Beschwert und überladen?
Die Rolle regionaler Ressourcenkonflikte im Bauernkrieg von 1525
1125
2024
978-3-3811-2972-0
978-3-3811-2971-3
UVK Verlag
Peer Frieß
Dietmar Schiersner
10.24053/9783381129720
"Beschwert und überladen" - Mit diesen Worten beklagten sich oberschwäbische Bauern bei Ihrer Obrigkeit im Frühjahr 1525. Was mit Protestversammlungen und Beschwerdeschriften begann, endete wenige Monate später in blutigen Massakern mit Tausenden von Toten, dem sog. "Bauernkrieg". Wofür starben sie? Starben Sie umsonst? Worum ging es wirklich?
Die Masse der Bauern - so die Ausgangsthese - kämpfte schlicht für ein würdevolles Leben. Sie wollten ihre Familien ernähren, sie wollten ihre Angelegenheiten selbst regeln und sie wollten ihr Seelenheil sichern können. Das wollten ihre geistlichen und weltlichen Herren auch. Die Ressourcen hätten für alle gereicht. Die einzelnen Beiträge dieses Tagungsbandes zeigen überzeugend: Da, wo nach einem Ausgleich der Interessen gesucht wurde, musste niemand sterben. Gemordet wurde da, wo eine Seite glaubte, ihre Interessen rücksichtlos durchsetzen zu können.
Hans-Wolfgang Bayer
<?page no="0"?> „Beschwert und überladen“? Peer Frieß, Dietmar Schiersner (Hg.) Die Rolle regionaler Ressourcenkonflikte im Bauernkrieg von 1525 16 <?page no="1"?> Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Dietmar Schiersner im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Diese Arbeitsgemeinschaft, 1986 gegründet, hat sich zum Ziel gesetzt, die Regional- und Landesgeschichte Schwabens im Kontext Oberdeutschlands in wissenschaftlichen Tagungen zu erforschen und deren Ergebnisse zu publizieren. Dietmar Schiersner ist Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der PH Weingarten. Inhalt dieses Bandes PEER FRIESS/ DIETMAR SCHIERSNER Einführung. Ressourcenkonflikte als Zugriff auf die Geschichte des Bauernkriegs I. Rahmenbedingungen in Süddeutschland 1450-1550 CHRISTIAN PFISTER Wärme, Kälte und eine angesagte Katastrophe. Klimatische Interpretationselemente zur Entstehung des Bauernkriegs 1471-1524 ANDREAS WEIGL Der Bauernkrieg im Kontext der demographischen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ULRICH PFISTER Der gesamtwirtschaftliche Kontext von Ressourcenkonflikten. Deutschland in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts II. Regionale Entwicklungen ARMAN WEIDENMANN Die Gotteshausleute beklagen sich beim Fürstabt: Viler beschwärden, burdinen und lästen, als sie vermeinend, unzimlich beladen WOLFGANG SCHEFFKNECHT Im Kampf um die Ressourcen. Vorarlberg am Vorabend und zur Zeit des Bauernkrieges <?page no="2"?> Peer Frieß / Dietmar Schiersner (Hg.) Beschwert und überladen? <?page no="3"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Dietmar Schiersner im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Band 16 <?page no="4"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Band 16 Beschwert und überladen? Die Rolle regionaler Ressourcenkonflikte im Bauernkrieg von 1525 Herausgegeben von Peer Frieß und Dietmar Schiersner <?page no="5"?> Einbandmotiv: Waldburg-Zeil’sches Gesamtarchiv Schloss Zeil, ZAMs 54 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Stadt Memmingen, der Sparkasse Memmingen-Lindau-Mindelheim, der Bezirk-Schwaben-Stiftung für Kultur und Bildung und des Zentrums für Regionalforschung der Pädagogischen Hochschule Weingarten. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381129720 © UVK Verlag 2024 - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen ISSN 1431-9993 ISBN 978-3-381-12971-3 (Print) ISBN 978-3-381-12972-0 (ePDF) ISBN 978-3-381-12973-7 (ePub) mm Stadt Memmingen <?page no="6"?> 5 Vorwort Memmingen und der Bauernkrieg sind untrennbar miteinander verbunden: Die im März 1525 im Haus der Kramerzunft entstandenen 12 ›Memminger‹ Artikel gelten übereinstimmend als das zentrale Manifest des Konfliktes. Was also lag näher, als die 19. Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e. V. der 500. Wiederkehr des Bauernkriegs zu widmen? Die vom 17. bis 19. November 2023 im Memminger Rathaus durchgeführte internationale Konferenz, deren Vorträge nun rechtzeitig zum Gedenkjahr 2025 im Druck erscheinen, stellte indes nicht die eingehend erforschten 12 Artikel in den Mittelpunkt der Agenda, sondern schlug einen Zugang zum Thema vor, der eine Vielzahl unterschiedlicher Erklärungsansätze und Deutungen in ein übergreifendes Konzept zu integrieren beabsichtigt. Wenn Bauern des Baltringer Haufens wenige Wochen vor der Formulierung der 12 Artikel gegenüber ihrer Obrigkeit klagten, sie fühlten sich beschwert und überladen , verwendeten sie eine Legitimationsfigur, die so oder in ähnlichen Formulierungen nahezu durchgängig Verwendung fand. Betrachtet man die auf diese subjektive Weise begründeten Forderungen näher, scheint es im Kern meist um dasselbe zu gehen: Materielle und immaterielle Grundlagen ihrer ökonomischen und sozialen Existenz empfanden die Bauern als bedroht, als für ihre Bedürfnisse zu knapp bemessen, als strittig zwischen ihnen und den unterschiedlichen landesherrlichen, adligen oder klösterlichen Herrschaftsträgern, mit denen sie konfrontiert waren. Damit ging es im Kern um das Austragen von Ressourcenkonflikten zwischen unterschiedlichen Parteien. Wie sich dies vor dem Hintergrund gemeinsamer makrohistorischer Bedingungen in unterschiedlichen regionalen Kontexten darstellte, war Thema der auch diesmal komparativ konzipierten Memminger Tagung. Allen voran den aus Österreich, der Schweiz, aus Kanada und verschiedenen deutschen Regionen nach Memmingen angereisten Historikerinnen und Historikern gilt unser Dank für ihre Bereitschaft, sich auf diese Fragestellung einzulassen und ihre Vorträge innerhalb nur weniger Monate für die Drucklegung zu bearbeiten. Dem bewährten Lektorat von Angela Schlenkrich M. A., dem UVK-Verlag und dem Memminger MedienCentrum ist es zu verdanken, dass der ambitionierte Zeitplan eingehalten werden konnte. Für die großzügige finanzielle und personelle Förderung von Tagung und Publikation sind wir an erster Stelle der Stadt Memmingen, ihrem Stadtrat und Oberbürgermeister Jan Rothenbacher sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kulturamtes dankbar; erneut verlassen konnten wir uns auch auf die Unterstützung durch die Sparkasse Schwaben-Bodensee. Darüber hinaus gewährte uns das Bayerische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und <?page no="7"?> 6 Forsten einen Zuschuss, der die Publikation dieses Bandes mit ermöglicht hat. Allen, die unter zunehmend herausfordernden Bedingungen zum Gelingen der Tagung und zur Veröffentlichung des 16. Bandes ›Forum Suevicum‹ beigetragen haben, sagen wir herzlich danke. Bereichert, nicht beschwert und überladen mögen sich schließlich die Leserinnen und Leser bei der Lektüre dieses Buches finden. Zorneding und Weingarten Peer Frieß und Dietmar Schiersner im August 2024 <?page no="8"?> 7 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 9 P EER F RIESS / D IETMAR S CHIERSNER Einführung. Ressourcenkonflikte als Zugriff auf die Geschichte des Bauernkriegs 11 I. Rahmenbedingungen in Süddeutschland 1450-1550 C HRISTIAN P FISTER Wärme, Kälte und eine angesagte Katastrophe. Klimatische Interpretationselemente zur Entstehung des Bauernkriegs 1471-1524 21 A NDREAS W EIGL Der Bauernkrieg im Kontext der demographischen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 39 U LRICH P FISTER Der gesamtwirtschaftliche Kontext von Ressourcenkonflikten. Deutschland in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 65 II. Regionale Entwicklungen A RMAN W EIDENMANN Die Gotteshausleute beklagen sich beim Fürstabt: Viler beschwärden, burdinen und lästen, als sie vermeinend, unzimlich beladen 95 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Im Kampf um die Ressourcen. Vorarlberg am Vorabend und zur Zeit des Bauernkrieges 121 S TEFAN E HRENPREIS Der Bauernkrieg in Tirol als Ressourcenkonflikt 161 S TEFAN H UBER Die Ressource Wald zwischen Landesherr und Untertanen im bayerischen Landgericht Tölz 1476-1528 175 <?page no="9"?> 8 H ELMUT F LACHENECKER Der Kampf um immaterielle und naturale Ressourcen im Bauernkrieg in Franken. Von Häckern, Bauern und Stadtviertelsbewohnern 197 U WE S CHIRMER Ressourcenkonflikte in Thüringen und in den angrenzenden mitteldeutschen Regionen (1446-1532) 221 III. Das Ringen um Ressourcen in Oberschwaben C HRISTOPH E NGELHARD Eine gesprächsbereite Herrschaft. Die Reichsstadt Memmingen und ihre Bauern vor und während des Bauernaufstandes 1525 247 J OHANNES W OLFART Disputes Over Pastoral Care as Resource Conflicts. Examples from Lindau in the Peasant’s War and beyond 287 S TEFAN B IRKLE spenn und irrung zwischen Obrigkeit und Untertanen. Die Ritterherrschaft Angelberg und der Bauernkrieg 315 S ILKE S CHÖTTLE Das Ringen um Ressourcen als Mittel der Konfliktentschärfung in den Vereinbarungen Georgs von Waldburg mit den Untertanen der Herrschaft Wolfegg 337 P ETER R ÜCKERT Der Abt im Konflikt. Jacob Murer und das Prämonstratenserstift Weißenau im Bauernkrieg 365 G ERHARD I MMLER Der Memminger Vertrag von 1526. Ein Meilenstein auf dem Weg zu einer kooperativen Agrarverfassung im Fürststift Kempten 385 T HOMAS P FUNDNER Die Beschwerden der Bauern des Irseer Klostergebietes von 1527 407 Autorenverzeichnis 451 Nachweis der Abbildungen 453 <?page no="10"?> 9 Abkürzungsverzeichnis ADB Allgemeine Deutsche Biographie AGBM Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland Art. Artikel BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv BbKG Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte Bl. Blatt BSB Bayerisches Staatsbibliothek Diss. Dissertation DWB Deutsches Wörterbuch von J ACOB G RIMM / W ILHELM G RIMM (digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities) fl. Gulden fol. folio FS Festschrift GesA Wolfegg Gesamtarchiv der Fürsten zu Waldburg-Wolfegg und Waldsee in Wolfegg HAB Historischer Atlas von Bayern HBG Handbuch der bayerischen Geschichte HLB Historisches Lexikon Bayerns (online) HLS Historisches Lexikon der Schweiz (online) HMRG Historischen Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft HStA Hauptstaatsarchiv HZ Historische Zeitschrift Ldr. Landrecht LMA Lexikon des Mittelalters LStRLO Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie MüB Münchner Bestand ND Nachdruck NDB Neue Deutsche Biographie Pfd. Pfund PH Pädagogische Hochschule r recto RA Reichsstädtische Akten sog. sogenannt Sp. Spalte StA Staatsarchiv <?page no="11"?> 10 StadtA Stadtarchiv StiftsA Stiftsarchiv ThürHStA Hauptstaatsarchiv Thüringen U Urkunde Univ. Universität Urk. Urkunde(n) v verso VadSlg Stadtarchiv und Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen Veröff. Veröffentlichung(en) VLA Vorarlberger Landesarchiv VLB Vorarlberger Landesbibliothek Veröff. SFG Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft e. V. VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Z. Zeile ZAA Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie ZAM Fürstliches Gesamtarchiv von Waldburg-Zeil, Schloss Zeil ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte ZHVS Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben <?page no="12"?> 11 P EER F RIESS / D IETMAR S CHIERSNER Einführung. Ressourcenkonflikte als Zugriff auf die Geschichte des Bauernkriegs Beschwert und überladen - so beschrieben die Bauern aus Öpfingen und Griesingen ihre Lage im Februar 1525. 1 Ihre Beschwerdeschrift war eine unter vielen, die von den Dörfern des Baltringer Haufens verfasst und dem Schwäbischen Bund vorgelegt wurden. Mit ihren Klagen machten sie deutlich, wie sehr sie sich existenziell bedroht fühlten, wie rücksichtslos der Arman - in diesem Fall die armen Bauern - von ihrem Herrn Ludwig von Freiberg ausgebeutet wurde. So sehr sich die rechtliche, wirtschaftliche und politische Situation in den verschiedenen Aufstandsgebieten der Jahre 1524 bis 1526 auch unterschieden haben, die Klagen über eine zu hohe Belastung des gemeinen Mannes waren allgegenwärtig. 2 Sie bildeten eine der Triebfedern für eine Aufstandsbewegung, die zur größten Untertanenrevolte der deutschen Geschichte werden sollte. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird dieses epochale Ereignis wissenschaftlich untersucht. 3 Insbesondere die Gedenkjahre 1975 und 2000 haben zu zahlreichen, zum Teil bis heute diskutierten Publikationen geführt. 4 Im Umfeld des Erinnerungsjahres 2025 steht der sog. ›Bauernkrieg von 1525‹ erneut im Fokus des Interesses. Es war daher nur folgerichtig, dass sich auch das Memminger Forum für schwäbische Regionalgeschichte dieses Themas annahm. Dessen vom 17. bis 19. November 2023 im historischen Rathaus der ehemaligen Reichsstadt Memmingen abgehaltene 16. Tagung fügt sich in den Reigen ähnlich ausgerichteter Konferenzen ein. Den Anfang machte bereits im Jahr 2020 der 47. Tag der Landesgeschichte in Mühlhausen, 5 dem im Mai 2022 die 14. Kraichtaler Kolloquien folgten. 6 Während diese 1 Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs, hg. von G ÜNTHER F RANZ , Darmstadt 1963, S. 156-159, hier 158. 2 Vgl. P ETER B LICKLE , Die Revolution von 1525, 4. Aufl. München 2004, S. 76-89. 3 Ausgangspunkt war die Monographie von W ILHELM Z IMMERMANN , Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges, nach handschriftlichen und gedruckten Quellen, 3 Bde., Stuttgart 1841-1843. 4 Einen guten Forschungsüberblick bietet G ERRIT J ASPER S CHENK , Was wollten die Bauern? Die Zwölf Artikel und das Problem der Allmende, in: D ERS ./ K URT A NDERMANN (Hg.), Bauernkrieg. Regionale und überregionale Aspekte einer sozialen Erhebnung (Kraichtaler Kolloquien 14), Ostfildern 2024, S. 11-43. 5 Die Vorträge sind erschienen in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 157 (2021). 6 G. J. S CHENK / K. A NDERMANN (Hg.), Bauernkrieg (Anm. 4). <?page no="13"?> P EER F RI ES S / D IET MA R S CHIER S NER 12 beiden Tagungen eine große thematische Bandbreite boten, konzentrierten sich die jüngeren Symposien stärker auf einzelne Teilaspekte. So stellte die Gesellschaft für Bayerische Rechtsgeschichte im Juni 2023 ihre Tagung in Füssen unter das Motto ›Der Bauernkrieg und das Recht‹. 7 Im September desselben Jahres trafen sich in Bozen Historikerinnen und Historiker aus Thüringen und Tirol, um die Ereignisse des Jahres 1525 im regionalen Vergleich zu erörtern. 8 Im Februar 2024 diskutierte der Mühlhäuser Arbeitskreis für Reichsstadtgeschichte das Thema ›Reichsstadt im Bauernkrieg‹, 9 und im März 2024 untersuchte die Gesellschaft Oberschwaben die ›Rolle der Akteure des Bauernkriegs im deutschen Südwesten‹. 10 Für das Gedenkjahr 2025 sind weitere Tagungen geplant. 11 Unabhängig davon, welchen methodischen oder thematischen Zugriff die verschiedenen Organisatoren jeweils gewählt haben, zu Beginn ihrer Überlegungen standen alle vor den gleichen Fragen: Kann angesichts der Fülle wissenschaftlicher Abhandlungen, Dissertationen, Editionen und Fachaufsätze denn überhaupt noch Neues erforscht, untersucht und diskutiert werden? Gibt es Quellen, die man noch nicht berücksichtigt hat? Auf den ersten Blick erscheint das, was schon publiziert wurde, so umfassend, dass man versucht ist, auf die Fragen mit einem klaren Nein zu antworten. Die ausgehend von Leopold von Rankes Deutung lange Zeit wirksame enge Verbindung des Bauernkrieges mit der Reformation wurde erst in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts durch die Arbeiten von Günther Franz gelockert. 12 Mit seiner These vom Kampf der Bauern um das Göttliche Recht rückte er den Gegensatz von herrschaftlichem und genossenschaftlichem Prinzip stärker in den Mittelpunkt. Während die DDR-Geschichtsforschung die sozioökonomischen Komponenten stärker betonte, war es vor allem Peter Blickle, der wieder und wieder die zentrale Bedeutung der Gemeinde, des Kommunalismus, wie er es nannte, für 7 Tagungsbericht: file: / / / C: / Users/ User/ Downloads/ sJ1B0hDW.pdf (aufgerufen am 27.8. 2024). 8 Tagungsbericht: https: / / www.hsozkult.de/ event/ id/ event-137527 (aufgerufen am 7.8.2024). 9 Zur Konzeption der Tagung s. https: / / www.reichsstaedte.de/ reichsstadt-im-bauernkrieg/ (aufgerufen am 27.8.2024). 10 Tagungsbericht: https: / / www.hsozkult.de/ searching/ id/ fdkn-143746? title=akteure-desbauernkriegs-im-deutschen-suedwesten-motive-strategien-kommunikation-lernerfahrungen &recno=2&q=M%C3%BChlhausen&sort=&fq=&total=206 (aufgerufen am 27.08.2024). 11 Zum Beispiel die Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing vom 10. bis 12. Januar 2025 zum Thema ›Bauern und Protest‹ oder die Tagung der Bezirksheimatpflege Schwaben vom 10. bis 12. März 2025 in Irsee zum Thema ›Bauernkrieg 1525 - Protagonisten - Medien - Erinnerungskultur‹. 12 G ÜNTHER F RANZ , Der deutsche Bauernkrieg, 11. Aufl. Darmstadt 1977. <?page no="14"?> E INFÜHR UNG 13 die revolutionären Ereignisse der Jahre 1524 bis 1526 hervorhob. 13 Die Forschungen Blickles und jene zahlreicher anderer Historiker konzentrieren sich auf die Ereignisse in Oberschwaben und setzen sich immer wieder mit Entstehung und Bedeutung der Zwölf Artikel auseinander. 14 An diesem Punkt stehen wir für den Bereich der schwäbischen Regionalgeschichte im Grunde heute noch. Natürlich sind darüber hinaus auch für Schwaben Einzelstudien erschienen, z. B. Arbeiten zur Rolle der Frauen im Bauernkrieg, zur Bedeutung einzelner Persönlichkeiten oder zur medialen Resonanz. 15 Doch nach der mittlerweile zum Klassiker gewordenen Monographie ›Die Revolution von 1525‹ von Peter Blickle 16 ist in den letzten Jahren keine neuere wissenschaftlich fundierte Abhandlung zu Südwestdeutschland oder gar eine Gesamtdarstellung des Bauernkriegs erschienen. 17 Neben Forschungen zu rechtshistorischen Aspekten des Konflikts 18 finden sich in jüngster Zeit vor allem kleinere und größere Regionalstudien, 13 Zur Einordnung des Œvres vgl. E NNO B ÜNZ , Bauern und Reformation. Eine Umschau im Reich, in: G. J. S CHENK / K. A NDERMANN (Hg.), Bauernkrieg (Anm. 4), S. 65-106, hier 68-78. 14 P ETER B LICKLE , Nochmals zur Entstehung der Zwölf Artikel im Bauernkrieg, in: Bauer, Reich und Reformation (FS für Günther Franz), hg. von P ETER B LICKLE , Stuttgart 1982, S. 286-308. 15 C LAUDIA U LBRICH , Die Heggbacher Chronik. Quellenkritisches zum Thema Frauen und Bauernkieg, in: H EINRICH R. S CHMIDT / A NDRÉ H OLENSTEIN / A NDREAS W ÜRGLER (Hg.), Gemeinde, Reformation und Widerstand (FS für Peter Blickle zum 60. Geburtstag), Tübingen 1998, S. 391-399; B ENJAMIN H EIDENREICH , Ein Ereignis ohne Namen? Zu den Vorstellungen des »Bauernkriegs« von 1525 in den Schriften der »Aufständischen« und in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, Berlin 2019; P ETER B LICKLE , Der Bauernjörg, Feldherr im Bauernkrieg, München 2015. 16 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 2). 17 Sieht man von der eher populärwissenschaftlichen jüngsten Publikation von C HRISTIAN P ANTLE , Der Bauernkrieg. Deutschlands großer Volksaufstand, München 2024, ab. Die angekündigten Monographien von T HOMAS K AUFMANN , Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis, Freiburg i. Br. 2024; L YNDAL R OPER , Für die Freiheit, Frankfurt a. M. 2024, G ERD S CHWERHOFF , Der Bauernkrieg, Geschichte einer wilden Handlung, München 2024; D ERS ., Auf dem Weg zum Bauernkrieg Unruhen und Revolten zu Beginn des 16. Jahrhunderts, München 2024, konnten für diesen Tagungsband inhaltlich leider nicht mehr berücksichtigt werden. 18 M ALTE H OHN , Die rechtlichen Folgen des Bauernkrieges von 1525. Sanktionen, Ersatzleistungen und Normsetzung nach dem Aufstand (Schriften zur Rechtsgeschichte 112), Berlin 2004; D AVID VON M AYENBURG , Gemeiner Mann und Gemeines Recht: die Zwölf Artikel und das Recht des ländlichen Raums im Zeitalter des Bauernkriegs, Frankfurt a. M. 2018. <?page no="15"?> P EER F RI ES S / D IET MA R S CHIER S NER 14 z. B. zum Kraichgau, zu Unterfranken oder zu Thüringen. 19 Für Oberschwaben wurde bereits im Jahr 2000 ein entsprechender Band herausgebracht. 20 Ist also alles gesagt, was zum Bauernkrieg in Oberschwaben zu sagen wäre? Wir denken Nein. Wir glauben, dass es sich nach wie vor lohnt, den Blick auf die Probleme zu richten, die die Menschen damals umtrieben, und zu hinterfragen, was zu jener Belastung geführt hat, über die sich die eingangs zitierten Bauern des Baltringer Haufens nachdrücklich beschwert hatten. Im Zentrum unserer Konzeption stand die These, dass der Kampf für politische Partizipation, für Abschaffung der Leibeigenschaft und Verwirklichung reformatorischer Ideale von vielfältigen, latent wirksamen Ressourcenkonflikten beeinflusst wurde. Indem wir das Ringen um existentiell notwendige Ressourcen in den Mittelpunkt unserer Tagung stellten, wollten wir auch eine Perspektive eröffnen, die es ermöglicht, bislang weniger beachtete Quellenbestände zu berücksichtigen und neue Deutungsansätze zu entwickeln. Der für diese Tagung zentrale Terminus Ressource rekurriert auf den im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnten Begriff ressource . Er wurde ursprünglich relativ allgemein für ›(Hilfs-)Mittel‹ verwendet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts griffen ihn Soziologen und Historiker vermehrt auf, um Phänomene der Gesellschafts-, Wirtschafts- oder Umweltgeschichte zu beschreiben. Meist standen dabei natürliche Ressourcen, etwa Pflanzen, Mineralien, Wasser oder Böden im Mittelpunkt. Davon zu unterscheiden sind immaterielle Ressourcen, wie Wissen, Netzwerke oder soziales Ansehen. Daneben können aber auch die mit Hilfe natürlicher Ressourcen produzierten Güter, z. B. Garn oder Getreide sowie Gebäude, wie Mühlen oder Weinpressen, als hybride, materiell-kulturelle Ressourcen betrachtet werden. 21 Dieser weit gefasste Ressourcenbegriff erschien uns gut geeignet, da er vielfältige Zugänge eröffnet und die Berücksichtigung regionaler Besonderheiten erleichtert. Die Nutzung von Ackerflächen, das Fischen in fließenden Gewässern und der Abbau von Bodenschätzen können ebenso in den Blick genommen werden wie die Regelung des Marktzugangs für ländliche Handwerker, die Sicherung einer die Bedürfnisse der Gläubigen befriedigenden Seelsorge, die Wahrung der gesellschaftlichen Reputation oder die menschliche Arbeitskraft, um die Jacob Murer in 19 M ICHAEL K LEBON , Im Taumel des Evangeliums: Anton Eisenhut und der Kraichgauer Haufen im »Bauernkrieg«. Absichten, Planungen und Taten als Ausdruck einer ungemein dynamischen Phase der Revolution von 1525, Ubstadt-Weiher 2020; F RANZ F UCHS / U LRICH W AGNER (Hg.), Bauernkrieg in Franken, Würzburg 2016; R ALF F ETZER , Flehinger Bauern, Junker, Pfaffen und Juden. Die Herren von Flehingen und ihre Untertanen zwischen Spätmittelalter, Bauernkrieg und Reformation, Edingen-Neckarhausen 2022. 20 E LMAR L. K UHN (Hg.), Der Bauernkrieg in Oberschwaben, Tübingen 2000. 21 A NSGAR S CHANBACHER , Einleitung - Begrifflichkeiten und Forschungskonzepte, in: D ERS . (Hg.), Ressourcen in historischer Perspektive. Landschaft, Literatur und Nachhaltigkeit, Göttingen 2020, S. 3-17, hier 7. <?page no="16"?> E INFÜHR UNG 15 seiner auf dem Titelbild zu sehenden Ansprache an seine Bauern kämpft. Gleichzeitig war es uns wichtig, diese Konflikte nicht nur als Katalysatoren des Bauernkriegs zu verstehen, sondern auch zu untersuchen, inwieweit sie für die ereignisgeschichtlichen Entwicklungen in einzelnen Regionen relevant waren und welche Rolle sie für die Beilegung des Aufruhrs spielten. In der ersten Sektion ging es darum, die ökonomischen, demographischen und klimatischen Rahmenbedingungen der Zeit zu erläutern. Die Vorträge der zweiten Sektion boten Einblicke in Ressourcenkonflikte benachbarter Regionen von Thüringen bis Tirol, um die oberschwäbischen Fallstudien der dritten Sektion im regionalen Vergleich besser einordnen zu können. Die Vorträge der Memminger Tagung sind für die Drucklegung in diesem Sammelband überarbeitet worden. Die Autoren haben sich von den Diskussionen anregen lassen und sich auch im Nachgang nochmals verstärkt mit den Ressourcenaspekten ihrer Themen auseinandergesetzt. Im Folgenden soll anstelle kurzer Inhaltsangaben der Texte nach den Erträgen dieses Zugriffs gefragt werden, der sich - wie alle anderen Ansätze auch - zeittypischen Einflussfaktoren verdankt: Überblickt man die Bauernkriegshistoriographie lassen sich immer wieder dominante Masternarrative erkennen, mit denen die Ereignisse des Jahres 1525 erklärt werden sollten. Horst Buszello hat diese Interpretationsansätze, von der Wahrnehmung der Zeitgenossen bis ins Umfeld der 450. Wiederkehr der Erhebung 1975, ausführlich charakterisiert und aus den jeweiligen Zeitumständen plausibel gemacht. 22 Auch Peter Blickles Freiheitsbegriff und dessen gewissermaßen institutionelle Flankierung durch das Kommunalismus-Konzept, verdankten sich einer bundesrepublikanischen Erfahrungswelt, die in den 1980er Jahren kulminierte, und zu einem seinerzeit nicht unüblichen Verständnis vom ›engagierten Historiker‹ passte. 23 Geschichtspolitisch ging es Blickle darum, positive Zugänge zur deutschen Geschichte zu finden, mit denen sich seine eigene Zeit identifizieren konnte - und sollte. 24 Dieser politische Optimismus ist uns heute ferner gerückt, vielleicht auch die ihn motivierende Freiheitsemphase. Stattdessen blicken viele pessimistisch in die Zukunft und sehen die Menschheit insgesamt bedroht durch die Folgen von Klimaveränderungen, 22 Noch immer einschlägig ist H ORST B USZELLO , Deutungsmuster des Bauernkriegs in historischer Perspektive, in: D ERS ./ P ETER B LICKLE / R UDOLF E NDRES (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg, 2., durchges. u. erg. Aufl. Paderborn u. a. 1991 (1. Aufl. 1984), S. 11-22. 23 Vgl. den Nachruf auf Peter Blickle von P ATRICK B AHNERS , Probe auf die Revolution. Verzweiflung, Hoffnung, Kampf und Sieg von Bauer und Bürger. Zum Tode des Historikers Peter Blickle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.2.2017. 24 Vgl., zugleich eine biographische Zeitspanne von über 40 Jahren markierend, P ETER B LICKLE , Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981; sowie D ERS ., Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, 2., durchges. Aufl. München 2006. <?page no="17"?> P EER F RI ES S / D IET MA R S CHIER S NER 16 die ein verkehrter Umgang mit natürlichen Ressourcen bewirkt hat. 25 Die moderne Einsicht in deren Endlichkeit und Begrenztheit korrespondiert sogar in frappierender Weise mit vormodernem Summenkonstanzdenken. 26 Insofern ist unsere Fokussierung auf Ressourcenfragen zweifellos ebenfalls, aber auf ihre eigene Weise einer zeitgebundenen Wahrnehmung und Sensibilität geschuldet. 27 In diesem Band spiegelt sich dies methodisch im Einbezug ausgesprochen makrohistorischer Perspektiven: in der Aufmerksamkeit für (sehr) langfristige, eher exogene (C HRISTIAN P FISTER , A NDREAS W EIGL ) und eher endogene (U LRICH P FISTER ) makrohistorische Prozesse - von Klimaanomalien über seuchenbedingten demographischen Wandel bis zur nachlassenden Ertragslage im Montanwesen. Thematisch zeigt es sich in der signifikanten Aufmerksamkeit insbesondere für Konflikte um die Waldnutzung - dem Pendant zur Energieproblematik unserer Tage. Fast alle Beiträge registrieren diesen Streitpunkt, bei S TEFAN H UBER steht er im Zentrum. Die Arbeit mit dem Ressourcenbegriff reflektiert dabei auch die gegenwärtig vorherrschende materialistische Weltsicht: Zumeist geht es in den Aufsätzen um die latente ökonomische Bedrohung bäuerlicher Existenzen. Bezeichnenderweise wird sogar der Streit um eine als angemessen empfundene Seelsorge und theologische Ausrichtung - am Beispiel Lindaus - durch eine materialistische Brille gesehen und mit ökonomischer Begrifflichkeit gedeutet, freilich mit Bezug auf ein verblüffend ähnlich lautendes Quellenvokabular (J OHANNES W OLFART ). Ansonsten werden Zusammenhänge mit der Reformation im Tagungsband kaum hergestellt. Auch für den hier erprobten Ressourcenzugriff gilt also: Fokussierung macht es möglich, Sachverhalte und Zusammenhänge (besser) wahrzunehmen, die ansonsten nicht oder kaum ins Blickfeld kommen - zwangsläufig aber um den ›Preis‹ der spezifischen Perspektivierung aller Aspekte. Die Autoren verwenden den Ressourcenbegriff vor allem als Umschreibung für die materiellen Ursachen eines Konfliktes, also für die - sei es nun objektiv oder subjektiv empfundene - Knappheit einer Sache (Holz, Wild und Fisch, Allmende). Ein mittelbarer materieller Zusammenhang damit wird in der Auseinandersetzung um die knappe Arbeitskraft der Bauern gesehen, auf die zugreifen zu können Zweck 25 In Teilen der westlichen Gesellschaften lässt sich derzeit sogar eine dezidiert apokalyptische Stimmung konstatieren, wie sie als deren Kehrseite oder aber Zuspitzung revolutionäre Aufbrüche kennzeichnet. Dass sich gerade jüngst das Interesse an der Figur Thomas Müntzers neu belebt, ist vor diesem Hintergrund wenig erstaunlich; vgl. M ARION D AM - MASCHKE / T HOMAS T. M ÜLLER (Hg.), Thomas Müntzer im Blick. FS für Günter Vogler zum 90. Geburtstag (Veröff. Der Thomas-Müntzer-Gesellschaft e.V. 29), Mühlhausen/ Thür. 2023. 26 Vgl. H ILLARD VON T HIESSEN , Das Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2021, S. 94, 132. 27 Ein erster Hinweis darauf findet sich bei R OLF K IESSLING / F RANK K ONERSMANN / W ERNER T ROSSBACH , Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg (1350-1650), Köln u. a. 2016, S. 49. <?page no="18"?> E INFÜHR UNG 17 der an die Scholle bindenden Leibeigenschaft war (S TEFAN B IRKLE , S ILKE S CHÖTTLE ). Auch das militärische Expertenwissen der Büchsenmeister wird als Ressource, in diesem Fall im Sinne eines Instruments der fränkischen Bauern zum Konfliktaustrag, gedeutet (H ELMUT F LACHENECKER ). In nochmals abstrakterer Form begegnet der Ressourcenbegriff, wenn damit immaterielle Instrumente wie Argumentations- oder Legitimationsfiguren gemeint sind, mit deren Hilfe Diskurse geführt wurden, sei es, indem etwa von herrschaftlicher Seite auf Gehorsam (P ETER R ÜCKERT ) oder vonseiten der Bauern auf das Wort Gottes (C HRISTOPH E NGEL - HARD , vgl. J OHANNES W OLFART ) rekurriert wird. Knappheit lenkt den Blick unmittelbar auf die Frage der - gerechten - Verteilung des begrenzt Verfügbaren, auf dabei ablaufende Konflikte und die Wege zu deren Beilegung, aber auch auf historische Vorstellungen von Gerechtigkeit. Im Unterschied zur konventionellen Unterscheidung nach Ursachen, Anlässen und Legitimationen, bei der die Vorgänge aus Sicht der initiativ Handelnden - des gemeinen Mannes - erzählt und erklärt werden, kommt mit der Rede vom Ressourcenkonflikt grundsätzlich jede Partei in den Blick: Multiperspektivität ist ein ganz spezifischer Ertrag dieses Zugriffs. Aus C HRISTOPH E NGELHARDS Beitrag gehen die politischen Grundlinien der Memminger Obrigkeit für das Territorium der Reichsstadt in den Jahrzehnten vor dem Bauernkrieg hervor; P ETER R ÜCKERT gibt Einblick in die Sicht des Weißenauer Abtes Jacob Murer auf den Konflikt, und die Bedürfnisse der adligen und klösterlichen Herrschaften scheinen auf in den im Nachgang zum Bauernkrieg geschlossenen Verträgen des Fürstabts von Kempten (G ERHARD I MMLER ) sowie des Bauernjörgs (S ILKE S CHÖTTLE ) und des Abtes von Irsee (T HOMAS P FUNDNER ) mit deren Untertanen. Hinweise auf heterogene Anliegen unter den Aufständischen selbst finden sich bei H ELMUT F LACHENECKER . Ebenso wird deutlich, dass im Verlauf des Konfliktes die dörfliche Oligarchie als führender Akteur von der bäuerlichen Unterschicht und die ›Tauben‹ durch die ›Falken‹ abgelöst wurden. Ebenso identifiziert U WE S CHIRMER für Thüringen vielfältige, sich teils überlappende Konfliktlinien - zwischen Bauern(gruppen) oder ganzen Dörfern untereinander, zwischen Grundherren und Gemeinden, zwischen dem frühmodernen Staat und dessen Untertanen und schließlich zwischen Stadt und Land. S TEFAN E HRENPREIS bringt mit dem lokalen Nahrungsgewerbe im Tiroler Montanrevier einen weiteren, bislang meist unbeachteten Akteur ins Spiel - und weist zugleich das bis heute gängige Narrativ der Bergleute und Bauern von ihrer Ausbeutung durch den Fugger’schen Pfennwerthandel zurück. Solche Erkenntnisse mögen vorderhand punktuell sein; das Potential für eine multiperspektivische Sicht ist durch den Ressourcenzugriff gleichwohl angelegt und damit längst nicht ausgeschöpft. Auch für die Frage nach Mechanismen der Vermeidung oder Deeskalation von Konflikten führt der gewählte Ansatz zu differenzierten Antworten. Methodisch besonders instruktiv sind dabei gerade jene Regionen, in denen es trotz manifester <?page no="19"?> P EER F RI ES S / D IET MA R S CHIER S NER 18 Ressourcenknappheit dennoch nicht zu (gewaltsamen) Konflikten kam. Ökologische und ökonomische Makromodelle können dabei nur die Entstehung von Konflikten in einem bestimmten Zeitraum plausibilisieren, nicht jedoch deren Ausbleiben. Genau dies jedoch kann C HRISTOPH E NGELHARD für Memmingen mit der Dialogbereitschaft der Reichsstadt erklären, A RMAN W EIDENMANN für die St. Galler Landschaft mit der Rolle einer lange zuvor etablierten Schiedsgerichtsbarkeit und W OLFGANG S CHEFFKNECHT für Vorarlberg mit der landständischen Repräsentation der Bauern, aber auch mit der demographischen Ventilfunktion des Söldnerwesens. Ebenso konnte die Politik des Landesfürsten deeskalierend wirken, wie S TEFAN E HRENPREIS für Tirol und S TEFAN H UBER für Bayern deutlich machen. Am wichtigen Beispiel der Waldnutzung im bayerischen Landgericht Tölz zeigt sich: Knappheitsregime landesherrlicher Holzordnungen, in gewissem Maß die Duldung von Normüberschreitungen, aber auch die Ableitung von Konflikten auf Dritte - klösterliche Grundherren - entschärften mögliche Untertanenkonflikte mit dem Herzog. Umgekehrt erklärungsbedürftig erscheint die eruptive Gewaltanwendung dort, wo es wie in Thüringen keine vergleichbare ökonomische und soziale Brisanz gab, da die mitteldeutsche Grundherrschaft die Leibeigenschaft und damit Frondienste und Schollenbindung gar nicht kannte. Auch die reformatorische Transformation konnte dort 1525 bereits als allgemein umgesetzt und akzeptiert gelten. Neben der immensen Zunahme der Schafzucht und der Abholzung des Thüringer Waldes, worauf ebenfalls landesherrliche Holzordnungen reagierten, sieht U WE S CHIRMER jedoch vor allem in der Wirkung der Persönlichkeit Thomas Müntzers den zentralen Erklärungsansatz. Mit der militärischen Niederlage der Aufständischen war das Verteilungsproblem, der Ressourcenkonflikt, keineswegs aus der Welt geschafft. Stärker als bisher in der Bauernkriegsforschung üblich wird in den Beiträgen von C HRISTOPH E NGEL - HARD , S TEFAN B IRKLE , S ILKE S CHÖTTLE und T HOMAS P FUNDNER der weitere Verlauf des 16. Jahrhunderts, im Falle des Fürststifts Kempten (G ERHARD I MMLER ) sogar das 17. und 18. Jahrhundert bedacht. Gerade für die seit dem 15. Jahrhundert bekannt konfliktfreudigen Fürstäbte kommt man nicht umhin, eine erstaunliche Lernkurve zu konstatieren. Die erst 1527 vorgebrachten Beschwerden der Bauern des Klosters Irsee werden hier, in der Edition von T HOMAS P FUNDNER , auch deswegen erstmals vollständig abgedruckt, weil sie nicht zuletzt sehr differenzierte Einblicke in den Aushandlungsprozess zwischen Untertanen und Abt und in die bäuerliche Alltagswelt ermöglichen. Auch die weitere Entwicklung, Konfliktpotential für die Zeit nach dem Bauernkrieg zu reduzieren, wird auf diese Weise mit dem Ressourcenzugriff eingefangen. <?page no="20"?> I. Rahmenbedingungen in Süddeutschland 1450-1550 <?page no="22"?> 21 C HRISTIAN P FISTER Wärme, Kälte und eine angesagte Katastrophe. Klimatische Interpretationselemente zur Entstehung des Bauernkriegs 1471-1524 1. Demografisch und klimatisch bedingte Ressourcenkonflikte Ressourcenkonflikte ergaben und ergeben sich in der Regel aus dem Zusammenspiel von Witterungs- und Klimaeffekten mit den sich verändernden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen der betroffenen Gruppen der Gesellschaft. Sie äußerten sich üblicherweise in der Form von Lebensmittelteuerungen und sozialen Unruhen im Gefolge von Missernten. 1 Fest steht, dass der Ausbruch des Bauernkrieges von 1525 nicht auf eine Teuerung der Grundnahrungsmittel zurückzuführen ist. 2 Vielmehr liegt ihm vor allem ein längerfristiger eingeschränkter Zugang der Unterschichten zur Ressource Kulturland zugrunde, der sich durch ein rasches Bevölkerungswachstum verschärfte. Offen ist, wann und unter welchen klimatischen Bedingungen das Bevölkerungswachstum eingesetzt hat. Ferner stellt sich die Frage, ob sich klimatisch bedingte Ressourcenkonflikte um Brennholz als Folge einer Reihe von kalten Wintern in den Forderungen der aufständischen Bauern niedergeschlagen haben. Schließlich ist auf eine Kumulation von Unwetterkatastrophen im Juli 1524 hinzuweisen, die das Fass möglicherweise zum Überlaufen brachten. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts halbierten wiederholte Pestwellen die europäische Bevölkerung. Die Nachfrage nach Getreide sank so stark, dass die Preise für Brotgetreide selbst auf Missernten kaum mehr reagierten. Unter diesen Bedingungen lohnte es sich, Grenzertragsflächen in Dauergrünland umzuwandeln. 3 Der Wald gewann wieder an Boden. Die vor der Pest verbleibende Waldfläche in West- und 1 Vgl. z. B. D OMINIK C OLLET , Die doppelte Katastrophe, Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770-1772 (Umwelt und Gesellschaft 18), Göttingen 2019. 2 F RANK K ONERSMANN / W ERNER T ROSSBACH , Krisen und gesellschaftliche Reaktionen, in: R OLF K IESSLING / F RANK K ONERSMANN / W ERNER T ROSSBACH , Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 1, Wien u. a. 2016, S. 46-51, hier 47. 3 C HRISTIAN P FISTER / H EINZ W ANNER , Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre, Bern 2021, Kap. 9, S. 392, Anm. 98. <?page no="23"?> C HRIS TIAN P FIS T ER 22 Mitteleuropa dürfte sich etwa verdoppelt haben. 4 Es stellt sich die Frage, wann und unter welchen Bedingungen der oben genannte Wachstumsprozess eingesetzt hat, und inwieweit sich dieser über mehrere Generationen hinweg veränderte. Der Aufsatz untersucht diesen Prozess anhand von Aufzeichnungen der Witterungs- und Klimaverhältnisse in historischen Dokumenten in Verbindung mit Hinweisen auf die demografische Entwicklung. Er ist wie folgt aufgebaut: In einem ersten Schritt wird dargelegt, wie Temperaturen vor der Verwendung von thermometrischen Messungen mit den Methoden der Historischen Klimatologie geschätzt werden. In einem zweiten Schritt wird die saisonale und jährliche geschätzte Temperaturentwicklung von 1460 bis 1539 anhand von Indikatoren aufgezeigt. Im dritten Kapitel werden aufgrund der Klimaentwicklung Mutmaßungen über den Verlauf des Bevölkerungswachstums angestellt. Ferner wird auf die häufigen kalten Winter zwischen 1508 und 1517 und die Kumulation von Katastrophen im Juli 1524 hingewiesen. Abschließend werden die Ergebnisse zu einer Gesamtinterpretation zusammengefügt. 2. Narrative Witterungsberichte zur Schätzung von Temperaturen Instrumentell gemessene Tagestemperaturen sind in der Meteorologie die Ausgangsgrößen, aus denen Mittelwerte der Temperatur berechnet werden. Für die vorinstrumentelle Periode vor dem frühen 18. Jahrhundert stehen in West- und Mitteleuropa narrative Daten, oft in Verbindung mit sogenannten Proxydaten, zur Verfügung. Unter diesen versteht man quasiobjektive Temperaturzeiger in der naturnahen Umwelt, wie die Breite und Dichte von Baumringen, die Entwicklungsstadien von Pflanzen (phänologische Daten), Angaben zur Größe und Qualität der Weinernten (önologische Daten), solche zur Dauer der Schneebedeckung sowie zur Vereisung von Flüssen und Seen. Solche Temperaturzeiger flochten Chronisten vom ausgehenden 12. Jahrhundert an in ihre Berichte von Extremereignissen ein, um dieselben auf eine überzeitlich vergleichbare Basis zu stellen. 5 Vom frühen 18. Jahrhundert an liegen systematische Beobachtungen zur Pflanzenentwicklung und zur Dauer der Schneebedeckung vor. 6 Vom ausgehenden 15. Jahrhundert an sind Wettertagebücher überliefert, in denen die Autoren - meist in Vorformen der heutigen Agenda - das Wetter 4 J ED K APLAN / K RISTEN K RUMHARDT / N IKLAUS Z IMMERMANN , The prehistoric and preindustrial deforestation of Europe, in: Quaternary Science Reviews 28 (2009), S. 3016-3034, hier 3027. 5 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 90. 6 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 98. <?page no="24"?> W ÄR ME , K ÄLTE UND EIN E ANGES AGTE K ATA S TR O PH E 23 von Tag zu Tag mit ein paar Worten aufzeichneten. 7 Kilian Leib (1471-1553), ein Prior des Augustinerklosters in Eichstätt, untersuchte den Wert astrometeorologischer Vorhersagen für die Landwirtschaft anhand von täglichen Aufzeichnungen von 1513 bis 1531 systematisch. Er kam zum ernüchternden Schluss, dass sie nicht zuverlässig seien. 8 Zur Schätzung vorinstrumenteller Temperaturen hat die Historische Klimatologie 9 einen synthetischen Proxy als Schnittstelle zwischen vorinstrumentellen und instrumentellen Daten in Form eines Index geschaffen. Bei diesem handelt es sich um einen numerischen Wert, der auf der zusammenfassenden Interpretation der gesamten für einen Monat oder eine Jahreszeit verfügbaren Information beruht. 10 Am weitesten verbreitet ist der sogenannte Pfister-Index, 11 der sieben Klassen auf einer Skala von -3 bis +3 umfasst (Grafik 1). Diese beziehen sich auf Abweichungen von einer Referenzperiode im 20. Jahrhundert. Sofern für einen Zeitraum nur beschreibende Daten vorliegen, sind Indizes -1, 0 oder +1 zu setzen, ungeachtet des narrativen Inhalts der Beschreibung. Indizes 2, 3 oder -2, -3 bleiben jenen Fällen vorbehalten, für die sowohl beschreibende Berichte als auch Verweise auf Temperaturzeiger vorliegen, die meteorologisch stimmig sind. 12 Der tschechische Geograph Petr Dobrovolný erarbeitete mit seinen Kollegen Schätzwerte der monatlichen, jahreszeitlichen und jährlichen Temperaturen seit 1500, welche auf der Auswertung von Pfister-Indexreihen aus Deutschland, der Schweiz und den tschechischen Ländern beruhen. 13 Die daraus resultierende zentraleuropäische Temperaturreihe besteht bis 1759 aus geschätzten Messwerten auf einer monatlichen, saisonalen und jährlichen Zeitskala in der Form von Abweichungen vom Mittelwert 1961-1990, einschließlich eines Schätzfehlers. 14 Anschließend 7 C HRISTIAN P FISTER u. a., Daily Weather Observations in Sixteenth-Century Europe, in: D ERS . u. a. (Hg.), Climatic Variability in Sixteenth century Europe and its Social Dimension, Dordrecht 1999, S. 111-150. 8 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 102; K ATHRIN C LENCH P RIBER , Das Wettertagebuch Kilian Leibs, in: B ERNWARD S CHMIDT / S IMON F ALCH (Hg.), Kilian Leib (1471-1553): Prediger - Humanist - Kontroverstheologe (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 80), Münster 2020, S. 169-187. 9 Wikipedia ›Historische Klimatologie‹, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Historische_Klimato logie (aufgerufen am 21.1.2024). 10 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 143. 11 F RANZ M AUELSHAGEN , Klimageschichte der Neuzeit. 1500-1900, Darmstadt 2009, S. 55. 12 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 143. 13 P ETR D OBROVOLNÝ u. a., Monthly, seasonal and annual temperature reconstructions for Central Europe derived from documentary evidence and instrumental records since AD 1500, Climatic Change 101,1 (2010), S. 69-107. 14 P. D OBROVOLNÝ , Temperature (Anm. 14), Daten: https: / / www.ncei.noaa.gov/ access/ paleo-search/ study/ 9970. <?page no="25"?> C HRIS TIAN P FIS T ER 24 liegen Messwerte vor. Saisonale Indizes für die Periode 1460 bis 1499 finden sich in einem Appendix bei Pfister und Wanner. 15 An sich könnten auch die Niederschlagsverhältnisse mit der Methode der Indizes untersucht werden, wie Petr Dobrovolný und seine Koautoren für die tschechischen Länder gezeigt haben. 16 Grafik 1: Der siebenstufige Temperatur- und Niederschlags Pfister-Index 17 Doch für Deutschland, die Schweiz und Österreich handelt es sich dabei noch um ein Forschungsdesiderat. Die Indexmethode wird anhand von drei Beispielen erläutert: - Der April 1473 war im französischen Metz »heiß«. Anfang Mai begannen die Reben zu blühen. Anfang Juni waren die ersten Kirschen reif, was einem Vegetationsvorsprung von 3-4 Monaten entspricht. 18 Dies führt zu einem Index der Frühjahrstemperatur von +3. 15 Digital Appendix DOI 10.7892/ boris.148155. 16 P ETR D OBROVOLNÝ u. a., Precipitation reconstruction for the Czech Lands, AD 1501- 2010, in: International Journal of Climatology 2014, published online DOI 10.1002/ joc.3957. 17 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 143. 18 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 202. <?page no="26"?> W ÄR ME , K ÄLTE UND EIN E ANGES AGTE K ATA S TR O PH E 25 - Im Dezember 1473 blühten in Basel verbreitet Blumen bei »frühlingshafter Wärme«, und der Winter 1474 blieb wie jener von 1473 »regnerisch ohne Frost«. 19 In beiden Fällen wird ein Index von +3 gesetzt. - Im Winter 1514 dauerte die Kälte von Mitte November bis Anfang Februar. Die Eisdecke auf dem Rhein und auf der Mosel trug geladene Wagen. Eisbedeckt war auch der Zürichsee. 20 Dies rechtfertigt einen Temperaturindex von -3, was einer geschätzten Abweichung der Wintertemperatur von -4,6 °C +/ - 0,69 °C entspricht. 21 3. Ein Wechselbad von Wärme und Kälte Grafik 2: Indizes der Jahrestemperaturen 1460-1548, 7-jährige gleitende Mittel Daten: Online Anhang DOI 10.7892/ boris.148155. Grafik 2 vermittelt einen Überblick über die geschätzten Jahrestemperaturen in Form von Pfister-Indizes. Die diesen zugrunde liegenden saisonalen Daten sind im Online-Anhang enthalten. 22 Die Angaben für den Herbst sind vor 1500 lückenhaft und generell wenig differenziert. Im Folgenden werden die saisonalen Indizes anhand der oben erwähnten digitalen Dokumentation diskutiert. In den 1460er Jahren ist weder für den Winter, das Frühjahr noch für den Herbst eine warme Jahreszeit 19 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 202. 20 Datenbank Euro Climhist https: / / www.euroclimhist.unibe.ch/ datenbanksuche/ index_ ger.html Deskriptive Daten Proxy Daten von: 1.1.1514 bis 1.4.1514. 21 P. D OBROVOLNÝ , Temperature (Anm. 14), S. 101. 22 Digital Appendix DOI 10.7892/ boris.148155. <?page no="27"?> C HRIS TIAN P FIS T ER 26 dokumentiert, und es lässt sich kein einziges warmes Jahr ermitteln. Zwei kalte und ein strenger Winter sowie drei kalte und ein bitterkaltes Frühjahr wurden verzeichnet. Warm waren drei Sommer, doch standen ihnen zwei kalte und eine sehr kalte Jahreszeit gegenüber. Das Jahr 1473 gilt nach heutigen Kenntnissen in West- und Mitteleuropa als das wärmste und trockenste im verflossenen Jahrtausend. 23 Es war der Höhepunkt eines mehrjährigen Wärmeschubs innerhalb der Kleinen Eiszeit: Dieser ist möglicherweise auf längerfristige Veränderungen in der Oberflächentemperatur des Nordatlantiks zurückzuführen. 24 Nach einem Kälteschock im Jahr 1477 kehrte die Wärme 1479 zurück. In den 1480er Jahren sanken die Temperaturen, und Klimaanomalien häuften sich. Abgesehen von zwei warmen Sommern (1483 und 1484) war die Vegetationsperiode in den Jahren 1485, 1488 und 1489 kühl. 1481 war ein ›Jahr ohne Sommer‹. Das Jahr 1491, ein annus horribilis, gehört zu den verheerendsten des verflossenen Jahrtausends. Der Rhein bei Köln und der Zürichsee waren eisbedeckt. Zwischen dem 30. Dezember und dem 8. Januar wurden gewaltige Schneemassen aufgetürmt, welche die Menschen in ihren Behausungen einschlossen. Dann schmolz ein Warmluftvorstoß mit Dauerregen die angehäuften Schneemassen, was viele Siedlungen unter Wasser setzte. In der Folge kehrte der Winter bis in den April zurück. Kälte und Schnee erstickten die Saat und ließen Weinstöcke und Obstbäume vertrocknen. Zwischen dem 9. und dem 12. Mai fiel vielerorts tiefer Schnee, gefolgt von hartem Frost. Im Juni kehrte der Winter ein letztes Mal zurück; indem es bis in tiefe Lagen schneite. Mancherorts wurden die Trauben nicht reif. 25 Die folgenden 18 Jahre können als klimagünstig gelten. Weder trat ein Strengwinter ein noch wurde ein Jahr ohne Sommer verzeichnet. Zwei kühle Winter gingen 1503 und 1504 in warme Vegetationsperioden über, und von 1505 bis 1507 folgten aufeinander drei regnerische und fast schneelose Winter. 26 Das Jahrzehnt 1508 bis 1517 gehört zu den winterkältesten der Kleinen Eiszeit. Die fünf Winter 1508, 1509, 1511-1513 wurden mit geschätzten Temperaturen von 2,7 °C und 3,5 °C unter dem Durchschnitt 1961-1990 als »kalt«, 1514 mit einer Abweichung von 4,3 °C als »extrem kalt« eingestuft. 27 Der Winter 1525 war unter 23 Wikipedia ›Dürre in Europa 1473‹, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ D %C3 %BCrre_in_ Europa_1473 (aufgerufen am 3.2.2024). 24 E DWARD R. C OOK u. a., Old World megadroughts and pluvials during the Common Era, in: Science Advances 1/ 10 (2015), https: / / www.science.org/ doi/ 10.1126/ sciadv.1500561. 25 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 198. 26 Digital Appendix DOI 10.7892/ boris.148155. 27 P. D OBROVOLNÝ , Temperature (Anm. 14), Daten: https: / / www.ncei.noaa.gov/ access/ paleo-search/ study/ 9970. <?page no="28"?> W ÄR ME , K ÄLTE UND EIN E ANGES AGTE K ATA S TR O PH E 27 Hochdruckeinfluss zunächst kalt, dann eher mild und für die Kulturen günstig. 28 In den folgenden 15 Jahren traten kalte Winter nur sporadisch auf. 29 Abb. 1: Winterbild (Februar) aus dem Gebets- und Andachtsbuch des Herzogs von Berry 1410-1416, fertiggestellt 1485-1489. 28 Euro Climhist https: / / www.euroclimhist.unibe.ch/ datenbanksuche/ index_ger.html Deskriptive Beobachtungen Proxy Daten tägliche Beobachtungen von 1.12.1524 bis 1.3.1525 (aufgerufen am 15.1.2024). 29 P. D OBROVOLNÝ , Temperature (Anm. 14), Daten: https: / / www.ncei.noaa.gov/ access/ paleo-search/ study/ 9970. <?page no="29"?> C HRIS TIAN P FIS T ER 28 Dieses berühmte Bild ist in Wikipedia ausführlich beschrieben. 30 Es veranschaulicht den sozialen Gegensatz zwischen den Verhältnissen im warmen Haus drinnen und in der Kälte draußen. Die zwei Männer beim Feuer drinnen tragen keine Unterkleider, die Frau wärmt ihre nackten Beine. Die Frau in der Kälte (rechts außen) ist dagegen dünn angezogen. Sie verkörpert die Unterschichten, die in kalten Wintern unter dem ständigen Brennholzmangel litten. Im Sommer hielten sich warme und kühle Jahreszeiten weitgehend die Waage. Durchwegs kalt und nass blieb einzig der Sommer 1515. Doch folgte 1516 ein warmes Jahr mit einem heißen Sommer. Die 1520er Jahre waren tendenziell warm, wobei, abgesehen vom sehr warmen Jahr 1521, dem milden Winter 1527 und dem sommernassen Missernte-Jahr 1529, keine Extreme zu verzeichnen sind. Das Jahrzehnt 1530-1539 zeichnet sich durch drei sehr warme und drei warme Jahre aus, denen kein einziges kühles Jahr gegenüberstand. Die größten Wärmeüberschüsse erzielten der Sommer und der Herbst. 31 Neben den saisonalen Tendenzen ist auf eine Unwetterkatastrophe in Süddeutschland hinzuweisen, welche die ökonomische Situation der dortigen bäuerlichen Bevölkerung stark verschlechterte. Tabelle 1: Überblick über die durchschnittlichen Jahresmittel der Temperaturindizes pro Jahrzehnt Jahrzehnt Durchschnitt 1460-1469 -0,58 1470-1479 +0,8 1480-1489 -0,08 1490-1499 -0,08 1500-1509 +0,23 1510-1519 -0,7 1520-1529 0 1530-1539 +0,63 Warme Extreme sind fett, kalte kursiv hervorgehoben. Bei langfristiger klimatischer Betrachtung fällt das Jahrzehnt 1470-1479 aus dem Rahmen. Vergleichbar hohe Jahrestemperaturen sind erst vom späten 20. Jahrhundert an nachgewiesen, sofern eine solche Aussage bei der Tragfähigkeit des Daten- 30 Wikipedia, Les très riches heures, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Tr %C3 %A8s_Riches_ Heures#Literatur (aufgerufen am 15.4.2024). 31 Euro Climhist https: / / www.euroclimhist.unibe.ch/ datenbanksuche/ index_ger.html. <?page no="30"?> W ÄR ME , K ÄLTE UND EIN E ANGES AGTE K ATA S TR O PH E 29 materials haltbar ist. Bemerkenswert hoch stiegen die Temperaturen auch im Jahrzehnt 1530-1539. Dagegen blieben die beiden Jahrzehnte 1460-1469 sowie 1510- 1519 vorwiegend kalt, letzteres aufgrund häufiger Strengwinter. Unspektakulär verliefen daneben die Jahrzehnte 1490-1499, 1500-1509 sowie 1520-1529. 4. Die Unwetterkatastrophen vom Juli 1524 Zwei Hagelstürme und eine anschließende Überschwemmung verwüsteten im Sommer 1524 den Raum von Waldshut über Schaffhausen, den Hegau und Überlingen bis nach Leutkirch im Allgäu. Casimir Bumiller diskutiert diese Ereignisse unter den Entstehungsbedingungen des Bauernkriegs. 32 Der Schaffhauser Magistrat Hans Stockar (1490-1556) 33 verfasste einen ausführlichen Bericht, der wie folgt zusammengefasst wird: Am Mittwoch, den 6. Juli 1524 um 3 Uhr nachmittags brach ein entsetzliches Unwetter los, welches eine Stunde lang tobte. Böen fegten Schindeln und Ziegel von den Dächern, dreieckige, spitze Hagelsteine von der Grösse von Hühnereiern schmetterten das schnittreife Getreide zu Boden, zerfetzten die Reben, rissen die Blätter von den Bäumen, erschlugen Vögel, Wild- und selbst Haustiere, zersplitterten Fenster und durchlöcherten die Dächer. Alles wurde teuer. 34 Die ausführliche Schilderung lässt auf eine tiefe Betroffenheit schließen. In Schaffhausen wurden allein die Schäden an den Reben und Hausdächern auf 20.000 Gulden geschätzt, wie der österreichische Kammersekretär Veit Sutor nach Innsbruck berichtete. 35 Am Bodensee, im Klettgau und am Hochrhein zerschlug der Hagel die Reben so stark, dass sie in den folgenden drei Jahren keinen Ertrag mehr gaben. 36 Ein weiteres Unwetter warf am 20. Juli Hagelsteine von Haselnussgröße, welche die restlichen Erträge vollständig vernichteten. Die Dächer waren vom ersten Hagelschlag her noch stark durchlöchert. Sie mussten notdürftig mit Brettern gedeckt werden, da man in der kurzen Zeit keine neuen Schindeln auftreiben konnte. Wiederholte Wolkenbrüche setzten manche Häuser mitsamt den Vorräten unter Wasser, so dass die Bewohner zu ertrinken drohten. 37 32 C ASIMIR B UMILLER , Der Bauernkrieg im Hegau 1524/ 25. Rekonstruktion einer revolutionären Bewegung, in: Hilzingen. Geschichte und Geschichten, Bd. 1 (Hegau-Bibliothek 103), Konstanz-Hilzingen 1998, S. 251-432, hier 292. 33 A NDRÉ S CHNYDER , Art. Stockar, Hans, in: Historisches Lexikon der Schweiz, online, https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 021714/ 2012-05-23/ (aufgerufen am 16.5.2024). 34 K ARL S CHIB (Hg.), Hans Stockars Jerusalemfahrt 1519 und Chronik 1520-1529 (Quellen zur Schweizer Geschichte 1/ 4), Basel 1949; https: / / www.euroclimhist.unibe.ch/ datenbank suche/ index_ger.html tägliche Beobachtungen von 1.7.1524 bis 31.7.1524. 35 C. B UMILLER , Hilzingen (Anm. 32), S. 292. 36 K ARL M ÜLLER , Geschichte des Badischen Weinbaus. Mit einer badischen Weinchronik und einer Darstellung der Klimaschwankungen im letzten Jahrtausend, Lahr 1953, S. 93. 37 K. S CHIB (Hg.), Stockar (Anm. 34). <?page no="31"?> C HRIS TIAN P FIS T ER 30 Für die Betroffenen war dies in der Tat eine Art Weltuntergang. Bäche und Flüsse schwollen stark an. In Schaffhausen rissen die Überschwemmungen mannstiefe Erosionsrinnen in die Straßen, 38 und in St. Gallen schwemmte der angeschwollene Fluss Sitter eine Brücke weg. 39 Auch in der 20 km westlich von Schaffhausen gelegenen Landgrafschaft Stühlingen, wo es schon im Frühsommer zu Unruhen gekommen war, zog die verlorene Ernte einen unmittelbaren Preisanstieg der Grundnahrungsmittel nach sich. Die Existenz der Landbevölkerung war aufs Äußerste bedroht. 40 Kilian Leib in Eichstätt strich seinen (vorher erstellten? ) Eintrag vom 6. Juli in seinem Wettertagebuch durch und schrieb unten an der Seite, wo es noch Platz hatte: 6. Julii […] 3 et 4 horas was [? ] ungemeinder grando quid [? ] destruit apud Schafhusen […]. (Abb. 2) Nach heutigen Maßstäben ist das Unwetter vom 16. Juli als seltenes Extremereignis einzustufen. Ein Hagelzug oder Hagelstrich, wie das zusammenhängende Hagelgebiet genannt wird, ist üblicherweise ein paar Kilometer lang und weniger als einen Kilometer breit. Er dauert gewöhnlich nur einige Minuten, aber eine Dauer von 15-30 Minuten wurde auch schon beobachtet. 41 Der Hagelschlag vom 16. Juli dauerte eine Stunde lang, und die spitzen Hagelkörner waren mit einem Durchmesser von 5 cm besonders zerstörerisch. Mit einer Aufprallgeschwindigkeit von bis zu 100 km/ h richten Eisklumpen dieser Größe unter heutigen Bedingungen »schwere Schäden an Fahrzeugen, Verkehrsanlagen, Gebäuden und in der Landwirtschaft« an. 42 Soweit sie dokumentiert ist, verwüstete die Katastrophe von 1524 ein Gebiet von mehreren 100 km 2 . Als Ursache wird eine sogenannte HP-Superzelle vermutet. 43 38 K. S CHIB (Hg.), Stockar (Anm. 34). 39 K. S CHIB (Hg.), Stockar (Anm. 34). 40 A NDREAS B ÜTER , Ursachen und Verlauf der Stühlinger Bauernerhebung von 1524, Seminararbeit Univ. Münster, E-Book (https: / / www.grin.com/ document/ 46861? lang=de), 2003: 18 (aufgerufen am 16.5.2024). 41 https: / / www.naturgefahr.ch/ index.php/ de/ naturgefahren/ hagel.html (aufgerufen am 4.2.2024). 42 https: / / www.schutz-vor-naturgefahren.ch/ spezialist/ naturgefahren/ hagel.html (aufgerufen am 4.1.2024). 43 https: / / www.nssl.noaa.gov/ education/ svrwx101/ thunderstorms/ types/ #: ~: text=Meso scale %20convective %20complex %20(MCC) %E2 %80 %94,can %20cover %20an %20e ntire %20state (aufgerufen am 3.3.2024). <?page no="32"?> W ÄR ME , K ÄLTE UND EIN E ANGES AGTE K ATA S TR O PH E 31 Abb. 2: Angaben zum Unwetter vom 6. Juli im Wettertagebuch von Kilian Leib, unten an der Seite. Druck mit handschriftlichen Einträgen, eingetragen in ein Exemplar von Stöfflers Almanach (Ulm 1499), Anonym, Kilian Leib zugeordnet. <?page no="33"?> C HRIS TIAN P FIS T ER 32 Diese gefährlichste Form von Gewitterzellen ist langlebiger als gewöhnliche Gewitterzellen. Oft ist sie von heftigen Wolkenbrüchen, grobkörnigem Hagel von über 4 cm Durchmesser und vernichtenden Fallböen, grose, starke blast und wind, wie Stockar schreibt. 44 Darunter versteht man beschleunigte Abwinde unterhalb der Gewitterwolke, die Geschwindigkeiten von über 200 km/ h erreichen können. 45 Am selben Tag traf ein Unwetter die 240 km weiter nordwestlich gelegene Gegend um die damalige Reichsstadt Metz. Der dortige Winzer Philippe de Vigneulles (1471- 1528) berichtet, dass am 6. Juli ein Hagelwetter seinen Rebberg zugrunde richtete. 46 Die tagesgleichen Berichte von Stockar, de Vigneulles und Leib lassen vermuten, dass es sich um dasselbe Ereignis gehandelt haben könnte. Unter Umständen können sich mehrere Superzellen nämlich in größeren Strukturen organisieren. 47 Ein großräumiger Hagelsturm hat am 13. Juli 1788 Geschichte geschrieben. An diesem Tag durchquerte ein langlebiges Unwetter mit verheerenden Hagelschlägen den westlichen Kontinent ausgehend vom französischen Département Landes im Südwesten bis zur Region um das niederländische Utrecht im Nordosten, d. h. über eine Länge von über 800 km. 1.059 Dörfer waren betroffen, die Hagelsteine erreichten teilweise ein Gewicht von 600 g, wie aus der nachfolgenden wissenschaftlichen Untersuchung hervorgeht. Die Katastrophe trug zur Teuerungsspitze des folgenden Jahres bei, die den Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 auslöste. 48 Wesentlich für die Vorgeschichte des Bauernkriegs ist neben der heutigen meteorologischen Interpretation der Unwetterkatastrophe ihre Deutung durch die Zeitgenossen. Der Schaffhauser Stockar, der beim alten Glauben blieb, betrachtete sie entsprechend der geltenden kirchlichen Tradition als Strafe Gottes für die Sündhaftigkeit der Menschen. 49 Als Konkurrenz zur kirchlichen Deutungshoheit verbreiteten sich durch den aufkommenden Buchdruck Flugblätter mit astrologischen Prognosen vom frühen 16. Jahrhundert an. Formen von Astrologie wurden in vorchristlicher Zeit in verschiedenen Kulturkreisen, vor allem in China, Indien und Mesopotamien, praktiziert. Ausgehend von Babylonien erfuhr die spätere ›westliche‹ Astrologie ihre Ausprägung im hellenistisch geprägten griechisch-ägyptischen Alexandria. Im lateinisch-christlichen Europa wurde sie vom 12. Jahrhundert an durch die Über- 44 Wikipedia ›Gewitter‹, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gewitter (aufgerufen am 5.2.2024); K. S CHIB (Hg.), Stockar (Anm. 34). 45 https: / / www.meteoschweiz.admin.ch/ ueber-uns/ meteoschweiz-blog/ de/ 2023/ 07/ wasist-ein-downburst.html (aufgerufen am 24.5.2024). 46 C HARLES B RUNEAU (Hg.), La Chronique de Philippe de Vigneulles, Metz Société d’histoire et d’archéologie de la Lorraine 4 (1927); Datenbank Euro Climhist wie Anm. 34. 47 Mündliche Mitteilung Prof. Olivia Romppainen, Oeschger Zentrum, Universität Bern. 48 https: / / meteofrance.com/ magazine/ meteo-histoire/ meteo-fait-histoire/ le-13-juillet- 1788-un-orage-prerevolutionnaire (aufgerufen am 4.2.2024). 49 C. B UMILLER , Hilzingen (Anm. 32), S. 292. <?page no="34"?> W ÄR ME , K ÄLTE UND EIN E ANGES AGTE K ATA S TR O PH E 33 setzung griechischer und arabischer Texte aus dem islamischen Kulturraum rezipiert, wobei man nicht zwischen Astronomie und Astrologie unterschied. 50 Anhand einer bestimmten Konstellation von Planeten, zu welchen man auch die Sonne und den Mond zählte, sagten Astrologen in Flugblättern zukünftige Ereignisse voraus. 51 Für den Februar 1524 prognostizierten manche eine allgemeine Sintflut, nach heutiger Lesart eine schwere Katastrophe, einige gar einen Bauernkrieg. 52 Je näher dieses Jahr rückte, desto mehr Flugblätter erschienen, und umso verängstigter wurden viele Menschen. Wo die anhand der ›Planeten‹ angesagte Katastrophe tatsächlich eintrat, wenn auch etwas später als angekündigt, dürfte dies tiefe Betroffenheit geweckt haben. Die Sensibilität für auffälligen Zeichen war in den frühen 1520er Jahren hoch, weil bei der allgemeinen Verunsicherung über die aktuellen politischen, sozialen und religiösen Entwicklungen ein besonderer Erklärungsbedarf bestand. 53 Es ist anzunehmen, dass dieses Ereignis an der politischen Versammlung der Bauern an Kirchweih in Hilzingen am 2. Oktober diskutiert wurde. Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass nach den kalten 1460er Jahren in den 1470er Jahren ein mehrjähriger Wärmeschub einsetzte. Auf sprunghafte positive und negative Bedingungen in den 1480er Jahren folgte 1492-1509 ein Zeitraum mit relativ ausgeglichenen Verhältnissen. Die 1510er Jahre brachten tiefe, vor allem durch häufige kalte Winter bedingte Durchschnittstemperaturen. Die 1520er Jahre waren thermisch ausgeglichen, die 1530er Jahre sehr warm. Im Vorfeld des Bauernkriegs wurden Teile Süddeutschlands und der Nordostschweiz im Juli 1524 von einem besonders gefährlichen Unwetter mit großkörnigem Hagel, einem weiteren Hagelwetter und einer Überschwemmung verwüstet, was die Bereitschaft zu proaktivem Handeln verstärkt haben mag. 50 Wikipedia ›Astrologie‹, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Astrologie (aufgerufen am 6.2.2024). 51 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 98. 52 C. B UMILLER , Hilzingen (Anm. 32), S. 293. 53 C. B UMILLER , Hilzingen (Anm. 32), S. 335; C HRISTIAN R OHR , Between Astrological Divination, Local Knowledge and Political Intentions: Prognostics and »Epignostics« Related to Natural Disasters in the Middle Ages, in: K LAUS H ERBERS / H ANS -C HRISTIAN L EHNER (Hg.), Dreams, Nature, and Practices as Signs of the Future in the Middle Ages (Prognostication in history 10), Leiden-Boston 2022, S. 128-174. <?page no="35"?> C HRIS TIAN P FIS T ER 34 5. Ökonomische und demografische Indikatoren Die Zeit vor dem frühen 16. Jahrhundert ist arm an demografischen Quellen. Greifbar sind nur grobe Hinweise auf Wachstumsperioden anhand von punktuellen Angaben in chronikalischen Quellen. 54 Demografische Wachstumsraten sind das Ergebnis eines mannigfachen Zusammenspiels von Geburten, Sterbefällen und Wanderungen, die wir für den Untersuchungszeitraum nicht genau genug kennen. Um eine Vorstellung von möglichen demografischen Folgen der aufgezeigten klimatischen Entwicklung zu gewinnen, sind in einem ersten Schritt Zusammenhänge zwischen Temperatur und Bevölkerungswachstum in Mitteleuropa unter historischen Bedingungen in den Blick zu nehmen. In einem zweiten Schritt werden die Ergebnisse zu demografischen Indikatoren in Beziehung gesetzt. Im Sommerhalbjahr stehen die Ernährungsbedingungen, die Sterblichkeit und die Fütterung des Viehbestandes sowie, damit zusammenhängend, Zugkraft und Stallmist für die Bevölkerungsentwicklung im Vordergrund. Je früher der Frühling einsetzte und je später die Weidezeit im Herbst endete, umso besser waren das Vieh gefüttert und umso weniger Tiere gingen durch Seuchen verloren. Es stand mehr Milch zur Verfügung und es wurde mehr Obst und Gemüse geerntet, wodurch sich die Ernährung verbesserte. 55 Außerdem kam der reichlichere Anfall von Stallmist den Äckern zugute, wodurch die Erträge stiegen. 56 Im Ganzen gesehen hatten warme Sommerhalbjahre, abgesehen von Hitzesommern, überwiegend positive demografische Auswirkungen. Wenig ist über die Ressourcenknappheit und die Mortalität in Strengwintern bekannt. Das Vieh hungerte, wenn lange, schneereiche Winter und späte Frühjahre die Heuvorräte aufzehrten, so dass es mit Tannenreisern durchgefüttert werden musste, für längere Zeit von der Milch kam oder starb. 57 Unter der Kälte litten auch die Menschen, namentlich die Unterschichten. Die humangeschichtliche Bedeutung extrem tiefer Wintertemperaturen in der Kleinen Eiszeit ist bisher sträflich unterschätzt worden. Ein Team um Peter Ekamper hat in einer Langzeitstudie anhand von Tagestemperaturen die Auswirkungen von Hitzewellen und Kälteperioden auf die Mortalität in den Niederlanden von 1855 bis 2006 untersucht. Die Forschenden weisen nach, dass Kältestress dazu neigt, die Immunreaktion auf Infektionen zu unterdrücken. Je intensiver die Kälte ist und je länger sie andauert, umso mehr nehmen und nahmen Atemwegserkrankungen zu. Besonders verletzlich waren Menschen, die sich bei kaltem Wetter in schlecht belüfteten Räumen zusammendrängen 54 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Weigl in diesem Band. 55 J ÖRG B ATEN , Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern (1730-1880) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 82), Stuttgart 1999. 56 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 278. 57 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima (Anm. 3), S. 305. <?page no="36"?> W ÄR ME , K ÄLTE UND EIN E ANGES AGTE K ATA S TR O PH E 35 mussten. 58 Die gestiegene Mortalität in kalten Wintern müsste anhand von Untersuchungen zu den Entwicklungen des 18. Jahrhunderts vertieft werden, für das sowohl tägliche Temperaturdaten als auch demografische Daten vorliegen. Fest steht, dass Angehörige der Unterschichten unter (früh)neuzeitlichen Bedingungen in besonderem Maße unter Strengwintern litten. Sie fanden in den Wäldern kaum genug Feuerholz, um den stark gestiegenen Energiebedarf in ihren schlecht isolierten Behausungen zu decken. Unter den herrschenden buchstäblich eiskalten Bedingungen teilten viele dasselbe Bett oder schmiegten sich im Stall an den Körper von Tieren, wie Olivier Jandot in einer eindrücklichen Studie aufzeigt. 59 Kältestress ist schlimmer als Hungerstress. Da sich viele Grundherrschaften Nutzungsrechte in den bestehenden Wäldern angeeignet hatten, führte dies immer wieder zu harten Nutzungskonflikten um Brennholz mit Angehörigen der Unterschichten. Namentlich wurden diese oft gezwungen, ihren Bedarf zu hohen Preisen zu decken. In Straßburg trat die Brennholzkrise durch höhere Marktpreise in den Jahren 1514 bis 1518 in Erscheinung. 60 Die schmerzliche Erinnerung an diese wiederholten Entbehrungen dürfte mit ein Grund dafür sein, dass die Forderung nach Rückgabe der Nutzungsrechte an den Wäldern in den 12 Artikeln der aufständischen Bauern von 1525 einen prominenten Platz einnimmt. Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass kalte Winter demografisch negativ, warme positiv zu bewerten sind, indem tödliche Atemwegserkrankungen seltener eintraten und das Vieh schon früh auf die Weide getrieben werden konnte. 6. Klimatische Einflüsse auf die Bevölkerungsentwicklung Unter dem Aspekt des Bevölkerungswachstums stellt sich die Frage, wann der Umbruch von einer quasi-stagnierenden zu einer wachsenden Bevölkerung zeitlich einzuordnen ist. Im Vordergrund stehen aus den erwähnten Überlegungen die 1470er Jahre, die sich durch eine in der Kleinen Eiszeit einzigartige mehrjährige Warmperiode auszeichnen. Hinweise auf die mögliche Größenordnung des damit verbundenen Bevölkerungswachstums lassen sich anhand der sehr warmen 1530er Jahre gewinnen (vgl. Tabelle 1): Fritz Koerner trug für den Zeitraum zwischen 1520 und 1600 Behausungszahlen im Thüringischen Becken zusammen und extrapolierte dieselben auf eine Fläche von 43.000 km 2 . Mit 7,5 % waren die Wachstumsraten im warmen Jahrzehnt 1531-1540 die höchsten im gesamten Untersuchungszeitraum. 58 P ETER E KAMPER u. a., 150 Years of temperature-related excess mortality in the Netherlands, in: Demographic Research 21/ 14, S. 385-426, DOI 10.4054/ DemRes.2009.21.14. 59 O LIVIER J ANDOT , Les délices du feu. L’homme, le chaud et le froid à l’époque moderne, Ceyzérieu 2017. 60 Vgl. dazu den Beitrag von Ulrich Pfister in diesem Band. <?page no="37"?> C HRIS TIAN P FIS T ER 36 Im Bistum Salzburg nahm die Zahl der wehrfähigen Männer um jährlich 1,2 % zu. In den Schweizer Kantonen Zürich und Bern sowie in Teilen Thüringens stieg die jährliche Zahl der Taufen gar um 1,4 %. Dies sind Werte, die erst im 19. Jahrhundert wieder erreicht wurden. 61 Der Analogieschluss auf die Verhältnisse in den 1470er Jahren ist plausibel, aber es stellt sich die Frage nach möglichen demografischen Konsequenzen der extremen Dürre von 1473. Ein mehrjähriger Babyboom in den rekordwarmen 1470er Jahren dürfte die Altersstruktur der Bevölkerung verändert haben. Wenn eine Babyboomer-Generation bei gleichbleibender Fertilität das Heiratsalter erreicht, löst dies üblicherweise eine zweite Geburtenwelle, einen sogenannten Echo-Effekt, aus. Ausgehend von einem Heiratsalter von 20-25 Jahren 62 dürfte dieser in den 1490er Jahren eingesetzt haben. Es ist dies der Zeitpunkt, als der Wachstumsprozess erstmals chronikalisch thematisiert wurde. 63 Er führte in Oberdeutschland innerhalb der Dorfgemeinschaften bereits zu Spannungen. 64 Während der verhältnismäßig klimagünstigen Jahre 1492-1509 dürfte das Wachstum angehalten haben. Offen ist, wie sich die klimatischen Bedingungen im Jahrzehnt 1510-1519 ausgewirkt haben, das im Zeichen kalter Winter und einer Pestepidemie in der Bodenseeregion (1519) stand. 65 Schließlich legen die von Fritz Koerner zusammengetragenen Daten nahe, dass die Bevölkerung im Jahrzehnt 1520-1529 weiter kräftig anwuchs. 66 Nicht von ungefähr beklagte Sebastian Franck 1529 in seiner ›Deutschen Chronik‹, Stadt und Land seien von Menschen überflutet. 67 61 C HRISTIAN P FISTER , The Population of Late Medieval and Early Modern Germany, in: B OB S CRIBNER (Hg.), Germany. A new Social and Economic History, Bd. 1: 1450-1630, London 1996, S. 33-62, hier 41. 62 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Weigl in diesem Band. 63 H ORST B USZELLO , Deutungsmuster des Bauernkriegs in historischer Perspektive, in: D ERS ./ P ETER B LICKLE / R UDOLF E NDRES (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg, 2., durchgesehene und erg. Aufl. Paderborn 2004, S. 11-22, hier 18. 64 D AVID W ARREN S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie der sozialen Verhältnisse im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 26), Stuttgart 1972, S. 79-104, hier 76. 65 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Weigl in diesem Band. 66 C HR . P FISTER , Population (Anm. 61), S. 41; vgl. dazu den Beitrag von Andreas Weigl in diesem Band. 67 D. W. S ABEAN , Landbesitz (Anm. 64), S. 84. <?page no="38"?> W ÄR ME , K ÄLTE UND EIN E ANGES AGTE K ATA S TR O PH E 37 7. Schlussfolgerungen Die Diskussion der Klima- und Bevölkerungsentwicklung zwischen 1470 und 1524 beruht - soweit es die Bevölkerung betrifft - auf Analogieschlüssen, Projektionen und punktuellen Daten. Zudem mussten phasenverschobene demografische Effekte berücksichtigt werden. Breiter abgestützt sind die Klimadaten. Unter diesen einschränkenden Prämissen werden folgende Ergebnisse zur Diskussion gestellt: Nach einer langen, vorwiegend pestbedingten Stagnationsperiode stieg die Zahl der Taufen im Gefolge des Wärmeschubs in den 1470 Jahren wahrscheinlich deutlich an, was die Altersstruktur veränderte. Als die Babyboomer in der mehrheitlich klimagünstigen Periode von 1492 bis 1509 ins Heiratsalter eintraten, stiegen die Taufen wahrscheinlich erneut an. Offen bleibt der Einfluss der winterkalten 1510er Jahre und der Pestepidemie von 1517 bis 1519. Zur Auslösung des Bauernkrieges trug möglicherweise ein weiträumiges zerstörerisches Unwetter am 16. Juli 1524 mit Starkregen, großkörnigem Hagelschlag und extremen Böen bei, dem zwölf Tage später ein zweiter Hagelschlag und eine anschließende Überschwemmung folgten. Anzunehmen ist schließlich, dass die schmerzliche Erinnerung an die vielen harten Winter in den 1510er Jahren in den Forderungen der aufständischen Bauern ihren Niederschlag gefunden hat. <?page no="40"?> 39 A NDREAS W EIGL Der Bauernkrieg im Kontext der demographischen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 1. Demographische Entwicklung Europas in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Die demographische Entwicklung Europas stellt sich wie die anderer Weltteile graphisch bekanntlich als Kurve mit exponentiellem Verlauf dar. 1 Ein markanter Anstieg der Bevölkerungszahlen setzte nicht vor dem 19. Jahrhundert ein. Vor dem Industriezeitalter bestanden im langjährigen Durchschnitt jährliche Wachstumsraten, die sich circa zwischen 0,1 und 0,4 Prozent bewegten. 