniel Tyradellis: Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern können, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2014. kann man in beiden Fällen von subjektbasierten Krisendiskursen im Zeichen eines „Weltverlusts“ 111 sprechen. Messling liest derartige Beispiele als „Kom‐ pensationsliteraturen im Zeichen der europäischen Melancholie“ 112 , die in der jüngsten Vergangenheit Konjunktur haben. 113 So kann man diese Abgesänge auf den ‚alten weißen Mann‘ und das alte Europa durchaus in Verbindung mit Krisendiskursen zum europäischen, ‚müden‘ Museum 114 sehen (vgl. Kap. II.2.1.). Ohne also in Bezug auf zeitgenössische, französische, literar-museale Be‐ ziehungen Repräsentativität anzustreben, ermöglichen beide Beispiele doch die Darstellung zweier auseinanderliegender, dabei aber vergleichbarer Ausprä‐ gungen literar-musealer Komplexe, was zudem auf eine Übertragbarkeit auf andere Werke und Autoren hoffen lässt. 2 Ansatz und Aufbau 39 <?page no="41"?> II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="43"?> 115 Vgl. Olivia Rosenthal u. Lionel Ruffel (Hg.): La littérature exposée. Les écritures contemporaines hors du livre (= Sonderausgabe der Zeitschrift Littérature, 160, 2010). 116 Gustave Flaubert: Le Dictionnaire des idées reçues et Le Catalogue des idées chic, Paris: LGF 1997 [1913], S. 106; Flauberts ironische Notiz zum Musée de Versailles verweist darauf, dass dieses schon im 19. Jahrhundert Gegenstand museologischer Debatten war; vgl. Anne Herschberg Pierrot: „Notes“, in: Gustave Flaubert: Le Dictionnaire des idées reçues et Le Catalogue des idées chic, Paris: LGF 1997, S.-145-230, hier: S.-209. 117 Vgl. Jeff Koons: Versailles, Paris: Éditions Xavier Barral 2008; Maryse Fauvel: Exposer l’‚Autre‘: essai sur la Cité nationale de l’histoire de l’immigration et le Musée du quai Branly, Paris: L’Harmattan 2014, S. 13; vgl. Jean-Max Colard u. Judicael Lavrador: „L’impromptu de Versailles“, in: Les Inrockuptibles, 668, 2008, S.-76-77. 118 Ulrike Vedder: „Museum/ Ausstellung“, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd.-7, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S.-148-190, hier: S.-174. 119 Bal: Kulturanalyse, S. 77-78; vgl., bezogen auf die Literatur, Messling: Universalität nach dem Universalismus, v. a. S. 16-17; vgl., bezogen auf das Museum, Jean-Loup Amselle: Le musée exposé, Paris: Lignes 2016, v.-a. S.-45-65. 1 Zugänge und theoretische Grundierungen Die folgenden Überlegungen sollen als ‚Hinführung‘ das Feld abstecken, in dem sich literar-museale Komplexe situieren: Angestrebt wird die Kontextuali‐ sierung des Phänomens der Autorenausstellung im literarischen und musealen Feld (Kap. II.1.1.), sowie vor diesem Hintergrund die Etablierung grundlegender theoretischer Ansätze (Kap. II.1.2., II.1.3., II.1.4.). 1.1 ‚Ausgeweitete Kampfzonen‘ zwischen new museology und littérature hors du livre 115 Als Jeff Koons 2008 eingeladen war, im Château de Versailles auszustellen, und an diesem Ort der „hauts faits de la gloire nationale“ 116 unter anderem mehrere Staubsaugermodelle in einer Vitrine präsentierte 117 , mag dies fast so surreal gewirkt haben wie die berühmte Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch. Die Ausstellung des modernen Massenpro‐ dukts an einem alten, einmaligen Ort illustriert in seiner Widersprüchlichkeit einen nicht abgeschlossenen (Selbst-)Deutungsprozess des Museums, das im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart Objekt von Debatten und „Kultur‐ kämpfen“ 118 zwischen Kulturschaffenden, Museologen, Repräsentierenden und Repräsentierten war und ist. Angesichts von „postromantischer Kritik“, „postkolonialem Protest“ und „postmoderner Desillusionierung“ 119 stellen sich Fragen der Repräsentation und Repräsentanz 120 , die viele Museen selbst längst aufgegriffen haben: Die kritischen Perspektiven der new museology ab den 1980er Jahren und speziell in Frankreich schon etwas früher einer muséologie nouvelle 121 , die iconic, spacial, 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 43 <?page no="44"?> 120 Vgl. James A. Boon: „Why Museums Make Me Sad“, in: Ivan Karp u. Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting cultures. The poetics and politics of museum display, Washington D.C.: Smithsonian Institution Press 1991, S. 255-277; Zeissig: Die Zukunft der Literaturmuseen. 121 Vgl. zur Abgrenzung von new museology und muséologie nouvelle, die speziell auf die Öffnung des Museums zu benachteiligten Bevölkerungsgruppen abzielt Thomas Thiemeyer: „Das Museum als Wissens- und Repräsentationsraum“, in: Markus Walz (Hg.): Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart: Metzler 2016, 18-21, hier: S. 20. Vgl. zur new museology auch te Heesen: Theorien des Museums, S.-147-148; vgl. Kap. II.2.1. 122 Vgl. Nora Sternfeld: „Erinnerung als Entledigung. Transformismus im Musée du quai Branly in Paris“, in: Belinda Kazeem u. a. (Hg.): Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale Museologien, Wien: Turia+Kant 2009, S.-61-76, hier: S.-70. 123 Vgl. etwa den Band Das Museum der Zukunft von 1970, der kürzlich einer Revision unterzogen wurde: Vgl. Schnittpunkt u. Joachim Baur (Hg.): Das Museum der Zukunft. 43 neue Beiträge zur Diskussion über die Zukunft des Museums, Bielefeld: transcript 2021. 124 Vgl. Jean-Max Colard u. Judicael Lavrador: „L’impromptu de Versailles“, S. 77: „si l’art contemporain gagne en légitimité à s’inviter au château, les trésors du patrimoine en profitent pour dynamiser le retour du public parisien et francilien dans un Versailles confisqué par le tourisme.“ 125 Vgl. zu weiteren Beispielen Julie Bawin: L’artiste commissaire, entre posture critique, jeu créatif et valeur ajoutée, Paris: Édition des archives contemporaines 2014, S. 260-261; vgl. Frédéric Vincent: L’artiste-curateur. Entre création, diffusion, disposition et lieux, Paris: Paris I Panthéon-Sorbonne 2016, S.-12; vgl. Rhein: „Licht und Literatur“, S.-163. 126 So Alain Robbe-Grillet 2000 im Kunstmuseum Bergen, Marie Darrieussecq 2016 im Musée des Beaux-Arts de Paris, Christine Angot im Musée Delacroix; vgl. Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S. 1; Jérôme Coignard: „Arts et lettres: les écrivains s’exposent“, in: Connaissance des Arts, 749, 2016, S. 52-61. Vgl. die Tagung L’Écrivain commissaire, Brüssel, 11.5.2019, deren Vorträge online abrufbar sind: https: / / www.litteraturesmodesdemploi.org/ rencontres-a-venir/ rencontres-anterieures / lecrivain-commissaire/ . material, performative und postcultural turns der Kulturwissenschaften - all dies hat zu einem reflexive turn 122 der großen Museen hin zu postmodernen Reflexionsorten und ‚Meta-Museen‘ beigetragen; eine Entwicklung, die bis heute im Gange ist - und eigentlich erst richtig an Fahrt aufnimmt. 123 In diesem Sinne ließe sich vielleicht auch die Staubsauger-Vitrine als metareflexiver Kommentar zu den Bemühungen einer - ‚verstaubten‘? - Institution verstehen, sich zur Gegenwart zu öffnen. 124 Im Zuge ihrer (Selbst-)Hinterfragung öffnen sich die Museen, etwa durch De‐ zentralisierung, spektakuläre Architektur (vgl. Kap. II.2.1.) oder die Einladung externer ‚Gaststars‘ als Ausstellungsmacher. Neben prominenten Modeschöp‐ fern (Christian Lacroix im Musée Réattu, Arles, 2008), Filmregisseuren (Wim Wenders im Grand Palais, Paris, 2019) oder Fußballspielern (Lilian Thuram im Musée du quai Branly, Paris, 2011) 125 wurden in den vergangenen Jahren gelegentlich auch Autoren als Gastkuratoren eingeladen. 126 Karl Ove Knausgård, 44 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="45"?> 127 „Towards the forest - Knausgård on Munch“, Munchmuseet, Oslo, 06.05.2017 - 08.10.2017. 128 Karl Ove Knausgård: So much longing in so little space. The art of Edward Munch. Translated from the Norvegian by Ingvild Burkey, New York: Penguin 2019 [2017], S.-129. 129 Ebd., S.-130. 130 Jede dieser Ausstellungen wurde auch von einer Publikation begleitet, indem die Autorinnen und Autoren unterschiedlich intensiv mitwirkten, und die in der Regel in coédition zwischen dem jeweiligen Hausverlag und Louvre Éditions herausgegeben wurde; eine Ausnahme bildet hier Toussaints Band La Main et le Regard. Livre/ Louvre, Paris: Louvre Éditions/ Le Passage 2012; vgl. Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S.-2-; vgl. Kap. III.1. 131 Vgl. Valérie Coudin: „Un cinéaste persan au Louvre“, in: Grande Galerie. Le Journal du Louvre, 21, 2012, S.-60. 132 Vgl. Adrien Goetz: „Au musée avec Amin Maalouf. ‚Un mélange de passion, d’érudition et de subtilité’“, in: Grande Galerie. Le Journal du Louvre, 21, 2012, S.-52-56. 133 Vgl. Chastel-Rousseau: „Vertiges et vestiges d’Istanbul“. 134 Vgl. Marcella Lista: „Walid Raad. Une méditation sur les Arts de l’Islam“, in: Grande Galerie. Le Journal du Louvre, 22, 2013, S.-22-23. 2017 für eine Ausstellung des Osloer Munch-Museums engagiert 127 , thematisiert in einem in der Folge entstandenen Buch, dass für die Einladung nicht seine kunsthistorische Kompetenz ausschlaggebend gewesen sein dürfte: Although I have never done anything similar, not even anything remotely like it, and although I didn’t know exactly what it would entail, I said yes without a second thought. It was a clear case of hubris, for my only qualification was that I liked looking at paintings and often browsed through art books. 128 Auch hier erscheint als Grund für das Engagement eine angestrebte Neuaus‐ richtung des Museums, beglaubigt durch den Schriftsteller: In a few years the whole museum was to move to a brandnew, modern building, and that was why I had been invited to curate, […] they wanted to take the opportunity to upend everything by inviting people from the outside […]. 129 In ähnlicher Weise lässt auch der Louvre seine strategische Neuausrichtung von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern begleiten. Indirekt und implizit durch große Einzelausstellungen von Toni Morrison (2006), Umberto Eco (2009), Jean-Marie Gustave Le Clézio (2011) und eben Toussaint (2012) 130 , oder explizit als ‚Begleitprogramm‘ seiner Neuausrichtung: So wurde etwa die Eröffnung des neuen „Département des Arts de l’Islam“ im Herbst 2012 von einer Filmreihe des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami 131 , einem Gespräch mit Amin Maalouf 132 , einem Vortrag und einer szenischen Lesung Orhan Pamuks 133 , sowie schließlich einer Ausstellung des Künstlers Walid Raad begleitet 134 , wobei in 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 45 <?page no="46"?> 135 Vgl. zu Raads literar-musealem Projekt Jean-Max Colard: „De la préface d’exposition à l’exposition préface“, in: Marie-Pier Luneau u. Denis Saint-Amand (Hg.): La Préface. Formes et enjeux d’un discours d’escorte, Paris: Classiques Garnier 2016, S. 359-385, hier: S.-375-376. 136 Vgl. James Putnam: Art and Artifact. The Museum as Medium. Revised Edition, London: Thames&Hudson 2009 [2001], S.-132. 137 Vgl. Maryse Fauvel: Scènes d’intérieur. Six romanciers des années 1980-1990, Birmingham: Summa Publications 2007. Vgl. Paul: Poetry in the Museums of Modernism, die ähnlich argumentiert. 138 Es scheint passend, dass Houellebecq das Vorwort zum Ausstellungskatalog Koons‘ verfasst hat: Michel Houellebecq: „Jeff Koons par Michel Houellebecq. Versailles 18 Juin 2008“, in: Jeff Koons: Versailles, Paris: Éditions Xavier Barral 2008, S.-15-21. 139 Vgl. dazu I.M. Pei u.a.: L’invention du Grand Louvre, Paris: Odile Jacob 2001. 140 Vgl. Colin Davis u. Elizabeth Fallaize: French Fiction In The Mitterand Years. Memory, Narrative, Desire, New York: Oxford University Press 2000, S. 7-9, die die Literatur der Mitterand-Jahre ebenfalls vor dem Hintergrund der kulturellen Transformation von Paris und des Louvre lesen. Vgl. Régnier: „Ce que le musée fait à la littérature“, S. 9, die von einer „Musealisierung der Literatur“ ausgeht, welche sie mit einer Öffnung des Museums zur Welt, einer déterritorialisation des Museums selbst engführt. In Bezug auf das 19. Jahrhundert argumentieren ähnlich auch Marta Caraion: „Objets en littérature au XIX e siècle“, in: Images Re-vues, 4, 2007, S. 1-20, hier: S. 6, sowie Hamon in seinen Studien Expositions und Imageries. 141 Vgl. Wolfgang Asholt: „Une littérature de risques ou les risques de la modernité? A propos du premier roman de Michel Houellebecq Extension du domaine de la lutte“, in: Lendemains, 142/ 143, 2011, S. 18-31, hier: S. 19, der festhält, „[qu’il] est donc de Hinblick auf literar-museale Beziehungen besonders die beiden Letztgenannten hervorzuheben sind, die in ihrem Werk die Grenzen der Literatur hin zum Mu‐ seum (Pamuk) und der bildenden Kunst hin zur Literatur (Raad) überschreiten. 135 Sie alle beglaubigen die Ambition einer Schwerpunktverlagerung des Louvre im Kontext (schon lange) geänderter Weltordnungen und damit (sich langsam) ändernder Sammlungs- und Ausstellungsstrategien. 136 Folgt man Fauvel 137 , so sind etwa die Texte Toussaints und die Neuausrichtung eines Museums wie dem Louvre, aber auch die ‚Eventliteratur‘ Houellebecqs und die Einladung Koons’ nach Versailles 138 , durchaus im Zusammenhang zu sehen. In ihrem Band Scènes d’intérieur liest sie die von ihr behandelten Autorinnen und Autoren - darunter Toussaint - im Kontext der erstarkten französischen Kulturpolitik der 1980er Jahre: die Erhöhung des Kulturbudgets durch Jack Lang, die städtebaulichen Großprojekte François Mitterands wie die Transformation des Louvre 139 oder Daniel Burens Les Deux Plateaux (1985) im Hof des Palais Royal. 140 Sie impliziert, dass Literatur in Teilen ihre jeweilige Gegenwart reflektiert 141 , und darum von kulturpolitisch gesteuerten Tendenzen mitgeprägt ist. 46 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="47"?> nouveau possible de proclamer que la littérature en dit plus sur l’esprit du temps et sur le mouvement de la société que bien des ouvrages de sociologie ou d’histoire.“- 142 Vgl. Gilles Lipovetsky: L’ère du vide. Essais sur l’individualisme contemporain, Paris: Gallimard 1989 [1983], v.a. S.-54-56, zur Transformation des Museums auch ebd., S.-37-39. 143 Vgl. Fauvel: Scènes d’intérieur, S. 5-6; vgl. Jean Baudrillard: La société de consommation, Paris: Folio 2018 [1970], S. 17: „Il y a aujourd’hui tout autour de nous une espèce d’évidence fantastique de la consommation et de l’abondance, constituée par la mul‐ tiplication des objets, des services, des bien matériels […]. A proprement parler, les hommes de l’opulence ne sont plus tellement environnés, comme ils le furent tout le temps, par d’autres hommes que par des OBJETS“. 144 Vgl. Guy Debord: La Société du Spectacle, Paris: Gallimard 1992 [1967], S. 16-17: „Le spectacle […] est à la fois le résultat et le projet du mode de production existant. Il n’est pas un supplément du monde réel, sa décoration surajoutée. Il est le cœur de l’irréalisme de la société réelle.“; Vgl. Wetzel: Der Autor-Künstler, S.-300, der Debord zitiert. 145 Vgl. zur Krise der Literatur: Patrick Besson: „La littérature française est-elle morte ? “, in: Le Point, 12.12.2013, S. 199-203; William Marx: L’adieu à la littérature. Histoire d’une dévalorisation XVIII e -XX e siècle, Paris: Minuit 2005; Dominique Maingueneau: Contre Saint Proust ou la fin de la littérature, Paris: Belin 2006; Tzvetan Todorov: La littérature en péril, Paris: Flammarion 2007; Laurent Demanze u. Dominique Viart (Hg.): Fins de la littérature. Esthétique et discours de la fin, Paris: Armand Colin 2012, sowie zu diesen Beispielen Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S. 311; vgl. zur Krise des Museums André Grob: Le musée, une institution dépassée ? Éléments de réponse, Paris: Amand Collin 2010; Catherine Grenier: La fin des musées? , Paris: Éditions du regard 2013; Tyradellis: Müde Museen; Christian Welzbacher: Das totale Museum. Über Kulturklitterung als Herrschaftsform, Berlin: Matthes&Seitz 2017; Boris Groys: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, München: Hanser 1997; Jean Clair: Malaise dans les musées, Paris: Flammarion 2007. 146 Rosenthal u. Ruffel: „Introduction“, S. 4; vgl. Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S. 312. Auch stehen Museum und Literatur jeweils in einem Feld der Medien‐ konkurrenz. In einer Phase, die wahlweise als ère du vide 142 , als société de consommation 143 und du spectacle 144 beschrieben wird, geraten sie in einen Aufmerksamkeitswettbewerb und unter Legitimationsdruck, was auch eine Reihe von Untergangsdiagnosen zum Ende der Literatur und des ‚müden‘ Museums nährt. 145 Beide Instanzen reagieren auf diese Legitimationsprobleme mit einer vielkritisierten ‚Eventisierung‘, aber auch mit Neujustierungen ihrer Ausstellungspolitik bzw. mit literarischen Formen, für die „le livre n’est plus ni un but ni un prérequis“ 146 . So beobachten Rosenthal u. Ruffel für die Literatur, dass l’hégémonie du narratif s’accompagne, dans les marges, d’un dévéloppement sans précédent du performatif et de l’exposition de la littérature, la performance et l’exposition constituant des réponses possibles à l’organisation du champ éditorial, 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 47 <?page no="48"?> 147 Rosenthal u. Ruffel: „Introduction“, S.-7. 148 Wetzel: Der Autor-Künstler, S.-212. 149 Vgl. zur Transformation des französischen Buchmarkts Olivier Bessard-Banquy: L’in‐ dustrie des lettres, Paris: Pocket 2012. 150 Vgl. etwa Agathe Novak-Lechevalier: Houellebecq, l’art de la consolation, Paris: Stock 2018, S. 67, die das ‚Phänomen Houellebecq‘, den medial präsenten, die Medien bedienenden und benötigenden Erfolgsautor, mit der Entwicklung des Buchmarkts zusammendenkt. 151 Vgl. dazu Urs Meyer u.a.: „Vorwort“, in: ders. u. a. (Hg): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen: Wallstein 2006, S. 7-18, hier: S. 11. Hier sind mit Paraliteratur „ästhetische Prozesse“ gemeint, „die sich vom engen Rahmen der traditio‐ nellen Literaturgeschichte loslösen, dabei die Dominanz der Schriftkultur demonstrativ durchbrechen und nur noch implizit in literarisch-ästhetischen Traditionsbezügen ihre Wirkung entfalten“. In Frankreich wird die Bezeichnung seit dem Kolloquium „Entretiens sur la paralittérature“ (Cerisy-la-Salle, 1967) eher zur Beschreibung von literarischen genres mineurs wie science fiction, roman sentimental, Krimi etc. verwendet; sie impliziert zwar eine intermediale Öffnung (hin zu Comics, Fotoromanen), doch ist sie durch ihre wertend-hierarchisierende Dimension nicht geeignet zur Beschreibung der hier gemeinten literar-musealen Phänomene, die allerdings ihrerseits durchaus die Durchdringung des modernen Daseins mit Bild- und Erzählformen auch populärer Genres aufgreifen. So ist paralittérature als ein Aspekt von Medienkonkurrenz mitzu‐ denken. Vgl. Noël Arnaud u. a. (Hg.): Entretiens sur la paralittérature. Centre culturel international de Cerisy-la-Salle, 1er septembre-10 septembre 1967, Paris: Plon 1970; Alain-Michel Boyer: Les paralittératures, Paris: Armand Colin 2008. 152 Für die Gegenwart könnte man hinzufügen: Die geschlossene Form des Romans tritt u. a. in Konkurrenz zu Internet und seriellem Erzählen. So stellt auch Toussaint fest: „C’est […] la durée qui est menacée par internet, à mon avis. Jusqu’il y a un certain temps, les écrivains proposaient unilatéralement un ordre et une durée. Ils indiquaient là où il fallait entrer dans le livre et là où il fallait en sortir. L’évolution est telle qu’à l’avenir ce seront de plus en plus souvent les lecteurs qui produiront l’ordre et la durée des livres.“, Jean-Philippe Toussaint: „La mayonnaise et la genèse. Entretien réalisé par Laurent Demoulin à Villeroux le 1 er août 2014“, in: NRF, 610, 2014, S. 114-125, hier: S. 115. Vgl. François Bon: Après le livre, Paris: Éditions du Seuil 2011. Für Bon bringen solche Tendenzen die immaterielle Eigenheit der Literatur zum Vorschein, die ohnehin schon immer in ihr angelegt war, allerdings zunehmend sichtbar wird: „Ce n’est pas que nous ayons à tout réapprendre : la réflexion sur […] le lien de l’écriture à sa part technique une manière de le contester, de le combattre, de faire entendre et voir autrement ce qui appartient à la littérature […]. 147 Mit der „ganze[n] Weite eines Ausgeliefertseins an den Markt“ 148 , etwa der zunehmenden Ausdifferenzierung des Buchmarkts 149 , werden neue Vermark‐ tungsmodelle 150 benötigt - und verbreiten sich neue Formen der Literatur und „Paraliteratur“. 151 Nicht nur kann Literatur unabhängig von Verlagen und fixen Veröffentlichungsdaten existieren, sondern auch ohne materiellen Träger - gemeinhin für die Literatur als konstitutiv angenommenen Kategorien verschwimmen. 152 Lesungen, Fernsehauftritte oder Twitter-Konten erhöhen 48 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="49"?> […] a toujours été présente dans l’histoire immédiate de la littérature. Simplement, l’apparente stabilité du livre autorisait qu’elle restât en filigrane. Il n’y a jamais eu d’auteur ni d’écriture qui puissent se séparer de ses conditions matérielles d’énonciation ou de reproductibilité“ (ebd., S.-11). 153 Vgl. Colard: „Pour une littérature plasticienne“. 154 Rosenthal u. Ruffel: „Introduction“, S.-10. 155 Vgl. Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunst‐ system, Köln: Dumont 1997; Wetzel: Der Autor-Künstler, S. 212; Hubert Locher: „Die Kunst des Ausstellens. Anmerkungen zu einem unübersichtlichen Diskurs“, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S.-41-62, hier: S.-52-53. 156 Catherine Cusset: Vie de David Hockney, Paris: Gallimard 2018. 157 Nathalie Léger: Vies silencieuses de Beckett, Paris: Allia 2006; dies.: L’Exposition, Paris: P.O.L. 2008; Léger war u. a. für die Ausstellung Samuel Beckett (14.3.-25.6.2007) im Centre Pompidou verantwortlich. Vgl. Jean-Max Colard: „L’hypothèse du ‚roman-ex‐ position‘“, in: Elisa Bricco (Hg.): Le bal des arts. Le sujet et l’image : écrire avec l’art, Macerata: Quodlibet, 2015, S.-327-345, hier: S.-331. 158 Édouard Levé: Œuvres, Paris: P.O.L. 2002, S.-7. 159 Das Werk Œuvres endet mit der Idee für eine Lesung aus ebenjenem Buch („La lecture s’achève lorsque plus personne ne lui demande de poursuivre“, S. 192), also einer weiteren literarischen Praxis hors du livre. die Sichtbarkeit eines Autors, bieten teils zusätzliche Einnahmequellen 153 und ermöglichen künstlerische Ausdrucksformen außerhalb der Buchdeckel. Sie sind „condition sociale“ des Schriftstellerdaseins, können aber auch „principe esthétique“ sein. 154 Die daran beteiligten Autoren sind nicht nur Erfüllungsge‐ hilfen, sondern auch Profiteure einer Eventisierung, nicht nur ‚ausgestellte Künstler‘, sondern auch „Ausstellungskünstler“. 155 In diesem Kontext ist auch die Mitwirkung von Künstlern an Museums‐ projekten zu verstehen, und in den damit verbundenen Werken greifen ästhe‐ tisch-literarische und institutionell-kulturpolitische Faktoren auf teils komplexe Weise ineinander. Drei Beispiele: Die Autorin Catherine Cusset, mit einem Aufsatz zur David Hockney-Ausstellung im Centre Pompidou (21.5.-23.10.2017) beauftragt, entwickelte diesen Text zu einem Roman weiter 156 ; die Kuratorin Nathalie Léger reflektiert in ihren Romanen Vies silencieuses de Beckett und L’Exposition ihre Ausstellungstätigkeit 157 ; der Band Œuvres (2002) des Fotografen und Autors Édouard Levé besteht aus einer Aufzählung von Ideen zu bisher nicht realisierten Kunstwerken. Er macht das Buch zum Ort der Kunst - und situiert es wiederum im Feld der Kunst, denn er erklärt sein Werk selbst zu einem jener angeblich unrealisierten Projekte: „1. Un livre décrit des œuvres dont l’auteur a eu l’idée, mais qu’il n’a pas réalisées.“ 158 Auf einer selbstreferenziellen Ebene betont Levé demnach den Status des Buchs als eigenständiges œuvre und denkt zugleich einen (hier nur imaginären) Ausstellungsraum mit. 159 All diese 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 49 <?page no="50"?> 160 Zu denken ist auch an mehrere Verlagsprojekte: In der von dem Verlag Flohic initiierten Buchreihe Musées secrets schrieben eine Vielzahl prominenter Autorinnen und Autoren über je einen bildenden Künstler, so etwa Tahar Ben Jelloun über Alberto Giacometti (1991), Marie Ndiaye über William Turner (1999) und Pascal Quignard über Georges de la Tour (1995). Die Reihe Ma nuit au musée des Verlags Stock versammelt Essays, für die eine Autorin oder ein Autor eine Nacht in einem Museum verbrachte: Darunter Jakuta Alikavazovic im Louvre (Comme un ciel en nous, 2021), Leïla Slimani in der Punta della Dogana, Venedig (Le parfum des fleurs la nuit, 2021), Eric Chevillard im Muséum d’histoire naturelle de Paris (L’arche Titanic, 2022). 161 Vgl. Colard: „Pour une littérature plasticienne“. 162 Einige der prominentesten Museumstheorien stammen von Literaten. Textbeispiele von Proust und Pamuk oder die Apercus der Futuristen stehen nicht selten selbst in wissenschaftlichen Arbeiten neben jenen von Museologen und Kunsthistorikern. 163 Staatliche Museen zu Berlin: „Ausweitung der Kampfzone. 1968-2000. Die Sammlung Teil 3. 08.11.2013 bis 31.12.2014. Neue Nationalgalerie“, Ausstellungsankündigung, on‐ line unter: https: / / www.smb.museum/ ausstellungen/ detail/ ausweitung-der-kampfzon e-1968-2000-die-sammlung-teil-3.html; vgl. zum Museum als diskursiver „Kampfzone“ Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, S.-60. 164 Rosenthal u. Ruffel: „Introduction“, S.-7. Beispiele eint, dass sie Kunst und Museum nicht nur literarisch thematisieren, sondern dass eine außerliterarische Kunstsphäre an verschiedenen Stellen mit ihnen und ihren Produktionsumständen in Verbindung steht. 160 Ihre „démarche conceptuelle“ 161 wird jeweils erst ganz sichtbar, wenn man über den einzelnen Text und das literarische Feld hinausblickt. Umgekehrt kann auch die Literatur auf das Museum übergreifen: Sei es, dass literarische Texte Museumsdiskurse mitprägen 162 , sei es, dass sie als Inspiration, Referenz oder Ordnungsmuster für Ausstellungskonzepte fungieren. Der deut‐ sche Titel von Houellebecqs Debütroman (Ausweitung der Kampfzone) etwa diente einer Ausstellung zur musealen Meta-Reflexion: Die Sammlungspräsentation lenkt mit einer Auswahl hochkarätiger Kunstwerke den Blick auf diese verschiedenen ‚Kampfzonen‘: auf die großen politischen Themen und Bilder ebenso wie auf die Fragen nach den Grenzen der Kunst, die durch Fotografie, Video, Performance, Objekt- und Konzeptkunst in den Jahren von 1968 bis 2000 eine beständige ‚Ausweitung‘ erfuhren. 163 Durch die Anspielung auf den prominenten Romantitel erfolgt eine ‚Auswei‐ tung‘ des romanesque auf neue, museale Zusammenhänge, und zeigt sich das Museum hier als diskursive ‚Kampfzone‘, als Ort eines „‚autre‘ du narratif “ 164 . Noch stärker, nämlich mit ihrem ganzen szenografischen Ansatz, fußt die Ausstellung Unendlicher Spaß auf dem titelgebenden Roman von David Forster Wallace: 50 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="51"?> 165 Schirn Kunsthalle Frankfurt: Ausstellungsbeschreibung Unendlicher Spaß, 5.6.-7.9.2014, online unter: https: / / www.schirn.de/ ausstellungen/ 2014/ unendlicher_spass. Vgl. als weitere Beispiele z. B. die Ausstellungen À Rebours im Centre Culturel Suisse Paris, 2010, und 50 espèces d’espaces, Musée national d’art moderne, Marseille, 1998-1999, vgl. Jean-Max Colard: „Quand la littérature fait exposition“, in: Littérature, 160, 2010, S. 74-88, hier: S. 76. Beide Ausstellungstitel verweisen auf ‚museale‘ Bücher und greifen die literarische Museumseflexion spielerisch wieder auf. Colard zeigt auch, wie sich wiederum reale Ausstellungen auf das Werk Perecs ausgewirkt haben, so etwa Yves Kleins Ausstellung Vide (1958), vgl. Colard: „Perec et l’exposition“; vgl. für weitere Beispiele auch bei ders.: „L’hypothèse du ‚roman-exposition‘“, S.-328. 166 Rosenthal u. Ruffel: „Introduction“, S. 13: „Alors que la littérature se met en crise et en question par hybridation, les arts plastiques en retour reviennent au livre et à la littérature qui devient un modèle, un point de départ et une manière de légitimer et d’organiser le matériau plastique“, Vgl. Colard: „Quand la littérature fait exposition“, S.-74-88. 167 Jean-Max Colard: „Pour une littérature plasticienne“; vgl. ders.: „Quand la littérature fait exposition“. Analog der Erzählstruktur des titelgebenden Jahrhundertromans […] wird ein Netz von Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Anforderungen entwickelt, die an das Ich gestellt werden und in denen sich die Widerstände und Widersprüche einer […] gerne als alternativlos bezeichneten Wirklichkeit bemerkbar machen. 165 Bei den genannten Beispielen findet ein Transfer jeweils nur in einer Richtung statt, ein Medium ‚ragt‘ gewissermaßen in ein anderes. Bei den in dieser Studie analysierten Autorenausstellungen werden sich hingegen Literatur und Museum als zwei aufeinander verweisende Reflexionsräume erweisen. 166 1.2 littérature plasticienne und néolittérature Dieser ‚unendliche Spaß‘ zwischen Literatur und Museum verschiebt den Blick auf die Literatur und ihre Grenzen. Colard spricht von littérature plasticienne und meint damit „tous ces textes, tous ces mots, toutes ces paroles qui se donnent à lire, à voir ou à entendre dans le champ des arts plastiques“, also eine Literatur, „qui ne vise pas forcément le livre comme terminus de la création littéraire“: [L]a ‚littérature plasticienne‘ est loin de se limiter aux seuls textes écrits sur l’art, elle se déploie dans un cadre plus élargi, et concerne tout autant des productions littéraires qui, sans avoir l’art comme sujet, peuvent emprunter leurs modalités ou leurs dispositifs au domaine des arts plastiques. En vérité, la littérature plasticienne concernera souvent des textes, des auteurs et des autrices qui écrivent ‚avec‘ l’art, avec l’art comme modèle, et non comme sujet. 167 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 51 <?page no="52"?> 168 Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S.-307. 169 Nachtergael nennt etwa Thomas Clerc, Jérôme Game, Marcelline Delbecq, Louise Hervé, Chloé Maillet oder Laure Prouvost. 170 Vgl. Colard: „Pour une littérature plasticienne“, S. 3.: Littérature plasticienne steht in Nachbarschaft zu Formen wie „poésie visuelle, sonore, spatiale ou concrète, performance poétique, calligrammes, logogrammes, vidéo-poèmes, photos-textes, roman-photo, roman graphique, vidéo-poèmes, instructions, statements, gigantextes, dispositifs textuels, etc“. 171 Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S.-308. 172 Vgl. Genette: Seuils, insbes. S. 8-13. Genette verfolge, so Nachtergael, ein „credo moderniste qui voit dans le livre l’équivalent du tableau, un support-cadre“, vgl. Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S.-307. 173 Vgl. Genette: Seuils, S.-7: Der Paratext „entoure et […] prolonge“. Mit dem Begriff der néolittérature impliziert ähnlich auch Nachtergael eine Loslösung der Literatur vom Medium Buch, was voraussetzt, dass „l’unité de l’œuvre n’est pas donnée par le support ou un média autonome, photographie, texte ou film“ - dass also manche Werke sich über ein ganzes „dispositif transmédiatique“ erstrecken. Die Literatur steht dabei weiterhin im Zentrum, wird aber erst im Verbund mit einem musealen Dispositiv voll wirksam, das Buch zum „état transitif d’une œuvre“: Le texte lui-même s’en trouve déprécié au sens strict, du fait qu’il ne fonctionne plus qu’en système et non en autonomie[.] Les textes posent un plan oblique qui traverse et relie en filigrane les manifestations plastiques : comme une trame à l’arrière-plan, les textes apparaissent avec une densité variable[.] 168 Zwar beziehen sich Colard und Nachtergael insbesondere auf Texte, die dezi‐ diert dem Feld der Kunst nahestehen 169 , doch ist ihre Perspektivierung auch nützlich im Hinblick auf sich in unterschiedlichen Medien realisierende Werk‐ komplexe. So rückt Colard die Visualität der Literatur und ihre Ausstellungska‐ pazität in den Blick 170 , Nachtergael das (Künstler-)Subjekt: [L]oin de laisser à la forme seule l’apanage de l’unité de l’œuvre, c’est son sujet agissant qui habille de sa cohérence un ensemble irrégulier, inachevé et produisant des formes plastiques résolument interdépendantes les unes les autres [sic! ]. Que ses manifestations soient alternativement narratives, fictionnelles ou transmédiatiques, le sujet à l’œuvre se coule dans une labilité sémiotique qui converge, se croise et se matérialise dans le texte fondateur d’un univers de langage singulier. 171 Das Konzept der néolittérature bedeutet eine Loslösung vom genetteschen Text-Paratext-Ansatz, der zwar ebenfalls für eine Öffnung des Textbegriffs ein‐ tritt, gleichzeitig aber einen Haupttext ins Zentrum stellt 172 , der von Paratexten gerahmt und „verlängert“ 173 wird. Ein ‚Werk‘ im Sinne der néolittérature erlaubt 52 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="53"?> 174 Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S.-307. 175 Vgl. ebd., S. 313; Nachtergael selbst räumt ein, dass der Begriff für ‚Ausstellungstexte‘ der Gegenwart eigentlich falsch gewählt ist, da die ‚Neuheit‘ der Literatur immer wieder proklamiert wurde, sei es durch die Avantgardebewegungen oder den Nouveau Roman. Vgl. Colard: „Pour une littérature plasticienne“, S.-2-3. Vgl. Rhein: „Licht und Literatur“, S.-165. 176 Christiane Heibach: „Zwischen ‚buchdruck-schwärzlichem Gewande‘ und ‚Allgewalt der sinnlichen Empfindung‘. Literatur als Ereignis“, in: Britta Hochkirchen u. Elke Kollar (Hg.): Zwischen Materialität und Ereignis. Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven, Bielefeld: transcript 2015, S. 155-173, hier: S. 156. Heibach stellt fest, selbst semiotische und poststrukturalistische, von einem ‚offenen Text‘ ausgehende Ansätze hätten die Tendenz, diese transmediale Qualität zu vernachlässigen und das Buch als eigentlichen Ort der Literatur zu denken (vgl. ebd., S.-162). 177 Vgl. etwa Greenblatt: „Kultur“, S. 55: „die Erzählungen einer Kultur sind […] wesentliche Indikatoren für die herrschenden Codes, die Mobilität und Restriktionen des Menschen bestimmen. Große Autoren sind Meister genau dieser Codes, Spezialisten im kulturellen Austausch. Die von ihnen geschaffenen Werke sind Strukturen zur Akkumulation, Transformation, Repräsentation und Kommunikation gesellschaftlicher Energien und Praktiken.“ 178 U.a. wurde die englische Übersetzung von Hamons Studie Expositions als 20. Band der von Greenblatt herausgegebenen Reihe The New Historicism: Studies in Cultural Poetics publiziert; vgl. Philippe Hamon: Expositions: Literature and Architecture in Nineteenth-Century France, translated by Katia Sainson-Frank and Lisa Maguire. Intro‐ duction by Richard Sieburth, Berkeley/ Los Angeles: University of California Press 1992. 179 Westerwinter: Museen erzählen, S.-26. es dagegen, „de régler la mesure esthétique sur un ordre au long cours, plus général, à la manière des projets de vie […].“ 174 ‚Neu‘ ist dabei wohl weniger die néolittérature selbst 175 , als vielmehr diese Perspektive auf sie: Denn dass die Literatur eine „transmediale Sprachkunst“ ist, wird gemeinhin „überlagert von der medialen Erfolgsgeschichte des Buchs“ 176 . 1.3 Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt: Text und Welt, Text und Kontext Eine Perspektive auf das Museum als kulturellem ‚Faktor‘, der auch literarische Texte prägt, und auf eine néolitérature, die erst im Verbund mit anderen kultu‐ rellen Äußerungen zu erschließen ist, steht den Ansätzen des new historicism bzw. der cultural poetics im Sinne Stephen Greenblatts nahe. 177 Auf diesen berufen sich grundlegend die meisten Studien zum literar-musealen Komplex, so Hamon 178 und Westerwinter; letztere liest „literarische und nichtliterarische, kulturelle und textuelle Produktionen“ im Museum und der Literatur „als gleichberechtigte und aufeinander beziehbare Äußerungen eines kulturellen Imaginären“ 179 , denn „jede gegebene Repräsentation [stelle] einen Reflex oder 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 53 <?page no="54"?> 180 Ebd., S. 25; Westerwinter bezieht sich auf Greenblatt. Vgl. ähnlich Rosenthal u. Ruffel: „Introduction“, S.-11. 181 Paul: Poetry in the Museums, S.-2. 182 Ebd., S. 3. 183 Stephen Greenblatt: „Resonance and Wonder“, in: Ivan Karp u. Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting cultures. The poetics and politics of museum display, Washington D.C.: Smithsonian Institution Press 1991, S.-42-56, hier: S.-42. 184 Ebd., S.-43. ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse“ 180 dar. Auch Paul argumentiert in diesem Sinn: [Museums] played an important role […] in negotiating the interactions between high culture and the masses, between institutionalized attitudes and the avant-garde, between innovative artistic practices and established connoisseurship. As a result, artists and writers involved in the modernist movement found themselfes face to face with museums […]. In fact, museum curators were often reckoning with the same kinds of questions that poets found themselves dealing with. 181 Sie sieht Übergangszonen zwischen beiden Polen: Ein Gedicht, wie ein museales Objekt, „similary combines resonance and wonder, invites politicized and aesthetic readings, and careful reading of poetry must attend to both the text’s idea and its formal and linguistic pleasures.“ 182 Mit seinem bekannten, von Paul zitierten Begriffspaar von resonance und wonder beschreibt Greenblatt die zwischen (Kunst-)Werk und Welt ablaufenden Prozesse: By resonance I mean the power of the displayed object to reach out beyond its formal boundaries to a larger world, to evoke in the viewer the complex, dynamic cultural forces from which it has emerged and for which it may be taken by a viewer to stand. By wonder I mean the power of the displayed object to stop the viewer in his or her tracks, to convey an arresting sense of uniqueness, to evoke an exhalted attention. 183 Sichtbar werden diese Wechselwirkungen von Subjekt und Objekt unter der Bedingung, not to find outside the work of art some rock onto which interpretation can be securely chained but rather to situate the work in relation to other representational practices operative in the culture at a given moment in both its history and our own. 184 Als Beispiel nennt Greenblatt das Pariser Musée d’Orsay, in dem das historische Gebäude des ehemaligen Bahnhofs die Objektanordnung und die Erläuterungs‐ texte die Wirkung der Werke überdeckten, wodurch es mehr „temple[] of resonance“ als „temple[] of wonder“ 185 sei und die Exponate sozusagen hinter ihrer Situierung zurückträten. 54 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="55"?> 185 Vgl. ebd., S.-53-54. 186 Vgl. Annegret Heitmann: „Einleitung. Verhandlungen mit dem New Historicism“, in: Jürg Glauser u. dies. (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kon‐ text-Problem in der Literaturwissenschaft, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S.-9-20, hier: S.-11. 187 Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaft‐ liche Text-Kontext-Theorie, Tübingen: Francke 2005, S. 46; auch ders.: „Einleitung: New Historicism - Literaturgeschichte als Poetik der Kultur“, in: ders. (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/ M.: Fischer 1995, S.-7-28, hier: S.-12: „Wie sich aber Narrationen noch sinnvoll in die Textur, das Gewebe des ‚texte général’ einfügen lassen, das ist eben das Problem des New Historicism.“ Vgl. Greenblatt selbst: „Eine kulturbezogene Analyse ist […] per definitionem eine nicht-immanente Analyse im Gegensatz zu einer immanenten Formanalyse von Kunstwerken.“; Greenblatt: „Kultur“, S. 51; vgl. zum Komplex auch Doris Bachmann-Medick: „Textualität in den Kultur- und Literaturwissenschaften: Grenzen und Herausforderungen“, in: dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Tübingen/ Basel: Francke 2004 [1996], S.-298-338, hier v.-a. S.-302-314. 188 Daneben nennt er das „Problem der Repräsentativität“ (Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S. 43-44), das er anhand der „Anekdote“ am Anfang vieler Arbeiten der new historicists diskutiert, die per se nicht nur für das stehe, das sie erzähle. Weiter den Umstand, dass der New Historicism nicht von „kulturellen Codes“ und deren „konkreten Realisierungen“ ausgeht, sondern von einem „Eingebettetsein[] (embeddedness) eines Textes in einen kulturellen Kontext aus Texten“. Diese Vorstellung eines Textes inmitten eines texte général sorge für ein „Problem der Komplexität“, ein Problem der „Quantität“ der zu berücksichtigenden Texte (ebd., S. 49). Auch müsse „gefragt werden: Was ist das Verbindende zwischen den synchronen Texten, wenn es keine Metanarration, […] kein irgendwie abstraktes Allgemeines ist? “ Die Abwesenheit „systematisierender Synthesen“ in den Ansätzen der new historicists verbucht Baßler schließlich als „Problem der Verknüpfung“ (ebd., S.-50). 189 So lassen sich Medialität und postkoloniale Aspekte durch das Textualitäts-Paradigma des new historicism nur bedingt beschreiben. Vgl. auch Margot Brink: „Literatur und gesellschaftliche ‚Wirklichkeiten‘ im theoretischen Blick: Institution Kunst (Peter Bürger), literarisches Feld (Pierre Bourdieu) und Kulturpoetik (Stephen Greenblatt)“, in: Christiane Solte-Gresser u. a. (Hg.): Von der Wirklichkeit zur Wissenschaft. Aktuelle Forschungsmethoden in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Münster: LIT Verlag 2005, S.-41-56, hier: S.-50 u. 54. Das Museum dient hier als Modellraum für ein ‚Text-Kontext-Problem‘, das auch die Literatur betrifft 186 : Wie erfasst der Blick auf ‚das Ganze‘ das einzelne Werk, und was wird dabei aus seiner „spezifisch ästhetischen Dimension“ 187 ? Dieses „Problem der Literaturspezifik“ macht Baßler als eine der zentralen Schwierigkeiten des new historicism aus. 188 Das mit dem Ansatz verbundene Textualitäts-Paradigma verdeckt auch weitere für den literar-musealen Zusam‐ menhang relevante Aspekte. 189 Baßler plädiert angesichts dessen dafür, die Perspektive des new historicism vor allem als „gemeinsame[s] Tableau“ zu verstehen, vor dessen Hintergrund eine „textualistisch“ basierte Kulturtheorie 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 55 <?page no="56"?> 190 Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S.-9-10. 191 Ebd., S.-19-20. 192 Vgl. ebd., S.-45. 193 Vgl. Genette: Seuils, S. 8; vgl. Uwe Wirth: „Zwischenräumliche Schreibpraktiken“, in: Jennifer Clare u. a. (Hg.): Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen, Heidelberg: Winter 2018, S.-13-24, hier: S.-23. 194 Vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S.-79. 195 Ebd., S. 81; vgl. auch ebd., S. 80: „Gerade weil der Autor den Sinn, die semantische Streuung seines Textes nicht kontrollieren kann, ist er als Instanz zur Sinnbegrenzung denkbar ungeeignet […]. Das ist eben der Unterschied zwischen einem Text und einer Kommunikation […].“ „methodologisch“ fruchtbar sein könne, ohne einen „ontologischen“ Anspruch zu vertreten, „daß ‚alles und jedes‘ auf dieser Welt Text sei.“ 190 Vor diesem Tableau geraten besonders die Grenzen von (literarischen wie musealen) Kunst‐ werken in den Fokus: Das Prinzip des Close reading, der materialnahen, akribischen Lektüre wird […] nicht aufgegeben, doch richtet man das textanalytische Mikroskop jetzt eher auf die ‚Fransen‘ des textuellen Gewebes, auf jene Webstellen, an denen das Kunstwerk mit seiner zeitgenössischen Kultur verwoben ist. Auf diese Weise lassen sich […] die ‚Fäden‘ verfolgen, die aus den unterschiedlichsten kulturellen Bereichen in einen Text hineinführen und auch wieder aus ihm hinaus. 191 Dieser Blick auf das „chiastische Verhältnis“ 192 von Innen und Außen ist auch für die folgende Arbeit entscheidend. Der Begriff der ‚Franse‘ rekurriert auf Genette, der als solche ‚frange‘ den Paratext bezeichnet 193 - ein Hinweis darauf, dass unter einer solchen Perspektive nicht nur die Grenzen eines Werks zu berücksichtigen sind, sondern auch das vermeintlich Marginale innerhalb eines Werkkomplexes; darum werden im Folgenden sowohl literarische ‚Randerschei‐ nungen‘ (Ausstellungskataloge, Vorworte, Interviews…), als auch (Text- und Ausstellungs-)Ein- und Ausgänge (vgl. etwa Kap. II.3.5.) zentral thematisiert. Die Einbettung eines Textes in größere (kulturelle oder Werk-)Zusammen‐ hänge hat Folgen für das Bild des Autors als „Sinngarant[en]“, welches, so die These Baßlers, besonders zum Tragen kommt, wenn man von dem einen, „mani‐ festen Text“ ausgeht. 194 Dagegen empfiehlt er einen „Verzicht auf die Kategorien des Autorensubjektes und seiner Intention“, und stattdessen die „Konzentration auf jene Dimension, wo der Text allein von ‚Sprache und Kultur Bedeutungen zugewiesen‘ bekommt“ 195 . Er führt u. a. Peter Handkes Ready-made-Gedicht „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“ an, das durch die „paratextuelle Situierung“ (in dem Gedichtband mit dem passenden Titel Die Innenwelt der 56 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="57"?> 196 Peter Handke: „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“, in: ders.: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2003 [1969], S.-59. 197 Vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S.-82. 198 Ebd., S.-83. 199 Vgl. Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S.-308; vgl. Kap. II.1.2. 200 Vgl. Bal: Kulturanalyse, S. 39 u. 77; Bal erinnert daran, dass die Kuratorenintention nicht mit der Aussage der Ausstellung gleichzusetzen ist; vgl. Sarah Czerney: Zwischen Nation und Europa. Nationalmuseen als Europamedien, Berlin/ Boston: de Gruyter 2019, S.-15; vgl. Kap. II.4.1.1.3. 201 Vgl. Martin Nies: „Kultursemiotik“, in: Christoph Barmeyer u. a. (Hg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kul‐ turräume, Passau: Stutz 2011, S. 207-225, hier: S. 208; vgl. Ernest W.B. Hess-Lüttich u. Daniel Rellstab: „Zeichen/ Semiotik der Künste“, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S. 247-282, v. a. 264-279. 202 Vgl. den Band Museales Erzählen, der sich zentral auf kultursemiotische Ansätze stützt, sei dies von Bal, Pomian, Barthes. Auch Jana Scholze schlägt eine Lektüre des musealen Raums und seiner Objekte mit Eco und Barthes vor; vgl. dies.: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: transcript 2004; vgl. dies.: „Kultursemiotik. Zeichenlesen in Ausstellungen“, in Joachim Außenwelt der Innenwelt 196 ) als Kunstwerk identifiziert werde, und nicht durch jenen, der es dort platziert habe 197 : Daß der Text […] ein ‚Werk‘ ist, bezeichnet also keine ontologische Qualität, sondern eine erfolgreiche Zuschreibung […]. Von allen Möglichkeiten, die semiotische Offen‐ heit zu begrenzen, scheint mir der Rückgriff auf die Autorintention hier die am wenigsten zwingende […]. 198 In Bezug auf néolittérature ließe sich dagegen argumentieren, dass der Blick auf ganze literar-museale Komplexe das Autorensubjekt gerade als verbindende Instanz zwischen verschiedenen Werkelementen hervortreten lässt. 199 Relevant erscheint diese Instanz jedoch vor allem als Thema des literar-musealen Kom‐ plexes: die Analyse interessiert sich primär für das öffentlich ausgestellte Autorenbild, nicht für den Autoren als Bürge der Interpretation. 200 1.4 Semiophoren und Semiosphären, vitrine und miroir: (kultur-)semiotische, narratologische und mediale Zugänge (Kultur-)semiotische Perspektiven bieten sich an, um konkrete Einzelwerke (wie einzelne Romane, Exponate oder Ausstellungen) im Kontext eines um‐ fangreichen, mehrere Medien umfassenden Werks und „kulturellen Texts“ 201 zu betrachten und Literatur und Museum zusammenzudenken. 202 Zentral sind 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 57 <?page no="58"?> Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010, S.-121-148; vgl. McIsaac: Museums of the Mind, S.-15. 203 Vgl. Hamon: Expositions, S. 14; vgl. Donald Preziosi: „Art History and Museology: Rendering the Visible Legible“, in: Sharon Macdonald (Hg.): A Companion to Museum Studies, Malden/ Oxford: Blackwell 2006, S.-50-63. 204 Krzysztof Pomian: Le musée, une histoire mondiale. I. Du trésor au musée, Paris: Gallimard 2020, S.-19. 205 Ebd., S.-10. 206 Vgl. ders.: Collectionneurs, amateurs et curieux. Paris, Venise : XVI e -XVIII e siècle, Paris: Gallimard 1987, S. 42; vgl. Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S. 53; vgl. Britta Hoch‐ kirchen: „Das Für und Wider der Fiktion. Literaturvermittlung zwischen Immersion und Reflexion“, in: dies. u. Elke Kollar (Hg.): Zwischen Materialität und Ereignis. Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen, Archiven, Bielefeld: transcript 2015, S.-199-215, hier: S.-203. 207 Vgl. Heike Gfrereis: „Nichts als schmutzige Finger. Soll man Literatur ausstellen? “, in: Heike Gfrereis u. Marcel Lepper (Hg.): Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen: Wallstein 2007, S. 81-89, hier: S. 82, die den Semiophoren-Begriff auf das literarische Ausstellungsobjekt bezieht. 208 Vgl. zur Einordnung Bals auch Scholze: „Kultursemiotik“, S.-130-136. dafür die Kategorien von Präsentation und Repräsentation, Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Sie lassen sich sowohl auf einzelne, ausgestellte Exponate beziehen, als auch auf die im Hintergrund stehenden Sammlungen oder Museen und museumsartigen Räume als Ganzes, betreffen aber auch die Ausstellungskapa‐ zität der Literatur (vgl. Kap. II.3.1.1. u. II.3.1.2.). Hamon nennt die exposition als zentrale Kategorie, in der visible und lisible zusammenkommen 203 , Pomian spricht von Museen als „vitrines et miroirs de nos sociétés“ 204 , die kollektive Identität aus-, aber auch herstellen, und situiert die collection zwischen visible und invisible: als Hort der Dinge, die auf etwas Abwesendes verweisen, auf „tout ce qui est supposé être à la fois réel et inaccessible aux sens, soit ici et maintenant, soit toujours et partout“ 205 . Mit dem Semiophor hat Pomian einen zentralen Terminus für Objekte geprägt, die zugleich materiell und zeichenhaft, sichtbar und lesbar sind. 206 Dieses Konzept ist besonders auf literarisches Ausstellen und die Ausstellung der Literatur gut anzulegen: Das Objekt Buch, aber im übertragenen Sinne auch bestimmte innerliterarische Objekte ließen sich so beschreiben (vgl. Kap. II.4.1.2.1.). 207 Der Semiophoren-Begriff lässt sich aber auch auf Formen außermusealer Musealisierung anlegen, wenn etwa städti‐ sche Zeichen zu einer musealen Erfahrung der Straße beitragen, so wie die ‚Ausstellungsarchitektur‘ im Paris des 19. Jahrhunderts mit ihren vitrines und miroirs. Als weitere kultursemiotische (Raum-)Theorie dient der Lotmansche Semiosphären-Begriff (Kap. II.4.2.1.1.1.). Diese Ansätze werden u. a. durch die Theorien Mieke Bals ergänzt 208 , die sich durch ihre intermediale Offenheit, aber auch ihre ideologie- und machtkritische Dimension auszeichnen. Ein zentraler 58 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="59"?> 209 Vgl. McIsaac: Museums of the Mind, S.-15. 210 Bal: Kulturanalyse, S.-37. 211 Vgl. dies.: Double Exposures, S. 4-5; dies.: Kulturanalyse, v. a. S. 15-20; Scholze: Kultur‐ semiotik, S.-132. 212 Vgl. Bal: Kulturanalyse, S. 16; vgl. McIsaac: Museums of the Mind, S. 19, der unterstreicht, dass der Aspekt des Anwesenden/ Abwesenden eine Frage der Repräsentation und demnach ein Machtaspekt ist: „The power of exhibitions derives not only from the abi‐ lity […] to make certain things and relationships visible and thus seemingly self-evident, but also in their ability to render alternative narratives and ways of knowing invisible, and thus more or less unthinkable. […] In other words, discursive regimes of exhibitions are capable of defining the constituencies they address and possibly also exclude, both with respect to agents in control of the collections (curators, state insitutions […]) and to the relationship among these constituencies.“ 213 Vgl. Petra Gropp: Szenen der Schrift. Medienästhetische Reflexionen der literarischen Avantgarde nach 1945, Bielefeld: transcript 2006, S.-27. 214 Vgl. Karl Nikolaus Renner: „Erzählen im Zeitalter der Medienkonvergenz“, in: ders. u. a. (Hg.): Medien. Erzählen. Gesellschaft. Transmediales Erzählen im Zeitalter der Medienkonvergenz, Berlin/ Boston: de Gruyter 2013, S.-1-15, hier: S.-4. 215 Vgl. etwa Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Erinnerung, München: Beck 2014. [2007], S. 154, die das Museum zu anderen Medien der Geschichtsrepräsentation (etwa historischem Roman, Dokumen‐ tarfilm, Gedenkstätte) in Bezug setzt. Fokus Bals betrifft das museale ‚Wer spricht‘, in der Literatur ebenso wie in verschiedenen (multi-)medialen Ausprägungen, so dem Ausstellungsraum. 209 Machtbeziehungen ergeben sich zwischen Ausstellendem und Besucher, aber auch zwischen dem ausstellenden oder sehenden Subjekt und den stummen, „von der diskursiven Situation zum Schweigen gebrachten“ Objekten. 210 Bal bedient sich zur Beschreibung dieser Machträume der Narratologie 211 , und nutzt dabei Begriffe wie „Fokalisierung“ zu einer kritischen Lektüre „ideologischer Machtstrukturen“. 212 Die Verbindung von Ausstellungsanalyse und Narratologie, weiter unten noch einmal genauer mit ihren Vorzügen und Nachteilen beleuchtet (Kap. II.3.3.), ist nicht nur hilfreich zur Beschreibung eines ‚Erzählens‘ in der Ausstel‐ lung - jenseits einzelner Werke -, sondern auch, um literarisches Erzählen als museales Erzählen zu fassen. Daneben ist der mediale Aspekt auf verschiedenen Argumentationsebenen wichtig: Legt man eine Definition von Medien als „Konstitutionssphären von Sinn“ 213 und als „Filter narrativer Inhalte“ 214 zugrunde, zeigen Museen nicht nur Medien, sondern können auch selbst als solche bezeichnet werden. Ein solcher weiter Medienbegriff erweist sich insbesondere als praktikabel, sofern es um die Konkurrenz unterschiedlicher Repräsentationsorte geht 215 ; er ist auch nützlich, um das Museum als Teil einer medienübergreifenden néolittérature zu verstehen. 1 Zugänge und theoretische Grundierungen 59 <?page no="60"?> 216 Vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“. 217 Vgl. Joachim Baur: „Was ist ein Museum? Vier Umkreisungen eines widerspenstigen Gegenstands“, in: ders. (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010, S.-15-48, hier: S.-19. 218 Thomas Thiemeyer in Heike Gfrereis u.a.: „Einleitung. Was geschieht im Museum - und wie können wir es beschreiben? Ein Gespräch der Herausgeber anstelle einer Einführung“, in: dies. u. a. (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen: Wallstein 2015, S.-7-12, hier: S.-11. 219 Paul: Poetry in the Museums, S.-6. 220 Bernard Vouilloux: „Du dispositif “, in: Philippe Ortel (Hg.): Discours, image, dispositif. Penser la représentation II, Paris: L’Harmattan 2008, S. 15-31, hier: S. 28; enger - dafür nur auf Ausstellungen (und Werbung) bezogen - fasst Davallon den Begriff, der dispositif beschreibt als „résultant d’un agencement de choses dans un espace avec l’intention (constitutive) de rendre celles-ci accessibles à des sujets sociaux.“ Jean Davallon: L’exposition à l’œuvre. Stratégies de communication et médiation symbolique, Paris: L’Harmattan 1999, S.-11. 221 Vgl. Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S. 11, die ähnlich vorgeht. Vgl. für eine neuere Systematik musealer Ausstellungsformen, fokussiert auf Literaturausstellungen, Sebas‐ tian Bernhardt: Literarästhetisches Lernen im Ausstellungsraum. Literaturausstellungen Allerdings ist er zu offen und unspezifisch, um transmediale Bezüge zwischen konkreten Ausstellungen, Exponaten und literarischen Werken genauer zu fassen. Daher wird insbesondere die Ausstellung unter einem engeren Medi‐ enbegriff gefasst, der auf systematische Inter- und Transmedialitätstheorien übertragbar ist (vgl. Kap. II.3.2.2.). 2 Museumsbegriffe Dem Museum - als realer Institution und kulturwissenschaftlich produktivem, ‚ästhetischem Grundbegriff ‘ 216 - ließe sich vielleicht am besten in „Umkrei‐ sungen“ nähern. 217 Denn eine Unterteilung des Museums in seine einzelnen Teilbereiche, Funktionen und Bedeutungsebenen birgt die Gefahr einer „Versäu‐ lung“ 218 und Übergeneralisierung „in favor of a wholistic sense of the collection or the museum“ 219 , obwohl diese auf unterschiedliche Weise miteinander ver‐ bunden sind. Darum werden das Museum und mit ihm zusammenhängende Aspekte hier als Dispositiv verstanden, als ein „agencement résolument hété‐ rogène d’énoncés et de visibilités qui lui-même résulte de l’investissement d’un ensemble de moyens appelé à fonctionner stratégiquement au sein d’une situation […] donnée“ 220 . Die gewählten Stichworte (Museum, Ausstellung, Musealisierung, Rahmung, Auratisierung, Sammlung und Kurator) sollen somit bestimmt, aber nicht ‚fest‐ geschrieben‘ werden 221 , und einen auf unterschiedliche textuelle und räumliche, 60 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="61"?> als außerschulische Lernorte für den Literaturunterricht, Bielefeld: transcript 2022, v. a. S.-66-107. 222 Ausgespart wurde die Dimension des Archivs und Depots, die jedoch in fast allen anderen Kapiteln (‚Museum‘, ‚Ausstellung‘, ‚Musealisierung‘, ‚Sammlung‘) mitgedacht wird. Vgl. Heike Gfrereis: „Archiv“, in: dies. u. a. (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen: Wallstein 2015, S. 13-32; Sabine Brenner-Wilczek u.a.: „Archiv“, in: Natalie Binczek u. a. (Hg.): Handbuch Medien der Literatur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2014, S.-536-554. 223 Vgl. die sechs Funktionen, die Reinold Schmücker dem Museum zuschreibt, hier resü‐ miert von Bernadette Collenberg-Plotnikov: „(1) Die Dingasyl-Funktion des Museums besteht darin, dass es materiellen Gegenständen Schutz vor Verfall und Zerstörung bietet. (2) Im Sinne seiner Tempel-Funktion wird Artefakten im Museum […] eine Aura verliehen, oder sie werden hier zum Fetisch gemacht. […] (3) Das Museum übernimmt identitätskonsolidierende Funktion, indem es durch die Anordnung der Dinge Geschichten erzählt, die gegenwärtiges Leben in Traditionszusammenhänge einordnet. […]. (4) Museen sind Orte der Erinnerung von Vergangenem, indem sie Konstellationen von physischen Artefakten präsentieren, die auf historisch frühere Zeitspannen und Zeitpunkte zurückverweisen. [Diese] Memento-Funktion […] manifestiert sich zudem darin, dass das Museum uns näherhin an Leistungen der Vergangenheit erinnert, denen wir uns selbst mitverdanken. […]. (5) Museen […] demonstrieren […] die Überzeugung von der Bedeutsamkeit der kollektiv erbrachten Kulturleistung, die sich fiktionale und reale Phänomene übertragbaren Begriff des Musealen etablieren; zugleich dienen diese Stichworte als Referenzen, die in literarischen Museums‐ thematisierungen produktiv werden. Sie beschreiben das Museum als Ort mit speziellen Eigenschaften, die von der Literatur übernommen werden können, aber auch die ‚Musealisierung‘ der Literatur (im weiteren Sinn) betreffen. Die Begriffe mitsamt ihrer Geschichte und ihren Konnotationen sind somit als Aspekte realer Musealität relevant (und damit als Instrumentarium zur Einordnung der zwei Ausstellungen), stellen aber auch ‚Denkfiguren‘ für eine literarische Musealität dar. Das Kapitel fokussiert bereits die später (Kap. II.4.) eingeführten Kategorien Raum und Zeit, Subjekt und Objekt: Während die Kapitel ‚Museum‘, ‚Ausstel‐ lung‘ und ‚Musealisierung‘ eher raum-zeitliche Aspekte betrachten, betreffen die letzten beiden (‚Sammlung‘, ‚Kuratieren‘) insbesondere Aspekte des Subjekts und dessen Verhältnis zur (musealen) Dingwelt. 222 2.1 Museum Das Museum produziert nichts, zeigt nur Ausschnitte, räumt der Gegenwart hinterher, reproduziert bestehende Machtverhältnisse - und besitzt anderer‐ seits unzweifelhaft wichtige Bildungs-, Erinnerungs- und Sammlungs-Funk‐ tionen 223 für moderne Gesellschaften: Als „un lieu bien étrange“ beschreibt es 2 Museumsbegriffe 61 <?page no="62"?> in den gesammelten Gegenständen in konzentrierter Weise manifestiert. In dieser Hinsicht übernimmt das Museum eine Leistungsschau-Funktion. (6) Die Erkenntnis- und Bildungsfunktion [meint], dass hier erstens Erkenntnis auf nichtdiskursive Weise gewonnen wird, und dass zweitens Erkenntnis- und Bildungsfunktion auf das Engste miteinander verzahnt sind: Was im Museum erkannt wird, ist immer das Resultat eines kuratorischen Handelns, das insofern auf Bildung abzielt, als es Erkenntnis nicht nur ermöglicht, sondern zugleich steuert und lenkt.“ Bernadette Collenberg-Plotnikov: „Das Museum als Provokation der Philosophie. Zur Einführung“, in: dies. (Hg.): Das Museum als Provokation der Philosophie. Beiträge zu einer aktuellen Debatte, Bielefeld: transcript 2018, S. 9-33, hier: S. 14-15. Vgl. im selben Band Reinold Schmücker: „Warum Museen und warum so viele? “, S. 37-49. Vgl. ICOM Deutschland u. Markus Walz (Hg.): Museum: ausreichend. Die „untere Grenze“ der Museumsdefinition, Berlin: ICOM Deutschland 2020. 224 Pomian: Le musée, une histoire mondiale. I, S.-9. 225 Ein Museum kann sich etwa unterscheiden in Größe, Alter, Spezialisierung des Themas, Reichweite, Trägerschaft, Hauptanliegen, räumlicher Umsetzung. Vgl. Baur: „Was ist ein Museum? “, S. 17-19; Tyradellis: Müde Museen, S. 18-19, auch S. 59. Vgl. zum „Typologisierungsproblem“ des Museums auch Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S.-70-71. 226 Vgl. Tyradellis: Müde Museen, S. 19. Vgl. zum Musée d’Orsay Wunderlich: Der Philosoph im Museum, S. 26; Madeleine Rebérioux: „Ort der Erinnerung oder Ort der Geschichte? Das Museum des 19. Jahrhunderts in der Gare d’Orsay“, in: Gottfried Korff u. Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt/ New York/ Paris: Campus/ Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme 1990, S.-167-178. 227 Der folgende kursorische Überblick zur Begriffsgeschichte stützt sich auf Baur: „Was ist ein Museum“, S. 19-23, der die Begriffsgeschichte mit Hilfe zweier grundlegender Studien kompakt darstellt: Paula Findlen: „The Museum. Its classical etymology and renaissance genealogy“, in: Bettina Messias Carbonell (Hg.): Museum Studies. An Anthology of contexts, Malden: Blackwell, S. 23-50, sowie Melanie Blank u. Julia Debelts: Was ist ein Museum? „…Eine metaphorische Complication…“, Wien: Turai+Kant 2002. 228 Vgl. Danièle Wozny u. Barbara Cassin: „2. Musée, muséum“, in: dies. (Hg.): Les intradui‐ sibles du patrimoine en Afrique subsaharienne. Nouvelle édition, Paris: Demopolis 2014, S. 29-58, online unter: http: / / books.openedition.org/ demopolis/ 529, Absch. 14: „‚Musée‘ deswegen Pomian, als einerseits „inutile“, andererseits „indispensable“ 224 . Was es ausmacht, ist schon angesichts der Vielzahl seiner Phänotypen 225 schwer zu bestimmen. So ließe sich etwa das Musée d’Orsay sowohl als ‚Wissens-‘ wie als ‚Kunstmuseum‘ verstehen, denn sein Sammlungsschwerpunkt - Malerei ebenso wie Kunsthandwerk und Fotografie von 1848 bis 1914 - richtet sich weniger an kunsthistorischen denn an politischen Zäsuren aus - und vermittelt außerdem Kunst nicht immer auch Wissen? 226 Auch die Begriffsgeschichte 227 verdeutlicht, dass es sich beim Museum um einen Querschnittsbegriff mit verschiedenen Konnotationen und Funktionszu‐ schreibungen handelt. Diese variieren vom musaeum/ museion als dem antiken, die Künste in Gestalt der Musen beherbergenden Tempel, was Aspekte impli‐ ziert, die im heutigen Museum zum Tragen kommen 228 , über die ebenfalls 62 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="63"?> vient de ‚muse‘, on le sait. Les Muses sont les filles de Zeus et de Mémoire, qui enfanta, dit Hésiode, avec ‚neuf filles de même souffle‘ ‚l’oubli des maux et la trêve des soucis‘. [E]lles inspirent le poète qui n’a voix que par elles, et savent dire ‚des mensonges tout pareils à des vérités‘.“ Schon in dieser antiken Form ist das Museum mit künstlerischer Kreativität verbunden, und es ist ein Ort unzuverlässigen Erzählens. Als Ort der die verschiedenen Künste verkörpernden Musen war das museion ein Ort der Multimedia‐ lität (vgl. Findlen: „The Museum“, S. 25), und zugleich schon Ausstellungsraum; denn Pilger kamen nicht nur zum Beten, sondern auch als „Touristen“, um die ausgestellten Opfergaben zu betrachten (vgl. Pomian: Collectionneurs, S. 23). Oftmals waren sie auch Lehrstätten - „Verehrung und gelehrter Dialog sind die entscheidenden Stichworte, die den ursprünglichen Begriff des Museums ausmachen“, so Anke te Heesen: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg: Junius 2012, S.-20. 229 Vgl. ebd., S. 20; vgl. Findlen: „The Museum“, S. 25-26, verweist auf den institutionellen Charakter dieses musaeum, „in which the cultural resources of a community were ordered and assembled, implying that the classical writers too had recognized the expansiveness of museum as a category of experience“. 230 Vgl. Pomian: Le musée, une histoire mondiale. I, S.-29. 231 Vgl. Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-21. 232 Vgl. Wolfgang Ernst: „Archi(ve)textures of Museology“, in: Susanne A. Crane (Hg.): Museums and Memory, Stanford: Stanford University Press 2000, S. 17-34, hier: S. 18: „a cognitive field of ideas, words and artifacts […]. For a long time, in fact, the museum was not a place, but a text, occupying a position in the discursive field somewhere between bibliotheca, thesaurus, studio, galleria, and theatrum“; vgl. McIsaac: „Literatur und das Museum“, S. 112: „Konnte in der frühen Neuzeit der Begriff ‚Museum‘ mit Objektsammlungen und Texten assoziiert werden, entfernten sich moderne Texte zunehmend vom musealen Bereich.“ 233 Vgl. Maria Gregorio: „Reading a Literary mind Map through European Exhibitions and Museums: A Visitor Testimony by a Member of the International Committee of Literary and Composers’ Museums (ICLCM)“, in: Matteo Anastasio u. Jan Rhein: Transitzonen zwischen Literatur und Museum, Berlin/ Boston: de Gruyter 2021, S. 95-111, hier: S.-106-107. als musaeum bezeichnete alexandrinische Bibliothek als Ort der Wissenschaft und des gelehrten Austauschs 229 , über die erste Verwendung des lateinischen Worts museum im Jahr 1515 für eine Antikensammlung in Rom 230 und den in der Renaissance vorherrschenden Begriff des musaeum als eines ‚imaginairen‘ Wissensraums 231 , der verschiedene konkrete Ausprägungen annehmen konnte - so konnte auch ein Text als Museum bezeichnet werden 232 -, bis zum studiolo im Humanismus 233 , welcher das Museum in die Nähe des studio (i.S. einer Studierstube) rückte und ihm also eine nicht-öffentliche Funktion zuschrieb. Noch um 1800 wurde der Begriff für öffentliche Orte unterschiedlichster Aus‐ richtung - Kaffeehaus, Akademie oder Leihbibliothek - verwendet, doch seit der französischen Revolution rückt der Begriff des Museums als „Sammlungen beherbergender“ 234 Ort ins Zentrum. 2 Museumsbegriffe 63 <?page no="64"?> 234 Baur: „Was ist ein Museum? “, S. 23. Vgl. zum französischen Museum zu Zeiten der französischen Revolution Dominique Poulot: Musée et muséologie, Nouvelle édition, Paris: La Découverte 2009, S.-63-64. 235 Vgl. Gottfried Fliedl: „Revolution“, in: ders.: Fliedl Museologie, online unter: http: / / flie dlmuseologie.at/ mouseion/ revolution.html: „Errichtung und Eröffnung des Museums im Kontext der Revolutionsfeierlichkeiten und als Beschwörung nationaler Einheit. Tatsächlich erfolgten die Revolutionsfeiern und die Eröffnung des Louvre an ein- und demselben 10. August 1793.“ 236 So etwa das 1779 fertiggestellte Fridericianum in Kassel und das British Museum, beide schon vor dem Louvre öffentlich zugänglich; vgl. Baur: „Was ist ein Museum? “, S. 25; Bénédicte Savoy: „Zum Öffentlichkeitscharakter deutscher Museen im 18. Jahrhundert“, in: dies.: (Hg.): Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701-1815, Mainz: Philipp von Zabern 2006, S. 9-26; Pomian: Le musée, une histoire mondiale. I, S.-22. 237 Dies zeigt sich schon in den Namen des Louvre („Muséum central des arts de la République“), der Berliner Nationalgalerie oder der Londoner National Gallery. Vgl. dazu grundlegend Dominique Poulot: Musée, nation, patrimoine. 1789-1815, Paris: Gallimard 1995; vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S. 160-161; vgl. Pomian: Le musée, une histoire mondiale. II, S. 28-30 zur Ambition des musée national als musée universel, das die Besitztümer Frankreichs umfasst, welche wiederum unterschiedlichster Provenienz sein können. 238 Vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S. 162; Poulot: Une Histoire, S. 7; Fauvel: Exposer l’ ‚Autre‘, die in der französischen Revolution die Zäsur sehen, seit der sich das Museum zu einem „outil de démocratisation et d’éducation“ (ebd., S. 36) entwickelt. Vgl. Umberto Eco: „Le musée du troisième millénaire“, in: ders. u. Isabella Pezzini: Le musée, demain, Traduction de Evelyne Tocut et Jean-Luc Ben Ayoun, Madrid: Casimiro 2015, S.-17-46, hier: S.-28. 239 Vgl. Georges Bataille: Le dictionnaire critique, Note de Bernard Noël, Orléans: L’Écar‐ late 1993 [1970], S. 47; vgl. Beat Wyss: „Kritische Szenographie. Das postmuseale Zeitalter“, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S. 23-40, hier: S. 26: „Die Festschreibung des Wortes ‚Museum‘ als Ausstellungsort von Skulptur und Malerei steht in Zusam‐ menhang mit einem revolutionären Akt: Am 21. Januar 1793 wird der französische König hingerichtet. Im Louvre, der ehemaligen Stadtresidenz, kommt der verstaatlichte Kulturbesitz der Krone zur Ausstellung unter dem Titel Les Musées. Der Louvre ist denn Am 10. August 1793, ein Jahr nach dem Ende der französischen Monarchie und am Tag der Abstimmung über die Constitution de 1793 235 , öffnete das Musée du Louvre für die allgemeine Bevölkerung. Zwar wurden öffentliche, mit Eintrittskarten reglementierte und in Katalogen dokumentierte Ausstellungen auch zuvor schon in Europa organisiert 236 , doch bedeutet diese Öffnung einen Paradigmenwechsel, in dessen Zuge Museen immer stärker im Dienste der Nation 237 und nicht mehr in dem einzelner Machthaber standen 238 - eine Zäsur, deren revolutionären Gehalt Georges Bataille bildhaft unterstreicht, indem er Louvre (das monument à mémoire) und Guillotine (die machine à mé‐ moire) zusammenführt. 239 Nun wurden „ehemals dynamische[] Sammlungen“ 64 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="65"?> auch für lange Zeit die einzige Institution dieses Namens, wo das Sammlungsgut dem Volk zusteht. Dieses Besitzverhältnis war blutig bekräftigt über den fait accompli der Guillotine.“ Vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S. 174. 240 Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-26; vgl. Paul: Poetry in the Museums, S.-10-11. 241 Westerwinter: Museen erzählen, S.-12. 242 Vgl., bezogen auf Kolonialausstellungen, Timo Obergöcker: Prise de possession. Story‐ telling, culture populaire et colonialisme, Würzburg: Königshausen&Neumann 2016, S.-29-35. 243 Vgl. te Heesen: Museumtheorien, S.-48, Westerwinter: Museen erzählen, S.-15. 244 Vgl. zur Öffnung des Museums die Überblicksdarstellung von Hans Belting: „Das Museum. Ein Ort der Reflexion, nicht der Sensation“, in: Merkur, 640, 2002, S.-649-662. Vgl. die oben zitierte Bemerkung Greenblatts über den Wandel der Museen von „temples of wonder“ zu „temples of resonance“, Greenblatt: „Resonance and Wonder“, S. 53. Auch Eva-Maria Troelenberg: „Images of the Art Museum. Connecting Gaze and Discourse in the History of Museology. An Introduction“, in: dies. u. Melania Savino (Hg.): Images of the Art Museum. Connecting Gaze and Discourse in the History of Museology, Berlin/ Boston: de Gruyter 2017, S.-1-27. 245 Pomian: Le musée, une histoire mondiale. I, S. 32. Pomian bezieht sich hier auf Museen im engeren Sinn, als „toute collection publique d’objets naturels ou artificiels exposée dans un intérieur séculier ou sécularisé et destiné à être préservée pour un avenir indéfiniment lointain“ (ebd., S. 29), beginnend mit dem ersten so bezeichneten museum, einer Antikensammlung im Rom des 15. Jahrhunderts. Vgl. zum „Museumsboom“ auch te Heesen: Theorien des Museums, S.-9-10. zu „Inventare[n] der Nation“ umgedeutet, zum „Beleg der ‚inneren Tiefe‘ der Nation. Gleichsam national gewendet, konnten die Sammlungen und ihre Arrangements die ersehnte ‚eigene Kultur‘ oder die privilegierte Stellung im Zivilisationsprozess repräsentieren […].“ 240 Auch durch die Säkularisierung in Folge der französischen Revolution er‐ fahren Museen einen Bedeutungszuwachs. Insofern der Mensch nicht mehr nach dem Jenseits strebt, gewinnen „Beziehungen zu Vergangenheit und Zu‐ kunft“ 241 an Gewicht. Museen sind in diesem Sinn (diesseitige) Orte der Selbst‐ vergewisserung und des kollektiven Gedächtnisses 242 , die auf geschichtliche und gesellschaftliche Abläufe zugreifen und deren weiteren Verlauf mitprägen 243 - und dies umso mehr, je durchlässiger sie zur Außenwelt werden, sich vom ‚Tempel‘ zum ‚Forum‘ wandeln (s.-u.). 244 In der Folge beschleunigt sich der Museums-‚Boom‘: 1470-1520: 1 Museum 1520-1620: 1-10 Museen 1620-1790: 10-100 Museen 1790-1870: 100-1.000 Museen 1870-1960: 1.000-10.000 Museen 1960-2010: 10.000-80.000 Museen 245 2 Museumsbegriffe 65 <?page no="66"?> 246 Diese Eckdaten plausibilisieren ebenso wie die erwähnten literaturgeschichtlichen Zäsuren den hier gewählten literar-musealen Referenzrahmen (19. Jahrhundert - 1950er-1970er Jahre - Gegenwart, vgl. Kap. II.2.4.). 247 Vgl. Pomian: Le musée, une histoire mondiale. I, S. 33-34. Pomian nennt als zeitliche Zäsuren, ab denen die Museen sich in anderen Weltteilen verbreiteten 1870 (Mittel- und Osteuropa, USA, Japan), 1970 (Kanada, Australien, Neuseeland, lateinamerikanische Länder), 1990 (China), Vgl. ebd., S. 41. Lediglich in afrikanischen, v. a. subsaharischen Ländern ist das Museum nach europäischem Modell bis heute wenig verbreitet. Vgl. dazu sowe zu museumsnahen Konzepten Wozny u. Barbara: „2. Musée, muséum“. Vgl. zu musealen Zäsuren ab den 1960er Jahren in Frankreich François Mairesse: „Un demi-siècle d’expographie“, in: Culture & Musées, 16, 2010, S. 219-229, hier: S. 220; vgl. Troelenberg: „Images of the Art Museum“, S. 3-7, die das Aufkommen von Museen in China oder den Golfstaaten als „late or post-imperial echo“ dieser europäischen Tradition des „national image-buildung“ durch Museen sieht (ebd., S. 7). Vgl. Baur: „Was ist ein Museum“, S.-26-27; zu nichtwestlichen Museumskonzepten auch ebd., S.-32-33. 248 Vgl. Krzysztof Pomian: Le musée, une histoire mondiale. III. À la conquête du monde 1850-2020, Paris: Gallimard 2022, S.-637-638. 249 Vgl. Carbonell (Hg.): Museum Studies, S. 2: „when we remove the latest and most visible layer of its existence we find traces of earlier institutions, aesthetics, hierarchies of value, and ideologies“, zit. nach Baur: „Was ist ein Museum“, S. 23. Vgl. Heike Gfrereis u.a.: „Einleitung. Was geschieht im Museum - und wie können wir es beschreiben? Ein Gespräch der Herausgeber anstelle einer Einführung“, in: dies. u. a. (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen: Wallstein 2015, S.-7-12, hier: S.-7. 250 Vgl. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S.-111. 251 Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S.-184. Pomian stellt drei Aufschwungsmomente heraus: Neben 1790 auch das Jahr 1870 als Chiffre für industrielle Revolution und das ‚Jahrhundert der Ausstellung‘, und schließlich 1960 246 - stellvertretend für den Aufschwung der Nachkriegs‐ zeit, vor allem in Ländern wie Indien und China, der sowohl Folgen für die Tourismusströme in westliche Museen hat, aber auch zunehmend mehr Museen in anderen Weltregionen hervorbringt. 247 Pomian betont, dass sich bei diesen Zahlen nicht nur um Statistik handelt, sondern unterstreicht deren „portée sociale et culturelle“: Weltweit haben immer mehr Menschen Zugang zu Museen, das damit noch an Bedeutung gewinnt. 248 Dieser kurze Überblick verdeutlicht den Palimpsestcharakter des Museums 249 mit seinen unterschiedlichen Zeit- und Bedeutungs-‚Ebenen‘ 250 und seinen Status als „reale[r] Ort und imaginäre[r] Raum“ 251 . Er zeigt andererseits auch eine Verengung des Museums als Begriff bei gleichzeitiger Öffnung des Museums als Institution. Es wird sichtbar, dass eine definitorische Fassung etwa mit der Trias des Sammelns, Bewahrens und Ausstellens reduktionistisch ist; zugleich ist diese Trias aber unzweifelhaft auch ein zentraler Bestandteil des tradierten 66 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="67"?> 252 Wie sich zeigen wird, rekurrieren literarische - und museale - Museumsdiskurse aber immer wieder auch auf museale Vorstufen. 253 Vgl. etwa Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, v.-a. S.-18-36. 254 Belting: „Das Museum“, S.-661; Troelenberg: „Images of the Art Museum“, S.-2-3. 255 Vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S.-185. 256 Vgl. Amselle: Le musée exposé, der dem Louvre Abu Dhabi einen „universalisme décentré“ attestiert (S. 57): Vgl. S. 45-65 (Kapitel „Le musée du Louvre : un ‚universel’ à géometrie variable“): U.a. unterstellt Amselle, das „déplacement géographique et l’ouverture aux arts du monde“ wären „censés permettre à ces vieilles institutions d’échapper à une critique postcoloniale“ (ebd., S. 64). Vgl. Seth Graebner: „The Louvre Abu Dhabi: French Universalism, Exported“ in: L’Esprit Créateur, 54, 2, 2014, S. 186-199. 257 Zit. nach Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-38. 258 In A l’ombre des jeunes filles en fleurs etwa ist eine Museumsreflexion elegant mit einer Bahnhofsreflexion verwoben; vgl. Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, Bd. II, Édition publiée sous la direction de Jean-Yves Tadié, Paris: Gallimard 1988, S. 5-6. Auf diese Passage bezieht sich Theodor W. Adorno: „Valéry Proust Museum“, in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2003, S. 181-194, hier: S. 185. Für Adorno verbindet beide Orte ihre Todessymbolik: Bahnhof und Museum seien „dem konven‐ tionellen Oberflächenzusammenhang entzogen, und dem mag man hinzufügen: beide sind Träger einer Todessymbolik, der Bahnhof der uralten des Reisens, das Museum jener, die sich auf das Werk bezieht, ‚l’univers nouveau et périssable‘, den neuen und hinfälligen Kosmos, den der Künstler geschaffen habe. Gleich den Erwägungen Valérys kreisen die Prousts um die Sterblichkeit der Artefakte.“ (ebd., S.-185). Bilds des Museums und damit auch von Museumsthematisierungen in der Kunst, die diese Verengung in weiten Teilen nachvollzieht. 252 Macht und Museum: ‚explosion‘ und ‚implosion‘ Die Geschichte des Museums ließe sich auch als Macht-Geschichte erzählen, während der sich die Deutungshoheit des Sammlers oder der sammelnden Insti‐ tution manifestiert, aber auch herausgefordert wird und zunehmend erodiert. 253 Das europäische (National-)Museum ist nicht nur ein „Ort“, sondern ein „Standort für die offizielle Kultur“ 254 , seine Repräsentanzfunktion 255 schlägt sich im Universalismusanspruch des Pariser Louvre im 19. Jahrhundert so sehr nieder wie noch im 2016 eröffneten Louvre Abu Dhabi. 256 Dieser Anspruch zeigt sich schon in der Architektur, die sich in der Regel vom allgemeinen Stadtbild abhebt (vgl. Kap. II.3.4.). Die museale, „architektonische Rhetorik [repräsentiere] die Idee des Staates“, so Duncan, Museen seien „Symbole des Staates und Museumsbesuche staatsbürgerliche Rituale“ 257 . Wie der (Hauptstadt-)Bahnhof, mit dem das Museum mitunter zusammengeführt wird 258 , beansprucht dieses, so Jean Clair, „[de] marquer les seuils d’entrée aux territoires de l’Empire : soit aux étendues matérielles qu’elle avait conquises, soit aux biens spirituels dont elle 2 Museumsbegriffe 67 <?page no="68"?> 259 Jean Clair: „Beaubourg“, in: L’Arc, 63, 1975, S. 47, zit. nach: Dagognet: Le Musée sans Fin, S.-23. 260 Als gegenwärtiges Beispiel mag dienen, dass der Louvre Abu Dhabi 2017 darauf verzichtete, Gemälde wie z. B. Manets Olympia (1865) oder Nana (1877) auszustellen, um nicht gegen lokale Konventionen zu verstoßen. Stattdessen zeigte man den unver‐ fänglicheren Flötenspieler Manets. Vgl. dazu Karin Westerwelle: Baudelaire und Paris. Flüchtige Gegenwart und Phantasmagorie, Leiden: Fink 2020, S.-360. 261 Vgl. Welzbacher: Das totale Museum, S.-87. 262 Vgl. Thomas Thiemeyer: „Inszenierung“, in: Heike Gfrereis u. a. (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen: Wallstein 2015, S. 45-62, hier: S. 61. Die Szenografie bedeute das „Ende der sammlungsbezogenen Disziplinen Kunstgeschichte und Volkskunde […], die den Eigenwert der Kunstwerke oder Dinge ins Zentrum stellen und die Aura des Originals beschwören.“ Szenografie versteht er als Gestaltungsform, die nicht „den Dingen dient“, sondern sich „unterschiedlicher Medien, Einbauten oder Objekte bedient.“ 263 Vgl. Déotte: Le musée, S.-19. 264 Roswitha Muttenthaler u. Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2006; Andrea Kramper: Storytelling für Museen. Herausforderungen und Chancen, Bielefeld: transcript 2017, S. 34; vgl. Schnittpunkt (Hg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia+Kant 2005. 265 Hamon: Expositions, S.-17. 266 Vgl. etwa die Bemerkungen des Philosophen Jean-Claude Beaune: „La forte densité des cartes, des diagrammes, dont se rendent coupables certains musées, tenant à afficher leurs fondements scientifiques, laisse à penser que ce matériel est censé être lisible par tous, que tout le monde a le temps et l’envie de se complaire à leur décryptage. […] Des places, des vitrines, des parquets cirés, des gardiens de cire eux-mêmes qui laissent entendre sans doute que le meilleur musée, en son état ‚naturel’, est un musée sans avait reçu l’héritage“ 259 , wobei besagtes Erbe durch das Museum festgeschrieben wird - nach dessen Regeln. 260 Auch Ausstellungsmacher können - je nach Autonomie 261 - museale Macht repräsentieren und ausüben, und je prominenter sie als Szenografen in Erschei‐ nung treten, desto stärker verschiebt sich das Machtgefüge zu ihren Gunsten 262 : über die Auswahl und Anordnung der ausgestellten Objekte und darüber, wie sie diese Dinge - und sich selbst - in Geschichte und ‚Geschichten‘ einschreiben. 263 Ihre Deutungshoheit manifestiert sich in „Gesten des Zeigens“ 264 , einer ostentation d’un savoir et donc exercice accompagnateur d’un langage, explicatif d’une part (l’exposition explique), désignatif et descriptif d’autre part (l’exposition étale des objets étiquetés et nommés). Pas de monument sans mémento, sans guide de parcours. 265 Diese museale ‚Kulturvermittlung‘ kann inkludieren, aber auch ausschließen; ein Ausstellungsraum kann so abweisend wirken, dass die Museumsbesucher sich wie Fremdkörper fühlen. 266 Das Museum soll kulturelle Teilhabe ermögli‐ 68 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="69"?> visiteurs, vide ou fermé…“ Jean-Claude Beaune, zit. in: Dagognet: Le Musée sans Fin, S.-19-20. 267 Richard Sandell: „Museums as Agents of Social Inclusion“, in: Bettina Messias Carbonell (Hg.): Museum Studies. An Anthology of contexts, Malden: Blackwell 2012, S. 562-574, hier: S.-571-572. (vgl. Kap. II.1.1.) 268 Auch der Louvre war bis 1855 wochentags nur für den „porteur d’une carte d’artiste exposant ou d’élève d’un professeur connu“ zugänglich. Nur sonntags erhielt die allgemeine Bevölkerung Zutritt. Vgl. Krzysztof Pomian: „Musées français, musées européens“, in: Chantal Georgel (Hg.): La Jeunesse des Musées. Les musées de France au XIXe siècle, Paris: Éditions de la réunion des musées nationaux 1994, S. 351-364, hier: S.-357; ders.: Le musée, une histoire mondiale. II, S.-23-24. 269 Vgl. Dominique Poulot: „Le musée et ses visiteurs“, in: Chantal Georgel (Hg.): La jeunesse des Musées. Les musées de France au XIXe siècle, Paris: Éditions de la réunion des musées nationaux 1994, S. 332-350; Pierre Bourdieu u. Alain Darbel: L’amour de l’art. Les Musées d’Art européens et leur public. Deuxième édition revue et augmentée, Paris: Éditions de Minuit 2003 [1969], v.-a. S.-35-66. 270 Annie Ernaux: Journal du dehors, Paris: Gallimard 1995 [1993], S.-100-101. 271 Vgl. Duncan F. Cameron: „The Museum, a Temple or the Forum“, in: Curator, 14, 1, 1971, S.-11-24. 272 Vgl. Kramper: Storytelling für Museen, S.-34. 273 Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-39. 274 Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, S.-88. chen, oder gar „Vehicle for Broad Social Change“ 267 sein und ist trotz seiner seit dem 19. Jahrhundert zunehmenden Öffnung nicht allen zugänglich. 268 Bis heute werden Museen nur von einem bestimmten Teil der Bevölkerung aufgesucht 269 , die so einen Distinktionsgewinn erzielen, wie in folgendem Textauszug Annie Ernaux’ anklingt, der wie eine Illustration von Bourdieus La Distinction klingt: ‚Il y a au musée de Bâle un tableau de…‘ (à la place de Bâle, ce peut être Amsterdam, Florence, etc.) Début de phrase impersonnel, anondin […], qui pourtant signifie instantanément l’appartenance à un certain monde. Celui où l’on est familier de la peinture, certes, mais aussi celui où l’existence est ouverte […], assez légère pour qu’un tableau soit une chose d’importance dans la vie et la mémoire. 270 Im Zuge der new museology, begründet u. a. von Duncan Cameron mit dem Essay The Museum - A Temple or the Forum (1971), wurde die Frage nach der Autorität und Deutungshoheit der Institution Museum neu verhandelt 271 ; zugunsten des diskursiven Austauschs rückt die Tempel-Funktion in den Hintergrund 272 , das Museum wird von einer Repräsentanz der „hegemoniale[n] Herrschaft“ verstärkt zum Ort einer „konfliktträchtigen Aushandlung“ 273 . Hinterfragt wird auch ein „Selbstverständnis“, das das Museum aufgrund seiner „Gründungsmythen“ als westliche Institution begreift und somit etwa koloniale Gewalt normalisiert. 274 Immer mehr Museen hegen die Ambition, 2 Museumsbegriffe 69 <?page no="70"?> 275 Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-42. 276 Vgl. Amselle: Le musée exposé, S. 13; vgl. Pomian: Le musée, une histoire mondiale. III, S.-642. 277 Für Wyss steht die Eröffnung des Centre Pompidou im Jahr 1977 am Anfang eines „postmusealen Zeitalters“, da es sich an ein Massenpublikum richtet, Kunst der Moderne und der Gegenwart zeigt und Freizeitunternehmungen wie Kino- oder Restaurantbe‐ such ermöglicht. Vgl. Wyss: „Kritische Szenographie“, S.-24-25. 278 Vgl. Jean Baudrillard: L’effet Beaubourg. Implosion et dissuasion, Paris: éditions Galilée 1977, S. 10. Baudrillard bezeichnet das Centre Pompidou als „machine à faire le vide. Un peu comme les centrales nucléaires“, welches das ganze Quartier Beaubourg in Mitleidenschaft ziehe, gleichsam absorbiere. 279 Isabella Pezzini: „Sémiotique du nouveau musée“, in: Umberto Eco u. dies.: Le musée, demain, Traduction de Evelyne Tocut et Jean-Luc Ben Ayoun, Madrid: Casimiro 2015, S.-47-77, hier: S.-52. 280 Vgl. Savoy: Museen, S.-10. 281 Clair: Malaise dans les musées, S. 36. Weiterhin kritisiert Clair v. a. den kommerziellen „Ausverkauf “ der Museen, vgl. etwa S. 58 („les hommes politiques, dans l’après-Guerre, parlaient encore de ‚sauver’ la France. Ceux qui se disent aujourd’hui les héritiers de De ergebnisoffene, verbindliche und wechselseitige Beziehungen mit denen ein[zu‐ gehen], die sie repräsentieren, [und] umfassende Mitsprache und Kontrolle [zu gewähren], ohne gleichwohl die Asymmetrien von Ressourcen und gesellschaftlicher Macht zu überspielen. 275 Auch architektonisch neigt im ‚postmusealen‘ Zeitalter die museale exposition zur explosion 276 , zur Öffnung und Selbst-Ausstellung durch eine ‚transparente‘ Ausstellungsarchitektur, die sichtbar ‚Schwellenangst‘ abbauen will: Das wohl prominenteste Beispiel, das Centre Georges Pompidou 277 , zeigt seine Gänge und sein Gestänge, wendet sein Innerstes gleichsam zur Straße. Es suggeriert, ‚keine Rückseite‘ zu besitzen und ist somit ein zwar sehr sichtbares, aber leeres ‚Zeichen der Stadt‘ - Baudrillard denkt bei dem Gebäude an den schwarzen Monolithen in Stanley Kubricks Film 2001. 278 Auch die anfangs durchaus als provokativ empfundene Pyramide des Louvre kehrt die exposition nach außen: „[L]e musée ‚sort[] de lui-même‘, se présentant comme le protagoniste d’une explosion culturelle et non plus uniquement de la conservation et de la trans‐ mission d’un patrimoine donné.“ 279 Diese architektonische, kulturpolitische und kommerzielle Öffnung ist An‐ lass zahlreicher Museumskritiken. Gehört es zu den schönsten Jugenderinne‐ rungen Bénédicte Savoys, dass sie sich in ihren Freistunden im Centre Pompidou amüsieren konnte, wo Minderjährige freien Eintritt hatten 280 , so zeigen solche Öffnungsinitiativen für Jean Clair den Niedergang des Museums: Zunächst sei es ein Ort des „sacré“ gewesen, dann des „profane“ und nun bloß noch des „ludique“ 281 . Und Baudrillard sieht das sich öffnende Museum in sich zusam‐ 70 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="71"?> Gaulle, parlent de ‚vendre’.“). Vgl. ähnlich auch Cameron: „The Museum“, S. 11; Wyss: „Kritische Szenographie“, S. 24: „Das [Centre Pompidou] ist eine Eventmaschine. […] Auf dem Dach gibt es ein Restaurant. Mit der Rolltreppe kann man das Kunstangebot unbesehen überholen“. 282 Baudrillard: L’effet Beaubourg, S.-38-40. 283 Man denke an das Centre Pompidou Metz, den Louvre Lens, den Louvre Abu Dhabi. 284 Vgl. Amselle: Le musée exposé, S. 65: „[L]e Louvre Abu Dhabi entretient la fiction d’une parité esthétique entre les différentes cultures du monde et d’un nivellement artistique qui portent atteinte à son désir d’universalité.“; vgl. Bernadette Collenberg-Plotnikov: „Das Museum als Provokation der Philosophie. Zur Einführung“, in: dies. (Hg.): Das Museum als Provokation der Philosophie. Beiträge zu einer aktuellen Debatte, Bielefeld: transcript 2018, S.-9-33, hier: S.-15. 285 Vgl. Messling: Universalität nach dem Universalimus, S. 27: „[Selbst] Politiken des Weltbürgertums, die sich von ihrem universalistischen Erbe zu befreien suchten, hätten doch stets die Tendenz, so sehr auf sich selbst zu fokussieren, dass sie erneut Zentralität herstellen[.]“ 286 Amselle: Le musée exposé, S. 18: „tout musée […] s’inscrit dans un syntagme muséal, c’est-à-dire un espace proche ou éloigné qui le met en proximité ou le fait entrer en concurrence avec d’autres musées.“ 287 Groys: Logik der Sammlung, S.-9. menfallen: „C’est la violence interne à un ensemble saturé. L’IMPLOSION. […] Ce qui se produit en réalité, c’est que les institutions implosent d’elles-mêmes […]. Le pouvoir implose, c’est son mode actuel de disparition.“ 282 Auch durch regionale und globale Dezentralisierung begegnet das Museum dem Legitimationsdruck (es sei zu elitär, zu eurozentrisch…), die museale explosion drängt in die Breite und Weite. 283 Dies gilt nicht nur für einzelne, europäische Häuser, sondern für das Konzept des Museums insgesamt. Die oben gezeigte, steil ansteigende Kurve der Museen bildet eine Öffnungstendenz ab, die aber zugleich neue Zentren der Deutungshoheit hervorbringt 284 - denn auch eine ‚Universalität nach dem Universalismus‘ bleibt nicht standpunktlos. 285 Die museale explosion und implosion sind auch im Kontext eines ganzen „syntagme muséal“ 286 und eines Konkurrenzverhältnisses zu anderen Orten der Repräsentation, Sinnerzeugung oder Ausstellung zu sehen: Die Übergangszonen zwischen Kirche und Museum („Kirche der Dinge“ 287 ), Museum und Bahnhof, Museum und Kaufhaus, Museum und Weltausstellung - aber auch Weltausstel‐ lung und Welt - demonstrieren, dass seine zentralen und zentralisierenden, repräsentativen und repräsentierenden Eigenschaften bereits im 19. Jahrhun‐ dert keine Alleinstellungsmerkmale des Museums sind. Künste, Künstler und Museumskritik Aufschwung und Öffnung des Museums v. a. ab dem 19. Jahrhundert wurden durch eine Vielzahl journalistischer und literarischer Texte von Literaten und 2 Museumsbegriffe 71 <?page no="72"?> 288 Vgl. Joseph Jurt: Les Arts rivaux. Littérature et arts visuels d’Homère à Huysmans, Paris: Classiques Garnier 2018, S. 286; Serge Linares: Écrivains Artistes. La tentation plastique. XVIII e -XXI e siècle, Paris: Citadelles&Mazenod 2010. 289 Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S.-163. 290 Vgl. Anka Muhlstein: La plume et le pinceau. L’empreinte de la peinture sur le roman du XIXe siècle, Paris: Odile Jacob 2016; vgl. zu Ausstellungsvorworten durch Literaten seit dem 19. Jahrhundert Colard: „De la préface d’exposition“, sowie v. a. für das frühe 20. Jahrhundert André Berne-Joffroy: „Als die Literatur sich der Kunst zuwandte…“, in: Germain Viatte (Hg.): Paris-Paris. 1937-1957, München: Prestel 1981, S. 32-38; vgl. Clément Dessy: „Seuils littéraires aux arts plastiques. Les préfaces d’écrivains aux catalogues d’exposition“, in: Marie-Pier Luneau u. Denis Saint-Amand (Hg.): La Préface. Formes et enjeux d’un discours d’escorte, Paris: Classiques Garnier 2016, S.-337-357; vgl. Stéphane Guégan u. a. (Hg.): Regards d‘écrivains au Musée d’Orsay, Paris: Réunion des musées nationaux 1992. 291 Vgl. Paul: Poetry in the Museums, S. 2: „While many artists of this period rejected the kinds of institutionalized control of taste and outlook that museums represented, many poets found in them new opportunities for literary innovation.“ 292 Filippo Tommaso Marinetti: „Manifeste du futurisme“, in: Le Figaro, 20.2.1909, S. 1, online unter: https: / / www.lefigaro.fr/ histoire/ archives/ 2019/ 02/ 19/ 26010-20190219ARTF IG00263--le-figaro-publie-en-une-le-manifeste-du-futurisme-le-20-fevrier-1909.php; vgl. Paul: Poetry in the Museums, S.-16; vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S. 174. bildenden Künstlern begleitet. Vor allem das Bildarsenal des Louvre imprä‐ gnierte die Literatur; das Museum wurde zu einem Begegnungspunkt zwischen dem literarischen und dem künstlerischen Feld. 288 Dies trug einerseits zu seiner ‚Institutionalisierung‘ bei. Literarische Texte, Ausstellungskritiken, ebenso wie öffentliche Führungen und Kataloge schrieben besonders den Louvre zu einem Ort fest, der „der bürgerlichen Gesellschaft der Grande Nation ein Selbstbild“ 289 gab. Andererseits wirkten Literaten und Künstler besonders im 20. Jahrhundert an der Umdeutung des Museums mit und prägten die Museumskritik. 290 Je kontingenter die Zeiten, je vielfältiger die Kunst, je multipolarer die Welt, desto stärker gerät das Museum in Verdacht, eine Instanz des Etablierten zu sein. Dies mag ein Grund sein, warum der Konflikt zwischen Museum und Künstlern umso deutlicher zutage tritt, je unmittelbarer diese von Auswahl- und Präsenta‐ tionskriterien des Museums betroffen sind 291 , wie etwa an den Museumskritiken von Künstlern deutlich wird, die insbesondere die ‚identitätskonsolidierende‘ und ‚Memento‘-Funktion (s.o) des Museums attackieren: Schon in Marinettis Manifest du futurisme ist es ein Symbol des Abgelebten („10. Nous voulons dé‐ molir les musées, les bibliothèques […]. 11. […] Nous voulons débarrasser l’Italie des musées innombrables qui la couvrent d’innombrables cimetières. Musées, cimetières ! … Identiques vraiment dans leur sinistre coudoiement de corps qui ne se connaissent pas.“ 292 ), bei Jean Cocteau („un musée est une morgue“ 293 ), und auch bei Claes Oldenburg („I am for an art that is political-erotical-mystical, 72 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="73"?> 293 Zit. nach Naïs Curti: „Cocteau et le musée du Bastion“, in: Cahiers Jean Cocteau, 18, 2020, online unter: https: / / cahiersjeancocteau.com/ articles/ cocteau-et-le-musee-du-ba stion. 294 Claes Oldenburg: „I am for an Art“, in: Martin Tröndle u. Claudia Steigerwald (Hg.): Anthologie Kulturpolitik: Einführende Beiträge zu Geschichte, Funktionen und Diskursen der Kulturpolitikforschung, Bielefeld: transcript 2019, S.-691-694, hier: S.-691. 295 Marcel Broodthaers: „Interview with a cat“, in: ders.: Collected Writings, hg. v. Gloria Moure, Barcelona: Polígrafa 2012, S. 288-289, zit. nach: Susanne Pfeffer (Hg.): Booklet zur Ausstellung „Museum“, Frankfurt am Main: Museum für moderne Kunst 2019, o.S. 296 te Heesen: Theorien des Museums, S.-119. that does something other than sit on its ass in a museum.“ 294 ) oder Marcel Broodthaers (im ‚Gespräch‘ mit seiner Katze): MB: But we will have to sell these paintings. C: Miauw MB: What will the people who bought the previous things do? C: Miauw MB: Will they sell them? C: Miiauw… mia MB: Or will they continue? […] C: Miaauw […] MiAUW MB: In that case close the museums! C: MIAUW 295 Und schließlich ließe sich in diesem Zusammenhang auch Malraux’ Projekt des musée imaginaire nennen, als eine Kompensation dessen, was das reale Museum nicht zu leisten imstande ist. Dieses Projekt schlug sich zwar in mehreren Büchern nieder (vgl. Kap. I.2.3.), ist vor allem aber eine Metapher für das ‚Museum in uns‘: Auch Malraux ist klar, dass es nie das eine Buch geben wird, sondern das Imaginäre Museum ist eines unseres Gedächtnisses. […] Das Museum geht in die Verantwortung eines jeden selbst über […]. [E]rstmals erscheinen uns auch Objekte, die sich bisher nicht in der Reichweite des Betrachters befanden […]. 296 Das potentiell unendliche musée imaginaire ist in dieser Hinsicht zugleich Museumskritik und -utopie. Zum Museum als literarischem Ort Trotz des offenkundigen Interesses der Literaten für die Künste und gemessen an seiner kulturellen Bedeutung ist das Museum als literarischer Ort nicht sonderlich präsent. 297 Dies überrascht besonders für die französische Literatur 2 Museumsbegriffe 73 <?page no="74"?> 297 So findet sich etwa auch in der „6., überarbeiteten und ergänzten Auflage“ von Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart: Krömer 2008 [1976] kein Eintrag zum Museum, ebenso fehlt dieser in Horst S. u. Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur, Tübingen/ Basel: Francke 1995 [1987]. Vgl. zum Museum als Motiv und zum Motivbegriff Goldschweer: Trügerische Zuflucht, v.-a. S.-13-20. 298 In 394 ausgewerteten, von 1800 bis 1920 - also zur Zeit des Pariser Museumsbooms - erschienenen französischen Romanen finden sich zwar 363 Nennungen des Begriffs ‚musée‘ in ca. 100 Werken, aber nur die wenigsten verweisen auf relevante Museums‐ szenen, vgl. Luce Abélès: „Roman, musée“, in: Chantal Georgel (Hg.): La jeunesse des Musées. Les musées de France au XIXe siècle, Paris: Éditions de la réunion des musées nationaux 1994, S. 316-331, hier: S. 316; Abélès bezieht sich auf das Korpus des Trésor de la Langue Française, das u.-a. das Gesamtwerk von Stendhal, Flaubert, Maupassant, Zola und Proust sowie einen Großteil der Werke von Balzac und Huysmans umfasst. 299 Vgl. Hamon: „Ecrire le Louvre“, S. 525; dieser Umstand zeigt auch die Notwendigkeit einer (raumsemiotischen) Lektüre, welche die gesamte erzählte Welt eines Werks berücksichtigt. Vgl. Mayaux: „Introduction“, sowie die Einzelanalysen in ihrem Sam‐ melband. 300 Charles Baudelaire: „Le Cygne“, in: ders.: Les Fleurs du Mal [1861/ 1868], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 1-196, hier: S. 85-87 (Zitat: S. 86). Als Ort der Begegnung mit der Kunstgeschichte, dem er seine Kenntnis der Malerei verdankt, spielt der Louvre u. a. bei Baudelaire diese indirekte, aber prägende Rolle. Von expliziten Thematisierungen etwa im Peintre de la vie moderne bis zu einem nie verfassten, aber geplanten Text des Titels „Musées disparus, musées à créer“. So kann man nicht nur vom Louvre als „un des foyers majeurs de la culture visuelle de Baudelaire“ sprechen, sondern dem Museum auch eine Funktion als „objet de pensée comme tel“ zuschreiben, einem Interesse an der historischen und politischen Dimension des Orts. Vgl. Rémi Labrousse: „Baudelaire, le Louvre et l’idée de musée“, in: L’année Baudelaire, 3, 1997, S. 83-102, hier: S. 83-85; vgl. Wolfgang Drost: Der Dichter und die Kunst. Kunstkritik in Frankreich. Baudelaire, Gautier und ihre Vorläufer Diderot, Stendhal und Heine, Heidelberg: Winter 2019, S. 157-277; Westerwelle: Baudelaire und Paris, S.-60-66, S.-89, S.-199-211. 301 Balzac: Le Père Goriot, S.-73-74. im 19. Jahrhundert, wo es im Vergleich zu anderen Orten der Kunst (wie dem Theater) eine untergeordnete Rolle spielt. 298 Wie aber u. a. Hamon an zahlrei‐ chen Beispielen belegt, ist etwa der Louvre auch indirekt und implizit in Texten prägend; er muss nicht betreten werden, um die Organisation literarischer Stadttopographien zu beeinflussen 299 - „[a]ussi devant ce Louvre une image m’opprime“ 300 , wie es bei Baudelaire heißt. Und auch literarische personnages und deren Handlungen können das Mu‐ seum im Text aufrufen. Einer der Gäste in der Pension Vauquer, ein Muse‐ umsangestellter, der selbst einen klassifizierenden Blick auf seine Umgebung richtet, und etwa den Vater Goriot zoologisch einordnet („un mollusque anth‐ ropomorphe à classer dans les Casquettifères, disait un employé au Muséum, un des habitués à cachet.“ 301 ), ist ein Beispiel dafür, wie das Museum als Thema in 74 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="75"?> 302 Théophile Gautier: Le Musée du Louvre, Édition présentée et annotée par Marie-Hélène Girard, Paris: Musée du Louvre/ Citadelles&Mazenod 2011. [1867] 303 Vgl. Aurélie Villers: „Musées à venir : que prévoit la science-fiction? “, in: Emmanuelle Amsellem u. Isabelle Limousin (Hg.): Le musée, demain, Paris: L’Harmattan 2017, S.-197-210. 304 Hamon: „Ecrire le Louvre“, S.-527. 305 Christiane Holm: „Ausstellungen/ Dichterhaus/ Literaturmuseum“, in: Natalie Binczek u. a. (Hg.): Handbuch Medien der Literatur, Berlin: de Gruyter 2013, S. 569-581, hier: S.-568. 306 te Heesen: Theorien des Museums, S.-19. 307 Vgl. Baur: „Was ist ein Museum? “, S. 35. Für te Heesen: Theorien des Museums, S. 150, sind „Museum und Ausstellungswesen“ seit dem reflexive turn der 1960 nicht mehr zu trennen, andererseits jedoch ist die „gesonderte Betrachtung“ der Ausstellung gewinnbringend, vgl. ebd., S.-190. Vgl. Tyradellis: Müde Museen, S.-266. 308 Holm: „Ausstellungen/ Dichterhaus/ Literaturmuseum“, S. 569. Holm verweist u. a. auch auf te Heesen: Theorien des Museums, S.-73-89. der Literatur aufgegriffen und anzitiert wird - und damit die Durchdringung des Alltagslebens mit musealen Formen und Diskursen illustriert. Berücksichtigt man dann noch die Vielfalt der literarischen Formen, die sich dem Museum widmen, von den Werken Baudelaires, Zolas oder Huysmans’, über Théophile Gautiers ‚Museumsführer‘ Le Musée du Louvre (1867) 302 bis hin zu satirischen oder futuristischen 303 Texten, so kann man mit Hamon festhalten: „‚Le‘ Louvre n’existe pas, chaque genre décline ‚son‘ Louvre.“ 304 Diese Erkenntnis, zu beziehen auch auf weitere Museen, ist auch für die folgende Arbeit zentral - denn auch in den behandelten Texten stehen Museen als Orte nicht immer im Mittelpunkt, sondern sind museale Sicht- und Schreibweisen als Gegenentwürfe oder (auch nur anzitierte) Bestandteile einer erzählten Gegenwart präsent. 2.2 Ausstellung Wie das Museum besitzt auch der Begriff der Ausstellung einen breiten Bedeu‐ tungshof. Die Wortgeschichte („exponere, exhibere, monstrare“ 305 ) erinnert daran, dass das Museum nur ein Ort der Ausstellung ist 306 - doch wie die Sammlung ist die Ausstellung eng mit der Institution Museum verbunden. 307 Dass sich aber Ausstellung auch anderswo findet, macht sie zu einem „spezifischen Präsenta‐ tionsformat der Moderne“ 308 und öffnet den Begriff zur ‚Welt als Museum‘ (vgl. Kap. II.2.3.). Gemeinsam sind der inner- und außermusealen Ausstellung der Aspekt der Sichtbarmachung von etwas: Exposer, […] c’est mettre en vue, présenter aux regards, disposer de manière à attirer l’attention, quoi qu’il en soit la nature de la chose exposée et des fins auxquelles obéit 2 Museumsbegriffe 75 <?page no="76"?> 309 Hubert Damisch: L’amour m’expose. Le projet ‚Moves’, Paris: Klincksieck 2007, S.-46. 310 Flügel: Einführung in die Museologie, S. 107; ähnlich auch Rey: „The Discourse of the Exhibition“, S.-125. 311 Vgl. Groys: Logik der Sammlung, S.-60. 312 Ebd., S.-202. 313 Vgl. ebd.: „Der museale Raum zerfällt, weil die Beziehungen zwischen den dort ausgestellten Kunstwerken nicht mehr von den ‚lebendigen‘ geschichtlichen Zusam‐ menhängen diktiert werden.“ 314 te Heesen: Theorien des Museums, S.-15, vgl. ebd., S.-73. 315 Vgl. Eco: „Le musée du troisième millénaire“, S. 34: „J’imagine que les premiers visiteurs du Louvre […] y entraient, non pas tant pour admirer les œuvres d’art, que pour mettre les pieds, pour la première fois, dans le palais jusqu’alors interdit au peuple.“ 316 Vgl. Matthieussent: Expositions, S.-29. cette exposition, aussi bien que des formes qu’elle revêt. Qu’il s’agisse d’un tableau proposé à l’admiration du public, du saint sacrement offert à l’adoration des fidèles, ou d’un criminel condamné à la peine infamante de carcan, l’exposition implique un passage de l’obscurité de l’atelier, de l’armoire ou du cachot, à la lumière qui fait la condition de sa visibilité. 309 Anders als das Museum insgesamt, ist die Ausstellung nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt, sondern impliziert ein „zeitlich begrenztes Herzeigen von Dingen“, wobei „dieses Herzeigen nicht um seiner selbst willen, sondern aus einem be‐ stimmten Anlass“ 310 geschieht. Ausstellungen - zumal Sonderausstellungen 311 , und ganz besonders solche, die von externen (Künstler-)Kuratoren konzipiert sind - gehen über die „historische Logik“ des Museums hinaus 312 , behaupten Neuheit, eine Ausnahme von der Regel und ermöglichen damit ein ästhetisches Hinterfragen der auf Dauer angelegten und mit der Vergangenheit verbundenen Institution. 313 Damit kann das ereignishafte Moment der Ausstellung zur Jus‐ tierung des weniger beweglichen Monuments des Museums beitragen und auch museale Repräsentationsdilemmata auflösen: Wurde oben festgestellt, das Museum könne nur einebnen, was schon als ‚neu‘ oder ‚anders‘ anerkannt sei, so darf in der (Sonder-)Ausstellung das Neue wenigstens etwas neuer, das Andere etwas anders sein. Beide Pole stehen dabei im Wechselspiel: „Das Beständige des Museums und das Mobile, Ephemere der Ausstellung“, so te Heesen, „bilden den Kernpunkt und die Dualität unserer heutigen Auffassung von räumlicher Präsentation“. 314 Der Neuigkeitswert einer Ausstellung trägt also zu ihrem oft ‚spektakulären‘, ereignishaften Charakter bei. Von der Öffnung des Louvre für breite Bevölkerungsschichten 315 , der ersten Weltausstellung in London, die sechs Millionen Besucher in fünf Monaten anzog 316 , der Pariser Weltausstellung von 1900 mit ca. 51 Millionen Besuchern in sieben Monaten 317 , bis hin zu den fast ikonisch gewordenen Schlangen vor 76 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="77"?> 317 Vgl. ebd.; sowie Beat Wyss: „Ein Laboratorium der globalisierten Gesellschaft. Die Pariser Weltausstellung von 1889“, in: Gregor Wedekind u. Steffen Haug (Hg.): Die Stadt und ihre Bildmedien. Das Paris des 19. Jahrhunderts, Leiden: Wilhelm Fink, 2018, S.-151-164, hier: S.-153-154. 318 Vgl. Harald Kimpel: „Der kuratierte Stau. Die Warteschlange als szenographisches Essential“, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21.-Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S.-417-429, hier: S.-421. 319 Vgl. Winfried Eckel u. Uwe Lindemann: „Text als Ereignis - Ereignis als Text: Eine Einleitung“, in: dies. (Hg.): Text als Ereignis: Programme - Praktiken - Wirkungen, Berlin/ Boston: de Gruyter 2017, S.-1-20. 320 Vgl. Hamon: Expositions, S.-50. 321 Vgl. Bal, S. 77: „Exposition - im umfassenderen, allgemeinen Sinn von ‚einen Gedanken exponieren‘ wie auch im spezifischen Sinn von ‚ausstellen‘ - zeigt auf Objekte und macht im Vollzug dieser Gebärde eine Aussage“. Vgl. dies.: „E: Ethics-Exhibiting“, S. 40. 322 Vgl. Uwe Wirth: „Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? “, in: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie, Göttingen: Wallstein 2011, S.-53-64, hier: S.-53-54. 323 Terry Smith: Thinking Contemporary Curating, New York: Independent Curators Inter‐ national 2012, S. 30: „taking ‚exhibition‘ in [a] broad sense […], and ‚setting‘ to mean any appropriate situated context“. 324 Colard: „L’hypothèse du ‚roman-exposition‘“, S.-328. der Berliner MoMA-Ausstellung von 2004 318 ist auch die Menge der Besucher ein Gradmesser für ihren Erfolg und macht diesen Neuigkeitswert sichtbar, legitimiert damit die Ausstellung als ‚ausstellenswert‘ - denn eine Ausstellung, die nicht gesehen wird, hat ihr Ziel verfehlt. Für die Ausstellung der Literatur ist diese „Ereignis“-Dimension 319 besonders relevant, denn Literatur ist nach ihrer Veröffentlichung i. d. R. zeitlich flexibel zu lesen, wogegen eine Ausstellung sie als zeitlich begrenztes Ereignis vermittelt. Im Unterschied zum Museum, das man als Palimpsest verschiedener Stimmen verschiedener Zeiten verstehen könnte (vgl. Kap. II.4.2.2.), hat die museale Ausstellung i. d. R. eindeutige Urheber (vgl. Kap. II.2.6.), weshalb sowohl Hamon 320 als auch Bal 321 und Wirth 322 sie in die Nähe von ‚Sprechakten‘ rücken. Die Ausstellung ist darum der Ort des Museums, an dem néolittérature ihren Ort haben kann. Jedoch ist diese Erzählung nicht einfach zu situieren (vgl. Kap. II.3.3.): Colard bezieht sich auf Terry Smith und dessen Begriff des „exhibition setting“ 323 , und beschreibt die Spezifizität von (Kunst-)Ausstellungen als jeu subtil qui s’effectue entre les œuvres, dans leur disposition, leur display. C’est un réseau ouvert de relations, de rapports établis entre les œuvres, le public et le site. Et c’est par cet agencement d’œuvres disparates et de médiums variés que l’exposition s’essaie, parfois, à construire un récit spatialisé. 324 2 Museumsbegriffe 77 <?page no="78"?> 325 Smith: Thinking Contemporary Curating, S.-30. 326 Vgl. Wyss: „Kritische Szenographie“, S.-36. 327 Vgl. etwa Matthieussent: Expositions, S. 67-74, sowie Eco: „Le musée du troisième millénaire“, S. 30, der daran erinnert, dass dieses Gemälde - wie auch L’Olympia - explizit für eine museale Ausstellung gedacht war. 328 „Da seine Bilder L’Enterrement à Ornans (1850) und L’Atelier (1855) - mangels ideali‐ sierender Darstellung - [zur Pariser Weltausstellung 1855] nicht zugelassen werden, errichtet Gustave Courbet daraufhin vor dem offiziellen Gebäude einen von ihm sogenannten Pavillon du réalisme, der nicht nur der Ausstellung und dem Verkauf seiner Bilder dient, sondern der auch den Begriff des Realismus in der Malerei erfolgreich propagiert“, Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S. 172; vgl. Alina Kilian: „Die Ausstellung als Kunstwerk. Historische Fallbeispiele einer künstlerischen Entmachtung des Kurators“, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21.-Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S.-381-393. Der Begriff ist auch interessant, wenn man an literar-museale Komplexe denkt, denn mit Smith muss sich ein solches exhibition setting nicht auf den physischen Raum beschränken: To exhibit is […] to bring a selection of […] works of art […] into a shared space (which may be a room, a site, a publication, a web portal, or an app) with the aim of demonstrating, primarily through the experiential accumulation of visual connections, a particular constellation of meaning that cannot be made known by any other means. Of course, such meaning may be parsed in terms other than strictly exhibitionary: art critical, art historical; literary, philosophical, cultural; personal or idiosyncratic; ideological or programmatic - the list is long. But exhibitionary meaning is quite specific because it is established and experienced in the space of an exhibition, actual or virtual (virtual includes memory). 325 Eine solche, weitgefasste Definition erlaubt, auch ganze Werkkomplexe als Bestandteile eines umfassenden exhibition setting zu verstehen, und öffnet den Begriff zu weiteren Formen des Ausstellens, innerhalb und außerhalb des Museums. Ausstellung außerhalb des Museums: exposition und expédition, exposition und explosion Wie sich auch an der ‚Eventisierung‘ des Museums in Form von Sonderausstel‐ lungen 326 zeigt, befindet sich das museale Ausstellen zu anderen Formen und Orten der Präsentation in Konkurrenz. Dies wird schon im 19. Jahrhundert sichtbar, wo Formen des Ausstellens inner- und außerhalb des Museums auf verschiedene Weisen nebeneinander und gegeneinander stehen - man denke an den „Salon des refusés“ (1863), wo Édouard Manet sein Gemälde Le Déjeuner sur l’herbe zeigte 327 , und die Selbst-Ausstellung Gustave Courbets 1855 328 vor seiner 78 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="79"?> 329 Hamon: Expositions, S.-17. 330 Vgl. ebd., S.-68. 331 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. V, 1 u. V, 2, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1982 [1927-1940], S.-232-268. 332 Ebd., Bd.-1, S.-240. 333 Vgl. ebd., S.-242. 334 Hamon: Imaginaires, S. 22-23; vgl. dazu auch Vedder „Museum/ Ausstellung“, S. 171-173. 335 Vgl. Benjamin: Passagen-Werk, Bd.-1, S.