2 Der uns hier interessierende Zeitraum, das 16. Jahrhundert bzw. dessen ersten Hälfte, bildete diesbezüglich keine Ausnahme. Aus Berechnungen von Jan de Vries und Paolo Malanima, die auf der Zusammenführung einer ganzen Reihe von Schätzungen für einzelne Länder und Regionen Europas beruhen und Russland sowie das Osmanische Reich ausklammern, ergeben sich übereinstimmend Wachstumsraten um rund 0,25 Prozent. 3 Unter den gegebenen Verhältnissen entsprach das durchaus einer gewissen Beschleunigung des Wachstums nach einer vorangegangenen, von wiederkehrenden Pestwellen gekennzeichneten Krisenperiode. Der Beginn dieser Phase eines länger anhaltenden Bevölkerungsanstiegs ist etwa um die Jahre 1460 oder 1470 anzusetzen. 4 1 R AINER M ÜNZ / A LBERT F. R EITERER , Wie schnell wächst die Zahl der Menschen? Weltbevölkerung und weltweite Migration, Frankfurt/ M. 2007, S. 31. Mathematisch handelt es sich eigentlich um hypergeometrisches Wachstum. 2 M ASSIMO L IVI -B ACCI , A Concise History of World Population, Cambridge (Mass.)-Oxford 1992, S. 31; A NDREAS W EIGL , Bevölkerungsgeschichte Europas. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Wien u. a. 2012, S. 22. 3 Für eine leicht abweichende ältere Schätzung vgl. J AN DE V RIES , Population, in: T HOMAS A. B RADY / H EIKO O BERMAN / J AMES D. T RACY (Hg.), Handbook of European History 1400-1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation, Bd. 1: Structures and Assertions, Leiden u. a. 1994, S. 1-50, hier 13. 4 J OSEF E HMER , Bevölkerung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart 2005, S. 94- 119, hier 102; D AVID H ERLIHY , Outline of Population Developments in the Middle Ages, in: B ERND H ERRMANN / R OLF S PRANDEL (Hg.), Determinanten der Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, Weinheim 1987, S. 1-23, hier 13. <?page no="41"?> A ND R EA S W EIGL 40 Tabelle 1: Bevölkerungsschätzung für Europa, in Mio. (ohne Russland, Osmanisches Reich) ca. 1500-1600 Jahr nach de Vries JVR nach Malanima JVR ca. 1500 61,6 69,9 ca. 1550 70,2 0,26 ca. 1600 78,0 0,21 91,1 ca. 1500-1600 0,24 0,27 JVR = durchschnittliche jährliche Veränderungsrate Quelle: J AN DE V RIES , zit. n. Britannica, History of Europe. The emergence of modern Europe, 1500-1648, Demographics https: / / www.britannica.com/ topic/ history-of-Europe / Demographics (aufgerufen am 24.10.2023); P AOLO M ALANIMA , Europäische Wirtschaftsgeschichte 10.-19. Jahrhundert, Wien u. a. 2010, S. 22; eigene Berechnungen. Nun sind die für die Schätzungen herangezogenen vorstatistischen Quellen für das 16. Jahrhundert von unterschiedlicher Qualität und Aussagekraft und mit entsprechenden Fehlerquellen behaftet. 5 Die in den Überblicksdarstellungen vorgenommene Summierung von geschätzten Einwohnerzahlen unterschiedlicher Provenienz und Genauigkeit trägt aber sicherlich dazu bei, dass sie, jedenfalls in einer gewissen Bandbreite, der Realität einigermaßen nahekommen. Vergleicht man diese Schätzungen mit solchen für Deutschland in den Grenzen des späteren Kaiserreichs, zeigt sich eine bemerkenswerte überdurchschnittliche Wachstumsdynamik. Tabelle 2: Bevölkerungsschätzung für Deutschland ca. 1500-1550 (in den Grenzen des Deutschen Kaiserreichs) Jahr Bevölkerung in Mio. JVR ca. 1500 9,2 ca. 1520 10,5 0,66 ca. 1530 11,3 0,74 ca. 1540 12,1 0,69 ca. 1550 12,9 0,64 Bilanz: ca. 1500-1550 0,68 JVR = durchschnittliche jährliche Veränderungsrate Quelle: U. P FISTER / G. F ERTIG , Population History (Anm. 6), S. 5. 5 J. DE V RIES , Population (Anm. 3), S. 4-10. <?page no="42"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 41 Die angeführte Schätzung stützt sich zu wesentlichen Teilen auf jene des Jenaer Geographen Fritz Koerner. Dieser errechnete auf Basis von Mannschaftsverzeichnissen (Verzeichnissen der Männer im wehrfähigen Alten), Quervergleichen und Rückrechnungen durchschnittliche Bevölkerungsdichten, die er auf größere territoriale Einheiten übertrug. 6 Legt man der Wachstumskurve des 16. Jahrhunderts eine exponentielle Funktion zugrunde, liegen die Wachstumsraten zwischen 0,4 und 0,5, sind also etwas kleiner. 7 Generell kommen im späten 15. und im 16. Jahrhundert als bevölkerungsstatistische Quellen im deutschsprachigen Raum zum einen Untertanenverzeichnisse, die alle steuernden Haushaltsvorstände beinhalten, Musterrollen, Steuerverzeichnisse, Zählungen der leibeigenen Bevölkerung und Kommunikantenzählungen infrage. 8 Für den betrachteten Zeitraum liegen etwa Zählungen von Herdstellen in einigen Regionen Württembergs, Hessens und Thüringens vor. Eine Ausnahme bildet nur das Hochstift Speyer, für das sogar eine Erhebung der erwachsenen Bevölkerung herangezogen werden kann. 9 Treffen die Schätzungen einigermaßen zu, dann stellt sich das zweite Drittel des 16. Jahrhunderts im Reich als Wachstumsphase ohne gröbere Zäsuren dar. 10 Besonders ausgeprägt war das Bevölkerungswachstum im Südwesten des Reiches. Spätestens seit den 1470er Jahren war ein Anwachsen unterbäuerlicher Schichten etwa in Oberschwaben zu beobachten, 11 im westlichen Bodenseegebiet am Vorabend des Bauernkriegs. 12 Entsprechend stark 6 F RITZ K OERNER , Die Bevölkerungszahl und -dichte in Mitteleuropa zum Beginn der Neuzeit, in: Forschungen und Fortschritte 33 (1959), S. 323-331, hier 328, zit. n. U LRICH P FISTER / G EORG F ERTIG , The Population History of Germany: Research Strategy and Preliminary Results (MPIDR Working Paper Working Paper 2010-035), S. 5. 7 U. P FISTER / G. F ERTIG , Population History (Anm. 6), S. 6. 8 C HRISTIAN P FISTER , The Population of Late Medieval and Early Modern Germany, in: B OB S CRIBNER (Hg.), Germany. A New Social and Economic History, Bd. 1: 1450-1630, London u. a. 1996, S. 33-62, hier 34-36. 9 U. P FISTER / G. F ERTIG , Population History (Anm. 6), S. 64 (Appendix 2). 10 C HRISTIAN P FISTER , Bevölkerungsgeschichte der Frühen Neuzeit im deutschsprachigen Raum. Forschungsdiskussion und Ergebnisse, in: N ADA B OŠKOVSKA L EIMGRUBER (Hg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungsergebnisse, Paderborn u. a. 1997, S. 71-90, hier 74. 11 D AVID W ARREN S ABEAN , Probleme der deutschen Agrarverfassung zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Oberschwaben als Beispiel, in: P ETER B LICKLE (Hg.), Revolte und Revolution in Europa, München 1975, S. 132-150, hier 136, 140. 12 P ETER B OHL , Quellen zur Bevölkerungsgeschichte des ländlichen Raumes am Bodensee im 16. Jahrhundert, in: K URT A NDERMANN / H ERMANN E HMER (Hg.), Bevölkerungsstatistik an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Quellen und methodische Probleme im überregionalen Vergleich (Oberrheinische Studien 8), Sigmaringen 1990, S. 47-63, hier 60f.; P ETER B LICKLE , Die Revolution von 1525, 4., durchgesehene und bibliogr. erw. Aufl. München 2004, S. 114. <?page no="43"?> A ND R EA S W EIGL 42 fiel der Zuzug in die oberschwäbischen Reichsstädte aus. 13 Für das Kloster Ottobeuren erlauben Steuerbücher, unter anderem für die Jahre 1525, 1541 und 1546, sowie Leibeigenenbücher für 1486/ 87, 1548 und 1556 eine statistisch gut abgesicherte Schätzung der Bevölkerungsentwicklung ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Demnach stieg die Zahl der Haushalte kontinuierlich an, im Zeitraum 1520-1560 um über 60 Prozent. In Kombination mit den Leibeigenenbüchern, die Männer, Frauen und Kinder auflisten, kann ein ungebrochenes Bevölkerungswachstum sogar bis um 1560 konstatiert werden. 14 Allerdings kennzeichneten die Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter und der Frühen Neuzeit Verlaufskurven mit manchmal abrupten Rückgängen sowie mit kurz- und mittelfristig anhaltenden beträchtlichen Wachstumsperioden. Markante Bevölkerungsrückgänge können in der Regel mit den nicht nur in der Frühen Neuzeit omnipräsenten Plagen Krieg, Seuchen, Hungersnöten und Naturkatastrophen in Verbindung gebracht werden. 15 An solchen fehlte es auch auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nicht. Großräumig wären etwa der Schwarze Tod 1348/ 50, der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) oder aber auch die Hungerkrise von 1770/ 72 besonders hervorzuheben. Bei Betrachtung von Teilräumen des Reiches kam auch kriegerischen Ereignissen wie den Hussitenkriegen und der Zweiten Osmanischen Belagerung im Osten und Südosten des Reiches, den Reichskriegen mit Frankreich unter Ludwig XIV. im Westen der Charakter demographischer Katstrophen zu. Bemerkenswert ist dabei, dass der große deutsche Bauernkrieg von 1525 in der wissenschaftlichen Literatur kaum als eine vergleichbare Krise wahrgenommen wird. Diesen Umstand durch ein Erkenntnisinteresse zu erklären, welches die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Folgen in den Vordergrund stellte, kann nicht überzeugen, wenn man etwa bedenkt, dass schon aus der Feder von Günther Franz nicht nur eine der frühen Gesamtdarstellungen des Bauernkrieges stammt, sondern auch eine Bevölkerungsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges, 16 der demographischen Urkatastrophe Deutschlands vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Zwar ist 13 H ERMANN G REES , Bevölkerungsentwicklung in Städten Oberschwabens (einschließlich Ulms) unter besonderer Berücksichtigung der Wandervorgänge, in: Ulm und Oberschwaben 40/ 41 (1973), S. 123-198, bes. 136-146. 14 G OVIND P. S REENIVASAN , The Peasants of Ottobeuren, 1487-1726. A Rural Society in Early Modern Europe, Cambridge 2004, S. 117-119; P. B LICKLE , Revolution von 1525 (Anm. 12), S. 80. 15 W OLFGANG B EHRINGER , Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007, S. 165-168. 16 G ÜNTHER F RANZ , Der deutsche Bauernkrieg, 11. Aufl. Darmstadt 1984; D ERS ., Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk, 4. neubearb. Aufl. Stuttgart 1979. <?page no="44"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 43 die ideologische Basis des Œuvres von Franz, ursprünglich ein Vertreter der ›Volksgeschichte‹, bekanntlich nicht unproblematisch, 17 aber auch neuere Gesamtdarstellungen, deren Autoren von der ›NS-Volksforschung‹ nicht berührt sind, sparen den Faktor ›Bevölkerung‹ keineswegs aus, konstatieren aber keinen größeren Bruch in der demographischen Entwicklung. Verwiesen sei nur auf das Standardwerk von Peter Blickle oder aber auf den von Horst Buszello, Peter Blickle und Rudolf Endres herausgegebenen Sammelband. 18 2. Bevölkerungsverluste infolge des Bauernkriegs von 1525 Wenn wir nun die demographischen Rahmenbedingungen, unter denen der deutsche Bauernkrieg stattfand, grob abgesteckt haben, gilt es noch, die besonderen Effekte frühneuzeitlicher militärischer Konflikte kurz zu beleuchten. Im Wesentlichen lassen sich dabei vier Gefährdungspotentiale für Leib und Leben der in die Kampfhandlungen involvierten Menschen, seien es Kämpfende oder Zivilisten, festmachen: - tödliche Verletzungen oder Verwundungen mit Todesfolge während der Kampfhandlungen, - Verbreitung von Epidemien durch Kampfverbände oder durch das zusammengedrängte Leben auf engem Raum in belagerten Städten, - Hungersnöte durch Knappheit an Nahrungsmitteln infolge von Belagerung, Zerstörung von Feldern, Raub von Getreide, Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften, - Zwangsmigrationen in Form von Flucht vor Angreifern oder obrigkeitlichen Maßnahmen. 19 In vielen Fällen führten Summationseffekte der angeführten Auswirkungen von Kriegen zu Mortalitätskrisen vom Typ Ancien Régime. 20 17 W OLFGANG B EHRINGER , Von Krieg zu Krieg. Neue Perspektiven auf das Buch von Günther Franz »Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk« (1940), in: B ENIGNA VON K RUSENSTJERN / H ANS M EDICK (Hg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 148), Göttingen 1999, S. 543-591, hier 551. 18 P. B LICKLE , Revolution von 1525 (Anm. 12); H ORST B USZELLO / P ETER B LICKLE / R U - DOLF E NDRES (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg. 3., bibliogr. erg. Aufl. Paderborn u. a. 1995. 19 F RANK T ALLETT , War and Society in Early-Modern Europe, 1495-1715, London-New York 1997, S. 105-112; J OHN L ANDERS , The Field and the Forge. Population, Production, and Power in the Pre-industrial West, Oxford 2003, S. 334-354. 20 C HRISTIAN P FISTER , Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500-1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 28), München 1994, S. 98f. <?page no="45"?> A ND R EA S W EIGL 44 Bezogen auf die Zahl der in Kampfhandlungen Involvierten gehört der Bauernkrieg unzweifelhaft zu den großen Kriegsereignissen der Frühen Neuzeit. Auf seinem Höhepunkt waren wohl an die 300.000 Bauern unter Waffen, 21 allein in Württemberg könnten es mehr als 200.000 gewesen sein, was 60-70 Prozent der männlichen Bevölkerung entsprochen haben dürfte. 22 Dementsprechend handelte es sich bei den Opfern um eine keineswegs vernachlässigbare Zahl. Mit Ausnahme der kriegsbedingten Migrationen liegt für das gesamte von den Aufständen von 1525 betroffene Gebiet eine Schätzung der Bevölkerungsverluste von maximal 70.000- 75.000 vor. 23 Im Einzelnen lassen sich diese wie folgt aufgliedern: Tabelle 3: Schätzungen der Gefallenen 1525/ 26 Land/ Region Sterbefälle Elsass 25.000 Oberrheinu. Schwarzwald 350 Kraichgau, N-Baden 150 Württemberg 8.000 Oberschwaben/ Bodensee 5.500 Rheingau 5.000 Franken 11.500 Stift Würzburg 500 Hessen 200 Thüringen 7.000 Erzstift Salzburg 1.600 Obersteiermark, Südtirol, sonstige wenige Tausend Gesamt ca. 70.000 Quelle: K LEIN , Folgen des Bauernkriegs (Anm. 23), S. 73-77; eigene Berechnungen. 21 W INFRIED S CHULZE , Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, Frankfurt/ M. 1987, S. 99. 22 H ANS -M ARTIN M AURER , Der Bauernkrieg als Massenerhebung. Dynamik einer revolutionären Bewegung, in: Bausteine zur geschichtlichen Länderkunde von Baden-Württemberg, Stuttgart 1979, S. 255-295, hier 257f.; Autorenkollektiv unter der Leitung von A DOLF L AU - BE / G ÜNTER V OGLER , Deutsche Geschichte, Bd. 3, hg. vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (Deutsche Geschichte in zwölf Bänden), Berlin (Ost) 1983, S. 185. 23 T HOMAS K LEIN , Die Folgen des Bauernkriegs von 1525. Thesen und Antithesen zu einem vernachlässigten Thema, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 25 (1975), S. 65-115; H ELMUT G ABEL / W INFRIED S CHULZE , Folgen und Wirkungen, in: H. B USZELLO / P. B LICKLE / R. E NDRES , Bauernkrieg (Anm. 18), S. 322-349, hier 329. <?page no="46"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 45 Einzelne Befunde scheinen diese Schätzung bis zu einem gewissen Grad zu stützen. In der Schlacht bei Böblingen in Württemberg zwischen dem Heer des Schwäbischen Bundes und einem zum Schluss fast 10.000 Mann umfassenden Verband der Aufständischen dürften rund 2.000-3.000 Bauern gefallen sein, im Hinterland aber vielleicht sogar 18.000 Mann. 24 Im Würzburger Hochstift fielen rund 5.000- 7.000 Aufständische in der Schlacht bei Königshofen und bei der folgenden Erstürmung der Wagenburg der Belagerer vor Würzburg. 25 Im Reichsstift Hersfeld, wo etwa 10.000 Aufständische 1.400 Knechten und 350 Reisigen gegenüberstanden, wurden erstere vernichtend geschlagen. 26 Hoch dürften auch die Verluste bei Frankenhausen in Thüringen gewesen sein. 27 In den habsburgischen Erblanden war die Zahl der Opfer von Kampfhandlungen wohl vergleichsweise gering, die materiellen Schäden durch Verwüstungen jedoch ebenso erheblich. Das Hauptaufstandsgebiet lag ab Mai 1525 in den obersteirischen Bergbau- und Salinenorten Schladming, Murau, Aussee und deren Umgebung. 28 Im Zuge der Kämpfe gelang es den Bauern und Knappen zwar zunächst, rund 2.000 Söldnern hohe Verluste bei Schladming zuzufügen. Doch machte Niklas Graf Salm (1459-1530) in der Folge mit 4.000 Mann Schladming dem Erdboden gleich. Rund 50 Knappen wurden dabei erstochen. Verwüstet wurden auch die nahegelegenen Orte Rottenmann, Eisenerz, Vordernberg und Johnsdorf. 29 Einzelne Zeitgenossen, die zwar nicht im Mittelpunkt des Geschehens standen, aber nachrichtlich gut informiert gewesen sein dürften, veranschlagen die Gesamtzahl der Toten des Bauernkrieges auf rund 50.000. Diese Schätzungen wurden aber zum Teil zu einem Zeitpunkt gemacht, als die Kämpfe noch nicht beendet waren. Als Ende Mai 1525 die obersteirische Stadt Murau von den Aufständischen zum Anschluss aufgefordert wurde, fragte die städtische Obrigkeit beim Hofrat in Wien an, wie sie sich verhalten solle. Der Hofrat forderte erwartungsgemäß die Stadt zum Durchhalten auf und wies die städtischen Vertreter an, den Belagerern klar zu machen, dass bereits 44.000 oberdeutsche Bauern den Aufstand mit dem Leben bezahlt hätten. Wenig später, am 12. Juni 1525, bezifferte der erfahrene Kriegsmann, Laibacher Bischof und spätere Landeshauptmann von Krain Christophorus Rauber 24 C LAUDIA U LBRICH , Oberschwaben und Württemberg, in: H. B USZELLO / P. B LICKLE / R. E NDRES , Bauernkrieg (Anm. 18), S. 97-133, hier 126, 128; P. B LICKLE , Revolution von 1525 (Anm. 12), S. 15f. 25 R UDOLF E NDRES , Franken, in: H. B USZELLO / P. B LICKLE / R. E NDRES , Bauernkrieg (Anm. 18), S. 134-153, hier 152; P. B LICKLE , Revolution von 1525 (Anm. 12), S. 11. 26 P. B LICKLE , Revolution von 1525 (Anm. 12), S. 12f. 27 R UDOLF E NDRES , Thüringen, in: H. B USZELLO / P. B LICKLE / R. E NDRES , Bauernkrieg (Anm. 18), S. 154-176, hier 174. 28 R OLAND S CHÄFFER , Der obersteirische Bauern- und Knappenaufstand und der Überfall auf Schladming 1525 (Militärhistorische Schriftentreihe 62), Wien 1989, S. 16. 29 R. S CHÄFFER , Bauern- und Knappenaufstand (Anm. 28), S. 36, 46. <?page no="47"?> A ND R EA S W EIGL 46 die Zahl der bisher gefallenen Bauern im Reich mit über 50.000. 30 Auch Jakob Fugger sprach im Oktober in Augsburg von 50.000 Opfern. 31 Wie die in Tabelle 3 angeführten Schätzungen belegen, waren die Angaben von Fugger und anderen also keineswegs zu hoch gegriffen. 3. Eine demographische Zäsur? Angesichts der Opferzahlen verwundert es, dass sich, was die gesamte Bevölkerungsentwicklung des Reiches anlangt, für die 1520er Jahre kein Bruch gegenüber einer beträchtlichen Aufwärtstendenz feststellen lässt. Nun ist sicherlich zu betonen, dass der Bauernkrieg von 1525 nur einen, wenn auch durchaus bevölkerungsreichen Teil des Reiches betraf. Die Nord- und Ostseeländer, die Mark Brandenburg und Bayern blieben von Kampfhandlungen ganz oder weitgehend unberührt. 32 Auch die habsburgischen Erbländer sahen mit Ausnahme der Obersteiermark keine größeren Kämpfe. Es verwundert daher nicht weiter, dass auf das gesamte Alte Reich bezogen die Bevölkerungsverluste lediglich etwa 0,7 Prozent der Bevölkerung betrugen. Selbst unter Berücksichtigung gravierender Unterschiede der Betroffenheit sind die demographischen Wirkungen des Bauernkrieges also mittelfristig als eher gering einzustufen. Die Gründe dafür liegen weniger in der territorialen Beschränkung der Kriegshandlungen als in den demographischen Rahmenbedingungen. Wie gezeigt, lag das Bevölkerungswachstum des Reiches über dem europäischen Durchschnitt. Im Besonderen traf das auf einige vom Bauernkrieg stärker betroffene Teile zu. So dürfte nach ca. 1470 das Bevölkerungswachstum in Oberdeutschland im Durchschnitt rund 1,4 Prozent jährlich erreicht haben. 33 Für Württemberg wurde für den allerdings die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts miteinschließenden Zeitraum 1525-1598 eine jährliche Wachstumsrate in der Bandbreite von 0,6 bis 0,8 Prozent errechnet. 34 Auch für Thüringen, besonders für das Thüringer Becken, weisen unter- 30 R. S CHÄFFER , Bauern- und Knappenaufstand (Anm. 28), S. 16, 56, Anm. 59. 31 G ÜNTER F RANZ , Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 2), München 1963, S. 592. 32 W ILHELM A BEL , Agrarkrise und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg-Berlin 1978, S. 104f. 33 P. B LICKLE , Revolution von 1525 (Anm. 12), S. 124; D AVID W. S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie der sozialen Verhältnisse im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 26), Stuttgart 1972, S. 37f. 34 W ILLI A. B OELCKE , Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs von den Römern bis heute, Stuttgart 1987, S. 93. <?page no="48"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 47 schiedliche Erhebungen für das gesamte 16. Jahrhundert auf ein starkes Bevölkerungswachstum hin. 35 So nahm in den thüringischen Ämtern Leuchtenburg, Orlamünde und Roda die Zahl der Hofstellen im Zeitraum 1496-1542 von 670 auf 784 um 0,34 Prozent jährlich zu. 36 Für das kursächsisch-ernestinische Amt Grimma wurde für den Zeitraum 1495-1547 ein langfristiges Bevölkerungswachstum sowohl auf der Grundlage der Zunahme von Hofstellen als auch der Zahl von Angehörigen der unterbäuerlichen Schichten nachgewiesen. Letztere wuchs im Schnitt um 3- 5 Prozent jährlich. 37 Im Erzstift Salzburg wiederum lag das aus Mannschaftszählungen und ähnlichen Quellen errechnete jährliche Bevölkerungswachstum im Zeitraum 1497-1541 wohl bei rund 1,25 Prozent. 38 Eine steigende demographische Dynamik nach Ende des Bauernkriegs wird aus einigen weiteren Fallbeispielen erkennbar. Im albertinischen Amt Weißensee wuchs die Stellenzahl von 1525 bis 1588 mit einer Rate von 1,06 Prozent jährlich. 39 In der Grafschaft Hohenlohe nahm die Zahl der steuernden Haushalte im Zeitraum 1528- 1553 von ca. 150 auf 224 mit einer jährlichen Rate von 1,6 Prozent zu. 40 Auf Basis des Zuwachses an wehrfähigen Männern im Erzstift Salzburg wurde im Zeitraum 1531-1541 unter der Annahme eines konstanten Multiplikators eine Zunahme von rund 104.000 auf 121.000 errechnet, was einem jährlichen Wachstum von 1,5 Prozent entspricht. 41 In den nicht von Kampfhandlungen betroffenen Kantonen Zürich und Bern nahm die Zahl der getauften Kinder in den 1530er Jahren gegenüber dem Vorjahrzehnt um 1,4 Prozent jährlich zu. 42 Zumindest im Fall der Grafschaft Hohenlohe dürfte der rasche Anstieg mit vorangegangenen Bevölkerungsverlusten infolge des Bauernkriegs in Verbindung zu bringen sein. 35 U WE S CHIRMER , Anmerkungen zur Bevölkerungsentwicklung in Thüringen (1500-1800), in: S TEFAN G ERBER u. a. (Hg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, Teil 2, Göttingen 1996, S. 581-600, hier 591. 36 E LISABETH S CHWARZE , Veränderungen der Sozial- und Besitzstruktur in ostthüringischen Ämtern und Städten am Vorabend des Bauernkrieges, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 3 (1976), S. 255-273, hier 257f. 37 U WE S CHIRMER , Das Amt Grimma 1485-1548. Demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und am Beginn der Neuzeit (Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft 2), Beucha 1996, S. 19-33, bes. 33. 38 Eigene Berechnungen nach K ARL -H EINZ L UDWIG , Neue Quellen zur Bevölkerungsentwicklung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Salzburger Mannschaftszüge von 1531 und 1541, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 117 (1988), S. 202-205. 39 U. S CHIRMER , Anmerkungen zur Bevölkerungsentwicklung (Anm. 35), S. 588. 40 T HOMAS R OBISHEAUX , Rural Society and the search for order in early modern Germany, Cambridge 1989, S. 70f. 41 K.-H. L UDWIG , Neue Quellen (Anm. 38), S. 202f.; eigene Berechnungen. 42 C HR . P FISTER , Population (Anm. 8), S. 41. <?page no="49"?> A ND R EA S W EIGL 48 Allerdings ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass sich das Bevölkerungswachstum nach 1525 auch aus den geburtenstarken Jahrgängen des ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhunderts speist. In der Demographie wird dafür der Begriff Python-Effekt verwendet. Geburtenstarke Jahrgänge rücken in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahrzehnten in das Hauptheiratsalter auf, was zu einer entsprechend hohen Geburtenrate beiträgt. Das zuvor bereits erwähnte obersteirische Aufstandsgebiet ist insofern von besonderem Interesse, weil für das gesamte Herzogtum Steiermark Kommunikantenzählungen in den Jahren 1528 und 1541 durchgeführt wurden, also eine echte Bevölkerungserhebung unter Ausklammerung der Kinder. Es handelt sich dabei nicht um eine Herdstellenzählung oder ähnliche Quellen, die Annahmen über einen Multiplikator erfordern. Nach diesen Zählungen stagnierte im obersteirischen Aufstandsgebiet die Bevölkerungszahl nach Ende der Kampfhandlungen zumindest für etwa zwei Jahrzehnte. Das Aufstandsgebiet in der Steiermark weist aber noch eine andere Besonderheit auf: einen Bevölkerungsrückgang bzw. eine Stagnation. Die Visitationen ergaben im Ennstal Werte von 28.065 (1528) und 27.090 (1541), in der Obersteiermark insgesamt von 89.425 und 90.290. Leicht rückläufig war die entsprechende Zahl für die dem Erzbistum Salzburg zugehörigen steirischen Pfarren. Die angeführten Rückgänge im Visitationsgebiet könnten zwar auch durch ein wachsendes Bekenntnis zum Protestantismus erklärt werden - erfasst wurden von den Kommunikantenzählungen nur ›rechtgläubige‹ Katholiken -, doch scheint diese Untererfassung der Bevölkerung erst bei den folgenden Erhebungen im frühen 17. Jahrhundert eine größere Rolle gespielt zu haben. 43 Für die Verlässlichkeit der Kommunikantenzählungen spricht besonders auch, dass trotz der dort starken Verbreitung des Protestantismus die Zählung für das Dekanat Haus - Rückgang von 7.600 auf 7.000 - auf einen hohen Erfassungsgrad schließen lässt. In den Vikariaten Schladming, Pichl und Kulm fiel die Kommunikantenzahl von 5.500 im Jahr 1528 sogar auf 4.000 im Jahr 1545 sehr deutlich. 44 Diese Ergebnisse deuten auf eine ausgeprägte Abwanderung nach den eigentlichen Kämpfen hin. Unter den Aufständischen verfügten vor allem die Knappen über genügend Möglichkeiten, sich in anderen Bergwerksregionen zu verdingen. 45 Doch angesichts des im gesamten gesehen auch im europäischen Vergleich überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstums im Reich während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ließen sich die Bevölkerungsverluste von 1525 in wenigen Jahren 43 M ANFRED S TRAKA , Die Bevölkerungsentwicklung der Steiermark von 1528 bis 1782 auf Grund der Kommunikantenzählungen, in: Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark 52 (1961), S. 3-53, hier 40. 44 M. S TRAKA , Bevölkerungsentwicklung (Anm. 43), S. 14, 17. 45 F ERDINAND T REMEL , Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1969, S. 146. <?page no="50"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 49 ausgleichen. In den hauptbetroffenen Regionen im Südwesten war dafür freilich zumindest ein Jahrzehnt und eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 1 bis 1,5 Prozent erforderlich, 46 ein Wachstumsniveau, welches in einigen dieser Regionen ja durchaus erreicht wurde. Es ist daher glaubwürdig, wenn in der Zimmer’schen Chronik für die Zeit um 1550 berichtet wird, dass sich bei unseren Zeiten das Volk in Schwaben, als auch gar noch in allen Landen heftig gemehrt und zugenommen hat. 47 Hohe Wachstumsraten der Bevölkerung können einerseits durch ein starkes Geburtenplus, andererseits durch Zuwanderung erklärt werden. Beide Erklärungen sind im konkreten Fall plausibel, letztere jedoch auf Basis der Quellen des 16. Jahrhunderts nur bedingt fassbar. Für hohe Geburtenraten gibt es einige Belege. Im Hochstift Speyer waren nach einer Erhebung aus dem Jahr 1530 Ehepaare mit drei und mehr Kindern mit einem Anteil von 45 Prozent häufig anzutreffen. Dieser Anteil erscheint vor allem darum besonders hoch, weil in den Besitzungen des Hochstifts in der linksrheinischen Pfalz gleichzeitig offenbar auch die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit über dem zeitgenössischen Durchschnitt lag. 48 Ein weiterer Hinweis stammt aus der Herrschaft Meßkirch. Dort beschwerten sich 1525 die Bauern, dass die Dörfer mit Söldnern und Taglöhnern übervoll seien. 49 4. Klima, (Agrar-)Ökonomie, Heiratsmuster Unter den Rahmenbedingungen der demographischen Entwicklung rund um die Ereignisse von 1525 kommt in einer auf Solarenergie beruhenden Ökonomie den klimatischen Wechsellagen und Witterungsbedingungen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Nach dem linearen Klimawirkungsmodell zählen zu den Klimawirkungen zweiter Ordnung Nahrungsmittelpreise, Hunger, Unterernährung, Krankheiten und Bevölkerungsrückgänge, während Klimawirkungen dritter Ordnung in ökonomischen Krisen und sozialen Konflikten bestehen. 50 Aber auch ein über längere Perioden anhaltendes günstiges Klima kommt als Verursacher von Krisen und Aufständen in Betracht, weil es grosso modo Bevölkerungswachstum 46 Eigene Berechnungen. 47 Zit. n. W. A. B OELCKE , Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs (Anm. 34), S. 93. 48 Dies lässt sich indirekt aus dem hohen Anteil von Ehepaaren in diesem Landesteil, bei denen anlässlich der Erhebung keine überlebenden Kinder gezählt wurden, schließen. Von der verbreiteten Kenntnis kontrazeptiver Praktiken ist ja kaum auszugehen; vgl. dazu K ARL - O TTO B ULL , Die erste »Volkszählung« des deutschen Südwestens. Die Bevölkerung des Hochstifts Speyer um 1530, in: K. A NDERMANN / H. E HMER , Bevölkerungsstatistik (Anm. 12), S. 109-135, hier 112f. 49 H ANSMARTIN D ECKER -H AUFF (Hg.), Die Chronik der Grafen von Zimmern, Bd. 2, Darmstadt 1967, S. 272. 50 F RANZ M AUELSHAGEN , Klimageschichte der Neuzeit, Darmstadt 2010, S. 86. <?page no="51"?> A ND R EA S W EIGL 50 befördert und damit bei fehlenden agrartechnischen Innovationen den Nahrungsspielraum einer Population verringert. 51 Eine das ganze Aufstandsgebiet umfassende, generelle langfristige und substantielle klimatische Verschlechterung ist als Auslöser des Bauernkriegs aber praktisch auszuschließen. 52 Zwar kennzeichneten die Jahre 1508 bis 1517 extrem kalte Winter, doch herrschten in den 1520er Jahren eher unspektakuläre Temperaturen vor. 53 Eine indirekte Bestätigung erfahren diese Aussagen durch den Umstand, dass Hexenprozesse in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht nur im deutschen Südwesten noch eine Seltenheit waren. 54 Da Hexerei nach Wolfgang Behringer das Verbrechen der kleinen Eiszeit ist, kann das umgekehrt als ein starkes Indiz für günstige klimatische Bedingungen gelten. 55 Es gibt aber auch Hinweise auf einen temporären Rückgang der Durchschnittstemperatur und überdurchschnittliche Niederschläge. Untersuchungen zum Eichenringwachstum in Franken deuten in eine ähnliche Richtung. 56 In Württemberg lagen die Temperaturen im Frühling und Sommer bereits ab etwa 1510 unter dem langjährigen Durchschnitt. 57 Von der ausgeprägten Klimakrise des letzten Drittels des 16. Jahrhunderts waren die Bedingungen jedoch noch weit entfernt. Strukturell dürfte nicht nur in den Realteilungsgebieten das verbreitete Bevölkerungswachstum die wirtschaftliche Basis der bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten verschlechtert haben. Das geschätzte reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf begann ab etwa 1510, wenn auch noch nicht sehr gravierend, langfristig zu sinken. Wenn man einen exponentiellen Trend unterstellt, betrug die durchschnitt- 51 W. B EHRINGER , Kulturgeschichte des Klimas (Anm. 15), S. 150. 52 Vgl. dazu den Beitrag von Christian Pfister in diesem Band. 53 Vgl. dazu den Beitrag von Christian Pfister in diesem Band. Auch R ÜDIGER G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 71, 93. 54 W OLFGANG B EHRINGER , Druck von außen. Panikreaktionen auf Krisenzeiten in Vorderösterreich, in: P ETER R AUSCHER / M ARTIN S CHEUTZ (Hg.), Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450-1815) (Veröff. des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 61), Wien-München 2013, S. 297-308, hier 300. 55 W OLFGANG B EHRINGER , Weather, Hunger and Fear. The Origins of the European Witch Persecution in Climate, Society and Mortality, in: German History 13 (1995), S. 1-27; zum Zusammenhang klimatisch induzierter Versorgungskrisen und der Inzidenz von Hexenprozessen siehe auch C HRISTIAN P FISTER / H EINZ W ANNER , Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre, Bern 2021, S. 291, 296. 56 R. G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas (Anm. 53), S. 47, 181. 57 E RICH L ANDSTEINER , The Crisis of Wine Production in Late Sixteenth-Century Central Europe. Climatic Causes and Consequences, in: C HRISTIAN P FISTER / R UDOLF B RÁDZIL / R ÜDIGER G LASER (Hg.), Climatic Variability in Sixteenth-Century Europe and its Social Dimension, Dordrecht u. a. 1999, S. 323-334, hier 326. <?page no="52"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 51 liche jährliche Rate -0,3 Prozent. Bedingt durch Ernteeinbrüche fielen stärkere temporäre Rückgänge in die Jahre 1503, 1517 und um 1530. 58 Missernten wie in den Jahren 1523-1524, 1529-1531, 1538-1541 und um 1550 ließen im Reich die Getreidepreise temporär nach oben schießen. 59 In Franken und Oberschwaben kam es 1517-1524 zu einer ganzen Serie von Ernteausfällen. Besonders betroffen war die Bevölkerung im Tauber- und Neckartal, Odenwald, Oberen Maintal bei Bamberg, am mittleren Main nördlich von Würzburg und im Nördlinger Ries bei Schwäbisch Gmünd. 60 Die von Abt Jakob Murer berichteten drei Missernten in den Jahren 1522-1524 liefern einen zeitgenössischen Beleg für das Prämonstratenserstift Weissenau. 61 Im Juli 1524 sorgten Unwetterkatastrophen von Waldshut über Schaffhausen, den Hegau und Überlingen bis nach Leutkirch für eine Kumulation der klimatischen Problemlagen. 62 In den angeführten Gebieten könnte also eine temporäre Verschlechterung des Klimas die Entstehung der Aufstandsbewegung befördert haben. Ein generell sehr ausgeprägter Preisauftrieb bestand wohl noch nicht, wie am Beispiel der Roggenpreise (als Indikator für Getreidepreise) in Goldäquivalenten in Nürnberg und im gesamten oberdeutschen Raum gezeigt wurde. Der relative Preis von Getreide im Vergleich zu Butter, Salz und Heringen war niedrig, und blieb im Südwesten des Reiches bis in die 1560er Jahre auf diesem Niveau. 63 Die relativen Preise von Manufakturgütern sanken in Relation zum Getreide. 64 Dies könnte die Beteiligung kleinbürgerlicher Schichten am Bauernkrieg erklären. Eine sinkende Tendenz der Reallöhne ist vor allem in den meisten Städten ab etwa 1510 festzustellen, in den habsburgischen Ländern wohl erst ab 1540. 65 Dass 58 U LRICH P FISTER , Economic Growth in Germany, 1500-1850, in: Journal of Economic History 82 (2022), S. 1071-1107. 59 K ARL F. H ELLEINER , The Population of Europe from the Black Death to the Eve of the Vital Revolution, in: E. E. R ICH / C. H. W ILSON (Hg.), The Cambridge Economic History of Europe, Bd. 4, Cambridge 1967, S. 1-95, hier 76; U. S CHIRMER , Amt Grimma (Anm. 37), S. 21. 60 Th. R OBISHEAUX , Rural society (Anm. 40), S. 48; D. W. S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft (Anm. 33), S. 75f. 61 Vgl. dazu den Beitrag von Peter Rückert in diesem Band. 62 Vgl. dazu den Beitrag von Christian Pfister in diesem Band. 63 W ALTER B AUERNFEIND , Materielle Grundstrukturen im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Preisentwicklung und Agrarkonjunktur am Nürnberger Getreidemarkt von 1339 bis 1670 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 50), Nürnberg 1993, S. 220-224; P AUL W ARDE , Ecology, Economy and State Formation in Early Modern Germany, Cambridge 2006, S. 114. 64 Vgl. dazu den Beitrag von Ulrich Pfister in diesem Band. 65 U LRICH P FISTER , The timing and pattern of real wage divergence in pre-industrial Europe. Evidence from Germany, c. 1500-1850, in: Economic History Review 70 (2017), S. 701- 729, hier 715; E RICH L ANDSTEINER , Wien im zentraleuropäischen Kontext, in: K ARL <?page no="53"?> A ND R EA S W EIGL 52 dieser Trend auch für die ländliche Bevölkerung zutraf, ist angesichts des in der Regel kräftigeren ruralen demographischen Wachstums wahrscheinlich. Solide Aussagen über die Einkommensentwicklung der Bauern und unterbäuerlichen Schichten am Beginn der Neuzeit sind jedoch kaum zu treffen, weil diese von einem ganzen Faktorenbündel abhing. Neben den Ernteergebnissen spielten die zu zahlenden Geldlöhne für Mägde und Knechte, Ausgaben für ländliche Handwerker, Markterlöse - sofern der Zugang zum Markt bestand - und nicht zuletzt die Feudalquote eine Rolle. Wie und in welchem Ausmaß diese Faktoren einkommenssteigernd oder -vermindernd wirkten, ist kaum zuverlässig zu gewichten. 66 Von der veränderten Einkommensrelation zwischen gewerblichen und landwirtschaftlichen Einkommen dürften aber jedenfalls primär die Grundherren und nicht die bäuerliche oder gar die unterbäuerliche Bevölkerung profitiert haben. In Oberschwaben stiegen in den Jahren vor Ausbruch des Bauernkriegs die nominellen Getreidepreise deutlich stärker als die Fleischpreise, was als Hinweis auf erhöhten Bevölkerungsdruck, vor allem eine überproportionale Zunahme der unterbäuerlichen Schichten, zu interpretieren ist. 67 Die überragende Bedeutung des Brotgetreides für die Ernährung der Unterschichten ließ Substitution sicherlich nur bedingt zu. Wie Daten gerade aus Württemberg belegen, ist der längerfristige Einfluss von Bevölkerungsschwankungen auf die relativen Preise aber als eher gering einzustufen. 68 Die wirtschaftliche Entwicklung zusammenfassend wurde festgestellt, dass das Bevölkerungswachstum zwar bis Ende der 1520er Jahre ein Sinken des Wohlstands bewirkte, aber noch keinen eigentlichen größeren Kaufkraftverlust, keine Agrar- und damit verbundene Versorgungskrise. Eine solche stellte sich erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein. 69 Die sozialen Verhältnisse waren im Aufstandsgebiet und darüber hinaus durch die ländliche und kleinstädtische Gemeinde mit ihren traditionellen formellen wie informellen Regeln und Codes bestimmt. In diesem gesellschaftlichen Umfeld hatte das European Marriage Pattern, das System später Heirat, noch keineswegs seine volle Ausbildung erfahren. 70 Mangels verbindlicher Verzeichnissysteme (Matrikenführung) ließen sich herrschaftliche Heiratsbeschränkungen umgehen. Wenn in den V OCELKA / A NITA T RANINGER , Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert) (Wien. Geschichte einer Stadt 2), Wien u. a. 2003, S. 133-137, hier 136. 66 W ALTER A CHILLES , Landwirtschaft in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 10), München 1991, S. 76-85. 67 D. W. S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft (Anm. 33), S. 67-75, bes. 74f. 68 P. W ARDE , Ecology (Anm. 63), S. 90. 69 U. S CHIRMER , Amt Grimma (Anm. 37), S. 355f. Vgl. dazu auch den Beitrag von Ulrich Pfister in diesem Band. 70 P ETER K RIEDTE , Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1980, S. 29f. <?page no="54"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 53 größeren Städten vor allem Männer spät heirateten, lag das mehr an gesellschaftlichen Konventionen, denn an obrigkeitlichen Vorgaben. 71 In kleineren Städten, die manchmal noch durchaus den Charakter von Ackerbürgerstädten aufwiesen, ist von keinem urbanen Heiratsverhalten, wie es in Städten wie Nürnberg, Straßburg oder Köln in der bürgerlichen Schicht vielleicht schon verbreitet war, auszugehen. Auf das gesamte Reich bezogen war der Urbanisierungsgrad ohnehin gering. Für Orte mit 5.000 und mehr Einwohnern lag er bei zehn Prozent, für größere Städte mit über 10.000 Einwohnern bei drei bis vier Prozent. 72 Einige wenige Daten scheinen jedenfalls auf ein noch vergleichsweise niedriges Erstheiratsalter hinzudeuten. So waren um 1530 im Hochstift Speyer 90 Prozent der ›Erwachsenen‹ ab einem Alter von etwa 15 und mehr Jahren verheiratet. 73 Um die Mitte des 16. Jahrhunderts lag das Erstheiratsalter von Frauen aus protestantischen Eliten und der Mittelschicht bei 22,5 Jahren und fiel dann sogar in der Folge noch weiter. 74 5. Vergleich mit anderen Regionen Die demographische Entwicklung des Alten Reiches verlief selbstverständlich nicht isoliert. Mit Ausnahme seiner peripheren Teile war das Europa des frühen 16. Jahrhunderts ein bereits eng durch Handelsbeziehungen, aber auch überregionale Migrationsbewegungen - mit ihnen verbunden war die Übertragung von Epidemien - vernetzter Kontinent. Insofern können Schätzungen von Bevölkerungszahlen rund um das Jahr 1525 für andere Teile Europas, für die aussagekräftige Quellen vorliegen, einen aufschlussreichen Vergleich liefern. Dabei zeigen sich zum Teil diametrale Unterschiede. Im Fall von England, der Stadtbevölkerung von Venedig und von Brabant belegen die Bevölkerungszahlen in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts bis etwa 1540 einen eindeutigen Anstieg, im Fall der Stadt Mailand einen klaren Rückgang. Für den englischen Fall lässt sich der Aufwärtstrend noch etwas genauer 71 E VA M ARIE L EHNER , Taufe - Ehe - Tod. Praktiken des Verzeichnens in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern (Historische Wissensforschung 22), Göttingen 2023, S. 181-187; K ATHE - RINE A. L YNCH , Individuals, Families, and Communities in Europe, 1200-1800. The Urban Foundations of Western Society (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 37), Cambridge 2003, S. 44-46; D IES ., The European Marriage Pattern in the Cities: Variations on a Theme by Hajnal, in: Journal of Family History 16/ 1 (1991), S. 79-96. 72 U LRICH P FISTER , Urban population in Germany, 1500-1850 (University of Münster, Center for Quantitative Economics 90), Münster 2020, S. 16; J AN DE V RIES , European Urbanization 1500-1800, Cambridge (Mass.) 1984, S. 39. Im Fall Österreichs, der Länder der böhmischen und ungarischen Krone lagen die entsprechende Anteile bei 5 bzw. für größere Städte sogar unter 2 Prozent. 73 K.-O. B ULL , Die erste »Volkszählung« (Anm. 48), S. 109-135, hier 110f. 74 C HR . P FISTER , Population (Anm. 8), S. 46. <?page no="55"?> A ND R EA S W EIGL 54 festmachen. Nach den Musterrollen von 1522 und einigen ergänzenden Steuererhebungen von 1524 und 1525 lag die Bevölkerungszahl in den frühen 1520er Jahren bei 2,2-2,3 Millionen, nach den mit der Methode der Backward Projection berechneten Werten für 1551 bei 2,95 Millionen, mit der Methode der General Inverse Projection bei 3,13. 75 Diese Schätzungen können als »best estimates« gelten. 76 Tabelle 4: Bevölkerungsentwicklung in einigen Teilen Europas 1500-1550 Land/ Stadt 1500/ 20 1540/ 50 VR 2) England 2.350.000 3.024.000 28,7 Venedig 102.000 131.000 28,4 Mailand 110.000 70.000 -36,4 Brabant (Feuerstellen) 1) 75.343 97.013 28,8 1) 1496 und 1526. - 2) Veränderungsrate. Quelle: K. J. B ELOCH , Bevölkerungsgeschichte 3 (Anm. 77), S. 6-8, 190; J. C ORNWALL , English Population (Anm. 94), S. 39; E DWARD A. W RIGLEY / R OGER S. S CHOFIELD , The Population History of England 1541-1871: a Reconstruction, London 1981, S. 532; K. F. H ELL - EINER , Population (Anm. 59), S. 23. Die Hauptursache für die divergierenden Bevölkerungsbilanzen in Oberitalien ist unschwer zu verifizieren: die Betroffenheit von schweren Pestepidemien. Während nach 1503 bis 1575 Pestzüge die Bevölkerung der Republik Venedig nicht heimsuchten, brach im Mailänder Gebiet im Jahr 1524 eine schwere Pestepidemie aus. 77 In England fielen schwere Pestepidemien in die Jahre 1509/ 10 und 1563. Klei nere Ausbrüche könnten allerdings auch 1516/ 17, 1523, 1527/ 30 und 1532 erfolgt sein. 78 75 J. C ORNWALL , English population in the early sixteenth century, in: Economic History Review 23 (1970), S. 32-44; E DWARD A. W RIGLEY u. a., English population history from family reconstitution, 1580-1837 (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 32), Cambridge 1997, S. 519. 76 S TEPHEN B ROADBERRY u. a., British Economic Growth 1270-1870, Cambridge 2015, S. 20. 77 K ARL J ULIUS B ELOCH , Bevölkerungsgeschichte Italiens, Bd. 3, Berlin 1961, S. 4, 190. 78 J OHN F INDLAY D REW , A History of Bubonic Plague in the British Isles, Cambridge 1970, S. 160, 163, 168, 189; R OBERT S. G OTTFRIED , The Black Death: Natural and Human Disaster in Medieval Europe, London 1983, S. 156. <?page no="56"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 55 6. Die singuläre Bedeutung der Pest Bei der Interpretation dieses Befundes ist daran zu erinnern, dass wir uns nach dem Modell des ›Epidemiologischen Übergangs‹ auch im 16. Jahrhundert im Zeitalter von »pestilence and famine« befinden. 79 Unterschiedliche demographische Entwicklungen können demnach vorrangig auf mögliche Seuchenausbrüche oder aber Hungersnöte zurückgeführt werden. Für letztere gibt es allerdings in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Mitteleuropa kaum Hinweise, auch nicht für die bereits erwähnten Krisenjahre 1529-1531. Erst ein halbes Jahrhundert danach, im Jahr 1570, trat eine schwere Hungerkrise ein. 80 Anders stand es um die Epidemien. Wiederkehrende Seuchenausbrüche sollten bis in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts das demographische Geschehen in Europa und in anderen Teilen der Welt mitbestimmen. Epidemisch auftretende Infektionskrankheiten gehörten gleichsam zum Alltag der Menschen im europäischen Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Diese konnten, mussten aber nicht notwendigerweise das Bevölkerungswachstum dauerhaft einschränken. Beispielsweise war es in Europa vom späten 10. Jahrhundert bis etwa 1300 trotz zahlreicher Seuchenausbrüche zu einer erheblichen demographischen Expansion gekommen. 81 Bei genauerem Hinsehen verschonte freilich in dieser Phase eine Seuche die europäische Bevölkerung völlig: die Pest. Und genau diese Seuche sollte ab Mitte des 14. Jahrhunderts nicht nur einem Drittel bis der Hälfte der europäischen Bevölkerungen das Leben kosten, 82 sondern in wiederkehrenden Seuchenwellen bis in das frühe 18. Jahrhundert eine dauerhafte Bedrohung darstellen. Rezente archäogenetische Untersuchungen haben eindeutig erwiesen, dass eine Linie des Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Bakteriums Yersinia pestis der Verursacher der Pestepidemien von der Mitte des 14. bis in das frühe 18. Jahrhundert war. Für diesen Zeitraum ist also von einer Pandemie auszugehen, der auch einige Seuchenausbrüche des 16. Jahrhunderts zuzurechnen sind. 83 Genetisch fand das 79 A LEXANDER M ERCER , Infections, Chronic Disease, and the Epidemiological Transition. A New Perspective, Rochester (NY)-Woodbridge (Suffolk) 2014, S. 19-25, hier 22. 80 W OLFGANG B EHRINGER , Die Hungerkrise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Neuzeit, in: M ANFRED J AKUBOWSKI -T IESSEN / H ARTMUT L EHMANN (Hg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 51-156; W ILHELM A BEL , Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, 3. Aufl. Göttingen 1986, S. 37-45. 81 C ARLO M. C IPOLLA , Before the Industrial Revolution. European Society and Economy, 1000-1700, 2. Aufl. London 1988, S. 160. 82 O LE J. B ENEDICTOW , The Black Death 1346-1353. The Complete History, Woodbridge 2004, S. 380-384; B RUCE M. S. C AMPBELL , The Great Transition. Climate, Disease and Society in the Late-Medieval World, Cambridge 2016, S. 306-319. 83 O LE J ØRGEN B ENEDICTOW , The Black Death and Later Plague Epidemics in the Scandinavian Countries: Perspectives and Controversies, Warsaw-Berlin 2016, S. 73-97, bes. 81f.; <?page no="57"?> A ND R EA S W EIGL 56 ursprünglich vor allem Hausratten befallende Pestbakterium durch Mutation zu seinen menschlichen Opfern. Die Befallenen starben an Organversagen und Blutvergiftung. Nach den spezifischen Symptomen wie hohem Fieber, Delirien, schmerzhaften Geschwüren der Lymphknoten und eitrigen Absonderungen aus den charakteristischen Bubonen erhielt die Beulenpest ihren Namen. 84 Die besondere demographische Bedeutung der Pest liegt in ihrer hohen Letalität begründet. Bei ihrem plötzlichen Auftreten Mitte des 14. Jahrhunderts wurden 60- 80 Prozent der Europäer infiziert, von denen 75-90 Prozent starben. 85 Da das Pestbakterium bis ins 18. Jahrhundert nicht mutierte, geht die Forschung mittlerweile davon aus, dass die Pest nach ihrem schweren Ausbruch Mitte des 14. Jahrhunderts endemische Zellen, möglicherweise in Syrien, Anatolien und auf dem Balkan, wie auch in den Alpen bildete, die ihre auf den Schwarzen Tod von 1447 bis 1451 folgenden Ausbrüche erklären. Als Überträger während der seuchenfreien Zwischenperioden kämen zum Beispiel Marder oder Murmeltiere infrage, die immun gegen den Pestbazillus sind. 86 Was die seit Mitte des 14. Jahrhunderts wiederkehrenden Epidemien anlangt, ist bei der Interpretation der chronikalischen Überlieferung allerdings Vorsicht geboten. Zweifelsohne handelte es sich bei einigen in den Quellen bezeichneten Pestepidemien nicht um solche. 87 Diese Einschränkung gilt allerdings auch umgekehrt. Manche Sterbegipfel waren wohl auf die Pest zurückzuführen, scheinen aber in den Quellen nur als Häufung von »contagiösen« Erkrankungen auf. Unter dem entsprechenden Vorbehalt lassen sich auf Basis des Deutschen Städtebuchs im deutschen Südwesten für Baden und Württemberg sporadische Pestperioden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, nämlich für die Jahre 1517-1519 und 1541-1542, identifizieren. In Augsburg wütete die Pest 1520/ 21, weiter im Norden in Mittelfranken in Nürnberg 1519-1521. In Memmingen trat die Pest nicht nur 1521, sondern auch 1524 in abgeschwächter Form auf. In der zweiten Jahrhunderthälfte kam es hingegen zu einer deutlichen Häufung der Epidemien in den Jahren 1564-1567, 1574- 1575, 1585-1588 und 1593-1595. 88 Diese zeitlichen Verbreitungsmuster bestätigen J OHANNES K RAUSE / T HOMAS T RAPPE , Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren, 6. Aufl. Berlin 2023, S. 201f. 84 P AUL S LACK , Die Pest, Stuttgart 2015, S. 10. 85 R ICHARD C. H OFFMANN , An Environmental History of Medieval Europe, Cambridge 2014, S. 291. 86 K YLE H ARPER , Plagues Upon the Earth. Disease and the course of Human History, Princeton-Woodstock (Oxfordshire) 2021, S. 355. 87 D. H ERLIHY , Outline (Anm. 4), S. 13. 88 P ETER E ITEL , Studien zur Geschichte der Pest im Bodenseeraum unter besonderer Berücksichtigung der Konstanzer Pestepidemie von 1611, in: Hegau 29/ 30 (1972/ 73), S. 57- 89, hier 59; C HARLOTTE B ÜHL , Die Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Nürnberg 1483 bis 1533/ 34, in: R UDOLF E NDRES (Hg.), Nürnberg und <?page no="58"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 57 Untersuchungen zu Sachsen, wo nach 1520 bis etwa 1540 kaum chronikalische Meldungen über Pestausbrüche vorliegen. 89 Zu einem überregionalen Auftreten der Pest in der Schweiz kam es 1519 und 1541. Dies gilt insbesondere für die dem Aufstandsgebiet nahe Ostschweiz. 90 Kleinräumig betrachtet brachen in der Bodenseeregion 1517-1519 in Schaffhausen, Villingen, Konstanz, Markdorf und Biberach Epidemien aus, 1541-1542 in Konstanz, Überlingen, Stockach, Pfullendorf und Markdorf und dem heutigen Weingarten. 91 In einigen Teilen Mitteldeutschlands sind größere Opferzahlen 1520 in Stolberg, 1521 in Freiberg, 1527 in Wittenberg, 1529 in Eisleben, 1530 in Jena, 1537 in Eisenach, 1539 in Burg chronikalisch belegt. 1542 soll die Pest in Jena 2.000, in Erfurt 6.500 Opfer gefordert haben, 1547 in Erfurt 8.000. 92 Im obersteirischen Aufstandsgebiet blieben Pestepidemien hingegen gänzlich aus. Rottenmann verzeichnet im 16. Jahrhundert keine chronikalische Überlieferung einer Pestepidemie, ebensowenig Schladming. 93 Die singuläre Bedeutung der Pest lässt sich im Fall der demographisch gut dokumentierten Stadt Salzburg nachvollziehen. In Salzburg war es 1525 zwar nicht zu größeren Kampfhandlungen gekommen, aber rund 1.200 Mann hatten die Stadt belagert. 94 In den eineinhalb Jahrzehnten nach diesem Ereignis nahm die städtische Bevölkerung innerhalb des Burgfrieds tatsächlich ab. Nach Schätzungen lag die Einwohnerzahl 1531 bei rund 4.600, 1541 jedoch nur mehr bei rund 4.100. In weiterer Folge stieg sie jedoch beträchtlich auf etwa 8.000 um das Jahr 1570 an. 95 Verantwortlich für den temporären Bevölkerungsrückgang der 1530er Jahre waren aber Bern. Zwei Residenzstädte und ihr Landgebiet (Erlanger Forschungen A 46), Erlangen 1990, S. 121-168, hier 122; P. W ARDE , Ecology (Anm. 63), S. 28; K ONRAD M. M ÜLLER , Das »Große Sterben« im Allgäu. Pest und andere Seuchen in Mittelalter und Früher Neuzeit (Memminger Geschichtsblätter 2004/ 2005), Memmingen 2005, S. 157. 89 K ARLHEINZ B LASCHKE , Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 122. 90 M ARKUS M ATTMÜLLER , Bevölkerungsgeschichte der Schweiz, Teil 1/ 1, Basel-Frankfurt/ M. 1987, S. 231-233. 91 P. E ITEL , Studien (Anm. 88), S. 59f. 92 M ATTHIAS U HL , Der Schwarze Tod. Die Pest in Mitteldeutschland 1349-1683, Erfurt 2020, S. 117f. 93 F RIEDRIKE G OLDMANN / N IKOLAUS R EISINGER (Red.), Die Städte der Steiermark, Teil 4 (Österreichisches Städtebuch 6/ 4), Wien 1995, S. 124, 149. 94 W OLFGANG M ADERTHANER , Zeitenbrüche. Sozialrevolutionäre Aufstände in habsburgischen Landen, Frankfurt/ M.-New York 2023, S. 123. 95 Vienna Institute of Demography, Historisches Ortslexikon. Statistische Dokumentation zur Bevölkerungs- und Siedlungsgeschichte, Salzburg, S. 16. https: / / www.oeaw.ac.at/ vid/ research/ research-groups/ demography-of-austria/ historisches-ortslexikon/ (aufgerufen am 6.10.2023); K URT K LEIN , Daten zur Siedlungsgeschichte der österreichischen Länder bis zum 16. Jahrhundert (Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 4), Wien 1980, S. 69. <?page no="59"?> A ND R EA S W EIGL 58 nicht etwa die Folgen der Belagerung während des Bauernkrieges, sondern die damit nicht in Verbindung stehende Rückkehr der Pest. Schwere Pestepidemien erlebte die Stadt Salzburg 1528/ 29 und 1533. 96 In Tirol erfasste der Aufstand zwar weite Teile, in Nordtirol und Vorarlberg kam es aber nur zu einzelnen kleineren Unruhen. 97 Plünderungen und längere Kämpfe konzentrierten sich auf die beiden Hochstifte Brixen und Trient. Pestepidemien brachen in Tirol in den Jahren 1528, 1533 und 1543 aus, 98 im Zentrum des Bergbaus in Schwaz 1528, 1541 und 1543. 99 Ein Zusammenhang mit dem Bauernkrieg ist jedoch wie auch im Fall von Salzburg schon allein aufgrund der zeitlichen und räumlichen Distanz kaum herzustellen. Von den Schwazer Bergknappen versammelten sich im Februar 1525 zwar über 9.000 Bewaffnete im Bergbaurevier, doch schlossen sich Ende August 1525 nur etwa 2.000 Knappen dem Aufstand im benachbarten Erzstift Salzburg an. 100 Für die Interpretation einer demographischen Erholung nach 1525 ist jedenfalls auffällig, dass die Pest zumindest in einigen Hauptkampfgebieten ein ›Loch‹ hatte. Allenfalls scheint es zu milden Pestausbrüchen gekommen zu sein, wie auch der zeitgenössische Nürnberger Chronist Paulus Langius berichtet. 101 Eine Erklärung dafür könnte die Immunität von Überlebenden der vorangegangenen Pestausbrüche und ein temporärer Rückgang der Rattenpopulationen liefern. Auch waren in den 1520er Jahren keine größeren Klimaanomalien, die zu einer gesteigerten Mobilität von Ratten und Flöhen beitragen hätten können, zu verzeichnen. 102 Insgesamt bestand unzweifelhaft in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht nur in Mitteleuropa im Vergleich zur Periode danach eine verminderte Peststerblichkeit. 103 96 L EOPOLD Ö HLER , Die Pest in Salzburg 2013, S. 54f. 97 J OHANN R AINER , Die bäuerlichen Erhebungen 1525-1627 im österreichischen Raum, in: E RICH Z ÖLLNER (Hg.), Revolutionäre Bewegungen in Österreich (Schriften des Instituts für Österreichkunde 38), Wien 1981, S. 67-76, hier 67f. 98 F RANZ -H EINZ H YE , Die Städte Tirols, Teil 1 (Österreichisches Städtebuch 5/ 1), Wien 1980, S. 36. 99 F.-H. H YE , Die Städte Tirols, Teil 1 (Anm. 98), S. 216. 100 P ETER F ISCHER , Die Gemeine Gesellschaft der Bergwerke. Bergbau und Bergleute im Tiroler Montanrevier Schwaz zur Zeit des Bauernkriegs 1525, St. Katharinen 2001, S. 249, 258. 101 K. F. H ELLEINER , Population (Anm. 59), S. 74. 102 Zu deren Einfluss bei früheren Pestausbrüchen vgl. B RUCE M. S. C AMPELL , Physical Shocks, Biological Hazards, and Human Impacts: The Crisis of the Fourteenth Century Revisited, in: S IMONETTA C AVACIOCCHI (Hg.), Le interazioni fra economia e ambiente biologico nell’Europa preindustriale secc. XIII-XVIII, Firenze 2010, 13-32. 103 W. B EHRINGER , Kulturgeschichte des Klimas (Anm. 15), S. 152. <?page no="60"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 59 Für die Interpretation der Folgen von Pestepidemien auf die demographische Entwicklung ist entscheidend, dass Unterernährung den Befall mit dem Pestbazillus nicht befördert, sieht man davon ab, dass möglicherweise Phasen der Unterernährung in der Kindheit eine spätere Infektion begünstigen können. 104 Pestepidemien können daher nicht als Hinweis auf eine durch Überbevölkerung ausgelöste malthusianische Subsistenzkrise gedeutet werden. 105 Vielmehr konnten sie in mit Nahrungsmitteln gut versorgten Landstrichen ebenso ausbrechen wie in solchen, in denen weite Teile der Bevölkerung an Unterernährung und Hunger litten. Insofern ist der Ausbruch von Pestepidemien nicht als Indikator für eine krisenhafte Unterversorgung einer Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und daraus resultierender erhöhter Sterblichkeit zu werten. Ein solcher Ausbruch verweist aber auf Mängel der Hygiene und bei der Umsetzung von Schutzmaßnahmen zum Zweck der Seuchenabwehr und -bekämpfung. Die klimatischen Bedingungen sind allerdings für den Ausbruch von Pestepidemien nicht unwesentlich. Feuchte Sommer, in denen sich die Rattenflöhe am raschesten vermehren und am beweglichsten sind, bieten der Verbreitung des Pestflohs günstige Bedingungen. 106 Solche Witterung führt auch zu mageren Ernten. Insofern können schlechte Ernährungslage und Pestverbreitung einhergehen, ohne sich zu bedingen. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass die Ernährungssituation im betrachteten Zeitraum für die allgemeine Mortalitätsentwicklung ohne Bedeutung gewesen wäre, denn besonders im Fall verbreiteter Lungenerkrankungen und Diarrhoe werden die Überlebenschancen stark vom Ernährungszustand erkrankter Personen beeinflusst. 107 Diese ›normale‹ Sterblichkeit endemischer und nichtinfektiöser Erkrankungen wird in Mittelalter und Früher Neuzeit auf etwa 30 von 1.000 der Bevölkerung 104 M ASSIMO L IVI -B ACCI , Population and Nutrition. An Essay on European Demographic History (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 14), Cambridge 1991, S. 37f.; U LF D IRLMEIER , Die Ernährung als mögliche Determinante der Bevölkerungsentwicklung, in: B ERND H ERRMANN / R OLF S PRANDEL (Hg.), Determinanten der Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, Weinheim 1987, S. 143-154, hier 146f.; R. C. H OFFMANN , Environmental History (Anm. 85), S. 293f. 105 G ISELA G RUPE , Umwelt und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, in: B ERND H ERR - MANN (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Wiesbaden 1996, S. 31. 106 C HR . P FISTER , Bevölkerungsgeschichte (Anm. 20), S. 39; M ANFRED V ASOLD , Die Ausbreitung des Schwarzen Todes in Deutschland nach 1348, in: HZ 277 (2003), S. 281-308, hier 285. 107 A NDREAS W EIGL , Landschaftsnutzung als Determinante der vorindustriellen Bevölkerungsgeschichte, in: P ETER B URGGRAAFF u. a. (Hg.), Landschaft als Ressource, (Siedlungsforschung. Archäologie - Geschichte - Geographie 34), Bonn 2017, S. 247-262; M. L IVI - B ACCI , Population and Nutrition (Anm. 104), S. 38. <?page no="61"?> A ND R EA S W EIGL 60 geschätzt, 108 während in Jahren schwerer Seuchenausbrüche die Sterberate bei 80, 100 und mehr liegen konnte. Abseits der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit starben Erwachsene natürlich auch an degenerativen Erkrankungen und an dem weiten Spektrum der übrigen Todesursachen, wie sie aus dem statistischen Zeitalter bekannt sind. Was die Erwachsenensterblichkeit anlangt, gibt es Hinweise auf den starken Einfluss der Müttersterblichkeit, was angesichts einer hohen Anzahl an Konzeptionen und kaum verbreiteter Kontrazeption nicht weiter verwunderlich ist. Die hohe Müttersterblichkeit war dafür verantwortlich, dass, war das Erwachsenenalter einmal erreicht, die Lebenserwartung der Männer deutlich über jener der Frauen lag. 109 So dürfte etwa ein Fünftel der verheirateten Frauen im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts an Todesursachen im Zusammenhang mit der Geburt von Kindern verstorben sein. 110 In ländlichen Zonen war die Müttersterblichkeit aber tendenziell sicherlich geringer als in urbanen, weil die hohe Bevölkerungsdichte der Städte die Verbreitung von Infektionen begünstigte. Temporär außergewöhnlich hohe Mortalitätsspitzen waren aber vor allem auf Pestepidemien zurückzuführen. Neue Krankheiten wie etwa der in England einige Male, in Kontinentaleuropa nur in den Jahren 1528 und 1529 epidemisch auftretende ›Englische Schweiß‹ schockierten wohl mehr, als dass sie aus dem epidemiologischen Geschehen hervorstachen. 111 7. Conclusio Die bisherigen Ausführungen haben klargemacht, dass der Bauernkrieg von 1525 nicht zu einem dramatischen Einbruch der Bevölkerungsentwicklung im Reich führte. Im Detail und was einzelne Regionen betrifft ist diese Aussage aber nur mit Vorbehalt zu treffen. Wie in der Forschung am Beispiel der für die Reichsabtei Salem zur Verfügung stehenden umfangreichen quantifizierbaren Quellen demonstriert wurde, sind zahlreiche methodische Probleme bei der Interpretation bevölkerungsstatistischer Quellen des ausgehenden 15. und des 16. Jahrhunderts zu berücksichtigen. 112 Das Gesagte gilt im noch stärkeren Maß für Opferzahlen aus dem Bauernkrieg, die sich mangels Kirchenmatrikeln ja nur aus Aussagen von Zeitgenossen grob ableiten lassen. Dennoch lässt sich an den in vielen Fällen in eine Richtung weisenden Ergebnissen von quantitativen Auswertungen verschiedenster Art an einem 108 R. C. H OFFMANN , Environmental History (Anm. 85), S. 283. 109 R UDOLF L ENZ , De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle (Marburger Personalschriften-Forschungen 10), Sigmaringen 1990, S. 88. 110 D EBORAH Y OUNGS , The Life Cycle in Western Europe, c. 1300-c. 1500, Manchester- New York 2006, S. 144. 111 K. F. H ELLEINER , Population (Anm. 59), S. 72f. 112 P ETER B OHL , Quellen zur Bevölkerungsgeschichte des ländlichen Raumes am Bodensee im 16. Jahrhundert, in: K. A NDERMANN / H. E HMER , Bevölkerungsstatistik (Anm. 12), S. 47-63. <?page no="62"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 61 auch vom Bauernkrieg kaum unterbrochenen Bevölkerungsanstieg im Reich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wenig zweifeln. Unter den Ursachen für den Ausbruch des Bauernkriegs wird zu Recht auch in neueren Darstellungen auf »Bevölkerungsdruck« in Aufstandsgebieten oder jedenfalls in Teilen davon verwiesen. 113 Als unmittelbarer Auslöser für den Bauernkrieg kommt dieser jedoch aus mehreren Gründen nicht in Frage. Zum einen setzte sich das Bevölkerungswachstum bis etwa 1560 kaum vermindert fort. Selbst für die Krisenperiode gegen Ende des 16. und im frühen 17. Jahrhundert ist zweifelhaft, ob ökologische Grenzen des Wachstums schon erreicht waren. 114 Dagegen spricht, dass selbst in den Jahren vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges im Reich insgesamt weiter Bevölkerungswachstum vorherrschte. 115 Im diesbezüglich quellenmäßig sehr gut erschlossenen schwäbisch-westbayerischen Raum lag die Einwohnerzahl vor Beginn der Involvierung in den Dreißigjährigen Krieg ab etwa 1626/ 27 um rund 20 bis 30 Prozent über dem Stand von 1593/ 95. 116 Dieser Anstieg wäre wohl kaum möglich gewesen, wenn Ende des 16. Jahrhunderts die Bevölkerung einen wie immer gearteten ›Bevölkerungsplafonds‹ erreicht hätte. Auch auf Klimaereignisse ist der Bauernkrieg von 1525, wie auch in einer rezenten Überblicksdarstellung der deutschen Agrargeschichte vermerkt, wohl nicht ursächlich zurückzuführen. 117 Zwar gab es in einigen Aufstandsgebieten Missernten, 1524 sogar gehäufte Unwetterkatastrophen, jedoch keine Hungersnot wie etwa 1570/ 71. Temporäre Lebensmittelknappheiten und Preissteigerungen gehörten ohnehin auch schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas zum Alltag der Bevölkerung. Und dabei handelt es sich um einen Zeitraum, der durch einen demographischen Tiefststand gekennzeichnet war, obwohl in weiten Teilen Europas genug landwirtschaftlich nutzbare Fläche pro Kopf zur Verfügung stand. Primär lagen Versorgungskrisen im ausgehenden Mittelalter und im 16. Jahrhundert Verteilungsprobleme und nicht etwa generelle Schwächen der landwirtschaftlichen Produktivität zugrunde. 118 Der 113 R UDOLF E NDRES , Ursachen, in: H. B USZELLO / P. B LICKLE / R. E NDRES , Bauernkrieg (Anm. 18), S. 217-253, hier 219-222, 252. 114 G. P. S REENIVASAN , Peasants (Anm. 14), S. 119-123. 115 C HR . P FISTER , Bevölkerungsgeschichte (Anm. 20), S. 10; P. W ARDE , Ecology (Anm. 63), S. 96. 116 W ERNER L ENGGER , Leben und Sterben in Schwaben. Studien zur Bevölkerungsentwicklung und Migration zwischen Lech und Iller, Ries und Alpen im 17. Jahrhundert, Teil 1 (Veröff. SFG 9/ 2), Augsburg 2002, S. 136. 117 F RANK K ONERSMANN / W ERNER T ROSSBACH , Krisen und gesellschaftliche Reaktionen, in: R OLF K IESSLING / F RANK K ONERSMANN / W ERNER T ROSSBACH , Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 1, Wien u. a. 2016, S. 46-51, hier 47. 118 F RANK K ONERSMANN / W ERNER T ROSSBACH , Die Bevölkerungsverluste des Spätmittelalters, in: R. K IESSLING / F. K ONERSMANN / W. T ROSSBACH , Grundzüge der Agrargeschichte, <?page no="63"?> A ND R EA S W EIGL 62 demographische Effekt solcher Krisen sollte ohnehin nicht überschätzt werden. So haben auch die Missernten der Jahre 1529-1531 im Reich 119 das insgesamt beträchtliche Bevölkerungswachstum während der Jahre ca. 1500-1560 kaum gebremst. Als das Bevölkerungswachstum fördernder Faktor im Betrachtungszeitraum rund um den Bauernkrieg von 1525 erweist sich das temporäre Ausbleiben von Pestepidemien oder jedenfalls deren nur schwache Ausprägung, soweit es sich bei kleineren Pestepidemien, wie sie aus der chronikalischen Überlieferung zu erschließen sind, überhaupt um solche gehandelt hat. Unter diesem Vorbehalt ist generell auf europäischer Ebene von 1523 bis 1544, mit Ausnahme eines möglicherweise schwachen Vorstoßes im Jahr 1537, eine vergleichsweise pestarme Periode zu konstatieren. 120 Weite Teile des Aufstandsgebiets bildeten diesbezüglich keine Ausnahme. Das Ausbleiben schwerer Seuchenausbrüche schuf eine wesentliche Bedingung für kräftiges Bevölkerungswachstum, nicht nur um 1525, sondern im 16. und frühen 17. Jahrhundert im Allgemeinen. 121 In diesem Zusammenhang ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Ausbruch von Pestepidemien nicht in direktem Zusammenhang mit Subsistenzkrisen steht. Um die ja tatsächlich eingetretenen Bevölkerungsverluste durch den Bauernkrieg sehr rasch aufzuholen, standen die Chancen im Aufstandsgebiet und im Reich insgesamt nicht schlecht. Klammert man die nicht näher bezifferbare, aber sicherlich geringe Zuwanderung von außerhalb des Reiches einmal aus, musste dazu etwa einer Geburtenrate von 30 bis 40 eine Sterberate von 20 bis 30 gegenüberstehen. Nach den Erfahrungen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in England, das einen vergleichbaren Bevölkerungsanstieg wie Mitteleuropa erlebte, und darüber hinaus in weiten Teilen Europas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren dafür drei Voraussetzungen notwendig: - ein Urbanisierungsgrad unter 20 Prozent (unter Ausklammerung von Kleinstädten), 122 - das seltene Auftreten schwerer Ausbrüche von Epidemien, 123 Bd. 1 (Anm. 117), S. 17-33, hier 19; R. C. H OFFMANN , Environmental History (Anm. 85), S. 172. 119 K. F. H ELLEINER , Population (Anm. 59), S. 76. 120 J EAN -N ÖEL B IRABEN , Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens, Bd. 1, Paris-La Haye 1975, S. 125, 119; M. M ATTMÜLLER , Bevölkerungsgeschichte der Schweiz (Anm. 90), S. 234. 121 A. W EIGL , Landschaftsnutzung (Anm. 107), S. 251. 122 J. DE V RIES , European Urbanization (Anm. 72), S. 290f. 123 E. A. W RIGLEY / R. S. S CHOFIELD , Population History of England (Anm. Tab. 4), S. 531- 533; G EORGE A LTER / G REGORY C LARK , The demographic transition and human capital, in: S TEPHEN B ROADBERRY / K EVIN H. O’R OURKE (Hg.), The Cambridge Economic History of Modern Europe, Bd. 1, Cambridge 2010, S. 43-69, hier 57f. <?page no="64"?> D ER B A UERNK RI EG IM K ONT EXT DER DEM OG R A P HIS CH EN E NTWI C KLUNG 63 - eine durchschnittliche Säuglingssterblichkeit von maximal 20-25 124 Prozent und eine Müttersterblichkeit um 1-3 Prozent. 125 All diese Bedingungen scheinen nach 1525 im Aufstandsgebiet und im Reich im Allgemeinen im Großen und Ganzen gegeben gewesen zu sein. In größeren Teilen des Aufstandsgebiets bestand zwar ein dichtes Netz kleinerer Städte, 126 letztere erwiesen sich aber aufgrund der geringeren Bevölkerungsdichte sicherlich im weit geringeren Ausmaß als ›große Friedhöfe‹ wie im Fall von Großstädten wie London, Paris oder Neapel. Selbst Württemberg, das größte Fürstentum im deutschen Südwesten, wies keine deutlich überdurchschnittliche Bevölkerungsdichte auf. Zudem beheimatete es nur etwas mehr als zwei Prozent der gesamten Bevölkerung des Deutschen Reiches. 127 Für hohe Geburtenraten und niedrige Säuglingssterblichkeit in ländlichen Gebieten gibt es vereinzelte Hinweise. Für sie spricht etwa eine Analyse der Familiengröße von rund 400-500 Familien aus Ottobeuren. Diese betrug im Durchschnitt der Jahre 1450-1480 mindestens 5,04, 1548 jedoch sogar 5,60. 128 Berechnungen der Müttersterblichkeit liegen mangels einschlägiger Daten zwar nicht vor, doch verweisen einige Schätzungen für ländliche Pfarrbezirke (parishes) in England für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts auf eine Spannweite von ein bis drei Prozent. Auch wenn es sich dabei für moderne Verhältnisse um eine hohe Müttersterblichkeit handelte, war sie in dieser Dimension kein das Bevölkerungswachstum generell im größeren Maßstab bremsender Faktor. Wenn demnach ein gewisser »Bevölkerungsdruck« in den Jahren vor Ausbruch des Bauernkriegs zwar festzustellen ist, in den folgenden Jahrzehnten bis etwa 1560 jedoch größer war, ohne zu einem neuerlichen Krieg zu führen, spricht vieles dafür, ihn als klassischen Ressourcenkonflikt zu deuten. Dabei mag die Aufständischen wohl auch das Gefühl eines Zeitenbruchs zur Revolte motiviert haben. 129 Damit soll freilich nicht bestritten werden, dass sich im Lauf des 16. Jahrhunderts die Nahrungsspielräume vor allem für unterbäuerliche Schichten zunehmend verschlechterten. 124 P ETER L ASLETT , Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft (Kulturstudien 13), Wien u. a. 1988, S. 132, 136; P. M ALANIMA , Europäische Wirtschaftsgeschichte (Anm. Tab. 4), S. 46-48. 125 I RVINE L OUDON , Death in Childbirth. An International Study of Maternal Care and Maternal Mortality 1800-1950, Oxford 1992, S. 159. 126 A NDRÉ H OLENSTEIN , Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg (Enzyklopädie deutscher Geschichte 38), München 1996, S. 95; P. W ARDE , Ecology (Anm. 79), S. 113. 127 W OLFGANG VON H IPPEL , Historische Statistik des Herzogtums Württemberg vom 15./ 16. bis zum 18./ 19. Jahrhundert, in: N ILS D IEDERICH / E GON H ÖLDER / A NDREAS K UNZ (Hg.), Historische Statistik der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe Forum der Bundesstatistik 15), Stuttgart 1990, S. 52-64, hier 57. 128 P. B LICKLE , Revolution von 1525 (Anm. 12), S. 80. 129 W. M ADERTHANER , Zeitenbrüche (Anm. 94), S. 109-153. <?page no="65"?> A ND R EA S W EIGL 64 Nur in Verbindung mit klimatisch induzierten Versorgungskrisen sorgte dies aber tatsächlich für Hungersnöte wie 1569-1574 und während der Dauerkrise von 1585 bis 1601. 130 Vor allem letztere kann auch als malthusianisch, also durch »Überbevölkerung« interpretiert werden, wenngleich selbst in diesen Krisenjahren zu hinterfragen ist, ob dem anthropogen exogenen Faktor ›Klima‹ nicht das wesentlich größere Gewicht zukam als dem endogenen Faktor ›Überbevölkerung‹. Selbst die demographische Wirkung der Versorgungskrisen des späten 16. Jahrhunderts unter nunmehr deutlich schlechteren klimatischen Bedingungen hielt sich in Grenzen. Auch weil Grundherren nach solchen Krisen sicherlich keinen Grund sahen, Heiraten zu beschränken. Und die ›natürliche‹, von kontrazeptiven Methoden kaum beschränkte Fertilität frühneuzeitlicher Bevölkerungen war hoch. 130 C HR . P FISTER / H. W ANNER , Klima und Gesellschaft (Anm. 55), S. 312-315. <?page no="66"?> 65 U LRICH P FISTER Der gesamtwirtschaftliche Kontext von Ressourcenkonflikten. Deutschland in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Eine Reihe von Untersuchungen führt den Bauernkrieg von 1525 neben situativen Faktoren, unter denen die Reformation herauszuheben ist, sowohl auf lange wirkende wirtschaftliche Entwicklungen und Strukturen als auch auf kurz- und mittelfristige Krisen zurück. Allerdings sind die Meinungen dazu im Einzelnen durchaus geteilt. Gemäß Peter Blickle mündete Bevölkerungswachstum zusammen mit Vorgängen der Staatsbildung in kleinen Territorien in eine Krise des Feudalismus, die die Lebensumstände der ländlichen Bevölkerung verschlechterte und dadurch den Nährboden für eine weiträumige Revolte schuf. Demgegenüber haben Tom Scott und Govind Sreenivasan die Dynamik der deutschen Wirtschaft in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts betont. Konkret brachte demnach eine Kommerzialisierung der Stadt-Land-Beziehungen besonders für gut mit Land ausgestattete Bauern neue Einkommensquellen, aber auch steigende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit mit sich. In dieser Perspektive stellt sich der Bauernkrieg in erster Linie als Verteilungskonflikt um neue Gelegenheiten und um die zu ihrer Nutzung erforderlichen Ressourcen dar, der neben Bauern und Herrschaftsträgern weitere Gruppen, darunter besonders die ländliche Unterschicht und Teile der städtischen Bevölkerung, einbezog. 