-242. Aufnahme in den Louvre im Jahr 1881. Bei diesen Ereignissen greifen verschie‐ dene Formen des Ausstellens ineinander: der Künstler, der sich exponiert, die ‚skandalösen‘ Akte, die selbst exponieren, die Ausstellung von Kunst erst außer-, dann innerhalb des Museums. Für Hamon stehen sie für das Jahrhundert als „bataille d’Expositions, ou l’Exposition comme enjeu“ 329 . Neben diesen - künstlerischen - Ausstellungs‐ formen benennt er weitere: Exponierte, auratisierte Objekte finden sich in Form industrieller Güter, Maschinen und Kunsthandwerk auf den erfolgreichen Weltausstellungen, aber auch als zum Verkauf dargebotene Objekte hinter den Glasvitrinen der Grands Boulevards 330 - eine Zusammenführung, wie sie auch in den Exzerpten Walter Benjamins anklingt, der im Abschnitt „Ausstellungs‐ wesen, Reklame, Grandville“ seines Passagen-Werks 331 ein ganzes Panorama an Modi städtischen Ausstellens aufbietet. Benjamin führt die zunehmende Präsenz der städtischen Reklame in den Pariser Straßen („im Geschmack von Harlekins‐ jacken verziert; das ist eine Versammlung von großen grünen, gelben, […] und rosenfarbigen Papierstücken“ 332 ) mit der Popularität der Weltausstellungen zu‐ sammen und erinnert daran, dass die ersten (öffentlichen) Pariser Ausstellungen zum Beginn des 19.-Jahrhunderts im Hof des Louvre stattfanden. 333 Die dergestalt ineinandergreifenden Sphären der Welt im Museum und der Welt als Museum führen zu einer Verwischung bzw. Durchdringung von Innen- und Außenräumen: [d]es fonctions s’échangent, ou se délocalisent, des détournements d’images se produisent. La réclame fait du mur public une cimaise de musée et mêle ses hommes-sandwich aux flâneurs ; les dessins des journaux, les chefs-d’œuvre des Musées se retrouvent sur les murs des appartements privés ; […] les ‚tableaux vivants’ mettent le Salon et le Louvre dans le salon privé. Hypertrophie des expositions d’images et hypertrophie du regard semblent aller désormais de pair. 334 Im öffentlichen Raum als erweitertem exhibition setting erfahren sich auch die Stadtbewohner als exponierendes (und exponiertes) Subjekt. Zu denken ist an die Pariser Sandwichmänner 335 , an den großstädtischen Sozialtypus des Dandy, 2 Museumsbegriffe 79 <?page no="80"?> 336 Man denke etwa an die Prosagedichte Les Yeux des pauvres (S. 317-319) oder Les Fenêtres (S. 339) in: Charles Baudelaire: Le Spleen de Paris [1869], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 273-374; vgl. Pety: Poétique de la collection, S. 237-256, die dem Phänomen des Ausstellens in der Stadt sowie den Grenzen von Innen und Außen v. a. mit Blick auf das aufzeichnende, urbane Künstler-Subjekt in Texten von Baudelaire, Mallarmé und Huysmans nachgeht. 337 Vgl. Hamon: Du descriptif, S. 148: Flaneure seien „délégués à l’enregistrement des ‚vues‘, ‚tableaux‘, scènes ou anecdotes toujours multipliées de la grande ville“. 338 Hier liegen zwei Geschäfte (ein Buch- und ein Designladen) im Erdgeschoss des Gebäudes, so dass man unweigerlich daran vorbeikommt, zusätzlich gibt es kleinere Shops zu den Sonderausstellungen. Baudrillard spricht von dem gesamten Komplex als „hypermarché de la culture“, vgl. Baudrillard: L’effet Beaubourg, S.-29. 339 Vgl. Welzbacher: Das totale Museum, S. 50; Welzbacher spricht vom Museum als „Warenhaus“, „das in der Ausstellung Bedürfnisse erzeugt, die es im Shop befriedigt“. 340 Vgl. Lianne McTavish: „Shopping in the Museum? Consumer Spaces and the Redefini‐ tion of the Louvre“, in: Cultural Studies, 12, 1998, S. 168-192, auch dies.: „Museum“, in: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart: Metzler 2003, S. 317-322. Auch Walter Benjamin beschreibt das Phänomen: „Die Massierung der Kunstwerke im Museum nähert sie den Waren an, die, wo sie sich dem Passanten in Massen darbieten“; Benjamin: Passagen-Werk, Bd.-1, S.-522. 341 Flügel: Einführung in die Museologie, S.-66. 342 Ebd., S. 66-67; vgl. auch ebd., S. 100: „Im Deponieren wird das Erkennen und Verwahren der aus der Totalität der Erscheinungen herausgelösten, selektierten Dinge begründet, im Exponieren das Mitteilen und Teilnehmen ermöglicht.“; vgl. Pomian: Le musée, une histoire mondiale. I, S.-12. 343 Vgl. Flügel: Einführung in die Museologie, S.-100. wie auch an die beobachtenden Flaneure und badauds, welche selbst Bilder von der ‚Welt als Museum‘ hervorbrachten 336 und wiederum Eingang in die Literatur fanden (vgl. Kap. II.3.4). 337 Gehen beide Ausstellungszonen ineinander über, wie etwa im Centre Pom‐ pidou 338 oder in der Shoppingzone „Carrousel du Louvre“, die seit 1993 direkt vor den unterirdischen Ein- und Ausgängen des Museums liegt, so greifen kulturelles und kommerzielles Ausstellen ineinander, was nicht selten Anlass zu Museumskritiken ist. 339 Hier wie dort werden Dinge hinter Glas gezeigt, die man sich entweder nur visuell oder auch materiell aneignen kann. 340 Während sich die museale Ausstellung in einer „Zwickmühle“ 341 zwischen Schützen und Zeigen, Deponieren und Exponieren 342 befindet, da sie Objekte ausstellen soll, die sie aufgrund ihrer Seltenheit oder Einmaligkeit zu schützen hat, und die dem „gesellschaftlichen Kreislauf “ entnommen sind 343 , dient die außermuseale Ausstellung gerade dazu, die Dinge in diesen Kreislauf einzuspeisen, sie bekannt zu machen oder zu verkaufen, wozu sie auf museale Inszenierungsformen zurückgreift, um die Seltenheit oder Einmaligkeit der beworbenen Produkte zu behaupten. Auch in der exposition commerciale werden die Dinge isoliert und 80 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="81"?> 344 Knausgård: So much longing in so little space, S.-140-141. 345 Flügel: Einführung in die Museologie, S. 25; vgl. Heike Gfrereis u. Ulrich Raulff: „Literaturausstellungen als Erkenntnisform“, in: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vanden‐ rath (Hg.): Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011, S.-101-110. 346 Vgl. Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, S.-102. 347 Vgl. Flügel: Einführung in die Museologie, S.-25. 348 Ebd. 349 Vgl. die ersten Zeilen Malraux’ zum musée imaginaire: „Un crucifix romain n’était pas d’abord une sculpture, la Madone de Cimabue n’était pas d’abord un tableau, même la Pallas Athéné de Phidias n’était pas d’abord une statue“, André Malraux: Les voix du silence, S.-204. auratisiert, doch ihre ‚Kehrseite‘ ist eine andere: Bietet die museale Inszenierung eine ‚Halbverfügbarkeit‘ von etwas (aus dem Depot entferntem) Seltenem (vgl. Kap. II.2.3), so suggeriert eine geschickt beleuchtete Tasche oder Uhr in einer Vitrine Seltenheit von etwas eigentlich (im Warenlager) Verfügbarem. 2.3 Musealisierung (von Dingen, von Welt) [The pictures] were not in chronological order, and it was impossible to predict which pictures would emerge. It was as if they were naked, it occurred to me, or unprotected. When exhibited in a museum each picture is hung in accordance with a carefully thought-out system, covered with glass and furnished with a plaque printed with the title and date and perhaps also an interpretative or contextual comment. These pictures seemed to hang just anyhow, few of them were glazed, and striking masterpieces hung side by side with the most unassuming sketches […]. 344 So erlebt Knausgård den Besuch des Depots im Munch-Museum, das er in Vorbereitung seiner dortigen Ausstellungstätigkeit aufsucht. Er trifft auf eine Bildersammlung, deren Musealisierung erst im folgenden Selektionsprozess eintritt. Musealisierung ist „zwar an einen Träger, also die Sache oder das Objekt gebunden, sie kann aber nicht als seine Eigenschaft bezeichnet werden. Sie ent‐ steht erst im Laufe des sich vollziehenden musealen Erkenntnisprozesses“ 345 , der Objekte aus ihrem ursprünglichen kulturellen Zusammenhängen herauslöst, in den „Möglichkeitsraum“ Depot 346 verbringt und daraus wieder zur Ausstel‐ lung hervorholt. 347 Musealisieren meint also, Bedeutungen fremder Dinge „zu dechiffrieren und in unsere Welt zu integrieren“ 348 , sie - wenigstens visuell - ‚verfügbar‘ zu machen. In diesem Sinn impliziert es eine Vermittlung zwischen Fremdem und Eigenem, durch die ein Objekt seine Bedeutung wechselt, und ein Kruzifix zum Kultobjekt werden kann. 349 2 Museumsbegriffe 81 <?page no="82"?> 350 Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S. 35; vgl. Straubel: Zum Museum der Literatur, S.-24. 351 Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S.-35. 352 Vgl. Déotte: Le musée, S.-144. 353 François Mairesse: „Muséalisation“, in: ders. (Hg.): Dictionnaire encyclopédique de muséologies. Paris: Armand Colin 2011, S. 251; zit. nach Régnier: „Ce que le musée fait à la littérature“, S.-9. 354 Vgl. Hamon: Imageries, S. 83: Habe sich die Aufnahme eines Werks ins Museum bis ins 19. Jahrhundert von seinem zugeschriebenen Wert hergeleitet („c’est une œuvre d’art, donc elle doit aller au musée“), so wurde das Museum im 20. Jahrhundert zur legitimierenden Institution („c’est un musée, donc c’est une œuvre d’art“); auch Bawin: L’artiste commissaire, S. 110, die ebenfalls eine Entwicklung „[d]e l’œuvre-musée au musée-œuvre“ konstatiert. Vgl. allgemein auch Constanze Peres: „Die Rolle des Museums in der Ontologie des Kunstwerks“, in: Bernadette Collenberg-Plotnikov (H g.): Das Museum als Provokation der Philosophie. Beiträge zu einer aktuellen Debatte, Bielefeld: transcript 2018, S.-237-278. 355 Vgl. Groys: Logik der Sammlung, S. 12-13: „Wenn immer wieder eine politisch, ästhetisch oder anders motivierte Forderung erhoben wird, das Andere, das Verdrängte, das Ausgeschlossene ins Museum aufzunehmen, dann ist diese Forderung eigentlich völlig überflüssig, weil sie der internen Logik der musealen Sammlung folgt.“ 356 André Malraux: Les voix du silence, S. 45, auch zit. v. Dagognet: Le Musée sans Fin, S. 22. Gerade am ‚fremden‘ Objekt wird sichtbar, dass es der Welt entzogen ist: „Weil die Dinge im Museum gesammelt sind, fehlen sie woanders - und verweisen damit auf andere Orte und andere Zeiten“ 350 . Dadurch ist das musealisierte Objekt ein ambivalentes Objekt. Durch seine „De- und Rekontextualisierung“ 351 verliert es an Autonomie 352 und ist der Bedeutungszuweisung des Museums unterworfen: Mairesse beschreibt Musealisierung als opération tendant à extraire, physiquement et conceptuellement, une chose de son milieu naturel ou culturel d’origine et à lui donner un statut muséal, la transformer en musealium ou muséalie, objet de musée, soit à la faire entrer dans le champ du muséal[.] 353 Was im Museum zu sehen ist, wird zur Musealie - und gehört demnach ins Museum, das besonders ab dem 19. Jahrhundert als normierende Instanz funktioniert. 354 Der im Zuge des musealen Wandels sich einstellende, geänderte Repräsentationscharakter des ausgestellten Objekts relativiert dadurch auch die Kategorien der ‚Fremdheit‘ von Objekten und des Museums als Ort der ‚Alterität‘. 355 Musealisierung verweist auf etwas ‚Anderes‘, selbst wenn dieses Andere nie existiert hat, und ist deswegen ambivalent: „Si nos musées suggèrent une Grèce qui n’exista jamais, les œuvres grecques de nos musées existent : si Athènes ne fut jamais blanche, ses statues blanches ont ordonné la sensibilité artistique de l’Europe“ 356 . 82 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="83"?> 357 Vgl. Svetlana Alpers: „The Museum As a Way of Seeing“, in: Ivan Karp u. Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting cultures. The poetics and politics of museum display, Washington D.C.: Smithsonian Institution Press 1991, S.-25-32. 358 Groys: Logik der Sammlung, S.-16. 359 Flügel: Einführung in die Museologie, S. 27. 360 Ebd.; vgl. Bénédicte Savoy: Objets du désir, désir d’objets, Paris: Collège de France/ Fayard, 2017, S. 31-32. Dieser Aspekt ist insbesondere für die postkoloniale Museumskritik relevant. Vgl. stellvertretend etwa die Kritik am Musée du quai Branly, „in dem die Reste der durch Forschungsreisen und koloniale Expansion untersuchten und zerstörten Kulturen politisch korrekt dargeboten werden sollen, aber als künstlerische Meisterwerke stilisiert und damit einmal mehr in einen abendländischen Rahmen eingebunden werden“ (te Heesen: Theorien des Museums, S.-195). 361 Mayaux: „Introduction“, S.-9. 362 Vgl. z. B. Welzbacher: Das totale Museum; Dominik Finkelde: „Musealisierte Welt. Zum Motiv des Sammelns bei Benjamin, Flaubert und Balzac“, in: Bernd Witte (Hg.): Topo‐ graphien der Erinnerung. Zu Walter Benjamin, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 248-258; Walter Grasskamp: „Die Welt als Museum? “, in: Andreas Blühm u. Anja Ebert (Hg.): Welt - Bild - Museum: Topographien der Kreativität, Köln: Böhlau 2011, S. 291-300, und ders.: „Die Welt als Museum? Nachruf auf eine Metapher“, in: Merkur, 11, 2009, S. 1003-1012; Philippe Hamon: Imageries, littérature et image au XIXe siècle. Paris: José Corti 2001, S.-84. 363 Flügel: Einführung in die Museologie, S.-24. In diesem Sinne ist Musealisierung auch Fiktionalisierung. Das ausgestellte Objekt im Museum erscheint als Konstruktion 357 , das nur in seiner äußeren Erscheinung erfahrbar wird, denn es „ist durch unterschiedliche Verbote kon‐ stituiert: die ausgestellten Dinge nicht zu berühren, nicht umzudrehen, nicht zu zerlegen, in ihrem Inneren nicht zu untersuchen. […] Das Museum ist damit keineswegs der Ort der reinen Aufklärung“ 358 , sondern v. a. ein Raum ausge‐ stellter Intentionen; ein musealisiertes Objekt ist demnach auch unabhängig von einer im Ausstellungsraum generierten Erzählung ein geschriebenes Objekt, das „durch den Deklarationsakt der Musealisierung“ selbst „eine neue semantische Dimension“ 359 erhält und zum Objekt umgewertet wird, das „nicht nur als ein Dokument seiner Herkunftswirklichkeiten gesehen werden [muss], sondern […] gewissermaßen auch als Dokument jener Wirklichkeiten […], in die [es] durch den Musealisierungsprozess versetzt worden ist“ 360 . Musealisierung (in) der Welt Musealisierung - und eine damit einhergehende „métamorphose“ 361 der Dinge - kann auch außerhalb der Museumsmauern stattfinden: im Rahmen kommerzi‐ ellen Ausstellens (vgl. Kap. II.2.2.), aber auch in der „Welt als Museum“. 362 Als mit „ideelle[n] und soziale[n] Komponente[n]“ 363 versehener, identitätsstiftender Prozess kommt sie im öffentlichen Raum zum Tragen: 2 Museumsbegriffe 83 <?page no="84"?> 364 Hamon: Imageries, S. 11; Das „Inventaire“, auf das Hamon sich bezieht, ist auf den Seiten http: / / www.inventaire.culture.gouv.fr/ bzw. https: / / www.pop.culture.gouv.fr/ gelistet. 365 Amselle: Le musée exposé, S.-34. 366 Grasskamp: „Die Welt als Museum? “, S.-293. 367 Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S.-37. 368 Vgl. Groys: Logik der Sammlung, S. 13-14: „Eine Ideologie schließt nämlich die Mög‐ lichkeit eines Außenraums aus: Sie ist im Wesentlichen der Anspruch auf einen alles aufklärenden Überblick, auf eine vollständige Übersichtlichkeit.“ La France, non seulement se couvre de ‚magasins d’images‘ (Musées, collections privées, etc.), mais se muséfie elle-même institutionnellement comme territoire par création du service de l’inventaire des monuments historiques, mais devient elle-même image et allégorie (‚Marianne‘). 364 Amselle diagnostiziert eine „societé de conservation“, welche die „muséification et […] vitrification des vieux pays d’Europe“ 365 vorantreibe, und sieht dies pro‐ totypisch in der Transformation der ehemaligen Gare d’Orsay in ein Museum verwirklicht; dieses hält das 19. Jahrhundert in seiner Ausstellung lebendig, aber durch seinen Ort und seine Sichtbarkeit in der Stadt Paris (vgl. Kap. II.3.4.). Die Vorstellung einer ‚Musealisierung der Welt‘ ist jedoch widersprüchlich. Denn die Herauslösung einzelner (architektonischer) Objekte aus ihrem Zusam‐ menhang, die „konservierende Kraft“ des Denkmalschutzes, verwandelt nicht die Welt in ein Museum, sondern schafft „Zonen, in denen dann strenge Gesetze der Konservierung herrschen, während rundherum das Leben weitergeht und damit Zerstörung und Verfall als die letztlich geschichtsmächtigsten Kräfte.“ 366 Wie das Museum mit „seinen Ordnungsmustern, Sinnstiftungsmodalitäten und großen Erzählungen, seinen Bewahrungs-, Visualisierungs- und Erinnerungs‐ techniken“ 367 , so impliziert auch die ‚Welt als Museum‘ Totalität, Repräsentanz und eine ‚Lesbarkeit‘ der Dinge, was auch meint, dass es neben dem museali‐ sierten Innen, etwa einem historischen Stadtkern, irgendwo immer auch ein Außen geben muss. 368 Wie sich zeigen wird, kann auch die Literatur ambivalente Objekte zwischen Ding- und Zeichenhaftigkeit inszenieren und so Musealisierungsprozesse nach‐ bilden (vgl. Kap. II.4.1.2.1.), und auch das Bild der ‚Welt als Museum‘ mit all seinen Implikationen aufgreifen (vgl. u.-a. Kap. IV.3.3.2.). 2.4 Rahmung, Auratisierung, punctum und kaïros Musealisierung als Vermittlung zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Anderem‘, zwischen Fremdheit des ausgestellten Objekts und dessen ‚Eingemeindung‘, bringt eine räumliche oder zeitliche Rahmung mit sich. 84 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="85"?> 369 Vgl. u.-a. Benjamin: Passagen-Werk, Bd.-2, S.-697. 370 Proust: A la recherche du temps perdu, Bd. II, S.-5-6. 371 Vgl. Adorno: „Valéry Proust Museum“, S.-188; vgl. Kap. II.4.1.1.2. 372 Dass auch Benjamin den Auszug so gelesen hat, scheint angesichts des vorangegan‐ genen Fragments im Passagen-Werk wahrscheinlich, in dem er auf eine „[e]ntscheidende Stelle über die Aura bei Proust“ verweist, Benjamin: Passagen-Werk, Bd.-2, S.-696-697. 373 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I, 2, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1978, S.-471-508, hier: S.-479. 374 Benjamin: Passagen-Werk, Bd. I, S.-560. 375 Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 479; auch S. 475-476. Dieser These widerspricht Her‐ mann Lübbe: „Nicht die nie gesehene - weil man nie in Paris war - Mona Lisa, sondern die millionenfach bis in alle Schulbücher hinein abgebildete Mona Lisa ist es doch, die Betrachter […] anzieht. […] Das Original wird immer auratischer, je massenhafter seine technische Reproduktion erfolgt. Benjamin hat das Gegenteil behauptet.“ Lübbe: „Der Fortschritt von gestern. Über Musealisierung als Modernisierung“, S. 19. Dabei übersieht er jedoch womöglich, dass Benjamin selbst gerade die Reproduktionen der Mona Lisa in seine Überlegungen einbezieht; vgl. Benjamin: Das Kunstwerk, S.-476. Eine häufig zitierte Passage 369 in Prousts Recherche beschreibt die Verwand‐ lung eines ausgestellten Werks durch seinen Kontext: Mais en tout genre, notre temps a la manie de vouloir ne montrer les choses qu’avec ce qui les entoure dans la réalité, et par là de supprimer l’essentiel, l’acte de l’esprit, qui les isola d’elle. On ‚présente’ un tableau au milieu de meubles, de bibelots, de tentures de la même époque, fade décor qu’excelle à composer dans les hôtels d’aujourd’hui la maîtresse de maison la plus ignorante la veille, passant maintenant ses journées dans les archives et les bibliothèques, et au milieu duquel le chef-d’œuvre qu’on regarde tout en dînant ne nous donne pas la même enivrante joie qu’on ne doit lui demander que dans une salle de musée, laquelle symbolise bien mieux par sa nudité et son dépouillement de toutes particularités, les espaces intérieurs où l’artiste s’est abstrait pour créer. 370 Angesichts der Durchdringung zweier Sphären des Ausstellens, dem öffentli‐ chen Museum und dem hôtel particulier, plädiert der Kunst-„Liebhaber“ Proust 371 für eine Isolierung des Exponats aus Zusammenhängen der réalité, mithin für ihre Musealisierung im engeren Sinn. Denn „enivrante joie“ lösen sie nur in einem speziellen, musealen Rahmen („nudité et […] dépouillement de toutes particularités“) aus. Was vermisst wird, ließe sich mit dem Begriff der Aura 372 fassen, von Benjamin beschrieben als die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ 373 bzw. - in leichter Abwandlung - als „Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft“ 374 . Die zweite, weniger bekannte Definition passt besser zum gegenwärtigen Museum, denn die erste stellt die (einmalige) ‚Echtheit‘ eines Objekts als relevante Kategorie dar. 375 Echtheit je‐ 2 Museumsbegriffe 85 <?page no="86"?> 376 Vgl. Tyradellis: Müde Museen, S. 164: „Wenn es genauso gut Reproduktionen sein könnten, würde mit einem Mal das Arsenal der möglicherweise zu zeigenden Dinge ex‐ plodieren, [wodurch] die Argumente zur Begrenzung und immanenten Kombinatorik entfielen.“; vgl. dagegen Michael Fehr: „Das Museum als Ort der Beobachtung zweiter Ordnung. Einige Überlegungen zur Zukunft des Museums“, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S. 109-123, hier: S. 110, der feststellt, dass das Museum durch die Inszenierung von Objekten deren Authentizität untergrabe. 377 Vgl. Peter M. Spangenberg: „Aura“, in: Karlheinz Bark u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbe‐ griffe, Bd.-1, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2000, S.-400-416, hier: S.-404. 378 Vgl. ders., S. 409-410, auch S. 415-416; zur Emergenz im Museum auch Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S.-125-138. 379 Einen Beleg dafür liefert auch Malraux’ Musée imaginaire, das gerade durch die Repro‐ duzierbarkeit der Kunstwerke ermöglicht wird, vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S. 187. Malraux stellt sich in Les voix du silence gegen die These Benjamins: „Et comme la reproduction n’est pas la cause de notre intellectualisation de l’art, mais son plus puissant moyen, ses astuces (et quelques hasards) servent encore celle-ci.“ (ebd., S. 212) 380 Vgl. Hamon: Imageries, S.-83; Bawin: L’artiste commissaire, S.-110. 381 Vgl. dazu Wetzel: Der Autor-Künstler, S. 229, der an Folgendes erinnert: „Anders als oft behauptet wird, hat Duchamp […] niemals Ready-mades als Kunstwerke in Museen ausgestellt, sie existieren nur als Photographien, also im Medium ihrer endlosen technischen Reproduzierbarkeit, das ihre Spuren als selbst in unzähligen Repliken existierende Massenware ohne ‚Einmaligkeit‘ und ‚Original’ durch Aufnahmen des Ateliers von Duchamp festhält.“ Erst in den sechziger Jahren habe Duchamp die Musealisierung seiner Ready-mades durch Anfertigung von Repliken möglich gemacht. Doch gerade dass das Urinoir im Museum ein so ikonisches Bild bleibt, spricht für die Wirkmacht von Musealisierungsprozessen. doch erscheint im Museum als relative Qualität, da jedes musealisierte Artefakt als ausstellenswert und damit in gewisser Weise als „einmalig“ präsentiert wird (vgl. Kap. II.2.2.). 376 Auch wenn der Aura-Begriff uneindeutig ist - er rekurriert auf verschie‐ dene Theorietraditionen zwischen Kunstgeschichte und Philosophie und auf mythische Aspekte, und es wird weder klar, ob eine auratische Erfahrung durch den Betrachter ausgelöst wird (etwa im Sinne der mémoire involontaire), oder ob die auratische Dimension den Objekten eigen ist 377 -, so ist er doch nützlich, um das Emergenz-Moment zu beschreiben, das sich beim Betrachten eines Objekts ergeben kann, aber nicht muss. 378 Denn ob sich eine auratische Erfahrung einstellt, ist auch eine subjektive Angelegenheit (bei Proust jene der abschätzig beschriebenen „maîtresse de maison“). Dabei scheint die rah‐ mende Inszenierung stärker zu wirken als das Merkmal „Echtheit“ 379 , was umso mehr mit zunehmender Nähe zur Gegenwart gilt 380 , wie sich etwa an den Ready-mades Marcel Duchamps belegen ließe. 381 Entscheidend für die Wirkung 86 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="87"?> 382 Greenblatt: „Resonance and Wonder“, S. 49; vgl. Paul: Poetry in the Museums, S. 3. Bezeichnenderweise beschreibt Benjamin die Reproduktion der Dinge auch als „Ent‐ schälung des Gegenstandes aus seiner Hülle“ - mithin als Entfernung eines Rahmens. Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk, S.-479. 383 Vgl. Katharina Philipowski: „Fragmente/ Reste“, in: Stefanie Samida u. a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2014, S. 210-213, hier: S. 210, die auch daran erinnert, dass ästhetische Fragmente in diesem Sinne „nur bedingt als Fragmente gelten [können], da die (vermeintlich) fragmentari‐ sche Form ihre eigentlich intendierte ist“. 384 Malraux: Les voix du silence, S. 213. Vgl. dazu Gottfried Korff u. Martin Roth: „Ein‐ leitung“, in: dies. (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt/ New York/ Paris: Campus/ Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme 1990, S.-9-37, hier: S.-18. ist die sichtbare Loslösung aus anderen Zusammenhängen. Für Greenblatt sind diese Bedingungen vor allem in Museen der Gegenwartskunst erfüllt; das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) etwa sei „one of the great contemporary places not for the hearing of intertwining voices, not for historical memory, not for ethnographic thickness, but for intense, indeed enchanted looking“, welches auch durch ausgestellte Alltagsgegenstände hervorgerufen werden könne: Looking may be called enchanted when the act of attention draws a circle around itself from which everything but the object is excluded, when intensity of regard blocks out all circumambient images, still all murmuring voices. 382 Diese ‚Rahmung‘, hier eine Bedingung musealer Auratisierung, lässt sich in ver‐ schiedenen Realisierungen denken: zunächst als objektimmanente Rahmung, bei der das Objekt selbst auf seine Grenzen verweist, eine Fragmenthaftigkeit, die entweder auf eine reale Zerstörung (und damit Historizität) eines Objekts hindeutet (Bruchstücke einer antiken Vase, ein unvollständiges Manuskript) oder ästhetisch inszeniert 383 und ästhetisch produktiv werden kann - Malraux spricht vom Fragment als „un maître de l’école des arts fictifs“ 384 . Die immanente Rahmung des auratischen Objekts kann auch erst im Blick des Betrachters entstehen: Auratisierung [ist] nicht nur der Effekt eines musealen Inszenierungsrahmens, viel‐ mehr ist Auratisierung selbst ein Rahmen, der die Art und Weise, wie wir ein Ding sehen, gleichsam ‚parergonal’ determiniert. Parergon hier nicht nur verstanden als schmückendes Beiwerk, etwa als fixer goldener Rahmen, der ein Bild umgibt, sondern auch, ja vor allem, als Rahmungsdynamik […]. Das ‚bestimmte Außen‘, das ist der Inszenierungsrahmen der Ausstellungsmacherinnen und -macher; es ist aber auch der Blick des Betrachters, das auratisch gerahmte Sehen und Wahrnehmen. 385 2 Museumsbegriffe 87 <?page no="88"?> 385 Wirth: „Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? “, S. 60; vgl. zum Parergon auch Déotte: Le musée, S.-221. 386 Vgl. Malraux: Les voix du silence, S. 212: „Le cadrage d’une sculpture, l’angle sous lequel elle est prise, un éclairage étudié surtout, donnent souvent un accent impérieux à ce qui n’était jusque-là que suggéré“; vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S.-187. 387 Vgl. bezogen auf Literaturausstellungen Wirth: „Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? “, S. 61.: „Der einzige Grund, warum ich mehr sehe als ein Manuskript, ein Buch, einen Brief, eine Schreibfeder, eine Brille, einen Kupferstich, die in einem Ausstellungkasten liegen, ist, dass ich durch Begleittexte - lesend - informiert werde.“ 388 Vgl. Déotte: Le musée, S.-222. 389 Claudia Wirsing: „Aura - Punctum - Bildakt“, in: Stephan Günzel u. Dieter Mersch (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2014, S. 324-329, hier: S.-327. 390 Vgl. Barthes: La chambre claire, S. 48-49, sowie S. 71-72: „Il n’est pas possible de poser une règle de liaison entre le studium et le punctum“. 391 Vgl. ebd., S.-73: „Aussi, donner des exemples du punctum, c’est […] me livrer“. 392 Ebd., S.-95. Daneben steht eine Rahmung als visuelle Inszenierung 386 und über museale Paratexte, etwa Objektbeschreibungen 387 , und schließlich als weitere Ebene das Museum selbst. 388 Zu diesem - räumlichen - Aspekt des Rahmens ist unbedingt noch der zeitliche mitzudenken, der sich mit Barthes’ Konzept des punctum fassen lässt. Punctum hat mit dem Begriff der Aura gemeinsam, dass beide eine präsentische, die distanzierenden, relativierenden und konstruktiven Folien des Subjekts durchbrechende Wahrnehmungserfahrung [bezeichnen], die in sekundärer Weise zu einer gesteigerten Selbsterfahrung des Subjekts als eines Wahrnehmenden - in seiner Körperlichkeit, in seiner Blickweise und ihren Bewertungen des Sehens wie des Gesehenen, in seinem Verhältnis zum Dinghaften des Objekts etc. - führt. 389 Das (nicht intentional erzeugbare) punctum ist meist, aber nicht immer mit dem studium verbunden 390 , dem geduldigen Sehen, und somit abhängig von einer speziellen Disposition des rezipierenden Subjekts (weshalb das punctum nach Barthes auch etwas Höchstpersönliches ist 391 ). Das hat es mit dem Aura-Be‐ griff gemeinsam: Geht man von einem durch den Fotografen zu erlangenden kaïros-Moment aus, „le bon moment“ 392 , der ein punctum bergen kann, so bedarf es einer besonderen inneren Sammlung, um ein Objekt auratisch erfahren zu können: Es ist der Moment, wenn man im Museum fasziniert vor einem Objekt 88 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="89"?> 393 Auch Hartmut Rosa beschreibt in seiner Theorie der ‚Unverfügbarkeit‘ den ‚resonanten‘ Museumsbesuch auf diese Art: „Ein Museum […] ist ein Ort, an dem wir in der Regel keinen instrumentellen Zweck verfolgen, an dem wir habituell mit den Dingen in Kontakt kommen wollen, der nicht auf Steigerung und Verfügbarmachung, sondern auf unerwartete bzw. unvorhersagbare Resonanzen hin angelegt ist, an dem wir innerlich bereit und offen sind, uns anrufen zu lassen“, ders.: Unverfügbarkeit, Salzburg: Residenz 2018, S. 65. Vgl., bezogen auf Literaturausstellungen, Heike Gfrereis: „Literarische Erfahrung im Museum oder: Wie man in einer Literaturausstellung lesen kann“, in: Matteo Anastasio u. Jan Rhein (Hg.): Transitzonen zwischen Literatur und Museum, Berlin/ Boston: de Gruyter 2021, S.-37-64, hier: S.-57. 394 Vgl. Barthes’ Beschreibung eines Fotos des zum Tode verurteilten Lewis Payne, und die sich beim Betrachten einstellende Erkenntnis „il va mourir“; Barthes: La chambre claire, S.-150. 395 Vgl. Uwe Wirth: „Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rah‐ mung“, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart: Metzler 2004, S.-603-628. 396 Wetzel: Der Autor-Künstler, S. 216, der sich hier auf Bourdieus Les règles de l’art bezieht. 397 Vgl. Uwe Wirth: „Spuren am Rande zwischen genuiner und degenerierter Indexikalität“, in: Heike Gfrereis u. Marcel Leppler (Hg.): deixis - Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen: Wallstein 2007, S. 181-195, hier: S. 182; vgl. Kroucheva, Katerina u. Barbara Schaff: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur, Bielefeld: transcript 2013, S.-7-21, hier: S.-12. zum Stehen kommt 393 und der eine zäsurhafte - womöglich auch schmerzhafte 394 - Erkenntnis ermöglichen kann. Rahmung und kaïros in Literaturausstellung und Literatur Auf welche Weise kann ausgestellte Literatur auratisch aufgeladen sein oder werden, wie kommen punctum und kaïros zum Tragen? Ein wichtiger Aspekt ist auch hier die Rahmung, etwa in Form des Paratexts 395 , der einen Text ins Licht rücken kann (vgl. Kap. II.3.5.), und auch bezogen auf seine Einbettung ins Feld der Kunst: Das Kunstwerk wird durch diese äußeren, parergonalen Rahmenwirkungen mit der Aureole eines Mehrwertes aufgeladen wie ein Fetischobjekt. Es sind diese durch den institutionellen Rahmen […] geregelten fetischistischen Werte des Werkes, durch die - wie Bourdieu nicht müde wird zu wiederholen - der Künstler ‚selbst innerhalb des Feldes erschaffen wird‘ und den ‚Wert des Autors‘ erhält. Und insofern muß der Künstler selbst parergonal und paratextuell aktiv werden, d. h. diese Autorschaft als Strategie der Vermarktung praktizieren[.] 396 In diesem erweiterten Sinne ließen sich auch Autorenausstellungen ebenso wie etwa Herausgeberschaften als Strategien einer „diskursiven Rahmung“ und Auratisierung von Literatur verstehen. 397 2 Museumsbegriffe 89 <?page no="90"?> 398 Vgl. den ersten Satz des Romans: „Erst für halb zwölf mit Reger im Kunsthistorischen Museum verabredet, war ich schon um halb elf dort, um ihn, wie ich mir schon längere Zeit vorgenommen gehabt hatte, einmal von einem möglichst idealen Winkel aus ungestört beobachten zu können, schreibt Atzbacher“; Thomas Bernhard: Alte Meister, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2003 [1985], S.-7. 399 Vgl. ebd., S. 151: „Ich habe gehört, hat der Engländer gesagt, sagte Reger, daß im Wiener Kunsthistorischen Museum ein ebensolcher Weißbärtiger Mann hängt wie in meinem Schlafzimmer in Wales, das hat mir keine Ruhe gelassen und ich bin nach Wien gefahren.“ 400 Ebd., S.-41. 401 Vgl. Jin Yang: „Das Museum als Schauplatz einer Abrechnung mit der Kunst - Zum Raumkonzept in Thomas Bernhards Roman Alte Meister“, in: Literaturstraße, 16, 2015, S.-59-71, hier: S.-64 u. 66. 402 Vgl. Barthes: La chambre claire, S. 49: „punctum, c’est aussi : piqûre, petit trou, petite tache, petite coupure - et aussi coup de dés“; das Gedicht Mallarmés wird im Folgenden mehrfach als Referenz dienen (vgl. Kap. III.3.2.2., IV.3.3.). 403 „La fiction affleurera et se dissipera, vite, d’après la mobilité de l’écrit, autour des arrêts fragmentaires“, Stéphane Mallarmé: „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“, in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. Henri Mondor u. G. Jean-Aubry, Paris: Gallimard 1996 [1897], S.-453-477, hier: S.-455. Vgl. 404 Vgl. Gfrereis: „Literarische Erfahrung im Museum“, S.-57. Auch innerhalb einer Erzählung kann die Literatur auf unterschiedlichen Ebenen Rahmungsverfahren einsetzen, und damit museale Effekte erzeugen. Thomas Bernhards Roman Alte Meister greift über die narrative Struktur, eine meta-metadiegetische Erzählung 398 , die paratextuell als „Komödie“ deklariert wird, ironisch ein Thema des Romans auf: die Frage nach der Authentizität von Kunstwerken und ihrer auratischen Wirkung. 399 Der Kontrast zwischen der Figur Reger, der wider „das Ganze und Vollkommene“ 400 wettert und das Fragment als einzig wahre Kunst verteidigt, und dem Roman, der sich als über 300seitiger Textblock ohne Absätze oder Kapitelunterteilung darstellt, lenkt die Aufmerksamkeit auf den Aspekt der Rahmung und Grenze eines Werks. 401 Auch der Aspekt des kaïros-Moments hat für die Literatur Relevanz: Als literarisches Thema (vgl. Kap. II.4.2.2.2.3.), aber auch bezogen auf die Werkpro‐ duktion und -rezeption: So verweist Barthes’ Vergleich des punctum mit einem coup de dés 402 auf das mallarmésche Gedicht gleichen Namens, also auf eine halbzufällige Sinnerzeugung in der Lektüre. 403 Auch Gfrereis überträgt Barthes’ punctum-Definition auf das Lesen - und zwar insbesondere auf das „punktuelle Lesen“ im Museum. 404 90 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="91"?> 405 Nina Henning: „Objektbiographien“, in: Stefanie Samida u. a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2014, S. 234-237, hier: S.-236. 406 Pomian: Collectionneurs, S.-20. 407 Die Zugehörigkeit eines Kunstwerks zu einer Sammlung kann deren „symbolisches Kapital“ in der Welt noch erhöhen und damit wertsteigernd sein. Vgl. dazu Sigrid Schade u. Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur: Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2014, S.-145. 408 Vgl. Pomian: Le musée, une histoire mondiale. I, S. 345: In ihrer Extremform als „trésor“ bedingt sie nicht einmal eine Sammlerpersönlichkeit, es handelt sich um eine Sammlung aus funktionalen Gründen, welche „dépend non pas du goût de celui qui l’amasse, mais des besoins de l’exercice du pouvoir. Son maître peut prendre plaisir à regarder les objets qu’il contient, mais c’est rare, le plus souvent son intérêt n’est qu’instrumental“ (ebd.); vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-21-22. 409 Vgl. Bernard Macadé: „Exposer c’est s’exposer“, in: Elisabeth Caillet u. Catherine Perret (Hg.): L’art contemporain et son exposition (I), Paris: L’Harmattan 2002, S. 133-138. Vgl. zur literarischen Umsetzungen des Sich-selbst-Sammelns in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts Emma Bielecki: The Collector in Nineteenth-Century French Literature. Representation, Identity, Knowledge, Oxford u.a.: Peter Lang 2012, S.-75-117. 2.5 Sammlung, Sammler Die museale Sammlung bildet gewissermaßen die ‚Kehrseite‘ der Ausstellung: Objekte im Museumsdepot befinden sich in einer Art „Exklave, in der sie sowohl von der Zirkulation als Waren als auch von ihrer Abnutzung getrennt sind“ 405 . Was hingegen im Museum sichtbar wird, verweist nicht nur auf andere Orte oder andere Zeiten, sondern auch auf unsichtbare Objektbestände im Depot eines oder mehrerer Museen. Pomian setzt darum Sammlungen und Ausstellungen in Opposition zueinander: Er bezeichnet erstere als [d]es ensembles d’objets naturels ou artificiels, maintenus temporairement ou défini‐ tivement hors du circuit d’activités économiques, soumis à une protection et exposés au regard[.] 406 Auch wenn eine derart klare Trennung von Sammlung und Welt gerade für die Gegenwart nicht aufrecht zu halten sein dürfte 407 , so ist der Aspekt der Welt-Entzogenheit der Sammlung doch relevant: Sie steht außerhalb und ist - anders als die Ausstellung - auch ohne Publikum zu denken. 408 Während die (i. d. R. öffentlich zugängliche) Ausstellung ihren Charakter als Gegenort explizit herausstellen muss, findet hier eine Durchdringung von Innen und Außen in viel geringerem Maße statt. So wie Ausstellung auch Selbst-Ausstellung bedeutet 409 , verweist Sammlung auf den Sammelnden: „on se collectionne toujours soi-même“ 410 . Darum sammelt der Sammler (oder die sammelnde 2 Museumsbegriffe 91 <?page no="92"?> 410 Jean Baudrillard: Le système des objets, Paris: Gallimard 2006 [1968], S. 128; vgl. dazu auch Straubel: Zum Museum der Literatur, S. 26, die sich auf das erwähnte Baudrillard-Zitat bezieht. 411 Vgl. Fauvel: Exposer l’‚Autre‘, S. 60, die darauf hinweist, dass etwa der Louvre, das Musée d’Orsay, das Musée d’Art moderne und das Centre Georges-Pompidou vor 2000 kaum Werke aus dem asiatischen, afrikanischen oder ozeanischen Raum gezeigt haben. 412 Straubel: Zum Museum der Literatur, S. 26; vgl. auch Benjamin, der Sammeln als „eine Form des praktischen Erinnerns“ bezeichnet: ders.: Passagen-Werk, Bd.-2, S.-1058. 413 Schmidt: „Sammeln - Sammlungen“, S.-86. 414 Vgl. Georges Perec: „Notes brèves sur l’art et la manière de ranger ses livres“, in: ders.: Penser/ Classer, Paris: Seuil 2003 [1985], S. 31-42, hier: S. 33: „Tout le monde n’a pas la chance d’être le capitaine Nemo […]. Les 12000 volumes du capitaine Nemo, uniformément reliés, ont été classés une fois pour toutes […]“. 415 Vgl. Groys: Logik der Sammlung, S. 59: „Es war eine Illusion des 19. Jahrhunderts, daß die musealen Sammlungen permanent sein können - eine Illusion, die u. a. mit dem Glauben an Dauerhaftigkeit und Allmacht des Nationalstaates verbunden war.“. 416 Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S.-39. 417 Walter Benjamin: „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“ [1931], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Tillman Rexroth, Bd. IV, 1, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1972, S.-388-396, hier: S.-388; vgl. Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S.-39. 418 Perec: „Penser/ Classer“, in: ders.: Penser/ Classer, S.-149-174. 419 Vgl. Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet [1881], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. V, 1874-1880, Édition établie par Stéphanie Dord-Crouslé, Paris: Gallimard 2021, S. 347-602, hier: S. 430: „Pécuchet de son lit, apercevait tout cela en enfilade“; vgl. dazu auch Finkelde: „Musealisierte Welt“, S.-254. Institution) immer nur in den Grenzen der eigenen Welt und ist von eigenen Selektionskriterien geleitet 411 , weshalb die Sammlung auch einen „identitären Rahmen“ 412 darstellt. Doch auch Sich-Selbst-Sammeln bedeutet „keine vollstän‐ dige Verfügungsgewalt“ 413 über das Gesammelte, denn Sammlungen bleiben meist unvollständig, sofern sie nicht - wie die Bücherkollektion des Kapitän Nemo bei Jules Verne - aus der Welt „abtauchen“ 414 und dadurch zu einem Ende gelangen. Vielmehr sind auch sie - obwohl sie potentiell auf Ewigkeit angelegt, zeitgebunden. 415 Sie sind also Strategien der Weltordnung und „Kontingen‐ zerfahrungen“ 416 gleichermaßen: „Jede [Sammlungs-]Ordnung ist […] nichts als ein Schwebezustand überm Abgrund“ 417 - wie exemplarisch etwa Perecs Aufsatz Penser/ Classer illustriert, der sich in einer durcheinandergebrachten, alphabetisch un-sortierten Liste mit verschiedenen Versuchen befasst, die Welt taxonomisch zu erfassen, sei es die exposition universelle von 1900 oder Le livre des records. 418 Er illustriert damit auch das Problem der taxonomischen Ordnung, die zusammenbricht, sobald man den Standpunkt wechselt. In Flauberts Bouvard et Pécuchet liegen die Steinreihen der beiden Kurzzeit-Museologen nur aus einer Warte in sinnvoller Reihung, „en enfilade“ 419 . 92 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="93"?> 420 Vgl. Finkelde: „Musealisierte Welt“. S.-251. 421 Vgl. Tyradellis: Müde Museen, S.-15. 422 Pomian: Collectionneurs, S. 7; Pomian stellt diesen (Privat-)Sammler gegen den auf Repräsentation bedachten Sammler als „monsieur de bonne société, héritier, avec un château et des meubles d’époque“. 423 Vgl. Baudrillard: Le système des objets, S. 140, demzufolge Besitz Verlust- (hier gar: Kastrations-)Angst erzeuge: „si cet objet se perd, s’il est détérioré, c’est la castration. On ne prête pas son phallus, voilà le fond de l’affaire.“ (ebd.). 424 Vgl. Savoy: Objets du désir, S. 40-41: Augustinus unterscheide „la libido sentiendi, qui est le désir des sens au sens large, la libidio sciendi, qui est le désir de connaissance, et la libido dominandi, qui est le désir de domination.“ 425 Vgl. Benjamin: „Ich packe meine Bibliothek aus“, S.-390. 426 Benjamin: „Ich packe meine Bibliothek aus“, S. 389; vgl. Dorothee Kimmich: Lebendige Dinge der Moderne, Paderborn: Konstanz University Press 2011, S.-61-62. 427 vgl. ebd., S. 62: „[Sammler] schauen sich die Oberfläche, die Außenseite, die Gesichter der Dinge genau an. Sie sind Spezialisten für die Stofflichkeit, für Form, Farbe, Geruch und Textur der Dinge, für deren Materialität, nicht für ihre Brauchbarkeit“. 428 Vgl. Benjamin: „Ich packe meine Bibliothek aus“, S.-389. 429 Hans-Otto Hügel: „Sammler“, in: ders. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart: Metzler 2003, S.-385-389, hier: S.-389. Insofern ist die Sozialfigur des (oft männlichen) (Privat-)Sammlers eine eher rührende bis bemitleidenswerte Gestalt. 420 Pomian beschreibt ihn in seiner vergeblichen Mühe, Totalität herzustellen 421 , als „maniaque inoffensif qui passe son temps à classer les timbres-poste, à épingler les papillons ou à se délecter de gravures érotiques“ 422 . Das Sammeln ist in diesem Sinn auch eine Kompensation anderer Bedürfnisse - eine Interpretation, die sich auch bei Baudrillard findet, der eine sexuelle Komponente darin erkennt 423 , sowie bei Savoy, die auf den Ursprung des sowohl Sammellust wie erotischen Antrieb implizierenden Wortes libido verweist 424 ; andererseits geschieht das (private) Sammeln in der Regel aus eigenem Antrieb. In diesem Sinn scheint auch ein positiv besetztes Bild des Sammlers auf, wie Benjamin es herausstellt, wenn er diesen mit einem Kind vergleicht 425 und ihm einen zweckfreien Blick zuspricht, der ihn zu einem „Physiognomiker der Dingwelt“ 426 und deren Materialität 427 mache; Dinge „inspirieren“ und lassen „in die Ferne schauen“ 428 , besitzen für den Sammelnden also eine Qualität, die im Museum erst herzustellen ist. Sammler seien daher, so Hügel, „glückliche Menschen“, die „das, was für sie der selbstgewählte, ja selbstgefundene Sinn des Lebens ausmacht, ständig sinnlich um sich haben“ 429 . Ihr Glück stellt sich auch im Rückzug ein, weshalb Sammlerfiguren häufig als anachronistische, melancholische, außerhalb der Gemeinschaft stehende Figuren erscheinen. Selbstironisch schreibt Edmond de Goncourt: 2 Museumsbegriffe 93 <?page no="94"?> 430 Edmond de Goncourt: La maison d’un artiste, Bd. I, Paris: Fasquelle/ Flammarion 1931 [1881], S.-311. 431 Vgl. Franc Schuerewegen: „Muséum ou Croutéum ? Pons, Bouvard, Pécuchet et la collection“, in: Romantisme, 55, 1987, S. 41-54; Emma Bielecki: The Collector in Nine‐ teenth-Century French Literature. Representation, Identity, Knowledge, Oxford u.a.: Peter Lang 2012. 432 Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S. 36-37; vgl. dazu Bal: Kulturanalyse, S. 117-145 (Kap. „Vielsagende Objekte. Das Sammeln aus narrativer Perspektive“); Ulrike Gold‐ schweer: „Sammeln in der Literatur vs. Sammeln als Literatur. Überlegungen zur Interdiskursivität des poietischen Sammelns aus slavistischer Perspektive“, in: Slowa‐ kische Zeitschrift für Germanistik, 12, 1, 2020, S. 59-73, hier: S. 59-62. Flügel erinnert mit Reinhardt Brandt an die Rolle der Schrift für das Sammeln: „Diese andere, neue [an Erkenntnisprozesse gebundene] Form des Sammelns [vs. dem der urzeitlichen Jäger und Sammler] ist an das ‚legein‘, das Lesen gebunden. […] ‚Legein‘ oder ‚syllegein‘ bedeutet ‚auflesen‘, ‚sammeln von Nachrichten‘ oder ‚zusammenbringen von Kräften‘“; vgl. Reinhard Brandt: „Das Sammeln der Erkenntnis“, in: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450-1800, Opladen: Leske und Budrich 1994, S. 21-33, hier: S. 22, zit. nach Flügel: Einführung in die Museologie, S.-34. 433 Vgl. Bal: Kulturanalyse, S.-117. 434 Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S. 18. Vgl. Stapelfeld u.a.: „Museales Erzählen“, S. 4, wo die These formuliert wird, es bestehe eine „Korrespondenz zwischen sprach‐ lichen Operationen und dem Sammeln als musealer Technik, wie sie von Seiten der Museumsforschung beschrieben worden ist“. 435 So Dominik Finkelde: „Vergebliches Sammeln. Walter Benjamins Analyse eines Unbe‐ hagens im Fin de Siècle und der europäischen Moderne“, in: Arcadia - International Journal for Literary Studies, 41, 1, 2006, S. 187-202, hier: S. 187-88, der auf Benjamin rekurriert. Et toujours au bout de la battue, quelque heureuse trouvaille, qu’on me mettait dans les bras, et que je portais comme j’aurais porté le Saint-Sacrement […]. Ce sont certainement ces vieux dimanches qui ont fait de moi le bibeloteur que j’ai été, que je suis, que je serais toute ma vie. 430 Bei Goncourt wird sichtbar, dass sich der Sammlungsbegriff auf die Literatur anlegen lässt 431 : Vedder resümiert, auch die Literatur „sammele“ („Beobach‐ tungen, Erfahrungen, Dingbeschreibungen“) und reflektiere über „das Sammeln und seine Logiken, die ihrerseits fiktive, rhetorische und narrative Züge auf‐ weisen“ 432 . Sammeln als Kulturtechnik der Welterschließung, die Züge einer Erzählung besitzt 433 , kann also sowohl als „thématique textuelle, mais surtout comme moteur d’écriture“ 434 produktiv werden. Dabei bildet die Literatur eine Entwick‐ lung des Sammelns als zunächst „versorgendem (urzeitlichen)“, zum „katalo‐ gisierendem (neuzeitlichen)“ Sammeln ab, welches wie skizziert im 19. und 20. Jahrhundert im „vergeblichen“ 435 , an seinem Totalitätsanspruch scheiternden 94 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="95"?> 436 Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S.-38. 437 Vgl. Pety: Poétique de la collection. 438 Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S.-40. 439 Morgane Leray: „‚Miroir, mon beau miroir, dis-moi que je meurs‘: décadence et réflexivité des arts finissants (Huysmans et Houellebecq)“, in: Cyril Barde u. a. (Hg.): Fin-de-siècle : fin de l’art ? Destins de l’art dans les discours de la fin des XIX e et XX e siècles, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2018, S. 49-62, hier: S. 51, die sich auch auf Bourgeois (Poétique de la maison-musée) und Pety (Poétique de la collection) bezieht. Vgl. Christoph Zeller: „Magisches Museum: Aspekte des Sammelns in der Literatur des 19.-Jahrhunderts“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 46, 1, 2005, S.-74-103. 440 Hamon: Le personnel, S.-33. 441 Vgl. Gaspard Turin: Poétique et usages de la liste littéraire. Le Clézio, Modiano, Perec, Genève: Droz 2017. 442 Ausnahmen wie Goncourts La maison d’un artiste oder Perecs Un cabinet d’amateur bestätigen die Regel und stechen gerade durch ihren ‚kuriosen‘ Charakter hervor. Vgl. dazu Jean-Luc Joly: „Un cabinet d’amateur. Notice“, in: Georges Perec: Œuvres, Bd. II, Édition publiée sous la direction de Christelle Reggiani, Paris: Gallimard 2017, S.-1157-1166, hier: S.-1157. 443 Vgl. etwa Turin: Poétique et usages de la liste littéraire. Sammeln mündet: Der „Museumsboom“ mit dem Versuch, „alles, was es in der Welt gibt […], in ‚unerschütterliche‘ Zusammenhänge zu bringen“ 436 , erscheint als Reaktion auf eine unübersichtlicher gewordene Moderne, ebenso die Samm‐ lungsverfahren der Literatur jener Zeit. 437 Kohärente Sammlungen im Zentrum des Erzählens haben wie geordnete Museumswelten eine „unhintergehbar konstruierte, erschriebene“ Dimension, „die ebenso gut eine ganz andere sein könnte“ 438 . Schon in den kanonischen literarischen Texten des 19. Jahrhunderts kann man darum Bruchstellen bezüglich des Begriffs, der Funktion und der Poetik des Sammelns ausmachen: Das Spektrum reicht vom „culte de l’artificiel“, der geschlossenen und durchkomponierten Sammlung, der Auratisierung jedes ihrer Objekte (wie in Huysmans À rebours) bis zur Sammlung als „phénomène d’accumulation“ 439 (wie in Goncourts La maison d’un artiste). Auch die großen Romanprojekte des Realismus implizieren die Aporie des Sammelns: „Le réel, par définition, est interminable, et une description n’est jamais terminée […]. Décrire, c’est donc mettre en ordre, ranger, classer, délimiter, étiqueter, réduire un foisonnement amorphe à l’aide d’un certain nombre de ‚tiroirs‘.“ 440 Die literarische Umsetzung von Sammlungen birgt eine narrative Herausfor‐ derung - denn nicht einzelne Objekte, sondern deren Gesamtheit rückt ins Zentrum 441 , weshalb sie wohl als weniger geeignet zur ‚Erzählung‘ erscheint, als die selbst Erzählung produzierende Ausstellung. 442 So verwundert es wenig, dass die Sammlung v. a. als Strukturelement in Erscheinung tritt, implizit in Form eines besonderen Dinginteresses, explizit etwa in Form literarischer Listen 443 , 2 Museumsbegriffe 95 <?page no="96"?> 444 Benjamin: Passagen-Werk, Bd.-1, S.-274. 445 Vgl. Hervé Le Tellier: L’herbier des villes: choses sauvées du néant, Paris: Textuel 2021. Da Le Tellier aus dem Projekt auch eine Ausstellung konzipierte (u. a. 5.-25.3.2018, La Bibliothèque de Clermont-Ferrand), ist dies ein weiteres Beispiel für ein Projekt, dass lesbare Stadt, Museum und Buch zusammendenkt. 446 Annelies Schulte Nordholt: „Georges Perec. Topographies parisiennes du flâneur“, in: Relief, 2, 1, 2008, S.-66-86, hier: S.-66-67. 447 Vgl. Kilian: „Die Ausstellung als Kunstwerk“, S.-383. wie z. B. in Perecs Je me souviens: Die knapp gehaltene Aufzählung, aus der sich das Buch zusammensetzt, verweist auf etwas Dahinterliegendes, spiegelt die kollektive Erinnerung einer bestimmten Generation an zeittypische Dinge. Durch das in dem Buch festgehaltene Erinnerungswissen ergibt sich ein Abbild der Vergangenheit, wodurch sich literarische und reale Sammlung einander annähern. Auch das Sammeln (von Dingen, von Eindrücken) im außermusealen Raum kann sich literarisch realisieren und besondere Textformen hervorbringen - denken lässt sich an literarische Flanerien. Während der Flaneur sich mit dem Betrachten der Dinge begnügt, will der Sammler sie besitzen: „Flaneur optisch, Sammler taktisch“ 444 , wie Benjamin lakonisch notiert. Doch beide Figuren eint, dass sie aus Kontingenz Kohärenz erzeugen, sei es im Geiste oder materiell. Sie zeigen Überschneidungen zwischen dem Lesen (in) der Stadt und dem Sammeln von Dingen - zu denken wäre an Georges Perecs unabgeschlossenes, von Hervé Le Tellier später umgesetztes 445 Projekt L’herbier des villes, für das er (im Sinne Benjamins) in der Stadt „botanisieren“ ging 446 und Hinterlassenschaften wie Metrotickets und Flugblätter auflas. Literarisch umgesetzte Sammlungspraktiken wie diese setzen eine Lesbarkeit der Welt voraus und überführen diese in den Text (vgl. Kap. II.3.4.). 2.6 Kuratieren, Kurator, Ausstellungsmacher (und Autoren als Künstler-Kuratoren) Die Grenze zwischen Sammler, Künstler und Kurator ist schon nicht mehr trennscharf, bevor der letztgenannte Begriff überhaupt aufkommt. Als der vom offiziellen salon ausgeschlossene Gustave Courbet 1855 seinen eigenen „Pavillon du Réalisme“ ausrichtet, tritt er nicht nur als Künstler und Kunsthändler, son‐ dern auch als Ausstellungsarrangeur in Erscheinung. 447 Dass Künstler museale Abläufe mitprägen, ist aber vor allem für den Funktionswandel des Museums im 20. Jahrhundert symptomatisch und durch das Wechselspiel von Kunst und Museum dem (post-)modernen Künstlerblick gewissermaßen inhärent: Groys fasst zusammen, seit den Avantgarden hätten immer mehr Künstler „den 96 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="97"?> 448 Groys: Logik der Sammlung, S. 54; vgl. Xavier Greffe: L’artiste-entreprise, Paris: Dalloz 2012. 449 Vgl. Mairesse: „Un demi-siècle d’expographie“, S.-223. 450 Vgl. Groys: Logik der Sammlung, S. 56, der angestellte Kuratoren staatlicher Museen als „Verfechter der kulturellen, inklusive nationalkulturellen Identität“ bezeichnet, welche „die Perspektive des Gesammeltwerdens nicht verlassen“, denn sie „empfinden sich selbst nicht als Sammler, […] sondern als identisch bleibende Objekte der Betrachtung für den fremden Blick“; vgl. Heinz-Norbert Jocks: „Sehen ohne Ufer. Vom unaufhalt‐ samen Aufstieg der Künstlerkuratoren“, in: Kunstforum, 241, 2016, S.-26-29. 451 Welzbacher: Das totale Museum, S.-87. 452 Vgl. ebd., S.-51. Kuratorenblick […] verinnerlicht“ und begonnen, „als Agent[en] der Expansion der musealen Sammlungen zu fungieren“ 448 . Mag das Museum als Legitimationsinstanz für Künstler eher an Bedeutung verlieren (vgl. Kap. II.2.1.), so tragen eingeladene Künstler als (Gast-)Kuratoren nicht nur zur Legitimation und Ausrichtung des Museums bei (vgl. Kap. II.1.1.), sondern dieses kann ihnen auch als Forum zur Selbstmusealisierung dienen (vgl. Kap. II.2.3.). 449 Autonomieverstärkend kann außerdem wirken, wenn die enga‐ gierten Künstler-Kuratoren nicht nur aus dem Depot des Museums schöpfen, sondern eigene Werke oder Exponate anderer Museen zeigen. Die Frage, inwieweit Gastkuratoren künstlerische Freiheit bei der Umsetzung einer Ausstellung haben, steht im Zentrum aktueller Museumskritiken: Handelt es sich bei den kreativ Verantwortlichen um angestellte 450 oder freiberufliche „Erfüllungsgehilfen eines Transformationsprozesses, der sich gegen sie selber richtet“ 451 , nämlich die fortschreitende Eventisierung des Museums 452 - oder aber um (im Rahmen der Sachzwänge) autonom gestaltende „Ausstellungsma‐ 2 Museumsbegriffe 97 <?page no="98"?> 453 Vgl. zu diesem von Harald Szeemann geprägten Begriff auch Jérôme Glicenstein: L’invention du curateur. Mutations dans l’art contemporain, Paris: Presses universitaires de France 2015, S. 18. Szeemann selbst wäre als Beispiel für einen autonomen ‚Kura‐ toren-Star‘ zu nennen, vgl. Martens: „Un écrivain dans les coulisses du Louvre“, S.-2. 454 Vgl. Hans-Dieter Huber: „Künstler als Kuratoren - Kuratoren als Künstler? “, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S. 201-204, hier: S. 202: „Das, was früher das Werk eines Künstlers auszeichnete, nämlich sein Stil, seine Handschrift und sein Name, gilt heute von der Arbeit des Kurators“. Vgl. Putnam: Art and Artifact, S. 132-153 (Kapitel „curator/ creator“); vgl. Smith: Thinking Contemporary Curating, S. 101-138, sowie, bezogen auf die französische Museumslandschaft, Vincent: L’artiste-curateur; sowie Greffe: L’artiste-entreprise. 455 Groys: Logik der Sammlung, S.-56; vgl. Glicenstein: L’invention du curateur, S.-286-297, sowie allgemein Dorothee Richter: „Künstlerische und kuratorische Autorschaft. Kon‐ kurrenz, Kollaboration oder Teamwork? “, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szeno‐ grafie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S. 221-244. Der Aspekt der Autonomie drückt sich auch in der Unterscheidung von curateur und commissaire d’exposition im Französischen bzw. Kustode und Kurator im Deutschen aus. Vgl. Glicenstein: L’invention du curateur, S. 18 („‚Curateur‘ connoterait l’idée d’assistance, puisqu’il s’agit à l’origine de prendre soin de quelqu’un ou de quelque chose, alors que le mot ‚commissaire‘ renverrait plutôt à une question de rapports de pouvoir, avec l’idée d’une délégation de responsabilité.“) sowie te Heesen: Theorien des Museums, S. 25-28: „Der Kustode ist innerhalb eines Museums […] der wissenschaftliche Bearbeiter der Museumsobjekte […]. Er ist kein Generalist, sondern ein Spezialist eines bestimmten Gegenstandbereichs“ (S. 25), wohingegen der Kurator „ein zeitlich bestellter Organisator“ (S. 27) ist, der zwischen Museum und Öffentlichkeit vermittelt - wobei heute fast nur noch die Bezeichnung des Kurators geläufig ist. Daher entspricht der deutsche Kurator eher dem französischen commissaire d’exposition als dem curateur. 456 Boris Groys: Topologie der Kunst, München/ Wien: Hanser 2003, S.-16. 457 Ebd., S.-26. cher“ 453 bzw. „Künstler-Kuratoren“ 454 , deren „fließende Identität“ sich auch in der Ausstellung zeigt? 455 Besitzt der Künstler als Kurator große Freiheiten, so macht ihn dies mit Groys zu einer doppelt autonomen Instanz, als „jemand, der sich selbst autorisiert. Er ist der Kritiker seiner selbst. Er ist der Kurator seiner selbst. Er ist das Museum seiner selbst.“ 456 Wenn in diesem Fall also die kuratorische Ordnung „rein privat, individuell, subjektiv“ ist, Ausdruck des Künstlers und seiner „private[n], souveräne[n] Selektionsstrategie“ 457 , und wenn der autonome Künstler immer auch „das Museum seiner selbst ist“, dann bedeutet eine museale Vermittlung des eigenen Werks die Doppelung einer ohnehin stattfindenden Selbsterfindung eines Autors, der seine erzählten Welten im Museum erzählen kann. Solche Autorenausstellungen lassen sich als Teil von Autorschaftsstrategien und als ‚Werke‘ verstehen: Literatur hat dann nicht nur im Buch ihren ‚Ort der Kunst‘, sondern in den Ausstellungen ihren zweiten. 98 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="99"?> 458 Vgl. Louise Moor: „Posture polémique ou polémisation de la posture ? Le cas de Michel Houellebecq“, in: COnTEXTES, 10, 2012, Absch. 17; online unter: http: / / journals.open edition.org/ contextes/ 4921. Besagte posture umfasse „un axe rhétorique ou ‚textuel’, regroupant ce qui est de l’ordre du discours fictif ou effectif de l’auteur en question, et un axe actionnel ou ‚contextuel’, qui se centre sur les données comportementales que l’auteur donne à voir, la façon qu’il a de se présenter à travers son style, sa manière d’être, de marcher ou de parler, notamment.“ Moor bezieht sich auf Jérôme Meizoz: Postures littéraires. Mises en scène modernes de l’auteur, Genève: Slatkine 2007. 459 Vgl. Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S. 4 (hier findet sich der Begriff der „carte grise“); vgl. Tyradellis: Müde Museen, S. 112-117 u. S. 212-236 (Kap. „Der Kurator - zwischen den Stühlen“); Walter Grasskamp: „Der Kurator als Held“, in: Hemken (Hg.): Kritische Szenografie, S. 205-220, hier: S. 206-207; Glicenstein: „Adhérer ou résister“, S.-62. 460 So verfasste Umberto Eco in seiner Funktion als Kulturwissenschaftler, weniger als Autor, die Kommentare zu den von ihn im Louvre präsentierten Exponaten selbst. Es handelt sich um kulturwissenschaftliche Reflexionen zu Listenformen in Kunst und Literatur; sowie eine Kompilation und Konfrontation literarischer Zitate mit den in seiner Ausstellung gezeigten Werken. Vgl. Umberto Eco: The Infinity of Lists, Translation by Alastair McEwan, New York: Rizzoli 2009; vgl. zu Ecos Projekt auch Kathleen Morris: „Les habitants du Louvre: The Museum and the List“, in: L’Esprit Cré ateur, 54, 2, 2014, S. 172-185. Anders als Eco ist Toussaint explizit als „artiste invité“ betitelt, nicht als Autor, nicht als Kurator. Vgl. Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S.-5. 461 Tyradellis: Müde Museen, S.-224. 462 Ebd., S. 116. Vgl. Cameron: „The Museum, a Temple or the Forum“, S. 11: „Our museums are in desperate need of psychotherapy. There is an abundant evidence of an identity crisis in some of the major institutions, while others are in an advanced state of schizophrenia.“ So ist auch für die hier vorgestellten Autoren-Kuratoren Toussaint und Houellebecq herauszuarbeiten, inwiefern sie das Format der carte blanche ausschöpfen (können) - oder ob es sich nicht eher um eine carte grise handelt, bei der sich vorgegebene museale Strategien und künstlerische posture 458 über‐ schneiden. 459 In literar-musealen Komplexen überlagern sich die Rollen von Museums‐ kurator und Autor auf besondere Weise 460 : Die Beobachtung Tyradellis’, der Kurator könne „sich hinter Dingen und Argumenten verstecken, die nicht als die seinen erscheinen und unter Umständen auch nicht seine sind“ 461 , stimmt zumal für die hier betrachteten Autoren, die auch in ihrer Literatur schon ein besonderes Verhältnis zu ihrem Autorenbild zeigen (vgl. Kap. III.3.1.1. u. Kap. IV.3.1.2.2.). Das im Museum vermittelte Bild des Kurators ergibt sich nicht nur über die ausgestellten Objekte und deren Anordnung, sondern auch über Kommen‐ tierungen und Objektbeschriftungen: „Der Objekttext offenbart, ob und wie der Kurator verstanden werden will, ob bzw. was er vermitteln will.“ 462 So zeigt 2 Museumsbegriffe 99 <?page no="100"?> 463 Tyradellis: Müde Museen , S.-121. 464 Ebd., S. 113; gemeint sind nicht primär ‚Krankheitsbilder‘, sondern v. a. künstlerische Modi des Weltbezugs. 465 Ebd., S.-115. sich in seiner (Nicht-)Anwesenheit, seiner Sprache so etwas wie seine mentale Disposition: Im Kunstwerk steckt die Wahrheit, die sich in der Evozierung der Gefühlsregung bekundet, d. h. das Werk löst eine Übertragung aus, die sich dann im Kurator als Wahrheitsgeschehen ereignet. Die Intensität, dieses Erleben der eigenen Emotion, macht den Kurator zum eigentlichen Wahrheitsereignis, als seine Gefühlsregungen sich mit den Intentionen des Werks/ Künstlers angeblich decken. 463 Eine solche ‚Verschmelzung‘ von Kunst und Blick des Ausstellers wird litera‐ risch etwa produktiv in der Bildbetrachtung eines Moreau-Gemäldes durch Des Esseintes - ein Kunsterlebnis, das mindestens so viel über die Figur aussagt, wie über das Gemälde (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.). Tyradellis charakterisiert Ausstellungsmacher mit dem Vokabular Lacans als „zwangsneurotische“ (im Wissensmuseum) oder „hysterische“ (im Kunstmuseum) Charaktere. 464 Der „hysterische“ Charakter sei in seiner extremen Ausprägung, so Tyradellis, [e]benso wenig wie der Zwangsneurotiker an wirklicher Vermittlung und Begegnung interessiert. Ebenso wenig wie dieser will sich der Hysteriker mit dem anderen aus‐ einandersetzen, sondern lediglich diesen dazu bewegen, sich mit ihm zu beschäftigen. Die Auswahl der zu zeigenden Künstler und die Platzierung der Kunstwerke im Raum ist das Medium, in dem dies geschieht. ‚Was bin ich? ‘ - ‚Der, der euch das zeigt.‘ 465 Ohne diesen Gedanken weiter zu vertiefen, so scheint er nicht nur etwa auf den hochsensiblen Kurator Des Esseintes beziehbar, sondern auch auf die literar-musealen Komplexe Toussaints und Houellebecqs. Insbesondere in Bezug auf Houellebecq, der nicht nur über seine Erzählinstanzen, sondern auch im Museum offensiv einen Krisendiskurs ausstellt, erscheint dieser Blick auf den Kurator als ‚krisenhaftes‘ Subjekt hilfreich - ebenso wie das Bild des melancholischen Sammlers (vgl. Kap. III.5.3., Kap. IV.4.2.5.). 2.7 Fazit - Das Museum als Ort, Konzept, Motiv und ästhetischer Rahmen Die hier vorgeschlagenen Begriffe des Museums decken grundlegende Akteure, Dimensionen und Funktionen des Museums ab und lassen sich zur Beschreibung 100 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="101"?> 466 Rachel Hann: Beyond Scenography, London/ New York: Routledge 2019, S.-98. 467 Vgl. zum musée imaginaire, über Malraux hinausgedacht, Quednau: Museen des Imagi‐ nären. 468 Vgl. Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, S. 89. Ihr ist zuzustimmen, dass „nicht mehr über die Geschichte des modernen Museums [zu] sprechen [sei], ohne zugleich dessen Funktion der Legitimierung kolonialer Gewalt zum Thema zu machen“. Dass diese Implikationen bei den hier behandelten Autoren nur punktuell sichtbar werden, verrät vor allem etwas über deren Museumsbild, nicht über das Museum selbst. realer Ausstellungen, literarischer musealer Verfahren und Museumsbilder sowie literar-musealer Komplexe nutzen. „While all scenography is scenographic, not all that is scenographic is scenography“ 466 - in Anlehnung an diese Bemerkung könnte man festhalten: Während das Museum immer museal ist, ist nicht alles Museale auch (oder nur) Museum. Gerade, dass Teilaspekte wie ‚Ausstellung‘, ‚Sammlung‘ oder ‚Kurator‘ sich auch in außermusealen Zusammenhängen realisieren können (etwa ‚kommerzielle Ausstellung‘, ‚Sammeln als Lektüre der Straße‘, die ‚Durch‐ kuratierung des Daseins‘, eine punctum-Erfahrung an unerwarteter Stelle), sorgt für die Beweglichkeit des Denkbilds. Die ‚Mobilität‘ und ‚Entgrenzung‘ der musealen Aspekte sind für den sehr breiten Bedeutungshof des Begriffs Museums verantwortlich; dieser umfasst das musée monde und das musée ima‐ ginaire 467 (nicht räumlich erfahrbar, nicht einmalig), aber auch Sonderformen wie das maison-musée (nicht öffentlich) - Konzepte, die zwar behaupten, Museen zu sein, den Begriff aber zugleich unterwandern. Auch an historische und begriffliche Vorstufen des Museums ist zu denken (etwa Musentempel oder Mosaik), da literar-museale Diskurse auch auf diese rekurrieren. Eine klare Grenzziehung zur Außenwelt ist für die Eigenheit des Museums entscheidend, und zeichnet es als ‚espace autre‘ mit einem Innen und einem Außen aus (vgl. Kap. II.4.2.1.1.2.); doch zugleich wird diese Grenze durch die Tendenzen des rayonnement, der délocalisation, der Öffnung des Museums für neue Besuchergruppen und Objektklassen aufgelöst: Die exposition hat eine Tendenz zur explosion. Mit dem Museum (seiner Sammlung, seinen Ausstellungs- und Museali‐ sierungspraktiken) ist untrennbar ein Totalitäts- und Totalisierungsanspruch verbunden, der nicht erst im 20. Jahrhundert auf die Probe gestellt wurde. Auch wenn Museen und Museumsbilder die damit verbundenen ‚schiefen‘ Machthierarchien - sowohl im Hinblick auf postkoloniale Implikationen als auch Geschlechterbilder - nicht explizit herausstellen, sind diese unbedingt mitzudenken. 468 2 Museumsbegriffe 101 <?page no="102"?> 469 Da sie sowohl auf die Ausstellung als auch auf das literarische Erzählen angelegt werden können, werden sie sich in den Analysekapiteln nicht in eigenen Kapiteln niederschlagen, sondern durchweg mitgedacht werden. 470 Genette: Seuils, S.-374. 471 Es erscheint wichtig, hier von musealer Ausstellung zu sprechen: Wie auch te Heesen betont, tritt bei einer Ausstellung außerhalb des Museums der „repräsentierende“ Charakter zumindest teilweise hinter dem „präsentierenden“ zurück, da ihr der fixe Ort und die Ambition dauerhafter Gültigkeit abgeht. Vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-23-24. 472 Louis Marin: Études sémiologiques. Écritures, Peintures, Paris: Klincksieck 1971, S.-128. Es zeigt sich nun deutlicher, warum das Museum nicht zwingend als expli‐ ziter, literarischer Ort in Erzählungen präsent sein muss, um eine literar-museale Lektüre zu ermöglichen. 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen Die folgenden Abschnitte schlagen Konzepte zur Beschreibung nicht nur der Literatur, nicht nur des Museums, sondern ganzer literar-musealer Komplexe vor: (inter-)semiotische, (inter-)mediale, (inter-)textuelle Zugänge, die neben‐ einanderstehen und teils ineinandergreifen. Es handelt sich nicht nur um Theorien, sondern auch um Themen, die in Literatur und Museum reflektiert oder umgesetzt werden. In diesem doppelten Sinn fließen sie anschließend auch in die Detailanalysen zu Toussaint und Houellebecq ein. 469 Der von Genette entlehnte Begriff der „Transitzone“ („zone de transition“ 470 ) wird hier also als Übergangsbereich des Literar-Musealen verstanden, und verweist auch darauf, dass diese Aspekte sich in beiden Medien wiederfinden, sich aber auch zwischen ihnen situieren und sie verbinden. 3.1 Präsentation und Repräsentation, Sehen und Lesen - zur Nähe von Ausstellung und Literatur Wie oben herausgearbeitet, stehen Museum, Ausstellung und Sammlung zwi‐ schen Anwesendem und Abwesendem, wobei die museale Ausstellung Anwe‐ sendes zeigt, um auf Abwesendes zu verweisen. 471 Gleiches gilt für die Literatur, wo eine Grenze vom Sehen zum Lesen, vom „objet de l’idée“ hin zur „idée de l’objet“ 472 , vom Lesen zum Beleben 473 zum Tragen kommt - eine Erfahrung, die Annie Ernaux in ihrem Roman Une femme gelée beschreibt: 102 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="103"?> 473 Vgl. Aleida Assmann: „Lesen als Beleben. Zum Verhältnis von Medium und Imagina‐ tion“, in: Lesezeichen. Mitteilungen des Lesezentrums der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, 5, 1998, S.-34-49. 474 Annie Ernaux: La femme gelée, Paris: Gallimard 2020 [1987], S.-24. 475 Louis Marin: „Le cadre de la représentation et quelques-unes de ses figures“, in: ders.: De la représentation, Paris: Gallimard/ Seuil 1994, S. 342-363, hier: S. 342-343. Teilw. zitiert von Del Lungo: La Fenêtre, S.-15-16. 476 Marin: „Le cadre de la représentation“, S.-342-343. Vgl. Del Lungo: La Fenêtre, S.-16. Un jour vient où les mots […] perdent leur lourdeur ânonnante. Et le miracle a lieu, je ne lis plus des mots, je suis en Amérique, j’ai dix-huit ans, […] les phrases se mettent à courir vers une fin que je voudrais retarder. Ça s’appelle Autant en emporte le vent. 474 Die Worte werden zur Erfahrung, und man liest nicht mehr Gone with the wind, sondern ist gleichsam Gone with the words. An diesem Kippmoment liegt die Grenze zwischen den Ebenen der Präsentation (was ist zu sehen? ) und der Repräsentation (worauf wird verwiesen? ), zwei Aspekte, die als zentrale Kategorien des literar-musealen Komplexes etabliert werden sollen. Zur theo‐ retischen Grundierung sei die folgende Definition des Kunsthistorikers und Semiologen Louis Marin vorangestellt: ‚[R]eprésenter‘ signifie d’abord substituer quelque chose de présent à quelque chose d’absent […]. Cette substitution est […] réglée par une économie mimétique, la similarité postulée du présent et de l’absent autorisant cette substitution. Mais, par ailleurs, représenter signifie montrer, exhiber quelque chose de présent. C’est alors l’acte même de présenter qui construit l’identité de ce qui est représenté, qui l’identifie comme tel. 475 Demnach impliziert jede Repräsentation Präsentation - doch jede Präsentation ist auch Repräsentation: D’un côté […], une opération mimétique entre présence et absence permet le fonction‐ nement et autorise la fonction du présent à la place de l’absent. De l’autre, c’est […] une auto-présentation qui constitue une identité et une propriété en lui donnant une valeur légitime. En d’autres termes, représenter signifie se présenter représentant quelque chose. Toute représentation, tout signe représentationnel, tout procès de signification comprend ainsi deux dimensions que j’ai coutume de nommer, la première, réflexive - se présenter - et la seconde, transitive - représenter quelque chose. 476 Davon ausgehend sollen Ausstellung und Literatur betrachtet werden: Wie können Ausstellungen Literatur zeigen, sie präsent machen? Wie steht es um die Ausstellungskapazität der Literatur (Kap. II.3.1.1.)? Und: Wie wird museale und literarische Repräsentation wirksam (Kap. 3.1.2.)? Betrachtet werden also 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 103 <?page no="104"?> 477 George Bornstein: Material Modernism. The Politics of the Page, Cambridge: Cambridge University Press 2001, S.-5, zit. nach Potsch: Literatur sehen, S.-89. 478 Dagognet: Le musée sans fin, S.-39. 479 Vgl. Paul Valéry: „Présentation du ‚Musée de la Littérature‘“ [1937], in: ders.: Regards sur le monde actuel et autres essais, in: Œuvres, II, Édition établie et annotée par Jean Hytier, Paris: Gallimard 1960, S. 913-1159, hier: S. 1145-1149; ders.: „Un problème d’exposition“ [1937], ebd., S.-1150-1156. 480 Valéry: „Présentation du ‚Musée de la Littérature‘“, S. 1146; vgl. Matteo Anastasio u. Jan Rhein: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Transitzonen zwischen Literatur und Museum, Berlin/ Boston: de Gruyter 2021, S.-1-11, hier: S.-1-2. erstens Verfahren der Sichtbarmachung (der Literatur im Ausstellungsraum, in der Literatur als Ausstellungsraum), andererseits der Bezug des Ausstellens zu einem Abwesenden. 3.1.1 Die Präsentation der Literatur - und Präsentation durch die Literatur „If the ‚Mona Lisa‘ is in Paris at the Louvre, where is King Lear? “ 477 - diese Frage bezieht sich auf ein grundlegendes Problem im literar-musealen Zusam‐ menhang: Während die Ausstellung vor der Schwierigkeit steht, Immaterielles (wie die Literatur) zu zeigen, so fällt es der Literatur schwer, Materielles sichtbar zu machen. Dieser Aspekt der ‚Sichtbarkeit‘ steht im Zentrum des folgenden Kapitels, das fragt, wie und auf welchen Ebenen Ausstellung (Kap. II.3.1.1.1.) und Literatur (Kap. II.3.1.1.2.) ‚etwas zeigen‘. 3.1.1.1 Zur Ausstellbarkeit der Literatur: zum Sehen, zum Lesen, als Erfahrung Was also ist zu sehen, wenn Literatur ausgestellt wird? „[C]omment rendre […] perceptible tout ce qui nous échappe“ 478 ? Mit dieser Frage befasst sich schon 1937 Paul Valéry in seiner Funktion als Berater der Pariser Weltausstellung in zwei Artikeln, die auch andere ‚immaterielle‘ Künste berücksichtigen. 479 Während er für die Musik kein Problem erkennt - sie könne ja abgespielt werden -, sieht er Schwierigkeiten für die Literatur: „Mais les Lettres… Quoi de plus abstrait que l’activité littéraire ? “ 480 Die Erwähnung der „activité littéraire“ zeigt, dass es ihm um die Literatur selbst geht, nicht nur um ihren Inhalt. Angesichts dessen empfiehlt er die Ausstellung nicht nur von Büchern, sondern auch von deren Vorstufen: „Le Manuscrit original, le lieu de son [= des Schriftstellers] regard et de sa main, où s’inscrit de ligne en ligne le duel de l’esprit avec le langage […] - tout le drame de l’élaboration d’une œuvre et de la fixation de l’instable.“ 481 Valéry plädiert also 104 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="105"?> 481 Valéry: „Présentation du ‚Musée de la Littérature‘“, S.-1146-1147. 482 Ein erklärtes Ziel Valérys ist es, der Vorstellung entgegenzuwirken, dass „Littérature signifie[rait] nécessairement Facilité.“ (Großschreibung und Kursivierung im Original, J.R.), ebd., S.-1146-1147. 483 Diese Begriffe werden sich später im Titel von Toussaints Ausstellungsbuch La Main et le Regard wiederfinden (vgl. Kap. III.1.). 484 Bildquelle: Claire Bustarret: „Quand l’écriture vive devient patrimoine : Les manuscrits d’écrivains à l’Exposition de 1937“, in: Culture & Musées, 16, 2010, S. 159-176, hier: S. 170. 485 Vgl. Wirth: „Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? “, S.-56. für einen Zugang zur Literatur über sinnliche Erfahrung, wobei nicht der Inhalt der ausgestellten Literatur in den Vordergrund tritt, sondern ihre Produktion und die mit ihr verbundenen Mühen 482 , das Füllen der Seite mit Tinte durch main und regard 483 , mithin das in der Produktion, aber auch Rezeption sinnlich Erfahrbare. Abb. 1: Exposition mondiale 1937, Paris, Musée de la Littérature, Abteilung Le Ma‐ nuscrit 484 Die Ausstellung von Manuskripten, Briefen und anderen Epitexten 485 zeigt durchaus ‚die Literatur‘, allerdings nicht in jedem Fall auch ihren literarischen Inhalt. Sie gleicht schnell einer „Schau-Philologie“, „in der Performance-Akte der Textwerdung durch das Präsentieren von Avant-Texten, Epitexten und Texten in (aufgeschlagenen) Büchern vorgeführt, sprich: vorgezeigt werden.“ 486 Derartige 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 105 <?page no="106"?> 486 Ebd., S.-57. 487 Hansen u.a.: „Das Immaterielle ausstellen“, S.-21. 488 Ebd., S. 15; die Schreibfeder war zu sehen in der Ausstellung „Victor Hugo, la Liberté“ im Pariser Panthéon, 9.5.-26.9.2021, ein Beispiel einer solchen ‚autorzentrierten‘ Aus‐ stellung. 489 Dies ist etwa der Ansatz von Potschs Studie Literatur sehen, vgl. ebd. 490 Annegret Pelz: „Vom Album zum Zettelkasten. Museums-Effekte im Text“, in: Gisela Ecker u. a. (Hg.): Sammeln - Ausstellen - Wegwerfen, Königstein/ Taunus: Helmer 2001, S.-17-30, hier: S.-17. 491 Vgl. ebd., S.-18. 492 Gfrereis: „Nichts als schmutzige Finger“, S.-84. 493 Vgl. dies.: „Literarische Erfahrung im Museum“, S.-37. Objekte stehen - wie auch „originale Dinge“ 487 , etwa eine Schreibfeder, mit der Victor Hugo Les Misérables verfasst hat - v. a. für „autor- und werkzentrierte Ausstellungen, die die Exponate als auratische Zeugnisse präsentieren“ oder „kontextorientierte Ausstellungen, die Exponate als soziokulturelle Dokumente gruppieren“. 488 Wenngleich es lohnend sein kann, auch diese Literatur-Vorstufen zu lesen 489 , sollen sie hier als Literatur zum Sehen bezeichnet werden. Als Sonderform ließe sich auch an Formen der Selbst-Ausstellung von Autoren denken, die nicht als Privatpersonen auftreten, sondern sich als Künstlerfiguren zeigen, und Übergänge zu innerliterarischen Autorenbildern aufweisen können (vgl. etwa Kap. IV.3.1). Dagegen steht die Präsentation einer Literatur zum Lesen: sei es in Form literarischer Texte an der Museumswand oder als Buch, zum Durchblättern oder in der Vitrine präsentiert und an markanter Stelle aufgeschlagen. Doch gehen Menschen wohl vor allem ins Museum, „weil sie etwas sehen wollen“ 490 - wo‐ gegen Lesen Konzentration und Verlangsamung erfordert, sich einem lustvollen Schlendern widersetzt 491 und „meist nicht bequem“ 492 ist. So ist plausibel, dass Literatur zum Lesen in Ausstellungen meist im Verbund mit anderen Elementen steht, andere Exponate ergänzt und/ oder eine Art Beigabe bildet - mithin eher zum Paratext des eigentlich Ausgestellten wird. Ganze Bücher zum Blättern etwa finden sich meist an Ausstellungsrastplätzen, bilden also ein Gegenstück zur Ausstellung, an der auch die Grenzen zwischen musealer und kommerzieller Ausstellung verschwimmen: Man denke an Ausstellungskataloge oder Kunst‐ bücher als Ansichtsexemplare zur Bewerbung im Museumsshop erhältlicher Produkte. Dennoch kann sich eine mit der Lektüre verbundene Immersion im Museum auch durch Texte ergeben, was nicht zuletzt mit der Textsorte zusammenhängt: Zu Recht verweist Gfrereis darauf, dass die Ausstellbarkeit von Literatur meist mit der Romanform zusammengedacht und darum hinterfragt wird. 493 Ein 106 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="107"?> 494 Vgl. ebd. 495 Fotografie des Verfassers. 496 Gfrereis bezieht Barthes’ punctum-Definition auch auf das Lesen, vgl. dies.: „Literari‐ sche Erfahrung im Museum“, S.-57; vgl. Kap. II.2.5. 497 Holm: „Ausstellungen/ Dichterhaus/ Literaturmuseum“, S.-577. 498 Ebd., S.-573. 499 Vgl. Gfrereis: „Literarische Erfahrung im Museum“. Gedicht lässt sich indessen viel eher sehen und lesen zugleich. 494 Auch weitere sehr kurze Texte, wie etwa eine Widmung André Bretons an Léona Delcourt („Nadja“) können im Ganzen erfasst, gelesen und auratisch erfahren werden. Abb. 2: Widmung André Bretons, Ausstellung „L’invention du surréalisme. Des Champs magnétiques à Nadja“, BnF I François-Mitterrand, Galerie 1, 19.5.-15.8.2021 495 Doch auch andere Texte (oder -auszüge), etwa an Ausstellungswänden, können wie Museumsobjekte rezipiert werden: Im Schlendern durch die Ausstellung und - bei Interesse - im Verweilen und ‚punktuellen‘ Lesen. 496 Die Ausstellung wird dann zu einem eigenen Ort der Literatur: durch „neue Lesesituationen, die habitualisierte Formen erweitern oder konterkarieren“. 497 Schließlich lässt sich an dezidiert „rezeptionsorientierte Ausstellungen“ denken, „die die Exponate als Gegenstand sinnlicher Erlebnisse inszenieren“ 498 , also erzählte Welten und nicht außerliterarische Realität zeigen sollen. Eine solche Ausstellung der Literatur als Erfahrung 499 zeigt nicht nur die Literatur 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 107 <?page no="108"?> 500 Vgl. Magali Nachtergael: „Narrations curatoriales. Écriture de l’exposition, fictions et récits dans l’art contemporain“, in: Captures, 6, 2, 2021, online unter: http: / / www.revu ecaptures.org/ node/ 5477/ . 501 Bildquelle: Centre Pompidou: „Dominique Gonzalez-Foerster: À rebours“, online unter: https: / / www.centrepompidou.fr/ fr/ ressources/ oeuvre/ cyn549r. in ihrer Materialität oder ihrer Zeichenhaftigkeit, sondern bedient sich auch anderer medialer Formen oder szenografischer Mittel. 500 Sie löst einen Refle‐ xions- und Imaginationsprozess aus, der jenem der literarischen Immersion ähneln kann. Als Beispiel sei die Installation À rebours (1993) von Dominique Gonzalez-Foerster genannt. Abb. 3: Installation À rebours (1993), Dominique Gonzalez-Foerster, Centre Pompidou 501 108 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="109"?> 502 Ebd. 503 Colard: „Quand la littérature fait exposition“, S.-84. 504 Ebd., S.-85. 505 Vgl. zu solchen Beispielen Colard: „L’hypothèse du ‚roman-exposition‘“. Colard zi‐ tiert u. a. die von Huysmans’ À rebours inspirierte Ausstellung Le voyage intérieur Paris-Londres (16.11.2005-5.3.2006, Espace EDF-Electra, Paris). Eine Beschreibung des Werks auf der Internetseite des Centre Pompidou verweist auf Analogien zwischen dem Roman und der Installation. Sie greift Aspekte des Romans auf und suggeriert eine ‚Wirkungsäquivalenz‘ beider zeitlich, medial und ästhetisch weit auseinanderliegender Werke. Die hier hervorgehobenen Beschreibungen der Installation ließen auch an Huysmans’ Roman denken: Des cimaises colorées délimitent le cadre de trois pièces, au décor essentiel et au mobilier minimal, éclairées par des lampes : ‚entrée rouge‘, ‚chambre jaune‘ et ‚bureau bleu‘. […] Par les jeux des lumières, formes et couleurs, cette mise en scène […] est propice à la rêverie introspective. ‚Les chambres produisent des scénarios‘, revendique l’artiste. […] La télévision allumée, avec uniquement un écran de neige, témoigne de la mise à distance critique du flux d’informations de la société contemporaine, au profit de nouveaux imaginaires. À l’instar de Des Esseintes, dont l’isolement et la quête d’artifice se révèlent être autant de tentatives d’atteindre un idéal, l’artiste évoque dans un espace générateur d’expériences multiples, l’aspiration à la diversité, en opposition à toute forme d’autorité et de contrôle. 502 Keineswegs handelt es sich bei Gonzales-Foersters Installation um eine ‚Illustra‐ tion‘ des literarischen Orts (der maison-musée Des Esseintes’) oder des Romans. Sie lässt sich vielmehr als ein „embrayeur de récit“ 503 verstehen: Wer sie betritt, betritt einen Raum, der jenem des Romans ähnelt und ähnliche Schlüsse zulässt, wobei offen bleibt, wessen Rolle der Betrachter einnimmt: Die des Autors? Eines Romanlesers? Der literarischen Figur Des Esseines? Neben einer Subjektinstanz geht der Installation auch die Linearität des Romans ab. Ihre Dreidimensionalität wird durch die Zugänglichkeit von allen Seiten vielmehr dezidiert herausgestellt. Colard spricht deshalb von einer „lit‐ térature émancipée“ 504 , die sich vom literarischen Text gelöst hat und dennoch dieses Texts bedarf. Als Erweiterung dieses Prinzips ließen sich auch ganze Ausstellungen denken, die sich auf literarische Werke beziehen. 505 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 109 <?page no="110"?> 506 Vgl. Potsch: Literatur sehen, S.-23. 507 Vgl. ebd., S.-13. 508 Vgl. zum „semantischen Eigensinn“ von Textträgern Holm: „Ausstellungen/ Dichter‐ haus/ Literaturmuseum“, S.-578. 509 Vgl. Bruna Donatelli: „Des vitrines sur le roman. Les couvertures de Madame Bovary et Salammbô“, in: Flaubert, 11, 2014, online unter: http: / / journals.openedition.org/ fl aubert/ 2307. Vgl. Jan Baetens: „Les livres de poche, une littérature ‚exposée‘? “, in: Image&Narrative, 18, 4, 2017, S. 55-62. Baetens liest die Publikation eines Werks als „acte sémiotique“ (S. 56) und spricht davon ausgehend von der „publication comme exposition“ (S.-57). 510 Genette: Seuils, S.-7. 511 Vgl. ebd., S.-75. 512 Rafael Horzon: Das neue Buch, Berlin: Suhrkamp 2020; schon der erste Roman - in weißem Einband - spielte mit seinem Titel Das weiße Buch (2010) auf die expositorische Qualität von Titel und Cover an. 3.1.1.2 Literatur als Ausstellung, das Buch als Museum Die Kategorie der Präsentation kommt auch in der Literatur zum Tragen und kann zu ihrer Beschreibung dienen. Die folgende Aufstellung zeigt Formen der Präsentation sowohl extraliterarischer als auch innerliterarischer Art. Auch sie bildet also den Kippmoment ab, an dem es nicht mehr um eine Literatur zum Sehen, sondern um Literatur als Erfahrung geht, wo ‚Raum‘ und ‚Materialität‘ von physischen zu poetischen Kategorien werden. 506 Daher stehen Textinsze‐ nierungen wie etwa blancs in der Mitte dieser Aufzählung, denn diese machen uns den Text sichtbar, spielen die „bloße Oberfläche“ der Schrift gegen das „Eigentliche des Texts“ 507 aus - die erzählte Welt, zu der er Zugang verschafft. Markiert wird dieser Kipppunkt durch die Aufteilung des folgenden Abschnitts in zwei Unterkapitel. 3.1.1.2.1 Ausstellen durch die Literatur Mit seiner materiell-visuellen Dimension kann das Buch als Ausstellungsmedium verstanden werden 508 : Es gibt durch sein Volumen und seine Ausstattung Hinweise darauf, was es enthält, und das Buchcover fungiert als „Vitrine“ 509 dessen, was in ihm zu lesen steht, ebenso wie Titel und Untertitel. Genette unterstreicht diese Funktion des Paratexts für den Haupttext „pour le présenter, […] pour le rendre présent“ 510 . Romantitel können auf die erzählte (Titel Le Spleen de Paris) wie auf die reale Welt (Untertitel Petits Poèmes en prose) referieren 511 , das Buch als Objekt in den Vordergrund rücken und zugleich in sein Inneres weisen - es steht somit als Objekt zwischen der kommerziellen Buchausstellung (etwa auf Buchmessen oder in Geschäften) und der Ausstellung seines Inhalts. Diese Funktion wird immer wieder ironisch aufgegriffen, so durch den Künstler und Autor Rafael Horzon, dessen 2020 erschienener Roman Das neue Buch heißt. 512 110 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="111"?> 513 Hamon: Expositions, S. 17; vgl. zum Streben nach einer „description exhaustive du réel“ des französischen Realismus auch Hamon: Le personnel, S.-33. 514 Honoré de Balzac: Avant-Propos de ‚La Comédie humaine‘ [1842], in: ders.: La Comédie Humaine, Bd. I, Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Paris: Gallimard 1976, S. 1-20, hier: S. 18; vgl. Pety: Poétique de la collection, S. 97-98; Boris Lyon-Caen: „Balzac et la collection“, in: L’Année balzacienne, 4, 1, 2003, S. 265-284; vgl. Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-69-72. 515 Vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S.-170; Amselle: Le musée exposé, S.-9-10. 516 Vgl. ebd. 517 So heißt es im Vorwort zu L’Assommoir: „Les Rougon-Macquart doivent se composer d’une vingtaine de romans. Depuis 1869, le plan général est arrêté, et je le suis avec une rigueur extrême. L’Assommoir est venu à son heure, je l’ai écrit, comme j’écrirai les autres, sans me déranger une seconde de ma ligne droite. C’est ce qui fait ma force. J’ai un but auquel je vais.“; Émile Zola: L’Assommoir [1877], in: ders.: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, Bd. II, Édition intégrale publiée sous la direction d’Armand Lanoux, Paris: Gallimard 1961, S. 371-796, hier: S.-373. Auch Titel wie Houellebecqs Soumission (i.S. von „Einreichung“) und Toussaints Made in China lassen sich als ironische Verweise auf das Buch als (Waren-)objekt verstehen. Auch die Werkkomplexe der großen Romanprojekte des Realismus zeigen in ihrer Gesamtanlage Ordnungsmuster, die man aus Museum und gutsortiertem Einzelhandel kennt, und präsentieren auf einer Oberflächenebene eine Samm‐ lungsambition. Zola beschreibt seine Romane als „magasin de documents humains“ 513 , und für Balzac bedingt die in der Comédie Humaine angelegte „nombre de figures, de caractères, cette multitude d’existences“ museumsnahe Ordnungsmuster, „des cadres, et qu’on me pardonne cette expression, des galeries“: De là, les divisions si naturelles, déjà connues, de mon ouvrage en Scènes de la vie privée, de province, parisienne, politique, militaire et de campagne. Dans ces six livres sont classées toutes les Études de mœurs qui forment l’histoire générale de la Société, la collection de tous ses faits et gestes, eussent dit nos ancêtres. 514 Eine derartige, vordergründig schlüssige, taxonomische Klassifizierung geogra‐ phischer oder historischer Zusammenhänge, wie man sie in zahlreichen Museen findet 515 , suggeriert einen „Über-Blick“ auf eigentlich Über-Komplexes, eine „côté ‚collection de papillons‘“ 516 , zumal Balzac - und ähnlich Zola 517 - die Geschlossenheit der Anlage seines Werks betont. Doch in der Auswahl ihrer „Objekte“ haben Autoren ähnliche Abwägungen wie Ausstellungsmacher zu treffen. 518 Dass Balzac sich der Grenzen seines Unterfangens und damit des Sammlungs- und Repräsentationsdilemmas (vgl. Kap. II.2.5.) bewusst ist, dem 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 111 <?page no="112"?> 518 Vgl. Paul: Poetry in the Museums, S. 9. Dabei ist es gleich, ob es sich bei diesen Objekten um „descriptions of actual objects or included textual objects like quotations“ handelt, vgl. Stapelfeld u.a.: „Museales Erzählen“, S.-3. 519 So Honoré de Balzac in seiner „Préface“ zu Une fille d’Ève [1839], in: ders.: La Comédie humaine, Bd. II, Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Paris: Gallimard 1976, S. 245- 383, hier: S. 265: „il n’y a rien qui soit d’un seul bloc dans ce monde, tout y est mosaïque“; vgl. Jeannine Guichardet: Balzac-mosaïque, Clérmont-Fer‐ rand: Presses universitaires Blaise Pascal 2007, S. 5-8, die die Mosaik-Metapher für den Blick auf das balzacsche Werk produktiv macht, sowie Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S. 73-74. Das Museum steht in Zusammenhang mit dem Museum als „une grotte que l’on recouvrira de ‚mosaïques‘, ces petites pierres disparates et dansantes[.]“, vgl. Wozny u. Cassin: „2. Musée, muséum“, Absch. 14. 520 Vgl. Robert Lukenda u. Lisa Zeller (Hg.): Dossier „Panoramen, Mosaike, Reihen und Serien - aktuelle Formen des Gesellschaftsporträts in Literatur, TV, Radio und Internet“, in: Lendemains, 170/ 171, 2018, S.-145-249. 521 Édouard Louis: En finir avec Eddy Bellegueule, Paris: Seuil 2014. 522 Hugo Lindenberg: Un jour ce sera vide, Paris: Bourgois 2020. 523 Vgl. Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, Mün‐ chen/ Wien: Hanser 1993, S.-105-128. 524 Vgl. ebd., S. 116, „Die Bühne der Welt wird zur Bühne der Stadt, die die Welt bedeutet“. auch sein Versuch eines vollständigen Panoramas unterliegt, zeigt sich an der von ihm selbst gesetzten, museumsnahen Metapher des Mosaiks 519 (vgl. u. a. Kap. III.5.2., IV.2.4.). Es spricht für die Wirkmacht solcher museumsnaher Ordnungssysteme, dass sie noch in Werken der Gegenwartsliteratur zitiert werden 520 : Ob in Édouard Louis’ En finir avec Eddy Bellegeule (mit Kapitelüber‐ schriften wie „Au collège“, „Le rôle d’homme“, „Les histoires du village“) 521 , Hugo Lindenbergs Un jour ce sera vide (z. B. „Les Familles“, „La Chambre“, „La Tante“) 522 und auch eine sich der Kindheit des Erzählers widmende Passage in Toussaints Football (z. B. „les maillots“, „enfance“, „le trophée“, vgl. FB17-27). Dass es sich jeweils um Kindheitserinnerungen handelt, ist womöglich bezeichnend: In der literarischen Bearbeitung wird die in allen drei Fällen komplexe Vergangenheit geordnet und verfügbar gemacht, als linear erzählbar präsentiert. Auch auf der Ebene des Werks lassen sich museumsartige Formen des Aus‐ stellens finden: Sébastien Merciers Tableau de Paris (1782-1788) zeigt in einer Sammlung von 1048 Bildern die Stadt in all ihren Facetten. 523 Zahlreiche Kapitel zu Berufen, Orten und Objekten der Stadt bilden eine Sammlungsambition ab, die offensichtlich nach Vollständigkeit strebt. Indem Mercier in seinem Vorwort das Treiben der Stadt mit einem Schauspiel vergleicht, sich selbst darin zum Protagonisten erklärt, verweist er auf den Wechselbezug von Ausstellen in der Stadt und Ausstellen durch die Literatur - lesbare Stadt und lesbarer Text kommen in Deckung, was eine Art Sortierbarkeit der Welt suggeriert. 524 112 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="113"?> 525 Vgl. Paul: Poetry in the Museums, S. 3: „A book can function for poems as a gallery does for works of visual art […]. Like the space of a museum, the pages of a book display poems for the close scrutiny of readers […].“ Vgl. dazu auch Henning Hufnagel: „Randstände der Fiktion. Leerstellen, Sammlungsbildung und die Suggestion einer Autobiographie“, in: Irina O. Rajewsky u. Ulrike Schneider (Hg.): Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 273-297, hier v. a. S. 283-286, der Textsammlungen wie Petrarcas Canzoniere als Medium des self-fashioning von Autoren beschreibt, die als Arrangeure oder Kuratoren in den Vordergrund treten. 526 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: „Vorwort“, in: ders. (Hg.): Museum der modernen Poesie, München: dtv 1964 [1960], S. 9-28. Enzensberger ist sich durchaus den Ambivalenzen des Museumsbegriffs bewusst und argumentiert im Sinne der new museology, wenn er festhält, sein Museum wolle eher „Annex zum Atelier“ als „Kühl- und Warenhaus“ sein (ebd., S. 11). Er vertritt eine Auffassung von der Poesie als „Prozess“, nicht als „zeitlos transportablem Kunstschatz“ (ebd.). Aufgrund der intertextuellen Verwebungen der Weltliteratur sei diese schließlich selbst schon ihr eigenes Museum (vgl. ebd., S.-12). 527 Vgl. Tyradellis: Müde Museen, S. 204-205: „Viele Fragestellungen gewinnen erst dadurch an Kontur, dass man sie strukturell behandelt, man räumliche und zeitliche Zusam‐ menhänge auflöst und so Objektwelten versammelt, die man ansonsten nie in Nähe zueinander exponiert sähe.“ 528 Vgl. Gfrereis: „Literarische Erfahrung im Museum“, S. 37; vgl. Paul: Poetry in the Museums, S.-3; vgl. Kap. II.3.1.1.1. 529 Vgl. Paul: Poetry in the Museums, S.-4. Auch die Textsammlung stellt aus: Sowohl was ihren Aufbau, als auch was die Rezeption betrifft, kann man Lexika oder Anthologien, die auf Vollständigkeit und/ oder Repräsentativität abzielen, mit Museen in Verbindung bringen - umso mehr, wenn diese das Museum im Titel führen, wie Hans Magnus Enzensbergers Museum der modernen Poesie - ein Titel, der explizit benennt, was implizit ohnehin in Gedichtbänden angelegt ist. 525 Verbunden sind mit solchen Samm‐ lungen ähnliche Probleme der Selektion und Strukturierung wie in Bezug auf reale Ausstellungen, etwa, was Aspekte der Kanonisierung oder der Beschrän‐ kung auf bestimmte Zeit- oder Kulturräume angeht. 526 Je ungewöhnlicher die Zusammenstellung, desto eher kann sie zu komparatistischem Denken anregen - das hat die Textsammlung mit dem Museum gemeinsam. 527 Auch auf der Ebene ihrer Typografie stellt Literatur (sich) aus, was insbeson‐ dere bei Gedichten 528 unmittelbar zu sehen ist: Paul vergleicht das lyrische Ge‐ dicht mit einem musealen Display 529 , das dem Leser/ Museumsbesucher immer vor Augen führt, dass er sieht, während er liest. Doch auch Romane können über die Anwesenheit und Abwesenheit von Text Visualität erzeugen oder visuelle Elemente auffällig herausstellen: „Le texte se donne immédiatement comme compact ou aéré, amorphe, régulier ou irrégulier.“ 530 Besonders Prosatexte können diese „Schriftbildlichkeit“ 531 in auffälliger Weise ausspielen. Thomas 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 113 <?page no="114"?> 530 Michel Butor: „Le livre comme objet“, in: ders.: Répertoires II, Paris: Minuit 1964, S.-104-123, hier: S.-119. 531 Sybille Krämer: „‚Schriftbildlichkeit‘ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift“, in: dies. u. Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München: Fink 2009, S.-157-176. 532 Vgl. Alain Robbe-Grillet: Le Voyeur, Paris: Les Éditions de Minuit 1955, S. 88; vgl. Ernstpeter Ruhe: „Alain Robbe-Grillet: Le voyeur“, in: Martha Kleinhans und Klaus Stierstorfer: Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte europäischer Literatur: England, Frankreich, Irland, Italien, Portugal, Rußland, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S.-119-135, hier: S.-134. 533 Mit Bal: Kulturanalyse, S. 20, ließen sich solche typografischen blancs als Elemente verstehen, an denen der „systemische Kontrapunkt“ zwischen visueller Poetik und Visualität auf den Prüfstand gestellt wird. 534 Gfrereis: „Literarische Erfahrung im Museum“, S.-61. 535 Vgl. Potsch: Literatur sehen, S.-35. 536 Hamon hat den Artikel für seinen Band Imageries erweitert (S. 81-117). Hier wird aus dieser neueren Version zitiert. Erläuternd zusammengefasst werden die vier Kategorien auch von Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S. 59-66. Sie bilden das Gerüst seiner Arbeit. Hier werden sie um weitere Überlegungen Hamons ergänzt. 537 Hamon: Imageries, S.-85-86. Bernhards Alte Meister zeigt sich im Blocksatz ohne jede ‚Atempause‘. Und in Robbe-Grillets Le Voyeur wird das zentrale Verbrechen mittels einer weißen Seite ausgespart 532 und damit „kontrapunktisch“ 533 ausgestellt: Das weiße Papier wird zum sprechenden blanc. Dieses Verfahren besitzt auch eine autoreflexive Dimension, es ist ein Verweis auf die Grenzen des Erzählens und Zeigens durch die Literatur. Wenn „Lesen in der Literaturausstellung […] immer auch eine Inszenierung des Lesens“ 534 meint, so ließe sich gleiches auch für ausstellende Literatur festhalten. 3.1.1.2.2 Ausstellen in der Literatur Ging es in den bisher angeführten Kategorien um den Text von außen, das visible, so nun um den Text von innen, das lisible, die Ausstellung durch literarische Verfahren und nicht durch ihre Materialität, Visualität und ihre Paratexte. 535 In seinem Artikel Le musée et le texte 536 nennt Hamon vier Formen der Musealität von und in literarischen Texten, du plus ‚extérieur‘ (1 : le personnage visite un musée ; 2 : le personnage fait son Musée ; 3 : le personnage est un Musée) vers le plus ‚intérieur‘, en terminant (4) par la textualisation même de la notion et des opérations muséales, là où le texte lui-même devient Musée, se constitue comme Musée. 537 114 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="115"?> 538 Die o. g. einschlägigen Anthologien mit Museumsszenen zeigen, dass dieser erste Fall bei weitem die häufigste Kategorie ist. 539 Honoré de Balzac: La Vieille Fille [1836/ 1837], in: ders.: La Comédie humaine, Bd. IV, Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Paris: Gallimard 1976, S.-791-936, hier: S.-823; vgl. Hamon: Imageries, S.-112-113. 540 Hamon: Imageries, S.-113; vgl. ähnlich Westerwinter: Museen erzählen, S.-27. 541 Auch Huysmans selbst hat seinen Roman als „petit musée“ bezeichnet, vgl. Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-239. 542 Hamon: Imageries, S.-115. Unter den ersten Punkt fallen für ihn - nicht selten sehr handlungsreiche - Szenen wie der Tod Bergottes im Louvre in Prousts Recherche (vgl. Kap. II.4.2.2.2.3.) 538 , unter den zweiten Protagonisten wie Kapitän Nemo in Jules Vernes Vingt-mille lieues sous les mers oder Des Esseintes in Huysmans’ À rebours, die ihre Umgebung in ein Museum verwandeln. Etwas abstrakter sind die beiden folgenden Kategorien. „[L]e personnage est un musée“ meint Figuren, die allegorisiert werden und damit (sich) selbst ‚ausstellen‘ oder ausgestellt werden, so wie die Figur Suzanne in Balzacs La Vieille Fille: C’était la beauté normande, fraîche, éclatante, rebondie, la chair de Rubens qu’il faudrait marier avec les muscles de l‘Hercule Farnèse, et non la Vénus de Médicis, cette gracieuse femme d’Apollon. 539 Die personnage fungiert als kulturelles Verweissystem, das - hier im (männli‐ chen) Blick eines Erzählers - zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Referenzen zusammenführen kann wie ein Museum, so dass es sich mehr um eine präsentierte, als eine präsentierende Figur handelt. Im vierten Fall schließlich spricht Hamon dem Text ausstellende Eigen‐ schaften nicht durch seine description oder fiction, sondern seine fonction zu. Er verweist zunächst auf die Funktion von Texten als „conservatoire[s] du patrimoine linguistique“ 540 , die vergessene oder anderweitig entlegene Textfrag‐ mente, Sprachregister etc. an die Oberfläche bringen und ausstellen können - man denke etwa an Huysmans’ Verarbeitung theoretischer Abhandlungen zu Parfümherstellung oder zur Neurose, die den Wissensstand der Zeit in den Roman À rebours abbilden. 541 Es zeigt sich darin ein ausgestelltes „savoir sur les choses, sur le monde, ou sur les mœurs“. Gemeint ist aber auch die Fähigkeit der Literatur, selbst Bilder zu erzeugen, „un savoir-faire stylistique qui passe par la fabrication d’‚images’ (à lire) destinées à concurrencer les images à voir du musée“ 542 . Diese vierte Kategorie verdient eine weitere Ausdifferenzierung in verschie‐ dene Untergruppen. Wie Hamon feststellt, finden sich museale Muster und Ordnungsstrukturen in der erzählten Welt, etwa in Zolas Ambition einer 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 115 <?page no="116"?> 543 Vgl. Hamon, Le personnel, S.-30. 544 Ebd., S.-29. 545 Ebd., S.-32. 546 Ebd., S.-33. 547 Ebd., S.-32. 548 Vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-46 u. 67. 549 Hamon: Imageries, S.-277-278. 550 Vgl. Honoré de Balzac: La Peau de Chagrin [1830/ 1831], in: ders.: La Comédie humaine, Bd. X, Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Paris: Gallimard 1976, S.-3-294, hier: S.-84. umfassenden Beschreibung des réel 543 , mittels eines geordneten Objekt- und Rauminventars, eines „vraisemblable référentiel“ 544 . Das sprachliche Streben nach Vollständigkeit und Klarheit korrespondiert mit einer ‚Ordnung‘ des Texts in „‚tiroirs‘ déjà préparés : les sexes, les étages de la mine (Germinal) ou de l’immeuble (Pot-Bouille)“ 545 : Décrire, c’est donc d’abord mettre en ordre, ranger, classer, délimiter, étiqueter, réduire un foisonnement amorphe à l’aide d’un certain nombre de ‚tiroirs‘, à l’aide d’un certain nombre de modèles et de grilles qui sont proposés par la culture de l’époque, et qui rendront ce réel intelligible. L’œuvre-magasin, comme le magasin, ne se conçoit que rangée. 546 Die Ausstellungskapazität des Texts zeigt sich somit auf der Ebene seiner Orga‐ nisation als „surface, comme un espace rationnalisé“ 547 . Eine solche Sortierung der sozialen Wirklichkeit in Raumkategorien ist ebenfalls dem oben beschrie‐ benen Sammlungsdilemma unterworfen: Die Referenz ‚magasin‘ ließe sich wohl ohne weiteres durch ‚musée‘ ersetzen, denn das hier beschriebene Problem ist nicht nur ein „Sortier-“, sondern auch ein Sammlungsproblem. Ähnlich, wie eine chronologische Gemäldehängung einen Kurator weniger sichtbar macht als beispielsweise eine motivische, geht auch mit einer taxonomischen Ordnung der erzählten Welt einher, dass das ordnende Subjekt in den Hintergrund gerät. 548 Neben der quasi räumlichen Realisierung der literarischen Ausstellung (durch Reihung und Rahmung) lässt sich die Ausstellungskapazität der Literatur auch durch unterschiedliche Bilder im Text betonen. Hamon unterscheidet zwischen „image à lire“ („faite de signes discrets, linéaires, discontinus, arbitraires“) und „image à voir“ (etwa Foto, Diagramm, Karte, „analogique, continue, si‐ multanée, motivée, fonctionne par plus ou moins de ressemblance avec la chose représentée“) 549 , wobei es u. a. durch schrift-bildliche Kombinatorik zu Überschneidungen zwischen beiden kommen kann - man denke an die im Text typografisch nachgebildete Inschrift auf dem magischen Leder in Balzacs La Peau de Chagrin 550 , oder auch an Baudelaires Gedicht Les Phares, das sich 116 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="117"?> 551 Vgl. Charles Baudelaire: „Les Phares“, in: ders.: Les Fleurs du Mal [1861/ 1868], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 1-196, hier: S. 13-14. Malraux liest das Gedicht als Museum jener Kunst, die dem Parisbewohner des 19. Jahrhunderts zugänglich war: „Baudelaire ne vit les œuvres capitales ni du Greco, ni de Michel-Ange […] ni de Goya, malgré la Galerie d’Orléans… Ses Phares commencent au XVIe siècle.“, Malraux: Les voix du silence, S. 206. 552 „Tout chargé de mystère, apparaissent à l’ombre / Des glaciers et des pins qui ferment leur pays“; vgl. dazu Martinovski: Les Musées Imaginaires, S.-39. 553 Hamon: Imageries, S.-281. 554 Der Vers stammt aus dem Gedicht Paysage. Es findet sich in der Abteilung Tableaux parisiens der Fleurs du Mal und steht somit selbst „sous l’égide [..] de l’image“, Vgl. ebd., S. 281. Vgl. Baudelaire Charles Baudelaire: „Paysage“, in: ders.: Les Fleurs du Mal [1861/ 1868], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S.-1-196, hier: S.-82. 555 Hamon: Imageries, S.-280. 556 Ebd. 557 Ebd.: „cette vision binoculaire […] ne crée pas une simple superposition, elle crée aussi un relief, un effet de perspective, de profondeur, dans les mondes possibles (fictifs) signifiés par le texte. Une épaisseur du texte est créée, un dénivelé entre deux plans strophenweise verschiedenen Malern widmet 551 : Das Gedicht evoziert eine - Strophe für Strophe abzuschreitende - Gemäldegalerie auch durch die literari‐ sche Nachbildung von Effekten der Malerei, die mit den jeweiligen Malern in Verbindung stehen (so etwa die literarische Nachempfindung des sfumanto in der Strophe über Leonardo da Vinci 552 ). Neben der typografisch inszenierten Bildlichkeit des Texts steht also die im discours verankerte Bildlichkeit, wobei es bei letzterer (anders als bei ersterer) nicht zu einer Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Zeichensystemen kommt. Trotz einer „différence de statut des deux régimes sémiotiques“ kann sich „une ressemblance de leurs effets“ 553 einstellen. Hamon zitiert den Baude‐ laire-Vers „Les tuyaux, les clochers, ces mâts de la cité“ 554 , und demonstriert daran, wie aus der Zusammenführung zweier getrennter Bezugssysteme (Stadt, Seefahrt) „un effet de simultanéisme, de continuité dans l’espace“ hervorgehe, „qui se rapproche effectivement de celui que provoque l’image à voir“ 555 . Die poetische Sprache verweise nicht auf das tatsächliche réel, das Paris des 19. Jahrhunderts, sondern auf ein literarisch erzeugtes, in dem die Stadt im Vordergrund und eine Seefahrts-Metaphorik im Hintergrund steht, was „un relief, un effet de perspective“ 556 erzeuge: „La ‚vision‘ qui est ici […] programmée par et dans l’image, est une vision ‚binoculaire‘, vision d’autant plus nette que la parataxe juxtapose hors de toute temporalité et modalisation les objets rapprochés.“ 557 Durch diese gewissermaßen ‚Medialität‘ suggerierende Sprache wird das literarische Bild sichtbar inszeniert. 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 117 <?page no="118"?> sémantiques-fictionnels : le comparé n’est pas sur le même ‘plan’ (fictionnel) que le comparant.“ 558 Ebd., S.-283. 559 Vgl. ebd., S.-281-282. 560 Vgl. ebd., S.-288. 561 Ebd., S. 283; Hamon verweist hier u. a. auf Rimbauds Collage-Gedicht Paris, vgl. ebd., S.-159. 562 Vgl. Bruno Blanckeman: „Graphèmes (inscriptions du réel dans quelques récits au présent)“, in: Gianfranco Rubino (Hg.): Voix du contemporain. Histoire, mémoire, réel dans le roman français d’aujourd’hui, Rom: Bulzoni Editore 2006, S. 163-175, hier: S. 164. 563 Vgl. ebd.; vgl. Laurent Demanze: „Le dictionnaire palimpseste d’Annie Ernaux. Remar‐ ques en marge des Années“, in: Dominique Viart u. Gianfranco Rubino (Hg.): Écrire le présent, Paris: Armand Colin 2012, S. 51-61, hier: S. 58. Vgl. etwa zu Ernaux’ Les Années: „le livre est un sismographe linguistique qui enregistre les tournures inédites et les ex‐ pressions tombées en désuétude, pour y déchiffrer autant de signes des basculements de mentalités. Ce lexique en mouvement fonctionne comme indice indirect des pratiques sociales et des représentations communes“ (ebd.). Vgl. Colard, der Ernaux’ Werk als „texte-catalogue“ charakterisiert: Colard: „L’hypothèse du ‚roman-exposition‘“, S.-341. 564 Vgl. Blanckeman: „Graphèmes“, S.-166. Hamon beobachtet im 19. Jahrhundert einen frühen „soupçon“ 558 , der gegen‐ über literarischer Weltrepräsentation durch Vergleich oder Metapher herrsche, was er sich mit der aufkommenden Fülle an industriellen, reproduzierten Bildern erklärt, mithin also mit dem Einfluss des städtischen Ausstellungs- und Werbewesens auf die Literatur. 559 Er zählt vier Strategien auf, metaphorische Sprache zugunsten eines ‚Realismus‘ zu verändern und zu ‚neutralisieren‘ 560 . Für die vorliegende Untersuchung sind diese interessant, weil sie weitere Formen der ‚ausstellenden‘ Qualität literarischer Texte zeigen, jenseits von Metapher oder Ekphrasis - vielmehr in Form unmittelbarerer Wirklichkeitsbezüge. Als erstes Verfahren nennt er den Einsatz authentischer Textfragmente, eine „jux‐ taposition de slogans ou de noms propres empruntés aux affiches, aux journaux, ou aux prospectus commerciaux“ 561 . Blanckeman spürt solchen Textelementen, die er als graphèmes bezeichnet, in der Gegenwartsliteratur nach 562 , u. a. in Annie Ernaux’ Les Années, einem von „microtextes“ in solcher Anzahl durchsetzten Text, dass man eine Sammelabsicht vermuten könnte. 563 Graphèmes als unmittelbare, sprachliche Abbilder der Gegenwart stehen mehr oder weniger neben der Erzählung. Als „marqueurs de société, qui fonc‐ tionnent comme des signes révélateurs de modèles sous-jacents“ 564 bilden sie eine sich selbst ausstellende Gegenwart ab (die erzählte Welt zeigt ein Museum der Straße, ist Spiegel der Ausstellungsgesellschaft), lassen verschiedene Arten von Wirklichkeitsreferenz miteinander in Beziehung treten und machen den 118 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="119"?> 565 Vgl. ebd. zu Houellebecqs Les particules élémentaires: „Le roman fait donc jouer, à même sa structure textuelle, différents discours porteurs de savoirs indépendants, se posant lui-même comme un lieu possible pour penser leur interdépendance.“ (S.-173) 566 Vgl. Hamon: Imageries, S. 284; Hamon verweist auf die ländliche Ballszene (die „comices agricoles“) in Madame Bovary, „où s’entrelacent clichés amoureux et clichés de la phraséologie officielle des discours publics“. 567 Ebd., S.-284. 568 Ebd., S.-286. 569 Ebd., S.-288. 570 Ebd., S.-289. 571 Ebd., S.-291. 572 Heffernan: Museum of Words, S. 3; neuere Ansätze grenzen sich von Heffernan ab bzw. gehen über diesen hinaus, so Claus Clüver, der von Ekphrasis als „the verbal representation of a real or fictitious text composed in a non-verbal sign system“ spricht, literarischen Text zum Reflexionsraum 565 - ein Prinzip, das sich auch schon in der Literatur des 19.-Jahrhunderts findet. 566 Das zweite von Hamon angeführte Verfahren ist ein Stil, der bewusst auf „toute image rhétorique, comparaison, métaphore, analogie“ verzichtet - „un texte ‚blanc‘, comme ‚dégraissé‘ de toute analogie, un texte dé-figuré“ 567 : Hamon stellt dazu fest: „On a là une littérature qui se veut mimétique d’un réel plat et insignifiant (mais surencombré d’images)“ 568 - eine Beschreibung, die auch für die Prosa Houellebecqs noch gültig wäre (vgl. Kap. IV.3.1.1.1.). Laufen die ersten beiden Verfahren dem metaphorischen Bild entgegen, lassen die letzten beiden dieses zwar zu, versuchen aber dennoch, es zu ‚neu‐ tralisieren‘: Im dritten Fall wird das sprachliche Bild beibehalten, „mais en l’appliquant synesthétiquement à l’évocation d’une image à voir“ 569 , wodurch es „surdétermination“ erfährt; viertens führt er schließlich eine Form der „allusion icônique“ an: „Ce procédé consiste à contaminer l’image textuelle, plus ou moins subrepticement, par une allusion à une image à voir quelconque“. Dies sorge für eine Annäherung beider Ebenen: „l’écrivain décrit-il le réel, ou décrit-il une image plate qui dépeint le réel-? “ 570 Derartige, ‚flache‘ Beschreibungen à la fois évacuent les images locales, comparaisons et métaphores, et construisent globalement une sorte d’effet d’image général à l’aide de mots, de verbes ou d’adverbes relevant d’une isotopie du plat, du plane […]. Par là le texte littéraire entre en analogie avec l’art du vitrail[.] 571 Deutlich wird, dass in der bildhaltigen Literatur des 19. Jahrhunderts zahlreiche Formen literarischer Bildlichkeit miteinander konkurrieren - innerhalb des Texts, aber auch mit Bezug zu einer außerhalb des Texts präsenten Bildlichkeit. In der Beschreibung von Bildern in Texten - Ekphrasis im Sinne einer „verbal representation of visual representation“ 572 - nähert sich die Literatur dem Museum 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 119 <?page no="120"?> also einen komplexeren Textbegriff anlegt, vgl. ders.: „Ekphrasis Reconsidered. On verbal representation of non-verbal texts“, in: Ulla-Britta Lagerroth u. a. (Hg.): Interart poetics. Essays on the interrelations of the arts and media, Amsterdam/ Atlanta: Brill 1997, S. 19-33, hier: S. 26, zit. nach Rajewsky: Intermedialität, S. 196. Vgl. weiter Christina Schäfer u. Stefanie Rentsch: „Ekphrasis. Anmerkungen zur Begriffsbestimmung in der neueren Forschung“, in: Zeitschrift für französische Sprache, 114, 2004, S.