1 Diese Forschungspositionen haben sich im Vierteljahrhundert nach dem Gedenken an den Bauernkrieg im Jahr 1975 herausgebildet und sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten allenfalls begrenzt weiterentwickelt worden. Der vorliegende Beitrag gibt deshalb, überwiegend basierend auf neueren Forschungen, einen Überblick über die Entwicklung der deutschen Wirtschaft in der ersten Hälfte des 1 P ETER B LICKLE , Die Revolution von 1525, München 2004, S. 23-139; T OM S COTT , The German Peasants’ War and the »crisis of feudalism«. Reflections on a neglected theme, in: Journal of Early Modern History 6 (2002), S. 265-295; G OVIND P. S REENIVASAN , The social origins of the Peasants’ War in Upper Swabia, in: Past and Present 171 (2001), S. 30-65. Vgl. weiter F RANZ I RSIGLER , Zu den wirtschaftlichen Ursachen des Bauernkriegs von 1525/ 26, in: K URT L ÖCHER (Hg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 194), Schweinfurt 1983, S. 95-120; R UDOLF E NDRES , Ursachen, in: H ORST B USZELLO / P ETER B LICKLE / R UDOLF E NDRES (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg, Paderborn 1984, S. 217-253, hier 218-239. <?page no="67"?> U LRICH P FIS T ER 66 16. Jahrhunderts und ortet die ihr innewohnenden Potenziale für Ressourcenkonflikte. Hierzu beschreibt der erste und längste Abschnitt wichtige Merkmale der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in dieser Zeit. Es folgt eine Systematisierung dieser Befunde mithilfe wachstumstheoretischer Konzepte. Der dritte Abschnitt entwickelt auf dieser Grundlage Überlegungen zu möglichen Quellen von Ressourcenkonflikten und illustriert diese anhand von Beispielen aus dem Bauernkrieg. Der Schlussabschnitt fasst den Erkenntnisgewinn der neueren Forschung bezüglich der wirtschaftlichen Begleitumstände und Hintergründe des Bauernkriegs zusammen. 1. Merkmale der deutschen Wirtschaft in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Das Folgende beschreibt den Zustand und die Entwicklung der deutschen Wirtschaft in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts anhand von fünf Befunden, die allerdings angesichts der derzeitigen Forschungslage zum Teil noch unsicher sind. Meistens beziehen sich die dafür verwendeten Informationen auf ein Gebiet, das sowohl Teil des Alten Reichs als auch des Nationalstaats von 1871 war. Gegenüber Deutschland in den heutigen Grenzen schließt dieses Gebiet Schlesien, das östliche Brandenburg und Hinterpommern ein. Die Darstellung bezieht sich somit nicht speziell auf Gebiete, die von der bäuerlichen Bewegung erfasst wurden. Umkehrt klammert sie die Alpenländer, die ebenfalls vom Bauernkrieg erfasst wurden, aus. Befund 1: Der Bauernkrieg fand in einem Kontext abnehmender materieller Wohlfahrt statt. Dies wird an erster Stelle durch das Wirtschaftswachstum, konkret durch eine grobe Schätzung des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf nahegelegt (Grafik 1). 2 Dieses fiel 1500-1560 mit einer Jahresrate von -0,3 Prozent (exponentieller Trend). Der Trend war sehr stetig (R 2 = 0,77); es ist somit zu betonen, dass es unmittelbar vor dem Bauerkrieg oder in dessen Gefolge keine Richtungsänderung der Entwicklung gab. Erst im Zuge des Dreißigjährigen Kriegs erfolgte eine gewisse Erholung der materiellen Wohlfahrt, gemessen in Pro-Kopf-Größen. Deutschland stellt mit dieser Entwicklung im europäischen Rahmen keinen Sonderfall dar; auch Frankreich sowie Nord- und Mittelitalien erfuhren in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein negatives Wachstum des realen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf. 3 2 U LRICH P FISTER , Economic growth in Germany, 1500-1850, in: Journal of Economic History 82 (2022), S. 1071-1107. 3 U. P FISTER , Economic growth (Anm. 2), S. 1093. <?page no="68"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 67 Grafik 1: Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland, 1500-1560 (Index, 1500 = 100) Quelle: U. P FISTER , Economic growth (Anm. 2), S. 1090 und Online-Anhang. Selbstverständlich verlief die wirtschaftliche Entwicklung nicht gleichmäßig, vielmehr war sie durch konjunkturelle Schwankungen geprägt. Konkret zeigt Grafik 1 kurzfristige Einbrüche 1503, 1517, um 1530 und wieder um 1550. Dies waren Jahre, in denen Getreidepreise in ganz Deutschland scharf nach oben ausschlugen, was auf gravierende Ernteausfälle hindeutet, die zu einer drastischen Verschlechterung bezüglich der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, zu sog. Subsistenzkrisen, führten. 4 Die relative Stabilität des realen Bruttoinlandsprodukts in den 1520er Jahren bedeutet umgekehrt, dass der Bauernkrieg nicht mit einer gravierenden gesamtwirtschaftlichen Krise einherging. Die 1525 relativ häufig erhobenen Forderungen, bei 4 H AKON A LBERS / U LRICH P FISTER , Food crises in Germany, 1500-1871, zur Publikation eingereichtes Manuskript, Abb. 3. Zu regionalen Versorgungskrisen im zeitlichen Umfeld des Bauernkriegs vgl. D AVID W. S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkrieges. Eine Studie der sozialen Verhältnisse im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525, Stuttgart 1972, S. 74-76; R. E NDRES , Ursachen (Anm. 1), S. 227f. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1500 1505 1510 1515 1520 1525 1530 1535 1540 1545 1550 1555 1560 <?page no="69"?> U LRICH P FIS T ER 68 Ernteausfällen die grundherrlichen Abgaben herabzusetzen, hatten keinen aktuellen Hintergrund. 5 Ein chronologisch noch etwas genauerer Aufschluss über die Entwicklung der materiellen Wohlfahrt lässt sich anhand der realen Tagelöhne von ungelernten Bauarbeitern in einzelnen Städten gewinnen (Grafik 2). Einkommen aus Arbeit bildete damals wie heute die wichtigste Einkommensquelle von Haushalten. Die Löhne von Bauarbeitern sind eine verbreitet verwendete Informationsquelle, weil bei öffentlichen Bauvorhaben in Städten systematisch Ausgaben verzeichnet wurden und Bauarbeiter Geldlöhne und kaum Naturallöhne erhielten, die sich schwer bewerten lassen. Bauarbeiter stellten eine mobile Arbeitskraft dar, so dass Bauarbeiterlöhne für breite Segmente des Arbeitsmarkts repräsentativ sein dürften. Reallöhne werden mittels der Division des Nominallohns durch die Kosten eines festen Güterkorbs gewonnen, der die alltäglichen Lebensbedürfnisse einer Person in Haushalten der breiten Bevölkerung abbildet. Die vertikale Achse von Grafik 2 stellt den Anteil dieses auf den Tagesbedarf bezogenen Güterkorbs dar, der mit einem Tagelohn gekauft werden konnte. Ein Wert von 1 bedeutet somit, dass die täglichen Subsistenzbedürfnisse einer Person mit dem Arbeitseinkommen gerade eben befriedigt werden können. 6 In der Zusammenschau legen die in Grafik 2 wiedergegebenen Einzelangaben für die Reallöhne in sieben Städten einen Rückgang nach den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts nahe. Die Ausnahme ist Hamburg, wo nach Minimalwerten 1525 und 1531 der Reallohn langfristig wieder anstieg. Bislang liegen nach der geschilderten Methode berechnete Reallöhne nur für zwei Städte für Perioden vor 1500 vor, nämlich für Rostock und Straßburg. In beiden Fällen ist vor dem Beginn des 16. Jahrhunderts zurück bis ins erste Viertel des 15. Jahrhunderts kein langfristiger Trend festzustellen, während nach den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts ein Rückgang einsetzte; 1510-1560 sank der Reallohn in allen Städten zusammengenommen mit einer Jahresrate von -1,0 Prozent (Wachstumsrate des exponentiellen Trends). Dies legt die Vermutung nahe, dass wohl um 1510 ein wirtschaftlicher Niedergang einsetzte. Der Bauernkrieg von 1525 fand somit in der Anfangsphase einer längeren Periode statt, die durch ein rückläufiges Niveau der materiellen Lebenshaltung gekennzeichnet war. Allerdings ist nochmals zu betonen, dass in der Mitte der 1520er Jahre keine kurzfristige Wirtschaftskrise zu verzeichnen ist. 7 5 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 56. 6 U LRICH P FISTER , The timing and pattern of real wage divergence in pre-industrial Europe. Evidence from Germany, c. 1500-1850, in: Economic History Review 70 (2017), S. 701-729. 7 Dieser Befund weicht deutlich von F. I RSIGLER , Zu den wirtschaftlichen Ursachen (Anm. 1), S. 110-115, ab, der für das frühe 16. Jahrhundert mehrere, teils kurzfristige, teils längerfristige Krisen diagnostiziert. <?page no="70"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 69 Grafik 2: Der reale Tagelohn von ungelernten städtischen Bauarbeitern in sieben Städten, 1475-1560 (Nominallohn dividiert durch die Kosten eines Tagesbedarfs an Subsistenzgütern) Quelle: U. P FISTER , Timing and pattern (Anm. 6), S. 715, Online-Anhänge S3 und S4. Bemerkung: Die Gesamtreihe wurde durch Division des aggregierten Nominallohns in neun Städten durch den aggregierten Konsumgüterpreis in den aufgeführten sieben Städten gewonnen. Der aggregierte Nominallohn schließt zusätzlich Angaben für Nürnberg und Xanten ein. Befund 2: Die reale Bodenrente nahm möglicherweise zu. Während der Tagelohn den Preis für die Miete des Produktionsfaktors Arbeit darstellt, gibt die Bodenrente den Preis für die Miete des Produktionsfaktors Boden wieder. Die Höhe der realen Bodenrente kann beispielsweise dadurch bestimmt werden, dass der Preis für die Miete einer Einheit Land (z. B. ein Hektar) in Zeitpacht durch den Preis der auf dieser Landfläche erzeugten Güter, also näherungsweise durch einen Preisindex landwirtschaftlicher Erzeugnisse, dividiert wird. Bei zwischen Grundherren und Bauern geteiltem Eigentum, bei dem Zeitpacht selten ist und die Bodenrente grundsätzlich zwischen beiden Parteien aufgeteilt wird, ist 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1475 1480 1485 1490 1495 1500 1505 1510 1515 1520 1525 1530 1535 1540 1545 1550 1555 1560 Augsburg Frankfurt Danzig Hamburg Rostock Straßburg Würzburg gesamt <?page no="71"?> U LRICH P FIS T ER 70 die Höhe der realen Bodenrente nicht einfach zu bestimmen; Einzelforschungen zur Zeit des Bauernkriegs sind deshalb bislang rar. 8 In Zeiträumen nach den 1520er Jahren stiegen reale Pachtzinsen gemäß zwei Fallstudien zu Norddeutschland (Eiderstedt in Südwestschleswig, Landbesitz der Marienkirche in Stralsund) deutlich an. 9 Für die Zeit davor kennen wir höchstens die Entwicklung bäuerlicher Abgaben; wenn diese stiegen, können wir nicht unterscheiden, ob dies auf eine Zunahme der Bodenrente oder auf einen Anstieg des Anteils des Grundherrn am Ertrag (d. h. der Feudalquote) zurückging. Unter den Bauernhöfen des Klosters Weingarten, deren Besitzgröße 1458-1531 mit ziemlicher Sicherheit stabil blieb, erfuhr in diesem Zeitraum nur eine kleine Minderheit eine Senkung der Abgaben. Dagegen stieg die Abgabenlast von 45 Prozent der Höfe, in mehr als der Hälfte der Fälle um über 20 Prozent. Zudem hatten neu geschaffene kleine Betriebe von Haushalten der Unterschicht eine deutlich höhere Abgabenlast zu tragen als ältere Höfe. Dieser Befund lässt sich allerdings nicht generalisieren: In der Grundherrschaft des Klosters Michelsberg in Bamberg waren kleinere Höfe schwächer belastet als große Einheiten. Wenn in den Jahrzehnten um 1500 die Bodenrente stieg, so schlug sich dies möglicherweise weniger in einem Anstieg grundherrlicher Abgaben nieder als in einer Steigerung der Abgaben, die Leibeigene beim Todfall beziehungsweise allgemein bei Besitzwechseln zu leisten hatten. 10 Akzeptiert man den vermuteten Anstieg der realen Bodenrente als Merkmal der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands im 16. Jahrhundert, so bedeutet dies zweierlei: Erstens dämpfte dieser Vorgang die durch den Fall des Reallohns bewirkte Einkommensminderung. Allerdings erfolgte bestenfalls eine partielle Kompensation, da der Beitrag des Erlöses aus der Landnutzung ziemlich sicher einen sehr 8 Vgl. F. I RSIGLER , Zu den wirtschaftlichen Ursachen (Anm. 1), S. 102f. Auch in Situationen mit vorwiegender Zeitpacht konnte entgegen der theoretischen Erwartung je nach institutionellem Kontext ein Teil der Bodenrente beim Pächter verbleiben; anhand von Material aus dem frühen 19. Jahrhundert vgl. J OHANNES B RACHT / U LRICH P FISTER , Landpacht, Marktgesellschaft und Agrarentwicklung. Fünf Adelsgüter zwischen Rhein und Weser, 16.-19. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 247), Stuttgart 2020, S. 212-222. 9 W ILHELM A BEL , Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg 1978, S. 132; J. B RACHT / U. P FISTER , Landpacht (Anm. 8), S. 249. 10 D. S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft (Anm. 4), S. 27-35, 64; R. E NDRES , Ursachen (Anm. 1), S. 227; P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 44, 48f., 55, 111, 113. Vgl. nochmals W. A BEL , Agrarkrisen (Anm. 9), S. 132: Im Heiliggeistspital zu Biberach kompensierte - allerdings erst ab etwa 1530 - eine massive Steigerung der Besitzwechselabgaben den Rückgang des realen Wertes von Geldzinsen. <?page no="72"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 71 viel kleineren Anteil am Gesamteinkommen ausmachte als der Erlös aus Arbeit. 11 Zudem ist zu beachten, dass der Zugang zu Land zwischen verschiedenen sozialen Schichten ungleich verteilt war. Ein erheblicher Teil des Reichtums der Elite war in Form von Land angelegt, während besonders auf dem Land geringer oder fehlender Bodenbesitz die Zugehörigkeit zur Unterschicht bedeutete. Dies impliziert zweitens eine Zunahme der Einkommensungleichheit: Haushalte der Oberschicht, für die Arbeitseinkommen irrelevant war und die zu einem guten Teil von Einkünften aus Vermögen lebten, profitierten vom Anstieg der realen Bodenrente, während Haushalte, die sich vor allem auf das Einkommen der eigenen Arbeit stützten, eine Einkommenseinbuße hinnehmen mussten. Der Bauernkrieg fand somit vermutlich in einer Zeit steigender wirtschaftlicher Ungleichheit statt. 12 Wie erwähnt, stützt sich diese Aussage allerdings auf äußerst schwache Evidenz; ihre Prüfung und Erhärtung stellt ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Befund 3: Die Gesamtbevölkerung wuchs; die städtische Bevölkerung für sich genommen expandierte etwas langsamer, so dass die Urbanisierungsrate fiel. Für das Wachstum der Gesamtbevölkerung existieren seit Längerem für den Zeitraum 1520-1600 Schätzungen in Zehnjahresintervallen. Demnach vermehrte sich die Bevölkerung im eingangs als Untersuchungsraum bezeichneten Gebiet von 8,3 auf 12,8 Millionen, was einer jährlichen Steigerung um knapp 0,5 Prozent entspricht. Eine vorläufige Schätzung für die Zeit zurück bis 1500 legt ein etwas langsameres Wachstum im Zeitraum 1500-1530 von knapp 0,4 Prozent pro Jahr nahe. 13 Wann nach dem starken Bevölkerungsrückgang im Gefolge von Agrarkrise und Pest im 14. Jahrhundert ein erneutes Bevölkerungswachstum einsetzte, kann derzeit nicht bestimmt werden. Die Zahl der Menschen, die in Städten mit mindestens 5.000 Einwohnern lebten, expandierte deutlich langsamer als die Gesamtbevölkerung, nämlich mit einer Jahresrate von gut 0,2 Prozent (exponentieller Trend jährlicher Schätzwerte, 1500- 11 Für England um 1520 gibt G REGORY C LARK , The Macroeconomic Aggregates for England, 1209-1869, in: Research in Economic History 27 (2010), S. 51-140, hier 81, Faktoranteile von 0,65 für Arbeit und 0,17 für Land an. Bezüglich der faktoriellen Einkommensverteilung in Deutschland im 16. Jahrhundert kann nur spekuliert werden; vgl. U. P FISTER , Economic growth (Anm. 2), Online-Anhang S2, S. 3. 12 U LRICH P FISTER , Economic inequality in Germany, c. 1500-1800, in: G IAMPIERO N IGRO (Hg.), Disuguaglianza economica nelle società preindustriali: cause ed effetti - Economic inequality in pre-industrial societies: causes and effects (Datini Studies in Economic History 1), Firenze 2020, S. 301-324, hier 302, 304, 308-310; G UIDO A LFANI / V ICTORIA G IEROK / F ELIX S CHAFF , Economic inequality in pre-industrial Germany, ca. 1300-1850, in: Journal of Economic History 82 (2022), S. 87-125, hier 107. 13 U LRICH P FISTER / G EORG F ERTIG , The population history of Germany. Research strategy and preliminary results, MPIDR Working Paper 2010-035, S. 5f., 11f. <?page no="73"?> U LRICH P FIS T ER 72 1560). Die im Vergleich zu Nordwesteuropa und Italien ohnehin schon niedrige Urbanisierungsrate nahm dadurch ab, und zwar von 10 Prozent oder etwas weniger um 1500 auf etwa 8 Prozent um 1560. 14 Theoretische Überlegungen, aber auch ein Ländervergleich für die Zeit um 1900 legen nahe, dass die Urbanisierungsrate und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf miteinander korreliert sind. Aus diesem Grund wird die Urbanisierungsrate verbreitet als Indikator materieller Wohlfahrt verwendet. 15 Ihr Rückgang bestärkt den anhand der Reallohnentwicklung gewonnenen Befund, dass die materielle Wohlfahrt in Deutschland während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gesunken ist. Wie das Folgende zeigt, impliziert der Rückgang der Urbanisierungsrate allerdings keineswegs auch einen Niedergang nicht-landwirtschaftlicher Aktivitäten, insbesondere in den Bereichen von Handel und verarbeitendem Gewerbe. Befund 4: Knappheitsrelationen, ausgedrückt in relativen Preisen zwischen gewerblichen Erzeugnissen und landsowie forstwirtschaftlichen Produkten, verschoben sich zum Nachteil von Manufakturgütern. Grafik 3 zeigt den relativen Preis dieser beiden Gruppen von Produkten. Für den relativen Preis von Textilien zu Roggen sagt er aus, wie viele Liter Getreide sich durch den Verkauf von einem Meter Stoff eintauschen ließen, indiziert auf den Mittelwert der fünf Jahre 1498-1502. Zusätzlich zum relativen Preis von Textilien zu Roggen enthält Grafik 3 auch Angaben auf der Basis eines Preisindexes für gewerbliche Güter, der neben Preisen von Textilien, die ein Gewicht von 0,5 erhalten, auch solche von Eisenwaren, Baumaterialien und Papier berücksichtigt. Der Preisindex für gewerbliche Güter liegt erst für die Zeit ab der Fünfjahresperiode 1498-1502 vor, aber der relative Preis zu Roggen verhält sich in der Folgezeit sehr ähnlich wie der auf der Grundlage des Teilindexes für Textilien berechnete relative Preis. Die Entwicklung des Preises von Textilien relativ zum Roggenpreis kann somit für die Entwicklung relativer Preise von gewerblichen Produkten zu landwirtschaftlichen Erzeugnissen insgesamt stehen. 14 U LRICH P FISTER , Urban population in Germany, 1500-1850, CQE Working paper 90/ 2020, S. 11, 16. Für die Zwecke dieses Aufsatzes wurden die Angaben auf der Basis eines seither revidierten Datensatzes neu berechnet. 15 D ARON A CEMOGLU / S IMON J OHNSON / J AMES A. R OBINSON , Reversal of fortune. Geography and institutions in the making of the modern world income distribution, in: Quarterly Journal of Economics 117 (2002), S. 1231-1294, hier 1238-1242. <?page no="74"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 73 Grafik 3: Der Preis von Textilien, gewerblichen Erzeugnissen insgesamt und Brennholz relativ zum Preis von Roggen, 1475-1560 (zentrierte fünfjährige Mittelwerte; Index, 1498-1502 = 100) Quelle: U. P FISTER , Economic growth (Anm. 2), S. 1084 und Online-Anhang S1 sowie Datenanhang. Langfristig fiel der relative Preis von Textilien zu Roggen deutlich. Der Trend lässt sich bis ins dritte Viertel des 15. Jahrhunderts zurückverfolgen, und zu einem gewissen vorläufigen Ende kam er erst um 1700. In der in Grafik 3 wiedergegebenen Zeitspanne von 1475 bis 1560 fiel er mit einer Jahresrate von -0,2% (exponentieller Trend). Der säkulare Fall des relativen Preises von Manufakturgütern zu Getreidepreisen ist ein gesamteuropäisches Phänomen; beispielsweise ist er auch für England und Spanien dokumentiert worden. 16 Allerdings schwanken die konkreten Werte kurzfristig gelegentlich erheblich um den Trend, ohne dass ein systematischer Grund ersichtlich wäre; in Grafik 3 trifft dies auf den hohen Wert in der Periode 1508-1512 zu. Auf den ersten Blick scheint der Rückgang des relativen Preises von Manufakturgütern zum Getreidepreis in der Zusammenschau mit dem negativen Wirtschaftswachstum und der Verringerung der Urbanisierungsrate ein stimmiges Bild 16 C ARLOS Á LVAREZ -N OGAL / L EANDRO P RADOS DE LA E SCOSURA , The rise and fall of Spain (1270-1850), in: Economic History Review 66 (2013), S. 1-37, hier 15; S TEPHEN B ROADBERRY u. a., British economic growth, 1270-1870, Cambridge 2015, S. 193. 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 1475 1480 1485 1490 1495 1500 1505 1510 1515 1520 1525 1530 1535 1540 1545 1550 1555 1560 Textilien / Roggen Gewerbliche Erzeugnisse / Roggen Brennholz / Roggen <?page no="75"?> U LRICH P FIS T ER 74 abzugeben: Grundnahrungsmittel werden einkommensunelastisch, Manufakturgüter einkommenselastisch nachgefragt. Geht das Realeinkommen zurück, so sinkt die Nachfrage nach Manufakturgütern stärker als diejenige nach Grundnahrungsmitteln, so dass sich der relative Preis zugunsten von letzteren verschieben muss. Soweit in historischen Zeiten Manufakturgüter vor allem in Städten hergestellt wurden, implizierte der Rückgang der Nachfrage nach diesen Produkten eine Verminderung der Beschäftigungsmöglichkeiten in Städten, so dass die Urbanisierungsrate sinken muss. Diese Mechanismen dürften zweifellos im Spiel gewesen sein, doch machen sie nicht die gesamte Geschichte aus. Dies erweist sich zum einen aus der Entwicklung der Arbeitsproduktivität im verarbeitenden Sektor. Letztere lässt sich durch die Division des Tagelohns durch den Preis von Textilien erfassen; das Ergebnis stellt einen groben Indikator dafür dar, wie viele Meter Stoff sich an einem Tag Arbeit erzeugen ließen. Zwischen 1498-1502 und 1553-1562 stieg dieser Quotient um ein Viertel, was eine steigende Arbeitsproduktivität anzeigt. 17 Der Rückgang des relativen Preises von Manufakturgütern ging somit mindestens zum Teil auch auf eine Angebotsausweitung zurück. Verstreute Hinweise legen nahe, dass exportorientierte Gewerbe im Allgemeinen mindestens bis etwa 1560 expandierten. Da die gewerbliche Technologie in der fraglichen Zeit relativ statisch war, dürften Effizienzgewinne vor allem in der Organisation und der Vermarktung angefallen sein. Konkret übernahmen Kaufleute seit dem ausgehenden Mittelalter im Rahmen sog. Verlagssysteme zunehmend die Organisation der Produktion von Manufakturgütern, indem sie Gewerbetreibende auf Bestellung arbeiten ließen und ihnen Rohwaren und Halbfabrikate vorschossen. Produktion und Vertrieb rückten damit näher zusammen, so dass Transaktionskosten in der Herstellung und Vermarktung von Manufakturgütern sanken. Die komplexere Organisation der für überregionale Märkte produzierenden Gewerbe erleichterte auch den Einbezug ländlicher Arbeitskräfte, so dass sich die Urbanisierungsrate keineswegs im Gleichschritt mit der Dynamik der nichtlandwirtschaftlichen Sektoren zu entwickeln brauchte. Vielmehr war die Entwicklung des Gewerbesektors im 15. und 16. Jahrhundert Teil einer breit voranschreitenden Kommerzialisierung ländlicher Regionen. 18 17 Die Nominallohnreihe bezieht sich auf ungelernte Bauarbeiter in neun Städten (selbe Reihe wie bei der Konstruktion des Reallohns für Grafik 2); U. P FISTER , Timing and pattern (Anm. 6), S. 714, Online-Anhang S3. Preis von Textilien aus D ERS ., Economic growth (Anm. 2), Online-Anhang S1 und Datenanhang. 18 R OLF K IESSLING , Zur Kommerzialisierung ländlicher Regionen im 15./ 16. Jahrhundert. Das Beispiel Oberschwaben, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59 (2011), S. 14-36; allgemein vgl. W OLFGANG VON S TROMER , Gewerbereviere und Protoindustrien in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: H ANS P OHL (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 78), Stuttgart 1986, <?page no="76"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 75 Zum anderen wurde der Rückgang der relativen Preise von Manufakturgütern zum Getreidepreis durch eine träge Entwicklung des Angebots an Grundnahrungsmitteln getrieben. Die eben erwähnte Kommerzialisierung ländlicher Regionen erfasste zwar auch den Agrarsektor, sei es durch die Nachfrage nach textilen Rohstoffen wie Flachs und Wolle, nach Gewerbepflanzen wie Färberwaid und Hopfen oder nach Fuhrdiensten für den Transport schwerer Güter wie Erzen und Eisenwaren. Die Produktion von Getreide nahm aber nur sehr langsam zu. Dies wird durch Angaben zu Zehnteinkünften nahegelegt, die als Indikator für die Produktion des Ackerbaus dienen können. Fünf Reihen zu Roggen- und Haferzehnten aus unterschiedlichen Orten in Mainfranken weisen im 16. Jahrhundert keine eindeutige Entwicklungsrichtung auf. Zehnteingänge aus neun Dörfern der Klosterherrschaft Ottobeuren in Oberschwaben nahmen 1500-1660 jährlich um 0,2 bis 0,3 Prozent zu, diejenigen aus acht Zehntbezirken um Nürnberg 1500-1560 um 0,4 Prozent, was in etwa einem zum Bevölkerungswachstum vergleichbaren Expansionsrhythmus entspricht (exponentielle Trends). Allerdings wird das letztere Ergebnis durch niedrige Werte in den 1510er Jahren getrieben. Nimmt man die 1490er Jahre hinzu, so ermäßigt sich die jährliche Wachstumsrate auf 0,1 Prozent; lässt man umgekehrt die betrachtete Periode erst 1510 beginnen, so ergibt sich ein Trendwachstum von einem Viertel Prozent. 19 Das schwache Wachstum des Bodenertrags ließ sich offenbar nur begrenzt durch eine Ausweitung der Nutzfläche kompensieren. Nach einer deutlichen Vermehrung im 15. Jahrhundert expandierte das Ackerland im Jahrhundert nach etwa 1520 kaum noch. 20 Insgesamt wuchs somit die Nahrungsmittelproduktion wahrscheinlich langsamer als die Bevölkerung; die relativ träge Entwicklung des Ackerbaus dürfte eine wichtige unmittelbare Ursache für den Rückgang der materiellen Wohlfahrt im 16. Jahrhundert dargestellt haben. S. 39-111; R UDOLF H OLBACH , Frühformen von Verlag und Großbetrieb in der gewerblichen Produktion (13.-16. Jahrhundert) (VSWG, Beiheft 110), Stuttgart 1994. Mit Blick auf die Ursachen des Bauernkriegs betonen diesen Vorgang F. I RSIGLER , Zu den wirtschaftlichen Ursachen (Anm. 1), S. 108f.; T. S COTT , The German Peasants’ War (Anm. 1), S. 274-284. 19 R ÜDIGER G LASER , Klimarekonstruktion für Mainfranken, Bauland und Odenwald anhand direkter und indirekter Witterungsdaten seit 1500 (Paläoklimaforschung 5), Stuttgart 1991, S. 146-158; W ALTER B AUERNFEIND , Materielle Grundstrukturen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Preisentwicklung und Agrarkonjunktur am Nürnberger Getreidemarkt von 1339 bis 1670 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 50), Nürnberg 1993, S. 91-97, 489-492; G OVIND P. S REENIVASAN , The peasants of Ottobeuren, 1487- 1726. A rural society in early modern Europe, Cambridge 2004, S. 344. 20 Bodenkundliche Untersuchungen von H ANS R UDOLF B ORK u. a., Landschaftsentwicklung in Mitteleuropa. Wirkungen des Menschen auf Landschaften, Gotha 1998, S. 161, legen zwischen den 1420er und den 1520er Jahren eine Expansion der Ackerfläche in Deutschland um gut ein Drittel, zwischen den 1520er Jahren und 1608-1617 noch um 8 Prozent nahe. <?page no="77"?> U LRICH P FIS T ER 76 Befund 5: Die Geldwirtschaft befand sich zwischen einer Phase instabiler Münzverhältnisse und dem Einsetzen von Inflation. Vor dem 19. Jahrhundert gründete die Geldwirtschaft auf Edelmetallwährungen in Form von Münzen. In Europa basierten sie grundsätzlich sowohl auf Gold als auch auf Silber. Die Erschließung zentraleuropäischer Silbervorkommen in der Mitte des 15. Jahrhunderts und der Import von Silber aus Lateinamerika ab dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts leisteten jedoch dem Übergang zu reinen Silberwährungen Vorschub, nicht zuletzt in deutschen Territorien. 21 Hier war das Geldwesen dezentral geregelt; zahlreiche Reichsstände und Städte verfügten über das Privileg, Münzen zu prägen. Dadurch dass der intrinsische Wert, d. h. der Edelmetallgehalt einer Münze, geringer als der Nominalwert sein durfte, stellte das Münzprivileg eine potentielle Einnahmequelle für ihre Inhaber dar. Die Sicherung eines konstanten intrinsischen Werts von Münzen stellte im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert eine erhebliche Herausforderung dar. Da viele Nutzer von Münzen, insbesondere die breite Bevölkerung außerhalb der Elite von Behördenvertretern und Kaufleuten, den Edelmetallgehalt und damit die Qualität von Münzen nicht ohne Weiteres feststellen konnten, hatten Münzherren einen Anreiz, ihre Einnahmen aus dem Münzprivileg dadurch zu steigern, dass sie Münzen ausprägten, deren Silbergehalt den in Ordnungen festgesetzten Wert unterschritt. Wurde die Minderwertigkeit einer Münze dann allmählich bekannt, wurde sie verrufen, d. h. abgewertet, was den Besitzern einen erheblichen Schaden verursachte und dementsprechend zu Beschwerden, wenn nicht Unruhen Anlass gab. Münzabwertung war im Spätmittelalter und zum Teil noch im 16. Jahrhundert ein säkularer Vorgang: Neun europäische Silberwährungen werteten zwischen 1310 und 1560 rund 71 Prozent ab. 22 Grafik 4 zeigt den Vorgang für einen kürzeren Zeitraum beispielhaft anhand des Silbergehalts des Pfennigs in drei deutschen Städten, wobei nicht zuletzt auch deutliche räumliche Unterschiede bezüglich der Instabilität von Münzverhältnissen und des Zeitverlaufs der langfristigen Abwertung deutlich werden. 21 J OHN H. M UNRO , The monetary origins of the ›Price Revolution‹. South German silver mining, merchant banking, and Venetian commerce, 1470-1540, in: D ENNIS O. F LYNN A RTURO G IRÁLDEZ / R ICHARD VON G LAHN (Hg.), Global connections and monetary history, 1470-1800, Aldershot 2003, S. 1-34. 22 Hierzu und zum Folgenden siehe vor allem O LIVER V OLCKART , Regeln, Willkür und der gute Ruf: Geldpolitik und Finanzmarkteffizienz in Deutschland, 14. bis 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 50 (2009), Heft 2, S. 101-129. <?page no="78"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 77 Grafik 4: Intrinsischer Wert des Pfennigs in drei Städten, 1460-1560 (Gramm Silber pro Pfennig) Quellen: Augsburg: M ORITZ J. E LSAS , Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Leiden 1936, S. 122; Frankfurt a. M. und Xanten: R AINER M ETZ , Geld, Währung und Preisentwicklung. Der Niederrheinraum im europäischen Vergleich, 1350-1800 (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 14), Frankfurt/ M. 1990, S. 416- 419, 426-432. Grafik 4 legt allerdings auch nahe, dass sich das Tempo der Münzverschlechterung am Beginn des 16. Jahrhunderts verlangsamte, die Instabilität der Geldverhältnisse sich tendenziell legte. Dies hängt damit zusammen, dass es für Münzherren sehr wohl auch Anreize gab, sich an selbstgegebene Regeln zu halten oder sich fremder Aufsicht zu unterwerfen und damit für stabile Münzverhältnisse zu sorgen. Die Stärke dieser Anreize nahm zudem über die Zeit hinweg zu. Konkret konnten sich zwei Vorgänge zum Nachteil von Münzherren, die durch Münzverschlechterung ihren aus Prägungen erzielten Gewinn zu steigern suchten, auswirken. Erstens konnten Proteste des von Abwertungen betroffenen Publikums die Legitimität eines Herrschaftsträgers schwächen. Zweitens und wichtiger noch konnte die schlechte Qualität einer Münze dazu führen, dass nicht zuletzt gut informierte Geldnutzer - vor allem Kaufleute - sie mieden und besseren Münzsorten den Vorzug gaben. Dies folgte daraus, dass anders als seit dem 19. Jahrhundert Geldbehörden kein Monopol 0,00 0,02 0,04 0,06 0,08 0,10 0,12 0,14 0,16 0,18 0,20 1460 1470 1480 1490 1500 1510 1520 1530 1540 1550 1560 Augsburg Frankfurt a. M. Xanten <?page no="79"?> U LRICH P FIS T ER 78 bezüglich der verwendeten Zahlungsmittel ausübten, sondern Nutzer von Geld zwischen unterschiedlichen Münzen wählen konnten. Die Konkurrenz zwischen Geld unterschiedlicher Qualität hatte somit eine disziplinierende Wirkung auf Münzherren. Soweit Handeltreibende an geringen Transaktionskosten interessiert waren, wählten sie qualitativ hochwertige Münzen, und die Zunahme des Handels zusammen mit der Integration von Geld- und Kapitalmärkten trug damit zur Stabilisierung der Münzverhältnisse bei. Der markante Rückgang der Streuung des Austauschkurses von Silber zu Gold zwischen zahlreichen über das Reich verstreuten Städten vom ausgehenden 14. zum frühen 16. Jahrhundert zeigt in der Tat eine Integration von Geldmärkten an. Für einen etwas späteren Zeitraum von den 1490er bis zu den 1540er Jahren lässt sich anhand der in Rentenverkäufen vereinbarten Zinssätze auch eine fortschreitende Integration des Kapitalmarkts beobachten. 23 Teilweise dürfte diese Entwicklung mit der oben erwähnten Kommerzialisierung der Realwirtschaft in Zusammenhang gestanden haben. Marktintegration schuf einen Anreiz, durch Politikkoordination unter mehreren Obrigkeiten für stabile Münzverhältnisse zu sorgen, was schon im 15. Jahrhundert zur Bildung regionaler Münzvereine führte. Dies trug in der Folge zu einer weiteren Vertiefung der Integration der Geldmärkte unter den Mitgliedern dieser Verbünde bei. 24 Es stellte sich somit eine zirkuläre Dynamik zwischen einem Trend zur Marktintegration und zunehmend stabileren, über mehrere Herrschaftsverbände hinweg koordinierten Münzverhältnissen ein. Seit der Reichsreform von 1495 mündete dies in Bestrebungen zur reichsweiten Koordination und Überwachung des Münzwesens. Sie schritten allerdings aufgrund der Sonderinteressen der großen Münzherren, die Zugang zur reichlichen Silbervorkommen hatten - Habsburg und Sachsen - nur langsam voran und waren zur Zeit des Bauernkriegs noch nicht weit gediehen. Zwar wurde in Esslingen 1524 eine Reichsmünzordnung verabschiedet, aber ihr Vollzug misslang. Erst mit der Reichsmünzordnung von 1566 kam diese Entwicklung zu einem einigermaßen erfolgreichen Abschluss. 25 23 D AVID C HILOSI / O LIVER V OLCKART , Money, states, and empire. Financial integration and institutional change in Central Europe, 1400-1520, in: Journal of Economic History 71 (2011), S. 762-791, hier 769; D AVID C HILOSI / M AX -S TEPHAN S CHULZE / O LIVER V OL - CKART , Benefits of Empire? Capital market integration north and south of the Alps, 1350- 1800, in: Journal of Economic History 78 (2018), S. 637-672, hier 651. 24 L ARS B OERNER / O LIVER V OLCKART , Currency unions, optimal currency areas and the integration of financial markets. Central Europe from the fourteenth to the sixteenth centuries, in: Explorations in Economic History 48 (2011), S. 53-65. 25 T HOMAS C HRISTMANN , Die Reichsmünzordnungen und deren Umsetzung durch die Reichskreise, in: R EINER C UNZ (Hg.), Währungsunionen. Beiträge zur Geschichte überregionaler Münz- und Geldpolitik, Hamburg 2002, S. 197-219. <?page no="80"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 79 Beim derzeitigen Forschungsstand lässt sich nicht bestimmen, ob und wie die Instabilität der Münzverhältnisse beziehungsweise ihre zunehmende Stabilisierung mit den in den früheren Passagen dieses Abschnitts erörterten realwirtschaftlichen Sachverhalten zusammenhingen. Es ist aber offenkundig, dass die Inzidenz von Münzverschlechterungen, mit anderen Worten die Aufteilung des aus Abwertungen entstehenden Schadens für die Geldnutzer, Ausgangspunkt von Ressourcenkonflikten sein konnte. 26 Abschnitt 3 wird darauf zurückkommen. Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts war die europäische Geldwirtschaft vor allem durch Silberpreisinflation gekennzeichnet. Dies meint, dass das Niveau der hinsichtlich ihres intrinsischen Werts stabilen Silbermünzen (oder in Gramm Silber) ausgedrückten Preise von Konsumgütern langfristig anstieg. Konkret stiegen Konsumgüterpreise in europäischen Städten bis zum frühen 17. Jahrhundert, verglichen mit dem Niveau hundert Jahre davor, auf das Doppelte, zum Teil gar auf das Dreifache an. In deutschen Städten stiegen Konsumgüterpreise von 1500-1504 bis 1598-1602 um 123 Prozent; die jährliche Inflationsrate betrug 1,0 Prozent, was für Verhältnisse vor dem 20. Jahrhundert außergewöhnlich hoch ist. 27 Das Phänomen wird als Preisrevolution bezeichnet und mit dem starken Zustrom von Silber aus Lateinamerika erklärt, das ab der Mitte des 16. Jahrhunderts Zentraleuropa als Hauptquelle der Silberversorgung Europas ablöste. 28 Allerdings stellten sich inflationäre Tendenzen vielerorts erst im Verlauf des 16. Jahrhunderts ein. Konkret blieben in deutschen Städten die Konsumgüterpreise in den drei Jahrzehnten vor der Versorgungskrise um 1530 ziemlich stabil; für Rostock und Straßburg lässt sich diese Aussage auch für den Zeitraum zurück bis in die 1470er Jahre treffen. 29 Die Stabilität deutscher Konsumgüterpreise im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhundert impliziert, dass die Silberzuflüsse aus den zentraleuropäischen Fördergebieten in die deutschen Länder während dieser Zeit in etwa mit der Ausweitung der Geldnachfrage zunahmen und keine inflationären Impulse setzten. Angesichts weitgehender 26 Mit Blick auf den Bauernkrieg F. I RSIGLER , Zu den wirtschaftlichen Ursachen (Anm. 1), S. 114f.; allgemein P HILIPP R. R ÖSSNER , Deflation, Devaluation, Rebellion. Geld im Zeitalter der Reformation (VSWG, Beiheft 219), Stuttgart 2012. 27 R OBERT C. A LLEN , The great divergence in European wages and prices from the Middle Ages to the First World War, in: Explorations in Economic History 38 (2001), S. 411-447, hier 426; U. P FISTER , Timing and pattern (Anm. 6), S. 709 und Online-Anhang S3. 28 Allgemein zur Preisrevolution siehe z. B. D ENNIS O. F LYNN , World silver and monetary history in the 16th and 17th centuries, Aldershot 1996; zur Entwicklung einzelner Schwerpunkte der Silberförderung im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhundert vgl. nochmals J. H. M UNRO , Monetary origins (Anm. 21), S. 4, 8. 29 U. P FISTER , Timing and pattern (Anm. 6), S. 709 und Online-Anhänge S3 und S4 (Rostock); zu Straßburg vgl. den Datensatz von R. C. A LLEN , Great divergence (Anm. 27) auf Harvard Dataverse, V1 https: / / doi.org/ 10.7910/ DVN/ TMZGSF. <?page no="81"?> U LRICH P FIS T ER 80 Preisstabilität im zeitlichen Vorfeld des Bauernkriegs wird der Preisrevolution im Folgenden keine weitere Beachtung geschenkt. 2. Die deutsche Wirtschaft des frühen 16. Jahrhunderts in wachstumstheoretischer Sicht Dieser Abschnitt systematisiert die oben vorgeführten Befunde zur Realwirtschaft, weniger diejenigen zur Geldwirtschaft, unter einer wachstumstheoretischen Perspektive. Einerseits lässt sich damit zeigen, wie die einzelnen angesprochenen Entwicklungen miteinander zusammenhängen. Insbesondere wird sich erweisen, dass die beiden eingangs kurz angesprochenen Forschungspositionen, die den Bauernkrieg in wirtschaftlicher Hinsicht entweder durch das Bevölkerungswachstum und die dadurch verursachte Verschlechterung des Lebensstandards der Bevölkerung oder durch die Entwicklung der kommerziellen Wirtschaft verursacht sehen, keine Gegensätze darstellen, sondern ineinandergreifen. Andererseits zielt das Folgende auf eine Eingrenzung der Faktoren, die ab etwa 1510 zu einem Rückgang der wirtschaftlichen Leistung pro Kopf geführt haben. Konkret stützt sich die Darstellung in einem ersten Schritt auf ein malthusianisches Modell vorindustrieller Wirtschaften und ergänzt dieses später mit Bausteinen aus der sog. Unified growth theory. ›Malthusianisch‹ meint eine wirtschaftliche Situation, in der wichtige Größen, darunter besonders die materielle Wohlfahrt einzelner Menschen, in erster Linie von der Bevölkerungsgröße einer Region oder eines Landes abhängen. Formal basiert ein malthusianisches Modell in der von der gegenwärtigen Forschung typischerweise vertretenen Form auf einer aggregierten Produktionsfunktion mit zwei Produktionsfaktoren, nämlich Arbeit und einer fixen, also über die Zeit hinweg in der Menge unveränderlichen Ressource, zum Beispiel Land. 30 Der Umfang der Produktion wird zusätzlich durch das Niveau der Technologie bestimmt, wobei der Begriff der Technologie breit verstanden wird. Letztlich umfasst Technologie im gegenwärtigen Kontext alle Ressourcen, die Arbeitskräfte zusätzlich zur fixen Ressource (Land) einsetzen. Neben der Produktionstechnik im engeren Sinn umfasst sie insbesondere die Organisation der Produktion (vgl. die obigen Ausführungen zur Entwicklung des Verlagssystems in Exportgewerben) und natürliche Ressourcen wie Bodenschätze und Bodenfruchtbarkeit, die neben der Beschaffenheit des Untergrunds durch Klima und naturräumliche Lage beeinflusst wird. 30 Hierzu und zum Folgenden siehe die Ausführungen unten im Anhang. Eine einführende Darstellung bei G REGORY C LARK , A farewell to alms. A brief economic history of the world, Princeton 2007, Kap. 2. <?page no="82"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 81 Die beiden genannten Prämissen werden mit einer Produktionsfunktion modelliert, für die ihrerseits zwei Standardannahmen getroffen werden. Die erste beinhaltet positive, aber fallende Grenzerträge. Dies meint, dass der Einsatz einer zusätzlichen Einheit eines Produktionsfaktors, also beispielsweise einer Arbeitsstunde, zwar einen positiven Ertrag abwirft, dieser aber geringer ausfällt als derjenige der bereits bisher aufgewendeten Arbeit. Die zweite Annahme beinhaltet konstante Skalenerträge. Sie bedeutet, dass bei der gleichzeitigen Vermehrung der Einsatzmengen aller Produktionsfaktoren um einen bestimmten Faktor (z. B. 50 Prozent) die Menge der damit erzeugten Güter um denselben Faktor (im Beispiel also um 50 Prozent) steigt. Aus einem malthusianischen Modell vormoderner Wirtschaften folgen drei Aussagen zu den Folgen von Bevölkerungswachstum. Erstens ist zu erwarten, dass sich bei gegebener Technologie die Einkommen von Produktionsfaktoren zugunsten des Faktors Land und zulasten des Faktors Arbeit verschieben. Das Verhältnis zwischen der Bodenrente (z. B. ausgedrückt in Gramm Silber pro Hektar) zum Arbeitslohn (z. B. ausgedrückt in Gramm Silber pro Tag) müsste somit parallel zum Anwachsen der Bevölkerung (Befund 3) zunehmen. Dies folgt bereits aus der Modellannahme, dass Land einen fixen Umfang aufweist; wächst die Bevölkerung, dann steigt auch das Arbeitsangebot, und Arbeit wird relativ zu Land reichlicher verfügbar. Die Knappheitsrelation zwischen den beiden Produktionsfaktoren, die durch das Verhältnis zwischen Bodenrente und Arbeitslohn angezeigt wird, verschiebt sich damit von Arbeit zu Land. Dass der reale Tagelohn nach dem ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts fiel (Befund 1) und die reale Bodenrente möglicherweise anstieg (Befund 2), ist konsistent mit dieser ersten Aussage. 31 Wenn in Folge des Bevölkerungswachstums die Mietkosten für die Nutzung von Land relativ zu denjenigen für die Nutzung von Arbeit stiegen, so führte dies dazu, dass die Produktionskosten von landintensiven Gütern im Vergleich zu den Produktionskosten von arbeitsintensiven Gütern anstiegen. Die zweite Aussage eines malthusianischen Modells lautet somit, dass bei gegebener Technologie parallel zum Bevölkerungswachstum die Preise von landintensiven Gütern relativ zu den Preisen von arbeitsintensiven Gütern steigen. Wichtige landintensive Güter sind Getreide und Holz; Manufakturgüter sind dagegen arbeitsintensive Güter. Die oben beobachtete Verringerung des Preises von Textilien relativ zum Preis von Roggen lässt sich somit wenigstens im 16. Jahrhundert mit dem Bevölkerungswachstum in Verbindung bringen (Befund 4). Möglicherweise gilt das Argument analog auch für das Verhalten von Holzpreisen. Die Waldwirtschaft ist noch landintensiver bzw. verlangt weniger Arbeitskräfte als der Getreidebau. Der Preis für forstwirtschaftliche Produkte müsste somit relativ 31 Ergänzende Darstellungen des Verhältnisses zwischen der nominalen Landpacht und dem nominalen Tagelohn bei J. B RACHT / U. P FISTER , Landpacht (Anm. 8), S. 249, 277. <?page no="83"?> U LRICH P FIS T ER 82 zum Getreidepreis im Zuge einer Bevölkerungszunahme ansteigen. Die vorhandenen Angaben zeigen für das Verhältnis des Brennholzpreises zum Roggenpreis ca. 1450-1490 einen Rückgang, ca. 1490-1525 eine deutliche Zunahme um 94 Prozent und in den nachfolgenden Jahrzehnten eine Stagnation (vgl. Grafik 3). Dies legt nahe, dass der Bauernkrieg am Ende einer durch Bevölkerungsdruck verursachten Verknappung forstwirtschaftlicher Ressourcen stattfand. Tatsächlich sind aus dem frühen 16. Jahrhundert zahlreiche Klagen über Holzknappheit und Bemühungen um Nutzungsbegrenzungen sowie um die Einrichtung einer rationellen Waldwirtschaft bezeugt. 32 Drittens folgt aus den Annahmen fallender Grenzerträge und konstanter Landressourcen, dass bei gegebener Technologie parallel zum Bevölkerungswachstum der Reallohn fällt, denn bei durch Konkurrenz geprägten Arbeitsmärkten entspricht der Reallohn dem Grenzertrag des Arbeitseinsatzes (vgl. Gleichung (3) im Anhang). Der schon genannte Befund, dass der Reallohn nach dem ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts fiel, entspricht dieser Erwartung (Befund 1). Auch dass Zehnterträge als Indikator des Umfangs der landwirtschaftlichen Produktion eher langsamer wuchsen als die Bevölkerung, so dass sich das Nahrungsmittelangebot verknappte, ist konsistent mit den genannten Annahmen (Befund 4). Da, wie früher erwähnt, der Ertrag der eigenen Arbeit bei weitem die wichtigste Einkommensquelle darstellte, impliziert der Rückgang des Reallohns auch eine Verminderung des realen Pro-Kopf-Einkommens (Befund 1). Allerdings waren nicht alle Haushalte gleichermaßen davon betroffen, denn aus der Verschiebung der Knappheitsrelation zum Nachteil von Arbeit und zugunsten von Land folgte, dass Grundbesitzer vergleichsweise bessergestellt waren, indem sie von einem Anstieg der Bodenrente profitierten (Befund 2). Die Einkommensungleichheit nahm damit zu. Geht man davon aus, dass Haushalte der Oberschicht dank einer vergleichsweise höheren Sparquote besser als Haushalte der Unterschichten dazu in der Lage sind, Vermögen zu akkumulieren, folgt aus dem Bevölkerungswachstum auch eine Zunahme der Vermögensungleichheit. Eine Analyse von Steuerregistern legt in der Tat nahe, dass zwischen der Mitte des 15. Jahrhunderts und etwa 1600 die Vermögensungleichheit sowohl in Städten als auch auf dem Land zunahm. 33 Landwirtschaftliche Nutzflächen waren in ländlichen Gebieten die wichtigste Vermögensklasse. Die Zunahme sowohl der Einkommensals auch der Vermögensungleichheit bedeutet somit, dass die zunehmende Landknappheit negative Folgen für die Unterschicht hatte, während die Oberschicht und große bäuerliche Betriebe davon profitierten. Für erstere wurde es angesichts sinkender Reallöhne 32 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 58-62, 116-121. 33 Vgl. nochmals die oben in Anm. 12 angeführten Belege. <?page no="84"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 83 und (bei zunehmender Bodenrente) vermutlich steigender Bodenpreise 34 zunehmend schwieriger, an Land zu kommen. Dies schlug sich bereits zur Zeit des Bauernkriegs darin nieder, dass in vielen Gebieten umfangreiche Gruppen unterbäuerlicher Haushalte mit Kleinbetrieben existierten, die auf den Zuerwerb mit Tagelohn und gewerblicher Tätigkeit angewiesen waren. 35 Umgekehrt konnten große Betriebe aufgrund der reichlicheren Verfügbarkeit von Arbeitskräften das Land intensiver bewirtschaften und so die Bodenrente steigern. Bisher wurde das Niveau der Technologie als exogen bestimmt angesehen, was für eine malthusianische Analyse gängige Praxis darstellt. In einem zweiten Schritt gilt es nun zu prüfen, welche Kräfte zu technologischem Wandel führen können und wie sich das technologische Niveau in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts tatsächlich veränderte. Hierzu dienen Bausteine der sog. Unified growth theory, die die malthusianische Betrachtung durch eine Modellierung des Zusammenhangs zwischen Bevölkerung, technologischem Fortschritt und der Nachfrage nach Bildung erweitern. 36 Im gegenwärtigen Kontext ist vor allem die ursprünglich von Ester Boserup als Gegenposition zu einer malthusianischen Sicht entwickelte Hypothese einer positiven Beziehung zwischen der Bevölkerungsgröße und der Rate technologischen Fortschritts von Belang. 37 Die zugrundeliegende Idee lautet, dass eine Zunahme der Bevölkerungsdichte die Adaptation arbeitsintensiver Innovationen in der Landwirtschaft erleichtert und auch in anderen Sektoren über kürzere Kommunikationswege die Zirkulation innovativer Konzepte begünstigt. Konkret lassen sich die oben im Zusammenhang mit relativen Preisen (Befund 4) und der Entwicklung der Geldwirtschaft (Befund 5) angeführten Belege für eine Kommerzialisierung der Stadt-Land-Beziehungen und für eine zunehmende Marktintegration, die beide mit Effizienzgewinnen im Dienstleistungssektor verbunden waren, gut als Ausprägungen eines bevölkerungsinduzierten technologischen Fortschritts interpretieren: Sowohl die massenhafte Produktion von Gewerbeerzeugnissen unter Einbezug ländlicher Arbeitskräfte als auch die Verbreitung arbeitsintensiver Sonderkulturen, darunter des Weinbaus und des Anbaus von Flachs, Hanf sowie Waid, setzten Bevölkerungswachstum voraus. Die negative Ent- 34 W. A BEL , Agrarkrisen (Anm. 9), S. 133, 135. 35 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 56, 64, 79, 114, 121-125; F. I RSIGLER , Zu den wirtschaftlichen Ursachen (Anm. 1), S. 104, 108f.; Beispiele bei D. S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft (Anm. 4), S. 59, 66; G. P. S REENIVASAN , Social origins (Anm. 1), S. 34-37; U WE S CHIRMER , Die Ursachen des Bauernkrieges in Thüringen: Eine sozial-, verfassungs- und reformationsgeschichtliche Spurensuche, in: W ERNER G REILING / T HOMAS T. M ÜLLER / U WE S CHIRMER (Hg.), Reformation und Bauernkrieg, Köln 2019, S. 21-70, hier 43. 36 Siehe z. B. O DED G ALOR , Unified growth theory, Princeton 2011, Kap. 5. 37 E STER B OSERUP , Population and technological change. A study of long-term trends, Chicago 1981; O. G ALOR , Unified growth theory (Anm. 36), S. 155. <?page no="85"?> U LRICH P FIS T ER 84 wicklung der Wirtschaftsleistung pro Kopf spätestens ab den 1510er Jahren impliziert allerdings, dass bevölkerungsinduzierter technologischer Fortschritt nicht ausreichte, um ein positives Wirtschaftswachstum zu erzielen. Für vorindustrielle Wirtschaften um 1500 mit im Vergleich zur Epoche ab dem Ende der Frühen Neuzeit niedriger Bevölkerungsdichte ist dies durchaus typisch. 38 Allerdings scheinen zusätzlich weitere Kräfte am Werk gewesen zu sein, die den Effekt bevölkerungsinduzierten technologischen Fortschritts aufhoben und nach etwa 1510 tatsächlich zu einem Absinken des technologischen Niveaus führten. Dies ergibt sich daraus, dass der Reallohn weitaus stärker fiel, als es unter Annahme eines konstanten technologischen Niveaus aufgrund des Bevölkerungswachstums zu erwarten ist. 1510-1560 sank der Reallohn mit einer Jahresrate von -1,0 Prozent (Befund 1), während die Bevölkerung höchstens etwa 0,5 Prozent pro Jahr zunahm (Befund 3); der Reallohn fiel somit rascher als die Bevölkerung wuchs. Bei konstanter Technologie ist der aufgrund des Bevölkerungswachstums zu erwartende Wert viel geringer: In der oben eingeführten Standardversion eines malthusianischen Modells entspricht der Koeffizient der Veränderung des Reallohns auf das Bevölkerungswachstum dem Term (Lohnquote, d. h. Anteil des Faktors Arbeit am Volkseinkommen, -1). 39 Vermutlich lag die Lohnquote im Bereich von 0,5 bis 0,65. 40 Mit einem Bevölkerungswachstum von 0,5 Prozent steht somit bei gegebener Technologie ein Rückgang des Reallohns von höchstens -0,25 (0,5 x -0,5) Prozent zu erwarten. Das Ergebnis impliziert, dass der Rückgang des Reallohns und der materiellen Wohlfahrt nach etwa 1510 nicht allein durch das Bevölkerungswachstum, sondern mehr noch durch einen Rückgang des technologischen Niveaus im breiten Sinn verursacht wurde. Beim derzeitigen Forschungstand lässt sich nur spekulieren, welche Aspekte von Technologie dabei im Spiel waren. Einen ersten Kandidaten bildet Klimawandel in der Form eines Temperaturrückgangs und/ oder eines gehäuften Auftretens von Klimaanomalien, die zusammen zu einer Verschlechterung der Bodenfruchtbarkeit führten. Allerdings traten Klimaanomalien erst im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts gehäuft auf. 41 Ein Bezug zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage um 1510 lässt sich auf den ersten Blick nicht herstellen. Ein zweiter Kandidat ist das Erlahmen der deutschen Montanwirtschaft und der darauf aufbauenden Gewerbe. Nach einem letzten Aufschwung in den frühen 38 Vgl. O. G ALOR , Unified growth theory (Anm. 36), S. 81-86, 92-96 und Schlussteil des Anhangs. 39 Vgl. die Erläuterungen zu Gleichungen (1) und (3) im Anhang. 40 Vgl. Anm. 9. 41 C HRISTIAN P FISTER / R UDOLF B RÁZDIL , Climatic variability in sixteenth-century Europe and its social dimension, a synthesis, in: Climatic Change 43 (1999), S. 5-53; neuere Darstellung bei F REDIK C HARPENTIER L JUNGQVIST u. a., Linking European building activity with plague history, in: Journal of Archaeological Science 98 (2018), S. 81-92, hier 88. <?page no="86"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 85 1510er Jahren folgte die Kupferproduktion deutscher Reviere bis ins frühe 17. Jahrhundert, abgesehen von kurzen Ausschlägen nach oben, einem fallenden Trend. 42 In der Oberpfalz, das im frühen 16. Jahrhundert den wichtigsten Schwerpunkt der eisenschaffenden Industrie bildete, lag die Zahl der Hammerwerke 1545 niedriger als 1470 und nahm im Rest des 16. Jahrhunderts weiter ab. 43 Auch dass der relative Preis von Brennholz zu Roggen nach den 1520er Jahren im Gegensatz zum 18. Jahrhundert stagnierte (Grafik 3), deutet auf eine Schwäche energieintensiver Wirtschaftszweige hin. Es macht somit den Anschein, dass der spätmittelalterliche Aufschwung der deutschen Montanindustrie im beginnenden 16. Jahrhundert zum Erliegen kam, möglicherweise wegen einer Erschöpfung der Erzvorkommen, die mit der verfügbaren Technologie ausgebeutet werden konnten. Die Kanäle, über die dieser Sachverhalt gesamtwirtschaftliche Wirkungen entfaltete, liegen jedoch völlig im Dunkeln. Die Gründe für den wirtschaftlichen Abschwung im frühen 16. Jahrhundert bleiben zu einem guten Teil noch zu erforschen. Als Fazit dieses Abschnitts ergibt sich, dass die sich ab etwa 1510 abzeichnende Verschlechterung der wirtschaftlichen Gesamtsituation zum Teil auf ein Wachstum der Bevölkerung zurückging, das zu einer relativen Verknappung der land- und forstwirtschaftlichen Nutzfläche führte und mit steigender wirtschaftlicher Ungleichheit einherging. Der in dieser Zeit ebenso feststellbare Aufschwung von Handel und nicht-landwirtschaftlichen Gewerben (abgesehen von den Metallgewerben) konnte diese Entwicklung nicht kompensieren. Vielmehr muss in dieser Zeit, abgesehen von der Verknappung der Nutzfläche, eine weitere Verschlechterung der Ressourcenausstattung der Arbeitskräfte eingetreten sein, deren Art im Moment noch unbekannt ist. 3. Wirtschaftliche Ursprünge von Ressourcenkonflikten Aus dem bisher Gesagten ergeben sich drei hauptsächliche Felder für potentielle Ressourcenkonflikte in ländlichen Räumen. Sie beziehen sich auf den Zugang zum relativ knapper werdenden Nutzland, die Verteilung der ansteigenden Bodenrente und die Inzidenz von Münzverschlechterungen. Konflikte um knapper werdendes Nutzland konnten in drei Bereichen entstehen, wobei die ersten beiden Bereiche kollektive Ressourcen betrafen, nämlich Wald und 42 E KKEHARD W ESTERMANN , Zur Silber- und Kupferproduktion Mitteleuropas vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert. Über Bedeutung und Rangfolge der Reviere von Schwaz, Mansfeld und Neusohl, in: Der Anschnitt 38 (1986), S. 186-211, hier 197. 43 H ERMANN K ELLENBENZ , Europäisches Eisen. Produktion - Verarbeitung - Handel (vom Ende des Mittelalters bis 18. Jahrhundert), in: D ERS . (Hg.), Schwerpunkte der Eisengewinnung und Eisenverarbeitung in Europa 1500-1650, Köln 1974, S. 397-452, hier 434. <?page no="87"?> U LRICH P FIS T ER 86 Weideland. Verfügungsrechte einzelner Akteure und Gruppen an diesen Ressourcen waren zunächst meist wenig formalisiert, so dass die relative Verknappung von Land konfliktträchtig war. Angesichts steigender relativer Preise für Holz (Grafik 3) konnte die Forstwirtschaft besonders für Klöster eine willkommene Einkommensquelle darstellen, während die wachsende bäuerliche Bevölkerung auf eine Ausweitung der Entnahmen von Bau- und Brennholz angewiesen war. Adelige Herren pochten auf ihr Jagdvorrecht, während Bauern zur Verminderung von Wildschäden an Ackerfrüchten eine Eindämmung der Wildbestände anstrebten. Die Verschärfung dieser und weiterer Interessengegensätze konnte zu Auseinandersetzungen um Nutzungsrechte und forstliche Schutzmaßnahmen führen. Die Sicherung und Erweiterung von Holzbezügen stellte dementsprechend einen der wichtigsten Inhalte bäuerlicher Forderungskataloge im Bauernkrieg dar. 44 Landwirtschaftliches Nutzland in der Form von Allmenden beziehungsweise Gemeinheiten und in Gestalt von abgeernteten oder brachliegenden Feldern diente vor allem als Weideland. In Schwaben waren in der Zeit des Bauernkriegs diesbezügliche Konflikte relativ selten, 45 aber in Thüringen und Sachsen war der Zugang zu Weideland zwischen dem Spätmittelalter und dem frühen 19. Jahrhundert ein Hauptgegenstand von Konflikten zwischen Bauern, Adel und Landesherrschaft, der sich auch in Forderungen der Bewegung von 1525 niederschlug. In diesen Regionen war die Schafhaltung zur Gewinnung von Wolle für die regionalen Textilgewerbe und für den Export in andere Gebiete Kontinentaleuropas weit verbreitet und bildete deshalb eine wichtige Einkommensquelle von Rittergütern und Domänen. Gleichzeitig hielten Bauern sowohl Schafe als auch Vieh für den Eigenbedarf. Besonders die offene Weide auf Brachland bildete zudem ein potentielles Hindernis für die Intensivierung des Ackerbaus. 46 In Konflikten um Weiderechte spiegelte sich somit das Spannungsfeld zwischen der Entwicklung kommerzieller Gewerbe, die zu einem verstärkten Bedarf nach Weideland führte, und dem Landhunger einer wachsenden ländlichen Bevölkerung. Ein dritter Bereich, aus dem Konflikte um Nutzland hervorgingen, betrifft die Schaffung neuer kleinbäuerlicher und unterbäuerlicher Betriebe im Zuge des Bevölkerungswachstums. Hier schlug sich die oben herausgestellte Zunahme wirtschaftlicher Ungleichheit am direktesten in Ressourcenkonflikten nieder. Grundherren konnten ihre Berechtigungen an Allmenden dazu nutzen, einzelne Parzellen auszuscheiden und darauf neue Kleinbetriebe zu schaffen, was umgekehrt das den bestehenden Betrieben zur Verfügung stehende Nutzland verminderte. Alternativ scheinen Grundherren bäuerlichen Eigenbesitz in grundherrlichen Besitz umgewandelt 44 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 36; vgl. auch nochmals S. 58-62, 116-121; U. S CHIR - MER , Ursachen (Anm. 35), S. 29f. 45 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 64, aber vgl. auch S. 36 unten. 46 U. S CHIRMER , Ursachen (Anm. 35), S. 26-28. <?page no="88"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 87 und darauf Kleinbetriebe etabliert zu haben. Beide Vorgehensweisen zur Intensivierung der Landnutzung transformierten den Konflikt um Land in die Dorfgemeinschaft hinein, nicht zuletzt in Gestalt von Auseinandersetzungen um die Abstufung des Zugangs zur Allmende. In bäuerlichen Forderungen im Rahmen des Bauernkriegs scheint sich deshalb dieses Konfliktfeld nur wenig niedergeschlagen zu haben. 47 Angesichts der zwischen Herren und Bauern geteilten Verfügungsrechte über Land konnten beide Gruppen Ansprüche an vermuteten Zuwachs der Bodenrente stellen, was ein Potential für Ressourcenkonflikte schuf. Mit Hilfe der vergleichsweise reichlicher verfügbaren Arbeitskräfte in Gestalt von Gesinde und/ oder Tagelöhnern konnten Bauern mit ausreichend großen Betrieben die Landnutzung intensivieren, sich auf die Erzeugung marktgängiger Produkte spezialisieren, Dienstleistungen in Gestalt von Fuhrdiensten anbieten und so ihr Einkommen aus Land steigern. 48 Grundherren standen zwei Wege offen, um von der zunehmenden Landknappheit zu profitieren: Sie konnten einerseits versuchen, einen möglichst großen Teil des von Bauern erwirtschafteten Zuwachses der Bodenrente über eine Erhöhung der Abgaben abzuschöpfen. Die oben angeführte Evidenz legt nahe, dass dies bestenfalls zu einem begrenzten Teil über eine Erhöhung regelmäßiger grundherrlicher Abgaben geschah. Eher scheinen Besitzwechselgebühren und - bei Leibeigenen - Todfallabgaben Mittel zur Aneignung von Teilen der gestiegenen Bodenrente durch Grundherren gewesen zu sein. Zu beiden Instituten wurden im Bauernkrieg häufig Forderungen erhoben. 49 Andererseits konnten Grundherren unter anderem über die bereits oben beschriebenen Mittel neue kleinbäuerliche und unterbäuerliche Betriebe schaffen, die dann mit deutlich höheren Abgaben pro Landeinheit belastet waren als die bereits existierenden Betriebe. Beschwerden über zu hohe oder ungerechte grundherrliche Abgaben in Forderungskatalogen im Umfeld des Bauernkriegs könnten mit diesem Vorgang in Zusammenhang stehen. 50 Ergänzend ist mit Blick auf Konflikte um Land und die Bodenrente auf den im vorangegangenen Abschnitt erzielten Befund zu verweisen, dass nach etwa 1510 eine ihrer Natur nach bisher nicht genauer bestimmte Verschlechterung der Ausstattung der Arbeitskräfte mit Ressourcen auch abgesehen von Land eingesetzt haben muss. Möglicherweise führte dieser Vorgang dazu, dass bislang nur latent vorhandene 47 D. S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft (Anm. 4), S. 82; P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 52f., 121; G. P. S REENIVASAN , Social origins (Anm. 1), S. 39f. 48 U. S CHIRMER , Ursachen (Anm. 35), S. 25, betont die Existenz unternehmerisch agierender Bauern in der Zeit des Bauernkriegs. 49 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 36f., 48f., 113. 50 D. S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft (Anm. 4), S. 64, 84; P. B LICKLE , Revolution (Anm. 1), S. 37. <?page no="89"?> U LRICH P FIS T ER 88 Interessengegensätze - verwiesen sei etwa auf die nur schwach erkennbare Steigerung von Abgaben - akut wurden und in Ressourcenkonflikte mündeten. Konkret: Bislang leidlich erträgliche Abgaben erschienen aufgrund eines wie auch immer zustande gekommenen Produktionsrückgangs nicht mehr tragbar, was Konflikte um die Bodenrente verschärfte und zu verbreiteten Forderungen nach Abgabensenkungen führte. Zu besprechen bleiben Konflikte um monetäre Ressourcen, konkret um die Inzidenz von Münzverschlechterungen, d. h. um die Aufteilung des daraus erwachsenden Schadens. Im 15. Jahrhundert waren sie Konfliktgegenstand in Protesten gewerblicher Arbeitskräfte, aber auch in Bauernrevolten. Obwohl die Virulenz von Münzverschlechterungen im frühen 16. Jahrhundert zurückgegangen war, erscheinen sie auch noch in Forderungen, die im Umfeld des Bauernkriegs erhoben wurden. Fassbar wird dies, wenn unter anderem die Versorgung der lokalen Wirtschaft mit vollwertigen Münzen verlangt und das Recht eingefordert wurde, Abgaben mit kleineren Münzen zum offiziellen Kurs, nicht zum für schlechte Münzen geltenden höheren Marktkurs, leisten zu dürfen. 51 Opportunistisches Verhalten von Münzherren und dessen Verteilungswirkungen waren ebenfalls Teil der im Bauernkrieg ausgefochtenen Konflikte. 4. Schluss Was wissen wir heute mehr zum wirtschaftlichen Umfeld des Bauernkriegs von 1525 als die Autoren, die im späten 20. Jahrhundert Studien zu diesem Ereignis vorgelegt haben? Dass das Bevölkerungswachstum über eine relative Verknappung des kaum vermehrbaren Nutzlands die Einkommensverteilung ungleicher machte, relative Preise zugunsten von landintensiven Gütern verschob und die Vermehrung landarmer Haushalte begünstigte, ist zunächst vor allem die Systematisierung und Präzisierung einer Einsicht, die wenigstens in Umrissen schon länger bekannt ist. Wichtig sind neuere Nachweise zur Entwicklung der kommerziellen Wirtschaft in den Jahrzehnten um 1500, die durch eine Verbesserung der Effizienz des Dienstleistungssektors getrieben wurde und Marktintegration begünstigte. Allerdings scheint sie die materielle Wohlfahrt der breiten Bevölkerung nicht nennenswert positiv beeinflusst zu haben. Dies hing mit dem ebenfalls neuen Befund zusammen, dass um 1510 ein bis zum Ende des 16. Jahrhunderts andauernder Fall der pro Kopf gemessenen Wirtschaftsleistung einsetzte. Dieser Sachverhalt kann nur zum Teil mit dem Bevölkerungswachstum erklärt werden; seine weiteren Ursachen sind noch unbekannt. 51 P. R ÖSSNER , Deflation (Anm. 26), S. 618-631. <?page no="90"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 89 Möglicherweise verschärfte die ungünstige wirtschaftliche Entwicklung bereits bisher im Bevölkerungswachstum angelegte Interessengegensätze und erhöhte damit die Wahrscheinlichkeit von daraus erwachsenden Ressourcenkonflikten. Allerdings legen die gezeigten Befunde auch eine gewisse Zurückhaltung nahe, was die Relevanz wirtschaftlicher Faktoren für den Ausbruch des Bauernkriegs anbelangt. Die beschriebene Konstellation gab es schon geraume Zeit vor 1525, wenn auch möglicherweise noch nicht in der sich ab etwa 1510 abzeichnenden Virulenz, und sie entwickelte sich bis ins späte 16. Jahrhundert weiter. Für die Regelung von sich daraus erwachsenden Konflikten existierten gut institutionalisierte Mechanismen, die sowohl vor als auch nach dem Bauernkrieg von Herren und Untertanen regelmäßig genutzt wurden. 52 Sicher bildeten die geschilderten wirtschaftlichen Sachverhalte zusammen mit der Entwicklung von Herrschaftsstruktur und lokalem Kirchenwesen wichtige latente Konfliktpotentiale. Entscheidend für den Ausbruch des Bauernkriegs erscheinen kurzfristige, im Zusammenhang mit dem Aufkommen der evangelischen Bewegung stehende Vorgänge, die diese Potentiale aktivierten, den temporären Zusammenbruch etablierter Konfliktregelungsmechanismen bewirkten und lokal spezifische Konfliktlagen zu einer großflächigen Revolte zusammenführten. Anhang: Skizze eines malthusianischen Modells vormoderner Wirtschaften Die gesamtwirtschaftliche Produktion Y(t) folgt einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion. Dies beinhaltet insbesondere die Annahmen konstanter Skalenerträge und fallender Grenzerträge (Abschnitt 2 oben). Konkret lautet die aggregierte Produktionsfunktion = , (1) wobei (t) die Zeit (z. B. das Jahr) bezeichnet. Güter werden mit zwei Produktionsfaktoren erzeugt, nämlich mit Arbeit L(t) und mit einer konstanten, nicht vermehrbaren Ressource X, die zum Beispiel für agrarisches Nutzland steht. (Das Fehlen des Suffixes für die Zeit (t) drückt die Konstanz von X aus.) A(t) bezeichnet das Niveau der Technologie, die Produktionselastizität des Outputs Y(t) auf den Faktor X und 1- die Produktionselastizität des Outputs auf den Faktor Arbeit. 1- entspricht dem Anteil des Faktors Arbeit am Volkseinkommen, der sog. Lohnquote. 53 52 G. P. S REENIVASAN , Social origins (Anm. 1), S. 51-61; vgl. auch den Beitrag von Uwe Schirmer in diesem Band. 53 Siehe z. B. O. G ALOR , Unified growth theory (Anm. 36), S. 69. <?page no="91"?> U LRICH P FIS T ER 90 Da X konstant ist, wird diese Größe zur Vereinfachung der weiteren Darstellung auf 1 gesetzt. Ein erster wichtiger Schritt in der Entwicklung des Modells besteht in der Herleitung der Lohngleichung (3). Bei Konkurrenzmärkten entspricht der Lohn W(t) dem Grenzprodukt der Arbeit. Letzteres lässt sich durch Ableiten von Gleichung (1) nach L(t) bestimmen: = = 1 − (2) Formt man diese Gleichung mit dem natürlichen Logarithmus um, so resultiert = 1 − + ln − ; (3) dabei gilt w(t) = ln(W(t)) und p(t) bezeichnet den natürlichen Logarithmus der Bevölkerung. Das Ersetzen von L durch die Bevölkerungsgröße nimmt eine konstante Erwerbsquote an. Die Lohngleichung (3) besagt, dass bei gegebener Technologie Bevölkerungswachstum zu einem Rückgang des Reallohns führt (- ). Zwei demographische Mechanismen halten zusammen mit Gleichung (3) den Reallohn im Gleichgewicht. 54 Es sind dies zum einen der sog. Preventive check, der eine positive Beziehung zwischen der Geburtenrate und dem Reallohn postuliert: = + β + (4) Zum anderen erfolgt demographische Anpassung durch den sog. Positive check, der eine negative Beziehung zwischen der Sterberate und dem Reallohn beinhaltet: ! = " − γ + $ (5) b(t) und d(t) bezeichnen die Geburtenrate (Geburten pro 1.000 Einw.) beziehungsweise die Sterberate (Sterbefälle pro 1.000 Einw.), c 1 und c 2 sind Konstanten, u b (t) und u d (t) sind zufällige Schocks und und bezeichnen die Stärke des Preventive beziehungsweise des Positive check. Der Preventive check meint, dass ein Reallohnanstieg mehr jungen Menschen zu heiraten erlaubt und die Ressourcen existierender Paare, die sie für das Erziehen von Kindern einsetzen können, vermehrt, was beides einen Anstieg der Geburtenrate zur Folge hat. Der Positive check bezieht sich darauf, dass ein Reallohnrückgang die Ernährungslage verschlechtert und die Möglichkeiten für die Sorge um die Gesundheit einschränkt, was beides zu einem Anstieg der Sterberate führt. Die beiden malthusianischen Checks haben zur Folge, dass ein einmaliger technologischer Anstieg zwar kurzfristig zu einem Reallohnanstieg führt, dass dieser aber 54 Siehe z. B. U LRICH P FISTER / G EORG F ERTIG , From Malthusian disequilibrium to the post- Malthusian era: the evolution of the preventive and positive checks in Germany, 1730-1870, in: Demography 57 (2020), S. 1145-1170, hier 1147f. <?page no="92"?> D ER GES AMT WIR TS CHA FT LI CH E K ONTEX T VON R ES S O UR CEN KON FLIK T EN 91 seinerseits über die positive Beziehung des Reallohns mit der Geburtenrate und die negative Beziehung mit der Sterberate zu einem Bevölkerungswachstum führt. Über den mittelfristigen Anstieg des Arbeitsangebots bewirkt die Lohngleichung (3) eine Rückführung des Reallohns auf das ursprüngliche Niveau. Dies mündet in die Aussage, dass sich vorindustrielle Wirtschaften, die einen geringen langfristigen technologischem Fortschritt aufweisen, vor allem hinsichtlich ihrer jeweiligen Bevölkerungsdichte, aber wenig bezogen auf das Niveau der materiellen Wohlfahrt unterscheiden. 55 Diese Situation wird als malthusianisches Wachstumsregime gekennzeichnet. 55 O. G ALOR , Unified growth theory (Anm. 36), S. 72-74. <?page no="94"?> II. Regionale Entwicklungen <?page no="96"?> 95 A RMAN W EIDENMANN Die Gotteshausleute beklagen sich beim Fürstabt: Viler beschwärden, burdinen und lästen, als sie vermeinend, unzimlich beladen 1 Mit der ›Revolution des gemeinen Mannes‹ wurde ein eingängiges und wirkmächtiges Erklärungsmodell für den Bauernkrieg von 1525 geschaffen, an dem sich die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten abgearbeitet hat. Der thematische Fokus lag dabei auf den Ursachen des Konflikts und der gewaltsamen Niederschlagung der Unruhen. Folglich wurden primär diejenigen Gebiete betrachtet, in welchen sich Herrschaft und Untertanen mit Waffen bekämpften. 2 Was nicht in dieses assoziative Bild von Aufstand und Gewalt passte, wurde mehrheitlich übersehen oder übergangen. Im Fall der Vorgänge in der Alten Eidgenossenschaft zeigt sich dies exemplarisch. Diese werden bestenfalls in knappen Nebensätzen erwähnt oder als periphere Ereignisse im oberdeutschen Raum betrachtet. Das ist insofern bedauerlich, da auch dort die ländliche Bevölkerung je nach Region protestierte. Ebenso wurden erfolgreiche Streitbeilegungsmethoden, die zu einer Einigung führten und damit den Frieden bewahrten, zu einem Nebenaspekt degradiert. 3 1 Schiedsspruch von Abgeordneten der eidgenössischen Schirmorte über die Beschwerden der Gemeinden des Oberamtes der Alten Landschaft, Rapperswil 17. Juli 1525, in: W ALTER M ÜLLER (Hg.), Die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen, 1. Teil: Die Rechtsquellen der Abtei St. Gallen, 2. Reihe, 1. Bd.: Die allgemeinen Rechtsquellen der Alten Landschaft, Aarau 1974, S. 155-225, hier 155. Personen, die in irgendeinem Rechtsverhältnis zur Fürstabtei standen, wurden als Gotteshausleute bezeichnet. Dies umfasste einen Personenkreis ohne ständische Differenzierung, dabei spielte Freiheit und Unfreiheit eine untergeordnete Rolle; P HILIP R OBINSON , Zur Bedeutung des Lehenswesens beim Aufbau des St. Galler Klosterstaates im Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 109), Ostfildern 1991, S. 1-20, hier 9. 2 Zur Revolution des gemeinen Mannes siehe P ETER B LICKLE , Die Revolution von 1525, 3. erw. Aufl. München 1993, S. 191-195. Zur Kritik dieses Paradigmas T OM S COTT , Ungelöste Probleme des Deutschen Bauernkrieges, in: F RANZ F UCHS / U LRICH W AGNER (Hg.), Bauernkrieg in Franken (Publikation aus dem Kolleg Mittelalter und Frühe Neuzeit 2), Würzburg 2016, S. 37-48. 3 So bereits G ÜNTHER F RANZ , Der deutsche Bauernkrieg, 10. verb. u. erw. Aufl. Darmstadt 1975, S. 3-9, 148-153; P ETER B LICKLE , Bäuerliche Rebellion im Fürststift St. Gallen, in: D ERS . u. a. (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, S. 215-295. <?page no="97"?> A R MAN W EID ENMANN 96 Der folgende Aufsatz lädt zu einem Perspektivenwechsel ein. Der geographische Fokus mit der Fürstabtei St. Gallen wird für einmal auf ein ereignisgeschichtliches Randgebiet des Bauernkrieges gelegt, wo in der kritischen Phase im Frühsommer 1525 kaum etwas geschah; und dies, obwohl die politische Situation nördlich des Bodensees genau verfolgt wurde, existierte doch ein enger und eingespielter Handels- und Informationsaustausch zwischen den Regionen nördlich und südlich des Sees. 4 Im Gegensatz zur gewalttätigen Revolution soll mit dem eidgenössischen Schiedsgericht in Rapperswil ein Instrument ins Zentrum gestellt werden, das eine konsensuale Konfliktlösung ermöglichte und dadurch eine friedliche Alternative zum exekutiven Recht auf Gewalt zeitgenössischer Herrschaftsträger und der aggressiven Selbsthilfe der Untertanen darstellt. Es ist dabei zu klären, aus welchen Gründen das Schiedsgericht in Rapperswil erfolgreich war. Denn dies steht im Gegensatz zur These David von Mayenburgs, der in der strukturellen Überforderung des althergebrachten Schiedssystems angesichts der Ereignisdynamik einen der Gründe für die Eskalation des Konflikts erblickt. 5 Dass schiedsgerichtliche Einigungen außerhalb des ordentlichen Rechtsweges ebenfalls Regeln und Rahmenbedingungen unterworfen waren, ist einsichtig. Wie diese ausgestaltet waren und welche Handlungsspielräume den beteiligten Parteien inner- und außerhalb des Verfahrens zur Verfügung standen, wie der Konflikt mittels kontrolliert eskalierender oder deeskalierender Aktionen über eine gewisse Zeit in der Schwebe gehalten werden konnte, muss jedoch im Einzelfall geprüft werden. 6 Dies ist, juristisch gesprochen, die prozessuale Seite. Dem gegenüber steht die materielle Seite des Streits, die über die Beschwerden der Untertanen und die darauffolgenden Schiedssprüche erfasst werden kann. Sie stellen gewissermaßen Anfangs- und Endpunkt der Konflikte und der damit verbundenen Einigung dar. Augenfällig ist die thematische Kontinuität der Klagen. 7 Im Kern stritten Herrschaft und Untertanen um die Ressourcenverteilung. Ging es Ersteren um die 4 S TEFAN S ONDEREGGER , Historischer Überblick, in: Mittelalter am Bodensee. Wirtschaftsraum zwischen Alpen und Rheinfall, hg. vom Amt für Archäologie des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2021, S. 12-29. 5 D AVID VON M AYENBURG , Zwischen Recht und Revolution - Konfliktlösungen durch Schiedsrichter im Kontext des Bauernkrieges von 1525, in: J OCHEN F LEBBE / G ÖRGE K. H ASSELHOFF (Hg.), Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Aspekte des Verhältnisses von Religion und Gewalt, Göttingen 2017, S. 171-217, hier 208. 6 F LORIAN D IRKS , Konfliktlösung durch Schiedsgerichte, in: D AVID VON M AYENBURG (Hg.), Konfliktlösungen im Mittelalter (Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösungen in Europa 2), Berlin 2021, S. 175-181, hier 179, bezeichnet diese Handlungsräume in Anlehnung an die französische Forschung als Infrajustiz bzw. als »l’infrajudicaire«. 7 P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 262, der die Beschwerden zwischen 1489 und 1525 synoptisch dargestellt und in Untergruppen wie Leibeigenschaft, Grundherrschaft, Landes- <?page no="98"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 97 Sicherung und Steigerung ihres Einkommens, fühlten sich Letztere durch die Feudallasten 8 und rechtlichen Einschränkungen ihrer wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit und damit ihrer Zukunft beraubt. Dies erklärt letztlich die Beständigkeit der bäuerlichen Forderungen, sich der unziemlichen beschwärden, burdinen und lästen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu entledigen. 9 1. Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen Die St. Galler Geschichte an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit muss auf mehreren Ebenen betrachtet werden. Einerseits war sie geprägt durch die namensgebende Benediktinerabtei, der ein Fürstabt als größter geistlicher Grundherr in der südlichen Bodenseeregion vorstand. Ihr Grundbesitz und somit ihr politischer und wirtschaftlicher Einfluss erstreckte sich von Vorarlberg bis ins Schweizer Mittelland und von der Region St. Gallen und Thurgau bis nach Süddeutschland. Neben dem Kloster wuchs parallel eine Stadt heran, die sich von einem lokalen Marktflecken zu einem wichtigen Textilproduktions- und Handelszentrum entwickelte. Obwohl sich das städtische Territorium auf wenige Quadratkilometer beschränkte und vollständig umschlossen vom klösterlichen Untertanengebiet war, gelang es der Stadt St. Gallen sukzessive, sich vom fürstäbtischen Einfluss zu emanzipieren und eine eigenständige Außen- und Wirtschaftspolitik zu betreiben und damit als Konkurrentin des Klosters aufzutreten. In der Reformation nahm die Stadt den evangelischen Glauben an. Bis zur Auflösung des Klosters St. Gallen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden nun zwei ›Staaten‹ nebeneinander: die territorial kleine, wirtschaftlich international orientierte, erfolgreiche Stadt und die Fürstabtei St. Gallen, die diese Stadt vollständig umschloss. 10 Das enge Nebeneinander zwang beide zur Koexistenz. Dass dabei beide Seiten den Spielraum für je eigene Interessen ausnutzten, zeigen die Ereignisse der Bauernunruhen 1525. und kirchliche Herrschaft gegliedert hat; A NDRÉ H OLENSTEIN , Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg (Enzyklopädie deutscher Geschichte 38), München 1996, S. 106-110. Konfliktfelder waren die Zehntpflicht, Allmend, Jagd-, Fischerei- und Holznutzungsrechte, die Leibeigenschaft mit ihren Frondiensten, außerdem Schulden, Renten, Zinsen und Abgaben aus der Grund-, Leib- und Gerichtsherrschaft. 8 A NNE -M ARIE D UBLER , Art. Feudallasten, Version vom 5.3.2015, in: HLS (aufgerufen am 12.8.2024). 9 P ETER B LICKLE , Die Reformation im Reich, 4. überarb. Aufl. Stuttgart 2015, S. 115-118. 10 Zur Geschichte der Stadt St. Gallen vgl. S TEFAN S ONDEREGGER / M ARCEL M AYER , Art. St. Gallen (Gemeinde), Version vom 6.1.2012, in: HLS (aufgerufen am 12.8.2024). <?page no="99"?> A R MAN W EID ENMANN 98 Abb. 1: Das Herrschaftsgebiet der Fürstabtei St. Gallen. Anfangs des 15. Jahrhunderts, am Ende der Appenzeller Kriege, hatte eine geschwächte und isolierte Fürstabtei die Hälfte ihres Territoriums verloren. Mit dem Kauf der Grafschaft Toggenburg 1468 konnte dieser Verlust nahezu ausgeglichen werden. Die Alte Landschaft war gegliedert in Oberamt (Landhofmeister-, Oberberger-, Rorschacher- und Romanshorneramt) und Unteramt (Wiler Amt). Wie im Süden des Reiches weit verbreitet, war auch in der Ostschweiz im 15. Jahrhundert die Rentengrundherrschaft vorherrschend. 11 Die Grundherren, in erster Linie der Fürstabt, verzichteten zusehends auf ihre Eigenwirtschaften und verliehen den Großteil ihrer Ländereien gegen Natural- und Geldabgaben zur Nutzung an Bauern. Dabei fanden mit den Zeit- und dern Erblehen zwei unterschiedliche Rechtsformen Anwendung. Insbesondere bei langfristigen Lehensverhältnissen, primär bei den Erblehen, führte dies zu eigentumsähnlichen Rechten, die den Bauern eine hohe Verfügungsgewalt über ihr Land verlieh und den herrschaftlichen Zugriff 11 S TEFAN S ONDEREGGER , Aktive Grundherren und Bauern. Beziehungen zwischen Herren und Bauern im wirtschaftlichen Alltag im 14. bis 16. Jahrhundert, in: E NNO B ÜNZ (Hg.), Landwirtschaft und Dorfgesellschaft im ausgehenden Mittelalter (Vorträge und Forschungen 89), Ostfildern 2020, S. 213-250. <?page no="100"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 99 sukzessive schwächte. Neben der freien Nutzung konnten die Lehen so innerhalb der Familie vererbt oder geteilt werden. Diese Form des Nutzungseigentums erlaubte es aber auch, Teile der Güter als Unterlehen zu veräußern oder zu verpfänden. 12 Daraus ergab sich, dass die grundherrschaftlichen Leiheformen sehr verschieden sein konnten. Auf der einen Seite bestand eine Lehensbeziehung mit dem Fürstabt, auf der anderen Seite durch Unterleihen auch mit städtischen Institutionen wie dem Heiliggeistspital und dem Dominikanerinnenkloster St. Katharinen, die ihrerseits Güter oder Teile davon in Unterleihe weitergaben. 13 Im Gegensatz zur traditionellen Lehensvergabe und Agrarpolitik des Fürstabts, verfolgten die städtischen Grundherren dezidiert ökonomische Interessen und förderten über Kredite die Kommerzialisierung und regionale Spezialisierung der Agrarproduktion. 14 Für Produzenten und Verkäufer, die regelmäßig Überschüsse erzielten, bot der städtische Markt attraktive Absatzmöglichkeiten. Die Schwachstelle dieser Marktbeziehungen war, dass Güter des täglichen Bedarfs, die nicht mehr selbst produziert wurden, beispielsweise Getreide, zu Markpreisen eingekauft werden mussten. Ernteeinbußen oder Totalausfälle, wie sie in den Jahren zwischen 1480 und 1525 witterungsbedingt gehäuft auftraten, führten zu einer hohen Preisvolatilität bei Gütern der Grundversorgung und damit zu erhöhten Ausgaben bei gleichbleibenden oder sinkenden Einnahmen auf Seiten der Bauern. Die Funktionsfähigkeit dieses mehrstufigen Lehenssystems basierte auf einem grundsätzlichen Konsens zwischen Lehensherr und Lehensnehmer über die Ausgestaltung der Nutzungsrechte und der damit verbundenen Abgaben. Konfliktträchtig wurde die Situation dann, wenn Abgaben an den Grundherrn gestundet und Darlehen für das Bestreiten des Lebensunterhalts aufgenommen werden mussten. Dies veränderte zwangsläufig 12 P ETER L IVER , Zur Entstehung des freien bäuerlichen Grundeigentums, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 65 (1946), S. 329-360, hier 330, hat dafür den Begriff Nutzungseigentum geschaffen. Liver argumentiert zudem, dass sich dadurch, dass Bauern ihr Lehengut nicht nur vererben, sondern auch veräußern konnten, das Genehmigungsrecht der Grundherren zu einem Vorkaufsrecht gewandelt hatte; ebd., S. 340. 13 R EZIA K RAUER , Die Beteiligung städtischer Akteure am ländlichen Bodenmarkt. Die Region St. Gallen im 13. und 14. Jahrhundert, Zürich 2018. 14 Die Kommerzialisierung und Spezialisierung in der Agrarproduktion in bestimmen Regionen (Vieh- und Milchwirtschaft in Appenzell, Weinbau im Rheintal, Textilwirtschaft in St. Gallen) war Teil einer Diversifikationsstrategie. Damit konnte das Risiko von witterungsbedingten Ertragseinbußen verkleinert werden, da die verschiedenen Agrarprodukte unterschiedlich auf Umwelteinflüsse reagierten. Die spezialisierten Pächter gerieten durch die Abkehr von der Subsistenzwirtschaft aber in eine doppelte Abhängigkeit zu ihren Grundherren. Einerseits waren sie auf den Zukauf von Nahrungsmittel angewiesen, die sie nicht mehr selbst produzierten (Milchwirtschaft versus Getreide). Andererseits verschuldeten sie sich langfristig, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten (Dünger, Erderneuerung, Rebstecken, Viehgemeinschaften); A. H OLENSTEIN , Bauern (Anm. 7), S. 3. <?page no="101"?> A R MAN W EID ENMANN 100 die Beziehung zwischen Grundherrn und Bauern, die sich oft über Jahre hinweg verschuldeten. Zwar gewährten die Herren pragmatisch Abgabenerleichterungen, aber nur partiell. Drückend blieb die Agrarverschuldung, bei der die Last der Schuldzinsen die Höhe der Feudalabgaben übersteigen konnte. 15 Bäuerliche Verschuldungen waren wohl kaum alleiniger Auslöser der Bauernunruhen, sondern Wesenselement einer spezialisierten, marktorientierten Landwirtschaft und somit weit verbreitet. 16 Kamen aber weitere Faktoren wie wetterbedingte Ernteausfälle, Konjunkturschwankungen und kriegerische Auseinandersetzungen dazu, war die Schuldenlast ein Brandbeschleuniger, der die Lage rasch ins Unkontrollierbare eskalieren ließ. Denn der ländlichen Bevölkerung fehlten die notwendigen Ressourcen, um die Schuldenlast in nützlicher Zeit abzuzahlen. Die Jahre zwischen 1480 und 1525 waren in Mitteleuropa von feuchtem und kaltem Wetter insbesondere in den Sommermonaten geprägt, was vielerorts zu erheblichen Verzögerungen in den Fruchtfolgen führte. 17 Die schlechten Witterungsverhältnisse in Kombination mit großen Ertragseinbußen führten in eine ökonomische Krise in der Landwirtschaft, in der viele Bauernfamilien weder ihre Abgaben an die Grundherrschaft noch ihre Schuldzinsen begleichen konnten. Das fragile Gleichgewicht der Beziehung zwischen Lehensnehmer und Lehensgeber war nachhaltig gestört. 18 Darauf hatte bereits Marc Bloch hingewiesen, als er den bäuerliche Ressourcenkonflikt als systembedingtes Phänomen des Feudalismus mit dem Streik der Arbeitnehmer im Kapitalismus gleichsetzte. 19 15 U LRICH P FISTER / P ETER R IEDER , Art. Agrarverschuldung, Version vom 17.7.2013, in: HLS (aufgerufen am 12.8.2024). 16 Vgl. dazu auch S TEPHAN N ICOLUSSI -K ÖHLER , Bäuerliche Abgaben und Verschuldung als Beweggrund der Bauernunruhen in Tirol an der Wende vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit, im Druck. 17 R ÜDIGER G LASER , Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katstrophen, 2. Aufl. Darmstadt 2008, S. 70f.; vgl. auch den Beitrag von Christian Pfister in diesem Band. 18 S TEFAN S ONDEREGGER , Verschlechterung der rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen als Ursachen für bäuerliche Beschwerden. Dargestellt am Beispiel Oberschwabens und der Ostschweiz am Vorabend des Bauernkriegs, im Druck. 19 M ARC B LOCH , Les caractères originaux de l’histoire rurale française, Paris 1988 [Original Oslo 1931], S. 200f. Aux yeux de l’historien, qui n’a qu’à noter et à expliquer les liaisons des phénomènes, la révolte agraire apparaît aussi inséparable du régime seigneurial que, par exemple, de la grande entreprise capitaliste, la grève. Vgl. auch W ERNER R ÖSENER , Schwerpunkte, Probleme und Forschungsaufgaben der Agrargeschichte zur Übergangsepoche vom Mittelalter zur Neuzeit, in: E. B ÜNZ (Hg.), Landwirtschaft und Dorfgesellschaft (Anm. 11), S. 404-436, hier 405. <?page no="102"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 101 2. Konfliktbewältigung per Schiedsgericht Wie gelang es in der Fürstabtei St. Gallen trotz der engen politischen und ökonomischen Beziehungen zu den Aufstandsgebieten nördlich des Bodensees, nicht in die gewalttätigen Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden, was unter Umständen einen Flächenbrand auch in der Eidgenossenschaft ausgelöst hätte? Die kurze Antwort ist: durch das eidgenössische Schiedsgericht in Rapperswil. 20 Etwas komplizierter wird es, wenn nach dem Grund gefragt wird, warum sich alle Beteiligten bis zum Schiedsgerichtsentscheid an die gewohnheitsrechtlich anerkannten Regeln gehalten hatten. Zwar wurden beidseitig Eskalations- und Deeskalationsmechanismen angewandt, um das Verfahren in der Schwebe zu halten und dadurch zu verzögern. Keiner der Akteure ließ sich letztlich dazu hinreißen, aus dem laufenden Verfahren auszusteigen oder als ultima ratio Gewalt anzuwenden - ganz im Gegensatz etwa zu den Ereignissen in den Landgrafschaften Stühlingen und Hegau oder im Fürststift Kempten. 21 Bevor die Ereignisse in der Fürstabtei St. Gallen beschrieben werden, sollen zunächst die rechtlichen und prozessualen Voraussetzungen geklärt werden. Anschließend werden die unterschiedlichen Positionen der Akteure sowie deren Strategien bei der Konfliktführung betrachtet. Um das Ganze zu konkretisieren, werden dann die besonders konfliktträchtigen Bereiche Fischerei und Waldnutzung knapp gestreift. 3. Rechtliche und prozessuale Voraussetzungen Am Ende der Appenzeller Kriege zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatte eine geschwächte und isolierte Fürstabtei die Hälfte ihres Territoriums verloren. Vernachlässigung der Güterbewirtschaftung bei gleichzeitigem Festhalten an einer aufwendigen Lebensführung des Fürstabts brachten das Kloster an den Rand des finanziellen Ruins, so dass sogar kurzzeitig zur Debatte stand, sämtliche Vogteirechte an die Stadt abzutreten. 22 Nach diesem Tiefpunkt konnten ab Mitte des 15. Jahrhunderts 20 M ARCEL S ENN / E LISABETTA F IOCCHI , Art. Schiedsgericht, Version vom 21.6.2021, in: HLS (aufgerufen am 12.8.2024; A NDREAS W ÜRGLER , Art. Tagsatzung, Version vom 25.9.2014, in: HLS (aufgerufen am 12.8.2024). 21 D. VON M AYENBURG , Recht (Anm. 5), S. 200-207, mit den genannten Beispielen. In den erwähnten Gebieten wurde ebenfalls zunächst der außerordentliche Rechtsweg durch ein Schiedsgericht des Schwäbischen Bundes beschritten. Trotz monatelanger Verhandlungen scheiterten jedoch sämtliche Versuche, die Streitigkeiten beizulegen. 22 A LFRED Z ANGGER , die Sankt-Gallische Klosterherrschaft im Umbruch, in: St. Galler Geschichte, Bd. 2: Hochmittelalter und Spätmittelalter, St. Gallen 2003, S. 155-180, hier 169f. <?page no="103"?> A R MAN W EID ENMANN 102 die drei aufeinanderfolgenden Fürstäbte Ulrich Rösch (1463-1491), Gotthard Giel von Glattburg (1491-1504) und Franz Gaisberger (1504-1529) ihre geistliche Herrschaft innen- und außenpolitisch stabilisieren sowie innert kurzer Zeit finanziell sanieren. Für die Stellung der Fürstabtei als zugewandter Ort der Eidgenossenschaft, aber auch für das Verhältnis zwischen Kloster und Untertanen war das 1451 zwischen dem Fürstabt und der Eidgenossenschaft abgeschlossene Burg- und Landrecht zentral. Darin wurde vorgesehen, dass bei Konflikten innerhalb des fürstäbtischen Territoriums ein Schiedsgericht einberufen werden konnte, dem die vier eidgenössischen Schirmorte Zürich, Luzern, Schwyz und Glarus vorstanden. Bei der Bestätigung und Ergänzung dieses Abkommens 1479 wurde dem Fürstabt ein eidgenössischer Hauptmann auf eigene Kosten als Verbindungsmann zu den Schirmorten und als innenpolitische Stütze zur Seite gestellt. Mit dieser Art Schutzbündnis konnte der Fürstabt, sofern er wollte, sämtliche internen Konflikte auf die eidgenössische Bühne heben und dadurch externalisieren. Der Vorteil dieses Vorgehens lag auf der Hand. Interne Schwäche konnte so durch diplomatisches Geschick und das gegenseitige Ausspielen der eidgenössischen Stände überbrückt werden. 23 Innenpolitisch musste zunächst die finanzielle Schieflage der Abtei wieder ins Lot gebracht werden. Hierzu wurden die klösterliche Administration ausgebaut und die lokalen, mündlich überlieferten Rechtsgewohnheiten mit den Lehensnehmern verschriftlicht. Die dadurch erzielten Verbesserungen in der Güterbewirtschaftung führten zu steigenden Einnahmen, die der Fürstabt in neue Herrschaftsrechte und in Grundbesitz reinvestierte. Ebenso wurden klösterliche Vogteirechte bestätigt oder neu erworben. Mit dem Kauf der Grafschaft Toggenburg 1468 schließlich konnten die territorialen Verluste der Appenzeller Kriege nahezu ausgeglichen und das Herrschaftsgebiet der Fürstabtei systematisch vervollständigt werden. Dass die zunehmende Verschriftlichung und Vereinheitlichung der Herrschaftstitel für die Untertanen nicht ohne Konsequenzen war, zeigt sich in einem Brief des Fürstabts Ulrich Rösch vom 22. Februar 1483 an all seine gegninen, d. h. an alle seine Untertanen: […] als dann unser gotzhus vil und maingerlay lechen güter hat, es sygen frye lechen oder hoffgueter, uns unwissent, ob die von uns enpfangen sigen oder nit, und aber taeglich gros verendrung dar mit beschechent und fur genomen dar durch sy wol verwürckt werden und uns haym gevallen möchteind. 24 23 Burg- und Landrecht vom 17. August 1451 in: T RAUGOTT S CHIESS (Hg.), Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen (UBSG), Bd. 6, St. Gallen 1955, Nr. 5291; P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 230f. 24 Zitat aus Lehenbuch des Abts Ulrich Rösch betreffend Wil und Toggenburg (1483), StiftsA St. Gallen, Bd. LA 93, fol. 1r. Siehe auch P H . R OBINSON , Lehenswesen (Anm. 1), S. 2f.; A LFRED Z ANGGER , Zur Verwaltung der St. Galler Klosterherrschaft unter Abt Ulrich <?page no="104"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 103 Offenbar sah sich der Fürstabt durch rasche Wechsel und einen allgemein großen Wandel in der Güterstruktur der Grundherrschaft dazu veranlasst, seine Ländereien, Lehensnehmer und deren Rechte systematisch zu erfassen. In einer aus klösterlicher Sicht unüberschaubar gewordenen Situation sollte damit wieder Ordnung und Rechtssicherheit geschaffen werden. Die Betonung der Heimfallansprüche weist darauf hin, dass es dem Kloster letztlich um eine Zentralisierung und Intensivierung der Verwaltungstätigkeit ging und damit verbunden die Erweiterung der materiellen Rechte. Mit beispielloser Systematik wurden Beweismittel aus dem Klosterarchiv herangezogen, um die rechtlichen Herrschaftstitel zu belegen und damit einerseits die eigene Rechtsstellung und Verhandlungsposition zu festigen, andererseits die wirtschaftlichen Ressourcen mit den vorhandenen Rechtstiteln optimal abzuschöpfen. 25 Dieselbe Stoßrichtung wurde auch mittels Offnungen, Landsatzungen und Landmandaten verfolgt. 26 So fielen von 28 erstmaligen Offnungsniederschriften 23 in die Regierungszeit der Äbte Ulrich Rösch (1463-1491) und Gotthard Giel von Glattbrugg (1492-1504). Sie erfolgten nicht selten gegen heftigen Widerstand der Gemeinden, die sich in ihren überlieferten Rechten, insbesondere bei der Nutzung der natürlichen Ressourcen, eingeschränkt sahen. 27 In teilweise langwierigen schiedsgerichtlichen Verhandlungen oder, wenn das nicht zu einer Lösung führte, vor einem ordentlichen Gericht, wurden die Konflikte beigelegt. Der Charakter einer so gemeinsam getroffenen Vereinbarung zwischen Fürstabt und Gotteshausleuten wird im Formular der Offnungstexte hervorgehoben. Denn nur zusammen konnten die Parteien die Bestimmungen mehren oder mindern, die in ewig zitt zu halten seien. 28 Rösch, in: W ERNER V OGLER (Hg.), Ulrich Rösch. St. Galler Fürstabt und Landesherr. Beiträge zu seinem Wirken und zu seiner Zeit, St. Gallen 1987, S. 151 178. 25 J OHANNES H ÄNE , Der Klosterbruch in Rorschach und der St. Galler Krieg 1489-1490, hg. vom Historischen Verein St. Gallen (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 26), St. Gallen 1895, S. 9; A. Z ANGGER , Verwaltung (Anm. 24), S. 160; P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 276-278. 26 In der rechtsgeschichtlichen Forschung der Schweiz werden jene ländlichen Rechtsquellen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Offnungen bezeichnet, die zur bleibenden Klärung strittiger Rechtsverhältnisse im Bereich von Grund- und Landesherrschaft niedergelegt wurden analog zu den Weistümern im Reich; A NNE -M ARIE D UBLER , Art. Offnungen, Version vom 2.11.2011, in: HLS (aufgerufen am 12.8.2024). 27 P HILIP R OBINSON , Die Fürstabtei St. Gallen und ihr Territorium 1463-1529. Eine Studie zur Entwicklung territorialer Staatlichkeit (St. Galler Kultur und Geschichte 24), St. Gallen 1995, S. 249. Besonders die Einschränkungen in den Holznutzungs- und Waldweiderechten sowie Jagd- und Fischereirestriktionen wurden seitens der Gotteshausleute beklagt. Hierzu auch P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 268-270. 28 Zur Rechtsvereinheitlichung W ALTER M ÜLLER , Die Offnungen der Fürstabtei St. Gallen. Ein Beitrag zur Weistumsforschung (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 43), St. Gallen 1964, S. 35-50, mit zahlreichen Beispielen. <?page no="105"?> A R MAN W EID ENMANN 104 Einen Eindruck von den belasteten Beziehungen zwischen Fürstabt und Gotteshausleuten gibt auch die Chronik des Joachim Vadian, in der Ulrich Rösch folgendermaßen beschrieben wird: In zitlichen dingen was er überus anschlegig und in hushaltung und büwen niemand sinsglichen. Khain abt ist üns grämmer und ufsätziger gsin […] wolt aber eines strohalms gross ünser statt nit nachlassen noch zuogeben. 29 4. Der Rorschacher Klosterbruch 1489 Die Beziehungen zwischen Fürstabt und Untertanen wurden schon lange vor der Zeit des Bauernkriegs und immer wieder auf die Probe gestellt. Mit der Erstürmung und Zerstörung des neuerrichteten Klosters in Rorschach im Sommer 1489 gewann der Konflikt eine neue Qualität. Analog zu den Appenzeller Kriegen anfangs des Jahrhunderts waren daran appenzellische, stadt-st.-gallische und rheintalische Truppen beteiligt, nicht jedoch Untertanen aus der Landschaft. 30 Auch hier war das Motiv zunächst wirtschaftlicher Natur. Seit 1480 strebte der Fürstabt danach, im verkehrstechnisch günstig gelegenen Rorschach am Ufer des Bodensees ein Wirtschafts- und Verwaltungszentrum zu errichten. Dafür wurde ein großzügig konzipierter Neubau geplant. Das Kloster St. Gallen sollte ebenfalls ausgebaut werden, jedoch nur noch als Wallfahrtsort und liturgischer Hauptsitz dienen. Der damit verbundene drohende Umzug des Hauptmarktes von St. Gallen nach Rorschach und damit einhergehend der Verlust der zentralörtlichen Funktion stellte eine ernstzunehmende Bedrohung für eine immer selbstständiger agierende Stadt dar. Denn der Markt war ein vitaler Faktor für den überregionalen Handel mit Leinwand und damit für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Stadt St. Gallen. Als trotz Verhandlungen zwischen Stadt und Fürstabt in Rorschach weitergebaut wurde, folgte die Zerstörung des fast fertiggestellten Klosters durch die Stadt St. Gallen und durch das Land Appenzell. 31 29 J OACHIM V ADIAN , Die Grössere Chronik der Äbte. Abtei und Stadt St. Gallen im Hoch- und Spätmittelalter (1199-1491), bearb. von B ERHARD S TETTLER (St. Galler Kultur und Geschichte 36), Bd. 2, St. Gallen 2010, S. 739f. 30 P H . R OBINSON , Fürstabtei (Anm. 27), S. 248. Grundlegend J. H ÄNE , Klosterbruch (Anm. 25) und mit neuem Quellenmaterial D OMINIC M ÜLLER , Die Stadt St. Gallen und der Rorschacher Klosterbruch 1489, Lizentiatsarbeit Univ. Zürich 2016, S. 195-197. 31 Eine Liste der entstandenen Schäden findet sich in der Kurzen Chronik des Gotzhaus St. Gallen (1360-1490) von einem unbekannten Conventualen, besonders der Klosterbruch zu Rorschach, mit darauf bezüglichen Verträgen und Liedern, hg. von J OSEF H ARDEGGER (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 2), St. Gallen 1863, S. 70-81; zu den handschriftlichen Schadenslisten D. M ÜLLER , Klosterbruch (Anm. 30), S. 17-24. <?page no="106"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 105 Abb. 2: Darstellung des Rorschacher Klosterbruchs von 1489. Die Banner im Vordergrund weisen die Soldaten als Appenzeller und Stadt St. Galler aus. Auf beiden Feldzeichen ist der Bär aus der Gallus-Sage auf weißem Grund abgebildet. Der St. Galler Bär auf der rechten Seite trägt im Gegensatz zum Appenzeller Bären als Wappenbesserung eine goldene Halskrause. Eidgenössische Chronik des Luzerners Diebold Schilling (Luzerner Schilling), Luzern 1513, Korporation Luzern, S 23, S. 304. <?page no="107"?> A R MAN W EID ENMANN 106 Trotz des offensichtlichen Rechtsbruchs geschah zunächst einmal nichts. Die unterschiedlichen Positionen der eidgenössischen Stände verhinderten eine sofortige Bestrafungsaktion, wie dies die vier Schirmorte gefordert hatten. 32 Statt dessen wurde versucht, durch Verhandlungen die Situation zu bereinigen. Je länger diese dauerten und je weniger sich eine Lösung abzeichnete, desto brisanter wurde die Lage. Denn in der Zwischenzeit hatte sich die Mehrzahl der Gotteshausleute der Landschaft ebenfalls den Protesten gegen den Fürstabt angeschlossen. Dabei ergriffen sie die Gelegenheit, die strittigen Punkte, welche bereits bei den Verhandlungen über die Offnungen für Diskussionen gesorgt hatten, erneut zur Disposition zu stellen. So erregten die Umwandlung von Freilehen in Hofgüter, wodurch diese mit einer Handänderungsgebühr belegt wurden, leibherrliche Auflagen bei Erbschaften, insbesondere dem Besthaupt, Holznutzungsbeschränkungen sowie Jagdverbote Anstoß. 33 Letztlich richteten sich sämtliche Beschwerden pauschal gegen: […] all nüwerungen und beschwerden, wie die uff uns unzhar gewachsen und wider unser frihait und alt harkomen sind […]. 34 Ende Februar 1490 brach aber der Widerstand in sich zusammen, als eidgenössische Verbände vor der Stadt St. Gallen aufmarschierten und die bedingungslose Kapitulation forderten. Das Strafurteil der Schirmorte vom 7. Mai 1490 traf die drei aufständischen Parteien Stadt St. Gallen, Alte Landschaft und das Land Appenzell empfindlich. 35 In getrennten Regelungen wurden ihnen neben Schadenersatzleistungen weitere Strafen auferlegt, von denen die eidgenössischen Schirmorte, aber auch die Abtei profitierten. Die von den Untertanen bekämpften Regelungen wurden vollständig restauriert. Wesentliche Punkte waren die Verpflichtung zum Neuempfang der Lehen sowie die summarische Bestätigung der Freiheiten und Privilegien der Gotteshausleute durch den Fürstabt. Schwerer aber wogen die politische Entmündigung und 32 P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 230-234; G. F RANZ , Bauernkrieg (Anm. 3), S. 5-8, erwähnt den zum selben Zeitpunkt schwelende Stadt-Land-Konflikt in Zürich, den sog. Waldmann Handel, der mitverantwortlich war für die verzögerte Reaktion der Eidgenossen. 33 Auszug aus dem Zürcher Ratsmanual vom 7. September 1489, ediert in: J. H ÄNE , Klosterbruch (Anm. 25), S. 254f., Beilage 25. 34 Schreiben der Gotteshausleute vom 2. November 1489 ediert in. J. H ÄNE , Klosterbruch (Anm. 25), S. 230, Nr. 5. P. B LICKE , Rebellion (Anm. 3), S. 230, deutet an, dass sich die Proteste auch gegen die Herrschaft des Fürstabtes richteten. Werden die kursorisch überlieferten Klagen der Gotteshauleute mit den Beschwerden gegen die Offnungen verglichen, so bewegen sich beide im traditionellen Rahmen agrarischer Konflikte. Nichts weist darauf hin, dass ein Systemwechsel gefordert wurde; P H . R OBINSON , Fürstabtei (Anm. 27), S. 265, Anm. 78. 35 Strafurteil vom 7. Mai 1490 in W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 269-275; P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 231f. <?page no="108"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 107 die indirekte Rechtsverweigerung bei Klagen gegen den Abt. So wurden Versammlungen in der Alten Landschaft ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Abtes, seines Hofmeisters oder der vier Schirmorte verboten. Die Gemeindeverfassungen blieben zwar um der Funktionsfähigkeit willen bestehen. Allerdings durfte die Landschaft nicht mehr als Landsgemeinde zusammentreten. Nach dem Rorschacher Klosterbruch blieb das Territorium der Fürstabtei für die nächsten Jahrzehnte von weiträumigen Konflikten verschont. Kleinere Auseinandersetzungen um Ressourcen wie Waldnutzung, Fischerei und Jagdrechte oder Lehensabgaben wurden mehrheitlich zwischen der Abtei und einzelnen Gemeinden ausgetragen und fanden jeweils eine schiedsgerichtliche Einigung. 36 5. Der Bauernkrieg im fürstäbtischen Territorium: traditionelle Muster der Konfliktführung Die allgemeine Unzufriedenheit über Abgaben und Dienste gegenüber dem Kloster schwelte seit der Niederlage von 1490 weiter, hatte aber nicht mehr zu größeren Zusammenrottungen in der Stadt St. Gallen und den umliegenden Gemeinden geführt. Erst die Reformation, welche von Zürich Richtung Ostschweiz schwappte, öffnete erneut alte und neue Konfliktfelder. So wurden die Zehntverweigerungen in der Zürcher Landschaft im Sommer 1523, die Wädenswiler Revolte im Januar 1524 und der Ittinger Klostersturm im Juli 1524 in der Alten Landschaft und in der Stadt St. Gallen genauestens verfolgt, hatten aber keinen Einfluss auf das Verhalten der St. Galler Gotteshausleute. 37 Erst durch die süddeutschen Bauernproteste um die Jahreswende 1524/ 25 angestachelt, formierten sich die Gemeinden der fürstäbtischen Landschaft erstmals wieder gemeinsam seit dem Rorschacher Klosterbruch. Johannes Kessler (1502/ 03-1574), einer der bedeutendsten zeitgenössischen Chronisten des Bauernkrieges, beschreibt die Situation folgendermaßen: Wie nu an allen enden clag entstuend under den buren wider ire oberkaiten der beschwerden halb, sind doch die underthonen des gottzhus zuo Sant Gallen in beradtschlagung gangen, ob sy der beschwerden, so ungrund von den abbten vernaher uff sy geladen, mochtend entlediget 36 Zu den Folgen des Rorschacher Klosterbruchs und zu weiteren, kleineren Konflikten mit einzelnen Gemeinden bis 1525 P H . R OBINSON , Fürstabtei (Anm. 27), S. 250-255; W. M ÜL - LER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. XXIII. 37 Zu den einzelnen Stadt-Land-Konflikten in Zürich und der gemeinen Herrschaft Thurgau P ETER K AMBER , Reformation als bäuerliche Revolution. Bildersturm, Klosterbesetzung und Kampf gegen die Leibeigenschaft in Zürich zur Zeit der Reformation (1522-1525), Zürich 2010, Zehntverweigerung, S. 102-107, Wädenswiler Revolte, S. 260-281, Ittinger Klostersturm, S. 282-315. <?page no="109"?> A R MAN W EID ENMANN 108 werden, fiengend zuoglich an, ire zins, zechenden und fassnacht hennen unlustig, etliche gar nit, on witer beschaid, ze geben. 38 Damit wies Kessler auf zwei Punkte hin. Einerseits verknüpfte er die Situation im Reich direkt mit derjenigen in St. Gallen. Demnach waren seiner Meinung nach nicht innenpolitische Streitigkeiten, sondern äußere Einflüsse Auslöser der Proteste gegen den Fürstabt. Andererseits gab Kessler Auskunft über die Methoden und Substanz des Widerstands. So verweigerten die Gotteshausleute ihre durch Grund- und Leibherrschaft begründeten Abgaben wie Ehrschatz (Handänderungsabgabe), Zehnten und Fastnachtshühner. 39 Beide Erklärungen werfen Fragen auf. So begann der Widerstand nicht erst mit den Protesten nördlich des Bodensees, sondern waren eine Konstante im Verhältnis zwischen Fürstabt und seinen Untertanen, wie die permanenten Streitigkeiten um die Offnungen zeigen. Im Kern wurde beidseitig über die Höhe der Ressource Einkommen gestritten. Außerdem begannen die Auseinandersetzungen auf der Zürcher Landschaft einige Jahre früher, führten aber nicht zu nennenswerten Reaktionen in St. Gallen. Dies ist insofern erstaunlich, da St. Gallen enge wirtschaftliche und politische Verbindungen zu Zürich hatte. Auch die beanstandeten Abgaben sind kein neues Phänomen, gewinnen aber im Gefolge der Reformation neue Virulenz. Bereits in den Beschwerden von 1489 beziehen sich von fünfzehn Regionalklagen drei Artikel auf den Ehrschatz. Zwar waren ursprünglich nur Erblehengüter, deren Abgaben fixiert waren und nicht der Konjunktur angepasst werden konnten, ehrschatzpflichtig. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts wurden tendenziell aber auch kurzfristig verliehene klösterliche Eigengüter wie Erblehen behandelt. Dies ist aus der Perspektive des Klosters einsichtig, bildeten doch die Handänderungsgebühren, welche um 1500 etwa 15 % des Verkehrswerts ausmachten, eine bedeutende Einnahmequelle. Deshalb war es aus der Sicht des Fürstabtes nur konsequent, dass jede Gelegenheit ergriffen wurde, Erblehen in Hofgüter umzuwandeln und so die langfristige Verfügungsgewalt über Grund und Boden sicherzustellen. 40 Mit der Reformation wurde auch die Zehntfrage zu einem erstrangigen Politikum. Zwar hatte es schon zuvor Diskussionen um Zehntrechte, Einnahmen daraus bzw. Abgabenverweigerung gegeben. Dies waren aber isolierte Streitigkeiten gewesen. Eine neue Dimension erhielt der Zehnt nun, da sich Sozialproteste mit religiösen Argumenten verbanden. Der Boykott des Zehnten wurde zum Teil als Instrument 38 J OHANNES K ESSLER , Sabbata. Mit kleineren Schriften und Briefen, unter Mitwirkung von E MIL E GLI / R UDOLF S CHOCH , hg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1902, S. 196. 39 P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 232f., folgt Kesslers Argumentation. Zum Ehrschatz ebd., S. 332f. 40 Zum Ehrschatz und zur Abgabepflicht P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 266f.; W. M ÜL - LER , Offnungen (Anm. 28), S. 65-67. <?page no="110"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 109 verwendet, um die Pfarrwahl in der Gemeinde zu beeinflussen. Solche Abgabeverweigerungen dürfen aber nicht nur als antiklerikales Zeichen interpretiert werden. 41 Denn durch den Verkauf oder die Verpachtung von Zehntrechten waren diese nicht mehr ausschließlich kirchliche Abgaben. Ein Boykott konnte also unterschiedliche Zehntherren wie Ammänner in den Gemeinden oder das St. Galler Heiliggeistspital treffen. In diesem Fall war das Ziel der Abgabenverweigerung, Neuverhandlungen über die Abgabemodalitäten zwischen Zehntherr und den abgabepflichtigen Untertanen zu lancieren. 42 Hier scheint das Heiliggeistspital gemäß den Pfennigzinsbüchern durchaus offen für flexible Lösungen gewesen zu sein. Formulierungen wie git gewonlich oder auch die Möglichkeit, Getreide durch etwas anderes, waz da vom ertrich uferstat, zu ersetzen, wie im Hof Engelswil bei Herisau, deuten darauf hin. Bei offensichtlicher Änderungen der Bodennutzung, wie in Lengwil bei Arbon, mussten die Zehntabgaben schließlich neu verhandelt werden, Ob ain bitzi oder ain infang beschäch in den zelgen, das sol sich och verzehenden, ohne dass der Zehnte grundsätzlich in Frage gestellt wurde. 43 Und letztlich wurde auch immer wieder um die Fastnachtshenne gestritten. Deren Abgabe war wohl in den meisten Fällen ökonomisch verkraftbar, als jährlich wiederkehrender Rekognitionszins aber ein typisches Symbol persönlicher Unfreiheit. Wer die Fastnachtshenne seinem Herrn gab, anerkannte seinen eigenen Status als Untertan des Lehensgebers. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Fürstabt darauf bestand und diese Abgabe immer wieder in seinen Landsatzungen und in den Schiedssprüchen rechtlich bindend festschreiben ließ. 44 Und auch das städtische Heiliggeistspital war vor Abgabeverweigerungen von Fastnachtshühnern nicht gefeit, wie das Beispiel des Rheintaler Bauern Uli Ditzi im Jahr 1448 zeigt. So ist im Schuldbuch vermerkt, dass er und einige weitere Bauern die Fastnachtshenne non vult dari, diese also nicht abgeben wollten. 45 41 P. K AMBER , Reformation (Anm. 37), S. 102-107. 42 P H . R OBINSON , Fürstabtei (Anm. 27), S. 251f., mit Beispielen aus den Gemeinden Oberdorf und Geiserwald; A LFRED Z ANGGER , Grundherrschaft und Bauern. Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung der Grundherrschaft der Prämonstratenserabtei Rüti (ZH) im Spätmittelalter, Zürich 1991, S. 594-596. 43 StadtA St. Gallen, SpitalA, A 3: Älteres Pfennigzinsbuch 1442-1444, fol. 23r, 90r. Vgl. dazu S TEFAN S ONDEREGGER , Landwirtschaft auf dem Papier und in der Praxis, in: C AROLA F EY / S TEFFEN K RIEB (Hg.), Adel und Bauern in der Gesellschaft des Mittelalters (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 6), Korb 2012, S. 249-270. 44 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), Landsatzung 1468, Art. 13, S. 8; Landsatzung 1498, Art. 13, S. 14; Schiedsspruch Oberamt 1525, Art. 2, S. 164-167; D ERS ., Offnungen (Anm. 28), S. 48f. 45 StadtA St. Gallen, SpitalA, C 2: Altes Rheintaler Schuldbuch 1444-1447, fol. 31v; S TEFAN S ONDEREGGER , Gegen die Leibeigenschaft: Die Reformation als Bauernrevolte, in: Reformation findet Stadt, Ausstellungskatalog, St. Gallen 2017, S. 56f. <?page no="111"?> A R MAN W EID ENMANN 110 6. Der Bauernkrieg im fürstäbtischen Territorium: neue Methoden der Eskalation Bewegten sich die Beschwerden, aber auch die Widerstandsstrategien der Untertanen bislang in den geordneten, traditionellen Bahnen, so traten um die Jahreswende 1524/ 25 neue Methoden der Konfliktführung zu Tage. Bereits Ende Januar ersuchte der Fürstabt die vier eidgenössischen Schirmorte, wie im Burg- und Landrecht vorgesehen, darum, einen Rechtstag Anfang März in Rapperswil zu organisieren. Der Gedanke dahinter war mehrteilig. Der schwelende Konflikt zwischen ihm und seinen Untertanen, der durch die Entwicklungen im Reich zusätzlich Nahrung erhalten hatte, sollte in steuerbare und dadurch beinflussbare Bahnen gelenkt werden. Der Rechtstag, der als eidgenössisches Schiedsgericht ausgestaltet war, sollte als Ventil dienen, um den angestauten Druck abzubauen. Durch diesen Weiterzug des Konflikts auf die eidgenössische Ebene sollten aber auch der Kreis der Involvierten vergrößert und allfällige Verhandlungen in die Länge gezogen werden. Damit konnte der Fürstabt Zeit gewinnen, um auf der ihm vertrauten eidgenössischen Ebene Allianzen zu seinen Gunsten zu schmieden. Dass mit den Gemeinden des Ober- und Unteramts getrennt verhandelt werden sollte, war ebenfalls Teil dieser Verzögerungstaktik. Außerdem bot die Fraktionierung der Landschaft den Vorteil, Kooperationen untereinander zu hintertreiben. 46 Dieses Vorgehen war vollumfänglich von Erfolg gekrönt. Der geplante Rechtstag musste mehrmals verschoben werden, bis sich Ende März Vertreter des Ober- und Unteramts vollkommen unvorbereitet und ohne Verhandlungsmandat nach Rapperswil begaben. Erst Anfang Mai hielten die Untertanen des Fürstabts schließlich zwei Landsgemeinden in Lömmenschwil ab, an denen sie ihre Beschwerden zusammentrugen, welche zwei Monate später in Rapperswil verhandelt werden sollten. 47 Während noch über Verfahrensfragen und schriftliche Vollmachten in Form von Gewaltbriefen verhandelt wurde, kam es zu zwei bemerkenswerten Zwischenfällen. Beschränkten sich die Gotteshausleute bisher auf die Abfassung von Beschwerdeschriften und Abgabeverweigerungen, hatten also einen allgemein akzeptierten Weg des formalisierten Widerstands gewählt, so wandten sie nun auch physische Gewalt an. Dabei ging es jedoch nicht darum, die Verhandlungen zu torpedieren oder gar abzubrechen, sondern diese mit symbolischen, kontrollierten Gewaltakten in der 46 P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 232-234; W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. XXIII-XXVII; H ANS N ABHOLZ , Die Bauernbewegung in der Ostschweiz 1524-25, Bülach 1898, S. 79-91. 47 P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 233; P H . R OBINSON , Fürstabtei (Anm. 27), S. 251-253. <?page no="112"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 111 Schwebe zu halten. 48 Bemerkenswert ist, dass sich in beiden Fällen die Stadt St. Gallen mehrheitlich passiv verhielt und sich so vor einem eindeutigen Positionsbezug zugunsten des Fürstabts oder der Gotteshausleute drückte. Ende Januar 1525 - just in dem Moment, als der Fürstabt die Schirmorte um ein Schiedsgericht bat - traten Vertreter des Klosters vor den städtischen Rat. Im Namen von Christoph Winkler, langjährigem Rechtskonsulent der Abtei, baten sie darum, dass dieser von seinem Wohn- und Amtshaus in Tablat, einer Siedlung im städtischen Umland, die unter fürstäbtischer Hoheit stand, in die Stadt ziehen dürfe, da er dort schon mehrmals bedroht worden sei. Als Vertreter des Abtes hatte Winkler seit Jahren zahlreiche Offnungen und Verträge zu verantworten und wurde deshalb von den Gotteshausleuten als Symbol der als negativ empfundenen intensivierten Herrschaftsverdichtung durch die Fürstabtei wahrgenommen. Bürgermeister und Rat der Stadt St. Gallen verwehrten diesen Wunsch jedoch. 49 Als die Spannungen nördlich und südlich des Bodensees zunahmen, beschloss die Stadt Anfang April, sich unter keinen Umständen in den Konflikt hineinziehen zu lassen. Dies umfasste den Schutz geistlicher Güter und des fürstäbtischen Personals sowie ein Verbot, sich mit der Landschaft zu verbrüdern. Schließlich sollte auch noch die Verteidigungsbereitschaft der Stadt erstellt werden - im Fall aller Fälle. Es handelt sich um ein eigentliches Stillhalteabkommen. 50 Möglicherweise waren die Erinnerungen an das Scheitern des Rorschacher Klosterbruchs noch allzu präsent, oder die städtische Obrigkeit räumte dem Aufstand der Landschaft eine zu geringe Erfolgsaussicht ein, insbesondere da sich dieses Mal die Appenzeller und Rheintaler ebenfalls heraushielten. Aus Sicht der städtischen Obrigkeit wollte man aber auch verhindern, dass sich Leute aus der Landschaft mit allfällig aufstandswilligen Stadtbürgern verbündeten. Denn dies hätte nicht nur die Selbständigkeit der Stadt gegenüber dem Fürstabt gefährdet, sondern auch den 1523 begonnenen kontrollierten Übergang der Stadt zur Reformation in Fragen gestellt. 51 Dies war wohl der vordergründige, politische Grund. Ein weiterer und wohl ebenso wichtiger Grund war, dass die Stadt und damit insbesondere ihre Institutionen - allen voran das städtische 48 D. VON M AYENBURG , Recht (Anm. 5), S. 184f.; P H . R OBINSON , Fürstabtei (Anm. 27), S. 258-261. 49 StadtA St. Gallen, Ratsprotokoll 1525, Eintrag vom 29. Januar, S. 100. Die Ereignisse um Christoph Winkler hat bereits J. K ESSLER , Sabbata (Anm. 38), S. 196f., beschrieben; vgl. auch H. N ABHOLZ , Bauernbewegung (Anm. 46), S. 80-82. 50 StadtA St. Gallen, Ratsprotokoll 1525, Eintrag vom 7. April, S. 106: 1. Das niemand beim closter, nonnehuser noch gaistlicher kein schaden noch unbillichs zufüg, weder mit wort noch mit werk. 2. Ob jendert ein sturm oder gschray ussgieng dz iederman in der statt blib, niemand daruff noch für die gricht lauff […]. 4. Das jederman gerüst sig mit schue und waffen ouch die puchsenschützen mit bulver, staine unnd allen dings grüst sye. 51 https: / / stadtarchiv.ch/ forschungsprojekte/ reformation-findet-stadt/ (aufgerufen am 12.8.2024). <?page no="113"?> A R MAN W EID ENMANN 112 Heiliggeistspital - ihre ökonomische Basis, sei es nun Flachs für die Leinwand oder aber Nahrungsmittel für die eigene Versorgung und den städtischen Markt, nicht gefährden wollten. 52 Die Stadt befand sich in einer schwierigen Lage, da sie die eigenen Interessen, die sie auf dem Land hatte, nicht aufs Spiel setzten wollte. Sie war im typischen Dilemma zwischen Positionsbezug und Neutralität. Welche Wirkung der Ratsbeschluss hatte, zeigte sich bereits zwei Tage später am Palmsonntag. Wiborada Mörli, die Vorsteherin der unmittelbar vor der Stadt liegenden Beginenklause St. Leonhard, berichtete eindrücklich, wie mehrere hundert Männer und einige Frauen ihr Haus gestürmt, die Vorräte und wohl auch einen Teil des Archivs geplündert hätten. Dass physische Gewalt nicht ausschließlich von Männern ausging, sondern auch Frauen sowohl als Täterinnen wie auch als Opfer daran beteiligt sein konnten, darauf wies Wiborada Mörli ebenfalls hin: Und fillent uber die Mur in, und do zerstieß der Otmar Lütte das Hoff Tor zuo dem Ersten. Do kam wol II hunnder Man in Gartten, und do zer stießent sy die Huß Tur an Mitten an zway. Wie man inen Recht gebotten hat, do fiellent sy so wüttent in das Huß, als ob an Bluotz Tropf der Erbermd nit in enne wer. Sy handleten unß und wollten uber alle Schloß. […]. Do lut aine Sturm, do wol III hunndert Man da waren und me den LX Wiber. Do wolten sy zuo eßen und […] zuo trincken han, do kunndent wir nit gnuog uß dem Ker tragen mit Gelten und Amer. Sy fiellent selb in Ker und wollten die großen Ker Tür zerstoßen und den Win uß lon, do sp[rachen wir]: Wir wend uch gnuog gen, non schutenn in nit uß. Also weret es wol II Stund, das sy im Huß wuotten wie die truncken Main, als sy warent. 53 Bemerkenswert ist hier wieder die Reaktion der städtischen Obrigkeit, die sich zunächst passiv verhielt. Erst als die Schwestern den städtischen Rat um Hilfe baten, wurde dem Treiben Einhalt geboten. Der Unterbürgermeister und Joachim Vadian tauchten vor dem Kloster auf und überredeten die Randalierer, nach Hause zu gehen. Vadian, ein St. Galler Humanist und Mediziner, war zu diesem Zeitpunkt weder Bürgermeister noch Unterbürgermeister, aber trotzdem die zentrale Figur der Reformationsbefürworter in der Stadt und im Rat. Wiborada Mörli nennt ihn in ihrem Bericht despektierlich Doktor Watter. Ob sie damit seine Reformationsbemühungen indirekt kritisierte oder andeuten wollte, dass er hinter dem Anschlag auf St. Leonhard stecken könnte, muss offenbleiben. 52 S TEFAN S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Spezialisierung in der spätmittelalterlichen Nordostschweiz, in: M ARKUS C ERMAN / E RICH L ANDSTEINER (Hg.), Zwischen Land und Stadt. Wirtschaftsverflechtungen von ländlichen und städtischen Räumen in Europa 1300- 1600 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2009), Innsbruck 2010, S. 139-160. 53 VadSlg, Ms 195: W IBORADA M ÖRLI , Bericht über das Frauenkloster St. Leonhard in St. Gallen, , S. 15; C LAUDIA S UTTER , Städtische Klöster werden überfallen. Wiborada Mörli verteidigt die Schwestern von St. Leonhard, in: Reformation findet Stadt (Anm. 45), S. 64f. <?page no="114"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 113 Abb. 3: Das Kloster St. Leonhard im Zustand von 1844. Trotz Reformation und Klostersturm lebten bis 1576 weiterhin Schwestern darin. Nach dem Tod der letzten Bewohnerin wurden die Gebäude als Zucht- und Waisenhaus umgenutzt. Und auch Christoph Winklers Befürchtungen bewahrheiteten sich wenige Wochen später, trotz des dekretierten städtischen Schutzstatus. Wenige Wochen nach dem Zwischenfall in St. Leonhard versammelte sich Ende April eine Gruppe Gotteshausleute und schlug vor seinem Haus mit Stangen, Spießen, Trommeln und Pfeifen Lärm, ehe sie das Gebäude stürmte. Winkler, der so etwas erwartet hatte, versteckte sich in einem Zwischenraum im Zimmerboden. Die Eindringlinge richteten daraufhin großen Schaden an mit »Plündern, Brechen, Zerreissen, Trinken und Prassen nach Kriegsrecht« und nützten dabei die Gelegenheit, seine Bücher, Briefe und weitere Dokumente zu vernichten. 54 Auch der durch den Abt aufgebotene eidgenössische Schirmhauptmann konnte dem Treiben kein Ende bereiten und wurde mit groben Reden und Todesdrohungen weggeschickt. Schließlich wurde Winkler durch Zufall entdeckt, als einer der Randalierer seine Hellebarde in den Boden stieß. Erst nachdem der Fürstabt anbot, Winkler den Prozess zu machen, ließen die Gotteshausleute ihn frei. Der Prozess fand vier Monate später statt, Winkler wurde von 54 I LDEFONS VON A RX , Geschichte des Kantons St. Gallen, Bd. II, St. Gallen 1813, S. 495f. <?page no="115"?> A R MAN W EID ENMANN 114 allen Beschuldigungen freigesprochen und die Tablater mussten für den Schaden aufkommen. 55 7. Deeskalationsinstrumente: Landsgemeinde des Ober- und Unteramtes in Lömmenschwil und Rapperswiler Schiedsprüche Anfangs Mai hielten die Untertanen des Fürstabts nach längeren Verzögerungen je eine separate Landsgemeinde für das Ober- und das Unteramt in Lömmenschwil ab, bei der sie ihre Beschwerden zusammentrugen, die zwei Monate später in Rapperwil vor den eidgenössischen Schirmorten verhandelt werden sollten. 56 Sie formulierten in 16 Punkten Beschwerden und Wünsche an ihren Herrn, den Abt von St. Gallen: 57 1. Willkürliche Gefangensetzung bei leichten Vergehen wollte man nicht mehr dulden. 2. Abschaffung des Todfalls und anderer leibherrlicher Abgaben wie der ›Fasnachtshühner‹. 3. Abschaffung der Handänderungssteuer, das heisst des ›Erschatzes‹. 4. Zu grosse Belastungen mit Lehensverpflichtungen sollten nicht mehr toleriert werden. 5. Kriegskosten sollte die Herrschaft gleich wie andere zahlen. 6. Es sollte jeder auf seinem Boden ein Gewerbe wie Badstube, Metzgerei, Bäckerei, Schmiede oder anderes bauen dürfen. 7. Der Abt sollte in Zukunft uneheliche Kinder nicht mehr beerben können. 8. Jagd- und Fischereirecht für alle. 9. Kein Vorrang des Abtes gegenüber anderen Gläubigern bei Schuldrückzahlungen. 10. Der Abt solle für die Ausgaben für die Gefangennahme von Schuldnern aufkommen. 11. Bussen sollten von allen, Vermögenden und Unvermögenden, bezahlt werden. 12. Abschaffung des kleinen Zehnten. 13. Wichtige Landesgeschäfte sollte der Abt nur noch im Einverständnis seiner Untergebenen abschliessen können. 14. Die Untergebenen sollen ohne Erlaubnis Versammlungen abhalten können. 15. Frondienst sollten nur noch gefordert werden können, wenn dies mit schriftlichen Beweisen eingefordert werden kann. 16. Ausschankrecht für alle, ohne dafür bezahlen zu müssen. 55 H. N ABHOLZ , Bauernbewegung (Anm. 46), S. 83f. 56 Zu den Verzögerungen und den Verhandlungen am 30. März in Rapperwil vgl. Die Eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraume von 1521 bis 1528. Der amtlichen Abschiedesammlung, Bd. 4, Abt. 1a, bearb. von J OHANNES S TRICKLER , in: Amtliche Sammlung der älteren eidgenössischen Abschiede (ASEA), Brugg 1873, Nr. 258, S. 610-612. 57 Zitiert nach E RNST Z IEGLER , Zur Geschichte von Stift und Stadt St. Gallen. Ein historisches Potpourri (Neujahrsblatt des historischen Vereins 143), St. Gallen 2003, S. 26f. Original in ASEA (Anm. 56), Nr. 264, S. 629-635. <?page no="116"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 115 An den Klagen der Gotteshausleute fallen zwei Dinge auf. Im Gegensatz zu den gleichzeitig entstandenen Zürcher Gravamina fehlen hier religiöse Forderungen, wie Verkündigung des Gottesworts oder freie Pfarrwahl, vollständig. 58 Vielmehr sind sie nahezu identisch mit denjenigen, welche bereits vor dem Rorschacher Klosterbruch 1489 formuliert worden waren und als periodisch auftretender Widerstand gegen die Intensivierung der fürstäbtischen Herrschaftsbemühungen und damit der Ressourcenabschöpfung taxiert werden können. Der Kern der Beschwerden betraf, wenn sie nach größeren Sachgesichtspunkten abstrahiert werden, die Leibeigenschaft mit Todfall, Fastnachtshuhn, Frondienst und Erbfähigkeit unehelicher Kinder; dann die grundherrliche Ehrschatzpflicht, die an die Landesherrschaft gerichtete Forderung nach Wirtschafts- und Versammlungsfreiheit sowie schließlich die kirchliche Zehntpflicht. 59 Auch hier stand die Stadt St. Gallen demonstrativ abseits und beteiligte sich nicht an der Landsgemeinde. Einige Ammänner jedoch, die ihre Gemeinde als Inhaber der Niedergerichtsbarkeit dort vertraten, waren reiche Stadtbürger und brachten damit die städtischen und wohl auch persönlichen Interessen ein. 60 Schiedsverfahren hatten einen formalen Ablauf, auf den sich die verschiedenen Parteien zuvor geeinigt hatten. Zunächst wurden die eidgenössischen Schirmorte als Schiedsrichter bestimmt, die dann wiederum mit einem Anlassbrief die Konfliktparteien verpflichteten, die getroffenen Entscheide zu akzeptieren. Anschließend wurden die Verhandlungsführer der Konfliktparteien bestimmt, deren Kompetenzen mittels schriftlicher Vollmacht, einem sog. Gewaltbrief, definiert wurden. 61 Die Entscheide des Schiedsgerichts wurden letztlich in Form eines Schiedsspruchs beurkundet, wie dies am 17. Juli für das Oberamt und am 21. Juli für das Unteramt geschah. Beide Schiedssprüche sind bis auf einige lokale Besonderheiten über weite Strecken in Aufbau und Inhalt identisch. Angelehnt an das Urkundenformular wurden im Protokoll zunächst die Konfliktparteien aufgezählt und danach der Anlass des Streits umschrieben. Der Kontext widmete sich den verschiedenen Standpunkten der Parteien, die in formalisierter Form als Rede und Gegenrede detailliert aufgelistet wurden. Den Schluss bildete der jeweils entsprechende Schiedsspruch. Im Eschatokoll wurden dann noch die Beglaubigungsmittel erwähnt und die Urkunde datiert. 58 P. K AMBER , Reformation (Anm. 37) gibt zahlreiche Beispiele für die Verkündigung von Gotteswort und für die freie Pfarrwahl. 59 P. B LICKLE , Rebellion (Anm. 3), S. 262f. 60 P H . R OBINSON , Fürstabtei (Anm. 27), S. 278-292, mit zahlreichen Beispielen. 61 Schweizerisches Idiotikon, Bd. V, S. 494; W. MÜLLER, Rechtsquellen (Anm. 1), S. 228, Rapperswiler Schiedsspruch für das Unteramt. Zum formalen Ablauf eines eidgenössischen Schiedsverfahrens H ANS C ONRAD P EYER , Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 71-73. <?page no="117"?> A R MAN W EID ENMANN 116 Die Aussagekraft solcher Urkunden liegt auf den formalen und materiellen Aspekten des Verfahrens. Sie sind aber kein Protokoll der mündlichen Verhandlungen. 62 Die Ursache des Konflikts wurde in der Einleitung mit den Begriffen Spen, Zwitracht und Irrungen knapp umschrieben. Die Zielsetzung des Verfahrens war entweder die Gütlichkeit, also Einigung, oder, wenn dies nicht möglich war, ein rechtmäßiges Urteil. Uf söllich vilfaltig anrüfen und nach vil handlung so haben unser herren und obern einen tag gen Rapperschwil angsehen und gsetzt, den och beiden parthigen verkündt und uns mit vollem gwalt daruf abgefertgot, söllich spen, zwitracht und irrung, so zwüschen obgemelten parthigen sich haltend, in der gütlichkeit (sover es möglich) hinzelegen, wo es aber in der gütikeit nit möchte sin, demnach das recht darumb zesprechen und ergon zelassen. 63 Dass der Fürstabt bereits vor dem eigentlichen Schiedsgerichtverfahren seit Januar hinter den Kulissen mit den Schirmorten verhandelte, darauf deuten die bemerkenswerten Unterschiede zwischen den schriftlich formulierten Klagen der Gotteshausleute und den in den Schiedssprüchen protokollierten Standpunkten der Parteien hin. Ein weiteres Dokument, das als Ratschlag des Fürstabts bezeichnet wird, listet die Haltung des Fürstabts zu den einzelnen Klagepunkten der Gotteshausleute auf. Da Abt Franz Gaisberger seine Abtei in den Verhandlungen selbst vertrat, war dieser Ratschlag als Merkzettel gedacht, in dem exakt definiert wurde, auf welche Punkte einzugehen und welche aus der Verhandlung auszuschließen sowie welche rechtlichen Beweismittel vorzulegen seien. 64 Die Gotteshausleute des Oberamts begannen ihre Argumentation mit dem Rückgriff auf das Heilige Gotteswort und damit auf der Basis reformatorischer Glaubensüberzeugungen. Ihr zentraler Punkt war dabei, dass die ihnen auferlegten Bürden und Lasten nicht legitimiert und deshalb zu hinterfragen seien. Zum allerersten, so die gotzhuslüt und ire machtboten begerten und ein gütlich anmuten und frag zu unserm gnedigen herren von Sant Gallen täten, ob sin gnad si wellte lassen bliben bi dem heilgen gotswort, dem evangelium, bi der heilgen geschrift und bi der göttlichen warheit, und das sin gnad desglich si bi dem selben geleben, anhangen und nachkomen sollten und wellten, was mit der heilgen geschrift und mit dem heilgen gotswort möge war gemacht werden und si nit von dem selben zetrengen. 65 62 P H . R OBINSON , Fürstabtei (Anm. 27), S. 256f.; D. VON M AYENBURG , Recht (Anm. 5), S. 176-193. 63 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 155. 64 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 156, Anm. 1, S. 162, Anm. 7 zum Ratschlag; Original im StiftA St. Gallen, Bd. 100, fol. 10-21. 65 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 160. <?page no="118"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 117 Dieses Argument ließ der Fürstabt nicht einmal ansatzweise gelten. Nicht über Theologie, sondern ausschließlich über Gesetze und Verträge würde er verhandeln. Uf das unser gnediger herr von Sant Gallen die antwurt gab, söllich anzug nem in frömbd, angesehen das er nit vertaget und darumb hie sig, von des heilgen evangeliums und geistlicher dingen wegen und vom cristenlichen globen zedisputieren, sonder allein den gotzhus lüten uf ir vermeint beschwärden und clagen zeantwurten. 66 Damit war die Verhandlungsstrategie vorgegeben. Da göttliches Recht von vornherein abgelehnt wurde, mussten sich die Beschwerdeführer auf Altes Herkommen und Billigkeit, Kundschaften und Zeugenaussagen berufen. Nur in Ausnahmefällen konnten einzelne Gemeinden rechtsgültige Dokumente vorweisen, die ihre Privilegien belegten. Häufiger mussten die Gotteshausleute einräumen, dass die schriftlichen Beweisstücke die Position des Fürstabts unterstützten. In diesem Argumentationsnotstand blieb ihnen nur noch übrig, die Legitimität der vorgelegten Beweisstücke in Zweifel zu ziehen, indem sie auf den Entstehungszusammenhang hinwiesen oder den Beleg nicht wortwörtlich, sondern im übertragenen Sinn interpretierten. Demgegenüber argumentierte Franz Gaisberger mit Siegel und Brief. Die Aufhebung der Todfallabgabe und der Fastnachtshenne wurde mit folgender Begründung abgelehnt: Unser gnediger herr von Sant Gallen [habe] offnungen, instrument und spruchbrief […] und besonder der vertrag und berichtsbrief […] in welhen allen gar luter ustruckt würt, das die gotzhuslüt den fal und die vasnachthennen schuldig syen. 67 Auch die Aufhebung der umstrittenen Ehrschatzpflicht wies der Fürstabt kategorisch zurück, […] wie von alterhar und wie dann des gotzhus sprüch, verträg, brief und sigel, och urbar und lehenbücher uswisen. 68 Brief und Siegel, also die schriftliche, beglaubigte Urkunde, wurde damit zur allgemeinen Formel für sämtliche Rechtsansprüche und Herrschaftstitel, die das Kloster für sich reklamierte. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang waren die Argumente und Gegenargumente bezüglich des Fischfangs, sind sie doch typisch für die Frage der freien Ressourcennutzung. Denn die Fischerei war sowohl für den Eigengebrauch als auch für den Handel von Bedeutung. Die Gotteshausleute beriefen sich zunächst auf die göttliche Schöpfungsordnung, denn: 66 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 160. 67 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 167. 68 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 169. <?page no="119"?> A R MAN W EID ENMANN 118 Dwil alle thier uf erden und der fisch im wasser von Gott dem allmechtigen zuo nutz und ufenthalt dem mentschen gmein geschaffen, so vermeinten die gotzhuslüt, das einem herren von Sant Gallen nit gezim noch zuostand, inen söllichs zuoverbieten. 69 Außerdem hätten die Bodensee-, Thur- und Sitteranrainer seit alters her das Privileg, dort zu fischen, wo ihre Güter an die Gewässer anstießen. Auch hier berief sich der Fürstabt zunächst auf etlich privilegia und frihaiten von keiser und küngen, um anschließend auf alten bruch und harkommen zu verweisen. Das erste Argument betonte die Dignität des Ausstellers und erhob den Fischfang zum königlich verliehenen Regalrecht. Die zweite Begründung lehnte der Fürstabt bei seinen Untertanen grundsätzlich ab, ließ sie aber in diesem speziellen Fall für sich selber zu. So hatten die Fürstäbte seit Mitte des 15. Jahrhunderts die Fischereiordnungen stetig verschärft. Selbst der Bodensee wurde in der Landsatzung von 1498 unter Bußandrohung zum exklusiven klösterlichen Schutzgebiet erhoben. 70 Die Waldnutzung war ebenfalls ein permanenter Streitpunkt zwischen Kloster und Untertanen und manifestierte sich in zahlreichen Lokal- und Regionalbeschwerden. Die Bedeutung des Waldes als Energieträger, Baustofflieferant und als landwirtschaftliches Nutzgebiet kann für diese Zeit nicht hoch genug eingeschätzt werden. 71 Es ist deshalb nicht weiter erstaunlich, wenn die Untertanen auf obrigkeitliche Einschränkungen der Holznutzungsrechte sensibel reagierten. Im Gegensatz zur Fischerei weigerte sich der Abt jedoch, die Holz- und Waldnutzung für sein gesamtes Territorium vor den Schirmorten in Rapperswil zu regeln, obwohl die Gotteshausleute von Ober- und Unteramt diesen Punkt auch aufnehmen wollten. Stattdessen verwies der Abt auf die zahlreichen lokalen Forstordnungen und Urteile. Die Gemeinde Straubenzell in unmittelbarer Nähe der Stadt St. Gallen, aber wie Tablat bereits auf fürstäbtischem Territorium, ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Holznutzungsrechte über Jahrzehnte hinweg einen Zankapfel bildeten und mit welchen Argumenten im Verlauf der Zeit operiert wurde. Bereits in den Beschwerden von 1489 hatten die Straubenzeller ihre Holznutzungsrechte für sich reklamiert, drangen aber nach der Niederlage gegen die Eidgenossen mit ihrer Forderung nicht durch. 72 Auch die 1523 vor den Schirmorten eingebrachte Klage gegen den Fürstabt, der den Gemeindemitgliedern die gewohnheitsrechtlichen Holzschlagrechte mit dem Argument verweigerte, der Wald sei sein Eigentum, wurde abgewiesen. Im Gegenzug 69 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 175. 70 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 176, und S. 15, Landsatzung Art. 16: Dz niemand darin vischen noch krepsen sol, an ain buoss X lib d. Och sol niemand dehain holz uf den wassern abhöwen, damit man den vischen haben erzügen mögen. 71 S TEFAN S ONDEREGGER , Gossauer (Land-)Wirtschaft vor 500 Jahren (Oberberger Blätter 2008/ 2009), S. 109-122, zur Wald- und Holznutzung, S. 112f. 72 J. H ÄNE , Klosterbruch (Anm. 25), S. 254f., Beilage Nr. 25. <?page no="120"?> D IE G OTT ES HAUS L EU T E B EKLAG EN S IC H B EIM F ÜR S TA B T 119 bestritt der Fürstabt aber die Waldweiderechte der Straubenzeller nicht. 73 Schließlich klagten sie nochmals zwei Jahre später in Rapperswil. Dieses Mal versuchten sie mit Hilfe von Zeugenaussagen auf die althergebrachten Privilegien und auf die Notwendigkeit der Holznutzung hinzuweisen. Jacob Mochli, hoptman zuo Strubenzell und Michel Nistler mit bistand der andern geginen anwälten habend für uns bringen lassen, wie das ire altfordren noch in mentschen dächtnus die zwei höltzer, nämlich ein holtz genannt Watt, das ander holtz genannt Hätteren, gebrucht und genutzet hand zuo irem hus nach ir notturft. Darzuo hab ein jetlicher mögen darin faren und zuo der wuchen ein fuoder holtz uf den märckt füren, saltz und mel zuokofen. 74 Auch hier, analog zur Fischereifrage, zeigte sich der Fürstabt wenig kompromissbereit. Stattdessen betonte er erneut das exklusive Eigentumsrecht an diesen Waldstücken, das er mit einer besiegelten Urkunde belegen konnte. Neben dem berechtigten Schutz des Waldes vor Übernutzung ging das Interesse des Klosters jedoch weiter. Der Abt strebte sukzessive die rechtlich verbindliche und exklusive Verfügungsgewalt über den Wald an. Daraus leitete er dann automatisch Eigentumsrechte ab. Das damit angestrebte Ziel war neben der Nutzenmaximierung dieser natürlichen Ressource auch die Herrschaftsverdichtung der Fürstabtei. Diese stufenweise Monopolisierung kann ebenfalls als Teil eines Territorialierungsprozesses von fürstäbtischer Seite und damit als Ausbildung der Landesherrschaft gewertet werden. Sowohl bei den Schiedssprüchen für das Oberamt als auch bei denjenigen für das Unteramt folgten die Schirmorte mehrheitlich der Argumentation des Fürstabts. Durch die langwierigen Verhandlungen über die prozessualen Aspekte des Schiedsgerichts verpassten die Gotteshausleute letztlich das Momentum. Weder gelang es, wie beim Rorschacher Klosterbruch, die Stadt auf ihre Seite zu ziehen, noch konnten Allianzen mit der Landbevölkerung in der Nachbarschaft geschmiedet werden. Als sich die Streitparteien im Juli in Rapperswil trafen, waren die großen Schlachten im Reich bereits zu Ungunsten der Bauern entschieden worden. Für das Herrschaftsgebiet der Fürstabtei St. Gallen besiegelten die Schiedssprüche in Kombination mit der Landsatzung und dem Landmandat über Jahrhunderte hinaus das wechselseitige Verhältnis. Dadurch erhielten sie quasi den Charakter eines Grundgesetzes. 75 73 Die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen. Offnungen & Hofrechte, 1. Teil/ Bd. 1: Die alte Landschaft, bearb. und hg. von M AX G MÜR , Aarau 1903, S. 273-277. 74 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. 207f. 75 W. M ÜLLER , Rechtsquellen (Anm. 1), S. XXVI. <?page no="121"?> A R MAN W EID ENMANN 120 8. Fazit Im Vergleich mit anderen Regionen verlief der Bauernkrieg in der St. Galler Landschaft weitgehend zwischenfalls- und gewaltfrei. Einer der Gründe dafür war, dass sich sämtliche Akteure etablierter Methoden der Konfliktführung bedienten und sich dadurch nie außerhalb geordneter Bahnen bewegten. Hinzu kam, dass sich an der Substanz der Beschwerden seit dem Rorschacher Klosterbruch nichts geändert hatte. Permanent wurde über die Höhe der Feudallasten und über die Nutzungsrechte von Wäldern und Gewässern gestritten. Dies auch vor dem Hintergrund witterungsbedingter Ernte- und Preisschwankungen bei Grundgütern, welche in einer spezialisierten Landwirtschaft über den Markt bezogen werden mussten. Die Unruhen unter den St. Galler Gotteshausleuten wurde hauptsächlich durch die politische Situation in der Eidgenossenschaft und im Reich ausgelöst. Mit dem durch das Burg- und Landrecht begründeten Schiedsgericht stand jedoch ein Mittel zur Verfügung, das als Ventil der Konfliktbewältigung allgemein akzeptiert war und auch dieses Mal griff. Die relativ ungebrochene Tradition des Aushandelns von Interessenskonflikten in der Alten Eidgenossenschaft legitimierte und förderte diese Art der Konsensbildung. Dies stand im klaren Gegensatz zum Reich, wo die meisten Schiedsgerichtsprozesse am Vorabend des Bauernkriegs gescheitert waren. Betrachtet man nun die langfristig verfolgten Zielsetzungen der verschiedenen Parteien, so unterschiedlich diese waren, so wird deutlich, dass sich niemand einen Gewinn aus der Eskalation des Konflikts erhoffen konnte. Für die Gotteshausleute stand die fortlaufende und beharrliche Verhandlung über die freie Verfügungsgewalt über die natürlichen Ressourcen und der damit verbundenen Abgaben im Zentrum; eine Revolte hätte diese Zielsetzung nur torpediert. Sowohl für die Schirmorte als auch für die Stadt St. Gallen war die Verhinderung eines unkontrollierbaren Flächenbrands oberste Priorität. Einerseits wollten beide einen Präzedenzfall auf eidgenössischem Territorium vermeiden, zu frisch waren noch die Erinnerungen an die Wirren auf der Zürcher Landschaft und den Ittinger Klostersturm. Andererseits ging es der Stadt St. Gallen im Gleichschritt mit dem Schirmort Zürich auch darum, die Erfolge der Reformation nicht zu gefährden, sondern das Erreichte zu sichern. <?page no="122"?> 121 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Im Kampf um die Ressourcen. Vorarlberg am Vorabend und zur Zeit des Bauernkrieges 1. Einleitung Der Bauernkrieg spielt in der kollektiven Vorarlberger Erinnerung bis heute keine besondere Rolle. Das Wissen über die damaligen Ereignisse und den Anteil des Landes daran ist nicht sehr ausgeprägt. Entweder herrscht die Meinung vor, dass Vorarlberg mit dem Bauernkrieg nichts zu tun gehabt habe oder dass die Ereignisse zwischen Arlberg und Bodensee einfach Teil des Tiroler Aufstandes gewesen seien, dem sie auch in Geschichtskarten gelegentlich zugeordnet werden. 1 Das liegt vielleicht daran, dass der einzige Erinnerungsort im Land, der mit dem Bauernkrieg verknüpft ist, ein Symbol der bäuerlichen Niederlage ist. In der sog. ›Emser Chronik‹ des Georg Schleh von 1616, dem nach derzeitigem Wissensstand ersten in Vorarlberg gedruckten Buch, ist den Ereignissen von 1525 gerade einmal eine Drittelseite gewidmet. Wir erfahren lediglich, dass Merk Sittich von Hohenems eine Glocke aus dem Hegau nach Hohenems gebracht habe, die im Bauernkriegsjahr von den aufständischen Hegauern aus der Pfarrkirche zu Hilzingen geraubt worden sei, um aus ihr eine Kanone zu gießen, dass er die Bauern gezwungen habe, die Glocke an den Untersee zu ziehen und dass er schließlich 50 Rebellen an Eichen, die eine Straße vor Bregenz säumten, aufhängen ließ, weshalb diese noch ein knappes Jahrhundert später als die henckeychen bezeichnet wurden. 2 Auch sonst behandelte die lokale Chronistik den Bauernkrieg bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eher stiefmütterlich. Wenn der Anteil von Vorarlbergern daran überhaupt thematisiert wurde, wurden diese als Menschen gebrandmarkt, die sich »gegen den rechten Glauben« verfehlt hätten. 3 Tatsächlich kam es in etlichen Teilen des Landes zu Unruhen, aber 1 Beispielsweise: D IETER B RÜCKNER / J OSEF K OLLER (Hg.), Das waren Zeiten, Bd. 2, Bamberg 2013. 2 Georg Schleh, Hystorische Relation, oder Eygendtliche Beschreibung der Landtschafft vnderhalb St. Lucis Stayg vnd de Schallberg beyderseits Rheins bis an den Bodensee […], Ems (Schnell) 1616, Exemplar: Bregenz VLB. VD Schnell B. (d. Ä.) 1616/ 1 (Stiftsbibliothek), S. 35. 3 K ARL H EINZ B URMEISTER , Die Beziehungen Vorarlbergs zum Tiroler Bauernkrieg und zu Michael Gaismair, in: F RIDOLIN D ÖRRER (Hg.), Die Bauernkriege und Michael Gaismair. Protokoll des internationalen Symposions vom 15. bis 19. November 1976 in Innsbruck-Vill (Veröff. des Tiroler Landesarchivs 2), Innsbruck 1982, S. 161-170, hier 161. <?page no="123"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 122 »der Bauernkrieg griff […] nicht auf Vorarlberg über«, 4 wie ein kurzer Überblick über die damaligen Ereignisse zwischen Bodensee und Arlberg zeigen soll. 5 2. Vorarlberg und der Bauernkrieg Als Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlichte, studierte »[e]in gutes Dutzend Vorarlberger […] an der Universität Wittenberg«. 6 Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass sich reformatorisches Gedankengut schnell auch zwischen Arlberg und Bodensee bemerkbar machte und dabei auf eine beachtliche Resonanz stieß. In Feldkirch und Bludenz, in der Umgebung von Bregenz und im Bregenzerwald fanden sich zwischen 1523 und 1525 viele Anhänger der Lehre Luthers und später jener Zwinglis. Auch die Täuferbewegung sollte schon früh Fuß fassen, zunächst in Feldkirch, danach vor allem im Hinteren Bregenzerwald, in Au. Überhaupt machte sich ein rasch anwachsendes Unruhepotential im Land bemerkbar. In Bludenz entliefen 1524 die Nonnen aus dem Dominikanerinnenkloster St. Peter, und der Befehl, Luzius Matt zu verhaften, einen Kaplan, der in der Stadt die Reformation predigte, wurde offen missachtet. Als er schließlich Anfang 1525 doch ins Gefängnis kam, wurde er vom Untervogt und vom Stadtschreiber befreit, schließlich zusammen mit dem ebenfalls der Reformation zugeneigten Kaplan Thomas Gassner begnadigt sowie des Landes verwiesen. Auch die Zwölf Artikel waren nachweislich im Land verbreitet. Im April 1525 kam beispielsweise ein Ignaz Baumann in das Gefängnis des Merk Sittich von Hohenems, weil er - neben anderem - der gepaursame artikl by mir gehapt und darduch das gmain volck zu abfal der cristenlichen kirchen, ungehorsam irer oberkait und aufrurelicher emporlichait komen sein mecht. 7 So kam es wohl nicht überraschend, dass sich zwischen Arlberg und Bodensee im Frühjahr 1525 Anhänger der aufständischen Bauern des Allgäus fanden. Aus Hohenegg, also dem nördlichsten Teil der Herrschaften vor dem Arlberg, wurde Mitte Februar 1525 gemeldet, »dass der größere Teil der Untertanen […] zu den Allgäuer Bauern […] übergegangen sei«. 8 Wenig später, Anfang März, erklärten weitere Gerichte im nördlichen Teil der Herrschaften vor dem Arlberg, nämlich Simmerberg, Grünenbach und Langenegg, die 4 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg, in: E LMAR L. K UHN (Hg.), Der Bauernkrieg in Oberschwaben (Oberschwaben - Ansichten und Aussichten), Tübingen 2000, S. 411-419, hier 411. 5 Das Folgende stützt sich, sofern nicht anders angegeben, auf A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg (Anm. 4); D ERS ., Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2: Vorarlberg 1523 bis 1861. Auf dem Weg zum Land, Innsbruck 2015, S. 161-167; K. H. B URMEISTER , Beziehungen (Anm. 3). 6 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 161. 7 VLA, Urkunde 8407. 8 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 162. <?page no="124"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 123 alle zur Herrschaft Bregenz gehörten, sowie Krumbach und Unterlangenegg im Bregenzerwald, der zur Herrschaft Feldkirch zählte, den Beitritt zur ›Christlichen Vereinigung‹. Und am 5. März traf in Augsburg die Nachricht ein, »dass im Bregenzer Wald zahlreiche Gemeinden zu den Bauern übergelaufen seien«. 9 In Bludenz und im Montafon kam es Mitte des Jahres zu Unruhen. Vor einem der Bludenzer Stadttore wurde ein Bildstock umgestoßen, und es kam zu Ausschreitungen gegen einzelne Pfarrer. 10 In den benachbarten Gerichten herrschte dagegen eine distanzierte Haltung zu den aufständischen Bauern im Allgäu vor: Hofsteig, Hofrieden und Alberschwende, alle zur Herrschaft Bregenz gehörig, »blieben nicht nur ruhig, sondern stellten sogar Truppen gegen die Aufständischen«. 11 Auch der Hintere Bregenzerwald verhielt sich ablehnend. Seine Gerichtsorgane untersagten es den Bauern bei Androhung strengster Strafen, sich den Aufständischen anzuschließen, und »Landammann Kaspar Ehrhart bot sich mit Erfolg beiden Seiten als Vermittler an«. 