-132-165, hier: S. 136, wo der Begriff vom „intermedialen Bezug“ abgegrenzt wird, da er nur in eine Richtung - vom Sprachlichen zum Nichtsprachlichen - eine Verbindung herstellt, und daher nur einen Teilbereich literar-musealer Komplexe abdecken kann. 573 In diesem Sinne verwenden u. a. Heffernan (Museum of Words) und Martinovski (Les Musées Imaginaires) die Museumsmetapher. 574 Mitterand: L’illusion réaliste, S. 110: Gemeint ist damit „la représentation, textuelle, de photographies, de gravures, de peintures, de dessins, d’enluminures, de papiers peints, de tapisseries, d’affiches, de broderies, de vitraux, de tentures, de sculptures, etc.“ 575 Ebd., S.-109. 576 Vgl. Martinovski: Les Musées Imaginaires, S. 11, der ekphrasis „dans une perspective intersémiotique [..], comme un procédé de transposition“ definiert; vgl. auch Kap. II.3.2.2. 577 Huysmans: À rebours, S.-579. sehr direkt an. 573 Dabei ließen sich zwei Formen der Ekphrasis denken: Im ersten Fall stehen lesbarer Text und gelesenes Bild nebeneinander; die Literatur versucht nicht, einen Medienwechsel zu simulieren; Mitterand spricht hier von „objets […] texticonographiques“ 574 . Als „simulacres au second degré“ 575 zielen sie nicht notwendigerweise auf eine ‚Wirkungsäquivalenz‘, die Nachahmung einer durch das Bild vermittelten Erfahrung. Dagegen ließe sich zweitens eine Form der Ekphrasis denken, die selbst versucht, mit den Mitteln der Literatur Mediengrenzen zu überschreiten. 576 Wenn etwa das fünfte Kapitel von À rebours auf Gustave Moreaus Salomé dansant devant Hérode rekurriert, so geschieht dies vermittelt durch den Blick Des Esseintes’, der das Gemälde ‚erlebt‘, eigene Schwerpunkte legt und das Bild als Ereignisabfolge beschreibt: Au centre du tabernacle surmontant l’autel précédé de marches en forme de demi-vas‐ ques, le Tétrarque Hérode était assis, coiffé d’une tiare, les jambes rapprochées, les mains sur les genoux. La figure était jaune, parcheminée, cannelée de rides, décimée par l’âge ; sa longue barbe flottait comme un nuage blanc sur les étoiles en pierreries qui constellaient la robe d’orfroi plaquée sur sa poitrine. […] Dans l’odeur perverse des parfums, dans l’atmosphère surchauffée de cette église, Salomé, le bras gauche étendu, en un geste de commandement, le bras droit replié, tenant à la hauteur du visage, un grand lotus, s’avance lentement sur les pointes, aux accords d’une guitare dont une femme accroupie pince les cordes. 577 120 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="121"?> 578 Ebd., S. 581. Vgl. Jan Rohden: Konfigurationen krisenhafter Wahrnehmung in der Literatur um 1900. Eine Studie über Joris-Karl Huysmans, Gabriele D’Annunzio, Oscar Wilde und Hugo von Hofmannsthal, Bonn: Bonn University Press 2018, S. 105, der anschließt an Amend-Söchting: Ichkulte, S. 145; vgl. Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S. 17, der diese „picturalisation du texte“ als Ausdruck einer „tendance pathologique“ (ebd.) des Privatsammlers Des Esseintes beschreibt. 579 Vgl. Loehr: „Le Musée Imaginaire et l’imaginaire du roman“, S.-182. 580 Vgl. zu dieser Passage auch Ottmar Ette: LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen zu einem großen Gefühl und dessen Aneignung, Berlin/ Boston: de Gruyter 2020, S.-599-603. 581 Huysmans: À rebours, S.-582-583. 582 Vgl. Joseph Jurt: „Schwestern oder Rivalinnen? Zum Verhältnis des künstlerischen und des literarischen Feldes im Frankreich des 19. Jahrhunderts“, in: Ottmar Ette u. Gesine Müller (Hg.): Visualisierung, Visibilisierung und Verschriftlichung. Schrift-Bilder und Bild-Schriften im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Berlin: Edition Tranvia 2015, S.-67-83, hier: S.-78. Vgl. ders.: Les Arts rivaux, S.-324. 583 Vgl. Potsch: Literatur sehen, S. 53: „Bilder besitzen keine Syntax. Sie zeigen Ist-Zustände, können jedoch keine Aussagen darüber treffen, keine Erläuterungen und kausalen Zusammenhänge angeben.“ Die Beschreibung Salomés sagt mindestens so viel über die Wahrnehmung Des Esseintes’ aus, wie über das Gemälde selbst: Dans l’œuvre de Gustave Moreau, […] des Esseintes voyait enfin réalisée cette Salomé, surhumaine et étrange qu’il avait rêvée. […] Elle devenait, en quelque sorte, la déité symbolique de l’indestructible Luxure, la déesse de l’immortelle Hystérie, la Beauté maudite […]. 578 Über Bildbeschreibungen kann eine ‚ästhetische Eigenzeit‘ (vgl. Kap. II.4.2.2.2.3.) in der Erzählung erzeugt werden. 579 Während im ersten Fall diese Eigenzeitlich‐ keit des beschriebenen Gemäldes gegen die Erzählung steht, läuft jene in À rebours der Stagnation der Handlung entgegen, denn auf dem Gemälde und Blick Des Esseintes’ ‚geschieht‘ etwas. 580 Da bald darauf noch ein zweites Moreau-Ge‐ mälde beschrieben wird, L’Apparition 581 , bilden die beiden ‚statischen Bilder‘ eine ‚narrative Folge‘. 582 Unter dem Gesichtspunkt der Medienkonkurrenz zeigt dies auch eine Stärke der Literatur gegenüber der Malerei, da hier durch die literarische Vermittlung eine lineare Erzählung innerhalb des Moreau-Gemäldes generiert wird - eine Möglichkeit, die der Malerei abgeht (vgl. Kap. II.4.2.). 583 Gerade in Hinblick auf Literaturausstellungen (und auf Literatur, die selbst‐ reflexiv ihre Ausstellungskapazität thematisiert) sind auch Formen des literari‐ schen Ausstellens von ‚Immateriellem‘ zu berücksichtigen. Ein interessantes Beispiel dafür bietet Cécile Wajsbrots Roman Sentinelles, der sich ausschließlich aus Sätzen und Sprachfetzen zusammensetzt, die während einer Kunst-Ver‐ nissage im Centre Pompidou von unterschiedlichen Protagonisten geäußert oder gedacht werden. So lässt sich der Roman Hamons erster Kategorie zu‐ 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 121 <?page no="122"?> 584 Cécile Wajsbrot: Sentinelles, Paris: Bourgois 2013, S.-204-205. 585 Ebd., S.-207. Vgl. zur literarischen Reflexion von Immaterialität auch Kap. II.4.1.2.2. 586 Hans-Peter Wagner: „Repräsentation“, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, Fünfte, aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart: Metzler 2013, S.-649-650, hier: S.-649. 587 Joachim Baur: „Repräsentation“, in: Heike Gfrereis u. a. (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen: Wallstein 2015, S. 85-100, hier: S. 97. Vgl. Davallon: L’exposition à l’œuvre, S. 215. Er bezeichnet die Ausstellung als „monstration“, „ostension“ und „représentation“. rechnen („le personnage visite un musée“). Allerdings bleibt unklar, wer hier die personnages sind, und auch die Ausstellungsstücke werden nur abstrakt umschrieben. Schon auf der Handlungsebene werden die Aspekte Materialität und Immaterialität von Kunst und Literatur thematisiert, wie in folgendem Dialog: - L’iPad, une tablette fine au lieu des étagères d’une bibliothèque. - La troisième dimension a disparu. - Le relief. - Les livres se lisent à plat, sans volume. - La musique est un son pur, invisible. - Ou un graphique sur un écran. - Nous pouvons lire sans livre. […] - Regarder une peinture sans tableau. - La taille des supports diminue. - Et puis ils disparaissent. - Il reste l’art pur. - C’est-à-dire ? - La musique et ses sons. - La littérature et ses textes. - Pas d’intermédiaire. - Pas d’objet. 584 Indem die Protagonisten abstrakt und auf ihre Äußerungen reduziert bleiben, ja meist nicht einmal deutlich wird, wer gerade spricht, wird die thematisierte ‚Immaterialität‘ der Kunst sowohl über die Erzählung transportiert als auch in ihr reflektiert: - Une exposition peut-elle annoncer quelque chose ? - Tout ce qu’elle montre est forcément déjà là. - Installé. - L’exposition révèle ? - Prend acte ? - Rend visible l’invisible-? 585 3.1.2 ‚Repräsentation‘ in Literatur und Museum Repräsentation, verstanden als „Darstellung von etwas/ jemand durch etwas/ jemand für etwas/ jemand“ 586 , betrifft sowohl die „Praxis“ des Ausstellens als auch das „Produkt dieser Praxis“ 587 . Es handelt sich um eine (mediale, narrative) Vermittlungsleistung, die (über Selektion der gezeigten Inhalte wie auch den Modus der Ausstellung) ‚bedeutungskonstituierend‘ ist, andererseits auch eine 122 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="123"?> 588 Vgl. u.-a. Roswitha Muttenthaler u. Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsen‐ tation von Gender und Race in Ausstellungen. Bielefeld: transcript 2007; Ulrich Borsdorf u. a. (Hg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld: transcript 2004; Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S.-136-179. 589 Vgl. Baur: „Repräsentation“, S.-92. Vgl. u.-a. Kap. II.2.1, II.3.3. 590 Vgl. etwa Mitterand: L’illusion réaliste; Fieke Schoots: „Passer en douce à la douane“. L’Écriture minimaliste de Minuit: Deville, Echenoz, Redonnet et Toussaint, Amsterdam: Rodopi 1997; Julia Brühne u.a.: „Re-Konstruktion und Realismus heute“. 591 Vgl. Baur: „Repräsentation“, S. 92. Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, S. 22-31; vgl. dies.: „Im postrepräsentativen Museum“, in: Carmen Mörsch u.-a. (Hg.): Ausstellen und vermitteln im Museum der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2017, S. 189-201; vgl. Institute for Art Education: „Repräsentationskritik“, online unter: https: / / www.zhdk. ch/ forschung/ ehemalige-forschungsinstitute-7626/ iae/ glossar-972/ repraesentationskri tik-3837. 592 Vgl. Baur: „Repräsentation“, S.-85-100. 593 Thomas Thiemeyer: Das Depot als Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wiederentdecken, Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau 2018, S.-230. Ähnlich auch te Heesen: Theorien des Museums, S. 68, die drei „Visualisierungsweisen“ unterscheidet: „die Betrachtung des Einzelstücks als Meisterwerk oder als Trophäe, die Betrachtung einer Serie von Objekten als taxonomischer Systematik oder als Entwicklungsge‐ schichte sowie die Zusammenstellung von Objekten als ein Gesamtbild, in dem der Gegenstand in einen atmosphärischen Zusammenhang eingebettet wird“. Form der Machtrepräsentation darstellt. 588 Sie ist somit ein Begriff des Über‐ gangs zwischen Werk und Welt, Text und Kontext, Poetik und Politik. Im 19. Jahrhundert wie in den 1950er bis 1970er Jahren werden Aspekte der Repräsentation besonders intensiv diskutiert und schlagen sich in Museums‐ diskursen (Kap. II.3.1.2.1.) 589 ebenso wie in Literatur und Literaturtheorie 590 in mehrfachen „Krise[n] der Repräsentation“ 591 nieder, in Debatten zu Realismus, Welthaltigkeit und réel (vgl. Kap. II.3.1.2.2.), die auch bei den beide hier behan‐ delten Autoren noch virulent sind. 3.1.2.1 (Welt-)Repräsentation im Museum Das Museum ‚repräsentiert‘ etwas aus der (Außen-)Welt und aus anderen Zeiten 592 , wobei diese Funktion auf der Ebene des Objekts noch am einfachsten zu beschreiben ist. Thiemeyer schlägt das folgende Schema 593 vor: 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 123 <?page no="124"?> 594 Vgl. zum Verhältnis von Ausstellungsobjekt und -diskurs auch Davallon: L’exposition à l’œuvre, S. 216: „L’objet exposé est donc au croisement de deux opérations, une qui est celle de l’écriture de l’exposition, l’autre qui est celle de l’invention du lien qu’il possède avec ‚son‘ monde, le monde dont il est un fragment qui nous est présenté, ici, dans l’exposition.“ 595 Bal: Kulturanalyse, S.-82; vgl. Paul: Poetry in the Museums, S.-24. Werk Exemplar Zeuge Referenz Autor, Urheber (wiss.) Systematik Geschichte Funktion Ästhetische Erfah‐ rung Evidenz erzeugen Spuren zeigen, Wissen beglau‐ bigen, Auraeffekte Wertmaßstab Einzigartigkeit, gesicherte Urhe‐ berschaft Repräsentativität ontologische Ver‐ bindungen zur Ver‐ gangenheit assoziierte Präsen‐ tationsart isoliert seriell, relational narrativ kontextua‐ lisiert ‚Repräsentativität‘ kann nur das ‚Exemplar‘ für sich beanspruchen, während das ‚Werk‘ seine Aura durch Autorschaft erhält, und der ‚Zeuge‘ ein vergangenes Geschehen bescheinigt. Doch ‚Repräsentation‘ meint mehr als Repräsentati‐ vität, und im weiteren Sinne repräsentieren alle drei Objektklassen etwas: ‚Werke‘ ihre Urheber sowie transportierte Inhalte, ‚Zeugen‘ historische Zusam‐ menhänge. Dabei können aber zwischen den Dingen auch Überschneidungen bestehen: So ließe sich ein Gemälde nicht nur als ‚Werk‘, sondern auch als ‚Zeuge‘ (z. B. einer bestimmten Phase eines Malers oder seines historischen Kon‐ textes) verstehen, sowie als ‚Exemplar‘ (z. B. als ein Beispiel einer bestimmten künstlerischen Strömung) einordnen. Die vielfältigen Repräsentationsfunktionen musealer Objekte werden we‐ sentlich von Begleitdiskursen beeinflusst 594 , wie Mieke Bal in einem Vergleich des Metropolitan Museum of Art (MET) mit dem American Museum of Natural History (AMNH) zeigt. Anders als im MET, wo man auf erläuternde Begleittexte verzichtet, sind im AMNH die Exponate mit Erklärungen versehen, die für Bal mehr über das Museum als über die Kulturen erzählen, auf die sie verweisen; gleiches gilt für die Inszenierung: Die geschickte, aber rigoros künstliche Malerei, das Schutzglas, die säuberliche Trennung der Arten und die im Vergleich mit den Tieren beschränkte Größe der Umgebung machen einem ständig bewußt, daß es sich bei dieser ‚Natur‘ um eine Darstellung handelt. 595 124 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="125"?> 596 Ebd., S. 76. Bal bezieht sich hier explizit auf Roland Barthes’ effet de réel, also eine literaturtheoretische Position. 597 Ebd. 598 Vgl. Czerney: Zwischen Nation und Europa, S.-11. 599 Bal: Kulturanalyse, S.-113. 600 Vgl. ebd., S. 77: „Die Leute, die derzeit in Museen arbeiten, sind bloß ein winziges Bindeglied in einer langen Kette von Subjekten.“ 601 Vgl. ebd., S.-102. 602 Ebd., S.-103. 603 Vgl. Bal: „Exhibition as Film“, S.-15. 604 Vgl. zu dieser bei Bal immer wiederkehrenden Frage auch Oliver Marchat: „Die Insti‐ tution spricht. Kunstvermittlung als Herrschafts- und als Emanzipationstechnologie“, in: Schnittpunkt (Hg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia+Kant 2005, S. 34-58, hier: S. 34: „Die Tatsache, dass die Institutionen sich selbst eine Vermittlungsabteilung leisten, verdeckt nur die Tatsache, dass die Institution selbst eine große Vermittlungsabteilung ist. Die Arbeit der eigentlichen Kunstvermitt‐ lung präsentiert nur einen kleinen Ausschnitt der in der Institution materialisierten Diskurse.“ Auch die ausgestellte Kunst der Völker Asiens, Afrikas, Asiens und der indi‐ genen Bevölkerung Amerikas dient einem „Effekt des Realen“ 596 : Die Objekte funktionieren als „Indizes“, und „verweisen nicht auf die Kunst jener Völker, sondern auf den Realismus ihrer Darstellung.“ 597 In diesem Sinn suggerieren die („authentischen“) Dinge im Museum zunächst ein „so war es“ und überdecken, dass museale Ausstellungen Konstruktionen sind. 598 Bal folgert: Hier […] erzählen die Exponate gerade beim Versuch, fremde Kulturen zu zeigen, eine Geschichte. Aber das ist weder die Geschichte der dargestellten Völker noch die Geschichte der Natur, sondern die Geschichte des Wissens, der Macht und der Kolonisierung […]. 599 Da das Museum durch seine mit der Zeit wechselnden und aufeinander aufbau‐ enden Akteure 600 von den Dingen spricht, ergeben sich auch widersprüchliche Objektrahmungen: In Bals Beispiel hebt sich zwar vor dem Saal der afrikani‐ schen Völker eine Tafel neueren Datums durch ihre postkoloniale Perspektive von den Beschriftungen im Innenraum ab. 601 Dieser Gegendiskurs bleibt aber ohne Folge, da die differenzierte Haltung des Einleitungstexts im Inneren des Saals nicht durchgehalten wird: Er „bleibt ein Vorwort, dessen räumliche Position außerhalb des Saals seine ideologische Position als Einrahmung des Geschehens im Saal mittels einer Entschuldigung widerspiegelt.“ 602 Für Bals „critical reading“ 603 der Repräsentationsaspekte von Ausstellungen ist die Grundfrage des „Wer spricht“ 604 entscheidend, die in diesem Fall durch die verschiedenen, in Opposition stehenden Aussagen unbeantwortet bleibt. 605 Diese Grundfrage ist auch bezüglich der Selbstrepräsentation von 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 125 <?page no="126"?> 605 Vgl. Colard: „De la préface d’exposition“, S. 373, der die (Kunst-)Ausstellung als „champ pluri-discursif “ beschreibt, „où rivalisent différents ordres de discours : celui de l’institution ou de la galerie, celui plus officiel encore du ministre de la culture, celui du mécène qui devance même parfois le mot du commissaire d’exposition, celui des services pédagogiques, celui de l’artiste aussi, et éventuellement du critique d’art, de l’écrivain ou du philosophe, eux-mêmes intégrés au ‚plan-média‘ de l’exposition.“ 606 Bal: Kulturanalyse, S.-102. 607 Vgl. etwa Werner Wolf: „Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“, in: Vera Nünning u. Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: WVT 2002, S.-23-104, hier: S.-33. 608 Vgl. zu réel und Realismus etwa Asholt: „Michel Houellebecq. Eine ‚Wiederentdeckung‘ des Realismus? “, S. 346; vgl. zur Erwartung an Repräsentativität Baur: „Repräsentation“, S.-96. Autoren im Museum zentral; während im AMNH „[d]urch Abstandnahme“ zwischen Ausstellenden und Ausgestelltem „Differenz geschrieben“ 606 wird, lassen Autorenausstellungen eine sprechende Instanz und eine Einheit von Ausstellungsintention und Intention des Ausstellenden erwarten. Es wird zu untersuchen sein, wie explizit und zuverlässig die ‚sprechende Instanz‘ in den beiden betrachteten Ausstellungen, aber auch im musealen Erzählen und in literarischen Museumsbildern in Erscheinung tritt - inwiefern also museale Re‐ präsentationsmechanismen mitgedacht und hinterfragt werden (vgl. u. a. Kap. III.3.1.2.4, u. Kap. IV.3.3.). Deutlich wird außerdem die Rolle von Begleittexten (wie etwa Ausstellungseinleitungen), die eine ‚rahmende‘ Funktion besitzen und so weitere Ebenen der Repräsentation bilden können. 3.1.2.2 Repräsentation und Weltbezug in der Literatur Gemäß oben zitierter Minimaldefinition repräsentiert auch die Literatur etwas durch jemanden. 607 Doch sowohl das Etwas wie der Jemand sind mitunter schwer zu identifizieren. Eine Analogie zwischen Literatur und Museum lässt sich v. a. da ziehen, wo die Literatur die Ambition besitzt, ein réel auszustellen oder ‚realistisch‘ zu sein, wo sie also wie das Museum an einem - wie gezeigt hinterfragbaren - Anspruch der ‚Repräsentativität‘ gemessen wird. 608 Diese Ambition wurden in den hier gewählten literaturgeschichtlichen Abschnitten - von der Realismusdebatte (etwa zwischen Zola und Huysmans) über den Nouveau Roman bis zur Diskussion einer retour du réel in der französischen Literatur - immer wieder auf den Prüfstand gestellt und neu justiert. Wie sich anhand von Objekten und Subjekten in literarischen Texten zeigen lässt, hat die Analogie Museum-Literatur ihre Grenzen. So ist eine auf die Ausstellung anwendbare Unterscheidung zwischen ‚Objekt‘ und ‚rahmendem Begleitdiskurs‘ (s. o.) nicht direkt auf die Literatur übertragbar. 609 Selbst wenn 126 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="127"?> 609 Vgl. Wolf: „Das Problem der Narrativität“, S.-32-33. 610 Vgl. Mitterand: L’illusion réaliste, S.-17; Wolf: „Das Problem der Narrativität“, S.-37-38. 611 Ronald Barthes: S/ Z, Paris: Points 2012 [1970], S.-56. 612 Mitterand: L’illusion réaliste, S. 4, vgl. Philippe Hamon: La description littéraire. De l’Antiquité à Roland Barthes. Une Anthologie, Paris: Macula 1991; ders.: Le personnel. 613 Vgl. Hamon: La Description littéraire, S. 264: „la description génère le porte-regard, qui justifiera en retour la description, qui en rendra ‚naturelle’ et vraisemblable l’apparition.“ 614 Vgl. Alain Pagès: „À rebours, un roman naturaliste? “ in: Patrick Besnier (Hg.): Joris-Karl Huysmans. À rebours: une goutte succulente, Paris: SEDES 1992, S.-3-17. 615 Vgl. Rohden: Konfigurationen krisenhafter Wahrnehmung, insbes. S.-92-97. sich z. B. im realistischen Roman Dingbeschreibungen (descriptions) deutlich von Handlungsbeschreibungen (narrations) abheben, man hier also das Zeigen von etwas durch jemanden vermuten könnte, erweisen sich schon die Ausstel‐ lungstexte des 19. Jahrhunderts als komplexe Gefüge, in denen Objekte, Subjekte und Räume ineinandergreifen. 610 Und auch der ‚transparente‘ Realismus kommt nicht ohne Selektions- und Rahmungsverfahren aus, wie u. a. Barthes hervor‐ hebt: Toute description littéraire est une vue. On dirait que l’énonciateur, avant de décrire, se poste à la fenêtre, non tellement pour bien voir, mais pour fonder ce qu’il voit par son cadre même : l’embrasure fait le spectacle. Décrire, c’est donc placer le cadre vide que l’auteur réaliste transporte toujours avec lui […], devant une collection ou un continu d’objets inaccessibles à la parole sans cette opération maniaque […]. Ainsi le réalisme […] consiste, non à copier le réel, mais à copier une copie (peinte) du réel […]. 611 Als ‚Mittlern‘, ‚Agenten‘ oder Rahmungsinstanzen eines innerliterarischen réel kommt literarischen Protagonisten eine wichtige Rolle zu. Mitterand zieht Emma Bovary als Beispiel heran; diese Figur ermögliche eine „solidarité entre la narration des événements et des actes de description des êtres et des choses“ 612 . Sie verfügt als innerliterarische Instanz über einen „regard descripteur“, wel‐ cher im realistischen Roman im Wechselspiel mit dem Beschriebenen steht. 613 Huysmans’ Des Esseintes bewegt sich noch stärker zwischen literarischer Subjektivität und vermeintlich objektiver Darstellung; wie Zola hat Huysmans intensiv recherchiert und etwa wissenschaftliche Aufsätze zu mittelalterlicher Literatur oder Parfümherstellung studiert - jedoch weniger mit dem Ziel, die Welt abzubilden, als vielmehr den subjektiven Blick seines Protagonisten. 614 Die Weltrepräsentation erfolgt hier also explizit, gewissermaßen ‚sichtbar‘, nur in den Wahrnehmungsgrenzen Des Esseintes’, wie auch die Ich-zentrierte Sammlung basiert À rebours auf subjektiven, nicht taxonomischen Kriterien. 615 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 127 <?page no="128"?> 616 Teile des folgenden Absatzes wurden in ähnlicher Form bereits publiziert in: Rhein: „Räume und Realitäten“. 617 Vgl. Sarraute: L’ère du soupçon, S. 71: „Aussi, dès que le romancier essaie de […] décrire sans révéler sa présence, il lui semble entendre le lecteur, pareil à cet enfant à qui sa mère lisait pour la première fois une histoire, l’arrêter en demandant: ‚Qui dit ça-? ‘“ 618 Ebd., S. 64-65; vgl. Bernard Luscans: La représentation des objets dans le nouveau nouveau roman, Dissertationsschrift, Chapel Hill: University of North Carolina 2008, online unter: https: / / cdr.lib.unc.edu/ concern/ dissertations/ d791sh639, S.-5. 619 Alain Robbe-Grillet: „Sur quelques notions périmées“ [1957], in: ders.: Pour un nouveau roman, Paris: Gallimard 1963, S. 29-53; Zum Unterschied in der Subjektkonstitution bei Sarraute und Robbe-Grillet vgl. Horst Dieter Hayer: „Zwei Erzählsysteme des nouveau roman. Sarraute und Robbe-Grillet“, in: Peter Bürger (Hg.): Vom Ästhetizismus zum Nouveau Roman. Versuche kritischer Literaturwissenschaft, Frankfurt/ M.: Athenaion 1975, S.-163-191, hier: S.-185. 620 Vgl. dazu Toussaint: „Un Balzac largement fantasmé par Robbe-Grillet d’ailleurs, qui en a fait le repoussoir idéal pour ses théories (un personnage de Robbe-Grillet, dans le fond, ce Balzac)“, Jean-Philippe Toussaint: C’est vous l’écrivain, Paris: Le Robert 2022, S.-141. 621 Hamon: La description littéraire, S.-9. 622 Ebd. 623 „La littérature, d’ailleurs, consisterait toujours, et d’une manière systématique, à parler d’autre chose. Il y aurait un monde présent et un monde réel ; le premier serait seul visible, le second seul important“; Robbe-Grillet: „Du réalisme à la réalité“ [1955], in: ders.: Pour un nouveau roman, Paris: Gallimard 1963, S.-171-183, S.-179. 624 Ebd., S.-174. Gegen eine solche Figurenzeichnung im Dienste der erzählten Welt hegen bekanntlich die nouveaux romanciers ihre Zweifel 616 ; Sarraute stellt fest, weder Autoren noch Leser glaubten noch literarischen Figuren- oder Objektdarstel‐ lungen, die ‚für etwas stehen‘ sollen. Die Frage des ‚Wer spricht‘ (‚Qui dit ça ? ‘ 617 ) rückt auch hier ins Zentrum. Zum Realismus Balzacs notiert sie: Quelque chose d’insolite, de violent, se cachait sous ces apparences familières. Tous les gestes du personnage en retraçaient quelque aspect ; le plus insignifiant bibelot en faisait miroiter une facette. […] Plus fortement charpenté, mieux construit, plus richement orné était l’objet, plus riche et nuancée était la matière. 618 Robbe-Grillet disqualifiziert die literarische Figur als „notion périmée“ 619 , indem er sich insbesondere von Balzac absetzt. 620 In der Folge funktioniert der Nouveau Roman die literarische description zum „fonctionnement (et plaisir) autonome“ 621 um. Robbe-Grillet strebt eine unmittelbare énonciation anstelle einer „mimésis seconde“ an. 622 Er unterscheidet zwischen Realismus und einer von der Li‐ teratur erzeugten monde réel 623 und beschreibt den Roman als literarische Versuchsanordnung: Der Roman „n’exprime pas, il recherche“ 624 , der Autor ist Architekt dieser Welten: „Je ne transcris pas, je construis“ 625 . Dies bedeutet 128 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="129"?> 625 Ebd., S.-177. 626 Ders.: „Joe Bousquet le rêveur“ [1953], in: ders.: Pour un nouveau roman, Paris: Gallimard 1963, S.-103-119, hier: S.-118. 627 Vgl. die Zusammenfassung des Programms Robbe-Grillets in Luscans: La représentation des objets, S. 73: „1. Il faut renoncer à la toute puissance du personnage (rejet de la notion ‚d’état-civil‘, de la psychologie et de l’omniscience) ; 2. La fiction ne peut plus être au service d’un message politique ‚bourgeois‘, mais un retour au quotidien ‚ici et maintenant‘; 3. Le récit doit privilégier la forme sur le contenu (rejeter les genres pour favoriser une forme ouverte) ; 4. Le récit ne doit pas copier la réalité (rejeter la chronologie pour favoriser le fragment et la discontinuité).“ 628 Vgl. Roland Barthes: „Les choses signifient-elles quelque chose ? “ [1962], in: ders.: Le grain de la voix. Entretiens 1962-1980, Paris: Seuil 1999 [1981], S. 14-16, hier: S. 15: Barthes kritisiert hier, der Nouveau Roman stelle angesichts der gegenwärtigen „société […] particulièrement difficile à comprendre“ nicht die richtigen Fragen. So beziehe er etwa zum Algerienkrieg keine Stellung. Robbe-Grillet bemerkt dazu: „Au lieu d’être de nature politique, l’engagement c’est, pour l’écrivain, la pleine conscience des problèmes actuels de son propre langage, la conviction de leur extrême importance, la volonté de les résoudre de l’intérieur“; Robbe-Grillet: „Sur quelques notions périmées“, S.-46-47. 629 Muriel Barbery u.a.: „Pour une ‚littérature-monde‘ en français“, in: Le Monde des Livres, 15.3.2007, online unter: https: / / www.lemonde.fr/ livres/ article/ 2007/ 03/ 15/ des-ecrivain s-plaident-pour-un-roman-en-francais-ouvert-sur-le-monde_883572_3260.html. 630 Messling: Universalität nach dem Universalimus, S.-30. 631 Ebd., S.-31. einen unmittelbareren Zugang zur Realität: „[D]ans nos livres, […] c’est un homme qui voit, qui sent, qui imagine, un homme situé dans l’espace et le temps, conditionné par ses passions, un homme comme vous et moi.“ 626 Der Nouveau Roman zielt zuvorderst auf ästhetische Formen und literarische Möglichkeiten, nicht auf eine mit dem Ausstellen verbundene Repräsentationsmacht - im Gegenteil geht es ihm um eine Enthaltung von vordergründigen politischen Positionen 627 , wodurch er sich von ‚engagierter‘ Literatur seiner Zeit abgrenzt. 628 Noch die Verfasser des Manifests für eine littérature-monde beziehen sich darauf, wenn sie gegen die „maîtres-penseurs, inventeurs d’une littérature sans autre objet qu’elle-même“ Stellung beziehen: „Le monde revient. Et c’est la meilleure des nouvelles. N’aura-t-il pas été longtemps le grand absent de la littérature française ? Le monde, le sujet, le sens, l’histoire, le ‚référent‘ : pendant des décennies, ils auront été mis ‚entre parenthèses‘ […].“ 629 Dieser geforderte neue Realismus unterscheidet sich aber von dem alten. Nicht um „eine einfache Forderung nach Welthaltigkeit“ geht es, „sondern um die Infragestellung einer zentralistischen Haltung zur Welt“ 630 : „Die Haltung zur Welt als Ganzes ist zum Problem geworden.“ 631 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 129 <?page no="130"?> 632 Alain Robbe-Grillet: „Temps et description dans le récit d’aujourd’hui“ [1963], in: ders.: Pour un nouveau roman, Paris: Gallimard 1963, S.-155-169, hier: S.-166. 633 Vgl. Schoots: „Passer en douce à la douane“, S. 187-188: „La représentation de la réalité est considérée comme un système oppressif […]. L’‚anti-représentationnalité‘ entraîne nécessairement l’auto-référence : incapable de renvoyer à la réalité, le langage ne réfère qu’à lui-même.“ 634 Irina O. Rajewsky: „Diaphanes Erzählen. Das Ausstellen der Erzähl(er)fiktion in Ro‐ manen der jeunes auteurs de Minuit und seine Implikationen für die Erzähltheorie“, in: dies. u. Ulrike Schneider (Hg.): Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S.-327-364, hier: S.-330. 635 So fasst Rajewsky für die jeunes auteurs de Minuit zusammen, schon in deren frühen Texten gehe es nicht mehr um eine „kategorische Absage an die Darstellungs- und Ausdrucksfunktion von Sprache, sondern viel eher darum, im Bewusstsein um den Inszenierungs- und Konstruktcharakter jeglicher Darstellung von ‚Welt‘ dennoch wieder Geschichten zu erzählen“ (ebd., S. 328); vgl. Schoots, die feststellt, im Nouveau Nouveau Roman enthülle sich die Literatur selbst als „construction écrite“ Schoots: „Passer en douce à la douane“, S.-79. 636 Vgl. Schoots: „Passer en douce à la douane“, S. 96: „L’œuvre minimaliste ne nous laisse jamais oublier que nous sommes dans une fiction. D’une part, le récit se présente comme une construction fictive par le renvoi à d’autres représentations [hier: Kunstzitate, J.R.]. D’autre part, l’écriture elle-même est mise en représentation.“ 3.1.2.3 Reflexion von (Re-)Präsentation in Meta-Literatur und Meta-Museum Die Texteffekte des Nouveau Roman dienen nicht als Realitätsreferenzen, son‐ dern weisen v. a. auf sich selbst zurück - „l’œuvre n’est pas un témoignage sur une réalité extérieure, mais elle est à elle-même sa propre réalité“ 632 , so Robbe-Grillet. Gleiches lässt sich noch über die écriture minimaliste der nouveaux nouveaux romanciers sagen, in deren Folge auch Toussaint steht (vgl. Kap. III.3.1.1.). 633 Deren Verfahren kann man als Versuch lesen, einerseits das réel nicht auszuschließen, sich andererseits verschiedener „Möglichkeiten des Ausstellens der Fiktionalität narrativer Texte“ 634 zu bedienen, und die von Barthes konstatierte Rahmung oder Mimesis ‚zweiter Stufe‘ in der Erzählung selbst sichtbar zu machen. 635 Denken lässt sich neben einer spezifischen écriture auch an Verweise auf Kunstwerke 636 und weitere „hypersignes“; mit diesem Begriff bezeichnet Del Lungo in der Literatur evozierte Medien mit speziellem Zeichenstatus, die zu einer ‚Sinnverdichtung‘ und der Bildung von Zeichennet‐ zwerken beitragen: L’hypersigne est un noyau de la représentation artistique, qui articule autour de lui le système de signes instauré par l’œuvre ; par sa centralité, il donne un sens à d’autres signes et permet de fonder des paradigmes de connaissance, ainsi que les modèles herméneutiques de son déchiffrement. 637 130 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="131"?> 637 Del Lungo: La Fenêtre, S.-20. 638 Ebd. 639 Vgl. Nicole Brandstetter: Strategien inszenierter Inauthentizität im französischen Roman der Gegenwart. Marie Redonnet, Patrick Deville, Jean-Philippe Toussaint, München: Martin Meidenbauer 2006; vgl. für eine kritische Diskussion dieser Ansätze Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S.-328. 640 Ebd., S.-337. 641 Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S.-330. 642 Ebd., S.-341-342. 643 Vgl. Viart u. Vercier: La littérature française au présent, insbes. S.-414-416. Del Lungo nennt u. a. „les objets réflexifs (livres, tableaux, photographies ou autres productions artistiques), qui permettent une mise en abyme de l’acte créateur de la représentation ou de la réception de l’œuvre“, aber auch „objets techniques ou scientifiques, qui impliquent l’intégration d’un savoir dans le texte, mais qui visent aussi à fonder de nouveaux modèles de déchiffrement“ 638 , und die eine selbstreferenzielle Funktion besitzen. Auch Erzählinstanzen spielen für metareflexive Verfahren eine wichtige Rolle. 639 So mag die Anwesenheit eines „figürliche[n] Erzähler[s]“ 640 im Text einerseits eine ‚Erzählillusion‘ erzeugen, andererseits kann dieser offensichtlich unzuverlässig sein. Eine irritierende Distanz der Darstellung oder eine (auch fehlerhaft erscheinende) Selektion des Erzählten wird so an den Erzähler delegiert. Erzeugt wird ein „‚Transparenzeffekt‘, der den Inszenierungscharakter der Texte und insbesondere den Erzählvorgang selbst in seiner Gemachtheit deutlich hervortreten lässt“ 641 . Rajewsky spricht für die jeunes auteurs de Minuit angesichts solcher Verfahren von einem „diaphanen“ Erzählen. Dieses sei durchscheinend in Hinblick auf die Konventionen und habitualisierten Muster, die unsere Konstruktionen eines fiktionsinternen Aktes des Erzählens und einer perso‐ nalisierten Erzählinstanz […] gängigerweise bestimmen; durchscheinend mithin in Hinblick auf die Fiktionalität und Gemachtheit des jeweiligen Textes und durchschei‐ nend schließlich in Hinblick auf die Materialität und mediale Bedingtheit sprachlichen Erzählens per se. 642 Auch solche Texte erzeugen einen „soupçon“, doch dieser Zweifel betrifft die Zuverlässigkeit der Erzähler (und der erzählten Welt), weniger den Realismus ihrer Darstellung. Darum erscheint das Etikett vom roman impassible 643 passend: Es impliziert, dass die Texte sehr wohl eine Ebene des réel besitzen, diese aber nicht unbedingt freigeben: Schließlich kann nur unzugänglich sein, was überhaupt vorhanden ist. 644 Der versperrte Zugang zum innerliterarischen réel ist dann eine bewusst gewählte, literarisch sichtbar gemachte Textstrategie. 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 131 <?page no="132"?> 644 Vgl. Rhein: „Räume und Realitäten“, S.-305. 645 So Schoots’ Kapitel-Überschrift in dies.: „Passer en douce à la douane“, S.-90. 646 Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S.-345. 647 Es sei denn durch einen intradiegetischen Erzähler, etwa einen presenter auf der Bühne, vgl. ebd., S.-345-346. 648 Ebd., S. 347. Rajewsky denkt dabei an Irritationsmomente, die den Erzählvorgang durchscheinen lassen, etwa jump cuts im Film (vgl. ebd., S.-348). 649 Bal: Kulturanalyse, S.-80. 650 Vgl. Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S.-348. Lassen sich solche metareflexiven Verfahren der „représentation repré‐ sentée“ 645 auch im Museum finden? Rajewsky zufolge sind explizite autorefle‐ xive Referenzen in „perfomativen Darstellungsformen“ wie dem Theater nicht zu realisieren 646 , da sich hier der Erzählakt schwerlich auf discours-Ebene the‐ matisieren lasse. 647 Gleiches ließe sich auch über den Ausstellungsraum sagen, wo eine Meta-Reflexion explizit nur auf der Ebene einzelner Texte oder Objekte angesiedelt sein kann, nicht aber in der Ausstellung in ihrer Gesamtheit. Implizit ließen sich indes durchaus ‚autoreflexive‘ Verfahren in unterschiedlichsten Medien realisieren, und zwar in Form von „Rückverweisen des Diskurses auf den Diskurs, der sich folglich im Zuge der Vermittlung einer Geschichte selbst bloßstellt und seinen eigenen Konstrukt- und Fiktionscharakter ‚von Innen heraus‘ offenlegt.“ 648 So kann das Museum seine Mechanismen in einzelnen Ausstellungskommentaren, Einleitungstexten oder Objektbeschreibungen wie auch in ganzen Ausstellungen zeigen. Dadurch, dass ein „kritische[s] und historische[s] Bewußtsein absorbiert wird und in die Ausstellung eindringt“, ändert sich mit Bal auch die Repräsentationsfunktion der ausgestellten Objekte. Im Metamuseum können die Rolle und Verantwortung des expositorischen Akteurs sichtbar gemacht und reflektiert werden: Wenn man das ‚Ich‘ - den expositorischen Akteur […] - offenkundig macht, so bedeutet das, daß man die Wechselwirkung zwischen visueller und sprachlicher Darstellung so umgestaltet, daß man die eine mit einem Kommentar über die andere ausstattet. Durch eine solche Veränderung können die Ausstellungsstücke auf ihren eigenen Diskurs als etwas nicht Natürliches - als ein vom Subjekt vorgeführtes Zeichensystem - verweisen. 649 In diesem Sinne kann die „Erzählervermitteltheit des narrativen Diskurses“ 650 , wenn sie explizit ausgestellt wird, auf das Medium zurückweisen und es damit metareflexiv herausstellen (vgl. etwa Kap. IV.3.3.). In beiden erwähnten Kontexten, Nouveau Nouveau Roman und Metamuseum, steht also die Frage des ‚Wer spricht‘ sichtbar im Zentrum, so dass dieser Aspekt Potential zu einem transmedialen Vergleich bietet. Für literar-museale 132 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="133"?> 651 Vgl. Wunderlich: Der Philosoph im Museum, S.-14; Werner Hanak-Lettner: Die Ausstel‐ lung als Drama. Wie das Museum aus dem Theater entstand, Bielefeld: transcript 2010, S.-9-10; Tyradellis: Müde Museen, S.-22, jeweils ohne eine weitergehende Reflexion des Medienbegriffs. Auch Flügel zählt das Museum zu den Massenmedien, bezieht sich aber letzlich auf die Ausstellung, wenn sie einen Unterschied zu „Rundfunk, Fernsehen, Film und Presse“ darin sieht, dass museale Kommunikation „nicht von technischen Medien oder von bestimmten Zeichen“ ausgehe, sondern „von den musealen Objekten“. Flügel: Einführung in die Museologie, S. 101, ebenso Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S. 63, die feststellt: „Medialität drückt sich in der Institution Museum in zweierlei Hinsicht aus: in der Semiotizität der Ausstellung, d. h. ihrem symbolischen oder zeichenhaften Charakter einerseits und andererseits in ihrer Multimedialität, d. h. in der Weise, wie sie ein ganzheitliches, alle Sinne ansprechendes Erlebnis zu vermitteln weiß“. 652 Vgl. Wolf: „Das Problem der Narrativität“, S. 39, sowie Rajewsky: Intermedialität, S. 7, die Wolf zitiert. Komplexe wäre im Anschluss an diese Überlegungen schließlich zu fragen, inwieweit diese eine transmediale Repräsentationskritik betreiben und über mehrere Werke hinweg thematisieren. 3.2 Mediale Zugänge Der Aspekt der Medialität des literar-musealen Komplexes muss mit einem sys‐ tematischen Ansatz gefasst werden, um die verschiedenen Ebenen beschreiben zu können, auf denen Literatur und Museum sich inter- und transmedial aufeinander beziehen (II.3.2.2.). Diese stehen aber auch in einem Umfeld der Me‐ dienkonkurrenz (Kap. II.3.2.3.) und thematisieren mediale Aspekte - etwa durch Rückgriff auf mediale Ausstellungsdispositive wie Panorama oder Diorama (ebd.). 3.2.1 Museum und Ausstellung - weiter und enger Medienbegriff Wie schon erwähnt (vgl. Kap. II.1.4.), lassen sich Museen mit einem weiten Medienbegriff fassen. Für eine Detailanalyse intermedialer Beziehungen ist indessen gewinnbringender, die museale Ausstellung in den Blick zu nehmen 651 , für die auch ein engerer, ‚technischerer‘ Medienbegriff wie jener Werner Wolfs greift, der Medien als „distinkt angesehene[] Kommunikationsdispositiv[e]“ versteht. Dies meint „mehrkanalige“ Systeme, die „durch einen spezifischen Gebrauch […] eines semiotischen Systems (Sprache, Bild), in manchen Fällen auch durch die Kombination mehrerer Zeichensysteme […] zur Übertragung kultureller Inhalte“ geeignet sind. 652 Anders als bei Theater oder Film, mit denen die Ausstellung wegen des Zusammenspiels visueller und räumlicher Elemente v. a. aus rezeptionsästhetischer Perspektive gelegentlich verglichen wird 653 , ist 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 133 <?page no="134"?> 653 Vgl. Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, S. 11-12. Auch Mouton-Rezzouk: „Exposer le théâtre ? “; sowie Tyradellis: Müde Museen, der schreibt „die Kombination der Dinge im Raum“ ergebe „einen Mehrwert“ wie die Montage zweier Bilder im Film, und bei Ausstellung wie Film sei „die Rezeption durch den Betrachter ihr eigentlicher Gegenstand“ (ebd., S. 162); vgl. Schmitz: „Scottie Sees Beauty“; Bal: „Exhibition as Film“. 654 Davallon: L’exposition à l’œuvre, S.-12. 655 Fotografie des Verfassers. 656 Davallon: L’exposition à l’œuvre, S.-12. 657 Bernhardt plädiert daher in Bezug auf den Ausstellungsraum für den den Begriff des „Symmediums“, vgl. ders.: Literarästhetisches Lernen, S. 45-47; vgl. Hubert Locher: allerdings bei der Ausstellung (noch) unklar(er), was sie zeigt - und der Ort der durch sie vermittelten ‚Erzählung‘ scheint weniger eindeutig identifizierbar: Die Ausstellung, so Davallon, „ne possède rien qui fournisse une entrée permettant d’avoir une saisie sémiotique de l’ensemble de l’objet.“ 654 Abb. 4: Ausstellung „L’invention du surréalisme. Des Champs magnétiques à Nadja“, BnF I François-Mitterrand, Galerie 1, 19.5.-15.8.2021 655 Das Bild in Ornamentrahmen, das in der Vitrine präsentierte Buch, der auffällig gesetzte Wandtext, die suggestive Beleuchtung und Wandfarbe (und außerdem noch die Sicherheitshinweise): Nicht nur die hier zu sehende „hétérogénéité [des] composantes“ 656 bildet einen Unterschied zwischen Ausstellung und Film oder Theater (wo in der Regel klar ist, wo gerade der Fokus der Aufmerksamkeit liegt), sondern auch der Umstand, dass die Ausstellung auf Dingen mit medialem Eigenwert basiert (hier: Buch und Bild) 657 - während ein solcher ‚Eigenwert‘ im 134 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="135"?> „Die Kunst des Ausstellens. Anmerkungen zu einem unübersichtlichen Diskurs“, in: Hemken (Hg.): Kritische Szenografie, S. 41-62, hier: S. 44: „Im Gegensatz zu anderen Medien […] übermittelt eine Ausstellung in aller Regel Inhalte nicht bloß symbolisch, sondern integriert diese als Objekte in ihrer materiellen Gestalt“; vgl. Tyradellis: Müde Museen, S. 129: „Ein Objekt zu zeigen ist keine Aussage, die es an Eindeutigkeit mit einem Satz aufnehmen könnte, selbst da, wo er angreifbar und uneindeutig ist.“ Museale Kommunikation besitze einen „mehrdimensionalen Charakter“ - über „die Kommunikation mit dem Objekt“, über die als „Mitteilung“ aufzufassende Ausstellung im Ganzen, und schließlich die Kommunikation „über das Objekt“, etwa über didakti‐ sierende Vermittlungsformen oder Ausstellungskataloge. Vgl. Flügel: Einführung in die Museologie, S. 101-102. Vgl. zum Unterschied zwischen Bild und literarischem Text als Medien des Erzählens Wolf: „Das Problem der Narrativität“, S.-38. 658 Vgl. Davallon: L’exposition à l’œuvre, S.-13. 659 Rajewsky: Intermedialität, S.-65. 660 Ebd., S.-158-159. 661 Ebd., S. 91; Wie auch die explizite Systemerwähnung meint dies „das Reden über“ oder „die Reflexion des“ Museums. Rajewsky nennt als filmbezogenes Beispiel den Satz „sie sah aus wie eine Diva aus Hollywood“. Vgl. ebd., S.-159. 662 Ebd., S. 160; hier werden „medienspezifische Elemente und/ oder Strukturen des Be‐ zugssystems diskursiv simuliert“, also etwa Verfahren des ‚musealen Schreibens‘. Film nur suggeriert werden kann und im Theater in Konkurrenz zu handelnden Akteuren steht. 658 3.2.2 Intermedialität, Transmedialität und néolittérature Zur Erfassung literar-musealer Komplexe und der auf verschiedenen Ebenen stattfindenden Austauschprozesse zwischen Literatur und Museum lässt sich der Intermedialitätsansatz Rajewskys nutzen. Sie unterscheidet „Einzel- und Systemreferenzen“, hier illustriert anhand von Literatur-Film-Bezügen: Geht man von den audiovisuellen Medien als semiotischen Systemen aus und will man Bezüge herausarbeiten zwischen Einzeltexten und dem System ‚Film‘ […], so scheint sich die Kategorie der Systemreferenz anzubieten. Will man hingegen Bezüge erfassen, die ein Text zu einem bestimmten Film […] herstellt […], so erscheint es naheliegend, in Abgrenzung von systemreferenziellen Bezügen und in Analogie zur Intertextualität qua Einzeltextreferenz von intermedialen Einzelreferenzen zu sprechen. 659 Rajewsky unterscheidet zwei „Rekursarten“ der Systemreferenz, nämlich die „explizite Systemerwähnung“ (reden über das andere System) und die „Syste‐ merwähnung qua Transposition“ (Reproduktion oder Evozierung des anderen Systems). 660 Letztere unterteilt sie abermals in drei Unterformen: die „evozie‐ rende Systemerwähnung“ 661 , die „simulierende Systemerwähnung“ 662 sowie 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 135 <?page no="136"?> 663 Ebd.; hier werden „bestimmte Elemente und/ oder Strukturen des Bezugssystems repro‐ duziert“, was voraussetzt, dass „diese medienunspezifisch (z. B. genrespezifisch-inhalt‐ licher Natur) oder medial deckungsgleich, im Falle einer literaturzentrierten Interme‐ dialität also verbalsprachlicher Natur sind“. 664 Ebd., S. 160-162. Hier „konstituiert“ sich „der Text durchgehend in Relation zum Bezugssystem“ (S. 162). Am Beispiel des Films schreibt Rajewsky: „Ein Text kann zwar in Ermangelung der entsprechenden Instrumente und Mittel nicht tatsächlich in filmischen Bildern erzählen; er ist jedoch in der Lage, bestimmte Prinzipien, die einem ‚Erzählen‘ in Bildern unterliegen, zu Bedingungen seines Erzählens machen.“ (ebd., S.-125). 665 Ebd., S.-70. 666 Ebd., S.-70-71. 667 Rajewsky zeigt am Beispiel einer Klanginstallation, dass bei nichtverbalen Medien „die Markierung intermedialer Bezugnahmen schwieriger“ ist, ebd., S.-164. 668 Vgl. Kirsten von Hagen: „Literaturverfilmung“, in: Natalie Binczek u. a. (Hg.): Handbuch Medien der Literatur, Berlin: de Gruyter, 2013, S. 394-403, hier: S. 394; zit. nach Vanessa Zeissig: „‚A Room is not a Book‘: Szenografie als Brücke zwischen Literatur und Museum“, in: Matteo Anastasio u. Jan Rhein (Hg.): Transitzonen zwischen Literatur und Museum, Berlin/ Boston: de Gruyter 2021, S.-189-212, hier: S.-201. 669 Rajewsky: Intermedialität, S.-170. die „(teil-)reproduzierende Systemerwähnung“ 663 . Eine weitere Unterform der Systemreferenz ist schließlich die „Systemkontamination“ 664 . Systemreferenzen können ein anderes mediales System - etwa Film in der Literatur - nicht tatsächlich realisieren: Ein Autor bzw. Erzähler kann stets nur die Illusion eines wie auch immer gearteten ‚Filmischen‘ vermitteln oder sich einer Aktualisierung von Elementen und Strukturen des filmischen Mediums im sprachlichen System nähern, niemals aber die Regeln des Systems ‚Film‘ mit seinen Mitteln tatsächlich anwenden oder einhalten. 665 Angesichts dieser Grenze zwischen „kontaktnehmendem“ und „kontaktge‐ bendem“ Medium besitzen solche Systemreferenzen als ob-Charakter 666 : Zwar kann die Literatur sich etwa dem Medium Museum annähern, wenn sie z. B. mit sprachlichen ‚Bildern‘ angereichert ist (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.), aber nicht im vollen Umfang zum Museum werden; andererseits können sich Literatur‐ ausstellungen literaturähnlicher Verfahren bedienen, ohne dadurch selbst zur Literatur zu werden. 667 Stattdessen ließen sich Literaturausstellungen, analog zu Literaturverfilmungen, als „eigenständige medienspezifische Ausformung der literarischen Fiktion“ 668 verstehen - als deren Fortschreibungen mit anderen Mitteln, durch das Aufrufen „fremdmedial gebundener Erfahrungen“ 669 , was auch an das Konzept der néolittérature anschließt. Nach Rajewsky bedarf eine intermediale Bezugnahme meist der Markierung durch eine „explizite Systemerwähnung“, die „Signalcharakter für mögliche 136 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="137"?> 670 Ebd., S.-114-115. 671 Vgl. Orhan Pamuk: „Museen und Romane“, in: ders.: Der naive und der sentimentalisti‐ sche Romancier, aus dem Englischen von Gerhard Meier, München: Hanser 2012 [2010], S.-103-128. 672 Weiter zur Unterscheidung Irina O. Rajewsky: „Potential potentials of transmediality. The media blindness of (classical) narratology and its implications for transmedial approaches“, in: Alfonso de Toro (Hg.): Translatio. Transmédialité et transculturalité en littérature, peinture, photographie et au cinéma. Amériques Europe Maghreb, Paris: L’Harmattan 2013, S.-17-36, hier: S.-24; Meyer u.a.: „Vorwort“, S.-7. 673 Vgl. Rajewsky: Intermedialität, S. 12-13; vgl. Jonas Nesselhauf: „Grundlagen der Forschungs- und Theoriegeschichte einer ‚Europäischen Medienkomparatistik‘“, in: Hedwig Wagner (Hg.): Europäische Medienwissenschaft. Zur Programmatik eines Fachs, Bielefeld: transcript 2020, S.-39-60, hier: S.-52: „Der komparatistische Blick […] ermög‐ licht etwa die Untersuchung gemeinsamer Elemente einer Ästhetik der Bildenden, Visuellen und Darstellenden Künste oder auch die Suche nach übergreifenden und quasi ‚universellen‘ (daher: transmedialen) Strukturen, beispielsweise in der Narration un‐ terschiedlicher Medien. Solche Fragen können dann beispielsweise einen fruchtbaren Austausch der einzelnen Medien(dispositive) sichtbar machen, die sonst verborgen oder kaum nachvollziehbar bleiben würden.“ 674 Vgl. Rajewsky: „Potential potentials of transmediality“, S.-22. weitere intermediale Bezugnahmen“ besitzt und „rezeptionslenkende Kraft“ aufweist, „deren Wirkung sich im Zusammenspiel mit anderen Formen der systemreferenziellen Bezugnahme entfalten“ kann und oft eine „notwendige Bedingung für das Zustandekommen der erforderlichen Rezeptionslenkung und für die Nachweisbarkeit der intermedialen Bezugnahme“ bildet. 670 Bei einer sich über mehrere Werke und Medien erstreckenden néolittérature können solche „expliziten Systemerwähnungen“ freilich an unterschiedlichen Orten liegen. So ließen sich unter diesem Fokus z. B. nicht nur das reale, Istanbuler Museum der Unschuld Orhan Pamuks mit dem gleichnamigen Roman und weitere seiner Museumstexte betrachten 671 , sondern auch seine übrigen Romane wären unter dem Gesichtspunkt der Musealität zu lesen. Anders als Intermedialität impliziert Transmedialität nicht in jedem Fall einen „target-oriented process“ zwischen kontaktgebendem und -nehmendem Me‐ dium. 672 Sie berücksichtigt vielmehr „medienunspezifische Wanderphänomene“ (also „das Auftreten desselben Stoffes oder die Umsetzung einer bestimmten Ästhetik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in verschiedenen Medien“ 673 ) und kann auch literar-museale Komplexe umfassen. Als solche „Wanderphänomene“ nennt Rajeswky ästhetische Verfahren wie Metalepse und mise en abyme, aber auch theoretische Konzepte, Diskurse und Kategorien, die auf mehrere Medien anwendbar sind. 674 Auch intermediale Referenzen selbst ließen sich demnach als wiederum transmediale Phänomene verstehen, „since they can be actualized and observed ‚across‘ media“ 675 . Dies ist ein gewinnbringender Gedanke, der 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 137 <?page no="138"?> 675 Ebd., S.-23. 676 Vgl. Davallon: L’exposition à l’œuvre, S. 12; vgl. Stapelfeld u.a.: „Museales Erzählen“, S.-10. 677 Vgl. Bal: Kulturanalyse, S. 80; vgl. zur Narrativität von Bildern Nicole Mahne: Transme‐ diale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen: V&R 2007, S.-23. 678 Groys: Logik der Sammlung, S. 7. Ähnlich auch Assmann: Geschichte im Gedächtnis, die von Museen und Ausstellungen als „spröde[n] Aufbereitungsformen“ spricht, die weniger leicht als etwa der Film eine „Erlebnisqualität“ erzeugen könnten (ebd., S. 162). Zurecht erinnert aber etwa Eco daran, dass dies für spektakuläre Museumsneubauten (Eco nennt sie „container“) wie das Guggenheim-Museum Bilbao nicht gilt: „Je fais partie de ceux qui sont finalement allés à Bilbao pour voir l’architecture de Gehry et seulement, en deuxième ordre de préférence, les œuvres exposées.“ Eco: „Le musée du troisième millénaire“, S. 34. Der architektonisch auffällige Museumsbau kann also durchaus ‚Ereigniswert‘ besitzen und so in Konkurrenz zu seinem Inhalt treten. 679 Vgl. Ottmar Ette u. Gesine Müller (Hg.): Visualisierung, Visibilisierung und Verschrift‐ lichung. Schrift-Bilder und Bild-Schriften im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Berlin: erlaubt, Museumsdiskurse und -motive sowie spezielle ästhetische Verfahren über einen gesamten literar-musealen Komplex hinweg zu verfolgen. 3.2.3 Medienkonkurrenz - zwischen Museum und Literatur, in Museum und Literatur Wie das Foto in Kap. II.3.2.1. zeigt, ergibt sich diese immanente Medienkon‐ kurrenz in der Ausstellung durch ein Nebeneinander verschiedener Vermitt‐ lungsebenen: zwischen unterschiedlichen Exponaten, zwischen Exponaten und ihren Beschriftungen, zwischen den Exponaten und der Ausstellung in ihrer Gesamtheit, zwischen Ausstellung und Museum. 676 Dabei kommt auch die un‐ terschiedlich ausgeprägte Medialität der einzelnen Ausstellungskomponenten zum Tragen. So bieten Exponate einen „Überschussdiskurs“ 677 gegenüber Infor‐ mationstexten: Mag sich die Bedeutung eines Ausstellungsstücks womöglich erst durch den Begleitkommentar erschließen, so wird man doch zumeist erst das Objekt und dann die Beschilderung beachten. Für ausgestellte Kunst gilt dies erst recht: So kann man Museumsobjekten mit einer „kunstinterne[n] Relevanz“ wohl zurecht einen anderen „Medienwert“ als der Ausstellung in ihrer Gesamtheit zusprechen, weshalb Groys das Museum auch als „arme[n] Verwandte[n] der Medien“ bezeichnet. 678 Innerhalb der Ausstellung also stehen verschiedene Medien untereinander und mit dem Museum insgesamt in Konkurrenz. Außerhalb seiner Mauern konkurriert das Museum mit anderen Medien. Auch in dieser Hinsicht kann das 19. Jahrhundert als Modellraum fungieren, wo in einer zunehmend ausge‐ prägten Bilderkultur 679 Museum, Literatur, Fotografie, Presse und Werbung 680 138 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="139"?> tranvia 2015; Steffen Haug u. Gregor Wedekind (Hg.): Die Stadt und ihre Bildmedien. Das Paris des 19. Jahrhunderts, Paderborn: Wilhelm Fink, 2018, darin v.a.: dies.: „Paris, die Hauptstadt der Bildmedien des 19. Jahrhunderts“, S. 7-13. Vgl. Hamon: Imageries, S. 248: „[Le] XIX e siècle n’a bien évidemment pas inventé l’image, ni les mille relations du texte littéraire […] à l’image. Mais le XIX e siècle […] est effectivement le siècle de l’envahissement de l’image (industrielle ou artistique, littéraire ou journalistique, multipliable ou unique, populaire ou élitaire), exposée et diffusée sous toutes ses formes […].“ 680 Vgl. ebd., S.-149-181 (Kap. „L’image dans la ville“). 681 Vgl. Haug u. Wedekind: „Paris, die Hauptstadt der Bildmedien des 19. Jahrhunderts“, S.-8. 682 Vgl. Wolfgang Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter: Die Entdeckung der modernen Literatur, Göttingen: Wallstein 2021, S. 12. Zu den Folgen für die Literatur auch ebd., S.-12-19. 683 Hamon: Imageries, S. 20. Denken lässt sich etwa an die Abschnitte in Balzacs Illusions perdues, die den Literaturbetrieb im Zeichen der neuen (Medien-)Zeiten behandeln. Vgl. dazu Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, S.-146. 684 Victor Navelet: Vue générale de Paris, prise de l’Observatoire, en ballon (1857); vgl. Matthieussent: Expositions, S.-37-47. nebeneinanderstehen, und „Hochkunst“ und „Alltagskultur“ sich in „Wechsel‐ beziehungen“ durchdringen. 681 Besonders das Aufkommen der Fotografie und die damit einhergehende „Veränderung der Idee von Wirklichkeit“ 682 , schlug sich umgehend auch wieder in der Literatur nieder: L’image devient mobile et diverse. Et le XIX e siècle littéraire doit donc être considéré comme un champ de bataille perpétuel mettant aux prises des systèmes et sous-sys‐ tèmes de représentation à la fois complémentaires, solidaires et concurrents […]. 683 Zur großstädtischen Erfahrungswelt gehörten nun eine Vielzahl neuer Bild‐ formen und Blickwinkel, von denen hier zwei für den literar-musealen Kom‐ plex besonders relevante Aspekte herausgestellt werden sollen: Die Perspek‐ tiven von Panorama und Diorama, sowie immersive Licht-Erfahrungen und Hell-Dunkel-Kontraste prägen Museum, Stadt- und literarischen Raum. Zentralisierung und Rahmung: Panorama und Diorama Noch bevor der Eiffelturm einen Blick auf Paris aus 300 Metern Höhe bot, ermöglichte der Aufstieg mit dem Heißluftballon über die Stadt eine Illusion der visuellen Beherrschbarkeit von Welt, festgehalten etwa auf Victor Navlets Panoramagemälden 684 und fotografisch fixiert von Maurice Nadar. Nadar, der nicht nur im Ballon auf-, sondern auch in die Catacombes de Paris hinabstieg, erfüllte fotografisch jene Ambition, die Flaubert für den realistischen Roman benannt hatte: Er zeigte „le dessus et le dessous“ der Stadt. 685 Doch auch in der Horizontalen, in seinen Straßen und Blickachsen, bringt das Paris des 19.-Jahr‐ 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 139 <?page no="140"?> 685 Vgl. dazu und zum Zusammenhang mit Flauberts Ambition „[de] peindre le dessus et le dessous“ Hamon: La description littéraire, S.-153. 686 Vgl. Matthieussent: Expositions, S.-47. 687 Vgl. Salvatore Pisani: „Paris, Stadt der (gusseisernen) Dinge“, in: Haug u. Wedekind, S.-133-149. 688 Vgl. Wyss: „Ein Laboratorium der globalisierten Gesellschaft“, S. 151; vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-75-76. 689 Vgl. etwa zur Rue du Caire auf der Pariser Weltausstellung von 1889 Wyss: „Ein Laboratorium der globalisierten Gesellschaft“, S.-156-157. 690 Vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-80. 691 Wyss: „Ein Laboratorium der globalisierten Gesellschaft“, S.-161. 692 Benjamin: Passagen-Werk, Bd.-2, S.-661. 693 Ebd., S.-655. 694 Vgl. ebd., S. 660: „Der Universalismus des 19. Jahrhunderts hat im Panoptikum sein Denkmal […]: nicht nur, weil man alles sieht, man sieht es auf alle Weise.“; vgl. Bernard Comment: Le XIX e siècle des panoramas, Paris: Adam Biro 1993. 695 Vgl. Noémie Étienne: „La matérialité politique des dioramas“, in: Katharina Dohm u. a. (Hg.): Dioramas, Paris: Flammarion 2017, S.-186-193. hunderts neue „dispositifs de vision“ 686 hervor, ja wird selbst zum (Bild-)Medium und „Immersionsraum“ 687 - ganz besonders auf den expositions coloniales und universelles. 688 Die Stadt in der Stadt wurde hier zum Ausstellungsstück, die Welt zur kolonialen Errungenschaft. 689 Die exposition zeigte sich als expédition 690 , auf der die Stadtbevölkerung die visuell gebündelte Welt „mit dem Allmachts‐ gefühl eines Kolonialisten“ begehen konnte, „dem die Bauchtänzerinnen, die dienstfertigen Inder und die technischen Wunderwerke zu Füßen“ 691 lagen. Bezogen auf den Stadtraum, die Erfahrung der Straße, beschreibt u. a. Benjamin die Medialität der Passage, die sich wie eine abzuschreitende Ausstel‐ lung „von schmalen Gelenken durchbrochen […] wie ein Band hinter Glas erleuchteten Wassers entlang“ 692 gezogen habe - denken lässt sich an eine Reihung erleuchteter Vitrinen oder Aquarien ebenso wie an einen Filmstreifen. Daneben hielt auch die Unterhaltungskultur vielfältige mediale Zugänge bereit, je unterschiedliche Erfahrungen von Welten im Kleinen: Es gab Panoramen, Dioramen, Kosmoramen, Diaphanoramen, Navaloramen, Pleo‐ ramen […], Fantoscope, Fantasm-Parastasien, Expériences fantasmagoriques et fan‐ tasmaparastatiques, malerische Reisen im Zimmer, Georamen; Optische Pittoresken, Cinéoramen, Phanoramen, Stereoramen, Cycloramen, Panorama dramatique. 693 Trotz ihrer gemeinsamen Ambition der Weltverfügbarmachung bestehen Un‐ terschiede zwischen den genannten Medien. Während Panoramen einen gewis‐ sermaßen grenzenlosen Gesamtblick suggerierten 694 , boten die ab 1822 öffent‐ lich - u. a. auf den expositions universelles und coloniales 695 - gezeigten Dioramen eine visuelle Bündelung und Rahmung der Welt. 696 Sie richteten sich insbeson‐ 140 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="141"?> 696 Vgl. Irene Nierhaus: „Schwellen. Von der Dingfülle zur Materialdichte“, in: Gisela Ecker u. a. (Hg.): Dinge. Medien der Aneignung. Grenzen der Verfügung, Königstein/ Taunus: Helmer 2002, S. 17-36, hier: S. 31: „Der Blick führt weit weg, läßt mit Distanz die Welt im Panorama miniaturisiert, ästhetisch geordnet und gerahmt als visuelles Erlebnis zum Landschaftsbild werden“. 697 Vgl. Guillaume le Gall: „Die Welt von Paris aus betrachtet. Das Diorama von Louis Daguerre“, in: Gregor Wedekind u. Steffen Haug (Hg.): Die Stadt und ihre Bildmedien. Das Paris des 19. Jahrhunderts, Leiden: Wilhelm Fink, 2018, S. 115-132. Vgl. zu weiteren, sich teils parallel entwickelnden Formen des Dioramas auch Katharina Dohm u.a.: „Dioramas: Exposer l’absence“, in: dies. (Hg.): Dioramas, Paris: Flammarion 2017, S. 8-13. 698 Vgl. Stefan Tetzlaff: Heterotopie als Textverfahren. Erzählter Raum in Romantik und Realismus, Berlin/ Boston: de Gruyter 2016, S.-75. 699 Vgl. Tetzlaff: Heterotopie als Textverfahren, S.-74-75. 700 Vgl. dazu die Ausstellung Dioramas, 14.7.-10.9.2017, Palais de Tokyo, und 6.10.2017-21.1.2018, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Das Diorama war hier zu sehen als künstliche Nachbildung einer Landschaft, wie man sie aus naturhistorischen Museen kennt, bis zu raumfüllenden Installationen, die eine begehbare Welt im Kleinen reproduzieren, wie etwa Chris Burdens Werk A Tale of Two Cities (1981). Vgl. Katharina Dohm (Hg.): Dioramas, Paris: Flammarion 2017. Zu Chris Burden vgl. ebd., S.-314-315. 701 Vgl. Tetzlaff: Heterotopie als Textverfahren, S.-73-81. 702 Vgl. Honoré de Balzac: Le Père Goriot [1834], in: ders.: La Comédie humaine, Bd. III, Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Paris: Gallimard 1976, S. 1-290, hier: S. 91: „La récente invention du Diorama, qui portait l’illusion de l’optique à un plus haut degré que dans les Panoramas, avait amené dans quelques ateliers de peinture la plaisanterie de parler en rama, espèce de charge qu’un jeune peintre, habitué de la pension Vauquer, y avait inoculée.“ Vgl. zu Balzacs Interesse für das Diorama Le Gall: „Die Welt von Paris aus betrachtet“, S.-121. dere an ein Pariser Publikum, das durch das Schauspiel - wie auch durch die Weltausstellung im Ganzen - Zugriff auf die „Welt von Paris aus“ erlangte. 697 Durch seine die Welt gleichsam allegorisierende Darstellung 698 erscheint das Diorama eher wie ein außermuseales Äquivalent zur maison-musée, einem dezidierten Gegenort. Durch seine ‚Rahmung‘, die somit klar zu erkennende Grenze von Innen und Außen, stellt es - anders als das Panorama - jedoch auch seine eigenen Verfahren aus und kann so auch Irritation erzeugen. 699 Mit ihrem Totalitätsanspruch stehen Panorama und Diorama dem Museum nahe; sie machen diesem aber nicht nur den Rang streitig, sondern werden von Künstlern und Ausstellungsmachern aufgegriffen und als Präsentationsformen ins Museum zurückgeführt. 700 Auch in der Literatur schlagen sie sich nieder 701 : Als ‚explizite Systemerwähnungen‘ (vgl. Kap. II.3.2.2.), wenn z. B. in Balzacs Père Goriot sich die Kostgänger der Pension Vauquer über das modische Anhängsel „-rama“ amüsieren 702 , aber auch in ‚simulierenden Systemerwähnungen‘, wie am Ende des Romans, der den panoramatischen Blick Rastignacs auf die Stadt beschreibt. Denken ließe sich auch an die Abenteuerromane Jules Vernes, dessen 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 141 <?page no="142"?> 703 Matthieussent: Expositions, S.-46. 704 Vgl. ebd., S. 47. Hamon, Du descriptif, S. 153; ders.: Expositions, S. 75, wo Hamon die Texte Vernes mit Aquarien und Dioramen auf den Weltausstellungen zusammendenkt. 705 Schulte Nordholt: „Georges Perec“, S.-75. 706 Vgl. Perec: Epuisement, S. 35: „Le plat du jour de la Fontaine Saint-Sulpice a-t-il changé […]? Sans doute, mais je suis trop loin pour déchiffrer ce qu’il y a écrit sur l’ardoise où on l’annonce“. 707 Vgl. Lukenda u. Zeller (Hg.): Dossier „Panoramen, Mosaike, Reihen und Serien“. 708 Vgl. zum Einfluss Perecs auf Levé auch https: / / www.en-attendant-nadeau.fr/ 2019/ 09/ 2 4/ 50-ans-disparition-perec/ . 709 Édouard Levé: Autoportrait, Paris: P.O.L. 2013, S.-40. 710 Simon Daireaux u. Amélie Pacaud: Nouvelles formes du récit. Parcours dans la littérature contemporaine, Paris: Gallimard 2013, S.-159. literarisches Projekt eine narrative, allumfassende Verfügbarmachung betreibt: Ob die Welt aus der Luft (Cinq semaines en ballon, 1863), unter Wasser (Vingt mille lieues sous les Mers, 1869-1870), unterirdisch (Voyage au centre de la terre, 1864) oder auf ebener Erde (Tour du monde en quatre-vingts jours, 1873) bereist wird: „Il s’agit pour lui de tout décrire, de tout exposer, de tout maîtriser“. 703 Wie die begehbaren Panoramen erzeugt das populäre Erzählen Vernes eine immersive Wirkung. 704 Auch im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart finden sich literarische Umsetzungen panoramatischer Wahrnehmungsweisen. In Perecs Buch Tenta‐ tive d’épuisement d’un lieu parisien (1975) zeigt sich diese in der genauen Beobachtung der Place Saint-Sulpice aus der Warte (und durch die Disziplin) des Aufzeichnenden: Perecs minutiöse Aufzählung vorbeifahrender Autobusse „non seulement ponctue le temps, mais divise, répertorie l’espace, le distribuant en circuits, le transformant en un espace maîtrisable“ 705 , wobei auch die Grenzen dieser immobilen Wahrnehmungsweise sichtbar werden. 706 Das Panorama wirkt modellbildend zur Beschreibung großangelegter literarischer Gesellschaftsent‐ würfe 707 wie intimistischer Seelenlandschaften: Édouard Levé, ein literarischer ‚Erbe‘ Perecs 708 , reiht in Autoportrait auf rund 100 Seiten ichbezogene Aussage‐ sätze aneinander, die ein parataktisches, ‚flächiges‘ Selbstportrait ergeben: J’ai cessé de faire des cauchemars à l’adolescence, ou plutôt : je continue à rêver de choses terrifiantes, mais sans en être terrorisé. J’écris de moins en moins au stylo, de plus en plus à l’ordinateur. J’achetais plus de disques à vingt ans que j’en achète à quarante. Je porte des jeans Levi’s 501 depuis l’âge de quatorze ans […]. 709 Autoportrait erzeugt eine immersive Erfahrung, einen „effet de miroir“ 710 , inso‐ fern sich der Lesende zwar vor diesem Textblock befindet, durch die Ich-Per‐ spektive aber auch in den Text hineingezogen wird. Dieses Beispiel steht dafür, dass außermuseale, medial geprägte Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi in 142 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="143"?> 711 Vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-111. 712 Vgl. Hamon: Expositions, S.-64. 713 Aus diesem Grund wird das Diorama auch als Vorläufer des Kinos geführt. Vgl. le Gall: „Die Welt von Paris aus betrachtet“, S.-128-130. 714 Groys: Logik der Sammlung, S. 21; vgl. ders.: „Archiv der Zukunft. Das Museum nach seinem Tod“, in: Ulrich Borsdorf u. a. (Hg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld: transcript 2004, S.-39-52. 715 Groys: Logik der Sammlung, S.-7. 716 Vgl. Ulrike Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens. Medialität und Narration in Jean-Philippe Toussaints Roman Fuir“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 118, 2, 2008, S. 141-161, die in der „auffallende[n] Präsenz von Verweisen der Literatur auch in zeitgemäßen Realisierungen eine Rolle spielen (vgl. Kap. III.4.3.4. u. IV.4.1.2.). Hell und Dunkel Angesichts zunehmender Medienkonkurrenz gerät das Museum unter Legiti‐ mationsdruck. 711 Die Fotografie als „art de ‚l’exposition‘ et de ‚révélation‘“ 712 , das daguerresche Diorama mit seinen immersiven Licht-Schatteneffekten 713 , sowie schließlich das Kino und in der Folge weitere leuchtende oder beleuch‐ tende Mediendispositive begründen einen Paradigmenwechsel, durch den es an ‚Strahlkraft‘ einbüßt: Der museale Blick von innen nach außen wird durch den medialen Blick von außen nach innen ersetzt. Für die museal erzogene Subjektivität ist der endliche, überschaubare, helle Raum des Museums der Ort des Lichtes, wobei der unendliche, unkontrollierbare Außenraum dunkel und gefährlich zu sein scheint. Für das mediale Bewußtsein ist dagegen nur das unendliche Feld der Kommunikation hell und transparent, wogegen das Kloster, das Museum und andere solche Stätten der Subjek‐ tivitätszüchtung undurchsichtig, dunkel, geheimnisvoll und suspekt anmuten. 714 Diese Konkurrenz betrifft das Museum der Gegenwart umso mehr. Wolle es wieder „hell“ werden, so Groys, müsse es „den Verlockungen des Medienzeital‐ ters“ 715 folgen und die Dinge zum Leuchten bringen - etwa mittels beleuchteter Displays oder Bildschirme, was andererseits voraussetzt, dass in ihm auch Dun‐ kelheit herrscht. Der Aspekt des Leuchtens und Beleuchtens, des Strahlens und Aufscheinens, ob als Präsentationsform oder Metapher (‚das dunkle Museum‘), wird sowohl in den Ausstellungen als auch den literarischen Museumsbildern Houellebecqs und Toussaints immer wieder deutlich (u. a. Kap. III.5.1. u. IV.4.3.). Das Interesse der hier behandelten Texte für und ihre Durchdringung von Medienobjekten und -konkurrenzverhältnissen ist nicht nur repräsentativ für die französische Gegenwartsliteratur im Allgemeinen 716 , sondern gerade in 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 143 <?page no="144"?> […] auf technische Medien“ (ebd., S. 142) bei Toussaint eine wichtige Prägung der französischen Literatur des „extrême contemporain“ allgemein erkennt. 717 Vgl. Jochen Mecke: „Medien der Literatur“, in: ders. (Hg.): Medien der Literatur. Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18.-Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript 2011, S.-9-26, hier: S.-16. 718 Siegfried Lenz: Heimatmuseum, Hamburg: Hoffmann und Campe 1978, zit. nach: Christoph Stölzl (Hg.): Menschen im Museum. Eine Sammlung von Geschichten und Bildern, Berlin: Deutsches Historisches Museum 1997, S.-85-89, hier: S.-89. 719 Vgl. zum Verhältnis beider Aspekte Henrik Skov Nielsen: „Fiktionalität und Erzählen. Funktionen von Fiktionalität“, in: Lut Missinne u. a. (Hg.): Grundthemen der Literatur‐ wissenschaft: Fiktionalität, Berlin/ Boston: de Gruyter 2020, S.-178-202. 720 So spricht etwa Goldschweer von einer „Ausdrucks-“ und „Inhaltsebene“ sowie einer „Syntax“ des Museums; vgl. dies.: Trügerische Zuflucht, S. 46. Vgl. Charlotte Mar‐ tinz-Turek u. Monika Sommer-Sieghart (Hg.): Storyline. Narrationen im Museum, Wien: Turia+Kant 2009; Sibylle Lichtensteiger u. a. (Hg.): Dramaturgie in der Ausstellung, Bielefeld: transcript 2014; Quednau: Museen des Imaginären, S. 18-22, die auch griffig den Forschungsstand zum Verhältnis von Ausstellung und Erzählung zusammenfasst. 721 Heike Buschmann: „Geschichten im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse“, in: Joa‐ chim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010, S. 149-169, hier: S. 168. Sie bezieht sich auf historische Museen, nicht auf Kunstmuseen, vgl. ebd., S. 150. Vgl. Nicola Lepp: „Diesseits der Narration. Ausstellen im Zwischenraum“, in: Sibylle Lichtensteiger u. a. (Hg.): Dramaturgie in der Ausstellung, Bielefeld: transcript 2014, S. 110-117, hier: S. 110: „Nun ist aber eine Ausstellung eigentlich gar nicht vorrangig eine Worterzeugungsmaschine, deren Zusammenhang mit der Frage nach literarischer Musealität von Relevanz - denn diese Durchdringung kann auch ihren metareflexiven Charakter verstärken. Nimmt man zudem an, dass eine explizit ausgespielte Medienkonkurrenz sowohl „Ausgangsals auch Zielmedium“ verändert 717 , dann lässt ein Transfer musealer Formen in die Literatur auch literarische Eigenheiten hervortreten - und umgekehrt die Literaturausstellung auch museale Eigenschaften. 3.3 Narrativität und Fiktionalität Der Professor gab ein Beispiel: wenn Waffen und bäuerliches Werkzeug entsprechend miteinander kombiniert werden, lassen sie Wehrhaftigkeit und Bodenständigkeit wie von selbst als schicksalsverbindende Bedingungen erscheinen. 718 Dass Ausstellungen ‚erzählen‘ und ‚fiktionalisieren‘ 719 , wird explizit oder im‐ plizit von zahlreichen Museumstheorien vorausgesetzt. 720 Jedoch ist der Ort dieses Erzählens im musealen Raum schwer zu situieren: Da eine „heterogene Kombination von Erzähl- und Wahrnehmungsprozessen“ eine „Herausforde‐ rung an die Rezeption und Analyse dar[stellt] und […] die Gefahr einer Zerfaserung durch die Konzentration auf einzelne Elemente“ 721 droht, lassen 144 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="145"?> Resultate gelesen werden können. Vielmehr ist dieses Medium durch ein Gemenge charakterisiert, bestehend aus in Form von Text anwesendem Wissen, Themen und Intentionen und dann aus konkreten und sichtbaren Räumen, Objekten, anderen Exponaten, Labels mit Beschriftungen, die je in eine bestimmte dreidimensionale Ordnung gebracht wurden, um von Besuchern durch ihre Bewegung im Raum erfahren zu werden.“ 722 Buschmann: „Geschichten im Raum“, S. 153. Sie bezieht sich auf historische Museen, nicht auf Kunstmuseen, vgl. ebd., S.-150. 723 Vgl. ebd., S.-154-155. 724 Vgl. ebd., S.-160-162. 725 Vgl. Quednau: Museen des Imaginären, S.-27. 726 Vgl. Tyradellis: Müde Museen, S.-161. 727 Vgl. Buschmann: „Geschichten im Raum“, S.-156-157. 728 Vgl. ebd., S.-163. 729 Vgl. Susanne Lange-Greve: Die kulturelle Bedeutung von Literaturausstellungen. Kon‐ zepte, Analysen und Wirkungen literaturmusealer Präsentation, Hildesheim: Olms 1995, S.-39. sich ‚Erzählungen‘ im Museum am schlüssigsten wohl aus der Warte des Besuchers beschreiben. So vergleicht Buschmann die Kommentare zu einzelnen Museumsobjekten mit einer heterodiegetischen Erzählinstanz, während am anderen Ende der Skala möglicher Erzählertypen ein Museum denkbar wäre, das „einer Person (z. B. einem Autor) gewidmet [ist] und [dessen] Narrativ auch von dieser Person selbst ‚erzählt‘ wird.“ 722 Dem Museumsgänger kann dann aus einer Reihung von ‚Ereignissen‘ (hier: Objekten) 723 ein hergestellter Zusammenhang „wie von selbst […] erscheinen“ (vgl. o. g. Lenz-Zitat), er kann aber auch auf „Leerstellen“ und „Unbestimmtheitsstellen“ 724 stoßen, die er durch eigene Leistung zu füllen hat 725 - etwa, wenn ein Museumsraum un‐ erwartet leer bleibt: Ein solcher vermag wohl einen ähnlichen „Horror Vacui“ 726 auszulösen wie ein unerwartetes blanc in einem Roman. Auch eine Analogie zur narratologischen Kategorie ordre stellt Buschmann her: ‚Analepsen‘ und ‚Prolepsen‘ lassen sich durch die Reihung von ‚Ereignissen‘ erzählen 727 , aber auch durch das Einschlagen von Abkürzungen im musealen Raum erleben. 728 Besonders ein Fokus auf die rezeptionsästhetische Ebene kann also gemeinsame (narratologische) Kategorien für reale Ausstellungen und literarische Musealität bereitstellen. Gleichwohl kann ein solcher Fokus nicht die Gesamtheit des Erzählens im Museum abdecken. 729 Ähnlich der auf mehreren Ebenen des Museums angesie‐ delten Medialität finden in einem exhibition setting im Sinne eines Zusammen‐ spiels von Raum, Werk und Publikum (vgl. Kap. II.2.2.) unterschiedliche, sich überlagernde und womöglich auch gegenlaufende (Mikro- und Makro-)Erzäh‐ lungen parallel statt: Jene der Gesamtausstellung und der einzelnen Objekte 730 , 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 145 <?page no="146"?> 730 Vgl. Charlotte Martinz-Turek u. Monika Sommer-Sieghart: „Vorwort“, in: dies. (Hg.): Storyline. Narrationen im Museum, Wien: Turia+Kant 2009, S.-7-14, hier: S.-7: „Manche Objekte evozieren Geschichten, manchmal fügen sich Objekte geschmeidig in Erzäh‐ lungen, dann wieder sind Objekte Täuschungsmanöver oder subversive Elemente, die sich von RezipientInnen anders lesen lassen als von Ausstellungsverantwortlichen beabsichtigt.“ 731 Ein Sonderfall ist ausgestellte Literatur, denn diese verfügt auch über sprachliche Qualität. Vgl. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 151-152: „Entscheidend ist, dass das Bild der Sprache gegenüber sowohl unterdeterminiert als auch überdeterminiert ist, was bedeutet, dass Bilder die sprachliche Ordnung keineswegs nur subsidiär illustrieren, sondern auch in ihren Grundstrukturen stören und potentiell erweitern.“ 732 Vgl. hierzu Marie-Laure Ryan u.a.: Narrating Space / Spatializing Narrative. Where Narrative Theory And Geography Meet, Columbus: The Ohio State University 2016, S.-181-206. 733 Vgl. Uwe R. Brückner: „Raum als Gesamtkunstwerk - Ästhetik des Erlebens“, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S.-283-292, hier: S.-288. 734 Vgl. Stapelfeld u.a.: „Museales Erzählen“, S. 10: „Ob eine narrativ verfahrende Didaxe sich darauf beschränkt, kleine Objektgeschichten auf Exponatschildchen zu drucken oder die Abteilungen einer Ausstellung als ‚Kapitel‘ zu bezeichnen, ob einzelne Museumsräume als Bühne für szenografische Darstellungen fungieren, oder ob ein Museumsrundgang als umfassende Gesamterzählung konzipiert ist - stets lassen sich Konkurrenzverhältnisse beobachten: kleinteilige Objektbiografien vs. große museale récits; ‚multimediale Installationen‘ vs. ‚die unmittelbare Auseinandersetzung mit Dingen‘“. 735 Vgl. Mahne: Transmediale Erzähltheorie, S. 17; vgl. Quedneau: Museen des Imaginären, S.-19-22. die als Semiophoren (vgl. Kap. II.4.1.2.1) einerseits „metonymisch“ aufgeladen sind und andererseits „eine ganz andere, nichtsprachliche Zeichenqualität“ 731 besitzen können. Durch deren grundsätzliche, semantische Eigenständigkeit kann eine Beschreibung der Ausstellung als ‚Erzählung‘ nur die Ebene der Ausstellungsführung 732 oder die Wahl und Anordnung der ausgestellten Ob‐ jekte betreffen, nicht jedoch die „per se narrativ[en]“ Ausstellungsstücke. 733 Zu unterscheiden wäre auch zwischen den in einer Ausstellung intendierten Erzählungen und den durch den individuellen Blick und Weg des Besuchers hervorgebrachten 734 , was insbesondere die Instanz eines „werkinternen Erzäh‐ lers“ 735 problematisch wirken lässt - wie anhand der Installation À rebours gezeigt (vgl. Kap. II.3.1.1.1.). Es scheint darum gewinnbringender, nicht nur nach der ‚Erzählung‘, sondern nach dem ‚Erzählen‘ in der Ausstellung zu fragen, und dieses auf eine Weise zu definieren, die auf den Ausstellungsraum so gut wie auf ausstellende Texte anzuwenden und dem Einzelmedium gewissermaßen ‚vorgelagert‘ ist. Erzählen soll verstanden werden als „Aktivität“, 146 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="147"?> 736 Matthias Brütsch: „Ist Erzählen graduierbar? Zur Problematik transmedialer Narrativi‐ tätsvergleiche“, in: Diegesis, 2, 1, 2013, S.-54-74, hier: S.-69. 737 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S.-150. 738 Ebd. 739 Ebd., S.-151. 740 Vgl. ebd., S. 163, auch Ryan u.a.: Narrating Space / Spatializing Narrative, S. 189-196. Vgl. dazu auch den ‚offenen Zuschnitt‘ der Ausstellung Toussaints (Kap. III.1.) und die ‚autoritäre‘ Besucherführung Houellebecqs (Kap. IV.2.3.). 741 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 163; vgl. Buschmann: „Geschichten im Raum“, S.-149. 742 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S.-163. 743 Vgl. ebd., S.-151. 744 Ebd. die zwingend mindestens folgende […] Prozesse umfasst: Auswahl von Geschehens‐ momenten und -eigenschaften aus dem amorphen Geschehen, Komposition (Permu‐ tation und gegebenenfalls Linearisierung) dieser Selektion sowie Präsentation dieser Komposition (respektive künstlichen Anordnung) in einem bestimmten Medium. Selbst eine Minimaldefinition wie „Repräsentation von zwei Ereignissen“ setzt all diese Transformationsprozesse voraus, denn ohne Selektion gibt es keine Ereignisse, ohne Komposition keine Abfolge, in der die Ereignisse präsentiert werden können, und ohne Präsentation in medialer Form keine vom Rezipienten wahrnehmbare Erzählung. 736 Mit den Begriffen ‚Selektion‘, ‚Komposition‘ und ‚Präsentation‘ scheint die Definition unmittelbar auf museale Zusammenhänge übertragbar. Ähnlich stellt auch Assmann fest, als „basale Form der Generierung von Zusammenhang und Bedeutung“ 737 , bedeute „Erzählung“ das „Erklären von Zusammenhängen“ 738 , etwa durch Anordnung von Dingen in Museen, wobei das Erzählen hier „nicht unmittelbar in den Vordergrund [trete], sondern […] das unverzichtbare kon‐ zeptionelle Gerüst für weitergehende Präsentationsmodi“ 739 bilde. Entscheidend ist dabei auch die „Autorität“ der Besucherführung: Je weniger diese eigene Wege erlaubt, desto eher kann sie Linearität erzeugen und „Bilderfolgen“ vor‐ geben. 740 Je bestimmter sie den Blick auf die Dinge vorgibt, desto eher kann die Ausstellung, wie auch das Kino, „ein affektives Band zum Gegenstand [knüpfen] und […] intime Nähe zu einer fernen Vergangenheit“ suggerieren. 741 ‚Suggestive‘ Ausstellungsformen besitzen ein Potential zur Immersion des Besuchers bzw. Zuschauers, ähnlich dem kommerziellen Spielfilm: „das Als-ob des ‚so könnte es gewesen sein‘ weicht dann dem Trugschluss ‚genau so war es‘.“ 742 Erzählen in Ausstellungen, wie Assmann es fasst, vermittelt also zwischen Fakt und Fiktion 743 , denn „die Frage, was eine Tatsache ausmacht“, kommt „nicht ohne geistig-kulturelle Konstruktionen“ aus. 744 Dies gilt nicht nur in Kunstmuseen 745 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 147 <?page no="148"?> 745 Vgl. ebd., S. 150. So bezieht Assmann sich auf Geschichtsdarstellungen, nicht auf Kunstmuseen. 746 Vgl. Quednau: Museen des Imaginären, S.-22. 747 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S.-150. 748 Vgl. Gfrereis, die darauf hinweist, dass eine dominante Inszenierung den Verweischa‐ rakter des einzelnen Objekts abschwächt: „Je symbolischer, je illustrativer ein Gegen‐ stand in einer Ausstellung verwendet wird, desto schneller wird er von dem überlagert, auf was er zeigen soll […].“, Gfrereis: „Nichts als schmutzige Finger“, S. 87; vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-46. 749 Vgl. Quednau: Museen des Imaginären, S.-21. Als Beispiel für eine ‚Objekt‘-Ausstellung wird sich Toussaints Livre/ Louvre erweisen, während Houellebecqs Rester Vivant eine ‚Erzählung‘ evoziert. 750 Vgl. Marie-Hélène Girard: „Préface“, in: Gautier: Le Musée du Louvre, S. 11-23, die auch herausarbeitet, dass Gautier durchaus subjektiv und selektiv vorgeht. 751 Gautier: Le Musée du Louvre, S.-154. 752 Vgl. zur Spannung von narration und description Hamon: Introduction à l’analyse du descriptif, S.-42-43. 753 Rajewsky: „Potential potentials of transmediality“, S. 29, vgl. auch ebd., S. 24; vgl. (die von Rajewsky zitierte) Marie-Laure Ryan: „Introduction“, in: dies. (Hg.): Narrative across oder „fiktionalen Ausstellungen“ 746 , sondern auch für das „wissenschaftliche Erklären von Zusammenhängen“ 747 im Museum, wie die oben zitierte Passage aus Heimatmuseum illustriert. Gerade an einem vermeintlich Wissen vermittelnden Ort wie dem Museum mag eine sichtbar gemachte Erzählung als besonders inauthentisch, ‚literarisch‘ oder ‚fiktional‘ erscheinen, so dass thesenartig resümiert werden darf: Je stärker eine Ausstellung ihre Objekt- und Rauminszenierung ausspielt, umso eher tritt ihr ‚Erzählen‘ hervor. 748 Daraus ließe sich umgekehrt ableiten, dass die Ausstel‐ lung als Erzählung umso weniger in den Vordergrund tritt, je ‚autonomer‘ (also unabhängiger von übergreifenden Inszenierungen) die ausgestellten Objekte erscheinen. 749 Ein von der Literatur losgelöstes Erzählen, wie die Ausstellung es leistet, kann wiederum auch in der Literatur umgesetzt werden. Denken ließe sich etwa an Gautiers Le Musée du Louvre, wo die Kapitel den einzelnen Museumssälen entsprechen 750 und die Erzählung sich dem realen Museumsgang annähert („Arrêtons-nous devant le Jupiter et Antiope de Titien“ 751 ), so dass narration und description 752 im Text mit dem realem Gang und den Objekten als Ereignissen im Raum in Verbindung gebracht werden und die Diskrepanz zwischen der Erzählinstanz des Texts und ‚erzählerloser Erzählung‘ im Raum deutlich wird. Dass gerade transmediale Komplexe die je spezifischen Eigenheiten des Erzählens in unterschiedlichen Medien freilegen können („it is in applying a media-comparative perspective that ‚blind spots‘ of traditional narratology become apparent“ 753 ), werden nicht zuletzt auch die Beispiele Toussaint und 148 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="149"?> Media. The Languages of Storytelling, Lincoln, Nebraska u.a.: University of Nebraska Press 2004, S.-1-40, hier: S.-34; vgl. Bal: Narratology, S.-225-229. 754 Mitterand: L’illusion réaliste, S.-17. 755 Vgl. ebd., S. 17: „C’est ce qu’on ne peut pas ne pas rencontrer dans Paris à cet endroit.“ Eine ganz ähnliche Szene findet sich auch in Huysmans’ À rebours: „Possédé par cette idée il avait vagué, au hasard des rues, était arrivé au Palais-Royal, et devant la vitrine de Chevet, s’était frappé le front“ (S.-570). 756 Balzac: La Peau de Chagrin, S.-69; vgl. Mitterand: L’illusion réaliste, S.-12 757 Balzac: La Peau de Chagrin, S.-71; vgl. Mitterand: L’illusion réaliste, S.-18. 758 Karlheinz Stierle: Pariser Prismen. Zeichen und Bilder der Stadt, München: Hanser 2016, S.-104. 759 Vgl. etwa die Frage zu Beginn von Balzacs Père Goriot, ob das Werk auch außerhalb der Stadt verstanden werde („peut-être aura-t-on versé quelques larmes intra muros et Houellebecq und ihr Erzählen in realen (vgl. Kap. III.1., Kap. IV.1.) und von literarischen (vgl. Kap. III.5.1., Kap. III.5.2., Kap. IV.4.1.) Ausstellungen zeigen. 3.4 Das Museum als Zeichen der Stadt, die Stadt als lesbares Museum - Stadttopographien zwischen visible und lisible Auch eine auf Stadt- und literarischer Raumsemiotik fußende, beide Sphären abdeckende Lektüre macht eine Transitzone sichtbar, die sowohl einen analyti‐ schen Ansatz als auch einen thematischen Zugang zu literarischer Musealität vor dem Hintergrund realer (Stadt-) Topographien bietet. Das ‚lesbare‘ Paris des 19. Jahrhunderts eignet sich als Modellraum, der Übertragungen auf die in der Folge analysierten Beispiele der Gegenwartsliteratur erlaubt. Wenn der deprimierte, etwas verlorene Raphaël zu Beginn von Balzacs La Peau de Chagrin auf einen Kramladen stößt, ist dieser Handlungsort auch durch seine topographische Einbettung legitimiert: Auf seinem „parcours bien parisien“ 754 am Palais-Royal, dem Jardin des Tuileries und dem Seineufer vorbei‐ gekommen, liegt fast zwangsläufig ein Antiquitätengeschäft auf seinem Weg. 755 Besagter Laden ist ein museumsnaher Ort, der Aspekte von Lesbarkeit und Unlesbarkeit aufruft. Erscheint er zunächst als „tableau confus“ 756 , so erschließt sich „[c]et océan de meubles, d’inventions, de modes, d’œuvres, de ruines“ zu einem „poème sans fin“ 757 , bevor das titelgebende Chagrinleder sich als rätselhaftes, zunächst unlesbares Objekt erweist. Lesbare Stadt, Laden und Roman als lesbare vitrines: Die Romanpassage steht prototypisch für Paris und Paris-Literatur des 19.-Jahrhunderts, wo Stadt, Museum und Literatur als „bewegte Semiosphären“ 758 ineinandergreifen und aufeinander Bezug nehmen - was freilich vor allem der Pariser Leserschaft ersichtlich wird. 759 Die ‚lesbare‘ Pariser Topographie und die literarische Stadt‐ 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 149 <?page no="150"?> extra. Sera-t-elle comprise au-delà de Paris ? le doute est permis.“, ders.: Le Père Goriot, S.-49). 760 Hamon: Expositions, S.-26. 761 Ebd., S. 14; vgl. Roland Barthes: „Sémiologie et urbanisme“ [1967], in: ders.: L’aventure sémiologique, Paris: Éditions du Seuil 1985, S. 261-271; Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe von Jürgen Trabant, München: Fink 1985. [1968], S. 301-356 (Kap. „Das architektonische Zeichen“); Henri-Pierre Jeudy: Critique de l’esthétique urbaine, Paris: Éditions Sens&Tonka 2003, S. 88-95 (Kapitel „Quand le musée fait de la ville une œuvre“). 762 Stierle: Mythos von Paris, S.-14-15. 763 Ebd., S.-14. 764 Hamon: Expositions, S.-48. 765 Ebd., S.-10. 766 Vgl. Stierle: Mythos von Paris. beschreibung gehen eine Deckung ein. Die Erwähnung bekannter Orte erzeugt schon in Stadterzählungen des 19. Jahrhunderts einen „‚effet de réel‘ en four‐ nissant à la fiction cadre, ancrage et arrière-plan vraisemblable“ 760 . Sowohl die erzählte, als auch die reale Stadt und ihre Gebäude, die Straßen mit ihren Schil‐ dern, Vitrinen und Plakaten sind nicht nur „visible“, sondern auch „lisible“ 761 , und dies von außen (mit ihren Fassaden), von innen (Kirchen, Museen, Salons) und in ihren Übergangszonen (Passagen, ‚bewohnte‘ Straßen). Das haben sie mit der musealen Ausstellung des 19. Jahrhunderts gemeinsam, die wiederum inmitten der Stadt Welt repräsentiert: Die Stadt, die sich selbst als ‚abrégé de l’univers‘ begriff, faßt als erste auch das Projekt, die Welt in lesbarem Maßstab in sich zusammenzufassen. […] Die neuen Museen mit ihren neuen Organisations- und Ausstellungsformen, die Gemäldegalerie des Louvre […] werden zu Orten der Lesbarkeit der Welt, die in den Zusammenhang der großen Stadt eingebunden sind […]. Die Anordnung ihrer Exponate folgt jeweils einem impliziten Modell der Lesbarkeit. Jedes Museum ist ein aufgeschlagenes Buch oder vielmehr ein Ort zwischen Buch und Welt. Es stellt das Ganze der Welt in der Stadt symbolisch dar. 762 Wie für Stierle ist auch für Hamon die Stadt als „Welt und Buch zugleich“ 763 geeignet, „à devenir une sorte de livre“ 764 , woraus sich die in die Literatur rücküberführte „métaphore ville-livre“ 765 ergibt. Im Blick ‚von oben‘ kann das syntagme muséal (vgl. Kap. II.2.1.) einer Stadttopographie sicht- und beschreibbar werden, das Museum als ‚Zeichen der Stadt‘ 766 hervortreten, und auch ‚in der Straße‘ wird die Stadt lesbar (Kap. 150 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="151"?> 767 Diese Perspektiven wären auch auf die Raumkategorie zur literarischen Musealität sinnvoll anzulegen (vgl. Kap. II.4.2.1.), sie werden hier aber primär als analytische Transitzonen aufgefasst - die wiederum auch literarisch produktiv werden können. 768 Vgl. Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S. 64: „Der museale Raum muss dabei nicht auf einen Saal oder selbst ein Gebäude beschränkt sein, sondern kann größere Areale, ja sogar ganze [Stadt-]Landschaften umfassen“. 769 Vgl. Rebérioux: „Ort der Erinnerung oder Ort der Geschichte? “, S. 169: „Dieser Bahnhof versetzt die Industrie ins Herz der Stadt, aus dem Haussmann sie gerade hatte entfernen wollen, und zwar just dem Louvre, diesem Symbol des künstlerischen Erbes gegenüber: Kunst und Industrie - eine Jahrhundertdebatte“. 770 Hamon: „Ecrire le Louvre“, S. 523: „Ce sont les lieux à la mode qui servent de référence collective, ou qui incarnent des valeurs ou des contrevaleurs à un moment donné, qui vont fonctionner comme des symboles d’une époque, comme des modèles, des repoussoirs, des systèmes descriptifs obligatoires, et donc comme des points d’ancrage ou de convergences des récits.“ Vgl. auch ebd., S. 525-526: Der Louvre „occupe, par exemple dans Les Rougon-Macquart de Zola, le point focal de toute énergie, à la fois celui du savoir, de l’œil, de l’art et de la culture (voir L’Œuvre de Zola), partageant ce lieu avec le lieu privilégié matériel de l’avoir (le grand magasin du Louvre ‚tient le centre […]‘), lieu de la matérialité et du ventre (les Halles du Ventre de Paris, proches du Louvre), partageant cette localisation avec le lieu stratégique et politique du pouvoir, la tête (les Tuileries de Napoléon III, voir Son Excellence Eugène Rougon). Œil, ventre et tête, nous avons là les occupants d’une sorte de ‚scène originelle‘ […], un de ces lieux polarisateurs, organisateurs, focalisateurs et distributeurs dont semble avoir besoin tout écrivain pour toute maîtrise du réel, pour toute mise en roman du réel“. 771 Vgl. Amselle: Le musée exposé, S.-15. II.3.4.1.). Schließlich wird unter Bezug auf Hamon Zeichenhaftigkeit von Stadt und Stadtarchitektur mit der Literatur zusammengedacht (Kap. II.3.4.2.). 767 3.4.1 Zur Lesbarkeit von Stadt und Straße: Das Museum als objet herméneutique Als architektonische, sicht- und lesbare Zeichen haben Museeen ihren Platz in einer städtischen - realen oder erzählten - Topographie 768 und sind mit je eigenen Bedeutungen belegt: So bilden etwa das Musée d’Orsay, das als ehemaliger Bahnhof für einen bewegten städtischen Wandel steht 769 , und der auf der anderen Seine-Seite liegende Louvre als einer „lieux régnants“ 770 der Stadt eine Klammer aus ‚Moderne‘ und ‚Ewigkeit‘; als gegenwärtiges Beispiel ließe sich Frank Gehrys Gebäude für die Fondation Louis Vuitton nennen, das als Außenposten der Pariser Hochkultur gemeinsam mit dem ihn umgebenden Bois de Boulogne in der Opposition ‚Kultur/ Natur‘ steht. 771 Die Beispiele zeigen, dass sich museale Repräsentationsprobleme nicht nur im Museum und anhand seiner Objekte herausarbeiten lassen, sondern ebenso auf der Ebene der Stadt- und Raumdimension (vgl. etwa. Kap. III.4.3.2. u. IV.3.3.1.). So ließe sich etwa 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 151 <?page no="152"?> 772 Darum ist in der Analyse literarischer Musealität auch der Blick auf solche ‚Konkurrenz‐ orte‘ nötig (vgl. zu Toussaint z.-B. Kap. III.4.3.3., bei Houellebecq z.-B. Kap. IV.3.3.2.2.). 773 Vgl. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 323: „der semantische Wert der Stadt ergibt sich aber nicht erst, wenn man sie als bedeutungserzeugende Struktur ansieht, sondern genauso, wenn man sie erlebt und mit konkreten Signifikationen füllt.“ 774 Vgl. Hamon: Expositions, S. 29 („dans la mesure où un dedans (toujours plus ou moins caché) s’y distingue nécessairement d’un dehors (plus apparent, plus exposé, plus visible)“). 775 Vgl. Déotte: Le musée, S. 230. Vgl. auch Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S. 67-70 (= Kapitel „Die architektonische Dimension: Repräsentation und Pragmatik“); vgl. auch allgemein: Michaela Giebelhausen (Hg.): The Architecture of the Museum: Symbolic Structures, Urban Contexts, Manchester: MUP 2003. 776 Vgl. Gfrereis: „Archiv“, S.-19. 777 Benjamin: Passagen-Werk, Bd. 1, S. 512: Auch das bürgerliche Museum, so Benjamin, habe immer das Außermuseale gespiegelt, das Bürgertum umgekehrt sein Dasein ausgestellt. 778 Ebd., S.-513: „Häuser oder Gänge, welche keine Außenseite haben - wie der Traum“. 779 Ebd.; vgl. Déotte: Le musée, S. 294: „Les musées, comme les passages, sont des archi‐ tectures sans façades, sans extérieur. […] Les musées comme les passages sont des intérieurs : l’origine des deux, ce sont les Galeries [sic] royales […]. Ces galeries […] furent croisées avec l’architecture de la halle et de l’église baroque, tout en largeur. Résultat final-: les lieux d’exposition du XIXème siècle.“ 780 Vgl. Vittoria Borsò: „Grenzen, Schwellen und andere Orte: Topologie der Pariser Passagen“, in: Bernd Witte (Hg.): Topographien der Erinnerung. Zu Walter Benjamins Passagen, Würzburg: Königshausen&Neumann 2008, S. 175-187, hier: S. 183, wo Schwel‐ lenerfahrungen verstanden werden als „Wahrnehmung von Übergängen zwischen psychischen und physischen Räumen - Innen und Außen, Körper und Raum“. die Konkurrenz zwischen Museum und anderen, in Teilen museumsnahen Orten (Kirchen, Bibliotheken, Friedhöfe, Bahnhöfe…) in erzählten, literarischen Topographien beschreiben. 772 Auch im Gang durch die Straßen erscheint die Stadt als lesbar. 773 Dabei können Gebäude als „objet[s] herméneutique[s]“ mit einem Innen und einem Außen verstanden werden. 774 In dieser Hinsicht bilden Museen einen Sonder‐ fall 775 , denn ihr Inneres erzeugt ein neues Außen, die lesbare Ausstellung ver‐ birgt ein unlesbares Dahinter-Liegendes. 776 Diese Eigenschaft teilen sie mit einer Reihe weiterer architektonischer Formen im Paris des 19. Jahrhunderts, wo, so Benjamin, „[d]ie Straße […] Zimmer“ wird „und das Zimmer […] Straße“ 777 - man denke an die Passagen, jene „Traumhäuser“ 778 , deren Innenräume die Au‐ ßenwelt vergessen lassen, wie die „ins Gewaltige gesteigerte[n] Interieur[s]“ 779 der Museen. Auch in den Passagen kann Sinn suggeriert, gesucht und gefunden werden oder unerwartet aufscheinen; sie ermöglichen somit Schwellenerfah‐ rungen 780 und Emergenz-Momente, die musealer Erkenntnis nahe sind (vgl. Kap. II.2.4.). 781 In einer Umkehrung von Innen und Außen ist andererseits auch 152 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="153"?> 781 Vgl. Karl-Josef Pazzini: „Die Toten bilden. Über die Aufgabe des Museums“, in: Gisela Ecker u. a. (Hg.): Sammeln - Ausstellen - Wegwerfen, Königstein/ Taunus: Helmer 2001, S.-49-58. 782 Vgl. z.-B. Sarraute: L’ère du soupçon, S.-64-65. 783 Vgl. Jan Rhein: Flaneure in der Gegenwartsliteratur. Réda, Wackwitz, Pamuk, Nooteboom, Marburg: Tectum 2010, S.-19-21. 784 Er selbst verweist selbst auf die Möglichkeiten der Übertragung seines Modells auf die Gegenwart, das Auto als „porte qui emporte“ und den Bildschirm eines Mobiltelefons als „Fenster zur Welt“; vgl. Hamon: Expositions, S.-42. 785 Ebd., S.-50. 786 Ebd., S.-18. das bürgerliche Interieur wiederum ein Repräsentationsraum: immeuble und meuble, Vitrine, Spiegel und „bibelot“ bilden lesbare Zeichen. 782 An solchen halböffentlichen Orten des Übergangs sind die Besucher zugleich heimisch und fremd, Beobachter und Beobachtete, Objekte und Subjekte, die lesen und gelesen werden, wobei sich museale und außermuseale Formen der Lesbarkeit dadurch unterscheiden, dass sie unterschiedliche Subjektdispositionen voraussetzen: Anders als im Museum ist in der Stadt ist ein spezielles Vermögen gefragt, um die Zeichenhaftigkeit (abseits von Straßenschildern) als solche zu erkennen. 783 3.4.2 Architektur in der Literatur: Konkurrenz und Komplizenschaft In Expositions und Imageries denkt Hamon die Pariser Ausstellungsarchitektur des 19. Jahrhunderts und deren literarischen Niederschlag zusammen. Er betont, keine vollumfängliche, raumorientierte poétique générale bieten zu wollen, demonstriert aber eine Leseweise im Zeichen der exposition, die auch auf die Gegenwart(-sliteratur) übertragbar ist. 784 Als literarisches wie räumliches Zeichen impliziert Architektur eine Prä‐ senz-Absenz-Spannung, die sie mit der Literatur teilt: L’architecture semblerait donc être plutôt du côté de l’absence que de la présence, du côté de l’écriture. Comme l’écriture, qui est triplement désembrayée du réel (comme signe, comme signe écrit représentant des signes oraux, comme activité instaurant une communication déséquilibrée et différée), comme l’écriture qui ‚demeure‘ […] par rapport à la parole, la demeure bâtie semble être une simple ponctuation du réel, désembrayée de celui-ci et peu soumise au temps qui passe. 785 Basierend auf dieser Nähe beschreibt Hamon „le ‚système‘ ou la structure [des] interférences“ 786 zwischen Stadt und Literatur, 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 153 <?page no="154"?> 787 Ebd., S.-29. 788 Hamon: Imageries, S.-21. 789 Vgl. Hamon: Expositions, S. 57; vgl. Gérard Genette: „La littérature et l’espace“, in: ders.: Figures II, Paris: Seuil 1979 [1969], S. 43-48, hier: S. 44: „Et l’art de l’espace par excellence, l’architecture, ne parle pas de l’espace : il serait plus vrai de dire qu’elle fait parler l’espace, que c’est l’espace qui parle en elle […].“ 790 Vgl. Hamon: Expositions, S.-31. 791 Victor Hugo: Notre-Dame de Paris, Paris: Gallimard 1975 [1831], S. 174; vgl. Hamon: Imageries, S.-21. 792 Barthes: „Sémiologie et urbanisme“, S.-263. 793 Vgl. Hamon: Imageries, S.-152. Vgl. zum Semiophor Kap. II.4.1.2.1. 794 Hamon: Expositions, S.-39. [a]u point qu’architecture et littérature paraîssent parfois avoir besoin, pour se penser chacune dans leur complexité, d’utiliser l’autre comme repoussoir, comme métalangage ou comme métaphore[.] 787 In diesem Sinne zeigt sich auch ein Konfliktverhältnis zwischen der Literatur und einem weiteren „système[] de représentation“ 788 : Ganz allgemein könnte man architektonischen Bauten einen Charakter „pluri-sémiotique“ zusprechen, da sie sich aus ‚sprechenden‘ Raum-Elementen wie Statuen und Inschriften zusammensetzen. 789 Für literarische Raumdarstellungen folgt daraus, dass Bau‐ werke, die selbst durch eine dezidierte Zeichenhaftigkeit hervorstechen, ähnlich wie Kunstwerke im Text semantisch über-determiniert 790 sind und somit in Opposition zur Erzählung stehen. So ließe sich Victor Hugos bekannter Satz „Ceci tuera cela“ 791 zum Untergang der gothischen Architektur durch den Buchdruck verstehen. Barthes kommentiert diese Formel wie folgt: En s’exprimant ainsi, Hugo fait preuve d’une façon assez moderne de concevoir le monument et la ville, véritablement comme une écriture, comme une inscription de l’homme dans l’espace. Ce chapitre de Victor Hugo est consacré à la rivalité entre deux modes d’écriture, l’écriture par la pierre et l’écriture sur le papier. 792 Das bâtiment ist im Text materielles Objekt und Zeichenträger zugleich und unterscheidet sich von anderen literarischen Objekten, weshalb Hamon ihm eine semiophorenartige Funktion zuspricht. 793 Damit kann es in literarischen Texten als Mittler zwischen städtischem réel und literarischer Erzählung dienen: [E]n tant qu’objet (réel), à la fois artificiel et articulé, le batiment [sic! ] […] peut faire office, pour l’écrivain, d’embrayeur privilégié, d’objet où le structurel s’est comme concrétisé, d’objet intermédiaire entre le texte (objet sémiotique) et le réel (non sémiotique), opérateur métaphorique privilégié pour récrire ce réel en textuel (ou inversement), pour ‚traduire‘ l’un dans l’autre. 794 154 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="155"?> 795 Ebd., S.-37. 796 Ebd., S.-29. 797 Hamon: Le personnel, S. 70-71. Vgl. dazu auch Katja Rech-Pietschke: Die Semiologie des transparenten Gebäudes: Raum-Zeit-Tod bei Lesage, Zola, Butor und Perec, Frankfurt/ M. u.a.: Peter Lang 1995. 798 Vgl. Hamon: Expositions, S.-26. 799 Ebd., S.-27-28. Daher erscheint die Architektur als Gradmesser für den Weltbezug von Literatur (indem sie sich auf bestehende Orte beziehen und diese mehr oder weniger stark transformieren kann), aber auch für einen Weltbezug der Protagonisten, die sich Räume zu eigen machen, oder von ihnen geprägt, eingeschränkt und beeinflusst sind (vgl. etwa Kap. III.4.3.2. und IV.3.3.2.). Hamon entwickelt für Architektur in der Literatur folgende - wie er selbst bemerkt - ein wenig reduktionistische Formel: „l’architecture est à l’espace ce que le récit est au temps, un mode sémiotique de mise en configuration permettant de penser l’impensable.“ 795 In diesem Sinne sind literarische Archi‐ tekturdarstellungen nicht nur Konkurrenten, sondern auch Komplizen der Literatur, die sich zu einer literarischen Metareflexion eignen: Sie können „se penser chacune dans leur complexité, d’utiliser l’autre comme […] métalangage ou comme métaphore, en une sorte de complicité ou de connivence d’artifi‐ cialité“ 796 . Denken lässt sich beispielsweise an das Ideal der transparence in Architektur wie realistischem Roman: Phénomène architectural d’époque (diffusion du verre à vitre sur grandes surfaces, exploration des possibilités du fer et du verre) et esthétique romanesque d’époque (le vraisemblable descriptif, le réalisme) se rejoignant pour promouvoir ce motif à un extrême rendement romanesque […]. Ici s’incarnent directement les métaphores théoriques de Zola sur ‚l’écran‘ naturaliste, sur l’art comme ‚fenêtre ouverte sur la création‘, et le rêve de la ‚maison de verre‘. 797 Wie Hamon am Beispiel der Beschreibung des Hauses Vauquer in der Exposi‐ tion des Père Goriot 798 darstellt, kann erzählte Architektur mit der Struktur des literarischen Textes verkoppelt sein, und dessen selbstreflexive Funktion unterstützen: „le texte, via l’architecture, se met à parler de ce qui le définit fon‐ damentalement comme structure, comme fiction, comme fiction structurée, et toute architecture, en littérature, tend à devenir […] métalangage incorporé.“ 799 Auch wenn ausführliche Raumschilderungen die Erzählung nicht vorantreiben, nehmen sie Einfluss auf diese: Als Strukturelement („ordre“), Repräsentations‐ form („représente un ‚ordre‘“) und eigenständiger Akteur („donne des ordres à 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 155 <?page no="156"?> 800 Ebd., S.-36. 801 Vgl. ebd., S. 31: Architektur kann „devenir, pour la littérature, l’occasion ou la suggestion de déployer les stratégies du pouvoir-faire des personnages d’un récit les uns sur les autres, de susciter la description de phénomènes de dépendance ou d’influence entre milieu et personnage, entre le tout et la partie, l’englobant et l’englobé.“; vgl. Mitterand: L’illusion réaliste, S.-91. 802 Ebd., S.-40. 803 Vgl. ebd., S.-41. 804 Ebd., S.-32. 805 Ebd., S. 33; vgl. auch ebd., S. 30: Der architektonische erzählte Raum „cloisonne, distribue, range, classe, sépare objets et sujets, et organise donc naturellement les stratégies du désir, du vouloir-faire des acteurs mis en scène par les scénarios narratifs“. 806 Vgl. ebd., S. 29: Sie dienen als „objet herméneutique“ insofern jedes architektonische Objekt ein Innen und ein Außen besitzt, als „objet discriminateur“, insofern sie Trennungen zwischen Menschen herstellen, sowie als „objet hiérarchisé“, als Teil eines in der Literatur angelegten Ordnungssystems, das den begrenzten Aktionsradius der Protagonisten determiniert. 807 Vgl. Genette: Seuils, S.-8. ses utilisateurs“) 800 besitzt erzählte Architektur auch Funktionen für die Erzäh‐ lung, da sie die Handlungsoptionen der sie bevölkernden Figuren bestimmt. 801 Für literarische Darstellungen außermusealer Musealität ist relevant, dass Hamon nicht nur ganze Gebäude, sondern auch einzelne für die Ausstellungsar‐ chitektur des 19. Jahrhunderts bezeichnende, architektonische Elemente des von ihm beschriebenen „système architectural“ 802 einbezieht: fenêtre, vitre/ vitrine, vitrail, miroir, mur und porte. Diese besitzen je zwei Aspekte, mobilité (die Beweglichkeit oder Unbeweglichkeit der Objekte) und transitivité (ihre Durch‐ lässigkeit von Licht, Blicken oder Körpern), die in verschiedenen Oppositionen zueinander stehen: Die Tür ist beweglich und undurchsichtig, das Fenster be‐ weglich und durchsichtig, die Wand unbeweglich und undurchsichtig. 803 Sie alle besitzen Funktionen für das Zusammenwirken von Raum und sozialen Akteuren („un mur sépare, mais aussi relie“ 804 ). In diesem Sinne kann Stadtarchitektur als „l’art de moduler des expositions“ funktionieren, als „[e]xposition d’un corps aux autres corps des acteurs sociaux“ 805 . Als Beleg dienen Hamon kanonische Texte wie Zolas Le Ventre de Paris, wo die Markthallen der Stadt („Les Halles“) zu einem regelrechten „actant collectif“ werden, die zahlreiche Eigenschaften des literarischen, architektonischen Objekts vereinen. 806 3.5 Eingänge und Ausgänge: Paratexte als Medien- und Textschwellen zwischen Innen und Außen Paratexte sind zweifache ‚Transitzonen‘: Als übertragbare Konzepte zwischen Literatur und Museum und als Textgrenzen zwischen visible und lisible 807 : 156 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="157"?> 808 Vgl. Uwe Wirth: „Zwischenräumliche Bewegungspraktiken“, in: ders. (Hg.): Bewegen im Zwischenraum, Berlin: Kadmos 2012, S.-7-34, hier: S.-24-25 (vgl. Kap. II.3.1.1.1.). 809 Es erstaunt, dass Genette selbst, trotz seiner Überlegungen in Littérature et espace, trotz der Raumkonnotation Seuils, den Paratext kaum räumlich denkt. Vgl. Genette: Seuils, S.-7-8. Vgl. Dettke: Raumtexte, S.-92 u. S.-96. 810 Wirth: „Zwischenräumliche Bewegungspraktiken“, S.-27. 811 Honoré de Balzac: Le Chef-d’œuvre inconnu [1831], in: ders.: La Comédie humaine, Bd. X, Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Paris: Gallimard 1976, S.-391-438, hier: S.-413. 812 Wirth verweist darauf, dass „die Rede vom Paratext als Übergangszone […] neben dem Gesichtspunkt der Räumlichkeit auch eine Form der Bewegung“ impliziere. Es handle sich, mit De Certeau, „um eine ‚Praktik im Raum‘ […], durch die der Leser - die Leserin - den Weg aus der realen Lebenswelt in die fiktionale Welt des Textes finden soll.“ Uwe Wirth: „Paratext und Text als Übergangszone“, in: Wolfgang Hallet u. Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spacial Turn, transcript: Bielefeld 2009, S. 167-177, hier: S. 167. Vgl. Dettke: Raum‐ texte, S. 94, die sich ebenfalls auf Wirth bezieht. Vgl. auch zur Bewegungskonnotation des Worts „préambule“ (von Praeambulare: lat. „vorausgehen“) Colard: „De la préface d’exposition“, S.-376. 813 Hamon: Imageries, S. 247-271. Hamon verwendet den Begriff für frontispice-Illustra‐ tionen. Romantitel und incipits, Vorworte und Inhaltsverzeichnisse stehen zwischen Materialität und Semantizität des Texts und bilden einen Übergang von der Literatur zum Sehen zur Literatur zum Lesen. 808 Als Schwelle zwischen Außen und Innen impliziert der Paratext außerdem Raumaspekte, was gerade unter literar-musealen Gesichtspunkten relevant ist. 809 Je breiter diese Schwelle, desto deutlicher ist dabei der Übergang: Besonders das Vorwort, mit dem man in der Regel mehr Zeit verbringt als z. B. mit einer Widmung, kann daher als „Zwischenraum der Repräsentation“ bezeichnet werden, den „jeder Leser, jede Leserin durchschreiten [muss], um einen Zugang zum Text zu gewinnen.“ 810 Das incipit von Balzacs Le Chef d’œuvre inconnu ist ein Beispiel für eine solche textuelle Transitzone, die die Materialität des Mediums Buch ausstellt, aber auch ein ‚Einfallstor‘ in die Fiktion bildet: À un lord ……………………… ……………………… ……………………… 811 Die Widmung irritiert durch das Ausbleiben von Informationen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die visuelle Dimension und die der Lektüre als ‚Raum‐ praxis‘ 812 : Steigt man beim Lesen (oder: Sehen) nicht beinahe eine Treppe hinab? Mit Hamon ließe sich auch von einer „image seuil“ 813 sprechen, einem 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 157 <?page no="158"?> 814 Potsch: Literatur sehen, S.-62, die auch Ortlieb: „Materialität und Medialität“ zitiert. 815 Paul Valéry: „Inscriptions“, zu sehen auf dem Palais de Chaillot, Paris, abgedruckt in: Jean Hytier: „Notes“, in: Paul Valéry: Œuvres, II, Édition établie et annotée par Jean Hytier, Paris: Gallimard 1960, S. 1375-1609, hier: S. 1585; vgl. Vedder: „Museum/ Aus‐ stellung“, S.-181; vgl. Anastasio u. Rhein: „Einleitung“, S.-9-10. 816 Vgl. Wirth: „Paratext und Text als Übergangszone“, S. 171, der konstatiert, der Paratext stellte die „herrschende Ordnung der Alltagslogik in Frage, bevor diese Ordnung im fiktionalen Haupttext dann ganz oder teilweise suspendiert wird.“ 817 Eine Übertragung des Konzepts auf andere Medien wäre wohl auch im Sinne Genettes: „‚Le paratexte‘ n’existe pas à proprement parler, on choisit plutôt de rendre compte en ces termes d’un certain nombre de pratiques ou d’effets, pour des raisons de méthode et d’efficacité […].“ Genette: Seuils, S. 327; vgl. Annika Rockenberger: „‚Paratext‘ und Neue Medien. Probleme und Perspektiven eines Begriffstransfers“, in: PhiN. Philologie im Netz, 76/ 2016, S. 20-60, hier: S. 44; online unter: http: / / web.fu-berlin.de/ phin/ phin7 6/ p76t2.htm. ‚visuellen Eingang‘ in eine Erzählung, die zudem selbst die Repräsentation des réel durch Malerei und Literatur zentral zum Thema hat. Dass der Paratext schon den Blick dafür schärft, zeigt, dass er auch „die Materialität als Bestandteil literarischer Werke […] etablieren und den Interpretationsraum dahingehend […] erweitern“ 814 kann. Der Aspekt des ‚Überschreitens‘ (oder: ‚Hinabsteigens‘) verbindet den Text‐ eingang mit dem Ausstellungsraum - man denke etwa an die von Valéry verfassten Verse über den Eingangsflügeln des Pariser Palais de Chaillot: IL - DÉPEND - DE - CELUI - QUI - PASSE QUE - JE - SOIS - TOMBE - OU - TRÉSOR QUE - JE PARLE - OU - ME - TAISE CECI - NE - TIENT - QU’À - TOI AMI -N’ENTRE - PAS - SANS - DÉSIR 815 Dieser literar-museale Paratext rekurriert selbst auf seine Zwischenstellung zwischen Innen und Außen, greift die Welt des Besuchers wie jene im ‚Werk‐ inneren‘ auf, und der Lesende befindet sich zwischen realer Außen- und fiktionalisierter Innenwelt. 816 Der Paratext als Transitzone zwischen Literatur und Welt, aber auch zwischen Literatur und Museum ist demnach sowohl ein Ausstellungsraum des Literarischen als auch Teil eines literarischen Ausstel‐ lens. 817 In Texten der néolittérature stehen Innen-Außen-Grenzen auf dem Prüf‐ stand; dies beeinflusst auch den Status des Paratexts. Bei literar-musealen Komplexen aus mehreren Werken ist zu fragen, ob sich auch ganze Literatur‐ ausstellungen als Paratexte (bzw. öffentliche Epitexte 818 ) literarischer Werke bezeichnen ließen, was angesichts zweier grundsätzlicher Charakteristika des 158 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="159"?> 818 Vgl. Genette: Seuils, S.-316, der als Epitext einen Paratext bezeichnet, „qui ne se trouve pas matériellement annexé au texte dans le même volume, mais qui circule en quelque sorte à l’air libre“, etwa ein Autoreninterview. 819 Rockenberger: „‚Paratext‘ und Neue Medien“, S.-24. 820 Vgl. Genette: Seuils, S. 16: Der Paratext „sous toutes ses formes, est un discours fondamentalement hétéronome, auxiliaire, voué au service d’autre chose qui constitue sa raison d’être, et qui est le texte.“ Vgl. Rockenberger: „‚Paratext‘ und Neue Medien“, S.-24. 821 Rockenberger: „‚Paratext‘ und Neue Medien“, S.-38. 822 Vgl. Rockenberger: „‚Paratext‘ und Neue Medien“, S. 24; Genette selbst sieht die Möglichkeit der Übertragung des Paratext-Konzepts auf andere Künste, lässt Beispiele dazu jedoch in seiner Typologie außen vor; vgl. Genette: Seuils, S.-373-374. 823 Vgl. zur Verwendung des Paratext-Begriffs zur Beschreibung literarischer Werke im Umfeld der bildenden Kunst auch Magali Nachtergael: „Fictions d’œuvres“, in: COnTEXTES, 29, 2020, online unter: http: / / journals.openedition.org/ contextes/ 9872. Paratextes nach Genette zunächst schwerfällt: „funktionale Heteronomie und Subordination ([…] ‚unterstützende Dienlichkeit‘)“, sowie „Autorisation durch den Autor“ 819 . Während das zweite Kriterium für beide hier behandelte Werk‐ komplexe erfüllt ist, lassen sich Literaturausstellungen wohl kaum als bloße „Hilfsdiskurse“ 820 der Literatur verstehen: Zwar sind etwa die Ausstellungen von Toussaint und Houellebecq ohne die mit ihnen verbundenen literarischen Werke kaum zu denken, doch scheint es ihnen nicht gerecht zu werden, wenn man ihnen eine nur ‚dienende‘ Funktion für die Literatur zuschreibt. Daher eignet sich eine aktualisierte Definition des Paratexts, als Bezeichnung für sämtliche Gegenstände, Sachverhalte und Informationen, die entweder mit Bezug zu einem ‚primären Gegenstand‘ (gleich welcher modalen Qualität) hervorgebracht wurden, sich diesem ‚anlagern‘, sich um ihn ‚versammeln‘, diesen irgendwie ‚um‐ geben‘, ‚rahmen‘ oder ‚präsentieren‘ oder von Rezipienten als kontextuelle Ressource bzw. als ‚Zugangsweg‘ genutzt werden. Dabei ist gleichgültig, wer diese Entitäten jeweils hervorgebracht hat, ob diese autorisiert sind und welchen ‚stofflichen Status‘ diese jeweils haben. Zum Paratext gehört potentiell alles, was nicht ‚primärer Gegen‐ stand‘ ist[.] 821 Diese aus verschiedenen Begriffsverwendungen der new media studies extra‐ hierte Definition, die sich explizit von der Literatur als Ausgangsmedium löst 822 , verabschiedet sich in Teilen von Genettes Ansatz. Sie stellt die mediale Verfasst‐ heit des Ausgangswerks und die „Autorisierung durch den Autor“ zurück, wes‐ halb sie sich auf eine Vielzahl literar-musealer Werkkomplexe anlegen lässt. 823 Auch lassen sich mit dieser Definition auch Texte als Paratexte verstehen, die an die Ausstellung ‚angelagert‘ sind und einen künstlerischen ‚Eigenwert‘ besitzen - im Fall von Toussaint etwa der Band La Main et le Regard (als Paratext 3 Paratexte und Passagen: Analytische und thematische Transitzonen 159 <?page no="160"?> 824 Vgl. dazu sowie zum ‚Werk‘-Begriff bei Genette Wirth: „Zwischenräumliche Schreib‐ praktiken“, S.-22. 825 Potsch: Literatur sehen, S.-58. 826 Ebd., S.-35. zur Ausstellung Livre/ Louvre). Obwohl der Paratext in diesem Sinne von der eingenommenen Perspektive abhängt, ist die Kategorie nützlich, da sich durch sie die Einzeltext vs. Werk-Dichotomie und auch klassische Werkhierarchien auflösen lassen, und der Blick auf die Übergangszonen zwischen verschiedenen medialen oder textuellen Ebenen gelenkt wird. Da der Paratext an einzelne Werke gebunden und zugleich offen zur Welt ist, kann er ‚vermittelnd‘ zwischen einem engen und einem weiten Medien-, Text- und Werkbegriff stehen. 824 3.6 Fazit Museum und Literatur teilen sich Präsentations- und Repräsentationsmodi, aber auch Ausstellungsprobleme: In Literatur wie Museum ist das, worauf verwiesen werden soll, nicht verfügbar. Im Museum werden „[d]ie ausgestellten Objekte […] zu Medien, die zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren vermitteln“ 825 , wohingegen die Literatur meist „ihre materiellen Bestandteile selbst nicht aus[stellt], im Gegenteil, sie begräbt sie unter dem Gehalt ihrer Semantik“ 826 . Ausnahmen von diesem Normalfall erzeugen - so die These - eine besondere Musealität des Texts (etwa, wenn dieser seine Schriftbildlichkeit explizit zeigt), oder eine besondere literarische Dimension der Ausstellung (etwa, wenn die Dinge im Museum im Dienst einer übergeordneten Erzählung stehen). Angenommen wird weiterhin, dass literar-museale Komplexe Medialität besonders aufgreifen und sich ihrer besonders bedienen, insofern sie stark intermedial durchsetzt sind; sie sind aber auch selbst in einem Feld der Medi‐ enkonkurrenz anzusiedeln, und können diese Medienkonkurrenz metareflexiv thematisieren. Durch die künstlerische Thematisierung des einen Mediums im anderen (etwa musealer Perspektivierungen in der Literatur) werden zudem Konzepte, die beiden Medien eigen sind, ‚aneinander‘ erprobt. Die narratologische und museale Grundfrage nach dem ‚Wer spricht‘ mar‐ kiert eine Übergangszone, aber auch eine Bruchstelle in literar-musealen Kom‐ plexen: Durch sie zeigt sich, dass literarische Erzählinstanzen (und ‚Erzählung‘) nicht ohne Weiteres in den musealen Raum zu transponieren sind. Literarische Texte, die dieses ‚Wer spricht‘ herausstellen (durch Erzählverfahren wie etwa Metalepsen oder besondere narrative Perspektivierungen, vgl. Kap. II.4.1.1.1.), können dagegen eine besondere Musealität entfalten. 160 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="161"?> 827 So führt etwa Vedder die vier Kategorien in wenigen Sätzen zusammen: „Bedeutungen und Ordnungen der Dinge verdanken sich nicht ihrer bloßen materiellen Präsenz, sondern treten erst in Relation zu jenen Narrativen und Systemen in Erscheinung, in die sie ein eingreifendes Subjekt eingliedert. Entscheidend ist, dass Dinge nicht isoliert, sondern in Ensembles interpretiert werden, in deren raumzeitlichen Anordnungen Ob‐ jekte ganz unterschiedliche Bedeutungen annehmen und Auf-, Um- und Abwertungen erfahren können.“ Ulrike Vedder: „Sprache der Dinge“, in: Susanne Scholz u. dies. (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S.-29-37, hier: S. 32; mit Wirth lässt sich das „expositorische Dispositiv“ als momenthaftes Zusam‐ menspiel von Objekt und Subjekt mit drei Aspekten beschreiben: den „expositorischen Akteuren“, der „räumlichen Anordnung der Objekte“, der „Resonanz“ der Objekte auf die Besucher; vgl. Wirth: „Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? “, S.-59. Der Aspekt der Lesbarkeit (von Stadt, von Welt) verweist auf die Ausstel‐ lungsqualität des Stadtraums, die dieser mit dem Museum und museumsähn‐ lichen Räumen teilt und auch in literarischen Raumerzählungen produktiv wird. Da der ‚lesbare Raum‘ der Stadtarchitektur in Konkurrenz zur Literatur steht, kann er - besonders in Stadterzählungen - auf diese zurückweisen. Das architektonische Objekt kann die Bewegungs- und Wahrnehmungsräume literarischer Subjekte bestimmen. In diesem Sinne können erzählte Räume eigene exhibition settings hervorbringen, wozu besonders die Kategorien innen und außen, privat und öffentlich relevant sind. Mittels seiner Architektur, aber auch seiner Lage in einer Stadttopographie erscheint insbesondere das Museum in der erzählten Stadt als überdeterminierter Raum. Aus diesen Überlegungen folgt, dass für die untersuchten Werkkomplexe auch die jeweils ‚errichteten‘ literarischen Topographien zu beachten sind. Der Paratext wiederum wurde als Übergangszone beschrieben, die o. g. ‚Unüberschreitbarkeit‘ zwischen den Medien auflöst, und zwischen Innen und Außen von Literatur und Ausstellung steht. Auch hierbei handelt es sich um eine Kategorie und einen literarischen Anwendungsfall zugleich. 4 Ästhetik literarischer Musealität Nach Museum und literar-musealen Transitzonen steht nun die Literatur im Zentrum. Zur Beschreibung ihrer Musealität eignen sich die Grundkategorien Objekt und Subjekt, Raum und Zeit, die schon in den Ausstellungstiteln der beiden untersuchten Autoren unterschiedlich akzentuiert werden (Objekt und Raum: Livre/ Louvre bei Toussaint, Subjekt und Zeit: Rester Vivant bei Houelle‐ becq). Sie bilden konstitutive Elemente des Musealen und Expositorischen 827 und stehen im Zentrum vieler Erzähltheorien 828 - mit Ausnahme des Objekts, dem selten eine Rolle als konstitutiver Bestandteil von Erzählung zugesprochen 4 Ästhetik literarischer Musealität 161 <?page no="162"?> 828 Vgl. Goldschweer, die mit einer anderen Gliederung ähnliche Kategorien zur Beschrei‐ bung der literarischen „Motivkonfiguration ‚Museum‘“ vorschlägt: Eine „unbelebte Achse“ mit den „Konstituenten Raum und Objekt“, eine „belebte Achse“ mit den „Komponenten Besucher und Personal“, und eine „historische Achse“, die „die histori‐ sche Institution des Museums mit seinem symbolischen Gegenstück“ verbindet (dies.: Trügerische Zuflucht, S. 323). Die Auswahl der Kategorien ist dicht an Bals Ansatz, „events“, „time“, „actors“ und „locations“ bildeten die konstitutiven Elemente einer Erzählung; vgl. dies.: Narratology, S.-8. 829 Die Kategorie object versteht etwa Bal insbesondere als Aspekt der Ausgestaltung von space, i.S. eines effet de réel als Teil und Detail der erzählten Welt: „The way in which objects are arranged in a space […] also influences the perception of that space. In some stories, an object or objects are sometimes presented in detail. In other stories, space may be presented in a vague and implicite manner“; ebd., S.-138. 830 Vgl. etwa Preziosi, der seinen semiotischen Museumsansatz u. a. in die Abschnitte „The Art Museum Object“, „The Object in Space and Time“ und „The Subject in the Museum“ unterteilt: Donald Preziosi: „Art History and Museology“, S.-50-63. 831 Vgl. z.-B. Stapelfeld u.a.: „Museales Erzählen“, S.-3. 832 Man denke z. B. an die Raum-Subjekt-Klammer am Anfang des Père Goriot: „toute sa personne explique la pension, comme la pension implique la personne“; Balzac: Le Père Goriot, S. 54; vgl. Caraion: „Objets en littérature au XIX e siècle“, S. 2; vgl. Nitsch: „Topographien“, S.-32. wird 829 ; dafür ist es zentral für die meisten Museumstheorien 830 und scheint zur Darstellung literarischer Musealität unabdingbar. 831 Eine solche Ästhetik muss sich - entsprechend der oben vorgeschlagenen Perspektivierungen - auf die Literatur in ihrer sichtbaren und lesbaren Form beziehen: Denn ‚literarische Musealität‘ meint nicht nur museales Schreiben, sondern das Innen und Außen der Literatur; sie drückt sich im Literarischen aus und stellt dieses Literarische aus. Berücksichtigt werden also etwa das Objekt im Buch, aber auch das Buch als Objekt, literarische Museumsgänger oder -kuratoren, aber auch das Autorensubjekt, Literatur als Raum und literarische Räume. Die herangezogenen Beispiele vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart bieten einen Referenzrahmen zur Einordnung der analysierten Texte von Toussaint und Houellebecq und erlauben Rückschlüsse zu deren Selbstsituierung. Angestrebt wird keine umfassende Systematik, sondern vielmehr eine Zu‐ sammenstellung von Punkten, die relevante Aspekte des Museums auf die Literatur beziehen und die Literatur zum Museum öffnen. Vorgegeben wird somit auch kein passgenau auf die beiden Beispielanalysen zu übertragendes Untersuchungsraster. Die Gliederung bildet die Vielfalt der Querbezüge zwischen den Kategorien nicht im vollen Umfang ab, weshalb die Auftrennung in vier Kapitel reduktionis‐ tisch erscheinen mag. 832 Aufgefangen wird dies durch die beiden Vorkapitel, die 162 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="163"?> 833 Vgl. Susanne Scholz u. Ulrike Vedder: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S.-1-17, hier: S.-10. 834 Rainald Goetz: loslabern. Bericht Herbst 2008, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2009, S.-164. 835 Vgl. Greenblatt: „Resonance and Wonder“, S.-45: „A resonant exhibition often pulls the viewer away from the isolation of celebrated objects and towards a series of implied, only half-visible relationships and questions: how did the objects come to be displayed? How were they originally used? What were the feelings of those who originally held the objects, cherished them, collected them, possessed them? What is the meaning of the viewer’s relationship to those same objects when they are displayed in a specific museum on a specific day? “ 836 Jürgen Becker: „Vergißmeinnicht“, in: ders.: Dorfrand mit Tankstelle. Gedichte, Frank‐ furt/ Main: Suhrkamp 2007, S.-46. 837 Bal: Double Exposures, S.-2. die Raum/ Zeitbzw. Subjekt/ Objekt-Klammer zusammendenken, sowie durch eine Offenheit zu den jeweils anderen Kategorien innerhalb der Kapitel (etwa die ‚Zeitlichkeit der Objekte‘ in Kap. II.4.1.2.1.3.). 4.1 Subjekt und Objekt in Museum und Literatur Menschen versehen Dinge mit Bedeutung, und andererseits verleihen die Dinge dem Menschen Subjektstatus, der sie erschafft, hervorholt, verwandelt, sie zueinander und sich zu ihnen ins Verhältnis setzt. 833 Dieses dialektische Verhältnis könnte man nicht nur als Basis des Museums (im engeren oder weiteren Sinn, als konkreter Ort oder Weltmetapher) bezeichnen, sondern es wird hier auch erfahrbar: Beim ersten Herumgehen in der Ausstellung war ich von dem irrwitzigen STRESS, den die neuen Bilder aussendeten, fast weggebrettert worden, diese Bilder waren lauter als die ganze Eröffnungsgesellschaft […]. 834 Das Zitat macht deutlich, dass das Funktionieren der Institution Museum vom Zusammenspiel von Objekt und Subjekt abhängt - hier beeindrucken die Werke den Museumsgänger mehr als seine Mitmenschen. Erst wenn sich resonance und wonder (vgl. Kap. II.1.3.) einstellen 835 , wird das Museum zum Gegenraum, ansonsten bleibt es dysfunktional: Die meisten Wände sind zugehängt, und wer stehen bleibt, geht gleich wieder weiter. 836 Nicht nur die Ausstellung, auch das Ausstellen basiert auf einem spezifischen Subjekt-Objekt-Verhältnis: Im übertragenen Sinn wird dabei das Subjekt zum Objekt („[the] subject objectifies, exposes himself “ 837 ), und die Objekte erlangen 4 Ästhetik literarischer Musealität 163 <?page no="164"?> 838 Vgl. Alfred Polgar: „Der Mensch“, in: Christoph Stölzl (Hg.): Menschen im Museum. Eine Sammlung von Geschichten und Bildern, Berlin: Deutsches Historisches Museum 1997, S. 195-197, hier: S. 195: „Zum Beispiel gibt es da einen riesigen Kübel voll Himbeerwasser, und dieses ist die Blutmenge, die das Herz in einer halben Stunde durch den Körper pumpt“. 839 Vgl. etwa Obergöcker: Prise de possession. 840 Scholz u. Vedder: „Einleitung“, S. 10; vgl. Vedder: „Zwischen Depot und Display“, S. 36; vgl. zur Belebung von Subjekten (Scherübl zu Perec: „Das Museum des Unvermögens“, S. 70) und der Objektifizierung von Subjekten (Zechner zu Bernhard: „Ausstellen, Entsetzen“, S. 204) auch verschiedene Beiträge in dem Band Museales Erzählen. Vgl. dazu Stapelfeld u.a.: „Museales Erzählen“, S.-7. 841 Raphaela Knipp: „Narrative der Dinge - Literarische Modellierungen von Mensch-Ding-Beziehungen“, in: LiLi, 168, 2012, S.-46-61, S.-47. 842 Vgl. Gaspard Turin: „Objet pléthorique, sujet mélancolique. De Perec, Le Clézio et Modiano à Quignard“, in: Marta Caraion (Hg.): Usages de l’objet. Littérature, histoire, arts et techniques, XIXe - XXe siècles, Seyssel: Champ Vallon 2014, S. 163-175; vgl. auch Peter V. Zima: Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen/ Basel: Francke 2001. Autonomie, da sie ihrem eigentlichen Gebrauch entzogen sind. Im wörtlichen Sinn bedeutet die ‚Ausstellung‘ von Subjekten hingegen, im Museum oder andernorts, eine reduktionistische Objektifizierung - ein Ausstellungsproblem, das schon Alfred Polgar in seiner Besprechung einer Ausstellung zum Inneren des Menschen feststellt. 838 Das hat freilich die expositions coloniales nicht gehindert, Menschen als (fiktionalisierte) Objekte zu zeigen. 839 Die Literatur, in der es „keine ontische Differenz zwischen Menschen und Dingen“ gibt, besitzt die „fiktionale Handlungsfähigkeit“, solche „gegenseitige Durchdringung von Subjekten und Objekten“ zu zeigen 840 - oder aber: eine Differenz zwischen beiden zu betonen, „etwa indem sie Dinge als Handlungs‐ träger inszeniert, sie mit quasi-menschlichen Eigenschaften ausstattet oder ein ‚Eigenleben‘ der Dinge evoziert“ 841 , und umgekehrt objektivierende oder objektifizierende Subjektdarstellungen vornimmt. Das Subjekt-Objekt-Verhältnis lässt sich auf zwei Niveaus denken: Erstens auf einer thematisch-inhaltlichen Ebene innerhalb der erzählten Welt: Das Verhältnis von Ding und Subjekt wird in der Literatur insbesondere seit dem 19. Jahrhundert immer neu und anders verhandelt, wie sich etwa anhand von Werken wie La maison d’un artiste Edmond de Goncourts, Balzacs La Peau de Chagrin, Perecs Les Choses und bei Houellebecq zeigen ließe. Sie können - etwas holzschnittartig - für Etappen einer zunehmenden Krise des Subjekts und einer zunehmenden Emanzipation des Objekts stehen 842 : Die Texte des 19. Jahrhun‐ derts zeigen eine Entdeckung des Dings im Jahrhundert des Museums und der Sammlung - bei Balzac oder Goncourt ist es noch der menschlichen Sammlungs- und Ausstellungsmacht unterworfen. 843 Perecs Les Choses 844 thematisiert eine 164 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="165"?> 843 Vgl. zu La Peau de Chagrin Vedder: „Sprache der Dinge“, S. 32: Hier müsse „die Hauptfigur das […] Chagrin-Leder erst entdecken und erwerben, nämlich in einem Antiquitäten- und Trödelladen. Das ist möglich, weil dieser Laden zwar als ‚Chaos alten Krams‘ bezeichnet wird, seine Objekte aber doch in einer zusammenhängenden Ordnung des Nebeneinander präsentiert“. Vgl. zu Goncourt Dominique Pety: Les Goncourt et la collection. De l’objet d’art à l’art d’écrire, Genève: Droz 2003; Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-139-192. 844 Georges Perec: Les Choses. Une histoire des années soixante, suivi de Conférence à Warwick, Paris: Julliard 1997 [1965]; vgl. Kap. II.4.1.2.1.2. 845 Kimmich: „Dinge in Texten“, S.-22. 846 Vgl. Colard: „Perec et l’exposition“. 847 An den eigentlichen Text schließt sich ein umfangreicher Anhang an, bestehend u. a. aus einem Index und einer Chronologie der Ereignisse, einem Post-Skriptum und einem Inhaltsverzeichnis. Vgl. Alice Staškova: „Zum Weltbezug als Textbezug des modernen Romans (Hermann Broch - Georges Perec - Michal Ajvaz) “, in: Christian Moser u. Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, Göttingen: V&R unipress 2014, S. 369-380, hier: S. 374; vgl. zu den Paratexten von La vie auch Dettke: Raumtexte, S.-229-251. materialistische, an Dingen und Besitz ausgerichtete Lebensweise in der société de consommation, deren Scheitern u. a. bei Houellebecq bereits Konsens ist (vgl. Kap. IV.3.2.1.). Im Verlauf dieser Etappen nimmt die ‚Dingfülle‘ der Welt derart zu, dass Objekte nicht mehr per se als Zeichenträger in den Texten fungieren, sondern zunehmend auch als „Dinge an sich“ 845 , weshalb sie auch in Konkurrenz zu literarischen Protagonisten geraten können oder gegen diese agieren. Es stellt sich dann die Frage nach ihrer innerliterarischen ‚Autonomie‘ (vgl. Kap. II.4.1.2.1.). Zweitens eine Ebene, die das Buchobjekt und das Autorensubjekt betrifft: Durch paratextuelle Verfahren, visuelle Elemente etc. kann Materialität auf der Ebene des Textraums ausgestellt werden. Dies bringt auch eine mehr oder weniger deutliche Abwertung der Instanz des Erzählens mit sich, dafür deren Aufwertung als Instanz des Kuratierens und Ausstellens: Positioniert sich der Autor oder Erzähler als ‚Archiv‘ und ‚Versammler‘ von Ereignissen und Ob‐ jekten, wie in Perecs Je me souviens, einer Listung kurzer Erinnerungsmomente und -objekte? 846 Rekurriert er auf das Medium Buch, so wie ebenfalls Perec in La vie mode d’emploi, der mit seinem Aufbau und seinen Paratexten an eine kommentierte Klassikerausgabe wie jene der Éditions de la Pléiade erinnert? 847 Literarische Musealität, so die These, zeigt sich da, wo Literatur Autorschaft sichtbar macht, wo außerliterarische Autorenbilder in die Literatur hineinragen oder literarische aus ihr heraus; wo sich das Autorenbild zwischen Präsenz und Absenz, Tod des Autors und Ausstellungskünstler situiert (Kap. II.4.1.1.3.). Diese Aspekte werden in den folgenden beiden Kapiteln mit Blick auf die Subjektwie auch Objekt-Kategorie beleuchtet und vertieft. 4 Ästhetik literarischer Musealität 165 <?page no="166"?> 848 Wie es in oben zitierter Museums-„Inscription“ Valérys heißt: „QUE - JE PARLE - OU - ME - TAISE / CECI - NE - TIENT - QU’À - TOI“. 849 Wajsbrot: Sentinelles, S.-10. 850 Vgl. Quednau: Museen des Imaginären, S. 19. Vgl. für eine Zusammenstellung literari‐ scher Texte zum Verhältnis Subjekt/ Museum auch die Anthologie von Stölzl (Hg.): Menschen im Museum. 851 Hamon: Le personnel, S.-315. 852 Ebd., S. 103. Anders als der autoritäre Erzähler bei Balzac bildet bei Zola die personnage einen „délégué“ (ebd.) des Erzählers, über den sich die erzählte Welt vermittelt. Erzählte Subjekte besitzen daher ein ganzes „cahier des charges“, das sich ergibt aus der „lisibilité interne du texte[: ] le personnage prenant en charge les appels, rappels, explications, informations ou gloses destinés à la construction d’un énoncé ‚maison de verre‘.“ (ebd., S.-316). 853 Auch dies ist an Hamons Aufsatz Le Musée et le Texte anschlussfähig, demzufolge das Subjekt vor dem Hintergrund des Museums im Text zu verstehen ist, aber auch den Text als Museum hervorbringt (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.). 4.1.1 Subjekt Museum und Museales sind eng mit (organisierenden oder rezipierenden) Sub‐ jekten verbunden: Sammler sammeln (sich), Kuratoren kuratieren (sich), Mu‐ sealisierung impliziert Selektion (also Reflexion), und Aura entsteht erst für den Betrachter (sofern er Wissen und Bereitschaft dazu mitbringt). 848 Ein Museum ohne Besucher ist kaum denkbar, erscheint unwirklich und merkwürdig. Als „une plage à marée basse“ 849 wird das verlassene Centre Pompidou beschrieben, welches in Wajsbrots Sentinelles die Gäste einer abendlichen Vernissage nach der offiziellen Schließung durchqueren. Doch diese Leere wird auch hier von Zeugen wahrgenommen, die sich zwar fehl am Platz fühlen, aber dennoch davon berichten: Zur ‚Erzählung‘ wird die Ausstellung erst durch eine Instanz, die sie organisiert oder rezipiert. 850 Will man Subjekt-Museum-Konstellationen auf die Literatur anlegen, so bildet Hamons Zola-Studie Le personnel du roman eine nützliche Grundierung, die zwischen „le personnage comme fonction et […] comme fiction“ 851 unter‐ scheidet, und Zolas literarische Figuren nicht nur als ‚lesbare‘ Aspekte eines in‐ nerliterarischen réel („personnage lisible“), sondern auch als „[o]pérateur[s] de lisibilité“ 852 der erzählten Welt erfasst. Die folgende Kapitelaufteilung greift diese Unterscheidung auf (Kap. II.4.1.1.1. u. II.4.1.1.2.) und berücksichtigt außerdem die Instanz des Autors, der in literar-musealen Komplexen eine besondere Stel‐ lung zukommt (vgl. Kap. II.4.1.1.3.): In den hier bearbeiteten Beispielen beziehen sich Autorenfiguren und -bilder in der Literatur und in den Ausstellungen wechselseitig aufeinander. 853 166 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="167"?> 854 Vgl. Paul: Poetry in the Museums, S. 2: „Although museums can be places where a visitor might sneak into a rather private state of contemplation, they are also public and social places: […] visits in themselves can signify social or cultural status, and visitors often perceive other visitors’ reactions to objects and displays.“ Vgl. zu Toussaint etwa Kap. III.5.2. u. Kap. IV.4.1. 855 Dies ließe sich mit dem Verhältnis des Erzählers zur Figur Marie bei Toussaint belegen (vgl. Kap. III.4.1.2.). 856 Dieser Direktor, aber auch der Museumswärter, werden bei Nabokov im Blick des Erzählers wie allegorisierte Schaustücke gezeigt; vgl. Vladimir Nabokov: Der Museums‐ besuch [1939], in: ders.: Erzählungen 2. 1935-1951, Gesammelte Werke, Bd. XIV, hg. v. Dieter E. Zimmer, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1989, S. 197-213, hier: S. 202. Der Name des Direktors, in dem god und art anklingen, verweist womöglich auch auf die Figur Joseph Godard in Balzacs Les employés (zuerst: La Femme supérieure, 1838), einen unsystematischen Sammler. 857 Vgl. Yang: „Das Museum als Schauplatz“, S.-69: „das beobachtende Subjekt ist zugleich ein beobachtetes Objekt“; vgl. Dominik Zechner: „Ausstellen, Entsetzen. Thomas Bernhards Museumsroman Alte Meister“, in: Johanna Stapelfeld u. a. (Hg.): Museales Erzählen. Dinge, Räume, Narrative, Paderborn: Brill/ Fink 2020, S. 203-222, der „Regner als Exponat“ (ebd., S. 207) beschreibt, u. a., da der „Weißbärtige Mann“ auf dem von Regner betrachteten Gemälde „zurückschaut“ (ebd., S.-210). 4.1.1.1 Erzählkonstellationen Um mittels literarischer Subjekte literarische Musealität herzustellen, scheinen vor allem zwei Faktoren entscheidend: museumsartige Dispositive des Sehens und Gesehen-Werdens 854 , sowie herausgestellte Perspektivierung und durch eine Erzählinstanz erzeugte Mittelbarkeit, die die Frage des ‚Wer spricht‘ evo‐ zieren. Zu berücksichtigen sind daher sowohl innerliterarische personnages und ihre Blick- und Wahrnehmungsformen, als auch mehr oder weniger identifizier‐ bare Erzählerinstanzen. Als These sei angenommen, dass Musealität besonders dann sichtbar wird, wenn diese Faktoren deutlich ausgespielt werden, etwa, weil Protagonisten und andere Erzählinstanzen offensichtlich in Konkurrenz zueinander geraten. 855 Denken lässt sich an verschiedene Konstellationen zwischen erzählten Sub‐ jekten im Museum (Besucher, Führer, Wärter, Kurator) und der Erzählung bzw. der Erzählinstanz, wobei auch ein Kurator oder Aufseher (also ein Vertreter des Museums) zum Ausstellungsstück werden kann - wie der Museumsdirektor mit dem sprechenden Namen Godard 856 in Nabokovs Erzählung Ein Museumsbesuch, der ganz dem Urteil des Erzählers unterworfen ist. Auch ein Museumsbesucher kann über die Erzählperspektivierung zum Ausstellungsobjekt werden, wie etwa der ‚Bildbetrachter‘ Regner in Thomas Bernhards Alte Meister, der vom berichtenden Atzbacher beobachtet wird. 857 Schon der erste Satz des Romans 4 Ästhetik literarischer Musealität 167 <?page no="168"?> 858 So vereint dieses Zitat alle vier Kategorien Hamons (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.). Die ersten drei Ebenen ergeben sich offensichtlich aus dem Handlungsort und den handelnden Figuren. Der letzte Aspekt durch den Umstand, dass auch der schreibende Atzbacher im Text ausgestellt wird, sowie aus der Textform, einem einzigen monolithischen Block, der sich in Opposition zur Verteidigung des Fragments stellt: „Der Erzähler zitiert demnach die Niederschrift Atzbachers, was hier durch die beinahe identischen Verfahren von Literaturrezeption und Textproduktion auf den Vorgang des Kopierens anspielt. Der Roman entpuppt sich insofern als ein Zitat von 305 Seiten, das von der Textur und Fraktur her völlig absatzlos, ein bruchloses Gebilde […] zu sein scheint“; Yang: „Das Museum als Schauplatz“, S. 69. Vgl. auch Zechner: „Ausstellen, Entsetzen“, S. 206, der Alte Meister als Roman liest, „in welchem die Institution Museum nicht bloß die Handlung rahmt, sondern die Romansprache selbst affiziert und strukturiert“. 859 Bernhard: Alte Meister, S.-7. 860 Zola: L’Assommoir, S.-444; vgl. Hamon: Le personnel, S.-50. 861 Gustave Flaubert: Madame Bovary [1856/ 57], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. III, 1851-1862, Édition publiée sous la direction de Claudine Gothot-Mersch, Paris: Galli‐ mard 2013, S. 156: „Il serait maintenant impossible à aucun de nous de se rien rappeler de lui.“ 862 Vgl. Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, S.-83-84. erzeugt eine museale mise en abyme, indem auch der Bericht Atzbachers sich nur als Zitat erweist 858 : Erst für halb zwölf Uhr mit Regner im Kunsthistorischen Museum verabredet, war ich schon um halb elf dort, um ihn, wie ich mir schon längere Zeit vorgenommen gehabt hatte, einmal von einem möglichst idealen Winkel aus ungestört beobachten zu können, schreibt Atzbacher. 859 Auch Ausstellungsbesucher und Ausstellungsstücke als ‚Objekte des Erzählens‘ können miteinander konfrontiert werden. Ironisch gewendet wird dies z. B. in Zolas L’Assommoir, wenn die ‚realistischen‘ Protagonisten den im Louvre ausgestellten „colosses de pierre, les dieux de marbre noir muets dans leur raideur hiératique“ 860 gegenüberstehen. Über solche expliziten Museumstexte hinaus ist auch an Erzählungen zu denken, die mittels narrativer Instanzen ungewöhnliche Rahmungen und Per‐ spektivierungen herstellen, ohne dabei das Museum als Ort aufzurufen, dabei aber durchaus zur Musealität des Textes beitragen. Als Beispiel sei der Beginn von Madame Bovary genannt; die sich hinter einem ‚Wir‘ versteckende Instanz, die von der Schulzeit Charles Bovarys berichtet 861 , wird nicht enthüllt, und wirkt darum irritierend, denn sie zeigt sich in der Folge nicht als Erzähler - ‚wer spricht‘, bleibt unklar 862 , und Charles wird zum herausgehobenen Ausstellungsstück. Es zeigt sich hier, dass der Grad oder die Auffälligkeit der literarischen Vermitteltheit mitbestimmen kann, inwiefern die Literatur selbst als Vermittlungsmedium sichtbar wird und die Figuren als Vermittelte 168 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="169"?> 863 Vgl. ebd., S.-93. 864 Ebd., S.-99. 865 Vgl. Asti Hustvedt: „The Art of Death. French Fiction at the Fin de Siècle“, in: dies. (Hg.): The Decadent Reader. Fiction, Fantasy, and Perversion from Fin-de-Siècle France, New York: Zone 2006, S.-10-29. 866 Hamon: Expositions, S.-153. 867 Vgl. Janet Wolff: „The Invisible Flâneuse. Women and the Literature of Modernity“, in: Theory, Culture & Society, 2, 3, 1985, S.-37-46. 868 Hamon: Expositions, S.-154. erscheinen. Charles erscheint auch als ‚geschriebene‘ Figur, denn Flaubert rückt die Erzählung selbst ins Zentrum: Sprache, so macht er deutlich, ist nicht Gefäß des Erzählten, sondern das Erzählte existiert erst in der Sprache 863 , und „das Kunstwerk behauptet seine vollständige, in sich geschlossene Autonomie […]. Nirgendwo ist der Autor präsent, nirgendwo greift er von außen ein, alles ist entwickelt aus den Figuren und ihren Konstellationen.“ 864 4.1.1.2 Inhaltsebene: Ich und Museum, Ich und Welt(-verhältnis) Denkt man an all die Figuren, die ein Museum (als Ort oder Metapher) bevöl‐ kern, ergibt sich ein breites Spektrum an Besuchern, Beobachtern, Sammlern, Kuratoren, (Museums-)führern oder -wärtern, die alle die Kapazität besitzen, den musealen Raum (im weiteren oder im engeren Sinne) einerseits zu lesen, mit Bedeutung aufzuladen, ihn andererseits (als „opérateurs de lisibilité“, vgl. Kap. II.4.1.1.) zu gestalten und zu beschreiben. Da das literarische Museum (als konkreter Ort und als ‚Welt als Museum‘) durch Subjekte geprägt und gelesen wird, ist zu vermuten, dass die Krise des Subjekts im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts dessen Rolle als Motiv und Metapher beeinflusst. Schon in der Pariser Stadtliteratur (und den Pariser Straßen) des 19. Jahrhunderts kommen großstädtische Erfahrung und allge‐ meine Sinnkrise 865 zusammen. Im „monde-magasin“ und „monde-Musée“ 866 , den Pariser Passagen, Kaufhäusern und Museen, zeigen sich flâneurs, badauts, rentiers und andere (meist männliche 867 ) boulevardiers - die alle wiederum auch eine oberflächliche Sichtbarkeit zur Schau tragen: La conjonction d’un vide avec un autre vide, […] ou d’un être ‚plat‘ avec un habitat ‚plat‘ soumis à la seule ‚valeur d’exposition‘, peut créer une sorte d’hyperbole de vacuité, de déflation sémantique au carré. Une population de spectateurs sans ‚volume‘, sans mémoire ni culture, ‚hébétés‘, ‚plats‘, ‚laminés‘, semble envahir la littérature. 868 Anhand der den erzählten Raum bevölkernden Figuren zeigt sich somit eine Deckung von Ausstellungsarchitektur und Ausstellungsdasein. 4 Ästhetik literarischer Musealität 169 <?page no="170"?> 869 Am Ende des Père Goriot blickt Rastignac vom Friedhof Père-Lachaise auf die Stadt, die „tortueusement couché“ vor ihm liegt, und fordert sie mit diesen Worten gleichsam heraus. Vgl. Balzac: Le Père Goriot, S.-290. 870 Dies belegen zahlreiche literarische Beispiele, die sich auf diese Passage beziehen - es handelt sich in dieser Hinsicht um eine Schlüsselszene zum modernen Subjekt-/ Welt‐ verhältnis (vgl. u.-a. Kap. III.3.3.2. u. IV.3.3.2.4.). 871 Vgl. Peter Bürger: Prosa der Moderne, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1988, S. 162, der die voyance Rimbauds nicht nur als poetologisches Prinzip versteht, sondern auch als „Teil eines Lebens- und Gesellschaftsprojekts“. 872 Zima: Das literarische Subjekt, S.-3. 873 Vgl. Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-30. 874 Charles Baudelaire: Mon cœur mis à nu [1887], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 676-708, hier: S. 707; vgl. dazu Rémi Labrousse: „Baudelaire, le Louvre et l’idée de musée“, in: L’année Baudelaire, 3, 1997, S. 83-102, hier: S. 89, sowie Antoine Companon: „Littérature française moderne et contemporaine. Histoire, critique, théorie“, in: L’annuaire du Collège de France, 108, 2008, S.-723-739, hier: S.-730. Zwei emblematische Sätze illustrieren die zunehmende Subjektkrise: Das „A nous deux maintenant“, das Rastignac am Ende des Père Goriot der Stadt entgegenschleudert 869 , zeigt einen selbstbewussten, zentralisierenden Stadt- und Weltzugriff, der in der Folge erodiert. 870 Rimbauds „JE est un autre“ 871 bildet hierzu einen Gegenpol: Das Ich „in seiner Zerrissenheit und Heterogenität“ ist kein „Zufluchtsort“ 872 mehr. Vor dem Hintergrund dieser Krise vermag das Mu‐ seum als zentralisierende, ordnende Institution Gewissheiten zu bieten. Doch dessen identitätsstiftende, im bürgerlichen Sinne „zivilisierende“ Funktion 873 stößt an Grenzen, sobald sich das Museum neuen Publikumsschichten öffnet: Die Konventionen des Orts sind nicht jedem bekannt, und die Objekte sprechen nicht zu allen gleich, wie folgende Episode aus Baudelaires Mon cœur mis à nu illustriert: Tous les imbéciles de la Bourgeoisie qui prononcent sans cesse les mots : ‚immoral, immoralité, moralité dans l’art‘ et autres bêtises, me font penser à Louise Villedieu, putain à cinq francs, qui m’accompagnant une fois au Louvre, où elle n’était jamais allée, se mit à rougir, à se couvrir le visage, et me tirant à chaque instant par la manche, me demandait, devant les statues et les tableaux immortels, comment on pouvait étaler publiquement de pareilles indécences. 874 Baudelaire benennt hier drei Bewertungsinstanzen des Museums: die Prostitu‐ ierte, die über die vermeintlich obszönen Aktdarstellungen im Museum scho‐ ckiert ist, den bürgerlichen Moralbegriff, den er mit jenem der Prostituierten gleichsetzt - und schließlich sich selbst als Vertreter und Einordner der Kunst, sowie als (überlegener) Bewerter der anderen Besucher. 875 Neben der Kritik des 170 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="171"?> 875 Vgl. auch eine ähnliche Passage am Anfang von Charles Baudelaire: Le Peintre de la vie moderne [1863], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 683-724, hier: S. 683: „Il ya dans le monde, et même dans le monde des artistes, des gens qui vont au musée du Louvre, passent rapidement, et sans leur accorder un regard, devant une foule tableaux très intéressants quoique de second ordre, et se plantent rêveurs devant un Titien ou un Raphael […], puis sortent satisfaits, plus d’un se disant: ‚Je connais mon musée‘.“ 876 Theodor W. Adorno: „Valéry Proust Museum“, in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2003, S.-181-194. 877 Vgl. Claude Foucart: „Le musée devenu source de sensualité: Proust et Valéry“, in: Études de Lettres, 1/ 2, 2000, S. 169-180. Vgl. auch Kunihiro Arahara: „Proust et les deux Louvre, de 1895 aux années vingt“, in: Nathalie Mauriac Dyer u. a. (Hg.): Proust: Face à l’héritage du XIXe siècle: Tradition et métamorphose, Paris: Sorbonne Nouvelle 2012, S.-121-132. 878 Vgl. Paul Valéry: „Le Problème des musées“ [1923], in: ders.: Œuvres, II, Édition établie et annotée par Jean Hytier, Paris: Gallimard 1960, S. 1290-1293. Valérys Titel lässt sich zweifach verstehen: Er meint das problematische Museum, aber auch das Museum als (Denk-)Problem, dem sich Valéry auch in seinen Texten zur Weltausstellung gewidmet hat (vgl. Kap. II.3.1.1.1.). Vgl. auch Poulot: Musées et muséologie, S.-52. 879 Valéry: „Le Problème des musées“, S.-1290. 880 Vgl. ebd., S.-1291: „L’oreille ne supporterait pas d’entendre dix orchestres à la fois.“ 881 Ebd., S.-1290-1291. 882 Ebd. bürgerlichen Museumsbesuchers fällt hier auf, dass das Museum angesichts sehr unterschiedlicher Besucher nicht mehr normierend wirkt; vielmehr bildet es eine frühe contact zone (vgl. Kap. II.4.2.1.1.3.) - inklusive damit verbundener Reibungen. Die Museumsbilder Valérys und Prousts, von Adorno miteinander vergli‐ chen 876 , beschreiben noch stärker als Baudelaire das individuelle Empfinden des Besuchers als Dreh- und Angelpunkt des Museumsbesuchs. 877 Valéry macht in seiner prominenten Museumskritik Le Problème des musées (1923) besagtes ‚Problem‘ im Zusammenwirken von Subjekt und Museum aus. 878 Dieses ergibt sich für ihn sowohl aus dem Ort wie aus der Disposition des Besuchers. Das Mu‐ seum ist zunächst ein Ort der Gängelung: Man nimmt ihm den Spazierstock ab und untersagt ihm das Rauchen. Es folgt eine Überforderung aufgrund zu vieler Statuen „dans un tumulte de créatures congelées“, deren Zusammenstellung er als „mélange inexplicable“ 879 beschreibt. Auch in der Gemäldegalerie beobachtet er dieses ‚Zuviel‘ 880 - und ist unsicher, ob der Ort zwischen „salon“, „cimetière“ und „école“ zum Lernen oder zu seinem „enchantement“ dienen soll. 881 Doch auch der kritische Blick des Besuchers, der durch das Museum gerade erzeugt wird, nimmt den Dingen ihre auratische Wirkung: „C’est un paradoxe que ce rapprochement de merveilles indépendantes mais adverses, et même qui sont le plus ennemies l’une de l’autre, quand elles se ressemblent le plus“ 882 . So wird das 4 Ästhetik literarischer Musealität 171 <?page no="172"?> 883 Ebd., S.-1292-1293. 884 Vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-108. 885 Valéry: „Le Problème des musées“, S.-1293. 886 Adorno: „Valéry Proust Museum“, S.-188. 887 Ebd., S.-191. 888 Ebd., S.-189 889 Ebd., S.-188. Museum zum Feind der Kunst, der die Kunstwerke beschneide - eine Einsamkeit und Oberflächlichkeit erzeugende Erfahrung: Si vaste soit le palais, si apte, si bien ordonné soit-il, nous nous trouvons toujours un peu perdus et désolés dans ces galeries, seuls contre tant d’art. La production de ce millier d’heures que tant de maîtres ont consumées à dessiner et à peindre agit en quelques moments sur nos sens et sur notre esprit […]. Nous devons fatalement succomber. Que faire-? Nous devenons superficiels. 883 Valérys Museumskritik ist auch eine Kritik an der Moderne und der Zerstreuung des Menschen durch das Nebeneinander von Dingen und Medien. 884 Das ge‐ wissermaßen ‚parataktische‘ Erzählen des Museums wird dem Besucher nicht gerecht, dessen Zeit nicht mit der des Museums und der des Objekts (vgl. Kap. II.4.2.2.1.2.) zusammenfindet: „Nous sommes, et nous nous mouvons dans le même vertige du mélange, dont nous infligeons le supplice à l’art du passé.“ 885 Für Adorno ist Valéry ein „Sachverständiger“, wogegen er Proust als „Lieb‐ haber“ des Museums bezeichnet. 886 Erkennt er bei Valéry eine „Fetischisierung des Objekts“, so bei Proust eine „Vernarrtheit des Subjekts“. 887 Proust habe, so Adorno, sich ein Stück Kindheit gerettet; ihm gegenüber spricht Valéry wie ein Erwachsener. Weiß dieser etwas von der Macht, die Geschichte über Produktion und Apperzeption der Werke hat, so weiß Proust, daß Geschichte im Innern der Kunstwerke selbst gleichwie ein Verwitterungsprozess waltet. 888 Proust passe besser ins Museum, da sein empathischer Blick auf die Kunstwerke ein „Flanieren“ durch die Ausstellung erlaube; er habe die Fähigkeit, diese Haltung des Konsumenten - auch die dessen, der im Leben selber als Zuschauer sich geriert - so unbeirrt einzunehmen, bis sie umschlug in einen neuen Typus der Produktivität, bis die Kraft der Kontemplation des Inwendigen und Auswendigen sich steigerte zum Eingedenken, zur unwillkürlichen Erinnerung. 889 Proust - verstanden mit Adorno - sieht eine Verbindung zwischen Kunst und Leben, das sich der Vergänglichkeit bewusste Ich und das Museum gelangen in 172 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="173"?> 890 Vgl. Groys: Logik der Sammlung, S. 10: „Wenn erst die Musealisierung im Kunstmuseum aus einem Ding ein Kunstwerk macht, kann jedes beliebige Ding zum Kunstwerk werden. Dazu wird nur die Entscheidung gebraucht, die die künstlerische Subjektivität hinsichtlich dieses Gegenstandes trifft. Das moderne Museum ist also der Ort, an dem sich die moderne Subjektivität als solche unmittelbar manifestiert - jenseits der Arbeit, des Werks, der Selbstobjektivierung, der Entfremdung.“ 891 Gfrereis: „Nichts als schmutzige Finger“, S.-82. 892 Vgl. Huysmans: À rebours, S. 551. Baudelaires gleichnamiges Prosagedicht aus dem Band Spleen de Paris stellt Des Esseintes als eines seiner poèmes fétiches aus. 893 Baudrillard: Le système des objets, S.-121; vgl. Bielecki: The Collector, S.-88-89. 894 Vgl. Baudrillard: Le système des objets, S. 121: „l’objet pur, dénué de fonction, ou abstraite de son usage, prend un statut strictement subjectif “. Deckung. In der Kontemplation, dem Blick auf das einzelne Kunstwerk, werden museale Konventionen und ‚Gängelung‘, und damit das Problem des Museums obsolet. Das Subjekt-Museum-Verhältnis entspannt sich spätestens mit den Avant‐ garde-Bewegungen, und noch mehr im Laufe des 20. Jahrhunderts (wenigstens für jene, die es besuchen). Denn nun bewerten nicht nur die Besucher das Museum, sondern auch Museum und Künstler sich selbst 890 , der museale Nor‐ mierungsanspruch schwächt sich wenigstens vordergründig ab (vgl. Kap. II.2.1). Das Museum bietet weniger Ordnung und Orientierung, dafür Dialog und Denkansätze, und welche Rolle der Besucher darin einzunehmen hat, bestimmt auch er selbst: Im Museum als contact zone seien wir, so Gfrereis, „Mystiker, Voyeure, Kriminalisten und reine Ästheten zugleich.“ 891 Wie die vorgestellten Beispiele zeigen, können Subjekt-Museum-Konstella‐ tionen Aufschluss über die Disposition des Subjekts und sein Verhältnis zur Kunst, aber auch zum Leben geben - was besonders dann sichtbar wird, wenn diese Deckung sich nicht einstellt (vgl. Kap. III.5.1.). Subjekt und ‚Welt als Museum‘ Das Verhältnis von Subjekt und Museum kommt auch in der ‚Welt als Museum‘ und in der Sonderform der maison-musée zum Tragen. Anders als Baudelaire, der sich das öffentliche Museum mit der verhassten bourgeoisie teilen muss, erschafft sich Huysmans’ Des Esseintes sein eigenes Museum, weit draußen vor Paris, oder, wiederum mit Baudelaire: „Any where out of this world“. 892 Des Esseintes ist ein prototypischer Sammler nach Baudrillard, dessen Sammlung „d’une entreprise de totalisation abstraite du sujet par lui-même en dehors du monde“ 893 entspringt. Sein Sammlerblick ordnet die ganze Welt nach seinem Bewusstsein 894 , weshalb in seiner maison-musée Ich und museale Weltrepräsen‐ tation in Deckung gelangen. Durch seinen durch und durch musealisierenden 4 Ästhetik literarischer Musealität 173 <?page no="174"?> 895 Vgl. Huysmans: À rebours, S.-640. 896 Vgl. ebd., S. 642. Dass Des Esseintes sich hier inmitten „les créatures de Dickens“ (ebd.) fühlt, macht aus dem Abschnitt nicht nur eine Ausstellungsszene, sondern sogar eine Literatur-Ausstellungsszene. 897 Vgl. Bourgeois: Poétique de la maison-musée, der dies unter dem Titel „poétisation du monde“ fasst (S. 249), sowie Rohde: Konfigurationen krisenhafter Wahrnehmung, S.-107-110. 898 Vgl. Zima: Das literarische Subjekt, S.-20. 899 Peter Sloterdijk: „Schule des Befremdens“ [1989], in: Walter Grasskamp (Hg.): Sonder‐ bare Museumsbesuche von Goethe bis Gernhardt, München: C.H. Beck 2006, S. 188-190. Vgl. dagegen Grasskamp: „Die Welt als Museum? “, S. 295, der die Metapher von der ‚Welt als Museum‘ problematisch sieht, um eine Weltentfremdung des Subjekts zu beschreiben; das Museum sei gerade eine Institution der Sinnstiftung, die mit Hinweisschildern Ordnung in die Objektsammlung bringe. Einzuwenden ist, dass diese Ordnung jedoch künstlich erzeugt ist, und damit gerade Ausgeschlossenheit erzeugen kann. Blick zeigt sich ihm aber auch die ‚Welt als Museum‘. Bei dem Versuch einer Reise nach London, die schon in einer Kneipe in Paris endet, unterliegen die Stadt und ihre Fassaden seinem selektiven Blick. In dem Geschäft sieht er sich einen Baedeker-Reiseführer über London und dessen Museen an 895 , und der Besuch eines Restaurants und einer Taverne in Paris tragen durchweg museale Züge. 896 Er bricht das Unternehmen schließlich ab, da der Kneipenbesuch, wo er das Geschehen wie ein Außenstehender betrachtet, ihm die geplante Reise ersetzt - das ‚mittelbare‘ Erleben verschafft ihm einen ausreichenden (Kunst-)genuss. 897 Hier wird alles zur musée-monde 898 , wohingegen das öffentliche Museum für das Subjekt in der Krise schlicht keine Rolle spielen kann (ebensowenig wie der touristische Besuch einer europäischen Hauptstadt). Der musealisierende Blick Des Esseintes’ lässt sich in einer Traditionslinie bis zu den hier behandelten Texten der Gegenwartsliteratur verfolgen, in Form einer Wahrnehmung der ‚Welt als Museum‘, die Sloterdijk als Krisensymptom beschreibt: Es gibt Tage, an denen das Gefühl der Zugehörigkeit zur Welt verblaßt. […]. Dasein heißt in diesem Augenblick, umzingelt zu sein von Dingen, die uns nichts angehen. […] Wer eine solche verrückte Pause durchlebt, geht gewissermaßen zu einer onto‐ logischen Vernissage, wo die Welt sich selbst ausstellt […]. In den Ekstasen der Langeweile, des Sinnlosigkeitsgefühls und des Überdrusses wird die Welt selbst zur Weltausstellung - alles Bekannte und Sichtbare scheint wie in ein Weltmuseum versetzt, von dem wir uns nicht erinnern können, es betreten zu haben. 899 Sloterdijk bezieht sich zwar auf die bei Camus verhandelte existenzialistische Krise, mit gleichem Recht könnte man die Beschreibung aber auf Des Esseintes 174 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="175"?> 900 Vgl. auch Susanna Frings: „A la recherche de l’homme perdu“. Literarische Ethik in den Romanen von Jean Echenoz, Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq, Heidelberg: Winter 2014. Frings diagnostiziert in ihrer Untersuchung einen „gestörten Selbst- und Weltbezug“ (S.-3) in den Texten Jean Echenoz’, Toussaints und Houellebecqs. 901 Vgl. Zima: Das literarische Subjekt, S.-41. 902 Vgl. ebd., S.-26, sowie Hamon: Le personnel, S.-15. 903 Biron: „L’effacement du personnage contemporain“, S. 27: „Ainsi le roman semble redevenir ce qu’il a toujours été: le combat de l’individu dans le monde. Le personnage romanesque reprend naturellement sa place après avoir été brièvement congédié par le Nouveau Roman.“ 904 Vgl. etwa Ernaux’ Journal du dehors, einer Sammlung von Alltagsbeobachtungen, in der fast leitmotivisch Formen der exposition oder der exhibition im öffentlichen Raum sowohl unter Klassen-Aspekten („manifester son statut social par l’énumération et l’exhibition de ce qu’elle consomme“, S. 42) als auch unter gender-Gesichtspunkten aufgegriffen werden: „Geste insupportable à voir, forme déchirante de la dignité : exposer qu’on est un homme.“ (S.-36). 905 Vgl. Biron: „L’effacement du personnage contemporain“, S. 28-29: „La dépression déplace radicalement la vieille opposition entre l’individu et la société.“ oder einige Figuren der nouveaux romans beziehen. 900 Dennoch zeigt sich in dieser Reihe ein wandelnder Bezug zum réel: Zwar teilen Protagonisten der nouveaux romans ihre Abkehr von bürgerlichen Werten und Lebenswelten mit Baudelaire oder Huysmanns. 901 Findet aber der Welt-Entzug Des Esseintes’ in der maison-musée ihren Ort, und gehen Ich und (abgelehnte) Welt so eine Art negative Deckung ein, so stellt sich etwa in Robbe-Grillets Le Voyeur das Alltagserleben insgesamt als ‚ontologische Vernissage‘ dar - die ‚Unbehaustheit‘ Mathias’ ist eine viel grundsätzlichere. Die Abkehr vom naturalistischen Roman 902 wurde im Zuge eines in den 1990er Jahren proklamierten retour du réel teilweise wieder revidiert, dies jedoch unter neuen Vorzeichen: Selbst in ‚realistischen‘ Romanen wie jenen Houelle‐ becqs unterscheidet sich das Weltverhältnis in vielem von jenem der Figuren Balzacs, Flauberts oder Zolas, wie Biron festhält: Sie zeigten „l’émancipation de l’individu dans un combat gagné d’avance sur la société[.] Le personnage réaliste traditionnel était en lutte contre sa société. Peut-on en dire autant du personnage réaliste contemporain ? “ 903 Freilich ließen sich für diese These Ge‐ genbeispiele finden - vor allem in Texten, die postkoloniale oder gender-Fragen ins Zentrum rücken: Die Diskrepanz von Individuum und Gesellschaft wird etwa in den Werken Annie Ernaux’ mehr als deutlich, und auch hier geht eine die Umwelt musealisierende Wahrnehmung daraus hervor. 904 Bezogen auf die literarischen Protagonisten der hier behandelten Autoren Houellebecq und Toussaint erscheint die Beobachtung jedoch zutreffend (vgl. Kap. III.4.1.1.1., Kap. IV.3.1.). 905 4 Ästhetik literarischer Musealität 175 <?page no="176"?> 906 „The artist is present“ lautete der Titel einer Performance Marina Abramovićs 2010 im New Yorker MoMA, welche die Selbstausstellung der Künstlerin und den durch das Museum erzeugten Starkult aufgriff. Unter zunehmenden Schmerzen saß die Künstlerin fast drei Monate lang täglich acht Stunden im Museum auf einem Holzstuhl. Besucher konnten sich ihr gegenübersetzen und ihr direkt in die Augen sehen - eine intensive Erfahrung, die viele in Tränen ausbrechen ließ. 907 Rupi Kaur: Milk and Honey, Kansas City: Andrews McMeel Publishing 2015, S.-100. 908 Vgl. Sascha Seiler: Zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Das Verschwinden in der Literatur der Moderne und Postmoderne, Stuttgart: Metzler 2016. 909 Diese Interpretation setzt sich von Ansätzen ab, die Baudelaire (vs. z. B. Rimbaud) als ‚werkzentrierten‘, nicht ‚subjektzentrierten‘ Künstler sehen, so Bürger: Prosa der Moderne, S.-159. 910 Vgl. Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, der Baudelaire als einen der ersten „Aus‐ stellungskünstler“ im literarischen Feld sieht, u. a., da dieser penibel auf die korrekte Schreibung seines Namens geachtet (ebd., S. 177) und seine Berichte von den Salons auch genutzt habe, um seine „öffentliche Position“ in Paris zu behaupten (ebd., S. 179). Vgl. zum Begriff der posture Kap. II.2.6. 911 Baudelaire: „Le Cygne“, in: ders.: Les Fleurs du Mal, S.-86. 912 Vgl. Hamon: -„Ecrire le Louvre“, S.-527. 4.1.1.3 „The artist is present“ 906 vs. La mort de l’auteur Blickt man auf die Musealität nicht nur der erzählten Welt, sondern der Erzäh‐ lung insgesamt (mit Hamon: „le texte […] devient Musée“, vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.), und versteht man Literatur im Kontext eines literar-musealen Dispositivs, so ist auch die Dimension der Autorschaft zu berücksichtigen, ihre Thematisierung und das oft selbstreferenzielle Spiel mit ihr. i am a museum full of art but you had your eyes shut 907 Dieses Kurzgedicht der indisch-amerikanischen Künstlerin Rupi Kaur erzählt vom Nicht-Wahrgenommenen-Werden; durch den Gestus der Selbstbehaup‐ tung, aber auch durch seine Veröffentlichungsform (erst auf Instagram, dann im Buch) widerlegt es allerdings diese Unsichtbarkeit. Es steht damit für eine Position zwischen Anwesenheit und Abwesenheit des Autor(inn)en-Ichs 908 , die auf ganz andere Weise schon in der Lyrik Baudelaires sichtbar wird. 909 In dessen Gedicht Le Cygne, wie bei Kaur, greifen Lyrisches Ich, posture der Autorenfigur 910 und ‚Welt als Museum‘ ineinander. Hier geht die zeichenhafte Wahrnehmung der Stadt mit einer krisenhaften Subjektdisposition einher. Der ‚ewig melan‐ cholische‘ Dichter („Paris change ! mais rien dans ma mélancolie / N’a bougé ! palais neufs, échafaudages, blocs, / Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie“ 911 ) rückt als Aufzeichnungsmedium in den Vordergrund und somit in Konkurrenz zum ewigen Monument 912 , aber auch zur bewegten Stadt, welche 176 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="177"?> 913 Baudelaire: „Le Cygne“, in: ders.: Les Fleurs du Mal, S. 86; vgl. zu dem Gedicht im Kontext der Umgestaltung des Louvre zu Zeiten Baudelaires Westerwelle: Baudelaire und Paris, S.-204-211. 914 Hamon: Imageries, S.-115. 915 Vgl. Wetzel: Der Autor-Künstler, S. 125: „Autorschaft ist eine durch und durch bürger‐ liche Idee. Die sie prägenden Momente von Individualität, Kreativität, Authentizität, Originalität, Spontaneität, aber auch Produktivität und Werkherrschaft setzen zweierlei voraus: ‚Bildung‘, um sich des unterstellten intellektuellen Niveaus elitärer Exzellenz als würdig zu erweisen, und ‚Macht‘, um der impliziten oder expliziten Nobilitierung Anerkennung zu verschaffen.“ 916 Wetzel: Der Autor-Künstler, S. 62; vgl. Catherine Francblin: „Auteur“, in: Damien Sausset u.-a. (Hg.): L’ABCdaire de l’art contemporain, Paris: Flammarion 2003, S. 30-31. 917 Vgl. Sarraute: L’ère du soupçon, S. 60: „Et, selon toute apparence, non seulement le romancier ne croit plus guère à ses personnages, mais le lecteur, de son côté, n’arrive plus à y croire“. 918 Vgl. dazu Bal: Narratology, S.-30. mindestens so starke Bilder wie der Louvre bereithält („Aussi devant ce Louvre une image m’opprime“ 913 ). Die Literatur des Autors, der die Straße betritt, bedeute, so auch Hamon, die exposition d’un double savoir : un savoir sur les choses, sur le monde, ou sur les mœurs […], et un savoir-faire stylistique qui passe par la fabrication d’‚images‘ (à lire) destinées à concurrencer les images à voir du musée. 914 Diese auf die Literatur des 19. Jahrhunderts bezogene Beobachtung lässt sich in der Folge nicht mehr halten. Wie das bürgerliche Museum in die Krise gerät, so auch ein auf ‚Bildung‘ und ‚Macht‘ fußender 915 Autorschaftsbegriff, sowie dessen Bindung an einzelne Künste. Spätestens mit den Avantgarden verwischt die Grenze zwischen Literaten und anderen Künstlern und Künsten immer mehr: Wetzel erkennt eine Auflösung von Strategien der Autorschaft und des Künstlertums, wobei sie gegeneinander ausge‐ spielt, verkehrt, invertiert und pervertiert werden: Künstlertum als Autorschaft (indem nicht mehr die Werke, sondern nur ihre Beschreibungen oder Konzepte geliefert werden), Autorschaft als Künstlertum (indem die Argumentation im Objekt verdichtet wird). 916 Auch in der Literatur wird Autorschaft hinterfragt, etwa im Zuge des Nou‐ veau Roman. Nathalie Sarraute problematisiert in L’ère du soupçon (1956) die Beziehung zwischen literarischer personnage, Autor und Leser als gestörtes Vertrauensverhältnis 917 ; literarisch übersetzt sich dieses Misstrauen etwa in Michel Butors Kunstgriff in La Modification, die Leserschaft durch konsequenten Einsatz der zweiten Person Singular direkt anzusprechen und so zu irritieren. 918 4 Ästhetik literarischer Musealität 177 <?page no="178"?> 919 Diese Grenze formuliert Genette folgendermaßen: „un récit de fiction est fictivement produit par son narrateur, et effectivement par son auteur (réel) ; entre eux, personne ne travaille, et toute espèce de performance textuelle ne peut être attribuée qu’à l’un ou l’autre, selon le plan adopté“ (Gérard Genette: Nouveau Discours du récit, in: des.: Discours du récit, Paris: Seuil 2007 [1983], S. 291-435, hier: S. 408), zit. auch von Ulrike Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘. Les enjeux de l’intrusion de l’auteur-narrateur dans Made in China“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint, Bruxelles: Les Impressions Nouvelles, 2020, S.-181-193, hier: S.-192, die diese These anhand der Texte Toussaints hinterfragt. 920 Vgl. Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S.-308. 921 Wetzel: Der Autor-Künstler, S.-11. Vgl. auch Efimova: „Einleitung“, S.-2. 922 Vgl. Wetzel: Der Autor-Künstler, S.-212 (vgl. auch Kap. II.1.1.). 923 Roland Barthes: „La Mort de l’auteur“ [1967], in: ders.: Le Bruissement de la langue, Paris: Éditions du Seuil 1984, S.-61-67. 924 Wetzel: Der Autor-Künstler, S.-9. Solche Verfahren hinterfrage die Grenze zwischen Autor und Erzähler (bei Butor: auch Leser). 919 Lässt ein Blick auf Text und Kontext den Autor als autonomes Subjekt eher zurücktreten, so rückt eine medienüberschreitende Perspektive (im Sinne einer néolittérature) ihn als verbindendene Instanz wieder in den Fokus und macht ihn zum eigentlichen Zentrum eines Gesamtwerks (vgl. Kap. II.1.2.) 920 - dafür wäre auch Rupi Kaur ein Beispiel. Zudem treten bekannte Autoren nicht nur durch ihre Texte und ihr künstlerisches Schaffen in die Öffentlichkeit, sondern auch als eventisierte, öffentliche Personen: Erwartungen des Buchmarktes, die sich metonymisch z. B. auf […] den ‚neuen Houellebecq‘ richten, funktionieren nicht anders wie Ausstellungen mit dem ‚neuen Richter‘ oder ‚neuen Gursky‘ als Versprechungen einer bestimmten Qualität, ähnlich wie die bei einem Bordeaux-Kenner durch Namen wie Château La Lagune oder Prieure Lichine ausgelöste Reaktion. 921 Dieser mit Etiketten versehene ‚Ausstellungskünstler‘ 922 ist zugleich Symptom und Profiteur einer ‚Ausstellungsgesellschaft‘. Zunächst im Widerspruch dazu scheint das - auch für die hier behandelten literar-musealen Komplexe - wirkmächtige Schlagwort von ‚Tod des Autors‘ 923 zu stehen, doch schon die ‚Sichtbarkeit‘ dieser Formel lässt eigentlich nur einen Schluss zu: „Der Autor hört nicht auf zu sterben, was gleichbedeutend wird mit seiner ständigen Wiederkehr“ 924 . Auf eine Theorie des ‚Ausstellungskünstlers‘ anwendbar wird Barthes’ Ansatz, wenn man berücksichtigt, dass La mort de l’auteur nicht nur gegen den Autor, sondern auch für den offenen Text, die intertextuelle Verflechtung, argumentiert: 178 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="179"?> 925 Vgl. Barthes: „La Mort de l’auteur“, S.-65. 926 Wetzel: Der Autor-Künstler, S.-36. 927 Vgl. ebd. 928 Vgl. ebd., S.-37. 929 Vgl. Katharina Hoins u. Felicitas von Mallinckrodt: „Der dritte Ort. Neuer Materialismus und Museum“, in: Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hg.): Das Museum als Provokation der Philosophie. Beiträge zu einer aktuellen Debatte, Bielefeld: transcript 2018, S. 199-213. 930 Kimmich unterscheidet etwa zwischen „Artefakten“ (vom Menschen geschaffen) und „Naturdingen“; vgl. Kimmich: „Dinge in Texten“, S. 23. Déotte (und ihm nachfolgend Bourgeois) bevorzugen für musealisierte Dinge den Sammelbegriff des expôts, welcher den Vorteil hat, den Status des ausgestellten schon mit zu signalisieren und nicht zwischen „Artefakten“ und „Naturdingen“ unterscheiden zu müssen. Vgl. Déotte: Le Nous savons maintenant qu’un texte n’est pas fait d’une ligne de mots, dégageant un sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le ‚message‘ de l’Auteur-Dieu), mais un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle : le texte est un tissu de citations, issues des milles foyers de la culture. 925 La mort de l’auteur meint also „den antiautoritären Pathos der Entthronung“ des allmächtigen Autors und „die mit diesen avantgardistischen Künstlerkollegen geteilte Suche nach alternativen Schreib- und Leseweisen“ 926 - was auch andere mediale Ausdrucksformen impliziert. Wetzel erinnert daran, dass Barthes’ Aufsatz 1967 zuerst in einer Ausgabe der Avantgarde-Zeitschrift Aspen erschien, in Nachbarschaft zu Texten von Duchamp, Robbe-Grillet, Butor, Beckett und John Cage 927 - Künstlern also, deren Ästhetik nicht nur von Abwesenheiten, Leerstellen und Schweigen geprägt ist, sondern die auch Mediengrenzen aus‐ loten. Das Schlagwort ist vor diesem Hintergrund auch im Zusammenhang mit einer avantgardistischen Auflösung des Subjekts und einer Entgrenzung des Textes zu verstehen. Zwar geht der Autor als Originalgenie zugrunde, ersteht aber im offenen Text wieder auf. 928 Aus diesem Blickwinkel lässt sich der ‚Tod des Autors‘ mit einer eventisierten Literatur hors du livre zusammenführen - und mit Autorenbildern, die sich über mehrere Texte oder Medien erstrecken. 4.1.2 Objekte und Materialität Mit Blick auf das Museum muss die Dimension literarischer Objekte und Materialität weit gefasst werden: nicht (primär) bezogen auf Kunstgegenstände, sondern auf Dinge als Ausprägungen materieller Kultur 929 , ‚Gegenstände‘ im weiteren Sinn - denn auch Gebrauchsgegenstände werden in Sammlung und Museum zu Exponaten 930 umgewidmet und ihrer Alltagsfunktionen entbunden. Auch über die Kategorie des ‚Objekts‘ ist hinauszudenken, denn die Literatur 4 Ästhetik literarischer Musealität 179 <?page no="180"?> musée, sowie Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S. 36; vgl. Caraion: „Objets en littérature“, S.-11; Baudrillard: Le système des objets, S.-121-122. 931 Vgl. Pety: Poétique de la collection, S. 143-193 (Kap. „Le roman comme système des objets“); vgl. zur Hinwendung zum Material im 20.-Jahrhundert Nierhaus: „Schwellen. Von der Dingfülle zur Materialdichte“, S.-32. 932 Vgl. z. B. den Beginn des Père Goriot: „Pour expliquer combien ce mobilier est vieux, crevassé, pourri, tremblant, rongé, manchot, borgne, invalide, expirant, il faudrait en faire une description qui retarderait trop l’intérêt de cette histoire, et que les gens pressés ne pardonneraient pas.“ Balzac: Le Père Goriot, S.-54. 933 Vgl. zu diesen und anderen Beispielen, welche sich durch „[une] insistance sur le concret, sur la dimension matérielle“ auszeichnen, auch Viart: „Introduction. Écrire le présent “, S.-32. 934 Der Text „Le Plastique“ ist darüber hinaus interessant, weil er mit einer Ausstellungs‐ szene anhebt: Beschrieben wird eine auf einer Messe, die vor den Augen des Publikums Plastik produziert - ein Hinweis auf die zunehmende Bedeutung dieses Materials, fast schon eine Musealisierung. Vgl. Roland Barthes: „Le Plastique“, in: ders.: Mythologies, Paris: Points 1970 [1957], S. 171-173, hier: S. 171. Vgl. Mireille Raynal-Zougari: „Intro‐ duction“, in: dies. (Hg.): Le rêve plastique des écrivains, Rennes: PUR 2017, S.-9-18, hier: S.-9. 935 Vgl. Barthes: „Jouets“, in: ders.: Mythologies, Paris: Points 1970 [1957], S. 58-60, hier: S.-60. 936 Alain Robbe-Grillet: „Une voie pour le roman futur“ [1956], in: ders.: Pour un nouveau roman, Paris: Gallimard 1963, S.-17-27, hier: S.-21. interessiert sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend für das Material, die Beschaffenheit und die Oberflächen der Dinge. 931 Wo Balzac sich noch - wortreich - um das Interesse der Leserschaft sorgt, wenn er zu ausführlichen Objektbeschreibungen ansetzt 932 , wird Materialität selbst immer mehr zum Be‐ deutungsträger, man denke an die Dinggedichte Francis Ponges’ oder François Bons Autobiographie des objets. 933 Auch einige Texte in Barthes’ Mythologies (1957) widmen sich der Materialität der Dinge und laden diese mit Bedeutung auf, so „Le Plastique“ („plus qu’une substance, le plastique est l’idée même de la transformation infinie, il est […] l’ubiquité rendue visible“ 934 ) oder „Jouets“, wo der Wandel von Holz und Handwerk zu Plastik und Massenproduktion bedauert wird. 935 Dagegen rechtfertigt Robbe-Grillets Programmschrift des Nouveau Roman die Abwertung sinntragender Objekte im Text auch mit deren ‚bloßer‘ Materialität, wenn es heißt, die Oberfläche der Dinge sei „nette et lisse, intacte, sans éclat louche ni transparence“ 936 . So ist auch die ‚Materialebene‘ literarischer Objekte ein Differenzkriterium zur Beschreibung von Nouveau Roman, dessen Kritikern, Vorläufern und Nachfolgern. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden Aspekte literarischer Dingthematisierungen aufgeführt, die alle für literarische Musealität relevant sind, und die dabei dieses gewandelte Dingverhältnis beleuchten, wobei als zentrales Konzept der museologische Schlüsselbegriff des Semiophors am Anfang steht (Kap. II.4.1.21.). 180 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="181"?> 937 Vgl. zu Barthes und Pomian auch Scholze: Medium Ausstellung, S. 20; vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S. 158: „Pomian wandte die [semiotische] Theorie nicht auf Mode, Alltagsgegenstände oder die DS (Déesse) von Citroën an, sondern auf Me‐ dici-Vasen“; vgl. auch dies.: „Exponat“ in: Heike Gfrereis u. a. (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen: Wallstein 2015, S.-33-44, hier: S.-36. 938 Pomian: Collectionneurs, amateurs et curieux, S.-42-43. 939 Ganz ähnlich argumentiert auch Baudrillard in Bezug auf die Unterscheidung von Sammlungsobjekt und „nützlichem“ Objekt, vgl. Baudrillard: Le système des objets, S.-121. 940 Pomian: Collectionneurs, amateurs et curieux, S.-43. 941 Vgl. Ebd. 942 Ebd. 943 Vgl. ebd., S.-86. 944 Vgl. Angelika Franz: „Der Stoff, aus dem Geschichte wird“, in: Die Zeit, 28.1.2020, Nr. 5, S.-30. Unter dem Gesichtspunkt des Literaturausstellens ist außerdem relevant, wie Literatur auch ihre eigene Materialität zeigt (Kap. II.4.1.2.2.). 4.1.2.1 ‚Les choses‘: Semiophoren, sprechende Dinge In seiner Museumstheorie unterscheidet Krzystof Pomian 937 zwischen „choses, des objets utiles“, die einen Verwendungszweck besitzen („ils s’usent“) und Semiophoren, „des objets qui n’ont point d’utilité […], mais qui représentent l’invisible, c’est-à-dire sont dotés d’une signification“. Ein Objekt kann demnach zu einer Zeit und für einen Betrachter immer nur entweder chose oder semio‐ phore sein: „Car il n’est une chose que lorsqu’on l’utilise, mais alors on ne s’amuse pas à en déchiffrer la signification“ 938 - und umgekehrt. 939 Erfolgt die Erfahrung des Dings v. a. durch seine Verwendung („c’est la main qui met l’objet dans un rapport visible avec d’autres objets“), so ist das Erkennen des Semiophors eine Frage des Blicks („c’est le regard posé prolongé par une activité langagière, tacite ou explicite, qui établit un rapport entre l’objet et un élément invisible“ 940 ). Pomian folgert daraus, dass ‚Nützlichkeit‘ und ‚Bedeutsamkeit‘ sich ausschließen. 941 Sind Dinge weder nützlich noch bedeutungsbeladen, han‐ delt es sich um Abfall („ce ne sont plus des objets, ce sont des déchets“ 942 ), wobei auch sie durch Musealisierung durchaus zu Semiophoren transformieren werden können 943 - denken ließe sich als Beispiel an die Hinterlassenschaften der Trump-Anhängerschaft nach deren ‚Erstürmung‘ des Kapitols am 6. Januar 2020, deren verschmutzte Flaggen und laminierte Schilder mit Aufschriften wie „Stop the steal“ das National Museum of American History bereits wenige Tage später in seine Depots überführte. 944 Der Begriff Pomians wurde vielfach vereinfacht verwendet 945 und auch kritisiert. 946 Bemängeln lässt sich etwa die strikte Unterscheidung von ‚nützli‐ 4 Ästhetik literarischer Musealität 181 <?page no="182"?> 945 Wenn Westerwinter etwa zu Lenz’ Heimatmuseum schreibt, die masurischen Lehn‐ wörter vermochten es, „genau wie die Semiophoren eines Museums, etwas weit in der Zeit zurück und im Raum entfernt Liegendes in die Gegenwart zu holen“ (dies.: Museen erzählen, S. 40-41), so hinkt der Vergleich etwas, weil die materielle Dimension der Semiophoren nicht mitbedacht wird. 946 Etwa durch den Museologen Friedrich Waidacher; vgl. Stefanie Samida: „Semiophoren“, in: dies. u. a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2014, S.-249-252, hier: S.-251. 947 Vgl. ebd. 948 Vgl. Pomian: Collectionneurs, amateurs et curieux, S. 43; vgl. Ulrike Vedder: „Sprache und Dinge“, in: Stefanie Samida u. a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2014, S.-39-46, hier: S.-43. 949 Vgl. Pety: Poétique de la collection, S.-143-193. 950 Vgl. Kimmich: „Dinge in Texten“, S.-22. 951 Vgl. Barthes: „L’Effet de réel“; vgl. auch Vedder: „Sprache der Dinge“, S. 33: „Gerade weil Dinge […] scheinbar ohne Bedeutung sind, ‚bedeuten‘ sie Realität, kennzeichnen also das Gezeigte als wirklich und folgen damit einer Rhetorik des Dokumentarischen.“ 952 Caraion: „Objets en littérature“, S.-2. chen‘, aber ‚bedeutungslosen‘ Dingen und bedeutungstragenden Semiophoren - schließlich können auch Alltagsdinge herausfordern, provozieren oder be‐ drängen, und sind in diesem Sinn bedeutungsbeladen. 947 Gleichwohl ist das Konzept für die vorliegende Untersuchung relevant, weil es die Materialität des Dings mit der Sprache und seine Sichtbarkeit mit seiner Bedeutung zusam‐ menführt - und damit eine Art Mittlerinstanz bildet. 948 Es lässt sich nicht nur auf das museale Objekt anwenden, sondern kommt auch in der Literatur zum Ausdruck, wo solche ambivalenten Dingthematisierungen und -inszenierungen zur literarischen Musealität beitragen können, wie die folgenden Kapitel zeigen. 4.1.2.1.1 Literarische Bedeutungszuschreibung vs. Objektautonomie: Das Amulett Goriots Die mit dem Begriff der Semiophoren verbundene Vorstellung einer semanti‐ schen ‚Eigenständigkeit‘ des Dings ist ein zentraler Aspekt literarischer Thema‐ tisierungen von Objekten. 949 Seit dem 19. Jahrhundert sind erzählte Welten zunehmend von Alltagsgegen‐ ständen „möbliert“ 950 , die ursächlich für einen effet de réel sind, welcher sich aus dem Alltags- und nicht dem symbolischen Status der Objekte ergibt. 951 Im rea‐ listischen Roman tragen erzählte Dinge als Bestandteile der Raumausstattung dazu bei, ein „univers référentiel“ zu erzeugen, etwa ein bestimmtes Milieu zu zeigen 952 : Ainsi, l’objet se donne d’abord comme sincère, forme matérielle sans arrière-pensée, et donc excellent instrument pour fabriquer un espace de croyance. Non seulement 182 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="183"?> 953 Ebd., S.-5. 954 Vgl. Nitsch: „Topographien“, S.-32; gl. Kap. II.3.1.2.3. 955 Caraion: „Objets en littérature“, S.-2. 956 Vgl. Kimmich: Lebendige Dinge der Moderne, S.-17. 957 Denn auch Emma Bovary weiß, „was das ‚bedeutet‘“, so Kimmich: Lebendige Dinge der Moderne, S.-27. 958 Vgl. ebd., S. 18: „Dinge, Objekte und Artefakte sind also sowohl Zeichen als auch keine Zeichen. Ihre materielle Seite schließt den Zeichencharakter nicht aus, aktiviert ihn aber auch nicht in jedem Fall.“ 959 Balzac: Le Père Goriot, S.-289. exploité par le récit réaliste, l’objet sert aussi la construction du pacte de vérité dans des textes non-référentiels. 953 Für literarische Musealität ist diese Erzählfunktion insofern relevant, als Dinge - besonders „hypersignes“ wie Schaufenster oder Plakate - selbst expositorisches Potential besitzen können und Bedeutungen transportieren. 954 Somit kann Objekten auch in der Erzählung schon eine bedeutungstragende Funktion zugesprochen werden: nicht nur als „supports signifiants aux person‐ nages et l’action“ 955 - Dinge, an die man sich nach dem Lesen noch erinnern wird, und die im Text eine ‚symbolische‘ Qualität besitzen -, sondern auch als ‚Dinge an sich‘ und als autonome Instanzen. 956 Wenn Emma Bovary nach ihrer Hochzeit mit Charles den vertrockneten Brautstrauß ihrer Vorgängerin vorfindet, bedarf dies keiner weiteren Auslegung. 957 Beide Funktionen müssen einander nicht ausschließen: Neben einer illustrativen Funktion und einem in‐ nerliterarischen ‚Verwendungszweck‘ kann mit Kimmich ein Objekt zusätzliche symbolische Funktionen besitzen - so ja auch erwähnter Brautstrauß. 958 Als weiteres Beispiel sei eine Passage des Père Goriot herangezogen: Nach dem Tod des Vaters Goriot bemächtigt sich die Witwe Vauquer eines goldenen Medaillons, der Haarlocken seiner Töchter enthält. Rastignac empört sich, wie sie dieses Goriot so wichtige Objekt an sich nehmen könne; „fallait-il l’enterrer avec ? “, entgegnet die Haushälterin Sylvie, „c’est en or.“ 959 Dem Objekt wird seine symbolische Bedeutung abgesprochen, es soll nicht als auratisierte Grabbeigabe enden, sondern wird auf seinen Materialwert reduziert. Für die Lesenden (und auch Rastignac) indessen hat das Objekt dagegen vor allem symbolischen Gehalt. Ein solcher Dingeinsatz ließe sich mit Pomian und seiner Rede von den ‚zweigesichtigen‘ Objekten beschreiben, derer man nie ganz habhaft werden kann. Er erzeugt ein spezielles „Machtgefüge“: „Dort, wo bisher der lesende und 4 Ästhetik literarischer Musealität 183 <?page no="184"?> 960 Kimmich: Lebendige Dinge der Moderne, S. 33. Messling: Universalität nach dem Univer‐ salimus, S. 38, erkennt in der realistischen Ästhetik auch subversives Potential: Diese produziere „ein Spiel von Intensitäten, das die überbrachten Wahrnehmungsmuster […] infrage stellt und die Restaurationsgesellschaft subversiv unterläuft, indem sie die Wirklichkeit grundsätzlich anders erfahrbar macht.“ 961 Vgl. Roland Barthes: „Sémantique de l’objet“ [1964], in: ders.: L’aventure sémiologique, Paris: Éditions du Seuil 1985, S. 249-260, v. a. S. 250-254; vgl. Barthes: „Les choses signifient-elles quelque chose ? “, S.-14-16; Vedder: „Sprache der Dinge“, S.-32. 962 Robbe-Grillet: „Une voie pour le roman futur“, S.-21. 963 Vgl. auch Fanny Lorent: Barthes et Robbe-Grillet. Un dialogue critique, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2015, v.-a. S.-126-136. 964 Vgl. zum Verhältnis Baudrillard/ Robbe-Grillet auch Turin: „Objet pléthorique, sujet mélancolique“, S.-165. 965 Robbe-Grillet: „Une voie pour le roman futur“, S.-23. 966 Vgl. auch Lorent: Barthes et Robbe-Grillet, die resümiert, Robbe-Grillet stelle der Frage der représentation den Aspekt der création entgegen (S. 132): „là où Barthes insistait sur deutende Mensch stand, der auch die Dinge im Text las und deutete, stehen jetzt der Mensch und die - lebendigen - Dinge, die sich die Welt teilen müssen.“ 960 4.1.2.1.2 Streitobjekte: Barthes - Perec - Robbe-Grillet Platz und Wertigkeit des literarischen Dings wurden im Kontext von Nouveau Roman und französischem Poststrukturalismus heftig diskutiert, wie beispiel‐ haft Positionen von Barthes, Robbe-Grillet und Perec illustrieren. Barthes unterstreicht in Sémantique de l’objet (1964) die Polysemie der Dinge (in der Welt und in der Kunst) und damit die Möglichkeit, sie in bestimmte Praktiken oder Narrative einzubetten. 961 Robbe-Grillet proklamiert dagegen die Abkehr von jedem lesbaren Sinn des Dings, wie in einer der bekanntesten Passagen aus Une voie pour le roman futur anklingt: Or le monde n’est ni insignifiant ni absurde. Il est, tout simplement. […] Autour de nous, défiant la meute de nos adjectifs animistes ou ménagers, les choses sont là. Leur surface est nette et lisse, intacte, sans éclat louche ni transparence. Toute notre littérature n’a pas réussi à en entamer le plus petit coin, à en amollir la moindre courbe[.] 962 Indem Robbe-Grillet - anders als Barthes 963 oder auch Baudrillard 964 - dem „univers des ‚significations‘ (psychologiques, sociales, fonctionnelles)“ eine Absage erteilt, postuliert er eine besondere Objektautonomie: „Dans les const‐ ructions romanesques futures, gestes et objets seront là avant d’être quelque chose ; et ils seront encore là après, durs, inaltérables, présents pour toujours“ 965 . Damit spricht er auch der Literatur etwas von ihrer Repräsentationskapazität ab 966 , erklärt sie vielmehr zum Ausdruck einer kreativen Suchbewegung, was 184 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="185"?> la méprise que constitue la croyance en une extériorité du langage, Robbe-Grillet lui oppose […] l’intériorité de la perception purement mentale.“ (ebd., S.-133) 967 Robbe-Grillet: „Du réalisme à la réalité“, S.-174. 968 Georges Perec: „Le Nouveau Roman et le refus du réel“ [1962], in: ders.: L.G., une aventure des années soixante, Paris: Seuil 1992, S. 25-45, hier: S. 34; vgl. auch ders.: „Le mystère Robbe-Grillet“ [1963], in: Claude Burgelin u.-a. (Hg.): Georges Perec, Paris: Éditions de l’Herne 2016, S.-65-67. 969 Ebd., S.-58. 970 Ebd., S.-53. 971 Vgl. Claude Burgelin: „Les Choses, un devenir-roman des Mythologies ? “, in: Recher‐ ches&Travaux, 77, 2010, S. 57-66, hier: S. 60, auch Perec: Penser/ Classer, S. 10, wo er Les Choses als einen seiner Texte einordnet, die fragen „comment regarder le quotidien“. 972 Vgl. Burgelin: „Les Choses, un devenir-roman des Mythologies ? “: „Jérôme et Sylvie pourraient être des rédacteurs de ‚mythologies‘ tout en relevant eux-mêmes de l’analyse sémio-mythologique“ (ebd., S. 58). Vgl. zum Status des Dings in Les Choses auch Baudrillard: Le système des objets, S.-278-280, der den Roman beispielhaft heranzieht. selbstredend Einfluss auf den Status der Dinge hat: „[Le roman] ne sert pas à exposer, à traduire, des choses existant avant lui, en dehors de lui. Il n’exprime pas, il recherche. Et ce qu’il recherche, c’est lui-même.“ 967 Dieser Ansatz wurde u. a. von Perec kritisiert, der sich in Texten für sein Zeitschriftenprojekt L.G. gegen die Theoretiker des Nouveau Roman wendet: [ J]e vous décris la surface des choses […] car (ou donc) on ne peut connaître que la surface des choses, et elle seulement. Le monde n’est que ce qu’on voit. Il n a pas de profondeur. Il est impénétrable. Si je lui enlève les significations qu’on lui a surajoutées, c’est que, finalement, on ne peut lui en donner aucune. Car le monde ne signifie rien-: ‚Il est, tout simplement‘. 968 Er unterstellt Robbe-Grillet einen letztlich tautologischen Deklarationsakt: Ein Ding ist nur Oberfläche, weil es sich in einer Welt der nur oberflächlichen Dinge situiert, wogegen Perec einwendet: „Mais c’est ce ‚est‘ qui ne signifie rien : privé de ses tenants et de ses aboutissants, il est indéchiffrable ; privé de perspective, la réalité reste chaotique […].“ 969 Wie Barthes gesteht er den Dingen ihre Ambivalenzen zu; Literatur ist für ihn, gegen Robbe-Grillet, auch der Versuch, „de maîtriser le réel“ 970 . Dies zeigt sich in seinem Debütroman Les Choses, der vom Theoretiker Barthes bezeichnenderweise als Roman gelesen, vom Romancier Perec hingegen als soziologische recherche verstanden wurde 971 - was zum unklaren Status der Objekte darin passt: Der Text ist zugleich eine Mystifizierung der Dinge, mit denen sich die beiden Hauptfiguren, das junge Paar Jérôme und Sylvie, umgeben, andererseits aber auch eine Kritik an deren materialistisch ausgerichteter Lebensweise. 972 Erzielt wird dies auch durch literarische Perspektivierung: Perec 4 Ästhetik literarischer Musealität 185 <?page no="186"?> 973 Vgl. Burgelin: „Les Choses, un devenir-roman des Mythologies-? “, S.-58. 974 Perec: Les Choses, S.-14. 975 Ebd., S.-26. 976 Vgl. Savoy: Objets du désir, S. 19-33. Vgl. auch Déotte: Le musée, S. 31, der an die Museumkritik Valérys anknüpft: „le Musée délocalise les œuvres d’art. Il leur offre un site (sitius) commun d’exposition et de confrontation tel que, à partir de là seulement, peuvent être posées des questions proprement esthétiques : des questions sur le temps et l’espace et ce à propos de l’œuvre, puis du site lui-même.“ 977 Etwa anhand der Objekte, die James Cook aus Ozeanien mitbringt, und die auf Museen in Göttingen, Wien und Oxford verteilt werden; vgl. Savoy: Objets du désir, S.-38. 978 Vgl. Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S. 52, die feststellt, der Sammler erschließe sich Raum und Zeit, „indem er Objekte der Peripherie (= der Welt) entnimmt und dem Zentrum (= seiner Sammlung) einverleibt“. Selbst die abgelegene maison-musée Des Esseintes’ in À rebours wird so zur Mitte der Welt. lässt die Distanz des Erzählers zu den Dingen im Unklaren 973 , weshalb es schwerfällt, dem Roman (nur) eine didaktische Intention oder eine Kritik am kleinbürgerlichen Aufstiegswillen zu unterstellen. Die zu Beginn des Romans noch unklare Erzählperspektive zeigt sich etwa an folgender ‚Zimmerreise‘: Puis, au-delà d’une autre porte, après une bibliothèque pivotante, basse et carrée, surmontée d’un grand vase cylindrique à décor bleu, rempli de roses jaunes, et que surplomberait une glace oblongue sertie dans un cadre d’acajou […]. 974 Hier nimmt der Erzählerblick selbst jene Position ein, die er später seinen Protagonisten diagnostiziert: „alors ils discutaient longtemps, eux et leurs amis, sur le génie d’une pipe ou d’une table basse, ils en faisaient des objets d’art, des pièces de musée.“ 975 Im ersten Zitat werden die Objekte durch den Erzählerblick inszeniert und - durch Reihung und Rahmung - musealisiert. Im zweiten Fall bleiben sie abstrakt, und der Erzähler stellt sich gegen die Bewertung der Dinge durch die Protagonisten. So wird hier die Rolle der Subjektinstanz für das Funktionieren des Dings als Semiophor (vgl. Kap. II.4.1.2.1.) durch literarische Perspektivierung nachvollzogen. Der hier anhand von Beispielen des 19. Jahrhunderts und der Ding-Debatte der Nachkriegszeit illustrierte Aspekt der literarischen Objektautonomie ist dicht an aktuellen museologischen Diskursen: Savoy etwa versteht museale Exponate als aus ihrem Ursprungszusammenhang ‚entfernte‘ Objekte; in ihrer Antrittsvorlesung am Collège de France denkt sie Museumsgeschichte vom Ob‐ jekt aus, vergleicht etwa die Zirkulation von Museumsobjekten mit jener von In‐ tellektuellen auf Bildungsreise 976 und erzählt so eine transnationale Geschichte Europas anhand eines Objektnetzes 977 : Die Dinge reisen, die Museen bleiben an ihrem Ort. Während für Sammler und Museen die Mitte der Welt gemeinhin dort liegt, wo sich die Sammlungsstücke befinden 978 , tariert Savoy museale 186 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="187"?> 979 In Ansätzen wird eine solche Perspektive anhand der Objektthematisierungen bei Toussaint eingenommen, vgl. Kap. III.4.2.1. 980 Vgl. Savoy: Objets du désir, S.-82. 981 Vgl. Assmann: „Lesen als Beleben“; eine Ausnahme bildet natürlich die ‚Ausstellung‘ von Lebewesen, etwa auf den expositions coloniales. 982 In der Literatur scheint die „Grenzziehung zwischen Lebendigem und Leblosem und die Verletzung dieser Grenze […] das Neuartige der Moderne zu charakterisieren“, so Kimmich: Lebendige Dinge der Moderne, S.-13. 983 Vgl. Huysmans: À rebours, S.-570-578. 984 Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S. 210-211; vgl. Anne-Berenike Rothstein: „De‐ kadenter Exzess des Materiellen. Joris-Karl Huysmans’ À rebours (1884)“, in: Susanne Scholz u. Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S.-289-296, hier: S.-294. 985 In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Schildkrötenpanzer auch als frühe Schriftträger zum Einsatz kamen; vgl. Dettke: Raumtexte, S. 109; vgl. Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000 [1996], S. 15. Insofern weist die Schildkröte auch auf das durchkuratierte, ‚geschriebene‘ Anwesen des Essein‐ tes’ zurück. Topographien anders und neu, und befreit die Exponate so gewissermaßen auch von ihren musealen Begleitdiskursen. Eine solche Lektüre ‚entlang des Objekts‘ erscheint auch als interessanter Zugang zur Beschreibung literarischer Topographien, der durchaus Perspektivverschiebungen ermöglicht. 979 4.1.2.1.3 Unsterbliche und verlebendigte, schuldige und unschuldige Dinge: Die Schildkröte Des Esseintes’ Mit Savoy ist also das museale Objekt auch in seiner (Eigen-)Zeitlichkeit zu betrachten, verläuft doch eine Grenze zwischen sterblichen Betrachtern und unsterblichen Dingen 980 : Im Louvre ziehen immer neue Besuchergenerationen an der ewig jungen Joconde vorbei. Doch andererseits werden Exponate im Blick von Subjekten auch ‚belebt‘ 981 . Die museale Spannung zwischen Eigenzeitlichkeit und ‚Belebung‘ kann auch die Literatur thematisieren und inszenieren 982 : Man denke an das eindrückliche Bild der Schildkröte in À rebours, die verendet, nachdem Des Esseintes sie zu Dekorationszwecke hat vergolden lassen. 983 Das Tier wird durch seine Vergoldung (oder: Auratisierung) zum toten „objet purement décoratif […] où la tortue n’existe plus en tant que telle“ 984 und erfährt zugleich eine Bedeutungs‐ aufwertung. Damit wird die Diskrepanz zwischen Belebung und Lebensentzug durch Musealisierung (vgl. Kap. II.2.3.) markant illustriert. Auch auf symbolischer Ebene erfährt die Schildkröte eine Verwandlung: Sie wird zum Sinnbild für einen geschriebenen (Privat-)Raum als ‚Gehäuse‘ 985 und 4 Ästhetik literarischer Musealität 187 <?page no="188"?> 986 Vgl. Rohden: Konfigurationen krisenhafter Wahrnehmung, S. 102, der die Episode als Verweis auf das Schicksals Des Esseintes’ versteht. 987 Sternberg: Das radikaldemokratische Museum, S.-121. 988 Pamuk: Die Unschuld der Dinge. 989 Vgl. Hoffmann: „‚Innocent Objects‘“. 990 Vgl. Harald Hendrix: „Literary heritage sites across Europe: a tour d’horizon“, in: Interférences littéraires/ Literaire interferenties, 16, 2015, S. 23-38, hier: S. 34-35: „The Innocence of Objects, […] profoundly linked to the material reality of Istanbul as location, […] hosts a remarkable collection of artifacts that all tell a story, separately but also together. As such, it differs profoundly from the perspective adopted in Istanbul’s recent Ahmet Hamnet Tanpinar Museum of Literature, which documents and celebrates local authors. Pamuk’s museum, while evoking the virtual reality of a narrative through the putting together of large quantities of objects, is a work of art in itself.“; vgl. weiter zu Pamuks realem Istanbuler Museum Johanna Zeisberg: „Archiv und Metalepse. ‚goldenem Käfig‘, ähnlich jenem Haus, das auch Des Esseintes selbst langsam das Leben entzieht. 986 Wenn umgekehrt Dinge in Texten ‚belebt‘ sein können: Inwieweit sind sie dann für das, was sie auslösen, verantwortlich zu machen? Diese Frage mag in Bezug auf Literatur weit hergeholt klingen, sie erlaubt aber interes‐ sante Übergänge zum Museum, wo wertvolle, seltene Dinge im Zentrum von Restitutions- und Provenienzdebatten stehen, und von verschiedenen Seiten vereinnahmt werden. Zwar sind die Dinge unschuldig daran, dass sie oftmals gewaltsam entwendet wurden, bevor sie im Museum landeten. Doch gerade diese Gewaltgeschichte macht sie auch begehrenswert, lädt sie auratisch auf, so Sternberg, die annimmt, dass die Dinge die Erinnerung der Umwertung in sich tragen. Sie sind Träger der Konflikt- und Gewaltgeschichten […]. Wahrscheinlich gehört gerade die in den verzauberten Dingen sowohl enthaltene wie vergrabene Gewalt zu den wesentlichen Aspekten dessen, was die Dinge so begehrenswert macht. 987 Im Rahmen solcher Fragen kann die Literatur diskutieren, was im Museum geschieht: Ein Beispiel bietet Pamuks literar-musealer Komplex rund um sein Museum der Unschuld. In seinem Begleitbuch dazu postuliert er eine eindeu‐ tige Unschuld der Dinge. 988 Die Objekte, könnte dieser Titel bedeuten, sind unschuldig daran, dass der im Roman libidinös getriebene Sammler Kemal sie zu Platzhaltern seines verlorenen Glücks macht. Schuldig ist er, der über Jahre alles entwendet, was ihm von seiner Geliebten in die Hände kommt. Neben dieser literarischen Deutung 989 lässt sich der Titel aber auch kulturpolitisch und museologisch interpretieren: Er könnte sich auch auf den Platz von Pamuks realem Museum in Istanbul beziehen, das in Konkurrenz zu einer offiziellen türkischen (Literatur-)Geschichtsschreibung steht. 990 Der Titel Die Unschuld der 188 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="189"?> Literarische Gegenwartsanalysen von Orhan Pamuk und Judith Schalansky“, in: Klaus Kastberger u. Christian Neuhuber (Hg.): Archive in/ aus Literatur, Berlin/ Boston: de Gruyter, 2021, S.-161-176, hier: S.-166. 991 Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, S.-42. 992 Gisela Ecker: „Verwerfungen“, in: dies. u. a. (Hg.): Sammeln - Ausstellen - Wegwerfen, Königstein/ Taunus: Helmer 2001, S. 171-185, hier: S. 182. Dies wird wiederum bei Huysmans deutlich, wo das Bild der goldenen Schildkröte auf den literarischen Ort und die Literatur zurückweist - und somit als Form der literarischen Literaturausstellung bezeichnet werden könnte. 993 Vgl. Florence Baillet u. Anne-Laure Daux-Combaudon: „Introduction“, in: Cahier d’Etudes Germaniques, 75, 2018, S. 9-20, hier: S. 12; vgl. Jérôme Game (Hg.): Le Récit aujourd’hui. Arts, littérature, Saint Denis: Presses universitaires de Vincennes 2012. 994 Baillet u. Daux-Combaudon: „Introduction“, S.-14-15. 995 Vgl. Turin: „Objet pléthorique, sujet mélancolique“, S.-166. Dinge liest sich dann wie ein Plädoyer gegen eine Vereinnahmung der Objekte und für eine Musealisierung ‚von unten‘, anstatt einer staatlich verordneten. Das Museum der Unschuld bildet in dieser Hinsicht einen literar-musealen Komplex, bei dem die Dinge als „Gegen-Stände im wahrsten Sinne des Wortes“ 991 im Zentrum stehen. Deutlich wird an diesen Beispielen, dass die Frage um die „Wertigkeit“ oder „Schuldigkeit“ von Objekten auch einen „Rahmen“ eröffnen kann, „selbstre‐ flexiv Fragen der Ästhetik zu behandeln.“ 992 4.1.2.2 Materialität (in) der Literatur Eine Qualität musealer Texte ist es, Materialität der Literatur und Materialität in der Literatur zusammenzubringen. 993 Nicht nur starke Dingsymbole (wie die erwähnte Schildkröte in À rebours), sondern auch Thematisierungen von Materialität und Immaterialität (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.) können auf die Literatur zurückweisen - und Texte, die ihre Materialität narrativ ausstellen, machen deutlich, dass diese materielle Dimension nicht nur „à prendre en compte en tant que simple support de constructions culturelles“ ist, mais également définie par ces dernières. […] La matérialité perçue comme une construction est au demeurant susceptible d’être déconstruite, notamment à partir de récits pluriels qui offraient […] des voies alternatives de matérialisation. Face à l’apparente fixité de la matérialité, la narration serait donc à même d’endosser une dimension subversive. 994 Doch auch über ihre Schriftbildlichkeit kann die Literatur auf Materialität rekurrieren, sie reflektieren und ausstellen. Nur exemplarisch seien dafür zwei Möglichkeiten genannt: Literarische Listen 995 können auf verschiedenen Ebenen des literarischen Textes als Strukturelemente dienen - von einer Aufzählung 4 Ästhetik literarischer Musealität 189 <?page no="190"?> 996 Vgl. Sabine Mainberger: „Ordnen - Aufzählen“, in: Susanne Scholz u. Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S. 91-98, hier: S.-94; Pety: Poétique de la collection, S.-195-232. 997 Turin: „Objet pléthorique, sujet mélancolique“, S.-165. 998 Potsch: Literatur sehen, S.-97. 999 Vgl. Turin: „Objet pléthorique, sujet mélancolique“, S.-166. 1000 Vgl. z.-B. Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S.-76. oder Reihung einzelner Wörter innerhalb eines Erzähltexts, über listenartig organisierte Erzählungen bis zu listenartig organisierten Werkreihen. 996 Im Sinne des o. g. Konkurrenzverhältnisses bilden literarische Listen eine materielle Unbeweglichkeit nach, suggerieren die Möglichkeit einer geordneten Samm‐ lung qua Literatur. Literarische Ready-mades wie z. B. das oben erwähnte Handke-Gedicht Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 27.1.1968 (vgl. Kap. II.1.3.) erfahren ihre Transformation zur Musealie durch den Kontext, in den sie gestellt werden. Die typografischen Zeichen gewinnen eine dinghafte Dimension, transformieren sich „du signe qu’ils sont en l’objet qu’ils représentent“. 997 Ob diese Dokumente authentisch sind, ist dabei nachrangig: Innerhalb des literarischen Textes ver‐ weisen sie auf eine außerliterarische Realität, werden durch ihren Rahmen (Gedichtband) aber zusätzlich semantisiert. Ähnliches ließe sich über konkrete Poesie und Bildgedichte sagen, die „schriftliche[] Zeichen zum konkreten Bildmaterial werden lassen: Sie zeigen, dass die symbolischen Zeichen durchaus aus ihren semantischen Bindungen gelöst und als sichtbare grafische Zeichen verwendet werden können“. 998 Umso stärker, geradezu transgressiv 999 , wirken solche Mittel zweifellos, wenn sie in Prosatexte eingebunden sind, wie die verschiedenen (vermeintlichen) Originaldokumente (Straßenschilder, Visiten‐ karten…) in Perecs La vie mode d’emploi. 4.2 Raum und Zeit im Konkurrenz-Verhältnis der Künste Im Museum kommen Zeit und Raum in besonderer Weise zusammen: Es ist raumgewordener Speicher des Vergangenen und ein Ort, an dem sich verschiedene Zeitschichten überlagern. 1000 Deutlich wird dies insbesondere an seiner Grenze zum außermusealen ‚Normalraum‘; so für die Protagonisten in Wajsbrots Roman Sentinelles beim Verlassen des Centre Pompidou: Et voici le dernier escalator, celui qui mène au rez-de-chaussée puis à la rue. […] Nous avons été déstabilisés par cette longue obscurité et le retour à la normale n’est qu’une apparence - nous ne sommes pas revenus. […] Je passe devant la plaque de commémoration. Le centre Georges Pompidou inauguré le 31 janvier 1977 en présence 190 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="191"?> 1001 Wajsbrot: Sentinelles, S.-236-237. 1002 Amselle: Le musée exposé, S.-18. Vgl. auch Kap. II.3.4.1. 1003 Ebd. 1004 Rainer Maria Rilke: „Archaïscher Torso Apollos“ [1918], in: ders.: Werke, Bd. 2, Gedichte 1895 bis 1910, hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn, Frankfurt/ M./ Leipzig: Insel 1996, S. 513. Auf die räumliche Dimension des Gedichts verweist u. a. Zechner: „Ausstellen, Entsetzen“, S.-204, die zeitliche stellt Savoy: Museen, S.-24, in den Vordergrund. de Valéry Giscard d’Estaing… Des noms anciens, une époque lointaine - la préhistoire de notre temps. Et voilà les portes qui coulissent, qui s’ouvrent - je sens l’air frais du dehors. 1001 Hinsichtlich seiner Situierung in einer (Stadt-)Erzählung ist das Museum einer‐ seits Teil eines räumlichen syntagme muséal („un espace proche ou éloigné qui met en proximité ou le fait entrer en concurrence avec d’autres musées“ 1002 ), andererseits eines zeitlichen paradigme muséal („le produit d’une triple histoire : une histoire muséale, une histoire propre et une histoire globale“ 1003 ) - Ord‐ nungen, die umso deutlicher zu Tage treten, wenn mit ihnen gebrochen wird, wie in Vladimir Nabokovs Der Museumsbesuch. In dieser Erzählung besucht ein Mann ein kleines Museum in der französischen Provinz. Mit jedem Saal, den er betritt, weitet sich das Museum, die Räume werden imposanter und scheinen schließlich die ganze Welt abzubilden. Als er es wieder verlässt, befindet er sich nicht mehr im sommerlichen Frankreich, sondern im winterlichen St. Petersburg vor der Oktoberrevolution, so dass offen bleibt, ob die vermeintliche Außenwelt vielleicht nur ein weiterer, sehr realistischer Museumsraum ist. Nabokov nutzt hier zwei für das museale Erzählen relevante Aspekte: das Mu‐ seum als lineare (An-)Ordnung, in der der Gang durch die Ausstellung und die Erzählung parallel laufen (vgl. Kap. II.3.3.), und das Museum als Gegenort, das zu Beginn der Geschichte eine klare Grenze zur Außenwelt zieht, aber auch selbst Welt aufnimmt und mit deren Grenzen verschwimmt. Die Zusammenführung beider Formen sorgt dafür, dass das Museum als raum-zeitliche Sonderzone einerseits herausgestellt, andererseits hinterfragt wird. Auch das - erzählte oder reale - Museumsobjekt kann unter raum-zeitli‐ cher Perspektive verstanden werden - nicht nur, was seinen Herkunfts- und Ausstellungsort und seine Geschichte betrifft, sondern auch ‚aus sich selbst heraus‘. In Rilkes (Museums-)Gedicht Archaïscher Torso Apollos erzeugt die Räumlichkeit des Ausstellungsstücks („denn da ist keine Stelle,/ die dich nicht sieht.“) eine zeitliche Erfahrung: die bekannte Zäsur-Erkenntnis „Du mußt dein Leben ändern“ 1004 . Das Gedicht, eine literarische Skulpturenbeschreibung, verweist auf den Raum-Zeit-Aspekt als Topos, aber auch als ‚Erzählproblem‘ des literar-musealen Komplexes, das schon Lessing in Laokoon oder über die 4 Ästhetik literarischer Musealität 191 <?page no="192"?> 1005 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, Berlin/ Boston: de Gruyter 2022 [1805], S. 266; Lessings Text ist auch ein ‚Klassiker‘ zur Theorie des Literaturausstellens; er wird immer wieder herangezogen, wenn es um das Verhältnis Literatur-Museum geht, etwa von Hochkirchen u. Kollar: „Einleitung“, S. 12; Heibach: „Zwischen ‚buchdruck-schwärzlichem Gewande‘ und ‚Allgewalt der sinnlichen Empfindung‘“, S. 156; Olivier: „Un ‚hommage visuel au livre‘“; Dettke: Raumtexte, S. 102; Dettke bemerkt zurecht, dass Lessing lediglich auf die Möglichkeiten der Literatur zur Raumdarstellung abzielt - nicht auf die Räumlichkeit der Literatur. 1006 Wolfgang Hallet u. Birgit Neumann: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spacial Turn, Bielefeld, transcript 2009, S.-11-32, hier: S.-15-16, die sich hier auf Soja beziehen. 1007 Ebd., S. 23-24; vgl. zum Platz literarischer Verfahren zur Ausgestaltung realer Räume das Kapitel „Museum Narratives“ in Ryan u.a.: Narrating Space / Spatializing Narrative: S.-181-206. 1008 Vgl. Hallet u. Neumann: „Einleitung“, S. 15-16: „in der Literatur inszenierte[] Raummo‐ delle“ prägen oder unterlaufen „die Realität von Machtverhältnissen“. 1009 Ähnlich auch Jörg Dünne u. Andreas Mahler: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Handbuch Literatur & Raum, Berlin/ München/ Boston: de Gruyter 2015, S. 1-11. Sie betonen die „Produktivität literarischer Räume, d. h. die Möglichkeit, Imaginations- und Vorstel‐ lungsräume zu eröffnen, die Variationen und Alternativen zu tatsächlich erfahr- oder Grenzen der Mahlerey und Poesie diskutiert. Hier versteht er Literatur als Zeit-, Architektur, Malerei und Skulptur als Raumkunst: „die Zeitfolge ist das Gebiet des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers“ 1005 . In diesem Sinne müssen literar-museale Komplexe zwei Kompensationsleistungen erbringen: Während die ‚Zeitkunst‘ Literatur Räumlichkeit ‚heraufbeschwören‘ muss, so die ‚Raumkunst‘ Museum Zeitlichkeit. Folgt man dieser Logik, so ist zu vermuten, dass jene Texte besonders museal erscheinen, die diese Kompensation besonders effektiv betreiben - und umgekehrt Ausstellungen besonders ‚litera‐ risch‘ wirken, wenn sie Formen der Zeitlichkeit sichtbar machen (etwa durch die Illusion einer Sukzession der Dinge, eine prägnante Eigenzeitlichkeit). Wieder werden nun die beiden hier zusammengedachten Aspekte Raum und Zeit in Bezug auf literarische Musealität getrennt voneinander betrachtet. 4.2.1 Aspekte des Raums Räume (in) der Literatur besitzen eine „repräsentierende wie performative Dimension“ 1006 , denn diese kann „kulturelle Räume [vermessen], sich in diesen oder über diese hinweg verorte[n] und gleichermaßen literarische und kultu‐ relle Topographien hervorbring[en]“ 1007 , weshalb „[e]rzählte Räume […] Zugang zu kulturell vorherrschenden Raumordnungen“ bieten, aber auch in diese ein‐ greifen können. 1008 So lassen sich literarische Texte auch als Reflexionsinstanzen zu Ort und Situierung des Museums verstehen 1009 - besonders, wenn sie auf das 192 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="193"?> begehbaren Räumen darstellen. Diese Vorstellungsräume bringen ihrerseits potentiell wieder neue konkrete Raumerfahrungen hervor, die in einem weiteren Schritt erneut literarisch reflektiert werden können“ (ebd., S. 4). Vgl. Monika Schmitz-Emans: „Topo‐ graphien der Weltliteratur. ‚Museum‘, ‚Atlas‘, ‚Luftfracht‘ und ‚Imaginäre Bibliothek‘“, in: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnatio‐ nalen Kontext, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S.-371-392. 1010 Dettke: Raumtexte, S.-35. 1011 Vgl. Andreas Mahler: „Raum und ‚erzählte‘ Welt“, in: Christoph Bartsch u. Frauke Bode (Hg.): Welt(en) erzählen: Paradigmen und Perspektiven, Berlin/ Boston: de Gruyter 2019, S.-281-316, hier: S.-282; vgl. ähnlich Mitterand: L’illusion réaliste, S.-91. 1012 Vgl. etwa Nies: „Aus kultur- und raumsemiotischer Sicht haben wir es […] mit einem ganzen imaginären und semantischen Arsenal zu tun, das zu Konzeptualisierungen und Modellierungen einlädt, die sich theoretisch durchaus zu widersprechen scheinen (‚Dichotomie‘ und ‚Dritter Raum‘, ‚Semiosphäre‘ und ‚Heterotopie‘, ‚Heimat‘ und ‚Nicht-Ort‘) und doch ganz offenbar simultan zutreffend sein und sich palimpsestartig in verschiedenen Bedeutungsschichten überlagern können.“ Martin Nies: „Einleitung. Raumsemiotik - Zur Kodierung von Räumen und Grenzen“, in: ders. (Hg.): Raumse‐ miotik. Räume - Grenzen - Identitäten, Onlinepublikation, VZKF 2019, S. 7-12, hier: S. 8, online unter: www.kultursemiotik.com. 1013 Hamon: Expositions, S.-36. Museum anwendbare Raumkonzepte verhandeln oder markant einsetzen. Dabei liegt auf der Hand, dass sich derartige Raumkonzepte nicht nur anhand von Museumsszenen herausarbeiten lassen, sondern durch eine Vielzahl komplexer literarischer Räume. Besonders lohnend ist der Blick auf „Raumfiguren“ mit „stark textkonstitu‐ tive[r] Funktion“, die „nicht nur in der histoire als Schauplätze der Handlung zentral sind, sondern auch den discours modellieren“, wodurch sie als „Refle‐ xionsfiguren des Textes“ 1010 dienen können. Als solche Raumfiguren werden mit Semiosphäre, Heterotopie, Thirdspace und contact zone im Folgenden (Kap. II.4.2.1.1.) Konzepte benannt, die mit Museumsdiskursen verbunden sind, und als ‚museale‘ Raumformen im Erzählen wirksam werden können. Neben diesen Aspekten des ‚erzählten Raums‘ unterscheidet die Gliederung ‚Raumerzählen‘ (vgl. II.4.2.1.2.) sowie ‚Schriftraum‘ 1011 (vgl. II.4.2.1.3.), bedenkt also wieder das Innen und das Außen, das lisible und visible des literarischen Texts. 4.2.1.1 Erzählter Raum Auf das literarische Museum (im engen und weiteren Sinn) lassen sich zahl‐ reiche Raumkonzepte und -theorien anwenden, die teils in Widerspruch zuein‐ ander stehen. 1012 Hamon wertet viele von ihnen als „trop massif[s]“ und versteht literarische Räume v. a. als im Dienst der Erzählung stehende literarische „Effekte“. 1013 Dabei geht jedoch unter, dass diese Ansätze (zumal in Bezug auf die Gegenwart) selbst Bestandteile des Motivkomplexes Museum sind: Dessen 4 Ästhetik literarischer Musealität 193 <?page no="194"?> 1014 Vgl. z. B. Stapelfeld u.a.: „Museales Erzählen“, S. 9; vgl. Goldschweer: Trügerische Zuflucht. 1015 Jurij M. Lotman: „Über die Semiosphäre“, in: Zeitschrift für Semiotik, 12, 4, 1990, S.-287-305. 1016 Vgl. ebd., S.-290. 1017 Ebd., S. 294; vgl. auch Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S. 64; Goldschweer zitiert auch den Lotman-Auszug. 1018 Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S.-64. 1019 Lotman: „Über die Semiosphäre“, S. 294; vgl. zur „hétérogénéité interne constitutive de l’espace sémiotique“ des Museums auch Pezzini: „Sémiotique du nouveau musée“, S. 70. 1020 Vgl. Martin Nies: „B/ Orders - Schwellen - Horizonte. Modelle der Beschreibung von Räumen und Grenzen in ästhetischer Kommunikation - eine raumsemiotische Positionsbestimmung“, in: ders. (Hg.): Raumsemiotik. Räume - Grenzen - Identitäten, Qualifizierung als ‚Semiosphäre‘, als ‚Heterotopie‘, als ‚Drittraum‘ oder contact zone ist wie verschiedene tradierte Raum-Metaphern (das Museum als Speicher, als Tempel oder Ort des Todes) 1014 Teil von Museumsdiskursen und wird als solcher auch in der Literatur und in (Meta-)Ausstellungen aufgegriffen. 4.2.1.1.1 Erzählräume als Semiosphären Lotman versteht Raum als konstitutives Modell von Erzählung. Sein Semio‐ sphären-Begriff 1015 ist explizit von der Literatur aus gedacht und stellt ein auf räumlichen Oppositionsstrukturen und besonders auf der Spannung von Zentrum und Peripherie basierendes Modell bereit, das - anders als Lotmans Die Struktur literarischer Texte (1970) - nicht den Grenzübertritt ins Zentrum rückt, gleichwohl aber zwischen einem Außen und einem Innen unterscheidet. 1016 Interessanterweise illustriert Lotman sein Modell an einem Museumsbeispiel: Stellen wir uns den Ausstellungsraum eines Museums vor, wo in verschiedenen Schau‐ kästen Exponate aus verschiedenen Jahrhunderten ausgestellt sind; mit Aufschriften in bekannten und unbekannten Sprachen, Instruktionen […], Schemata für Führungen durch die Ausstellung und Verhaltensregeln für die Besucher. Wenn wir dazu noch die Besucher selbst mit ihrer semiotischen Welt hinzufügen, erhalten wir etwas, das an ein Bild der Semiosphäre erinnert. 1017 Diese „Verbildlichung der semiotischen Welt“ 1018 zeichnet sich durch ein „Vor‐ handensein von (meist mehreren) Kernstrukturen mit einer expliziten Organi‐ sation“ 1019 aus. Wo die Semiosphäre beginn, unterliegt einer flexiblen Skalierung - so dass man auch eine ganze Stadttopographie oder den gesamten erzählten Raum eines Romans mit diesem Begriff fassen könnte. Semiosphären bilden Räume mit eigenen (Zeichen-)Konventionen, sie besitzen aber auch periphere, hybride Zonen, die Austausch- und Übersetzungsprozesse ermöglichen. 1020 Es ist also für literarische Topographien 1021 nicht nur nach deren interner Ordnung 194 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="195"?> Onlinepublikation, VZKF 2019, S. 13-72, hier: S. 42, online unter: www.kultursemiotik .com. 1021 Vgl. dazu Nitsch: „Topographien“, der auch Lotmans Ansätze berücksichtigt. 1022 Vgl. Cornelia Ruhe: „Semiosphäre und Sujet“, in: Jörg Dünne u. Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum, Berlin/ München/ Boston: de Gruyter 2015, S. 170-177, hier: S.-171. 1023 Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-26. 1024 Vgl. Huysmans: À rebours, S.-552; vgl. Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-226. 1025 Vgl. etwa die Werbevideos des Museums: Louvre Abu Dhabi: „See Humanity In A New Light“, Werbefilm, 3.3.2019, online unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=L2tOMC igZv0. zu fragen, oben anhand der ‚lesbaren‘ Pariser Stadttopographie thematisiert (vgl. Kap. II.3.4.1.), sondern auch, ob sie neben ihrem Innen auch ein Außen beschreiben - oder aber, ob sie als geschlossene Einheiten zwar Zentrum und Peripherie ausweisen 1022 , etwas außerhalb Liegendes aber nicht sichtbar werden lassen. Für den ersten Fall bildet À rebours ein Beispiel: Die maison-musée ist eine Extremform der Ortskonzentration, und stellt die „volonté esthétique subjective de son propriétaire“ 1023 aus, wobei die nicht kuratierte Außenwelt möglichst streng ausgeschlossen wird - in dem Roman lässt Des Esseintes sogar seine Hausangestellten sich stimmig zur Inneneinrichtung einkleiden und macht sie so zum Teil seiner Kunstwelt. 1024 Es handelt sich um einen Ort, der nur ‚Innen‘ ist, da er nicht die Welt abbildet, sondern dezidiert die Welt des Sammlers (welche zudem kaum jemand zu Gesicht bekommt). Zur Außenwelt, die Des Esseintes’ etwa während einer Reise in die Stadt erlebt, zeigt sich eine klare Unterscheidung (vgl. Kap. II.4.1.1.2.). Als Beispiel für den zweiten Fall können verschiedene Formen gelten, bei denen die ‚Welt als Museum‘ den gesamten erzählten Raum umfasst, so wie es möglicherweise in Nabokovs Erzählung der Fall ist (vgl. Kap. II.4.2.). Zentrum und Peripherie, Innen und Außen prägen das Museum; werden diese Kategorien in literarischen Texten prägnant herausgearbeitet, so sei als These festgehalten, dass dies zu einer Musealität des erzählten Raums beitragen kann. Darum erfordert eine Analyse museumsartiger Räume den Blick auf die gesamte Romantopographie und eine besondere Aufmerksamkeit auf darin angelegte Oppositionsstrukturen. 4.2.1.1.2 Utopie, Heterotopie und Spiegel „See humanity in a new light“ lautet das Versprechen des Louvre Abu Dhabi 1025 , in dem die Vorstellung vom Museum als „utopischem Ort“ anklingt, der „Welt‐ erzeugung“ und „phantasievolle Beschäftigung mit der Möglichkeit eines voll‐ 4 Ästhetik literarischer Musealität 195 <?page no="196"?> 1026 Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-33; vgl. Barbara Kirshenblatt-Gimblett: „Refugium für Utopien? Das Museum - Einleitung“, in Jörn Rüsen u. a. (Hg.): Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2004, S.-187-196. 1027 Tyradellis: Müde Museen, S.-14. 1028 Vgl. Grasskamp: André Malraux und das imaginäre Museum, S.-165. 1029 Vgl. Malraux: Les voix du silence, S.-213; vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-118. 1030 Tetzlaff: Heterotopie als Textverfahren, S.-16. 1031 Vgl. Michel Foucault: „Des espaces autres“ [1967], in: Empan, 54, 2, 2004, S. 12-19 (zuerst in: ders.: Dits et Écrits); ders.: „Les utopies réelles ou lieux et autres lieux“ [1966], in: ders.: Œuvres, II, Édition publiée sous la direction de Frédéric Gros, Paris: Gallimard 2015; ders.: Les Mots et les Choses. Une archéologie des sciences humaines [1966], in: ders.: Œuvres, I, Édition publiée sous la direction de Frédéric Gros, Paris: Gallimard 2015, S.-1033-1459, hier: S.-1038. 1032 Vgl. Bernadette Collenberg-Plotnikov: „Das Museum als Provokation der Philosophie. Zur Einführung“, in: dies. (Hg.): Das Museum als Provokation der Philosophie. Beiträge zu einer aktuellen Debatte, Bielefeld: transcript 2018, S. 9-33, hier: S. 12; sowie Tetzlaff: Heterotopie als Verfahren, S.-17 u. S.-24. 1033 Bezieht er ihn in Les Mots et les Choses anhand eines Borges-Texts auf sprachliche Realisierungen mit einer immanenten Logik, so in „Les utopies réelles ou lieux et autres lieux“ auf reale Stadtarchitektur. In „Des espaces autres“ erläutert er ihn speziell vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts. Vgl. zum Museum als Heterotopie Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S.-184-186. 1034 Foucault: „Des espaces autres“, S.-15. kommenen Universums“ 1026 bietet. Das Museum besitzt utopisches Potential, da es zusammenführen kann, was eigentlich nicht nebeneinandersteht, wodurch es „Korrektiv gegenüber dem jeweiligen Realitätsverständnis ‚da draußen‘“ 1027 sein kann. Je mehr sich dieses Versprechen realisiert, desto eher nähert es sich einem ortlosen Raum an 1028 , in seiner Extremform dem tatsächlich ortlosen musée imaginaire. Hier sind Dinge zu sehen, die in der Welt nicht möglich sind: zeitlich und räumlich weit voneinander entfernte Werke können nebeneinanderstehen; durch Anpassung der Darstellungsgröße auch eine Statue und eine Ikone. 1029 Doch auch ein begehbares Museum kann als „Vermittlungsraum zwischen Wirklichkeit und Utopie“ 1030 dienen, und somit als Heterotopie im Sinne Fou‐ caults gefasst werden, der mit diesem von ihm mehrfach verwendeten Begriff das Museum als „espace autre“ beschreibt. 1031 Obgleich wegen seiner Vagheit Kritik ausgesetzt 1032 , ist der Begriff durch seinen Einfluss auf Museumsdiskurse relevant - und dies ganz besonders in Bezug auf Formen der néolittérature, denn er bezieht sich sowohl auf reale als auch sprachliche Räume. 1033 Wie die Utopie ist zwar die Heterotopie ein ‚anderer Ort‘, aber anders als diese „effectivement réalisée[]“ 1034 . In ihr sind „tous les autres emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture […] à la fois représentés, contestés et inversés“ 1035 , denn sie hebt die umgebende Realität gewissermaßen 196 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="197"?> 1035 Ebd. 1036 Ebd., S.-17. 1037 Foucault: Les Mots et les Choses, S.-1037. 1038 Dettke: Raumtexte, S. 63. Vgl. Gaston Bachelard: La poétique de l’espace, Paris: Presses Universitaires de France 2012 [1957]. 1039 Vgl. etwa zu Museum und Gefängnis Toussaint (Kap. III.5.1.); zu Kirche und Museum Joris-Karl Huysmans: Noëls du Louvre [1901], in: ders.: Du Dilettantisme suivi de Noëls du Louvre, Les Frères Le Nain, Le Quentin Metsys d’Anvers, Bianchi. Préfacé par M. Deepak Ananth, Nantes: Éditions Le Passeur-Cecofop 1992, S. 23-38, sowie Houellebecq (Kap. IV.4.3.); zu Museum, Friedhof und anderen Orten des Todes Houellebecq (Kap. IV.4.3.) sowie Adorno: „Valéry Proust Museum“, S. 181; te Heesen: Theorien des Museums, S. 111. 1040 Bachelard: La poétique de l’espace, S. 25: „[T]out espace vraiment habité porte l’essence de la notion de maison. Nous verrons […] comment l’imagination travaille dans ce sens quand l’être a trouvé le moindre abri […].“ Vgl. auch Dettke: Raumtexte, S. 62; Straubel: Zum Museum der Literatur, S.-24-25. 1041 Vgl. Dettke: Raumtexte, S.-62. 1042 Vgl. Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-221; Dettke: Raumtexte, S.-63; Straubel: Zum Museum der Literatur, S.-24-25. 1043 Neben dem Versuch Des Esseintes’, nach London zu reisen (also aus der maison-musée auszubrechen), ließe sich auch an Nabokovs Der Museumsbesuch denken. 1044 Ebd., S.-15. auf und verfügt über „le pouvoir de juxtaposer en un seul lieu réel plusieurs espaces […] qui sont en eux-mêmes incompatibles“ 1036 : Zur Illustration nutzt Foucault in Les Mots et les Choses als Beispiel für eine Heterotopie das bereits oben zitierte Bild Lautréamonts („là où pour un instant, pour toujours peut-être, le parapluie rencontre la machine à coudre“ 1037 ). Im Unterschied etwa zur maison nach Bachelard ist sie kein heimischer Ort. 1038 Dies wird auch an der Liste der anderen von Foucault benannten Heterotopien deutlich, etwa Gefängnis, Kirche, Friedhof oder Schiff (dem ultimativen „lieu sans lieu“) - Orte, die wiederum selbst motivische Nähe mit dem Museum aufweisen und gelegentlich auch als literarische Orte in Bezug gesetzt werden. 1039 Hier erzeugt - anders als in der maison 1040 - gerade die Fremdheit des Orts Imagination 1041 , was potentiell Verstörung, Krisen 1042 und Fluchtbewegungen 1043 auslösen kann. Foucault benennt auch den Spiegel als heterotopen Ort: Le miroir, après tout, c’est une utopie, puisque c’est un lieu sans lieu. Dans le miroir, je me vois là où je ne suis pas, dans un espace irréel qui s’ouvre virtuellement derrière la surface ; je suis là-bas, là où je ne suis pas, une sorte d’ombre qui me donne à moi-même ma propre visibilité, qui me permet de me regarder là où je suis absent : utopie du miroir. Mais c’est également une hétérotopie, dans la mesure où le miroir existe réellement, et où il a, sur la place que j’occupe, une sorte d’effet en retour : c’est à partir du miroir que je me découvre absent à la place où je suis puisque je me vois là-bas. 1044 4 Ästhetik literarischer Musealität 197 <?page no="198"?> 1045 Vgl. etwa das Konvolut „R“ in Benjamin: Passagen-Werk, Bd. 2, S. 666-673; vgl. zum Spiegel als „anderem Raum“ im Paris des 19. Jahrhundert auch Borsò: „Grenzen, Schwellen und andere Orte“, S.-181-182. 1046 Vgl. Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-37, sowie Bataille: Le dictionnaire critique, S.-49. 1047 Baur: „Was ist ein Museum? “, S.-38. 1048 Baur: „Repräsentation“, S.