12 Ähnlich stellte sich die Situation im Gericht Rankweil-Sulz dar. Auch hier bot sich der Landammann als Vermittler an und nahm als solcher an den Verhandlungen teil. Er leitete aber auch die Briefe der Christlichen Vereinigung, mit denen die Bauern zum Beitritt aufgefordert wurden, an den Feldkircher Vogt weiter. Sicherlich gab es in den genannten und anderen Gerichten, nachweislich in Rankweil-Sulz, Sonnenberg, Bludenz und in Blumenegg, wo die Landesherrschaft bei den Grafen von Sulz lag, Sympathisanten der Aufständischen. Sie blieben allerdings in der Minderheit. 13 Von Bedeutung war nicht zuletzt, dass ihnen die Städte Bregenz und Feldkirch die Unterstützung versagten. In Feldkirch kam es zwar zu Unruhen - Söldner, die sich um einen Teil ihres Soldes geprellt sahen, versuchten zweimal ohne Erfolg die Stadt anzuzünden -, diese hatten ihre Ursache allerdings in »nachbarliche[n] Spannungen«. 14 Im Juni 1525 genehmigten die Landstände schließlich die Aufstellung von Truppen, die Merk Sittich von Hohenems gegen die aufständischen Bauern im Hegau ins Feld führte. Als die Allgäuer Bauern etwa einen Monat später vor dem ›Bauernjörg‹ kapitulierten, befanden sich unter den Geschlagenen auch Bauern aus Hohenegg, Simmerberg, Grünenbach und Lingenau. In der Folge flüchteten etliche der Aufständischen nach Vorarlberg, wo sie in Bludenz gefangen gesetzt und - trotz heftiger Proteste der Bevölkerung - nach Hohenems und danach nach Bregenz überstellt 9 W OLFGANG W ÜST , Kommunikation im Bündnis. Zur Rolle oberdeutscher Reichsstädte in den Bauernunruhen 1524/ 25, in: ZHVS 92 (1999), S. 7-30, hier 21. 10 K. H. B URMEISTER , Beziehungen (Anm. 3), S. 164 f. 11 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 163. 12 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 163. 13 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 163. 14 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 163. <?page no="125"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 124 wurden. Zwei von ihnen wurden hier hingerichtet. Die anderen konnten schließlich mithilfe Einheimischer fliehen. 15 Ähnlich ambivalent war die Haltung zum Tiroler Aufstand des Michael Gaismair. Dieser fand vor allem in den südlichen Landesteilen etliche Anhänger. Einige von ihnen gingen auch nach Tirol und schlossen sich den Aufständischen an. Andere aber distanzierten sich später von ihm. Unter ihnen war Sebastian Nusch, der sich schließlich sogar »als Spion auf Michael Gaismair […] ansetzen« ließ. 16 Schließlich wurde der Landsturm aufgeboten und von Merk Sittich von Ems gegen Gaismair ins Pustertal geführt. 3. Beschwerden im Bauernkrieg aus Vorarlberg Im Gebiet Vorarlbergs kam es 1525 nicht zu einem Aufstand. Dennoch erhoben die Bauern ihre Stimme. In mehreren Beschwerdeschriften, die aus den verschiedenen Teilen des Landes stammten, wendeten sie sich an ihren Landesfürsten und beklagten erhebliche Missstände. Nach Schöch kam »der Protest des Volkes im Jahre 1525 in der Beschwerdeschrift der Bregenzerwälder an den Erzherzog Ferdinand« am deutlichsten zum Ausdruck. 17 Dieser Text erinnert sehr stark an die Zwölf Artikel. Kurz zusammengefasst lauten die Klagen und Forderungen der Bauern folgendermaßen: 18 Der Abt des Benediktinerklosters Mehrerau besetze die Pfarren, in denen er das Patronatsrecht besitze, nach seinem willen vnd gefallen mit münichen vnd phaffen on vnsere gunst vnd bewilligung, so dass die Bauern dadurch in manicherlay weg vbersetzt vnd beschwärt sind. Er enthalte diesen Priestern aus dem Zehenten und den Einkommen, die für ihren Unterhalt gedacht seien, die pessten frucht vor und nehme sie für sich selbst in Anspruch, so dass diese gezwungen seien, arm leut wider billichs zu beschwärn. Besonders schlimm sei die Situation in der Pfarre Andelsbuch. Diese habe der Abt seit langer Zeit mit Mönchen besetzt, die wenig vleis oder aufsehen auf die armen lewt vnd dem gotzdienst gehabt, sunder auf das einkomen derselben phründt. Da bei den Bauern mehrere päpstliche Mandate bekannt geworden seien, durch welche die Mönche ver- 15 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg (Anm. 4), S. 415. 16 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 166. 17 J OHANNES S CHÖCH , Die religiösen Neuerungen des 16. Jahrhunderts in Vorarlberg bis 1540, in: Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 9 (1912), S. 21-37, 81-107, 177-194, 259-280, hier 83. 18 Eine Edition der Beschwerdeschrift findet sich in: H ERMANN S ANDER , Einige Actenstücke zur Geschichte Vorarlbergs im Zeitalter des deutschen Bauernkriegs (Sonderabdruck aus dem Programm der k. k. Ober-Realschule in Innsbruck für das Studienjahr 1892-93), Innsbruck 1893, S. 5-10, Nr. II. <?page no="126"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 125 pflichtet würden, in ihren Klöstern zu bleiben und keine weltlichen Pfründen anzunehmen, sei der yezig münch und innhaber der phründt durch die pawrn im pundt vertriben worden. Wenn diese Pfründe weiter mit Mönchen besetzt werde, bestehe die Gefahr, dass sich die püntischen pawrn vndersteen, vns dester ee anzugreiffen. Auch die Pfarre Egg geriet in die Kritik der Bauern. Hier hatte die Äbtissin des Klosters Valduna das Patronatsrecht. Diese setze - so lautete der Vorwurf - seit Jahren schlechte Priester ein, die die pesten frücht vnd einkomen der pharr für sich selbst behielten, aber keine Seelsorge betrieben. Stattdessen setzten diese Vikare ein, bezahlten sie aber so schlecht, dass sich kain geschickhter priester finde, der das Vikariat übernehme. Dadurch sei der arm man […] merckhlich beschwärt worden. Aus diesem Grund gebe es derzeit auch keinen Pfarrer in Egg. Die Früchte und das Einkommen der Pfarrei würden aber dennoch eingezogen. Die Bauern wünschten daher, den Zehenten direkt an ihren Priester zahlen zu dürfen und diesen, wenn er sich nit erlich oder seinem standt gemess helt, oder das nit thuet, das er schuldig ist, entlassen zu dürfen. Sie ersuchten ihren österreichischen Landesherrn, ihnen zu gestatten, die pharren vnd phründten bey vns selbszuuerleihen, priester aufzunehmen vnd wider zu vrlauben. Weiter beklagten die Bregenzerwälder, dass das Kloster Mehrerau die todsfäll so streng vnd on alle erkanntnuss einfordere, das es zuerparmen ist. Namentlich kritisierten sie, dass diese Abgabe auch von Bettlern und armen Männern, die noch kleine Kinder hätten, on allen nachlass eingezogen werde, so dass kain gnad noch barmhertzigkait sei. Als sehr bedrückend empfanden sie auch die Art und Weise, wie der Abt der Mehrerau die sog. notzinsen, also »ein[en] Grundzins, bei dessen Nichtentrichtung der sofortige Einzug durch den dazu Berechtigten erfolgt«, 19 handhabte. Wenn die Bauern jene nicht pünktlich erlegten, nehme er sie nicht mehr an, sondern stelle die armen vnderthanen in Acht und Bann, eine Praxis, die nach ihrer Ansicht gar vnleidlich vnd wider gut vnd die pillichait sei. Aus diesem Grund waren sie der Meinung, diese Abgabe nicht mehr schuldig zu sein, dann wir wissen nit, wannenher die kumen sein. Auch andere grundherrliche Abgaben lehnten sie mit dieser Begründung ab: Die lehen stewr, vasnacht hennen, auch väll vnd gläss, welche die Reichsritter von Hohenems von reich vnd arm lewt also vngnedig vnd auf das aller strengist einzögen, wollten sie wie ähnliche Abgaben an den Abt der Mehrerau nur dann noch leisten, wenn die Hohenemser durch brief vnd sigl beweisen könnten, dass sie sie rechtmäßig von vnsern eltfordern erkauf haben. Ein weiterer wichtiger Beschwerdepunkt betraf die Schmälerung der Gemeindegüter, vor allem der Alpen. Die Bauern klagten, dass der Abt der Mehrerau bey vns souil alp vnd vorsass zusammenkaufe, dass er arm lewt dringt und sie von iren erblichen gerechtig kaiten verdränge. Sie warfen ihm vor, das durch haimlich practic […], die nit nach 19 Art. Notzins, in: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, https: / / fwb-online.de/ lemma/ notzins.s.0m (aufgerufen am 2.11.2023). <?page no="127"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 126 vnserem lansprauch vnd recht gefertigt, also im Widerspruch zu den Bestimmungen des alten Herkommens stehe, 20 zu tun. Weitere Beschwerden betrafen das Jagd- und das Fischereirecht. So beklagten die Bauern des Hinterwaldes, dass sie durch das Rotwild gantz vberladen seien. Auch dafür machten sie den Abt der Mehrerau und die Reichsritter von Hohenems verantwortlich. Diese würden das Wild ringweis vmb vns jagen und es so auf vns treiben. Dadurch erwachse ihnen ein großer Schaden, wo sie doch ohnehin nur über ain arm vnfruchtpar landt, da nichts dann waid vnd habern wechst, verfügten. Die zahlreichen Wasserläufe, die durch ihr Land verliefen, seien ihnen von Jakobi (25.7.) bis Martini (11.11.) verschlossen, richteten aber große Schäden an ihren Felder an. Das (Feldkircher) Hubmeisteramt überlasse die vischwaid um einen geringen Zins einem (reichen) Bauern, und niemand wisse, welicher massen solich beschwärd auf vns komen sind. Deshalb baten sie, dass die Fischweide für sie freigegeben werde. Wir finden hier einen Widerhall etlicher Forderungen aus den Zwölf Artikeln: die Forderung nach freier Pfarrerwahl, die Verwendung des Zehenten ausschließlich für den Unterhalt des Priesters, die Ablehnung ungebührlicher Abgaben, vor allem wenn unklar war, wie die Grundherren in den Besitz des Bezugsrechts gekommen waren, Klagen über die Entfremdung von Allmendgut, die Praxis der grundherrlichen Jagd, den Ausschluss vom Fischereirecht, die maßlose Handhabung des Todfallrechts 21 und die Missachtung des alten Herkommens. Dazu kamen noch einige 20 Die älteste Kodifizierung des Bregenzerwälder Landsbrauchs stammt von 1544. Die Beschwerdeschrift von 1525 ist jedoch nicht der einzige Hinweis auf einen lansprauch. Für weitere Beispiele vgl. K ARL H EINZ B URMEISTER , Die Vorarlberger Landsbräuche und ihr Standort in der Weistumsforschung (Rechtshistorische Arbeiten 5), Zürich 1970, S. 39. Wahrscheinlich dürften wir es hier noch mit einem Weistum im ursprünglichen Sinn des Wortes zu tun haben, also einem flexiblen Gewohnheitsrecht, das »im Zusammenwirken von Herrschaft und Gemeinde periodisch erfragt« wurde und »im beiderseitigen Einvernehmen gegebenenfalls auch aktuellen Bedürfnissen angepasst werden« konnte; K URT A NDERMANN , Bäuerliches Recht und herrschaftliche Verdichtung, in: D ERS ./ G ERRIT J ASPER S CHENK (Hg.), Bauernkrieg. Regionale und überregionale Aspekte einer sozialen Erhebung (Kraichtaler Kolloquien 13), Ostfildern 2024, S. 45-64, hier 51. Burmeister vermutet dagegen, dass sich die genannten Stellen auf eine später verloren gegangene Niederschrift beziehen. Er schließt das aus der Formulierung in einer Urkunde von 1542, in der vom »Landswort« die Rede ist. 21 Im elften Artikel ist die Rede davon, dass man Witwen, Waisen da Ir wider Got und Eeren also schentlich nemen, berauben sol […] und von den, so si beschützen und beschirmen sollten, hand si uns geschunden und geschaben; G ÜNTHER F RANZ (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 2), Darmstadt 1963, S. 178. In den Zwölf Artikeln wird also »[e]in rücksichtsloses, besitzgieriges Verhalten der Herren« angeprangert; H EIDE R USZAT -E WIG , Die 12 Bauernartikel. Flugschrift aus dem Frühjahr 1525. Im Anhang der Brief Christoph Schappelers an Huldreich Zwingli (Memminger <?page no="128"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 127 lokale Forderungen, wie die nach der Abschaffung gewisser Zölle. Dagegen fehlen die Klagen über die Praxis der Rechtsprechung, die Forderung nach einer grundsätzlichen Abschaffung der Leibeigenschaft oder des Todfalls - wenigstens im Hinteren Bregenzerwald - und vor allem die nach dem göttlichen Recht. 22 Die aus den anderen Landesteilen bekannten bäuerlichen Forderungen waren im Großen und Ganzen ähnlich. Das eine oder andere wurde anderswo etwas pointierter formuliert. Bei den Bludenzern, Sonnenbergern und Montafonern scheint der Wunsch nach der Pfarrerwahl in Form der Forderung nach Predigt des reinen und lauteren Evangeliums auf. Reformatorisches Gedankengut wird hier etwas stärker fassbar, wenn außerdem die Abschaffung »[a]lle[r] Opfer, Zeremonien, Jahrtage, Seelenmessen usw.« gefordert wird. 23 Dazu kam hier noch die Klage über die Praxis der Frevelstrafen sowie die Vertreibung des Luzius Matt. 24 In Sonnenberg wurde dagegen offensichtlich die gänzliche Abschaffung des Todfalls gefordert, 25 ebenso in Rankweil, Sulz, Jagdberg und Neuburg. 26 In den südlichen, zur Diözese Chur gehörenden Landesteilen, war außerdem die Kritik an der geistlichen Gerichtsbarkeit besonders stark. Geklagt wurde vor allem darüber, »daß das Hochstift die Zinsen seiner Güter damit eintrieb, und noch mehr, daß auch die Stadt Feldkirch auf diesem Wege die ausstehenden Einkünfte ihrer geistlichen Stiftungen einzog«. 27 Die Gerichte Rankweil, Sulz, Jagdberg und Sonnenberg stellten die geistlich Ordinarj Gericht schließlich »eigenmächtig« ab. Sie ließen diese nur noch für »Ehesachen und rein geistliche Angelegenheiten« gelten. Die Priester durften in diesen Gerichten keine »Vorladungen und Bannbriefe« mehr verkünden. 28 Geschichtsblätter, Sonderheft), Memmingen 2018, S. 45. Dies ist auch in der Beschwerdeschrift der Bregenzerwälder der Fall. Im Unterschied zu den oberschwäbischen Bauern fordern sie aber nicht die grundsätzliche Abschaffung dieser Abgabe. 22 Zu den Zwölf Artikeln: H. R USZAT -E WIG , Die 12 Bauernartikel (Anm. 21); P ETER B LICKLE , Die Revolution von 1525, 4. Aufl. München 2004, S. 24-104; D ERS ., Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 1), 3., aktual. und erw. Aufl. München 2012, S. 29f., 71f. 23 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 166. 24 H. S ANDER , Actenstücke (Anm. 18), S. 10f., Nr. III. 25 H. S ANDER , Actenstücke (Anm. 18), S. 11f., Nr. IV. 26 H. S ANDER , Actenstücke (Anm. 18), S. 12f., Nr. V. 27 J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 17), S. 87. 28 J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 17), S. 88. <?page no="129"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 128 4. Ressourcenkonflikte? In den Zwölf Artikeln spiegeln sich bekanntlich »viele ganz konkrete lebensweltliche Beispiele aus den Jahrzehnten vor 1525«. Bei einigen von ihnen ist ein Zusammenhang mit »Konflikten um die Ressourcennutzung« deutlich zu erkennen. 29 Im Folgenden soll daher danach gefragt werden, inwieweit dies auch bei den aus dem Bereich Vorarlberg überlieferten Klagen und Beschwerden der Bauern der Fall ist. Der Ressourcenbegriff wird dabei, wie in der Ankündigung dieser Tagung gefordert, »bewusst weit gefasst«, so dass auch »Versuche des vertraglichen Interessenausgleichs« oder das Streben nach einem »Zugang zu der Form seelsorgerischer Betreuung, der den individuellen Bedürfnissen der Zeitgenossen entsprach«, erfasst werden können. 30 Es geht folglich nicht nur um die »sozionaturale[n] Rahmenbedingungen« 31 der Jahrzehnte um 1520, also um »das komplexe Zusammenspiel von gesellschaftlichen und natürlichen Faktoren«, durch das sich die Kulturlandschaft und die Vorstellungen der Menschen von der Nutzung der Natur veränderten, 32 sondern auch um ›immaterielle‹ Ressourcen wie Herrschaft und Seelsorge. 4.1 Bevölkerungsentwicklung - Land Wenn wir danach fragen, inwiefern die Ereignisse der Jahre um 1525 »von den spezifisch örtlichen sozionaturalen Voraussetzungen abhingen«, 33 müssen wir unser Augenmerk auf die Bevölkerungsentwicklung zwischen Arlberg und Bodensee richten. Nachdem das 14. und 15. Jahrhundert durch eine Häufung von Krisen gekennzeichnet waren, die wohl auch hier zu einem markanten Bevölkerungsrückgang geführt hatten, 34 deuten »fast alle vorliegenden Daten und sonstigen Informationen 29 G ERRIT J ASPER S CHENK , Was wollten die Bauern? Die Zwölf Artikel und das Problem der Allmende, in: K. A NDERMANN / G. J. S CHENK (Hg.), Bauernkrieg (Anm. 20), S. 11-43, hier 28. 30 P EER F RIESS , »Beschwert und überladen? « Die Rolle regionaler Ressourcenkonflikte im Bauernkrieg von 1525, in: https: / / www.hsozkult.de/ searching/ id/ event-138700? title=be schwert-und-ueberladen-die-rolle-regionaler-ressourcenkonflikte-im-bauernkrieg-von-1525 &recno=1&q=Frie%C3%9F&sort=&fq=&total=62 (aufgerufen am 10.5.2024). 31 G. J. S CHENK , Was wollten die Bauern (Anm. 29), S. 11. 32 G. J. S CHENK , Was wollten die Bauern (Anm. 29), S. 28f. 33 G. J. S CHENK , Was wollten die Bauern (Anm. 29), S. 28. 34 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Klima, Pest und Bevölkerungsentwicklung im Bodenseeraum vom 14. bis frühen 17. Jahrhundert, in: S IGRID H IRBODIAN / R OLF K IESSLING / E DWIN E RNST W EBER (Hg.), Herrschaft, Markt und Umwelt. Wirtschaft in Oberschwaben 1300- 1600 (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 3), Stuttgart 2019, S. 53-76, hier 67-75. <?page no="130"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 129 […] auf starke Siedlungsverdichtung und Bevölkerungszunahme im späten Mittelalter hin«. 35 Verantwortlich dafür waren nach Kurt Klein vor allem die vorherrschende Realteilung, die zu relativ frühen Eheschließungen, einem hohen Prozentsatz an Verheirateten und in der Folge zu einer hohen Kinderzahl führten, sowie ein geringer Einfluss der Grundherrn, wodurch der Zerstückelung der Güter Vorschub geleistet wurde. Daraus ergab sich eine Siedlungsgeschichte, die »von einer kontinuierlichen und im Vergleich zu anderen Gebieten starken Siedlungsverdichtung und Bevölkerungszunahme geprägt« war. 36 Im 14. und 15. Jahrhundert lässt sich für den Bereich Vorarlbergs eine »Intensivierung der Landwirtschaft« beobachten, die sich im Rheintal und im Walgau durch Ausweitung des Weinbaus, im Bregenzerwald und entlang der Flüsse wie der Bregenzerache durch Zunahme der Holzwirtschaft und der Flößerei sowie in den hochgelegenen Landesteilen durch Ausdehnung der Almwirtschaft artikulierte. 37 Für den Weinbau wurden seit dem 14. Jahrhundert vielerorts ehemalige Äcker und Wiesen, aber auch Neubrüche in Rebgärten umgewandelt. Dies ist ausdrücklich bezeugt für Bregenz und Umgebung, 38 für Dornbirn, 39 für 35 K URT K LEIN , Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung Vorarlbergs im späten Mittelalter, in: Montfort 44 (1992), S. 125-143, hier 127. 36 K. K LEIN , Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung (Anm. 35), S. 127. Zur Vorarlberger Siedlungsgeschichte vgl. auch L UDWIG W ELTI , Siedlungs- und Sozialgeschichte von Vorarlberg (Veröff. der Universität Innsbruck 6/ Studien zur Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 1), Innsbruck 1973. 37 K. K LEIN , Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung (Anm. 35), S. 127. 38 Hier wurden während des gesamten 15. Jahrhunderts neue Weingärten angelegt. Instrumente dazu waren neben dem Roden von unbebautem Land das Einzäunen von Teilen der Allmende sowie die Umwandlung von Äckern und Wiesen. Diese Praxis lässt sich vielfach belegen. So übergab beispielsweise der in Bregenz wohnhafte Junker Ulrich von Schwarzach einen in Schwarzach gelegenen Acker als Erblehen an einen Dornbirner und machte ihm dabei zur Auflage, diesen in einen Weingarten umzuwandeln. In Rickenbach wandelte 1437 Clas Wolfurtsperger einen Baumin einen Rebgarten um. Diese Praxis spiegelt sich auch in den Flurnamen wider. In Hard ist 1458 ein Weingarten in einer das Aeckerli genannten Flur bezeugt, in Lauterach ein Weingarten mit dem Namen das Wiesly; B ENEDIKT B ILGERI , Bregenz. Geschichte der Stadt. Politik - Verfassung - Wirtschaft (Bregenz - Stadtgeschichtliche Arbeiten 1) Wien-München 1980, S. 134f. Die im Bereich des Gerichts Hofsteig hauptsächlich durch Bregenzer Bürger angelegten neuen Weingärten waren »Fluren am Rand der Ackerfelder, auch öfters einstiger Waldboden«; D ERS ., Bregenz. Eine siedlungsgeschichtliche Untersuchung (Schriften zur Vorarlberger Landeskunde 1), Dornbirn 1948, S. 149. 39 Hier erreichte der Weinbau »[s]einen Höhepunkt« im 15. Jahrhundert. Für diese Zeit ist für Dornbirn die Umwandlung von Ackerflächen in Weingärten bezeugt; A LOIS N IEDER - STÄTTER , Dornbirn im Mittelalter, in: W ERNER M ATT / H ANNO P LATZGUMMER (Hg.), Geschichte der Stadt Dornbirn, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Loskauf, Dornbirn 2002, S. 13-71, hier 55f. (Zitat); A LOIS N IEDERSTÄTTER , Quellen zur Dornbirner Geschichte im Mittelalter 895-1499, Dornbirn 2023, S. 193, Nr. 188. <?page no="131"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 130 Feldkirch und Umgebung 40 sowie für den Walgau. 41 Für Göfis, wo durch ein Churer Urbar von 1393 erstmals »ein Weingarten und der Weinzehent« belegt sind, ist aus der Lage der Rebgüter zu schließen, dass für diese Wald gerodet wurde. Die meisten von ihnen lagen nämlich »an den Waldrändern«. 42 Als treibende Kraft hinter diesem Wandel lassen sich zuallererst die Stadtbürger ausmachen. So gelang es nach Bilgeri »den Feldkircher In- und Ausbürgern […] mit erstaunlicher Energie«, nicht nur die unmittelbare Umgebung der Stadt, sondern »das ganze Oberland mit eigenen Weinbergen« zu durchsetzen oder wenigstens »die Anregung dazu« zu geben. 43 Auch in der Umgebung von Bregenz spielten die Stadtbürger bei der Ausdehnung des Weinbaus eine entscheidende Rolle. Sie konnten im Bereich der Gerichtsgemeinde Hofsteig, vor allem in Lauterach, Hard und Wolfurt, eine dominante Stellung aufbauen. Hier erwarben sie zum einen etliche bereits bestehende Weingüter und legten andererseits neue an. 44 Weiter kam dem Kloster Mehrerau Bedeutung zu. 45 In Dornbirn waren neben den Bewohnern dieser Gemeinde die Herren von Ems wichtige Akteure, in Klaus das Benediktinerkloster St. Johann im Thurtal (Kanton St. Gallen, Schweiz). 46 Insgesamt zeigt sich, dass im Gebiet Vorarlbergs Weingärten im ausgehenden Mittelalter »zu einträglichen Investitionsobjekten für weltliche und geistliche Herren, aber auch für die Bürgerschaft, die auf diese Weise markant in das 40 Die Umwandlung von Äckern in Weingärten ist bezeugt für Levis (1383), die von Wiesen für Sulz (1387), die von Neubrüchen für den Ardetzenberg in Feldkirch (1392) und für Klaus (1399); B ENEDIKT B ILGERI , Politik, Wirtschaft, Verfassung der Stadt Feldkirch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: K ARLHEINZ A LBRECHT (Hg.), Geschichte der Stadt Feldkirch, Bd. 1, Sigmaringen 1987, S. 75-387, hier 157. 41 Die Umwandlung von Neubrüchen in Rebgärten ist in größerem Stil für Thüringen bezeugt. Hier sagten 1409 »mehrere 60bis 90jährige Männer wegen eines Streites um Neubruchzehent aus, daß […] einundzwanzig neue Weingärten entstanden, davon drei vor ihrer Zeit, die übrigen im Lauf ihres Lebens«; B. B ILGERI , Feldkirch (Anm. 40), S. 157. 42 J OACHIM S IMON M AYER , Der Weinbau in Göfis in Geschichte und Gegenwart, in: A NDREAS R AFFEINER (Hg.), Aspekte der Vorarlberger Landesgeschichte. FS für Franz Mathis zum 75. Geburtstag (Geisteswissenschaftliche Studien 9), Hamburg 2023, S. 155- 160, hier 155f. 43 B. B ILGERI , Feldkirch (Anm. 40), S. 157. Dazu auch: H ERBERT W EHINGER , Der Weinbau in Röthis, in: K ARL H EINZ B URMEISTER (Hg.), Röthis. Geschichte und Gegenwart, Röthis 1982, S. 433-476, hier 435f. 44 B. B ILGERI , Siedlungsgeschichtliche Untersuchung (Anm. 38), S. 149. 45 B. B ILGERI , Bregenz (Anm. 38), S. 135. 46 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1: Vorarlberg im Mittelalter, Innsbruck 2014, S. 48; zu Klaus im Detail: D ERS ., Der Besitz des Klosters St. Johann in Vorarlberg, in: W ERNER V OGLER (Hg.), Das Kloster St. Johann im Thurtal. Eine Ausstellung des Stiftsarchivs St. Gallen vom 13. April bis 5. Mai 1985. Katalog, St. Gallen 1985, S. 87-100, hier 88-91. <?page no="132"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 131 Wirtschaftsleben des Umlandes eingriff«, wurden. 47 Bilgeri konnte am Bregenzer Beispiel zeigen, dass die bäuerliche Bevölkerung im Zuge dieser Entwicklung ihre »wirtschaftliche Stellung entscheidend verbessert[e]«. Er stellte eine Zunahme des bäuerlichen »Güterbesitz[es] durch Rodung und Wiesenverbesserung«, zusätzliche Einkommensmöglichkeiten durch »Winzerarbeit wie im Transport« sowie einen deutlichen Aufschwung des »eigene[n] Weinbau[s]« fest. Die Bregenzer verwiesen bereits 1477 darauf, dass das Selbstbewusstsein der benachbarten Hofsteiger, deren wirtschaftliche Potenz zugenommen hatte, erstarkt sei. 48 Gegen Ende des 15. Jahrhunderts scheint dieser Prozess allmählich an seine Grenzen gestoßen zu sein. Wir hören nun immer häufiger von Konflikten um die Allmenden - ein klares Indiz dafür, dass der »Nutzungsdruck auf bisher gemeinsam, weniger oder nicht genutzte Ressourcen beziehungsweise Grundstücke« zugenommen hatte. 49 Im Alpenrheintal begegnen uns diese Konflikte in Form von Streitigkeiten um die Markgenossenschaften, also um Allmendgüter, die von mehreren Gemeinden gemeinsam genutzt wurden. So besaß der Reichshof Lustenau noch im 15. Jahrhundert einen gemeinsamen tratt mit den Höfen Berneck, Balgach und Kriessern. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden diese Gemeindegüter dann in einem konfliktreichen Prozess gegeneinander abgegrenzt. In einer ersten Etappe erfolgte 1518 die genaue Definition der Allmendgrenzen zwischen Lustenau, Balgach und Kriessern. Lediglich in einem kleinen Teil, dem Isenriet, blieb der gemeinsame Trieb und Tratt bestehen, der allerdings nur noch den Hofleuten aus dem linksrheinischen Teil Lustenaus offenstand. Dagegen wurden der gemeinsame Trieb und Tratt sowie Wunn und Waid zwischen Lustenau und Bernang zunächst wie von altersher beibehalten. 1534 stritten sich diese beiden Gemeinden dann darüber, ob zwei Fluren, die Rosenburgsau und das Böschach, in die gemeinsame Nutzung einbezogen werden sollten oder nicht. Ein Schiedsgericht bestätigte schließlich die Regelung von 1518, konkretisierte diese aber in einigen Punkten. So wurde die gemeinsame Nutzung auf den Viehauftrieb beschränkt. Die Holznutzung wurde dagegen allein den Lustenauern zugesprochen. 50 Ähnliche Konflikte trug Lustenau mit Höchst und 47 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 46), S. 48. 48 B. B ILGERI , Bregenz (Anm. 38), S. 135f. 49 G. J. S CHENK , Was wollten die Bauern (Anm. 29), S. 31. 50 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Der Reichshof Lustenau als landwirtschaftliche Einheit. Bemerkungen zu seiner Agrargeschichte während der frühen Neuzeit, in: Montfort 51 (1999), S. 57-110, hier 74f. Hier zeigt sich deutlich die Polyfunktionalität dieser Gemeindegüter. Sie umfassten auch den Auwald, »einen Niederwald, dessen Holz alle 10 bis 20 Jahre genutzt wurde«. Er diente zudem als »Waldweide für die Schweinemast« und zum »Sammeln von Laubstreu«; S TEFAN S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung in der spätmittelalterlichen Ostschweiz. Eine Untersuchung ausgehend von den wirtschaftlichen Aktivitäten des Heiliggeist-Spitals St. Gallen (St. Galler Kultur und Geschichte 22), St. Gallen 1994, S. 335. <?page no="133"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 132 Dornbirn aus. 1515 wurden die Weidegrenzen zwischen dem Reichshof und Höchst neu festgelegt. Nach Franz Kalb hatten die Lustenauer in den Jahren vorher ihren Weidebereich nach Norden ausgedehnt, weil sie durch die Vermehrung der Wohnstätten, durch eine klimabedingt stärkere Ausrichtung auf die Viehwirtschaft und durch eine Ausweitung der südlichen Nachbargemeinde Ems zunehmend unter Druck geraten waren. 51 Zwischen Lustenau und Dornbirn ging es bereits 1443/ 44 und 1480/ 81 um die Abgrenzung der Mahdgüter. 52 Dornbirn trug 1463 mit Schwarzach und Farnach einen Streit um Vieh- und Weiderechte aus. Es erwirkte zunächst einen zu seinen Gunsten ausfallenden Schiedsspruch von Graf Hugo von Montfort-Tettnang, gegen den seine Kontrahenten ein Jahr später mit Erfolg an Kaiser Friedrich III. appellierten. 53 In das Jahr 1461 fällt ein heftiger Streit zwischen der Gemeinde Klaus auf der einen sowie Sulz und Weiler auf der anderen Seite. Dabei ging es um »Wunn und Weid, Trieb und Tratt«. Durch einen Spruchbrief wurden die bis dahin offensichtlich gemeinsam genutzten Flächen gegeneinander abgegrenzt, wobei aber Reste von gemeinsam durch die Gemeindeleute von Sulz und Röthis genutzten Gemeindegütern erhalten blieben. 54 1484 lässt sich ein Weidekonflikt zwischen Tosters, Feldkirch und Altenstadt beobachten, 1526 einer um den Viehtrieb zwischen Tosters und Tisis. Letzterer wurde schließlich durch den Spruch eines unter dem Vorsitz des Landammanns von Rankweil, Hans Rusch, tagenden Schiedsgerichts beigelegt. 55 Besonders deutlich wird der zunehmende Nutzungsdruck in einer Auseinandersetzung zwischen dem östlich des Rheins gelegenen Mäder und dem westlich davon liegenden Reichshof Kriessern und der Vogtei Blatten, die in den Rheinauen »gemeinsame Weide- und Holznutzungsrechte« hatten. In diesem Fall war u. a. konfliktauslösend, dass die Bevölkerung der Gemeinde Mäder besonders schnell wuchs. Der Schiedsspruch verfügte nämlich, dass »die Leute aus Mäder […] einen Fremden nur noch mit Einwilligung der Leute aus Kriessern und Blatten aufnehmen und dort bauen lassen« durften. In diesem Fall musste Mäder die Hälfte der Einkaufssumme 51 F RANZ K ALB , Der Jahrhundertstreit zwischen Lustenau und Höchst, in: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins (1990), S. 117-130, hier 125. 52 Zum Konflikt der Jahre 1443/ 44: T RAUGOTT S CHIESS (Bearb.), Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, Bd. 6: 1442-1463, Zürich 1955, S. 49, Nr. 4512, 66, Nr. 4583, 177f., Nr. 4620; VLA, Urkunde 6724; A. N IEDERSTÄTTER , Quellen zur Dornbirner Geschichte (Anm. 39), S. 126f., Nr. 126; zu jenem von 1480/ 82: Ebd., S. 207f., Nr. 208f. 53 A. N IEDERSTÄTTER , Quellen zur Dornbirner Geschichte (Anm. 39), S. 149-159, Nr. 161, 160-164, Nr. 163. 54 R UPERT T IEFENTHALER , Klaus. Die Geschichte der Gemeinde Klaus, Klaus 2002, S. 82. 55 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Tosters im Mittelalter, in: Tosters. Eine Dorfgeschichte, Feldkirch 2002, S. 59-73, hier 63f. <?page no="134"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 133 an seine Nachbarn westlich des Rheins abtreten. 56 Auch wenn im Bereich der Allmenden Einschläge oder Einhegungen vorgenommen wurden, also gemeinschaftlich genutztes Land in Individualbesitz überführt wurde, kam es wiederholt zu Konflikten. Diese Veränderungen mussten letztlich von allen an der gemeinschaftlichen Nutzung Beteiligten genehmigt werden. Dasselbe galt für die Aufnahme von Fremden. 57 Auch im Walgau lassen sich ähnlich Konflikte beobachten. 1509 musste, um nur ein Beispiel zu nennen, ein Schiedsgericht in einem Streit zwischen den Bergleuten am Thüringerberg auf der einen und den Dörfern Thüringen und Bludesch auf der anderen Seite, bei dem es u. a. um die gegenseitigen Grenzen sowie um die Viehweide, insbesondere um die Herbstweide, ging, entscheiden. 58 Auch hier kam es einige Jahre später, 1514, zu Nachbesserungen. 59 In den genannten Konfliktfällen wird die Sorge der Zeitgenossen vor einer »Übernutzung« der »landwirtschaftlichen Ressourcen« deutlich. Sie reagierten darauf mit unübersehbaren Abschließungstendenzen. So wurde, wie erwähnt, der Zuzug Fremder erschwert; außerdem wurden die Grenzen der Dörfer und die Gerichtszuständigkeiten definiert. 60 Dennoch wurden die gemeinsamen Allmendgüter nicht in allen Fällen geteilt. Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass diesen »grosse Bedeutung für alle« zukam. Der Vorteil, in einem genau definierten Teil alleiniger Nutzer zu sein, wurde von den Zeitgenossen offenbar in vielen Fällen geringer eingeschätzt als der Nachteil, dass sich dadurch dasjenige »Gebiet, in dem man überhaupt weideberechtigt war«, verkleinert hätte. 61 Die geschilderten Konflikte müssen in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Intensivierung des Weinbaus gesehen werden. Die Ausweitung der Rebflächen führte - wohl zusammen mit der schon erwähnten Bevölkerungszunahme - zwangsläufig zu einem »Verteilungskampf […] um Boden«. 62 Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang, dass die Intensivierung des Weinbaus regelmäßig von einer Ausweitung der Viehhaltung begleitet wurde. So kaufte, wie Stefan Sonderegger eindrucksvoll nachweisen konnte, das Spital St. Gallen, einer der wichtigsten Weinproduzenten der Region, parallel zur Ausweitung seiner Rebflächen vermehrt auch Wiesen an - und zwar nicht etwa, um sie in Weinberge umzuwandeln, sondern »als 56 S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 50), S. 336. 57 S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 50), S. 339f. Als Beispiel kann ein Streit zwischen Lustenau und Berneck dienen; ebd., S. 340. 58 VLA, Urkunde 6887. 59 VLA, Urkunde 6888. 60 S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 50), S. 336f. Im Zuge der oben erwähnten Auseinandersetzung des Reichshofes Lustenau mit seinen Nachbargemeinden Berneck, Balgach und Kriessern wurden 1518 seine westlichen Hof- und Gerichtsmarken genau definiert; W. S CHEFFKNECHT , Agrargeschichte (Anm. 50), S. 74. 61 S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 50), S. 339. 62 S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 50), S. 321. <?page no="135"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 134 Futterlieferanten für das Vieh«, das den für den Weinbau notwendigen Dünger lieferte. 63 Auch in Dornbirn verliefen der Ausbau des Weinbaus und der des Viehbestandes gegen Ende des Mittelalters zeitlich parallel. 64 Im Rheintal sind daher »Streitigkeiten, die um Weiderechte und um die Ausdehnung der Weide- und Wiesflächen entstanden, zu einem grossen Teil auf die Expansion der Rebflächen zurückzuführen«. 65 In den Hochtälern Vorarlbergs nahm die Viehwirtschaft »[s]eit dem 14. Jahrhundert […] einen deutlichen Aufschwung«. Wenigstens teilweise waren die »klimatische[n] Veränderungen - es wurde kälter und feuchter -« für diese Entwicklung verantwortlich. 66 In der Folge häuften sich hier die Konflikte um die Alprechte, wobei im 15. Jahrhundert ein gewisser Höhepunkt erreicht wurde. 67 Als immer mehr 63 S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 50), S. 318f., 321f., Zitat 318. 64 A. N IEDERSTÄTTER , Dornbirn (Anm. 39), S. 56. 65 S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 50), S. 323. 66 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 46), S. 47. Etliche Quellen legen Zeugnis davon ab, dass die Bauern im Bregenzerwald im 16. Jahrhundert mit einem Mangel an ausreichend fruchtbarem Ackerland zu kämpfen hatten. So war beispielsweise 1552 von lannd aman unnd ratt ain gepott us gegangen von der schweren bösen thüre wegen, das man die ruchen bösen geutter pawen unnd eren söllty, damit der arm man ettwa dester bass kornn erzeugen möchty unnd man ain anndern helffen sölly. Als sich Altlandammann Kaspar Erhart dagegen aussprach, wurde dies als Verstoß gegen den gemainen nuz gewertet; VLA, Urkunde 3889. Zum Hintergrund vgl. M ANFRED T SCHAIKNER , Landammann Kaspar Erhart und die Bregenzerwälder Hexenverfolgungen um die Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Montfort 50 (1998), S. 87-90. 67 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Bemerkungen zur Rinderhaltung im vorindustriellen Vorarlberg. Eine erste Bestandsaufnahme, in: Montfort 51 (1999), S. 118-128, hier 118. Beispiele für Spruchbriefe wegen Weiderechten zwischen Ludesch und Raggal (1405), zwischen Frastanz und Nenzing (1413), zwischen Bludesch und Thüringen und den Bergleuten (1419), zwischen Schlins und Nenzing (1429), zwischen Ludesch und Ludescherberg (1433 und 1434), zwischen Schnifis und Schnifiserberg (1438), zwischen Thüringen-Bludesch und St. Gerold (1439), zwischen Schlins und Nenzing (1452), zwischen den Gemeindeleuten von Schnifiserberg und den Walsern am Schnifiserberg (1456), zwischen der Gemeinde Schnifis und Hans Riner von Binzig (1457), zwischen Gurtis und Rungalätsch (1458), zwischen Beschling und Nenzing (1461 und 1462), zwischen Bürs und Vandans wegen Markung und Weidgang (1503). - Beispiele wegen strittiger Marken auf Vorsäßen und Alpen: Spruchbrief zwischen Schnepfau und dem Vorsäß auf der Fluh (1459), Grenzberichtigung zwischen den Alpen Spullers und Formarin (1462), Grenzberichtigung zwischen den Alpen Formarin und Aelpele (1479), Teilung von Alpgründen zwischen Wöster und Bockbach (1491); V IKTOR K LEINER , Urkunden zur Agrargeschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Veröff. der Leo-Gesellschaft am Bodensee 1), Bregenz 1928, S. 26-28, Nr. 17, 29-31, Nr. 18, 33-35, Nr. 20, 45 f., Nr. 26, 48-52, Nr. 28 und 29, 52f., Nr. 30, 54-56, Nr. 31, 60-62, Nr. 35, 69-71, Nr. 40, 71f., Nr. 41, 76f., Nr. 44, 78-80, Nr. 46, 83-86, Nr. 48, 90-92, Nr. 50, 92f., Nr. 51, 99f., Nr. 98, 107f., Nr. 63, <?page no="136"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 135 Vieh »[f]ür den Handel und Export« gezüchtet wurde, wurden diese nämlich »zu einem beliebten Investitionsobjekt«. Neben Stadtbürgern, den Reichsrittern von Hohenems und Vertretern des Dorfpatriziats tat sich in dieser Hinsicht vor allem das Benediktinerkloster Mehrerau hervor. 68 Die Alprechte dürfen dabei nicht von den Vorsäßrechten und den Weideflächen im Tal isoliert betrachtet werden. Es bestand nämlich eine »Diskrepanz zwischen sommerlichem und winterlichem Nahrungsangebot« für das Vieh. Die Bauern der Hochtäler waren aufgrund ihres Alpbesitzes in der Lage, wesentlich mehr Vieh zu sömmern als über den Winter im Stall mit Heu zu füttern. Als Lösung bot sich eine »vertikale Stufenwirtschaft«, bestehend aus »Talzone, Maibzw. Vorsäße[n], Frühalpen und Alpen«, an. Wenn den Bauern nun Teile der Mai- oder Vorsäße verloren gingen, verringerte sich auch die Zahl der Tiere, die auf den Alpen gesömmert werden konnte. Da bereits bei einer optimalen Nutzung der »vertikale[n] Stufenwirtschaft« die bestehende Diskrepanz »nicht ausgeglichen werden« konnte, 69 musste sich eine bestehende Ressourcenknappheit mit jedem Eingriff in eine der Stufen verschärfen. Wer während des Winters weniger Tiere im Stall füttern konnte, durfte im Sommer weniger auf die Alpen schicken. Ein Mangel an Alprechten wirkte sich umgekehrt wieder auf die Kapazitäten der Winterfütterung aus, da in den Sommermonaten in den Tallagen mehr Gras verfüttert werden musste und weniger Heu produziert werden konnte. Der Verlust von Alp- oder Vorsäßrechten musste also in jedem Fall zu einer Verringerung des Viehbestandes führen. Dies wirkte sich zwangsläufig auch auf die anderen Bereiche der Landwirtschaft aus. Die Rinder lieferten nämlich nicht allein Fleisch und Milchprodukte, sondern mit dem Mist einen wertvollen Rohstoff zum Düngen der Äcker und Weingärten. 70 Aus den genannten Gründen war das Kloster Mehrerau bemüht, möglichst viel Alpbesitzanteile - schwerpunktweise im Arlberggebiet, im Umland von Dornbirn und im Bregenzerwald - zu erwerben. In der unmittelbaren Umgebung des Klosters, am Bodenseeufer, war das Weideland beschränkt. Das Kloster musste daher bestrebt sein, das hier wachsende Gras möglichst in Form von Heu für die Winterfütterung 114-117, Nr. 68. Einen ausgezeichneten Überblick über die Quellen bietet A LOIS N IEDER - STÄTTER , Quellen zur Geschichte der Vorarlberger Alpwirtschaft bis um 1500, in: Montfort 70/ 1 (2018), S. 25-50. 68 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 46), S. 47. Dazu im Detail: D ERS ., Beobachtungen zur Kommerzialisierung der Alpwirtschaft im spätmittelalterlichen Vorarlberg, in: Montfort 70/ 2 (2018), S. 49-56. 69 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 46), S. 47. Als sich die »Schere zwischen dem auf der Heuernte basierenden winterlichen Futterangebot und dem durch den Ausbau des Alpwesens zunehmenden sommerlichen« immer weiter öffnete, konnte über die Viehmärkte und »das System der ›Mietkühe‹ « ein gewisser Ausgleich geschaffen werden; D ERS ., Beobachtungen (Anm. 68), S. 54. 70 A. N IEDERSTÄTTER , Dornbirn (Anm. 39), S. 56. <?page no="137"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 136 zu sichern. Da die Alprechte für die Bregenzerwälder Bauern ebenso wichtig waren, kam es zwangsläufig zu einer Konkurrenzsituation, in der sich das Kloster meistens als »kapitalkräftiger« durchsetzte. 71 Auch der Wald wurde zunehmend zu einem Streitobjekt. Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts entwickelte sich der Mehrerauer Klosterwald zu einer Konfliktzone. Bis dahin hatten ihn die Abtei und die benachbarten Dörfer Rieden und Hard gemeinsam genutzt. 1477 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Kloster und Hard um Holznutzungsrechte, die schließlich damit endete, dass im Wald Marken gesetzt wurden, um die Holznutzungs- und die Waldweiderechte abzugrenzen. 72 Etwa ein Jahrzehnt später wiederholte sich ein ähnlicher Konflikt zwischen dem Kloster und dem Dorf Rieden, das im »Klosterholz« Nutzungssowie Weide- und Wegrechte beanspruchte. Die Riedener beriefen sich auf das alte Herkommen, wonach ihre Vorfahren sowohl im Klosterwald als auch am Bodenseeufer Weiderechte besessen hätten. Sie sahen sich außerdem schutzlos der Praxis des Klosters ausgesetzt, Schweine auf ihre Felder zu treiben. Dieses Beispiel zeigt überdies, dass offenbar aufgrund der Bevölkerungszunahme immer mehr Wald gerodet wurde. So war etwa auch »die rechtliche Zugehörigkeit neuer Höfe, die im Klosterholz errichtet wurden, umstritten«. 73 1515 kam es zwischen den Kirchspielen Bludesch und Thüringen einerseits und dem Kirchspiel Schnifis andererseits zu einem Konflikt um den Wald Gamperlün. 74 Im Montafon entwickelten sich im 16. Jahrhundert immer wieder Konflikte zwischen den Bauern und den dortigen Bergwerken um das Holz, so dass spätestens 1530 mit dem Holzmeister ein landesfürstlicher Beamter bestellt wurde, der dafür verantwortlich war, dass für den Bergbau und den Betrieb der Schmelzhütten ausreichend Holz zur Verfügung stand. 75 Besonderen Anstoß erregte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, »dass die Feldkircher im Montafon ungehemmt Holz schlugen und auf der Ill nach Feldkirch flößten, um es gewinnbringend ins Ausland zu verkaufen«. Daraus entwickelte sich »eine Konfliktsituation zwischen den Bauern einerseits und der Obrigkeit andererseits«, die ihren Niederschlag in den 71 B ARBARA F ESSEL , Klösterliche Landwirtschaft - das Beispiel Mehrerau, in: Montfort 51 (1999), S. 48-56, hier 53. 72 B. F ESSEL , Mehrerau (Anm. 71), S. 53. 73 B. F ESSEL , Mehrerau (Anm. 71), S. 52f. 74 VLA, Urkunde 6889. 75 G EORG N EUHAUSER , Die Geschichte des Berggerichts Montafon in der frühen Neuzeit, Diss. phil. Innsbruck 2011, S. 130-134, Zitat 130. Zum Bergbau und den Bergleuten im Montafon vgl. A NDREAS H ACHFELD , Siedlungsgefüge und soziale Gruppen im Spätmittelalter, in: R OBERT R OLLINGER (Hg.), Montafon, Bd. 2: Siedlung - Bergbau - Relikte. Von der Steinzeit bis zum Ende des Mittelalters, Schruns 2009, S. 126-177, hier 141-146; K ARL H EINZ B UR - MEISTER , »Montafonium nostrum«. - Das Montafon in der Zeit um und nach 1500. Vom Schweizerkrieg bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: Ebd., S. 178-227, hier 197-201. <?page no="138"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 137 Beschwerden des Bauernkriegsjahres fand. Sie entspannte sich seit der zweiten Jahrhunderthälfte, als zunächst durch herrschaftliche Waldordnungen und später durch Gemeindeordnungen der Umgang mit der Ressource Holz geordnet wurde. 76 Die Sorge der Bauern, dass ihre Ressourcen knapp werden oder gar zu Ende gehen würden, lässt sich in allen Teilen des Landes auch durch das Bemühen um entsprechende gesetzliche Regelungen der Allmendennutzung innerhalb einer Gemeinde oder eines Gerichts belegen. In der reichsfreien Herrschaft Blumenegg ersuchten die Gemeinden Ludesch, Thüringen und Bludesch 1506 ihren Landesherrn, den Freiherrn Sigmund von Brandis, ihre Herrschaftsordnung zu kodifizieren, da der pemelten unser dryer dörfer nutzlicher pruch, regiment und verainung bisher lang zyt in unordenlichem wesen gehalten und fürgon lassen, und aber jetz gemainlich unser mergklich scheden verderpnis und unnutzberkait, so uns und unsern nachkomen dardurch entspringt. Fortan sollte niemand, wer der sy, dehain hus usserhalb der gemelten dryen dörfer weder im land noch an dem berg nit setzen noch buwen […], es sye dann hofstattrecht, wie man das von altem bruchher für hofstattrecht gehalten habe. Wer gegen diese Regelung verstieß, musste das Erbaute wieder abbrechen und der Herrschaft eine Geldstrafe in Höhe von zehn Pfund Pfennigen entrichten. Weitere Bestimmungen betrafen den Schutz der Wälder, vor allem der Bannwälder, und regelten den Umgang mit der Ressource Holz. So wurde bestimmt, daß nun fürohin niemand kain holtz oder tach, was holtz es sye, in gemainen oder aignen höltzern und welden, gehouen hinweg us der gerürten herrschaft Bluomenegg fletzen noch verkoufen sölle. Wenn aber jemand - Walser Hintersässen, Eigen- oder Gotteshausleute - geschlagenes Holz auf der Lutz aus der Herrschaft ausflößen wollte, so musste er es by Ludesch ungevarlich ufsetzen und die geschwornen der gemelten dryer dörfer zu sölichem, wann si es ufgesetzt haben, berufen und ze wissen thuon, und danne daselbs by den klauftern abzelen lassen, wievil desselben holtz oder tach sy. Und aber ainer dann oder mer es wyther hinweg flötzen wölten, dieselbigen söllen dann von ainem jeden vorgemelten klaufter holtz oder tach den nachpurschaften der vorgenanten dryer dörfer, so das oft beschicht, dry Sch. Pf., ob es aber ziegelholtz oder zwaier schytter lang were, von ainem jeden klaufter sechs Sch. Pf. bus verfallen und ze geben schuldig sin. Der Holzverkauf innerhalb der eigenen Herrschaft blieb dagegen frei. Wenn jemand in den welden oder Banhöltzer Holz für zimber zu sinem hus, stedel oder andern sinen nötlichen buwen schlagen wollte, mussten dazu die Geschworenen des Kirchspiels, in dem der Bau ausgeführt werden sollte, um Erlaubnis ersucht werden. Diese entschieden nach der Besichtigung des Baus über den Umfang des benötigten und zugeteilten Holzes. Zwischen den einzelnen Kirchspielen waren Entschädigungszahlungen vorgesehen, wenn das Bauholz über die Lutz wanderte. Die Bauherren erhielte aber lediglich das Bauholz, das abholtz oder afterschlag musste liegen bleiben. Es wurde von den Geschworenen daselbs verkouft und an gemainen nutz und frommen bewennt und beschriben. Bereits einige Jahre vorher war us großer mergklicher notthurft der 76 K. H. B URMEISTER , »Montafonium nostrum« (Anm. 75), S. 201f., Zitat 201. <?page no="139"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 138 obgerürten unser dryer dörfer und kilchspel halb durch sechzehen geschwornen darzu verordnet gewesen ain usschlag und entschidigung almain von aigen gütern allenthalben uszemarcken fürgenomen und beschehen. Die für widerrechtlich erkannten Eigengüter waren aber nach wie vor eingezäunt. Ihren Inhabern wurde nun eine Frist von knapp drei Monaten - bis zum Sannt Jörgen tag ( = 25.4.) - gesetzt, innerhalb derer sie diese ufthun und usschlahen söllen. Weitere Bestimmungen betrafen den Schutz eines neu angelegten Bannwaldes, den Einkauf in die Herrschaft sowie organisatorische Fragen bezüglich der Amtsführung der Geschworenen. 77 Im Reichshof Lustenau befand 1516 eine Gemeindeversammlung in Zusammenwirken mit ihrem Landesherrn Merk Sittich von Hohenems, dass die langjährig geübte Praxis, dass ain jeder im hof Lustnaw […] die richsgmaind - so nannte man hier die Allmende - ingefangen und daruff gehußet nach seinem willen und gefallen, dem Hof und den Hofleuten schädlich sei. Daher beschlossen sie, dass fortan kainer witer im hof Lustnau die freyen reichsgmaind soll einfachen, darauf weder heißer, städel noch kainerlei zimer pauen noch setzten one erlaubnuß aman und gerichts. 78 Auch andere Gemeinden sahen sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts gezwungen, strenge Regelungen einzuführen, beispielsweise Rankweil 1513, Göfis 1529, Blumenegg 1532, das Montafon 1545, Schnifis 1547, Nenzing 1551, Bludenz 1577 oder Nüziders 1592. 79 Aus diesen Beobachtungen lässt sich - vorsichtig - folgendes Zwischenfazit ziehen: Auch zwischen Arlberg und Bodensee scheint der Bevölkerungsrückgang des 14. und 15. Jahrhunderts den Menschen einen gewissen Spielraum für einen »tiefgreifenden Wirtschaftswandel« verschafft zu haben. 80 Als die Bevölkerungsverluste an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert aufgefüllt waren und die Siedlungsverdichtung ein in den Augen der Zeitgenossen erträgliches Maß zunehmend überschritt, trat dagegen die Sorge um eine Verknappung der Bodenressourcen in den Vordergrund. In einem konfliktträchtigen Prozess wurden Regularien für die Nutzung der knapper werdenden Ressourcen geschaffen. Dies geschah sowohl auf der Ebene der Gemeinde als auch zwischen benachbarten Kommunen und in Zusammenarbeit mit der Landesherrschaft. 77 Herrschaftsordnung Blumenegg 1506, in: K ARL H EINZ B URMEISTER (Hg.), Vorarlberger Weistümer; Teil I: Bludenz - Blumenegg - St. Gerold (Österreichische Weistümer 18), Wien 1973, S. 288-293. 78 L UDWIG W ELTI , Das älteste Lustenauer Hofrecht von 1536, in: Heimat 11 (1930), S. 82- 85, hier 84. 79 H ELMUT T IEFENTHALER , Frühformen von Raumplanung in Vorarlberg, in: Montfort 37 (1985), S. 340-355, hier 344-346; Herrschaftsordnung Blumenegg 1532, Landsbrauch Montafon 1545 und Kirchspielordnung Nüziders 1592, in: K. H. B URMEISTER (Hg.), Vorarlberger Weistümer (Anm. 77), S. 293-301 (besonders 296-301), 57-69 (besonders 59-62) und 234-237 (besonders 235f.). 80 G. J. S CHENK , Was wollten die Bauern (Anm. 29), S. 30. <?page no="140"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 139 4.2 Seelsorge Im Jahrhundert vor dem Bauernkrieg kam es auch im Gebiet zwischen Arlberg und Bodensee zu einem Aufblühen des »kirchliche[n] Stiftungswesen[s]«, das wir als Ausdruck einer weit verbreiteten »Angstfrömmigkeit« deuten dürfen. 81 Wie die weiter oben zitierten Beschwerdeschriften gezeigt haben, scheinen die Bauern »die Differenz zwischen den reichen geistlichen Pfründenbesitzern und ihren schlechtbezahlten untergebenen Leutpriestern, den ›Mietlingen‹ « schmerzlich wahrgenommen zu haben. 82 Ihr Wunsch nach besseren Priestern artikuliert sich in der Stiftung zusätzlicher Pfründen und im Bemühen, das Patronatsrecht in die eigenen Hände zu bekommen. Allein ins 15. Jahrhundert fallen zehn Frühmesspfründstiftungen: 83 1401 in Dornbirn, 84 1431 in Schwarzenberg, 85 1434 in Rankweil, 86 1452 in Egg, 87 1469 in Frastanz, 88 1473 in Götzis, 89 1478 in Lustenau, 90 1485/ 1508 in Nüziders, 91 1489 in 81 W INFRIED S CHULZE , Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert (Moderne deutsche Geschichte 1), Darmstadt 1997, S. 68. 82 W. S CHULZE , Deutsche Geschichte (Anm. 81), S. 69. 83 Dazu allgemein: A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 150-152, 185; S IBYLLE M ERZ , Beiträge zur Vorarlberger Kirchengeschichte im Mittelalter, Dipl. Innsbruck (masch.) 2000, S. 169-177. 84 L UDWIG R APP , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 4: Anhang zum Dekanat Bregenz. Dekanat Dornbirn. Dekanat Bregenzerwald. Erste Abtheilung, Brixen 1902, S. 97. 85 VLA, Urkunden 84 (Stiftsbrief), 85 (Erlaubnis der Stiftung durch Graf Friedrich zu Toggenburg) und 86 (Konfirmation und Approbation der Stiftung durch den Generalvikar des Bischofs Otto von Konstanz); A NDREAS U LMER , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 5: Dekanat Bregenzerwald. Fortsetzung und Schluß. Mit drei einleitenden Abhandlungen, Dornbirn 1924, S. 252f. 86 B ENEDIKT B ILGERI , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 3: Ständemacht, Gemeiner Mann - Emser und Habsburger, Wien u. a. 1977, S. 32. Die Stiftung erfolgte wohl noch im 14. Jahrhundert, wurde aber erst 1434 durch Bischof von Chur bestätigt; T HEODOR H AUSTEINER , Das kirchliche Patronatswesen in Vorarlberg, in: Montfort 9 (1957), S. 3-42, 230-252, sowie in: Montfort 10 (1958), S. 129-169, hier 137. 87 VLA, Urkunde 7513; L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 84), S. 630f. 88 A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 85), S. 196f. 89 L UDWIG R APP , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 1: Dekanat Feldkirch. Erste Abtheilung, Brixen 1894, S. 439. 90 VLA, Urkunde 5110. 91 J OHANNES S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 8: Dekanat Bludenz (ehemals Dekanat Sonnenberg), I. Teil, Dornbirn 1971, S. 54; T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 135. <?page no="141"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 140 Bludesch 92 und 1497 in Röthis. 93 Dazu kamen noch (vor? ) 1507 Göfis 94 und 1510 Satteins. 95 In diesem Zeitraum wurde überdies eine Reihe von Kaplaneien gestiftet: 1430 in Hard, 96 1455 in Raggal, 97 1460 in Sulz, 98 1512 in Sonntag 99 und 1517 in Bartholomäberg. 100 Bei den Frühmesspfründen war fast immer die Gemeinde oder wenigstens ein Teil von ihr an der Stiftung beteiligt. In Dornbirn erfolgte diese durch den Ritter Ulrich von Ems und »einige Pfarrgenossen«, 101 in Schwarzenberg durch den »Pfarrer, Kirchenpfleger und Bewohner«, 102 in Egg durch den Kirchherrn Heinrich von Fröwis und die gemain[en] undertan[en] und kirchgenossen in dem kirchspel an der Egg, alt und jung, rich und arm, 103 in Frastanz durch die Geschworenen, den Kirchenpfleger und die ganzen Gemeinde, 104 in Götzis durch den Pfarrer und die Pfarrgemeinde, 105 in Lustenau durch die Ritter Marquart und Rudolf von Ems sowie aman und gemaine[n] gedigen des richs hof ze Lustnow, 106 in Bludesch durch die gemain nachpurschaft des dorfs zů Bludesch, 107 in Röthis durch den Ortspfarrer, 108 in Nüziders durch Agnes 92 VLA, Urkunde 4874. 93 VLA, Urkunde 4412; L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 568. 94 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 246; L UDWIG R APP , Topographischhistorische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 2: Dekanat Feldkirch. Zweite Abtheilung und Dekanat Bregenz. Erste Abtheilung, Brixen 1896, S. 61f. 95 VLA, Urkunde 243; L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 94), S. 87-89. 96 L UDWIG R APP , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 3: Dekanat Bregenz. Zweite Abtheilung (Schluß), Brixen 1898, S. 152f. 97 J OHANNES S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 7: Dekanat Sonnenberg: Walgau - Blumenegg - Groß-Walsertal. Teil 2, Dornbirn 1965, S. 779. 98 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 583f. 99 J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 706. 100 B. B ILGERI , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 3 (Anm. 86), S. 31. 101 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Beiträge zur Dornbirner Kirchengeschichte im Mittelalter, in: Montfort 37 (1985), S. 303-315, hier 304, 308. Die Formulierung lautet: per aliquos ipsius ecclese subditor. 102 A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 85), S. 252-254. Die genaue Formulierung lautet: Nos procuratores luminum seu fabricae omnesque et singuli subditi et confratres laici ecclesie parochialis am swartzenberg. 103 VLA, Urkunde 7513. 104 A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 6 (Anm. 88), S. 197. 105 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 439. 106 VLA, Urkunde 5110. 107 VLA, Urkunde 4874. 108 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 563. <?page no="142"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 141 Sprüngli von Latz als »Hauptstifterin« und einige Gemeindemitglieder, 109 in Satteins durch Amman, gericht unnd gantze gemaind des Dorffs zu Sattains. 110 Da in den Stiftungsurkunden oft alle Stifterinnen und Stifter namentlich genannt werden, lässt sich abschätzen, wie stark das Bedürfnis nach einem zusätzlichen, von der Gemeinde wenigstens mit zu bestimmenden Geistlichen gewesen ist. In der Lustenauer Stiftungsurkunde werden unter den Stiftern neben den beiden Rittern von Hohenems und dem Pfarrer 90 Personen aufgezählt, darunter 18 Frauen. 111 Die Einwohnerzahl des Reichshofs betrug damals den Schätzungen Kurt Kleins zufolge etwa 600. 112 Somit dürfte gut die Hälfte aller Familien einen Beitrag zur Frühmesspfründe geleistet haben. Auch an der Stiftung der Kaplaneien waren die Gemeinden stark beteiligt. In Raggal ging die Initiative von Vertretern der Bergparzellen Raggal, Marul, Plazeren und Litze aus. Diese wandten sich an den Pfarrer von Ludesch und an den Lehensherrn ihrer Kirche, den Freiherrn Wolfhart II. von Brandis, und baten um die Erlaubnis, »ein ewig Mess in der Capell uff Rungäl zu stiften«. Sie begründeten ihr Ansinnen damit, dass es wegen der großen Entfernung oftmals, vor allem bei schlechter Witterung, nicht möglich sei, rechtzeitig zur Kirche in Ludesch zu gelangen, so dass bereits etliche ohne geistlichen Beistand gestorben seien. 113 In Sulz erfolgte die Stiftung der Kaplanei durch die Gemeindeleute, 114 ebenso in Hard. 115 Fast überall sicherte sich die Gemeinde zumindest eine Teilhabe am Präsentationsrecht für die Frühmesspfründen. Nur in Dornbirn übte dieses allein der Pfarrer aus. 116 Unklar ist die Situation in Göfis. Hausteiner vermutet, dass hier wahrscheinlich eine »freie bischöfliche Verleihung« bestand. 117 In Götzis lag das Präsentationsrecht beim Pfarrer und der Pfarrgemeinde, 118 in Lustenau bei den Herren von Ems, dem Kirchherrn sowie dem Ammann und ain[er] kirchhöry daselbsten, 119 in Schwarzenberg bei »Landammann, Rat und Gemeinde«. 120 In Egg besaß ursprünglich der 109 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 135; J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 8 (Anm. 91), S. 54. 110 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 94), S. 87. 111 VLA, Urkunde 5110. 112 K URT K LEIN , Die Bevölkerung Vorarlbergs vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Montfort 21 (1969), S. 59-90, hier 80. 113 J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 779. 114 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 583. 115 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 3 (Anm. 96), S. 152. 116 A. N IEDERSTÄTTER , Dornbirner Kirchengeschichte (Anm. 101), S. 304, 308. 117 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 246. 118 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 440f. 119 VLA, Urkunde 5110. 120 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 143. <?page no="143"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 142 Kirchherr Georg von Fröwis das Patronatsrecht. Er übertrug es aber den »Kirchgenossen«. 121 In Röthis war dagegen die Gemeinde von Anfang an alleiniger Inhaber des Patronatsrechts. Der Stifter, Pfarrer Rudolph Tugstainer, hatte es dieser unter der Bedingung übertragen, »daß sie zum ersten Male diese Pfründe seinem Sohne, Hanns Tugstainer, falls er Priester werden würde, verleihen sollten«. 122 In Satteins war ebenfalls die Gemeinde, die gemainen Nachpuren von Sattains, alleiniger Patronatsherr. 123 So war es auch in Nüziders. 124 Ähnlich ist die Situation bei den Frühmessstiftungen, die noch ins 14. Jahrhundert fallen. In Rankweil stand das Präsentationsrecht im 16. Jahrhundert »der ganzen Gemeinde« zu. 125 Ähnlich war die Situation bei den Kaplaneien. In Sonntag behielt sich zuerst Lienhard Thoman das Patronatsrecht vor und legte fest, dass dieses nach seinem Tod an seinen Bruder Simon, Untervogt in Bludenz, und danach an »die nächsten Leibserben, nach deren Aussterben auf die ganze Gemeinde« übergehen solle. 126 In Raggal lag das Patronat bei den Herren von Brandis, die Besetzung sollte aber immer »mit Rät oder Willen ains Kilchherrn ze Ludäsch und der Stifter von Rungäl, in Marul und by der Letz (Raggaler Litze)« erfolgen. 127 In Sulz 128 und Hard präsentierte dagegen die Gemeinde allein. 129 In den Stiftungsurkunden werden die Pflichten der Frühmesser und Kapläne genau definiert. Daraus ergeben sich wertvolle Rückschlüsse auf die Motive der Stifter. So gehörten zu den Standardpflichten der Frühmesser die Residenzpflicht, 130 die 121 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 241. 122 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 568. 123 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 94), S. 88. 124 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 135. 125 Die Stiftung erfolgte noch im 14. Jahrhundert, wurde aber erst 1434 durch den Bischof von Chur bestätigt. »Nach einem Investiturinstrument von 1594 steht das Präsentationsrecht der ganzen Gemeinde Rankweil zu«. 1728 wurde es an den Landesfürsten abgetreten; T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 137. 126 J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 706. 127 J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 779. 128 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 585f. 129 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 3 (Anm. 96), S. 154f. 130 In Nüziders; J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 8 (Anm. 91), S. 54; Satteins: es sol ain jeder priester, der je zu ziten vff söliche Pfrund bestätt wirt, selbs libs besitzen, Niemand verlyhen noch vbergeben, dann mit vnnserm wißen vnnd willen; L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 94), S. 88; in Götzis: der Frühmesser darf die Frühmesspfründe nicht von sich aus mit einem anderen Priester tauschen; L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 440f.; in Egg: […] ein jeglicher Priester, dem diese Pfründe geliehen wird, auf derselben persönlich sitze und sie versehe und länger als einen Monat von ihr sich nicht entferne, und daß kein Lehenherr Gewalt habe, demselben, dem diese Pfründe geliehen worden ist, zu erlauben, daß er einen Andern an seine Statt setze; L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 84), S. 630f. <?page no="144"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 143 Vertretung des Pfarrers in seiner Abwesenheit, 131 seine Unterstützung bei den Messen an Sonn- und Feiertagen 132 sowie das Lesen zusätzlicher Messen. 133 Es ging also vor allem darum, die jederzeitige Verfügbarkeit eines Priesters in der Gemeinde zu garantieren. Vor allem sollte gewährleistet sein, dass Sterbende die Sterbesakramente erhielten. Dies wird in den Stiftungsbriefen mitunter ausdrücklich festgeschrieben, beispielsweise in Schwarzenberg, wo es heißt, dass der Frühmesser in Notfällen Versehgänge durchführen müsse. 134 Fallweise - beispielsweise in Lustenau 1478 - wird er nicht nur dem Pfarrer, sondern auch den Untertanen gegenüber zum Gehorsam verpflichtet. Hier musste er auf Verlangen der Gemeinde jederzeit eine Messe lesen, wenn sie das vor einem Geschäft wünschte. 135 Die Forderungen an die Kapläne waren ähnlich. Auch von ihnen wurde gefordert, dass sie regelmäßig zusätzliche Messen lasen, 136 den Pfarrer im Bedarfsfalle 131 In Nüziders; J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 8 (Anm. 91), S. 54; Frastanz; A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 6 (Anm. 88), S. 196; und Lustenau; W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Pfarre und Pfarrgemeinde des Reichshofs Lustenau im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Neujahrsblätter des Historischen Archivs der Marktgemeinde Lustenau 11/ 12 (2021/ 22), S. 54-103, hier 82. 132 In Nüziders; J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 8 (Anm. 91), S. 54; Frastanz; A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 6 (Anm. 88), S. 196; Götzis; L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 440f.; Schwarzenberg; A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 85), S. 252f. 133 In Nüziders (täglich); J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 8 (Anm. 91), S. 54; Frastanz (vier pro Woche); A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 6 (Anm. 88), S. 196; Satteins (drei oder vier Messen pro Woche wie jn Gott ermanet); L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 94), S. 88; Götzis (»an allen Feiertagen in der Pfarrkirche unter dem Fronamte […], wenn es dem Pfarrer am füglichsten ist, damit das Volk desto zahlreicher in die Kirche komme und höre das heilige Gotteswort«, jeden Dienstag und Samstag in St. Arbogast, außer es fällt ein Feiertag oder ein Jahrtag auf diese Tage, und an allen anderen Tagen in der Pfarrkirche); L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 440f.; Egg (vier Messen pro Woche); L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 84), S. 631; Schwarzenberg (vier pro Woche, jeweils am Sonntag, Montag, Mittwoch und Freitag); A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 85), S. 252f.; und Lustenau (fünf Werktagsmessen pro Woche sowie an jedem Sonn- und Feiertag eine Messe); W. S CHEFFKNECHT , Pfarre und Pfarrgemeinde (Anm. 131), S. 82. 134 Diese Bestimmung findet sich beispielsweise in Schwarzenberg; A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 85), S. 252f. 135 VLA, Urkunde 5110. 136 In Sonntag (täglich eine Messe); J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 706; Raggal (wöchentlich vier Messen bei Androhung einer Strafe von fünf Plappart für jede versäumte Messe, außerdem jeden Sonntag eine Messe in der Kapelle von Raggal); J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 779f.; <?page no="145"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 144 vertraten 137 und ihm an den wichtigen Feiertagen assistierten. 138 In ähnlicher Weise wie bei den Frühmessstiftungen stand bei den Kaplaneien das Begehren im Vordergrund, dass die Gläubigen jederzeit mit den Sakramenten versorgt werden konnten. Es ist bezeichnend, dass der Raggaler Kaplan ausdrücklich verpflichtet wurde, das Sakrament in seiner Kapelle aufzubewahren, und dass ihm das Vornehmen von Taufen, Beerdigungen und letzten Ölungen erlaubt, dagegen das Recht auf »die Eheeinsegnung und die Hervorsegnung der Mütter« vorenthalten wurde. Letzteres stand allein dem Pfarrer von Ludesch zu. Auch das Spenden der österlichen Kommunion in seiner Kapelle wurde dem Kaplan untersagt. 139 Sein Sulzer Amtskollege erhielt die Erlaubnis, »den Gottesdienst zu Sulz, die größern Festtage, die aufgezählt werden, ausgenommen, zu besorgen, ja selbst an diesen letztern im Falle einer Ueberschwemmung der Frutz […] und zur Zeit grassierender Krankheiten, unbeschadet der Rechte des Pfarrers auf dem Frauenberge«. Er wurde überdies angewiesen, das hl. Sakrament in der Kapelle aufzubewahren, damit er jederzeit die Kranken und in Not Geratenen damit versorgen konnte. 140 Die Pflichtenkataloge verweisen darauf, dass die Gläubigen mit ihren Pfarrherren nicht zufrieden waren, dass sie sich von ihnen oft alleingelassen fühlten. Wir haben es hier mit dem - erfolgreichen - Versuch der Pfarrgemeinden zu tun, eine gewisse Kontrolle über die Seelsorge zu erhalten. Der Wunsch nach freier Pfarrerwahl, wie er uns in der Reformation und in den Zwölf Artikeln begegnet, kündigt sich hier bereits an. Dass der Wunsch nach würdigen und gut ausgebildeten Priestern bei diesen Stiftungen Pate stand, kam mitunter in ihren Bestimmungen deutlich zum Ausdruck. So wurde beispielsweise in Nüziders festgelegt, dass »[d]as erste Anrecht auf die Pfründe […] immer taugliche Priester oder solche, die innerhalb Jahresfrist es werden könnten«, hätten, freilich mit der Einschränkung, dass diese nach Möglichkeit aus der Verwandtschaft der Agnes Sprüngli stammen sollten. 141 In der Satteinser Stiftungsurkunde heißt es über die Person des Frühmessers, dass och ain jeder priester ain erber priesterlich wesen haben vnnd füren soll. 142 Ähnlich lautet die Formulierung in Hard (drei Messen pro Woche an Werktagen sowie jeden Sonntag eine Frühmesse); L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 3 (Anm. 96), S. 153f. 137 In Sonntag; J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 706; Raggal (Vertretung des Pfarrers von Ludesch); ebd., S. 779. 138 In Raggal; J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 780. 139 J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 779f. 140 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 583-586, Zitat 583f. 141 J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 8 (Anm. 91), S. 54. 142 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 94), S. 88. <?page no="146"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 145 Egg, wo der Frühmesser verpflichtet wurde, »ein ehrbares priesterliches Leben [zu] führen und den Leuten ein gutes Vorbild [zu] geben«. 143 Tatsächlich finden wir zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf den Frühmesspfründen häufig Geistliche, die eine Universität besucht hatten, also für ihre Zeit besonders gut ausgebildet waren: 144 In Bludesch wirkte von 1519 bis 1523 Jodok Werlin, der von 1510 bis 1512 an der Universität Wittenberg nachweisbar ist. 145 Udalricus Koch aus Weiler ist von 1521 bis 1523 als Frühmesser in Satteins bezeugt. 1503 war er an der Universität Wittenberg immatrikuliert. 146 In Sonntag finden wir mit Jakob Vonbun von 1516 bis 1524 einen Frühmesser, der von 1512 bis 1514 nachweislich an der Universität Wittenberg studierte. 147 Bürs, wo bereits seit 1347 eine Frühmesspfründe bestand, deren Patronatsrecht bei der Gemeinde lag, 148 hatte 1521 mit Johannes Fischer einen Frühmesser, der 1487 an der Universität Basel nachweisbar ist. 149 In Thüringen wirkte von 1503 bis 1506 Johannes Garnutsch, der 1501 in den Matrikeln der Universität Ingolstadt aufscheint. 150 Egg und Göfis hatten zeitweise 143 L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 84), S. 631. 144 Zur Priesterausbildung in Vorarlberg vgl. W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Universitätsbesuch und Seelsorge. Rekrutierung und Ausbildung von Priestern im frühneuzeitlichen Vorarlberg, in: D ERS ./ D IETMAR S CHIERSNER / A NKE S CZESNY (Hg.), Bildung und Region. Wissenstransfer und Institutionen in Schwaben und im Alpenraum vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Forum Suevicum 15), München 2023, S. 229-267. 145 O SKAR V ASELLA , Ergänzungen zu Ludewigs Verzeichnis der Vorarlberger Studenten, in: Montfort 3 (1968), S. 100-131, hier 124, Nr. 175. Zu seiner Person auch: A NDREAS U LMER , Bildungsverhältnisse in Alt-Feldkirch im Zeitalter des Humanismus, in: Montfort 2 (1947), S. 48-70, hier 54, der ihn aber als Jodok Werlin bezeichnet. 146 O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 145), S. 119, Nr. 147. - Eintrag in der Matrikel von Wittenberg: 1503 Udolricus coci de Feltkirch. Sem. I.; A NTON L UDEWIG , Vorarlberger an in- und ausländischen Hochschulen vom Anfang des XIII. bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts, (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs und Liechtensteins 1), Bern u. a. 1920, S. 120, Nr. 1. Zu seiner Person auch: L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 564. Er war außerdem von 1514 bis 1520 als Kaplan in Brand sowie ab 1520 als Vikar in Röthis tätig. 147 O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 145), S. 125, Nr. 183. - Eintrag in der Matrikel von Wittenberg: 1512 Jacobus von Bun de Velthkirchen dioc. Curien. 18. Junii. Jakob Vonbun aus Raggal wurde in Wittenberg am 28. März 1514 zum baccalaureus artium promoviert; A L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 146), S. 125, Nr. 24. Zu seiner Person auch: L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 518. 148 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 237. 149 O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 145), S. 114, Nr. 106. 150 O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 145), S. 117, Nr. 134. - Eintrag in den Matrikeln von Ingolstadt: 1501 Johannes Carnütsch de Veldkirich, 6 gr. 23. Septembris; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 146), S. 100, Nr. 9. <?page no="147"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 146 Frühmesser, die die Universität Heidelberg besucht hatten. 151 In Göfis finden wir mit Jakob Imgraben noch einen weiteren, der an den Universitäten Leipzig und Wittenberg studiert hatte. 152 Frastanz weist mit Leonhard Meyer 1510 einen Frühmesser auf, der 1492 an der Universität Krakau nachweisbar ist. 153 Und in Götzis finden wir mit Heinrich Setteli von 1517 bis 1522 schließlich einen weiteren, der die Universität Basel besucht hatte. 154 Auch Sonntag verfügte mit Jacob Vonbun vom Brunnen (de Ponte) aus Raggal zwischen 1516 und 1524 über einen Kaplan, der 1512 in der Wittenberger Universitätsmatrikel aufscheint. 155 In das Jahrhundert vor dem Bauernkrieg fallen auch mehrere Stiftungen neuer Pfarren durch die Bevölkerung. In diesen Fällen waren die Gemeinden jeweils bemüht, sich das Patronatsrecht zu sichern. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Beispiel des Tannberg. Hier wurde in Lech am Arlberg 1433 der Neubau oder die Vergrößerung einer älteren Kirche geweiht. Als Tannberg zusammen mit Mittelberg 1453 an Österreich kam, musste die Gemeinde das Patronatsrecht, das sie vorher offenbar ausgeübt hatte, an den neuen Landesherrn abtreten. 1538 erhielt sie es de iure zurück. 156 De facto wurde »die Pfarrerbestellung« am Tannberg allerdings trotz der Abtretung »auch weiterhin von der Gemeinde vorgenommen«, wie Mathias Moosbrugger zeigen konnte. Bis ins 17. Jahrhundert war es offensichtlich üblich, dass der Pfarrer von der Gemeinde jährlich gewählt wurde. 157 In Mittelberg, wo 1391 die neu erbaute Kapelle zur Pfarrkirche erhoben wurde, lag das Nominationsrecht bei der Pfarrgemeinde. Dies wurde damit begründet, dass sie für den Unterhalt des Pfarrers aufkomme. Das Präsentationsrecht befand 151 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Egg im Feudalzeitalter, in: Egg im Bregenzerwald, Egg 2008, S. 73-107, hier 97. 152 O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 145), S. 127, Nr. 196. Zum Studium: A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 146), S. 57, Nr. 69 und 127, Nr. 33. Zu seiner Person auch: L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 94), S. 62; J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 17), S. 30. 