-96. 1049 Vgl. auch Rainer Warning: „Utopie und Heterotopie“, in: Jörg Dünne u. Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum, Berlin/ München/ Boston: de Gruyter 2015, S.-178-187, hier: S.-180, der sich auf Foucault bezieht. 1050 Tetzlaff: Heterotopie als Textverfahren, S.-18. 1051 Auch Foucault selbst sieht Heterotopien in Verbindung mit ihrer Umgebung, so stehe der Friedhof im Verhältnis mit „l’ensemble de tous les emplacements de la cité“, ders.: „Des espaces autres“, S.-16). Dies ist ein produktives Bild: Spiegel sind wichtige Elemente von Ausstellung und Ausstellungsliteratur 1045 und geläufige Museumsmetaphern („Spiegel der Nation“, „Spiegel des Universums“, „Spiegel der Vergangenheit“, „Europas Spiegel“ 1046 oder auch „Zerrspiegel“ der Welt 1047 ). Selbst wenn man für die Gegenwart eine mit der Krise der Repräsentation einhergehende „Abkehr von der Spiegelmetapher“ 1048 beobachten kann, so wird doch auch im Meta-Museum der Gegenwart der Spiegel noch ‚selbstreflexiv‘ eingesetzt. Er zeigt eine Mög‐ lichkeit, wie sich Heterotopien im (erzählten oder realen) Museum räumlich verorten und ‚bebildern‘ lassen, und gibt der Heterotopie in Text, Museum und ‚Welt als Museum‘ einen Ort und ein Objekt; er ist außerdem Element einer Ausstellungsarchitektur und ein Ort der (Re-)Präsentation, der museale Muster aufgreift. Besonders wichtig scheint in ihm angelegte Zäsur- und Erkenntnismoment, etwa die Verunsicherung, die eine Heterotopie schüren kann. Vor dem Spiegel nimmt sich der Betrachter als Teil der Realität und zugleich als imaginäres Abbild wahr 1049 , erhält Objektcharakter und erkennt sich als Subjekt. Die daraus hervorgehende Erkenntnis kann eine Zäsur-Erfahrung erzeugen - ein Potential, das in den behandelten Werken mehrfach ausgespielt wird (vgl. u.-a. Kap. III.3.1.1.3., III.4.1.1.2., IV.3.4.2.). Für diese und andere Heterotopien gilt, dass diese „nur im Vergleich zum ebenfalls im Text angesiedelten normalräumlichen Tableau erscheinen“ 1050 , und daher nach einer distinkten Umgebung verlangen. Auch zu ihrer Beschreibung lohnt es sich, die Organisation der sie umgebenden erzählten Topographie zu beachten. 1051 4.2.1.1.3 Thirdspace und contact zone Museumsdiskurse greifen auch auf Raumkonzepte zurück, die - anders als die Heterotopie - Dritträume, Zwischenräume und Kontaktzonen ins Zentrum stellen, (inter-)mediale, real-fiktionale, (post-)koloniale Übergänge beschreiben 198 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="199"?> 1052 Vgl. Volker Kirchberg: „Gesellschaftliche Funktionen von Museen im Zeichen sozialer Verantwortung“, in: Markus Walz (Hg.): Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart: Metzler 2016, S.-300-304. 1053 Vgl. Hoins u. von Mallinckrodt: „Der dritte Ort. Neuer Materialismus und Museum“. Der Begriff wird in der Museologie weit gefasst. Bei Tyradellis wird er etwa verstanden als ein Ort, „an dem die unterschiedlichsten Menschen mit unterschiedlichsten Interessen und Vorwissen zueinanderkommen und jeder seine Erwartungen davon mitbringt, was an diesem Ort zu erleben ist“, und somit „potenziell jede Ausstellung eine Antwort auf die Frage, wozu Wissen und Kultur in einer Gesellschaft dienen, wen sie wie erreichen möchten - und was das heißt.“ Tyradellis: Müde Museen, S.-22. 1054 Vgl. zu Bhabha und Said Tobias Döring: „Postkoloniale Räume“, in: Jörg Dünne u. Andreas Mahler: Handbuch Literatur & Raum, Berlin/ München/ Boston: de Gruyter 2015, S.-135-147, v.-a. S.-141-143. 1055 Vgl. ebd., S.-141. 1056 So der Titel des ersten Kapitels von Edward W. Said: Culture and Imperialism, New York: Vintage 1994 [1993], S.-3-61. 1057 Vgl. Döring: „Postkoloniale Räume“, S.-142. 1058 Döring: „Postkoloniale Räume“, S.-141. 1059 Gerhard Van den Heever: „Spatializing practices at the intersections. Representations and productions of spaces“, in: Robert T. Tally (Hg.): The Routledge Handbook of Literature and Space, New York: Routledge 2017, S. 70-82, hier S. 75. Vgl. für eine Übertragung des Sojaschen Thirdspace auf das Museum: Kirchberg: „Gesellschaftliche Funktionen von Museen“, S.-301-302. und weniger auf den geschlossenen Ort und seine Grenzen verweisen, als auf dessen hybriden Charakter zwischen Eigenem und Fremdem, Innen und Außen, Vergangenheit und Zukunft. 1052 Mit zunehmender Auflösung seiner Grenzen wird das Museum regelmäßig als „dritter Ort“ oder „dritter Raum“ bezeichnet. 1053 Der Begriff wurde v. a. durch die postkoloniale Theorie (Said, Bhabha 1054 ) sowie den Kulturgeographen Soja prominent umgesetzt. Said, in Orientalism (1978) noch von einem binären Raumsystem ausgehend 1055 , denkt 1993 in Culture and Imperialism das Konzept des Drittraums als Übergangsraum mit, wenn er von „overlapping territories, intertwined histories“ 1056 zwischen zwei Räumen spricht. 1057 In der Folge wird der dritte Raum (etwa in Bhabhas The Location of Culture, 1994) als ein Ort „der kulturellen Auseinandersetzung, Übersetzung und Aushandlung“ aufgegriffen, „der sich unter Bedingungen von Dominanz und Ausschluss […] zwar stets formiert“, wo sich aber die Gewissheiten von Macht und Wissen durch Aus‐ handlungsprozesse zwischen zwei Gruppen („Herr und Knecht, Kolonisatoren und Kolonisierte, Hegemoniale und Subalterne“ 1058 ) auflösen. Soja schließlich versteht den Thirdspace als Möglichkeitsraum 1059 , was er mit Borges‘ Erzählung El Aleph illustriert: 4 Ästhetik literarischer Musealität 199 <?page no="200"?> 1060 Edward W. Soja: „Die Trialektik der Räumlichkeit“, in: Robert Stockhammer (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005, S. 93-123, hier: S. 96-97. Dieser Text Sojas resümiert seine in Thirdspace: Journeys to Los Angeles and other Real-and-Imagined Places, Oxford: Blackwell 1996 angestellten Überlegungen und führt sie fort. 1061 Soja: „Die Trialektik der Räumlichkeit“, S.-101. 1062 Vgl. Ebd.: „Thirding-as-Othering ist weit mehr als eine dialektische Synthese […]. Thir‐ ding führt ein kritische Möglichkeit des ‚anders als‘ ein, deren Stimme und kritisches Potential in ihrer Andersartigkeit besteht.“ 1063 Ebd., S.-108. Vgl. auch Wirth: „Paratext und Text als Übergangszone“, S.-170. 1064 Soja: „Die Trialektik der Räumlichkeit“, S.-109. 1065 Ebd., S.-122. 1066 Vgl. u.-a. Mary Louise Pratt: „Arts of the Contact Zone“, in: -Profession, 1991, S.-33-40. 1067 Vgl. auch Wirth: „Zwischenräumliche Bewegungspraktiken“, S.-12. Alles kommt im Dritt-Raum zusammen: Subjektivität und Objektivität, das Abstrakte und das Konkrete, das Reale und das Imaginäre, das Wißbare und das Nicht-Vorstell‐ bare, das sich Wiederholende und das sich Unterscheidende, Struktur und Kraft, Geist und Körper, Bewußtsein und das Unbewußte, das Disziplinierte und das Transdiszi‐ plinäre, Alltagsleben und unabschließbare Geschichte. 1060 Dieser Ort, so undenkbar wie das Aleph, ähnelt der Heterotopie, ist anders als diese jedoch kein geschlossener, sondern ein ‚beweglicher‘ Ort. Er ist darum auf verschiedenste Texte und Kunstwerke übertragbar, die binäre Strukturen wie etwa „Subjekt-Objekt, geistig-materiell, […] lokal-global, Zentrum-Peri‐ pherie, Kraft-Struktur“ 1061 thematisieren und aufbrechen - ein „‚Mittelding‘ innerhalb eines umfassenden Kontinuums zwischen den Polen“, das Soja als „Thirding-as-Othering“ bezeichnet. 1062 Besonders „gelebte[] Räume der Reprä‐ sentationen“ sind „das Feld, in dem ‚Gegenräume‘ entstehen können, Räume des Widerstands gegen die herrschende Ordnung“ 1063 - sie sind nicht die einzige Verortung des Dritt-Raums, aber für Soja die wichtigsten: „Diese Räume sind […] übervoll mit Politik und Ideologie, mit Realem, das in Imaginäres verschränkt ist […]. Es sind die bevorzugten Räume des Kampfes, der Befreiung, der Emanzipation.“ 1064 So ist der Dritt-Raum nach Soja eine (ins Positive gewendete) „‚Möglich‐ keitsmaschine‘“ 1065 und ähnelt darin der contact zone. In diesem von Pratt 1066 ursprünglich in Bezug auf Reiseliteratur vorgeschlagenen Konzept rückt das Subjekt im Raum noch stärker ins Zentrum und wird zum mitgestaltenden Akteur. 1067 Hier steht bei ungleichen Machtverhältnissen, wie sie im Museum herrschen, „die Position der Überlegenheit […] immer auch infrage […], denn die Kontaktzone ist ein Raumentwurf, der niemals nur von einer Seite komplett kon‐ trolliert wird“ 1068 . Clifford sieht im Museum eine konkrete Realisierungsform der 200 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="201"?> 1068 Döring: „Postkoloniale Räume“, S.-146. 1069 James Clifford: Routes. Travel and translation in the Late Twentieth Century, Cambridge: Harvard University Press 1997, bes. S. 188-219 (Kap. „Museums as contact zones“), hier: S.-192. 1070 Vgl. Clifford: Routes, S. 218: „When a community displays itself through spectacular collections and ceremonies, it constitutes an ‚inside‘ and an ‚outside‘“. 1071 Vgl. te Heesen: Theorien des Museums, S.-81. Vgl. auch Kap. II.4.1. 1072 Clifford: Routes, S.-194. 1073 Vgl. ebd., S. 218. Vgl. Philipp Schorch: „Contact Zones, Third Spaces, and the Act of Interpretation“, in: Museum and Society, 11, 1, 2013, S.-68-81. 1074 Bal: Kulturanalyse, S.-72-73. 1075 Ebd., S.-72. 1076 Ebd., S.-115. contact zone, als „attempt to invoke the spacial and temporal copresence of sub‐ jects previously separated by geographic and historical disjunctures, and whose trajectories now intersect“ 1069 - etwa im Zusammentreffen von Angehörigen indigener Kulturen und Vertretern eines westlichen Museums. Damit wird die Idee des Museums als autoritärem, Grenzen ziehendem Repräsentationsraum mit einem Innen und einem Außen 1070 aufgehoben, aber auch die im europäi‐ schen Ausstellungswesen angelegten Grenze von Eigenem und Fremdem; man denke an die expositions coloniales, auf denen das europäische Stadtpublikum „tätowierte Südseeinsulaner“ besichtigte wie Ausstellungsstücke. 1071 Dagegen sind Museen als contact zones „sites of a historical negociation, occasions for an ongoing contact“ 1072 , an denen das „Innen“ der eigenen, durch die Sammlung repräsentierten Identität mit dem Blick von „Außen“ konfrontiert wird. 1073 In ihrem Aufsatz „Sagen, Zeigen, Prahlen“ situiert Bal die contact zone auch auf der Ebene der Stadttopographie, zwischen zwei Museen, dem American Museum of Natural History (AMNH) und dem MoMA in New York. Sie un‐ terstreicht zunächst die Opposition der beiden einander gegenüberliegenden Häuser als zwei Ausprägungen „domestizierter Natur“ und „Kultur“ in der Metropole, deren „Kontaktzone“ der Central Parc bilde. 1074 Dann vergleicht sie die museale Erzählung im „Saal der afrikanischen Völker“ des AMNH mit der großen Semiosphäre New Yorks als „in vieler Hinsicht das Herz und die Ikone der amerikanischen Kultur“ 1075 . Die in der Ausstellung diagnostizierte pro‐ blematische Repräsentation afrikanischer Kulturen findet Bal in „ähnliche[n] Bruchstellen innerhalb der sozialen Wirklichkeit von New York City“ wieder, „dem Zentrum der Welt, der es schwerfällt, mit ihrem kolonialistischen Erbe zurechtzukommen.“ 1076 Diese Lektüre der Stadt ‚von oben‘, im Zeichen eines syntagme muséal (vgl. Kap. II.3.4.1. u. II.4.2.) ist ein weiterer Beleg, dass es nützlich sein kann, die Stadttopograhie in ihrer Gänze in den Blick zu nehmen ist. 4 Ästhetik literarischer Musealität 201 <?page no="202"?> 1077 Vgl. Pauline Bohn: La rampe dans le projet architectural, Masterarbeit, ENSAP Bordeaux 2014, online unter: https: / / issuu.com/ po13/ docs/ la_rampe, S. 72-75. Drei weitere Bei‐ spiele für diese Raumform des musealen Erzählens: Im Andersen-Museum in Odense wird die Lebensgeschichte des Schriftstellers entlang einer gewundenen Rampe erzählt. Hier dient sie nicht dem Auf-, sondern dem Abstieg in die im unteren Teil des Hauses gezeigte Ausstellung der Märchenwelt des Autors - sie führt von der Biografie zur literarischen Fiktion. Auch Orhan Pamuks Istanbuler Museum der Unschuld und das Frankfurter Romantikmuseum inszenieren ihre Treppen und Aufgänge explizit als Teil einer musealen Erzählung. 1078 Vgl. zu dieser Treppe als ‚Übergangszone‘ Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-274. 1079 Vgl. Rech-Pietschke: Semiologie des transparenten Gebäudes, S.-118. 1080 Perec: La vie mode d’emploi, S. 100; vgl. Rech-Pietschke: Semiologie des transparenten Gebäudes, S.-117. 1081 Ruhe: „Semiosphäre und Sujet“, S. 173: „Die Grenze ist nicht allein ein Mechanismus der Schließung nach außen, sondern vielmehr der Ort, an dem Kontakte mit anderen Semiosphären stattfinden“. 1082 Ebd., S.-174. Wie manifestiert sich die contact zone im Museum und in einem musealen oder literarischen Raumerzählen? Haben wir oben den Spiegel als Verräum‐ lichung der heterotopen Dimension bezeichnet, so kann man räumliche Aus‐ gestaltungen der contact zone in Verbindungselementen wie in der breiten, gewundenen ‚Rampe‘ des Musée du quai Branly erkennen, oder in dessen Park, die im Sinne der Reisekonnotation der contact zone von einem ici zu einem là führen. 1077 Auch Treppen können diese Funktion erfüllen, etwa jene im Musée Gustave Moreau 1078 , oder auch in Perecs La vie mode d’emploi, wo u. a. dem Treppenhaus eigene Kapitel gewidmet sind, weshalb es gleichwertig neben den verschiedenen Appartements steht. 1079 Hier kreuzen sich die Bewohner des Hauses, für den Maler Valène, den ältesten Hausbewohner, ist sie auch eine Verbindungsstelle verschiedener Erinnerungs- und Zeitschichten des Hauses: „Les escaliers pour lui, c’était, à chaque étage, un souvenir, une émotion, quelque chose de suranné et d’impalpable […]“ 1080 . Zu fragen ist auch, wie eine Übertragung derartiger Raumkonzepte auf eine gesamte Erzählung oder einen ganzen Erzählkomplex aussehen könnte. Dazu ist hilfreich, die contact zone noch einmal mit Lotmans Ansätzen zusam‐ mendenken 1081 ; ganz in dessen Sinne basiert auch sie auf Austauschprozessen und Wechselbezügen von Zentrum und Peripherie. Indem die contact zone „hegemoniale[] Normen“ untergräbt, können diese „durch Überalterung im Gegensatz zur semiotischen Aktivität der Peripherie regelrecht versteinern. Das Zentrum wird explosionsartig von der Peripherie verdrängt, die sich zu einem neuen Zentrum […] entwickelt hat.“ 1082 So können contact zones auch 202 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="203"?> 1083 So bedeutet etwa die Expansion westlicher Museen in andere Weltteile neue contact zones, andererseits neue Zentralitäten. 1084 Vgl. zum non-lieu Marc Augé: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmo‐ dernité, Paris: Seuil 1992; Emer O’Beirne: „Navigating ‚Non-lieux‘ in Contemporary Fic‐ tion. Houellebecq, Darrieussecq, Echenoz, and Augé“, in: Modern Language Review, 101, 2006, S. 388-401; Matei Chihaia: „Nicht-Orte“, in: Jörg Dünne u. Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum, Berlin/ München/ Boston: de Gruyter 2015, S. 188-195, hier: S. 191. Vgl. zum terrain vague Wolfram Nitsch: „Paris ohne Gesicht. Städtische Nicht-Orte in der französischen Prosa der Gegenwart“, in: Andreas Mahler (Hg.): Stadt-Bilder. Allegorie - Mimesis - Imagination, Heidelberg: Winter 1999, S. 305-321; Gisela Febel: „Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film“, in: Gesine Müller u. Susanne Stemmler (Hg.): Raum - Bewegung - Passage. Post‐ koloniale frankophone Literaturen, Tübingen: Narr Francke Attempto 2009, S.-183-194. 1085 Dettke: Raumtexte, S.-12. neue Semiosphären hervorbringen. 1083 Solche Prozesse sind nicht in einem Ort darstellbar; denkbar sind dagegen literarische Topographien, die sich derartigen Raummustern angleichen - und diese womöglich gar über mehrere Werke hinweg ausbauen (vgl. Kap. III.4.3.2.). 4.2.1.1.4 Leerstellen: terrains vagues und Nicht-Orte Die hier diskutierten Raumkonzepte gehen von sinnbesetzten (wenn auch nicht immer lesbaren) Orten und Räumen aus. Hingegen fehlen zwei Raumkonzepte, deren Bezug zum Museum eher nicht naheliegt, die in Bezug auf Toussaint und Houellebecq aber immer wieder genannt werden und sich als zentrale Raumfiguren erweisen werden: non-lieu und terrain vague. Diese zeichnen sich entweder durch ihren Durchgangscharakter oder durch ihre vom Betrachter erst poetisch zu verwandelnde Bedeutungsleere aus und können ‚leere Zentren‘ innerhalb komplexer Topographien bilden. 1084 Für einen umfassenden Blick auf ein erzähltes syntagme muséal erscheint es daher relevant, auch solche Nicht-Orte zu beachten und ihren Platz und ihre Funktion in Museumsräumen zu bestimmen. 4.2.1.2 Raumerzählen Dettke benennt sechs für ein dezidiertes Raumerzählen relevante Aspekte: „Diskontinuität, Simultaneität, Materialität, Performativität, Intermedialität, Öffnung zu den Lesenden“ 1085 , wobei nicht alle Kriterien zugleich erfüllt sein müssen. „Diskontinuität“ meint eine „oft kleinteilige“, etwa durch Zwischen‐ titel oder blancs „aufgebrochene Textgestalt“; „Simultaneität“ eine Auflösung „lineare[r] Sukzessivität“ und der „zeitliche[n] Ordnung des narrativen Fort‐ schritts“ zur Erzeugung eines „narrativen Nebeneinander“; „Materialität“ meint „selbstreflexive Rauminszenierung der Literatur“ durch Typografie und Abbil‐ 4 Ästhetik literarischer Musealität 203 <?page no="204"?> 1086 Ebd., S.-12-14. 1087 Man denke an die langen Objektaufzählungen in Perecs La vie mode d’emploi, vgl. beispielhaft das Kapitel „Caves, 1“, S. 221: „Le mur de gauche est réservé aux produits alimentaires. D’abord les produits de base : farine, semoule, maïzena, fécule de pommes de terre, tapioca, flocons d’avoine, sucre en morceaux, sucre en poudre, sucre en glace, sel, olives, câpres […].“ 1088 Foucault: Les Mots et les Choses, S.-1038. 1089 Vgl. zur Textualität der Heterotopie auch Tetzlaff: Heterotopie als Textverfahren, S. 25-27. 1090 Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-24. 1091 Foucault: Les Mots et les Choses, S.-1037. 1092 Vgl. Ryan u.a.: Narrating Space / Spatializing Narrative, S. 185. Vgl. Tetzlaff: Heterotopie als Textverfahren, S. 32: „Die Nebenordnung gänzlich unvereinbarer Logiken zu einem Tableau ist nur im Text möglich, genau wie das Zugleich von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit oder das lebendige Auftreten von Toten.“ In diesem Sinne ließe sich die Liste auch als eine besondere Form des musée imaginaire auffassen. 1093 Vgl. Ryan u.a.: Narrating Space / Spatializing Narrative, S.-204. dungen; „Performativität“ den Einbezug des Lesenden, ein innertextuell insze‐ niertes „Betreten“ der histoire, der dadurch „präsentisch“ wird; „Intermedialität“ den Einbezug anderer Künste, besonders der „Raumkunst“ des Gemäldes in das Erzählen; „Öffnung zu den Lesenden“ schließlich die Andeutung einer „mögliche[n] Transgressivität ihrer Grenzen zur außerfiktionalen Welt“ in der Literatur, etwa durch mises en abyme und direkte Ansprache der Leserschaft. 1086 Diese Aufzählung ist zwar nicht deckungsgleich mit musealem Erzählen, kann aber zu dessen Beschreibung dienen. Das Kriterium ‚Simultaneität‘ etwa zeigt sich an Versuchen, textuell Sammlung zu (re-)produzieren, z. B. an literarischen Listen und Reihungen (vgl. Kap. II.4.1.2.2.), die realistische 1087 , oder auch heterotope Erzählräume erzeugen können, welche - wie das Museum - die Möglichkeit bieten, „de juxtaposer en un seul lieu réel plusieurs espaces, plusieurs emplacements qui sont eux-mêmes incompatibles“ 1088 : Anhand eines Borges-Texts (El idioma analítico de John Wilkins, 1942), der eine ‚unmögliche‘ Liste unterschiedlicher Tiere aufstellt, beschreibt Foucault im Vorwort zu Les Mots et les Choses auch den Text als heterotopen Ort 1089 , erklärt ihn zu einem „espace impensable“ 1090 : „Les animaux ‚i) qui s’agitent comme des fous, j) innombrables, k) dessinés avec un très fin pinceau de poils de chameau‘ - où pourraient-ils jamais se rencontrer, sauf dans la voix immatérielle qui prononce leur énumération, sauf sur la page qui la transcrit ? “ 1091 Derartige Reihungen erinnern an „parataktische Ausstellungen“ 1092 , die weniger Erlebnisraum als Objekt-Display sind. 1093 Zu denken ist auch an einen heterotopen Romanraum wie Perecs La vie mode d’emploi, wo von einem fixen Erzählzeitpunkt aus (der 23.6.1975 von 19 Uhr 59 bis 20 Uhr, der Moment des Todes von Bartebooth’) eine räumliche 204 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="205"?> 1094 Dettke: Raumtexte, S.-13. 1095 Vgl. Eva Wiegmann: „Der literarische Text als dritter Raum. Relektüre Homi Bhabhas aus philologischer Perspektive“, in: German as a foreign language, 1, 2016, S. 6-25, hier: S.-9-10. 1096 Wirth: „Paratext und Text als Übergangszone“, S.-170. 1097 Krämer: „‚Schriftbildlichkeit‘ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift“; vgl. Gropp: Szenen der Schrift, S.-49-51. 1098 Vgl. Potsch: Literatur sehen, S. 115, sowie das ganze Unterkapitel „Räumlichkeit“, ebd., S.-113-124. Ausweitung erfolgt; es „entsteht so eine Simultaneität und Reversibilität, die anstelle einer teleologisch ausgerichteten Zeitlichkeit eine simultane Räumlich‐ keit etabliert“ 1094 . So zeigt das Beispiel die Kapazität der Literatur, etwas an einem Ort zu sammeln, das nur hier zusammenkommen kann - wie in der Utopie eines Museums. Inwiefern ließen sich auch thirdspace und contact zone als Formen des Raumerzählens realisieren? Während Borges mit El Aleph den thirdspace beschreibt, lässt sich auch an Texte denken, in denen Sprachen, Stile, aber auch künstlerische Standpunkte zur Welt miteinander konfrontiert werden, die mehrere kulturelle Kontexte ineinanderschieben oder gar selbst transkulturelle Theoriebildung betreiben. 1095 Insbesondere, wenn solche Übergänge explizit inszeniert werden, kann sich eine Art contact zone im Text einstellen. Mit Wirth lassen sich diese Begriffe wiederum auch auf Textgrenzen anlegen; er überträgt das Konzept des thirdspace auf Paratexte, die durch ihre „‚periphere oder marginalisierte‘ Lage“ 1096 zwischen realer und fiktionaler Welt stehen. 4.2.1.3 ‚Schriftraum‘ Nicht nur der Paratext, sondern auch der gesamte Text kann in seiner „Textur“ und „Schriftbildlichkeit“ 1097 sichtbar werden, wenn man mit etwas räumlichem Abstand - in einer Art distant reading - darauf blickt; er wirkt dann dicht gewebt oder „hingeworfen“. 1098 Dieser vermeintliche Nebenschauplatz des Raumaspekts ist unter dem Gesichtspunkt der Ausstellbarkeit von Literatur relevant - die nicht nur in Form des Objekts zu sehen ist, sondern auch als räumlich erfahrbare Ausstellungsfläche. Flächiger Text und flächiges Erzählen können miteinander einher gehen, wie etwa in Bernhards Alte Meister, einem Roman ohne Absätze oder Kapitel, der dem autoritären Gestus der verschiedenen Erzählinstanzen im Text ent‐ spricht: Abkürzungen oder Verschnaufpausen sind in dieser Tirade auch für die Leserschaft des Romans nicht vorgesehen. So ‚monolithisch‘ die Ansichten des Museumsbesuchers Reger, so massiv der Text, der die Lesenden eher in ihre Schranken verweist, als sich zu ihnen zu öffnen. Bei derartigen Beispielen 4 Ästhetik literarischer Musealität 205 <?page no="206"?> 1099 Pelz: „Vom Album zum Zettelkasten“, S.-26. 1100 Vgl. Davallon: „L’écriture de l’exposition“, S. 229: „Parler de scénographie, c’est parler de scène - et donc d’espace -, mais aussi de graphie, autrement dit d’écriture.“ 1101 Zit. nach Terry Smith: What Is Contemporary Art? , Chicago: The University of Chicago Press 2009, S.-29. 1102 Vgl. Amselle: Le musée exposé, S. 18. Christine Szkiet: „Erinnerungen als Kunst im Museum“, in: Franziska Metzger u. Dimiter Daphinoff (Hg.): Ausdehnung der Zeit. Die Gestaltung von Erinnerungsräumen in Geschichte, Literatur und Kunst, Köln: Böhlau 2019, S.-209-228. 1103 „Museum und Mausoleum verbindet nicht bloß die phonetische Assoziation. Museen sind wie Erbbegräbnisse von Kunstwerken“, so Adorno: „Valéry Proust Museum“, S. 181; vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S. 180-182; vgl. Anne-Katrin Hillebrand: Erinne‐ rung und Raum. Friedhöfe und Museen in der Literatur, Würzburg: Königshausen&Neu‐ mann 2001. 1104 te Heesen: Theorien des Museums, S.-190. ließe sich das Lesen selbst als Raumpraktik verstehen; Texte werden zu „topo‐ logischen“ 1099 , zu durchquerenden Räumen, einer auf dem Papier niedergelegten Szeno-Graphie 1100 . 4.2.2 Zeit Am Anfang des folgenden Kapitels stehen zunächst Überlegungen zur Zeit‐ lichkeit des Museums selbst (Kap. II.4.2.2.1.), die als Folie zur Beschreibung literarischer Musealität unter Zeitaspekten (Kap. II.4.2.2.2.) dienen. 4.2.2.1 Museale Zeiten Museen stehen in bestimmten, äußeren zeitlichen Kontexten, denen sie sich öffnen oder verschließen können (Kap. 4.2.2.1.1.), und erzeugen in ihrem Inneren spezielle Zeitfiguren und -konstellationen (Kap. II.4.2.2.1.2.). 4.2.2.1.1 Museen als Orte der Vergangenheit und der Gegenwart, des actuel und des contemporain „You can be a museum, or you can be modern, but you can’t be both“ 1101 , lautet ein von Gertrude Stein überliefertes Bonmot, das schlüssig klingt, denn Museen haben eine lange Geschichte und sind Orte, die in die Vergangenheit weisen 1102 : Der Gegenwart können sie immer nur ‚hinterherräumen‘, was zweifellos das verbreitete Bild vom Museum als Friedhof oder Grab der Dinge prägt. 1103 Ande‐ rerseits jedoch konfrontieren Museen Vergangenheit und Gegenwart, wozu sie „das eine darstellen [müssen], um das andere [zu] adressieren“ 1104 . Da Musealien „niemals nur ein Teil von Vergangenheit, sondern immer auch ein Teil der je eigenen Gegenwart“ 1105 sind, ist Musealisierung folglich nicht nur ein tödlicher, 206 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="207"?> 1105 Flügel: Einführung in die Museologie, S. 25. 1106 Vgl. Belting: „Das Museum“, S. 656: „Man hat Museen oft mit Gräbern assoziiert, aber in dieser Anklage vergessen, daß Gräber nicht nur für Leichen, sondern für Besucher bestimmt sind, die hier den Kontakt mit der verlorenen Zeit suchen und den Ort in ihrer Phantasie verwandeln.“; vgl. Goldschweer: Trügerische Zuflucht, S. 163-164; Wirth: „Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? “, S.-62. Vgl. Kap. II.4.1.2.1.3. 1107 Groys: Logik der Sammlung, S.-9. 1108 Amselle: Le musée exposé, S.-37. 1109 Vgl. ebd., S.-35-36. 1110 Ebd., S.-36-37. 1111 Vgl. zum Musée du quai Branly Sternfeld: „Erinnerung als Entledigung“, S.-68. sondern auch verlebendigender Prozess. 1106 Auch in Bezug auf moderne Kunst ist die Friedhof-Metaphorik unscharf, denn diese ist nicht selten von Beginn an fürs Museum gedacht: „Das moderne Kunstmuseum ist also nicht Friedhof, sondern, wenn man so will, eine Kirche der Dinge“ 1107 , die im Meta-Museum am Leben erhalten oder gar zum Leben erweckt werden können, indem etwa ihre Herkunft beleuchtet wird. Doch selbst, wenn es actualité aufgreift, muss das Museum nach Amselle deshalb nicht contemporain sein, wobei actualité eine noch nicht verwandelte, ephemere Gegenwart meint, contemporain dagegen einen Zustand, der durch das Museum selbst, „en tant qu’œuvre d’art“ 1108 hergestellt wird, und sich damit in Bezug zur Gegenwart setzt. Das Centre Pompidou mit seiner vergleichsweise konventionellen Szenografie sieht Amselle etwa als Ort des Bewahrens, der eher etablierte Sichtweisen reproduziere als neue generiere 1109 , wohingegen der seine eigene Vergangenheit ausstellende Palais de Tokyo ein Gegenmodell dazu bildet, qui ne se réduit pas au ‚white cube‘ du musée d’art contemporain ‚classique‘. La friche déconstruite, la mise en scène du musée en tant que tel, de ses viscères, est donc un aspect essentiel de la contemporanéité de ce même musée. C’est en effet l’exposition du musée […] qui le rend véritablement contemporain […]. 1110 In diesem Sinne sind auch manche Museen contemporain, die sich nicht der Gegenwart widmen. Etwa durch die Aufarbeitung des Kolonialismus können sie gesellschaftliche oder erinnerungspolitische Umbrüche markieren, Trans‐ formationen aufnehmen, gar zu Orten werden, die ‚ihrer Zeit voraus‘ sind - oder aber an diesem Anspruch scheitern. 1111 Diese Unterscheidung zwischen actuel und contemporain scheint auch rele‐ vant in Bezug auf die Literatur und deren Festschreibungsfunktion, Aktualität oder Zeitgenossenschaft, und bietet einen Bezugsrahmen, der ihre Situierung unter Zeitgesichtspunkten erlaubt. 4 Ästhetik literarischer Musealität 207 <?page no="208"?> 1112 Diese Aspekte werden im durch eigene Überlegungen ergänzt. Vgl. Bénédicte Savoy: Museen. Eine Kindheitserinnerung und die Folgen, Köln: Greven Verlag 2019, S.-18-26. 1113 Savoy: Museen, S.-20. 1114 Vgl. Huysmans: Noëls du Louvre, S. 25: „Le musée du Louvre est, le jour de Noël, un lieu de refuge pour le chrétien qu’exaspère le sabbat des musicastres […].“ 1115 Vgl. Wajsbrot: Sentinelles. 1116 Westerwinter: Museen erzählen, S.-11. 1117 Bande à Part, R: Jean-Luc Godard, Frankreich 1964; diese Passage wird auch in Toussaints Roman Fuir zitiert, vgl. Kap. III.5.1. 1118 Savoy: Museen, S.-20. 4.2.2.1.2 Zeiten im Museum Was aber geschieht im Museum? Savoy unterscheidet drei Zeitaspekte, die hier zusammentreffen, die ‚Zeit des Besuchers‘, die ‚Zeit des Objekts‘, und schließlich die ‚Zeit des Museums‘. 1112 Der erste Museumsbesuch eines Kindes, der vielleicht letzte eines alten Menschen - neben dieser individuellen ‚Zeit des Besuchers‘, die unzweifelhaft Einfluss auf die Wahrnehmung des Museums und die damit verbundenen Raumpraktiken hat, zählt Savoy hierzu auch die „kollektive Zeit, […] in der man lebt“: „Es ist nicht dasselbe, heute den Louvre zu besuchen oder 1947“ 1113 , an Weihnachten 1114 oder in der Nacht 1115 . Die ‚Zeit des Besuchers‘ betrifft auch die Dauer, die dieser im Museum verbringt, und die Art, wie er diese gestaltet: Im Museum lässt sich die Zeit einteilen - Grenzen setzen meist die Öffnungszeiten. Gleichwohl gibt es Konventionen der Besuchszeit, die sich oft in „kinofilmähnlichen Zeitfenstern“ 1116 abspielt, was besonders solche Erzählungen interessant macht, die sich von dieser Konvention absetzen, so der bekannte Sprint durch den Louvre in Godards Film Bande à part, in dem die Protagonisten sich ein Beispiel an einem Amerikaner nehmen, der den Louvre in 9: 45 Minuten durchquert haben soll - und diesen Rekord um zwei Sekunden unterbieten. 1117 Als ‚Zeit der Objekte‘ benennt Savoy deren „Entstehungszeit“ 1118 , die in einem Museum um Jahrtausende voneinander abweichen, oder einem recht engen zeitlichen Korridor entstammen können (etwa im Pariser Musée de la vie romantique). Zur Sichtbarwerdung der Zeitlichkeit im Museum ist wesentlich, wie dieses von seinen Exponaten erzählt. Bal verdeutlicht dies in ihrem Vergleich des AMNH mit dem MET (vgl. Kap. II.3.1.2.1.): Während die in den Schaukästen ausgestellte ‚Natur‘ im Stillstand erstarrter Hinter‐ grund ist, wird die ‚Kunst‘ im Met als unabänderliche Entwicklung präsentiert und 208 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="209"?> 1119 Bal: Kulturanalyse, S. 76; vgl. zur Geschichte zentralisierenden, sortierenden Ausstel‐ lungsarchitektur des MET auch Paul: Poetry in the Museums, S.-28-29. 1120 Savoy: Museen, S.-25. 1121 Vgl. Amselle: Le musée exposé, S. 18-19, auch S. 31-32. Amselle stellt deshalb fest, das Musée du quai Branly habe zwar eine „désoccidentalisation“ vorangetrieben, aber keine „contemporanéisation“ seiner musealen Praktiken (vgl. ebd., S.-31). 1122 Michael Gamper u. Helmut Hühn: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover: Wehrhahn Verlag 2014, S.-7-23, hier: S.-16. mit Geschichte ausgestattet. Aber auch das AMNH führt eine Geschichte vor, nämlich die Geschichte der Fixierung, der Leugnung der Zeit. Seine eigene Geschichte. 1119 Ob Savoys dritte Kategorie, die ‚Zeit des Museums‘, sichtbar wird, hängt ebenfalls von der Selbstausstellung des Museums ab. Savoy bezieht sich mit dieser Kategorie v. a. auf den zeitlichen Kontext, „als die Objekte ins Museum kamen“ 1120 , also v. a. das rapide Anwachsen der Sammlungen im späten 19. Jahr‐ hundert aufgrund des Kolonialismus und wirtschaftlicher und wissenschaftli‐ cher Aufschwungsphasen. Ob diese Ebene sichtbar wird, ist insbesondere aus postkolonialer Perspektive relevant: So stammt die Dauerausstellung des Musée du quai Branly zu großen Teilen noch aus der ethnologischen Sammlung des Musée de l’Homme. Die von dort übernommenen Objekte erscheinen im neuen Museum in einem anderen Licht; ihre Provenienz und ihre museale ‚Biografie‘ bleiben unsichtbar. 1121 Wirksam und sichtbar werden die Zeiten des Museums nicht ohne Zutun des betrachtenden Subjekts. Zwei für literarisches Museumserzählen äußerst relevante Aspekte der musealen Zeiterfahrung sollen noch einmal gesondert hervorgehoben werden: ästhetische Eigenzeit und museale Zäsur. Ästhetische Eigenzeit meint eine Zeitlichkeit von Objekten im Blick des Betrachters, bei [der] komplexe, auf vielen Ebenen zugleich stattfindende (Selbst-)Bezüglichkeiten in der Beobachtung zur Wahrnehmung idiosynkratischer Zeitlichkeiten führen. Derart organisierte Gebilde formieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an‐ ders, als sie in der linearen Zeit erscheinen. 1122 Ästhetische Eigenzeiten lassen sich im Museum erleben, etwa wenn man die Zeit vor einem Gemälde vergisst, während man ein anderes unbeachtet lässt - im Sinne von punctum und kaïros können sie sich zwar einstellen, müssen es aber keineswegs. Diese unterschiedliche Wahrnehmung einzelner Exponate führt beim Gang durch das Museum auch zu einem besonderen Zeiterleben, einer ästhetischen Eigenzeit der gesamten Ausstellung. 4 Ästhetik literarischer Musealität 209 <?page no="210"?> 1123 Vgl. Vedder: „Museum/ Ausstellung“, S.-174. 1124 Vgl. Bataille: Le dictionnaire critique, S. 47, sowie Giebelhausen (Hg.): The Architecture of the Museum: Symbolic Structures, Urban Contexts, S.-177. 1125 Marguerite Duras: Hiroshima mon amour. Scénario et dialogue, Paris: Gallimard 1991 [1960], S.-24. 1126 Westerwinter: Museen erzählen, S.-13. Derartige Erfahrungen können in der Literatur erzählt und nachempfunden werden, wie in der Moreau-Schilderung bei Huysmans (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.). Nicht immer müssen dazu Kunstwerke herangezogen werden; auch die ‚Welt als Museum‘ kann ästhetische Eigenzeiten bereithalten - wenn etwa Balzacs Raphaël fasziniert vor dem Kramladen haltmacht (vgl. Kap. II.3.4). Ebenfalls zentral ist der Aspekt der Zäsur: Das Museum ist nicht nur ein Ort der Kontemplation, sondern auch der (gelegentlich schockhaften) Erkenntnis 1123 , was sich sowohl auf der individuellen Ebene des Besuchers festmachen lässt, als auch an größere, geschichtliche Zusammenhänge rück‐ zubinden ist. Wie auch Bataille suggeriert, wenn er Museum und Guillotine vergleicht, besitzt das Museum eine Festschreibungs- und damit Zäsurfunktion für ganze Gesellschaften. 1124 Gerade diese Festschreibungsfunktion ist dafür verantwortlich, dass das Museum auch unter Zeitaspekten eine Reflexion zu Innen und Außen, musea‐ lisierter Geschichte und individueller Erinnerung ermöglicht - indem etwa Diskrepanzen zwischen beiden sichtbar werden. Deutlich wird dies etwa in Duras’ und Resnais’ Film Hiroshima mon amour (1959), als die Hauptfigur, eine französische Schauspielerin, von ihrem viermaligen Besuch im Friedensmuseum von Hiroshima berichtet, zehn Jahre nach dem Abwurf der Atombombe, und ihr japanischer Liebhaber immer wieder insistiert: „Tu n’as rien vu à Hiroshima, rien.“ 1125 4.2.2.2 Literatur und museale Zeit Im Folgenden werden die beschriebenen Aspekte der musealen Zeitlichkeit mit der Literatur zusammengedacht, wobei sich die Gliederung des Kapitels vom Außen (Literatur als Festschreibungsmedium, Kap. II.4.2.2.2.1.) zum Innen (literarische ‚Zeitorte‘, Kap. II.4.2.2.2.5.) der Literatur bewegt. 4.2.2.2.1 Literatur als Erinnerungs- und Festschreibungsmedium, monument und document: actuel und contemporain Wie das Museum ist auch die Literatur die „Ausformung einer kulturellen Gedächtnisstruktur“ 1126 . Bücher als Objekte sind nicht nur lieux de mémoire 1127 , sondern zirkulieren auch in erinnerungskulturellen Kreisläufen, ob als „kano‐ 210 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="211"?> 1127 Vgl. Hamon: Expositions, S. 9, der sich hier auf Pierre Nora bezieht; Nora beschreibt als lieux de mémoire nicht nur begehbare Orte wie den Louvre, sondern auch Musikstücke oder Denkfiguren; vgl. Erll: „Gedächtnis und Erinnerungskultur“, S.-66. 1128 Astrid Erll: „Gedächtnis und Erinnerungskultur“, in Susanne Scholz u. Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S. 64-71, hier: S.-70. 1129 Vgl. Joël Loehr: „Pour une histoire littéraire au rebours“, in: Poétique, 161, 1, 2010, S. 37-62, hier: S. 43; Loehr unterscheidet zwischen „œuvre […] comme objet an-histo‐ rique, a-topique (le chef-d’œuvre ‚éternel’, ‚universel’…) et comme objet historique, local (le ‚produit’ et le ‚reflet’ d’un temps et d’un lieu).“ 1130 Bettina Menke: „Das Nach-Leben im Zitat. Benjamins Gedächtnis der Texte“, in: Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst. Raum, Bild, Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1991, S. 74-110, hier: S. 75. Zit nach Westerwinter: Museen erzählen, S.-22. 1131 So Honoré de Balzac in seiner „Préface“ zu Une fille d’Ève, S.-265. nisierte und musealisierte materiale Gegenstände des kulturellen Funktionsge‐ dächtnisses“, „als ‚vergessene Texte‘ […] im Archiv“ oder als „machtvolles Zirkulationsmedium des Gedächtnisses, von der Bibel […], bis hin zu […] Erinnerungsromanen, die als Bestseller in Übersetzung transnational gedächt‐ nisbildende Wirkung entfalten können“. Und schließlich kann Literatur „als Medium der Repräsentation und (kritischen) Reflexion“ das Verhältnis von „Gedächtnis und materieller Kultur“ selbst mitreflektieren. 1128 Analog zum musée contemporain oder actuel kann also auch die Literatur monument und document sein, an eine Zeit gebunden, sie dokumentierend, hinterfragend oder festschreibend. 1129 Wie ein Museum kann es eine ‚behauptete‘ Vergangenheit durch narrative (dort szenografische, hier literarische) Verfahren und konkrete Objekte (oder literarische Erzählobjekte) heraufbeschwören und eindeutig als abgeschlossen situieren, und zum „Über- oder Nachleben[] des Toten“ bei‐ tragen. 1130 Da Literatur auch (ihre) Gegenwart abbildet und/ oder sich in (ihrer) Gegenwart situiert, greifen auch hier die Kategorien von contemporain und actuel, wobei auch sie in einem problematischen Verhältnis zu ihrer Gegenwart steht, wie schon Balzac feststellt: „Vous ne pouvez raconter chronologiquement que l’histoire du temps passé, système inapplicable à un présent qui marche.“ 1131 Für den literar-musealen Komplex scheint aber auch die Verschiedenheit der ‚Zeitmedien‘ Literatur und Museum relevant. Denn beide eröffnen unter‐ schiedliche - sinnliche, kognitive - Zugänge zu Geschichte und Erinnerung. Möglicherweise leisten Ausstellungen in dieser Hinsicht etwas, was Literatur nicht ermöglicht - ein Unterschied, der gerade in literar-musealen Komplexen zutage tritt, wie Pamuk anhand seines literar-musealen Museums der Unschuld bemerkt: 4 Ästhetik literarischer Musealität 211 <?page no="212"?> 1132 Pamuk: Die Unschuld der Dinge, S. 18, vgl. auch Goßens: „Photoalbum, Museum, Katalog“, S.-193. 1133 Vgl. z.-B. Wirth: „Zwischenräumliche Schreibpraktiken“, S.-21 u. 23. 1134 Vgl. Genette: Seuils, S. 64. So habe etwa Zola für L’Œuvre zwischen 54 Titelalternativen geschwankt. 1135 Ette: LiebeLesen, S.-583. 1136 Vgl. ebd., S.-585. 1137 Vgl. Joris-Karl Huysmans: „Préface écrite vingt ans après le roman“, in: ders.: Romans et nouvelles, Édition publiée sous la direction d’André Guyaux et de Pierre Jourde, Paris: Gallimard 2019 [1903], S.-715-728. 1138 Vgl. Genette: Seuils, S.-337. 1139 Vgl. ebd., S. 338. Ironisch aufgegriffen wurde dieser Titel z. B. von Perec und Toussaint. Vgl. Georges Perec: „Notes pour la conférence ‚Comment j’ai écrit un chapitre de La vie mode d’emploi‘“ [1978], in: ders.: Œuvres, Bd. II, Édition publiée sous la direction de Christelle Reggiani, Paris: Gallimard 2017, S. 663-666; vgl. Jean-Philippe Toussaint: „Comment j’ai construit certains de mes hôtels“, in: Constructif, 15, 2006, S. 6-16, online unter: http: / / www.constructif.fr/ bibliotheque/ 2006-10/ comment-j-ai-construit Die im Museum ausgestellten Dinge entsprechen den Gegenständen, von denen im Roman die Rede ist, aber ein Wort ist nun mal ein Wort, und ein Gegenstand ist etwas anderes. Die Assoziation, die durch ein Wort in uns ausgelöst wird, ist nicht das gleiche wie die Erinnerung an einen Gegenstand, den wir einst benutzt haben. 1132 4.2.2.2.2 Literatur von außen: Zeitlichkeit des literarischen Werks Blickt man auf die zeitliche Festschreibung nicht durch die Literatur, sondern der Literatur, so spielen Paratexte eine wichtige Rolle. Als ästhetisierende Rahmen 1133 tragen sie zur Musealisierung von Buchobjekten oder Texten bei, was räumlich (vgl. Kap. II.4.2.1.3), aber auch zeitlich zu verstehen ist: So bedeutet schon die Wahl eines Buchtitels eine oft retrospektive Festschreibung. 1134 Glei‐ ches gilt für nachträgliche Vorworte wie jenes, das Huysmans 20 Jahre nach Erscheinen des Romans À rebours verfasst hat. Darin erklärt der Autor sein Werk zum abgeschlossenen „Aerolithen“ 1135 , und deutet den Niedergang Des Esseintes’ in eine Glaubenskrise um, wie er selbst sie zwischenzeitlich erfahren hat. Wegen dieses retrospektiven, objektivierenden (und objektifizierenden) Blicks auf den Text ist dieses Vorwort ebenso ein Nachwort, das den Roman in eine abgeschlossene Vergangenheit verlagert - auch dies eine Form der zeitlichen Rahmung 1136 , die auch die Pléiade-Ausgabe der Werke Huysmans nachvollzieht, wenn sie die „Préface écrite vingt ans après le roman“ nach dem Haupttext abdruckt. 1137 ‚Öffentliche Epitexte‘, etwa nachträgliche Kommentierungen („Autocom‐ mentaires tardifs“ 1138 ) wie Raymond Roussels wirkmächtiger Text Comment j’ai écrit certains de mes livres (1935) 1139 , besitzen eine ähnliche Funktion. Als 212 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="213"?> -certains-de-mes-hotels.html? item_id=2728, wiederveröffentlicht in: ders.: L’Urgence et la Patience, Paris: Les Éditions de Minuit 2012, S.-47-54. 1140 Davallon: L’exposition à l’œuvre, S.-11. 1141 Colard beschreibt Beispiele mehrerer, aufeinander folgender Ausstellungen, die sich explizit als Teile einer übergreifenden Erzählung verstehen, so z. B. die Ausstellungen Prologue und Celebration Park von Pierre Huyghe; vgl. Colard: „De la préface d’exposi‐ tion“, S.-377. 1142 Perec: Les Choses, S. 92. Vgl. Colard: Perec, S. 5: „Avec cette liste quasiment chronologique d’œuvres d’art, suivies des collections d’arts décoratifs, le riche appartement rejoint la logique du musée […] : l’espace intérieur d’un individu est animé dans son agencement par un principe qui relève pleinement de l’exposition.“ 1143 Yang: „Das Museum als Schauplatz“, S.-59. solche Epitexte ließen sich auch Literaturausstellungen verstehen, die Fest‐ schreibungsmomente des vorangegangenen Werks bedeuten; die Ausstellung kann eine zurückliegende zeitliche Entwicklung abbilden und ‚musealisiert‘ das bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte Werk. Allerdings heben Komplexe der néolittérature diese Funktion womöglich auch auf, denn werkübergreifende literar-museale Komplexe lassen das einzelne Werk zwar als Resultat einer „mise en exposition“ 1140 erscheinen, machen es aber auch zum Teil einer transmedialen Erzählung und Reflexion 1141 , die nicht im Museum enden muss. 4.2.2.2.3 Museale Zeit erzählen: Rahmung, Reihung, Eigenzeiten und Zäsuren Museal erzählende Literatur stellt ihre Kapazität als ‚Zeitkunst‘ literarisch (her)aus: Sie kann sich als ‚Erinnerungsmedium‘ inszenieren, so durch die exponierte, erzählerische Rahmung einer zurückliegenden Episode, die somit als abgeschlossen behauptet wird. Sie kann zeitliche Reihungen inszenieren, wie in Perecs Les Choses, wo sich die Hauptfiguren, ein junges Paar, die Innen‐ einrichtung eines wohlhabenden Diplomaten ausmalen, und die Erzählung als Sukzession zeigt, was räumlich verteilt steht („Ils sauraient où trouver la petite vierge du XII e , le panneau ovale de Sebastiano del Piombo, l’atlan, le Max Ernst […]“ 1142 ). Sie kann über den gesamten erzählten Raum hinweg verschiedene ‚Zeiten des Museums‘ nachvollziehen, wie in Bernhards Alte Meister, wo die „Kunst der Spätrenaissance […] am Beispiel des Gemäldes Der weißbärtige Mann um 1570 in einem Museumsbau aus dem späten 19. Jahrhundert von Besuchern der Gegenwart (der 1980er Jahre) rezipiert“ 1143 wird. Kondensiert in einer einzelnen Passage werden die Zeitaspekte des Museums sowohl explizit als auch metareflexiv in Prousts Erzählung vom Museums‐ besuch Bergottes und dessen Betrachtung des Gemäldes Vue de Delft aufge‐ griffen. 1144 In dieser bekannten Passage der Recherche bildet die Ausstellung eine 4 Ästhetik literarischer Musealität 213 <?page no="214"?> 1144 Vgl. Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, Bd. III, Édition publiée sous la direction de Jean-Yves Tadié, Paris: Gallimard 1988 [La Prisonnière, 1923], S. 692-693; vgl. auch Hamon: Expositions, S.-88. 1145 „‚C’est ainsi que j’aurais dû écrire, disait-il. Mes derniers livres sont trop secs, il aurait fallu passer plusieurs couches de couleur, rendre ma phrase en elle-même précieuse, comme ce petit pan de mur jaune‘“, Proust: A la recherche, Bd. III, S.-695. 1146 Ebd. 1147 Ebd., vgl. Nicolas Valazza: „Portrait de Proust en dentellière. Au-delà du petit pan de mur jaune“, in: Sjef Houppermans u. a. (Hg.): Proust et la Hollande, Leiden: Brill 2011, S. 149-169; Bal: The Mottled Screen, S. 82-83; Georges Didi-Huberman: Devant l’image. Question posée aux fins d’une histoire de l’art, S.-293-294. 1148 Rilke: „Archaïscher Torso Apollos“, S.-513 (vgl. Kap. II.4.2.) 1149 Vgl. zu Einflüssen bei Toussaint und Houellebecq Kap. III.5.3. u. IV.4.1. Art kaïros-Moment, da das Bild Vermeers nur kurz in Paris zu sehen ist („prêté par le musée de La Haye pour une exposition hollandaise“); die Situierung im Leben Bergottes („une crise d’urémie assez légère était cause qu’on lui avait prescrit le repos“), seine Zeit im Museum zwischen Eile und Rast („[i]l passa devant plusieurs tableaux“, bevor er sich auf einer Sitzbank ausruhen muss) bestimmen den Museumsbesuch und schließlich die Rezeption des Werks und eines punctum im Bild, durch das Bergotte seine Unzulänglichkeit als Künstler erkennt 1145 : Dans une céleste balance lui apparaissait, chargeant l’un des plateaux, sa propre vie, tandis que l’autre contenait le petit pan de mur si bien peint en jaune. Il sentait qu’il avait imprudemment donné la première pour le second. 1146 Es sind hier nur indirekt das Museum oder das Gemälde, welche die Zäsur, den ‚Tod durch Erkenntnis‘ herbeiführen, sondern eigentlich nur ein durch mehrfache Wiederholung besonders herausgestelltes Bilddetail, „le petit pan de mur“ 1147 . Somit zeigt die Passage ästhetische Eigenzeiten auf drei Ebenen: jener von Museum und Ausstellung, jener des Werks, jener des Werkdetails. Ähnlich wie in Rilkes Archaïscher Torso Apollos ergibt sich eine Zäsurerfahrung durch Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk. Auch hier wird ein Detail des Werks zu einer belebten, präsentischen Erfahrung, auch hier gibt es „keine Stelle,/ die dich nicht sieht.“ 1148 Prousts wirkmächtige Museumsszene 1149 rückt die Dimension des Zufalls, der zeitlich bedingten musealen Emergenz in den Vordergrund; das Museum, das in ihm ausgestellte Werk, auch die innerhalb dieses Werks lesbare Stadt Delft sind in diesem Sinne Orte, an denen günstige Gelegenheiten Musealität erzeugen können. In der Folge weitet sich diese Passage zu einer Reflexion über die jeweiligen Qualitäten unterschiedlicher Medien als Zeitspeicher aus, und zwar mittels einer (Literatur-) Ausstellungsbeschreibung: In der Nacht seiner Beerdigung sind in 214 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="215"?> 1150 Proust: A la recherche, Bd. III, S.-693. 1151 Ebd. 1152 Foucault: „Des espaces autres“, S. 17; vgl. Bourgeois: Poétique de la maison-musée, S.-56 u. 223. 1153 Ette: LiebeLesen, S. 602 „Überall sehen wir Auswirkungen, Konsequenzen, logische Abfolgen, welche die Gleichzeitigkeit des Bildes mit seiner simultanen Ambiguität freilich immer wieder nicht nur zeitlich, sondern auch semantisch festhalten.“ 1154 Vgl. Mitterand: L’illusion réaliste, S. 17-18. Die Schilderung von Werken oder Objekten bringt eine „passage du narratif au descriptif “ mit sich, „un arrêt, une stase, un blocage, qui y interrompt la circulation du flux des actes, des événements, des aventures et des péripéties“. Mitterand bezieht sich hier auf Balzacs La Peau de Chagrin, wo literarisches Zeiterleben und Literarisierung des Zeiterlebens in Deckung gebracht werden, „en faisant coïncider la halte du récit avec une halte du personnage“, ebd., S.-17. 1155 Vgl. Ette: LiebeLesen, S.-602. einer Vitrine die Bücher Bergottes ausgelegt, und gegen den Tod im Museum steht Überleben durch Literatur („ses livres, disposés trois par trois, veillaient comme des anges aux ailes éployées et semblaient pour celui qui n’était plus, le symbole de sa résurrection.“ 1150 ). Gegen beide Erinnerungsmedien, Buch und Museum werden schließlich die vermeintlich ‚zeitnahen‘, aber als unzuverlässig beschriebenen Tageszeitungen angeführt: „J’appris […] que ce jour-là Bergotte était mort. Et j’admirai l’inexactitude des journaux qui - reproduisant les uns et les autres une même note - disaient qu’il était mort la veille. Or la veille, Albertine l’avait rencontré, me raconta-t-elle le soir même“ 1151 . Als Gegenmodell zu den Beispielen Proust und Rilke sei auf À rebours ver‐ wiesen, wo Zäsurmomente und Eigenzeiten nicht aus einer zufallsbestimmten constellation von Objekt und Subjekt hervorgehen, sondern aus einer inten‐ dierten concentration. Thematisiert wird hier die Endzeit Des Esseintes’ als letztem Vertreter seines Adelsgeschlechts. Seine maison-musée ist nicht nur eine räumliche Heterotopie, sondern auch deren zeitliches Äquivalent, eine Hetero‐ chronie, „[qui] se met à fonctionner à plein lorsque les hommes se trouvent dans une sorte de rupture absolue avec leur temps traditionnel“ 1152 . Die äußerst verfeinerte, dekadente Vision des Haus-Museums als „Endpunkt“ schlägt sich in einer „Gleichzeitigkeit“ 1153 der Wahrnehmung nieder: Die langen Beschrei‐ bungen von Gemälden (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.), und Dekorationsgegenständen decken sich mit der Zeitentbundenheit des Protagonisten. 1154 Legitimiert wird diese Darstellung ästhetischer Eigenzeit durch den Blick Des Esseintes’ und dessen geschärfte Sinneswahrnehmung 1155 , so dass das Zeiterzählen hier dem Subjekterzählen unterstellt ist. Ähnliche Beispiele subjektzentrierten Zeiterzählens finden sich auch in Bezug auf die ‚Welt als Museum‘: In La Peau de Chagrin wird der Besuch des Geschäfts am Romanbeginn durch die Krise des verzweifelten, aber auch 4 Ästhetik literarischer Musealität 215 <?page no="216"?> 1156 Vgl. Mitterand: L’illusion réaliste, S. 18: Raphaël sei „un névrosé, un ‚mourant‘, dése‐ spéré, proche du suicide, désaccordé avec la vie active ; un rêveur, et un contemplatif.“ 1157 Vgl. Westerwelle: Baudelaire und Paris, S.-218-237. 1158 Perec: Les Choses, S.-141. 1159 Ebd., S.-17. 1160 Scherübl: „Das Museum des Unvermögens“, S.-68. 1161 Ebd. mit besonderer Sinnesgabe ausgestatteten Protagonisten legitimiert. 1156 Auch in Baudelaires Gedicht Le Cygne bringt das melancholische Subjekt selbst eine museale Wahrnehmung hervor, indem es seine Umgebung ‚allegorisiert‘ und Zeitebenen verbindet: In dem Bild eines verendenden Schwans greifen griechische Antike und gegenwärtige städtische Transformation ineinander. 1157 „Aussi devant ce Louvre“ (vgl. Kap. II.4.1.1.3.) können also kaïros-Momente entstehen, sofern das Subjekt dafür empfänglich ist. Befinden sich bei Balzac, Baudelaire und Huysmans Subjekt und erzählte Zeit in Einklang, so löst Les Choses beide Ebenen voneinander: Im Epilog des Romans imaginieren die Hauptfiguren im futur simple das Leben in einer Warenwelt („Ils auront les pièces immenses et vides“ 1158 ), die sie zu Beginn des Romans noch im conditionnel herbeigesehnt hatten („La vie, là, serait facile, serait simple“ 1159 ): Zwischen dem erträumten Möglichen und dem determinierten Zukünftigen besteht keine „vermittelnde Zeitebene […], in der so etwas wie die Geschichte einer persönlichen Entwicklung stattfinden kann.“ 1160 Dieses Zeitregime stellt zugleich eine Gesellschaftsordnung aus: Die Erzählzeit negiert eine individuelle Entfaltung der Protagonisten, die als Spielbälle oder von ‚ihrer Zeit‘ determinierte Objekte erscheinen. So ließe sich von einer ‚musealen Erzählzeit‘ sprechen, in der zwischen dem verheißungsvollen Vorausblick auf eine (un-)mögliche Zukunft und dem Rückblick auf verpasste Op‐ tionen oder besiegelte Weichenstellungen keine […] Geschichte einer persönlichen Entwicklung stattfinden kann. 1161 Dieser literaturgeschichtliche Kurzüberblick zeigt also neben einem Spektrum möglichen musealen Zeiterzählens auch einen Wandel, der jenem des Museums gleicht, das als ‚fixer‘, festgeschriebener und festschreibender Zeitspeicher zunehmend zur Disposition steht. 4.2.2.2.4 Explosion, concentration, condensation Auch die Modulation des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit kann museale Eigenzeitlichkeit erzeugen. 216 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="217"?> 1162 Vgl. Bal: Narratology, S.-99. 1163 Vgl. Gropp: Szenen der Schrift, S. 174, die auch aus einem Perec-Interview zitiert: „Le Moment où Bartlebooth est en train de mourir. En fait, à partir de cette unique seconde on a fait tout exploser, comme quelqu’un qui se souvient de toute sa vie avant de mourir“. 1164 Vgl. dazu, gezeigt am Beispiel von Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Doris Kolesch: Roland Barthes, Frankfurt/ M., New York: Campus Verlag 1997, S. 108-109. 1165 Vgl. Schulte Nordholt: „Georges Perec“, S. 78. Einiges spricht dafür, dass Perec Monet als Vorbild im Sinn hatte, etwa seine Sensibilität für die sich ändernden Lichtverhältnisse (z. B. „De nouvelles lumières s’allument dans le café. Dehors le crépuscule bat son plein.“, Perec: Epuisement, S. 30, „Léger changement de luminosité“, ebd., S. 41); vgl. dazu Colard: „L’hypothèse du ‚roman-exposition‘“, S.-336. 1166 Perec: Tentative d’épuisement, S.-30. Anders als ein ausgeglichener, unauffälliger „[o]verall [r]hythm“ 1162 über eine ganze Erzählung hinweg, hebt ein auffällig gestauchtes oder gedehntes Erzählen einzelne Ereignisse heraus, inszeniert sie und trägt damit zur Musealität eines Textes bei. Perecs umfangreicher Roman La vie mode d’emploi basiert auf einem einzigen, konzentrierten Zäsurmoment, dem Todeszeitpunkt Bartlebooth’, der zu einem zeitlich entgrenzten Mosaik von Ereignissen aus 75 Jahren ‚explodiert‘. 1163 Die einzelnen Kapitel erscheinen meist als statische ‚Denkbilder‘, in denen, wie im gesamten Roman, die Zeit stillsteht. Solche Literatur, die mit Verfahren des ‚Stand-‘ oder ‚Denkbilds‘ operiert, fixiert einzelne Momente, und sie verzichtet auf andere, woraus sich eine Präsenz-Absenz-Spannung ergibt 1164 ; sie suggeriert so ein ‚Aufscheinen‘ markanter Augenblicke vor dem Hintergrund eines großen Ganzen - wiederum die Nachempfindung einer museumsartigen Erfahrung. Gegen diese explosion des Augenblicks ließe sich die concentration stellen, die Perec mit seiner Tentative d’épuisement d’un lieu parisien praktiziert, wo es stellenweise zu einer Deckung von Erzählzeit und erzählter Zeit kommt. In diesem Versuch, einen einzigen Ort zu mehreren Zeitpunkten aus einer zen‐ tralen Perspektive in - im wahrsten Sinne des Wortes - minutiöser Beobachtung zu erfassen, was etwa an Monets Studie der Kathedrale von Rouen erinnert 1165 , steckt das Zäsurmoment in der Wahl des Beobachtungspostens, von dem aus eine intensive Lektüre des Straßenbilds angestellt wird. Die ausführliche Betrachtung der ‚Welt als Museum‘ wird mitsamt den damit einhergehenden Ermüdungserscheinungen gezeigt: Nicht nur der Ort wird ‚erschöpfend‘ be‐ handelt, sondern auch der Beobachter ist „(fatigue)“ 1166 , wie Perec mehrfach einschiebt. Wenn man mit Barthes davon ausgeht, dass realistisches Erzählen 4 Ästhetik literarischer Musealität 217 <?page no="218"?> 1167 Vgl. Stefan Tetzlaff: „Fingierte Simulation. Zum Verhältnis von filmischer Echtzeit, Narration und Immersion“, in: Stephan Brössel u. Susanne Kaul (Hg.): Echtzeit im Film. Leiden, Niederlande: Brill/ Fink 2020, S. 153-177, hier: S. 156, der diese These für filmisches Erzählen in Echtzeit entwickelt. 1168 Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet [1881], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. V, 1874-1880, Édition établie par Stéphanie Dord-Crouslé, Paris: Gallimard 2021, S.-347-602, hier: S.-428. 1169 Hamon: Imageries, S.-86. 1170 Abélès: „Roman, musée“, S.-317. 1171 Vgl. Hermann Hesse: Ein Mensch mit Namen Ziegler [1908], in: Joachim Rönneper (Hg.): Die Welt der Museen, Frankfurt/ M.: Insel 1993, S.-238-245. 1172 Vgl. Collenberg-Plotnikov: „Das Museum als Provokation der Philosophie“, S. 14; vgl. Kap. II.1.2.; vgl. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 97-98: „Die mit der Moderne verbundenen Bruch- und Verlusterfahrungen […] hatten eine romantisch-nostalgische Hinwendung zur Vergangenheit zur Folge. Inbegriff der Vergangenheit waren danach nicht mehr die ewigen und unzerstörbaren Muster griechischer und römischer Vor‐ bilder, sondern das zeithaltige Bild der Ruine und die gothischen Kathedralen des Mittelalters.“ Redundanzen aufweist, wäre ein solches Zeiterzählen auch als effet de réel zu bezeichnen. 1167 Auch die condensation, die kurze Erzählung einer langen Zeitspanne, ist ein musealisierendes Verfahren: Man denke an den Zeitsprung an einem Kapitel‐ anfang in Flauberts Bouvard et Pécuchet: „Six mois plus tard, ils étaient devenus des archéologues ; - et leur maison ressemblait à un musée.“ 1168 Dieser ‚harte‘ Schnitt am Kapitelanfang erzählt und inszeniert eine Zäsur gleichermaßen, und stellt durch ein Irritationsmoment die Literatur selbst aus. 4.2.2.2.5 Museum, maison-musée und ‚Welt als Museum‘ als Handlungsorte - stade du musée als Zäsur „[E]t leur maison ressemblait à un musée“: Flauberts Kapiteleinstieg verweist auch darauf, dass das Museum als Thema im Text ein Zäsurmoment, ein „stade du musée“ 1169 bilden kann. In Erzählungen löst sein Besuch nicht selten „une rupture dans le cours ordinaire de l’existence des personnages“ 1170 aus und trägt damit zur Handlungsprogression bei: als Ort, der durchschritten wird und die Protagonisten verändert, wie in Hesses Erzählung Ein Mensch mit Namen Ziegler 1171 , wo ein Museumsbesucher eine alchemistische Pille entwendet und einnimmt, worauf er bei einem anschließenden Zoobesuch die Sprachen der Tiere versteht. Mittels besonderer Raumelemente vermag auch die lesbare ‚Welt als Museum‘ solche stades du musée auszulösen: Als Beispiel nennt Hamon die Ruine, ein architektonisches Objekt, das einerseits - wie ein Objekt in einer Vitrine - präsentischen und ‚identitätskonsolidierenden‘ 1172 Charakter besitzt, anderer‐ 218 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="219"?> 1173 Hamon: Expositions, S.-64. 1174 Ebd. 1175 Mit Rajewsky: „explizite Systemerwähnungen“ mit „„rezeptionslenkende[r] Kraft““, vgl. Kap. II.3.2.2. 1176 So auch Hamon: Imageries, S. 117: „Toute mention d’un ‚musée‘ dans un texte littéraire a […] toutes les chances d’introduire, dans ce texte-là, au moment où apparaît cette mention, une réflexion de la littérature sur elle-même“; vgl. Ansgar Nünning: „Mimesis des Erzählens: Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsge‐ schichte des Akts des Erzählens und der Metanarration“, in: Jörg Helbig (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert: Festschrift für Wilhelm Füger, Heidelberg: Winter 2001, S.-13-47; Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S.-343. seits in die Vergangenheit weist: „Présence d’une absence, concrétisation d’une déflation sémantique, elle constitue donc une sorte de ponctuation négative dans l’espace“ 1173 . Hamon bezeichnet sie darum als „moment d’un parcours muséographique“ 1174 - durch die Welt und als punctum, das den Betrachter an die eigene Sterblichkeit erinnert, im Sinne des proustschen „pan de mur“, das hier nicht auf einem Gemälde, sondern in der Welt zu entdecken ist. Doch auch zeitliche ‚Ereignisse‘, etwa (Nah-)Todes-Erfahrungen, sind als Erkenntnismomente in der ‚Welt als Museum‘ geeignet, das Subjekt in Distanz zu seiner Umgebung zu stellen und so eine Perspektivverschiebung zu erzeugen, die musealisierende Züge besitzen kann (vgl. Kap. III.4.4.1. u. IV.3.4.1.). 4.3 Literarische Musealität - eine Zusammenführung Während museales Erzählen in der Erzählung angesiedelt ist, betrifft literarische Musealität das Innen und Außen des Texts, seine Erscheinung und seine Verfahren, das Erzählen und das Erzählte, Literatur sowohl zum Sehen als auch zum Lesen. Insbesondere kann sie sich zeigen durch: - explizite Thematisierung 1175 des Museums und/ oder seiner angrenzenden Teilbereiche (etwa Ausstellung, Sammlung, Depot) und Sonderformen (insbesondere maisons-musées, musées-mondes, musées imaginaires). Dabei kann das Museum als Metapher durchaus neben Thematisierungen realer Museen stehen; - eine prägnant herausgestellte Ausstellungskapazität der Literatur, die umso stärker wirkt, wenn sie explizit thematisiert wird; - eine autoreflexive oder metanarrative Dimension 1176 , welche auf das Buch als Medium und Museum verweist, oder Medienkonkurrenzen aufgreift; - eine deutliche Öffnung der Literatur zur Welt, die Sichtbarmachung eines ‚Außen‘ und ‚Innen‘ der Literatur und des Buchs und/ oder des Text-Kon‐ text-Verhältnisses; sei es durch innerliterarische Öffnung zu einem ‚Außen‘ 4 Ästhetik literarischer Musealität 219 <?page no="220"?> 1177 Daniel Bergez: Littérature et peinture, Armand Colin 2004, S. 172, zit. nach Antoine Jurga: „La possibilité d’une œuvre ? “, in: Sabine van Wesemael u. a. (Hg.): L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq, Paris: Classiques Garnier 2014, S.-267-280, hier: S.-278. (z. B. durch Einbindung authentischer Textelemente), oder die Situierung der Erzählung in einem Ausstellungskontext im engeren oder weiteren Sinn (z.-B. über die Einbettung in Verlagsprojekte oder durch Buchtitel); - eine Situierung des Buchs als Museum durch paratextuelle Hinweise (Titel wie Museum der modernen Poesie, aber etwa auch Inhaltsverzeichnisse, die Ordnungen suggerieren). Diese Aspekte machen literarische Musealität sichtbar, sie sind dafür aber nicht unbedingt notwendig - denn was Bergez zur Malerei in der Literatur notiert, darf man auch für das Museum annehmen: „La peinture peut tenir une place secondaire dans une œuvre littéraire et y jouer pourtant un rôle capital, lorsqu’elle permet à l’écrivain de traduire une vision du monde et de formuler une esthétique.“ 1177 So können auch weitere, weniger offensichtliche Aspekte entscheidend zur Musealität der Literatur beitragen. Als musealisierende, subjektbezogene Aspekte lassen sich festhalten: - explizite oder implizite Thematisierung musealer Subjekte und mit ihnen verbundener Praktiken, etwa Sammlerund/ oder Kuratorenfiguren, im engen und übertragenen Sinn, in Gestalt literarischer Protagonisten (fiction) oder auf der Ebene des Erzählens (fonction); - exponierte und exponierende Praktiken des ‚Rahmens‘ und/ oder Auratisie‐ rens der erzählten Welt durch den Blick literarischer Subjekte oder durch die Perspektive einer vorgeordneten (Erzähl-)Instanz; - deutlich herausgestellte Bezüge der Figuren zum Raum und zu einem innerliterarischen réel, die besonders wirksam werden, wenn sie auffällig konventionalisiert erscheinen (wie im ‚autoritären‘ Museum) oder auffällig problematisiert werden (wie im Museum als contact zone); - Protagonisten oder Erzählinstanzen, die besonders selbstbewusste, sam‐ melnde, kuratierende Weltzugriffe oder aber krisenhafte Weltbezüge (wie Melancholie, Entfremdung) zeigen - nicht selten verbunden mit museums‐ nahen Wahrnehmungsformen, die eine Lesbarkeit der Welt feststellen oder eine Lesbarmachung der Welt erzeugen; - komplexe Subjektrelationen oder Bezüge zwischen Protagonisten und Er‐ zählinstanzen, die ‚Objektifizierungen‘ von Subjekten begünstigen und unklare Erzählkonstellationen erzeugen, und somit die Frage des ‚Wer spricht‘ aufrufen; 220 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="221"?> 1178 Vgl. Wetzel: Der Autor-Künstler, S.-37. 1179 Potsch: Literatur sehen, S.-58. - Dynamiken des Sehens und Gesehen-Werdens und die Ausstellung damit zusammenhängender Machthierarchien und ‚Objektifizierungen‘ des Sub‐ jekts; - eine Thematisierung von Autorenfiguren, Ausstellungskünstlern und Künstler-Kuratoren, wobei es in literar-musealen Komplexen zu Über‐ gängen zwischen literarischen Bildern und außerliterarischer posture kommen kann; eine mit der Musealisierung verbundene Präsenz-Ab‐ senz-Spannung zwischen eventisiertem Ausstellungskünstler und sich in der écriture auflösendem ‚Papierautor‘. 1178 Als musealisierende, objektbezogene Aspekte konnten herausgearbeitet werden: - ein auffälliger, ausgestellter Einsatz der Dinge und ihrer Materialität im und durch den Text; - ein markantes innerliterarisches système des objets, das Ordnungs- und Sammlungseigenschaften besitzt; - Objekt-(An-)Ordnungen, die ein Neben- oder Nacheinander der Dinge suggerieren; - ambivalente Objekte als „Medien, die zwischen dem Sichtbaren und Un‐ sichtbaren vermitteln“ 1179 : ihre Inszenierung als Semiophoren mit materi‐ eller und zeichenhafter Funktion; eine über Perspektivierung, Selektion oder Rahmung museale ‚Wirkung‘ des Objekts, die (narrativ) sichtbar gemacht oder (innerliterarisch) erfahren wird; - Erzählverfahren, die den museumsartigen ‚Überschussdiskurs‘ des (auto‐ nomen, auratisierten, sprechenden) Objekts nachbilden; - ein Spannungsverhältnis zwischen der Vereinnahmung durch eine überge‐ ordnete Erzählung und dem auratischen Eigenwert des Dings, sichtbar gemacht durch ambivalente literarische Dinge (zwischen Dekor und Akteur, zwischen schuldigem und unschuldigem Ding, zwischen Lebendigkeit und Leblosigkeit, bezüglich Provenienz und Verwendung). Als musealisierende Raumaspekte wurden benannt: - Thematisierung musealer oder museumsnaher Raumkonzepte; - erzählte Räume und Raumpraktiken, die den Gang durch ein Museum evozieren; 4 Ästhetik literarischer Musealität 221 <?page no="222"?> - literarische Topografien und narrative Strategien, die die Zentralisierung, Totalisierung, gegebenenfalls auch explosion des Museums nachvollziehen; - literarische Räume (etwa Passagen) und Rauminventare (etwa Spiegel, Mosaik, Panorama) mit ausstellender Funktion; - eine besondere Ausgestaltung der Raumoppositionen Zentrum/ Peripherie und Innen/ Außen; - städtische Topographien, die verschiedene (Repräsentations-)Orte, Hetero‐ pien und/ oder non-lieux in Konkurrenz zueinander und in ein syntagme muséal stellen; - Weltentwürfe zwischen utopischen und dystopischen Räumen, Formen der Heterotopie als literarische Orte oder ‚Texträume‘; - Rückbezüge auf die Räumlichkeit der Literatur selbst, ihre Ausstellungska‐ pazität im Sinne eines ‚Schriftraums‘. Herausgearbeitet wurden schließlich die folgenden musealisierenden Zeit‐ aspekte: - auffällige paratextuelle Festschreibungen von Literatur innerhalb eines zeitlichen Kontextes oder eines Werkkomplexes; - explizite oder implizite Thematisierung von museumsnahen Zeitaspekten der Literatur, so der Literatur und des Buchs als Speicher oder Erinnerungs‐ medium; - Thematisierung oder Ausgestaltung von Erinnerungsräumen in der er‐ zählten Welt; - literarische Thematisierung oder Inszenierung ästhetischer Eigenzeiten, musealer Emergenz- oder Zäsurmomente; - ein Zeiterzählen, das die Monumenthaftigkeit des Museums oder die Mo‐ menthaftigkeit der Ausstellung simuliert; - eine Evozierung verschiedener ‚Zeiten des Museums‘; - schriftbildich inszenierte ‚Zeitsprünge‘ oder Sonderzeiten, etwa blancs. Es versteht sich von selbst, dass diese Aufstellung weder Vollständigkeit ver‐ langt noch beansprucht. Die aufgeführten Elemente bilden nicht nur Merkmale des Musealen; in ihrer Häufung und im Verbund sind sie jedoch als solche zu verstehen, und was Scherübl für museales Erzählen feststellt, gilt auch für literarische Musealität: 222 II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik <?page no="223"?> 1180 Scherübl: „Das Museum des Unvermögens“, S.-55. Zwar schafft die Verbindung von ‚Erzählen‘ und ‚Museum‘ keinen eindeutigen narrativen Modus; vielmehr stellt ein Werk, das museal erzählt, in seinem jeweiligen Erzählen eine individuelle Verbindung zwischen beiden Größen her. 1180 Nicht alle Formen literarischer Musealität werden demnach jeden dieser Pole gleich prononciert herausstellen: Wenig verbindet etwa Goncourts La maison d’un artiste, eine Reihung und detaillierte Beschreibung einzelner Objekte, und Bernhards Alte Meister, wo das Museum als Schauplatz dient und Musealität über Erzählerkonstellation und Schriftbild evoziert wird. Auch deshalb werden die Detailanalysen (Kap. III. u. IV) keinem systematischen Raster folgen, sondern sich an den Eigenheiten des jeweiligen literarischen Werks ausrichten. Dass die Gliederung beider Kapitel sich unterscheidet, hängt auch mit der Unterschied‐ lichkeit beider Autoren, ihrer Werke und dem Platz der Ausstellungen darin zusammen: Anders als bei Toussaint weist Houellebecqs Werk keine klaren Zäsuren auf, sondern zeigt ab dem frühen Band Rester vivant, auf den wiederum der Ausstellungstitel rekurriert, die Arbeit an einem „livre unique“ (vgl. Kap. IV.1.3.). 4 Ästhetik literarischer Musealität 223 <?page no="225"?> III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="227"?> 1181 Seit seinem vielbeachteten Debütroman existiert sehr umfangreiche Forschungslite‐ ratur zu Toussaint. Vgl. für umfangreiche Forschungsbibliographien auch die entspre‐ chenden Rubriken auf der Internetseite des Autors: http: / / www.jptoussaint.com/ livres -critiques-theses-memoires.html, sowie http: / / www.jptoussaint.com/ allemagne.html# deutschsprachige-forschungsliteratur. 1182 Die Ausstellung ist durch Arbeitsdokumente, Berichte und Publikationen des Museums sowie zahlreiche Presseartikel gut dokumentiert. Vgl. Délégation aux archives, Musée du Louvre: „Dossier Jean-Philippe Toussaint: Livre/ Louvre.“ (Unveröffentlichtes Archiv‐ material); Christel Winling: „Jean-Philippe Toussaint - Livre/ Louvre“, in: Musée du Louvre (Hg.): La recherche au musée du Louvre. 2012, Paris: Musée du Louvre/ Philippe Ruault 2014, S. 345-346; Pascal Torres: „Jean-Philippe Toussaint. Hommage au livre“, in: Grande Galerie. Le Journal du Louvre, 19, 2012, S. 78-80; Raya Baudinet-Lindberg: „Contemporain du livre“, in: L’art même, 55/ 2012, S. 18-19. Vgl. für eine detaillierte Beschreibung der Ausstellung auch Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“. 1183 Musée du Louvre u. Jean-Philippe Toussaint: „Convention Exposition Livre/ Louvre“, o.D., S.-1. 1184 Vgl. Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S. 4: Während Toni Morrison die Wahl der Exponate den Kuratoren des Louvre überließ, schöpften Umberto Eco und Philippe Djian aus den Depots des Museums. Le Clézio hingegen zeigte auch einige Exponate aus anderen Museen (v. a. dem Musée du quai Branly). Nur Toussaint schafft eigene Werke für die Ausstellung. 1185 Vgl. zur Sammlung Rothschild Pascal Torres: La collection Edmond de Rothschild au musée du Louvre, Paris: Musée du Louvre/ Le Passage 2010. Torres war seinerzeit 1 Zur Ausstellung: Literatur für main und regard In der Projektbeschreibung des Musée du Louvre zu Jean-Philippe Toussaints 1181 Ausstellung Livre/ Louvre 1182 heißt es: Dans le cadre du développement de l’art contemporain au Musée du Louvre, des artistes vivants sont invités au sein du musée. C’est ainsi que le Musée du Louvre invite Jean-Philippe Toussaint en vue de la conception d’une exposition qui juxtaposera des œuvres produites spécialement par l’Artiste, certaines de ses créations antérieures et des œuvres de la Collection Edmond de Rothschild. Cette présentation se tiendra au Musée du Louvre, dans les salles d’expositions temporaires de l’aile Sully au printemps 2012. 1183 Dieses Kurzkonzept betont mehrere Besonderheiten der Ausstellung. Bemer‐ kenswert ist zunächst, dass Toussaint eigens erstellte Werke zeigt, was seine Ausstellung von anderen Schriftstellerprojekten im Louvre abhebt - auch darum empfiehlt sie sich für diese Untersuchung. 1184 Die Erwähnung der Collection Rothschild gibt bereits einen Hinweis auf das Thema der Ausstellung, das Objekt Buch: Neben bekannten Grafiken und Stichen wie etwa Albrecht Dürers Melencolia I (1514) enthält die Sammlung insbesondere seltene Bücher und Drucke vom 14. bis 19. Jahrhundert. 1185 Die 1 Zur Ausstellung: Literatur für main und regard 227 <?page no="228"?> conservateur der Sammlung am Musée du Louvre und zugleich auch verantwortlich für die Toussaint-Ausstellung. Vgl. auch Raya Baudinet-Lindberg: „Contemporain du livre“, in: L’art même, 55/ 2012, S.-18-19, hier: S.-19. 1186 Torres beschreibt seine Rolle in dem Artikel „Une histoire de livre, de Louvre, d’a‐ mitié et d’exposition-live“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S. 429-432. Hier unterstreicht er auch die Rolle des damaligen président des Louvre, Henri Loyrette, dessen „ouverture d’esprit“ die Ausstellung Toussaints ermöglicht habe (ebd., S. 430); vgl. dazu auch Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S. 2. Vgl. auch Henri Loyrette: „Préface“, in Jean-Philippe Toussaint: La Main et le regard. Livre/ Louvre, Paris: Louvre Éditions/ Le Passage 2012, S.-9. 1187 Etwa Protokoll Musée du Louvre/ Direction de la production culturelle/ Service des expositions: „Compte-rendu de réunion d’offre culturelle de l’exposition ‚Livre/ Louvre : Jean-Philippe Toussaint‘“, 13.10.2011. 1188 Er nahm an konzeptuellen Hintergrundgesprächen teil, aber auch an eher technisch-or‐ ganisatorischen Planungssitzungen, und äußerte sich detailliert zu den Ausstellungs‐ entwürfen bis hin zu Budgetfragen. Vgl. Jean-Philippe Toussaint: Exposition LIVRE/ LOUVRE, sur quelques questions en suspens, o.D. Beschreibung deutet auch auf den Grad der Autonomie des Künstlers im Aus‐ stellungsraum hin (vgl. Kap. II.2.1., II.2.6.). Während Toussaint in Bezug auf die Sammlung Rothschild auf die Mitwirkung der Museumsexperten angewiesen ist, bietet ihm die Ausstellung des eigenen Werks mehr Freiraum, was sich auch in der etwas unklaren Rollenverteilung rund um das Projekt niederschlägt: Verantwortlich für die Collection Rothschild ist zur Zeit von Livre/ Louvre Pascal Torres, der auch für Toussaints Ausstellung als commissaire d’exposition genannt wird. 1186 In Arbeitsdokumenten ist jedoch von Torres wie auch Toussaint als „commissaires“ 1187 die Rede, und die archivierten Materialien zur Ausstellung belegen, dass Toussaint intensiv an allen Etappen der Ausstellungskonzeption beteiligt war. 1188 Man darf daher von einer hohen künstlerischen wie konzep‐ tuellen Einbindung Toussaints ausgehen, die zugleich aber auch vor dem Hintergrund einer Strategie des Louvre steht („Dans le cadre du développement de l’art contemporain au Musée du Louvre“, s.-o.). In den Dokumenten zu finden ist auch ein Plan der Ausstellung: 228 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="229"?> 1189 Bildquelle: Délégation aux archives, Musée du Louvre (Dossier Jean-Philippe Toussaint: Livre/ Louvre). 1190 Sylvain Bourmeau u. Jean-Philippe Toussaint: „Entretien“, in: Jean-Philippe Toussaint: La Main et le Regard. Livre/ Louvre, Paris: Louvre Éditions/ Le Passage 2012, S. 17- 24, hier: S. 24. Hierin unterscheidet sich der szenografische Ansatz Toussaints entscheidend von dem Houellebecqs (vgl. Kap. IV.1.2.). Abb. 5: Musée du Louvre: Plan der Ausstellung Livre/ Louvre 1189 Dass die Räumlichkeiten die szenografischen Möglichkeiten beschränken, stellt für Toussaint kein Hindernis dar, denn er möchte die Ausstellung nicht als zusammenhängende ‚Erzählung‘ mit vorgegebener Ereignisfolge realisieren (vgl. Kap. II.3.3.): „L’exposition ne prend pas la forme d’un parcours, c’est une forme moins imposée que celle du livre“ 1190 . Als erstes Werk wird bei Betreten des Raums 20 die Fotowand Aimer lire (Nr. 02) sichtbar, bestehend aus 80 Fotografien, welche die Mitglieder der Familie Toussaint beim Lesen zeigen, teils von der Lektüre so ergriffen, dass ihnen 1 Zur Ausstellung: Literatur für main und regard 229 <?page no="230"?> 1191 Teilweise sind die Fotografien veröffentlicht in La Main et le Regard (vgl. MR168-169). 1192 Die jeweiligen Bücher zu den Schriftsteller-Ausstellungen im Louvre geben Hinweise bezüglich der Einbindung und Rolle der eingeladenen Künstler (vgl. Kap. II.1.1.). Während Eco die ausgewählten Werke mit der Autorität Kunsthistorikers selbst kommentiert, überlassen Morrison und Le Clézio dies den Experten des Museums. Ähnlich wie Toussaint hintergeht Dijan die Erwartungen an einen Ausstellungskatalog, indem er keine Expertenhaltung einnimmt, sondern einen Essay zwischen Fiktion und Autobiografie beisteuert. Anders als alle anderen vom Louvre eingeladenen Autoren publiziert Toussaint sein Buch nicht in seinem Hausverlag, sondern in der Reihe „Edmond de Rothschild“ des Museums in coédition mit Le Passage; er situiert das Buch damit im Kontext der Ausstellung und nicht dem seines literarischen Werks. Gleichwohl handelt es sich weniger um ein Kunstbuch als um ein Künstlerbuch. Schon über den Titel signalisiert Toussaint, dass es sich hier um ein Werk des Autors handelt, nicht des Museums. Vgl. auch Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S.-6-8. 1193 Vgl. Valéry: „Présentation du ‚Musée de la Littérature‘“, S. 1146-1147: „Le Manuscrit original, le lieu de son [= des Autors] regard et de sa main, où s’inscrit ligne le duel de l’esprit avec le langage […].“ 1194 Vgl. Pomian: Collectionneurs, amateurs et curieux, S. 43: „[C]’est la main qui met l’objet dans un rapport visible“; „c’est le regard […] qui établit un rapport entre l’objet et un élément invisible“. 1195 2006 gezeigt im Rahmen der Ausstellung BOOK im Espace Écureuil de Toulouse, vgl. dazu Jimmy Poulot-Cazajous: „Dans le combat entre toi et la phrase, sois décourageant. Etude de la ponctuation dans l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S. 33-41, hier: S. 33. Vgl. Jean-Philippe Toussaint: C’est vous l’écrivain, Paris: Le Robert 2022, S.-95-98. 1196 Vgl. ebd., S.-98; vgl. Kap. II.3.1.1.1. Tränen über die Wangen fließen. 1191 Dies liefert einen ersten Hinweis darauf, wie hier Literatur ausgestellt und verstanden wird: „La main et le regard, il n’est jamais question que de cela dans la vie, en amour, en art“ (VM59) - gemäß des La Vérité sur Marie entlehnten Zitats, das auch dem Begleitbuch zur Ausstellung (La Main et le Regard) seinen Titel gibt 1192 , zeigt Toussaint hier die Literatur als Erfahrung. Nicht gezeigt wird der Inhalt, stattdessen das Buch von außen, als Objekt, das mit main und regard erfasst und erblickt wird - zwei bereits von Valéry 1193 und Pomian 1194 benannte, zentrale Kategorien des (Literatur-)Ausstellens. Allerdings handelt es sich nicht um eine immersive Erfahrung, sondern um ein Reden über die Literatur: Anders als die auf den Fotos Gezeigten wird der Besucher hier kaum in Tränen ausbrechen. Im Gegensatz zu einem früheren Werk namens Texte intégral 1195 , das sämt‐ liche bis dahin publizierten Texte des Autors in kleiner Schriftgröße zeigt und so eine Form des distant reading ermöglicht, anders auch als in seinen Büchern, wo er mit blancs und Blocksatz operiert 1196 , bringt Toussaint in Livre/ Louvre die 230 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="231"?> 1197 Bilderwand aus 40 Fotografien; zu sehen sind darauf Großaufnahmen von Händen, die Bücher halten, fotografiert von Toussaint in der tokyoter Metro, in Kombination mit Bildausschnitten verschiedener (Renaissance-)Gemälde, die ebenfalls die Hände Lesender zeigen (vgl. MR206). Die Fotowand bildet daher ein Gegenstück zur Bilder‐ reihe Aimer lire, die sich dem regard widmet (s.-o.). 1198 Eine großformatige (249x500 cm) Fotografie; siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel. 1199 Fotografie, 150x225 cm. 1200 „Par ailleurs, il est question de mettre en œuvre 1 double texte en néon vert et mauve avec un transformateur clignotant permettant la lecture alternée de ‚LIVRE‘ et ‚LOUVRE‘“; Auftragsbestätigung der Firma Trois lumières blanches vom 18.11.2010, S. 2, Archives du Louvre. 1201 „[U]n double texte en néon rouge permettra la lecture de ‚LIRE‘ et ‚LIVRE‘“; Auftrags‐ bestätigung der Firma Trois lumières blanches vom 18.11.2010, S. 2, Archives du Louvre. 1202 Musée du Louvre (Hg.): Jean-Philippe Toussaint. Livre/ Louvre. Dossier de Presse, Paris: Musée du Louvre 2012, S. 14. Ebd., S. 3: „Malgré l’environnement médical, cette appa‐ rente réalité scientifique n’est qu’un leurre“. Vgl. Baudinet-Lindberg: „Contemporain du livre“, S. 19: „Ce cerveau mis à nu d’auteur et de lecteur, passe donc de l’état de machine célibataire aux mécanismes obscurs, à celui de boîte crânienne aux parois transparentes par la magie de l’œil informatique“, Vgl. auch Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S.-12. eigene Literatur nicht in Schriftform zur Anschauung. Vielmehr greifen auch die übrigen Exponate das Medium Buch, seine Produktion und Rezeption auf. Zu sehen sind weiter: Die Fotoreihe Mains (Saal 20) 1197 , die Rauminstallation L’Univers (Saal 21, vgl. Kap. III.3.2.), die Fotografien Mardi au Louvre (Saal 22, Nr. 13) 1198 und Quelques amis (Saal 22, Nr. 14, vgl. Kap. III.3.1.) 1199 , sowie die Neoninstallationen Livre/ Louvre (Saal 22) 1200 und Lire/ Livre (Saal 23) 1201 . An mehreren Stellen konfrontiert Toussaint eigene Arbeiten mit Exponaten des Museums. Bei der Installation Lire/ Live (Saal 23, vgl. MR172-176) handelt es sich um eine ‚Lesekabine‘, in der man eine Kappe aufsetzen kann, welche die Hirnströme während der Lektüre aufzeichnen soll. Vermeintlich werden diese auf einem nebenstehenden Bildschirm wiedergegeben; tatsächlich zeigt der Monitor jedoch von Toussaint montierte Kurzfilme mit medizinischen Aufnahmen, die der Autor in einem Krankenhaus hat anfertigen lassen, kom‐ biniert mit „images prises à la volée avec mon téléphone portable et des images capturées sur Internet, des images d’archives, des images d’actualités, des images sportives, des images pornographiques“. 1202 Toussaint konfrontiert dieses Werk mit Zeichnungen von Le Brun, die wiederum von Vésales Darstel‐ lungen medizinischer Vivisektionen inspiriert sind. Zudem zeigt Toussaint ein Ensemble (Saal 20, Nr. 5, 6, 7, vgl. MR198-199) aus dem Originalmanuskript von Becketts En attendant Godot, einer von Baldini illustrierten Ausgabe der Divina Commedia, sowie neun Tablets, auf denen verschiedensprachige Übersetzungen des dritten Gesangs des Dante-Texts zu lesen sind 1203 , die virtuell in Flammen 1 Zur Ausstellung: Literatur für main und regard 231 <?page no="232"?> 1203 Vgl. Baudinet-Lindberg: „Contemporain du livre“, S.-19. 1204 „[R]êve de pierre (l’expression est de Baudelaire): ‚rêve‘ par la liberté qu’il exige, l’inconnu, l’audace, le risque, le phantasme, ‚pierre‘, par sa consistance, ferme, solide, minérale, qui s’obtient à force de travail, le travail inlassable sur la langue, les mots, la grammaire“ (UP24). 1205 Torres vergleicht die auratisierende Präsentation des Buchs gar mit der geheimnisvollen Stele in Stanley Kubriks Film 2001; vgl. Torres: „Une histoire de livre, de Louvre, d’amitié et d’exposition-live“, S.-431. 1206 Umso mehr, wenn man bedenkt, dass Dante eine für Beckett einflussreiche Referenz ist, und dass Toussaint seinen Marie-Zyklus mit einem Dante-Zitat einleitet. Vgl. Torres: „Jean-Philippe Toussaint. Hommage au livre“, S.-80; vgl. Olivier: „Un ‚hommage visuel au livre‘“. Vgl. zu Toussaint und dem Verlag Les Éditions de Minuit Kap. III.3.1.1.1. 1207 Bourmeau u. Toussaint: „Entretien“, S. 17; vgl. Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S.-15. aufgehen. Die hier zu lesenden - und zu sehenden - Sprachen (Italienisch, Französisch, Englisch, Spanisch, Japanisch, Chinesisch, Russisch, Griechisch, Arabisch) legen den Schluss nahe, dass es auch um die Visualität der unter‐ schiedlichen Schriftsysteme geht. Durch das seltene Buch neben den digital wiedergegebenen Übersetzungen wird zudem der Gegensatz von Virtualität und Materialität aufgerufen, das Buch als rêve und als pierre 1204 inszeniert und auch die Musealisierung der Literatur angeschnitten: Das auratische Objekt 1205 steht seiner technischen Reproduktion gegenüber (vgl. Kap. II.2.4.). In beiden Fällen führt Toussaint Vergangenheit und (unmittelbare) Gegen‐ wart, den Louvre und die eigene Kunst, das Buch mit anderen Medien zu‐ sammen. Auch hier zeigt er zwar Literatur, doch es geht um die Dimension der Erfahrung, weniger um deren Inhalt. Den seltenen Originalen (die Dante-Ausgabe, das Beckett-Manuskript) könnte man eine zweifach auratische Dimension zuschreiben: durch ihren Seltenheitswert, aber auch, weil sie gerade für den Kurator Toussaint eine besondere Bedeutung besitzen. Mit ihrer Ausstellung stellt er sich in eine Ahnenreihe, die über seine Zugehörigkeit zum Beckett-Verlag Les Éditions de Minuit 1206 hinausreicht. Auf diese Weise nutzt also Toussaint den Louvre für eine Selbst-reflexion und -ausstellung und ‚aktualisiert‘ zugleich den Ort: Peut-être que Beaubourg était en effet plus contemporain, mais mon idée, ou mon fantasme, c’était le Louvre. Le Louvre n’est peut-être pas emblématique de l’art contemporain, mais […] c’est quand même un lieu de création très vivant. 1207 Gemäß des Titels Livre/ Louvre ist auch das Museum nicht nur Ort der Ausstel‐ lung, sondern auch selbst ihr Thema. Museumsreflexion betreibt der Autor besonders mit der Fotografie Mardi au Louvre, die Toussaint selbst als repräsen‐ tativ für die Ausstellung im Ganzen hervorhebt 1208 : Für das großformatige Werk, 232 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="233"?> 1208 Vgl. Torres: „Jean-Philippe Toussaint. Hommage au livre“, S.-79. 1209 So sagt Toussaint: „Le côté caché me fascine“ (ebd., S.-79.). 1210 Ebd. 1211 Die Ausstellung besitzt auch eine partizipative Dimension: Die Besucher waren einge‐ laden, Aufnahmen einer oder eines Lesenden einzusenden, die dann auf einer (nicht mehr aktiven) Internetseite von Arte.tv veröffentlicht wurden. Vgl. http: / / www.jptous saint.com/ livre-louvre.html (Abschnitt „La Mosaïque participative“) 1212 Vgl. Hannah Steurer: „Ligne narrative et narrations en ligne. Poetische und ästhetische Herausforderungen einer digitalen Literatur am Beispiel Jean-Philippe Toussaints“, in: Montemayor Gracia u. a. (Hg.): Digitalkulturen/ Cultures numériques: Herausforderungen und interdisziplinäre Forschungsperspektiven/ Enjeux et perspectives interdisciplinaires, Bielefeld: transcript 2019, S.-143-156. 1213 Vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-120. 1214 Vgl. Maxime Maillard: „Le gai savoir de Jean-Philippe Toussaint“, in: Critique, 786, 11, 2012, S.-982-994. von dem in dem Begleitbuch La Main et le Regard auch Varianten zu sehen sind (MR114-115), hat Toussaint eine Auswahl seltener Bücher aus der Sammlung Rothschild aus dem Archiv hervorholen und in der ‚salle Mollien‘ des Louvre auf dem Fußboden anordnen lassen, während diese sich in einer Umbauphase befand; gezeigt werden Baugerüste und Malerarbeiten an den Wänden. Die im Bild zu sehenden Statisten sind tatsächliche Angestellte des Louvre. Das Foto blickt hinter die Kulissen des Museums und hebt ins display, was eigentlich verborgen ist. 1209 Nach einem zunächst geplanten, fast ‚dokumentarischen‘ Ansatz zu den Hintergrundarbeiten des Museums hat Toussaint sich schließlich entschieden, alle im Bild zu sehenden Personen beim Lesen zu zeigen - „Le livre a alors pris le dessus dans l’image.“ 1210 Hinter den Kulissen von Literatur und Museum Auffällig ist, dass das Museum selbst hier als making of gezeigt wird. Es ist kein ‚Tempel‘, sondern ein Ort, wo gearbeitet, gelebt und gedacht wird. Die Ausstel‐ lung erscheint damit doppelt ‚momenthaft‘ - nicht nur als zeitlich begrenztes Ereignis, sondern auch als temporärer Zustand zwischen Umbau (Mardi au Louvre) und Transposition (in andere Medien). Nicht nur um das Prozessuale der Literatur geht es, sondern auch um das Prozessuale des Ausstellens. 1211 Dieses Interesse für die Prozesse und ‚Kulissen‘ kreativer Arbeit führt zu Toussaints Werk zurück; es schlägt sich nieder in seiner 2009 veröffentlichten Internetseite, wo man seine Entwürfe, das Entstehen von Literatur beobachten kann, und er Einblicke in sein scriptorium gibt. 1212 Es zeigt sich auch in den Anhängen seiner Romane in der ‚collection double‘, die Autoreninterviews oder essayistische Kommentare enthalten 1213 , sowie in seiner Einbindung in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk. 1214 So begleitet 1 Zur Ausstellung: Literatur für main und regard 233 <?page no="234"?> 1215 Vgl. zu diesem an der Université Grenoble Alpes angesiedelten Projekt auch http: / / ret icence.elan-numerique.fr/ le-projet. 1216 Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint, 18.-21.6.2019, Bordeaux. Vgl. den zugehörigen Sammelband: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020. 1217 Vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 123; diese Arbeitssitzungen sind wiederum ausführlich auf Toussaints Internet-Seite dokumentiert: http: / / www.jptoussaint.com/ traductions.html. 1218 Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S.-8. 1219 Vgl. Toussaints Kommentar in Musée du Louvre (Hg.): Jean-Philippe Toussaint, S. 10: „Le livre est une partie intégrante de l’exposition. Je l’ai conçu comme une création visuelle autonome, une composition lumineuse, insolente, mélancolique et colorée.“ 1220 Vgl. auch Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S.-7. er ein universitäres Forschungsprojekt zur Erschließung von Manuskriptvor‐ stufen des Romans La Réticence 1215 , stellt auf seiner Homepage umfangreiche Bibliographien zum eigenen Werk zur Verfügung, und nimmt nicht nur als Abendgast, sondern als ganztägiger, stiller Beobachter an einer Tagung zum eigenen Werk teil. 1216 Auch organisiert er Arbeitstreffen mit seinen Übersetzern, die er wiederum auf seiner Homepage dokumentiert. 1217 So erschließt und ‚autorisiert‘ er die Rezeption der eigenen Literatur, ja macht sie zum Teil des Werks, bis hin zu dem Umstand, dass er in Made in China seinen Austausch mit der Romanistin Patricia Oster-Stierle thematisiert (vgl. MC53-54). Ein Blick auf die Publikationen und Aktivitäten im Kontext der Ausstellung ist ebenfalls erhellend. Begleitend zu Livre/ Louvre erschien das Buch La Main et le Regard. Vordergründig handelt es sich eher um ein Kunstbuch, weniger um ein literarisches Werk. Es verbindet Motive der Ausstellung mit literarischen Zitaten; in einem zweiten Teil findet sich eine Art making of mit Kommentaren des Autors zur Ausstellung - auch hier ein Blick hinter die Kulissen. Schon das Titelbild, das den Hinterkopf des Autors vor eine Gemälde zeigt, suggeriert, „que l’ouvrage ne concernera pas tant le Louvre et ses collections que Toussaint lui-même, qui adopte une posture de commissaire à travers le regard qu’il pose sur une collection[.]“ 1218 Zweifelsohne jedenfalls ist La Main et le Regard mehr als ein Katalog zur Ausstellung 1219 , zu der es sich demnach sowohl als Paratext, wie auch als Intertext positioniert. 1220 Geht es in dem Band wie in der Ausstellung Livre/ Louvre um das Lesen (Installation Lire), um die Adaption literarischer Szenen, um die auratische Dimension von Büchern und Manuskripten, um Übersetzung - kurz, um das Nachleben der Literatur, ihre Rezeption im weiteren Sinn, so widmet sich der ebenfalls begleitend erschienene Essayband L’Urgence et la Patience 1221 deren Vorleben: Die hier versammelten Texte behandeln Treffen mit dem Verleger 234 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="235"?> 1221 Dass dieser Band wiederum in den Éditions de Minuit verlegt wurde, unterstreicht, dass er ein Gegenstück zum Katalog bildet. 1222 So Toussaint im Interview: „J’ai alors également pensé donner deux livres : l’un, L’Urgence et la Patience, purement littéraire, sans illustration, conçu comme un livre neuf et non un livre de circonstance, pour évoquer la façon dont j’écris, les écrivains que j’admire : Beckett, Kafka, Proust… ; l’autre, sorte de catalogue de l’expo, La Main et le Regard, pensé comme une création plastique presque au même titre que l’exposition elle-même“, in: Les Inrockuptibles, 11.3.2012, online unter: https: / / www.lesinrocks. com/ livres/ toussaint-dans-les-coulisses-de-son-travail-decrivain-28214-11-03-2012/ . Vgl. Rhein: „Licht und Literatur“, S. 167-168. 1223 Vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 11: „Il n’empêche, dans la création artistique, c’est peut-être l’objet fini qui m’intéresse le moins. Ou plutôt, disons-le autrement, […] cela n’a plus beaucoup d’utilité pour me rassurer, au sens métaphysique.“ 1224 Der Kurzfilm Fuir, für eine Teilnahme an der Ausstellung Travelling 2008, Espace Louis Vuitton, Paris, gedreht, wurde zu einer Trilogie weiterentwickelt, die im Rahmen der Louvre-Ausstellung unter dem Titel „Trois fragments de Fuir“ zu sehen war. Vgl. Toussaint: „La mayonnaise et la genèse“, S. 117; vgl. ders. u. Chen Tong: „Écrire, c’est fuir“, S. 184; vgl. Jean-Philippe Toussaint: „Fuir/ Travelling“, in: jptoussaint.com, online unter: http: / / www.jptoussaint.com/ fuir-travelling-2008.html. 1225 Vgl. zum Begleitprogramm Musée du Louvre (Hg.): Jean-Philippe Toussaint, S.-4-5. Jérôme Lindon, den Einfluss Samuel Becketts, das Arbeitszimmer, die Ursprünge der Kreativität. 1222 Auch dies belegt das besondere Interesse Toussaints für die verschiedenen Zeitlichkeiten eines Werks, für das Prozessuale, demgegenüber das Buch als abgeschlossenes Werk ihn weniger interessiert. 1223 Die Ausstellung wird flankiert von einem Begleitprogramm, bestehend aus mehreren Diskussionsveranstaltungen mit Toussaint, Pascal Torres sowie be‐ freundeten Kulturschaffenden (Olivier Rolin, Emmanuel Carrère, Pierre Bayard, Philippe Djian, Jean Echenoz, Ange Leccia), sowie von einem Programm mit Filmen Toussaints 1224 und einigen von Regisseure, die für Toussaint einflussreich sind, darunter Pier Paolo Pasolini, Chris Marker und Michelangelo Antonioni. 1225 Anders als in der Ausstellung selbst ist hier also auch das Werk Toussaints zu sehen, bezeichnenderweise aber das filmische, nicht das literarische. 2 Medien und Medienkonkurrenz: Zum Werkbegriff Die Ausstellung ist nur eine Ausprägung eines dicht gewobenen Netzes von Werken in unterschiedlichen Medien, die sich auf unterschiedliche Weisen aufeinander beziehen. Die Darstellung dieser intermedialen Dimension soll einerseits den Platz der Ausstellung im Werk bestimmen, andererseits jenen der Literatur, die wiederum intermedial durchdrungen ist und mediale Aspekte aufgreift. Diese Fokussierung erlaubt einen ‚Einstieg‘ in das Werk Toussaints 2 Medien und Medienkonkurrenz: Zum Werkbegriff 235 <?page no="236"?> 1226 So Toussaint selbst: „Ça ne me viendrait pas à l’idée de me présenter comme un artiste plasticien“, in: Elisabeth Philippe: „Toussaint : dans les coulisses de son travail“, in: Les Inrockuptibles, 11.3.2012, online unter: https: / / www.lesinrocks.com/ livres/ toussaint-da ns-les-coulisses-de-son-travail-decrivain-28214-11-03-2012/ 1227 Jeannerod: „L’image télévisuelle“, S.-149. 1228 Toussaint: La Patinoire, S. 12; vgl. auch Michel Paquot: „Jean-Philippe Toussaint“, in: cinergie.be, 1.3.1997, online unter: https: / / www.cinergie.be/ actualites/ jean-philippe-to ussaint-1997-03-01. 1229 Implizit jedoch weist La Patinoire starke Verbindungen zu dem Roman La Télévision auf, an dem Toussaint parallel zur Planung des Films arbeitete, vgl. Laurent Demoulin: „La Patinoire et la patience“, in: Jean-Philippe Toussaint: La Patinoire. Un ciné-roman, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2019, S. 97-118, hier: S. 113. Vgl. weiter zum Filmwerk Toussaints Susanne Schlünder: „Jean-Philippe Toussaint, romans et films - intermédialité et ironie médiatique“, in: Uta Felten u. a. (Hg.): Intermedialität und Revolution der Medien. Positionen - Revisionen = Intermédialité et révolution des médias. Positions et révisions, Frankfurt/ M. u.a.: Lang 2015, S. 203-218, sowie Beate Ochsner: „Littérature minimaliste - cinéma minimaliste? Jean-Philippe Toussaint et la déviance minimale“, in: Wolfgang Asholt u. Marc Dambre (Hg.): Un retour des normes romanesques dans la littérature française contemporaine, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2010, S.-261-273. 1230 Etwa Hors du soleil, des baisers et des parfums sauvages (2007, Regie: Toussaint u. Ange Leccia), ein Film, in dem Toussaint (und auch seine Tochter) Auszüge aus Camus-Texten an verschiedenen Orten in Algerien lesen - eine Auftragsarbeit für ein von Olivier Rolin organisiertes Festival in der Villa Medici, vgl. http: / / www.jptoussaint.com/ documents/ d/ db/ Toussaint%2C_Leccia.pdf. Eine Liste aller Videoarbeiten findet sich online unter: http: / / videobureau.org/ artist/ jean-philippe-toussaint? lang=en. 1231 Selbst wenn, wie im Fall von La Patinoire und La Télévision, verschiedene „liens secrets“ (Toussaint: La Patinoire, S.-5) bestehen. vor dem Hintergrund der Ausstellung und situiert beide in einem transmedialen Gefüge. In Football nennt sich Toussaint „un écrivain, rien de plus“ (FB31). 1226 Das Zitat macht stutzig, erscheint er doch als Künstler, „pour qui les différents médiums de l’écrit et de l’écran, du lisible et du visible participent d’un seul et même projet esthétique“ 1227 , und der sich noch 1999 als „à la fois écrivain et cinéaste“ 1228 bezeichnete. Schon an John Lvoffs Verfilmung von La Salle de Bain (1989) war er beteiligt, Monsieur (1989) und L’Appareil-photo (unter dem Titel La Sévillane, 1992) hatte er in eigener Regie verfilmt, mit Berlin 10h46 (1993) und La Patinoire (1999) schließlich Filme ohne explizite literarische Vorlage gedreht 1229 ; daneben stehen weitere Videoarbeiten 1230 , Fotoprojekte und Installationen. Über die Jahre zeigt sich in dieser außerliterarischen Produktion ein Wandel: Handelt es sich zunächst bei seinen Filmarbeiten noch um eher konventionelle Adaptionen oder gänzlich unabhängige Werke 1231 , so markiert der Komplex der M.M.M.M.-Romane, die im Folgenden im Zentrum stehen sollen, eine Zäsur 1232 : Die aus vier Romanen bestehende Liebesgeschichte zwi‐ 236 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="237"?> 1232 Vgl. ausführlich zu Inhalt und Eigenheiten dieser Romane Kap. III.3.1.1.2. Als neuer Werkkomplex nach M.M.M.M. kristallisieren sich immer deutlicher die Romane ab La Clé USB heraus; vgl. Sylvie Tanette: „Les Emotions ou les facéties de la fiction selon Jean-Philippe Toussaint“, in: Les Inrockuptibles, 7.9.2020, online unter: https: / / www.les inrocks.com/ 2020/ 09/ 07/ livres/ livres/ les-emotions-ou-les-faceties-de-la-fiction-selon-j ean-philippe-toussaint/ . 1233 Die Serie ist zu sehen auf der Internetseite des Autors: http: / / www.jptoussaint.com/ fai re-l-amour.html. 1234 Arcana Albright: „Jean-Philippe Toussaint. La littérature à l’âge des écrans“, in: Jean-Mi‐ chel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S.-237-245, hier: S.-237. schen dem namenlosen Erzähler und der Künstlerin Marie wird von einem umfangreichen Beiwerk begleitet, das die Romane gleichsam „aufbricht“, ihre Grenzen auflöst. Auf der Internetseite des Autors sind diese Nebenwerke den jeweiligen Romanen zugeordnet. In der Rubrik zum Roman Faire l’amour etwa finden sich nicht nur Manuskriptvorstufen und Skizzen, Abbildungen der verschiedenen Ausgaben und ihrer Übersetzungen sowie ein umfangreicher Pressespiegel, sondern auch Verweise auf Theateradaptionen, auf ein vom Autor eingesprochenes Hörbuch, auf den Film Faire l’amour. Une lecture japonaise (R.: Pascal Auger, 2005) sowie die von Toussaint selbst realisierte Fotoreihe Faire l’amour, une adaptation photographique 1233 . Angesichts dieser immer weiter mäandernden Verzweigungen lässt sich die M.M.M.M.-Tetralogie, die den Autor über zehn Jahre lang beschäftigte (von 2002 bis 2013, vgl. auch FB99), als Entwicklung hin zu einer neuen Dimension der littérature exposée beschreiben, bei der die Literatur im Zentrum steht, obgleich sie zu ihren Rändern hin ‚ausfranst‘. Das literarische Werk wird in anderen und durch andere Medien fortgeschrieben, woraus Neues hervorgeht: „chaque pratique d’art enrichit les pratiques des autres arts“ (MR18). Gleichwohl ist dieses (Netz-)werk ohne die Romane in seinem Zentrum nicht denkbar, so dass sich mit Albright vermuten lässt, dass Toussaint „‚s’éloignerait‘ de la littérature pour mieux la cerner‘“ 1234 . Toussaint bedient sich aber nicht nur verschiedener medialer Formen, er thematisiert und reflektiert auch intermediale Beziehungen und Konkurrenzen (Kap. III.2.1.), und verschränkt Romanwerk und andere Medien zu medienüber‐ schreitenden Erzählungen (Kap. III.2.2.). 2.1 Appareil-photo und Télévision: Thematisierte Medienkonkurrenz und Platz des Buchs Der Titel Livre/ Louvre rückt nicht den Künstler, sondern die Medien Buch und Museum in den Blick. Er mag an die Überschrift von Perecs selbstreflexivem 2 Medien und Medienkonkurrenz: Zum Werkbegriff 237 <?page no="238"?> 1235 Perec: „Penser/ Classer“, in: ders.: Penser/ Classer, S.-149-174. 1236 Vgl. Hamon: Imageries, S.-153. Vgl. Kap. II.3.4.2. 1237 Vgl. ebd., S.-81. 1238 Vgl. Fauvel: Scènes d’intérieur, S. 14; vgl. auch Aude Jeannerod: „L’image télévisuelle ou la fin de l’art dans La Télévision (1997) de Jean-Philippe Toussaint“, in: Cyril Barde u. a. (Hg.): Fin-de-siècle : fin de l’art ? Destins de l’art dans les discours de la fin des XIX e et XX e siècles, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2018, S. 149-162, hier: S. 156; Jeannerod arbeitet eine Nähe einzelner Passagen von La Télévision zu Debords La Société du spectacle heraus. 1239 Vgl. ebd., sowie Arcana Albright: „Jean-Philippe Toussaint : écrivain de la photographie et photographe du livre“, in: textyles, 40, 2011, S.-65-74.- 1240 Zit. nach: Gérard Henry: „Fuir de Jean-Philippe-Toussaint“, in: Paroles, 217, 2009, S. 1-2, hier: S.-1. 1241 Vgl. Jacques Poirier: „Exister“, in: Stéphane Chaudier (Hg): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S. 35-42, hier: S.-36, der noch weitere Beispiele erzählerisch generierter Absenz herausstellt. Text Penser/ Classer 1235 erinnern, der sich kritisch-ironisch mit verschiedenen Versuchen befasst, die Welt taxonomisch zu erfassen, oder an das hugosche „Ceci tuera cela“. Anders als bei Hugo, wo ein klarer Sieg der Druckkunst über das steinerne Bauwerk behauptet wird 1236 , bleibt offen, ob es sich um ein ‚kon‐ fliktuelles‘ 1237 oder komplementäres Verhältnis handelt. Diese offene Haltung bezüglich der Beziehung der Literatur zu anderen Medien ist für Toussaint symptomatisch, der kulturelle Strömungen - mal ironisch, mal kulturkritisch getönt - in seinem Werk verarbeitet, und die medialen Umbrüche der société des écrans 1238 der 1980er und 1990er Jahre (Privatfernsehen in TV, Mobiltelefon in Fuir, Internet in La Clé USB) aufgreift. Dies geschieht auch über ein ‚visuelles‘ Schreiben 1239 , das er jedoch von tatsächlicher Visualität unterscheidet: Dans mes livres, je crée des images, mais ces images ne sont pas physiques, elles ne sont pas faites, comme au cinéma, avec des comédiens, avec de la pellicule et de la lumière, ce sont des images mentales, faites de mots, de verbes, d’adjectifs et d’adverbes, ce qui est éminemment littéraire. 1240 Zu einer ‚Systemkontamination‘ (vgl. Kap. II.3.2.2.) der Literatur durch an‐ dere (Bild-)Medien kommt es also lediglich in intendierter und kontrollierter Form (vgl. Kap. III.4.6.). Vielmehr werden die Grenzen und Möglichkeiten unterschiedlicher Medien explizit und implizit in den Romanen thematisiert. Prototypisch steht dafür eine Passage in L’Appareil-photo mit dem Erzähler als schlechtem Fotografen: Ein von ihm verschossener Film zeigt ab dem zwölften Bild nur einige verschwommene Schatten, ist „uniformement sous-exposée, avec çà et là quelques ombres informes comme d’imperceptibles traces de mon absence“ (AP116). 1241 Der Ich-Erzähler, der in dem Roman unentwegt (und auch 238 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="239"?> 1242 Vgl. Jeannerod: „L’image télévisuelle“, S.-158. 1243 Vgl. Natalie Potok-Saaris: „Jean-Philippe Toussaint’s Slow Flight from Television“, in: Paroles gelées, 28, 1, 2014, S.-45-62, hier: S.-46. 1244 Das Spiegelmotiv und das im Monitor gespiegelte Kunstwerk werden noch mehrfach auftauchen, vgl. u.-a. Kap. III.4.1.1.2. aus Nichtigkeiten) Erzählung produziert, hält fotografisch ‚etwas‘ fest, doch bleibt dies im Vergleich zu seiner verbalen Präzision ausgesprochen vage. Als stärkerer Konkurrent zur Literatur erscheint hingegen das Fernsehen, das in La Télévision auf das Erzählte und das Erzählen übergreift: Schon auf der ersten Seite des Romans, der von einem in einer Schreibkrise steckenden Kunst‐ historiker handelt, welcher dem Fernsehen abschwört, geht es ausschließlich um dieses - um die letzten gesehenen Sendungen vor der nicht lange durchge‐ haltenen TV-Abstinenz, um das Gerät selbst. Auch der Blick des Erzählers ist von gerahmten Bildausschnitten bestimmt, ob durch Computer (vgl. TV47-48), Fenster (vgl. TV45) oder Spiegel (vgl. TV47). Als weiteres Medium wird auch hier die Malerei der alten Meister aufgerufen und gegen das Fernsehbild ausgespielt: Dieses sei zwar direkter, aber weniger „raffinée“ (TV12) als etwa ein Renaissance-Gemälde und zeige nur die Oberfläche der Dinge (vgl. TV13). 1242 Gegen die schnellen Bildfolgen, die der Erzähler beim nächtlichen zapping sieht, steht die Langsamkeit des Erzählens 1243 , das sich gerade bei ausgeschaltetem Gerät entfaltet: En continuant de regarder le téléviseur éteint en face de moi, je finis par remarquer que la partie de la pièce où je me trouvais se reflétait à la surface du verre. Tous les meubles et les objets de la pièce, comme vus à revers dans un miroir convexe à la Van Eyck, semblaient converger en se bombant vers le centre de l’écran, avec le losange lumineux et légèrement déformé de la fenêtre en haut du boîtier, les formes denses et ombrées du canapé et de la table basse qui se dessinait devant les murs, et les tracés plus fins, précis et nettement discernables, de la lampe halogène, du radiateur et de la table basse. Moi-même, au centre de l’écran, je reconnaissais ma silhouette sombre immobile dans le canapé. (TV101-102) 1244 Während Fernsehen und Fernseher explizit erwähnt werden, ist die Bildreferenz auf Van Eycks Gemälde Arnolfini-Hochzeit deutlich impliziter angelegt: Zwar wird der Name des Malers erwähnt, doch der Bezug auf das Gemälde ergibt sich nur versteckt, durch Hinweise wie die auch im Gemälde zu sehende „table basse“. Diese sehr subtile Referenz stellt vor allem die Kapazität des literarischen Erzählens (und des sich spiegelnden Erzählers) aus, sich anderer Medien zu bedienen - und das letztlich im Bilderstreit zwischen Fernsehen und Malerei auch hier als Sieger hervorgeht. 1245 2 Medien und Medienkonkurrenz: Zum Werkbegriff 239 <?page no="240"?> 1245 Vgl. weiter zu Bildern und Bildanspielungen auch Kap. III.4.6. 1246 In La Télévision erinnert lediglich der Untersatz des Fernsehers an ein aufgeschlagenes Buch, „comme un reproche tacite“ (TV8). Vgl. Potok-Saaris: „Jean-Philippe Toussaint’s Slow Flight from Television“, S. 48: „The book represents an outdated piece of techno‐ logy that has failed to keep pace with the growing popularity of the screen.“ 1247 Eine Ausnahme bildet ausgerechnet - und bezeichnenderweise - La Télévision, wo die Titelfigur schon beruflich (als Kunsthistoriker) mit Büchern zu tun hat. 1248 Vgl. Christophe Meurée u. Maxime Thiry: „Autoportrait de l’artiste en éternel décalé. Jean-Philippe Toussaint au prisme de Jeff Koons“, in: textyles, 53, 2018, S.-153-166. 1249 Musée du Louvre (Hg.): Jean-Philippe Toussaint, S. 1; vgl. Ulrike Schneider: „Flucht‐ punkte des Erzählens. Medialität und Narration in Jean-Philippe Toussaints Roman Fuir“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 118, 2, 2008, S. 141-161, hier: S. 144, die feststellt, Toussaints Texte verstünden es, „die Herausforderungen der Neuen Medien, insbesondere hinsichtlich ihrer visuellen Qualität und ihres ubiquitären Potentials, in einer Weise anzunehmen, dass [sie] - gerade in der konstruktiven Aus‐ einandersetzung mit anderen Medien und Kunstformen - den Blick auf die spezifische Es ist dabei bezeichnend, dass beide zitierten Beispiele - das unscharfe Foto in L’Appareil-photo, der spiegelnde Fernseher in La Télévision - das Erzählen thematisieren, ohne sich auf das Buch zu berufen. 1246 So wenig, wie dieses als Objekt in der Ausstellung Livre/ Louvre im Mittelpunkt steht, so wenig auch in der Literatur Toussaints. 1247 Es wird fotografiert, gefaxt, telefoniert oder ferngesehen, aber kaum je geschrieben oder gelesen. In Faire l’amour greift der von Liebeskummer geplagte Erzähler in seinem Hotelzimmer zur Bibel, doch das ‚Buch der Bücher‘ spendet keinen Trost: J’étais toujours en caleçon, assis au bord du lit, et je feuilletais une Bible en anglais reliée en cuir bleu, que j’avais trouvée dans le tiroir de la table de nuit. Je ne lisais pas vraiment, je tournais les pages, regardais les têtes de chapitre, l’intitulé des épîtres. Je refermais distraitement le volume (je n’avais pas l’esprit très clair) […]. (FA87) Abgesehen von diesem sehr punktuellen, oberflächlichen, an Paratexten orien‐ tierten ‚Lesen als Sehen‘ (vgl. Kap. II.3.1.1.1.), kommen Bücher in den vier M.M.M.M.-Romanen nur an zwei dicht aufeinander folgenden Szenen vor: einmal als Sammlung von Kunstkatalogen in einem Hinterzimmer des japani‐ schen Museums Contemporary Art Space (vgl. FA102, Kap. III.5.2.), einmal im Haus des verstorbenem Vater der Hauptfigur Marie (vgl. F126, Kap. III.5.3.); in beiden Fällen steht nicht das einzelne Buch, sondern die mit einer Archiv- oder Erinnerungsfunktion verknüpfte Bibliothek bzw. Sammlung im Zentrum. Damit ist das Buch ein Medium der Vergangenheit, nicht der gegenwärtigen société des écrans, in welcher der Einfluss der Schrift schwindet. 1248 Bei Toussaint erscheint die Literatur als ‚pur‘ und immateriell, was mit dem Ansatz der Ausstellung korrespondiert, diese zu thematisieren, „sans passer par l’écrit“. 1249 240 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="241"?> Qualität […] literarischen Erzählens zu schärfen [vermögen] und dabei zugleich eine dezidierte Lust am Erzählen erkennen [ließen].“ 1250 Baudinet-Lindberg: „Contemporain du livre“, S.-19. 1251 Die Performance wurde an der Comédie de Clermont-Ferrand (9.-13. März 2016) und anschließend u. a. in Lüttich und Paris aufgeführt; vgl. die Projektseite http: / / www.jpt oussaint.com/ m-m-m-m.html. Vgl. zur Entstehung auch Jean-Philippe Toussaint u. Alexandre Rochon: „Nue est un titre qui pourrait s’appliquer à tous mes livres. Conversation entre Alexandre Rochon et Jean-Philippe Toussaint “, in: Jean-Philippe Toussaint: Nue, Paris: Les Éditions de Minuit 2017 [2013], S.-173-185, hier: S.-176-180. 1252 Vgl. Abbildung in Jean-Marie Wynants: „Un voyage envoûtant entre musique et littérature“, in: Le Soir, 19.04.2016, S.-32. 1253 Vgl. Albright: „Jean-Philippe Toussaint. La littérature à l’âge des écrans“, S.-241. 1254 Vgl. zu Toussaints „goût du fragment“ ders.: „La mayonnaise et la genèse“, S.-116. 2.2 „Serait-ce jamais fini avec Marie ? “ - Toussaints transmediales Erzählen Nicht nur lässt sich bei Toussaint von einem Nebeneinander verschiedener Medien sprechen, nicht nur von einem literarischen Werk, das dieses Neben‐ einander thematisiert, sondern auch von intermedialen Übergangszonen, die literarische Ereignisse über mehrere Medien hinweg ausformulieren: „les his‐ toires de Toussaint on ne sache plus, si on les a vues ou lues“ 1250 . Illustriert werden soll dies an drei Beispielen in Zusammenhang mit den M.M.M.M.-Romanen. Für die Live-Performance M.M.M.M. (2016) 1251 überträgt Toussaint seine Romantetralogie in eine Bühnenfassung, wozu er Fragmente der Texte und Kurzfilme und eine eigens komponierte Musik von The Delano Orchestra nutzt. Toussaint sitzt auf einer Bühne, an einem Laptop, hinter sich eine Leinwand, auf der per Videobeamer das Bild seines Computers zu sehen ist: Auf einem Pressefoto ist die Seite eines Textverarbeitungsprogramms zu erkennen, in das Toussaint den ersten Satz des Romans Fuir („Serait-ce jamais fini avec Marie? […]“, F11) eingibt. 1252 Wie die Internetseite Materialien zur Entstehung der Romane bereitstellt, wird diese Textgenese auch als performativer Akt auf der Bühne nachvollzogen. Die Uraufführung fand vor der Veröffentlichung der Tetralogie in einem Band im Jahr 2017 statt und ist demnach eine Etappe des mehrjährigen Ausdeklinierens der Romane in unterschiedlichen Medien 1253 - die Geschichte Maries ist auch jenseits des Buchs nicht „finie“. Ein weiteres Beispiel betrifft eine literarische Episode 1254 , die in einer ganzen Folge medialer Formen umgesetzt wird. Es handelt sich um den Beginn des Romans Nue, die ‚Honigkleid‘-Passage, die als eine Art Präambel dem ersten Ka‐ pitel des Buchs vorangestellt ist. Hier inszeniert Marie eine Kunstperformance, 2 Medien und Medienkonkurrenz: Zum Werkbegriff 241 <?page no="242"?