153 O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 145), S. 114, Nr. 115. - Eintrag in den Matrikeln von Krakau: 1492 Leonardus Johannis Meyersz de Velkerch, Curens. dioc. 2 fr. s.; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 146), S. 182, Nr. 1. Die Frastanzer Frühmesspfründe wurde 1469 gestiftet; T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 244. 154 O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 145), S. 105, Nr. 40. 155 J. S CHÖCH , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 7 (Anm. 97), S. 706. 156 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 129f.; A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 6 (Anm. 88), S. 20f.; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Die Anfänge: Der Tannberg bis 1563, in: B IRGIT O RTNER (Hg.), Gemeindebuch Lech, Lech 2014, S. 42-59, hier 54. 157 M ATHIAS M OOSBRUGGER , Kirchliches Leben im Gebirge. Streifzüge durch die Geschichte der Pfarre Lech, in: B. O RTNER (Hg.), Gemeindebuch Lech (Anm. 156), S. 124- 153, hier 131f., Zitat 131. <?page no="148"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 147 sich dagegen in den Händen der Herren von Heimenhofen, die Patronatsherren von Fischen im Allgäu waren, von dem sich die neue Pfarre abgespalten hatte. »Gegen eine jährliche Vogtsteuer« traten sie der Gemeinde schließlich auch dieses ab. 158 Im Zuge des Übergangs an Österreich mussten die Mittelberger 1453 zugunsten des neuen Landesherrn auf das Patronatsrecht verzichten, erhielten es aber auf ihre Bitte hin 1500 von Maximilian I. zurück. 159 In Fraxern stifteten 1502 die zusammengetretenen Gemeindemänner »eine hl. Messe oder beständige Pfründe mit pfarrlichen Rechten daselbst, sich selbst die Kollatur vorbehaltend«. In der Bestätigungsurkunde der Stiftung wird ausdrücklich betont, dass der Inhaber des Benefiziums dort wohnen solle. 160 Auch der Bau einer eigenen Pfarrkirche und eines eigenen Pfarrhauses in Widnau, das bis 1593 Teil des Reichshofes Lustenau war, ging auf die Initiative von gemeind und nachburschaft zu Wydnow zurück. Das Patronatsrecht blieb in diesem Falle allerdings bei den Reichsrittern von Hohenems. Lediglich beim ersten Mal durften die Widnauer zwei Kandidaten vorschlagen, aus denen der Patronatsherr einen auswählte. 161 4.3 Herrschaft Für die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts ist für das Gebiet Vorarlberg eine Reihe von Urfehden überliefert, in denen es um das Delikt des Friedbruchs geht. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine breite Palette von Vergehen, denen gemeinsam ist, dass sie irgendwie gegen das sich herausbildende ›staatliche‹ Gewaltmonopol und die Durchsetzung der Gerichtsverfassung gerichtet waren. 162 Ein Blick auf diese Delikte, vor allem aber auf die Art und Weise, wie sie sanktioniert wurden, kann aufschlussreich dafür sein, wie es um die immaterielle Ressource Herrschaft stand. 158 A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 85), S. 1052-1055, Zitat 1054; T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 86), S. 132f. 159 A. U LMER , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 85), S. 1059f.; J OSEF F INK / H IPPOLYT VON K LENZE , Der Mittelberg. Geschichte, Landes- und Volkskunde des ehemaligen gleichnamigen Gerichtes, Mittelberg 1891, S. 528f. 160 Die Formulierung lautet: Hainricus, Ep. Curiensis, missam perpetuam in nova ecclesia parrochiali Frachsneren per sacerdottem specialem saecularem, celebrandam a parrochianis et tota communitate ibidem fundatam, et per indultum Maximiliani Xaesaris approbatam, confirmat, ratamque habet, volens expresse, ut sacerdos seu plebanus, hoc beneficio fruens, ibidem residat; L. R APP , Topographisch-historische Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 89), S. 517. 161 W. S CHEFFKNECHT , Pfarre und Pfarrgemeinde (Anm. 131), S. 58. 162 A NDREAS B LAUERT , Das Urfehdewesen im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (Frühneuzeit-Forschungen 7), Tübingen 2000, S. 163. Dazu werden auch »Ungehorsamsdelikte« gezählt, worunter »eine ganze Palette kleinerer und größerer Vergehen«, wie beispielsweise »Frevelworte«, die sich gegen die örtlichen Amtspersonen richteten, aber auch »die Weigerung, vor Gericht zu erscheinen«, oder seine »Schmähung« zu verstehen sind; ebd., S. 113f. <?page no="149"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 148 1505 kamen beispielsweise die Brüder Konrad und Jos Hämmerle in das Gefängnis der Ritter Michel und Merk Sittich von Hohenems, weil von baid in kurtz verruckter zit frävelich wider amman, richter und ander zu Lustnow, so us pflicht unnd ond frid zu nemen unnd machen schuldig seyen, übere ir fridpott gehandelt haben. 163 1513 wurde Hainrich Binder von Ammann und Rat der Stadt Bregenz inhaftiert, weil er frävenliche wort gebrucht, inen getröwt und geflucht hatte und auch dem Stadtknecht, der ihm Frieden bot, getröwt und [sich] gantz ungeschicklich gehalten hatte. 164 1517 ereilte seinen Bruder Bastian Binder dasselbe Schicksal. Dieser hatte einen nächtlichen Streit angefangen und trotz Friedgebot fortgesetzt, außerdem mit vil unzimlicher gotzlestrung und frevenlichen bösen schwüren gegen ein Gebot der beiden Stadtherren sowie von Ammann und Rat verstoßen sowie zů zitten der vasten, so yeder cristenmennsch bichten, ru(e)wen unnd bůßfertigkait thůn sol, unzimlich truncken und dozemal ungeschickte wort und werck mit unnd gegen minen vatter gehanndelt. Einer Verhaftung durch den Stadtknecht hatte er sich entzogen und von derselbigen zit bis auff die stund miner yezigen venngknus des tags unnd nacht mit gewapneter hannd frevenlich in das statgericht gewanndlt. 165 1519 kam der Bregenzer Bürger Hanns Müller in das Gefängnis von Stadtammann und Rat, weil er den frid mir von dem geschwornen statknecht gepotten, nit hab wellen halten. 166 In das Gefängnis des Merk Sittich von Hohenems kamen 1526 Crista Jeger und seine beiden Söhne Claus und Michel aus Lustenau. Sie hatten über vilfeltigg fridpott und zu mererm mal gethon, von uns veracht unnd gebrochen und unzimlicher wyß daruber gehandlet. 167 Ein Jahr später geschah dasselbe mit Conrat Grabher. Auch er hatte mehrfache Friedgebote veracht unnd gebrochen unnd unzimlicher wis daruber gehanndlet. 168 In etlichen Fällen standen die Friedbrüche - wenigstens in den Augen der Obrigkeit - in einem Zusammenhang mit dem Bauernkrieg. Die beiden Bregenzer Bürger Damion Besinger und Alexius Egger wurden 1526 inhaftiert, weil sie in diser vergangen empörung und aufrůren der pauren jeweils mehrfach aufrührerische Reden gehalten und damit gegen ihr gelüpt und aid verstoßen hatten, 169 163 VLA, Urkunde 8311. Regest bei: A LOIS N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Eine Quellensammlung zur Rechts- und Sozialgeschichte des Landes (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs 6, der ganzen Reihe 13), Dornbirn 1985, S. 65, Nr. 69. 164 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 77f., Nr. 89, Zitat 77. 165 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 82f., Nr. 97. 166 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 88f., Nr. 107, Zitat 88. 167 VLA, Urkunde 8414. Regest bei: A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 97f., Nr. 120. 168 VLA, Urkunde 8418. Regest bei: A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 100, Nr. 124. Niederstätter datiert die Urfehde auf den 17.11.1527. Die abweichende Datierung ist darauf zurückzuführen, dass ihm lediglich ein älteres Regest der Urkunde vorgelegen hat. 169 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 97f., Nr. 119 und 121, Zitat 120. <?page no="150"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 149 Hanns Burckh aus Dalaas 1529, weil er zusammen mit einigen anderen im vergangnen uffru(e)rischen jar und auch sonst gantz ungeschickht und in all weg wider die herrschafft gewesen war und kungklicher mayestat ir […] rotgewild geschossen und erlegt hatte. 170 Die Liste ließe sich fortsetzen. In den meisten dieser Fälle kamen die Delinquenten frei, nachdem sie Urfehde geschworen hatten. Eine über die Untersuchungshaft hinausreichende Sanktion wurde nur in einigen Fällen verhängt, etwa 1526 bei den Söhnen des Crista Jeger aus Lustenau. Diese durften nun hinfüro on witter erlapnus unsers gnedigen hern dhain gewer noch waffen anderst dan ein brot oder bymesser im hoff Lustnaw mer antragen noch haben. Auch der Besuch von offenen zech oder yetten wurde ihnen bis auf weiteres untersagt. 171 Dieselbe Ehrenstrafe wurde 1527 bei Konrad Grabher aus dem Reichshof verhängt. 172 Eine ähnliche traf Hans Burckh aus Dalaas, der außerdem eine Geldstrafe in Höhe von 50 Gulden entrichten musste. Er durfte kain búchs, waffen noch hoche weren, weder tegen noch lange messer, mehr tragen. 173 Alle Urfehder mussten allerdings schwören, sich künftig so zu verhalten, wie es von ihnen gefordert wurde, sich an niemandem für das zu rächen, was in der Gefangenschaft vorgefallen war, und sich in dieser Angelegenheit weder an ein anderes Gericht zu wenden noch sich durch die Berufung auf irgendwelche Dispense, Privilegien oder Freiheiten von ihrem Schwur zu befreien. In den meisten Fällen mussten sie darüber hinaus Bürgen stellen, die sich verpflichteten, sie im Falle des Eidbruchs wieder ins Gefängnis einzuliefern oder der Herrschaft eine mehr oder weniger hohe Bürgschaftssumme zu entrichten. Diese Bürgen oder Tröster und die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen verdienen in diesem Zusammenhang unsere Aufmerksamkeit. Es zeichnen sich zwei Muster ab. In vielen Fällen stammten die Bürgen aus der engeren Verwandtschaft des Urfehders. Konrad und Jos Hämmerle boten 1505 ihren Bruder Kaspar sowie ihre Vettern Thyas und Hainrich Hämmerle auf. 174 Die beiden Brüder Hainrich und Bastian Binder stellten sich einander im Abstand von vier Jahren gegenseitig in dieser Funktion zur Verfügung. 1513 fungierte Bastian als Bürge für Hainrich, 1517 Hainrich für Bastian. Beide konnten jeweils zusätzlich noch einen Schwager einsetzen. 175 170 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 103f., Nr. 128. 171 VLA, Urkunde 8414. 172 VLA, Urkunde 8418; A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 100, Nr. 124. 173 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 103f., Nr. 128. 174 VLA, Urkunde 8311; Regest bei A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 65, Nr. 69. Zur genealogischen Einordnung: F RANZ S TETTER / S IEGFRIED K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch, 3 Bde., Konstanz 2012, hier Bd. 2, S. 375, he3/ 4 und he4, eventuell auch he6. 175 Hainrich Binder den Wolf Schnüfis und Bastion Binder den Lebzelter Wolff Farer; A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S.77f., Nr. 89 und 82f., Nr. 97. <?page no="151"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 150 Der Dalaaser Hanns Burckh stellte neben anderen seinen Sohn Ulrich als Bürgen. 176 Die Bürgen verpflichteten sich jeweils, den Urfehder im Falle seines Eidbruchs der Obrigkeit auszuliefern oder eine bestimmte Bürgschaftssumme zu entrichten. Bei Hainrich und Bastian Binder wurde deren Höhe mit dem durch den Eidbruch entstandenen Schaden festgesetzt. 177 Im Falle des Hanns Burckh betrug sie 500 Gulden Konstanzer Münze. 178 Konrad und Jos Hämmerle mussten ihrer Herrschaft 150 Rheinische Gulden verschreiben, das diss unnser aid und urfecht dis mit besserer sicherhait gegrundt unnd gehalten wird. Die Bürgen hafteten mit allen iren aigen güter, ligenden und varenden, für diese Summe und och umb alles, das so durch unns baid oder den ainen geschadiget, angriffen oder bekumbret wurd, och all costen und schäden, so die selben geschädigeten ain oder mer der schädigung halb erlitten hetten, genntzlich und gar usgericht, gewert und benügig gemacht worden sind. Diese Verpflichtung galt ausdrücklich auch für die Erben der Bürgen. 179 In den genannten Fällen hafteten also enge Verwandte mit ihrem gesamten Vermögen für die Einhaltung des Urfehdeschwurs. Praktisch wurde so jeweils eine ganze Familie zur totalen Unterwerfung gezwungen, weil sie »im Ernstfall ihre Existenz« riskierte. 180 Diese Strategie ist typisch bei Vergehen gegen die Obrigkeit. 181 Sie zielte darauf ab, die Urfehder wieder in das gesellschaftliche Gefüge einzubinden. Im Falle des Konrad Hämmerle ist das auf beeindruckende Weise gelungen. Er bekleidete in den folgenden Jahrzehnten mehrfach das Amt des Lustenauer Hofammanns und gehörte als Spitzenfunktionär der »Hemerlin-Rod-Gesellschaft« auch zur absoluten wirtschaftlichen Führungsschicht. Wir können in seiner Person einen der »Stabilisatoren im politischen und wirtschaftlichen Leben des Reichshofs« in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erkennen. 182 176 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 103f., Nr. 128. 177 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 77f., Nr. 89 und 82f., Nr. 97, Zitat 83. 178 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 103f., Nr. 128. 179 VLA, Urkunde 8311. 180 P ETER B LICKLE , Der Bauernjörg. Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg 1488-1531, München 2015, S. 378. 181 Christine Bührlen-Grabinger beobachtete dieses Phänomen für den Raum Pforzheim. Sie stellte fest, dass bei Vergehen gegen die Obrigkeit von den Urfehdern »sehr oft eine Bürgschaft verlangt wurde« und dass die Bürgen in diesen Fällen meistens »Verwandte des Ausstellers oder Freunde und Bekannte aus seinem Lebensumfeld« waren; C HRISTINE B ÜHR - LEN -G RABINGER , Urfehden für den Raum Pforzheim. Württembergische Quellen zur Kriminalitätsgeschichte 1416-1583 (Der Enzkreis. Schriftenreihe des Kreisarchivs 7), Pforzheim u. a. 2003, S. 26. 182 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Unterwerfungszwang und Disziplinierungsmittel. Urfehdebriefe für den Reichshof Lustenau aus dem 16. und 17. Jahrhundert als Herrschaftsmittel der Reichsritter/ Reichsgrafen von Hohenems, in: FS für Robert Rollinger zum 60. Geburtstag <?page no="152"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 151 Anstelle von Verwandten wurden in etlichen Fällen Amtspersonen oder ihnen Nahestehende als Bürgen aufgeboten. Unter denen des Crista Jeger und seiner Söhne findet sich 1526 neben Steffa Michel, Jos Alge und Ulrich Grabher auch Hans Keuffel, der zwischen 1488 und 1531 mehrfach das Amt des Hofammanns von Lustenau bekleidet hatte. 183 Konrad Grabher stellte 1527 neben Ulrich Nagel und Hans Fitz mit Kaspar Hämmerle einen Bruder des Hofammanns Konrad Hämmerle, der die Urfehde zusammen mit dem Vogt zu Fußach siegelte, als Bürgen. 184 In diesen beiden Fällen verpflichteten sich die Bürgen, die Delinquenten im Falle eines Urfehdebruchs binnen eines Monats in das Gefängnis des Merk Sittich einzuliefern oder 200 bzw. 100 Gulden rheinisch zu bezahlen. Für die genannten Summen hafteten auch sie jeweils mit ihrer gesamten liegenden und fahrenden Habe. 185 Unter den Bürgen des Bregenzer Bürgers Damion Besinger findet sich mit Jos Wyller der landesfürstliche Amtmann, 186 unter denen des Alexius Egger die beiden Bregenzer Ratsherren Jos Rott und Jos Bövler. Sie verpflichteten sich jeweils, den Urfehder auszuliefern oder 200 bzw. 400 Gulden zu bezahlen. 187 In diesen Fällen scheint es weniger darum gegangen zu sein, die Urfehder wieder in die Gesellschaft zu reintegrieren, als darum, eine möglichst effiziente soziale Kontrolle über sie auszuüben. Dabei setzten die Gerichtsherren offenbar auf die Zusammenarbeit mit Vertretern der lokalen Elite. 188 In den geschilderten Urfehdepraktiken wird eine »adäquate Strategie« erkennbar, »die öffentliche Ordnung in einer Zeit zu gewährleisten, in der die Ausbildung des öffentlichen Strafanspruchs noch in seinen Anfängen steckte«. 189 Gleichzeitig scheint es aber auch darum gegangen zu sein, die Gerichtsbarkeit der werdenden Territorien nach außen abzugrenzen. Das wird auch deutlich in den Schwurformeln, mit denen die Urfehder versicherten, keine anderen Gerichte anzurufen, und in der (im Druck), S. 103-119, hier 110. Zur Biographie des Konrad Hämmerle: D ERS ., Die Hofammänner von Lustenau. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Sozialgeschichte des Reichhofes, Diss. phil. (masch.) Innsbruck 1988, S. 320-328. 183 Zu seiner genealogischen Einordnung vgl. F. S TETTER / S. K ÖNIG , Familienbuch (Anm. 174), Bd. 2, S. 51, bo2; zu seiner Biographie vgl. W. S CHEFFKNECHT , Hofammänner (Anm. 182), S. 310-315. 184 Zur genealogischen Einordnung von Kaspar und Konrad Hämmerle vgl. F. S TETTER / S. K ÖNIG , Familienbuch (Anm. 174), Bd. 2, S. 375, he3/ 4 und he4; zur Biographie von Konrad Hämmerle vgl. W. S CHEFFKNECHT , Hofammänner (Anm. 182), S. 320-328. 185 VLA, Urkunden 8414 und 8418; A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 97f. und 100, Nr. 120 und 124. 186 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 97, Nr. 119. 187 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberger Urfehdebriefe (Anm. 163), S. 97f., Nr. 119 und 121. 188 W. S CHEFFKNECHT , Unterwerfungszwang und Disziplinierungsmittel (Anm. 182), S. 111. 189 A. B LAUERT , Urfehdewesen (Anm. 162), S. 106. <?page no="153"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 152 eidlichen Versicherung, dass sie im Falle des Urfehdebruchs durch nichts und niemanden vor den in der Urkunde angedrohten Konsequenzen geschützt werden könnten. Diese sind in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts durchwegs noch sehr umfangreich. Konrad und Jos Hämmerle aus Lustenau schworen beispielsweise 1505, dass sie weder von bapsten, kaysern noch kunigen noch sust von yemand anders davon dispensiert werden könnten. 190 Crista Jeger und seine Söhne betonten 1526, dass sie im Falle des Urfehdebruchs dhain gnad, freihait, gebott, verbott, gericht noch recht, weder gaistlich noch weltlich, dhain burgk recht, stat recht noch lands recht, dhain einnigung der fürsten, der hern noch der stet noch sunst dhain uszug, send noch gesänd, so wier uns hierine behelfen kunden oder möchten, nuytt frien, friden noch beschirmen solle. 191 Nach Blickle sollten so »[b]islang geduldete Freiheiten in der Wahl des Gerichtsorts« blockiert werden. 192 Bezeichnenderweise verschwanden diese Wendungen aus den Urfehden, sobald in den Territorien mehrgliedrige Gerichtssysteme mit einem klar definierten Appellationszug ausgebildet waren, wie kürzlich am Beispiel des Reichshofs Lustenau gezeigt werden konnte. 193 5. Erklärungen: Im Kampf um die Ressourcen und trotzdem weitgehend ruhig? In den Jahrzehnten vor dem Bauernkrieg häuften sich also in Vorarlberg die Ressourcenkonflikte. Im Unterschied zu den nördlichen und östlichen Nachbargebieten kam es aber nicht zu einem Aufstand der Bauern. Um die Frage, warum das so war, zu beantworten, sollten wir einen Blick darauf werfen, gegen wen sich die Beschwerden der Bauern richteten. Im Zentrum der bäuerlichen Kritik standen vor allem der Abt der Mehrerau, die Äbtissin von Valduna und die Reichsritter von Hohenems, also die unmittelbar erfahrbaren Grundherren, mit denen sich die Bauern in einem direkten Konkurrenzverhältnis um die Ressourcen sahen. Am deutlichsten wird dies beim Kloster Mehrerau. Gerade die oben geschilderten Konflikte zwischen der Abtei und den Dörfern Hard bzw. Rieden zeigen deutlich, »wie schwierig es gewesen sein muss, in direkter Nachbarschaft des Großgrundbesitzers Mehrerau zu leben«. 194 In den Hochtälern, vor allem im Bregenzerwald, empfanden die Bauern das Kloster als unbarmherzig und raffgierig, als eine geistliche Institution, die mit ihren überlegenen finanziellen 190 VLA, Urkunde 8311. 191 VLA, Urkunde 8414. Praktisch identische Wendung in: VLA, Urkunde 8418. 192 P. B LICKLE , Bauernjörg (Anm. 180), S. 378. 193 W. S CHEFFKNECHT , Unterwerfungszwang und Disziplinierungsmittel (Anm. 182), S. 115-117. 194 B. F ESSEL , Mehrerau (Anm. 71), S. 53. <?page no="154"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 153 Mitteln Alp- und Vorsäßrechte zusammenkaufte, dabei auch nicht vor Verstößen gegen das alte Herkommen zurückschreckte und so die armen Leute in Bedrängnis brachte und von ihren ererbten Rechten verdrängte, eine Institution, die den Zehenten seinem eigentlichen Zweck entfremdete und die Seelsorge verkommen ließ, die die Todfallabgaben unbarmherzig, ohne jede Rücksicht auf die Notlagen der Betroffenen, einforderte. Die Unerbittlichkeit dieser Abgabepraxis lag vor allem darin, dass sie nun »nicht nur beim Tod des jeweils Ältesten auf einem Hofe, sondern bei jedem männlichen Todfall abverlangt wurde und sich auf diese Weise vervielfachte«. Dies ist für die Gerichte Hofsteig und Alberschwende bezeugt. 195 Und auch die Reichsritter von Hohenems, die damals dabei waren, ihre Landesherrschaft zu konsolidieren und auszubauen, erschienen ihnen als Grundherren, die alle Arten von Abgaben vngnedig vnd auf das aller strengist einzogen und so die Bauern vberladen haben. Der Abt der Mehrerau fand sein Gegenstück als Hauptzielpunkt der bäuerlichen Kritik in den südlichen Landesteilen im Bischof von Chur. Auch hier drehten sich die Beschwerden um die Entfremdung des Zehenten, vor allem aber um den Missbrauch des geistlichen Gerichts. 196 Der österreichische Landesherr wurde dagegen in den Beschwerdeschriften nirgends direkt mit Vorwürfen konfrontiert. Wenn die Bauern Kritik an der Landesherrschaft übten, richtete sich diese ausdrücklich gegen ihre Amtsträger und deren Verwaltungspraxis. Erzherzog Ferdinand erscheint dagegen als vnser gnedigiste[r] herr, den die Bauern baten, er welle vns in den vilfeltigen artigglen vnd merckhlichen beschwärden hilflich vnd rätlich sein. Sie stellten keine Forderungen, sondern formulierten Bitten. Mit dem Verweis, dass etwa hundert Bauern aus dem Bregenzerwald zu den Allgäuern übergangen seien, ersuchten sie um eine entsprechende Reduzierung der jährlichen Zinsen, die sie dem Haus Österreich abliefern mussten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie sehr die Bregenzerwälder Bauern stets hervorhoben, dass sie nicht vom Gehorsam zu ihrem Landesherrn abzuweichen im Sinn hätten. Sie betonten, sie wollten alles das thun, das armen, frumen, redlichen leuthen vnd gehorsamen vnderthanen zuesteet vnd gebürtt, mit stewrn, raisen vnd dienst. 197 Ihre Absicht sei es, zusammen mit dem Landesfürsten, die Erhaltung des Friedens zu sichern. Sie hätten deswegen auch allen Versuchen der Allgäuer widerstanden, sie zur Beteiligung am Aufstand zu bewegen. Und sie verwiesen darauf, dass sie mit diesen bereits eine Art Nichtangriffspakt geschlossen und sich gegenseitig verpflichtet hätten, sich für den Fall, dass sie von ihrer Herrschaft - gemeint sind die österreichische Landesherrschaft bzw. die schwäbischen Bauernhaufen - zum Angriff auf den jeweils anderen 195 E LMAR H ALLER , Dankbrief Erzherzog Ferdinands von Österreich. Bewährung im Bauernkrieg 1525, in: G EBHARD B LANK u. a., Sulzberg. Stationen der Geschichte, Bregenz 1999, S. 20-23, hier 22. 196 J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 17), S. 87. 197 H. S ANDER , Actenstücke (Anm. 18), S. 5-10, Nr. II. <?page no="155"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 154 gezwungen würden, einander fünf Tage vor dem Angriff zu warnen. Um das Land vor einem Einfall der aufständischen Bauern aus dem Allgäu schützen zu können, erbaten sie von der österreichischen Landesherrschaft Waffen und Munition. Dies sei - ihrer Argumentation nach - umso wichtiger, als der Bregenzerwald gegen seine nördlichen Nachbarn kein pass, klausen noch besetzung habe und die unruhigen Gebiete vber drey meil wegs der leng nach an sy ligen vnd nicht darzwischen dann ain klains pächl. 198 Indem sie ihre Distanz zu den Aufständischen und ihre Treue zum Landesherrn betonten, rückten sie gleichzeitig ihre Schutzfunktion für das Haus Österreich in den Vordergrund. Daraus wird klar, dass die Bregenzerwälder den Bauernkrieg als Möglichkeit erkannt und genutzt haben, um von ihrer Landesherrschaft Unterstützung im Verteilungskampf um Ressourcen zu erhalten. Wie noch zu zeigen sein wird, verstanden sie, die Stände als wirksamen Hebel in dieser Hinsicht einzusetzen. Selbst die Bauern von Simmerberg, Grünenbach, Lingenau, Krumbach und Unterlangenegg, die sich der Christlichen Vereinigung angeschlossen hatten, betonten, dass sie »keineswegs von ihrer Obrigkeit abgefallen«, sondern dieser Vereinigung lediglich »zur Ehre Gottes« beigetreten seien. 199 Die Bauern waren mit ihren Forderungen zumindest teilweise erfolgreich. Die österreichische Regierung in Innsbruck versprach den Bludenzern und Montafonern, daz sy daz heillig ewangelium vnd die epistln clar vnd lawter nach dem text vnd rechtem cristenlichen verstandt predigen vnd verkünden lassen wolle, fügte allerdings im Nachsatz hinzu, dass dies so geschehen solle, wie ir f. d. des in derselben erblanden zu predigen vnd verkünden zulassen entslossen. Das schädliche Wild durfte bis auf weiteres gejagt werden. Eine landesfürstliche Kommission sollte alle strittigen Fragen untersuchen und danach eine endgültige Entscheidung fällen. 200 Auch die Bregenzerwälder erzielten zumindest einen Teilerfolg. Hier brachte eine Regierungskommission einen Vergleich zwischen den Bauern und dem Abt zustande. Dieser sicherte »die Besetzung der Pfarreien mit Laienpriestern« zu. Die Regelung hielt allerdings nur vorübergehend. 201 In Rankweil-Sulz, Neuburg, Jagdberg und Sonnenberg wurde der Todfall abgeschafft. Bregenz erhielt mit der Verzögerung einiger Jahre 1529 das Siegelrecht und die Erlaubnis, ein Wappen zu führen. 202 Die Bauern, die sich den Aufständischen angeschlossen hatten, wurden bestraft: Das Gericht Lingenau verlor das Recht, den Landammann zu wählen. Das unruhige Bludenz konnte - allerdings mit Mühe - seine »bisherigen Rechte und Freiheiten« bewahren. Die vielen Verhafteten wurden meistens zu Geldstrafen oder zum 198 H. S ANDER , Actenstücke (Anm. 18), S. 5-10, Nr. II. 199 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg (Anm. 4), S. 413. 200 H. S ANDER , Actenstücke (Anm. 18), S. 10f., Nr. III. 201 J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 17), S. 84. 202 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 166; H. S ANDER , Actenstücke (Anm. 18), S. 12f., Nr. V. <?page no="156"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 155 Landesverweis verurteilt. Die Aufständischen, die außer Landes geblieben waren, wurden wenig später begnadigt. Die Amtsträger von Hohenegg, die eine Rolle in der Christlichen Vereinigung gespielt hatten, konnten später sogar wieder in ihre Ämter zurückkehren. Sie hatten sich damit entschuldigt, dass sie zum Beitritt gezwungen worden seien. 203 Entscheidend für das Ausbleiben einer bäuerlichen Erhebung in Vorarlberg war die »Kooperation der regionalen Eliten mit den obrigkeitlichen Amtsträgern«. 204 In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Aspekte zu beachten. Erstens: Der Kommunalisierungsprozess war 1525 im Bereich Vorarlberg bereits weit fortgeschritten. Seit dem Spätmittelalter wurde der Ammann in den meisten der rund zwanzig ländlichen Gerichte nicht mehr von der Herrschaft ernannt, sondern durch einen Teil der Bevölkerung - durch die haushäbigen Männer, die schätzungsweise etwa 20 % der Gesamtbevölkerung ausmachten - gewählt, wobei sich allerdings die Herrschaft in der Regel ein Mitspracherecht bei dessen Bestellung sichern konnte. Zusammen mit einem meist aus zwölf Richtern bestehenden Rat 205 übte er Funktionen aus den Bereichen der Rechtsprechung, der Exekutive und der Legislative sowie der lokalen Verwaltung im Auftrag des Landesfürsten aus. 206 Dieser Kommunalisierungsprozess war spätestens seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert in vielen Fällen von der österreichischen Landesherrschaft entscheidend gefördert worden. 207 Besonders eindrucksvoll hat das Mathias Moosbrugger für den Hinteren Bregenzerwald nachgewiesen, wo die Gerichtsgemeinde um 1380 durch die Herrschaft 203 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 166. 204 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg (Anm. 4), S. 414. 205 In Rankweil-Sulz, Mittelberg-Tannberg und im Hinteren Bregenzerwald waren es jeweils 24, in Dornbirn 16 und in Damüls vier Richter; M ATHIAS M OOSBRUGGER , Jenseits von Bauernrepublik und Bezegg. Neue Perspektiven auf die Geschichte der Gerichtsgemeinde im Hinteren Bregenzerwald, in: U LRICH N ACHBAUR / A LOIS N IEDERSTÄTTER (Hg.), 200 Jahre Gemeindeorganisation. Almanach zum Vorarlberger Gemeindejahr 2008, Bregenz 2009, S. 339-356, hier 347. 206 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 123-127. Für Fallbeispiele vgl. im Detail: W ILHELM M EUSBURGER , Die Landammänner des Hinteren Bregenzerwaldes. Ein Beitrag zur Geschichte des Bregenzerwaldes, Diss. phil. Innsbruck 1981; A NITA M UTHER , Ländliches Gericht Rankweil-Sulz. Vom 15. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts (Reihe Rankweil 14), Rankweil 2012; W. S CHEFFKNECHT , Hofammänner (Anm. 182). 207 Im Gericht Hofsteig, das zum südlichen Teil der Herrschaft Bregenz gehörte, der 1451 an Österreich kam, stand das Ammannamt in montfortischer Zeit unter dem Einfluss der Stadt. Mehrfach bekleideten Bregenzer Bürger dieses Amt. Damit sicherte sich die Stadt die Möglichkeit, auf dem Land, wo viele ihrer Bürger Güter besaßen, zu intervenieren. Als dieser Teil der Herrschaft Bregenz österreichisch wurde, erlangte die dörfliche Bevölkerung die völlige Kontrolle über das Ammannamt. In der Herrschaft/ Grafschaft Sonnenberg fungierten bis zum Übergang an Herzog Sigmund von Österreich (1474) ausschließlich Mitglieder des lokalen Adels als Ammänner. Nach 1474 konnte keines dieser Geschlechter mehr einen <?page no="157"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 156 erst geschaffen wurde, um einen »rechtsfähigen und umfassend vertretungsbefugten Vertragspartner vor Ort« zu bekommen, »der notwendig war, damit die rechtskonforme Huldigung und Unterwerfung der dort ansässigen Leute vollzogen werden konnte«. 208 Wie die oben zitierten Beispiele zeigen, konnten die Gemeinden in Vorarlberg daher bereits Jahre vor dem Bauernkrieg ein gewisses Satzungsrecht erlangen. In Blumenegg hatten schon vor 1506 der Ammann, die Geschworenen und die gesamte Gemeinde zusammen mit ihrem Herrn, dem Freiherrn Ulrich von Brandis, eine Herrschaftsordnung erstellt, die aber 1506 von handen komen und verloren gegangen war. 209 In Lustenau wurde die erwähnte striktere Regelung zum Umgang mit der Allmende 1516 von unserm gnedigen herrn, herrn Merk Sittichen von Embs zue der Hohenembs, ritter und vogt zue Bregenz, und eine[r] vollkommne[n] gemaind auf dem mayen gericht angenommen. 210 Die Gemeinden erlangten oder erweiterten auf diese Weise ihre Kontrollrechte über wichtige Ressourcen wie Grund und Boden, Wald, Holz usw., wobei sich die Herrschaft, wie 1506 in Blumenegg, oft ein Mitspracherecht sicherte. Hier hatte diese das Recht, zwei Mann zu den Geschworenen zu verordnen, die den Holzverbrauch überwachten sollten. 211 In allen Fällen behielt die Landesherrschaft die Kontrolle darüber, dass auf Gemeindeebene niemand gegen ihren Willen zum Ammann gewählt werden konnte. Fast überall stand ihr das Recht zu, die Kandidaten zu nominieren, 212 in einem Fall, im Reichshof Lustenau, dagegen das Recht, aus Ammann stellen. Anders als in den genannten Fällen verlief dagegen die Entwicklung im Gericht Rankweil-Sulz. Der erste nach dem Übergang an Österreich bezeugte Ammann, Flick Tölsch (1391), war ein »landesherrlicher Eigenmann, der zwei Jahre später gefreit wurde«. Bis zu diesem Zeitpunkt stammten die Rankweiler Ammänner normalerweise aus dem Kreis der Freien. Vieles spricht dafür, »daß beim Übergang der Herrschaften vor dem Arlberg auf Gerichtsebene Kräfteverhältnisse aus machtpolitischen Erwägungen unter Mitwirkung der Obrigkeit verändert wurden«; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Vorarlbergs (14. bis 16. Jahrhundert), in: Montfort 39 (1987), S. 53-70, hier 63. 208 M. M OOSBRUGGER , Jenseits von Bauernrepublik und Bezegg (Anm. 205), S. 344. Umfassend zur Entwicklung im Hinteren Bregenzerwald: D ERS ., Der Hintere Bregenzerwald - eine Bauernrepublik? Neue Untersuchungen zu seiner Verfassungs- und Strukturgeschichte im Spätmittelalter (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs NF 9), Konstanz 2009, S. 28f. 209 K. H. B URMEISTER (Hg.), Vorarlberger Weistümer (Anm. 77), S. 292f. 210 L. W ELTI , Hofrecht 1536 (Anm. 78), S. 84. 211 K. H. B URMEISTER (Hg.), Vorarlberger Weistümer (Anm. 77), S. 289. 212 Dabei lassen sich im Detail Unterschiede beobachten. Vgl. für den Bregenzerwald: W. M EUSBURGER , Landammänner (Anm. 206), S. 28f.; A LOIS N IEDERSTÄTTER , »Wäldar ka nüd jedar sin! « Eine Geschichte des Bregenzerwalds, Innsbruck 2020, S. 48; für Rankweil- Sulz: A. M UTHER , Ländliches Gericht Rankweil-Sulz (Anm. 206), S. 67-69; für Jagdberg: M ANFRED T SCHAIKNER , Das Gericht Jagdberg in der Frühen Neuzeit, in: A LOIS N IEDER - STÄTTER / M ANFRED T SCHAIKNER (Hg.), Das Gericht Jagdberg. Von der Einrichtung 1319 <?page no="158"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 157 einem von der Gemeinde erstellten Vierervorschlag den Ammann auszuwählen. 213 Tatsächlich griff die Landesherrschaft auf diese Weise immer wieder steuernd in Ammannwahlen ein. Im Gericht Rankweil-Sulz geschah dies in den 1520er-Jahren gleich zweimal: 1526 wies die Innsbrucker Regierung den Feldkircher Vogt schriftlich an, »dass man den zu jener Zeit amtierenden Landammann Hans Ruesch für das künftige Jahr nicht mehr vorschlagen möge. Dies geschehe nicht aus Ungnade, sondern allein aus notturft«. Und zwei Jahre später erging der schriftliche Befehl aus Innsbruck an den Feldkircher Untervogt, »dafür zu sorgen, dass Jacob Bertschler, ehemaliger Landammann zu Rankweil, aus etlichen Ursachen weder zu einem Gerichtsmann noch zum Landammann ausgeschossen noch fürgenommen werde«. 1530 wies die Innsbrucker Regierung dagegen den Hubmeister und den Untervogt von Feldkirch an, Hans Pomgartner aus Götzis in den Kandidatenvorschlag für die Landammannwahl aufzunehmen. 214 Mit Blick auf die Vorarlberger Verhältnisse ist Martin P. Schennach zuzustimmen, wenn er feststellt, dass »[d]ie Gemeinden und Gerichte - Letztere hier verstanden als ebenfalls genossenschaftliche Verbände der Gesamtheit der grundbesitzenden Insassen - […], im Regelfall die strukturellen Voraussetzungen für die Kanalisierung und Formulierung von gegen die Grund-, Pfand- oder Landesherrschaft gerichteten Positionen dar[stellten] und […] sich in weiterer Folge als für die Organisation und Durchführung von Widerstandsaktionen jeglicher Art - vom rechtlichen Austrag bis hin zu Gewalttätigkeiten - von zentraler Bedeutung« erwiesen. 215 bis zur Aufhebung 1808 (Elementa Walgau - Schriftenreihe 4), Nenzing 2007, S. 49-112, hier 65f.; für Dornbirn: M ANFRED T SCHAIKNER , Dornbirn in der frühen Neuzeit (1550-1771), in: W. M ATT / H. P LATZGUMMER (Hg.), Geschichte der Stadt Dornbirn, Bd. 1 (Anm. 39), S. 73- 251, hier 86. Auf eine Mitwirkung bei der Auswahl der Kandidaten verzichtete die österreichische Landesherrschaft in Mittelberg und wenigstens zeitweise in Damüls. Im Gericht Tannberg begnügte sie sich damit, einen von drei Kandidaten zu bestimmen. Die Zurückhaltung Österreichs dürfte in diesen Fällen vornehmlich mit der weiten Entfernung der Gerichte zum Vogteisitz zu tun haben; vgl. B ERND M ARQUARDT , Der Landsbrauch und die Polizeiordnung des Gerichts Mittelberg (1569/ 88-1806). Zwischen lokaler Rechtsautonomie und reichsdurchdringender Rechtsvereinheitlichung, in: Montfort 52 (2000), S. 32-47, hier 36; J. F INK / H. K LENZE , Mittelberg (Anm. 159), S. 467; M ICHAEL K ASPER , Damüls - Historische Streiflichter, in: D ERS ./ A NDREAS R UDIGIER (Hg.), Damüls. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, Damüls 2013, S. 11-64, hier 38f. 213 W. S CHEFFKNECHT , Hofammänner (Anm. 182), S. 86. 214 A. M UTHER , Ländliches Gericht Rankweil-Sulz (Anm. 206), S. 77. 215 M ARTIN P AUL S CHENNACH , »Ist das gaismairisch exempel noch in gedechtnus«. Unruhen in den oberösterreichischen Ländern, in: P ETER R AUSCHER / M ARTIN S CHEUTZ (Hg.), Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450-1815). Vorträge der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (Wien, 18.-20. Mai 2011) (Veröff. des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 61), Wien-München 2013, S. 39-65, hier 50. <?page no="159"?> W OLFGANG S C HE F FKN ECH T 158 Zweitens: Entscheidend für die Entwicklung der Ereignisse in Vorarlberg war auch, dass um 1525 »das Ständewesen bereits weitestgehend institutionalisiert« war und eine konsensuale Herrschaftspraxis sich schon eingespielt hatte. 216 Mit den Landständen stand damit eine im »Aushandeln« 217 geübte Institution zur Verfügung. Darauf wurde im Bauernkriegsjahr mehrfach zurückgegriffen: Durch eine Gesandtschaft schlossen diese im April 1525 einen »Nichtangriffs- und Wirtschaftsvertrag […] mit dem Seehaufen und dem Allgäuer Haufen«, der ohne Zweifel »[d]er Deeskalation diente«. 218 Im Juni 1525 genehmigte ein Landtag der österreichischen Regierung schließlich ein »beachtliche[s] Truppenkontingent«, das Merk Sittich von Hohenems schließlich gegen die Bauern im Hegau führte. 219 Der Kommunalismus und die Landstände trugen entscheidend dazu bei, dass sich jene Bauern, die mit den Aufständischen im Allgäu oder später mit jenen in Tirol sympathisierten, nicht durchsetzen konnten. In beiden Bereichen dominierten die »ländlichen Eliten«, und diese hatten »kaum Anlass, sich gegen die angestammte Herrschaft zu erheben«, da ihnen die österreichische Landesherrschaft »hinreichenden Spielraum, ihre Interessen im regionalen Umfeld zu vertreten und ihre Macht […] zu erhalten«, bot. Eine Teilnahme am Aufstand hätte dagegen ein unkalkulierbares Risiko bedeutet. »[H]arte Sanktionen« durch die Landesherrschaft im Falle des Scheiterns oder das Heranwachsen neuer Konkurrenten um die Macht im Falle des Sieges wären die wahrscheinlichen Konsequenzen gewesen. 220 Die Formel »beschwert und überladen«, die als Frage über der Tagung steht, begegnet uns auch in Vorarlberg in abgewandelter Form immer wieder. Sie findet sich besonders in der Beschwerdeschrift der Bregenzerwälder von 1525, wo es heißt, dass die Bauern durch die Art und Weise, wie das Kloster Mehrerau sein Patronatsrecht ausübte, in manicherlay weg vbersetzt vnd beschwärt sind und dass sie durch die in ihren 216 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Die Anfänge der Vorarlberger Landstände. Zur Institutionalisierung konsensualer Herrschaftspraxis, in: Montfort 63/ 2 (2011), S. 21-29, hier 27. Für die 1480er-Jahre lassen sich für das Gebiet Vorarlberg erstmals Verhandlungen zwischen der Herrschaft und der Untertanenschaft nachweisen, die den späteren Landtagen ähnlich waren. Der Regierungsantritt Maximilians I. in Tirol (1490 nach der Resignation seines Vetters Sigmund) beschleunigte diese Entwicklung der Stände in Vorarlberg. Zwischen 1499 und 1519 lassen sich »sieben ständische Versammlungen nachweisen, die ohne weiteres als Landtage bezeichnet werden können, auch wenn der Terminus noch nicht explizit verwendet wurde«; ebd., S. 27. 217 Zum Begriff: C LAUDIUS S IEBER -L EHMANN , Im Hinterland rumort es - Konflikte in eidgenössischen Stadtstaaten, in: P ETER B LICKLE / T HOMAS A DAM (Hg.), Bundschuh. Untergrombach 1502, das unruhige Reich und die Revolutionierbarkeit Europas, Stuttgart 2004, S. 216-234, hier 231. 218 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg (Anm. 4), S. 414. 219 A. N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg (Anm. 4), S. 414f. 220 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 5), S. 167. <?page no="160"?> V OR A R L BE RG AM V OR A B END UN D ZUR Z EIT DE S B AUERNKR IEG ES 159 Augen widerrechtliche Verwendung des Zehenten geursacht vnd gedrungen werden. Auch in Zusammenhang mit den Reichsrittern von Hohenems verwendeten sie ähnliche Ausdrücke. Durch die Art und Weise, wie diese die lehen stewr, vasnacht hennen, auch väll vnd gläss einforderten, würden sie vberladen. In Zusammenhang mit dem Rotwild, das der Abt der Mehrerau und die Reichsritter von Hohenems ringweis vmb vns jagen und es so auf vns treiben, sahen sich die Bregenzerwälder Bauern gantz vberladen. 221 In Vorarlberg entwickelte sich vor diesem Hintergrund 1525/ 26 kein Aufstand, der das Ziel, eine neue Gesellschaftsordnung zu erkämpfen, verfolgt hätte. Vielmehr ging es hier darum, durch Aushandeln eine Reihe von Missständen zu korrigieren. Die dazu notwendigen Instrumente waren mit einem ausgebauten Kommunalismus und etablierten Landständen, in denen die Bauern den Ton angaben - immerhin handelte es sich 1525 bei 19 von 22 Gerichten, die in den Ständen vertreten waren, um bäuerliche -, vorhanden. Darüber hinaus war die Konsenssuche zwischen Herrschaft und Untertanen in vielen Bereichen - beispielsweise bei der Besetzung der Ammannämter - gleichsam institutionalisiert. Insofern haben wir es zwischen Arlberg und Bodensee eher mit »Verteilungskämpfen« denn mit einer ›Revolution des Gemeinen Mannes‹ (Peter Blickle) zu tun. 222 221 H. S ANDER , Actenstücke (Anm. 18), S. 5-10, Nr. II. 222 Zur durchaus vergleichbaren Situation in der Eidgenossenschaft während der sog. »Rumoren« zur Zeit der Bundschuhbewegung vgl. C. S IEBER -L EHMANN , Konflikte (Anm. 217). <?page no="162"?> 161 S TEFAN E HRENPREIS Der Bauernkrieg in Tirol als Ressourcenkonflikt Der Tiroler Bauernkrieg von 1525/ 26 hatte einige Besonderheiten gegenüber den zeitgleichen süd- und mitteldeutschen Ereignissen: Vorgeschichte, Verlauf und Formen der Revolte, soziale Trägerschichten und obrigkeitliche Reaktionen sind nur beschränkt vergleichbar mit denen anderer Regionen. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick zum Bauernkrieg in Tirol und zu seinen Voraussetzungen geboten, dem sich eine Analyse der sozio-ökonomischen Forderungen der Bauern anschließt. Der dritte Teil widmet sich einem besonderen Kontext des Aufstands: Tirol als einem Zentrum des europäischen Bergbaus. 1. Politik und Gesellschaftsstruktur Tirols um 1520 Der Raum Tirol gehörte im frühen 16. Jahrhundert zu drei Reichsterritorien: der gefürsteten Grafschaft Tirol unter der Herrschaft der Habsburger, dem Hochstift Brixen und dem Hochstift Trient. Die beiden Hochstifte waren seit 1511 zwar in außenpolitische Abhängigkeit vom Tiroler Landesherrn geraten, der mit Blick auf seine Vogteirechte ihre Souveränität bestritt, aber sie konnten ihre Eigenständigkeit und Eigenheiten der Rechts- und Sozialverfassung behaupten. Es handelte sich um wesentlich kleinere Herrschaftsräume, und vor allem das Hochstift Brixen war ein vielfältig zerstückeltes Territorium mit Exklaven, umgeben von gräflich-tirolischem Gebiet. 1 Der wichtigste politische Unterschied bestand in der starken Stellung, die in den Landständen der Grafschaft die bäuerlichen Gerichte einnahmen, die sich gegenüber der Geistlichkeit und dem Adel verteidigen konnten und die sich in den Krisenzeiten der Landesherrschaft im 15. Jahrhundert Privilegien erkämpften. Demgegenüber besaßen die bäuerlichen Untertanen in den Hochstiften keine politischen Partizipationsrechte, und die dortigen Stadtmagistrate waren nicht gewählt, sondern von den Fürstbischöfen eingesetzt. Daher überrascht es nicht, dass in beiden Hochstiften politische Partizipationsforderungen in den bäuerlichen Beschwerdekatalogen von 1525 auftauchen. 1 Zur geographischen Übersicht und zum Ereignisablauf vgl. die Karten-Beilagen in F RIDO - LIN D ÖRRER (Hg.), Die Bauernkriege und Michael Gaismair. Protokoll des internationalen Symposions vom 15. bis 19. November 1976 in Innsbruck-Vill (Veröff. des Tiroler Landesarchivs 2), Innsbruck 1976. <?page no="163"?> S TE FAN E HR EN PR EIS 162 Durch die Venezianerkriege Kaiser Maximilians I. war die habsburgische Landesherrschaft sehr stark überschuldet und auf wachsende Steuereinnahmen angewiesen, die gegenüber den Landständen, die infolge des Regierungswechsels gestärkt worden waren, nur durch Entgegenkommen zu erreichen waren. Nach dem Tod Maximilians hatte ein Räteregiment in Innsbruck das Land verwaltet, bis 1522 mit dem jungen Erzherzog Ferdinand, der in Spanien gelebt hatte, ein neuer Landesherr eintraf, der jedoch - zumindest in der Sicht der Bevölkerung - ganz von seinen Beratern beherrscht wurde, insbesondere von dem aus Spanien stammenden Gabriel de Salamanca, dessen Entlassung 1525 in zahlreichen bäuerlichen Beschwerden gefordert wurde. Die Agrarverhältnisse in der Grafschaft Tirol waren für die bäuerlichen Existenzbedingungen günstig. Besitzgrößen, das Anerbenrecht und umfangreiche Weiderechte förderten dauerhafte Grundlagen für die Familien und die dörflichen Gemeinschaften. Die Vererbung des Hofes war seit der Umwandlung des Freistiftrechts im 15. Jahrhundert möglich; neben den jährlichen Abgaben war den Grundherren lediglich das Erheben der Sterbefallabgabe erlaubt. Nördlich des Brenners herrschten Ackerbau und vor allem Viehzucht vor, im heutigen Südtirol mehr der Weinanbau, der allerdings wetterbedingt stärkere Einkommensschwankungen verursachte. 2 In den Hochstiften war die Lage für die Bauern ungleich schlechter, da ein erheblich größerer Teil des Grundbesitzes in der Hand geistlicher (Brixen) bzw. adliger (Trient) Grundherren lag, deren Besitzrecht Steigerungen der Abgaben und ungemessener Dienste wesentlich einfacher erlaubte. Das Hofrecht der Brixner und Trentiner Untertanen beinhaltete mindere Rechte an ihrem Hof, den Allmenden und dem Wald. Aber auch hier waren unfreie Leiheverhältnisse kaum noch vorhanden, mit Ausnahme des westlichen Gebiets des Hochstifts Trient. 3 Die zweite Besonderheit stellt die durch ein starkes Bevölkerungswachstum erzeugte soziale Lage Tirols dar. Sie war in hohem Maße durch den wirtschaftlichen Rahmen bestimmt: Das Nordtiroler Bergbaurevier um Schwaz, Hall und Rattenberg gehörte zu den größten in Europa, vor allem mit seinen ergiebigen Erzlagern von Silber und Kupfer. Das kleinere Südtiroler Revier um Klausen umfasste immerhin noch einige hundert Bergarbeiter. Seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts waren im Schwazer Bergrevier mehrere Investoren engagiert, die in der Mehrzahl aus den großen Augsburger Handelshäusern kamen. 4 Seit der Kaiserwahl Karls V. 2 H ERMANN W OPFNER , Die Lage Tirols zu Ausgang des Mittelalters und die Ursachen des Bauernkriegs, Wien 1908, S. 14-18. 3 Zusammenfassend J ÜRGEN B ÜCKING , Michael Gaismair. Reformer - Sozialrebell - Revolutionär (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 5), Stuttgart 1978, S. 44-46. 4 Eine Aufstellung der wichtigsten Investoren 1470-1525 in J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 24. <?page no="164"?> D ER B A UERNK RI EG IN T IR OL AL S R ES S O UR C ENK ONFL IKT 163 1519 erhielten die Fugger für ihre Kredite die Ausbeute der Schwazer Silber- und Kupferbergwerke verschrieben und verhütteten auch Eisenvorkommen. 5 Die wirtschaftliche und soziale Situation im Raum Schwaz, wo Tausende von Bergknappen die Einwohnerzahl des Marktortes und seiner Umgebung auf ca. 20.000 Personen zur Zeit des Bauernkrieges ansteigen ließen, war durch starke Preisschwankungen bei Lebensmitteln und hohe Abhängigkeit von einigen wenigen Bergbauinvestoren gekennzeichnet. Im Januar und Februar 1525 zwangen ca. 9.000 Bergknappen den Erzherzog zu einer Anhörung ihrer Vertreter, denen er am 15. Februar auf ihre Forderungen zunächst ausweichend antwortete und schließlich der Auswechslung einzelner Bergbeamter zustimmte. Schon in der Zeit vor dem Bauernkrieg hatte es Reaktionen auf Krisenerscheinungen in Politik und Wirtschaft gegeben: Preisschwankungen, Missernten, Münzverschlechterungen, Sondersteuern wegen der Venezianerkriege oder umherstreifende Diebesbanden von entlassenen Söldnern führten zum Gefühl einer allgemeinen Entfremdung zwischen den Ober- und den Mittel- und Unterschichten, die durch die rasante Entwicklung des Bergbaus noch angestachelt wurde. Politische Spannungen zwischen der neuen Landesherrschaft und den Landständen kamen hinzu, so dass man im Adel und innerhalb der Regierungen in Innsbruck und Brixen zur Auffassung gelangte, mit einem Bauernaufstand sei zu rechnen. 6 Der Anfang des Tiroler Bauernkriegs lässt sich genau datieren: Mit der gewaltsamen Befreiung des Gefangenen Peter Päßler, der sich in einer Fehde mit dem Brixener Bischof befand, auf dem Gerichtsplatz vor dem Dom am 9. Mai 1525 begann eine bäuerliche Bewegung, die schnell immer weiter Zulauf erhielt. Nach der Befreiung Päßlers plünderte der Bauern- und Bürgerhaufen die Stadthäuser der Kleriker und des Adels, besetzte die fürstbischöfliche Burg und wählte einen Ausschuss, in dem der ehemalige bischöfliche Sekretär Michael Gaismair bald eine Rolle als intellektueller Anführer gewann. Mit der Erstürmung des nahegelegenen reichen Klosters Neustift setzte, nun auch im fürstlich-tirolischen und fürstbischöflichen Trienter Gebiet, die mehrwöchige Plünderung von einem Dutzend Klöster, zahlreichen Burgen und einzelnen Pfarrhöfe und Stadthäuser ein. 7 Für den weiteren Verlauf der Ereignisse wurde die Strategie Erzherzog Ferdinands bestimmend, durch 5 Zu den Erträgen 1524-1526 siehe P ETER F ISCHER , Die gemeine Gesellschaft der Bergwerke. Bergbau und Bergleute im Tiroler Montanrevier Schwaz zur Zeit des Bauernkrieges (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 21), St. Katharinen 2001, S. 34-38. 6 J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 28-32. 7 Vgl. zu diesen Aktionen und ihrem religiösen Hintergrund, der in diesem Aufsatz unberücksichtigt bleibt, demnächst den Beitrag des Verfassers ›Antiklerikalismus und Ikonoklasmus im Tiroler Bauernkrieg‹ in einem von E RIKA K USTATSCHER und T HOMAS M ÜLLER herausgegebenen Band zu einer vergleichenden Geschichte des Bauernkriegs in Tirol und in Thüringen, der voraussichtlich im Herbst 2024 in Brixen erscheinen wird. <?page no="165"?> S TE FAN E HR EN PR EIS 164 Einladung der landständischen Bauern- und Bürgerschaftsvertreter zu Verhandlungen die kompromissbereite Gruppe der Aufständischen von den radikalen zu trennen und eine Vereinigung der Bauern mit den Bergknappen zu verhindern. Im Mai 1525 schrieb Ferdinand einen Verhandlungstag mit den Vertretern der bäuerlichen Gerichte und den Stadtmagistraten im Gebiet nördlich des Brenners aus. 8 Dadurch konnte die Aufstandsbewegung bereits im Juni größtenteils beendet werden, obwohl sie im Herbst noch einmal aufflammte und im Frühjahr 1526 im salzburgischen Pongau eine Fortsetzung erlebte. 9 Mit der Ausschreibung des Verhandlungstags wurden alle Vertreter zur Einsendung von Beschwerden aufgefordert, die im Juni und Juli in Innsbruck eingingen, einige jedoch erst in den darauffolgenden Wochen. Die letzteren konnten nicht mehr behandelt werden. 10 Alle anderen Beschwerden wurden im Dezember 1525 von der Regierung einer Kommission zur Erledigung überantwortet, die bis Februar 1526 tagte. Von den Verhandlungen vom 12. Juni bis 21. Juli 1525 war die Geistlichkeit ausgeschlossen, und auch der Adel in nur geringer Zahl vertreten. Es ist daher ungenau, die Zusammenkünfte wie in der älteren Literatur als »Teillandtage« zu bezeichnen, da sie einen anderen Teilnehmerkreis und einen anderen Verfahrenscharakter besaßen. 11 Ferdinand kam den Bauernvertretern weit entgegen, seine Zusagen waren jedoch oft unkonkret und ließen die Umsetzung offen. Dies erlaubte ihm später, in eine neue Landesordnung 1526 einzelne Bestimmungen als opportun aufzunehmen, andere Zusagen hingegen zu ignorieren. Die Befriedungsstrategie und der Versuch der Trennung der radikalen Gruppen unter den Aufständischen von den Gerichtsvertretern, die überwiegend der bäuerlichen Oberschicht angehörten, 8 P ETER B LICKLE , Die Revolution von 1525, 2. Aufl. München-Wien 1981, S. 188. Vgl. zu einer Bedrohung durch einen weiteren Knappenaufstand A DOLF L AUBE , Der Aufstand der Schwazer Bergarbeiter 1525 und ihre Haltung im Tiroler Bauernkrieg. Mit einem Quellenanhang, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 2 (1978), S. 225-258. 9 Vgl. zu den lokalen Ereignissen die Kartenbeilagen in F. D ÖRRER (Hg.), Bauernkriege (Anm. 1). 10 Die verspätet eingegangenen Beschwerden und ausgegliederte ›Partikularbeschwerden‹ einzelner Gemeinden wurden in einer modernen Edition publiziert: F RITZ S TEINEGGER / R ICHARD S CHOBER (Hg.), Die durch den Landtag 1525 (12. Juni-21. Juli) erledigten Partikularbeschwerden der Tiroler Bauern (Tiroler Geschichtsquellen 3), Innsbruck 1976. 11 Die Bezeichnung ›Teillandtag‹ für die Verhandlungen Ferdinands mit den Vertretern der bäuerlichen Gerichte im Juni 1525 geht auf die Quellenpublikationen Hermann Wopfners um 1900 zurück, aber auch P ETER B LICKLE , Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, München 1973, S. 201, schreibt von »Partiallandtagen«. - Zur verfassungsrechtlichen Einordnung vgl. demnächst den Beitrag von Martin Schennach im in Anm. 7 genannten Band einer Brixener Tagung von 2023. <?page no="166"?> D ER B A UERNK RI EG IN T IR OL AL S R ES S O UR C ENK ONFL IKT 165 war erfolgreich: In Nordtirol kam es nach den stürmischen Maitagen, in denen Klöster und Burgen belagert wurden, seit dem Juni zu keinen weiteren gewalthaften Aktionen mehr. 12 Im Süden, im Eisacktal und an der Etsch, hatte es vom 30. Mai bis 8. Juni ein Treffen von Bauern- und Bürgerschaftsvertretern in Meran gegeben, an dem auch Vertreter aus den Gebieten der Hochstifte Brixen und Trient teilnahmen. 13 Die dort verabschiedeten Meraner Artikel lagen dem Verhandlungstag des Erzherzogs mit den Nordtiroler Vertretern vor und wurden gemeinsam mit den Forderungen der Nordtiroler behandelt. Im Juli kam es dennoch südlich des Brenners zu weiteren Kloster- und Pfarrhofplünderungen sowie zur Erstürmung von Burgen, letzteres im Trienter Gebiet bis in den Herbst. Der aus Brixen vertriebene Fürstbischof konnte allerdings faktisch das Heft seiner Regierung erst im Herbst wieder in die Hand nehmen, und bis dahin blieb Ferdinand für den Gesamtraum die bestimmende politische Figur. Er war als einziger zu militärischen Maßnahmen zur Sicherung einzelner Plätze in der Lage, und Anfang Juli nahm er offiziell das Stift Brixen unter seine Verwaltung. 14 Seit Ende Juli besserte sich langsam die militärische Lage, da das Heer des Schwäbischen Bundes nach Tirol ausgriff und die von Frundsberg für den oberitalienischen Feldzug Karls V. gesammelten Soldaten zur Verfügung standen. Insgesamt konzentrierten sich die Aufstandsaktionen in Tirol in den Monaten vom Mai bis Juli 1525, Einzelaktionen erfolgten bis in den Herbst hinein, vor allem im Trentino. Erst als Michael Gaismair im Frühjahr 1526 aus dem Schweizer Exil zurückkehrte und Anhänger um sich sammelte, gelangen den Aufständischen noch einmal für kurze Zeit Kampferfolge gegen den Salzburger Erzbischof, an denen auch Tiroler Bergknappen teilnahmen. 15 2. Ressourcenkonflikte im Spiegel der Beschwerdeartikel Als Quellen für die Analyse der geschilderten Konflikte stehen uns aufgrund der oben geschilderten Strategie der Regierung zahlreiche Beschwerdeartikel einzelner Gerichtsgemeinden, aber auch zusammenfassende Beschwerdekataloge der Brixen- 12 J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 71-73. 13 Die ›Meraner Artikel‹ ediert bei H ERMANN W OPFNER (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges in Deutschtirol 1525 (Acta Tirolensia 3/ I), Innsbruck 1908, S. 50-62. Es existiert auch eine zeitgenössische italienische Übersetzung der Meraner Artikel, wohl von den Trentiner Vertretern für ihre nicht anwesenden Gemeinden. 14 J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 75. 15 Zu den Salzburger Ereignissen siehe A LBERT H OLLAENDER , Studien zum Salzburger Bauernkrieg 1525 unter besonderer Berücksichtigung der reichsfürstlichen Sonderpolitik, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 72 (1932), S. 1-44, 73 (1933), S. 38-108. <?page no="167"?> S TE FAN E HR EN PR EIS 166 Neustifter und Meraner Versammlungen zur Verfügung. Schon die ältere Forschung hat bemerkt, dass Klagen über Steuererhöhungen nicht zu den am häufigsten vorgebrachten gehörten, sondern Beschwerden über Abgabenerhöhungen durch die Grundherren. Eine Aufstellung der 285 Beschwerden, die dem Innsbrucker Verhandlungstag vorlagen, ergibt eine klare Hierarchie: 73 haben grundherrliche Abgabenerhöhungen in ihren verschiedenen Formen zum Inhalt, 52 neue Zölle (vor allem Brücken- und Stadttorzölle), 49 Verletzungen der Allmenden, 31 Beschwerden gegen Richter und Pfleger, 24 Klagen über Jagd- und Wildschäden, 19 über Fronerhöhungen, 15 über höhere Steuern, zwölf über Verletzungen angestammter Rechte und zehn über kirchliche Missbräuche. 16 Die Klagen über erhöhte Abgaben kamen überwiegend von Höfen geistlicher Grundherren, und dies erklärt - neben den hier außen vor gelassenen religiösen Reformanliegen - auch den Ausbruch von Antiklerikalismus, zu dem es im Mai und Juni 1525 kam. In den Meraner Artikeln wurde offen die Abschaffung aller Klöster gefordert. 17 Weitergehend wurde von allen Grundherren gefordert, Aufteilungen von Gütern nicht mehr vorzunehmen und allgemein die Erbleihe ohne hohe Besitzwechselabgabe vorzunehmen: Es sollen auch alle gueter verlihen werden nach gemainem landsbrauch und nach keiner rotl […] und alle gueter nit auf ain laib noch zu jaren, sonnder zu erbrechten verleyhen. 18 Die Klärung von Almenden- und Almrechten wurde angemahnt, was der Verhinderung grundherrlicher Eingriffe galt. In Jahren von Missernten sollten auch die Abgaben herabgesetzt werden. Die Steuern waren weniger in ihrer Höhe, sondern mehr in Bezug auf die Umlagepraxis Gegenstand der Klagen. Die Beschwerden betrafen außerdem eine Reihe anderer Forderungen: Abschaffung der Verpflegung landesherrlicher Diener und ungemessener Dienste und Fuhren, Erlaubnis der Jagd auf Hochwild, Einfuhrzölle auf Wein aus dem Trentino zur Förderung des Etschtaler Weinbaus. Das Jagdrecht beispielsweise hatten die Bauern während des Aufstands selbst in die Hand genommen: Nach der Erstürmung des Neustifter Klosters sollen in den dortigen Wäldern mehrere tausend Stück Wild erlegt worden sein. 19 Der freie Fischfang gehörte ebenfalls zu den Forderungen der Meraner Artikel. 20 Immer wieder wurde auch die Forderung nach einheitlichen Maßen und Gewichten erhoben, worum sich die Regierung kümmern sollte. Auf die bäuerlichen Belastungen durch Fuhrzwang weist die gesammelte Beschwerde der Gemeinden Schönegg, Toblach und aus dem Pustertal hin: 16 J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 46. 17 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 51. 18 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 57. 19 Vgl. K ARL F RANZ Z ANI , Neues zu den Vorgängen um Brixen-Neustift während des Bauernkriegs 1525 in amtlicher Darstellung, in: Der Schlern 56 (1982), S. 207-220. 20 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 54. <?page no="168"?> D ER B A UERNK RI EG IN T IR OL AL S R ES S O UR C ENK ONFL IKT 167 […] dieselbige rodleut durch die kaufleut hart beschwärt mit der fuer dieser gestalt, dass die kaufleut winterzeit, so das roßdaheim auf die rod gehalten werden, so varn die kaufleut mit iren guettern ain ander strassen und zaigen an, sein mit iren guettern, welhe straß in fueglich sey, zu farn frey. Aber sumerzeit, wo wir unnser guetter und paw arbaiten sollen und muessen, auch unnser roß auf den alben und hohen gepirg unbeschlagen aufkert haben, sodan kommen sy und sollen oder muessen solh rod mit unnserm grossen schaden und verderben fuern […]. 21 Insgesamt betont die Forschung, dass die Steigerung von Abgaben eine Reaktion gerade von geistlichen Grundherren auf gestiegene Belastungen durch Inflation und das gehäufte Auftreten von Missernten gewesen sei, die die Klöster unter erhöhten Finanzierungsdruck gesetzt hätten. 22 3. Der Bergbau und das Problem des Fürkaufs In die unmittelbare Vorgeschichte des Aufstands fällt die Aktion der Bergknappen im Revier Schwaz und Rattenberg zu Jahresanfang 1525. Als die Großgewerke den Feiertag St. Sebastian am 20. Januar als Arbeitstag reklamieren wollten, begannen die Knappen einen Streik und zogen am 23. Januar nach Innsbruck. Am 24. Januar kam es zu Verhandlungen mit Erzherzog Ferdinand in Hall, der sich mit vier Forderungen konfrontiert sah: das Absetzungsrecht gegenüber den landesherrlichen Bergbeamten, u. a. auch dem Bergrichter, schärfere Maßnahmen gegen den ›Wucher‹, die Bestätigung der Privilegien und das Recht auf Bildung eines Ausschusses. Weitere Forderungen betrafen außerdem die Abschaffung der Abgabepflicht für kleine Fördermengen sowie die Abstellung von Verzögerungen bei der Bezahlung. 23 Nach der Demonstration von 9.000-10.000 Bergarbeitern musste Ferdinand schließlich am 14. Februar der Entlassung von Berg- und Landrichtern zustimmen, denen die Knappen Verstöße gegen die alten Bergwerksordnungen und Landessatzungen vorwarfen. Allerdings verlangte Ferdinand, zukünftige Ausschussberatungen mit den zuständigen Beamten abzusprechen. 24 Im Forderungskatalog war außer den genannten Artikeln einer besonders heikel und für Ferdinand unannehmbar: daz aller furkauf und pfenwert handl, so si den wuecher nennen, bei den grossen geselschaften abgestelt und die Fuggerischen und ander kaufleut aus dem 21 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 159. 22 J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 46f. - Es muss jedoch betont werden, dass Studien zur frühneuzeitlichen Agrargeschichte Tirols ein dringendes Desiderat der Forschung sind. 23 P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 254-256. Vgl. auch die Edition bei K ARL -H EINZ L UDWIG , Die 21 Artikel der Gesellschaften der Bergwerke 1525, in: Der Anschnitt 31 (1979), S. 10-21. 24 P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 258f. <?page no="169"?> S TE FAN E HR EN PR EIS 168 perckwerck getan werden. 25 Die Bedeutung der fuggerischen Kredite für Kaiser Karl V., aber auch in kleinerem Umfang für die Innsbrucker Regierung, machte hier ein Nachgeben unmöglich. 26 Fürkauf und Pfennwerthandel spielten auch in den Beschwerdeartikeln der bäuerlichen Gerichte eine wichtige Rolle und bildeten ein Motiv für die potentielle Interessenübereinstimmung von Knappen und Aufständischen, obwohl sich die Situation im Schwazer Revier nach der Neubesetzung der Beamtenposten beruhigte. Bis in das Frühjahr 1526 hinein galten aber die Bergknappen bei der Regierung als mögliche Aufrührer und Unterstützer weiterer bäuerlicher Unruhen. Fürkauf war die zeitgenössische Bezeichnung für den Aufkauf von Waren in großen Mengen, insbesondere auch von Nahrungsmitteln, die erst bei der nächsten Ernte zu erwarten waren. Pfennwerthandel meinte die Versorgung der Bergarbeiter mit Lebensmitteln und Unschlitt, d. h. dem Talg für die Beleuchtung unter Tage. Der Bedarf für das Schwazer Bergrevier mit seinen ca. 20.000 Bewohnern war aus dem Tiroler Gebiet nicht zu decken. Daher kauften die Investoren Getreide u. a. in den bayerischen Märkten Rosenheim und Wasserburg; das Vieh kam mittels der Ochsenzüge aus Ungarn und in geringerem Umfang aus dem Unterinntal und den benachbarten Tälern. 27 Die Preise für Nahrungsmittel, die aus dem Berggerichtsbezirk Rattenberg überliefert sind, 28 lagen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts weit über dem österreichischen Durchschnitt, Weizen z. B. war um das Dreifachte teurer als in Wien. 29 Obwohl sich an der Preisentwicklung ablesen lässt, dass keineswegs die großen Kapitalinvestoren für die Steigerung der Lebenshaltungskosten verantwortlich waren, sondern eher die lokalen Bäcker, Metzger und Wirte, richtete sich die Kritik der Bergknappen und auch der Bauern gegen die Handelsgesellschaften. Man warf insbesondere den Fuggern vor, mit dem Pfennwerthandel, d. h. der Teilauszahlung des Wochenlohns in Lebensmitteln, zusätzliche Geschäfte zu machen und zu hohe Preise zu verrechnen. Die dazu in der älteren Literatur gemachten Bewertungen, die Handelsgesellschaften hätten sich am Pfennwerthandel bereichert, konnte nach einer neueren Quellenstudie richtiggestellt werden. 30 Die Innsbrucker 25 Nach dem Bericht der Regierungsräte an Ferdinand; P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 257. 26 Die Investitionen ober- und süddeutscher Kaufleute in den Tiroler Bergbau zusammengefasst jetzt bei G EORG N EUHAUSER u. a., Bergbau in Tirol. Von der Urgeschichte bis in die Gegenwart, Innsbruck 2022, S. 43-48; vgl. auch E IKE E. U NGER , Die Fugger in Hall i. Tirol (Studien zur Fuggergeschichte 19/ Veröff. SFG 4/ 10), Tübingen 1967. 27 Ein Schwazer Metzger schätzte 1526 den Wochenbedarf auf 90-100 Ochsen; P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 153. 28 Vgl. die Tabelle zur Preisentwicklung in Rattenberg 1500-1530 bei P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 155. 29 P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 151f. 30 P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 164-173. <?page no="170"?> D ER B A UERNK RI EG IN T IR OL AL S R ES S O UR C ENK ONFL IKT 169 Regierung versuchte seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, dem Preisanstieg durch Ausfuhrverbote von Vieh und die Einschränkung der Hausschlachtung zu begegnen sowie Kontrollen des Brotpreises einzuführen. Schon im 15. Jahrhundert hatte es landesherrliche Ausfuhrverbote für Getreide gegeben. 31 Die Folge waren ein gesteigerter Schmuggel von Vieh und die Manipulation von Backwaren. 32 Es zeigt sich aber, dass das zeitgenössische ideologische Verhetzungspotential der Vorwürfe von Preistreiberei und Wucher auch in den Beschwerden der bäuerlichen Bevölkerung, die nicht vom Preisauftrieb betroffen war, Niederschlag fand. Der Fürkauf verhinderte, dass die lokale Bauernschaft von den höheren Lebensmittelpreisen profitieren konnte. Die Meraner Artikel formulieren: […] item, als sich der fürkauf unnd wücher mit gewalt gemert, dadürch wein, traydt, schmaltz, holtz, leder unnd anders in so hohem gelt aufgestigen unnd der gmain arm man zu betzaln nit vermag, das sölichs gewenndt werde unnd ain ieder das seinig auf offen platz selb verkauff […]. 33 Auch in zahlreichen Beschwerden der bäuerlichen Gerichte aus der Grafschaft und dem Hochstift Brixen finden sich Klagen über den Fürkauf, der den produzierenden Bauern durch die Konkurrenz der Importe keinen Gewinn und weiten Kreisen der Bevölkerung Armut bringe: Auch wirdet das gantze lannd dieser f. grafschaft Tyrol mercklich hoch der Fuggerischen hanndlung, dergleichen mit dem fürkauf beswärt in aller waar, ganntz nicht ausgeslossen, vom wenigisten bis aufs maist, also wo man vormalen ainichs, was da gewesen ist, umb ain gelt kauft hat, mueß man yetzt topelt oder tripplt betzaln, welhes alles aus dem fürkauf kombt und ervolgt, wiewol der fürkauf vormalen verpoten. 34 Bei den Beschwerden des Gerichts Thaur und Rattenberg heißt es fast gleichlautend: Zum achten ist der Fugger, auch annderer geselschafften und fürkäufer halben offtmals verhaissen und zuegesagt worden, ainer ersamen lanndschafft unnd der gesellschafft zu Swatz abstellung derselben zu thun , daz aber auf heutigen tag noch nicht erlegt und abgestelt worden. […] und wird dem gemain man sein gewerb durch sy nidergelegt, verteurt und gesmelert, also das die pfenwert dermassen dardurch aufslagen,das etwa ain waar, die vor zeiten achtzehen kreutzer golten hat, yetz umb ain gl Rh gekaufft mueß werden […]. 35 Die Regierung und Erzherzog Ferdinand konnten bei den Verhandlungen mit den Aufständischen im Juni 1525 versprechen, ältere landesherrliche Verbote des Fürkaufs erneuern zu wollen, ohne dass dies tatsächlich durchzuführen oder zu kontrollieren war. Die Vertreter der Bergknappen verzichteten beim Verhandlungstag 31 H. W OPFNER , Lage (Anm. 2), S. 25. 32 P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 162f. 33 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 40. 34 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 123. 35 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 74. <?page no="171"?> S TE FAN E HR EN PR EIS 170 im Juni/ Juli 1525 in Innsbruck auf eine intensive Behandlung dieses Punktes, um die Strategie Ferdinands zur Beruhigung der Lage nicht zu stören. Sie verließen sich auf seine älteren Zusagen vom Februar zur Aufsicht über die Bergbeamten. 36 Auf die bäuerlichen Forderungen nach Enteignung der Fugger und anderer Investoren in Tiroler Bergwerken konnte Ferdinand auf die kaiserliche Prärogative seines Bruders verweisen, die nur auf einem österreichischen Generallandtag debattiert werden könne. Damit schob er diesen Punkt auf die lange Bank. 37 Außer dem Hauptproblem der Versorgung mit Lebensmitteln brachte der enorme Holzverbrauch der Bergwerke und Schmelzöfen Versorgungsengpässe und Preissteigerungen beim wichtigsten Energierohstoff mit sich. Da auch die Republik Venedig Holz für den Schiffsbau aus den Tiroler Gebieten bezog, konkurrierten Landesherren, Bergwerksunternehmer, auswärtige Aufkäufer und Bevölkerung miteinander. Landesherrliche Versuche zur Ausweitung des staatlichen Forstregals, zur Auflösung von gemeindlichen Waldrechten und zum Fürkauf von zu schlagendem Holz u. a. m. griffen um sich. 38 Der Versuch geistlicher Grundherren, ihre Eigengüter auszubauen, hatte bereits vor 1525 zu bäuerlichen Klagen über den eingeschränkten Holzeinschlag geführt. 39 Eine Beschwerde des Gerichts Tramin führte die Verwendungsarten auf, die zur Konkurrenz um Holzlieferungen auch zwischen Bauern und Städtern führte: Bauholz, Schindeln, Weinberg-Pflöcke, Zimmermannshölzer, Brennholz. Die landesherrlichen Beamten sollten hier für die Einhaltung der Ordnungen sorgen, was aus privaten oder öffentlichen Interessen oft unterblieb. 40 Auf die Beschwerde der Marktgemeinde Mühlbach gegen den landesherrlichen Pfleger, der Holz wider die Einschlagsrechte verkauft hatte, ließ Erzherzog Ferdinand ausweichend antworten, das sei ohne sein Wissen geschehen. 41 4. Der sozio-ökonomische und politische Diskurs Im Gesamtraum Tirols gab es in der Zeit des Bauernkrieges kein Druckgewerbe, wenn man von einer kleinen fürstlichen Mandats- und Formulardruckerei in Schwaz absieht. Dies bedeutete, dass Flugblätter politisch-sozialen Inhalts nicht produziert werden konnten und auch das reformatorische Schriftgut nur von außerhalb - vor 36 P. F ISCHER , Gesellschaft (Anm. 5), S. 273-282. 37 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 74 die Antworten Ferdinands. 38 Vgl. jetzt die Mikrostudie von K ARIN P ATTIS , Ökonomische Vernetzung: Holzwirtschaft in den Dolomiten im 16. Jahrhundert - Tiers, Welschnofen und Gassa (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 14), Köln 2023. 39 J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 46. 40 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 145. 41 H. W OPFNER , Quellen (Anm. 13), S. 86. <?page no="172"?> D ER B A UERNK RI EG IN T IR OL AL S R ES S O UR C ENK ONFL IKT 171 allem aus Augsburg - ins Land gebracht wurde. Es zirkulierten zahlreiche Druckschriften, die wohl vor allem über reisende Händler, insbesondere denen zu den Bozener Messen, nach Tirol hineingeschmuggelt wurden, wie die zahlreichen Beschlagnahmungen von reformatorischer Literatur zeigen. Während der Ereignisse im Frühsommer 1525 waren auch gedruckte Exemplare der Zwölf Artikel verbreitet und die Tiroler Bauernschaftsvertreter auf den Versammlungen mit dem Landesfürsten über die Lage zumindest in Schwaben gut informiert. Die fehlende Möglichkeit zur eigenen Druckproduktion hat eine nur geringe schriftliche Überlieferung der in der bäuerlich-städtischen Bewegung geführten Diskussionen zur Folge. Die wesentliche Quellengrundlage zu den Motiven der Aufständischen bilden daher die zahlreichen, oben herangezogenen Beschwerdeartikel der bäuerlichen Gerichte. Darüber hinaus sind nur wenige Dokumente aussagekräftig, die eine Einsicht in die Vorstellungswelt der Akteure erlauben. Für die Beschwerden zum Bergbau und die Rolle der großen Kapitalgesellschaften und ihrer Produktionsbedingungen sowie über Löhne und die Fürkauf-Problematik finden sich wenig grundsätzliche Äußerungen, obwohl diese Aspekte sich in der Sozialethik Martin Luthers vielfältig spiegeln. Luther, Sohn eines Mansfelder Bergbeamten, waren die Lebensbedingungen von Bergleuten sehr gut bekannt, und er verwendete sie als Beispiele für eine unchristliche Wirtschaftsweise. 42 Der kurzzeitig 1522 in Hall in Tirol amtierende Stadtprediger Jakob Strauß publizierte im nächsten Jahr an seinem neuen Wirkungsort Eisenach eine Predigt gegen den Wucher, die zwar auf die thüringischen Verhältnisse Bezug nimmt, aber von der angenommen werden kann, dass sie auch durch sein Erleben der Situation im Schwazer Bergbaurevier geprägt worden ist. 43 Die Marktmacht von Handelsgesellschaften und Großkaufleuten, von denen man glaubte, sie würden die Probleme der Preissteigerungen und Lohndrückerei hervorrufen, waren am Beispiel der Fugger in Tirol leicht zu thematisieren. Reichsöffentlich wurde sie in den 1520er Jahren intensiv diskutiert und auch vor dem Reichstag verhandelt. 44 Es verwundert daher nicht, dass die Entmachtung der Großinvestoren in der bedeutendsten ideologischen Schrift des Tiroler Bauernkriegs, der sog. ›Landesordnung‹ des Bauernführers Michael Gaismair, einen prominenten Platz 42 Vgl. R OSEMARIE K NAPE (Hg.), Martin Luther und der Bergbau im Mansfelder Land, Eisleben 2000. 43 J AKOB S TRAUSS , Haubtstuck und artickel Christenlicher Leer wider den unchristlichen wucher, Augsburg 1523. - Strauß nannte hier auch, ähnlich wie später Luther, die Juden als Mitverursacher des Wuchers, die allerdings in Tirol damals kein Wohnrecht besaßen. Der kurze Text weist aber vor allem auf die christlichen Wucherer hin; vgl. zur Interpretation J OACHIM B AUER / M ICHAEL H ASPEL (Hg.), Jakob Strauß und der reformatorische Wucherstreit, Leipzig 2018. 44 F RITZ B LAICH , Die Reichsmonopolgesetzgebung unter Karl V., Stuttgart 1967. <?page no="173"?> S TE FAN E HR EN PR EIS 172 einnimmt. 45 Diese, entstanden im Januar/ Februar 1526, wurde jedoch nicht gedruckt, sondern ist nur in mehreren Handschriften erhalten, so dass sie nicht als repräsentativ für die öffentliche Zielsetzung der Tiroler Aufstandsbewegung angesehen werden kann. Sie kommt jedoch der Form einer Programmschrift nahe und wird der Rolle des Aufstandsführers gerecht, die Gaismair seit dem Mai 1525 einnahm. 46 Die Forderungen des Textes korrelieren mit denen in den Beschwerden der Gerichte, radikalisieren diese jedoch und ordnen sie in ein übergreifendes Reformprogramm ein. Für unseren Zusammenhang sind die Punkte der Landesordnung wichtig, die unmittelbar auf die Forderungen Bezug nehmen, die im Frühsommer 1525 die Diskussion bestimmten. Mit der Forderung nach Auflösung aller Klöster und der Inkorporation der Hochstifte in die fürstliche Grafschaft kommt Gaismair hier nicht nur dem Antiklerikalismus entgegen, sondern rekurriert auf die grundherrliche Gewalt und Abgabensteigerungen, die die Bauern kritisiert hatten. 47 Die weitgehende Enteignung des Adels, dem nur noch kleine Eigenbetriebe bleiben sollten, entspricht ebenfalls dieser Zielsetzung. Die Übergabe aller Bergwerke in landesherrlichen Besitz unter Ausschluss frühkapitalistischer Investoren weist letzteren die Probleme in den Bergbauregionen wie Überbevölkerung, Lohnkosten und Gewinnerwartung zu, ohne den Landesherren auf klare Lösungsmöglichkeiten festzulegen. 48 Gaismairs Entwurf orientiert sich an einem Modell des fürstlichen Zentralstaats, der durch politische Partizipation der bäuerlichen und städtischen Vertreter die Interessen der sozialen Ober- und Mittelschichten des ›gemeinen Mannes‹ gewährleistet. Konflikte unter ihnen sind dadurch nicht ausgeschlossen, können aber durch Umverteilung des Besitzes bisher privilegierter Stände zunächst aufgeschoben werden. 45 Der Text wird im Folgenden nach der Edition bei J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 153- 162, zitiert. 46 Den persönlichen und familiären Hintergrund Gaismairs beleuchtete neu A NGELIKA B ISCHOFF -U RACK , Michael Gaismair. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Bauernkrieges (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 4), Innsbruck 1983. - Die historische Figur des Michael Gaismair ist in den letzten Jahrzehnten mehrfach Gegenstand populärwissenschaftlicher Publikationen geworden, die ihn als Sozialrebellen charakterisieren und oft heroisieren, ohne den historischen Kontext zu berücksichtigen. Aus italienischer Sicht hingegen betonte A LDO S TELLA , Il Bauernführer Michael Gaismair e l’utopia di un repubblicanesimo popolare, Bologna 1999, die politischen Beziehungen Gaismairs zu Venedig und Zürich. Eine neue quellengestützte Sicht auf Gaismair ist von der Biographie des Innsbrucker Historikers Robert Rebitsch zu erwarten, die 2025 erscheinen wird. 47 J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 156. 48 J. B ÜCKING , Gaismair (Anm. 3), S. 161. <?page no="174"?> D ER B A UERNK RI EG IN T IR OL AL S R ES S O UR C ENK ONFL IKT 173 5. Zusammenfassung Der Bauernkrieg in Tirol, obwohl vergleichsweise kurz und relativ friedlich verlaufend, zeigt einige Gemeinsamkeiten mit den Ursachen der Bauernaufstände in Schwaben oder Franken. In Reaktion auf wirtschaftliche und politische Krisen erhöhten auch hier Grundherren die Abgaben und Obrigkeiten die Steuern, verschlechterten angebliche alte Rechte der bäuerlichen Untertanen und der städtischen Bürgerschaften und führten neue Abgaben ein. Die besondere Verfassungsstellung der Tiroler Gerichte und ihre Mitsprachemöglichkeit in den Landständen erlaubten jedoch ordnungsgemäße Verhandlungen mit dem Landesfürsten von Tirol, der zur Beruhigung auf einige Forderungen einging und die Situation benutzte, um die Souveränität des benachbarten Hochstifts Brixen anzutasten. Die der wohlhabenden Bauernschicht entstammenden Vertreter der Gerichte wollten keine Radikalisierung, sondern primär eine Lösung der Ressourcenproblematik und gingen auf die Strategie Erzherzog Ferdinands ein. Die Besonderheit Tirols als eines europäischen Bergbauzentrums spiegelt sich in Beschwerden über die Preisentwicklung bei Lebensmitteln und anderem Alltagsbedarf, da die Inflation kaum den Agrarproduzenten im Land, sondern vielmehr dem Lebensmittelhandwerk Gewinne einbrachte. Einem zeitgenössisch gängigen Motiv folgend machten sowohl Bauern als auch städtische Bürgerschaften die frühkapitalistischen Großinvestoren im Bergbau für die Preissteigerungen verantwortlich und forderten eine landesherrliche Übernahme der Bergwerke, die die Habsburger allerdings als Finanzgrundlage ihrer politischen Macht verweigern mussten. Ferdinand konnte sich auf die unterschiedlichen Interessenlagen von Bergknappen, Bauern und Städtern langfristig verlassen, die einen gemeinsamen Umsturz unwahrscheinlich machten - keiner wollte seine Lebensgrundlagen radikal gefährden. 49 Die Verfügung über die Ressourcen der Agrarproduktion wie Erbleihe, Allmenderechte, Reduktion der Dienstpflichten etc., die die die Tiroler Bauern bereits im 15. Jahrhundert gewinnen konnten, wollten sie gegen neue grundherrliche Ansprüche verteidigen, wozu ihnen die landständische Vertretung Möglichkeiten bot, die in anderen Herrschaftsräumen nicht gegeben waren. 50 Trotz mancher radikaler Forderungen blieb auch der Entwurf Gaismairs sozialökonomisch gesehen bei einem sozialkonservativen Modell. Nach 1526 flossen einige der bäuerlichen Forderungen in die Gesetzgebung Ferdinands für Tirol ein, insbesondere spielte immer wieder der Bezug auf das alte Herkommen eine Rolle, worunter die Bauern eine Abwehr aller neuen Regelungen für 49 So m. E. zurecht K ARL -H EINZ L UDWIG , Der Bauernkrieg von 1525 im Montanbereich des Ostalpenraumes, in: Der Anschnitt 34 (1982), S. 98-106, gegen ältere sozialrevolutionäre Interpretationen. 50 Überblick zur Entwicklung in Tirol bei P. B LICKLE , Landschaften (Anm. 11), S. 159-200. <?page no="175"?> S TE FAN E HR EN PR EIS 174 Abgaben und auch Steuern verstanden. Eine neue von Ferdinand 1526 erlassene Landesordnung sah eine Verringerung der Besitzwechselabgabe, Beseitigung kleiner Zehnten, Freigabe der Fischerei (aber nicht der Hochwildjagd), staatliche Kontrollen der Preisgestaltung insbesondere für Lebensmittel sowie Export- und Fürkaufverbote vor. Dies alles galt jedoch nur für die Bauern in den gräflich-tirolischen Gebieten, während die Bauern in den Hochstiften Brixen und Trient kaum eine Verbesserung ihrer Situation erfuhren und ihre fehlenden Möglichkeiten der politischen Partizipation soziale Absicherungen behinderten. 51 Weitergehende Forderungen, wie etwa Klosterauflösungen, wurden nicht mehr erhoben. Die Stellung der bäuerlichen Familienbetriebe blieb in Tirol auch nach 1526 erhalten und wurde von Ferdinand und seinen Nachfolgern geschützt, ebenso die landständische Vertretung der bäuerlichen Gerichte. Unterbäuerliche Schichten, sozial deklassierte Bergarbeiter und kleinstädtisches Proletariat fanden sich nach 1526 eher im starken Tiroler Täufertum. 52 51 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 8), S. 265. 52 Siehe W ERNER P ACKULL , Die Hutterer in Tirol. Frühen Täufertum der Schweiz, Tirol und Mähren (Schlern-Schriften 312), Innsbruck 2000. <?page no="176"?> 175 S TEFAN H UBER Die Ressource Wald zwischen Landesherr und Untertanen im bayerischen Landgericht Tölz 1476-1528 1. Der Wald - eine konfliktträchtige Ressource Zum fünfften seyen wir auch beschwert der holtzung halb, dan vnsere herschafften habend jnenn die holtzer alle allain geaignet, vn wan der arm man was bedarff muβ ers vmb zway geldt kauffen, ist vnnser maynung: was für holtzer seyen, Es habens qeistlich oder weltlich jnnen die es nit erkaufft haben, sollen ayner gantzen gemain wider anhaim fallen, vn ainer gemayn zimlicher weiß frey sein, aim yetliche sein noturfft jnß hauß zu breen vm sunst lassen nehmen. 1 Die Memminger Zwölf Artikel gelten als der zentrale Forderungskatalog der Bauern des süddeutschen Raumes im Bauernkrieg 1525. 2 Der fünfte Artikel thematisiert die Auseinandersetzungen zwischen der Obrigkeit und den Untertanen um den Wald. Der Wald war für die Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ein zentraler Rohstofflieferant. Das Holz diente als Baustoff, Werkmaterial und Brennstoff. 3 Darüber hinaus wurde der Wald aber auch für die Landwirtschaft, die herrschaftliche Jagd und verschiedene Gewerbe genutzt. 4 Die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Waldes wurden von der Bevölkerung als »Gottesgabe« empfunden. 5 Es verwundert daher nicht, dass der unbeschränkte Zugang (ainer gemayn zimlicher weiß frey sein) zu dieser kritischen Ressource ein zentrales Anliegen der Bauern war. 1 Dye Grundtlichen Vnd rechten haupt Artickel aller Baurschafft vnnd Hyndersessen der Gaistlichen vn[d] Weltlichen oberkayten, von wölchen sy sich beschwert vermainen, 1525, http: / / mdz-nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00025768-9 (aufgerufen am 1.3.2024); zitiert nach der Edition bei P ETER B LICKLE , Die Revolution von 1525, 4. Aufl. München 2004, S. 324f. 2 Zu Entstehung und Bedeutung der Zwölf Artikel vgl. P ETER B LICKLE , Nochmals zur Entstehung der Zwölf Artikel im Bauernkrieg, in: W ILHELM A BEL / P ETER B LICKLE (Hg.), Bauer, Reich und Reformation. FS für Günther Franz zum 80. Geburtstag am 23. Mai 1982, Stuttgart 1982, S. 286-308. 3 J OACHIM R ADKAU , Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt (Stoffgeschichten 3), erw. Aufl. München 2018, S. 21. 4 E LISABETH W EINBERGER , Waldnutzung und Waldgewerbe in Altbayern im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (VSWG Beihefte 157), Stuttgart 2001, S. 33-36, 81-84. 5 S TEFAN B REIT / S TEFAN VON B ELOW (Hg.), Wald - von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherren und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 43), Stuttgart 1998. <?page no="177"?> S TE FAN H UB ER 176 In den Zwölf Artikeln wird der Wald indirekt auch im vierten Artikel (zum Wildbestand) und im zehnten Artikel (über die Gemeindegründe) angesprochen. 6 Hintergrund für die bäuerlichen Forderungen war der gestiegene Nutzungsdruck auf die Wälder seit dem Spätmittelalter. Der Anstieg der Bevölkerung in Mitteleuropa führte dazu, dass eine vormals beinahe unerschöpfliche Ressource plötzlich knapp wurde. 7 Nachdem im beginnenden Spätmittelalter bereits einige Städte 8 des Heiligen Römischen Reiches erste Forstordnungen erlassen hatten, begannen ab der Mitte des 15. und verstärkt im 16. Jahrhundert auch zahlreiche Landesherren 9 damit, mit Verordnungen in die Wälder ihrer Territorien einzugreifen. Die Territorialherren begründeten die Aufstellung der policeylichen Forstordnungen damit, die knappe Ressource Wald zum gemeinen Nutzen des Landes dauerhaft schützen zu wollen, weshalb sie den Zugang zum Wald einschränkten. Tatsächlich ging es ihnen wohl vor allem auch um die Durchsetzung ihrer Forsthoheit 10 und die Verdichtung der Landesherrschaft. 11 6 P. B LICKLE , Die Revolution von 1525 (Anm. 1), S. 58. 7 J. R ADKAU , Holz (Anm. 3), S. 34f. 8 Zum Beispiel 1294 Nürnberg, 1359 Erfurt; vgl. E RNST S CHUBERT , Der Wald. Wirtschaftliche Grundlage der spätmittelalterlichen Stadt, in: B ERND H ERRMANN (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 252-269, hier 263-266. 9 H ELMUT F LACHENECKER , Eine Waldordnung für den Wald von Ebern (Haßwald), in: W OLFGANG B ÜHLING / L ISA S CHRÖDER (Hg.), Herrschaftlicher Anspruch und öffentlicher Nutzen. Die Rolle (städtischer) Einrichtungen und natürlicher Ressourcen im epochenübergreifenden Vergleich, Würzburg 2023, S. 153-168; W OLFGANG W ÜST , Im Wald herrscht Recht und Ordnung. Zur Benevolenz spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Forstwirtschaft, in: Berichte des Historischen Vereins Bamberg 151 (2015), S. 171-184; C HRISTOPH S ONNLECHNER / V ERENA W INIWARTER , Recht und Verwaltung in grundherrschaftlichen Waldordnungen Niederösterreichs und Salzburgs (16.-18. Jahrhundert), in: E RK V OLKMAR H EYEN (Hg.), Naturnutzung und Naturschutz in der europäischen Rechts- und Verwaltungsgeschichte (Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 11), Baden-Baden 1999, S. 57-86; K LAUS B RANDSTÄTTER / G ERHARD S IEGL , Waldnutzungskonflikte und nachhaltige Waldbewirtschaftung in Tirol vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, in: R ETO F URTER u. a. (Hg.), Natürliche Ressourcen. Soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Les ressources naturelles - Durabilité sociale et environnementale (Histoire des Alpes 19), Zürich 2014, S. 145-162, hier 146-150; A LOIS S CHMID , Eine Wald- und Forstordnung der Grafen von Schönborn für ihre Herrschaft Parsberg aus dem Jahre 1732, in: Altfränkische Bilder 10 (2015), S. 18-21. 10 Inwieweit die Forsthoheit mit dem Ausbau der Landesherrschaft zusammenhängt, ist in der Forschung umstritten; vgl. C LEMENS D ASLER , Art. Wildbann und Forsthoheit, publiziert am 23.11.2009, in: HLB (aufgerufen am 28.2.2024). 11 C HRISTOPH E RNST , Forstgesetze in der Frühen Neuzeit. Zielvorgaben und Normierungsinstrumente für die Waldentwicklung in Kurtrier, dem Kröver Reich und der Hinteren Graf- <?page no="178"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 177 Von den schwäbischen Untertanen wurden die herrschaftlichen Eingriffe in den Wald - das wird im fünften Artikel des bäuerlichen Forderungskatalogs deutlich - als unberechtigte Aneignung empfunden. Sie monierten, dass der arme man 12 das benötigte Holz teuer erkaufen müsse, obwohl die Wälder nach Auffassung der Aufständischen eigentlich der ländlichen Gemeinde zur Deckung der Hausnotdurft 13 frei zugänglich sein sollten. Die Unzufriedenheit der Bauern bezüglich ihres Zugangs zum Wald stellte kein regionales Unikum dar. Auch in anderen bäuerlichen Beschwerdeschriften der Zeit, z. B. in Salzburg und Tirol, spielten Auseinandersetzungen um den Wald eine Rolle. 14 Allerdings gab es auch Regionen, in denen der Wald nur ein nebengeordneter Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen der Herrschaft und den Untertanen war. Grundsätzlich war die Einschränkung der bäuerlichen Holzrechte etwa in reichsstädtischen Territorien weniger ausgeprägt als in Adels- und Klosterherrschaften. 15 Bei der Untersuchung, inwieweit Konflikte um die Ressource Wald und der Bauernkrieg zusammenhingen, sind daher unbedingt kleinräumige regionale Unterschiede in den Blick zu nehmen. 16 Im östlich der Allgäuer Unruhegebiete liegenden Herzogtum Bayern gab es zu Beginn der Frühen Neuzeit zwischen der Obrigkeit und den Untertanen immer wieder Auseinandersetzungen um den Wald. Wie in vielen anderen Territorien des Reichs begannen die Wittelsbacher ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stärker in die Wälder ihres Territoriums einzugreifen. Ab 1450 erließen die niederbayerischen schaft Sponheim (Hunsrück und Eifel), in: K ARL H ÄRTER (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (Ius commune Sonderhefte 129), Frankfurt am Main 2000, S. 341-382, hier 353-356; P AUL W ARDE , Waldnutzung, Landschaftsentwicklung und staatliche Reglementierung in der frühen Neuzeit, in: S ÖNKE L ORENZ / P ETER R ÜCKERT (Hg.), Landnutzung und Landschaftsentwicklung im deutschen Südwesten. Zur Umweltgeschichte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg 173), Stuttgart 2009, S. 199-218, hier 211f. 12 B ARBARA K INK , Art. Armer Mann/ Gemeiner Mann, publiziert am 6.7.2016, in: HLB (aufgerufen am 21.2.2024). 13 Zum im gesamtdeutschen Sprachraum seit spätestens dem 16. Jahrhundert fassbaren Begriff der Hausnotdurft vgl. R ENATE B LICKLE , Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: D IES . (Hg.), Politische Streitkultur in Altbayern. Beiträge zur Geschichte der Grundrechte in der frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 58), München-Wien 2017, S. 39-59. 14 P. B LICKLE , Die Revolution von 1525 (Anm. 1), S. 99-104. 15 P. B LICKLE , Die Revolution von 1525 (Anm. 1), S. 62. 16 T HOMAS T. M ÜLLER , Der deutsche Bauernkrieg. Ereignis, Rezeption und Desiderate, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 157 (2021), S. 201-218, hier 215. <?page no="179"?> S TE FAN H UB ER 178 und ab 1476 die oberbayerischen Herzöge erste lokal gültige Waldordnungen. 17 Ein revolutionäres Aufbegehren der Bauern gegen die frühen Forstordnungen blieb jedoch aus. Und auch zu einem Bauernkrieg kam es in Bayern bekanntermaßen nicht. 18 Der folgende Beitrag untersucht deshalb, welche Rolle die Ressource Wald in der Beziehung zwischen dem Landesherrn und der Landbevölkerung im Herzogtum Bayern an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert spielte. Für diese Fragestellung werden die Gegebenheiten im Landgericht Tölz 19 genauer betrachtet. In Tölz war der Nutzungsdruck auf die Wälder schon früh sehr ausgeprägt, so dass die von den Münchner Zentralbehörden für Tölz erlassenen Forstordnungen als Vorläufer aller weiteren bayerischen Forstordnungen fungierten. Um die Tölzer Forstordnungen in ihren Entstehungskontext einordnen zu können und zu prüfen, inwieweit deren Regelungen tatsächlich umgesetzt wurden, bietet sich ein Blick in das Verwaltungsschriftgut des Landgerichts und der lokalen Grundherrschaften an - auch um zu erkennen, welche Bedeutung der landesherrlichen Verwaltung in den Waldnutzungskonflikten vor Ort zukam. Zuerst ist es allerdings notwendig, auf die bisherigen Erklärungsansätze für das Ausbleiben des Bauernkrieges in Bayern einzugehen. Die Resilienz Bayerns gegenüber einer bäuerlichen Revolution hatte schließlich mehrere Gründe. 17 W INFRIED F REITAG , Landbevölkerung, Forstpersonal und ›gute Waldordnung‹ in der »Bayerischen Vorstordnung« von 1568, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 55 (2007), S. 32-57, hier 39f.; H ANS -H EINRICH V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung. München und der Isarwinkel bis zum Jahr 1569 (Miscellanea Bavarica Monacensia 66), München 1976. 18 H ELMUT R ANKL , Landvolk und frühmoderner Staat in Bayern (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte), München 1999, Bd. 1, S. 35, spricht diesbezüglich von einer »Sonderstellung« des bayerischen Territoriums. 19 Dieser Beitrag entstand im Zuge meiner Dissertation (Arbeitstitel: »Herrschaft und Ressourcen zwischen der Grenze und der Residenz. Das Landgericht Tölz vom Mittelalter bis in das frühe 19. Jahrhundert«) im Rahmen des Historischen Atlas von Bayern. <?page no="180"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 179 2. Kein Bauernkrieg in Bayern - Unruhen an den Rändern des Herzogtums Vorweg ist festzustellen, dass es im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts und besonders 1525 auch in Bayern durchaus zu lokalen Unruhen kam. 20 Die Arbeiten Helmut Rankls 21 und Reinhold Riepertingers 22 zeigen, dass es im Herzogtum einzelne unruhige oder aufstandsbereite Untertanen gab. 1525 brachen die Unruhen vor allem an den Rändern des Herzogtums in räumlicher Nähe zu den Brandherden des Bauernkrieges aus. So sind etwa aus den Landgerichten Kelheim und Dietfurt (an der Grenze zum Hochstift Eichstätt), dem Gericht Auerburg (an der Grenze zur Grafschaft Tirol) und dem Gericht Traunstein (unweit des Erzstiftes Salzburg) örtliche Erhebungen bekannt. 23 Besonders an den Grenzen des Landes begegneten die Herzöge Wilhelm IV. (reg. 1508-1550) und Ludwig X. (an der Regierung beteiligt 1514-1545) den Unruhen früh mit militärischer Präsenz. Von Weilheim, Landsberg und besonders Schongau aus sicherten Truppen die bayerische Westgrenze, um einen Einfall der schwäbischen Bauern nach Bayern und eine mögliche Verbrüderung mit den bayerischen Untertanen von vornherein zu unterbinden. Dabei kam es immer wieder zu militärischen Streifzügen auf außerhalb der Landesgrenzen liegende Gebiete, so z. B. am 20. April, als bayerische Truppen den Marktort Buchloe und das Dorf Wiedergeltingen niederbrannten, da sich dort Grundholde des Klosters Steingaden den Forderungen der schwäbischen Bauern anschließen wollten. 24 Wie unsicher die Situation an der Grenze war, zeigt auch die Plünderung des unter der Landeshoheit des 20 Einen Überblick über die Ereignisse des Bauernkrieges in Bayern geben W ILHELM V OGT , Die bayrische Politik im Bauernkrieg und der Kanzler Dr. Leonhard von Eck, das Haupt des schwäbischen Bundes, Nördlingen 1883; S IGMUND VON R IEZLER , Die treuen bayerischen Bauern am Peissenberg (Mai 1525), in: Sitzungsberichte der königl. bayer. Akademie der Wissenschaften Historische Classe (1892), S. 701-770; H EINZ H AUSHOFER , Die Ereignisse des Bauernkriegsjahres 1525 im Herzogtum Bayern, in: W. A BEL / P. B LICKLE (Hg.), Bauer, Reich und Reformation (Anm. 2) S. 268-285. Die im BayHStA als »Bauernkriegsakten« gesammelten Mischbestände finden sich unter BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv 2135- 2142. 21 H ELMUT R ANKL , Gesellschaftlicher Ort und strafrichterliche Behandlung von »Rumor«, »Empörung«, »Aufruhr« und »Ketzerei« in Bayern um 1525, in: ZBLG 38 (1975), S. 524-569. 22 R AINHARD R IEPERTINGER , Typologie der Unruhen im Herzogtum Bayern 1525, in: ZBLG 51 (1988), S. 329-386. 23 W ALTER Z IEGLER , Kein Bauernkrieg im Herzogtum Bayern - kein Bauernkrieg im größeren Teil des Reiches, in: F RANZ F UCHS / U LRICH W AGNER (Hg.), Bauernkrieg in Franken (Publikationen aus dem Kolleg ›Mittelalter und Frühe Neuzeit‹ 2), Würzburg 2016, S. 87- 112, hier 89. 24 S. V . R IEZLER , Die treuen bayerischen Bauern am Peissenberg (Anm. 20), S. 713, 722. <?page no="181"?> S TE FAN H UB ER 180 Hochstifts Augsburg stehenden Ortes Burggen am 7. Mai durch schwäbische Bauern. Die dortigen Bewohner waren nicht bereit gewesen, sich den aufständischen Bauern anzuschließen und flüchteten ins bayerische Schongau. 25 In der Fläche des Landes war eine permanente und umfassende militärische Präsenz der Landesherren im Winter und Frühjahr des Jahres 1525 jedoch nicht möglich - große Teile der bayerischen Landsknechte waren in Norditalien infolge der Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und dem Reich bis zur Schlacht bei Pavia gebunden. Offenbar wurde die fehlende militärische Anwesenheit der Obrigkeit in mehreren Fällen von den Untertanen selbst ausgeglichen: Das zeigt das bereits zeitgenössisch von der herzoglichen Verwaltung hervorgehobene Verhalten der bayerischen Bauern am Peißenberg, die sich dort eigenmächtig gegen einen möglichen Einfall der schwäbischen Bauern zusammengeschlossen hatten. Das schon von Siegmund von Riezler 26 untersuchte Handeln der Peißenberger Bauern war kein Einzelfall. Auch in Eglfing hatten die Untertanen den Landrichter von Weilheim vor einfallenden schwäbischen Bauern gewarnt. 27 Dass es im Herzogtum Bayern 1525 nicht zu größeren Aufständen kam, obwohl das Land von den Schauplätzen des Krieges (Salzburg, Tirol, Schwaben und Franken) umgeben war, lag aber nicht nur an der militärischen Grenzsicherung. Die bisherige Forschung nennt ein ganzes Bündel an Faktoren: Immer wieder wird die frühe und entschiedene Positionierung der bayerischen Herzöge gegen das Luthertum als wichtiger Grund angenommen. 28 Von außerordentlicher Bedeutung war außerdem die gefestigte Wittelsbacher Herrschaft und deren Verwaltungskultur. Walter Ziegler stellte fest, dass der Bauernkrieg 1525 vor allem in den geistlichen Kleinterritorien des Reiches, kaum aber in den weltlichen Großterritorien ausbrach. 29 In Bayern gab es im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts eine vergleichsweise weit ausdifferenzierte Verwaltung mit straffer Kommunikation zwischen den Unterbehörden und der Münchner Zentrale. Dies ermöglichte es den Herzögen, bei lokalen Unruhen rasch und entschieden durchzugreifen. Eine wichtige Rolle für das 25 H EINZ H AUSHOFER , Was geschah wirklich im Frühjahr 1525 auf dem Peißenberg? , in: Lech-Isar-Land (1970), S. 3-13, hier 7. 26 S. V . R IEZLER , Die treuen bayerischen Bauern am Peissenberg (Anm. 20); H H AUSHOFER , Was geschah wirklich im Frühjahr 1525 auf dem Peißenberg? (Anm. 25). 27 F RITZ Z IMMERMANN , Unbekannte Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs 1525 in Bayern, in: ZBLG 27 (1964), S. 190-234, hier 225. 28 H EINRICH L UTZ / W ALTER Z IEGLER , Die Entscheidung gegen Luther und der Beginn der bayerischen Konfessions- und Reformpolitik, in: HBG II, 2. Aufl. München 1988, S. 337-352, hier 350f.; M ANFRED W EITLAUFF , Die bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. und ihre Stellung zur Reformation Martin Luthers, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 45 (2010), S. 59-110. 29 W. Z IEGLER , Kein Bauernkrieg im Herzogtum Bayern (Anm. 23), S. 95-97. <?page no="182"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 181 energische Vorgehen gegen aufständische Bauern spielte auch die Haltung des bayerischen Kanzlers Leonhard von Eck. 30 Zwar haben die Studien Renate Blickles gezeigt, dass es im Verlauf der Frühen Neuzeit zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen den bayerischen Bauern und ihren Obrigkeiten gab. 31 Scharwerke, 32 Weide- und Holzrechte, Gülten, Laudemien und Inventurgelder boten ständiges Konfliktpotential. 33 Die Untertanen hatten mit dem Einreichen von Supplikationen an die Landesherrschaft, dem »Laufen gen Hof«, 34 aber die Möglichkeit, Konflikte mit ihren Obrigkeiten auf einem geregelten Verfahrensweg zu klären und konnten dabei oft von einer vergleichsweise ›bauernfreundlichen‹ Politik der Herzöge profitieren. 35 Das lag in erster Linie daran, dass die Rechte der Grund- und Niedergerichtsherren an den Bauern oft in Konkurrenz zu den landesherrlichen Ansprüchen standen. 36 Auch bot in Bayern die soziale Stellung der Bauern weniger Anlass für Unruhen als in anderen Territorien. Die Leibeigenschaft war in Bayern im 16. Jahrhundert oft nur noch eine geringe, rein finanzielle Belastung und anders als etwa auf dem Territorium des Fürststifts Kempten keine Ursache für bäuerlichen Unmut. 37 Die bäuerliche Gemeinde, die Peter Blickle 30 W ILHELM V OGT , Bayerns Stimmung und Stellung im Bauernkrieg von 1525. Eine kritischhistorische Studie, Stadtamhof 1877, S. 16f. 31 Zu den bekannten bäuerliche Unruhen gegen die Landesherrschaft zählen z. B. die Haager Bauerversammlung von 1596, die Unruhen 1633/ 34 in Südostbayern und der Aufstand gegen die kaiserliche Besatzung 1705. Der Wald spielte in diesen Auseinandersetzungen allerdings keine Rolle; vgl. R ENATE B LICKLE , Die Haager Bauernversammlung 1596, in: W. A BEL / P. B LICKLE (Hg.), Bauer, Reich und Reformation (Anm. 2), S. 43-73, hier 44. 32 R ENATE B LICKLE , Art. Frondienste/ Scharwerk in Altbayern, publiziert am 21.2.2014, in: HLB (aufgerufen am 22.2.2024). 33 R ENATE B LICKLE , Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern. 1400-1800, in: W INFRIED S CHULZE (Hg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa (Geschichte und Gesellschaft 27), Stuttgart 1983, S. 166-187, hier 169-171. 34 R ENATE B LICKLE , Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: D IES . (Hg.), Politische Streitkultur in Altbayern (Anm. 13), S. 107-132. 35 R ENATE B LICKLE , Die Tradition des Widerstandes im Ammergau. Anmerkungen zum Verhältnis von Konflikt- und Revolutionsbereitschaft, in: D IES . (Hg.), Politische Streitkultur in Altbayern (Anm. 13), S. 17-38, hier 36. 36 R ENATE B LICKLE , »Spenn und Irrung« im »Eigen« Rottenbuch. Die Auseinandersetzungen zwischen Bauernschaft und Herrschaft des Augustiner-Chorherrenstifts, in: P ETER B LICKLE (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, S. 69-145, hier 143-145. 37 R ENATE B LICKLE , Art. Leibeigenschaft in Altbayern, publiziert am 21.7.2014, in: HLB (aufgerufen am 21.3.2024); A DOLF S ANDBERGER , Entwicklungsstufen der Leibeigenschaft <?page no="183"?> S TE FAN H UB ER 182 als wichtigen Faktor für die schwäbischen Aufstände identifiziert, war in Bayern in weiten Teilen des Landes aufgrund der zergliederten Siedlungsstruktur nur sehr schwach ausgeprägt. 38 Die Bergknappen in Rattenberg und Kitzbühel, die in Tirol zu den treibenden Kräften des Aufstands gehörten, waren nach der Abtretung der beiden Landgerichte an die Habsburger nach dem Landshuter Erbfolgekrieg kein bayerisches Problem mehr. 39 Trotz all dieser Faktoren gab es zu Beginn der Frühen Neuzeit auch in Bayern Unruhen, die das Potential für einen Aufstand geboten hätten. Das wird deutlich, wenn man die Verhältnisse im Landgericht Tölz näher betrachtet. 3. Das Landgericht Tölz und die Unruhen im bayerischen Oberland Bad Tölz liegt ungefähr 40 Kilometer südlich von München am unmittelbaren Alpenrand. Aufgrund seiner Lage am Oberlauf der Isar spielte das Landgericht eine wichtige Rolle für die Ressourcenversorgung der Residenzstadt München. Mit der Flößerei konnte das Holz aus den ausgedehnten Gebirgswaldungen des Isarwinkels 40 einfach und günstig nach München transportiert werden. 41 Die bayerischen Herzöge griffen deshalb bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit lokalen Forstordnungen in die Nutzung der Tölzer Wälder ein. Konflikte um den Wald im Vorfeld des Bauernkrieges sollten hier also besonders gut sichtbar sein. Im Hinblick auf den Bauernkrieg ist außerdem die Grenzlage des Landgerichts zur Grafschaft Tirol interessant. in Altbayern seit dem 13. Jahrhundert, in: ZBLG 25 (1962), S. 71-92, hier 80; zum Vergleich mit den Verhältnissen in Kempten vgl. P ETER B LICKLE , Leibherrschaft als Instrument der Territorialpolitik im Allgäu. Grundlagen der Landeshoheit der Klöster Kempten und Ottobeuren, in: D ERS . (Hg.), Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 35), Stuttgart-New York 1989, S. 3-18. 38 P ETER B LICKLE , Bäuerliche Erhebungen im spätmittelalterlichen deutschen Reich, in: D ERS . (Hg.), Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes (Anm. 37), S. 109-132, hier 125. 39 H. H AUSHOFER , Die Ereignisse des Bauernkriegsjahres 1525 (Anm. 20), S. 269. 40 Als Isarwinkel bezeichnete man das Gebiet des Landgerichts Tölz sowie zum Teil auch das Umland der Isar im Landgericht Wolfratshausen sowie den Einzugsbereich der Loisach, einen in Wolfratshausen in die Isar mündenden Zulauf; vgl. H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 1. 41 M ICHAEL S CHATTENHOFER , Aus der Geschichte der Isarflößerei, in: D ERS . (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Stadt München (Oberbayerisches Archiv 109/ 1), München 1984, S. 99- 112. <?page no="184"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 183 Zunächst ist festzuhalten, dass es im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts auch im Oberland nicht völlig ruhig blieb. Bereits 1521 wurden Ulrich Junker aus Sachsenkam, Hans Nyssel aus Tölz und Conntz Wolf aus Reichersbeuern in Weilheim in das Gefängnis gesperrt, weil sie von den herzoglichen Beamten eines scheinparlichen rumorischen verdachtlichen wessens bezichtigt wurden. 42 Die Ursachen für das aufrührerische Verhalten der Untertanen gehen aus deren Urfehdebriefen nicht hervor. Ende März 1525 schickte der Landrichter des nördlich von Tölz gelegenen Wolfratshausen sein Amtspersonal nach Sauerlach und Taufkirchen, um mit den Bauern über den aus deren Sicht zu hohen Wildbestand in der Region zu verhandeln. Wenig später beriet er in gleicher Sache auch mit den Bauern in Warngau. Der Landrichter hoffte, auf diese Weise größere bäuerliche Zusammenkünfte verhindern zu können. 43 Für die Bauern war das Wild vor allem deshalb problematisch, weil es Schäden auf den Äckern verursachte und damit ihre Einkünfte empfindlich schmälerte. Herzog Wilhelm nahm die Beschwerden daher sehr ernst, besonders im Hinblick auf ihr Potential für mögliche Unruhen. In einer Instruktion vom 25. April 1525 stellte er den Bauern frei, das Wild mit Hunden von den Feldern zu vertreiben. 44 Hinweise, dass es auch im Tölzer Gericht bäuerliche Versammlungen wegen des Wildschadens gab, finden sich in den Quellen nicht. Es wäre aber möglich, dass Tölzer Bauern bei den Verhandlungen im nahen Sauerlach oder Warngau beteiligt waren. Neben dem lokalen Verwaltungspersonal berichteten Abgesandte der Zentralbehörden über die Stimmung unter der Landbevölkerung nach München. Ermutigt durch das Verhalten der Peißenberger Bauern befahl Herzog Wilhelm Mitte Mai 1525 in den Landgerichten Dachau, Tölz, Kranzberg, Aichach und Starnberg jeden vierten man, so wehrhaft ist, 45 also das Landesaufgebot, aufzubieten, um die Truppen an der Westgrenze seines Territoriums zu stärken. Nach der Musterungsliste von 1522 standen im Landgericht Tölz dafür insgesamt 539 wehrhafte Männer zur Verfügung. 46 Am 16. Mai berichteten der Jäger Jörg Halbhiller und der Münchner Kasten- Gegenschreiber Ulrich Propst, die als Musterungskommissare für dieses Vorhaben nach Tölz geschickt worden waren, nach München: Haben wir von Delz auch Delzer Lant gericht, Iser-Winkel und deren Hofmarken bis in vierthalbhundert man aufpracht, die dan 42 BayHStA, Kurbayern, Urkunden 30235: Urfehdebrief von Hans Nyssel, 23.2.1521. Für den Urfehdebrief von Ulrich Juncker vgl. Urkunde 30230 (26.2.1521), für Conntz Wolf 30234 (2.4.1521). Alle drei Urfehdebriefe werden auch aufgeführt bei H. R ANKL , Gesellschaftlicher Ort und strafrichterliche Behandlung (Anm. 21), S. 530. 43 F. Z IMMERMANN , Unbekannte Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs (Anm. 27), S. 210. 44 R. R IEPERTINGER , Typologie der Unruhen im Herzogtum Bayern 1525 (Anm. 22), S. 355. 45 BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv 2140: Bauernkriegssachen (Schwabhalb), 1525, fol. 292-294, hier 292; vgl. S. V . R IEZLER , Die treuen bayerischen Bauern am Peissenberg (Anm. 20), S. 768f. 46 BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv 3917: Musterungsregister des Oberlandes, 1522, fol. 50v. <?page no="185"?> S TE FAN H UB ER 184 gar willig und gehorsam gewesen […] aber dy im Peyra Winkl haben sich ganz mit Worten und Werken ungeschickt gehalten. wan wir Peyren heten wellen plindern, weren sy willig gewest, aber E[uer] F[ürstlich] G[naden] ganz unwillig. 47 Die Untertanen des Landgerichts Tölz hätten sich den Worten der Musterungskommissare nach deutlich leichter für den potentiellen Verteidigungsfall gegen die schwäbischen Bauern heranziehen lassen als die Untertanen des benachbarten Klostergerichts Benediktbeuern. Mehr noch: die Benediktbeurer Untertanen wären sogar bereit gewesen, das Kloster, ihren Grund- und Niedergerichtsherren, zu plündern. Der Benediktbeurer Abt Matthias Reuchl schrieb am 17. Mai an Herzog Ludwig X., jemand habe in der Nähe seines Klosters fünf oder sechs Schwazer 48 Bergwerksknappen mit Spiel und Trommel angetroffen. 49 Um die Grenze nach Tirol zu bewachen und einen Einfall der Schwazer Knappen nach Bayern von vornherein zu unterbinden, ließ die Münchner Regierung daraufhin am 14. Juni eine Abteilung Soldaten in das Kloster Tegernsee legen, um von dort aus den Achenpass nach Tirol kontrollieren zu können. Noch im August wurden die Pfleger an der Grenze zu Tirol dazu ermahnt, besonders wachsam zu sein, da die Herzöge befürchteten, die Inntaler Bauern und Knappen könnten in Bayern einfallen. Auf Tiroler Seite mutmaßte man dagegen, die bayerischen Bauern könnten den Tirolern zu Hilfe kommen. Der Schwazer Bergrichter sorgte sich, wann die knappen hie mer ainen aufstand macheten, so sollten inen die pauren vom Bistumb Saltzburg und etlich aus Bairn zueziehen wellen. 50 Der Tölzer Pfleger, Caspar (III.) von Winzerer, sah zu diesem Zeitpunkt offenbar keine gravierenden Probleme in seinem Landgericht. Nach dem kaiserlichen Sieg in der Schlacht bei Pavia wurde er von den bayerischen Herzögen als Feldhauptmann in die militärischen Vorkehrungen gegen die schwäbischen Bauern eingebunden und war so bestens über die politische Großwetterlage informiert. 51 Am 4. Juni schrieb er während eines kurzen Aufenthaltes in Tölz an den Tegernseer Abt Maurus 47 BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv 2140: Bauernkriegssachen (Schwabhalb), 1525, fol. 349; vgl. auch S. V . R IEZLER , Die treuen bayerischen Bauern am Peissenberg (Anm. 20), S. 755; J OSEPH E DMUND J ÖRG , Deutschland in der Revolutions-Periode von 1522 bis 1526, Freiburg im Breisgau 1851, S. 380. 48 Zum Aufstand der Schwazer Bergknappen vgl. A DOLF L AUBE , Der Aufstand der Schwazer Bergarbeiter 1525 und ihre Haltung im Tiroler Bauernkrieg. Mit einem Quellenanhang, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 2 (1978), S. 225-258. 49 BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv 2140: Bauernkriegssachen (Schwabhalb), 1525, fol. 350; vgl. auch J. E. J ÖRG , Deutschland in der Revolutions-Periode von 1522 bis 1526 (Anm. 47), S. 380f.; S. V . R IEZLER , Die treuen bayerischen Bauern am Peissenberg (Anm. 20), S. 741. 50 BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv 2140: Bauernkriegssachen (Schwabhalb), 1525, fol. 58; auch zitiert bei P. B LICKLE , Die Revolution von 1525 (Anm. 1), S. 188-191. 51 H. H AUSHOFER , Was geschah wirklich im Frühjahr 1525 auf dem Peißenberg? (Anm. 25), S. 6. <?page no="186"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 185 zwar, dass sich die sachen vberal schwerlich zuetragen. 52 Er unterrichtete den Abt von den Aufständen in Salzburg und an der Altmühl sowie über brennende Klöster in Franken. Aufstände in seinem eigenen Landgericht erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht. Die Unruhen in der näheren Umgebung von Tölz zeigen, dass die Herzöge das Landgericht in erster Linie aufgrund seiner Lage an der Grenze zu Tirol unter genauer Beobachtung hatten. Bäuerlicher Unmut hinsichtlich des Zugriffes und der Nutzung von Ressourcen ist zumindest in der landesherrlichen Überlieferung nicht festzustellen. Gerade Konflikte um den Wald boten hier offenbar keinen Anlass für Aufruhr und Empörung. Dieser Befund ist nicht nur für Tölz festzustellen: In der weiter östlich gelegenen Herrschaft Wildenwart klagten die Bauern bereits im Jahr 1514 beim Herzog in 21 Artikeln über verschiedene Beschwernisse. Vor allem beklagten die Bauern die Erhöhung ihrer Abgabenlast und die willkürliche Änderung von Gerichtsverfahren durch den herzoglichen Pfleger. Von Wald und Holz war dagegen auch dort keine Rede. 53 4. Landesherrliche Forstordnungen für die Tölzer Wälder Warum war der Wald im Landgericht Tölz und im Herzogtum Bayern keine Ursache für öffentliche Unruhe, während die schwäbischen Bauern die herrschaftliche Aneignung der Wälder beklagten? Zunächst ist festzuhalten, dass der Bevölkerungsdruck in Bayern am Ende des Spätmittelalters geringer war als in anderen Regionen des Reichs, was die Auseinandersetzungen um den Zugang und die Verteilung von Ressourcen von vornherein entschärfte. 54 Eine wesentliche Rolle spielten außerdem die Bestimmungen der bayerischen Forstordnungen. Nachdem im Spätmittelalter bereits kleinere Grund- und Niedergerichtsherren in Bayern damit begonnen hatten, Waldordnungen zu erlassen (so etwa das Kloster Ebersberg Ende des 13. Jahrhunderts), 55 begannen im 15. Jahrhundert auch die Herzöge mit dem Erlass solcher Vorschriften. Herzog Heinrich XVI. von Niederbayern erließ 1450 für den Weilhart eine Holzordnung, Herzog Ludwig IX. 1468 für den Henhart. Beide Ordnungen für die 52 A UGUST H ARTMANN , Briefe Kaspar Winzerer’s II und III, in: Oberbayerisches Archiv 46 (1889/ 1890), S. 195-217, hier 216. 53 A DOLF S ANDBERGER , Die einundzwanzig Artikel der Wildenwarter Bauernschaft vom Jahre 1514, in: Das bayerische Inn-Oberland 24 (1953), S. 59-68. 54 G ÜNTHER F RANZ , Der deutsche Bauernkrieg, 12., gegenüber der 11. unveränd. Aufl. Darmstadt 1984, S. 471f. 55 W. F REITAG , Landbevölkerung, Forstpersonal und ›gute Waldordnung‹ (Anm. 17), S. 35f. <?page no="187"?> S TE FAN H UB ER 186 im Innviertel gelegenen Wälder enthielten in erster Linie Vorschriften zu Preisen, Forstzinsen und den Abnahmeberechtigten für das Holz. 56 Im Teilherzogtum Bayern-München erließ Herzog Albrecht IV. 1476 die erste Forstordnung für das Landgericht Tölz. Weitere Ordnungen für Tölz und den Isarwinkel folgten unter seinen Söhnen Wilhelm IV. und Ludwig X. 1517, 1528 und 1536, bevor 1568 eine für das ganze Herzogtum gültige Ordnung erlassen wurde. Das im Zuge dieser Ordnungen umfangreich entstandene Verwaltungsschriftgut zeugt von ständigen Aushandlungsprozessen um den Wald. 57 In Folge der Vereinigung der bayerischen Teilherzogtümer und der Vergrößerung des Münchner Hofes ab 1505 stieg der Münchner Holzverbrauch immer weiter an, so dass die Wälder des Isarwinkels zwangsläufig in das Blickfeld der Herzöge rücken mussten. Während 1477 insgesamt 2.884 Flöße aus dem Isar- und Loisachgebiet die Zollstelle in Wolfratshausen auf dem Weg nach München passierten, waren es 1496 bereits 3.639 Flöße. 58 Gleichwohl war Tölz nicht die einzige Region im Herzogtum, in welcher der Wald zum Ende des Spätmittelalters in den Fokus der Herzöge geriet. Von herausragender Bedeutung waren auch die Wälder der Saline Reichenhall, 59 und auch in den Landgerichten am Lech und an der Paar gab es bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erste obrigkeitliche Holzbeschreibungen. 60 Herzog Albrecht IV. begründete den Erlass der Forstordnung für das Landgericht Tölz vom 8. Mai 1476 mit dem schlechten Zustand der Wälder - sie seien fast geödet und erschlagen, was unsern Landen und Leuten zu merklichen Schaden gereiche. Mit der Forstordnung wolle er diesen Missstand wenden und [ihm] zu vorkommen. 61 Diese Diktion ist typisch und beinahe formelhaft für die Holzordnungen des 16. Jahrhunderts und musste mit den tatsächlichen Gegebenheiten und Motiven nicht unbedingt 56 W. F REITAG , Landbevölkerung, Forstpersonal und ›gute Waldordnung‹ (Anm. 17), S. 39f. 57 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 25-75. Vangerow behandelt die Isarwinkler Forstordnungen 1476-1528 sehr ausführlich, allerdings in erster Linie aus forstgeschichtlicher Perspektive, so dass die entsprechenden Quellen für die vorliegende Fragestellung neu bearbeitet werden mussten. 58 BayHStA, Herzogtum Bayern, Ämterrechnungen bis 1506, 1546: Zollrechnung Wolfratshausen, 1477, fol. 13v; ebd., 1547: Zollrechnung Wolfratshausen, 1496, fol. 55v. 59 W OLFGANG J AHN , Die Saline Reichenhall vom Spätmittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in: M ANFRED T REML u. a. (Hg.), Salz Macht Geschichte. Aufsätze (Veröff. zur bayerischen Geschichte und Kultur 29), Augsburg 1995, S. 83-92, hier 86. 60 BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv 7778: Holzbeschreibung von den Gerichten Rain, Schrobenhausen, Aichach, Friedberg und Neuburg sowie in der Herrschaft Heidenheim, 1470-1511. 61 Ordnung des Holzschlages in den Gerichten Tölz und Aibling vom 08. Mai 1476, in: F RANZ VON K RENNER (Hg.), Baierische Landtags-Handlungen, München 1803-1805, S. 236-238, hier 236. Für das Landgericht Aibling wurde die Ordnung erst 1481 übernommen, das ursprüngliche Mandat richtete sich nur an den Tölzer Pfleger. <?page no="188"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 187 viel zu tun haben. 62 In diesem Fall gilt es jedoch zu beachten, dass dem Herzog als in München residierenden Stadtherrn tatsächlich an der dauerhaften Holzversorgung seiner Stadt gelegen sein musste. Die Ordnung schränkte den Holzschlag der Bauern in den Wäldern ein. Baumstämme für die Flößerei mussten mindestens 38 Schuh lang sein, also etwa 11 Meter, 63 doch ausgenommen, was ein ieder zu seines Gutes Nothdurft zum Zimmern bedarf, das mag er nach seinem Willen schlagen, ungefährlich. Bauholz für den bäuerlichen Eigenverbrauch war von diesen Regelungen also ausdrücklich ausgenommen. Dagegen war das Schlagen von Stangen für die Errichtung von Leitern und Zäunen sowie die Gewinnung von Latten zumindest im Gemeingebirge, 64 dem Gemeindewald, untersagt. Auch das Räumen und Reuten, das Roden, wurde im Gemeingebirge verboten. Jedem Untertanen stand es aber frei, in seinen Traden 65 weiterhin nach eigenem Gutdünken zu verfahren. 66 Die Herzöge griffen mit dieser Ordnung recht behutsam in die bäuerlich genutzten Gemeinwälder ein. Der Verkauf von Holz nach München wurde nicht generell untersagt, sondern nur gewissen Schutzmaßen unterworfen. Außerdem wurde die Hausnotdurft der Untertanen und der bäuerliche Eigenbesitz nicht angetastet. Dass diese Forstordnung auch umgesetzt wurde, zeigen die Gerichtsrechnungen des Landgerichts für die Folgejahre. In der Rechnung des Jahres 1477 finden sich erstmals Ausgaben für eine Holzbeschau. Diese wurde vom herzoglichen Richter, einem Amtmann und zwei Mitgliedern der Tölzer Flößerzunft durchgeführt. Strafen 62 J OACHIM R ADKAU , Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, 2. Aufl. München 2012, S. 15. 63 Zu Holzmaßen und -mengen vgl. H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 156. 64 Aus den herzoglichen Waldordnungen geht hervor, dass in Tölz bereits im 15. Jahrhundert eine räumliche Aufteilung der Wälder für die verschiedenen Nutzungsgruppen und -zwecke stattgefunden hatte. Die Ordnungen erwähnen die Gemeingebirge, daneben gab es außerdem Wälder, die der Versorgung des Münchner Hofes vorbehalten waren. 1498 differenzierte sich diese räumliche Aufteilung weiter aus. Herzog Albrecht IV. gestattete der Stadt München das Schlagen von Holz zur Erzeugung von Holzkohle in den Tölzer Wäldern. Dafür wies er der Stadt drei Berge aus den herzoglichen Waldungen an der Dürrach zu; Monumenta Boica 35/ II, München 1849, S. 430-433. Die Abgabe der Waldungen an der Dürrach war dem Herzog unter anderem deshalb möglich, weil sich die landesherrlichen Jagdaktivitäten, die im 15. Jahrhundert immer wieder in den Tölzer Gegend stattgefunden hatten, nun zunehmend auf die Wälder rings um München konzentrierten; vgl. M ARTIN K NOLL , Umwelt - Herrschaft - Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd Kurbayerns im 18. Jahrhundert (Studien zur neueren Geschichte 4), St. Katharinen 2004, S. 73. 65 Trat: als Weideland genutzte (private) Anbaufläche; vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, http: / / fwb-online.de/ go/ trat.s.1f_1709296588 (aufgerufen am 1.3.2024). 66 Ordnung des Holzschlages in den Gerichten Tölz und Aibling (Anm. 61). <?page no="189"?> S TE FAN H UB ER 188 wurden für zu klein geschnittenes Holz verhängt. 67 1481 gab es ein gebranntes Holzmaß, mit dem die Länge der Bäume und die Dicke der Bretter überprüft werden konnte. 68 Ab 1486 beschäftigte der Pfleger außerdem zwei Holzknechte, die für die Kontrolle der Bestimmungen in den Wäldern zuständig waren. 69 1478 erließ Albrecht IV. eine weitere Ordnung, welche die Flößerei und das Kalkbrennen in den Landgerichten Tölz und Wolfratshausen regelte. 70 Gegen diese Ordnung protestierten sowohl die gantz gemain in dem Yserwinckel wie auch der Rat des Marktes Tölz. Die bäuerliche Landgemeinde - nicht eines einzelnen Ortes oder Dorfes, sondern des ganzen Landgerichts - beschwerte sich in ihrer Supplikation, dass die neuen Vorgaben gegen das Alte Herkommen seien und ihnen die Teilhabe am Holzhandel nach München erschwerten; aufgrund ihrer geringen landwirtschaftlichen Erträge seien sie auf die Einkünfte aus dem Holzhandel angewiesen. Der Markt Tölz bemängelte dagegen, dass der Verkauf von Floßholz nach München nicht exklusiv auf die Flößerzunft des Marktes beschränkt worden, sondern weiterhin auch den Bauern des Landgerichts möglich sei. 71 Die divergierenden Beschwerden zeigen, dass die landesherrlichen Regelungen nicht unbedingt a priori den fürstlichen Zugriff auf den Wald verstärken sollten, sondern aus der schiedsrichterlichen Funktion des Landesherrn zwischen den verschiedenen am Holzhandel nach München beteiligten Parteien resultierten. Freilich agierte der Landesherr in dieser Auseinandersetzung nicht völlig unparteiisch. Im Landgericht war der Herzog zu Beginn der Frühen Neuzeit der bedeutendste Grundherr. Dem Kastenamt Tölz unterstanden 141 der 435 landgerichtlichen Anwesen. 72 Wenn die Bauern in ihrer Supplikation darauf verwiesen, dass sie auf die Einkünfte aus dem Holzhandel angewiesen seien, war das ein Argument, das die fürstliche Verwaltung aus eigenem Interesse an grundherrlichen Abgaben nicht ohne Weiteres außer Acht lassen konnte. 1487 supplizierten die Tölzer Bauern abermals an den Herzog. Sie monierten, dass der Pfleger Caspar (II.) von Winzerer die ihnen 1476 gewährten Ausnahmen 67 BayHStA, Herzogtum Bayern, Ämterrechnungen bis 1506, 1393: Gerichtsrechnung des Landgerichts Tölz, 1477, fol. 18. 68 BayHStA, Kurbayern, Geheimes Landesarchiv 1206: Grenz-, Güter- und Volksbeschreibungen des Kurpfalzbayrischen Landgerichts Tölz, 1481-1625, fol. 19. 69 BayHStA, Herzogtum Bayern, Ämterrechnungen bis 1506, 1403: Gerichtsrechnung des Landgerichts Tölz für das Jahr 1487, fol. nicht nummeriert. 70 BayHStA, Kurbayern, Geheimes Landesarchiv 1206: Grenz-, Güter- und Volksbeschreibungen des Kurpfalzbayrischen Landgerichts Tölz, 1481-1625, fol. 1-20; vgl. H.-H. V AN - GEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 27-31. Vangerow ordnet diese Regelungen in das Jahr 1478 ein, in der Tölzer Überlieferung wird jedoch 1481 genannt. 71 BayHStA, Kurbayern, Geheimes Landesarchiv 1206: Grenz-, Güter- und Volksbeschreibungen des Kurpfalzbayrischen Landgerichts Tölz, 1481-1625, fol. 14f. 72 BayHStA, Kurbayern, Hofkammer Conservatorium Camerale 252: Salpuech des Landtgerichts Tölltz darinen alle guetter beschribn wem die zugehorn unnd mit Namen haissn, 1552. <?page no="190"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 189 (Hausnotdurft und Eigenbesitz auf den Traten) missachte und Holzstämme mit der vorgeschriebenen Länge als zu kurz beanstande. Unterstützt wurden sie dabei von mehreren Grundherren, wie etwa dem Münchner Angerkloster und dem Münchner Bürgergeschlecht der Rudolf. Winzerer beantwortete die Vorwürfe mit dem Hinweis, die Bauern würden ihre Hausnotdurft nur vortäuschen und hielten sich immer weniger an die vorgeschriebenen Längenmaße. Stattdessen würden sie immer mehr Holz nach München flößen, so dass das Holz im Gebirge nur noch fünf bis sechs weitere Jahre ausreiche. 73 Mit dieser alarmierenden, sicherlich überzogenen Einschätzung versuchte der Pfleger wohl, ein entschiedeneres Eingreifen des Herzogs, gerade auch gegenüber den Grundherren, zu provozieren. Neben dem Herzog, den Bauern, den Tölzer Flößern und den Grundherren gab es noch weitere Parteien, für die die Vorschriften bezüglich der Tölzer Wälder relevant waren. In einer Auseinandersetzung zwischen den Münchner und den Tölzer Kalkbrennern um möglichst hohe Marktanteile in München initiierte der Münchner Rat 1496 eine Modifizierung der Regeln für die Einfuhr von Brennholz in die Stadt. Es sollte zukünftig im Klaftermaß und nicht mehr gespalten in Fudern angeliefert werden, da dieses Verfahren die im Wald zurückbleibenden Holzreste reduzierte. Tatsächlich verschickte die landesherrliche Verwaltung eine entsprechende Anweisung nach Tölz und in weitere Landgerichte. 74 Auch in den folgenden Jahren gab es weiterhin Auseinandersetzungen zwischen den Kalkbrennern von Tölz und München, außerdem beschwerten sich die Münchner Müller beim Herzog, dass sie ihre Flöße nicht mehr direkt von den Isarwinkler Bauern beziehen durften. Wiederholt supplizierten zudem die Tölzer Bauern und Söldner 75 an den Münchner Hof, da sie das Brennholz ihrer eigenen Waldungen weiterhin ohne Längenvorgaben schlagen wollten. Im April 1501 kam es daher am Münchner Hof zu Verhandlungen, an denen der Münchner Rentmeister, herzogliche Räte, der Tölzer Pfleger sowie Verordnete der Stadt München teilnahmen. Das ausgehandelte Ergebnis bestätigte und bekräftigte die bisherigen Regelungen, besonders am bäuerlichen Holztransport und -verkauf nach München wurde ausdrücklich festgehalten. 76 Auch Der Floßleut im Tölzer und Wolfratshauser Gericht Freiheit und Ordnung 77 von 1517 zeigt, dass die Regelungen der Waldordnung von 1476 weiterhin maßgeblich waren. Darüber hinaus enthielt diese Ordnung weitere detaillierte Bestimmungen, 73 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 31-35. 74 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 38f. 75 Söldner: Kleinbauern, die allein vom landwirtschaftlichen Ertrag ihrer Anwesen nicht leben konnten. Während der Zugang zum Wald den kleinbäuerlichen Schichten in vielen Weistümern und Waldordnungen erschwert wurde, war er im Isarwinkel weiterhin möglich. 76 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 46-48. 77 BayHStA, Staatsverwaltung 1959: Der Floßleut im Tölzer und Wolfratshauser Gericht Freiheit und Ordnung, 1517, fol. 177v-184v. <?page no="191"?> S TE FAN H UB ER 190 die sich vor allem um das Verbot des Fürkaufs 78 drehten. Die Isarwinkler Bauern durften weiterhin Holz in den Gemeingebirgen schlagen und selbst nach München flößen oder an Mitglieder der Flößerzunft verkaufen, jedoch nicht an Dritte. Jeder zünftige Flößer durfte höchstens 100 Flöße pro Jahr ankaufen. Die Tölzer Kalkerzeugung wurde außerdem auf maximal zehn Brandöfen beschränkt. 79 Offensichtlich beabsichtigte Herzog Wilhelm IV. mit dieser Ordnung weniger eine Aneignung der Wälder oder eine Beschränkung der bäuerlichen Nutzung, sondern vielmehr einen Ausgleich zwischen den verschiedenen am Holzhandel beteiligten Gruppen herzustellen. Für die Jahre im unmittelbaren Vorfeld des Bauernkriegs finden sich in den Quellen keine Hinweise auf weitere Forstverordnungen. Zu einer Modifizierung der Regelungen von 1517 kam es erst im November 1527. 80 Der Herzog begründete die Nachbesserung der Floßleuteordnung damit, dass der Mangel an Fichten- und Buchenholzflößen in München zu einer deutlichen Teuerung führe. Das Holz sei um ein Drittel teurer als früher. Daher solle es jedermann frei sein, in den Gerichten Tölz und Wolfratshausen Holz zu kaufen und unabhängig von einer Zunftzugehörigkeit und ohne Mengenbegrenzung zu flößen. Nur der Fürkauf als solcher blieb weiterhin verboten. 81 Mit diesen Bestimmungen lockerte Wilhelm die bisherigen Regelungen und verbesserte die Möglichkeiten der Isarwinkler Bauern, am Holzhandel nach München partizipieren zu können, während die Vorrechte der zünftigen Flößer geschmälert wurden. Der Anstieg des Holzpreises, den Wilhelm als Begründung für diese Lockerung angibt, ist tatsächlich feststellbar, war allerdings deutlich geringer als im herzoglichen Mandat behauptet. 82 Vielleicht handelte es sich bei der Öffnung des Floßhandels zwei Jahre nach den Bauernkriegsgeschehnissen um ein Entgegenkommen des Herzogs gegenüber seinen Untertanen. Quellenhinweise, die in diese Richtung deuten, finden sich jedoch nicht, so dass es sich womöglich lediglich um die Legitimation der bisherigen Praxis handelte. Zumindest die Isarwinkler Bauern durften nach den älteren Bestimmungen von 1476 und 1517 ohnehin selbständig nach München flößen. Eine weitere Ordnung im April 1528 83 bekräftigte die Bestimmungen aus dem Vorjahr und wiederholte ansonsten alle weiteren Regelungen, die seit 1476 gesetzt 78 Zum Fürkauf vgl. A LBRECHT C ORDES , Art. Fürkauf, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) I, Lieferung 8, Sp. 1876-1878. 79 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 66-69. 80 BayHStA, Staatsverwaltung 1959: Der Floßleut im Tölzer und Wolfratshauser Gericht Freiheit und Ordnung, 1517, Mandat vom 27.11.1527, S. 184v-185v. 81 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 69-71. 82 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 164. 83 BayHStA, KL Benediktbeuern 88: Holzordnung vom 14. April 1528 (Abschrift), fol. 10-12. <?page no="192"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 191 worden waren. 84 Auch die Holz- und Kohlordnung vor dem Gebirg 85 von 1536 stand in der Tradition der bisherigen Verordnungen. 1568 fanden viele der Paragraphen der Tölzer Holzordnungen schließlich Eingang in die erste gesamtbayerische Forstordnung, 86 die im Wesentlichen die ganze Frühe Neuzeit hindurch gültig blieb. 87 Die Untersuchung der Tölzer Forstordnungen von 1476 bis 1528 führt zu mehreren Ergebnissen: 1. Die Nutzung der Tölzer Wälder und der Holzhandel nach München waren für die Herzöge von großer Relevanz. Mit dem wiederkehrenden Erlass der Forstordnungen und ihrer Durchsetzung durch das lokale Verwaltungspersonal griffen die Wittelsbacher intensiv in die Wälder ein. Bei diesem Eingreifen handelte es sich aber keineswegs um das Aneignen der von den Untertanen bewirtschafteten Wälder. Vielmehr wird deutlich, dass die Herzöge in erster Linie als Schiedsrichter zwischen den verschiedenen am Holzhandel nach München beteiligten Gruppen fungierten. 2. Der Eigenverbrauch der Untertanen, die Hausnotduft, blieb von den Regelungen unangetastet und wurde in den Forstordnungen ausdrücklich geschützt. Die Versorgung mit Brenn- und Bauholz war den Bauern weiterhin sicher. 3. Der Kreislauf aus herzoglichen Verordnungen, bäuerlichen Supplikationen, der Einsetzung von Kommissionen, Stellungnahmen der Pfleger, Grundherren und Flößerzünfte und der Erlass neuer Ordnungen deutet einen geregelten Aushandlungsprozess zwischen der Herrschaft und den Untertanen an. 88 4. Der räumliche Geltungsbereich der Vorschriften, die sich 1476 lediglich auf das Landgericht Tölz bezogen, hatte sich ausgedehnt. 1478 wurde die Tölzer Forstordnung für das Landgericht Wolfratshausen und das Klostergericht Ettal übernommen, 1481 zudem für das Landgericht Aibling. Das Mandat bezüglich der Klafterbringung nach München von 1496 89 und alle weiteren Vorschriften bis 84 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 71-74. 85 StadtA München, BAUA-TB-131: Holz- und Kohlenordnung in Oberbayern 1536 (Abschrift). 86 Bayerische Vorstordnung von 1568, in: W ALTER Z IEGLER , Altbayern von 1550-1651 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern Abt. I, Bd. 3, Teil 1), München 1992, S. 372-377. 87 H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 122-139; W. F REI - TAG , Landbevölkerung, Forstpersonal und ›gute Waldordnung‹ (Anm. 17). 88 Der Aushandlungsprozess um die Forstordnungen lässt sich gut in das Konzept der akzeptanzorientierten Herrschaft einordnen; vgl. S TEFAN B RAKENSIEK , Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: H ELMUT N EUHAUS (Hg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche (HZ Beihefte 49), München 2009, S. 395- 406, hier 400-403. 89 Geltungsbereich: Landgerichte Tölz, Wolfratshausen, Aibling, Schwaben (= Ebersberg) und Starnberg sowie die Niedergerichtsbezirke der Klöster Benediktbeuern, Beuerberg, <?page no="193"?> S TE FAN H UB ER 192 zur Holz- und Kohleordnung von 1536 90 erstreckten sich dann schon über die ganze Gegend vor dem Gebirg, also das unmittelbare Alpenvorland südlich von München, bevor 1568 zahlreiche Bestimmungen Eingang in die gesamtbayerische Forstordnung fanden. 91 5. Der Landesherr in den Nutzungskonflikten um die Wälder des Isarwinkels Die dargelegten Aushandlungsprozesse um die Tölzer Forstordnungen zeigen auf, dass die Tölzer Wälder Schauplatz zahlreicher Konflikte um die Waldnutzung waren. Bei diesen Streitigkeiten handelte es sich aber weniger um Konflikte zwischen dem Landesherrn und den Untertanen als vielmehr um Auseinandersetzungen innerhalb der Bauernschaft und Streitigkeiten der Bauern mit anderen Herrschaftsträgern. Für die Tölzer Gemeingebirge gab es verschiedene Nutzungsberechtigungen. Es gab Wälder, in denen alle Landgerichtsuntertanen Holz schlagen durften, und solche, die nur für die Untertanen bestimmter Ortschaften oder Grund- und Niedergerichtsherren bestimmt waren. 92 Diese Konstellation führte zu zahlreichen Konflikten um Nutzungsrechte an einzelnen Wäldern innerhalb der Bauernschaft. Besonders ausgeprägt waren diese Auseinandersetzungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts zwischen den Bauern des landgerichtlichen Ortes Gaißach und den Untertanen der Hofmark Hohenburg im benachbarten Lenggries. Der Tölzer Pfleger wurde dabei von beiden Seiten - also auch von den Hofmarksuntertanen - als Schiedsrichter angerufen. 93 Die Forsthoheit des Landesherrn über die Gemeinde- Schlehdorf, Schäftlarn und Ettal; vgl. H.-H. V ANGEROW , Vom Stadtrecht zur Forstordnung (Anm. 17), S. 39. 90 StadtA München, BAUA-TB-131: Holz- und Kohlenordnung in Oberbayern 1536 (Abschrift). 91 Unabhängig von den Tölzer Forstordnungen entwickelten sich die Waldordnungen, die in Zusammenhang mit den bayerischen Bergwerken standen. Die Regelungen der Wald- und Sudordnung für die Saline Reichenhall von 1509 waren sehr speziell auf das Salinenwesen abgestimmt. Die Reichenhaller Bauern durften Holz für ihre Hausnotdurft nur mit der Bestätigung und die Ausweisung der dafür zuständigen Amtspersonen schlagen; vgl. Wald- und Sudordnung zu Reichenhall. Von der Vormundschafft Wilhelms IV. erlassen, 1509, in: J OHANN G EORG VON L ORI (Hg.), Sammlung des baierischen Bergrechts, München 1764, S. 133-141. 92 StA München, AR Fasz 1080/ 33: Die Verteilung der Gebirgswaldungen im Isartal 1774- 1823, fol. 26-29, verweist auf einen entsprechenden Rezess aus dem 16. Jahrhundert. 93 Dass diese Auseinandersetzungen bis in die 1520er Jahre zurückreichten, geht hervor aus StA München, RMA Unterbehörden 11456: Der in den Gebirgen Schönau, Schweinberg <?page no="194"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 193 wälder stand für die Landbevölkerung außer Frage und zementierte sich letztlich mit jedem herzoglichen Schiedsspruch nur noch fester. Die Tölzer Untertanen wandten sich jedoch nicht nur bei internen Konflikten um die Waldnutzung an den Herzog, sondern auch, wenn sie Ansprüche gegenüber anderen Herrschaftsträgern durchzusetzen versuchten. Dies geschah vor allem an den gebirgigen, nur schwer zu kontrollierenden Grenzen des Landgerichts. Die Grenze zwischen dem Landgericht Tölz und dem Niedergerichtsbezirk des Klosters Benediktbeuern verlief entlang eines etwa 10 Kilometer langen Bergrückens zwischen der Benediktenwand und dem Blomberg. Weite Teile der grenznahen Gebirgswälder konnten vom Isartal aus leichter begangen werden als von der Benediktbeurer Seite. Bereits vor 1393 hatten Tölzer Untertanen auf dem Gebiet des Klostergerichts Holz gefällt. Im Zuge der folgenden Auseinandersetzung schlossen das Landgericht und das Kloster einen für die herzoglichen Untertanen äußerst vorteilhaften Kompromiss: Zwar konnte das Kloster durch eine umfangreiche Grenzbeschreibung den grundsätzlichen Anspruch auf seine Wälder behaupten, gleichzeitig gestattete das Kloster den grundherrschaftlichen Untertanen des Kastenamts Tölz aber, die Benediktbeurer Wälder zur Deckung ihrer Hausnotdurft aufzusuchen. 94 Da es sich bei den Kastenamtsbauern um die eigenen Untertanen handelte, hatte der Herzog bei der Aushandlung dieser Regelungen sicherlich vor allem seine eigenen fiskalischen Interessen im Blick. 1477, ein Jahr nach der ersten Tölzer Forstordnung, wurde die Regelung erneuert. Der Benediktbeurer Abt hatte moniert, dass immer mehr des angeblich für die Hausnotdurft geschlagenen Holzes von den Bauern in Wirklichkeit nach München verkauft werde. In einem Schreiben an den Benediktbeurer Abt gab der Tölzer Pfleger zu, dass solche Verkäufe stattgefunden hätten, und versicherte dem Abt, dass sich die Holzrechte der Tölzer Kastenamtsuntertanen weiterhin nur auf deren Hausnotdurft beschränkten. Einige Jahre später wurde das Bezugsrecht der Hausnotdurft auf alle Tölzer Landgerichtsuntertanen erweitert. 95 Das Kloster Benediktbeuern klagte in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten zwar immer wieder gegen den Holzeinschlag in seinen Wäldern, konnte diese Praxis aber letztlich nicht verhindern. Der Tölzer Pfleger unterstützte seine Landgerichtsuntertanen gegenüber dem Kloster maßgeblich, indem er den und Bernleuten zwischen den Untertanen des Gerichts Tölz und denen der Hofmark Hohenburg strittige Blumbesuch und Holzschlag, 1598-1611. 94 BayHStA, KL Benediktbeuern 88: Holzordnung vom 14. April 1528 (Abschrift), fol. 2v; vgl. auch M AXIMILIAN L OY , Politisch-historische Analyse des Ressourcenmanagements im Benediktbeurer Klosterland von 1648-1803, München 2008, S. 113. 95 BayHStA, KL Benediktbeuern 187: Intercessionsschreiben für einige Iserwünckhler so nit Landtsfürstliche Cassten Uderthanen umb Holz, 1543-1729, fol.1. <?page no="195"?> S TE FAN H UB ER 194 Untertanen eine ausgesprochen hohe, über das tatsächlich notwendige Maß hinausgehende Hausnotduft quittierte. 96 Bei Streitigkeiten der Lenggrieser Hofmarksuntertanen mit dem Kloster Tegernsee, die in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts aufkamen, vermittelte Herzog Albrecht ab 1507 zwischen der Hohenburger Hofmarksherrin Christina von Maxlrain und dem Tegernseer Abt, die sich beide an ihn gewandt hatten. 97 1526 supplizierten die Lenggrieser Bauern selbst an die herzogliche Verwaltung und warnten, dass um ihr im strittigen Gebiet geschlagenes Schäffelholz in kurtzen Tagen ein solicher nachtail besthecht, das es gemainen hantberch disser löblichen stat, dahin es verkhaufft wirt [München] nichs nutz. 98 Die Lenggrieser Bauern verwiesen auf den wirtschaftlichen Nachteil, der den Münchner Handwerkern entstünde, wenn das Kloster die Ausfuhr des Holzes nicht freigäbe. An einem solchen Nachteil konnte dem Herzog als Münchner Stadtherrn nicht gelegen sein. Nach der Vermittlung Wilhelms stimmte Tegernsee der Ausfuhr des Holzes schließlich zu. Tatsächlich ging das Holz, sehr zum Missfallen des Tegernseer Abtes, sogar an einen Hofschäffler. 99 Der Herzog verfolgte auch in diesem Konflikt also durchaus seine eigenen Interessen. Während die Streitigkeiten innerhalb der Bauernschaft vor allem die schiedsrichterliche Rolle des Landesherrn kräftigten und festigten, ohne dass der Herzog direkt in die Konflikte involviert war, überschnitten sich in den Auseinandersetzungen der Bauern mit den benachbarten Klöstern die Ziele der Bauern mit denen der herzoglichen Verwaltung. So sind die ausgesprochen bauernfreundlichen Entscheidungen des Herzogs in diesen Auseinandersetzungen zu erklären. Dass die herzogliche Verwaltung ihre Untertanen bei Grenzkonflikten unterstützte, zeigte sich ebenso an den Außengrenzen des Herzogtums: Am 11. September 1518 wurden Wolfgang Scheffmann der Ältere und sein Sohn aus dem Isarwinkel wegen Diebstahls von Eibenholz aus dem zur Grafschaft Tirol gehörenden Rißtal von den Tiroler Grenzaufsehern gefangen genommen. Scheffmann gestand, dass in den letzten fünf Jahren 15 Personen aus dem Tölzer Landgericht mit Wissen des Tölzer Pflegers im Rißtal Eibenholz gefällt hätten. 100 Tatsächlich hatte sich Caspar von Winzerer bereits einige Jahre 96 BayHStA, KL Benediktbeuern 151: Attestate des Kastenamts Tölz für seine Untertanen als Nachweis ihrer Holznotdurft, 1657-1795, mit mehrmaligen Verweisen, dass das Vorgehen bereits seit dem 16. Jahrhundert praktiziert werde. 97 BayHStA, KL Tegernsee 213 1/ 2: Strittiger Holzschlag zwischen Tegernsee und Hohenburg auf dem Hohenaxl, Schliffbach und Ronstein, 1506-1545, fol. 12. 98 BayHStA, KL Tegernsee 213 1/ 2: Strittiger Holzschlag zwischen Tegernsee und Hohenburg auf dem Hohenaxl, Schliffbach und Ronstein, 1506-1545, fol. 164. 99 BayHStA, KL Tegernsee 213 1/ 2: Strittiger Holzschlag zwischen Tegernsee und Hohenburg auf dem Hohenaxl, Schliffbach und Ronstein, 1506-1545, fol. 186. 100 G EORG M UTSCHLECHNER / O TTO K OSTENZER , Zur Natur- und Kulturgeschichte der Eibe in Nordtirol, in: T IROLER L ANDESMUSEUM (Hg.), Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum. 53, Innsbruck 1973, S. 245-288, hier 278. <?page no="196"?> D IE R ES S OUR CE W ALD ZWIS CH EN L ANDES H ER R UND U NTER TANEN 195 zuvor bei Kaiser Maximilian I. für die Freilassung eines Landgerichtsuntertanen, dem der gleiche Tatbestand vorgeworfen wurde, ausgesprochen. 101 Der genaue Verlauf des Grenzabschnittes zu Tirol war bis 1557 umstritten, so dass die Bauern, die am Verkauf des wertvollen Eibenholzes gut verdienten, auch hier auf die Unterstützung des Herzogs zählen konnten. 6. Fazit Dass es im Herzogtum Bayern 1525 keinen Bauernkrieg gab, lag an einem ganzen Bündel verschiedener Faktoren. Unter anderem waren die Auseinandersetzungen um die Ressource Wald zwischen der Landesherrschaft und den Untertanen in Bayern weniger erbittert als in vielen anderen Territorien und Regionen des Reiches. 102 Das hatte mehrere Ursachen: Dort, wo der Nutzungsdruck auf die Wälder besonders ausgeprägt war, wie etwa im Landgericht Tölz, griffen die bayerischen Landesherren ab 1476 mit policeylichen Forstordnungen in den Wald ein, ohne die bäuerliche Hausnotdurft anzutasten; vielmehr wurde diese sogar ausdrücklich geschützt. Gerade Verletzungen der bäuerlichen Hausnotdurft führten nach Peter Blickle aber vielfach zu frühneuzeitlichen Bauernrevolten. 103 In langwierigen Aushandlungsprozessen hatten die Untertanen mit einem institutionalisierten und funktionierenden Supplikationswesen die Möglichkeit, Bedenken gegen einzelne Regelungen der Forstordnungen zu äußern. Grundsätzlich stärkte dieses Verfahren die bäuerliche Akzeptanz der herzoglichen Bestimmungen. Ursachen für den Erlass der Forstordnungen waren seitens der Landesherren eine befürchtete zukünftige Holzknappheit für die Stadt München, vor allem aber auch die Nutzungskonflikte der verschiedenen am Holzhandel nach München beteiligten Akteure. Das wird sowohl in den Supplikationen zu den einzelnen Regelungen wie auch in den Bestimmungen der Forstordnungen selbst deutlich. Die Herzöge fungierten in den Konflikten in einer 101 BayHStA Kurbayern Äußeres Archiv 1792, Zwischen Bayern und Tirol strittige Almen des Klosters Tegernsee an der Tölzer Landgerichtsgrenze, 1444-1530, fol. 34-35. 102 Aber auch für die Regionen des Reichs, in denen es zum Bauernkrieg kam, wäre es sicherlich vorschnell, von einem direkten Zusammenhang zwischen den Konflikten um den Wald und dem Ausbruch des Krieges auszugehen. Schließlich gab es auch nach 1525 zahlreiche Konflikte um die Wälder, die nicht zwangsläufig zu andauernden Revolten der Untertanen führten; vgl. P ETER B LICKLE , Wem gehörte der Wald? Konflikte zwischen Bauern und Obrigkeiten um Nutzungs- und Eigentumsansprüche, in: D ERS . (Hg.), Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes (Anm. 37), S. 37-50, hier 37. 103 Blickle begründet diesen Zusammenhang mit der ökonomischen Belastung der Bauern und der Verletzung ihrer Rechte; vgl. P ETER B LICKLE , Bauernaufstände im frühneuzeitlichen Europa, in: ZBLG 71 (2008), S. 357-384, hier 371f. <?page no="197"?> S TE FAN H UB ER 196 schiedsrichterlichen Funktion, die ihre Forsthoheit - gewollt oder ungewollt - letztlich untermauerte. Bei Waldnutzungskonflikten der Bauern mit anderen Herrschaftsträgern verfolgten die Herzöge trotz ihrer meist vermittelnden Funktion auch eigene Interessen, die oft den Bauern zugute kamen. Die Forsthoheit der Landesherren, die durch die Forstordnungen gestärkt wurde, führte dazu, dass die Grund- und Niedergerichtsherren kaum an der Herrschaft über den Wald teilhaben konnten - selbst in die Wälder der großen Klosterhofmarken von Benediktbeuern und Tegernsee konnten die Herzöge eingreifen. 104 Die Rechte am Wald lagen im Herzogtum Bayern damit beinahe ausschließlich beim Landesherrn und der Landbevölkerung. Die Frage, warum es in Bayern vergleichsweise wenig Konflikte zwischen der Landesherrschaft und den Untertanen um die Ressource Wald gab, hängt also eng mit den herrschaftlichen Strukturen im Herzogtum zusammen. Pointiert formuliert: Anders als in Schwaben und anderen Bauernkriegsregionen hatten sich in Bayern der Landesherr und die Bauern den Wald gemeinschaftlich angeeignet - häufig auf Kosten der Grund- und Niedergerichtsherren. 104 Zu dieser Beobachtung kommt auch Renate Blickle für das Klostergericht Ettal; R. B LICKLE , Die Tradition des Widerstandes im Ammergau (Anm. 35), S. 28-31. <?page no="198"?> 197 H ELMUT F LACHENECKER Der Kampf um immaterielle und naturale Ressourcen im Bauernkrieg in Franken. Von Häckern, Bauern und Stadtviertelsbewohnern Die Auseinandersetzungen um Ressourcen dürften so alt wie die Geschichte der Menschheit sein, die wohl von Beginn an darum bestrebt war, die anfänglich unbebaute Natur nach ihren Bedürfnissen umzugestalten, damit die Einzelnen in stabilen sozialen und wirtschaftlichen Gemeinschaften leben und überleben konnten. Die dabei entstehenden Cultural Landscapes zeugen von diesen Bemühungen, die einem permanenten Wandel unterworfen waren und immer noch sind. 1 Kulturlandschaften spiegeln die vom Menschen genutzten Mittel für seine Daseins- und Lebensvorsorge wider. Politische Herrschaftsräume entstanden ebenso wie religiöse, sog. ›Heilige Orte‹ (sacred spaces). 2 Religion, Herrschaft und Kultur ließen lebenswerte Wohnräume und Zentren entstehen, die mit Hilfe von Straßen und Wegen verbunden waren. Daraus entwickelten sich dann vielfältige Infrastruktur- und Kommunikationsnetze. Diese allgemeinen Entwicklungen dokumentieren die vielfältige Nutzung der Umgebung bzw. den Umgang mit den dort vorzufindenden natürlichen und anderen Arten von Ressourcen. Ansgar Schanbacher versucht diese Vielfalt in drei große Ressourcenbereiche zusammenzufassen: naturale, immaterielle und materiell-kulturelle Ressourcen. 3 Diesen Ansatz gilt es nun, unter bestimmten Fragestellungen für die Unruhen des ›Gemeinen Mannes‹ 4 um 1525 zu analysieren, wobei die jeweilige Quellengrundlage den Umfang und die Analysetiefe stark beeinflussen. Besonders deutlich können die Mittelnutzungen in Krisensituationen aufscheinen, weil sie besonders auf 1 Die Literatur ist vielfältig. Daher soll nur auf eine neuere Publikation hingewiesen werden: I VAN F OLETTI / M ARTIN F. L EŠÁK (Hg.), Dynamics of Medieval Landscape: Cultural Shaping of the Environment (Convivium 9,1), Brno 2022. 2 J EANNE H ALGREN K ILDE , Sacred Power. Sacred Space, Oxford 2008; T IMOTHY J. J OHN - SON , Wonders in Stone and Space: Theological Dimensions of the Miracle Accounts in Celano and Bonaventure, in: Franciscan Studies 67 (2009), S. 71-90, bes. 74-78. 3 A NSGAR S CHANBACHER (Hg.), Ressourcen in historischer Perspektive. Landschaft, Literatur und Nachhaltigkeit, Göttingen 2020, hier in der Einleitung, S. 7-10. 