> 1255 Versehen ist sie lediglich mit dem Copyright-Hinweis auf Toussaint. 1256 „[L]a fiction que j’étais en train d’écrire“ (MC71); vgl. Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘“, S.-182-183. 1257 Vgl. The Honey Dress, R.: Jean-Philippe Toussaint, 2015, online unter: http: / / honey.jpto ussaint.com/ . Vgl. Rhein: „Licht und Literatur“, S. 166. 1258 Vgl. zur Fiktionalität von Made in China Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘“, S.-182-183. 1259 Vgl. Albright: „Jean-Philippe Toussaint. La littérature à l’âge des écrans“, S. 244: „[L]e livre suit la vidéo dans le processus de création et la vidéo nous invite à redécouvrir le livre. […] Made in China insiste sur la relation dialogique entre le livre et l’écran, les concevant comme un diptyque.“ 1260 Insofern ist mit Blick auf den gesamten Komplex auch die Analyse Schneiders zu relativieren, die zu Made in China feststellt: „Il n’y pas de hors-texte, pas de réalité fiable en dehors du livre, pas de données auxquelles on pourrait attribuer un référent - nous ne disposons que de l’univers raconté (et potentiellement fictionnel), made in China, et de rien de plus.“; Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘“, S.-183. 1261 Vgl. Eckel u. Lindemann: „Text als Ereignis - Ereignis als Text“, die unter diesen Titeln verschiedene Dimensionen textueller Ereignisproduktion zusammenfassen: „Die Ebene der künstlerischen Programme und Poetiken“, jene der „Textkomposition und künstle‐ rischen Verfahren“, jene der „Textverwendungen und textorientierten Praktiken“, und schließlich die Ebene von „Textrezeption und Ereigniswirkung“ (ebd., S. 13-19). Jede dieser Ebenen lässt sich an oben genanntem Beispiel herausarbeiten, und jede steht in Zusammenhang mit den anderen. Welche Episode hier „vor dem Text“ steht, und welche „nach dem Text“ lässt sich kaum sagen. Vgl. Rhein: „Licht und Literatur“, S. 166. bei der ein Model ein Kleid aus Honig und Bienenwaben trägt und dabei von lebenden Bienen umkreist wird. Während der Aufführung stürzt die Frau, worauf ein Imker eingreifen muss (vgl. N11-25). Auf dem Taschenbuchcover des Romans (2017) ist eine zunächst nicht zuortenbare Fotografie der ‚Frau im Honigkleid‘ zu sehen. 1255 Erst mit dem Folgebuch Made in China (2018) erklärt sich dieses Foto als Standbild aus dem Kurzfilm The Honey Dress (2015), dessen Dreharbeiten der Text behandelt, wobei die autobiografische Dimension mehrfach infrage gestellt wird. 1256 Am Ende von Made in China findet sich ein Link, der zur Internetseite Toussaints führt, wo der Kurzfilm zu sehen ist. 1257 Der Ereignis wird also über verschiedene Medien (erzähltes, literarisches Ereignis > Fotografie auf Buchcover > erzähltes making of > Kurzfilm im Internet) hinweg weiterverfolgt und ausformuliert. Dabei wechselt es auch zwischen (vermeintlich) autobiografischen (Foto Toussaints, Bericht der Dreharbeiten in Made in China 1258 ) und fiktionalen Formen (Erzählung in Nue, der Kurzfilm). „C’est le début du film, et c’est la fin du livre“ (MC188) heißt es am Ende des Buchs: Die beiden Werke greifen in- und verweisen aufeinander. 1259 Dadurch lässt sich diese Episode als eigenes, transmediales Werk verstehen, das über ein bloßes Nebeneinander von unterschiedlichen Medien hinausgeht 1260 : Sie bildet ein Ereignis „vor dem Text“, „im Text“, „mit dem Text“ und „nach dem Text“. 1261 242 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="243"?> 1262 Vgl. Toussaint u. Rochon: „Nue est un titre qui pourrait s’appliquer à tous mes livres“. Die Wahl der Autoren oder Interviewpartner im Anhang jeder Ausgabe der Romane Toussaints in der „collection double“ zeigt diese Öffnung des literarischen Texts zur Welt: so ein Gespräch mit seinem chinesischen Übersetzer und Verleger Chen Tong in Fuir, oder dem Literaturwissenschaftler Pierre Bayard in La vérité sur Marie. Paratextuell werden die Romane so verortet, gerahmt, als Untersuchungsobjekte situiert - und dies stets unter der Kontrolle des Autors. 1263 Vgl. die Projektseite Faire l’amour. Une lecture japonaise, 2005, online unter: http: / / www.jptoussaint.com/ faire-l-amour-une-lecture-japonaise.html. 1264 Pascal Auger: „Faire l’amour. Le triptyque“. 1265 Vgl. ebd. 1266 Vgl. etwa zum ‚schiefen‘ Triptychon in La Salle de Bain Kap. III.4.4.2. Überdies ist die transmediale ‚Honigkleid‘-Episode nur ein Adaptions-Strang, der vom Roman Nue abgeht. Weitere erwähnt Toussaint in einem Gespräch mit dem Musiker und Videokünstler Alexandre Rochon im Anhang zum Roman 1262 , in dem er nicht das literarische Werk thematisiert, sondern dessen mediales Nachleben. So führt auch dieser Annex aus dem Buch heraus und erklärt es zugleich zum abgeschlossenen Werk, das nun der Einordnung durch die Nachwelt unterliegt (vgl. Kap. II.4.2.2.2.2.). Als drittes Beispiel sei auf ein Filmprojekt im Kontext von Faire l’amour 1263 verwiesen, das Handlungsschauplätze des Romans in Japan zeigt (Metros, Hotelzimmer, nächtliche Stadtansichten…), gelegentlich auch den Autor selbst in situ, und diese Bilder mit einer Lesung Toussaints auf der Tonspur unterlegt. Es werden je drei verschiedene Bilder zusammengeführt - eine laut Regisseur Pascal Auger an japanische Gemälde angelehnte Triptychon-Form, wodurch der Untertitel Une lecture japonaise einen Doppelsinn erhält. Diese Form ist aber auch eine „possibilité d’agrandir […] l’espace représenté“ und „de créer un espace qui ne préexiste pas à sa figuration“. Die Dreiteilung des Bildes erlaubt eine Raumdarstellung „comme de l’intérieur, comme si l’espace était déplié par multiplication“ 1264 . Das Werk, zur Aufführung mit drei Bildschirmen oder Videoprojektoren konzipiert 1265 , funktioniert eher als Rauminstallation denn als klassischer (Kino-)Film. Als ‚Folgeprojekt‘ des Romans steht es für etwas, das die Literatur nicht leisten kann. Somit ergänzt es die literarische Erzählung um die Qualitäten der Medien Film und Installation. Dabei werden ästhetische Formen aufgegriffen, die für Toussaints Literatur wichtig sind; eine auf verschiedenen Niveaus (räumlich, narrativ, medial) in Toussaints Werk präsente Trialektik 1266 ist hier Strukturprinzip: „la forme de triptyque s’est imposée à nous comme la possibilité la plus adéquate de dépasser le cadre formel de l’illustration vidéographique du livre. […] Ce n’est pas une illustration du récit que nous envisageons, mais une re-création de ce récit […].“ 1267 2 Medien und Medienkonkurrenz: Zum Werkbegriff 243 <?page no="244"?> 1267 Pascal Auger: „Faire l’amour. Le triptyque“, o.D., online unter: http: / / www.jptoussaint. com/ documents/ 1/ 1a/ Fairelamour-Pr%C3%A9sentation.pdf. 1268 Vgl. Donatien Grau: „Les jeux de l’art et de la littérature“, in: Le Monde, 27.04.2012, online unter: http: / / jptoussaint.com/ documents/ 5/ 5b/ Presse-Mainetregard-Lemonde-2 012.pdf. Während also Toussaint eine Trennung der Medien proklamiert und prakti‐ ziert, wandern die Erzählungen. Der Verzicht auf Objekte in der Ausstellung, die seine Literatur unmittelbar präsentieren (etwa Manuskripte oder Skizzen) ist daher nicht so überraschend, wie etwa Grau meint: „aucun texte du romancier. Cette absence constitue un symbole fort : c’est l’artiste qui y est présenté, non l’écrivain […]. Et Toussaint écrivain est aussi, désormais, artiste.“ 1268 Dies ist nur in Teilen zutreffend, denn erstens stellt Toussaint selbst in Abrede, bildender Künstler zu sein (s. o.), und zweitens weisen die Exponate, wie im folgenden Kapitel III.3. gezeigt wird, durchgängig starke Verbindungen zu seinem literarischen Werk auf - nur eben nicht vermittelt durch Schrift oder Buch. Gerade wegen des Fehlens direkter Verweise auf das literarische Werk thematisiert die Ausstellung Literatur mit den ihr eigenen Mitteln oder führt sie fort, belässt es jedenfalls nicht bei einer ‚Illustration‘. 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur Anders als die drei oben genannten Beispiele, die sich alle auf einzelne Werke oder Werkbestandteile beziehen, rekurriert die Ausstellung nicht nur auf einen literarischen Ausgangstext. Dies zeigt sich an zwei Werken, die literarische Autorenbilder und Fragen der (Selbst-)Musealisierung des Künstlers im literari‐ schen Feld (Kap. III.3.1.) sowie komplexe Motivlinien und ästhetische Verfahren Toussaints (Kap. III.3.2.) aufgreifen. 3.1 Fotografie Quelques amis Die Fotografie Quelques amis écrivains qui passaient ce jour-là au Louvre par hasard à qui j’ai demandé de poser avec moi à l’improviste autour d’un autoportrait de Delacroix (im Folgenden: Quelques amis) kann als ‚Ausgangspunkt‘ dienen, um die literaturgeschichtliche Situierung Toussaints (Kap. III.3.1.1.), das Bild 244 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="245"?> 1269 Das Werk ist auch im Begleitbuch La Main et le Regard abgebildet und dem Dela‐ croix-Gemälde gegenübergestellt (MR124-125). Es ist im Ganzen abgedruckt, begleitet von einigen Bilddetails. Im Buch zu sehen ist außerdem eine Portraitserie der beteiligten Autoren vor verschiedenen Gemälden, sowie Fotos von der Entstehung (MR120-129). Auch auf der Internetseite Toussaints findet sich ein making of-Film zur Entstehung der Fotografie. 1270 Bildquelle: Screenshot aus dem making-of-Film Quelques amis écrivains, 2012, R.: Made‐ laine Santandrea, online unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=2VUeB7XIUUY. 1271 Vgl. Rajewsky: Intermedialität, S.-114. des Autors und seinen Platz in Ausstellung und Literatur (Kap. III.3.1.2.) darzu‐ stellen. 1269 Abb. 6: Quelques amis écrivains qui passaient ce jour-là au Louvre par hasard à qui j’ai demandé de poser avec moi à l’improviste autour d’un autoportrait de Delacroix, Jean-Philippe Toussaint, 2012 1270 Auf dem Bild zu sehen ist Toussaint, der einen Kameraauslöser betätigt, umgeben von befreundeten Autoren (stehend: Pierre Bayard, Olivier Rolin, Pascal Torres, Emmanuel Carrère, Toussaint; sitzend: Jean Échenoz, Philippe Djian). Das Foto verweist außerdem - sichtbar und unsichtbar - auf zwei Gemälde, mittels einer „expliziten Systemerwähnung“ 1271 auf das im Bild zu sehende Autoportrait au gilet vert (1837) von Eugène Delacroix, sowie in einer 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 245 <?page no="246"?> 1272 Vgl. ebd., S.-160, vgl. auch Kap. II.3.2.2. 1273 Vgl. Baudinet-Lindberg: „Contemporain du livre“, S. 19: „Fantin-Latour peint Wistler, Manet et Baudelaire réunis pour un hommage à Delacroix. Toussaint choisit d’en faire un remake, en réalisant lui-même une photo de groupe avec des écrivains contempo‐ rains : qu’il place autour de lui. Peintres et poètes étaient réunis par Fantin-Latour pour un hommage à la peinture et à un peintre qui écrit, Delacroix. Toussaint, quant à lui, fait poser des écrivains dont l’un (lui-même) filme et photographie, et tout cela dans le temple de la peinture : le Louvre en 2012.“ 1274 Bildquelle: GrandPalaisRmn (musée d’Orsay) / Hervé Lewandowski, online unter: https: / / photo.rmn.fr/ archive/ 96-019040-2C6NU0SKR0TX.html. 1275 In einem kurzen Text, den Toussaint zu Werner Spies’ Ausstellung Les Archives du rêve (Musée de l’Orangerie, Paris, 26.03-30.06.2014) anfertigte, in dem er ein weiteres Werk Henri Fantin-Latours kommentiert, Étude préparatoire pour Baudelaire: un anniversaire (1864-1871), verweist Toussaint selbst auf diese Zusammenhänge, vgl. Établissement public des musées d’Orsay et de l’Orangerie (Hg.): Les archives du rêve. Dessin s du musée d’Orsay. Carte blanche à Werner Spies, Paris: Musées d’Orsay et de l’Orangerie/ Éditions Hazan 2014, S.-56. „reproduzierenden Systemerwähnung“ 1272 auf das Gruppen-Selbstportrait von Fantin-Latour (Hommage à Delacroix, 1864), welcher sich (hier im weißen Hemd) im Kreise von u. a. James McNeill Whistler, Manet und Baudelaire vor einem Delacroix-Gemälde porträtierte. 1273 Abb. 7: Hommage à Delacroix, Henri Fantin-Latour, 1864 1274 Der sich porträtierende Künstler - bei Fantin-Latour mit der Palette in der Hand - betätigt hier die Kamera. 1275 Die schon im Gemälde zu erkennende hommage an die Künste (der Maler inmitten von Malern und Dichtern, vor dem Porträt 246 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="247"?> 1276 Vgl. Toussaints Kommentar dazu: „Une autre variante que j’ai étudiée, c’est le classique autoportrait au miroir, en me plaçant dans l’image en position d’opérateur : l’équivalent du peintre en train de peindre. Mais, finalement, j’ai préféré apparaître comme personnage“ (MR186). 1277 N.N. [Sophie Saulnier]: „6 écrivains et la lumière“, in: Le Lampadaire, online unter: http: / / le-lampadaire.fr/ 20-1: „cette rencontre, que fige la photo (ou cette photo qui fige un moment), ne fonde ni une école, ni un mouvement littéraire. C’est une rencontre de hasard, une prise de vue à l’improviste…“. 1278 Man beachte die ähnlich positionierten Träger weißer Hemden auf beiden Bildern, sowie die Position Baudelaires auf dem Gemälde und Philippe Djians auf dem Foto - jeweils unten rechts und mit ähnlichem Haarschnitt. Auf diese Korrespondenzen verweist auch die Auswahl der in La Main et le Regard abgedruckten Bilddetails (MR125). 1279 Benoît Peeters u. Jean-Philippe Toussaint: „La parole est à l’écrivain. Jean-Philippe Toussaint dialogue avec Benoît Peeters, puis avec la salle“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S.-363-381, hier: S.-364. 1280 Etwa Man Rays Foto der Pariser Dada-Gruppe (ca. 1922) oder Anna Riwkin-Bricks Groupe surréaliste (1933). Schon das Gemälde Fantin-Latours illustriert die Abgren‐ zungsbewegungen zwischen verschiedenen Schulen, den classiques, romantiques und modernes, auf dem Bild verkörpert insbesondere durch Delacroix und Baudelaire. Vgl. Saskia Hanselaar: „L’Hommage à Delacroix, manifeste de Fantin-Latour“, in: Histoire par l’image, Oktober 2016, online unter: https: / / histoire-image.org/ etudes/ hommagedes schreibenden Malers Delacroix) wird von Toussaint um weitere Medien (der an einen PC angeschlossene Fotoapparat) erweitert. 1276 Die Fotografie behauptet zwar über ihren Titel ein angeblich zufälliges Zustandekommen („par hasard)“ 1277 , ist bei näherem Hinsehen aber anspielungs‐ reich und genau konstruiert. 1278 Darin ähnelt sie dem literarischen Ansatz Toussaints, der - gemäß seiner Devise „moins les sujets sont intéressants, plus les textes demandent de travail“ (AE12) - einfach zu rezipierenden Lesefluss erzeugt, und gleichzeitig eine tiefergehende Lektüre und Analyse erlaubt: „Tout mon travail consiste à camoufler des choses sur lesquelles vous pourrez ultérieurement vous arrêter.“ 1279 3.1.1 (Literatur-)Geschichte und Gegenwart: Das Gruppenbild als Kommentar zur Stellung des Werks Anders als Fatin-Latours’ Gemälde zeigt das Foto einen ausschließlich aus „amis écrivains“ bestehenden Freundeskreis, weshalb der Titel einen Kommentar auf die zahlreichen Versuche darstellt, Toussaint einer bestimmten Schule oder Literaturströmung zuzurechnen: Denn es zitiert nicht nur ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, sondern steht auch in der Tradition der literarischen Gruppen‐ fotos 1280 , und erinnert insbesondere an eine ikonisch gewordene Fotografie: 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 247 <?page no="248"?> delacroix-manifeste-fantin-latour. 1281 Vgl. Anne Simonin: Les Éditions de Minuit, 1942-1955. Le devoir d’insoumission, Paris: Imec 1994, S. 461: „Cliché spontané comme en témoigne l’apparent désordre des personnages, la photo de Mario Dondero est […] une image organisée, résultat d’une commande mûrement réfléchie et d’une technique éprouvée. Réunir l’ensemble des écrivains […] cités, sur un même trottoir, peut difficilement passer pour un de ces hasards heureux réservés par l’histoire à un photographe heureux.“ 1282 Le Point hatte das berühmte Foto neben Toussaint u. a. mit Echenoz, Bon und Patrick Deville nachgestellt; vgl. Jacques-Pierre Amette: „Le nouveau nouveau roman“, in: Le Point, 16.1.1989, S.-18-20, zit. nach Jean-Pierre Salgas: „Sur deux photos de groupe“, in: La quinzaine littéraire, 532, 1989, S. 23-26, online unter: http: / / jeanpierresalgas.fr/ ouva-litterature-francaise. 1283 Vgl. zur Verlagsgeschichte Simonin: Les Éditions de Minuit; Schoots: „Passer en douce à la douane“, S.-10-12. 1284 Vgl. Alexander Hertich: „Jean-Philippe Toussaint et Alain Robbe-Grillet sur le double circuit“, in: Michel Bertrand u. a. (Hg.): Existe-t-il un style Minuit ? , Aix-en-Provence: Presses universitaires de Provence 2014, S. 125-134; vgl. auch Toussaints Kurzfilm Pour Robbe-Grillet (2008), online unter: http: / / www.jptoussaint.com/ pour-robbe-grillet-2008 .html. Die (inszenierte) Zufälligkeit der Begegnung stellt einen Bezug zu Donderos berühmtem Gruppenbild mit Vertretern des Nouveau Roman her, das ebenfalls wie eine improvisiertes Zusammentreffen wirkt, dabei jedoch genau geplant war. 1281 Dieses Bild war bereits von der Zeitschrift Le Point zitiert worden, um einen Artikel zu den jeunes écrivains de Minuit zu bebildern, darunter Toussaint. 1282 In diese Reihe also stellt sich nun das Fotoprojekt Toussaints, der sich damit auch auf seine Kategorisierung als auteur de Minuit (Kap. III.3.1.1.1.), als Vertreter einer écriture minimaliste und/ oder eines retour du romanesque (Kap. III.3.1.1.2.) positioniert. Diese Zusammenhänge ausführlich herauszuarbeiten, lohnt sich nicht nur zur zeitlichen Einordnung des Fotos und der Ausstellung vor dem Hintergrund des literarischen Werks, sondern erlaubt auch, (Selbst-)Musea‐ lisierungstendenzen des Autors in Literatur und Ausstellung als transmediales Thema darzustellen. 3.1.1.1 Die jeunes auteurs de Minuit Mit dem 1944 gegründeten Verlag Les Éditions de Minuit, der sich unter der Leitung Jérôme Lindons - von 1948 bis zu dessen Tod im Jahr 2001 - zum maßgeblichen Verlag des Nouveau Roman entwickelt hatte und der mit den Werken Alain Robbe-Grillets, Claude Simons, Nathalie Sarrautes und Michel Butors die wichtigen Texte dieser Strömung publizierte 1283 , verbindet Toussaint eine doppelte Linie: Einige Autoren des Verlags - insbesondere Beckett und Robbe-Grillet 1284 - zählen zu seinen prägendsten literarischen Einflüssen 1285 , und 248 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="249"?> 1285 Vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 141; vgl. Jean-Louis Hippolyte: Fuzzy Fiction, Lincoln: University of Nebraska Press 2006, S.-25-26. 1286 Vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 42; Anja Kauß: Der diskrete Charme der Pro‐ krastination. Aufschub als literarisches Motiv und narrative Strategie (insbesondere im Werk von Jean-Philippe Toussaint), München: Martin Meidenbauer 2008, S. 347; Bruno Blanckeman u. Marc Dambre: „Avant-propos“, in: dies. (Hg.): Romanciers minimalistes 1979-2003, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2012, S. 7-12, hier: S. 8; Schneider: „Flucht‐ punkte des Erzählens“, S.-141. 1287 Vgl. Marie-Pascale Huglo u. Kimberley Leppik: „Narrativités minimalistes contempo‐ raines : Toussaint, Tremblay, Turcotte“, in: Voix et Images, 36/ 1, 106, 2010, S. 27-44, hier: S.-34; vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-38. 1288 Vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-34-35. 1289 Vgl. Michèle Ammouche-Kremers u. Henk Hillenaar (Hg.): Jeunes auteurs de Minuit, Leiden: Brill 1994. Vorgestellt werden in diesem Band François Bon, Jean Echenoz, Christian Gailly, Hervé Guibert, Bernard-Marie Koltès, Marie Redonnet, Jean Rouaud und Jean-Philippe Toussaint. 1290 Claude Prévost u. Jean-Claude Lebrun: Nouveaux territoires romanesques, Paris: Mes‐ sidor 1990, S.-23-24. 1291 Vgl. zur Kritik daran Schoots: „Passer en douce à la douane“, S.-18. 1292 Sie verdeckt zumindest den Spielcharakter dieser Texte; vgl. Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S. 143-44; Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S. 327-330; Nicole Brand‐ stetter: Strategien inszenierter Inauthentizität im französischen Roman der Gegenwart. Marie Redonnet, Patrick Deville, Jean-Philippe Toussaint, München: Martin Meidenbauer 2006. 1293 Vgl. etwa Blanckeman u. Dambre: „Avant-propos“, S.-8. er selbst gehört zu den emblematischsten Autoren des Hauses. Als solcher wird er auch vermarktet: Lindon selbst erklärte seinen Verlag zum Ursprungsort des roman impassible 1286 und Toussaint zu einem Hauptvertreter dieser Strömung. Auch von einer „génération salle de bain“ 1287 ist mitunter die Rede, womit Toussaints erster veröffentlichter Roman zur literaturhistorischen Zäsur erklärt wird. In der Taschenbuchausgabe des besagten Romans (2005) thematisiert Toussaint in dem Text „Comment j’ai rencontré Jérôme Lindon“ (auch UP79-85) seine Zugehörigkeit zum Verlag und platziert ihn somit an der ‚Quelle‘, dem Ausgangspunkt seines späteren Erfolgs. Auch Made in China und der Essayband C’est vous l’écrivain greifen die Verlagszugehörigkeit auf. 1288 So sehr die jeunes auteurs de Minuit 1289 mediatisiert wurden, so sehr haben sie die Literaturwissenschaft vor Herausforderungen gestellt. Prévost und Lebrun verweisen darauf, dass eigentlich nicht der Verlag die Gemeinsamkeit der Gruppe bilde. In den charakteristischen „effets d’étrangeté“ 1290 der Texte sehen sie eher literarische Reaktionen auf gesellschaftliche Krisen der Zeit 1291 als literar-ästhetische Zäsuren. Ist diese These auch zu hinterfragen 1292 , kommen die meisten Untersuchungen doch überein, dass es sich bei dem Label der auteurs de Minuit um eine Verengung handelt. 1293 So kann man wohl von einem Minuit-Stil 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 249 <?page no="250"?> 1294 In unterschiedlichen Konstellationen werden zumeist Jean Echenoz, Patrick Deville, Marie Redonnet, Emmanuel Carrère, François Bon, Eric Chevillard und Christian Oster genannt, gelegentlich auch Leslie Kaplan, Yves Laplace, Emmanuèle Bernheim, Bertrand Visage und Jean-Marie Laclavetine. Schoots fasst die verschiedenen Zuschrei‐ bungen zusammen, vgl. Schoots: „Passer en douce à la douane“, S. 16-17; vgl. Blanckeman u. Dambre: „Avant-propos“, S. 9. Die Frage Existe-t-il un style Minuit ? wird hingegen in den meisten Artikeln des gleichnamigen Sammelbands von Bertrand u. a. (Hg.) positiv beantwortet. Auch Schneider hält das Label für hilfreich, wenn es darum gehen soll, andere „voreilige, problematische oder aber wenig distinktive Benennungen“ (Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S.-141) zu vermeiden. 1295 Vgl. Simonin: Les Éditions de Minuit, S. 468; im Jahr 1959, zum Zeitpunkt des ikonischen Fotos, war Michel Butor 33, Nathalie Sarraute bereits 59 Jahre alt. 1296 Schoots: „Passer en douce à la douane“, S.-22. sprechen - aber eben nicht nur in Büchern dieses Verlags. 1294 Damit zeigt der Begriff eher den Wunsch nach Festschreibung als eine tatsächliche Definition - und die Wiederholung einer Diskussion zur Eingrenzung des Nouveau Roman, welcher sich ebenfalls weder über den Generationenbegriff, noch über den einer école littéraire adäquat fassen lässt. 1295 Die angebliche Zufälligkeit von Toussaints Zusammenkunft mit ‚einigen‘ („quelques“) Autorenfreunden nun ließe sich als Kommentar zu jenen Fest‐ schreibungsversuchen verstehen: auf die „tendance irrémédiable de la critique de classer“ - und „celle des auteurs contemporains de s’y dérober“ 1296 . 3.1.1.2 „cette énergie purement littéraire“: Toussaints Literatur zwischen écriture minimaliste und romanesque Das Bild führt aber noch tiefer in Toussaints literarische Ästhetik, die wiederum mit Labels belegt ist. Sein Titel bildet eine Art ‚Kippfigur‘ zwischen ‚Banalität‘ und Minimalismus („Quelques“, „qui passaient […] par hasard“, „à l’improviste“), aber auch einem evozierten romanesque (der weitschweifige Titel, die Wendung „un jour“), die sich auf der Bildebene wiederfindet (die Digitalkamera und die Alltagskleidung, der Louvre und der Romantiker Delacroix). Zwischen diesen Polen liegt auch das Gesamtwerk Toussaints, das sich im Zentrum eines literarischen, literaturwissenschaftlichen und -historischen Spannungsfeld der 250 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="251"?> 1297 Vgl. ebd., S. 14, die das frühe Werk Toussaints (bis La réticence) in diesem Spannungsfeld verortet. Vgl. zur terreur théorique Kauß: Der diskrete Charme, S. 345-349; vgl. zum romanesque Jean-Marie Schaeffer: „La catégorie du romanesque“, in: Gilles Declercq u. Michel Murat (Hg.): Le romanesque, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2004, S. 291-302, hier: S. 295; Sylvie Loignon: „Romanesque : le retour de flamme, ou comment faire l’amour avec J.-P. Toussaint ? “, in: Aline Mura-Brunel (Hg.): Christian Oster et cie. Retour du romanesque, Amsterdam/ New York: Rodopi 2006, S. 25-34; Christelle Reggiani: „Le romanesque contemporain“, in: Timo Obergöker (Hg.): Les Lieux de l’extrême contemporain, München: Martin Meidenbauer 2011, S. 23-33; Marc Gontard: Écrire la crise. L’esthétique postmoderne, Rennes: PUR 2013. 1298 Vgl. Toussaint u. Viart: „Entretien“, S. 243; fast wortgleich auch in Toussaint u. Tong: „Écrire, c’est fuir“, S. 177. Wie sich zeigen wird, grenzt Toussaint sich in dieser Hinsicht entscheidend von Houellebecq ab (vgl. Kap. IV.3.4.). 1299 Vgl. Peeters u. Toussaint: „La parole est à l’écrivain“, S. 368: „Mais je veux me tenir légèrement à l’écart, je ne veux pas devenir un spécialiste de la théorie littéraire, je ne veux pas me pencher sur les bons livres de narratologie […].“ 1300 Vgl. Toussaint u. Chen Tong: „Écrire, c’est fuir“, S. 185: „J’aime le contemporain. […] L’époque dit-on, ne serait pas enthousiasmante. Ah bon ? Moi, comme écrivain, je ne juge pas, je prends ce qui vient, avec l’idée que le contemporain est toujours passionnant.“ 1301 Toussaint u. Chen Tong: „Écrire, c’est fuir“, S.-183; vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 111, „‚l’énergie romanesque‘, ce quelque chose d’invisible, de brûlant et quasiment électrique, que surgit parfois entre les lignes d’un livre, cette énergie purement littéraire“. 1302 Vgl. Peeters u. Toussaint: „La parole est à l’écrivain“, S. 371. Hier sagt Toussaint: „Mais il y a pourtant […] cette attention au monde contemporain qui ne passe pas par la grille politique, économique et sociale, mais qui est plutôt en prise avec l’univers, donc avec une dimension métaphysique et philosophique du monde. Il y a dans mes romans […] 1980er und 1990er Jahre situiert: zwischen terreur théorique und littérature minimaliste einerseits, einem retour du romanesque andererseits. 1297 Wollte man eine Analogie zum musealen Dispositiv ziehen, so ergäben sich in diesen Spannungsfeldern (realitätsgesättigtes vs. theoriegeprägtes Erzählen, Welthaltigkeit vs. Hermetik) zwei gegensätzliche Metaphern: Sind die Texte Monumente der Repräsentation - oder Momente der Reflexion? Toussaint gibt darauf keine klare Antwort. Er verneint, eine „analyse explicite du monde contemporain“ anzustreben: „[ J]’essaie simplement de faire surgir le présent, de le rendre vivant, de le restituer“ 1298 . Auch auf den Einfluss von Theorie(en) geht er in seinen Selbstauskünften kaum ein. 1299 Obwohl er sich explizit als gegenwartserfassender Autor des contemporain versteht 1300 , ist für ihn vielmehr die Dichotomie zwischen einer „littérature centrée sur l’insignifiant, le banal“ und einer „énergie romanesque“ bzw. „purement littéraire“ 1301 entscheidend, wobei diese Begriffe ambivalent sind. So ist bei Toussaint das Banale nicht (nur) banal 1302 ; wie sich im Verlauf der folgenden Kapitel zeigen wird, greifen gerade vermeintlich unbedeutende Szenen philosophische Ansätze, Medientheorien 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 251 <?page no="252"?> un grand intérêt pour le quotidien, le banal, l’insignifiant, où je me sens en terrain connu.“ 1303 Vgl. dazu Amars Definition nach den folgenden Kriterien: „récit concis et ordonné ; ton froid, plat, désaffecté ; style elliptique, condensé ; récit occupé par des détails de surface et intrigue sans profondeur ; réduction de l’intrigue“; Ruth Amar: „Dispositifs minimalistes ou réticents“, in: Stéphane Chaudier (Hg.): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S. 189-199, hier: S. 189. Wie Amar betont, lassen sich diese Kriterien schon auf die frühen Texte Toussaints nicht ganz übertragen, da sie sich als zu statisch und reduktionistisch erweisen, also als „insuffisants, problématiques, voire contestables“ (ebd., 199). Vgl. Schoots: „Passer en douce à la douane“, v.-a. S.-49-60 (Kapitel „L’écriture minimaliste“). 1304 Vgl. Gerda Zeltner: Ästhetik der Abweichung. Aufsätze zum alternativen Erzählen in Frankreich, Mainz: Von Hase & Koehler 1995, S. 244, zit. nach Schmidt: Jean-Philippe Toussaint, S.-149. 1305 Vgl. Kauß: Der diskrete Charme, S. 369; vgl. Frank Wagner: „Éloge de la paresse : valeurs et textualité dans La Télévision de Jean-Philippe Toussaint“, in: Pierre Bazantay u. Jean Cleder (Hg.): De Kafka à Toussaint : Écritures du XXe siècle, Rennes: PUR 2010, S. 143-162. Zitiert nach der Online-Ausgabe: http: / / books.openedition.org/ pur/ 39924, Absch. 12: „[S]i La Télévision n’est ni un roman ‚à thèse‘ ni même un roman ‚à message‘, il n’empêche qu’à la lecture nous éprouvons l’impression que ‚quelqu’un‘ cherche à nous dire ‚quelque chose‘“ - ein für Toussaint repräsentatives Lektüreerlebnis. 1306 Vgl. Jean-Philippe Toussaint u. Dominique Viart: „Entretien”, in: Dominique Viart u. Gianfranco Rubino (Hg.): Écrire le présent, Paris: Armand Colin 2012, S. 243-249, hier: S.-243. 1307 Klaus Semsch: Diskrete Helden. Strategien der Weltbegegnung in der romanischen Er‐ zählliteratur ab 1980, München: Meidenbauer 2006, S. 104; vgl. Thierry Guichard: „Chinoiserie glacée“, in: Le Matricule des Anges, 67, 10, 2005, online unter: https: / / lmda .net/ 2005-10-mat06725-fuir? debut_articles=%404794. 1308 Vgl. den letzten Satz von Monsieur: „La vie, pour Monsieur, un jeu d’enfant.“ (M111). Zum Spielerischen vgl. Manfred Flügge: Die Wiederkehr der Spieler. Tendenzen des französischen Romans nach Sartre, Marburg: Hitzeroth 1993, S. 7; Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S.-354. oder Kommunikationsmodelle auf und/ oder führen sie ad absurdum, und auch der mit den auteurs de Minuit assoziierte Minimalismus 1303 ist wenigstens zu relativieren: Zwar haben die frühen Texte oberflächlich wenig zum Thema 1304 , doch in ihnen wird sehr viel gesehen und gedacht. 1305 In diesem Minimalismus kann man eine Art Gegenwartsdiagnose und damit letztlich eine starke Welt‐ haltigkeit sehen 1306 , mit gleichem Recht aber auch ein Erzählen, das nicht durch außerliterarische Referenzen zu erschließen ist, und so lang „paradox“ bleibt, wie man „von der Prämisse einer außerhalb liegenden, allgemeinen Sinnkohärenz“ ausgeht. 1307 Die scheinbare Leichtigkeit, mit der Autorschaftsdiskurse und erzählerische Leerstellen eingebunden werden (vgl. Kap. III.3.1.2.), lässt sich als spielerische Haltung 1308 zu Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus verstehen, dessen 252 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="253"?> 1309 Vgl. Wolfgang Asholt: Der französische Roman der achtziger Jahre, Darmstadt: WBG 1994, S.-11. 1310 Fauvel: Scènes d’intérieur, S. 12; dazu passt auch, dass Toussaint selbst die Toussaint-For‐ schung begleitet, in seinen literarischen Arbeiten die literaturwissenschaftliche Tous‐ saint-Forschung thematisiert (vgl. MC53). 1311 Vgl. Andreas Gelz u. Ottmar Ette: „Vorwort“, in: dies. (Hg.): Der französischsprachige Roman heute. Theorie des Romans - Roman der Theorie in Frankreich und der Franko‐ phonie, Tübingen: Stauffenburg 2002, S.-7-11, hier: S.-7. 1312 Schmidt: Jean-Philippe Toussaint, S.-23. 1313 Vgl. Loignon: „Romanesque : le retour de flamme“; vgl. Schaeffer: „La catégorie du ro‐ manesque“, S. 295; Schaeffer nennt als Merkmale des romanesque u. a. eine „importance accordée, dans la chaîne causale de la diégèse, au domaine des affects, des passions et des sentiments“, „la représentation des typologies actantielles, physiques et morales par leurs extrêmes“, „la saturation événementielle de la diégèse“ sowie „la particularité mimétique du romanesque, à savoir le fait qu’il se présente en général comme un contre-modèle de la réalité dans laquelle vit le lecteur“. 1314 Wagner: „Éloge de la paresse “, Absch. 14.- 1315 Marie-Pascale Huglo: Le sens du récit: Pour une approche esthétique de la narrativité contemporaine, Villeneuve d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion 2007, S.-98. Ansätze und Theorien sich die jungen Minuit-Autoren „als schon literarhistori‐ sche Phänomene“ angeeignet haben, und über die sie nach Belieben verfügen. 1309 Ein solcher, sehr autonomer Zugriff auf Literatur und Literaturtheorie lässt die Arbeit des Autors nicht als „recherche“, sondern als schon vollendete Suche nach einer „écriture ‚hors-la-loi‘“ 1310 erscheinen. Es ließe sich auch von einer „Musealisierung“ von Theorie 1311 sprechen, ein in Bezug auf Toussaint interessanter Gedanke: Seine Literatur als Speicher, Ausstellungs- und Vermitt‐ lungsinstanz von Theorien und Diskursen zu betrachten, erscheint legitim, wenn man diese als „Streifzug durch das ‚kulturelle Gedächtnis‘“ liest, bei dem allerdings „mancher Spaß zu Ernst [..] und mancher Ernst zu Spaß“ wird, „eine Unterscheidung, die […] nicht immer leicht fällt.“ 1312 Auch das Schlagwort des retour du romanesque 1313 ist in Bezug auf Toussaint uneindeutig. Schon in seinen frühen Romanen klingen Konventionen des (populären) Romans an und werden zugleich unterlaufen: formal, durch ein „[f]lou de la chronologie, atténuation des liens de causalité et tendance à la stagnation narrative“ 1314 , und inhaltlich, wenn Topoi „chargé d’un grand potentiel romanesque“ 1315 zwar angeschnitten, aber nicht ausgespielt werden. Wenn in La Réticence der Erzähler das Eindringen seines Widersachers Biaggi in sein Hotelzimmer fürchtet, sich beeilt, seinen Sohn zu retten, den der Hotelbesitzer zuvor schon hat schreien hören - und dieser Sohn dann friedlich schläft (vgl. R67), ebenso wie in der ersten gemeinsamen Nacht mit dem Erzähler aus L’Appareil-photo (vgl. AP85) die Begleiterin Pascale, dann döst auch das romaneske Potential gewissermaßen ein. Eine derartige, die Erwartungen 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 253 <?page no="254"?> 1316 Kauß: Der diskrete Charme, S.-382. 1317 Vgl. dazu Huglo: Le sens du récit, S.-95-113. 1318 Vgl. Zima zu Huysmans, Robbe-Grillet und Sartre (Zima: Das literarische Subjekt, S. 17), Ruhe zu Bezügen zwischen Robbe-Grillet und Sartre (Ruhe: „Alain Robbe-Grillet“, S. 134), Frings zu Bezügen zwischen Toussaint, Sartre und Camus (Frings: „A la recherche de l’homme perdu“, S. 112); schließlich Hertich („Jean-Philippe Toussaint et Alain Robbe-Grillet“) und Schoots („Passer en douce à la douane“, S. 128) zu Toussaint und Robbe-Grillet. 1319 Wolfgang Matzat: „Subjektivitätsmodellierung im Roman: Eine gattungsgeschichtliche Skizze mit einem Blick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bei Jean-Philippe Toussaint“, in: Paul Geyer u. Monika Schmitz-Emans (Hg.): Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S.-519-533, hier: S.-527. 1320 Vgl. ebd., S. 526: In diesem Sinne interpretiert Matzat die Wahl einer nicht lokalisier‐ baren Insel als Schauplatz in Le Voyeur, in La Jalousie das exotische Dekor. 1321 Vgl. Christine Keidel: Ästhetik des Fragments. Fragmentarisches Erzählen bei Jean-Phi‐ lippe Toussaint und Jean Echenoz, Frankfurt/ M.: Peter Lang 2009, S.-135. 1322 Robbe-Grillet: „Une voie pour le roman futur“, S. 21; vgl. Schmidt: Jean-Philippe Toussaint, S.-16-17. 1323 Vgl. Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 22. ironisch unterlaufende Methode „jenseits der Beliebigkeit und […] jenseits der Dekonstruktion“ 1316 stört Erwartungen an literarische Konventionen. 1317 Dies betrifft auch die Gestaltung der literarischen Figuren. Zwar stehen Handlungsstagnation und impassibilité der toussaintschen Protagonisten in einer langen Traditions- und Reflexionslinie zur Krise des Subjekts (vgl. Kap. II.4.1.1.2.), und es ließen sich etwa Verbindungen von À rebours über Texte des Existenzialismus wie L’Étranger, nouveaux romans wie Le voyeur bis z. B. zu La Réticence 1318 ziehen; sie alle eint die Beschreibung moderner ‚Entfrem‐ dungserfahrungen‘ und die Distanz ihrer Protagonisten zur Umwelt. 1319 Im Unterschied zu den Vorläufern bleibt dieses distanzierte Weltverhältnis für Toussaints Figuren jedoch folgenlos: La Salle de Bain, La Réticence, L’Appa‐ reil-photo und Monsieur, Toussaints Romane mit den wohl undurchsichtigsten Figuren, enden jeweils ähnlich, wie sie begonnen haben (vgl. Kap. III.4.1.1.1.). Und anders als der einer ‚generalisierten‘ Fremdheitserfahrung ausgesetzte Mathias in Robbe-Grillets Le Voyeur 1320 können Toussaints Figuren Rückzug‐ sorte aufsuchen: Badewannen, Hotel- oder Krankenzimmer in La Salle de Bain, Fahrschulbüros oder Telefonzellen in L’Appareil-photo. 1321 So stehen zwar auch die frühen Romane Toussaints gegen ein psychologisch grundiertes Schreiben in der Nachfolge des Realismus, doch für Toussaints Texte kann nur teilweise das robbe-grilletsche Motto gelten, dass die Welt weder sinnvoll noch absurd sei („Il est, tout simplement“ 1322 ) - denn die Indifferenz der Protagonisten kontrastiert hier mit einer detailliert dargestellten Differenz der Orte (vgl. Kap. III.4.3.). 1323 254 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="255"?> 1324 Vgl. Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens“, die zu Recht außerdem auf eine neue, „deutliche visuelle Qualität“ (ebd., S. 145) der Romane verweist. Vgl. auch Ulrike Schneider: „‚Basta avec moi maintenant‘: Konstruktionen eines Ich-Erzählers in der Tétralogie de Marie von Jean-Philippe Toussaint.”, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 124, 1, 2014, S. 22-41, hier: S. 26-28; vgl. Hannes De Vriese: „La trace de Marie : espace et discontinuité dans le ‚cycle de Marie‘ de Jean-Philippe Toussaint“, in: Littératures, 76, 2017, S.-161-171, online unter: http: / / journals.openedition.org/ litteratu res/ 1621. 1325 Vgl. Susanne Schlünder: „Jean-Philippe Toussaint“, in: Gerhard Wild (Hg.): Französische Literatur. 20.-Jahrhundert, Stuttgart: Metzler 2016, S.-193-195, hier: S.-193. 1326 Vgl. Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘“, S. 181, die feststellt, bei den frühen Romanen erfahre man einiges über die Phobien, Geschmäcker und Ticks der Erzählerfiguren. All dies bleibt in den M.M.M.M.-Romanen im Unklaren. Vgl. auch Schneider: „Basta avec moi maintenant“, S.-30. 1327 Vgl. Demoulain: „La Patinoire et la patience“, S.-109. 1328 Vgl. Morgane Kieffer: „La scène comme lieu de l’énergie romanesque dans la tétralogie M.M.M.M.: autour de Zahir“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S. 315-323, hier: S. 316, die im Werk Toussaints zwischen „scène ‚pré-mariale‘“ und „scène ‚mariale‘“ unterscheidet. Die M.M.M.M.-Romane als Zäsur In Bezug auf all diese literarischen Labels und Zuschreibungen bilden die M.M.M.M.-Bücher eine Zäsur - und es dürfte kein Zufall sein, dass das Foto zeitlich mit ihnen zusammenfällt; insbesondere brechen die Romane, die als Hauptthema eine wechselvolle Liebesbeziehung haben, zugunsten einer stär‐ keren Betonung von Handlung und Figurenpsychologie endgültig mit o. g. Musealisierung von Theorie. 1324 Dies zeigt sich schon in ihren Titeln, mit denen sie sich von den früheren Objektbzw. ‚Medienromanen‘ 1325 abgrenzen; man könnte sie vielmehr als ‚Subjektromane‘ bezeichnen. Auch wenn der Erzähler in mancher Hinsicht noch ‚ungreifbarer‘ als frühere Toussaint-Figuren bleibt 1326 , spricht dafür vor allem, dass in den frühen Werken lediglich (oft ironisch) angeschnittene Aspekte wie Liebe, Sexualität, Tod und Trennung nun im Zentrum stehen 1327 , und dass mit der Figur Marie erstmals neben dem männlichen Ich-Erzähler eine plastisch gezeichnete Frauenfigur eingesetzt wird, die nicht nur Erzählanlass und -objekt ist, sondern das Erzählen gleichsam konstituiert (vgl. Kap. III.4.1.2.). 1328 Dass die Protagonisten nun in ihrem Handeln von Gefühlen motiviert sind, man also insgesamt eine Wende hin zu einem psychologisch grundierten Erzählen festhalten kann, sieht Toussaint selbst als Abkehr vom Nouveau Roman oder wenigstens als dessen Weiterentwicklung: Cette méfiance de la psychologie, je l’ai héritée du Nouveau Roman, qui était contre la psychologie parce qu’elle empêchait la forme et faisait oublier le style. Je continue 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 255 <?page no="256"?> 1329 Demoulain: „Faire l’amour à la croisée des chemins“, S.-154-155. 1330 Marie Desplechin: „Jean-Philippe Toussaint : Je cherche une énergie romanesque pure“, in: Le Monde, 18. Sept. 2009, zit. nach Pierre Piret: „Portrait de l’artiste en Oriental“, in: textyles, 38, 2010, S.-35-46, hier: S.-37. 1331 Vgl. zu solchen Elementen des romanesque Loignon: „Romanesque : le retour de flamme“, S.-27. 1332 So ein nie aufgeklärter Brand einer Schokoladenfabrik auf Elba in Nue und Hinweise auf Drogen- und Geldschmuggel in Fuir, vgl. Jérôme Garcin: „‚Je suis très connu, mais personne ne le sait‘. Un entretien avec Jean-Philippe Toussaint“, in: Bibliobs, 29.8.2013, zit. nach Éditions de Minuit (Hg.): Revue de Presse Nue, online unter: http: / / jptoussaint .com/ documents/ 5/ 54/ Dossier_de_presse_NUE.pdf, S.-4. 1333 Vgl. zur Parallelmontage als sowohl filmisches wie literarisches Verfahren bei Toussaint Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S.-151. 1334 Vgl. Viart u. Vercier: La littérature française au présent, S.-418. 1335 Vgl. Dumontet: „Faire l’amour à la croisée des chemins“, S. 158, der diese Form der Liebeserzählung von den Konzepten etwa des Nouveau Roman abgrenzt. 1336 Vgl. auch Demoulain: „Faire l’amour à la croisée des chemins“, S.-156. à préférer construire des récits avec uniquement du temps et de la lumière, mais bon, cette fois, j’ai osé la psychologie… 1329 Auf der Handlungsebene zeigen die Romane „passion, sexe, mort, trafics, périls, voyages, fuites et poursuites, continents, mers, villes et campagnes, détails mémorables et scènes grandioses, et de l’amour, en continu“ 1330 . Dramatisierende Elemente wie ein gleich auf der ersten Seite von Faire l‘Amour erwähnter, Spannung erzeugender Säureflacon (vgl. FA11) 1331 , Genreelemente des Kriminal‐ romans 1332 , ein Erzählen, das ‚filmische‘ Verfahren wie etwa Parallelmontagen einbezieht 1333 , eine ausgestaltete Stimmung von Kälte, Nässe, Erschöpfung - all dies etabliert nun endgültig ein ‚romanesque pure‘ (s. o.) 1334 , das dabei dezidiert zeitgenössisch sein will. Dies zeigt sich etwa an der formalen und inhaltlichen Dekonstruktion des Genres Liebesroman, der hier achronologisch erzählt wird: Nous nous aimions, mais nous ne nous supportions plus. Il y avait ceci, maintenant, dans notre amour, que, même si nous continuions à nous faire dans l’ensemble plus de bien que de mal, le peu de mal que nous nous faisions nous était devenu insupportable. (FA68-69) 1335 Die ästhetisch-thematische Zäsur geht mit einer Veröffentlichungspraxis einher, die sich von den vorangegangenen Romanen unterscheidet. Wenig deutete bei Erscheinen des ersten Romans Faire l’amour (2002) darauf hin, dass er sich zu einem Romanzyklus auswachsen würde, außer vielleicht der Zeitenangabe „Hiver“ vor dem ersten Kapitel, die nahelegte, dass weitere Jahreszeiten folgen könnten. 1336 Paratextuell wurde so vorweggenommen, was aus dem Text selbst nur bedingt herauszulesen ist. Dies belegt auch die Rezeption zum Erscheinen 256 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="257"?> 1337 Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S.-146. 1338 Vgl. Annelies Schulte Nordholt: „Immobilité mouvante ou mouvement immobile? La trilogie de Toussaint“, in: Timo Obergöker (Hg.): Les Lieux de l’extrême-contemporain. Orte des französischen Gegenwartsromans, München: Meidenbauer 2011, S.-63-76. 1339 Vgl. ebd., S.-69. 1340 Vgl. den Klappentext der Taschenbuchausgabe: „Nue est le quatrième et dernier volet de l’ensemble romanesque M A R I E M A D E L E I N E M A R G U E R I T E D E M O N T A L T E “. Vgl. zum Zusammenhang der vier Romane auch Schneider: „Basta avec moi maintenant“, S.-26. 1341 Peeters u. Toussaint: „La parole est à l’écrivain“, S.-369. 1342 Toussaint: „La mayonnaise et la genèse“, S. 116. Vgl. auch seine Internetseite im Ganzen, die die Idee des ‚Textuniversums‘ auch gestalterisch abbildet. 1343 Vgl. Peeters u. Toussaint: „La parole est à l’écrivain“, S. 373: „pour moi, ils constituent une sorte de triptyque, dont l’enjeu secret serait de définir mon art poétique.“ der Bücher: Faire l’amour und Fuir konnten als „Diptychon“ 1337 gelesen werden, und mit Erscheinen von La Vérité sur Marie war von einer „Trilogie“ die Rede 1338 , die auch als solche funktionierte - als eine Liebesgeschichte gegen den Strich, die mit der Trennung beginnt und mit der glücklichen Zusammenkunft des Paars auf der Insel Elba endet. 1339 Im vierten Band Nue wird dessen Beziehung wieder aufgebrochen, zugleich der Zyklus für beendet erklärt 1340 , und erst 2017 fand die Tetralogie M.M.M.M. mit der Veröffentlichung unter diesem Titel und in einem Band ihre endgültige Form. Die Lektüre der vier Teile in der Reihenfolge ihres ursprünglichen Erscheinens ist dabei zum Verständnis nicht unbedingt nötig - ein Umstand, die sich erst mit Abschluss des vierten Buchs zeigte: Le cycle a une structure géométrique qu’on pourrait dire de tétraèdre. On peut entrer par n’importe quel côté, cela fonctionne toujours : quel que soit l’endroit par lequel on entre dans M.M.M.M., on a des échos avec toutes les autres parties, les quatre côtés se repondent. L’effet est encore renforcé par le fait que l’action du livre est assez limitée dans le temps et qu’il y a un certain nombre de lieux récurrents que les personnages traversent et retrouvent […]. Le lecteur, de livre en livre, va également retrouver ces lieux, si bien que, quel que soit l’endroit par lequel on aborde le Cycle, on rencontre des réminiscences avec l’ensemble de l’histoire. 1341 Über die Bücher hinweg werden also die Kategorien Roman und Werk radikaler hinterfragt als durch die früheren Romane. Es handelt sich somit um ein Projekt, das retrospektiv zum (ab-)geschlossenen Werk erklärt wird (vgl. dazu Kap. II.4.2.2.2.2.), zugleich aber um einen offenen Text, der sprichwörtlich von mehreren Seiten zugänglich ist, wie Toussaint betont: „[ Je] constate que cela se prête très bien à une lecture dispersée, davantage éclatée que consécutive.“ 1342 Dass M.M.M.M. einen eigenen Werkkomplex bildet, wird durch den Unter‐ schied zu den essayistischen und (vermeintlich) autobiografischen Werken L’urgence et la Patience, Football und Made in China 1343 sowie zu den jüngsten Ro‐ 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 257 <?page no="258"?> 1344 Toussaint unterstreicht „cette idée de continuité dans mon travail, même si je suis toujours attentif au renouvellement, même si je m’efforce de ne jamais refaire deux fois le même livre, même si écrire, pour moi, est toujours une recherche“; Jean-Philippe Toussaint u. Laurent Demoulin: „Pour un roman infinitésimaliste. Entretien réalisé par Laurent Demoulin à Bruxelles, le 13 mars 2007”, in: Jean-Philippe Toussaint: L’Appareil-photo, Paris: Minuit 2010, S.-131-141, hier: S.-139. 1345 Die autobiografische Dimension betrifft etwa das Thema des Tods des Vaters, sowie den Handlungsort Brüssel. Vgl. auch Toussaints Aussage: „Je crois que je n’avais jamais été autant romancier. […] Mais je crois aussi que je ne suis jamais allé aussi loin dans l’autobiographie“, in: Caroline Broué: Les matins du samedi, France Culture, 14.9.2019, URL: https: / / www.franceculture.fr/ emissions/ les-matins-du-samedi/ jean-philippe-tou ssaint-manon-aubry, 00: 06: 20-00: 06: 35. 1346 So Toussaint in dem Film Quelques amis écrivains (R.: Madelaine Santandrea, 2012, 00: 03: 56), online unter: http: / / www.jptoussaint.com/ livre-louvre.html. 1347 Barthes: La chambre claire, S.-95, vgl. Kap. II.2.4. 1348 „Cela me rappelle une phrase de Fuir : ‚C’était l’occasion, le moment opportun, la faveur ou la saison.‘ C’est exactement ça“, so Toussaint im Interview mit Philippe: „Toussaint : dans les coulisses de son travail“ (vgl. zum kaïros-Moment Kap. II.2.4.). 1349 Toussaint im Interview mit Philippe: „Toussaint : dans les coulisses de son travail“. manen Toussaints deutlich, La Clé USB und Les Emotions, die sich in mehrfacher Hinsicht von allen vorherigen unterscheidet. So lässt sich La Clé USB einerseits als zeitgenössische Fortschreibung der früheren ‚Medienromane‘ (s. o.) lesen 1344 , bezieht andererseits noch dezidierter autobiografische Einflüsse ein. 1345 3.1.1.3 Kaïros-Momente Neben diesen auf das zurückliegende Werk bezogenen Aspekten besitzt das Foto Quelques amis auch eine dezidiert gegenwärtige Dimension. Wegen seiner Bezüge zur Jetzt-Zeit (die prominenten Autoren, der Laptop) nennt Toussaint es ein „image de notre siècle“ 1346 . Der museale Kontext macht jedoch weitere Zeitdimensionen sichtbar. Das Foto als zufallsbestimmte, aber aktiv ergriffene Gelegenheit (ein fotografisch ergriffenes kaïros-Moment) steht wie die Ausstel‐ lung insgesamt für „le bon moment“ 1347 bzw., so Toussaint: für „le moment opportun, la faveur ou la saison“ 1348 , was sich auch auf die institutionellen Bedin‐ gungen beziehen kann: Der Louvre ist bereit für Delacroix und Digitalkamera. Vor allem aber bezieht Toussaint seine Bemerkung auf die eigene Schriftstel‐ lerbiografie, in der es gelte, den richtigen Moment für eine solche Selbstausstel‐ lung abzupassen: Il est naturel qu’un jour des écrivains disent un mot de la façon dont ils écrivent et de ce qu’ils doivent aux grands auteurs […]. Evidemment, on ne fait pas ça à 27 ans. Je porte l’idée d’un ‚hommage‘ depuis très longtemps et lorsqu’en 2010, on m’a proposé de concevoir cette exposition au Louvre, je me suis dit que le moment était venu. 1349 258 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="259"?> 1350 So in L’Appareil-photo, als der Erzähler sich in einen „Photomaton“ zurückzieht und bemerkt: „Toutes les conditions étaient réunies maintenant, me semblait-il, - pour penser“ (AP93). 1351 Vgl. die Beschreibung in Jean-Philippe Toussaint: „Le jour où j’ai fait ma première photo“, in: Bon à tirer, 15.5.2001, online unter: https: / / www.bon-a-tirer.com/ volume2 / jpt.html: „Très lentement alors, avec la lenteur juste des gestes apaisés, je soulevai l’appareil à la hauteur de ma poitrine, et, cadrant mentalement la photo, la cadrant d’instinct sans porter les yeux à la hauteur du viseur, d’un doigt sûr et précis, léger et sans tension, j’appuyai sur le déclencheur et fixai mon ombre sur la paroi. Et peut-être venais-je de mesurer là encore une fois ce que je savais déjà intuitivement, que la photo - et l’art - était une expérience de vie, une expérience intime dont le sens résidait davantage dans sa réalisation que dans les œuvres elles-mêmes.“ 1352 „L’urgence, qui appelle l’impulsion, la fougue, la vitesse - et la patience, qui requiert la lenteur, la constance et l’effort.“ (UP26); vgl. Annelies Schulte Nordholt: „‚L’urgence et la patience‘, principes dynamiques de La Vérité sur Marie“, in: Stéphane Chaudier (Hg): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S.-137-147. 1353 Vgl. Marinella Termite: Le sentiment végétal : Feuillages d’extrême contemporain, Torino: Quodlibet 2014, 187-206; vgl. auch La Télévision: „Il y a toujours eu deux processus distincts à l’œuvre dans le travail littéraire, me semble-t-il, […] l’un, souterrain, de gestation, exigeant désinvolture et souplesse, disponibilité et ouverture d’esprit, […] et l’autre, plus classique, qui exigeait méthode et discipline, austérité et rigueur, au moment de la mise en forme définitive“ (TV138). Vgl. auch Kap. III.4.2.3. u. Kap. III.4.6. Das Warten auf „le moment opportun“ ist nicht nur wichtiges Thema der einzelnen Romane 1350 , auch Toussaints literarische Poetologie und sein Werk als Ganzes 1351 sind geprägt von der Suche nach solchen günstigen Momenten: die Pole von urgence und patience 1352 , sowie, damit verbunden, eine côté rigide und côté fluide 1353 , stecken die literarische Ästhetik wie die Werkevolution Toussaints ab. Es ist daher schlüssig, auch die Ausstellung und das Foto in diesem Sinne als ‚richtige Augenblicke‘ zu verstehen. 3.1.2 Autoportrait und autofiction in Ausstellung und Werk Der mit dem Foto mehrfach (im Titel und als doppeltes Bildzitat) verbundene Begriff des autoportrait verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Literatur und der Ausstellung Toussaints: Schon in L’Appareil-photo gibt es eine prominente Passage, in der der Erzähler versucht, „quelque chose comme un portrait, un autoportrait peut-être, mais sans moi et sans personne, seulement une présence, entière et nue, douleureuse et simple, sans arrière-plan et presque sans lumière“ (AP112) herzustellen. Dass Toussaint diese Passage wortgleich auf 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 259 <?page no="260"?> 1354 „Au-delà de ce que je suis en réalité, j’aimairais que, dans mes livres, demeure de moi dans l’avenir une trace de ma présence au monde, quelque chose comme un portrait […]“, Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-64. 1355 Alma-Elisa Kittner: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld: transcript 2009, S.-23. 1356 Ebd., 24. 1357 Ebd., S.-25. 1358 Zur Abgrenzung der beiden Genres autobiographie und autoportrait und deren Um‐ setzung bei Toussaint vgl. die Zusammenstellung von Kauß: Der diskrete Charme, S. 425-433. Das autoportrait erzeuge „im Gegensatz zur Autobiographie keine eindeutige retrospektive Sinngebung“ (ebd., S.-426). 1359 Zur Selbstrepräsentation im autoportrait in zeichentheoretischer Perspektive am Bei‐ spiel Poussains vgl. Marin: „Le cadre de la représentation“, S. 355-356. 1360 Kittner: Visuelle Autobiographien, S.-26. sich selbst anwendet 1354 , ist passend, denn ähnlich ambivalent ist auch das Bild des Autors und sein Platz im eigenen Werk. Quelques amis weist Übergänge zu seinen literarischen Selbstporträts auf. Das Foto lässt sich als Teil einer „visuellen Autobiographie“ im Sinne einer „Selbstdarstellung“ lesen, die „mit narrativen Strukturen arbeitet“ 1355 , Lebens- oder Arbeitsstationen des Künstlers „versammelt, repräsentiert und kommen‐ tiert“ 1356 , und „selbstreflexive Strukturen“ aufweist, wodurch das „Genre des Selbstporträts […] ebenso kommentiert [wird] wie das der visuellen Autobio‐ graphie selbst“ 1357 . Der Band Autoportrait (à l’étranger) ist dabei die wichtigste Referenz, da sich in ihm sowohl Toussaints theoretische Überlegungen zum Thema finden, wie auch zahlreiche autoportraits auf unterschiedlichen Erzähl‐ ebenen. 3.1.2.1 Paratextuelle Übergangszonen zwischen Fiktion und Autobiografie Selbstporträt, Autobiografie und literarisches autoportrait 1358 sind Formen der Selbstausstellung, der Inszenierung von Privatem und der Sichtbarmachung von eigentlich Verborgenem. 1359 Einmal veröffentlicht, kann der Künstler über dieses Bild nur schwerlich verfügen. Daher sind sie geprägt von einer „Spannung zwi‐ schen Selbstbild und Fremdbild, Innen und Außen, zwischen Distanz und Nähe, Privatheit und Öffentlichkeit“. 1360 Toussaint zeigt sich dieses Umstands in seinen literarischen Selbstportraits bewusst: In Autoportrait (à l’étranger) betont er die Bewegung vom Realen zum Fiktiven („je suis parti d’expériences concrètes […] et je suis allé vers la fiction“, AE8) als eine den Romanen gegenläufige Strömung („aller, parfois, vers l’intime et des éléments autobiographiques déguisés“, ebd.). In beiden Fällen erscheint das Verhältnis von Literatur und Leben als flexibel modulierbar. Auf den Textband als Ganzes bezogen, verstärkt Toussaint diesen Eindruck, indem er eine „Préface“ (AE7-14) voranstellt, also eine paratextuelle 260 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="261"?> 1361 Vgl. Wirth: „Paratext und Text als Übergangszone“, S. 167; Colard: „De la préface d’exposition“; Kap. II.3.5. 1362 So der Toussaint-spezifische Stil mit Parenthesen, Kombination von passé simple und teils mit Vulgaritäten durchsetzter Umgangssprache, vgl. auch Arcana Albright: „Re‐ mapping autobiographical space: Jean-Philippe Toussaint’s self-effacing self-portraits“, in: Contemporary French & Francophone Studies, 15, 5, 2011, S. 543-551. Dass alle Werke Elemente von Fiktion und Autobiografie enthalten, stellt Interpreten immer wieder vor Herausforderungen: Bezeichnend ist, dass Schoots in ihrer Untersuchung nicht immer klar zwischen Autor und Erzähler trennt: „tout comme la réticence suspend et dévie la phrase, les observations de l’auteur créent un monde en suspens“ (Schoots: „Passer en douce à la douane“, S. 136), vgl. Christophe Meurée: „Le temps à l’épreuve du ‚désastre infinitésimal‘“, in: Stéphane Chaudier (Hg): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S. 201-210, hier: S.-203. 1363 Der Ich-Erzähler ist ein Autor mit Schreibkrise; das Auftreten realer Figuren wie des Schriftstellers Cees Nooteboom (vgl. TV59), der zur selben Zeit wie Toussaint ein DAAD-Stipendium in Berlin hatte, dienen als Authentizitätsnachweis. Vgl. Marie Darrieussecq: „L’autofiction, un genre pas sérieux“, in: Poetique, 107, 9, 1996, S. 369-380, hier: S. 377: „[L]’autofiction ne permet pas au lecteur de disposer des clés pour différencier l’énoncé de réalité et l’énoncé de fiction“. 1364 Vgl. zu diesen autobiografischen Anspielungen Frank Wagner: „Monsieur Jean-Philippe Toussaint et la notion de Vérité (pour une poétique perspectiviste)“, in: textyles, 38, 2010, S.-25-34, hier: S.-29; vgl. Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 10. 1365 Vgl. Jean-Philippe Toussaint: „Le jour où j’ai commencé La Réticence“, in: Bon à tirer, 16.12.2002, online-unter: http: / / www.bon-a-tirer.com/ volume6/ jpt.html. „Übergangszone, in der die Grenzen zwischen all dem, was fiktiver Text ist, und all dem, was nicht fiktiver Text ist, verhandelt werden“ 1361 . So vollzieht das Buch schon mit seinem Aufbau jene Bewegung vom Autobiografischem zum Fiktiven nach. Auch über die Werke hinweg finden sich zahlreiche Verbindungen zwischen beiden Polen, wozu auch eine stilistische Nähe zwischen eher autobiografischen und eher fiktionalen Texten beiträgt. 1362 So weist La Télévision Züge einer auto‐ fiction 1363 auf, und auch in anderen Romanen suggeriert der Autor Übergänge zwischen literarischen Figuren und der eigenen Person und Familie - so tritt in Nue ein Monsieur Toussaint (N14) auf, und der Name von Toussaints Ehefrau Madeleine Santandrea, selbst Künstlerin, fällt mehrfach, etwa in Autoportrait (à l’étranger) (vgl. AE43-46) sowie durch die Widmung („Pour Madeleine“) in La Réticence 1364 , einem Roman, der Toussaint zufolge außerdem wesentlich von der Geburt seines Sohns beeinflusst ist. 1365 Auch in den M.M.M.M.-Romanen ist der Deckungsgrad beider Dimensionen unklar. So wird etwa der Beruf des Erzählers an keiner Stelle erwähnt - sein Interesse für ästhetische Fragen und der Umstand, dass er wenig anderes tut, als zu beobachten und zu berichten, lassen aber die Möglichkeit offen, es könne 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 261 <?page no="262"?> 1366 Vgl. Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘“; vgl. dies.: „Basta avec moi maintenant“, S. 38: Schneider erkennt bei Toussaint „eine ganz spezifische Autorfiktion in der Gestalt oder besser in der Instanz eines Ich-Erzählers, der zwar nicht alles weiß, aber doch die Verfügungsmacht über seine Geschichte beansprucht und eben darin als fiktionsinterner Stellvertreter des Autors fungiert, wobei dieser, der Autor, seine faktische Verfügungsgewalt an den fiktionsimmanenten Ich-Erzähler delegiert.“ 1367 Auch in dem Ausstellungsbuch La Main et le Regard ist der Verleger in einem von Toussaint gefertigten Bild, einer Kombination aus Ölgemälde und Fotografie, zu sehen (vgl. MR82-83). sich um das autoportrait eines Schreibenden handeln. Weitere paratextuelle Indizien legen dies ebenfalls nahe, so das Titelfoto der Taschenbuchausgabe von La vérité sur Marie: Dieses zeigt ein Pferd, das zu einem Flugzeug geführt wird - die Bildrechte weisen Toussaint als Fotografen aus und legitimieren damit den Autor als Zeuge einer Schlüsselszene des Romans, die wiederum im Buch deutlich und auch paratextuell als literarische Fiktion markiert wird (vgl. Kap. III.4.4.4.). 1366 Die M.M.M.M.-Romanen bilden auch in dieser Hinsicht eine Scharnierstelle zwischen älterem und jüngerem Werk, das sich insgesamt immer stärker zur autobiografischen Seite neigt. L’Urgence et la Patience, Autoportrait (à l’étranger), Football und Made in China tragen weder Untertitel wie ‚roman‘ noch andere Fiktionalitätssignale, literarisieren aber autobiografische Elemente. Auch Football (2015) ist nur vordergründig ein Buch über den Ballsport. Viel‐ mehr geht es um die unwiederbringliche Vergangenheit, in der Ereignisse wie die Fußball-Weltmeisterschaften verdichtete Erinnerungs-Momente bilden. Anders als Autoportrait (à l’étranger) beinhaltet dieser Text, der mit der Erwäh‐ nung von Toussaints Kindern im Jahr 1998 beginnt und mit dem Tod seines Vaters im Jahr 2013 endet, signifikant autobiografische Elemente. Made in China hingegen schließt an die aus Autoportrait (à l’étranger) bekannte Tendenz an, das Reale zu fiktionalisieren („Je ne sais pas si j’ai rêvé ou si j’invente […]“, AE93). Das autobiografische Material wird geformt, arrangiert und ‚konstruiert‘, etwa, indem unwahrscheinliche Zufälle herausgestellt werden. So erscheint der Verleger Chen Tong als eine Art Doppelgänger oder ‚chinesischer Zwilling‘ des Erzählers; die Väter beider sind kürzlich verstorben (vgl. MC15), Toussaints Tochter ist genauso alt wie jene Chen Tongs (vgl. ebd.), der dadurch als ‚literarische Figur‘ erscheint („plus je répète ce nom, plus je sens qu’il prend le large vers la fiction“, MC11). 1367 So sind die literarischen wie die fotografischen Selbstportraits Toussaints ästhetische ‚Kippfiguren‘, in denen das Bild des Autors mal impliziter, mal ex‐ pliziter aufscheint. Dies hat auch Folgen für die Selbstdarstellung des Künstlers im Museum: Die Erzählung vom Selbst wird nicht dadurch ‚wahrer‘, dass sie in einen real erfahrbaren Raum versetzt wird, und kann von dort aus auch die 262 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="263"?> 1368 Vgl. Frank Zipfel: „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? “, in: Simone Winko u. a. (Hg.): Grenzen der Literatur: zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin: De Gruyter 2009, S.-285-314, hier: S.-304-305. 1369 Vgl. Toussaint: La Main et le Regard, wo er auch für das Begleitbuch ein ähnliches Strukturierungsprinzip darstellt (vgl. MR24); vgl. auch den Klappentext des Buchs: „Ce qui m’intéresse, c’est mettre en relation des éléments qui ne sont pas nécessairement équivalents […]. J’essaie de créer des correspondances, aussi bien horizontales - la page de gauche par rapport à la page de droite - que verticales - telle page par rapport à celle qui suit ou à celle qui précède.“ 1370 Keidel erinnert jedoch zu Recht daran, dass „zusammengenommen […] die Prosafrag‐ mente der Sammlung kein einheitliches Selbstportrait Toussaints entstehen [lassen], dazu sind die getroffenen Aussagen zu widersprüchlich und vorläufig“, Keidel: Ästhetik des Fragments, S. 149; so bleibt das Selbstportrait als Ganzes so unzuverlässig und vage wie jedes einzelne der im Text angesiedelten Portraits. 1371 Denken lässt sich an ähnlich funktionierende Texte wie Perecs Le Cabinet d’Amateur, welcher wiederum auf die mise en abyme in Kunstkabinetten rekurriert, oder auch La vie mode d’emploi, welcher den Untertitel romans trägt und durch diesen Plural das Verhältnis von Titel und Inhalt und die Frage nach dem Ort des Textes thematisiert. Vgl. dazu auch Joly: „Notice“, S. 1157: „[S]elon les dires de l’auteur, La Vie mode d’emploi pouvait déjà être considéré comme un cabinet d’amateur, c’est-à-dire, au sens pictural du terme, un tableau de tableaux, la représentation d’une collection“. Literatur nicht nachträglich beglaubigen. Vielmehr lässt sich - in der Termino‐ logie der Autofiktionstheorie - sowohl mit den Werken der Ausstellung, wie mit den autobiografischen Texten, den Romanen und den sonstigen Nebenwerken (Fotografien, Internetseite…) ein Fiktions- und ein Referenzpakt schließen. 1368 3.1.2.2 Rahmungsaspekte im autoportrait Weitere Bezüge zwischen Ausstellung und Literatur ergeben sich durch Einbet‐ tung und Rahmung der jeweiligen autoportraits. Dieser Aspekt wird in dem Foto Quelques amis aufgegriffen, das Rahmungsaspekte explizit herausstellt (ein PC-Monitor in einem Spiegel, ein Autor und ein Gemälde in einer Fotografie in einem Museum), aber auch durch seine Einbettung in die Ausstellung, die „quel‐ ques correspondances d’une salle à l’autre“ und „une cohérence d’ensemble“ 1369 aufweist - ein Konstruktionsprinzip, das ähnlich auch für Autoportrait (à l’étranger) gilt. Dieser Titel (im Singular) suggeriert, dass der Band als Ganzes ein aus verschiedenen Elementen zusammengesetztes „Autoportrait“ bildet. 1370 Ein im Vorwort platzierter Verweis auf Borges, demzufolge noch niemand eine Theorie des Vorworts verfasst habe (vgl. AE13), lädt allerdings dazu ein, das Werk als eine metafiktionale Schachtel-Erzählung mit mehreren Rahm‐ ungsebenen zu lesen. Die damit evozierte Repräsentationsreflexion verstärkt die Ausstellungsdimension des Texts. 1371 Dieser Eindruck bestätigt sich in der weiteren Lektüre; die einzelnen Texte sind von literarischen Selbstportraits 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 263 <?page no="264"?> 1372 Diese könnte man mit Lejeune von der Autobiograpie dergestalt abgrenzen, als sie „pas de récit suivi, ni d’histoire systématique de la personnalité“ bietet, vgl. Philippe Lejeune: Autobiographie en France, Paris: Armand Collin 1971, S. 57, zit. nach: Jean-Bernard Vray: „Autoportrait ludique ou le bonnet noir de la mélancolie“, in: Stéphane Chaudier (Hg.): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S.-149-159, hier: S.-150. 1373 Vgl. auch Claire Olivier: Les écritures de l’image par Jean-Philippe Toussaint. Expérimen‐ tation et sémentation au XXI e siècle, Leiden: Brill 2021, S.-9. 1374 In jedem der Texte, außer in „Berlin“ und „Kyoto“, finden sich derartige Selbstportraits, die den Autoren in seiner äußeren Erscheinung beschreiben, vgl. Vray: „Autoportrait ludique ou le bonnet noir de la mélancolie“, S.-151. 1375 Vgl. Albright: „Remapping autobiographical space“, S.-545. 1376 Diese Durchdringung wurde oben bereits anhand der Verschiebung der Grenzen zwischen Werbewesen, Presse(-fotografie) und Museum für das 19. Jahrhundert als Form der ‚Welt als Museum‘ unterstrichen (vgl. Kap. II.3.2.3.). durchsetzt, so dass es sich um autoportraits in autoportraits (die einzelnen Kapitel) im ganzen Band Autoportrait handelt. Dieses aufeinander verweisende Nebeneinander bildet einen räumlichen Zusammenhang, besitzt aber auch mediale und zeitliche Qualitäten, die es einem musealen Dispositiv annähern. Bemerkenswert ist, dass Toussaint im Vorwort zu Autoportrait (à l’étranger), wo er Reflexionen zur Gattung des Selbstportraits 1372 anstellt, nicht auf litera‐ rische Vorläufer, sondern auf Malerei und Fotografie eingeht. Unter anderem verweist er auf das Selbstbildnis Rembrandts als gealtertem Maler „avec les rides, les défauts, les vaisseaux du nez éclatés, la peau abimée“ (AE10), und weitere Bilder: [I]l m’est également arrivé de me ‚peindre‘ au détour d’un paragraphe, proposant alors, ici et là, un véritable petit autoportrait, tableautin ou vignette, une miniature qui obéirait aux règles immuables du genre, à la manière d’une étude au miroir, avec canotier et accessoires de circonstances, toque de velours ou turban oriental rehaussé d’or et de pierreries, un couteau de cuisine japonais à la main, ou vêtu d’un petit gilet bleu d’instituteur à la retraite. (AE10-11) Diese ‚Selbstbeschreibung einer Selbstbeschreibung‘ betont den Aspekt der Rahmung der Selbstportraits „au détour d’un paragraphe“, als „tableautin“ oder „vignette“. 1373 Die so markierte ‚Herauslösung‘ verleiht dem Portrait eine ereig‐ nishafte Qualität innerhalb eines größeren Zusammenhangs (des jeweiligen Kapitels, aber auch des gesamten Buchs 1374 ) und erzeugt Bildhaftigkeit - Tous‐ saint selbst vergleicht seine Selbstportraits mit Polaroid-artigen „instantanée[s]“ (AE12). 1375 Derartige Verweise auf andere bildliche Darstellungsformen von Rembrandt-Gemälde bis Foto-Schnappschuss rekurrieren auf das bei Toussaint charakteristische Nebeneinander von high und low culture 1376 , sowie auf ver‐ 264 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="265"?> 1377 Vray zeigt an drei der literarischen Selbstportraits, wie diese berühmte Selbstportraits der Kunstgeschichte zitieren - die Selbstbeschreibung in dem Text „Hongkong“ erinnert an Gemälde von Frida Kahlo und Van Gogh, jenes in „Cap Corse“ an bekannte Gemälde, die den Künstler in Begleitung seiner Frau (im Stil von Rubens), eines Freundes (im Stil von Ensor) oder des Tods (im Stil von Böcklin) zeigen. Bei Toussaint ist es sein Teamkollege beim Boulespiel (AE53-54). In dem abschließenden Text „Retour à Tokyo“ zeichnet Toussaint ein melancholisches „Autoportrait au bonnet noir“, das an zahlreiche Gemälde von Selbstportraits mit schwarzer Mütze u. a. bei Tizian erinnert; vgl. Vray: „Autoportrait ludique“, S.-154-157. 1378 Vgl. Kittner: Visuelle Autobiographien, S.-25. 1379 Vgl. auch Maillard: „Le gai savoir de Jean-Philippe Toussaint“, S.-982-994. 1380 Albright: „Remapping autobiographical space“, S.-544. 1381 „Mais, trève de confidences“ heißt es in diesen ‚Bekenntnissen‘ Toussaints lapidar (vgl. AE33); vgl. Rhein: „Räume und Realitäten“, S.-307-308. schiedene Möglichkeiten der künstlerischen Umsetzung zwischen quasi-spon‐ taner Erfassung des Augenblicks (urgence) vs. sorgfältiger künstlerischer Studie (patience). 1377 Dabei können sich auch hier verschiedene Zeitaspekte überlagern, wie in Quelques amis, wo neben dem Ölgemälde auch Kamera und Computer ins Bild (bzw. vor den Spiegel) gerückt werden, und erlauben, „[de] situer la photo au cœur des années 2010“ (MR21). 3.1.2.3 The Artist is absent: Ambivalente Bilder des Ausstellungskünstlers Wie Tousssaint im Vorwort zu Autoportrait bemerkt, weisen sowohl bildliches wie literarisches Autoportrait ein doppelt selbstreferenzielles Moment 1378 auf, da der Künstler nicht nur sich, sondern auch seine Kunst zeigt: „Quand Rembrandt peint des autoportraits, c’est de peinture qu’il nous parle, pas de lui-même“ (AE10). Auch Toussaint scheint es mehr um das Schreiben als um die eigene Person zu gehen. 1379 Schon der Titel Autoportrait (à l’étranger) erzeugt eine Tous‐ saint-typische Klammer zwischen Intimität und Distanz, zwischen dem Verspre‐ chen auf private Enthüllung und einer Art ‚Abwesenheitsbenachrichtigung‘. So befragt er die Gattung daraufhin, „how to show the intimate without destroying its quality as intimate“, und „where to locate the self in a literary self-portrait“ 1380 . Gerade das, was man in einem Schriftsteller-Selbstportrait erwarten würde, eine Darstellung des Autoren-Daseins, wird selbstironisch gebrochen, und Entwick‐ lungsgeschichten oder intime ‚Bekenntnisse‘, die Anklänge an die Tradition des autobiografischen Schreibens von Augustinus bis Rousseau evozieren könnten, wenn sie denn auserzählt würden, sind nur sparsam dosiert. 1381 Stattdessen geht es um die Langweile bei einer Schriftstellervereinigung in Vietnam (AE88-97), den Kauf einer Sülze in einer Berliner Metzgerei (AE39-41) oder den Sieg bei einem korsischen Boules-Turnier (AE47-58). Diese Einblicke halten stets die Grenze zwischen den Instanzen Autor, Erzähler und Protagonist aufrecht, 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 265 <?page no="266"?> 1382 Vgl. Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique, Paris: Seuil 1996 [1975], v.-a. S.-27. 1383 So nennt Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart: Metzler 2005, S. 8, die aus der Gleichung Autor = Erzähler = Protagonist hervorgehenden Leseerwartung. 1384 Vgl. Meurée u. Thiry: „Autoportrait de l’artiste en éternel décalé“. 1385 Diese Lektüre wird gestützt durch die Begleittexte in L’urgence et la patience, in denen die Idole Dostojewski, Beckett und Proust genannt werden. die ein „pacte autobiographique“ 1382 doch eigentlich aufzulösen verspricht. Der Autor kommt dem „Wirklichkeitsbegehren“ 1383 des Lesers kaum entgegen, behält die Kontrolle über das eigene Bild, rückt seine literarische Stärke in den Vordergrund und liefert so nur indirekt ein ‚Autoportrait‘ - als Schreibender, der in autoritärem Gestus seine eigene Schreibmacht demonstriert. In diesem Sinne zeigt sich eine Nähe zu dem von ihm porträtierten Ausstellungskünstler Jeff Koons, der sich oberflächlich freundlich und jovial gibt, dabei aber völlig unbegreiflich bleibt (vgl. FB92-98, zuerst AE15-23). Es fällt außerdem auf, dass das Werk Quelques amis sich laut Titel dem Zufall, nicht dem Künstler verdankt. So greift Toussaint die mit jeder Ausstellung verbundene Selbstmusealisierung (vgl. Kap. II.2.3., II.2.6.) ironisch auf und relativiert sie. Das Foto steht dadurch in einer Reihe mit seinen anderen Selbstportraits (etwa die Abbildungen auf den Taschenbuchausgaben von Au‐ toportrait (à l’étranger) oder L’Appareil-photo), in denen Meuré und Thiry die nur vorgetäuschte Bereitschaft Toussaints zur (Selbst-)Darstellung erkennen: Il est vrai que Toussaint, s’il montre facilement son visage, ne l’expose que de façon détournée, à travers des autoportraits photographiques qui déçoivent tant ils rendent inopérante la représentation des traits, indistincts dans le flou qui les recouvre et les abrite[.] 1384 Auch die Ausstellung als Ganzes weist dem Autor einerseits einen zentralen Platz zu, andererseits zeigt er sich über die Hierarchie eher als Epigone ‚auf den Schultern von Riesen‘ wie Beckett oder Dante. Indem er deren Werke ausstellt, nicht aber die eigenen, misst er letzteren nicht dieselbe Wertigkeit bei 1385 , stellt sich aber doch in eine Reihe mit den Vorgängern - ein zugleich bescheidener und unbescheidener Schachzug. Dazu passt, dass der sich porträtierende Künstler sich auf seinem Foto nur am Bildrand zeigt - während Fantin-Latour noch im Zentrum stand. Auf der Fotografie zeigt sich Toussaint als Teil eines Ensembles aus Schriftstellern, Kunstwerken und Aufzeichnungsmedien und eher als Arrangeur denn als Künstler. Das Bild ist das Resultat eines autoritären (Ver-)Sammelns, für das Toussaint sich auf Delacroix bezieht, dessen Ausspruch „Car qu’est-ce que composer ? C’est associer avec puissance“ (MR21) er sich zueigen macht. 1386 266 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="267"?> 1386 Dieses Kompositionsprinzip findet sich auch an verschiedenen Stellen in den M.M.M.M.-Romanen, vgl. Kap. III.4.1.2.2. u. III.4.6. 1387 Mit dieser Frage lässt sich eine Verbindung zu Toussaints L’Appareil-photo herstellen, in dem ebendieser „appareil récit“ aufgrund der unklaren Erzählsituation in Frage steht; vgl. Huglo: Le sens du récit, S. 96, die den Begriff übernimmt von Gerald Prince: „L’appareil récit de Jean-Philippe Toussaint“, in: G. Henry Freeman (Hg.): Discontinuity and Fragmentation, Amsterdam/ Atlanta: Rodopi 1994, S.-109-114. 1388 Vgl. Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 16, spricht von einer Opposition von narrativen und diskursiven Elementen. 1389 Ebd., Absch. 12. 1390 Vgl. Audrey Camus: „L’art de la conversation impossible“, in: Stéphane Chaudier (Hg): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S. 83-92: „Cette présentation de soi joue […] sur le mode de la complicité […], dans un territoire où le narrateur règne en maître et accueille le lecteur à ses propres conditions pour l’élever au rang de partenaire, voire de ‚co-producteur de l’œuvre‘“ (ebd., S.-91). 1391 Huglo: Le sens du récit, S.-99. 1392 Ebd., S.-100. 3.1.2.4 Erzählkonstellationen: ‚Wer spricht‘? Die Frage, wer hier „appareil récit“ 1387 ist, und wer diesen erzeugt, stellt sich nicht nur für das Museum im Ganzen (vgl. Kap. II.3.1.2.1.), nicht nur für Toussaints Ausstellung, für das fotografische Selbstportrait und die vermeintlich autobio‐ grafischen Texte Toussaints, sondern auch für dessen Romane. Insbesondere in La Télévision stehen neben den Selbstdarstellungen der Hauptfigur essayistische Passagen 1388 , die sich dieser nicht zuordnen lassen. Man kann anhand dieser „fractures qui travaillent la parole narratoriale“ eine „instance surplombante, origine des effets d’ironie qui prennent pour cible le narrateur-personnage“ 1389 ausmachen, wobei ein komischer Effekt u. a. dann entsteht, wenn der Ich-Er‐ zähler an seiner Autorität festhält und sich selbst als Regisseur des Geschehens geriert („Mon fauteuil de metteur en scène“, TV54, 268). In Monsieur hingegen - Toussaints bislang einzigem Roman mit auktorialer Erzählinstanz - sind Parenthesen eingefügt, bei denen unklar bleibt, ob sie der Gedankenwelt Monsieurs entspringen oder Kommentare des Erzählers sind („il le toisa discrètement du regard pour évaluer mentalement s’il était, ou pas, plus grand que lui (les gens, tout de même)“, M23), was die Deutungshoheit über das Geschehen an den Leser als unbeteiligtem Dritten delegiert. 1390 Auch in L’Appareil-photo wird diese Autorität einer dritten Instanz erzeugt, hier über die indirekte Wiedergabe von Dialogen und Gedanken, was die Grenze zwischen „voix rapporteuse et […] voix rapportée, entre discours et récit“ 1391 auflöst. Wie in Monsieur scheint sich der Erzähler mit erläuternden Parenthesen an einen undefinierbaren Adressaten (die Leserschaft? ) zu richten, was ein „‚hors lieu‘ textuel jamais véritablement fixé“ 1392 erzeugt. 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 267 <?page no="268"?> 1393 Vgl. Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 2. 1394 Die Korrespondenzen zur Ausstellung belegen die Mitwirkung Toussaints (vgl. Kap. III.1.). Durch die Einbeziehung befreundeter Künstler etwa auf dem Foto Quelques amis, trägt er zu deren Musealisierung bei. 1395 Vgl. Semsch: Diskrete Helden, S.-178. Solche Verfahren besitzen auch eine medienkritische Dimension, die beson‐ ders in La Télévision deutlich wird: Im Unterschied zum dort passiv konsu‐ mierten Fernsehen bildet der Text einen Reflexions- und Resonanzraum, der die Mitarbeit des Lesenden erfordert. 1393 Ähnlich lässt sich auch die zum Betrachter ‚offene‘ Fotografie Quelques amis als musealer Reflexionsraum verstehen. 3.1.2.5 Der Künstler im Museum, der Künstler in Konkurrenz Auf Quelques amis zeigt sich der Autor Toussaint auch als Künstler. Mit seinem Kameraauslöser steht er in der Tradition jener Kopisten, die bis ins 19. Jahrhundert mit speziellen Privilegien den Louvre bevölkerten. Er zeigt sich außerdem explizit als (sich) selbst kuratierender Künstler; als solcher steht er in einem besonderen Spannungsverhältnis zum Museum, da er einerseits die Einrichtung verkörpert und vertritt 1394 , andererseits mehr oder weniger von ihr abhängt. Dies verweist implizit auch auf den Aspekt der Selbstvermarktung des Künstlers, die ökonomischen Bedingungen des Schreibens ebenso wie den Auf‐ merksamkeitskampf angesichts der Massenmedien in der société du spectacle. Literarisch hat Toussaint diese Themen u. a. in La Télévision aufgegriffen, wo der Erzähler in Berlin von einem Schreibstipendium lebt (wie Toussaint selbst 1993 als Gast des DAAD-Künstlerprogramms). Der Erzähler, ein Kunsthistoriker, plant, im noch zu schreibenden, zentralen Kapitel seiner Arbeit anhand der Novelle Le Fils du Titien (1838) von Alfred de Musset auf das Verhältnis des Malers zu dessen Mäzen Karl V. einzugehen. Dabei geht es ihm v. a. um einen Moment, als Tizian den Malerpinsel fallen lässt, und der Herrscher diesen für den Künstler aufhebt: Dans les muscles du dos et l’épaule de Titien, dans les muscles de son bras, le mouvement déjà se préparait pour se baisser et ramasser le pinceau, mais déjà Charles Quint l’avait précédé, qui s’était incliné pour ramasser le pinceau et le lui rendre, reconnaissant là implicitement la préséance de l’art sur le pouvoir politique. (TV81) In Toussaint-typischer Manier wird dieser Sieg der Kunst über die Macht gleich darauf ironisch eingeschränkt („Là, je prends peut-être mes désirs pour la réalité“, TV82). 1395 An anderer Stelle greift er das Motiv wieder auf, verknüpft es mit dem Museum und führt es fort: In einer Art Überblendungseffekt legt sich das Gesicht des Erzählers über das Monitorbild des von einer Überwachungs‐ 268 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="269"?> 1396 Vgl. Aurélia Gaillard: „Jean-Philippe Toussaint écrivain-coloriste infinitésimal ? “, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S.-69-78, hier: S.-70-71. 1397 Proust: A la recherche du temps perdu, Bd. 1, S. 3. Die Passage wird auch von Adorno zitiert und dient ihm als Beleg für ein vom Subjekt ausgehendes Erzählen, für eine Welterzeugung aus der Vorstellungskraft, vgl. Adorno: „Valéry Proust Museum“, S. 193. 1398 Vgl. Stéphane Chaudier: „Jean-Philippe Toussaint et la question de la vérité: ‚olé‘ ! “, in: ders. (Hg.): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S. 15-27, hier: S. 25. Vgl. auch den Anfang von Prousts Journées de lecture, der ähnlich vom Versinken in der Lesewelt erzählt, Marcel Proust: „Journées de lecture“ [1905/ 1907], in: ders.: Contre Sainte-Beuve, précédé de Pastiches et mélanges et suivi de Essais et articles, édition établie par Pierre Clarac, Paris: Gallimard 1971, S.-160-194, hier: S.-160-166. kamera gefilmten Portraits Kaiser Karl V. von Christoph Amberger im Dahlemer Museum 1396 , und die Relation zwischen Betrachter und Betrachtetem verwischt sich. Auf dem Videoschirm ist das Gemälde eigentlich kaum zu erkennen, doch dem Erzähler steht es deutlich vor Augen. Interessanterweise stellt sich diese museale Emergenzerfahrung aber nur im Geiste ein: „Je fermai les yeux, et […] Charles Quint apparut alors lentement derrière mes yeux fermés[.] Je rouvris les yeux, et, lorsque je posai de nouveau le regard sur l’écran du moniteur, c’est mon propre visage que je vis apparaître en reflet sur l’écran“ (TV196-197). Diese Szene einer durch Imagination erlangten Einfühlung erinnert an den Auftakt von Prousts Recherche - umso mehr, als auch dort Karl V. erwähnt wird („il me semblait que j’étais moi-même ce dont parlait l’ouvrage : une église, un quatuor, la rivalité de François I er et de Charles Quint“ 1397 ). Wie in der Proust-Passage, die den lesenden Erzähler gleichsam ‚institutionalisiert‘, indem dieser sich an die Stelle von Kirche und Herrschenden imaginiert, wird der Erzähler zu dem, was er imaginiert. 1398 Ist es in der Recherche das geschriebene Wort, das Imagination erzeugt, so in La Télévision eine plurimediale Schichtung verschiedener visueller, materieller und medialer Ebenen (Gemälde, Video, Glasoberfläche, Realität des Betrachters) - also ein Zusammenspiel von Werk, Museum und Subjekt, das eine mediale und institutionelle Grenzüberschreitung ermöglicht, imaginär das Machtverhältnis zwischen Künstler und Mäzen (Tizian und Karl V.) bzw. Erzähler und Museum aufhebt, und so eine Autonomisierungsbewegung (etwa vom ‚Hofkünstler‘ hin zum ‚Ausstellungskünstler‘) nachvollzieht. Ähnlich kann man auch Quelques amis verstehen, wo der Künstler sich als Kurator und Arrangeur ins Bild rückt. Das mit dieser Selbst-Ausstellung verbundene Paradoxon wird auch durch das im Spiegel zu sehende Aufzeich‐ nungsmedium (die Kamera) aufgegriffen. Die Tendenz, das Verhältnis von Künstler und Museum zu hintergehen, findet sich in der Ausstellung an mehreren Stellen: Toussaint stellt sowohl die 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 269 <?page no="270"?> 1399 Vgl. dazu auch Régnier: „‚J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans‘“. 1400 Man kann diese Aufnahme auch als Referenz auf eine Szene in La Salle de Bain verstehen: „C’était un crâne blanc, allongé. Le sos frontaux se rétrécissaient à la hauteur des tempes. Quatre plombages, dans la bouche, faisaient des marques nettes. […] Les yeux étaient immensément blancs, inquiets, troués“ (SdB99). 1401 Chaudier: „Jean-Philippe Toussaint et la question de la vérité: ‚olé‘-! “, S.-15. 1402 Das folgende Kapitel (III.3.2.) wurde in ähnlicher Form bereits veröffentlicht, vgl. Rhein: „Licht und Literatur“. 1403 Vgl. Nachtergael: „Ecritures plastiques“, S.-307. 1404 Vgl. auch Toussaints Beschreibung: „Un seul s’allume, un seul qui sera livre, […] et puis book va lui répondre, et puis deux, et puis trois, et puis quatre. C’est vrai que c’est un ballet. Un ballet de lumière.“ 0: 02: 53-0: 03: 00, making of-Film L’Univers, R.: Madeleine Sandandrea, 2012, online unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=WYPrnLgilB4. Ordnungsmacht und Autorität des Louvre in Frage (etwa durch das Foto Mardi au Louvre, das das Museum am Tag der wöchentlichen Schließung zeigt, vgl. Kap. III.1.), aber auch die eigene als Autor-Kurator: Neben Quelques amis wäre auch die Fotografie Autoportrait en lecteur zu nennen, auf der eine CT-Aufnahme von Toussaints Kopf zu sehen ist 1399 ; sie fügt sich schon qua Titel in eine Reihe mit Autoportrait (à l’étranger), und bietet ebenfalls einen Blick hinter die Kulissen, nämlich in den Kopf des Autors. 1400 Doch auch wenn Toussaint den eigenen (Toten-)Schädel zeigt, ist die Behauptung, er situiere sich in „une tradition bien établie : celle de la disqualifiquation […] de tout héroisme“, er zeige den Menschen als „quasi-néant“ 1401 , nur oberflächlich gültig: sofern man sie lediglich auf die ironische Ebene seines autofiktionalen Werks bezieht. Dahinter steht ein Künstler, der zweifellos jedes Detail in seinem Sinne geplant hat. 3.2 Licht und Literatur. Jean-Philippe Toussaints univers 1402 Stärker als das Fotoprojekt Quelques amis, das insbesondere den Autor und seinen Platz im literar-musealen Feld thematisiert, bezieht sich die Raum- und Neoninstallation L’Univers auf die literarische Ästhetik Toussaints und auf seine Poetologie. Expliziter noch lässt sie sich als „dispositif transmédiatique“ 1403 im Sinne einer néolittérature verstehen. Die Installation besteht aus einem dunklen Raum (Saal 21) mit halbverspie‐ gelten Wänden. An der Decke ist ein ‚Sternenhimmel‘ aus weißen Lichtern zu sehen. Auf beiden Seiten des Raums leuchten in unregelmäßigen Abständen und in wechselnden Konstellationen insgesamt 22 verschiedenfarbigen Neon‐ röhrenschriftzüge des Worts „Buch“ in unterschiedlichen Sprachen auf. 1404 270 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="271"?> 1405 Bildquelle: Screenshots aus dem making of-Film L’Univers. Auch in Rhein: „Licht und Literatur“, S.-169. 1406 Musée du Louvre (Hg.): Jean-Philippe Toussaint, S.-13 (Auslassungen im Original). Abb. 8: Installation L’Univers, Jean-Philippe Toussaint, Details 1405 Die Thematisierung von Literatur und Buch ist also auf den ersten Blick ersichtlich, was durch eine Referenz des Werktitels auf Jorge Luis Borges’ Erzählung Biblioteca de Babel gestützt wird, aus der das Presseheft zitiert: El universo (que otros llaman la Biblioteca) se compone de un número indefinido, y tal vez infinito, de galerías hexagonales, con vastos pozos de ventilación en el medio, cercados por barandas bajísimas. (…) A izquierda y a derecha del zaguán hay dos gabinetes minúsculos. Uno permite dormir de pie; otro, satisfacer las necesidades finales. (…) En el zaguán hay un espejo, que fielmente duplica las apariencias. Los hombres suelen inferir de ese espejo que la Biblioteca no es infinita (si lo fuera realmente ¿a qué esa duplicación ilusoria? ); yo prefiero soñar que las superficies bruñidas figuran y prometen el infinito… 1406 Borges ist neben Beckett und Dante der dritte ‚Säulenheilige‘ des Autors, dem Livre/ Louvre eine Reverenz erweist. Doch anders als die beiden anderen Autoren wird Borges nicht über materielle Artefakte (Manuskript, bibliophiles Buch) ausgestellt, was dazu passt, dass der Autor bei Toussaint für die Entgrenztheit von Literatur steht, die „universalité du livre, le côté Babel, les délices du labyrinthe et du savoir infini“ (MR198) 1407 : Im zitierten Borges-Text und in der Installation wird das Universum zur Bibliothek, die wiederum Abbild der Welt 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 271 <?page no="272"?> 1407 Vgl. auch das ‚Borges-Projekt‘ Toussaints, ein kollektives Schreibprojekt, bei Autoren und Übersetzer aus unterschiedlichen Ländern Erzählungen Übersetzungen rund um eine angeblich verschollene Borges-Erzählung anfertigen. Die Resultate sind auf der Homepage Toussaints zu finden, auf einer Seite, die wie ein Sternenhimmel gestaltet ist - hinter jedem Stern verbirgt sich ein Beitrag. 1408 Musée du Louvre (Hg.): Jean-Philippe Toussaint, S. 3: „Jean-Philippe Toussaint exprime […] l’analogie entre la bibliothèque et l’univers, où la bibliothèque savamment ordonnée est le monde“. 1409 Vgl. Pascal Torres: „Livre fini/ Livre infini. Un musée de Jean-Philippe Toussaint“, in: Jean-Philippe Toussaint: La Main et le Regard. Livre/ Louvre, Paris: Louvre Éditions/ Le Passage 2012, S.-11-13, hier: S.-11. ist. 1408 Über diese grundsätzliche Thematisierung von Literatur, Bibliothek und Buch hinaus rekurriert die Installation sowohl auf konkrete Textstellen (Kap. III.3.2.1.) wie auf ästhetische Tiefenstrukturen (Kap. III.3.2.2. u. III.3.2.3.), und impliziert eine Medien-, Museums- und Sprach-Reflexion, die mit jener des literarischen Werks zusammenhängt (Kap. III.3.2.4. u. III.3.2.5.). 3.2.1 L’ Univers als Erzähluniversum Auf subtile Weise setzt der Titel L’Univers die Installation zu einem Abschnitt in Toussaints Roman Fuir in Bezug, der obendrein im Musée du Louvre spielt, und unter diesem Gesichtspunkt in Kap. III.5.1. genauer dargestellt wird. Besagte Schlüsselszene, von Toussaint auch in einem Kurzfilm adaptiert, steht am Anfang der Zusammenarbeit des Autors mit dem Museum 1409 , und L’Univers, der Raum im Raum, ist in dieser Hinsicht die ‚Keimzelle‘ der Ausstellung. Die literarische Episode handelt davon, wie die Figur Marie, die sich im Louvre aufhält, gerade vom Tod ihres Vaters erfahren hat und den Erzähler anruft. Dieser befindet sich in einem chinesischen Nachtzug und steht kurz davor, Marie mit seiner chinesischen Begleiterin Li Qi zu betrügen. Die Telefon‐ verbindung ist brüchig, doch durch die Erzählung seiner Partnerin entsteht ein gemeinsames, die Weite des Raums, die Zeitzonen (und damit Tag und Nacht) und die Pole ‚Tod‘ und ‚Sex‘ überspannendes „univers“: Les yeux fermés et sans bouger, j’écoutais la faible voix de Marie qui me transportait littéralement, comme peut le faire la pensée, le rêve ou la lecture, quand, dissociant le corps de l’esprit, le corps reste statique et l’esprit voyage […], et que, lentement, derrière nos yeux fermés, naissent des images et resurgissent des souvenirs, des sentiments et des états nerveux, se ravivent des douleurs, des émotions enfouis, des 272 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="273"?> 1410 Das Zitat findet sich auch in La Main et le Regard (vgl. MR137); es steht hier in dem Kapitel „Lumière“, u. a. zwischen einem Foto Toussaints einer Fotografie aus dem Kurzfilm Fuir, einer Adaption besagter Louvre-Szene. Diese wird dadurch noch mehr als Bezugspunkt der Installation etabliert. 1411 Vgl. Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S. 149; „elle souleva lentement le bras pour approcher le téléphone de sa bouche et commença à me décrire d’une voix douce et déchirante le plafond peint avec d’infinies précisions, me chuchotant au téléphone à travers les milliers de kilomètres qui nous séparaient la position des personnages et l’agencement des petits nuages dans le ciel bleu“ (F46). 1412 Vgl. Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S.-152. 1413 „UNE CONSTELLATION/ froide d’oubli et de désuétude/ pas tant/ qu’elle n’énumère/ sur quelque surface vacante et supérieure/ le heurt successif/ sidéralement/ d’un compte total en formation“, Stéphane Mallarmé: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, S.-477. 1414 Mallarmé: Un coup de dés, S.-455. peurs, des joies, des sensations […] dans la mer de larmes séchées qui est gelée en nous. (F47-48) 1410 Die leise Stimme Maries ‚transportiert‘ den Erzähler in das ferne Museum. In einer langen Beschreibung eines Deckengemäldes durch Marie, die sich damit von ihrem Schock ablenkt 1411 , wird das Erzählen zur distanzüberwindenden, beide Figuren verbindenden Kraft. Unterstrichen wird dies noch durch zwei intertextuelle Bezüge: Eine Proust-Anspielung steht für das unwillkürliche In-Gang-Setzen von Erzählung, das Kafka-Zitat vom „gefrorenen Meer in uns“ („la mer de larmes séchées qui est gelée en nous“) für die Literatur als Rettung. 1412 Die Installation lässt sich über ihren Ort (Louvre), ihre Motivik (L’Univers), ihre weltumspannende Dimension und eine Thematisierung der Literatur als flüchtige Form mit dieser Passage in Verbindung bringen. Die Verweise reichen jedoch noch viel weiter, und erstrecken sich letztlich auf das gesamte Werk Toussaints. 3.2.2 Die Installation als constellation Das scheinbar zufällige Aufscheinen und Erlöschen der Worte in L’Univers zeigt eine constellation, eine an ein Sternenbild erinnernde Erscheinung, und verweist auf eine literarische Ereignisästhetik im Sinne von Mallarmés Un coup de dés 1413 . An dieses Gedicht erinnert L’Univers durch seine Visualität, die versetzte Typografie, die blancs (Leerstellen) im Text, die in diesem Fall noirs sind. Hier wie dort ist die ästhetische Erfahrung flüchtig, nicht-fixierbar, mehrdeutig, sie ähnelt der von Mallarmé angestrebten Wirkung: „La fiction affleurera et se dissipera, vite, d’après la mobilité de l’écrit, autour des arrêts fragmentaires“ 1414 . Mit Gelz sind beide Implikationen der constellation - als Metapher für den 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 273 <?page no="274"?> 1415 Andreas Gelz: „‚Konstellation‘. Poetologische Implikationen einer absoluten Metapher in der französischen Gegenwartsliteratur“, in: ders. u. Ottmar Ette (Hg.): Der franzö‐ sischsprachige Roman heute. Theorie des Romans - Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie, Tübingen: Stauffenburg 2002, S.-15-36, hier: S.-28. 1416 Ebd., S.-32. 1417 Ebd. 1418 Vgl. Jean-Philippe Toussaint: „Villes conscientes, villes inconscientes”, in: Constructif.fr, Juni 2013, online unter: http: / / www.constructif.fr/ bibliotheque/ 2013-6/ villes-conscient es-villes-inconscientes.html? item_id=3328; Hier verweist Toussaint selbst auf besagte Szene. Das Paris Balzacs ist für ihn ein Musterbeispiel einer „ville consciente“, einem „vrai protagoniste du récit“; vgl. auch Nicolas Xanthos: „La poétique narrative et descriptive de Jean-Philippe Toussaint: le réel comme oubli de soi“, in: Revue Analyses, 4, 2, 2009, S. 80-104, hier: S. 82, der eine Anspielung auf besagte Szene in L’Appareil-photo wiederfindet: „[Rastinac] va s’imposer au réel, alors que le réel s’impose [au narrateur de L’Appareil-photo]“. Sternenhimmel wie auch für den flüchtigen Text - „als zeitgenössisch adäquate Form der Selbstreflexion von Literatur“ 1415 zu verstehen, an der sich eine literarhistorische Entwicklung und ein sich wandelnder Textbegriff zeigen lässt: Wo der romantische Autor als Prophet und Sternendeuter angetreten war, nach den als Ausdruck eines unerreichbaren Ideals bewerteten Sternen zu greifen, wurde [die constellation] mit den historischen Avantgarden [hier: Mallarmé] in ihrer Unerreich‐ barkeit und ungreifbaren Ordnung zum Bild eines in seiner Genese und Konstitution ungreifbaren, stets wandelbaren, sich jeden auktorialen Zugriffs entziehenden Textes. Die Metapher der Konstellation formuliert damit einen säkularen Umbruch bei der Beschreibung der Instanzen von Textproduktion und -rezeption und scheint sogar noch in der Lage, die Entgrenzung - sei sie nun intertextuell oder interkulturell motiviert - der Vorstellung von Text auf den Begriff zu bringen. 1416 Als literarisches Bild steht die constellation für das sinnhafte Zusammenspiel von eigentlich Disparatem und ist Prüfmarke für moderne Subjektivität und deren Weltverhältnis (vgl. Kap. II.4.1.1.1.): Wird ein Sternenhimmel zur sinnhaften con‐ stellation oder bleibt er kontingent? Gelz betrachtet u. a. auch Toussaints frühen Roman Monsieur und liest eine Passage, in der Monsieur in den Himmel sieht, als „äußerst ambivalente Differenzerfahrung“ 1417 . Wenn Toussaints namenloser Held in die Sterne sieht, verweist dies auf nichts Erhabenes: „il […] considéra le ciel au hasard […], et, à mesure qu’il s’en pénétrait, ne distinguant plus maintenant qu’un réseau de points et les lignes des constellations, le ciel devint dans son esprit un gigantesque plan de métro illuminant la nuit.“ (M93). Anders als etwa bei Balzac, an dessen Schluss-Passage im Père Goriot („[à] nous deux maintenant ! “) 1418 der Ausschnitt erinnern mag, geht in Monsieur aus dem Blick ins Weite ein Rückzug auf das Banale, Irdische hervor, als aus der himmlischen 274 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="275"?> 1419 Poirier: „Exister“, S.-41. 1420 Zur Emergenzerfahrung in der ‚Welt als Museum‘ wird diese Buchentdeckung auch dadurch stilisiert, dass Toussaint die Entdeckung des Buchs mit der Beobachtung eines echten Glühwürmchens im selben Sommer zusammenführt und damit wiederum eine schicksalhafte constellation suggeriert (vgl. FB99-100). 1421 Georges Didi-Huberman: Survivance des lucioles, Paris: Les Éditions de Minuit 2009, S.-51. 1422 Vgl. ebd.: „[D]ans notre façon d’imaginer gît fondamentalement une condition pour notre façon de faire de la politique. L’imagination est politique, voilà ce dont il faut prendre la mesure.“ 1423 Ebd., S.-52. 1424 Ebd., S.-51. 1425 Auch bei Toussaint finden sich Einflüsse Pasolinis, insbesondere durch den Kurzfilm La Ricotta, der im Rahmen der Ausstellung zu sehen war (vgl. Musée du Louvre (Hg.): Konstellation ein Metroplan wird - eine Bewegung „[d]e l’infime à l’infini, […] du cosmique au comique“ 1419 . Dieser zweite literarische Bezug (neben der Louvre-Szene in Fuir) führt also zum Frühwerk des Autors zurück. 3.2.3 Luce und lucciole: Bücher als Signale Das Bild des kurz aufscheinenden Sinns der in der Installation als constella‐ tion führt aber noch tiefer in die literarische Ästhetik Toussaints. In Football bezieht er sich auf den Philosophen Georges Didi-Huberman, dessen Essayband Survivance des lucioles er bezeichnenderweise „par hasard“ (FB100) in der Buchhandlung des Palais de Tokyo entdeckt habe. 1420 Auch Didi-Huberman spricht von constellation, um eine Art „Prinzip Hoffnung“ zu entwickeln, „à travers la façon dont l’Autrefois rencontre le Maintenant pour former une lueur, un éclat, une constellation“, aus der sich eine „forme pour notre Avenir“ ergebe. 1421 Im kurzen Aufscheinen liegt utopisches - auch politisch wirksames 1422 - Potential für die Einbildungskraft, jener „travail producteur d’images pour la pensée“, welche nous éclaire par la façon dont l’Autrefois y renconte notre Maintenant pour libérer des constellations riches d’Avenir, alors nous pouvons comprendre à quel point est décisive cette rencontre des temps, cette collision d’un présent actif avec son passé réminiscent. 1423 Didi-Huberman greift auf das Bild der Glühwürmchen zurück, die, „une telle constellation“ hervorbrächten, „bien qu’émettant une lumière très faible, bien que se déplaçant lentement“ 1424 . Seinen Essay entwickelt er im Wesentlichen aus einem Brief Pier Paolo Pasolinis 1425 , der ein nächtliches Rendez-Vous auf den Hügeln Roms schildert. Er macht eine Licht-Opposition auf zwischen 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 275 <?page no="276"?> Jean-Philippe Toussaint, S.-18). Vgl. zum Einfluss von La Ricotta auf Toussaints Film La Patinoire Demoulin: „La Patinoire et la patience“, S.-103-108. 1426 Didi-Huberman: Survivance des lucioles, S. 17. Auf gespenstische Weise nimmt die Episode die Ermordung des Regisseurs im Jahr 1975 vorweg, deren Hintermänner und (vermutlich politische) Motivation bis heute nicht aufgedeckt sind. 1427 Ebd. 1428 Ebd., S.-49. 1429 Vgl. Fauvel: Scènes d’intérieur, S. 13-41 (Kap. „La société des écrans chez Toussaint“); vgl. Albright: „Jean-Philippe Toussaint. La littérature à l’âge des écrans“. 1430 Didi-Huberman: Survivance des lucioles, S.-26. 1431 Ebd., S.-32. 1432 Erstaunlicherweise nutzt Cécile Wajsbrot in ihrem Roman Sentinelles ganz ähnliche Bilder für das ‚dunkle Museum‘. Während einer Vernissage im Centre Pompidou fällt das Licht aus, und die Protagonisten begegnen sich in einem abstrakten Raum, in dem die Zeit stillsteht und der das Bewusstsein für Vergangenes aufschließt: „Le temps s’écoule bizarrement ou plutôt, donne l’impression de ne pas s’écouler, de stagner. Excusez-moi, je ne vous avais pas vu. Le portable, oui, fait office de lampe de poche. Des lucioles qui naviguent dans l’espace.“, Wajsbrot, Sentinelles, S.-107. dem nächtlichen Glimmen geschlechtsreifer Glühwürmchen und einem „rayon inquisiteur de deux projecteurs“, die den jungen Pasolini und seinen Begleiter erfassen. 1426 Dies wird verallgemeinert zu einem Gegensatz zwischen „cette joie innocente et puissante“, als Alternative zu den „temps trop sombres ou trop éclairés du fascisme triomphant“ 1427 . Für Pasolini gibt es (nach Didi-Huberman) in der ‚Kontrollgesellschaft‘ der 1970er Jahre „‚[…] plus d’êtres humains‘ […], plus de communauté vivante. Il n’y a que de signes à brandir, mais plus de signaux à échanger. Il n’y a plus rien à désirer.“ 1428 Evoziert wird eine Welt der Beziehungsarmut, der (Ab-)Zeichen (signes), nicht der Signale (signaux). Didi-Huberman nun erweitert die pasolinische Faschismuskritik zu einer gene‐ rellen Moderne- und Ausstellungskritik. Er beschreibt eine société des écrans 1429 , in der „les lucioles ont disparu dans l’aveuglante clarté des ‚féroces‘ projecteurs : projecteurs des miradors, des shows politiques, des stades de football, des plateaux de télévision“ 1430 ; die Glühwürmchen seien „disparu en cette époque de dictature industrielle et consumériste où tout un chacun finit par s’exhiber à l’égal d’une marchandise dans sa vitrine, façon de ne pas apparaître“ 1431 . Erscheinen (apparaitre) vs. ausstellen (exhiber), glimmendes (lucciole) vs. grelles Licht (luce), signal vs. signe: In diesen Gegensatzpaaren treffen sich Didi-Hubermans/ Pasolinis Diagnose und Toussaints Lichtpoetik und -politik. 1432 In Football fragt Toussaint in Anschluss an den Essay: „Qu’est-ce que créer, aujourd’hui, dans le monde dans lequel nous vivons ? C’est proposer […] dans un acte de résistance non pas modeste, mais mineur, un signal - un livre, une œuvre d’art - qui émettra une faible lueur vaine et gratuite dans la nuit“ (FB100-101). In einer für ihn untypischen Ernsthaftigkeit sieht er das Europa der Gegenwart 276 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="277"?> 1433 Etwa: „Nous allâmes nous abriter un instant à l’intérieur, passant sans transition de la pénombre bleutée de la nuit à la violente clarté intemporelle d’un plafonnier de néons blancs.“ (FA62). Vgl. zum literarischen Lichteinsatz Toussaints allgemein Coren tin Lahouste: „L’imaginaire nocturne de Jean-Philippe Toussaint“, in: Lettres Romanes, 2016, 70, 1/ 2, S.-183-200. 1434 Vgl. Isabelle Dangy: „La mélancolie de l’éclairagiste“, in: Stéphane Chaudier (Hg): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S.-55-64, hier: S.-60. 1435 Die Erwähnung des grellen Sonnenlichts lässt Schneider auch an Camus’ L’Etranger denken - auch hier die motivische Verbindung von Helligkeit und Tod. Vgl. dies.: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S.-150. Vgl. weiter Kap. III.5.1. in ‚finsteren’ Zeiten - was gleichbedeutend sei mit einem Zuviel an Licht: „Les faux-semblants nous leurrent, les repères nous abusent, même les faisceaux des phares les plus puissants tournent sans laisser de trace dans la lumière aveuglante de la vulgarité“ (FB103). Dagegen helfe nur „une lueur“ (ebd.), ein Glimmen. Dies wirft (im wörtlichen wie übertragenen Sinn) ein neues Licht auf sein Werk, das ebenfalls von einer prägnanten Hell-Dunkel-Ästhetik durchzogen ist: sei es in Monsieur, wo „[à] intervalles régulièrs, les feux de signalisation s’in‐ versaient et modifiaient les perspectives“ (M99), was fast wie eine Beschreibung von L’Univers klingt, sei es an zahlreichen Stellen in den M.M.M.M.-Romanen. 1433 Auch hier wird das Unklare und Halbdunkle mit Bildern von besonderer Helligkeit und Schärfe kontrastiert, die für technische, schmerzhafte, brutale Situationen stehen. So in La Vérité sur Marie, als das Rennpferd Zahir auf einem Flugplatz verladen werden soll, und die Strahler „soudain toutes à la fois“ das Vorfeld beleuchten, „éclairant violemment les lieux, jetant une lumière crue“ (VM132-33). 1434 Der Auftakt ebendieses Romans, wo Maries Liebhaber Jean-Christophe de G. einen Herzinfarkt erleidet, kontrastiert Sex, Geheimnis und Dunkelheit („Ils avaient fini par se déshabiller et ils s’étaient étreints dans la pénombre“, VM16) mit einer grell ausgeleuchteten Todesszene („son torse blanc émergeant du groupe dans la lumière aveuglante de l’ampoule de 400 watts d’un lampadaire halogène, qu’un infirmier était parti chercher d‘urgence“, VM31), die durch das Bild des „torse blanc“ museumshafte Züge aufweist. Die Passage ist beinahe spiegelbildlich zu oben beschriebener Episode von Maries Lauf aus dem Louvre konstruiert, die ebenfalls Tod und Helligkeit zusammenbringt: Im Museum lässt sie die Skulpturen von Ludwig XIV. links liegen („têtes du soleil datant de Louis XIV, Roi Soleil, auréolées de rayons d’or et parées de pétales de tournesols“, F45) und nach Verlassen des Museums wird Marie geblendet von „la lumière du soleil [qui] lui brûlait les yeux“ (F50). 1435 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 277 <?page no="278"?> 1436 Eine Referenz auf diese Passage kann man in der Installation Lire/ Live sehen, die einen solchen Bilderstrom zeigt (vgl. Kap. III.1.). 1437 Didi-Huberman: Survivance des lucioles, S.-30. 1438 Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“ [1940], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I, 2, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1978, S. 693-703, hier: S. 695; vgl. Didi-Huberman: Survivance des lucioles, S.-100, der den Ausschnitt auf Französisch zitiert. 1439 Ebd., S.-101. Gerade auf andere (Bild-)Medien rekurrierende Passagen verdeutlichen, dass die Hell-Dunkel-Kontraste nicht nur eine metaphorische und visuel starke, fast ‚filmische‘ Dimension besitzen, sondern auch eine zeitdiagnostische und medienkritische Implikation. In L’Appareil-photo, wird das inszenierte Foto eines Pärchens als Abbild einer „réalité brute et obscène“ (AP120, vgl. Kap. III.4.1.1.3.) beschrieben, und selbst in La Télévision, Toussaints zweifellos hu‐ morvollstem Roman, stößt der Erzähler beim zapping durch das nächtliche Fernsehprogramm auf eine Dokumentation über den Nationalsozialismus und sieht Bilder einer „marche funèbre“, „des camps de la mort“, „des tas d’osse‐ ments“, „des cadavres étendus dans les rues“ (TV20) - das Ganze in Form eines visuellen stream of consciousness, einem ‚Zuviel an Licht‘ 1436 gemäß der Diagnose Pasolinis/ Didi-Hubermans, „à quel point les lumières du petit écran détruisaient l’exposition même et, avec elle, la dignité des peuples“ 1437 . Das klare, beleuchtete oder belichtete Bild kann weder bei Didi-Huberman noch bei Toussaint für die Geschichte einstehen. Didi-Huberman zitiert Walter Benjamins Aufsatz Über den Begriff der Geschichte, wo es heißt: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. […] Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“ 1438 Didi-Hu‐ berman situiert dieses Bild Benjamins „quelque part entre la Béatrice de Dante et la ‚fugitive beauté‘ de Baudelaire, la passante par excellence“ 1439 . Das Ende des Romans Faire l’Amour, als der Erzähler durch den dunklen Contemporary Art Space in Tokyo läuft (vgl. Kap. III.5.2.), greift den von Didi-Huberman her‐ ausgestellten, benjaminschen Zusammenhang von Geschichtsphilosophie und Ästhetik des Flüchtigen mittels eines Zitats aus ebenjenem Baudelaire-Sonett À une passante auf: […] dans un éclair fugitif de la conscience, comme si j’appréhendais la scène d’un seul coup sans en développer aucune des composantes potentielles, de fulgurance du bras et de forme fuyante et tombant sur le sol, d’affreuses odeurs de fumées et de chairs brûlées, de cris et de bruits de fuite éperdue sur le parquet du musée, scène qui restait 278 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="279"?> 1440 Vgl. Charles Baudelaire: „À une passante“, in: ders.: Les Fleurs du Mal [1861/ 1868], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 1-196, hier: S. 92-93: „Un éclair… puis la nuit ! - Fugitive beauté“ (ebd., S. 93). Die Formel „éclair[s] fugitifs de ma conscience“ fällt in Faire l’Amour auch zuvor schon (vgl. FA36). In einer Reihe von flashbacks erscheinen dem Erzähler einzelne Bilder des gerade Erlebten auch an anderer Stelle, als „éclair[s] fugitifs de ma conscience“ (FA36). 1441 Gelz: „‚Konstellation‘“, S.-32. 1442 Sie illustriert so das postrukturalistische Verständnis eines grenzenlosen Texts, wie Barthes es als Ausgangspunkt seiner Balzac-Dekonstruktion S/ Z formuliert, wo er bezeichnenderweise von galaxie spricht: „Dans ce texte idéal, les réseaux sont multiples et jouent entre eux, sans qu’aucun puisse coiffer les autres ; ce texte est une galaxie de signifiants, non une structure de signifiés ; il n’y a pas de commencement ; il est réversible ; on y accède par plusieurs entrées […].“ Barthes, S/ Z, S. 11; vgl. Gelz: „‚Konstellation“, S. 16; Baßler verweist in seiner Lektüre dieses Zitats darauf, dass Barthes hier zwischen Einzeltext und texte général changiert; Baßler: Die kulturpoetische Funktion, S.-234. en quelque sorte prisonnière de la gangue d’indécidabilité des infinies possibilités de l’art et de la vie […]. (FA145) 1440 Das nächtliche Museum erweist sich als Ort der Erkenntnis, der aufscheinenden Erleuchtung; selbst der dezidiert ahistorische Contemporary Art Space erhält so eine historische Tiefendimension, während die Außenwelt in grellem Licht liegt: „dans le hall d’entrée du musée, une lumière blanche et franche de plafonnier“ (ebd.). 3.2.4 Das Museum als Ort des offenen Werks Die aufscheinenden Worte („livre“/ „book“/ „boek“, etc.) erinnern daran, dass Literatur, obwohl eine medienüberschreitende Sprachkunst, fast ausschließ‐ lich in Buchform gedacht wird. In der Ausstellung bildet dieses immateriell (über Neonlicht und Sprache) evozierte Buch einen Gegenpol zu den sparsam ausgestellten Literatur-Originalen Dantes und Becketts. Die Installation als Konstellation ist hingegen ein Werk ohne „auktorialen Zugriff “ 1441 , das weder Autor noch Leser, weder Ausstellungsmacher noch -besuchern völlig verfügbar ist. 1442 Für Toussaint ist das abgeschlossene Buch nur ein Aspekt von Erzählen und Literarizität. Vor dem Hintergrund eines grenzenlosen Texts und im Sinne einer Ästhetik des ‚Aufscheinens‘ bedeutet Schriftstellerei ein ‚Träumen mit offenen Augen‘ („Je peux fermer les yeux en les gardant ouverts, c’est peut-être ça écrire“, MR134), das Aufglimmen von Gedanken steht dem „trop-plein de clarté“ (FB101) der Welt gegenüber 1443 , und der fertige Text ist das Ergebnis eines halbbewussten 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 279 <?page no="280"?> 1443 Vgl. auch La Télévision: „La télévision offre le spectacle, non pas de la réalité, quoiqu’elle en ait toutes les apparences […] mais de sa représentation […]. Si les artistes représen‐ tent la réalité dans leurs œuvres, c’est afin d’embrasser le monde et d’en saisir l’essence, tandis que la télévision, si elle la représente, c’est en soi, par mégarde, pourrait-on dire, par simple déterminisme technique, par incontinence“ (TV12-13). 1444 Vgl. Walter Benjamin: Einbahnstraße, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2007 [1928], S. 49: „Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption.“ 1445 Diese Aspekte - Sprachverwirrung und -entgrenzung, Lesbarkeit der Stadt - hat Tous‐ saint mit dem Werk La Bibliothèque de Canton schon einmal aufgegriffen, als er 1999 die Außenfassade des Libreria Borges Institute for Contemporary Art in Guangzhou mit Neoninstallationen bestückte, die die Titel seiner Romane auf Französisch und Chinesisch zeigten (vgl. MR191). 1446 „En effet, passer d’une langue à l’autre, c’est bien passer d’une pensée à une autre, d’une culture à une autre, c’est faire l’expérience d’une sorte de déterritorialisation, Akts. In L’Urgence et la Patience beschreibt Toussaint, wie literarische Werke für ihn entstehen: A l’état de veille, le livre s’est inscrit dans le cerveau avec la précision d’une position d’échecs, et, la nuit, quand on dort, l’étude des variantes se poursuit, comme un ordinateur qu’on laisserait tourner en permanence pour étudier l’immensité des calculs en jeu dans l’opération […]. Mais inutile de s’acharner sans fin, seul le temps lave vraiment le regard. (UP30) Das abgeschlossene Werk scheint diesem Gedankenuniversum als definitive Form gegenüberzustehen. Bei Toussaint ist es nicht nur eine „Totenmaske der Konzeption“, wie in Walter Benjamins bekanntem Aphorismus 1444 , sondern gar Todfeind: „Titien […] laissait toujours reposer ses tableaux de longs mois face aux murs, sans plus les regarder. Puis, quand il les reprenait, ‚il les examinait avec une rigoureuse attention, comme s’ils avaient été ses ennemis mortels‘. Ah, les chers ennemis mortels ! “ (UP30-31). Wie gezeigt, schlägt sich dieses Werk- und Literaturverständnis auch auf Toussaints Internetseite, aber auch in der Ausstellung und in deren Begleitbüchern nieder. 3.2.5 Das Universum der Übersetzung Das univers im Museum ist eine ‚Welt im Kleinen‘. Das kurze Aufglimmen einzelner, fremder Worte in Toussaints Installation zeigt dabei keine geordnete, lesbare Welt (wie etwa das Panorama), sondern erzeugt eine Differenzerfahrung, eine Art babylonische Sprachverwirrung („le côté Babel“, MR198). 1445 Die Wörter in unterschiedlichen Sprachen und Schriften, von denen fast jedem Besucher, gleich welcher Herkunft, einige fremd bleiben dürften, erzeugen eine doppelte „déterritorialisation“ 1446 : durch den Eintritt des Besuchers in eine Gegenwelt 280 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="281"?> c’est quitter un territoire aussi bien réel que fantasmé […]“, so Danièle Wozny u. Barbara Cassin: „Introduction“, in: dies. (Hg.): Les intraduisibles du patrimoine en Afrique subsaharienne. Nouvelle édition, Paris: Demopolis 2014, S.-15-19, online unter: http: / / books.openedition.org/ demopolis/ 527, Absch. 9.- 1447 Vgl. hierzu auch Benjamin: Einbahnstraße, S. 40-41: Benjamin rekurriert wiederum auf Mallarmé, beschreibt den Einfluss der Werbung auf Un coup de dés, sieht aber eine ans Buch gebundene Poetik im Gegensatz zu einer auf die „Straße gezerrten“ Schrift; der Verweis auf Reklame als Text hors du livre fügt der Installation eine weitere Ausstellungsdimension hinzu. 1448 Die in den Romanen auftretenden Asiaten tun sich oft mit dem Englischen schwer und drücken sich in rudimentären Sätzen aus, etwa „First time in Japan ? “ (FA99), „Don’t fuck that“ (F78, für „Don’t forget that“), oder „Play bowling ? “ (F88, Kursivierungen jeweils im Original). innerhalb des Museums, sowie durch die Konfrontation mit den Fremdsprachen. Ein solches Moment babylonischer Sprachverwirrung erleben auch Toussaints Protagonisten mitunter: In den asiatischen Passagen in M.M.M.M. (vgl. III.4.3.2. u. III.5.2.) lassen die für die europäischen Besucher unlesbaren Sprachen Japa‐ nisch und Chinesisch einzelne, verständliche Worte zwischen „indéchiffrables colonnes d’idéogrammes“ (FA64) im Stadtbild hervortreten: „EXIT, EXIT, EXIT“, „Health Club“ (FA37) oder „LAS VEGAS“, in „lettres de néon roses“ (F87). Die Reklamezeichen in der Nacht und die Neonröhren von L’Univers verweisen beide auf die Nähe von städtischer (Un-)Lesbarkeit und literarischer Visualität, die sich ein Ausstellungsmoment teilen - die Welt im Museum und die ‚Welt als Museum‘ werden zusammengedacht. 1447 Auch in der mündlichen Kommunikation werden Sprachdifferenzen immer wieder thematisiert und - oft mit komischem Potential 1448 - ausgespielt, so schon in La Salle de Bain, als der Erzähler seine angebliche Unkenntnis des Ita‐ lienischen gezielt einsetzt („Vietato fumare, disait-elle. No comprendo, disais-je à voix basse, sur un ton apaisant“, SdB99). Auch in Faire l’amour gestaltet sich die Kommunikation mit den Japanern schwierig, und Maries Fragen werden „traduites scrupuleusement au fur et à mesure“ (FA91). An anderer Stelle geht es um ‚falsche Freunde‘: Marie demanda à Jean-Christophe de G. si, dans toutes les langues, on parlait de la robe des chevaux. Est-ce que c’était le même mot en anglais pour designer la couleur de leur crin-? A dress-? Jean-Christophe de G. lui dit que non, qu’en anglais, on disait coat, un manteau […]. (VM141/ 42) Andererseits illustriert die Installation nicht nur intraduisibles, sondern auch das utopische Potential der Übersetzung, ein Netzwerk sich aufeinander bezie‐ hender Weltliteratur. Man könnte in ihr auch eine Abstraktion jener Routes de la traduction sehen, die Barbara Cassin in ihrer gleichnamigen Ausstellung in 3 Zwei Werke: Literar-museale Verbindungslinien zwischen Ausstellung und Literatur 281 <?page no="282"?> 1449 Vgl. die Online-Präsenz der Ausstellung: Barbara Cassin u. Julien Cavero: Les routes de la traduction, online unter: https: / / routes-traductions.huma-num.fr/ . 1450 Unter den wenigen Büchern, die gelesen werden, sind v. a. Übersetzungen: In La Salle de Bain liest der Erzähler Blaise Pascal auf Englisch (vgl. SdB87), in Faire l’amour die Bibel auf Englisch (vgl. FA87). Vgl. Warren Motte: „Au loin“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S.-125-129, hier: S.-128. 1451 Vgl. http: / / www.jptoussaint.com (die Startseite der Homepage Jean-Philippe Tous‐ saints). 1452 Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-125. 1453 Christophe Meurée u. Maria Giovana Petrillo: „‚Dire je sans le penser‘ : qui es-tu, Monsieur Jean-Philippe Toussaint ? “, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S.-59-68, hier: S.-60. Form von Metroplänen visualisiert hat. 1449 Auch dieser Mobilitäts-Aspekt der Übersetzung ist bei Toussaint präsent, sowohl in seiner Literatur 1450 , als auch in der Ausstellung des eigenen Werks auf der seiner Homepage, wo man über eine ‚Weltkarte‘ mit wesentlichen literarischen und biografischen Orten auf die einzelnen Abschnitte der Seite zugreifen kann. 1451 Unter diesem Blickwinkel weist die Installation auf die zitierte Louvre-Ro‐ manstelle zurück, die Kontinente überschreitende Erzählung der Liebenden, die sich ebenfalls als literarischer Kommentar zur Zirkulation von Literatur verstehen ließe - „Car la littérature, au-delà des continents et des frontières, n’est qu’un échange intime et sensible entre deux êtres humains.“ 1452 3.3 Fazit Foto und Rauminstallation stehen jeweils mit unterschiedlichen Aspekten des Literaten Toussaint, seiner Literatur und seinem literarischen Erzählen in Verbindung. Das Gruppenfoto Quelques amis erscheint als mehrfaches Steuerungsinstru‐ ment des Autors zur eigenen Rezeption, sowohl bezüglich seiner literaturge‐ schichtlichen Einordnung, als auch hinsichtlich des transmedialen Autorenbilds im Spannungsfeld von Autobiografie, autofiction und Fiktion, und seiner Rolle als Künstler-Kurator im Museum. Toussaints (Selbstbe-)Spiegelungen bringen eine „ambiguïté relationnelle et posturale“ hervor und „mélangent le ‚voir‘, le ‚faire voir‘ et l’‚être vu‘“ 1453 . Ähnlich wie die literarischen autoportaits (Toussaints und seiner Figuren) fügt sich das Foto aus vermeintlich authentischen und offensichtlich inszenierten Elementen zusammen. Wie in seiner Literatur zeigt Toussaint hier einen sehr autonomen Zugriff auf das eigene Abbild und eine erzählerische Autorität; 282 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="283"?> 1454 Vgl. Rhein: „Licht und Literatur“, S.-183. er thematisiert zudem literaturgeschichtliche Zuschreibungen (die er mit den M.M.M.M.-Romanen gleichzeitig auch literarisch hintergeht), und unterstreicht die eigene Deutungshoheit über diese Literatur-Labels. Die herausgestellte ‚Medialität‘ des Fotos scheint ebenso wichtig wie die Selbstdarstellung des Porträtierten, weshalb der Autor als intermedialer Künstler erscheint, aber auch als vermittelte Figur. L’Univers steht stärker mit der literarischen Ästhetik Toussaints und seiner Poetologie in Verbindung, was auch ein dahinterliegendes Geschichtsbild und eine Moderne- und Museumskritik impliziert. Deutlich wird auch der Werkbe‐ griff Toussaints, der Literatur in einem prozesshaften, nicht abgeschlossenen Sinn versteht. Als entgrenzte ‚Textwelt‘ verweist L’Univers auf ein ‚losgelöstes‘ Erzählen, die literarische Topographie seiner Romane, sowie deren reale, welt‐ weite Zirkulation. Es handelt sich um eine ebenfalls komplexe Reflexion zur Ausstellbarkeit von Literatur - eine néo(n)littérature 1454 , die zwar immer wieder zum Buch zurückführt, aber die im Buch festgehaltene Erzählung erweitert. Im Vorteil sind jeweils jene Ausstellungsbesucher, die das literarische Werk des Autors gut kennen: Die oben vorgeschlagenen Lesarten ergeben sich gerade aus der Kenntnis des Werks und erweitern somit die Literatur. Allerdings generiert die Installation L’Univers auch - im Sinne des Begriffs der Literatur als Erfahrung - ein Erlebnis, das in Teilen etwas evoziert, das in der Literatur aufscheint. 4 Aspekte literarischer Musealität Nicht nur die Ausstellungstätigkeit Toussaints rechtfertigt, von einer musealen Disposition des Werks zu sprechen, sondern auch eine Thematisierung des Museums in seinen Texten, wo es als literarischer Ort in einigen Schlüssel‐ passagen präsent ist (vgl. Kap. III.5.). Ausgehend von diesem manifestierten musealen Interesse Toussaints wird nun unter Bezug auf die in Kap. II be‐ schriebenen Begriffe, theoretischen Konzepte und ästhetischen Ansätze die literarische Musealität im Werk Toussaints untersucht. Wie schon gezeigt, steht die Ausstellung v. a. zum jüngeren Werk Toussaints in enger zeitlicher und motivischer Verbindung. Auch, um die wiederum im Museum problematisierten Werkzäsuren noch deutlicher herauszuarbeiten, liegt der Analyseschwerpunkt auf der M.M.M.M.-Tetralogie, ohne dass die früheren Bücher ausgespart würden. 4 Aspekte literarischer Musealität 283 <?page no="284"?> 1455 Die Überschrift nimmt Bezug auf den Einfluss Robert Musils auf Toussaint, der zuerst von Joachim Unseld bemerkt wurde; vgl. ders.: „Urlaub vom Leben - eine französisch-österreichische ‚Parallelaktion‘“, in: NZZ, 24.09.2005, online unter: https: / / www.nzz.ch/ articleD32PL-ld.361089; vgl. auch Toussaint: „You Are Leaving the American Sector“. 1456 Vgl. Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 8-9. 1457 Vgl. dazu in Bezug auf Fuir auch Frings: „A la recherche de l’homme perdu“, S. 117, sowie bezogen auf die gesamte Tetralogie Schneider: „Basta avec moi maintenant“. 4.1 Subjekte und Subjektkonstellationen Entsprechend der Schwerpunktsetzung wird ein besonderes Augenmerk auf die beiden komplexesten Romanfiguren Toussaints gelegt: die männliche Er‐ zähler-Hauptfigur in M.M.M.M. (Kap. III.4.1.1.) und dessen Partnerin, die Künst‐ lerin Marie (Kap. III.4.1.2.). Beide Figuren verfügen über auffällige Weltverhältnisse (fiction), stehen aber auch in bestimmten, prononciert herausgearbeiteten Konstellationen zu‐ einander (fonction) - zwei der gemäß oben aufgestellter Kategorien (Kap. II.4.1.1) relevante Charakteristika für eine Musealität der Erzählung. 4.1.1 Männer (fast) ohne Eigenschaften 1455 : Erzählerfiguren Alle Romane Toussaints außer Monsieur verfügen über einen Ich-Erzähler, der i. d. R. auch die einzige charakterisierbare Figur des Textes mit dem Leser zugänglichen Innenleben ist. 1456 Allerdings betreiben auch diese Figuren - und speziell die Hauptfigur in M.M.M.M. - bezüglich ihrer Selbstdarstellung eine strenge Informationspolitik, wodurch sie den autoportraits des Autors ähneln (Kap. III.4.1.1.1.); diese réticence betrifft nicht nur ihre Haltung, sondern auch ihre vermittelte Erscheinung (Kap. III.4.1.1.2.). Die Protagonisten besitzen außerdem eine auffällige Distanz zur Welt (Kap. III.4.1.1.3.) und erweisen sich als ausgesprochen unzuverlässig (Kap. III.4.1.1.4.). 4.1.1.1 Réticence und impassibilité Über die Hauptfiguren und ihre Lebensumstände erfährt man bei Toussaint meist wenig - „Je n’ai pas envie d’entrer dans les détails“ (F11), so etwa der Erzähler zu Beginn von Fuir. 1457 Nur Monsieur und die Werke mit einer Autorenfigur im Zentrum (Salle de Bain, La Télévision, Autoportrait (à l’étranger), L’Urgence et la Patience, Football, Made in China) geben näher Auskunft über den Beruf des Erzählers, Familienumstände oder die Biografie werden auch hier nur sehr selektiv thematisiert (vgl. Kap. III.3.1.2.1.). 1458 Dieses Fehlen äußerer 284 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="285"?> 1458 In La Salle de Bain erfährt man zwar, der Erzähler sei Wissenschaftler und schreibe an einer thèse, doch es bleibt offen worüber (vgl. SdB39-40). Eine Neuerung stellt in dieser Hinsicht der neueste Romanzyklus ab La Clé USB und Les Émotions dar, der erstmals viele Details über das Leben des Erzählers vermittelt, einen EU-Experten für Zukunftstechnologien. 1459 Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 1. Eine Ausnahme von diesem Prinzip ist Marie in den M.M.M.M.-Romanen (vgl. Kap. III.4.1.2.2.). 1460 Xanthos: „La poétique narrative et descriptive de Jean-Philippe Toussaint“, S.-114. 1461 Vgl. Camus: „L’art de la conversation impossible“, S.-86-87. 1462 Zit. nach Schoots: „Passer en douce à la douane“, S.-20. 1463 „Je ne sais pas, dit Monsieur en tapotant sur la table. Vous devriez vous renseigner, dit-elle. Oui, si vous voulez, dit Monsieur, je me renseignerai. Bien, bien. D’autres questions-? “ (M22). Attribute schränkt die ‚Greifbarkeit‘ der Figuren ein, die sich allenfalls als „[i]nadapté, inactif, improductif, inerte, immobile“ 1459 beschreiben lassen; was sie auszeichnet, ist ihre „absence d’intention“ 1460 , wofür etwa ein Rendez-Vous zwischen Monsieur und seiner neuen Bekanntschaft bezeichnend ist: Anna Bruckhardt et Monsieur, continuant tranquillement à parler des choses et d’autres, sans se poser de questions naturellement, par discrétion, de sorte que, de toute la soirée, ils n’avaient pas échangé la moindre information se concernant. Non, ils se racontaient des anecdotes, plutôt […]. (M94-95) Eine allgemeine Abgeschiedenheit von der Welt zeigt sich auch ansonsten im Sozialgefüge der Hauptfiguren; abgesehen von den jeweiligen Lebenspartne‐ rinnen (und, wie in La Télévision oder La Réticence, der Kinder) treten kaum Bezugspersonen auf, zu denen sie außerdem Distanz halten. So meldet sich Monsieur erst ganz am Ende seines Aufenthalts in Cannes bei seinem Freund Louis, und in Faire l’Amour scheint das Verhältnis des Erzählers zu seinem alten Bekannten Bernard, bei dem er sich für einige Tage einquartiert, eher distanziert (vgl. FA113-137). Stattdessen schließen die Figuren rasch Gelegenheitsbekannt‐ schaften für gemeinsame Freizeitaktivitäten 1461 - ein Abendessen mit einem älteren Herrn in Monsieur (M26), das gemeinsame Ansehen eines WM-Spiels mit einem zufällig getroffenen Belgier in Football (FB59-60); es sind Freundschaften auf Zeit, bei denen die toussaintschen Figuren ihre Bedecktheit nicht aufgeben müssen. Andererseits äußern sie sich unentwegt. Schon in den frühen Werken ist ihre impassibilité weniger im Sinne von „ne rien dire“ als vielmehr im Sinne von „ne rien sentir“ 1462 zu verstehen - eine Charakterisierung, die auch auf Figuren wie Monsieur sicherlich zutrifft, wenn sich zeigt, mit welchem Gleichmut dieser etwa als Verkäufer agiert 1463 , oder wenn es heißt, er „aurait été bien incapable de dire pourquoi sa fiancée et lui avaient rompu. Il avait assez mal suivi l’affaire, 4 Aspekte literarischer Musealität 285 <?page no="286"?> 1464 Brandstetter: Strategien inszenierter Inauthentizität, S. 197; vgl. Rhein: „Räume und Realitäten“, S. 308. 1465 Diese Betonung des Verschwindens ist typisch für viele Texte der Éditions de Minuit; vgl. Fabien Gris: „Imaginaires de l’évidement et de la disparition : Le travail du négatif dans les romans minuitards depuis 1980“, in: Michel Bertrand u. a. (Hg.): Existe-t-il un style Minuit ? , Aix-en-Provence: Presses universitaires de Provence 2014, S. 37-46, hier: en fait“ (M30). Im Unterschied dazu werden zwar Empfindungen und Gefühle auch in den M.M.M.M.-Romanen nur sparsam ausgedrückt. Dennoch scheinen die Figuren hier etwas zu empfinden, und das zitierte „[j]e n’ai pas envie d’entrer dans les détails“ (F11) ist demnach im Kontext einer weiteren Aussage zu verstehen: „je n’ai jamais su exprimer mes sentiments“ (FA27). 4.1.1.2 Außendarstellung: Der anwesend-abwesende Erzähler „sans statut“ In ihrer äußeren Erscheinung sind die Figuren Toussaints nicht fassbarer. Zwar werden z. B. in La Télévision äußere Attribute der Hauptfigur geschildert, aber die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung ist erheblich. So ver‐ gleicht der Erzähler sich mit einem schmeichelhaften Heiligenbild („la chaude lumière dorée de la lampe tombait sur mon crâne avec exactitude et auréolait ma calvitie d’une sorte de duvet de canneton du meilleur effet“, TV29), während Außenstehende ihn nüchterner beurteilen („Un chauve, disait l’autre, un chauve en pyjama“, TV32). Dass dieser Kontrast selbst in die Erzählung integriert ist, spricht für eine ironisierende Strategie „inszenierter Inauthentizität“ 1464 , wie ganz ähnlich für das autoportrait festgestellt (vgl. Kap. III.3.1.2.). Solche unklar inszenierten Abbilder finden sich schon im frühen Werk Toussaints. Meist ergeben sie sich durch Blicke der Erzähler in diverse Spiegel, deren Präsenz und Anzahl zu einer Musealisierung des erzählten Raums beiträgt (vgl. Kap. II.4.2.1.1.3.). Bereits La Salle de Bain beinhaltet in dieser Hinsicht eine markante Passage: Debout devant le miroir rectangulaire des toilettes, je regardais mon visage, qu’éclai‐ rait une lampe jaune derrière moi. Une partie des yeux était dans l’ombre. Je regardais mon visage ainsi divisé par la lumière, je le regardais fixement et me posais une question simple. Que faisais-je ici-? (SB116) Die Möglichkeit, den Erzähler durch den Spiegelblick in seiner äußeren Erschei‐ nung zu beschreiben, wird nicht wahrgenommen, gleichwohl das Gesicht durch den Lichteinfall ‚plastisch‘ gezeichnet wird. In den verdunkelten Augen könnte man einen Schädel erkennen, wodurch das Fragment motivisch ein mehrfaches Verschwinden inszeniert (aus der Situation, als Todesanspielung). 1465 Eine noch 286 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="287"?> S. 40, der einige im Verlag erschienene Werken aufzählt, die Verschwinden und Absenz schon im Titel anklingen lassen: neben Fuir u. a. Eugène Savitzkayas La Disparition d’Odile, Jean Echenoz’ Je m’en vais, Laurent Mauvigniers Loin d’eux und Eric Chevillards Les Absences du Capitaine Cook und Sans l’orang-outang. 1466 Auch an anderen Stellen wird die Wirkung des Gesichts beschrieben, nicht aber sein Anblick: Während das autoportrait des Erzählers im ersten Teil des Buchs auratisch aufgeladene Melancholie transportiert, ist der zweite Blick in den Spiegel (im zweiten Teil) ambivalenter: „Mon visage, dans le miroir, était méconnaissable, les paupières et les pommettes bouffies, congestionnées, les yeux minuscules, à peine ouverts, qui lançaient un regard étonné et absent, pas sympathique, pas même attendrissant, presque méchant […].“ (FA85) 1467 N.N.: „Robert Mapplethorpe. Self Portrait“ in: Tate.org.uk, online unter: https: / / www.tate.org.uk/ art/ artworks/ mapplethorpe-self-portrait-ar00496. ausdifferenziertere Szene findet sich in Faire l’Amour: „Je devinais à peine les traits et les contours de mon visage dans le grand miroir mural placé au dessus du lavabo. La baignoire, derrière moi, se reflétait dans la pénombre […]“ (FA32). Auch diese Passage, die durch die Badewanne im Hintergrund einen intertextuellen Bezug zu Toussaints Debütroman herstellt, lässt das Gesicht des Erzählers im Unklaren, doch weiter heißt es: De mon visage dans le noir n’émergeait que le regard, mes yeux fixes et intenses qui me regardaient. Je me regardais dans le miroir et je songeais à l’autoportrait de Robert Mapplethorpe, où, du noir de ténèbres des profondeurs thanatéennes du fond de la photo n’émergeait, au premier plan, qu’une canne en bois précieux, avec un minuscule pommeau ciselé en ivoire, sculpté en tête de mort, auquel, sur le même plan, répondait comme en écho le visage du photographe qu’un voile de mort avait déjà recouvert. (FA32) 1466 Auch hier scheint also der Topos des Verschwindens auf - der zitierte Fotograf Robert Mapplethorpe nahm sein Selbstportrait 1988 auf, wenige Monate vor seinem Tod 1467 , dem Erzähler erscheint es unmittelbar nach der Trennung von Marie. Als ‚spiegelbildliche‘ Spiegeldarstellung lässt sich eine Passage in Nue lesen, die etwas später, aber noch immer kurz nach der Trennung von Marie spielt, und in der der Erzähler sich ‚visuell rekonstruiert‘, was mit dem museumsnahen Motiv des Mosaiks verbunden wird: „[ J]’avais le sentiment de me retrouver peu à peu, de refaire surface après une longue absence […], mon visage réapparaissait progressivement dans le miroir, se recomposait par fragments, comme un puzzle qui s’assemblait sous mes yeux“ (N45). In einem weiteren Ausschnitt in Nue wird wiederum besonders das Auge des Erzählers beschrieben: 4 Aspekte literarischer Musealität 287 <?page no="288"?> 1468 Diesen Umstand unterstreicht auch Toussaint selbst in C’est vous l’écrivain, S.-63. 1469 „Assis là depuis un moment déjà, le regard fixe, ma foi, je méditais tranquillement, idéalement pensif “ (AP31), Philippe Claudel: „Faire (ou défaire) l’amour : géographie de l’éros dépité“, in: Marc Dambre u. Bruno Blanckeman (Hg.): Romanciers minimalistes 1979-2003, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2012, S. 127-139, hier: S. 138: „[Toussaint] ne parle pas de l’époque contemporaine, ne l’ouvre pas comme un ventre, ne pointe pas ses vices, ses vides, ses schèmes, ses apories - comme le font […] avec vertige les romans de Michel Houellebecq […]. Dans Faire l’amour, les personnages ne ressemblent qu’à eux-mêmes, ils glissent sur un monde inconnu […].“; vgl. Winter: „Bewegung im Stillstand“, S. 205. Dieses kreativitätserzeugende Raumideal scheint auch Toussaints eigenes zu sein, der einen „lieu neutre“ (UP23-24), „provisoire“ den idealen Schreibort nennt: „[ J]e dois fuir du monde pour pouvoir le restituer.“ Toussaint u. Chen Tong: „Écrire, c’est fuir“, S.-177. 1470 Vgl. Xanthos: „La poétique narrative et descriptive de Jean-Philippe Toussaint“, S.-82. [ J]’examinai mon visage dans le miroir, inexpressif […], le regard terne, voilé, encore endormi, les yeux couleur vieux gris, avec un éclat métallique éteint, noyé dans le blanc presque laiteux de la cornée, qu’altéraient de petits vaisseaux sanguins éclatés. (F63) Die Schlafmetaphorik, das Schwarz-Weiß, der schockhafte „éclat“ - fast ließe sich an die berühmte Rasiermesser-Szene in Luis Buñuels Un chien andalou (1929) denken. Hier wird der Blick in den Spiegel als Zäsur-Moment heraufbe‐ schworen, ohne, dass man sich eine genauere Vorstellung von der Erscheinung des Erzählers machen könnte. 1468 Diese ‚leeren‘, ungreifbaren Erzähler-Abbilder besitzen also relevante Funk‐ tionen für das Erzählen: Sie lassen Leerstellen in der erzählten Welt, erzeugen Emergenz-Momente (vgl. die zweimalige Wiederholung des Verbs „émergeait“ in oben zitiertem Auszug, FA32), verweisen auf Todes- und Vergänglichkeits‐ topoi und bergen Kunstanspielungen. Damit bewegen sie sich wie die literari‐ schen autoportraits (vgl. Kap. III.3.1.2.4.) zwischen Präsenz und Absenz. 4.1.1.3 Weltdistanz und Weltbezug Ihre Umwelt scheint den toussaintschen Hauptfiguren fremd, was jedoch keine Ich-Krise auslöst; vielmehr ergibt sich zwischen leerem Ich und leerer Welt eine gewissermaßen ‚ideale‘ Deckung. 1469 Gerade ihre Indifferenz ermöglicht ihnen, die Gegenwart aus einer Außenseiter-Position zusammenzuführen - auch durch kreatives Handeln. Wenn in L’Appareil-photo der Erzähler mit einer gefundenen Kamera herumfotografiert (s. o.), bündelt er als Wahrnehmungsinstanz die Wirklichkeit, erfasst die „présence“ in einer Art pluri-perspektivischen, halb unbewussten photographie automatique und setzt sich dabei in Beziehung zu ihr. 1470 Das Zufällige ermöglicht den eigentlichen Zugang zur Realität, während 288 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="289"?> 1471 Vgl. Winter: „Bewegung im Stillstand“, S.-206. 1472 Vgl. zur Abgrenzung Houellebecqs dazu Kap. IV.3.1.2. 1473 Ähnliche Beispiele einer Kreativität auslösenden Ausgeschlossenheit finden sich auch in La Télévision und in den M.M.M.M.-Romanen, die von Blicken aus Fenstern von Restaurants und Privatzimmern oder aus dem Schnellzug Shinkansen durchsetzt sind. Vgl. Valérie Dupuy: „Écrire avec la lumière. Jean-Philippe Toussaint, écrivain plastique“, in: Mireille Raynal-Zougari (Hg.): Le rêve plastique des écrivains, Rennes: PUR 2017, S.-161-172, hier: S.-170. alles Gewollte artifiziell bleibt - so etwa das auf dem Film der gefundenen Kamera festgehaltene Foto eines Liebespaars, das dem Erzähler als Abbild einer „réalité brute et obscène“ (AP120) erscheint. 1471 Gerade dessen Enthaltungs-Hal‐ tung ermöglicht also einen rahmenden und damit auratisierenden Blick, der die Musealität der erzählten Welt erhöht. 1472 Auch eine weitere Passage in L’Appareil-photo illustriert diesen Zusammenhang von Subjekt-Exklusion und Rahmung der Welt: [ J]’allai regarder dehors par la vitre, commençai à dessiner pensivement des rectangles avec mon doigt sur le carreau, des rectangles superposés comme autant de cadrages différents de photos imaginaires, avec tantôt un angle très large qui découpait dans l’espace la perspective des immeubles vis-a-vis, tantôt un cadrage très serré qui isolait une seule voiture, une seule personne[.]“ (AP110) 1473 Bei einem Blick aus einem Dachschwimmbad in einem Hotelhochhaus in Faire l’amour (vgl. Kap. III.4.2.2.) findet sich eine ähnliche Objektivierung und visuelle Besitzergreifung - diesmal des ganzen Erdballs - bei der Sicht auf die Stadt. Der Erzähler sieht das nächtliche Tokyo als „terre elle-même que j’avais sous les yeux, dans sa courbe convexe et sa nudité intemporelle, comme si c’était depuis l’espace que j’étais en train de découvrir ce relief enténébré“ (FA40). Er steht hier außerhalb der Welt und „quelque part dans l’univers“ (FA40), und sieht die Stadt als (dunkles) Museum, was schließlich ein Allmachtsgefühl hervorbringt, in dem er sich das „big one“ ausmalt, ein enormes, Tokyo zerstörendes Erdbeben, welches „fît tout disparaître sous mes yeux, réduisant là Tokyo en cendres, en ruines et en désolation, abolissant la ville et ma fatigue“ (FA42). Gerade seine Entbundenheit von den Dingen ermöglicht diese Reflexion: „Vue de haut pendant la nuit, la terre semble parfois retrouver quelque chose de sa nature d’origine, davantage en accord avec l’état sauvage de l’univers primitif “ (FA39). Tatsächlich allmächtig in die Realität eingreifen kann er freilich nicht; auch an anderer Stelle bleibt es bei dem Versuch, deren Verlauf zu beeinflussen. So während eines Bowling-Spiels: Die rollende Kugel „aborda la quille de tête en force et toutes les quilles s’entrechoquèrent, traversées par une onde d’énergie invisible, une seule quille, dans un angle, resta debout, qui trembla sous mon 4 Aspekte literarischer Musealität 289 <?page no="290"?> 1474 Kontrastiert wird das Spiel des Erzählers mit dem seines Konkurrenten Zhang Xiangzhi, dessen Technik als „plat et efficace“ (F91) beschrieben wird. Überspitzt könnte man sagen: Er spielt Bowling, wie Houellebecq schreibt (vgl. Kap. IV.4.1.1.). 1475 Frings: „A la recherche de l’homme perdu“, S.-117. 1476 Vgl. auch Laurent Demoulin: „Faire l’amour à la croisée des chemins“, in: Jean-Philippe Toussaint: Faire l’amour, Paris: Les Éditions de Minuit 2009, S. 149-159, hier: S. 154-155. 1477 Nicolas Xanthos: „De Zahir à Pégase : poétique de l’intériorité dans le cycle de Marie de Jean-Philippe Toussaint“, in: Narrations d’un nouveau siècle : Romans et récits français (2001-2010), Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2013. S.-133-144, online unter: http: / / books.openedition.org/ psn/ 478, Absch. 36. 1478 Die Trennung des Erzählers von Marie in Faire l’Amour, der Tod ihres Vaters in Fuir: „Depuis cette nuit […], je percevais le monde comme si j‘étais en décalage horaire permanent, avec une légère distorsion dans l’ordre du réel“ (F63-64). 1479 Irène Salas: „De l’acide à l’acédie“, in: Stéphane Chaudier (Hg): Les Vérités de Jean-Phi‐ lippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S.-65-75, hier: S.-72. 1480 Nach Sontag allegorisiert der melancholische Blick die Dinge, und löst sie ihren Ur‐ sprungskontexten. Diese Allegorisierung wird der Zeitfluss für den Melancholiker zum ‚Tableau‘ unterschiedlicher Zeitstempel und Erinnerungspunkte; vgl. Susan Sontag: Under the sign of saturn, New York: Farrar Straus Giroux 1980, S. 109-136: „Memory, the staging of the past, turns the flow of events into tableaux“ (ebd., S. 116.). Vgl. auch Kap. II.4.2.2.2.4. regard, vacilla, mais ne tomba pas.“ (F99). Dass dieses Spiel, das der Willenskraft nicht gehorchen will, Nähe zum Schreiben aufweist („Depuis que je jouais, j’étais transporté dans un autre monde, un monde abstrait, intérieur et mental […]“, F92), ließe es auch als metareflexive Reflexion zur literarischen Repräsentation lesen. 1474 Im Unterschied zu den früheren Romanen verfügt der Erzähler in M.M.M.M. über eine „allgemeinmenschliche Erfahrungsdimension“ 1475 und erscheint psy‐ chologisch plausibel. 1476 Die oben erwähnte Zäsur der M.M.M.M.-Romane (vgl. Kap. III.3.1.1.2.) betrifft darum Erzählen und Erzähler: [A]ux liens rompus entre un être diaphane et un monde indifférent s’ajoutent maintenant des liens renoués entre un être dont l’histoire et l’imagination garantissent la présence et un monde prêt à livrer ses secrets, à être lu, à accueillir la présence du narrateur, gagnant une familiarité qu’on ne lui connaissait pas. 1477 Die Katastrophe, die er sich auf dem Tokyoter Hoteldach ausmalt, geht mit tatsächlichen Verlusterfahrungen einher. 1478 In diesem krisenhaften Blick liegt musealisierendes Potential: seine „prodigieuse élaboration d’images“ 1479 gleicht hier jener eines unglücklich liebenden Melancholikers. 1480 290 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="291"?> 1481 Vgl. etwa Wagner: „Monsieur Jean-Philippe Toussaint et la notion de Vérité“. 1482 Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S. 339; vgl. Xanthos: „De Zahir à Pégase“, Absch. 22: „le narrateur est en contact partiel avec ces scènes, mais les décrit bien au-delà de ce qu’il en a perçu“. 1483 Vgl. Rajewsky: „Diaphanes Erzählen“, S. 341-342 - Rajewsky bezieht sich jedoch auf frühere Beispiele der jeunes auteurs de Minuit, wie etwa Toussaints La Salle de Bain. Sie 4.1.1.4 Unzuverlässiger Erzähler Die trotz dieser ‚psychologischen‘ Komponenten bestehende Ungreifbarkeit der Figuren wird in den M.M.M.M.-Romanen stärker als in den Vorgängerbüchern narrativ herausgestellt, indem der Erzähler das vage Bild, das er abgibt, zum Thema der Erzählung macht („et moi sans statut“, FA23); Zudem prägt es die ganze Konstruktionsebene des Romans. 1481 Dies wird in Fuir deutlich. In dem Roman, dessen Titel auch als Flucht des Erzählers aus dem erzählten Geschehen zu verstehen wäre, berichtet er von Ereignissen, so etwa der Beerdigung des Vaters von Marie, obwohl er seine Abwesenheit betont („centrée sur mon absence“, F143, „ma simple présence la faisait souffrir, et mon absence encore plus“, F144). Mal spekuliert er („Elle avait dû se lever à l’aube ce matin“, F136), mal schlüpft er in die Haut eines allwissenden Erzählers („quand le convoi fut prêt […], Marie était là, à cheval, qui attendait le corbillard à l’entrée de la propriété. Elle avait sellé une jument de son père […]“, F137). Seine Infomationsquelle bleibt unklar. Auch der über seinen Titel einen Wahrheitsanspruch und eine auktoriale Erzählerinstanz suggerierende Roman La Vérité sur Marie weist ähnliche Un‐ klarheiten auf. Eine Passage darin bildet ein Gegenstück zur Begräbnisszene in Fuir. Als Marie den Erzähler nach dem Herzinfarkt ihres Liebhabers anruft, rekonstruiert dieser die vorangegangene Liebesnacht - bis hin zu intimen Details. Eine Erklärung dafür liefert er selbst: „Parfois, à partir d’un simple détail que Marie m’avait confié, qui lui avait échappé ou que j’avais surpris, je me laissais aller à échafauder des développements complets, déformant à l’occasion les faits“ (VM73). Ähnlich wird auch ein Pferderennen in Tokyo beschrieben, wo Marie mit ihrem Geliebten zugegen ist, ohne von der Anwesenheit des Erzählers zu wissen. Trotzdem konzentriert sich dessen Perspektive auf Marie („elle m’aperçut“, „Que faisais-je là ? “, VM146) - es kommt so zu einer narrativ vollzogenen Persönlichkeitsspaltung. Ein solcher „allwissender Ich-Erzähler“ 1482 stellt den Platz der Erzählinstanz in Frage - und dass bald darauf eine Reflexion zu Borges und „‚L’île des anamorphoses‘, cette nouvelle apocrypte“ (VM168) folgt, welche vom Ende des Erzählens in der dritten Person handele, macht die Passage zu einem Beispiel für ein ‚diaphanes Erzählen‘, das seine eigenen Normverstöße ausstellt (vgl. Kap. II.3.1.2.3.). 1483 Falls also hier, mit Hamon, „le 4 Aspekte literarischer Musealität 291 <?page no="292"?> bemerkt zurecht, dass in den Romanen der M.M.M.M.-Tetralogie diese Normverstöße nur punktuell - dafür umso auffälliger - platziert werden (vgl. ebd., S. 334), was als weiterer Beleg für eine Werkzäsur gewertet werden kann. 1484 Stéphane Chaudier: „Introduction - deuxième partie“, in: ders. (Hg): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S.-80. 1485 Vgl. etwa folgende Szene: „Dans la voiture, tandis que nous quittions le parking à petite vitesse, je lui expliquai […] que j’avais un peu mal au bas de la colonne vertébrale, toujours le même petit problème de dos, et, comme elle avait la gentillesse de bien vouloir s’y intéresser, et assez intelligemment je dois dire, je me fis un plaisir de lui en relater les tenants et les aboutissants.“ (AP 54-55) 1486 Erst in La Clé USB erfährt man den Namen des Erzählers. 1487 Vgl. Chaudier: „Jean-Philippe Toussaint et la question de la vérité: ‚olé‘-! “, S.-17. 1488 So Toussaint in Torres: „Jean-Philippe Toussaint. Hommage au livre“: „Marie était pour moi, dans mon roman, un personnage mental“, S.-79. 1489 Jean-Philippe Toussaint u. Roger-Michel Allemand: „La forme et la mélancolie“, in: Analyses, 6, 2011, S.-384-403, hier: S.-387. personnage […] un musée“ ist, dann eines, dessen Grenzen nicht eindeutig zu ziehen sind. 4.1.2 „MoMA“: Marie als Ausstellende und Ausgestellte Die narrative Ausgestaltung der Figur Marie bedeutet eine weitere Zäsur im Romanwerk Toussaints, in dessen früheren Romanen die Frauenfiguren eher Objekte des Erzählens sind - in der Geschichte angesiedelte, dabei jedoch dem Erzählerblick (und dessen Erzählung) ausgelieferte Figuren. So bildet etwa Pascale in L’Appareil-photo auch eine Art „lecteur idéal“ 1484 : Sie stört das unzuverlässige, sich selbst in Szene setzende Erzählen der Hauptfigur nicht, sondern trägt als nicht widersprechende Adressatin zu dessen Beglaubigung bei. 1485 Ihr auffälliger, einen breiten Assoziationshof eröffnender Name „Pascale Polougaïevski“ (AP54) verstärkt ihren ‚ausstellenden‘ Abbildcharakter (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.). Das ist typisch für Toussaint, bei dem die jeweiligen Hauptfiguren, wie „Monsieur“, namenlos bleiben 1486 , während die Nebenfiguren, und besonders die weiblichen, sprechende, irritierende, oft männlich klingende und auf andere Kulturkreise verweisende Namen besitzen - man denke auch an Edmondsson in La Salle de Bain, Anna Bruckhard in Monsieur, sowie an Delon, die Ehefrau des Erzählers in La Télévision. In deren Ansprache durch den Erzähler („ma Delon“) klingt schon Madeleine an, Maries Zweitname. 1487 Der Name Marie Madeleine Marguerite de Montalte ist in dieser Reihe sicherlich der komplexeste und ‚geschriebenste‘ 1488 , und „truffé de références“ 1489 , wie Toussaint selbst anmerkt. Neben Anklängen u.-a. an Blaise Pascal und Marcel Proust 1490 besitzt der Name 292 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="293"?> 1490 Vgl. ebd. So verweist der Name „Montalte“ auf ein Pseudonym Blaise Pascals aus Les Provencales („Lettres écrites par Louis de Montalte […]“) und somit wiederum auf eine wichtige Referenzfigur Toussaints. 1491 Vgl. Christine Marcandier: „Les quatre saisons de l’amour. Jean-Philippe Toussaint, M.M.M.M.“, in: Diacritik, 12.10.2017, online unter: https: / / diacritik.com/ 2017/ 10/ 12/ les -quatre-saisons-de-lamour-jean-philippe-toussaint-m-m-m-m/ . 1492 Vgl. Faire l’amour: „l’absence de l’autre était sans doute la seule chose qui pût encore nous rapprocher“ (FA22); vgl. Frings: „A la recherche de l’homme perdu“, S. 147; vgl. Schneider: „Basta avec moi maintenant“, S. 36: „[Der Erzähler] konstruiert und erfindet, was Marie denkt und erlebt - und erweckt sie zugleich als (Autor-)Erzähler erst zum Leben. Diese Geste kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass umgekehrt auch sie es ist, die sein Leben bestimmt, die ihn ihrerseits allererst lebendig werden lässt, in seiner Rolle als Erzähler, die er schöpferisch auszugestalten versteht.“ 1493 Im Verlauf der Tetralogie versterben Maries Vater, ihr Geliebter und der alte Gärtner des Familienanwesens auf Elba. 1494 Vgl. Toussaint u. Rochon: „Nue est un titre qui pourrait s’appliquer à tous mes livres“, S.-181. 1495 Vgl. Toussaints Kommentar in Norbert Czarny: „Entretien avec Jean-Philippe Tous‐ saint“: „À partir des années 2000, quand j’ai imaginé le personnage de Marie de Montalte, la créatrice de mode, j’ai eu cette intuition qu’il fallait que je donne le rôle social fort à la femme : c’est Marie qui travaille, c’est Marie qui voyage. Marie est très active, c’est noch weitere Dimensionen - eine autobiografische (Toussaints Ehefrau heißt Madeleine), aber auch eine metaphorische Ebene, auf denen Marie für die Liebe und das Lieben selbst steht: „M.“ klingt wie „aime“, und „Marie“ ist ein Anagramm von „aimer“. 1491 Schon der Titel der M.M.M.M.-Tetralogie unterstreicht, dass wir es hier erst‐ mals mit einer weiblichen Hauptfigur und, noch allgemeiner, überhaupt mit einer zweiten Hauptfigur zu tun haben. Wie in dem Logo ihrer Bekleidungsmarke „Allons-y, allons-o“, auf dem zwei Menschen einander umkreisen (vgl. FA56), steht die spannungsreiche Beziehung zwischen Marie und dem Erzähler im Zentrum der Erzählung, ja konstituiert sie. 1492 Die Perspektive des Ich-Erzählers bedingt zwar, dass Marie nur durch diesen beschrieben, teils auch imaginiert wird, doch zugleich verfügt sie über ein sich dem Erzähler entziehendes Eigen‐ leben, reagiert auf ihn und beeinflusst ihn in seinen Handlungen - nicht zuletzt sind es ihre Ausstellungspläne und Geschäfte, die das Paar überhaupt nach Asien führen, und die Tode dreier Männer aus ihrem Umfeld, die jeweils ihre Treffen in Europa auslösen. 1493 Eine Deckung zwischen ihrer „dernière collection automne-hiver“ (N12) und der paratextuellen Zeitangabe „Automne-hiver“ (N9) legt nahe, dass Maries berufliche Aktivität sogar die zeitliche Ordnung des Erzählens bestimmt. 1494 Damit ist sie nicht nur wichtig für die Geschichte, sie ist die Geschichte, die das Bewusstsein des Erzählers selbst dann imprägniert, wenn sie abwesend ist. 1495 4 Aspekte literarischer Musealität 293 <?page no="294"?> elle l’artiste. Mais le couple est équilibré, car le narrateur, lui, a la parole. Il n’est pas effacé, il juge Marie, il la voit, il l’aime, il la décrit.“, 1496 Im Sinne Bals als ‚Gegenüber‘, vgl. dies.: Narratology, S.-203. 1497 Dante Alighieri: Vita Nuova. Neues Leben, vollständiger italienischer Text, übertragen und mit einem Nachwort versehen von Sophie Hildebrandt, Köln/ Graz: Böhlau 1957 [1292/ 1294], S.-56. 1498 Wie Frings: „A la recherche de l’homme perdu“, S. 119, herausstellt, reproduziert der Erzähler mit dieser Fähigkeit metapoetisch Toussaints Auffassung vom Schreiben als In diesem Sinn ist sie, deren Seelenregungen sich nicht immer einordnen lassen (sie besitzt einen Blick mit „une lueur d’amusement, et […] un soupçon de supériorité méprisante“, FA48, und ein „sourire ambigu“, FA50), sowohl Subjekt wie Objekt 1496 , Empfangende und Verkündende: Als Marie dem Erzähler von ihrer Schwangerschaft berichtet, denkt dieser an ein Renaissance-Gemälde und spricht ihr beide Rollen zu: „c’est Marie qui jouait tous les rôles : à la fois l’ange Gabriel et Marie, la bien nommée“ (N157). Im Folgenden soll sie im Sinne der Museumsmetapher als Ausgestellte (die Frau im Blick des Erzählers) wie als Ausstellende (die handelnde Künstlerin) beschrieben werden. 4.1.2.1 Marie als ausgestellte Figur Das Fuir vorangestellte Dante-Motto („Dire d’elle ce qui jamais ne fut dit d’aucune“) ist dessen Vita Nuova entlehnt; die Engführung von amouröser An‐ ziehung und erzählerischer Kreativität bei Dante, ausgelöst durch den Anblick der Geliebten („Allora dico che la mia lingua parlò quasi come per se stessa mossa, e disse: […]“ 1497 ), lässt sich auch auf die M.M.M.M.-Romane übertragen. Schon der Titel des ersten Romans Faire l’amour könnte sich auch auf die ‚Schöpfung‘ Maries (der Verkörperung von Liebe und Literatur) durch den Erzähler beziehen: „Faire l’amour“ als Synonym von ‚Schreiben‘. Der Roman La Vérité sur Marie spricht dem Erzähler qua Titel ebenfalls eine Deutungshoheit über die weibliche Hauptfigur zu, was sich im Inneren des Romans bestätigt: [ J]e ne me trompais pas sur Marie, je savais en toutes circonstances comment Marie se comportait, je savais comment Marie réagissait, je connaissais Marie d’instinct, j’avais d’elle une connaissance infuse, un savoir inné, l’intelligence absolue : je savais la vérité sur Marie. (VM74) Wie erwähnt, erscheint er über weite Teile des Romans als auktoriale Instanz, die Dinge weiß, die eigentlich nur Marie wissen kann (vgl. Kap. III.4.1.1.4.): „j’étais désormais en mesure […] de reconstituer, de reconstruire ou d’inventer, ce que Marie avait vécu en mon absence“ (VM52). Diese Fähigkeit und seine Kenntnis ihrer Person lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass er ihr Autor ist. 1498 Aller‐ 294 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="295"?> ‚Empathieleistung‘ und konzentrierter Einfühlung. Wie dem Autoren selbst gelingt es dem Erzähler „[de] fermer les yeux en les gardant ouverts“ (Toussaint: Comment j’ai écrit certains de mes hôtels), Toussaint macht ihn also zu seinem Stellvertreter im Text. Vgl. auch Jean-Philippe Toussaint u. Pierre Bayard: „L’auteur, le narrateur et le pur-sang. Une enquête de Pierre Bayard et Jean-Philippe Toussaint“, in: Jean-Philippe Toussaint: La Vérité sur Marie, Paris: Les Éditions de Minuit 2013 [2009], S.-207-219, hier: S.-215. 1499 Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘“, S. 189, die feststellt, diese selbstbewusste Unsicherheit teile der Erzähler der M.M.M.M.-Romane mit jenem in Made in China. 1500 Vgl. dazu Toussaint u. Allemand: „La forme et la mélancolie“, S.-385-386. 1501 Angesichts mancher Ereignisse im Verlauf der Geschichte gesteht auch der Erzähler seine Unwissenheit ein („Je savais qu’il y avait sans doute une réalité objective des faits - ce qui s’est réellement passé cette nuit-là dans l’appartement de la rue de La Vrillière -, mais que cette réalité me resterait étrangère“, VM165). 1502 Eine fast wortgleiche Passage steht auch am Ende von Fuir, als der Erzähler und Marie sich nach langer Trennung wiedertreffen. dings sind gerade in diesem Roman auch seine Unsicherheiten, Wertungen und Selbstüberschätzungen hinsichtlich zeitlicher Abläufe oder Geschehen beson‐ ders deutlich und entlarven das Erzählen als „phantasme de toute-puissance“ 1499 . So täuscht er sich etwa im Namen von Maries Geliebtem „Jean-Baptiste“, der eigentlich „Jean-Christophe“ heißt (vgl. VM75) 1500 , so dass die Zuverlässigkeit seiner Aussagen zu hinterfragen ist 1501 - auch von Marie: „C’est toi qui inventes, dit-elle.“ (FA50). Ist Marie also das ‚Produkt‘ des Erzählers, so verfügt sie doch über ein Eigenleben, das in der Erzählung zum Vorschein kommt. Die Annahme, er könne gerade nicht ‚hinter die Oberfläche‘ schauen, wird durch zahlreiche Passagen gestützt, in denen Marie in ihrer äußeren Erscheinung statuenartig beschrieben wird: „Elle était immobile, allongée dans un des élégants canapés en cuir noir du hall, la tête et les cheveux tombant en arrière, un bras ballant au sol“ (FA48, ähnlich auch FA95). Selbst in intimen Situationen erscheint sie unter dem Blick des Erzählers erstarrt, wie in der zentralen Trennungsszene am Beginn der Tetralogie. Marie liegt entkleidet auf einem Hotelbett, „les yeux ceints de son bandeau humide de larmes dans la pâle lumière bleutée de l’écran du téléviseur toujours allumé“ (FA33), der Erzähler betrachtet „le corps dénudé de Marie étendue sur le lit dans la pénombre bleutée de la chambre, ses jambes et son sexe nus devant moi“ (FA36). 1502 Die offensichtliche Anspielung auf Gustave Courbets Gemälde L’Origine du monde (1866) lässt an eine Künstler-Model-Beziehung denken, oder auch an Marie als (ausgestelltes) ‚Kunstwerk‘, und den Erzähler als (voyeuristischen) Betrachter. Dieser Kunst-Kontext verstärkt sich durch die räumliche Ausgestaltung der Passage, sowie die mehrfach unterstrichene Dynamik des Blickens und des gegenseitigen Angeblickt-Werdens (vgl. FA48-49, FA68). Das Hotelzimmer gleicht einem Galerieraum, den der Erzähler wie ein 4 Aspekte literarischer Musealität 295 <?page no="296"?> 1503 „Les grands écrivains, justement, doivent aller très loin dans l’intime. […] C’est là qu’on touche au cœur de l’humain, aux choses les plus intéressantes de la personne, mais cela ne se justifie, ce n’est acceptable que s’il y a une forme qui protège. C’est la forme qui sera le vêtement qui va cacher le côté obscène éventuellement de l’intimité et en tout cas impudique. Moi, j’essaie d’aller assez loin dans les révélations intimes tout en restant toujours très pudique“, so Toussaint im Interview mit Arcana Albright, in: dies.: „Jean-Philippe Toussaint: écrivain de la photographie“, Fußnote 15. Vgl. auch Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-106. 1504 Mit Henri-Pierre Jeudy ist das vom Künstler gesehene (Akt-)Modell immer nur ober‐ flächlich, als Bild exponiert, und auch der betrachtende Künstler befindet sich in einer Situation des Ausgestelltseins. Vgl. Henri-Pierre Jeudy: Le corps comme objet d’art, Paris: Colin 1998, S. 29. So auch im Fall von Marie, die - aus Sicht des Erzählers - einen „sens du spectacle, cette outrace dont elle avait le secret“ besitzt: „[elle] retira théâtraliquement ses lunettes de soleil“, „ne bougait pas, impériale“ (FA88-89). 1505 „Lorsque je l’ai connue, elle se faisait appeler Marie de Montalte, parfois seulement Montalte, sans la particule, ses amis et collaborateurs la surnommaient Mamo, que j’a‐ vais transformé en MoMA au moment de ses premières expositions d’art contemporain. Puis, j’avais laissé tomber MoMA, pour Marie, tout simplement Marie (tout ça pour ça).“ (FA46). Die Passage weist Anklänge zum Beginn von Nabokovs Lolita („She was Lo, plain Lo, in the morning, standing four feet ten in one sock. She was Lola in slacks. She was Dolly at School. She was Dolores on the dotted line. But in my arms she was always Lolita.“ Vladimir Nabokov: Lolita. A novel, New York: Putnam 1955, S. 11) auf. Marie ist keine Lolita-Figur, aber die Obsession des Erzählers gleicht der eines Humbert Humbert, und beide Frauenfiguren bilden den einzigen, dem (jeweils unzuverlässigen) Erzähler aber entgleitenden Erzählanlass. Freilich erscheint Marie durch diese Anspielung und ihren sprechenden Namen auch als ‚geschriebene‘ Figur. Ausstellungsbesucher durchläuft (vgl. Kap. III.4.3.3.). Die Kunstanspielung wird noch unterstrichen durch ein weiteres Bildzitat, das zum Ende des Romans aufgegriffen wird, wieder in besagtem Hotelzimmer. Die verschiedenen Stoffe, Kleider und (verwelkten) Blumensträuße, inmitten derer die unbeweglich schla‐ fende Marie liegt, verweisen auf das Ophelia-Motiv (vgl. FA134). Die hier aufgemachten Oppositionen von intime und privé 1503 , öffentlich und privat, Objekt und Subjekt 1504 zeigt das Verhältnis der beiden Figuren als museale Konstellation - mitsamt der damit verbundenen Machthierarchie, die allerdings insgesamt nicht so eindeutig ist, wie es in der Passage den Anschein hat. Denn Marie - Spitzname „MoMA“ 1505 - ist nicht nur ‚Anschauungsobjekt‘ des Erzählers, sondern auch Museum ihrer selbst. 4.1.2.2 Marie als Ausstellende Das nur scheinbar hingeworfen wirkende Durcheinander in Maries Hotel‐ zimmer verweist auch auf ihren Gestaltungswillen, unterstreicht die Fähigkeit, den Alltag zu transformieren: 296 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="297"?> 1506 Als Gegenstück zu diesem Hotelzimmer ließe sich Maries Privatwohnung in La Vérité sur Marie sehen, die ebenfalls vom Erzähler musealisiert wird; u. a. bezeichnet er einen Wäschehaufen als „exposition“ (vgl. VM54, vgl. Kap. III.3.2.3, III.4.2.1.). 1507 So Toussaint im Interview in Garcin: „‚Je suis très connu, mais personne ne le sait‘“: „J’ai forgé cette notion de ‚disposition océanique’ à partir du concept de sentiment océanique, que Romain Rolland définit, dans une lettre à Freud, comme la volonté de faire un avec le monde hors de toute croyance religieuse“ (S.-3-4). Autour d’elle, toutes ces robes paraissaient en représentation dans la chambre, raides et immobiles dans leurs housses translucides, parées, altières, décolletées, séductrices et colorées […], alignées sur les deux portants de voyage qu’elle avait dépliés dans la chambre d’hôtel comme dans une loge de théâtre improvisée, ou simplement déposées avec soin sur des chaises, sur les bras des fauteuils. (FA20) 1506 Die ‚Methode Marie‘, ihre Gegenstände wie zufällig im Raum zu verteilen, steht für eine Arbeitsweise, die nach außen gerichtet, ‚offen‘ und zunächst chaotisch erscheint: „son goût épuisant pour les fenêtres ouvertes, pour les tiroirs ouverts, pour les valises ouvertes“ (VM15) wird mehrfach betont (auch VM82, VM83, VM121, VM172, N35). Dieser „goût pour le désordre, pour le bazar, pour le chaos“ (VM15) ist Bedingung ihrer Kreativität; an anderer Stelle steckt sie einen Blumenstrauß zusammen, „sans forcer la nouveauté, sans chercher la création, un seul geste, simple, asssuré, naturel, pour réunir […] l’évidence et l’impossible“ (VM162). Scheinbar beiläufige, dennoch bestimmte Kompositionen können für Marie also aus bloßem Zufall entstehen. So in der ‚Honigkleid‘-Episode zu Beginn von Nue: Im Zuge eines Mode-Happenings präsentiert ein Model ein Kleid aus Honig und Bienenwaben. Als die Frau stürzt und von den Bienen angegriffen wird, Chaos auf der Bühne ausbricht und ein Imker in Schutzkleidung auftritt, transformiert Marie allein durch ihr Erscheinen die Szene in ein gewollt inszeniert wirkendes tableau vivant, le topmodel martyr entouré de multiples figures de douleur figées, les visages européens, asiatiques, interdits, ralentis, arrêtés, comme une video de Bill Viola […]. Car, refusant de se laisser vaincre par la réalité, Marie avait assumé le hasard et elle avait revendiqué l’image, au point de jeter un doute dans l’esprit des spectateurs, comme si la scène qu’ils découvraient sous leurs yeux avait été préméditée par Marie […]. (N23) Mit ihrer Offenheit zur Welt, einer entgrenzten „disposition océanique“ (vgl. N36, N147) 1507 , ist sie weder ‚melancholische‘ Sammlerin noch ‚hysterische‘ Kuratorin (vgl. Kap. II.2.6.), sondern vielmehr eine Art Realität aufnehmendes und verwandelndes Medium: Betont wird „son aptitude à pouvoir s’harmoniser intimement avec le monde […], cette capacité singulière […] à ne faire qu’un 4 Aspekte literarischer Musealität 297 <?page no="298"?> 1508 Wobei auch ihre Modearbeiten v. a. als Kunstobjekte zu verstehen sind. Ihre Kleider werden in Kisten transportiert, die „spécialement concues pour le transport des œuvres d’art et qui renfermaient des vêtements expérimentaux en titane et en Kevlar qu’elle avait conçus pour une exposition d’art contemporain“ (FA19). 1509 Vgl. Loignon: „Romanesque : le retour de flamme“, S. 28 („La représentation du créateur s’incarne dans le personnage de Marie“), sowie Schneider: „Quand je suis le narrateur de mes livres“, S. 190, die im vermeintlich autobiografischen Bericht Made in China den Erzähler (also einen literarisierten Toussaint) in einer ähnlichen Funktion sieht wie Marie in M.M.M.M. Performativ und medienüberschreitend umgesetzt wird diese Annäherung der erzählten Figur und ihres Autors auch, da diese in dem Roman Nue die Schöpferin der ‚Honigkleid‘-Episode ist; diese wird wiederum tatsächlich von Toussaint verfilmt, der somit Maries Werk umsetzt. 1510 In einem Interview bestätigt Toussaint diese These: „Marie, c’est moi mais c’est aussi ma femme et d’autres femmes, des personnages réels, des femmes réelles, mais aussi des femmes inventées, des femmes fantasmées. C’est un mélange de tout ça et c’est ce qui est intéressant. Mais il y a une part de moi-même. Tout le côté artistique de Marie est complètement influencé par ce que je connais personnellement.“, Václav Richter: „Jean-Philippe Toussaint : Je m’inspire beaucoup de ma propre personne“, in: Radio Prague International, 02.05.2015, online unter: https: / / francais.radio.cz/ jean-philippetoussaint-je-minspire-beaucoup-de-ma-propre-personne-8261526. avec le monde“ (N36) und „[i]l y avait pour elle comme une abstraction radicale, une abrasion, un décapage de la réalité sociale des choses, qui faisait qu’elle semblait toujours déambuler comme nue à la surface du monde“ (N38-39). In ihrer Offenheit und zur Welt unterscheidet sie sich vom Erzähler, der mit dem réel am liebsten hinter Fenstern oder vor Spiegeln in Kontakt zu kommen scheint. Marie (als zweite Hauptfigur, Fotografin und Modedesignerin 1508 ) macht ihm hierin Konkurrenz. Sie kann - anders als frühere Frauenfiguren bei Toussaint - nicht nur als Gegenpart des Erzählers, sondern auch als Stellvertreterin des Autors im Text verstanden werden. 1509 Ihre Fähigkeit, eine Situation ästhetisch zu verwandeln, sowie das Ringen mit dem eigenen Perfektionismus steht für eine Schaffensäs‐ thetik zwischen urgence und patience, die auch Toussaints eigener gleicht 1510 : Car la perfection ennuie, alors que l’imprévu vivifie. [D]ans cette dualité inhérente à la création - ce qu’on contrôle, ce qui échappe -, il est également possible d’agir sur ce qui échappe, et qu’il y a la place, dans la création artistique, pour accueillir le hasard, l’involontaire, l’inconscient, le fatal et le fortuit.“ (N25) Für diese These spricht auch, dass sie den erzählten Raum durch Bewegung und Interaktion viel stärker prägt als der passiv-beobachtende Erzähler, und dass diese Raumverwandlung dabei mehrfach mit Kunst- und Schreibmetaphern verbunden wird: „[elle] signe le tableau, elle s’est approprié l’image“ (N24, vgl. Kap. III.5.2.). 298 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="299"?> 1511 Hamon: Expositions, S. 23-24; in diesem fast existenziellen Sinn zeigt sich Mode, als Marie einen ihrer eigenen Entwürfe trägt, während sie frierend in der ersten Nacht in Tokyo durch die Stadt läuft; der modische (zeichenhafte) Aspekt des nicht für den Alltagsgebrauch entworfenen Kleids wird zugunsten seiner materiellen Eigenschaften abgewertet: Es bildet eine Schutzschicht zwischen ihr und ihrer Umgebung (vgl. FA53). 1512 Vgl. etwa die Schilderung der Kleidung im Hotelzimmer („toutes ces robes paraissaient en représentation dans la chambre, […] alignées sur les deux portants de voyage qu’elle avait dépliés dans la chambre d’hôtel comme dans une loge de théâtre improvisée […].“, FA20). 1513 Z.B. die Beschreibung des Museumspersonals in Faire l’amour (FA99), des Bienenzüch‐ ters (N14) oder Jean-Christophe de G.s (N66) in Nue. 1514 Loignon: „Romanesque : le retour de flamme“, S.-28. 1515 Vgl. zum Erfolg Toussaints in China und Japan Toussaint u. Chen Tong: „Écrire, c’est fuir“, S.-175. 1516 „Depuis ses premiers succès en Asie, en Corée et au Japon, Marie s’était implantée à Hongkong et à Pekin et avait souhaité acquérir de nouvelles vitrines à Shanghai et dans le Sud du pays, avec des projets déjà bien avancés d’ouvrir des succursales à Shenzen et à Canton.“ (F13) Auch ihre Mode greift in den Raum ein: Diese ist hier - wie die Architektur - eine „art de loger un corps dans quelque chose“ 1511 . Nicht nur konkret, sondern auch in einem weiteren Sinn ließe sich Marie so als Raumgestalterin verstehen. 1512 Somit fügen sich die vielen detaillierten Kleidungsbeschreibungen in eine allgemeine Material- und Raumsemantik ein. 1513 Loignon verweist auch auf eine Proust-Analogie: „Or, ces robes sont déconstruites, elles sont mal ajustées: elles ont elles-mêmes un caractère ‚boiteux‘, qui semble défier la volonté proustienne de l’œuvre qui associerait l’architecture de la cathédrale à la souplesse de la robe“. 1514 Für die Mode-Literatur-Analogie spricht das Nebeneinander von geometrischen Formen und fließenden Stoffen (FA53), das an das toussaintsche Ideal der Balance zwischen rigide und fluide erinnert; es findet sich v. a. in erwähntem Honigkleid in Nue verwirklicht (N12), das einen ‚nahtlosen‘ texte coulant bildet. Ihre raumeinnehmende und -gestaltende Funktion erstreckt sich über die gesamte erzählte Welt der Romane. Auch als Akteurin des Kunstmarkts mit hoher ‚Weltreichweite‘ und Erfolg speziell in Asien ist sie ein Abbild des Autors. 1515 Ihr weitverzweigtes Mode- und Kunstimperium auf Expansionskurs, das sich von Paris aus auf neue emerging markets erstreckt, ähnelt darin dem westlichen Museummodell (vgl. Kap. II.2.1). 1516 Indem sie - wie Toussaint den Louvre - die Ausstellungsräume selbst beliefert und (mit Fotos des eigenen Gesichts) bestückt, ohne Zwischenhändler auskommt und sich stattdessen mit einem Stab an Mit- und Zuarbeitern umgibt, erscheint sie als ausgesprochen autonome Künstler-Kuratorin, „car on ne donne pas d’ordre à Marie - au mieux, on l’incite, au pire, on lui suggère“ (VM117). 4 Aspekte literarischer Musealität 299 <?page no="300"?> 1517 Marie selbst lädt illegal Musik aus dem Internet herunter, geht aber gleichzeitig juristisch gegen Markenpiraterie in China vor (vgl. VM14). Der Kunstmarkt, den sie bedient, lässt sich in mehrfacher Hinsicht als ‚zeitge‐ nössisch‘ beschreiben: In ihm zirkuliert die Kunst nicht nur, sondern wird auch kopiert; auch Aspekte von Autor- und Urheberschaft verlieren an Bedeutung. 1517 Damit zusammenhängende Fragen von Original und Kopie thematisiert Marie - wie Toussaint, der sich im Louvre u. a. als Kopist des Delacroix-Gemäldes zeigt - auch in ihrer Arbeit, indem sie große Selbstporträts ausstellt („des photos de très grand format, quatre mètres sur six, qui représentaient des visages en très gros plans, parfois le visage de Marie, des détails agrandis du visage de Marie“, FA144). Hier ist sie ganz konkret ein ‚Museum ihrer selbst‘, und bleibt dabei auch im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit ein auratisches Exponat: Als der Er‐ zähler nach seiner Trennung von Marie durch den menschenleeren, nächtlichen Contemporary Art Space von Shinagawa läuft, betrachtet er diese Kunstwerke und macht dabei eine Art metaphysische Präsenzerfahrung: „je sentais l’âme de Marie m’accompagner dans le musée, je la sentais près de moi, je sentais sa présence“ (FA144, vgl. Kap. III.5.2.). 4.2 Objekte und Materialität Wie festgestellt (vgl. Kap. II.4.1.2.), ist in Bezug auf museales Erzählen sowohl die literarische Thematisierung und Inszenierung einzelner Objekte wie auch der Materialität im weiteren Sinne in den Blick zu nehmen. Das folgende Kapitel geht daher zunächst auf das literarische Dinginventar in den Romanen Toussaints ein (Kap. III.4.2.1.), dann auf die (Erzähl-)Funktionen des materiell ausgestalteten erzählten Raums (Kap. III.4.2.2.), und schließlich die literarische Thematisierung von (Im-)Materialität (Kap. III.4.2.3.). 4.2.1 Schlafbrille, Mobiltelefon, Grappaflasche: Toussaints système des objets Autour de moi se trouvaient des placards, des porte-serviettes, un bidet. Le lavabo était blanc ; une tablette le surplombait, sur laquelle reposaient brosses à dents et rasoirs. Le mur qui me faisait face, parsemé de grumeaux, présentait des craquelures […]. (SdB12) 300 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="301"?> 1518 Diese taxonomische Dimension ist wiederum von Beginn an auch in Toussaints Literatur sehr präsent. Im Debütroman etwa führt das Fragment Nr. 35 den Inhalt eines Koffers in Listenform auf (vgl. SdB37), und reflektiert im Kleinen das Prinzip des gesamten Romans, der die Erzählung als Zählung zeigt. In La Télévision findet sich eine ironische Auseinandersetzung mit den Ordnungssystemen der Bibliothek des Centre Pompidou („Ensuite, pour les amateurs de chiffres, venaient les exemples concrets (ex. 1. Selec Ex. Disponibles 1. 2. Pour Titien, et 1.2.3.4. pour Charles Quint), qui, ainsi formulés, me permirent d’y voir plus clair.“, TV69) 1519 Xanthos: „De Zahir à Pégase“, Absch. 36. 1520 Vgl. Loignon: „Romanesque : le retour de flamme“, S. 32, die die Kulissenhaftigkeit der asiatischen Städte und die wiedererkennbaren Namen im Stadtbild als Zeichen der Entfremdung und Unsicherheit des Erzählers liest. Man könnte sich einen aufregenderen Romananfang denken als diese Beschrei‐ bung des titelgebenden Badezimmers in Toussaints Debütroman. Schon die (beinahe) ersten Zeilen des ersten veröffentlichten Werks zeigen eine besondere Aufmerksamkeit für die materielle Dimension der erzählten Welt, die sich durch das weitere Werk ziehen wird und sich auch in einigen der Romantitel niederschlägt: La Salle de Bain, L’Appareil-photo, La Télévision, La Clé USB suggerieren in der Gesamtschau eine Art taxonomische Ambition, die an ein lexikalisches Projekt erinnert (vgl. Kap. II.3.1.1.2.1.). 1518 Doch auch die übrigen Werke weisen eine hohe Dichte an Dingbeschreibungen auf, wie mit Fokus auf den M.M.M.M.-Romanen beleuchtet werden soll. Objekte wie „la petite serviette blanche en nid d’abeilles“ (F157, 159, 161) oder die „lunettes de soie lilas de la Japan Airlines“ (FA23, 24, 27), hervorgehoben durch ihre je dreimalige, wortgleiche Erwähnung - ein wenig wie die Repetition des „petit pan de mur jaune“ bei Proust -, werden hier zu bedeutsamen ‚Erkennungszeichen‘ in einer fremdkulturellen, krisenhaften Situation. Beide Objekte sind typisch für das Dinginventar der M.M.M.M.-Romane: Es handelt sich nicht um persönliche Gegenstände, die ein privates intérieur ausgestalten oder Rückschlüsse auf den Geschmack ihrer Besitzer zulassen, sondern gehören zur Ausstattung jener unpersönlichen Hotels und Transportmittel, in denen sich die Handlung großteils abspielt. Gerade vor dem Hintergrund dieser Umgebung gewinnen sie an Kontur, und ihre explizite, mehrfache Hervorhe‐ bung unterstreicht, dass eine condition postmoderne hier auch eine condition postmatérialiste bedeutet. Zwar besitzen einzelne Objekte eine Kapazität „à nous relier au monde et à nous permettre de lui donner sens“ 1519 - allerdings eben in einer Umgebung, die in ihren Außenräumen großteils ‚unlesbar‘ 1520 , in 4 Aspekte literarischer Musealität 301 <?page no="302"?> 1521 Vgl. Gaillard: „Jean-Philippe Toussaint écrivain-coloriste infinitésimal ? “, S. 72, die feststellt, dass solche Erkennungszeichen, „se contentent de signaler et non de signifier“. Diese Analyse der Dingwelt ist mit dieser Unterscheidung zwischen signe und signal anschlussfähig an oben beschriebene Ausstellungskritik Toussaints (vgl. Kap. III.3.2.3.). 1522 „Dans le monde qui était le leur, il était presque de règle de désirer toujours plus qu’on ne pouvait acquérir“; Perec: Les Choses, S.-47 (vgl. Kap. II.4.1.2.1.2.). 1523 Vgl. Alexandra Huguet: „‚Décourager la réalité‘ ? Du discours démystifiant à un nouveau mythe du réel dans trois romans de Jean-Philippe Toussaint“, in: Recherches & Travaux, 77, 2010, S.-91-104. 1524 Neben den verschiedenen Schwimmbad- und Ozeanszenen wird dies z. B. deutlich an einer Gegenüberstellung der ‚Leichtigkeit‘ des Entkleidens („Marie ôta son chemisier, qu’elle laissa tomber à ses pieds devant la fenêtre de la chambre d’hôtel“, FA19), und der ‚Schwere‘ der viele Kleidungskisten („huit valises métalliques rembourrées et quatre malles identiques“, ebd.), die mit 80 kg Übergewicht nur gegen Aufpreis nach Japan zu befördern sind (vgl. auch N126, wo Marie ebenfalls mit schwerem Gepäck reist). 1525 Das Motiv der Säure korrespondiert mit neuen ‚Schwere‘ der M.M.M.M.-Romane und mit dem Wunsch des Autors, „[de] faire quelque chose de plus acide“, vgl. Demoulin: „Faire l’amour à la croisée des chemins“, S. 149. Der Flacon wird v. a. am Anfang und Ende des Romans erwähnt und bildet somit einen motivischen Rahmen. Im letzten Satz des Romans wird er unmittelbar in Verbindung gebracht mit dem Gefühl des Erzählers, „d’avoir été à l’origine de ce désastre infinitésimal“ (FA146). Gleichwohl bleibt seine Funktion für den Erzähler aber nebulös, vgl. Demoulin: „Faire l’amour à la croisée des chemins“, S.-150. ihren Innenräumen weitgehend ‚leer‘ ist. So illustrieren sie die festgestellte, generalisierte Nicht-Weltbeziehung der Protagonisten. 1521 Die wenigen erwähnten Besitztümer ermöglichen den - offensichtlich wohl‐ habenden - Figuren weder (Ersatz-)Befriedigung noch Weltflucht, wie etwa in À rebours (vgl. Kap. II.4.1.2.1.3.) oder auch Perecs Les Choses, wo Besitz ein Glücksversprechen und das Streben danach ein Gesellschaftssymptom darstellen. 1522 Bei Toussaint hingegen sind sie einfach ‚da‘. 1523 Dazu passt auch, dass seine Figuren keine Sammler sind, was im Werk Toussaints mehrfach durch die Kontrastierung mit Nebenfiguren hervorgehoben wird: So Maries Vater, der in einem vollgestellten Haus lebte und als Mann des 20. Jahrhunderts erscheint (vgl. Kap. III.5.3.). Dem Paar hingegen, das eigentlich nur nackt ganz frei zu sein scheint, sind eine massive Kommode, die vor dem Transport erst leergeräumt werden muss, und deren Inhalt minutiös aufgezählt wird (vgl. VM54), sowie die übervollen Koffer, die Marie zwischen Europa und Japan hin- und hertransportiert (vgl. VM82), vor allem ein Hindernis. 1524 Stärker, als die Menschen auf die Dinge zugehen, kommen diese auf sie zu, ja bedrängen sie: So der vom Erzähler mitgeführte Säureflacon in Faire l‘amour, der Gefahr und Aggression signalisiert (vgl. FA11) 1525 , eine Parfümflasche in Fuir, ein Geschenk der chinesischen Begleiterin Li Qi, das auf den ‚drohenden‘ Seitensprung verweist (F76-78, vgl. Kap. III.3.2.1.). Andere Dinge sind ‚illegal‘ 302 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="303"?> 1526 „[D]es chaussures italiennes allongées, élégantes […], en peau précieuse, du cuir ou de la vachette, une paire de richelieux classiques à la fois fermes et souples […]“ (VM45). 1527 Mit Thiemeyer ließe sich auch von „Zeugen“ sprechen (vgl. Kap. II.3.1.2.1.). Vgl. zur Rolle der teuren Schuhe auch Schneider: „Basta avec moi maintenant“, S.-28. 1528 Vgl. etwa seine minutiöse Beschreibung von Gegenständen und ihrer Anordnung im Haus von Maries Vater (N126-N127) sowie einem Hotelzimmer (N131). 1529 Vgl auch Isabelle Ost: „Dispositifs techniques et place du sujet dans quelques romans de Jean-Philippe Toussaint“, in: textyles, 38, 2010, S.-77-78. 1530 Vgl. ausführlich Schneider: „Basta avec moi maintenant“, S. 32-33; vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 145: „répéter à l’envie les mots grappa ou bouteille de grappa est une manière de focaliser l’attention sur un objet particulier. […] La bouteille de grappa a donc une fonction primordiale dans la narration […]. Mais, au-delà de cet exemple particulier, je dois avouer que les répétitions ne m’ont jamais gêné. Je préfère employer quatre fois le mot lunettes plutôt que d’utiliser des synonymes imprécis ou poussifs“. (die 25.000 Dollar enthaltende „grande enveloppe en papier kraft“, die später in ein Drogenpäckchen umgetauscht wird, vgl. F12, F66 u. F102), ‚gefährlich‘ (das abgehörte chinesische Mobiltelefon in Fuir, vgl. F76-78), oder bergen brisante Informationen (der USB-Stick in Clé USB). Diese ‚exponierten‘, hand‐ lungskonstituierenden Objekte ließen sich als innerliterarische Semiophoren mit Bedeutungs- und materieller Seite bezeichnen, was auch erklärt, warum sich ihre Funktion nicht ohne weiteres ändern lässt; Pomian folgend können Semiophoren nicht ohne weiteres zu ‚Abfall‘ werden (vgl. Kap. II.4.1.2.1.). So erscheint es schlüssig, dass der Versuch des Erzählers in Fuir scheitert, sich des Mobiltelefons zu entledigen (vgl. F76-78). Als Semiophoren fungieren auch die Schuhe von Jean-Christophe de G., die der Erzähler in der Wohnung Maries vorfindet, als er diese nach dem Herzinfarkt ihres Liebhabers aufsucht (vgl. Kap. III.3.2.3.). Ihre materielle Beschaffenheit (vgl. Kap. II.4.1.2.) wird genauestens beschrieben und damit auffällig herausgestellt. 1526 Zugleich sind sie (innerliterarische) Indizien 1527 für den hier detektivisch agierenden Erzähler, der sich einen Reim auf die vorge‐ fundene Situation zu machen versucht. 1528 Dabei erfüllen sie aber, wie andere Objekte, eine nicht einfach zu entschlüsselnde Funktion in der insgesamt unklaren Erzählung. Als der Erzähler bei Maries Wohnung ankommt, versucht er schon auf der Straße, sich aus der vorgefundenen Situation einen Reim auf das Geschehen zu machen 1529 : „Je ne voyais que des détails, isolés, agrandis, sortis de leur contexte“ (VM44). Im Inneren des Appartements dienen ihm dann neben den Schuhen auch Objekte wie eine mehrfach erwähnte „bouteille de grappa“ (VM51-52) 1530 in Verbindung mit dem Bericht Maries (VM48) dazu, die Geschehnisse zu „reconstituer, reconstruire ou inventer“ (VM52). Sie sind damit nicht nur Handlungselemente oder Beiträge zu einem effet de réel, sondern Auslöser für eine ungewöhnliche Metalepse, die sich in diesem Kapitel vollzieht 4 Aspekte literarischer Musealität 303 <?page no="304"?> 1531 In einer späteren Passage des Romans gesteht sich der Erzähler die Unzuverlässigkeit seiner Einbildung ein (vgl. VM165), hofft aber auf eine aus der Imagination hervorge‐ hende „vérité nouvelle, qui s’inspirerait de ce qui avait été la vie et la transcenderait, sans se soucier de vraisemblance ou de véracité, et ne viserait qu’à la quintessence du réel […], la vérité idéale.“ (VM166). So legitimiert er nachträglich die vorher stattgefundenen Perspektivwechsel. Vgl. auch Toussaint u. Bayard: „L’auteur, le narrateur et le pur-sang“, S.-210. 1532 Mobiltelefone verändern die Lebenswirklichkeit der Protagonisten und auch das Er‐ zählen, wie Toussaint hervorhebt. In der Louvre-Szene macht es aus zwei parallelen Handlungen eine einzige; Toussaint spricht dem Gerät eine „qualité d’ubiquité“ zu, vgl. Toussaint u. Viart: „Entretien“, S. 244; ganz ähnlich auch in Toussaint u. Tong: „Érire, c’est fuir“, S. 179; vgl. auch Marinella Termite: „Les sentiments à froid chez Jean-Philippe Toussaint“, in: Matteo Majorano (Hg.): La giostra dei sentimenti, Macerata: Quodlibet 2015, S.-201-214. 1533 Vgl. Loignon: „Romanesque : le retour de flamme“, S.-32. und die aus dem Ich-Erzähler kurzzeitig eine auktoriale Instanz macht: Die wahrgenommenen Details, aus denen er die Geschichte ableitet, so der Erzähler, „m’obligaient à un plus grand effort d’imagination pour recréer mentalement les événements“, VM167). So lösen sie keine mémoire involontaire aus, sondern eher eine imagination involontaire (eine Funktion, die auch die Dinge im Museum besitzen). Die Gesamtschau des Bildes, das der Erzähler sich erschließt, erinnert an ein „mosaïque incomplète et lézardée, pleine de trous, d’incohérences et de contradictions“ (vgl. VM74-75) - eine weitere, nicht ganz entschlüsselbare Konstellation. Aus den hier vorgefundenenen Dingen ergibt sich also keine ‚geschlossene‘ Erzählung „en enfilade“ (vgl. Kap. II.2.5.). Vielmehr verweisen fragmentierte Erzählung und fragmentiertes système des objets in der Wohnung Maries auf das Ende der ‚geschlossenen‘ Sammlung oder des Privatmuseums (vgl. Kap. III.5.3). Sie repräsentieren nur einen Nicht-Weltbezug, eine unzugäng‐ liche Realität, die mit Phantasie aufgefüllt wird - nicht durch den Lesenden, sondern schon durch den Erzähler. 1531 Schließlich greifen die Dinge durch die ihnen eigenen Funktionen in das Erzählen ein. Dazu gehören insbesondere die bereits erwähnten, vielfach prä‐ senten (Medien-)Objekte, die sich (teils titelgebend) durch das gesamte Werk ziehen: ob Kamera (in L’Appareil-photo und La Réticence), Fernseher und Monitor (in La Télévision und M.M.M.M.), Faxgerät (in M.M.M.M.), USB-Stick und Laptop (La Clé USB) oder Mobiltelefon (in M.M.M.M.). 1532 Sie beeinflussen Blick, Raum und Relationen der Figuren, wie in einer Hotel-Liebesszene, während der sich der Fernsehbildschirm als eine Art ‚narrativer Nebenbuhler‘ einschaltet und das Paar mit der Nachricht „You have a fax“ (FA30) stört. 1533 Objekte als handlungsauslösende (Stör-)Elemente, als autonome Objekte, als Reflexionsobjekte, als Informationsträger: Die Dinge haben hier herausgeho‐ 304 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="305"?> 1534 In La Vérité sur Marie findet sich das Wort seltener (etwa VM201), was sich dadurch erklären könnte, dass hier fast durchgängig Marie im Zentrum steht: ‚Leere‘ scheint aber ein mit Erzähler verbundenes Attribut. 1535 Vgl. Del Lungo: La Fenêtre. 1536 Nicht selten werden Objekten mehrere dieser Attribute zugeschrieben: Fernseher, die spiegeln, Flugzeugfenster, die Fernsehern ähneln, usw. 1537 Baudrillard: Le système des objets, S.-57. 1538 Vgl. ebd., S. 58: „[L]e verre matérialise au plus haut point l’ambiguïté fondamentale de l’‚ambiance‘ : celle d’être à la fois proximité et distance, intimité et refus d’intimité, communication et non-communication“. 1539 Hamon: Expositions, S.-40. 1540 Ebd., S.-41. Vgl. dazu Kap. II.3.1.1.2.2. 1541 Baudrillard: Le système des objets, S.-58. bene Positionen, sind nicht neutral und stehen nicht selten in Konkurrenz zum Erzählen. 4.2.2 „Le degré zéro de la matière“: Materialität und Medialität Auffällig bei Toussaint ist neben einer prägnanten Thematisierung einzelner Objekte auch die Rolle von Raumarchitektur und ihrer Materialität. Räume tragen zunächst zum Eindruck bei, die erzählte Welt sei vor allem durch ihre Leere bestimmt. Das Attribut „désert“ betrifft alle erzählten Räume, ob Paris, Japan, China oder - seltener - die Insel Elba (vgl. u. a. FA14, FA37, FA100, FA103, FA105, FA132, auch F61, F78, F128, F129, F130, F144, und N14, N31, N103, N122, N128, N137). 1534 Die Handlungsorte - ganz besonders die zahlreichen asiatischen Hotels - sind auffällig geprägt von Glas(-scheiben oder -fenstern) 1535 , Monitoren, Spiegeln und Kombinationen aus diesen Elementen. 1536 Glas als das vermeintlich Durchlässige, dabei aber Trennende zwischen Ich und Welt erzeugt als „degré zéro de la matière“ 1537 ambivalente Räume. 1538 Ein wenig wie schon im ‚transparenten‘ „système architectural“ 1539 Zolas besitzt die Objekteigenschaft der „transitivité“ raumgestaltende Wirkung, „qui définit [les] objets comme ‚clapets‘ selon qu’ils laissent plus ou moins passer la lumière[,] les regards[,] les corps“ 1540 . Verbunden wird dies aber auch mit einer Ausstellungskritik an der ‚Welt als Museum‘, wie sie bei Baudrillard anklingt: „Emballage, fenêtre, ou paroi, le verre fonde une transparence sans transition : on voit, mais on ne peut toucher. La communication est universelle et abstraite. Une vitrine, c’est féerie et frustration […]“ 1541 . Der Roman Fuir beginnt - im wahrsten Sinne des Wortes: ‚eröffnet‘ - mit dem Betreten der Stadt durch „portes en verre coulissantes“ (F12), und in Faire l’amour fällt die mehrfache Wiederholung der „transparence“ der mit Kristallleuchtern (FA14) und Glasaufzügen („dans l’étroite cabine de verre 4 Aspekte literarischer Musealität 305 <?page no="306"?> 1542 Vgl. Del Lungo: La Fenêtre, S.-20; vgl. Kap. II.3.1.2.3. 1543 Alice Richir: „Capter l’image: l’expérience du temps dans L’Appareil-photo et Faire l’A‐ mour“, in: Stéphane Chaudier (Hg.): Les Vérités de Jean-Philippe Toussaint, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne 2016, S.-177-188, hier: S.-182. 1544 Vgl. Raymond Montpetit: „Médiation“, in: André Desvallées u. François Mairesse (Hg.): Dictionnaire encyclopédique de muséologie, Paris: Armand Colin 2011, S. 215-233, hier: S. 216: „c’est en effet en passant par la médiation des œuvres […] qu’une subjectivité en arrive à développer une conscience de soi“. 1545 Das Dekor des japanischen Hotels evoziert eine Stimmung, die Julia Encke etwa an den Film Lost in Translation erinnert, vgl. dies.: „Das Land der Dinge“, in: FAS, Nr. 7, 18.02.2007, S. 28, online unter: https: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezensio nen/ belletristik/ das-land-der-dinge-1412917.html. transparente“, FA87) ausgestatteten Hotellobby auf. Dabei steht jeweils nicht Durchlässigkeit, sondern Isolation im Vordergrund. Erst durch zerbrochenes Glas wird die andere Seite sinnlich (und nicht nur visuell) erfahrbar, finden Empfindung und Blick (main und regard) zusammen, wie in folgender Passage im chinesischen Nachtzug: Au moment de repasser devant la porte de communication brisée […], je ressentis un agréable vent de fraîcheur me caresser le visage, la vitre cassée faisait courant d’air, qui avait été mal bouchée par un plastique virevoltant retenu par un adhésif effiloché, et un souffle d’air tiède pénétrait dans le wagon. (F37) In seinem überheizten Hotelzimmer in Faire l’amour gelingt dem Erzähler nur „une mince ouverture de deux ou trois centimètres, j’essayai bien de forcer le bras articulé de sécurité […] en vain“ (FA106). Gänzlich von der Welt abgetrennt ist er schließlich im Hotelschwimmbad in Faire l’amour, hinter einem Panoramafenster („Il n’y avait pas un souffle d’air autour de moi“, FA38), das zum écran wird, der das nächtliche Tokyo als Bild zeigt. Die dahinterliegende Stadt erscheint in einer Zentralperspektive zusammengefasst („Je regardais l’immense étendue de la ville derrière la baie vitrée, et j’avais le sentiment que c’était la terre elle-même que j’avais sous les yeux “, FA40), das Fenster funktioniert wie eine Linse (die Welt liegt „dans sa courbe convexe“). Wie im Pariser Panorama des 19.-Jahrhunderts wird die Stadt ästhetisiert und scheinbar verfügbar macht (vgl. Kap. II.3.2.3.). Hier zeigt sich die ‚medialisierende‘ Funktion derartiger „hypersignes“ 1542 innerhalb des Texts - Fenster stehen wie Spiegel (s. o.) als „espace[s] de médiation“ 1543 zwischen Erzähler und Welt, wobei der Begriff der médiation hier durchaus im musealen Sinn 1544 zu verstehen ist: Glasfronten und andere displays erzeugen ein exhibition setting (vgl. Kap. II.2.2.) und sind zugleich für einen effet de réel verantwortlich. 1545 306 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="307"?> 1546 Vgl. Dangy: „La mélancolie de l’éclairagiste“, S. 64: „Mouvante, [la lumière] installe personnages et narrateur dans un décalage perpétuel et dans une temporalité instable. Diffuse, elle construit un univers déréalisé de formes creuses et spectrales. Mais, cosmique, il arrive qu’elle procure fugitivement une consistance au réel es des repères au sujet, en le délivrant de ce ‚vertige métaphysique douceâtre’ [FA52, J.R.] qui est le fond de sa mélancolie.“ 1547 Vgl. ebd., S. 61; Dangy beschreibt die Lichtquellen raumsemantisch als „les yeux inexpressifs des choses“. 4.2.3 Das materialisierte Immaterielle: Liebe, Licht und Literatur Die Dinge und die menschgemachte, materielle Welt tragen also neben der Situierung des Subjekts zu dessen Isolierung, aber auch Exponierung bei. Dieser vorwiegend negativen Konnotation von Materialität steht eine immaterielle Dimension gegenüber, die wiederum mit Attributen der Materialität ‚sichtbar‘ und ‚greifbar‘ gemacht wird, wenn z. B. in Fuir das romantische Motiv des „brouillard rose“ anklingt (F85) - eigentlich handelt es sich wohl um Großstadt‐ smog -, wenn sich Licht und Dunkelheit wie Schleier über die Figuren legen („Partout, en Chine, la nuit, sur les visages et les épaules, tombent des nappes de lumière verte, souvent crues et violentes, parfois douces et enveloppantes“, F94-95; „Nous nous mouvions dans la substance même de la nuit, dans sa matière, dans sa couleur […]“, F105), oder wenn am Ende von Nue, nach dem Brand einer Schokoladenfabrik, der Kakaogeruch in der Luft sich mit dem metallischen Geruch einer nahegelegenen Fabrik mischt und vom Regen gebunden wird: „L’odeur semblait s’incarner à présent sous nos yeux, nous la voyions se matérialisier avec la pluie“ (N142). Als erfahrbare, die Figuren umschließende Materie nehmen Licht und Luft Einfluss auf das Weltverhältnis der Protagonisten. 1546 Daneben besitzt Licht auch eine Funktion für die (Her-)Ausstellung der Dinge: In Toussaints Welt als ‚dunklem Museum‘ gibt es eine Vielzahl leuch‐ tender Objekte - Projektoren, Monitore, Scheinwerfer oder Kerzen -, die zu einer ‚Belebung‘ der erzählten Welt beitragen. 1547 Andererseits immobilisieren, rahmen und exponieren sie Lebendiges, etwa die Silhouette Li Qis: „[ J]e ne voyais que son profil dans la lumière verte d’une lampe de billard, la peau claire de son cou, où brillait l’éclat rond d’une minuscule pierre de jade“ (F95-96). Das grüne Licht und der Edelstein erzeugen ein so schillerndes wie ‚inszeniertes‘ Bild, der Raum wird zum Ausstellungsraum und Li Qi zum beleuchteten, kadrierten und auratisierten Objekt, dessen ‚Nähe‘ und ‚Banalität‘ dadurch 4 Aspekte literarischer Musealität 307 <?page no="308"?> 1548 Vgl. Kimmich: Lebendige Dinge, S. 65: „‚Nähe‘ und ‚Banalität‘ sind bei Benjamin die Kennzeichen derjenigen Gegenstände, die keine Aura umgibt“; vgl. dazu Toussaints Kritik der surexposition, Kap. III.3.2.3. 1549 „Une petite lampe était allumée sur le bureau et nous étions comme isolés dans l’ilôt de lumière verte de l’abat-jour“ (AP109), „Une lune d’aube très blanche s’inscrivat dans le ciel au-dessus des lignes régulières que traçaient les fils des poteaux télégraphiques“ (R34); vgl. auch Fauvel: Scènes d’intérieur, S.-16. 1550 Librairie Mollat: „Jean-Philippe Toussaint-: Nue“, Interviewfilm, 0: 03: 30-0: 03: 55, online unter: https: / / www.youtube.com/ watch? time_continue=132&v=M2yKKEH4lT0. 1551 Zit. nach Dupuy: „Écrire avec la lumière“, S.-172. 1552 Vgl. Toussaint u. Tong: „Écrire, c’est fuir“, S. 183: „l’énergie romanesque, ce quelque chose d’invisible, de brûlant et quasiment électrique, qui surgit parfois des lignes immobiles d’un livre“. aufgehoben scheinen 1548 - viele weitere Beispiele dieser Art ließen sich (auch schon im frühen Werk 1549 ) finden. Selbst Emotionen werden mit materiellen Attributen ‚greifbar‘ gemacht - eine erklärte Ambition Toussaints: Ces quatre livres racontent cette rupture amoureuse, dans laquelle l’amour est toujours là, et finalement apparaît. Et donc le défi pour moi était de faire apparaître cet amour. De presque l’incarner, de le matérialiser. 1550 Die Liebe ist in den Romanen ein nur begrenztes Gut, das sich erschöpfen kann. Der Liebesstreit der beiden Hauptfiguren zehrt an deren „dernières réserves amoureuses“ (FA22), und als der Erzähler von seiner chinesischen Verehrerin einen Parfümflacon geschenkt bekommt, empfindet er „ce plaisir si particulier de savoir qu’on existe dans l’esprit de quelqu’un, qu’on s’y meut et y mène une existence insoupçonnée“ (F76) - eine Bemerkung, die sich natürlich auch als Metakommentar zur Literatur verstehen lässt: Was gedacht wird, existiert. Gleiches gilt für die oben zitierten „nappes de lumière“, die ebenfalls auf das Schreiben selbst zurückweisen. Toussaint erklärt: Mon écriture est visuelle, en même temps elle est essentiellement littéraire, car c’est avec les mots que je travaille, toutes mes images sont constituées de mots. [ J]e ne dispose que des mots pour faire la lumière - substantifs, verbes, adjectifs, je fais de la lumière avec des mots. 1551 Die Literatur ausstellende Qualität des toussaintschen Lichteinsatzes demons‐ triert schon innerhalb der Erzählung, nämlich vermittelt durch die Rede des Er‐ zählers, die Möglichkeit, ein romanesque auszugestalten. 1552 Xanthos beschreibt dies in Abgrenzung vom realistischen Erzählens Balzac so: Bei diesem seien 308 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="309"?> 1553 Xanthos: „La poétique narrative et descriptive de Jean-Philippe Toussaint“, S.-83. 1554 Davallon nimmt an, dass eine Ausstellung „ne se montrerait pas, elle montrerait. [Elle] serait au service de ce qu’elle montre. Non seulement elle montrerait des ‚choses‘, mais toujours indiquerait comment les regarder.“ (Davallon: L’exposition à l’œuvre, S. 7). Ähnliche Überlegungen stellt Gaillard auch zum Einsatz von Farben im Erzählen Toussaints an: „Les notations de couleurs chez Jean-Philippe Toussaint me semblent participer d’un mode de présentation du monde […] comme ensemble de signes qui sont ‚posés’ là, des objets, qui demandent à être déchiffrés ou maniés.“ Vgl. Gaillard: „Jean-Philippe Toussaint écrivain-coloriste infinitésimal ? “, S. 72. Vgl. auch Kap. II.3.1.1.2.2. 1555 Die Opposition zwischen diesen beiden materiellen Zuständen findet sich an vielen Stellen in seinem Werk, so etwa in Monsieur, wo es auch in Form zweier verschie‐ dener musealer Formen gegenübergestellt wird: dem Aquarium (M10) vs. der Gesteins‐ sammlung der Figur Kaltz, die mathematische Beschreibungen zur Beschaffenheit der Gesteine abgibt (M36, M65); vgl. Marinella Termite: Le sentiment végétal : Feuillages d’extrême contemporain, Torino: Quodlibet 2014, 187-206. Vgl. zu côté rigide und fluide auch Kap. III.4.6. réel et personnage […] de la même matière, ils ne sont pas distincts l’un de l’autre, séparés, hétérogènes. Ils sont un seul et même lieu de sens. Le réel est déjà de l’ordre humain, déjà de l’ordre du sens. […] Le réel de Toussaint, en révanche, n’est pas humain […]. Il est d’abord une couleur, une teinte, ou mieux encore : une qualité de lumière[.] 1553 Wie ein Exponat in einer musealen Ausstellung besitzen die Dinge und die ‚immaterielle Materialität‘ der Literatur sowohl einen ästhetischen Eigenwert, als auch eine gewissermaßen deiktische, über sich hinausweisende Funktion: Sie zeigen nicht nur sich, sondern auch etwas. 1554 Die Ausgestaltung der (im-)materiellen Welt, die Sichtbarmachung von eigentlich Abstraktem, lässt sich so auch als Meta-Kommentar zum Literatur‐ ausstellen verstehen: Es geht um das visible und das durch main und regard erfahrbare invisible. Dafür spricht auch, dass die grundsätzliche Unterscheidung von materiellem côté rigide (etwa Glas und Spiegel, markant herausgestellte Gegenstände) und immateriellem côté fluide (etwa Wasser, Luft und Licht) auch die Literatur Toussaints evoziert, die sich ihrerseits zwischen Formstrenge, mathematisch genauer Anordnung und dem Ideal eines ‚fließenden‘ Textes situiert. 1555 4.3 Literatur als Museum, ‚Welt als Museum‘: Literarische Räume, erschriebene Welten Ähnlich wie die Dingdimension zeigt sich auch der literarische Raum als Bestandteil eines dezidiert ‚geschriebenen‘ réel. „Il est très important pour moi 4 Aspekte literarischer Musealität 309 <?page no="310"?> 1556 Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-137. 1557 Vgl. auch Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 43-54 (Kapitel „Le bureau symbolique“ und „La carte géographique de l’écriture“). 1558 Vgl. La Main et le Regard: „Je peux fermer les yeux en les gardant ouverts, c’est peut-être ça écrire“ (MR134). 1559 An der Place Saint-Sulpice spielt sich auch eine Schlüsselpassage von Nue ab (vgl. N88-89) ab, vgl. Kap. III.4.5. de créer un véritable espace littéraire et mental, à la fois réel et imaginaire, une géographie romanesque, une topographie“ 1556 , so Toussaint. Wie er dabei vorgeht, sei im Folgenden anhand seiner Stadtbilder (Kap. III.4.3.1.) dargestellt. Ein Überblick über deren topographische Organisation zeigt eine Nähe zum musealen Dispositiv (III.4.3.2.), wobei besonders der Aspekt der ‚Zentralität‘ hier auffällt (vgl. Kap. III.4.3.3. u. Kap. III.4.3.4.). 4.3.1 „l’or de la langue littéraire“: Erschriebene Städte Literatur ist für Toussaint in ihrer Produktion und Rezeption an Orte ge‐ bunden. 1557 Am Ende von Football schildert der Erzähler Toussaint sein Arbeits‐ zimmer im korsischen Barcaggio, einen ehemaligen Klassenraum: Je lève les yeux de mon ordinateur, et déjà, doucement, dans la pièce vide qui s’étend devant moi, je vois la place Saint-Sulpice apparaître lentement, qui se lève dans mon esprit comme un décor de théâtre venu du passé qui se met à investir la pièce de sa présence muette. (FB109) Wie an vielen Stellen im Werk Toussaints (etwa der Museums-Fotografie Quelques amis), stehen auch hier mehrere Medien(-räume) nebeneinander: Computer, Theater - aber auch der (reale und imaginierte, leere und bevölkerte, provinzielle und zentrale) Raum selbst. Wie Malerei (oder Fußball) ist Literatur „cosa mentale“ (vgl. FB11, MR24), ein Träumen mit offenen Augen. 1558 Sie steht damit in Opposition zu einer Methode der genauen Beobachtung oder unmittelbaren Wirklichkeitswiedergabe, eines ‚dokumentarischen‘ Schreibens, so dass der Verweis auf die Place Saint-Sulpice in oben genanntem Zitat wohl kein Zufall ist: Hier hat Perec seine Tentative d’épuisement d’un lieu parisien unternommen - einen Versuch, den Stadtraum in die Schrift zu überführen. 1559 Bei Toussaints dagegen entsteht die Stadt aus der Schrift. Dass die Szene als ‚Transitzone‘ am Ende des Buchs steht, und somit eine Verbindung mit dem Lesenden herstellt, der an dieser Stelle den Blick nicht vom Computer, sondern vom Buch hebt, nicht in die Fiktion ab-, sondern wieder in die Realität eintaucht, ist eine weitere Pointe der Passage, die somit nicht 310 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="311"?> 1560 Vgl. z. B. Toussaints Entwürfe des Friedhofs in Nue, die auf seiner Homepage veröffent‐ licht sind: http: / / www.jptoussaint.com/ nue.html. 1561 Robbe-Grillet: „Du réalisme à la réalité“, S.-177. 1562 Zu Recht verweist aber Schneider darauf, dass Toussaint anders als seine Vorgänger des Nouveau Roman die Instanz des Autors ins Zentrum rückt: Seine Literatur steht auch in Verbindung mit eigenen Lebensstationen und Erfahrungen. Vgl. Schneider: „Basta avec moi maintenant“, S. 28-29. Vgl. auch Norbert Czarny: „Entretien avec Jean-Philippe Toussaint“, in: En attendant Nadeau, 7.10.2020, online unter: https: / / www.en-attendant -nadeau.fr/ 2020/ 10/ 07/ entretien-toussaint-emotions/ ; Toussaint sagt hier: „J’ai toujours considéré mon travail comme une recherche. […] C’est cela la difficulté : recréer un monde qui m’est propre“. 1563 Vgl. Toussaint: „Comment j’ai construit certains de mes hôtels“; vgl. Albright: „Jean-Phi‐ lippe Toussaint: écrivain de la photographie“, S.-68. 1564 Vgl. Toussaint: „Villes conscientes, villes inconscientes”: „Mais Paris, dans mon premier livre, n’est pas une ville réelle, elle n’a pas d’existence matérielle autonome, elle n’a pratiquement pas de réalité physique“. nur von der Grenze zwischen Text- und Realraum, zwischen Lesen und Sehen handelt, sondern diese auch empfindbar macht (vgl. Kap. II.3.1.). Die Schauplätze Toussaints sind also nicht nur exakt durchdacht, wie aus den Manuskripten und Entwürfen auf seiner Internetseite ersichtlich wird 1560 , sie sind auch erdacht: Nicht in jedem Fall verweisen sie auf real existierende Orte, sondern sind konstruiert, ganz im Sinne Robbe-Grillets („Je ne transcris pas, je construis“ 1561 ). 1562 In seinem Aufsatz Comment j’ai construit certains de mes hôtels beschreibt Toussaint, wie er literarische Gebäude aus Versatzstücken realer Erinnerungen zu „un bâtiment hybride, fantasque et littéraire, une construction immatérielle d’adjectifs et de pierre, de métal et de mots, de marbre, de cristal et de larmes“ (UP54) zusammenfügt. 1563 Dabei werden im Laufe des Werks die Stadtbeschreibungen immer konkreter, weshalb auch in dieser Hinsicht eine Zäsur zwischen Früh- und Spätwerk zu sehen ist: In La Salle de Bain scheinen die Städte Paris und Venedig v. a. die Funktion eines ‚Anderen‘, eines ‚Außen‘ zu besitzen, das gegen die heimeligen Rückzugsorte des Erzählers (Badewanne, Hotel- und Krankenhauszimmer) steht. 1564 Auch Cannes in Monsieur oder Milano und London in L’Appareil-photo bleiben noch vage; Toussaint subsummiert diese Handlungsorte unter der Bezeichnung „villes inconscientes“. Dem gegenüber steht ein ‚mentaler‘ Zugang zu den Städten in den späteren Büchern ab La Télévision, welcher ihm permet d’atteindre la ville par l’imagination, le souvenir ou la réminiscence. L’écrivain peut alors, il doit, en convoquant le passé, recréer la ville de toutes pièces, la rebâtir en mots dans les pages de son livre. C’est cette alchimie particulière qui est à l’œuvre dans l’écriture : transformer la pierre, le métal et le verre des villes réelles en cet or immatériel et abstrait qu’est l’or de la langue littéraire. 1565 4 Aspekte literarischer Musealität 311 <?page no="312"?> 1565 Ebd. 1566 Vgl. Lidwine Portes: „Voir à distance ou regarder la ville les yeux fermés. Expériences de Berlin et création littéraire dans La Télévision de Jean-Philippe Toussaint“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S.-141-151, hier: S.-142. 1567 Diesen Auftakt beschreibt Toussaint als Keimzelle des ganzen Romans, vgl. Toussaint: „Villes conscientes, villes inconscientes”; vgl. auch Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘“, S.-188. 1568 Noch in Made in China findet sich eine Referenz darauf: „Je m’arrêtais devant la baie vitrée et regardais la ville qui s’étendait devant moi dans la nuit. Je regardais fixement ce passage urbain illuminé, et je le voyais comme à travers un voile de temps, que j’aurais pu soulever pour retrouver, derrière les néons qui chatoyaient aux devantures des hotels, des images plus profondément enfouies dans ma mémoire, moins colorées, de ce même quartier quinze ans plus tôt.“ (MC46), Vgl. Schneider: „‚Quand je suis le narrateur de mes livres‘“, S. 188, die eine Konstante in der Wahrnehmung der Stadt zwischen den Romanen aufzeigt. Ein solcher Zugang - wie er wohl auch in der oben zitierten Schreibszene heraufbeschworen wird - bringe eine „ville consciente“ hervor. Anders, als der Begriff ‚conscient‘ vermuten lässt, handelt es sich um einen unbewussten Akt der Kreation imaginärer Räume, der auch in der Erzählung inszeniert wird: In La Télévision wird die ‚Außenwelt‘ der Stadt nach und nach errichtet und die literarische Imagination auf der Konstruktionsebene des Texts nachvollzogen: Der erste Teil des Romans spielt in der Wohnung des Erzählers, es fällt zwar der Name „Berlin“, doch die Handlung könnte auch anderswo stattfinden 1566 ; Deutschland dringt nur durch den Fernseher in die Wahrnehmung des Erzählers vor (in Form einer zufällig eingeschalteten Dokumentation zum Nationalsozia‐ lismus), bevor dieser die Stadt betritt, sie schließlich sogar in einem Leichtflug‐ zeug ‚von oben‘ sieht, und sie sich als lesbare Stadt erschließt (vgl. TV180-182, sowie Kap. II.3.4.1.). Ähnlich zeigt auch der Auftakt von Faire l’amour eine sich ‚öffnende‘ Topo‐ graphie, ein allmähliches Ins-Licht-der-Erzählung-Geraten der Stadt 1567 , die hier vom Hotelzimmer aus zunächst nur erahnt wird: [P]ar la grande baie vitrée de la chambre d’hôtel, on apercevait de loin le quartier administratif de Shinjuku illuminé dans la nuit, avec, tout près de nous, presque méconnaissable […], le flanc gauche du monumental Hôtel de Ville de Kenzo Tange. (FA16) 1568 Als der Erzähler bald darauf das Dachschwimmbad des Hotels aufsucht, weitet sich die Perspektive („Tokyo apparut d’un coup devant moi dans la nuit, comme un décor de théâtre factice d’ombres et de points lumineux tremblotants derrière les baies vitrées de la piscine“, FA38), bevor er im Folgenden die Straßen betritt 312 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="313"?> 1569 Vgl. Hamon: Expositions, S.-29, vgl. Kap. II.3.4.2. 1570 „A mesure qu’on approchait de la gare, la foule se faisait plus dense […]. De nombreux clochards avaient investi les couloirs du métro, qui s’étaient installés là le long des murs, sur des couvertures ou dans des simples cartons, dans des tentes de fortune, sur des vieux matelas auréolés de taches de graisse ou de traînées de pisse […], une infecte odeur de couloir de métro et d’animal mouillé qui faisait remonter à la narine d’inattendues réminiscences de Paris“ (FA108). Gleich auf der nächsten Seite, nach Ausstieg aus der U-Bahn, geht der Blick dann wieder in die Höhe: „Je montai les escaliers mécaniques et me trouvai de nouveau perdu dans une gare immense, […] avec plusieurs étages de galeries marchandes reliées par des ascenseurs de verre.“ (FA109). 1571 Eine solche ‚Welt als Museum‘ mit ‚Vorder-‘ und ‚Rückseite‘ wird anhand des Bahnhofs und seiner Geschäfte explizit aufgerufen („des dizaines de restaurants avec leurs cartes du jour et leurs plats en vitrine, représentés par des figurines sculptées en cire multicolores“, FA109). 1572 Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 15.; Vgl. Luscans: La représentation des objets, S. 211; vgl. Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 3: „Toussaint élabore […] une topographie romanesque marquée par une forte tension entre une référentialité de façade et sa discrète subversion, obtenue notamment par la corruption de référents amalgamés ou intriqués, ce qui lui permet de renouer avec une conception de la mimèsis comme transfiguration créatrice.“ Dieses Verfahren wendet Toussaint auch für die Insel und sich die Eindrücke vervielfachen. Im ganz wörtlichen Sinn wird hier das Hotel zum objet herméneutique 1569 , insofern es den Ausgangspunkt des Erzählers bildet, von wo aus dieser sich die Umwelt erschließt. Ausgehend von dieser ‚Keimzelle‘ erstrecken sich die Räume, wie im realistischen Roman, auf „le dessus et le dessous“ (vgl. Kap. II.3.2.3.): von den Wolkenkratzern bis unter die Erde, in die „couloirs humides“ (FA108) und das Gewimmel der Tokyoter Metro. 1570 Dies ist nur konsequent und passt zu Toussaint: Wie dieser sich für die Kulissen des Museums interessiert, so auch für die ‚Rückseite‘ der ‚Welt als Museum‘. 1571 In den Blick geraten in La Télévision und Faire l’amour Städte, die der Erzähler jeweils als Fremder betritt. Doch auch Paris, literaturgeschichtlich und für den Erzähler eigentlich die ‚lesbare‘ Stadt schlechthin, ist zwar mit wiedererkennbaren Orten versehen, doch wo die Erzählung darin zu situieren ist, wird nicht immer klar: A Paris, sept ans plus tôt, j’avais proposé à Marie d’aller boire un verre quelque part dans un endroit encore ouvert près de la Bastille, rue de Lappe, ou rue de la Roquette, ou rue Amelot, rue du Pas-de-la-Mule, je ne sais plus. (FA13) Ganz ähnlich wie in den vermeintlich autobiografischen Texten, die auf Epi‐ soden aus dem Leben des Autors rekurrieren, wird hier die Authentizität fixer Fakten in Frage gestellt. Die Topographie des Romans ist nicht mit einem wirk‐ lichen Stadtplan in Einklang zu bringen, sondern ein „univers contrefactuel“ 1572 . 4 Aspekte literarischer Musealität 313 <?page no="314"?> Elba an, für deren Beschreibung er einerseits auf Karten und Reiseführer zurückgreift, sie andererseits aber mit Details anreichert, die er aus Korsika kennt. Vgl. dazu Toussaint u. Rochon: „Nue est un titre qui pourrait s’appliquer à tous mes livres“, S.-183. 1573 Vgl. Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 16. 1574 Vgl. Andreas Gelz: „‚Comme une scène de théâtre vide‘? - le Japon et la Chine dans l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint (Made in China, 2017, La Clé USB, 2019)“, in: Jochen Mecke u. Anne-Sophie Donnarieix (Hg.): La délocalisation du roman. Esthétiques néo-exotiques et redéfinition des espaces contemporains. Berlin: Peter Lang 2020, S. 57-69. 1575 Toussaint: „Villes conscientes, villes inconscientes”. Die langsame Vergegenwärtigung der Stadttopographie in der Erinnerung des Erzählers situiert die Stadt - wie in oben zitierter Passage aus Football - als Teil seines mental space. Explizit formuliert wird dies am Ende von La Vérité sur Marie, als er versucht, sich an die Nacht zu erinnern, in der Jean-Christophe de G. einen Herzanfall erleidet und Marie ihn zur Hilfe ruft: J’aurais beau reconstruire cette nuit en images mentales qui auraient la précision du rêve, j’aurais beau l’ensevelir de mots qui auraient une puissance d’évocation diabolique, je savais que je n’atteindrais jamais ce qui avait été pendant quelques instants la vie même, mais il m’apparut alors que je pourrais peut-être atteindre une vérité nouvelle, qui […] ne viserait qu’à la quintessence du réel, sa moelle sensible, vivante et sensuelle, une vérité proche de l’invention, ou jumelle du mensonge, la vérité idéale. (VM165) 1573 Der erzählte Raum ist demnach eine weitere innerliterarische Manifestation der Arbeit des Erzählers als Schöpfer einer „vérité idéale“, und die Stadtlandschaften bilden die Kulissen seiner Erzählung 1574 , auf die auch schon in dieser Erzählung kein Verlass ist. Vielmehr resultieren sie aus Momenten des Aufscheinens, des Ins-Licht-Geratens und der visuellen Weitung, was ihnen - durch den damit verbundenen Erkenntnisprozess - auch musealen Charakter verleiht; dies gilt für die Place Saint-Sulpice so sehr wie für das Berlin der Nachwendezeit. Dieser Erkenntnisprozess, eine Art Emergenzerfahrung, soll sich anhand des erzählten Raums auch für die Leserschaft einstellen: L’écrivain, dans ses livres, ne construit que des villes chimériques, des villes bâties avec des signes abstraits - les lettres de l’alphabet -, où l’unité de base, le mot, est la maison, la phrase est la rue, le paragraphe le quartier, les verbes des potentialités de circulation, les adjectifs des accessoires décoratifs ou du mobilier urbain - des bancs, des lampadaires (point trop n’en faut, d’adjectifs) -, et où les pages qui se suivent et que le lecteur tourne sont la texture même de la ville, sa matière qui se déploie de chapitre en chapitre, à perte de vue, dans l’agencement des paragraphes. 1575 314 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="315"?> 1576 Vgl. in Bezug auf Berlin in La Télévision Portes: „Voir à distance ou regarder la ville les yeux fermés“, S.-142. 1577 Vgl. zum musealisierenden Potential von Fragmenten Kap. II.2.4. 1578 Vgl. zu derartigen Verfahren auch Schoots: „Passer en douce à la douane“, S.-90-91. 1579 Toussaint bemerkt in „Villes conscientes, villes inconscientes”: „Paris, c’est ma ville, on pourrait même dire que Paris est au cœur de tous mes livres, que les narrateurs de tous mes romans sont parisiens“; auf den Romanzyklus, der mit La Clé USB beginnt, lässt sich diese Aussage nicht mehr beziehen; hier bildet Brüssel das Zentrum. 1580 Vgl. Danielle Dumontet: „Berlin-Tokyo, l’écriture de la ville dans La Télévision et Faire l’amour de Jean-Philippe Toussaint“, in: Timo Obergöker (Hg.): Les Lieux de l’extrême contemporain. Orte des französischen Gegenwartsromans, München: Martin Meidenbauer 2011, S.-77-94. Hier ist also nicht ‚Transparenz‘ zwischen Text und realem Stadtraum (vgl. Kap. II.3.4.) das ästhetische Ideal. Vielmehr eröffnen Stadträume eine weitere Ebene innerliterarischer Repräsentation und Repräsentationsreflexion. 1576 Wie in dem angeführten Zitat anklingt, schließt dies den Topos von der ‚lesbaren Stadt‘ nicht aus. Gerade in der asiatischen Metropole jedoch ist diese nur in Fragmenten 1577 möglich; für den Erzähler (wie auch Romanleser) stechen darum die wenigen lesbaren Zeichen („EXIT, EXIT, EXIT“, FA37, der „sac rose et gris SAKURAYA“, F103, oder die „lueurs bleues électriques de l’enseigne LAS VEGAS“, ebd.) hervor. Durch diese typografisch im Text ausgestellte Visualität zeigen sie die materielle Dimension des Texts und treten somit auch in Konkurrenz zum erdachten, erzählten Stadtraum. 1578 4.3.2 Literarische Topographie Nicht nur die Räume, Gebäude und Städte sind ‚konstruiert‘, die gesamte literarische Topographie ist es. Auch sie ‚öffnet‘ sich im Lauf des Werks, weshalb ihre Organisation eine weitere Werkzäsur markiert. Der Radius der Hauptfiguren in den frühen Werken erstreckt sich jeweils über einen oder mehrere Orte des ‚alten Europa‘: Paris und Venedig La Salle de Bain, Paris und Cannes in Monsieur, die fiktive Mittelmeerinsel Sasuelo in La Réticence, Milano und Newhaven in L’Appareil-photo, Berlin und Paris in La Télévision. Fast über das gesamte Werk fungiert Paris als Mittel- und Fixpunkt der erzählten Welt 1579 , selbst wenn die Protagonisten davon wegstreben. 1580 Beson‐ ders in La Réticence und La Télévision spielt die Stadt kaum eine Rolle, sie taucht lediglich in Rückblenden auf - in La Télévision bezeichnenderweise durch Museumsanspielungen (vgl. Kap. III.5.1.). Auch im Ausland bleiben die Figuren stets der pariserischen, französischen oder wenigstens europäischen Dimension verhaftet; sie bewegen sich mit Vorliebe im Umfeld diplomatischer Vertretungen 4 Aspekte literarischer Musealität 315 <?page no="316"?> 1581 Ähnlich ist auch in Football und Autoportrait (à l’étranger) die europäische Dimension im Ausland stets präsent: Vgl. etwa den bezeichnenden Satz „Je n’ai pas tellement eu l’occasion d’améliorer mon allemand à Kyoto“ (AE67). 1582 Verbunden ist dies in M.M.M.M. mit der Figur Maries, die in allen drei Weltregionen aktiv ist: „Marie, femme d’affaires, Marie, chef d’entreprise, qui signait des contrats et faisait des transactions immobilières à Paris et en Chine“ (N37) einerseits, andererseits Marie mit ihrer disposition océanique (vgl. Kap. III.4.1.2.2.), die „toujours, trouvait intu‐ itivement l’accord spontané avec les éléments naturels, avec la mer, dans laquelle elle se fondait avec délice“ (N37-38). Diese nord-südliche und west-östliche Organisation grundiert auch die (vorgeblich) autobiografischen Bände Autoportrait (à l’étranger), Football und Made in China. Auch der neue cycle romanesque, begonnen mit La Clé USB und fortgesetzt mit Les Emotions, bewegt sich zwischen europäischer Zentralität, chinesischer Hypermoderne und Mittelmeerraum. Vgl. zur literarisch-biografischen Topographie des Autors auch Jean-Philippe Toussaint: „You Are Leaving the American Sector“, translated by John Lambert, in: Ursula Keller u. Ilma Rakusa (Hg.). Writing Europe: What is European about the Literatures of Europe? , Budapest: Central European University Press 2003, S. 317-323, sowie Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 52-54 (Kap. „La carte géographique de l’écriture“). 1583 Aurélien Pigeat: „Fuir, le furieux refus de Jean-Philippe Toussaint ? “, in: Marc Dambre u. Richard J. Golsan: L’exception et la France contemporaine : Histoire, imaginaire et littérature, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2010, S. 255-263, online unter: http: / / books .openedition.org/ psn/ 356; Abschnitt 5, Fußnote 4; vgl. auch Toussaint selbst: „En Chine, la chaleur est lourde, moite, irrespirable, on est dans le bruit, la poussière, l’agitation et la tourmente, mais, dès qu’on passe à l’île d’Elbe, c’est soudain le calme et le silence, le ciel et la mer, la Mediterranée intemporelle.“; Toussaint u. Tong: „Érire, c’est fuir“, S.-178. Vgl. auch Dumontet: „Berlin-Tokyo“. 1584 „La Chine représente le monde qui est en train de se transformer, le monde qui bouge, qui change, qui évolue. La Chine, pour moi, c’est le contemporain“, Toussaint u. Tong: „Érire, c’est fuir“, S. 177. Vgl. zur ‚asiatischen Dimension‘ im Werk Toussaints Piret: und Mitarbeitenden der Alliance Française (vgl. FA91) sowie französischer ‚Expats‘ wie dem Auslandsdozenten Bernard, der auch in Japan Médoc trinkt und Austern verzehrt (vgl. FA115-116). 1581 Ab den M.M.M.M.-Büchern sind dann in jedem Buch drei Räume zu unter‐ scheiden: eine europäische Metropole, ein oder mehrere Schauplätze in Japan oder China, der Mittelmeerraum. 1582 In klarer Opposition stehen dabei der Mit‐ telmeer- und der asiatische Raum, wie Pigeat anhand von Fuir herausarbeitet: La Chine et l’île d’Elbe se trouvent […] confrontées quasiment terme à terme. Le point d’arrivée de Fuir devient l’exact envers du point de départ : à la ville s’oppose la campagne, à la foule la solitude, au chinois incompréhensible l’italien inscrit dans le texte et traduit, à la jeunesse des Chinois rencontrés au bowling ou dans le bar à Pékin la vieillesse de l’assistance lors de l’enterrement de Maurizio. 1583 Insbesondere China ist ein bewegter Ort des Wandels 1584 , wohingegen Elba als „Zeit-Speicher“ 1585 fungiert, wo der Lauf der Dinge langsamer ist. 1586 Die 316 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="317"?> „Portrait de l’artiste en Oriental“, sowie Norbert Czarny: L’étincelle initiale, 15.10.2017, online unter: https: / / www.en-attendant-nadeau.fr/ 2017/ 10/ 15/ etincelle-toussaint. 1585 Vgl. De Vriese: „La trace de Marie“, Absch. 22. 1586 Vgl. Luciano Brito: „L’antisocial : pourquoi j’ai enlevé l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint de ma thèse“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S. 263-270, hier: S. 268: „La réécriture de la Méditerranée chez Toussaint est une force qui apaise l’accélération et le contemporain des pages précédentes“. Vgl. auch Kap. III.5.3. 1587 Vgl. besonders die lange und komplizierte Reise des Erzählers zum Begräbnis von Maries Vater von Peking nach Elba in Fuir (F119-124), aber auch die Zugfahrt zwischen Shanghai und Peking (F22-53). 1588 Zu unterstreichen ist allerdings, dass hier kein generalisierendes, ‚klischee‘-haftes Chinabild eingesetzt wird, sondern die Verantwortung für die Wahl innerliterarisch an den zwielichtigen Reiseorganisator delegiert wird („évidemment, Zhang Xiangzhi avait pu obtenir un bon prix auprès du propriétaire“, F61). 1589 Vgl. Schulte Nordhold: „Immobilité mouvante ou mouvement immobile? La trilogie de Toussaint“, S.-69. natürlich begrenzte Insel steht auch gegen die ausufernde Grenzenlosigkeit der asiatischen Metropolen, besonders Peking (vgl. F86), eine Stadt, die eher ein Zustand als ein klar umrissener Raum ist: „Nous étions entrés dans Pékin, mais peut-être n’avions-nous jamais quitté Pékin“ (F106). Diese Städte, Regionen und Länder weisen je eigene Binnen-Oppositions‐ strukturen auf - mit Lotman ließen sie sich als Semiosphären mit Zentren und Peripherien sowie semipermeablen Grenzen zur Außenwelt beschreiben (vgl. Kap. II.4.2.1.1.1.). Dies schlägt sich in der besagten Grenzenlosigkeit der Städte Peking und auch Tokyo (vgl. FA41) nieder, aber auch darin, dass die Grenzübertritt zwischen zwei Regionen jeweils mit zahlreichen, erzählerisch ausgestalteten Zwischenetappen versehen sind. 1587 Ist Tokyo eine luxuriöse Stadt der Hypermoderne, so werden die chinesischen Städte in Fuir als chaotisch, unfertig und schmutzig beschrieben („quelque vieille façade, mur gris et granuleux où des slogans effacés par le temps restaient encore partiellement lisibles, quoique indéchiffrables“, F74). 1588 Faire l’amour zeigt Tokyo und Kyoto 1589 als komplementäre Sphären: In der einen Stadt regnet es, in der anderen scheint sie Sonne; während der Erzähler in Tokyo dauernd wach ist, schläft er in Kyoto fast 36 Stunden (FA125). In Tokyo wohnt er in einem Hotelzimmer, in Kyoto in der Privatwohnung des französischen ‚Expats‘ Bernard. Auf der Insel Elba schließlich kommt die Binnendifferenzierung vor allem über eine Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie zum Tragen, der Hafenstadt Portoferraio und dem Anwesen des Vaters „dans une zone sauvage et idolée au nord-est de l‘île“ (F125-126, vgl. F128-129, vgl. Kap. III.5.3.). 4 Aspekte literarischer Musealität 317 <?page no="318"?> 1590 Einzelne Teile dieses Kapitels wurden bereits publiziert in Rhein: „Räume und Realitäten“. 1591 Freilich erinnert die Evozierung einer Kathedrale als Auftakt eines komplexen Roman‐ zyklus auch auf Prousts Recherche (vgl. Kap. III.3.1.2.5.). 1592 Die Nähe zu Barthes’ poststrukturalistischer Japan-Lektüre ist deutlich: Auch bei ihm lässt sich der Stadt nur „circulairement, par détours et retours le long d’un sujet vide“ (Roland Barthes: L’empire des signes, Paris: Flammarion 1970, S. 46) nähern, und wie Toussaint kontrastiert er die asiatische mit der europäischen Metropole, wo „tout centre […] le lieu de la vérité“ (ebd., S. 43) bedeute. Vgl. zu Barthes’ Japan-Bild auch Rhein: Flaneure, S.-49. 1593 Vgl. zu non-lieux in L’Appareil-photo Wolfram Nitsch: „Paris ohne Gesicht. Städtische Nicht-Orte in der französischen Prosa der Gegenwart“, in: Andreas Mahler (Hg.): Stadt-Bilder. Allegorie - Mimesis - Imagination, Heidelberg: Winter 1999, S.-305-321. 1594 Augé: Non-Lieux, S.-101. 1595 Vgl. Schulte Nordhold: „Immobilité mouvante ou mouvement immobile? La trilogie de Toussaint“, S.-63; vgl. Nitsch: „Topographien“, S.-36. 1596 Vgl. Isabelle Décarie: „Aménager le monde. Le sujet et les lieux intimes dans certains récits de Jean-Philippe Toussaint“, in: Adelaide Russo u. Simon Harel (Hg.): Lieux propices. L’énonciation des lieux/ Le lieu de l’énonciation dans les contextes francophones interculturels, Laval: Les Presses universitaires de Laval, 2005, S.-255-266. 4.3.3 Leere Zentren, non-lieux und öffentliche Privatheit 1590 Durch ein leichtes Erdbeben klirren zu Beginn von Faire l’amour in einer leeren Tokyoter Hotellobby die Kronleuchter und werden mit schwingenden „cloches de cathédrale“ (FA14) verglichen. 1591 Dieser Romaneinstieg lenkt den Blick auf weitere Charakteristika des Raumerzählens Toussaints. Erstens das Pertur‐ bieren einer räumlichen Zentralität: Die Hotellobby hat hier gewissermaßen die Kathedrale ersetzt. Auch weitere dysfunktionale Repräsentationsorte, so ein in der Mittagshitze liegender Tempel in Peking, „la pierre nue et grise“ (F75), und das wegen Umbaus geschlossene Tokyoter Kunstmuseum (vgl. FA131) 1592 könnten hier als Beispiele dienen; Zweitens ist die Passage typisch für die besondere Betonung zahlloser funktionaler (Durchgangs-)Orte wie Haltestellen, Bahnhöfen, Häfen oder Wartezimmern, „des zones de transit et […] des salles d’attente“ (F122) 1593 , die auch zur Zeitzeugenschaft der Literatur Toussaints beitragen - als „mesure de l’époque“ 1594 stehen non-lieux für die ‚Gegenwärtig‐ keit‘ der beschriebenen Städte. Drittens - und damit zusammenhängend - zeigt der Romananfang in einem Hoteleingang eine Durchdringung von Innen und Außen: Gerade an solchen non-lieux fühlen sich die Figuren Toussaints merkwürdig heimisch 1595 : Sie sind Freiräume und zeitlose „lieux de l’intime“ 1596 , wogegen schon seit La Salle de Bain das Private immer wieder öffentlich wird. Das Badezimmer, als der eigentlich private Ort schlechthin, in das sich der Erzähler zurückgezogen hat, ist in seiner Einfachheit und Unpersönlichkeit ein 318 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="319"?> 1597 Es wird von verschiedenen ‚Eindringlingen‘ aufgesucht, etwa zwei polnischen Hand‐ werkern, worauf der Erzähler eher passiv reagiert („Qui étaient ces hommes? Que faisaient-ils chez moi? “, SB32). 1598 „Il ne se passait pratiquement rien dans la cour“ (SdB97); „Les repas étaient apportés dans ma chambre à heure fixe“ (SdB100). 1599 „Le nouvel appartement de Monsieur, qui comptait trois grandes pièces, était quasiment vide et sentait la peinture. Dans sa chambre seule se trouvaient un ou deux meubles, quelques sièges de camping. Toutes les autres pièces étaient désertes, à l’exception du vestibule, où il avait entreposé ses valises, ainsi que deux caisses de revues, une machine à écrire portative.“ (M32) 1600 Vgl. Bernd Stiegler: Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen in und um das Zimmer herum, Frankfurt/ M. 2010; ders.: „Zimmerreisen“, in: Susanne Scholz u. Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter 2018, S. 357-364. Vgl. zu dieser Passage und zum Aspekt der ‚öffentlichen Privatheit‘ auch Rhein: „Räume und Realitäten“, S.-311. öffentlicher non-lieu, ein Durchgangszimmer. 1597 An eigentlich unpersönlichen Orten wie einem Krankenhauszimmer mit von außen vorgegebenen Regeln und einer bestimmten Eigenzeitlichkeit 1598 richtet sich der Erzähler hingegen häuslich ein, transformiert sie zu einem persönlichen Raum: Depuis mon installation, deux jours plus tôt, la chambre portait la marque de ma présence, des journaux reposaient en ordre sur la table de nuit, mon pardessus pendait à un crochet, le verre à dents était rempli de cendres, de mégots. (SdB98-99). Ähnlich zeigt sich das Moment der ‚öffentlichen Privatheit‘ auch in Monsieur, wo die Leere der Privatwohnung Monsieurs 1599 gegen die ‚lesbaren‘, überseman‐ tisierten Räume der Anderen steht. Zwar ist die Außenwand des Hauses, in dem Monsieur ein Zimmer besichtigt, übertüncht („La façade, terne et propre, venait d’être repeinte“, M41), doch der Wohnraum ist mit Verweisen auf seine Vergangenheit mit zahlreichen Bedeutungsebenen belegt: Il regnait […] une odeur de cire mêlée de sperme sec. Le parquet, en bois foncé, paraissait plus sombre encore dans la pénombre. C’est la chambre de ma mère, dit M. Leguen à voix basse. […] Contre le mur se trouvait un meuble à miroir, très ancien, creusé d’une cuvette. Un crucifix pendait au-dessus du lit, et quelques photos noircies, dans des cadres ciselés, reposaient çà et là. M. Leguen, après avoir allumé la lampe de chevet, ouvrit l’armoire pour montrer les étagères à Monsieur, très propres, que recouvrait du papier fleuri punaisé. (M44) Die detaillierte Beschreibung erinnert an eine ‚Zimmerreise‘, in der die Einrich‐ tung zum eigentlichen Zentrum des Erzählens wird 1600 - bezeichnenderweise aber in einer fremden Wohnung. In der fast voyeuristischen Betrachtung des Zimmers, die Aspekte von Sexualität, Religion und Vergangenheit der ehema‐ 4 Aspekte literarischer Musealität 319 <?page no="320"?> 1601 Ähnlich schon in La Salle de Bain, wo der Erzähler und seine Freundin die Einrichtung der Vormieter genau in Augenschein nehmen (vgl. SdB37-38). 1602 Vgl. auch Nitsch: „Topographien“, S. 30, der solche Phänomene mit Lotman beschreibt: „Sogar bei ein und demselben Autor können sich in einem Text ein schützender Innenraum und ein bedrohlicher Außenraum, anderswo wiederum ein hemmender Innenraum und ein befreiender Außenraum gegenüberstehen“. 1603 Auch das ‚dunkle Museum‘ wird in der Szene durch eine Häufung von Begriffen wie „obscurité“, „ombre“, „pâle lumière“ (FA32-33) evoziert. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Reihung verschiedener Kunstanspielungen, der ein Selbstportrait Robert Mapplethorpes evozierende Blick in den Spiegel (vgl. Kap. III.4.1.1.2.), der an Courbet erinnernde Akt (vgl. Kap. III.4.1.2.1.), außerdem eine Videoinstallation („la pâle lumière bleutée de l’écran du téléviseur toujours allumé dans la pièce“, FA33). 1604 So ein geöffneter Kühlschrank („Accroupi en face de l’appareil, la poignée à la main, j’examinais l’intérieur violemment éclairé de l’appareil qui contrastait un peu avec la douce pénombre qui regnait dans la pièce.“, TV132) oder der Fernseher (vgl. TV130). 1605 Vgl. in der zitierten Hotelzimmerpassage auch die Aufzählung der Toilettenprodukte Maries durch den Erzähler: „flacons et tubes, poudriers, rouge à lèvres, crayons, blush, mascara“ (FA32). ligen Bewohner offenlegt, zeigt sich abermals die oben erwähnte Unterschei‐ dung Toussaints von intime und privé: Erstere wird gesucht und beschrieben, letztere vermieden und verschwiegen. 1601 Wie bereits angeschnitten, treiben die M.M.M.M.-Romane diese Opposition von Privatheit und Öffentlichkeit auf die Spitze. Das Hotelzimmer in Faire l’amour wird als ein öffentlicher Raum beschrieben, dessen Durchquerung einem Galeriebesuch, einem „parcours“ (FA33) ähnelt, und das Appartement, das er nach seiner Trennung von Marie bewohnt, ist „vide“ (N30). Eine solche Durchdringung von Außen und Innen wurde als zentraler musealer Aspekt benannt (vgl. Kap. II.3.4.1) 1602 , der auch durch weitere Raum‐ eigenschaften verstärkt werden kann. Als der Erzähler in La Télévision die Wohnung seiner Berliner Nachbarn ‚besichtigt‘, deren Pflanzen er während ihrer Abwesenheit zu versorgen hat, erinnert dies an die Hotelzimmerszene in Faire l‘Amour 1603 : Beide Räume sind ‚dunkle Museen‘, in denen die Ob‐ jekte leuchten. 1604 Auch hier zeigt sich das musealisierende Potential jener ‚öffentlichen Privatheit‘: Beide Erzählerfiguren erscheinen jeweils als Detektive, Voyeure und Museumsgänger - alles Rollen, die mit dem öffentlichen Raum verbunden sind, und in denen der Betrachter zugleich selbst zum (Ver-)Sammler von Bildern 1605 wird. Eine solche, immersive Raumerfahrung stellt sich an keiner Stelle in einem ‚heimischen‘ Privatraum ein. 320 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="321"?> 1606 Vgl. auch De Vriese: „La trace de Marie“, Absch. 8: „[I]l n’y a pas de continuité de l’espace, mais une contiguïté, une juxtaposition de plusieurs mondes possibles. La géographie romanesque compose avec une prolifération de lieux, elle ressemble à un catalogue bricolé de lieux“. 1607 Vgl. Huglo: Le sens du récit, S.-98; vgl. Motte: „Au loin“, S.-125; vgl. Rhein: „Räume und Realitäten“, S.-305. 1608 Als sich am Ende von Fuir sowohl Marie als auch der Erzähler auf der Insel Elba befinden, ist die Telefonverbindung schwieriger möglich als zwischen den Kontinenten. („pour joindre son portable, il fallait passer par l’étranger, et je compris alors […] qu’on ne pouvait pas obtenir l’étranger depuis la chambre.“, F131) - das Paar ist getrennt, für einander unerreichbar, obwohl sie räumlich so dicht beieinander sind, dass sie das Glockengeläut derselben Kirche hören (vgl. F132). 1609 Vgl. De Vriese: „La trace de Marie“. 1610 Vgl. Schulte Nordhold: „Immobilité mouvante ou mouvement immobile? La trilogie de Toussaint“, S. 76. Auch an anderer Stelle löst sich das Erzählen von den Orten, an denen der Erzähler sich gerade befindet: „Ce n’était que maintenant, plus de sept mois plus tard, à Paris, debout à la fenêtre de ma chambre du petit deux-pièces“ (N60), „n’étais-je 4.3.4 Kaleidoskopische Perspektiven auf die Welt: Der Erzähler als ‚leeres Zentrum‘ Die M.M.M.M.-Romane erwecken zunächst den Anschein räumlicher ‚Aufge‐ räumtheit‘. Wie gezeigt, greifen Topographie und Romankonzept in genauer Konstruktion ineinander - jedoch wird eine allzu starre Opposition zwischen den Weltteilen durch die Achronie der Erzählung und die Mobilität des Erzählers unterlaufen 1606 , der - wie schon die meisten früheren Toussaint-Figuren - stets „ailleurs“, „à part“, „en déplacement“ „déplacé“ und „de passage“ ist. 1607 Insbesondere die Kategorien ‚Nähe‘ und ‚Ferne‘ sind zu relativieren: Räumliche Entfernungen können emotionale Nähe zwischen dem Erzähler und Marie erzeugen (so das Telefonat der beiden Figuren in Fuir, sie am Tag im Louvre, er in einem chinesischen Nachtzug), während räumliche Nähe auch Distanz mit sich bringen kann. 1608 So scheint die Raumordnung fragmentarisch und ‚mobil‘ und erinnert in der Gesamtschau weniger an ein übersichtliches Panorama, als vielmehr an ein kaleidoskopisches Bild. 1609 Wie die impassibilité des Erzählers wird in den M.M.M.M.-Büchern auch dies also durch die emotionalen Ausnahmezustände der Protagonisten plausi‐ bilisiert: Kulturschock, Erkältung, jetlag und Liebeskummer erzeugen beim Erzähler einen Störung des Zeit- und Raumgefühls („nos repères temporels et spatiaux s’étaient dilués“, FA33); in Fuir, besonders während seiner langen Reise von Peking nach Elba, befindet er sich in einem „état de suspension“ (F122) bzw. „état intermédiaire“ (F133), ist etwa „à la fois encore à Pekin et à l’île d’Elbe“ (F123), und damit letztlich „nulle part, ni à Pékin ni à l’île d’Elbe“ (F134). 1610 4 Aspekte literarischer Musealität 321 <?page no="322"?> pas à la fois à Tokyo sur le toit du Contemporary Art Space de Shinagawa […] et à Paris, au début du mois de septembre“ (N61). 1611 Vgl. Huglo: Le sens du récit, S.-98. 1612 Als ästhetisches Ideal findet Toussaint das ‚leere Zentrum‘ in der Erzählung auch in Dostojewskis Verbrechen und Strafe wieder, dem Roman, nach dessen Lektüre er sich entschied, Schriftsteller zu werden (vgl. UP76). 1613 Etwa: „le ciel immense dans la nuit, visible de toutes parts, par les multiples ouvertures de la baie vitrée qui offraient au regard des perspectives illimitées“ (FA43). Hier treffen sich literarische Beschreibung und Selbstbeschreibung des Autors als Zentrum einer imaginären Welt: „Le bureau, pour moi, c’est un lieu réel, qui est fermé, protégé du monde extérieur, dans lequel l’esprit peut s’étendre et s’élargir, l’imaginaire se développer.“, Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 43. Vgl. auch ebd., S. 54: „pour restituer le monde, il faut s’en retirer“. 1614 Vgl. Rhein: „Räume und Realitäten“, S.-312. 1615 Man denke an den Schmetterlingssammler Vladimir Nabokov. Das aufgespießte Insekt ist ein typisches Museumsstück, und der lebendig fixierte Schmetterling auch ein Bild für ein musealisiertes Objekt zwischen Präsenz und Absenz. Vgl. Rhein: „Räume und Realitäten“, S.-312. Zwischen diesen Orten und Zeiten steht dabei der Erzähler als aufzeich‐ nendes, dabei selbst ‚leeres‘ Subjekt, das die Erzählung letztlich aus einer Warte organisiert. 1611 Das ‚leere Zentrum‘ ist bei Toussaint also nicht nur räumlich zu verstehen, sondern ist auch ein Zustand - der gerade Erzählung ermöglichen kann. 1612 Dies wird an verschiedenen Stellen auch in der Literatur ins Bild gesetzt: etwa anhand der erwähnten Rückzugsorte, die gerade deswegen perspektiver‐ weiternd wirken, weil sie bewegungs- und blickeinschränkend sind (vgl. Kap. III.4.1.1.3.). 1613 So schon in L’Appareil-photo, wo sich der Erzähler auf den letzten Seiten des Romans in eine Telefonkabine zurückzieht, dort die Nacht verbringt, und aus dieser beschränkten Perspektive heraus eine Erfahrung von resonance und wonder macht: „[ J]e regardais le jour se lever et songeais simplement au présent, à l’instant présent, tâchant de fixer encore une fois sa fugitive grâce - comme on immobiliserait l’extrémité d’une aiguille dans le corps d’un papillon vivant“ (AP 127). Der Erzähler steht als eine Art fixe chambre claire 1614 in Bezug zu seiner ihrerseits bewegten Umgebung: „des formes en mouvement qui suivaient leur cours dans mon esprit“ (AP125), und das sowohl literarische wie museale Bild 1615 des (aufgespießten) Schmetterlings unterstreicht abermals die Bedeutung des (Rückzugs-)Orts für die Erzeugung eines Weltbezugs. 322 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="323"?> 1616 Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-139. 1617 Vgl. Toussaint in einem Interview zu La Télévision: „Je voulais parler de cette ville sans la moindre référence historique, en évitant tous les clichés du type ‚capitale du Reich‘ etc. Vous ne trouverez pas, par exemple, une seule fois le mot ‚mur‘“; vgl. Paquot: „Jean-Philippe Toussaint“. 1618 Vgl. Toussaint u. Tong: „Écrire, c’est fuir“, S. 177: „Il a toujours importé pour moi d’être un écrivain de mon temps, de m’inscrire dans le réel, d’être à l’écoute de l’époque et de la restituer.“ Vgl. auch Toussaint u. Viart: „Entretien“, S. 243. Hier gibt Toussaint an, „présent“ und „monde actuel“ literarisch umsetzen zu wollen. 4.4 „Après l’espace, le temps“ 1616 : Zeitdimensionen zwischen actuel und contemporain Der lebendig fixierte, musealisierte Schmetterling ist ein Zeit-Bild („le jour“, „au présent“, „l’instant présent“, „fixer“, „fugitive“), das so paradox ist wie die Vergoldung einer lebenden Schildkröte (vgl. Kap. II.4.1.2.1.3.). Es steht sowohl für die Bedeutung der Zeit bei Toussaint, als auch für die Schwierigkeit, diese zu greifen. Schon das Jahr 1960 erscheint dem Erzähler in La Vérité sur Marie als „très lointaine“, das 20. Jahrhundert als „siècle lointain, brumeux et achevé“ (VM69) mit „ce 1 et 9 bizarres et désuets“ (VM69), in Football schreibt er über das Jahr 1998 wie über eine lange vergangene Epoche („avec ce 1 et 9 qui semblent déjà périmés à nos yeux contemporains“, FB9), und in dem Roman La Clé USB, der einen Zukunftsexperten zur Hauptfigur hat, liegt das Jahr 1999 schon lange zurück („Quelle date étrange, ce 1999, avec sa traîne de 9 qui semble se dissiper silencieusement dans le temps […].“, USB20). An den drei Beispielen ist der Verweis auf die Visualität der Jahreszahlen und eine damit suggerierte Lesbarkeit der Vergangenheit bemerkenswert. Doch weder Daten noch Erinnerungsstücke oder mediale Überlieferungen werden dieser Vergangenheit gerecht: „Nous savons, d’instinct, que le passé, lorsqu’on le découvre sur de vieilles photos ou des images d’archives, a toujours un côté un peu gauche, empoté, attendrissant, voire risible“ (FB10). Die oben für das Museum aufgestellten Kategorien von actuel und contem‐ porain (vgl. Kap. II.4.2.2.2.1.) erscheinen für Toussaint, der sowohl zeitgemäß schreiben, als auch literarisch die Gegenwart fassen will, sehr passend. Seine Literatur ist eher Spiegel der Gegenwart als Vitrine der Vergangenheit. Anders aber als etwa Houellebecq verzichtet er in vielen seiner Romane auf Bezüge zur Tagesaktualität, auf politische oder historische Ereignisse 1617 , denn es geht ihm mehr um das Festhalten einer condition des contemporain als um dessen zeitliche situation. 1618 Entsprechend lassen sich zahlreiche musealisierende Zeitaspekte und -effekte auf der Ebene des Erzählens ausmachen: Die Inszenierung von 4 Aspekte literarischer Musealität 323 <?page no="324"?> 1619 Meurée: „Le temps à l’épreuve du ‚désastre infinitésimal’“, S.-201. 1620 Vgl. ebd.: „Souvent les textes de Jean-Philippe Toussaint débutent par l’exposition d’un moment qui fait événement“. 1621 Als Gegenmodell könnte Monsieur dienen; hier erfährt man von der Trennung der Hauptfigur und seiner Verlobten nur nachträglich und en passant: „Depuis qu’ils avaient rompu, toutefois, sa fiancée et lui […].“ (M30). Zäsuren (Kap. III.4.4.1.), die chronologische Ordnung und Reihung zeitlicher Ereignisse (Kap. III.4.4.2.), ästhetische Eigenzeiten erzeugende Verfahren der Zeitdehnung und -konzentration (Kap. III.4.4.3.). Über metalitarische Verfahren (Kap. III.4.4.4.) werden poetologische Prinzipien Toussaints sichtbar (Kap. III.4.4.5.), die sich auch auf schriftbildlicher Ebene wiederfinden (Kap. III.4.4.6.). 4.4.1 Von Zäsuren erzählen, zäsurgeprägtes Erzählen Das ganze Werk Toussaints ist von auffälligen Zäsurmomenten (vgl. Kap. II.4.2.2.2.3.) geprägt. Nicht selten bilden einschneidende Ereignisse den Erzäh‐ lanlass: Die Entscheidungen, die Badewanne nicht mehr zu verlassen (La Salle de Bain), eine Arbeitsstelle anzutreten (Monsieur), oder kein Fernsehen mehr zu schauen (La Télévision), stehen jeweils als Zäsurereignisse am Anfang und lösen, gleich einem „effet papillon“ 1619 , das folgende „désastre infinitésimal“ (FA146) aus. 1620 Innerhalb der M.M.M.M.-Romane werden Zäsuren durch ihre Erkenntnis‐ funktion für die Protagonisten wirksam: etwa, als der Erzähler mit dem Anruf Maries und der Nachricht vom Tod ihres Vaters die Absurdität seiner Lage im chinesischen Nachtzug bemerkt, oder beim Blick in den Spiegel eine Todesvision hat. Doch auch aufs Ganze betrachtet, steht die Tetralogie im Zeichen einer Zäsur, der Trennung der beiden Liebenden, die alle vier Romane bestimmt. Diese ist als Aktion zentral in Faire l’Amour („nous nous séparions alors pour toujours“, FA12), bestimmt aber als Thema und ‚Zustand‘ das gesamte Romangeschehen der vier Bände: „Mais rompre, je commençais à m’en rendre compte, c’était plutôt un état qu’une action“ (FA106) 1621 . Weder ihr ‚Davor‘, noch das ‚Danach‘ werden auserzählt, sondern höchstens angedeutet. Die erzählte Welt steht somit selbst im Zeichen dieser Trennung - in diesem Sinne verbleiben die Figuren die ganze Erzählung über in einer Art stade du musée, außerhalb der Alltagszeit und eines regulären Zeitempfindens. Blickt man schließlich von außen auf das Werk (vgl. Kap. II.4.2.2.2.2.), so erzählen die Romane nicht nur von einer Zäsur, sondern bilden innerhalb des Werks Toussaints selbst eine Zäsur (vgl. Kap. III.4.1.1.1.). 324 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="325"?> 1622 Wagner: „Éloge de la paresse“, Absch. 14. 1623 Michel Jourde: „Monsieur s’amuse. Interview avec Jean-Philippe Toussaint“, in: Les Inrockuptibles, 1992; zit. nach Amar: „Dispositifs minimalistes ou réticents“, S.-190. 1624 Diese Dreiteilung kann als Verweis auf den Satz des Pythagoras oder auch an ein Triptychon oder Altarbild gelesen werden. Bei genauem Hinsehen wird aber die Erwartung an eine mathematische Ordnung zerstört: Die Kapitel PARIS (40 Fragmente), L’HYPOTHÉNUSE (80 Fragmente), PARIS (50 Fragmente) bilden kein „gleichschen‐ kliges Dreieck“ (vgl. Schmidt: Jean-Philippe Toussaint, S. 153); vgl. dazu auch Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 8; Meurée: „Le temps à l’épreuve du ‚désastre infinitésimal‘“, S.-204. 1625 Vgl. Fauvel: Scènes d’intérieur, S.-31. 1626 Vgl. Brandstetter: Strategien inszenierter Inauthentizität, S. 198-199; sie verweist etwa auf das Alter des Sohnes des Erzählers, das dieser im Juli mit viereinhalb (TV111), fünf Jahren im September (TV254) und sechs Jahren im Dezember oder folgenden Januar (TV258) angibt. 1627 Vgl. Kauß: Der diskrete Charme, S.-380. 4.4.2 Ordnung und Reihung Wie die Zäsur wird auch der museale Zeitaspekt der linearen Reihung eingesetzt (vgl. Kap. II.4.2.2.2.3.), der die Musealität des Textes unterstützt, indem er eine abzuschreitende Ordnung von Ereignissen evoziert. Die frühen Romane inszenieren eine solche Linearität der Ereignisse (als Serie meist eher banaler „micro-événements du quotidien“ 1622 ) auf auffällige Weise: So durch die penible Nummerierung der einzelnen Abschnitte in La Salle de Bain, die auch an einen Museumsgang mit einer speziell kuratierten Hängung von Bildern erinnert, was noch durch ein weiteres Ordnungsverfahren gestützt wird, die Dreiteilung des Romans. Für Toussaint erzeugt die Nummerierung „une sorte de force d’autorité, comme dans un rapport administratif 1 ceci, 2 cela, et on ne met pas en doute ce qui se passe“ 1623 . Auf den zweiten Blick erweist sich auch diese scheinbare Ordnung als instabil - so ist die Wahl der erzählten Fragmente subjektiv, und die vermeintlich Symmetrie vermittelnde Unterteilung in drei Abschnitte uneinheitlich. 1624 Obwohl er mit einem der klaren Zeitmarker („ce matin“, R11) beginnt, enttäuscht auch der Roman La Réticence die Erwartung an eine verlässliche Chronologie 1625 ; die Episoden in L’Appareil-photo sind zwar in zeitlicher Folge angeordnet, aber nicht immer zusammenhängend, und in La Télévision ist die erste Romanhälfte zwar chronologisch, aber unzuverlässig 1626 erzählt, während in der zweiten Hälfte einzelne Episoden den Erzählfluss unter‐ brechen. 1627 Insbesondere die autobiografisch grundierten Texte thematisieren explizit die Komplexität eines linearen Zeiterzählens. In Football verbindet der Erzähler die eigene Biografie mit Fußball-Ereignissen in seinem Leben („Je fais mine d’écrire sur le football, mais j’écris, comme toujours, sur le temps qui passe“, FB43), die jeweiligen Fußballspiele strukturieren eine ansonsten unbe‐ 4 Aspekte literarischer Musealität 325 <?page no="326"?> 1628 Als weiterer Beleg für den Versuch, die eigene Vergangenheit greifbar zu machen, lassen sich auch die Zwischentitel benennen, die eine taxonomische Ordnungsambition durchklingen lassen (vgl. Kap. II.3.1.1.2.1.). 1629 Vgl. etwa eine Episode („Le Mans“), in der der Erzähler im Hotel um einen Weckruf um 22 Uhr bittet (FB91). 1630 Vgl. Schneider: „Basta avec moi maintenant“, S.-37-38.- herrschbare Vergangenheit. 1628 Persönliche und kollektive Geschichte laufen hier auseinander: Während die Sporttourniere - wie die visuell ausgedeuteten Jahreszahlen (s. o.) - klar identifizierbare Ereignisse bilden, somit zu einem effet de réel beitragen, bleibt das subjektive Zeitempfinden des Erzählers davon unberührt, der Erzähler steht fast durchgängig ‚neben der Zeit‘. 1629 Zeitzonen und Zeitpunkte verschwimmen in der Erzählung. In einem Absatz werden der erste und der aktuelle Besuch des Autors in Kyoto rund um das Bild des Flusses Kamo zusammengeführt, der wie Mnemosyne alles miteinander verbindet: „Cela fait plus de dix ans que je regarde couler la Kamo comme une image du temps qui passe, identique et différente, le jour et la nuit, sous le soleil ou sous la pluie“ (FB81). Diese höchst subjektive Zeiterzählung ähnelt jener der M.M.M.M.-Romane. Deren anachronischer Aufbau reicht allerdings über die einzelnen Romane hinaus, was schon an den jeweiligen Zeitangaben am Beginn jedes Bands deutlich wird („Hiver“, FA; „Eté“, F; „Printemps-été“, VM; „Automne-hiver“, N). Anhand der Paratexte ist also bereits sichtbar, dass die mit einem cycle romanesque verbundenen Ordnungsversprechen (vgl. Kap. II.3.1.1.2.1.) hier gebrochen werden; Analepsen und Prolepsen durchziehen die gesamte Tetralogie und sind Symptom der Verfügungsgewalt des sich zunehmend als Autor gerierenden Erzählers über den Text. 1630 In einer Museums-Passage in Nue, wo der Erzähler von einem Dachfenster aus Maries Ausstellungseröffnung beiwohnt (vgl. ausführlich Kap. III.5.2.), und in seinem retrospektiven Bericht weit mehr Informationen vermittelt, als er unmittelbar beobachtet haben kann, vermischen sich eigene Wahrnehmung, Wiedergabe aus der (späteren) Erzählung Maries sowie auch die Imagination des Erzählers, was dieser auch nicht verschweigt: C’est quand on se promène dans le temps, et qu’on a la sensation d’être à la fois dans le présent et dans le passé […] que l’esprit peine à ajuster ses repères, parce que le temps, alors, n’est plus perçu comme la succession d’instants qu’il a toujours été, mais comme une superposition de présents simultanés. (N60) Der Erzähler thematisiert also seine eigene, zeitlich enthobene Erzählposition explizit: „ce qui signifie que j’étais - que j’allais être ou que j’avais été - le temoin visuel“ (N61). Während der Contemporary Art Space höchst gegenwärtig 326 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="327"?> 1631 Vgl. Tyrandellis: Müde Museen. 1632 So die Verladung des Pferds Zahir in La Vérité sur Marie (vgl. Kap. III.4.4.4.). 1633 Vgl. die drei Kurztexte Toussaints La Mélancolie de Zidane, Paris: Éditions de Minuit 2006, La Disparition du paysage, Paris: Éditions de Minuit 2021 und L’instant précis où Monet entre dans l’atelier, Paris: Éditions de Minuit 2022 - Bücher, die jeweils nur wenige Seiten lang sind und nur von einem einzigen Ereignis handeln: der Kopfstoß-Attacke Zinédine Zidanes beim Finale der Fußballweltmeisterschaft 2006, dem Blick aus dem Fenster eines schwer verwundeten Mannes kurz vor seinem Tod, dem Augenblick, als Monet sein Atelier betritt. 1634 Der Erzähler befindet sich auf dem Rücksitz des Motorads seines offensichtlich in kriminelle Machenschaften verwickelten chinesischen Begleiters Zhang Xiangzhi; die zentrale Passage wurde von Toussaints 2008 als Kurzfilm adaptiert und war auch in der Ausstellung Livre/ Louvre zu sehen (vgl. Kap. III.1.). erscheint, schieben sich beim Erzähler verschiedene Zeitebenen palimpsestartig übereinander. Dieses Zeiterzählen wird wiederum durch den Zustand erklärt, der sich mal in Dissonanz zur Zeit seiner Umgebung befindet („notre retard se montait à près de quarante minutes, une éternité au Japon“, FA88), mal im Einklang mit ihr (so im Hotelschwimmbad: „j’étais moi-même le mouvement de la pensée, j’étais le cours du temps“, FA44), und wegen jetlag unter Übermüdung leidet, was gleich zu Beginn von Faire l’Amour zu Zeitverwirrung führt: Il devait être plus de trois heures du matin à Tokyo maintenant, et nous étions arrivés au Japon le matin même, vers huit heures, heure japonaise, après une courte matinée à Paris avant le départ et une longue nuit dans l’avion […], cela faisait donc près de quarante-huit heures que nous n’avions pas dormi, ou seulement trente-six heures, peu importe […]. (FA34) Das ungewöhnliche Zeitregime ist hier also auch ein effet de réel (vgl. Kap. II.4.2.2.2.4.) - und der in einem ganz konkreten Sinne ein ‚müdes Museum‘ 1631 . 4.4.3 Erzählzeit und erzählte Zeit: Explosion und condensation Toussaints Prosa funktioniert auch über Rhythmik und ein Zusammenspiel von kondensierten und breit auserzählten Ereignissen, die sich über ein halbes 1632 oder sogar ganzes Buch 1633 erstrecken können. Auch solche Effekte sorgen für ein ungewöhnliches Zeitregime. Als Beispiel sei eine zentrale Fluchtszene in Fuir 1634 voller sprachlichen Verzögerungstaktiken genannt: [D]escendant toute l’avenue ainsi, jusqu’en bas, où il n’y avait plus rien, plus de café, plus personne, roulant à fond dans le noir sur quelques dizaines de mètres, puis arrêtés, freinés de nouveau dans une rue animée, bloqués par une marée de piétons 4 Aspekte literarischer Musealität 327 <?page no="328"?> 1635 Laurent Demoulin: „La tension phrastique dans M.M.M.M.“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S.-299-314, hier: S.-303. 1636 So wird mehrfach auf die in Japan herrschenden Zeitkonventionen verwiesen, die immer wieder durch die zu spät kommende Marie perturbiert werden (vgl. etwa VM89-VM93). qui marchaient dans la rue, une petite rue de bars et de bouis-bouis à brochettes, plus sombre, sans réverbères, avec quelques néons blancs et verts, des portes en bois, des stores en bambou […]. (F112) Dieser Auszug aus einer insgesamt dreiseitigen Fluchtschilderung zeigt, wie die in der Erzählung eigentlich gebotene Eile narrativ konterkariert wird. Trotz einer „tension syntaxique“ 1635 , die etwa durch die Reihung der Ereignisse Hektik abbildet, kommt man nicht recht vorwärts, es bleibt Zeit für detaillierte Beob‐ achtungen. Die ‚Welt als Museum‘ zeigt sich mit eigener Zeitordnung, zwischen einer unklaren „Zeit des Besuchers“ (in ‚langsamer Eile‘) und einer unklaren „Zeit des Museums“ (zwischen Neonlicht und alten Holzverschlägen). Wie die Trennung des Liebespaars, so ist in Fuir auch die titelgebende Flucht weniger Ereignis als Zustand. Dadurch legitimiert sie ein ‚generalisiertes‘ Zeitregime, das wiederum an den Handlungsort rückgebunden wird. Die überfordernde Großstadt Peking zeigt sich so auch in zeitlicher Hinsicht als Kontrast zu den japanischen Metropolen 1636 und zur Mittelmeerinsel Elba („La Méditerranée était calme comme un lac. […] J’avais le sentiment d’être hors du temps, j’étais dans le silence“, F119). Neben Verfahren der Verlangsamung stehen auch solche der Immobilität oder Stagnation, wenn etwa der Erzähler auf dem Rücksitz eines Motorrads durch Peking rast und dies wie ein Standbild wirkt: „J’avais l’impression que nous faisions du surplace sur l’autoroute, comme figés, pétrifiés, statufiés, arrêtés là dans cette position de recherche de vitesse vertigineuse […]“ (F104). Es folgt auch hier eine längere Reihung von Wahrnehmungsfragmenten, die gleichzeitig eine gewisse Atemlosigkeit und einen „instant immobile et sans fin“ (F106) suggerieren. Auch an anderer Stelle wird die narration von Passagen der description unterbrochen, die kondensierten Standbildern gleichen - wenn etwa der Blick des Erzählers in einer Pekinger Bowlingbar auf seiner Begleiterin Li Qi ruht: [L]a main droite toujours tendue dans le vide derrière elle, offerte, immobile, obstinée, attendant que je la saisisse, que je m’en empare, mais je ne bougeais pas, […] elle devait attendre que je lui prenne la main, mais j’étais incapable de bouger, je regardais fixement sa main sans bouger […]. (F96) 328 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="329"?> 1637 Gamper u. Hühn: „Einleitung“, S.-16 (vgl. Kap. II.4.2.2.2.3.). 1638 Peeters u. Toussaint: „La parole est à l’écrivain“, S.-376. Es zeigt sich hier, dass ästhetische Eigenzeiten „zur Funktionszeit quer[liegen]“, aber auch „auf als ‚chaotisch‘ erfahrene Zeiterscheinungen ordnend und struk‐ turierend reagieren“ können. 1637 Dies wird umso deutlicher, wenn sich derart eindrückliche Momente an herausgestellter Stelle finden, an den ‚Ein-‘ oder ‚Ausgängen‘ der Texte: Eine tote Katze im Hafenbecken zu Beginn von La Réticence (R11), der lebendig aufgespießter Schmetterling am Ende von L’Appa‐ reil-photo (AP127), der eine präsentische Klammer bildende Säureflacon in Faire l’Amour auf den ersten und letzten Seiten von Faire l’Amour (FA11, FA146) sind jeweils prägnante (Zeit-)Bilder in einer insgesamt perturbierten Zeitord‐ nung und dabei (wie Semiophoren) ‚zweigesichtige‘ Dinge, insofern sie in der Erzählung verankert sind und zugleich eine starke ästhetische Eigenzeitlichkeit aufweisen. 4.4.4 „Zahir, en arabe, veut dire visible“: Zeit erzählen Ein besonders eindrückliches Beispiel für ein ausgestelltes Zeiterzählen bietet eine Passage in La Vérité sur Marie. In dieser soll das Rennpferd Zahir im Cargo-Bereich des Tokyoter Flughafens verladen werden, wo es erst panisch ausbricht, dann gebändigt und in ein Flugzeug verbracht wird, und sich schließ‐ lich während des Abflugs übergibt. Diese lange Passage steht - auch räumlich - im Zentrum des Romans (vgl. VM82-138). Sie bildet eine Erzählung in der Erzählung, wiedergegeben durch den hier allwissenden Erzähler, der bei dem Ereignis abwesend ist und auch das Innenleben des Tiers nicht ausspart („Zahir n’avait d’autre conscience que la certitude d’être là“, VM136). Dabei zeigt die Szene durch ihre Genauigkeit - die Abläufe im Zollbüro, die Beschreibung der Flucht Zahirs über das Rollfeld, schließlich die Verladung des Pferds und der Abflug - ein detailliert gestaltetes innerliterarisches réel, wie auch Toussaint unterstreicht: [ J]e cherchais de toutes me forces à créer un effet de réel, je cherchais à faire vraiment trembler les parois de l’avion et à faire en sorte que le lecteur soit transporté par son imagination dans un Boeing 747 en vol […]. J’ai donc fourni un énorme effort pour faire surgir, avec des mots, cette image dans l’esprit du lecteur. 1638 Interessant an diesem ‚realistischen‘ Erzählen ist ein zweifacher Regelbruch - der biologische (die Unmöglichkeit des sich erbrechenden Pferds, was explizit thematisiert wird, vgl. VM137), und der narratologische des ‚allwissenden 4 Aspekte literarischer Musealität 329 <?page no="330"?> 1639 Bayard: „L’auteur, le narrateur et le pur-sang“, S.-215. 1640 Peeters u. Toussaint: „La parole est à l’écrivain“, S.-376. 1641 Die Beschreibung „à la fois en plein galop et arrêté“ (VM108) evoziert das Flackern einer Filmprojektion. Insbesondere lässt sich an Eadweard Muybridges Fotoserie Sallie Gardner at a Gallop (1878) denken, einen frühen Film-Vorläufer. 1642 Vgl. Frank Wagner: „Monsieur Jean-Philippe Toussaint et la notion de Vérité (pour une poétique perspectiviste)“, in: textyles, 38, 2010, S.-25-34, hier: S.-33. 1643 Im Roman wird es auch als Ausstellungsobjekt gezeigt, das etwa vor dem Rennen einem „rond de présentation“ vorgeführt wird (vgl. VM139). 1644 Vgl. Toussaint: C’est vous l’écrivain, S. 60: „Le livre est parti de cette image, qui mêle le contemporain, un Boeing 747, à l’intemporel, l’animalité universelle d’un cheval.“ Ich-Erzählers‘ (vgl. Kap. III.4.1.1.4.). Der Autor zeigt sich im Text als Ermöglicher des Unmöglichen: [L]orsque je fais quand même vomir le cheval, lorsque je sais pertinemment que c’est impossible dans le réel, je trahis ma propre présence dans le livre, je fais apparaître l’auteur-: ma tête - ou ma main - dépasse soudain entre les pages. 1639 Der Text signalisiert, „que nous sommes dans la littérature, puisque dans la vie c’est impossible, et cela c’est évidemment une performance“ 1640 . Mit Zahir wird also die Kapazität der Literatur selbst sichtbar gemacht („Zahir, en arabe, veut dire visible“, VM106, „Car Zahir était autant dans la réalité que dans l’imaginaire“, VM137), die hier ihr ganzes Potential ausspielt: als visuelles, filmisches Erzählen 1641 mit ausgeprägten Zeitmodulationen, einem Wechsel von Verzögerungen und Raffungen (vgl. z.-B. VM108, VM138). Erzeugt wird auch ein starkes Präsenz- und Zäsurmoment: Mit einem expli‐ ziten Bezug auf die gleichnamige Borges-Erzählung Zahir wird das Pferd als „cet être“ benannt, „qui a la terrible vertu de ne jamais pouvoir être oublié dès lors qu’on l’a aperçu une seule fois“ (VM106). 1642 Während das Tier als literarisches Bild eine starke Eigenzeitlichkeit besitzt 1643 , ist es in ein gegenwärtiges, zeitge‐ nössisches Setting eingebettet, den Flughafen von Tokyo mit seinen technischen Abläufen. 1644 Einen Ausstellungscharakter besitzt die Passage nicht nur durch die hier unterstrichenen Zeiteffekte, sondern auch durch eine prägnante Visualität (insbesondere Hell-Dunkel-Effekte, vgl. Kap. II.3.2.3.) sowie die (auch zeitliche) Rahmung: Ihr Erzählzeitpunkt wird erst viel später enthüllt (vgl. VM166-168). Da der Erzähler während des geschilderten Geschehens abwesend ist, könnte dieses schließlich sehr wohl einen ‚Realismus‘ beanspruchen, nämlich als Bilder aus der Innenwelt des Erzählers. Versteht man die literarische Szene als literari‐ sche Traumszene, sind wiederum physikalische oder biologische Inkohärenzen gerechtfertigt. 1645 330 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="331"?> 1645 Vgl. Bayard: „L’auteur, le narrateur et le pur-sang“, S.-210. 1646 Vgl. ebd., S.-214. 1647 „L’urgence, qui appelle l’impulsion, la fougue, la vitesse - et la patience, qui requiert la lenteur, la constance et l’effort“ (UP26). In C’est vous l’écrivain präzisiert Toussaint: „Ce que j’appelle ainsi ‚l’urgence’ est sans doute ce qu’on a longtemps appelé ‚l’inspiration’“, ebd., S.-49. 1648 Toussaint: „Le jour où j’ai fait ma première photo“. 1649 Die zahlreichen schicksalshaften Zufälle in den M.M.M.M.-Romanen sind gerade Beleg für deren genaue Konstruktion: Man denke an die beiden Frauen mit Namen Marie in La Vérité sur Marie und Nue („c’est fou ce qu’il y a de Marie, en réalité“, N69), den Umstand, dass Marie am gleichen Tag von ihrer Schwangerschaft und dem Tod Francescos auf Elba erfährt (vgl. N161). Wie andere Schlüsselpassagen der Tetralogie - die ‚Honigkleid‘- oder die Louvre-Episode (vgl. Kap. III.2.2., III.3.2.1.) - führt auch diese aus dem Buch heraus: Das Titelfoto der Taschenbuchausgabe des Romans zeigt die Verladung eines Pferds - und wird von Toussaint selbst im Anhang des Romans als eine Textgenese auslösende „image fondatrice“ 1646 am Anfang des Romans situiert. Als komplexes Bild, das einerseits eine ästhetische Eigenzeit in der Erzählung besitzt, andererseits als ‚kondensiertes Bild‘ extraliterarisch (transmedial, inter‐ textuell) eingebettet ist, besitzt es eine starke Ausstellungsqualität der Literatur und in der Literatur. 4.4.5 Zufall und Kalkül: urgence und patience als Erzählprinzipien Für Toussaints literarische Poetik, wie auch sein Werk als Ganzes, ist eine Suche nach dem ‚passenden‘ Moment zwischen urgence und patience 1647 prägend, wie er etwa in seinem Artikel Le jour où j’ai fait ma première photo beschreibt: Très lentement alors, avec la lenteur juste des gestes apaisés, je soulevai l’appareil à la hauteur de ma poitrine, et, cadrant mentalement la photo, la cadrant d’instinct sans porter les yeux à la hauteur du viseur, d’un doigt sûr et précis, léger et sans tension, j’appuyai sur le déclencheur et fixai mon ombre sur la paroi. Et peut-être venais-je de mesurer là encore une fois ce que je savais déjà intuitivement, que la photo - et l’art - était une expérience de vie, une expérience intime dont le sens résidait davantage dans sa réalisation que dans les œuvres elles-mêmes. 1648 Toussaints Kunst thematisiert zwar den Zufall, setzt ihn aber nicht literarisch um. Im Gegenteil überlässt sie in ihrer vorgeblich mathematisch exakten, kalkulierten Konstruktion nichts dem Zufall. 1649 Die zahlreichen Selbstauskünfte und Offenlegungen des Autors zu seiner Literatur, seinen Absichten, Methoden und Schreibanlässen grenzt diese von ihren zahlreichen, auf seiner Internetseite 4 Aspekte literarischer Musealität 331 <?page no="332"?> 1650 Blancs, also auffällig lange Absätze und Abstände zwischen den Textabschnitten, sind bei den jeunes auteurs de Minuit weit verbreitet; vgl. Schoots: „Passer en douce à la douane“, S.-104-114; vgl. Semsch: Diskrete Helden, S.-102-102. 1651 Poirier: „Exister“, S.-39. 1652 Vgl. etwa Schoots’ Analyse zu La réticence: „[L]es blancs sont littéralement des passages non-imprimés : le roman est divisé en paragraphes séparés par des blancs de dimension ebenfalls publizierten Vorstufen ab, wodurch das Endprodukt und seine Vorar‐ beiten, das Werk und seine Rückseite unterschieden werden. Auch durch diesen paratextuellen Apparat demonstriert der Autor, dass der Weg zum ‚fertigen Werk‘ nicht auf göttlicher oder genialer Eingebung fußt, sondern arbeitsreich ist. Innerhalb der Erzählung jedoch können literarische Bilder plötzlich auf‐ scheinen und ein schlüssiges Ganzes ergeben, wie etwa, als der Erzähler Maries neuen Begleiter Jean-Christophe de G. sieht: Il avait surgi devant moi […] comme une figure de rêve, […] un spéctre spontanément apparu du néant“, als „image, immédiatement complète, cohérente et détaillée, s’étant soudain matérialisée devant moi à partir de rien […] comme créée ex nihilo de la substance même de la nuit“ (VM70) Die Beschreibung evoziert ein mediales Emergenz-Moment, vergleichbar mit dem Sichtbarwerden eines gerade geschossenen Polaroid-Fotos. Hier zeigt sich, dass die Erzählung selbst als von kaïros-Momenten geprägt erscheint, deren kreativitätsauslösendes Potential wirksam wird, da diese sich zu ganzen Geschichten im Kopf des Erzählers ‚weiterentwickeln‘ können, „pour les poursuivre en imagination“ (VM72) und „à échafauder des développements complets, déformant à l’occasion les faits, les transformant […] voire les dramatisant“ (VM73). 4.4.6 blancs und instantanés: Rhythmisierung und Ereignishaftigkeit Für das museale Erzählen prägende Zeitverfahren (wie Kondensation, Rahmung oder Reihung) werden auch typografisch-visuell nachvollzogen, insbesondere durch blancs 1650 , die in fast allen Toussaint-Büchern zu finden sind, am auffäl‐ ligsten in La Salle de Bain: Hier zeigen die durch Nummerierung noch stärker herausgehobenen Absätze das literarische als schriftbildliches Ereignis. Ihre Hervorhebung als „récit[s]-écran[s]“ 1651 stört den „grand récit“, die zusammen‐ hängende Erzählung, und die Lücken im Text machen zeitliche Leerstellen nicht nur les-, sondern auch sichtbar. 1652 Damit ähnelt die Leseerfahrung dem Gang 332 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="333"?> variable. Ils structurent non seulement le texte, mais aussi la narration.“ dies.: „Passer en douce à la douane“, S.-112. 1653 Ähnlich arbeitet Toussaint auch in Monsieur mit blancs: „Monsieur, ensuite […], téléphona à Anna Bruckhardt pour lui dire qu’il avait envie de dîner avec elle. [blanc] Le soir même. [blanc]“ (M98). Vgl. Keidel: Ästhetik des Fragments, S. 103-104, der feststellt, dass solche Abfolgen Kontinuität und eine filmschnittähnliche Dynamik erzeugen. 1654 Auch in der „Zahir“-Episode wird die Schilderung des Versuchs, das entflohene Pferd wieder einzufangen, von einem ungewöhnlichen blanc unterbrochen (vgl. VM116). Vor dem Hintergrund der Opposition von „visible“ und „invisible“, die die Passage prägt (vgl. Kap. III.4.4.4.), sowie ihrer prägnanten literarischen Licht-Dramaturgie zeigt sich das blanc hier entweder als Lichtkegel oder als das nicht Sichtbare. 1655 Dies erinnert an Robbe-Grillets Le Voyeur, vgl. Kap. II.3.1.1.2.1. Zudem steht das blanc hier wie ein Spiegel zwischen den Thematisierungen der beiden Aspekte Geburt („enceinte“) und Tod („cimetière“). 1656 Amar: „Dispositifs minimalistes ou réticents“, S.-194. durch eine Galerie: Die Verbindung der Anekdoten muss jeweils durch die Le‐ serschaft geleistet werden, wodurch gewissermaßen das einzelne Objekt (hier: Textfragment) über die Szenografie dominiert (vgl. Kap. II.3.3.). Gleichwohl zeigt sich auch eine Form der Rhythmisierung, also ein in den Vordergrund gerückter Zeiteffekt: „Elle voulait faire l’amour. [blanc] 14) Maintenant. [blanc] 15) Faire l’amour maintenant ? Je refermai mon livre posément […]“ (SdB17). 1653 In M.M.M.M., vor allem in Nue, werden blancs sparsamer, dafür aber umso effektiver eingesetzt; sie umfassen je fast eine halbe Seite und wirken so noch auffälliger: „[M]ais tu ne le vois pas, ce que j’ai ? Mais je suis enceinte, dit-elle. [blanc] En quittant le cimetière, au moment de remonter dans la voiture, je demandai à Marie si elle voulait que je conduise […].“ (N144) 1654 - hier besitzt das blanc nicht nur eine dynamisierende Funktion, sondern blendet Interessantes aus 1655 : die Reaktion des Erzählers auf die Nachricht seiner baldigen Vaterschaft. Auf der folgenden Seite fasst er seinen Gemütszustand zusammen und gibt damit eine Interpretation der auf typografischer Ebene aus‐ gestellten Präsenz-Absenz-Spannung ab: „[T]ant de choses qui m’avaient paru étranges ces derniers temps s’éclaircissaient soudain, tandis que tant d’autres s’obstinaient à me demeurer obscures“ (N144). Die Schwangerschaftsbotschaft ist eine ‚erhellende‘ Zäsur, die das blanc als ‚Szene der Schrift‘ (s. o.) inszeniert - aus der „absence de récit“ wird ein „récit de l’absence“ 1656 . Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen den frühen und späten Romanen: In ersteren sind blancs so präsent, dass der Text selbst als Ereignis erscheint, in letzteren so selten, dass die weiße Seite das Ereignis bildet. Ihre ausstellende Qualität ist somit in den späteren Büchern dominanter. Im Frühwerk werden Anekdoten durch blancs gerahmt, im späteren Werk dagegen selbst zum Teil des Erzählens. Im Frühwerk stellen sie einen Rhythmus her, inszenieren eine 4 Aspekte literarischer Musealität 333 <?page no="334"?> 1657 Vgl. Anne Amend-Söchting: „Minimal kryptischer Krimi um Krypto“, in: literatur‐ kritik.de, 15.07.2020, online unter: https: / / literaturkritik.de/ toussaint-der-usb-stick-mi nimal-kryptischer-krimi-um-krypto,26773.html,26773.html. 1658 De-Vriese: „La trace de Marie“, Absch. 9. 1659 Vgl. Régnier: „‚J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans‘“, die z. B. beobachtet, dass „le bain du narrateur de Faire l’amour sur le toit de son hôtel à Tokyo et les bains berlinois du narrateur de La Télévision dans un lac et dans une piscine, peuvent être rapprochés des moments où il arpente les musées“. Abfolge, in den späteren Büchern zeigen sie eine unbestimmbare, zeitliche Übergangszone. 4.5 Fazit - Literarische (Meta-)Musealität Toussaints Literatur, und ganz besonders seine M.M.M.M.-Romane, weist einen ausgeprägten „expositorischen Touch“ 1657 und eine prägnante literarische Mu‐ sealität auf. Dies hat sich in allen vier betrachteten Teilbereichen gezeigt. Zu dieser Musealität tragen sowohl besondere Subjektdispositionen (etwa die subversive impassibilité der Erzähler) als auch besondere Figuren- und Er‐ zählkonstellationen bei, die schon in der (frühen) littérature impassible Toussaints angelegt sind und in den M.M.M.M.-Romanen weiter ausdifferenziert werden: so das (Macht- und Blick-)Verhältnis zwischen dem Erzähler und der „person‐ nage multiforme“ 1658 Marie, die als Museumsobjekt und erzähltes Kunstwerk beschrieben wurde, andererseits als ‚Museum‘, Kuratorin und Künstlerin. Dinge und Materialität werden (her-)ausgestellt, inszeniert, gereiht, isoliert und semantisiert; sie sind jedenfalls mehr als literarisches Dekor und stehen im Dienst einer Repräsentationsreflexion. Wenn im realistischen Roman Zolas das ästhetische Ideal der transparence mit einer ‚transparenten‘ Ausstellungsarchi‐ tektur zusammentrifft, so kommen bei Toussaint eine semi-permeable Materia‐ lität oder eine ‚materielle Immaterialität‘ mit einem unzuverlässigen Erzähler und einer gegenwärtigen Architektur im Zeichen einer condition postmatéria‐ liste zusammen. Zwar lassen genaue Beschreibungen ein innerliterarisches réel entstehen, dieses zeigt sich bei genauerem Hinsehen aber als unzuverlässiger Ausdruck der réticence der Erzählerfiguren. Anders als etwa in Balzacs Père Goriot gehen diese ein Raum-Verhältnis in Form einer ‚negativen Deckung‘ gerade an non-lieux, leeren und dezentralen Orten ein. Dies ist überraschend, da oben gerade solchen Räumen ein museales Potential abgesprochen wurde (vgl. Kap. II.4.2.1.1.4.). Gezeigt hat sich die Notwendigkeit einer das Gesamtwerk umspannenden, übergreifenden Lektüre des Rauminventars - nicht nur, um eine Werkevolution und Beziehungen zwischen den Werken herauszuarbeiten. 1659 Deutlich wird 334 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="335"?> 1660 Toussaint: C’est vous l’écrivain, S.-139. 1661 Robbe-Grillet: „Temps et description dans le récit d’aujourd’hui“, S.-161. dadurch, dass auch die literarische Topographie musealen Mustern folgt: Sie vollzieht die explosion des europäischen zentralistischen Museums nach, und interessiert sich generell für den Aspekt der Zentralität, wobei sowohl die To‐ pografien als auch die Werkanlage insbesondere um ‚leere Zentren‘ organisiert sind. „Si écrire, c’est bâtir un espace, c’est aussi construire du temps, créer dans les livres une illusion de temps véritable. Écrire, c’est en quelque sorte tisser du temps“ 1660 : Neben dem Raumzeigt auch das Zeiterzählen eine dezidiert literarische Welt, die ihren Konstruktionscharakter ausstellt. Zeit wird ‚materia‐ lisiert‘ und auf verschiedene Weise sprichwörtlich ins Licht gerückt („Zahir veut dire visible“); in dieser Ambition, „le mouvement même de la description“ 1661 zu zeigen, ist Toussaint durchaus dicht an Robbe-Grillet. Werden literarische Sonderzeiten in den frühen Büchern insbesondere über textbildliche Verfahren (blancs) erzeugt, so werden sie in den späten auf der Erzählebene realisiert. Museal geprägt ist das Erzählen auch, indem es die Erzählung mit Momenten ästhetischer Eigenzeiten durchsetzt und rhythmisiert. Todesanspielungen und -symbolik, erzählerische Zäsuren und präsentische Bilder sowie Versuche, die nicht haltbare Zeit zu bannen, evozieren einen zugleich tödlichen und verle‐ bendigenden (Musealisierungs-)Prozess. Damit weist das Erzählen in der Erzäh‐ lung auf die Literatur Toussaints zurück, welche Zeit einerseits festschreibt und andererseits jedes Ordnungskriterium hintergeht: Dinge, Ereignisse, Anekdoten sind zeitlichen Folgen unterworfen, die jedoch in den frühen Werken subtil, in den späten Werken offensichtlich perturbiert werden. In der erzählten Welt kommen unterschiedliche ‚Zeiten des Museums‘ zusammen. Blancs und Nummerierungen, aber auch die sich durch das Werk ziehenden Reflexionen zur Absurdität von Jahreszahlen betonen die (Un-)Möglichkeiten der Literatur, die erzählte Zeit zu beherrschen. Dies scheint allenfalls punktuell möglich: solange der Schmetterling noch lebt. 4.6 Annex: Toussaints musée imaginaire Bevor es um explizite ‚Bilder des Museums‘ (Kap. III.5.) geht, interessiert sich der folgende Abschnitt für die Funktion der Literatur als ‚Museum der Bilder‘. Er wird als Zwischenkapitel eingeschoben, da die hier beschriebenen, kunstgeschichtlichen Referenzen (vgl. Kap. II.3.2.2.) zur literarischen Musealität 4 Aspekte literarischer Musealität 335 <?page no="336"?> 1662 Erwähnt wird neben dem bezeichnenden Schauplatz etwa jener „bus 87“ (N156), dessen Vorbeifahren auch Perec regelmäßig registriert (vgl. Perec: Tentative, etwa S. 12, 13, 14, 18, 19). beitragen, ohne sich aber den vier vorgeschlagenen Hauptkategorien zuordnen zu lassen. Wie gezeigt (vgl. v. a. Kap. III.2.1.), ist Toussaints Werk seit dem Debütroman von zahlreichen Referenzen auf andere Künste und Kunstwerke durchzogen. Diese sind oft Teil der Lebenswelt der Protagonisten. In La Salle de Bain arbeitet die Freundin des Erzählers in einer Galerie, die Hauptfigur in La Télévision ist Kunsthistoriker, Marie in den M.M.M.M.-Romanen ist Künstlerin. Angesichts dessen fällt besonders auf, dass Kunstwerke von den jeweiligen Erzählern eher desinteressiert abqualifiziert werden - wenn etwa ein Werk Raffaels im Debütroman mit einem knappen Urteil bedacht („ce n’était pas mal, Raphaël“, SdB26), oder die Kunst Maries während ihrer Ausstellungseröffnung kaum eines Satzes gewürdigt wird (vgl. Kap. III.5.3.). Man könnte darin einen weiteren, innerliterarischen Kommentar zum Konkurrenzverhältnis der Künste sehen (vgl. Kap. III.2.1.), das hier, wie immer bei Toussaint, eindeutig zugunsten der Literatur ausfällt. Ausführlicher beschriebene Kunstwerke haben indessen meist eine ‚die‐ nende‘ Funktion für die literarische Erzählung. Die sehr sehr detaillierte Be‐ schreibung des Portrait de Charles Quint in La Télévision (vgl. TV196) ist ähnlich wie Huysmans‘ Moreau-Ekphrasis (Vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.) eine Illustration des erzählerischen Blicks, der sich hier in einem Modus „à méditer paisiblement“ (TV183) befindet. Auch dem Erzähler selbst dienen Bildanspielungen vor allem zur Illustration. Zu nennen sind die Schwangerschaftsankündigungen Maries: Eine zunächst nur ‚imaginäre‘, als der Erzähler sie von der Straße aus in einem Pariser Café sieht und wie durch eine Eingebung plötzlich von ihrer Schwangerschaft weiß, und eine tatsächliche, zwei Tage später in Portoferraio. Schon die erste wird explizit in einen Kontext der ‚Stadt als Museum‘ situiert. Bevor der Erzähler das Café an der Place Saint-Sulpice betritt, wodurch Perecs Tentation d’épuisement d’un lieu parisien aufgerufen wird 1662 , etabliert die detaillierte Ortsbeschreibung einen Ausstellungskontext („quelques vitrines“, „la façade“, „les vitres“, „la baie vitrée“, vgl. N88-89). Wie Perec beobachtet der Erzähler seine Umgebung minutiös, und versucht von Maries Erscheinung auf ihre Absichten zu schließen. Ihr Anblick erinnert ihn zunächst an „une image du XXIe siècle“ mit Anklängen an Nan Goldins Fotos und an Edward Hoppers Gemälde Nighthawks; die zweite Schwangerschaftsankündigung auf dem Friedhof von Portoferraio hin‐ gegen evoziert aufgrund verschiedener „détails iconographiques“ (N157) ein 336 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="337"?> 1663 Vgl. Thiemeyer: Das Depot als Versprechen, S. 230 (vgl. Kap. II.3.1.2.1.). Derartige Bildverweise, bei denen Gemälde etwas Komplexes ‚Anderes‘ repräsentieren, sind auch ein transmediales Phänomen: In La Télévision vergleicht der Erzähler das Aussehen der Figur John Dory mit der Mona Lisa: „[T]ant dans l’expression brillante de ses yeux que dans le sourire des plus enigmatiques […] il ressemblait à la Joconde“ (TV183, vgl. Jeannerod: „L’image télévisuelle“, S. 159). Für die Ausstellung Livre/ Louvre fotografierte Toussaint seine Schriftstellerkollegen vor ausgewählten Gemälden des Louvre. Im Katalog La Main et le Regard stellt er eine „ressemblance psychologique“ zwischen dem Werk Emmanuel Carrères und dem Gemälde Le Triomphe de David (Bartolomeo Manfredi) fest (MR159). In allen drei Beispielen verweisen die Gemälde auf einen Eindruck, die „essence“ (TV14) der Wahrnehmung, denn Malerei vermag (anders als etwa das Fernsehen) „à alimenter l’imaginaire et la pensée du spectateur“ ( Jeannerod: „L’image télévisuelle“, S.-161). 1664 Vgl. Semsch: Diskrete Helden, S. 149-50, der diese These mit Beispielen aus L’Appa‐ reil-photo und La Télévision belegt (vgl. auch VM57, VM60). „tableau florentin“ (N156). Von anderen Mariendarstellungen der Renaissance unterscheide Marie sich, so der Erzähler, da sie nicht „dou[ce], majestueu[se] et recueilli[e]“, sondern aufgebracht und vorwurfsvoll wirke. Als Vergleich findet er nach längerem Nachdenken die Annonciation de Botticelli qui se trouve aux Offices, où la Vierge présente une étonnante ressemblance psychologique avec l’état d’esprit de Marie […], cette Vierge de Botticelli, qui, dans l’histoire des Annonciations italiennes, est, à ma connaissance, l’unique exemple de cette attitude de réticence de la Vierge […] - comme si Botticelli n’avait pas peint une Annonciation mais un Noli me tangere-! (N158) Die Szene zeugt nicht nur von Maries réticence, sondern auch von jener des Erzählers, der die Schwangerschaftsnachricht vernimmt und dabei kunst‐ geschichtliche Vergleiche anstellt. Mit ihnen ordnet und analysiert er seine Lage. Die Gemälde fungieren hier nicht als „Werke“, sondern im eigentlichen Sinne als „Exemplare“ zur „Erzeugung von Evidenz“, die darauf verweisen, worum es eigentlich geht. 1663 Die Bezüge charakterisieren auch den Erzähler, der offensichtlich über gute Kunstkenntnis verfügt, und außerdem einen starken Drang zur Kategorisierung, zur Erfassung von Augenblicken besitzt. In ihnen kommt abermals ein besitzergreifender Sammlerblick zum Tragen. Man könnte auch von einem ‚Kuratorenblick‘ sprechen, der das auf der Handlungsebene artikulierte Ideal des „associer avec puissance“ (vgl. Kap. III.4.1.2.2.) reprodu‐ ziert. 1664 Berücksichtigt man die oben gemachten Beobachtungen zur literarischen Topographie (vgl. Kap. II.3.4.1.), so ist bemerkenswert, dass Kunstbezüge (außer in La Télévision) kaum in Museumspassagen hergestellt werden, sondern etwa, wenn sich der Erzähler in Café oder Schwimmbad befindet. So wird die ‚Welt 4 Aspekte literarischer Musealität 337 <?page no="338"?> 1665 Joël Loehr: „Engins et génie du roman dans le Cycle de Marie“, in: Jean-Michel Devésa (Hg.): Lire, voir, penser l’œuvre de Jean-Philippe Toussaint. Colloque de Bordeaux, Bruxelles: Les impressions nouvelles 2020, S. 325-333, hier: S. 325; vgl. ders.: „Le Musée Imaginaire et l’imaginaire du roman“. Die Metapher des musée imaginaire ist auch in Bezug auf das intermediale, intertextuelle Gewebe des toussaintschen Gesamtwerks durchaus anwendbar. Denn dieser liegt nicht ein konkretes Werk zugrunde, sondern ein weitverzweigtes Reflexions- und Publikationsnetzwerk, wie bei Malraux selbst; vgl. Grasskamp: André Malraux und das imaginäre Museum, S.-47. 1666 Vgl. Malraux: Les voix du silence, S. 213, der diese Möglichkeit wiederum als Kapazität der Literatur bezeichnet: „La reproduction a créé des arts fictifs (ainsi le roman met-il la réalité au service de l’imagination)“. Vgl. auch Kap. II.4.2.1.1.2. 1667 Pascale McGarry: „The Metaphor of Painting in Toussaint’s Novel L’Appareil Photo“, in: Jeff Morrison u. Florian Krobb (Hg.): Text Into Image: Image Into Text. Proceedings ot the Interdisciplinary Bicentenary Conference held at St. Patrick’s College Maynooth (The National University of Ireland) in September 1995, Amsterdam/ Atlanta: Rodopi 1997, S.-249-255, hier: S.-250. zum Museum‘, und der Erzähler zum Museumsgänger hors les murs. Sein Referenzsystem an kunstgeschichtlichen Bezügen umfasst ein großes Inventar, eben von Botticelli bis Goldin. Toussaints „musée imaginaire“ 1665 funktioniert in dieser Hinsicht durchaus wie jenes Malraux’, indem es neue kunstgeschichtliche Querbezüge herstellt und auf jede passend erscheinende Referenz zugreift. 1666 Côté rigide und côté coulant - Rothko und Mondrian Andere Anspielungen gehen darüber hinaus, indem sie nicht nur bestimmte Künstler und Werke zitieren, sondern eine ‚Wirkungsäquivalenz‘ zwischen Kunst und Literatur herstellen und sich so einer dezidierten Ausstellungsfunk‐ tion der Literatur bedienen (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.). Dies lässt sich anhand der Maler Mark Rothko und Piet Mondrian zeigen. Am Ende von L’Appareil-photo sieht der Erzähler, als er in einer Telefonkabine döst, eine „réalité toute autre“, mit „formes tremblantes aux contours insaisis‐ sables“ und mit der „douceur d’un flux inutile et grandiose“ (AP125). Der Name des Malers, der schon vorher gefallen ist (AP93, AE37), wird hier nicht erwähnt, doch seine Kunst bildet einen Meta-Kommentar zur literarischen Ästhetik des Romans, der hier und an anderen Stellen von „the emergence of an impossible challenge in the desire by the narrator to catch the very elusiveness of the thought process without destroying its beauty“ 1667 handelt. Dies kulminiert in dem bereits zitierten (vgl. Kap. III.4.3.3.) Denkbild am Romanende, dem Versuch, den beginnenden Tag festzuhalten, „comme on immobiliserait l’extrémité d’une aiguille dans le corps d’un papillon vivant“ (AP127). Es steht aber auch für die ‚präsentische Absenz‘ des Erzählers, der sich dem réel durch eine Suchbewegung nähert, die der eines abstrakten Malers - und Rothkos im Speziellen - gleicht: 338 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="339"?> 1668 McGarry verweist in diesem Zusammenhang auch auf das folgende Rothko-Zitat: „I don’t express myself in my painting, I express my not-self.“ in: James E.B. Breslin: Mark Rothko. A Biography, Chicago 1993, S. 274, zit. nach McGarry: „The Metaphor of Painting“, S. 253. Eine ähnliche Beschreibung des Himmels findet sich auch in La Vérité sur Marie (vgl. VM158). Darüber hinaus sieht McGarry auch einen Einfluss Rothkos auf das gesamte Romankonzept: „Like Rothko‘s paintings, Toussaint’s novel creates a suspense and a sense of mystery, facing the same risk of being dismissed as bluffers“ (S.-252). 1669 Schon der Verweis auf das Öl lässt an die Malerei denken. 1670 Vgl. etwa Semsch: Diskrete Helden, S.-147. [ J]’aurais pu prendre quelques photos du ciel à présent, cadrer de longs rectangles uniformément bleus, translucides et presque transparents, de cette transparence que j’avais tant recherchée […] quand j’avais voulu essayer de faire une photo, une seule photo […]. (AP112) 1668 In späteren Werken finden sich immer wieder Passagen, die als flächige „images à lire“ (vgl. Kap. II.3.1.1.2.2.) mit ineinanderfließenden Farben funktionieren. In Autoportrait (à l’étranger) beruft sich der Erzähler beim Blick aus einem Flugzeugfenster auf den Maler: [ J]e pouvais tout aussi bien apercevoir la lune sur la droite et l’appareil qui brillait dans le ciel […], que le soleil, au loin, vers lequel nous nous dirigions, et qui n’était encore pour l’instant qu’une lueur trouble rose orangée pareille à ces contours cotonneux de Rothko qui embrasait l’horizon de ce ciel immense régulièrement partagé entre le jour et la nuit, entre l’Europe et l’Asie. (AE37) Auch in Fuir zeigen sich mehrere solcher Farbverläufe: als Himmelserscheinung im smoggeplagten Peking („La légère nappe de brouillard rose […] se fondait à l’horizon dans des brumes de pollution noirâtres“, F85), oder am Romanende, das auf die ‚Multiforms‘ Rothkos Bezug nimmt. Inszeniert wird das Wiedersehen des Erzählers mit Marie in ineinanderfließenden Farbkontrasten, etwa die „plage d’oxyde de fer, qui bordait une mer d’huile, mais noire, une mer d’huile noire“ (F160) 1669 , sowie in der Beschreibung der Horizontlinie: „le soleil avait déjà beaucoup décliné dans le ciel, qui n’était plus à l’horizon qu’une ligne de braises rouge orangé sur le point de s’éteindre dans l’humidité de l’eau“ (F162). Steht Rothko gewissermaßen für die côté fluide bei Toussaint, so Piet Mondrian mit seinen klar getrennten, strengen Formen für die côté rigide (vgl. Kap. II.4.2.3.). Auch seine Kunst ist ein Darstellungsideal in mehrfacher Hinsicht: So wird in dem berühmten „Dame-Blanche“-Gleichnis, einer vielzitierten Szene in La Salle de Bain 1670 , die „perfection“ der Nachspeise zwischen „[l]e chocolat onctueux sur la vanille glacée, le chaud et le froid, la consistance et la fluidité“, 4 Aspekte literarischer Musealität 339 <?page no="340"?> 1671 Vgl. Schoots: „Passer en douce à la douane“, S.-77. 1672 Vgl. ebd., S.-77. 1673 In genau diesem - sich selbst ausstellenden - Habitus besichtigt auch die wichtig‐ tuerische Figur Pierre Signorelli in Nue die Ausstellung Maries: „[Il] déambulait majestueusement dans l’exposition, les mains derrière le dos“ (N72). 1674 Vgl. zu diesen Beispielen auch Marie-Clémence Régnier: „‚J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans‘“. zwischen „[d]éséquilibre et rigueur, exactitude“ mit „[u]n Mondrian“ (SdB14-15) verglichen. Der Maler steht für den Erzähler auch als Idealvertreter einer Kunst der „immobilité“: Aucun peintre n’a voisiné d’aussi près l’immobilité. L’immobilité n’est pas l’absence de mouvement, mais l’absence de toute perspective de mouvement, elle est mort. La peinture, en général, n’est jamais immobile. Comme aux échecs, son immobilité est dynamique. Chaque pièce, puissance immobile, est un mouvement en puissance. Chez Mondrian, l’immobilité est immobile. (SdB84) 1671 Diese Beschreibung von minimal art ließe sich auch auf eine écriture minimaliste beziehen; eine Selbstsituierung, die den blancs und den kurzen, nummerierten Abschnitten eine erzählerische Dynamik und Kraft zuspricht, die gerade aus dem Stillstand entsteht - so wie der Erzähler in La Salle de Bain in der Badewanne die Ruhe findet, seine Gedanken zu entwickeln. 1672 Es zeigt sich hier noch einmal die Notwendigkeit einer werkübergreifenden Lektüre der Literatur Toussaints. Erst in der Gesamtschau wird das umfang‐ reiche Inventar unterschiedlichster Künstler in Toussaints musée imaginaire sichtbar, aber auch damit verbundene ästhetische Formen literarischen Erzäh‐ lens - insbesondere der Einfluss der Maler Mondrian und Rothko, die sich auch in den Erzählverfahren niederschlagen. 5 Bilder des Museums Museen und museumsnahe Orte kommen in fast jedem Toussaint-Roman vor, und werden manchmal nur knapp anzitiert: In La Salle de Bain wird eine Wohnung besichtigt, „de la manière dont on visite un musée, les mains derrière le dos“ (SdB40). 1673 In La Réticence erinnert den Erzähler das Bett seines Kinds inmitten eines fast leeren Hotels in einem Inseldorf an ein „petit centre Georges-Pompidou“ (R81). 1674 Es finden sich jedoch auch zahlreiche zentrale, ausformulierte Museums‐ szenen. Anders als die meisten anderen literarischen Orte (etwa Hotels, vgl. Kap. III.4.3.1.) handelt es sich nicht um imaginierte, sondern tatsächlich existierende 340 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="341"?> 1675 Vgl. folgende Beschreibung des Centre Pompidou in La Télévision: „Au bas des lents escaliers mécaniques qui mènent à l’étage inférieur de la bibliothèque de Beaubourg, sur lesquels je me laissais descendre (je vivais à Paris à ce moment-là), immobile et pensif, les bras croisés, jouissant paisiblement de la superbe vue plongeante sur l’immense salle de lecture […]“ (TV64). 1676 Das Appartement Maries funktioniert hier wie ein Spiegelbild des Louvre in Fuir, was die Gegenüberstellung beider Orte plausibel macht. Der erwähnte „éclair“, vielleicht ein dezenter Verweis auf Baudelaires À une passante, steht zudem für einen Moment schockhafter, städtischer und musealer Zäsur-Erfahrung (vgl. auch Kap. II.4.2.2.2.3). 1677 Vgl. auch La Télévision, wo der Erzähler Frau und Kind am Flughafen „s’engager sous le petit arc de triomphe sommaire du détecteur des métaux“ (TV18) sieht; vgl. Décarie: „Aménager le monde“, S.-264. 1678 Ebd., S.-262. Museen, die teils sehr realistisch gezeichnet sind. 1675 Entsprechend der ‚Aus‐ landsmobilität‘ der Figuren erstrecken sich diese zentralen Museumsbilder über die gesamte Topographie der Romanwelt (europäische Metropolen, Kap. III.5.1., asiatische Großstädte, Kap. III.5.2., Mittelmeerraum, Kap. III.5.3.). In ihnen kulminieren zahlreiche der bereits herausgearbeiteten Aspekte zur Musealität der Literatur Toussaints. 5.1 „en direction du Louvre“: westliche, zentrale Museen Auch beiläufige Erwähnungen des europäischen Museums liefern Hinweise, dass dessen zentrale und zentralisierende Qualität für Toussaint durchaus eine Rolle spielt. So kann man den Verweis auf den Louvre zu Beginn von La Vérité sur Marie verstehen: Kurz vor seinem Tod steht Jean-Christophe de G. in Maries Appartement am Fenster und betrachtet ein heraufziehendes Gewitter, „un éclair au loin, vers la Seine, en direction du Louvre“ (VM18). Das Museum wird als Fixpunkt in der Stadttopographie herausgestellt und durch die Verbindung mit dem todbringenden Handlungsort, der selbst Ausstellungsqualitäten besitzt (vgl. Kap. III.4.2.1.), innerhalb eines urbanen syntagme muséal situiert. 1676 Auch die zitierte Anspielung auf das Centre Pompidou in La Réticence (s. o.) steht in der Logik der geschriebenen Topographie Toussaints, die von Paris geprägt ist - selbst, wenn die Handlung anderswo stattfindet. 1677 Der Verweis funktioniert daher wie Maries Spitzname „MoMA“: „[Le] monumental est […] relégué à une opération de transformation, ici le muséal est rabattu sur l’individuel“. 1678 Das Große zu miniaturisieren, das Kleine dagegen zu vergrößern, ist wieder 5 Bilder des Museums 341 <?page no="342"?> 1679 Als Strategie der Raumbeherrschung eines unübersichtlichen Umfelds liest Décarie verschiedene Verfahren der Miniaturisierung (der Blick vom Hotelschwimmbad aus auf die nächtliche Megacity) oder Maximierung (die Kristallleuchter in der Hotellobby ähneln „des gouttes d’eau géantes […] ou […] des larmes“, FA106). Diese Verfahren stehen für den Versuch „[de redimensionner] la terre, cela revient donc à en faire un lieu, un ‚quelque part‘ pour y inscrire ses propres coordonnées“; ebd., S.-261-262. 1680 Camus: „L’art de la conversation impossible“, S. 89, wertet dieses Desinteresse als Ausdruck einer réticence, als „manière critique de se dérober à l’exigence d’idéalisation que suppose la représentation de soi dans la mise en scène de la vie quotidienne“. 1681 Ein Wiedergänger dieser Form des selbstbewussten Besuchers, dem ein Museum nichts Neues zu erzählen hat, findet sich in der Figur Pierre Signorelli in Nue, „qui […] déambulait majestueusement dans l’exposition, les mains derrière le dos […], comme s’il faisait une tournée d’inspection […], jetant à l’occasion un regard critique et mesuré sur les œuvres“ (N72). 1682 Thematisiert wird auch die Geschichte des Museums, seine Unterteilung in ethnologi‐ sche Sammlung (die den Erzähler weniger interessiert, vgl. TV185) und Gemäldegalerie. ein Modus der Musealisierung der Welt, der sich hier durch den Versuch einer Raumbeherrschung des Erzählers 1679 erklärt. Angesichts solcher Manöver überrascht es nicht, dass sich in den expliziten Museumspassagen die Erwartung an das Museum als Ort der Sinnstiftung oder Erkenntnis nicht erfüllt. Schon in La Salle de Bain beachtet der Erzähler weniger die Kunstschätze Venedigs als vielmehr deren Bewunderer, über die er sich abschätzig äußert („on eût dit qu’ils n’avaient jamais vu une arbalète“, SdB78) und bleibt indifferent gegenüber den Werken, die seine Partnerin ihm in einem Kunstkatalog zeigt („elle me demanda ce que je pensais de l’œuvre de ce peintre. C’était difficile à dire“, SdB78-79). 1680 In Monsieur tritt die Hauptfigur selbst in Konkurrenz zum Museum als Reflexionsort: Monsieur, […] un samedi après-midi, emmena ses nièces au Palais de la Découverte. Ils traversèrent les salles en coup du vent, les petites trottinant assez loin derrière lui, et, s’arrêtant parfois devant une vitrine, Monsieur, ne perdant jamais une occasion de les instruire, essayait de leur donner à comprendre les grands principes de la vie […]. (M72) Die Kinder folgen ihren Interessen, Monsieur gibt den Welterklärer 1681 - nicht nur zwei Rezeptions-, sondern auch zwei Vermittlungsmodi stehen sich ent‐ gegen, die des Museums und die des Erziehers. Neben diesen kurzen, aber bezeichnenden Textstellen thematisieren mehrere Passagen das Museum zentral und ausführlich. In La Télévision ist es vorder‐ gründig kein Erinnerungs-, Reflexions- oder Begegnungsort. Ein Besuch im differenziert geschilderten Dahlemer Museum 1682 liest sich wie ein Gegenent‐ wurf zur Bergotte-Szene Prousts (vgl. TV183-197, Kap. II.4.2.2.2.3.): Wie in der 342 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="343"?> 1683 Vgl. Jeannerod: „L’image télévisuelle“. 1684 Barthes: La chambre claire, S.-48. 1685 Unter dem Gesichtspunkt eines angenommenen syntagme muséal (vgl. II.2.1.) ist interessant, dass der Erzähler nach dem Museum ein Schwimmbad besucht (vgl. TV197); hier zeigt sich die ‚Welt als Museum‘, indem ein höchst kreativer Blick zu Tage tritt, etwa im Vergleich des Kommens und Gehens vor der Dusche mit Cranachs Jungbrunnen (vgl. TV218). Prisonnière durchquert der Besucher die Räume „le plus vite possible“, lässt „Nattier, Boucher, Largillierre, Hoppner et Raeburn“ (TV185) hinter sich, um sich schließlich vor einem Gemälde auf einer Bank niederzulassen. Wie Bergotte das Vermeer-Gemälde, so inspiziert der Erzähler Toussaints das Dürer-Portrait Hieronymus Holzschuher aufs Genaueste. Doch im ersten Fall führt die Betrach‐ tung zum Tod, hier aber zum Appetit auf ein Käsebrot (vgl. TV189). Lediglich, um unverdächtig zu erscheinen, blättert der Erzähler in seinen Notizbüchern, mustert schließlich sogar ein Gemäldedetail aus der Nähe, worauf ein Aufseher ihn ermahnt (vgl. TV191) - weitere Reflexionen ergeben sich daraus nicht. Gleichwohl wird hier eine Art museale Eigenzeit sichtbar, die im Kontext des Romans besonders in Opposition zum flux der Fernsehbilder steht 1683 : Das Werk wird in aller Ruhe in Augenschein genommen („je m’approchais une dernière fois du portrait de Jérôme Holzschuher avant de quitter la salle, me penchant un instant vers le bas du tableau pour observer un détail“, TV191). Mit Barthes könnte man von einem Moment des studium sprechen, „une sorte d’investissement général, empressé, certes, mais sans acuité particulière“ 1684 - das punctum bleibt aus. In diesem Sinn ist das Museum hier ein Rückzugsort zur Entspannung und Prokrastination, ähnlich dem Schwimmbad 1685 und anderen Freizeitorten. Nach einem Besuch des Museumscafés landet der Erzähler in einem Hei‐ zungsraum, dessen Beschreibung das Museum als eine Art nach innen gekehrtes Centre Pompidou zeigt: „[L]es murs et le plafond entièrement recouverts de tuyaux de différentes tailles, certains épais, ronds, coudés, tels des conduits de chauffe-eau, d’autres fins, en cuivre, qui couraient tout au long de la salle […]“ (TV194). Was das Centre Pompidou als Metamuseum leistet, die Sichtbarma‐ chung seiner ‚Kulissen‘ (vgl. Kap. II.2.1.), wird hier durch den Erzähler herbei‐ geführt. Als dieser dann in die Gänge des Wachpersonals eindringt und in einem Videoüberwachungsraum landet, kommt es schließlich zu einem intensiven Kunsterlebnis. Wurden zuvor zwar Museumswärter und -besucher detailreich beschrieben, nicht aber die Dürer-Gemälde, ‚erscheint‘ nun - über einen Vide‐ oüberwachungsschirm kaum zu erkennen - Ambergers Portrait Kaiser Karl V. (vgl. Kap. III.3.1.2.5.). Hier erlebt nun auch der toussaintsche Museumsgast 5 Bilder des Museums 343 <?page no="344"?> 1686 Wie bei Proust findet auch bei Toussaint die Materialität des Gemäldes Beachtung („la peinture lézardée par endroits, le vernis fendillé“, TV196). 1687 Dies ist ein Toussaint-typisches Motiv. Sei es der Blick ins geschlossene Kunstmuseum von Kyoto („Je collai mon visage à la vitre et regardai un instant à l’interieur“, FA131), oder das Vordringen in verbotene Bereiche des Contemporary Art Space (vgl. Kap. III.5.2.). Auch in diesem Fall lässt sich wieder der Aspekt des subversiven Hintergehens erkennen, aber auch ein im Werk Toussaints insgesamt angelegtes Interesse für das making of und die Rückseite eines Werks. 1688 Vgl. zu der gängigen Motivkonstellation Museum-Bahnhof/ Reise Kap. II.2.1. 1689 Auch für Toussaint handelt es sich bei dieser Passage um eine Flucht; sie bildet den Ausgangspunkt, die „image initiale“ des ganzen Romans Fuir (vgl. ders. u. Tong: „Écrire, c’est fuir“, S. 180), aber auch der Ausstellung im Louvre, denn durch sie kam Toussaint in Kontakt mit dem Museumskurator Pascal Torres. Toussaint selbst bezeichnet sie daher als frühe Vorbereitung der Ausstellung. Vgl. Martens: „Un écrivain dans les couloirs du Louvre“, S.-7. 1690 Dass Toussaint dann genau diese Szene in einem Kurzfilm umgesetzt hat, bedeutet ein tatsächliches (intermediales) Entziehen Maries aus der (literarischen) Erzählung, aus welcher Marie hingegen keine Flucht möglich ist - denn hier hängt sie letztlich doch von der Gunst des Erzählers ab; vgl. Kap. III.4.1.2.1. sowie Schneider: „Basta avec moi maintenant“, S.-31. seinen pan de mur-Moment -1686 , eine veritable Zäsur-Erfahrung. Dabei ist es der ‚seitliche‘ und medial vermittelte Zugang, der museale Funktionen wirksam werden lässt, resonance und wonder auslöst. Die Dysfunktionalität des Museums hebt sich auf, indem der Ausstellungsraum wortwörtlich hintergangen wird. 1687 Ähnliches zeigt sich auch in der wohl komplexesten, bereits oben erwähnten Thematisierung des Museums in M.M.M.M., wo Marie sich im Louvre aufhält und den Erzähler anruft, nachdem sie vom Tod ihres Vater erfahren hat (vgl. Kap. III.3.2.1.). Das Museum ist hier Teil eines komplexen Motivgefüges zwischen Tod (die Nachricht vom verstorbenen Vater Maries) und Reise (der Erzähler im Nachtzug). 1688 Es ist hier zwar zentraler Handlungsort, wird aber nur vermittelt wiederge‐ geben: Sein Bild entsteht hier erst in der Imagination des Erzählers, mittels der durch eine brüchige Telefonverbindung übertragenen Stimme Maries. Wie in La Télévision liegt es also gewissermaßen hinter der Erzählung, einem ‚Träumen mit offenen Augen‘ („fermer les yeux en les gardant ouverts“, MR134) und dem Übermittlungsmedium, hier dem Telefon. Auch die Aufladung mit Zitaten von Proust und Kafka (vgl. Kap. III.3.2.1.) erinnert daran, dass wir es hier mit einem erzählten Ort zu tun haben. Wurde oben Marie als ‚Muse‘ des Erzählers (vgl. Kap. III.4.1.2.1.) benannt, so flieht sie hier gewissermaßen auch aus dessen Erzählung - „comme pour fuir de la nouvelle“ (F48) 1689 heißt es doppeldeutig über Maries Lauf 1690 , und wird vom 344 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="345"?> 1691 Schneider zeigt, dass sich die Handlungsorte zwischen Roman und Film fast deckungs‐ gleich übereinanderlegen lassen. Vgl. dies.: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S.-149. 1692 Vgl. Ryan u.a.: Narrating Space / Spatializing Narrative, S.-204. 1693 Vgl. auch die Aussagen Toussaints zu seinem Kurzfilm Fuir in Torres: „Jean-Philippe Toussaint. Hommage au livre“, S. 80: „J’insiste sur l’immobilité des statues […]. [Les antiques] révèlent […] un symbolisme, que j’espère léger mais évident, du deuil […].“ 1694 Vgl. Toussaint u. Tong: „Écrire, c’est fuir“, S.-180. 1695 Welzbacher: Das totale Museum, S.-50. 1696 Vgl. ähnlich Déotte: Le musée, l’origine de l’esthétique, S.-78; vgl. Clair: Malaise dans les musées, S. 64 („le mot ‚Louvre‘ à son tour brillera dans la nuit de l’ignorance comme le panneau lumineux d’une banque […]“). Erzählobjekt zur Erzählerin - wobei ihr Erzählen sich auch über das bekannteste Museum der Welt erhebt. Die rasche ‚Flucht‘ Maries aus dem Museum verstößt gegen die Konvention des kontemplativen Schlenderns, die gerade der Louvre verlangt. Bis ins Detail erinnert der Lauf an die berühmte Filmszene in Jean-Luc Godards Film Bande à part (1964), in der die Figuren das Museum so rasch wie möglich durchqueren 1691 , aber abermals auch an die Proust-Passage, als Bergotte die Ausstellung ohne Sinn für die anderen Werke passiert („Il passa devant plusieurs tableaux et eut l’impression de la sécheresse et de l’inutilité d’un art si factice“). Während die Erzählung selbst als contact zone (zwischen Tag und Nacht, Europa und Asien, Mann und Frau, Sex und Tod) funktioniert, wird das Museum als Prototyp eines ‚Display‘-Museums 1692 gezeigt, das Objekte und Besucher miteinander konfrontiert. Es vermag keinen Trost, keine Erkenntnis, ja nicht einmal Schatten zu spenden. Die untypisch leeren Museumsräume („les escaliers de marbre inondés de lumière“, F45) sind abweisend wie die antiken Statuen, „immobiles depuis des millénaires, aux corps blancs, lisses et silencieux“ (F45) 1693 , die mit der Gegenwart nicht zusammenpassen und keine Zäsurerfahrung à la Rilkes „Du mußt dein Leben ändern“ bieten - die Zäsur findet in der Welt selbst statt. Auf subtile Weise werden hier Museumsdiskurse und -kritiken verarbeitet: Das Museum ist Labyrinth 1694 , Hindernis und Ärgernis, und die schiere Masse der (für Marie) bedeutungslosen Kunstwerke von Weltrang knüpft an die Museumskritik u. a. Valérys an, der von einer Überforderung durch das ‚Zuviel‘ des Museums spricht. Im übertragenen Sinne zeigt sich hier eine Flucht der Muse aus dem Musentempel (museion), einer „Entmusung des Museums“ 1695 ; mit dieser Formulierung bezeichnet Welzbacher in seiner Museumskritik den Verlust der Deutungshoheit des Museums in der Gegenwart angesichts seines kommerziellen Ausverkaufs (vielleicht auch angesichts jener Besucher, die im Louvre direkt zur Joconde eilen). 1696 Dazu passt, dass Marie sich durch die 5 Bilder des Museums 345 <?page no="346"?> 1697 Vgl Schneider: „Fluchtpunkte des Erzählens“, S.-153. 1698 Die latente Konkurrenz zwischen diesen beiden Museumstypen setzt sich bis zur Wahl des Ausstellungsorts Livre/ Louvre fort: Vgl. Bourmeau u. Toussaint: „Entretien“, S. 17, wo der Autor Centre Pompidou und Musée du Louvre als Ausstellungsorte vergleicht. 1699 Als Vorbild dient vermutlich das Hara Museum of Contemporary Art von Shinagawa, vgl. Régnier: „‚J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans‘“. Bilder des Museums sind auch in dem Film Faire l’amour. Une lecture japonaise zu sehen. 1700 Auch mit weiteren Orten des Romans wird der Art Space in Verbindung gebracht, besonders mit dem Hotel, wo das Paar untergebracht ist, und mit dem er sich seine ‚Leere‘ teilt. („le grand hall désert“, FA14, „l’immense salle d’exposition déserte“, FA100). Auch mit einer Bowlinghalle in Fuir weist er eine Nähe auf, die sich durch ihre ähnlich schwere Erreichbarkeit (vgl. F86-87) und durch „[u]ne enfilade de moniteurs vidéos“ (F88) ergibt. Die verstreut plaudernden Menschengruppen vor und in der Bowlinghalle erinnern wiederum an den Eingangsbereich der Vernissage in Nue (vgl. N49, N79). Shopping Mall aus dem Museum entfernt („pressant le pas dans les galeries souterraines du Carrousel du Louvre“, F49-50). 1697 Blickt man noch einmal auf die Gesamtheit der europäischen Museumsbilder bei Toussaint, so fällt auf, dass hier das alte, zentralistische Museum im Fokus steht, während Metamuseen wie z. B. das Centre Pompidou nur beiläufig erwähnt werden. Dies entspricht dem Bild europäischer Zentralität, dass auch die übrige Romantopographie entwirft (vgl. Kap. III.4.3.2). 1698 5.2 Asiatische, dezentrale Museen ‚Gegenwärtige‘ Museen finden sich hingegen in Asien. Der Contemporary Art Space ist ein als Museum bezeichneter (vgl. u. a. N48) Ausstellungsraum in der Nähe Tokyos, in dem Marie ihre Ausstellung plant - der Grund für den Japan-Aufenthalt des Paars (vgl. FA20). 1699 Deren Vernissage steht am Ende des Romans Faire l’Amour bevor (FA143-146) und wird in Nue beschrieben (N47-83). Ein erstes Mal wird das Museum durch das Paar aufgesucht, als Marie ihre Ausstellung vorbereitet. Dass der Art Space sich die meiste Zeit über im Umbau befindet, stellt ihn nicht nur gegen den ‚ewigen‘ Louvre, sondern fügt ihn auch in das Bild, das die Romane von den ‚bewegten‘ asiatischen Metropolen (u. a. mit ihren Hotels „en travaux“, F59) allgemein zeichnen. So ist etwa auch das „Musée de l’art moderne“ in Kyoto wegen „une exposition en cours de montage“ geschlossen (FA131). Bezüglich des in den Romanen etablierten, topographischen syntagme muséal fällt als wesentlicher Unterschied zum Louvre die dezentrale Lage des Art Space auf: Dieser liegt im Tokyoter Stadtteil Shinagawa - derart außerhalb, dass allein der Weg dorthin drei Romanseiten (FA97-99) füllt. 1700 Zuerst führt eine Taxifahrt 346 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="347"?> 1701 Seine Lage in einer als moorig-feucht geschilderten Natur, und die metallische Ober‐ fläche lassen auch an ein U-Boot denken, und in Nue beobachtet der Erzähler das Treiben im Inneren durch ein „hublot“ (N56). aus der Stadt heraus, sodann steigt man in der Nähe des Museums aus und legt einen längeren, beschwerlichen Fußweg zurück: [N]ous nous étions mis en route sous une pluie fine, nous descendions une allée de pierres inégales et glissantes qui serpentait sous les arbres en direction d’un lac. Nous progressions lentement à l’abri de deux immenses parapluies […]. Derrière la porte du musée, une large porte métallique commandée par un dispositif électronique (point rouge laser, caméra de surveillance), le Contemporary Art Space détonnait dans le décor champêtre où nous nous trouvions, arbres et étangs, allées de mousses et sous-bois, on entendait même au loin des pépiements d’oiseaux et des coassements de grenouilles. (FA98) Das Gebäude steht der Material- und Raumsemantik der Tokyoter Stadtwelt (aber auch des Louvre) entgegen: Es wirkt nicht glatt und offen, sondern ver‐ schlossen und unregelmäßig („murs fuselés et plaques d’aluminium ondulées“, FA98) und ist mit einer „porte, en verre semi-opaque“ (FA99) versehen - in seiner ganzen Anmutung ist es ein ‚dunkles‘ Museum. Ein wenig wie die Fondation Louis Vuitton im Bois de Boulogne liegt es als Fremdkörper in der Landschaft: „La silhouette blanche et allongée du bâtiment apparaissait au fond d’un parc“ (FA98). 1701 Sein Betreten markiert einen Grenzübertritt von der Natur zur Kultur. Die Besucher werden zunächst in ein Vorzimmer und dann in weitere Räume geführt: „Il nous fit entrer dans les bureaux du musée par une porte dérobée et nous introduisit dans un salon privé qui jouxtait une salle de contrôle“ (FA99). Schließlich gelangt man in der ersten Etage in eine pièce mal définie, qui abritait une immense bibliothèque invisible de catalogues d’exposition et de revues d’art dissimulés dans de longs tiroirs japonais en bois blanc, que le directeur du musée ouvrait au fur et à mesure devant nous avec lassitude pour nous faire la démonstration du système de rangement. (FA102) Die Sammlungsfunktion des Museums ist auch hier nicht offen sichtbar, sondern liegt unter der Oberfläche; dass sie dennoch Erwähnung findet, zeigt ebenso wie die Beschreibung der verschiedenen Räumlichkeiten einen ‚integralen‘ Blick auf die Institution; auch deren Personal wird ausführlich vorgestellt - insbesondere ein Mann, der so undurchsichtig ist wie das Museum selbst, ein 5 Bilder des Museums 347 <?page no="348"?> personnage influent, si ce n’est directeur, ou sous-directeur, du Contemporary Art Space […], qui suçotait placidement un cigarillo et portait à la main une mystérieuse mallette rigide en toile à monogramme glacée couleur gun metal sky metallic (FA90), sowie schließlich der eigentliche Museumsdirektor, mit einer „barbe poivre et sel et veste pied-de-poule assortie, qui portait de surprenantes Puma blanches flamboyantes, avec un fauve stylisé sur chaque pied prêt à bondir de ses talons au moindre relâchement“ (FA99). Durch diese Betonung einer ‚zeichenhaften‘ Mode, die auf Habitus, Hierarchie und (Kunst-)Milieu schließen lässt, wird auch das Personal in einen Ausstellungskontext gestellt - im Feld der Kunst, aber auch im asiatischen ‚Reich der Zeichen‘. Der integrale Blick auf die Institution - ihre Raum- und Organisations‐ struktur, ihre ‚Rückseite‘ - lässt das Museum als wenig auratisch erscheinen: Die schon in der Darstellung des Eingangsbereichs und der Mitarbeiter betonten Aspekte von Macht und Überwachung rücken noch stärker in den Vordergrund, als der Erzähler erneut eigenmächtig in nichtöffentliche Bereiche vordringt („j’allai passer une tête dans la salle de contrôle“, FA102): La salle était à peine éclairée, avec des voyants lumineux et des manettes de réglage, elle avait des allures de studio de mixage ou de régie-image d’une salle multimédia, avec les écrans de contrôle de plus d’une dizaine de caméras de surveillance qui diffusaient des plans fixes en noir et blanc grisâtres. (FA102) Das visuelle Machtgefälle, das mit dieser Perspektive aus dem Kamerakontroll‐ raum einhergeht, wird explizit ausformuliert: „avec cette image fixe characté‐ ristique de ce type de focale en plongée où les personnages que l’on découvre à l’image apparaissent souvent comme des victimes désignées ou des morts en puissance“ (FA103). Der Blick des Erzählers auf Marie, die den leeren Raum durchmisst, um ihre Ausstellung zu planen, betont die visuelle Trennung zwischen beiden: „nos regards se croisèrent un instant, elle ne le savait pas, elle ne m’avait pas vu - et c’était comme si je venais de prendre visuellement conscience que nous avions rompu“ (FA104). Während also der Louvre eine Verbindung zwischen den räumlich weit voneinander entfernten Personen ermöglicht, steht nun ihre Trennung im Vordergrund, obgleich sie sich am selben Ort befinden. Die daraus hervorgehende Erkenntnis („immédiatement, c’était étrange et même un peu douloureux, elle me manquait. Marie me manquait, j’avais envie de la revoir“, FA104) stellt sich auch hier - wie in der Betrachtung des Amberger-Portraits in La Télévision (vgl. Kap. III.3.1.2.5.) - medial vermittelt über den Videomonitor ein, und nicht im Ausstellungsraum selbst. 348 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="349"?> 1702 Vgl. auch Salas: „De l’acide à l’acédie“, S.-69. 1703 Vgl. De Vriese: „La trace de Marie“, Absch. 9-10. Vgl. auch Kap. III.4.3.4. 1704 Wenn doch, dann werden die Werke als „commerciales […], un peu faciles, un peu, disons, putassières“ (N74) abqualifiziert. 1705 Vgl. Régnier: „‚J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans‘“. Der Raum dient vielmehr als Projektionsfläche für Marie, die hier abermals als Raumgestalterin gezeigt wird, und die Züge einer Autorin besitzt: Die noch leeren Galerieräume liegen „toutes blanches et désertes, impressionnantes de nudité“ (FA101) vor ihr wie eine weiße Seite, bevor sie diese in ihren Notizen mit Inhalt füllt: [E]lle tracait des croquis, un plan sommaire de l’espace, des rectangles pour figurer les salles, des carrés, des flèches que je ne parvenais pas à déchiffrer. De temps à autre, elle relevait la tête et réfléchissait, examinait les murs comme pour s’en inspirer et complétait son esquisse, reliait une flèche à un mot écrit en capitales, qu’elle soulignait une ou deux fois. (FA101) 1702 Auch für den Erzähler ist der Raum Projektionsfläche, wobei dessen Blick auf die Ausstellungskünstlerin Leerstellen (blancs) lässt: Parfois, fugitivement, elle était présente sur deux écrans à la fois, puis, tout aussi fugacement, elle n’était plus présente sur aucun, elle avait disparu […]. (F104) Die (zugleich erzählende und erzählte) Künstlerin wird visuell dekonstruiert, wodurch sich die Szene als mise en abyme des ganzen, kaleidoskopartigen Romankonzepts lesen lässt. 1703 Zunächst ganz anders zeigt sich ebendieser Art Space in Nue. Die Eröffnung der von Marie in Faire l’amour geplanten Ausstellung ist vor allem ein soziales Ereignis. Hier begegnen sich Angehörige einer internationalen Kunstszene, expats und Neureiche (in „tenues plus excentriques, lunettes colorées et coiffures voyantes“, N47), ohne dass die ausgestellte Kunst besonders beachtet würde. 1704 Gleich mehrfach wird ein „brouhaha puissant et ininterrompu“, „un brouhaha continu“ (N49, N79) erwähnt, „seulement un grouillement continu de foule indif‐ férenciée“ (N51). 1705 Als contact zone bleibt das Museum letztlich auch hier dys‐ funktional, da keine Konfrontation mit der Kunst stattfindet und verschiedene Sprachen (Englisch, Französisch, Japanisch, vgl. N48) nebeneinanderstehen. Auch als amouröser Begegnungsort funktioniert es nicht, ist vielmehr ein Ort missverständlicher Begegnungen - so flirtet Jean-Christophe de G. mit einer Frau, die er irrtümlich für Marie hält. Wie das ‚Reich der Zeichen‘ insgesamt, so ist es ein Ort der Fehltritte, Fehlinformationen und Missverständnisse. 5 Bilder des Museums 349 <?page no="350"?> 1706 Hier wird also nicht nur symbolisch, sondern explizit mit Innen-Außen- und Hell-Dunkel-Oppositionen operiert. Als ‚dunkles Museum‘ wurde der Art Space bereits vorher beschrieben: „la salle était à peine éclairée“ (FA102); „cette salle d’exposition dans le noir, […] inquiétante, ombrée“ (N58); der „marbre noir“ (FA103 u. N50, N51) grenzt das Museum auch vom Louvre mit seinem „marbre blanc“ ab (s.-o.). 1707 So auch Régnier: „‚J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans‘“: „Moins conservatoire d’œuvres que musée personnel, ‚sentimental’, le musée est […] un lieu au sein duquel le narrateur collecte, conserve et analyse des souvenirs, des sensations et des images, associant étroitement musée et remémoration.“ 1708 „J’avais déjà éprouvé ce sentiment d’écartèlement pendant un rêve, ou une lecture, de me trouver à la fois ici physiquement, et là-bas en pensées […]“ (N59). Ist der Erzähler zuvor illegalerweise in die noch geschlossene Ausstellung vorgedrungen, bleibt er nun außen vor, obwohl das Museum seine Türen geöffnet hat, der Weg dorthin mit Lichtsignalen ausgewiesen ist, und die Ausstellung sprichwörtlich ins Licht gerät: Der Außenbereich des Art Space am Abend ist wie von Glühwürmchen beleuchtet („le parc du musée, qui vibrait des lumières dorées tremblotantes des photophores“, N65, auch N49). 1706 Doch eine „frontière symbolique, ce barrage virtuel“ (N52) hindert ihn am Zutritt dieses von Marie gestalteten Raums. Stattdessen steigt er über eine Feuerschutzleiter auf das Dach des Gebäudes und beobachtet durch ein Fenster das Geschehen im Inneren (vgl. N54-N83). Indem der Erzähler den Ort nicht betritt, erscheint das Museum hier als (auch räumliche) Rahmung für dessen musealisierende Wahrnehmung: über das „mosaïque d’images“ (vgl. N51) der verschiedenen Überwachungsbildschirme (s. o.), dann über ein Bullauge auf dem Dach erschließt sich das Geschehen im Innere erst mosaik-, dann kaleidoskopartig („le regard fixe“, N57), in „visions éparses, fugitives, fragmentaires, de bras tendus et de catalogues d’expositions“ (N67). Durch die jeweils exklusive Position des Erzählers zum Geschehen kann dieser hier noch expliziter als in der Louvre-Passage als aufzeichnendes und wiedergebendes Kokurrenzmedium zum Museum fungieren und es mit Inhalt füllen. 1707 Dies kommt einem kreativen Akt gleich („Je ne savais quelle valeur accorder à ce réel ankylosé qui m’apparaissait comme à travers un voile cotonneux“, N59), der wiederum mit einer Lektüre- oder Traumerfahrung verglichen wird. 1708 So handelt es sich insgesamt (also mit seiner Außenhülle und seinen Hinterzimmern) um einen Ort, der Kreativität da zulässt, ja sogar in besonderer Weise hervorbringt, wo Erzähler und Marie sich den Raum auf eigene Weise aneignen (vgl. Kap. III.4.1.1.3.). Auch am Ende von Faire l’amour, kurz vor der Vernissage, verschafft der Erzähler sich verbotenerweise Zutritt zum Museum (vgl. FA141-142) und läuft durch die schon aufgebaute Ausstellung. Zwischen den lebensgroßen Fotogra‐ 350 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="351"?> 1709 Im weiteren Sinne werden hier nicht nur Museum und Hotelzimmer, sondern auch wieder Museum und Reise, Museum und Bahnhof in Verbindung gebracht (vgl. Kap. II.2.1). fien, die das Gesicht Maries zeigen, ganz oder in Details (vgl. FA143-145; Kap. III.4.1.2.2.), findet eine Zusammenkunft des Paars statt, wie in Fuir, La Vérité sur Marie und Nue, die jeweils mit Liebesszenen enden (F168-171, VM204-205, N169-170). Hier jedoch vollzieht sie sich in einem „registre purement mental“ (FA145) durch die Kunst (die autoportraits Maries) - wohlgemerkt in einem geschlossenen Museum. Blickt man über die konkreten Museumspassagen hinaus, so markiert der Besuch des Contemporary Art Space ein stade du musée (vgl. Kap. II.4.2.2.2.5.), das den Erzähler grundlegend verändert: Die Akzeptanz der Trennung von Marie führt in Faire l’amour dazu, dass er ohne weitere Erklärung erst das Museum, dann die Stadt verlässt und den Zug nach Kyoto nimmt, was durch einen Parallelismus zwischen dem Verlassen des Museums („Je quittai la salle de contrôle […]“, FA104) und dem Verlassen des Hotelzimmers („Je quittai la chambre […]“, FA107) unterstrichen wird. 1709 Die mit dem Ort verbundenen Aspekte Improvisation und Neuheit (der Umbau der Ausstellung), Dezentralisierung (der weite Weg aus der Stadt) und Gefahr (die allgegenwärtige Überwachung) finden sich allesamt auch in einem weiteren asiatischen Ausstellungsraum in Shanghai, diesmal in Fuir: L’exposition se tenait à la périphérie de la ville, dans un grand hangar aménagé en espace d’art contemporain, où les artistes présentaient des vidéos mobiles, les projecteurs fixés dans le vide à des tiges métalliques qui se balançaient doucement dans l’obscurité du hangar, les images projetées se diluant sur les murs, se séparant et se décomposant pour se rejoindre et se quitter à nouveau. C’est là que je fis connaissance de Li Qi. (F20) Das instabile Werks in einem auswärts gelegenen, temporären Ausstellungs‐ raum, die evozierte Materialität und Medialität, schließlich die Begegnung mit Li Qi, der späteren Beinahe-Geliebten des Erzählers, die gegen (‚europäische‘) Muse Marie steht: diese Passage bestärkt in mehrfacher Hinsicht das in der Te‐ tralogie gezeichnete Bild des asiatischen Museums, das sich vom europäischen unterscheidet, wobei jedoch auch hier unkonventionelle exhibition settings gezeigt und konventionelle museale Situationen perturbiert werden. 5 Bilder des Museums 351 <?page no="352"?> 1710 Zudem trägt die Modenschau mit dem Kleid aus korsischem Honig den Titel „Maquis d’automne“ (N16). Toussaint selbst betont die Nähe des literarischen Orts Elba zu seinem realen Lebens- und Arbeitsort Korsika. Vgl. Garcin: „‚Je suis très connu, mais personne ne le sait‘“, S. 6. Unter literar-musealer Perspektive bilden die beiden Orte eine gemeinsame „dimension méditerranéenne“, insofern Korsika etwa in der Fotoserie Lire zu sehen ist, die in Livre/ Louvre ausgestellt wurde. 1711 Vanezia Pârlea: „Introduction“, in: dies. (Hg.): Îles réelles, îles fictionnelles, Clermont-Fer‐ rand: Presses Universitaires Blaise Pascal 2019, S.-9-18, hier: S.-15. 1712 Ebenso wie eine abgeschlossene Erzählung: Hier enden gleich drei der vier M.M.M.M.-Romane (F, VM, N). 1713 Vgl. dazu Termite: Le sentiment végétal, S.-187-206. 5.3 Die Möglichkeiten einer Insel: Steinerne maisons-musées und Ruinen am Mittelmeer Der Titel der japanischen Ausstellung Maries lautet „MAQUIS“ (N62), was eine „[v]égétation dense et peu accessible des régions méditerranéennes (notamment de la Corse)“ 1710 bezeichnet. Darin scheint die ‚mediterrane‘ Dimension der M.M.M.M.-Romane und der west-östliche Wirkungsradius der Künstlerin Marie auf. Auch diese Dimension ist mit einem eigenen Museumsbild verbunden, das wiederum mit den beiden anderen kontrastiert. Sie ist insbesondere auf der toskanischen Insel Elba zu situieren und zeigt sich impliziter. Hier steht nicht das musée contemporain im Mittelpunkt, auch nicht das zentrale Nationalmuseum, sondern eine antike Dimension, die in den beiden anderen Museumskonzepten nur angerissen wird. Inseln implizieren eine monofokale Perspektive von einem Standpunkt aus, und sie sind „abrégés du monde“ 1711 , an denen noch eine geschlossene Samm‐ lung denkbar ist. 1712 Als Ort im Ort steht dafür das Inselhaus von Maries verstorbenem Vater, einem einsamen Sammler von Büchern zu Kunstgeschichte und Philosophie (vgl. F126, N125), der sich hierher zehn Jahre zuvor aus Paris zurückgezogen hat, in der Überzeugung, dass „moins on a des relations avec les hommes, meilleures elles sont“ (F126) - eine Maxime, die auch von Des Esseintes stammen könnte. Der sesshafte alte Mann in seiner maison-musée erscheint als anachronistische Sammlerfigur, wie sie schon in Monsieur in Gestalt des Mineralogen Kaltz ihren Auftritt hat. In Kaltz’ Bibliothek, entre les ouvrages, étaient rangés des échantillons de pierre, qui, pour les plus rares d’entre eux, étaient exposés sous verre dans une armoire vitrée. [Monsieur] se pencha pour lire le nom de quelques roches sur les étiquettes dactylographiées qui indiquaient leur nature et leur provenance […]. (M51-52) 1713 Durch ihre Geschlossenheit (und die Zurückgezogenheit ihrer Besitzer) stehen diese fixen, ‚kristallinen‘ Sammlungen außerhalb der (bewegten) Welt; sie bilden 352 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="353"?> 1714 Flaubert: Bouvard et Pécuchet, S. 428: „Les spécimens de géologie encombraient […] l’escalier“, vgl. Kap. II.2.5. 1715 Hamon: Le personnel, S.-29. 1716 Auch bei Flaubert zeigt sich wiederum, dass eine solche Geschlossenheit („en enfilade“, vgl. ders.: Bouvard et Pécuchet, S. 439) durch eine monofokale Perspektive begünstigt wird (vgl. Kap. II.2.5.). 1717 Vgl. auch die Beschreibung des Inneren dieser maison-musée, als das Paar es in Nue einige Monate später wieder besucht. Näher eingehen ließe sich auch hier auf die Inszenierung des unbewohnten Hauses mittels einer markanten Hell-Dunkel-Motivik (vgl. N119-N120). 1718 Vgl. etwa Sarraute: L’ère du soupçon, S. 64-65: „Tous les gestes du personnage en retraçaient quelque aspect ; le plus insignifiant bibelot en faisait miroiter une facette.“ ein ‚starres‘ Museum, ganz ähnlich jenem, das in Bouvard et Pécuchet aufgerufen wird, wo die beiden Figuren sich ebenfalls als Gesteinssammler versuchen. 1714 Schon in Monsieur markiert die Sammlung der Steine mit ihren eindeutigen, griechischen Bezeichnungen (vgl. M74-75) einen Weltzugriff mit eigenem Zeit‐ regime. In dieser Motivlinie zeigt sich in Fuir auch die „vieille maison de pierre“ (F126) und der Garten („pots de terre cuite“, „terre fraîche“, „muret de pierre“, F127). Die Zeit steht hier still, und die Sprache transportiert fast listenartig ein réel („une chose = un mot“ 1715 ). Auch die sprachliche Reihung der einzelnen Elemente evoziert eine geschlossene Sammlung. 1716 Während Marie und der rastlose Erzähler sich zwischen den Ländern und in der Erzählung verlieren, lebt der Vater im Mittelpunkt seiner, ihn ausstellenden Welt: „Chaque meuble, chaque objet portait de façon indélébile la trace de sa présence passée“ (N125). 1717 Hier klingt eine Nähe zum realistischen Erzählens des 19. Jahrhunderts an. 1718 Mit diesem Ort der geschlossenen Sammlung wird punktuell noch einmal die Möglichkeit in den Raum gestellt, Ort, Subjekt und Erzählung in Einklang zu bringen - entgegen dem Romanprojekt als Ganzem. Das Haus des Vaters funktioniert in diesem Sinne als ‚mineralisches‘, fixes, lesbares Museum, und anders als in Paris, Berlin, Tokyo oder Shanghai scheinen die ‚musealen Zeiten‘ in Deckung zu liegen. Dazu passt die Materialsemantik: Anders als Sand, Staub und Beton in den asiatischen Großstädten oder der abweisende, glatte Marmor des Louvre sind Stein und Mineralien hier positiv besetzt. Nicht nur an diesem konkreten Ort hat die Insel eine lesbare Geschichte, wie während der Beerdigung von Maries Vater deutlich wird. Zu sehen sind „les ruines d’une villa romaine de l’ère impériale, avec des pans de mur dressés dans des champs séchés par le soleil, des mosaïques noirâtres et mangés par le temps“ (F138) - wobei mit dem Mosaik, das hier in der Welt, nicht nur im Blick des Erzählers wirksam ist, eine antike Vorstufe des Museums aufgerufen wird (vgl. Kap. II.3.1.1.2.1.). Die Ruine in der toskanischen Landschaft ist auch ein 5 Bilder des Museums 353 <?page no="354"?> 1719 Hamon: Expositions, S.-64. 1720 Vgl. ebd., S.-64 (vgl. Kap. II.4.2.2.2.5.). 1721 Ein weiterer Hinweis auf diese ‚erdgeschichtliche‘ Dimension des Orts ist das „musée archéologique“, das Marie einmal passiert (vgl. F148). Vgl. Brito: „L’antisocial“, S. 268: Die Insel sei „un lieu qui détruit la modernité car il l’inscrit dans une vaste genèse temporelle (par exemple les couches géologiques que le narrateur regarde à la fin de Fuir ; ou les squelettes des animaux carbonisés après l’incendie, qui rappellent des fossiles préhistoriques, à la fin de La Vérité sur Marie) et spaciale (la juxtaposition du contemporain avec l’univers même). […] C’est encore le lieu où la transcendance du sensible en immatériel est une possibilité“. lesbares (Todes-)zeichen: Als „effet de souvenir“ und „incarnation de l’entropie universelle“ 1719 bildet sie ein punctum in der Landschaft 1720 und konfrontiert den Betrachter mit der (grundsätzlichen und eigenen) Vergänglichkeit - der Zusammenhang von Museum und Tod wird darüber hinaus durch die Evozie‐ rung des proustschen „pan de mur“ hergestellt. Anders als in der Louvre-Passage ist hier Marie eine starke und ruhige Figur. In diesem besonderen exhibition setting begleitet sie den Trauerzug zu Pferd, mit Anklängen an eine antike Göttin („Marie, très raide sur sa selle dans sa chemise immaculée, regardait droit devant elle avec orgueil et fierté, les yeux exaltés, cheminant dans le soleil avec un sentiment de tout-puissance et d’intemporalité“, F138). Anders als im Louvre, wo sie in Konkurrenz zum Sonnengott tritt, und anders als im Contemporary Art Space, wo sie den leeren Raum mit ihrer Kunst füllt, ist sie hier als Teil der Landschaft ‚Museum ihrer selbst‘. Auch in ihrer Gesamtheit handelt es sich also bei der Insel um einen ‚mineralischen‘ Ort, und, noch allgemeiner, einen ‚elementaren‘ Ort, der in seiner Gesamtheit lesbar ist, wenn er etwa als erdgeschichtlicher Querschnitt gezeigt wird und gewissermaßen als ‚Erdkundemuseum‘ erscheint. 1721 Neben dem omnipräsenten Meer sowie der erwähnten Stein- und Erdmetaphorik werden auch Feuer und Luft in die Symbolik einbezogen. Sowohl La Vérité sur Marie als auch Nue enden mit Bränden auf der Insel, was ihr neue „ruines“ (vgl. N112, N114) hinzufügt. Nach dem Brand einer Schokoladenfabrik spielt auch der Geruch eine Rolle („cet air âcre […] où se mêlaient des odeurs de minerais de fer, des odeurs de magnétite et de pyrite“, N142), weshalb die Insel als ‚elementarer‘ Ort erscheint. Trotz der Geschlossenheit des Orts ist auch dieser von Oppositionsstrukturen geprägt (vgl. Kap. II.4.2.1.1.1.). Als Marie auf der Suche nach dem Erzähler durch die Hafenstadt irrt, zeigt sich auch diese Kleinstadt als fragmentiert und unlesbar, mit „quelques T conceptuels, blancs sur fond noir, incompréhensibles et lancinants […], enseignes des tabacs fermés“ (F144). Dabei wird wieder die 354 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="355"?> Diskrepanz zwischen städtischer Unlesbarkeit und Lesbarkeit der steinernen Vergangenheit ausgespielt, und auch der Schauplatz der Insel fügt sich in die gesamte Romantopographie, was gerade durch den Vergleich aller drei Museumsbilder deutlich wird. Die Passage weist durch die Evozierung von Tod und Antike eine Nähe zur Louvre-Passage auf, welche allerdings das Museum als überholten Ort zeigt, wohingegen die asiatischen Museen für die Gegenwart stehen. Die Insel indessen ist ein heterotoper Ort, an dem sich verschiedene Zeiten überlagern. 5.4 Fazit Über die gesamte literarische Topographie seiner Romane hinweg entwirft Toussaint ein kohärentes Museumsbild, das in M.M.M.M. besonders differenziert ausgestaltet wird. Zeichnet sich diese Topographie insgesamt durch ihre Zent‐ rumslosigkeit aus, so verliert folgerichtig auch das zentralistische, hegemoniale Nationalmuseum gegenüber dem improvisierten, zeitgenössischen, dezentralen Art Space an Wirkmacht und Einfluss - Marie ‚flieht‘ aus dem Louvre, aber sie ‚belebt‘ den Art Space. Auch bestätigt sie die in Kap. III.4.3.3. gemachte Beobachtung, die eigentlich bedeutungsbesetzten Räume des toussaintschen Textuniversums seien eher die non-lieux und die Hinterzimmer. Entsprechend kann das Museum nur mitsamt seinen Außen- und Rückseiten einen Sonderstatus entfalten. In den drei aufgeführten Museumstypen zeigen sich die zahlreichen Opposi‐ tionen, die die Romanwelt und -konstruktion insgesamt charakterisieren: das zentrale gegen das dezentrale, das gewachsene gegen das improvisierte, das dunkle gegen das helle, das leere gegen das bevölkerte Museum; der Louvre als Ort des Todes und der Flucht gegen den Art Space als Ort der Erotik und der Begegnung. Die für das Museumsmotiv relevanten Pole der Öffentlichkeit und Privatheit, des Innen und Außen sowie der Anwesenheit und Abwesenheit werden bei Toussaint aufgegriffen und teils ins Gegenteil verkehrt: wenn das Museum in La Télévision als eine Art Ersatzwohnzimmer dient, wenn Erzähler und Marie im Louvre zueinander finden (obwohl Kontinente zwischen ihnen liegen), wenn sie im Contemporary Art Space nur über Blicke und indirekt in Verbindung stehen (obwohl sie am selben Ort sind), wenn schließlich das Freilichtmuseum auf Elba in eine komplexe Erzählung zwischen An- und Abwesenheit des Erzählers eingebettet ist. Zwar stehen die Museumsbilder Toussaints im Zeichen einer condition postmoderne und einer ère du vide - und es ist bezeichnend, dass sich auf 5 Bilder des Museums 355 <?page no="356"?> 1722 „Je vois une sorte de figure géométrique […] à quatre facettes transparentes. L’idéal serait qu’il n’y ait pas de début, qu’on puisse commencer par n’importe lequel des romans et que chacun ait des résonances avec les trois autres. C’est comme un objet en trois dimensions, qu’on peut tourner pour avoir des éclairages différents, selon où on en est, ce qu’on a lu, ce dont on se souvient…“, so Toussaint in: N.N.: „Jean-Philippe Toussaint, maître en jeux de piste. Entretien“, in: letemps.ch, 13.9.2013, online unter: https: / / www.letemps.ch/ culture/ jeanphilippe-toussaint-maitre-jeux-piste. Vgl. auch Kap. III.4.3.4. der Inselwelt Elba, ‚außerhalb der Zeit‘, museale Funktionen erfüllen können. Darin steckt aber nicht nur eine Museums- oder Modernekritik. Denn generell können die Hauptfiguren Toussaints sich den Raum jeweils sehr autonom zu Eigen machen (so wie der Autor sich den Louvre), und jenseits ihrer Rolle in den Erzählungen besitzen die Museen wichtige Funktionen für das Erzählen. In den Museumsbildern kulminieren wiederkehrende Motive (etwa Liebe und Tod, Kunst und Kreativität), eine spezifische Anlage literarischer Subjekte (etwa in Konstellationen des Sehens und Gesehen-Werdens), eine Materialsemantik (etwa Glas und Stein) sowie Raum- (etwa leeres Zentrum und Peripherie) und Zeitordnung (etwa Zäsur als Zustand, urgence und patience). So verdichten sich in ihnen wesentliche Aspekte der Romane - fast wie in einer Autorenausstellung. 6 Gesamtfazit - Toussaints néo(n)littérature Toussaints Neoninstallationen im Louvre mögen ähnlich unerwartet wirken wie Koons’ Staubsauger in Versailles; hier wie dort erzeugt die künstlerische Intervention eher einen neuen Blick auf das Museum als dieses auf das Werk des Ausstellers. Wie der Louvre als literarischer Ort in Fuir im Dienst der Erzählung steht, so liegt auch die Ausstellung in der Einflusssphäre eines literarisch-künstlerischen Projekts. Auf dieses Projekt wird in der Ausstellung nicht mittels literarischer Motive oder durch Verweise auf die erzählte Welt Bezug genommen; insbesondere eine an die Romane anschließende ‚Erzählung‘ lässt sich - vordergründig - nur schwer lokalisieren. Vielmehr zeigt Livre/ Louvre ein spezielles Literaturverständnis und greift Aspekte der Poetologie des Autors auf. So stehen das monolithische Buch und die aufglimmenden Neonröhren zwischen rigide und fluide, die Zeitebenen zwischen den Exponaten der Collection Rothschild und den Neoninstallationen für das Prinzip von urgence und patience. Toussaint beschreibt die M.M.M.M.-Tetralogie als ‚kristalline‘ Form, die meh‐ rere Zugänge bietet und zu allen Seiten offen ist. 1722 Neben der Entgrenzung 356 III Jean-Philippe Toussaints Ausstellung Livre/ Louvre und seine Literatur <?page no="357"?> 1723 Vgl. De Vriese: „La trace de Marie“, Absch. 9: „La compossibilité de l’espace et du monde se voit réitérée quasi mimétiquement dans la ‚compossibilité de Marie‘.“ 1724 So stand am Anfang der realen Ausstellung die literarische Episode von Maries Flucht aus dem Louvre, vgl. Kap. III.5.1. 1725 Ders.: „La mayonnaise et la genèse“, S.-120. 1726 Benjamin: Einbahnstraße, S.-49; vgl. Kap. III.3.2.4. 1727 Zahlreich sind bei Toussaint etwa Todes- und Untergangsmetaphern oder -visionen. In Faire l’amour sieht der Erzähler in einer Vision Tokyo vor seinen Augen zusammen‐ brechen: „réduisant là Tokyo en cendres, en ruines et en désolation, abolissant la ville et ma fatigue, le temps et mes amours mortes“ (FA49). Der Fitnessraum des Hotels gleicht einer postapokalyptischen Ruine aus einem „alignement de bicyclettes médicales sans roues, seulement un cadre désossé, structures verticales sommaires avec des allures d’oiseaux métalliques brisés et amputés“ (FA38). Auch La Vérité sur Marie endet in einem Untergangs-Szenario während eines Großbrands auf der Insel Elba, der ein Teil des Familienanwesens vernichtet. (La Vérité sur Marie, S.-190-202). Vgl. auch Kap. III.3.2.3. von Erzählen und Erzählung (von Museen, Metropolen, Beziehungen 1723 ) meint dies auch eine Entgrenzung (‚explosion‘) des Mediums Buchs, das wiederum Ausgangspunkt anderer medialer Realisierungen und auch der Ausstellung 1724 ist. Da diese keinen festen Besucherparcours verlangt, scheint auch sie selbst kristallartig, und steht damit gegen den ‚fixen‘ Louvre. Zu Toussaints postmodern gebrochener, transmedial wandernder Prosa passt, dass auch die Ausstellung gelegentlich auf falsche Fährten lockt und einen zweiten Blick erfordert. Ausstellung, Literatur und auch das Buch La Main et le Regard, das u.a ein Kapitel namens „Coulisses“ beinhaltet (MR166-199), interes‐ sieren sich für die Rückseite der Dinge und die making of-Dimension, weniger für das abgeschlossene Werk, den vorgegebenen Weg oder das erzählenswerte Ergebnis: Es wurden zahlreiche Beispiele in der Literatur Toussaints benannt, in denen die Figuren die Kulissen hintergehen, so wie Toussaint (mit dem Projekt Mardi au Louvre) die ‚unsichtbare‘ Seite des Museums zeigt. Angesichts dieses „goût […] pour les coulisses“ 1725 erscheint das abgeschlos‐ sene Werk als eine „Totenmaske der Konzeption“ 1726 , wohingegen dessen Vor- und Nachleben eine vielfältige und lebendige Kehrseite bildet. So hintergeht Toussaint auch die Festschreibungsfunktion der Literaturausstellung, auf die er zwar rekurriert, wenn er Dantes ‚ewigen‘ Klassiker La Divina Commedia als Stele und ‚Aerolithen‘ inszeniert - für das eigene Werk aber scheint diese Präsentationsform ungeeignet. Das scheinbar mühelose Überschreiten aller Barrieren bedeutet nicht, dass die erzählte Welt Toussaints ohne Ambivalenzen, Kehr- oder Rückseiten wäre; diese scheinen aber - im Museum oder in der Welt, ob als Neoninstallation oder als ‚Traum mit offenen Augen‘ - immer nur punktuell auf. Dabei kann sich auch Abgründiges auftun. 1727 Nicht nur sein literarisches Projekt, auch seine 6 Gesamtfazit - Toussaints néo(n)littérature 357 <?page no="358"?> 1728 Auch Sonderräume w