4 Zu seinen schillernden Begriffsumschreibungen siehe B ARBARA K INK , Art. Armer Mann/ Gemeiner Mann, publiziert am 6.7.2016; in: HLB (aufgerufen am 11.3.2024). <?page no="199"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 198 Strukturen und Netzwerke hinweisen, die in ›Normalzeiten‹ kaum oder wenig thematisiert werden. Dazu gehört der von Schanbacher angesprochene Ansatz, Ressourcen als Mittel zur Schaffung von sozialen Beziehungen zu definieren. 5 Allerdings besteht die Gefahr einer zu häufigen Nutzung des Begriffs Ressource zu vielerlei Entwicklungen. So konnten etwa Burgen und Städte in einem DFG-Projekt ›Ressourcenerschließung und Herrschaftsräume‹ als ›Ressourcen‹ für den mittelalterlichen Herrschaftsaufbau definiert werden. 6 Die Gefahr besteht latent, dass Alles und Jedes dann in irgendeiner Art und Weise zu einer Ressource erklärt wird. Der für die hier vorliegende Untersuchung gewählte Ansatz konzentriert sich im Folgenden mehr an dem Umgang mit den natürlichen Ressourcen und deren Auswirkungen auf soziale Gruppen in den Krisenzeiten um 1525. Um derartigen Fragestellungen nachzugehen, lohnt ein Blick auf die Unruhen während des sog. Bauernkrieges von 1525 in Franken. Die »Etikettierung als Bauernkrieg« wird stets eine methodische Herausforderung bleiben, besonders dann, wenn es mehrere soziale Gruppen, nicht nur ›die‹ Bauern, waren, die eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Obrigkeiten wagten. 7 Gerade in der Region Franken mit ihrem dichten Netz von überwiegend kleinen Städten und Dörfern, zahlreichen Burgen und Klöstern wird eine territoriale Vielfalt deutlich, die einer vereinigenden Oberhoheit durch einen einzelnen Fürsten entbehrte. Damit fanden die Auseinandersetzungen um unterschiedliche Ressourcen in einem eng begrenzten Gebiet statt. Das hatte mehrere Konsequenzen auf der lokalen Ebene zur Folge, die in der Untersuchung thematisiert werden sollen. Als Erstes muss die in weiten Teilen Mainfrankens vorherrschende Monokultur des Weinbaus angesprochen werden, die vielfältige wirtschaftliche und soziale Bedingungen hervorrief: - Fränkische Weinanbaugebiete besaßen eine starke Bevölkerungskonzentration mit Kleinstädten und Dörfern, die zwar nicht Städten im rechtlichen Sinne entsprachen, aber entsprechende bauliche Attribute wie Stadtmauer, Rathaus und Markt besaßen. Dies generierte eine enge soziale Vernetzung und verstärkte soziale Auseinandersetzungen als Folgen wirtschaftlicher Unsicherheit. - Die im Main- und Taubertal vorherrschenden Winzer mussten ihr Produkt, den Wein, ziemlich schnell verkaufen, um mit dem Erlös Brotgetreide erwerben zu können. Nur so konnten ihre Familien überleben. Damit waren sie massiv vom 5 A. S CHANBACHER (Hg.), Einleitung (Anm. 3), S. 11. 6 https: / / www.dainst.org/ forschung/ projekte/ ressourcenerschliessung-und-herrschafts raeume-im-mittelalter-kloester-und-burgen/ 5791 (aufgerufen am 9.3.2024). 7 B ERND S CHNEIDMÜLLER , Wieviel Bauer braucht die bürgerliche Bauernkriegsforschung? , in: K URT A NDERMANN / G ERRIT J ASPER S CHENK (Hg.), Bauernkrieg. Regionale und überregionale Aspekte einer sozialen Erhebung (Kraichtaler Kolloquien 14), Ostfildern 2024, S. 233-256, hier 234. <?page no="200"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 199 Zugriff auf vorhandene Lebensmittelressourcen und deren schwankenden Preisen betroffen. - Der rasche Verkauf bedeutete häufig die Erzielung eines geringeren Preises; die Möglichkeit einer längeren Lagerung in Weinkellern stand praktisch nur den Klöstern und Adelsherrschaften offen. Damit konnte sich eine Preisspirale in Gang setzen, die stets zu Ungunsten der Winzer und Häcker verlief. Der Zwang zur Veräußerung machte die Winzer zudem von schlechten Münzprägungen abhängig, die den erhofften Gewinn noch einmal schmälerten. Die fehlende Geldwertstabilität und die Entwertung bzw. Nichtanerkennung ›fremder‹ Münzen führten bereits ab den 1460er Jahren zu einem Vertrauensverlust und damit zu einer geringen Akzeptanz von Münzen. Die zwischen 1507 und 1526 zu beobachtenden Zugewinne im Nominalpreisniveau führten zu einer »simultanen Reduktion im Feingehalt« der Pfennigmünzen. 8 - Nicht nur Winzer, sondern auch Bauern mit ihrem Getreideanbau waren von der langandauernden wirtschaftlichen Veränderungsperiode betroffen. Die von den Grundherren erhobenen Abgabelasten auf Höfe waren das gesamte 15. Jahrhundert kaum zu erlösen. Daher wirkt der Bauernkrieg wie der Kulminationspunkt einer lang andauernden Krisensituation. - Die Auseinandersetzungen kristallisierten sich auch am Umgang mit kapitalintensiven Infrastrukturen. Dafür beispielhafte Einrichtungen sind die Mühlen. - Ein detaillierter schriftlicher Überblick über die vorhandenen Ressourcen - in Form von Sal- und Rechnungsbüchern sowie Inventarien - erweist sich nicht in jedem Falle, in jeder Stadt und in jedem Kloster, als vollständig. Die vorhandenen Auflistungen der Schäden im Bauernkrieg sind auch aus diesem Grund differenziert zu betrachten. - Ein weiterer Bereich, der hier angesprochen werden soll, bildet das religiöse Angebot: Die Ressourcenangebote im Bereich der Seelsorge veränderten sich, ihre spätmittelalterliche Vielfalt nahm ab. Neue Formen von Seelsorge entstanden, die nicht bei allen Gläubigen auf Zustimmung trafen. - ›Spezialisten‹ benötigten nicht nur die Mühlen zu ihrem Betrieb; sie waren auch im Militär notwendig: Nur wer Büchsenmeister anwerben konnte, sollte seine Geschütze wirkungsvoll einsetzen können. Dies dürfte für die Auseinandersetzungen im Bauernkrieg mit entscheidend gewesen sein. 8 Die Praxis schlechter Münzen führte zu Unruhen nicht nur beim Gemeinen Mann, sondern auch bei den Angehörigen der dörflichen Oberschichten, die besonders von der geringen Münzstabilität betroffen waren. Dies erklärt u. a., warum viele Anführer der Unruhen aus dieser Oberschicht kamen; P HILIPP R OBINSON R ÖSSNER , Deflation - Devaluation - Rebellion (VSWG-Beihefte 219), Stuttgart 2012, S. 485-529, Zitat 496. <?page no="201"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 200 1. Wein und Häcker Gerade an Main und Tauber zeigt sich mit dem Weinanbau eine große agrarische Monoanbaukultur. Die Folge war, allgemein gesprochen, eine permanente ökonomische Unsicherheit, die wiederum in wirtschaftlich bedingte Wanderungsbewegungen münden konnte. Letztere lag begründet in dem komplexen System der wechselseitigen Abhängigkeiten von Stadt und Land, aber auch in der demographischen Entwicklung mit einer vielerorts rasch ansteigenden Bevölkerung. Christian Pfister schätzt die Gesamtzahl der Bewohner in deutschen Landen auf 9 Millionen Menschen mit einer Bevölkerungsdichte von 16 Einwohnern pro km 2 . Außerdem sei im Zeitraum 1520-1560 von einem breiten Bevölkerungswachstum auszugehen. Eventuell wäre es unter diesen Voraussetzungen, zumindest regional, leichter gewesen, als Voraussetzung für legitime Erben eine Ehe einzugehen. Gerade in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war es aufgrund der positiven klimatischen Bedingungen wieder möglich, u. a. neue Weinberge anzulegen und zu bewirtschaften; auch die Getreideflächen nahmen wieder zu. 9 Damit wären die bäuerlichen Unruhen am Ende einer Phase guter landwirtschaftlicher Erträge entstanden. Eine weniger positive historische Einschätzung nimmt gegenüber der vorgetragenen These eine zumindest regional vorhandene bäuerliche Überbevölkerung als wichtige Ursache für Pauperismus, Arbeitsmangel und Hunger um 1500 an. Generell können Wirtschaftshistoriker wie Ulrich Pfister eine Abnahme der Löhne ungelernter Arbeiter - zu denen vermutlich auch die Häcker in den Kleinstädten und Dörfern Frankens gezählt werden können - in ganz Europa konstatieren. Diese zwischen 1500 und 1530 noch moderate, dann aber zunehmende Lohnreduktion traf in den deutschen Landen - Pfister hat auch Würzburg in seinem Untersuchungssample - auf ein im Vergleich zu anderen europäischen Regionen geringes Lohnniveau, das eigentlich nur in italienischen Gebieten noch dürftiger war. 10 Die Population stieg im 16. Jahrhundert um 0,4-0,5 % durchschnittlich. Die Urbanisierungsrate lag in den deutschen Territorien, unter Beachtung regionaler Unterschiede, bei rund 10 %. 11 Der Anteil der Kosten für Nahrung am Einkommen lag zwischen 1500 und 1525 9 C HRISTIAN P FISTER , Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie (Enzyklopädie Deutsche Geschichte 28), München 2007, S. 11. Differenzierter D ERS ., Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496-1995), Bern u. a. 1999, S. 75, wo die günstigen klimatischen Bedingungen erst für das »mittlere Drittel« des 16. Jahrhunderts angenommen werden, während im »ersten Drittel« kühlere und feuchtere Sommer vermutet werden. 10 U LRICH P FISTER , The timing and pattern of real wage divergence in pre-industrial Europe: evidence from Germany, c. 1500-1850, in: Economic History Review 70 (2017), S. 701-729, hier 714 Figure 4, 722 Figure 8. 11 U LRICH P FISTER , Economic growth in Germany 1500-180, in: The Journal of Economic History 82 (2022), S. 1071-1107, hier 1078, 1081. <?page no="202"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 201 zwischen 75 und 80 %. Ein Abschwung bei den Löhnen ungelernter Arbeiter in Städten und damit auch Einschränkungen beim Lebensmittelkonsum zeigten sich seit 1500. Der tiefste Wert bei den Löhnen wird aber erst um 1600 erreicht. Der wirtschaftliche Niedergang war, generell gesprochen, in den 1520er Jahren noch nicht so signifikant ausgeprägt. 12 Die unmittelbaren Jahre vor den Aufständen dürften also für die Gruppe der Tagelöhner und Häcker schon eine Zeit zunehmender ökonomischer Schwierigkeiten gewesen sein, die sich bereits im ausgehenden 15. Jahrhundert angedeutet hatten. Freilich müssen regionale Besonderheiten stets mit betrachtet werden. Um mit einem Beispiel zu beginnen: Ein Eintrag in das Würzburger Ratsprotokoll hält für den 16. November 1486 eine Klage der Schultheißen der Stadt Eibelstadt und des Dorfes Randersacker fest, die nicht nur für ihre Gemeinden, sondern auch für die armenleuthe von Ochsenfurt, Frickenhausen, Goßmannsdorf, Winter- und Sommerhausen sowie Theilheim und Heidingsfeld sprachen. 13 Diese Orte lagen südlich von Würzburg und unterstanden unterschiedlichen Territorialherren: neben dem Bischof von Würzburg (Randersacker) waren es das Domkapitel (Ochsenfurt, Frickenhausen) sowie die Grafen von Limpurg (Winterwie Sommerhausen) oder bei Heidingsfeld der König von Böhmen. Goßmannsdorf unterstand einer Ganerbenherrschaft des Domkapitels, der Zobel und der Geyer von Giebelstadt, bei Eibelstadt waren es das Domkapitel und die Marschälle von Pappenheim. Schon wegen dieser Diversität ist die gemeinsame Initiative interessant, zumal sie letztlich singulär blieb. Ehe die Delegation zum städtischen Rat kam, hatte sie offensichtlich ein (ergebnisloses? ) Gespräch mit dem Dekan des Domkapitels geführt. Da diese Städte, Märkte und Dörfer zudem allesamt am oder im Maintal lagen, ist davon auszugehen, dass die unspezifiziert angesprochenen ›armen Leute‹ in ihrer Mehrheit kleine Winzer, Häcker und sonstige Arbeiter überwiegend in den Weinbergen waren. Der Hauptklagepunkt der Gemeinden war, das man das korn mit schiffenn von Ochssennfurt in frembde lant fuer. Dies bedeutete, dass das Domkapitel, das die Stadtherrschaft über Ochsenfurt besaß, Getreide, auf das es wohl in größerem Umfang im sogenannten Ochsenfurter Gau mit seinen guten Böden Zugriff hatte, zu erhöhten Preisen in weiter entfernte Gebiete gewinnbringend verkaufen konnte. Damit war das Korn nicht nur zu teuer für die bedürftige lokale Bevölkerung, sondern das Brotgetreide wurde generell dem lokalen Markt entzogen. Und davon waren alle in diesem Raum anzutreffenden Herrschaften betroffen. Genaue Aussagen lassen sich nicht machen, da Mengen- und Preisangaben in diesem Auszug des Ratsprotokolls fehlen. Zudem waren 1486 die am Existenzminimum lebenden Schichten einem andauernden lokalen Verarmungsprozess unterzogen; die Delegation berichtet von zwei vorausgegangenen Jahren mit Missernten. Da die Bevölkerung von 12 U. P FISTER , Economic growth (Anm. 11), S. 1083, 1085, 1087, 1094. 13 StadtA Würzburg, Ratsprotokoll 6, fol. 135v. <?page no="203"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 202 der Hand in den Mund lebte, konnte sie keine Vorräte anlegen. Die Ressource der nachhaltigen Bevorratung blieb dem Domkapitel, den Klöstern und Adeligen vorbehalten. Die armen Leute besaßen auch, wenig verwunderlich, keinerlei Handelsnetze, die es erlaubt hätten, das Getreide bzw. den Wein über größere Distanzen zu veräußern. Die prekäre Lage der armen Leute verschärfte sich auch dadurch, dass sie etwaige Kleinkredite nicht mehr bedienen bzw. ihren Abgabeverpflichtungen bei der Erfüllung von Steuerforderungen nicht nachkommen konnten. Die Delegation klagte, die leibgedinge könnten nicht mehr bezahlt werden. Hier scheint ein generelles, weit verbreitetes Problem der allgemeinen Steuer- und Abgabeforderungen auf. Aus diesem resultiert im Übrigen dann eine der Hauptforderungen der Bauern auch im fränkischen Raum: […] so seind nun unsere furnembste artikel: das ab sol sein hauptrecht vnd handlon, auch die stewr oder bethe ist der arm hochbeschwert, auch sol absein das ungelt. 14 Wie angespannt die Lage der Bevölkerung war, zeigt zum einen die beschriebene Initiative mehrerer Gemeinden unter der Führung zweier Schultheißen, aber auch - nach dem Scheitern beim Domkapitel - die Anrufung des Würzburger Stadtrates selbst, der über keinerlei Hoheitsrechte in den angesprochenen Orten verfügte. Zwangsläufig konnten die Ratsmitglieder hier nicht weiterhelfen, da die genannten Orte unter unterschiedlichen Herrschaften standen, in denen der Rat (natürlich) keine Gebots- und Verbotsgewalt hatte. Das vorliegende Protokoll geht leider nicht auf die naheliegende Frage ein, ob in der Stadt Würzburg die Lage ebenso dramatisch war und warum überhaupt der Stadtrat angesprochen worden war. Für die Anliegen der ›armen Leute‹ gab es augenscheinlich keine adäquate Problemlösung! 2. Die Häcker In Weinbaugebieten, nicht nur am Main, sondern auch an der Tauber, spielten die Häcker - die Wanderarbeiter in den Weinbergen - eine große Rolle bei der Verbreitung neuer religiöser und sozialer Ideen. In den Weindörfern bildeten sie Bevölkerungsschichten, die arm, unzufrieden und häufig gesellschaftlich isoliert waren - besonders dann, wenn sie sich in weiter entfernte Orte zur Arbeit aufmachen mussten. Sie waren eine eigene Gruppe mit individuellen Zielen, die meist mit den wohlhabenden Winzern bzw. Getreidebauern wenig gemein hatten. Tom Scott hat daher, wohl zurecht, eine Art ideologischer Solidarität zwischen Stadt und Land bezweifelt, 14 L ORENZ F RIES , Die Geschichte des Bauern-Krieges in Ostfranken, 2 Bde., hg. von A UGUST S CHÄFFLER / T HEODOR H ENNER , Würzburg 1883, hier II, S. 179 (Brief vom 7. April 1525 der vor Mergentheim liegenden rothenburgischen Bauern an die Bürger von Lauda). <?page no="204"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 203 weil es zwischen Bauern und Bürgern grundsätzlich wenige Gemeinsamkeiten gegeben habe. 15 Dafür waren die Handlungsspielräume und somit der Umgang mit Ressourcen zu unterschiedlich. In der Stadt Rothenburg selbst gärte es unter den Winzern, deren Weinverkauf städtischen Reglementierungen unterlag. Die Winzer gehörten auch hier zum ärmeren Teil der Bevölkerung. 16 So ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Regionen mit intensivem Weinbau und solchen, aus denen in größerer Anzahl Personen zu den Bauernhaufen liefen. Die allermeisten Winzer besaßen nur kleine Weingärten, die sie nicht ernähren konnten. Daher mussten sie sich als Tagelöhner bei größeren Weinbergsbesitzern und in anderen Orten verdingen. Der Weinbau war flächenmäßig weit verbreitet; man schätzt den Umfang auf vierbis fünfmal größer als heute ein. 17 Erst im ausgehenden 16. Jahrhundert entwickelte sich mit dem Bier eine ernstzunehmende Konkurrenz, zuvor war der Wein ein alltägliches Getränk, wobei wenig auf die Qualität des Erzeugnisses geachtet wurde. Der Weinanbau ist zudem zeit- und kostenintensiv, worauf Roy L. Vice eindringlich hinwies: das Düngen und Aufhacken der Böden, das Anbringen der Pfähle für die Reben und deren Binden bzw. Beschneiden, am Ende die Mühen der Weinlese und das anschließende Keltern. Hernach mussten die Rebstöcke abgestützt bzw., um sie vor der Kälte zu schützen, zugedeckt werden, endlich die immer wieder notwendige Ausbesserung der Steinstützmauern. Dies alles erforderte viele Mitarbeiter im Weinberg, die meist als Tagelöhner mit geringem Lohn zu arbeiten hatten. Ungefähr achtmal so viel Personal, so schätzt Vice, musste für den Weinim Vergleich zum Getreideanbau für eine vergleichbar große Anbaufläche eingesetzt werden. 18 Entsprechend eng besiedelt waren die Weinregionen (demographischer Aspekt), entsprechend hoch waren ökonomisch bedingte Wanderungen mit einhergehenden komplexen Kommunikationsnetzen (kultureller Aspekt) unter den Bewohnern. Nicht von ungefähr waren viele Dörfer ummauert und trugen so auch visuell zur Verstädterung und damit zur Urbanisierung der Region bei. Weindörfer waren schätzungsweise zweibis dreimal so dicht besiedelt wie Getreidedörfer. Dieser Umstand ist auch heute noch sichtbar. Während sich Getreidebauern von ihren Produkten selbst mit Brot versorgen konnten, gelang dies den Weinbauern erst durch den Verkauf ihres Weins, der ihnen die monetären Mittel zum Erwerb von Brotgetreide gab. 15 T OM S COTT , Freiburg and the Breisgau: Town-Country Relations in the Age of Reformation and Peasants’ War, Oxford 1986, S. 190-235. 16 R OY L. V ICE , Weinberge, Winzer und der Bauernkrieg in Franken, in: Die Linde 71 (1989), S. 27-39. 17 R. L. V ICE , Weinberge (Anm. 16), S. 28. 18 R. L. V ICE , Weinberge (Anm. 16), S. 28. <?page no="205"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 204 Da Wein zu einem der am meisten besteuerten Produkte im Mittelalter gehörte, war klar, dass landesherrliche wie städtische Steuererhebungen stets ein hohes soziales Risiko bargen. In Rothenburg war 1507 und 1522 die Weinsteuer erhöht worden, was im Vorfeld der Unruhen des Gemeinen Mannes die Unzufriedenheit angefacht haben dürfte, zumal die Häcker in der Stadt die größte Beschäftigungsgruppe stellten. Insgesamt 59 Häcker beteiligten sich 1525 an der Umfrage des Rates, wie die Stadt sich zu den Unruhen auf dem Lande stellen sollte, so Vice. Viele von ihnen wanderten, arbeitsbedingt, zwischen der Stadt und den Dörfern im Taubertal hin und her. Zahlreiche Neubürger in dieser Zeit, die als Berufsbezeichnung ›Häcker‹ angaben, kamen aus dem Rothenburger Landgebiet. 19 Und unter jenen stellte sich die überwiegende Anzahl auf die Seite der Aufständischen. Häcker waren also, nach Vice, »arme, unzufriedene, gesellschaftlich isolierte Leute, die besonders empfänglich waren für die Parolen des Bauernkriegs.« 20 Bewohner aus dem Taubertal zwischen Mergentheim und Tauberbischofsheim strömten rasch zu den aufständischen Bauerngruppen herbei. Mehrheitlich kamen sie aus Dörfern, in denen die Häcker das Übergewicht besaßen - eher Weinals Getreidedörfer schlossen sich in der Regel dem bewaffneten Protest an. 21 Ein anderes Beispiel, Gerolzhofen, sei hier nur angesprochen. Es waren erneut Häcker, die wegen ihrer stets prekären Arbeitsbedingungen in den Weinbergen leichter für einen Aufruhr empfänglich waren. Ihren wirtschaftlichen Ressourcen entsprechend lebten sie in den vorstetten und nicht im Zentrum um Kirche und Markt. 22 Damit haben wir es mit einer Gruppe zu tun, die insgesamt für die Bauernkriegsgeschichte in Franken von zentraler Bedeutung war. 3. Stadtviertel und Viertelsmeister Auch in Würzburg selbst spielten die Häcker naturgemäß eine wichtige Rolle. Am 18. April 1525 forderte der Rat alle Handwerker und Häcker, die sich bisher nicht gegenüber der Stadt zum Gehorsam verpflichtet hatten, dazu auf, dieses eidlich zu 19 R. L. V ICE , Weinberge (Anm. 16), S. 29. 20 R. L. V ICE , Weinberge (Anm. 16), S. 37. 21 H ELMUT F LACHENECKER , Der Bauernkrieg im Taubertal, in: G ERTRUD N ÖTH u. a. (Hg.), Festschrift Dr. Leonhard Scherg [erscheint vermutlich 2024]. 22 L. F RIES , Bauernkrieg (Anm. 14) Bd. 2, S. 108f. (Brief des Vogtes über die Flucht von Beumlein): […] das uf heut der statschreiber von Geroltzhoven zu mir komen und angezaigt, wie er doselbst heraus entloffen, die hecker in den vorstetten haben sich enport, in die stat komen, ein auflauf und zu sturmen unterfangen. <?page no="206"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 205 tun, um damit, zumindest theoretisch, die Entstehung einer oppositionellen Bewegung auszuschließen. 23 Die ›Gemeinde‹, die einerseits geringverdienende Gruppen umfasste, andererseits von den politischen Entscheidungsprozessen in Normalzeiten ausgeschlossen war, schuf sich mit den Viertelsmeistern nun in der Krise ein Sprachrohr. Letztere handelten als Repräsentanten der Gemeinde in den jeweiligen Stadtvierteln bzw. Vorstädten. 24 Eigentlich gewählt vom Stadtherrn und Stadtrat für reine Verwaltungsaufgaben (Wachdienst, Feuerschutz, Armenfürsorge), wurden sie vom Stadtrat besonders gefragt bei drohenden Unruhen und der Durchsetzung unpopulärer Maßnahmen. Während des Bauernkriegs - und dies ist das Augenfällige - organisierten sich die Viertel selbst und standen nahezu gleichberechtigt neben dem Rat. In der Folge mutierten Viertelsmeister zu politischen Sprechern und Verhandlungspartnern. In den Briefen an den Stadtherrn wie an die Nachbarstädte hieß der Adressat in den Zeiten des Bauernkriegs gleichlautend burgermaister, rathe, viertailmaistere und gemainde in Würzburg. Die Viertelsmeister schwankten dabei zwischen Unterstützung und Ablehnung der Maßnahmen des städtischen Rates. Die besondere Rolle der Stadtviertel mit den Viertelsmeistern an der Spitze endete mit dem Zusammenbruch des Aufstandes. Es waren gerade die Mitglieder der Gemeinde, die am Ende des Bauernkrieges einen besonders hohen Preis zu bezahlen hatten. Hier wäre das Beispiel Kitzingen nach den Schilderungen des dortigen Stadtschreibers Sebald Ranft († 1536) zu nennen: Am Donnerstag, dem 8. Juni 1525, standen die Bürger auf dem Rathaus bereit. Ihnen wurde eine markgräfliche Namensliste von annähernd 140 Personen präsentiert. Diese wurden, soweit sie nicht geflohen waren, von den übrigen Bewohnern aussortiert und in einem großen Keller gefangen. Alle anderen leisteten dem Markgrafen einen Huldigungseid. Zugleich verpflichteten sie sich, ihre Harnische und Waffen (Gewehre, Armbrüste, Pulver, Pfeile etc.) herauszugeben. 25 Außerdem mussten während der Kämpfe erbeutete Güter zurückgegeben werden. 23 M ICHAEL C RONTHAL , Die Stadt Würzburg im Bauernkrieg nebst einem Anhang: Geschichte des Kitzinger Bauernkriegs von Hieronymus Hammer, hg. von M ICHAEL W IELAND , Würzburg 1887, S. 13. 24 H ELMUT F LACHENECKER , Local interactions in times of peace and times of crisis. The common people and their participation on local governance, in: Klio. Czasopismo poświęcone dziejom Polski i powszechnym 62 (2022), S. 19-43; D ERS ./ R OMAN C ZAJA , Quarters and Quartermasters in Franconian and Prussian Towns, 14 th -16 th Centuries, in: M ATTHEW F RANK S TEVENS / R OMAN C ZAJA (Hg.), Towns on the edge in Medieval Europe. The Social and Political Order of peripheral Urban Communities from the Twelfth to Sixteenth Centuries (Proceedings of the British Academy 244), Oxford University Press 2022, S. 190-207. 25 L UDWIG B ÖHM , Kitzingen und der Bauernkrieg, in: Archiv des historischen Vereines von Unterfranken und Aschaffenburg 36 (1893), S. 1-185, hier 96-99. <?page no="207"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 206 Von den 140 Verhafteten wurden die weniger Belasteten nach kurzer Zeit wieder freigelassen, die übrigen sollten am folgenden Tag verurteilt werden. Die Betroffenen hofften auf mildere Strafen, als da wären Konfiskation von Besitz, Verweisung aus der Stadt, Abhauen von Fingern oder Kennzeichnung durch Einbrennen von Gesichtswangen. Aber es kam schlimmer: Die übrig gebliebenen 60 Männer sollten alle geblendet werden. Bitten um Gnade wurden mit dem Argument zurückgewiesen, das sein f. g. von dieser furgenomen straf sich nit endern könnte, den die ufrurigen burger heten sich hievor vernemen lassen, das sie sein f. g. nit ansehen und fur kein hern haben wollten; sollten sie in auch nit mer sehen. So wurden den gefangen burgern nach einander die augen ausgestochen, jedes Flehen war vergeblich. 26 Damit fehlte vielen Familien die maßgebliche Arbeitskraft, zugleich wurden die wirtschaftlichen Ressourcen der gesamten Stadt geschwächt. Acht Personen wurden hingerichtet, jedoch stammten diese nicht aus Kitzingen, sondern aus Burgbernheim, Etwashausen und anderen benachbarten Orten. Die Bewohner hatten überdies 15.000 fl. Strafgelder zu bezahlen. Alle 140 aufgelisteten Personen mussten zudem innerhalb eines Tages die Stadt auf immer verlassen. Die Häcker - die vermutlich den Aufstand am meisten unterstützt hatten - durften, sofern sie keine Bürger waren, nicht mehr in der Stadt selbst wohnen, sondern wurden auf die andere Mainseite, z. B. nach Etwashausen, umgesiedelt. 4. Mühlen und Lebensmittelversorgung Eine knappe materielle Ressource, die aber praktisch jedermann zur Verfügung stehen sollte, waren die Mühlen. Die Umwandlung von Getreide mittels eines mechanischen Antriebs zu Mehl kostete und war abgabepflichtig. Außerdem gab es für die Bevölkerung keine freie Auswahl unter den Mühlen, die damit eine Monopolstellung hatten. Somit gehörten diese und die in der Stadt sich befindenden Mehl- und Getreidevorräte zu den zentralen Ressourcen, deren freie Zugänglichkeit für den Rat und die Viertelsmeister ein zentrales Anliegen war: Es musste ihnen stets um die sichere Versorgung mit Brotgetreide gehen, um die soziale Situation in den Städten zu beruhigen 27 . Da die geistlichen Institutionen etwa in einer Bischofsstadt wie Würzburg aufgrund ihrer Grundherrschaften über entsprechende Vorräte verfügten, sollten die Klöster in der Krisenzeit 1525 ein Viertel ihrer Getreidevorräte an die Bürger verkaufen - und nicht weiter lagern und auf einen besseren Preis hoffen. Im Übrigen durften Wein, Getreide und Mehl nicht aus der Stadt heraus verkauft 26 L. B ÖHM , Kitzingen (Anm. 25), S. 101. 27 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 8. <?page no="208"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 207 werden, 28 um die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu sichern. 29 Viertelsmeister und Bürgerrat hatten zudem die (berechtigte? ) Sorge, dass der Bischof seine Nahrungsmittelvorräte aus der Stadt abziehen würde. 30 Deshalb intervenierten der Rat der Stadt und die Viertelsmeister beim beabsichtigten Wein- und Getreideverkauf zwischen dem Domherrn Heinrich von Wirtzburg und seinem Bruder Caspar, der Dekan von St. Burkard war. 31 Rat und Viertelsmeister hatten die in der Stadt liegenden Klöster und Stifte generell im Auge, da Stiftsherren, Mönche und Nonnen wohl latent versuchten, ihre Wein- und Getreidevorräte außerhalb der Stadt zu veräußern. Dagegen argumentierten Rat und Viertelsmeister: Der mit Hilfe von Fremden erzielte Gewinn der Klöster schade den Stadtbewohnern. 32 Dies erinnert an die bereits dargestellte Klage der Gemeinden südlich von Würzburg aus dem Jahre 1486. Stets befürchtete die städtische Obrigkeit, dass auf solchen Wegen die Lebensmittelressourcen dem städtischen Zugriff entzogen werden sollten. In den Augen des Chronisten und Würzburger Stadtschreibers Martin Cronthal, der von diesen Ereignissen berichtete, hatten die Kanoniker keine Skrupel, die städtische Versorgung und damit den sozialen Frieden zu gefährden. Die Stadt musste vielmehr einschreiten, um einen zentralen gesellschaftlichen Unruheherd zu löschen. Daher intervenierten Rat und Viertelsmeister auch nach den Klagen, dass viele Berittene (des Bischofs? ) unkontrolliert durch die Umgebung der Stadt umherstreunten und die Tiere auf den Wiesen töteten, so dass sich die städtischen Metzger nicht mehr aus den Stadttoren trauten, um die lebensnotwendige Fleischressource hereinzubringen. Zugleich zerstörten die reissige[n] die Weingärten. Die Stadt griff auch auf Buttervorräte zu und kaufte diese auf, aus Sorge, diese würden auf den Marienberg gebracht werden und damit den Bewohnern der Stadt entzogen sein. 33 Die Sorge um den Zugriff auf Lebensmittelressourcen war kein spezifisch würzburgisches Problem, sondern eines aller fränkischen Städte. So kam am 18. April eine Ratsdelegation aus Haßfurt nach Würzburg und berichtete erbost, dass der Bischof seine Vorräte aus jener Stadt abziehe. Die Bewohner Haßfurts kündigten Widerstand an. 34 Auch die Weinstöcke waren eine Ressource, die unter politischen Druck geraten konnte. Es dauerte Jahre, bis ein Weinberg angelegt war und auch Ertrag abwarf, eine Zerstörung zog jahrelangen Einkommensverlust für die Besitzer nach sich. 28 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 10. 29 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 4. 30 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 14. 31 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 20. 32 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 8. 33 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 21. 34 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 14. <?page no="209"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 208 Nicht zufällig wurde die Drohung, die Weinberge zu zerstören, von den Aufständischen ausgesprochen: Falls die Stadt Würzburg nicht zu den Bauern überginge und die Bewohner Brüder würden, dann würden sie die Weinlagen zerstören. Der Würzburger Stadtschreiber war sich bei seiner Darstellung nicht sicher, ob dies nur Gerüchte oder tatsächliche Pläne waren. 35 Aus der Luft gegriffen warem diese aber wohl nicht! Kaum verwunderlich spielte aus Gründen der Sicherung eines genügenden Lebensmittelvorrates in der Stadt auch die Verfügungsgewalt über die städtischen Mühlen eine wichtige Rolle: Am 19. April 1525 beauftragte der Bischof seine Schultheißen, auf zwei Gängen der Mainmühle für ihn mahlen zu lassen (zu seiner gnaden notturft). Diese Mühle gehörte zu drei Vierteln dem Bischof und zu einem Viertel der Stadt. 36 Der Rat stimmte diesem Begehren zu, allerdings mit der Gegenbitte, dass der Bischof nicht verhindere, das wasser […] in die statt zu verschaffen, damit man die bachmuhlen zur notturft ausgebrauchen möchte. 37 Es war also die Ressource Wasser und der jeweilige Zugriff darauf, die hier zum Politikum wurden. Die Regulierung der häufig künstlich angelegten Mühlbäche wurde zu einem politischen Zankapfel zwischen Bischof und Stadt. Wie wichtig dies für die Stadt war, zeigt ein Hinweis bei Cronthal, dass die Bürger und die Viertelsmeister am 2. April zum Bischof auf die Burg kamen, um erneut über muhlen und wasser zu verhandeln. 38 Wenig überraschend erscheint dann folgende Konsequenz in der Spätphase der Unruhen: Als die Ratsmitglieder aufgrund des politischen Drucks der Gemeinde mit den Bauern verhandelten, entzog ihnen Bischof Konrad von Thüngen ihren Anteil an der Mainmühle: […] da man zalte nach der geburte des Heren 1525 liessen Burgermaister vnd rath zu W[irtzburg] die vfrurigen bauren bei inen ein, verbruderten sich mit denselben, belagerten vnser frawenberg, vnd wurden also bruchig an irer obrikait. Darumb name inen B[ischof] Conrat von Thungen iren viertail an der Main mülen ein. 39 Während der Bauernkriegsunruhen ging es, Würzburg mag als ein Beispiel gelten, um die Nutzung von Mühlen und um den Zugang zu Wasser, um die Mühlen betreiben zu können. Das Problem der mulen […] halben, die unser gn[ädiger] herr verhindert, blieb virulent, auch wenn Cronthal in seiner Beschreibung nicht immer die 35 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 50. 36 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 14. 37 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 15. 38 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 16. 39 »Mainmül (1525)« (Eintragsnr.: 4319), in: Historisches Unterfranken - Datenbank zur Hohen Registratur des Lorenz Fries, https: / / www.historisches-unterfranken.uni-wuerz burg.de/ fries/ fries-results.php? eintrag=4319 (Stand: 26.2.2023). <?page no="210"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 209 genauen Ursachen angibt. 40 Vermutlich handelt es sich in einem vergleichbaren Fall um die Mühle bei Oberzell (Zell), die von Bewohnern Veitshöchheims (gewaltsam? ) besetzt worden sein soll. 41 Letztere wollten wohl ihre Verfügungsgewalt über die Mühle sichern, indem sie nach Zell zogen, um die Mühle zu bewehren. Dies untersagte die Stadt, weil die Veitshöchheimer ohne Willen und Wissen des Rats gehandelt hätten. Aus diesem Verhalten sei der Stadt viel Schaden angetan worden, wobei freilich nicht mitgeteilt wird, welcher Schaden dies nun war: War er ökonomischer oder politischer Natur? Das Wasserregal, zu dem das Recht zum Mühlenbau gehörte, war in den Händen von Territorialherren, Städten und geistlichen Institutionen. Die Wassernutzung - dazu gehörte beispielsweise auch der Fischfang - war ein politisches Instrument, nicht nur eine Infrastruktureinrichtung, wie die Auseinandersetzung zwischen Bischof und Stadt anzeigt. Derartige Zwiste waren weit verbreitet und nicht auf die Zeit des Bauernkriegs begrenzt. Hingewiesen sei auf die wiederholten Streitereien zwischen der Reichsstadt Schweinfurt um ihre Mühlen und dem Bischof, der an einem freien Schiffsverkehr auf dem Main interessiert war. 42 Derartige Auseinandersetzungen um Nutzungen mussten in gesellschaftlich dominierten Aushandlungsprozessen bestimmt werden, zumal der Bau einer Mühle hohen finanziellen Einsatz erforderte. Die Nutzung einer Mühle war daher eine zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen umstrittene Machtfrage, die in Krisenzeiten wie etwa bei den Bauernkriegsunruhen verstärkt virulent wurde. 43 5. Abgabenlast - Druck auf die Höfe Oberzells Die Abgabenlasten auf Höfen, um ein weiteres Ressourcenproblem anzusprechen, wurden in regional höchst unterschiedlicher Weise erhöht, verändert bzw. den Bedürfnissen der Grundherren angepasst. Die Belastungen wurden von den betroffenen Pächtern (Bauern) als Neuerung angesehen. Die überhöhten Steuerforderungen wurden als unchristlich angeprangert, gerade dann, wenn Missernten die Bezahlung der Zinsen und Gülte erschwerten bzw. verunmöglichten. In Franken geht man von einer Reihe von Missernten im frühen 16. Jahrhundert aus: 1502/ 03, 1505, 1515, 1517-1524, 1527, 1529-1534, 1540/ 41. Für diese Jahre berichten die allerdings erst 40 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 27. 41 M. C RONTHAL , Würzburg (Anm. 23), S. 29. 42 H ELMUT F LACHENECKER , Durch Bestechung zur Reichsfreiheit? - Die Bischöfe von Würzburg und die Reichsstadt Schweinfurt in den Augen des politischen Archivars Lorenz Fries, in: Frankenland 61 (2009), S. 151-160, hier 155f. 43 Siehe die anregenden Artikel in: B IRTE F ÖRSTER / M ARTIN B AUCH (Hg.), Wasserinfrastrukturen und Macht von der Antike bis zur Gegenwart (HZ Beiheft 63), Berlin u. a. 2015. <?page no="211"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 210 im frühen 17. Jahrhundert in Nürnberg entstandenen Müllnerschen Annalen von derartigen Naturereignissen. Aber wie sind diese zu bewerten? Handelt es sich um lokale Klimaanomalien, 44 also Wetterabweichungen, um zu kalte oder zu warme Perioden? Die Angaben von Klimatologen sind uneinheitlich. Christian Pfister möchte erst ab 1560 von einer Klimaverschlechterung sprechen, dagegen gehe den Bauernkriegsereignissen eine klimatische Gunstperiode voran. 45 Allgemein gesprochen wurden nach Christian Pfister und Heinz Wanner die Frühjahre ab den 1530er Jahren wärmer, ebenso häuften sich heißere Sommer ab 1534, dasselbe galt für den Herbst, während die Winter schon ab den 1520er Jahren wärmer wurden. Generell war das frühe 16. Jahrhundert klimatologisch gesehen ›normal‹, was sich auch in der Bevölkerungszunahme äußerte. Diese Indikatoren zeigen, dass die Bauernkriegsunruhen nicht in eine allgemeine Kaltperiode mit schlechten Erträgen gefallen sein dürfte. 46 Allerdings lassen sich vor und nach 1525 immer wieder Anomalien nachweisen: Der Winter 1513/ 14 dürfte zu kalt gewesen sein - der Main war bereits am 11. November zugefroren -, während er 1529/ 30 zu warm war. 47 Der Sommer 1529 schließlich war zu kalt, der Herbst des darauffolgenden Jahres 1530 wieder zu warm. 48 Solche Anomalien waren regional sehr wirksam, aber lassen sich dadurch wirklich allgemeine Aussagen zu Klima und landwirtschaftlichen Erträgen herausdestillieren, die letztlich zu einem Aufstand führten? Die Vergabe von Höfen besaß auch eine soziale Komponente. Die Grundherren hatten in der Regel geringes Interesse, ihre Höfe an eine Familie mit mehreren Erben zu vergeben, weil eine daraus resultierende Güterteilung die Abgabenhöhe minimieren konnte. Unverheiratete Söhne konnten derartige Höfe nicht übernehmen, nur derjenige, der (meist) als einziger verheiratet war. Vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, dass Höfe häufig nur auf Zeit verliehen wurden. Hinter dieser allgemeinen Entwicklung steht das ›European Marriage Pattern‹, das für das 16. Jahrhundert mehrheitlich ein spätes Heiratsalter (nach 25 Jahren) und, damit einhergehend, eine hohe Zahl unverheirateter Personen sah. 49 Schilderungen von Bauern, die ihre Zinse nicht mehr bezahlen konnten und den bewirtschafteten Hof verlassen mussten, häuften sich bereits weit vor 1525 und 44 Definition bei C HR . P FISTER , Wetternachhersage (Anm. 9), S. 78. - J OHANNES M ÜLLNER , Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623 (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 8 u. 11), 2 Bde., Nürnberg 1972. 45 C HR . P FISTER , Bevölkerungsgeschichte (Anm. 9), S. 12. 46 C HRISTIAN P FISTER / H EINZ W ANNER , Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre, Bern 2021, S. 208-221, 369. 47 C HR . P FISTER , Wetternachhersage (Anm. 9), S. 90f., 109. 48 C HR . P FISTER , Wetternachhersage (Anm. 9), S. 161, 173. 49 A NDREAS W EIGL , Bevölkerungsgeschichte Europas, Wien u. a. 2012, S. 73-90. <?page no="212"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 211 könnten, wenn auch sicherlich nicht ausschließlich, mit dem Heiratsverhalten zusammenhängen. Nur zwei Beispiele aus dem Umkreis des Prämonstratenserstiftes Oberzell bei Würzburg 50 seien zur Illustration ausführlicher geschildert: Eine breite Überlieferung findet sich für den sog. Luchshof zu Euerfeld. Im Jahr 1405 verlieh der Oberzeller Abt den Hof an Richard von Elma für eine Dauer von neun Jahren. Für die Bewirtschaftung musste eine jährliche Gült von 30 Malter Korn abgeführt werden. 51 Wenige Jahre später, 1412 - offensichtlich war Richard zwischenzeitlich verstorben -, übertrug der Abt den Hof an Ursula von Elma und ihren Sohn Wilhelm für eine Frist von fünf Jahren. 52 Während die Zeit der Verleihung differierte, blieb die Höhe der Gült gleich hoch. Elmas Nachfolger hatten dann Schwierigkeiten, den Jahreszins aufzubringen. So erklärte sich 1447 der damalige Lehensnehmer, Bezolt Kole, bereit, vier Pferde, einen Wagen, einen Pflug u. a. m. im Wert von 24 fl. an das Prämonstratenserstift abzugeben, um damit die aufgelaufenen Schulden (ganz oder teilweise? ) zu begleichen. 53 Es kam noch schlimmer: 1453 mussten sich Peter Reuß und seine Frau wegen der Schuldenlast von dem Lehengut trennen. 54 Die zusätzlich auf diesem stattlichen Hof lastende Weizengülte von 15 Maltern gehörte bis 1454 den Stiftsherren von St. Johannis in Haug, ehe diese Abgabe vom Oberzeller Abt Jakob für die hohe Summe von 230 fl. aufgekauft wurde. 55 Als der Abt 1455 den Hof neuerlich verlieh, lag die jährliche Gült bei den bereits bekannten 30 Maltern Korn und zusätzlich 15 Maltern Weizen bzw. 10 Maltern Hafer. 56 Diese Abgabenlast war aber auf Dauer nicht zu erwirtschaften. Im Jahre 1483 musste die Witwe Elisabeth Babst den Luchshof verkaufen, da sie mit 192 Maltern im Rückstand war. 57 Bei den 1455 geforderten 55 Maltern Korn, Weizen und Hafer bedeutete dies einen rechnerischen Rückstand von fast vier Jahren. Im August desselben Jahres wurde Fritz Schwinger mit dem Hof belehnt - erstmals erkennbar zu einer reduzierten Gülte von 26 Maltern Korn, elf Maltern Weizen und 50 Generell H ELMUT F LACHENECKER , Grundzüge der Wirtschaftsverwaltung eines Prämonstratenserstifts: Ober- und Unterzell, in: D ERS ./ W OLFGANG W EISS (Hg.), Oberzell. Vom Prämonstratenserstift (bis 1803) zum Mutterhaus der Kongregation der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 62), Würzburg 2006, S. 177-219. 51 StA Würzburg, Würzburger Urkunden 74/ 143a bzw. Standbuch 704, S. 286f. (1405 Aug. 18). 52 StA Würzburg, Würzburger Urkunden 74/ 143b bzw. Standbuch 704, S. 288-290 (1412 Okt. 20). 53 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 299f. (1447 Aug. 27). 54 StA Würzburg, Würzburger Urkunden 74/ 143c bzw. Standbuch 704, S. 297-299 (1453 März 16). 55 StA Würzburg, Würzburger Urkunden 74/ 143d bzw. Standbuch 704, S. 291-293 (1454 März 24). 56 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 294-296 (1455 Febr. 22). 57 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 304-306 (1483 Mai 27) bzw. ebd. S. 307 (1483 Mai 19). <?page no="213"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 212 sechs Maltern Hafer. 58 Statt 55 forderte Oberzell nur noch 43 Malter, hinzu kamen noch vier Hühner zum Michaelstag. Offensichtlich gab der landwirtschaftliche Ertrag des Hofes zu Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr her. Fritz Schwinger blieb sieben Jahre auf dem Hof, dann veräußerte er ihn für 200 fl. an Hans Dittmer. 59 Vergleichbar dicht ist die Überlieferung über einen Hof in Geroldshausen nordwestlich von Ochsenfurt und in Nachbarschaft zum Oberzeller Besitzschwerpunkt Moos. Im Jahre 1315 verkauften Abt und Konvent von Mariabildhausen ihre dortigen Güter an Oberzell. 60 Nach einem zeitlich befristeten Gültverkauf 1361 61 begann mit 1373 die lange Serie der Urkunden über das guet zu Geroltzhausen, das in diesem Jahr Contz Hoffmann für den hohen Jahreszins von 70 Maltern Getreide verliehen wurde - 62 mehr als beim Luchshof in Euerfeld. Wenige Jahre später, 1384, verkauften Dietrich und Friedrich ihren Hof in Geroldshausen an Oberzell. Die jährliche Abgabe lag bei 13 Maltern Korn, drei Maltern Weizen und zwei Maltern Hafer. 63 Im 15. und frühen 16. Jahrhundert gibt es dann wiederholt Nachrichten über Gültrückstände. Wie im Falle des Luchshofes traten wohl Schwierigkeiten auf, die jährlich schwankenden Ernteergebnisse mit der festen Jahresabgabe wirtschaftlich unter einen Hut zu bringen. Genauere Hintergründe geben die Urkundentexte allerdings nicht an. So musste Mathes Hoffmann - ein Nachfahre des Contz Hoffmann? - dem Kloster 1443 die Schuld von 50 Maltern rückständiger Korngült bestätigen, 64 ebenso 1447 ein Endres Schmidt um ettliche hinderstellige gült vnd zins. 65 Der Bischof selbst bestätigte dann im September 1516, dass Paul Hoffmann ebenfalls mit der Gültzahlung im Verzug sei. 66 Kurz nach den Bauernkriegsunruhen einigten sich dann Abt Leonhard und ein Contz Hoffmann 1527 über die Rückzahlung der Schulden, aber auch über die von der Familie Wolfskeel zu Reichenberg eingeforderten Dienste. 67 Dieser Konflikt zwischen der Adelsfamilie und dem Kloster wurde, so ist zu vermuten, zumindest teilweise auf dem Rücken der Hintersassen ausgetragen. Weiprecht Wolfskeel zu Reichenberg jedenfalls übernahm im August 1529 die Bezahlung von einem Malter Weizen an Oberzell, weil sein Hintersasse Heinz Schmidt zu arm sei und überdies für Verkostung und Lager seines adeligen Herrn 58 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 301-303 (1483 Aug. 18). 59 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 308 (1509 Febr. 05). 60 StA Würzburg, Würzburger Urkunden 6302 bzw. Standbuch 704, S. 497-500 (1315 Jan. 13). 61 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 503f. (1361 Mai 24); Regesta Boica 9, S. 39. 62 StA Würzburg, Würzburger Urkunden 6322 bzw. Standbuch 704, S. 505-507 (1373 Febr. 22). 63 StA Würzburg, Würzburger Urkunden 6325 bzw. Standbuch 704, S. 508-511 (1384 März 12). 64 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 512-514 (1443 Juni 05). 65 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 552f. (1447 Mai 19). 66 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 521-524 (1516 Sept. 05). 67 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 517-520 (1527 Juli 17). <?page no="214"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 213 aufzukommen habe. 68 Am selben Tag einigte sich der Wolfskeel mit Oberzell um die fron, dinst, leger vnd atzung, die auf einem Hof in Geroldshausen lagen und um deren Entrichtung es bereits in der Vergangenheit langen Streit gegeben habe. 69 Woher die Wolfskeelschen Ansprüche kamen, bleibt im Dunkeln. Im Februar 1531 musste Jakob Göler mit den Prämonstratensern wegen nicht bezahlter 64 Malter Korn einen Vertrag eingehen, 70 im Juli desselben Jahres ein Heinz Schmidt, 71 der wohl identisch mit jenem von 1529 sein dürfte. Der Fall Gölers ging vor das bischöfliche Gericht, das im Oktober 1532 die Schuldsumme mit 192 fl. veranschlagte. 72 Aber nicht nur Göler und Schmidt häuften Schulden an, sondern auch ein Hans Dausch, der 1535 mit 97 Maltern Getreide im Rückstand erwähnt wird. 73 Diese Rückstände dürften teilweise auch mit den unklaren Besitzabgrenzungen in Beziehung stehen, denn wohl nicht zufällig wurde 1543 eine allgemeine Feldvermessung in Geroldshausen vom Stift Oberzell durchgeführt. 74 Die mehrfach erwähnten Hoffmanns - vorausgesetzt, es handelt sich bei ihnen tatsächlich um ein und dieselbe Familie - waren mit den ebenfalls genannten Schmidts verwandt. Ein Balthasar Hoffmann übertrug 1544 seinen Erbteil an seinen Stiefvater Hans Schmidt. 75 Der Erbteil lag an dem hoff zu Geroltzhausen. Vermutlich verzichtete Balthasar auf eine Weiterbewirtschaftung, denn im August desselben Jahres einigte er sich mit Abt Thomas über seine Ansprüche und über die Ablösung der noch aus der Vergangenheit anstehenden, unbezahlten Gülte. 76 Im März 1545 erwarb Abt Thomas von den Nachfahren Hoffmanns den Hof um 529 fl. Er sollte dem Kloster jährlich 30 Malter Korn einbringen. 77 Für die Finanzierung hatte sich der Abt von Bischof Melchior Zobel von Giebelstadt (1544-1558) 200 Gulden vorstrecken lassen. 78 Wiederum ein Jahr später verkaufte derselbe Abt vermutlich denselben Hof in Geroldshausen an einen gewissen Veit Fridel um die stolze Summe von 1.000 fl., die Fridel in mehrjährigen Raten an Oberzell abbezahlte. 79 Der Hof musste ungeteilt bleiben. Neben Handlohn und Besthaupt hatte Fridel jährlich 14 Malter Korn, acht Malter Weizen, acht Malter Hafer sowie ein Fastnachtshuhn abzuführen. Von dem dazu gehörigen 68 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 515f. (1529 Aug. 19). 69 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 535-537 (1529 Aug. 19). 70 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 544-546 (1531 Febr. 17). 71 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 554f. (1531 Juli 02). 72 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 541-543 (1532 Okt. 02). 73 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 560f. (1535 Sept. 20). 74 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 562-566 (1543 März 31). 75 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 558f. (1544 Mai 05). 76 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 556f. (1544 Aug. 18). 77 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 525-527 (1545 März 28). 78 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 548f. (1546 Dez. 05). 79 StA Würzburg, Standbuch 704, S. 530-535 (1546): Kauffbrieff vber den hoff vnd guet zu Geroltzhausen […]. <?page no="215"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 214 Gut waren noch einmal je ein Malter Korn und Hafer, zwei Michaelshühner sowie zwei Pfennige in bar zu entrichten. Damit war dieser Hof etwas kleiner als der Luchshof in Euerfeld. Für die Identität der Höfe - den gekauften von 1545 und den verkauften ein Jahr später - spräche die identische 30-Malter-Korngülte. Falls dies der Fall gewesen wäre, dann hätte Oberzell einen satten Gewinn von 471 fl. gemacht - allerdings wäre die Summe für das 1546 mit dem Hof zusammen veräußerte Gut noch abzuziehen. Die Verschuldung von Höfen war also schon im gesamten 15. Jahrhundert virulent. Beim Oberzeller Hof in Geroldshausen reichte dies bis in die Nach-Bauernkriegszeit hinein. Vermutlich als Reaktion auf die Unruhen einigte man sich auf eine Reduzierung der Abgaben, die aber immer noch zu hoch blieben. Schließlich ging der Fall dann bis vor ein Gericht, die erwirtschafteten Ressourcen konnten aber die Abgabenlast nicht tragen. 6. Wissen über die Ressourcen Sind die Nachrichten im Falle der herangezogenen Höfe Oberzells dicht, so fällt, um ein weiteres Beispiel heranzuziehen, das Wissen um die Einnahmen aus den landwirtschaftlichen Gütern im Falle der Deutschordenskommende Münnerstadt erstaunlich lückenhaft aus. Die Verantwortlichen wussten teilweise schlichtweg nicht, was sie aus einzelnen Besitzungen erhielten und als Gült veranschlagen konnten. Dieser Befund mahnt zur Vorsicht bei der Bewertung von klösterlichen Forderungen. Ein Beispiel hierfür ist besagte Deutschordenskommende, die Plünderungen im April 1525 erleiden musste. In einem undatierten Schadensbericht heißt es, dass die Münnerstädter Bürger der Kommende Korn weggenommen hätten, die sum ist inen [den Komtureiverantwortlichen] wissen nitt mer. 80 Auch die generellen Nutzungsrechte der Komture und Brüder waren trotz der schriftlichen Unterlagen unklar und konnten in vielen Fällen nicht mehr nachvollzogen werden. In einer nach 1525 angelegten Aufstellung von Ewigzinsen und Abgaben, wohl um eine erneuerte Übersicht zu erhalten, wird an einigen Punkten Nichtwissen signalisiert: Den Ewigzins aus Schweinfurt müs man beß forschung haben, bei Hauptlohn und daran ansetzenden Rechten ist nicht bekannt, ob sie der Kommende als Ganzes oder dem Komtur persönlich zustanden. Obwohl der anonyme Schreiber alle schriftlichen Quellen, also Jahresrechnungen, Inventarien und Zinsbücher durchgesehen habe, könne er 80 StA Nürnberg, Deutscher Orden Meistertum Mergentheim Regierung 10386, fol. 22r: Auß bevelch beyder meiner gnedigen fursten vnd hern dieser statt zeig ich an den erlitten schaden dises teutschen haus in jungst verruckter emporung in nachvolgendt artickeln on geverlich. <?page no="216"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 215 dennoch nicht sagen, ob diese Angaben noch aktuell seien, ob also diese Rechte immer noch bei der Kommende lagen. 81 Generell gesprochen erscheint es so, dass einer geistlichen Kommunität die Ressourcen nicht immer vollständig bekannt waren. Dies führte in eine Grauzone, in der die Ansprüche gegen jene der meist bäuerlichen Bevölkerung standen, ohne dass am Ende Klarheit gefunden werden konnte. Dieser Schwebezustand wurde, zumindest teilweise, auch von den vermeintlichen Siegern des Bauernkrieges eingestanden. So kommt es in den Abgabenauflistungen bisweilen zu sehr allgemeinen Einschätzungen, etwa bei einem zur Kommende gehörigen Hof: Dann das ordenshauß Munnerstatt zu sambt seinem veldtbaw auch die mull beim hauß, so alles nit gering zu schetzenn sonder woll hoch zu achten ist. 82 7. Veränderungen in der Ressource ›Seelsorge‹ Zu den immateriellen Ressourcen gehört auch das religiöse Angebot, das eine geistliche Institution anbieten konnte. Die Anzahl von Messen, Prozessionen und Wallfahrten hatte erhebliche Auswirkungen für die Menschen vor Ort wie auch in dessen Umgebung. Für die geistlichen Institutionen, seien es die Pfarreien oder die Klöster, wurden damit die Einnahmemöglichkeiten festgeschrieben. Der Ausfall der Einnahmen hatte erhebliche Auswirkungen. Auf dieses Problem sei erneut am Beispiel Münnerstadt hingewiesen. Der Komtur klagte in einer undatierten Auflistung über den Verlust von Rechten für die Priesterschaft des Deutschen Ordens, wohl an den Bischof von Würzburg, auch wenn dieser nicht genannt wird. Der Komtur gibt der Liste dadurch Gewicht, dass er darauf verweist, die seelsorglichen Stiftungen seien von alther herkomen. 83 Dazu gehörten die gregorianischen Totenmessen und deren Abfolge: Weder die erste, sibennde oder dreissigste würden noch gehalten, wodurch der Kommende, ihren Priestern und dem Schulmeister wichtige Einnahmen entgingen. 84 Gleichzeitig nehme 81 StA Nürnberg, Deutscher Orden Meistertum Mergentheim Regierung 10386, fol. 29r: Als ich villerley heubtbrieff durchleßen auch allerley nutzungen einem comethur, pfarher vnd den brudern deß teutschen hauß zu Münrichstat zustendig funden, hab ich doch nit mogen bericht werden, ob dieselbigen noch alle bey dem hauß vnd in iren wirden seyen. 82 Deutschordenszentralarchiv Wien, Merg 356: Extract Teutschen Hauses Schuldtbuchs deß järlicher inkommens vnd gefallen anno 1590 beschehen Münnerstatt. 83 StA Nürnberg, Deutscher Orden Meistertum Mergentheim Regierung 10386, fol. 68r. 84 A DOLPH F RANZ , Die Messe im Deutschen Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der Liturgie und des religiösen Volkslebens, Freiburg im Breisgau 1902, S. 246-267. - Zu den ab dem 7. Jahrhundert einsetzenden ordines defunctorum werden auf solche und andere Gebetsverpflichtungen während des Sterbevorganges und nach dem Tod verwiesen: M ATTHIAS <?page no="217"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 216 auch die Heilsgewissheit für die Sterbenden wie für die Angehörigen ab, die mit diesen Messen die Seelen der Verstorbenen auf ihrem Weg zum ewigen Leben helfend begleiteten. Auch die Anna-Mess-Stiftung (26. Juli), die jährlich 4 fl. eingebracht habe, werde nicht mehr gehalten. Dabei war die Annaverehrung besonders im 15. Jahrhundert populär. 85 Dasselbe gelte für die Bruderschaftsmessen, die vierteljährlich 20 Pfd. betrugen. Ein eigener, nur für das Spital und seine Bewohner zuständiger Priester werde nicht mehr beauftragt und auch die Engelmesse (Messe für Maria in der Adventszeit) nicht mehr angeboten. Prozessionen mit Weihwasser sowie Wallfahrten gehörten ebenfalls der Vergangenheit an. Damit wurden aber nicht nur Einnahmenressourcen nicht mehr erzielt, sondern auch liturgische Angebote für Menschen, die immer noch an den alten Riten und ihren Heilsangeboten hingen. Ressourcen, mit deren Hilfe man das ewige Leben erreichen konnte, fielen weg. Für einige war dies ein Verlust, für andere der langersehnte Weg zu neuen religiösen Formen und einer veränderten Frömmigkeit. Letztere waren es dann, die dem altgläubigen Ordenspriester ihren Unwillen und Hohn zeigten. Das soziale Ansehen der alten Priester verfiel zunehmend. In einem weiteren (undatierten) Brief wird dieser Verlust an bredigen, fruemeß, mittelmeß, tag meß, fesper vnnd ander zeremonia der kirchen erneut beklagt. 86 Er zeigt in seiner Aufzählung eindrücklich den Umfang der religiösen Angebote, die von den Priestern der Kommende vorgehalten werden mussten und bis vor der Reformation und dem Bauernkrieg von den Gläubigen wahrgenommen wurden. Dazu bedurfte es einer Gruppe von Priestern, die im Falle von Münnerstadt der Orden zu stellen hatte: Es mussten täglich fünf Messen gehalten werden, so dass nie unter sieben bis acht Priester vom Orden in Münnerstadt sein sollten. Dazu gehörte auch ein Kaplan des Elisabethenaltars, der in der Regel ein vom Orden bezahlter Weltpriester gewesen war. 87 Inwieweit der Orden derart viele Priester stellen konnte, bleibt zu hinterfragen. Eine Vergleichszahl vom März 1525, also kurz vor dem Ausbruch der Bauernkriegsunruhen, spricht von zehn Ordenspriestern in der Kommende Rothenburg für die dortige Jakobskirche, die für die Aufrechterhaltung des religiösen Angebots von Nöten waren. 88 Dies wären für beide Kommenden sehr hohe Zahlen an Ordenspriestern, die mit anderen Quellen bisher nicht verifiziert werden können. W EBER , Der Bischof stirbt. Zu Form, Funktion und Vorstellung bischöflicher Sterbeberichte (6.-12. Jahrhundert) (Orbis mediaevalis 20), Göttingen 2023, S. 249. 85 A. F RANZ , Die Messe im Deutschen Mittelalter (Anm. 84), S. 168f. 86 StA Nürnberg, Deutscher Orden Meistertum Mergentheim Regierung 10386, fol. 70r. 87 StA Nürnberg, Deutscher Orden Meistertum Mergentheim Regierung 10386, fol. 30r: No[tum] man hat hinvor allen tag funff messen mussen halten vnd VII ampell prennen wie die burger dem comethur angezeyte vnd deßhalben vnder VII oder VIII priestern nit mussen haben. Item sant Elizabeth caplan, ein leyen priester ins ordens kosten. 88 K ARL B ORCHARDT , Geistliche Institutionen in der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber und dem zugehörigen Landgebiet von den Anfängen bis zur Reformation (Veröff. der <?page no="218"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 217 8. Büchsenmeister Während des Bauernkrieges zeigte sich ein weiteres Ressourcenproblem, nämlich das Vorhandensein von Kanonen und deren Nutzung während der Belagerungen und Kämpfe. Dazu bedurfte es der Handhabung durch Spezialisten, die sogenannten Büchsenmeister. 89 Ihr Wissen behielten sie meist für sich, Büchsenmeisterbücher aus dem 15. Jahrhundert sind rar und nur für eine kleine Gruppe gleichartiger Experten zugänglich gewesen. 90 Die Anzahl der Militärexperten war gering, so dass Angebot und Nachfrage sehr stark differierten. Dies gewährt auch einen Einblick in die Kampftechniken im 15. Jahrhundert, denn trotz der Kenntnis der Feuerwaffen spielten die Burgen eine nach wie vor dominierende Rolle bei der Herrschaftsausübung und damit eben auch in der militärischen Auseinandersetzung. Trotz der Feuerwaffen waren die ›alten‹ Belagerungstechniken nicht aus der Mode gekommen. 91 Dies dürfte, zweitens, besonders daran liegen, dass die Experten, welche die Kanonen bedienen konnten, Mangelware waren und lange Zeit blieben. Die Gruppe der Büchsenmeister war zahlenmäßig klein, außerdem teuer und eigenwillig. Deshalb hören wir selten von fest etablierten Büchsenmeistern auf Burgen. Ein Beispiel konnte Florian Huggenberger in seiner Monographie zum Niederadel im Spessart auf der würzburgischen Burg Steckelberg (östlich von Schlüchtern, Main-Kinzig- Kreis) finden. Als dort 1459 ein Amtmann eingesetzt wurde, hatte dieser nicht nur für eine 20 Mann starke Besatzung zu sorgen - was für Spessartburgen eine hohe Zahl ist -, sondern auch für einen ständig dort anwesenden Büchsenmeister. 92 Diese Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe IX: Darstellungen 37), 2 Teilbde., S. 99, 100- 103, 877-881 [Quellenhinweise]. 89 R AINER L ENG , getruwelich dienen mit Buchsenwerk. Ein neuer Beruf im späten Mittelalter: Die Büchsenmeister, in: D IETER R ÖDEL / J OACHIM S CHNEIDER (Hg.), Strukturen der Gesellschaft im Mittelalter: Interdisziplinäre Mediävistik in Würzburg, Wiesbaden 1996, S. 302-321. 90 R AINER L ENG , Ars belli. Deutsche taktische und kriegstechnische Bilderhandschriften und Traktate im 15. und 16. Jahrhundert (imagines Medii 12), Wiesbaden 2002, 2 Bde., hier Bd. 1, S. 230-239. 91 H ELMUT F LACHENECKER , ›das gewaltig grausame geschutz vnd buchsen so man heutzutag braucht …‹. Zum Wechsel militärischer Strategien im ausgehenden 15. Jahrhundert, in: D IRK G ÖTSCHMANN / A NSGAR R EISS (Hg.), Wissenschaft und Technik im Dienst von Mars und Bellona. Artillerie und Festungsbau im frühneuzeitlichen Europa (Veröff. des Bayerischen Armeemuseums 11), Regensburg 2013, S. 29-40. 92 StA Würzburg, LDF 12, S. 119f. (Amtmann war Hans von Wiesenthau, der für seine Dienste im Jahr 400 fl. erhielt). F LORIAN H UGGENBERGER , Niederadel im Spessart. Adelsgeschichte im Spiegel des spätmittelalterlichen Lehnswesens (Studien zur Bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 31), München 2015, S. 111. <?page no="219"?> H ELM UT F LA CH EN EC KER 218 verstärkte Armierung war eine Reaktion des Bischofs auf den vorhergegangenen Beschluss der 36 Ganerben der Burg, die Anlage weiter zu befestigen. 93 In der mainzischen Nebenresidenz Aschaffenburg besoldete der Erzbischof im Jahre 1481 ebenfalls einen Büchsenmeister namens Hans Bergmann. 94 Und noch im Bauernkrieg 1525 waren diese Experten heiß begehrt. So fragte die bischöfliche Seite beim Pfalzgrafen bei Rhein nicht nur um politische, sondern auch um militärische Hilfe nach. Unter letzterer verstand man u. a. einen Büchsenmeister. 95 Bischof Konrad von Thüngen bat wiederholt um die Überlassung von drei guten Büchsenmeistern für die Festung auf dem Marienberg. 96 Wie sehr selbst der Bischof hier in Not war, zeigt sein Bemühen, einen Büchsenmeister auf den Zabelstein - die zweitwichtigste Burg im Hochstift - zu bekommen, um diese Burg bei Gerolzhofen gegen die Bauernheere halten zu können. Ein Büchsenmeister kam auch, aber er konnte mit dem zuständigen Amtmann nicht einig werden. Ersterer wollte zurück nach Würzburg, und als ihm diese Bitte abgeschlagen wurde, erwies er sich als ein sehr mürrischer Geselle. Um den 3. Mai herum floh er mit acht anderen Verteidigern von der Burg, sein weiterer Weg ist nicht bekannt. Am 17. Mai kapitulierte der Zabelstein. 97 Auch bei der Belagerung des Marienbergs waren Kanonen und dann erstaunlicherweise zwölf Geschützmeister im Einsatz. 98 Ein Coburger Gesandter übermittelte seinem Herrn u. a. am 6. Juni, dass es den bischöflichen Verteidigern des Marienbergs gelungen sei, einen in den Diensten des Bauernhaufens stehenden Büchsenmeister zu erschießen. Damit konnte ein von den Aufständischen dringend benötigter Spezialist für die Bedienung von Kanonen unschädlich gemacht werden. 99 93 L ORENZ F RIES , Die Chronik der Bischöfe von Würzburg, hg. von U LRICH W AGNER / W ALTER Z IEGLER (Fontes Herbipolenses 4), Würzburg 2002, S. 144. 94 Aufgeführt bei F. H UGGENBERGER , Niederadel im Spessart (Anm. 92), S. 134. 95 L. F RIES , Bauernkrieg (Anm. 14), Bd. 1, S. 90-92, 100-102. 96 Universitätsbibliothek Würzburg, m.ch.f. 105, fol. 68v: Wie bischoff Conradt abermahln den pfaltzgraffen vmb hilffunge sucht. Auf den Osterabent schrieb bischoff Conradt dem pfalzgrafen vmb drei guete buchsenmeister [Büchsenmeister] vnd 100 vertrautter person in besetzung vnser Frauenberg zugebrauchen, vf sein bischoff Conradts costen zu schicken, auch wo seiner reuttern von nötten sein, wurdt umb Boxberg zu streiffen vngefehrlich vff 150 pferdt aldo einzulaßen vnd ihren pfenning zu zehren. Darauff gab der pfaltzgraf antwortt, er wehre nit weniger dann der b[ischof] beträngt seiner buchsenmeister vnd vertrautten personen selbst notturfftig, aber seinen deß bischoffs reuttern zu Boxberg einzureitten vnd ihren pfenning zu zehren wolt er bewilligen, schickt aus domitt einen brieff an seinen ambtmann zu Boxberg deß bischoffs reutter einzulaßen. 97 L. F RIES , Bauernkrieg (Anm. 14), Bd. 2, S. 331f. - Zum Zabelstein und zur Situation in der benachbarten Stadt Gerolzhofen siehe H ELMUT F LACHENECKER , Gerolzhofen im Bauernkrieg, in: Gerolzhofen. Stadtchronik 779-2012, Baunach 2012, S. 293-302, hier 298f. 98 L. F RIES , Bauernkrieg (Anm. 14), Bd. 2, S. 880-892. 99 StA Coburg, LAB 2672I: Brief 1525 Juni 6, fol. 3r-4r. <?page no="220"?> D ER K AMPF U M IMMA TER IE LLE U ND NATUR ALE R E S S O UR C EN 219 9. Fazit Das Thema Ressourcen ist vielfältig, wie bereits zu Beginn angedeutet: Im Mittelpunkt standen die Bereiche der Landwirtschaft, besonders die Bearbeitung von Weinbergen. Das Aufbringen von Abgaben von auf Zeit verliehenen Bauernhöfen war schon ein drückendes Problem des 15. Jahrhunderts. Das Thema berührt aber auch Mühlen bis hin zu Waffenspezialisten wie Büchsenmeistern. Damit konnte jedoch nur eine kleine Auswahl von Ressourcenmöglichkeiten angesprochen werden. Es zeigt sich, dass der Bauernkrieg seine strukturellen Wurzeln im 15. Jahrhundert hatte, da etwa schon weit vor 1525 die Abgabenlasten nicht mehr erfüllt werden konnten. Die Ereignisse von 1525 kamen nicht überraschend und waren kein metaphysisches Schicksal, so wie es zahlreiche Chroniken - erstellt von der Seite der Sieger - glauben machen wollen. Der Kampf um die Ressourcen war Ausdruck eines langwierigen Strukturproblems mit seinen gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen, die sich 1525 mit neuen religiösen Forderungen verbanden. <?page no="222"?> 221 U WE S CHIRMER Ressourcenkonflikte in Thüringen und in den angrenzenden mitteldeutschen Regionen (1446-1532) 1. Vorbemerkungen Ressourcenkonflikte werden nachfolgend als Auseinandersetzungen über die zur Verfügung stehende Energie begriffen - namentlich mit Bezug auf Holz, Holzkohle und Weideflächen. Mit Blick auf den erweiterten thüringischen Raum des Mittelalters und der Frühen Neuzeit stritten Landesfürsten, Landstände, die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen, die quasifreie Stadt Erfurt, die Inhaber der Grund- und Gerichtsherrschaften, aber auch die landesherrlichen Städte, die grundherrlichen bäuerlichen Gemeinden sowie die Bauern und Stadtbürger selbst untereinander fortwährend über den Zugang und die Nutzung von Wäldern, die Hut- und Triftgerechtigkeit, den Handel von Getreide, Bier und Rohstoffen im weitesten Sinne, über die Wasserrechte der Mühlen, den Nießbrauch der Allmenden oder die Frage, inwieweit die Niederjagd allein ein Vorrecht des Adels sei. Insofern waren es vorrangig »naturale« und »materiell-kulturelle« Ressourcen, um welche die sozial und verfassungsrechtlichen so verschiedenartigen Konfliktparteien gerungen haben. 1 Dazu käme ferner die menschliche Arbeitskraft, über die es in Thüringen bzw. im mitteldeutschen Raum einen erbittert ausgetragenen Streit seit der Mitte des 15. Jahrhunderts gab, der faktisch bis ins 19. Jahrhundert hinein virulent war. Namentlich betraf es den Gesindedienst der Kinder und Halbwüchsigen der ländlichen Bevölkerung. Dieses höchst komplexe Thema bleibt nachfolgend unberücksichtigt, zumal es vorrangig die östlichen Regionen Mitteldeutschlands betraf. 2 Die Wälder, alle Ackergründe sowie die Teiche und Seen befanden sich in Besitz der Fürsten, Grafen und Herren, des Niederadels, der Stifte, Klöster, Hospitäler und Universitäten, gelegentlich von Schulen, der Städte und bäuerlichen Gemeinden 1 A NSGAR S CHANBACHER , Einleitung - Begrifflichkeiten und Forschungskonzepte, in: D ERS . (Hg.), Ressourcen in historischer Perspektive. Landschaft, Literatur und Nachhaltigkeit, Göttingen 2020, S. 3-17, hier 7. 2 Vgl. J AN P ETERS (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften (HZ Beihefte, NF 18), München 1995; D ERS . (Hg.), Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, Berlin 1997; J AN K LUSSMANN (Hg.), Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft 3), Köln u. a. 2003. <?page no="223"?> U WE S CHIR MER 222 bzw. von Bürgern oder Bauern. Die nicht zuletzt infolge des Lehnswesens notwendige Unterscheidung zwischen (Ober-)Eigentum und Besitz beeinflusste die Ressourcenkonflikte nur marginal. Im Sachsenspiegel, dem Grundgesetz der ländlichen Bevölkerung des erweiterten mitteldeutschen Raumes aus dem Jahr 1231, werden Zugriff und Bemächtigung auf das Holz, die Früchte des Landbaus und den Fischfang eindeutig im Landrecht geregelt (Ldr. II 2, 1-4): [1.] Wer holtz howt adir gras snit ader vischet eines anderen mannes wazzere an wilder wage, sin wandil sint dri schillinge. Den schaden gildit her uf recht. [2.] Vischet abir her in tichen, de begraben sin, adir howt her holtz, daz gesatzt iz, adir fruchtbare bowme, adir bricht her obiz adir howt her malboume adir grebit her marksteine uf, her muz drizig schillinge gebin. Vint man in der tat, man muz in wol phenden adir ufhalden vor den schaden ane des richteres orlob. [3.] Wer des nachtes gehowen graz adir gehowen holtz stilt, daz sal man richten mit der weden. Stilt herz des tages, ez get im zu hut unde zu hare. [4.] Welch wasser strames vlut hat, daz ist gemeine zu varene unde zu vischene dar inne. Der vischer muz ouch wol daz ertriche nutzen, also verne alse her uz deme schiffe eines geschriten mag von deme rechten stade. 3 Der Sachsenspiegel dokumentiert eindrucksvoll die geltende Eigentumsbzw. Besitzordnung. Unausgesprochen galt der Grundsatz nulle terre sans seigneur. Dem Autor des Sachsenspiegels war selbstverständlich das gefächerte ständische, institutionelle und soziale Spektrum jener bekannt, welche die Wälder und Gewässer sowie den Grund und Boden besaßen und nutzten. Abermals sei auf den Unterschied zwischen Eigentum und Besitz verwiesen, wobei Eike von Repgow den Begriff Besitz (gewere) vorrangig dann gebraucht, wenn er mobile Dinge im Blick hatte. Eigentum bezeichnete er als eigen, erbeigen, lant gut oder zinsgut, wobei Letzteres das Bauerngut ist, wofür der Besitzer einen Zins zahlen musste - insofern war es kein Eigentum. Die Hinweise zum Sachsenspiegel und zu Eike von Repgow erscheinen deshalb als angebracht, da der Sachsenspiegel zum einen die Vorlage für den Schwabenspiegel und zum anderen - und das ist bedeutsamer - geltendes Recht für die mittelalterliche und frühneuzeitliche ländliche Gesellschaft Mitteldeutschlands sowie darüber hinaus war. 4 Mit Blick auf den Bauernkrieg muss - so es um die Forderungen der Aufständischen vom Frühjahr 1525 geht - stets bedacht werden, dass es selbstverständlich 3 K ARL A UGUST E CKHARDT (Hg.), Fontes iuris Germanici antiqui. Monumenta Germaniae Historica, Nova series, Bd. 1: Sachsenspiegel, Teil 1: Landrecht, Göttingen 1973, S. 147 (Ldr. II 2, 1-4); E IKE VON R EPGOW , Der Sachsenspiegel, hg. von C LAUSDIETER S CHOTT , Übertragung des Landrechts von R UTH S CHMIDT -W IEGAND , Übertragung des Lehnrechts von C LAUSDIETER S CHOTT , Zürich 1991, S. 120. 4 H EINER L ÜCK , Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423-1550 (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 17), Köln 1997; D ERS ., Der Sachsenspiegel. Das berühmteste Rechtsbuch des Mittelalters, 2. Aufl. Darmstadt 2022. <?page no="224"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 223 allgemein gültige Eigentums- und Besitzrechte gab, die sich auf den Sachsenspiegel gegründet haben. Allerdings lagen zwischen der Niederschrift dieses Rechtsbuches und dem Ausbruch des Bauernkrieges drei Jahrhunderte, in denen sich die Gesellschaft, aber auch die Herrschaftspraxis, gründlich verändert hatten. Mit Hinweisen auf die spätmittelalterliche Herrschaftsverdichtung und den Formationsprozess frühmoderner Staatsbildung und damit in Verbindung stehend die Verfestigung staatlicher Hoheitsrechte, die sich auf die mittelalterlichen Regalien gründeten (Berg-, Münz-, Zoll-, Geleits-, Markt-, Juden-, Wassersowie Forst- und Jagdregal), oder die Differenzierungs- und Emanzipationsprozesse des Niederadels (einschließlich der flächendeckenden Vergrundherrschaftung samt der Etablierung von Patrimonialgerichten durch den Adel) seien nur die wichtigsten verfassungsrechtlichen Grundtendenzen benannt. Ungeachtet der gesellschaftlichen Entwicklung bleibt jedoch hinsichtlich aller Ressourcenkonflikte festzuhalten, dass es im mitteldeutschen Raum eine funktionierende Eigentumsordnung und ein jederzeit intaktes Rechtssystem gab. Insofern war es dem ›gemeinen Mann‹ und den bäuerlichen Gemeinden jederzeit möglich, Missstände vor Gericht anzuzeigen und Recht zu erlangen. 5 Überschaut man die Auseinandersetzungen über die natürlichen (Wald, Wasser, Grund und Boden) und materiell-kulturellen (Getreide, Waid, Bier usw.) Ressourcen insgesamt, so wäre es abwegig, sie allein aus einer sozialständisch-antagonistischen Perspektive betrachten zu wollen. Ja, es gab beharrliche Gegensätze zwischen den Grundherren und den grundherrlichen Bauern - jedoch ebenso zwischen den bäuerlichen Gemeinden einerseits und den Städten andererseits. Der Widerspruch zwischen Stadt und Land erscheint als der konfliktreichere, wobei sich diesbezüglich die Grundherren - vorrangig jedoch aus Eigennutz - als Anwälte der bäuerlichen Gemeinden verstanden haben. Und schließlich sollte bedacht werden, dass es allemal immerwährende Streitereien zwischen einzelnen Städten oder verschiedenen Grundherren sowie zwischen den Bauern bzw. bäuerlichen Gemeinden selbst gab. Diese nur mit Mühe zu überschauende konfliktgeladene Gemengelage hinsichtlich der Ressourcennutzung wurde vor Gericht oder im Vorfeld der Gerichtsverhandlung geschlichtet und moderiert. Im Allgemeinen waren es die Dorf-, Amts- und Landgerichte für die bäuerliche Bevölkerung. Für die Städter waren es die Stadtgerichte. Prozessierten Bauern gegen Bürger bzw. bäuerliche Gemeinden gegen Städte, dann waren anerkannte Schöffenstühle, vor allem das landesfürstliche Hofgericht, gelegentlich aber auch das Landgericht, zuständig. 6 Noch komplizierter war 5 U WE S CHIRMER , Die bäuerliche Gemeinde des thüringisch-mitteldeutschen Raumes zwischen Selbstbehauptung und landesfürstlichen Zwängen (1400-1600), in: E RIKA K USTA - SCHER / T HOMAS T. M ÜLLER (Hg.), Bauernkrieg im Vergleich. Tirol und Thüringen, Brixen 2024 (im Erscheinen). 6 Grundsätzlich: H. L ÜCK , Kursächsische Gerichtsverfassung (Anm. 4), passim. <?page no="225"?> U WE S CHIR MER 224 die Situation, wenn geistliche Institutionen und/ oder der Adel in einen Streit bezüglich der natürlichen oder materiell-kulturellen Ressourcen involviert waren. Zumindest der vom Landesfürsten lehnsabhängige Niederadel war bereit, vor die Schranken des Hofgerichts zu treten. Allerdings bemühte sich die landesfürstliche Verwaltung, derartige Streitereien im Vorfeld zu schlichten und gütlich zu vermitteln. Und zwar derartig, dass man die Konflikte lokalisierte und vor Ort einvernehmlich durch Vermittlung entschied. Diese Vermittlungsstrategie spiegelt sich teilweise in den Landesordnungen, in den auf den Landtagen geführten Diskussionen sowie vor allem im Geschäftsschriftgut der Landesfürsten bzw. der Grafen von Schwarzburg wider. Vermittlung als Herrschaftspraxis - diese sozialgeschichtliche Formel beinhaltet insofern nicht nur den Versuch, im lokalen Rahmen Konflikte gütlich zu lösen, sondern auch und vor allem die Gerichte vor Überlastung zu schützen. Dem ›gemeinen Mann‹ war selbstverständlich bewusst, dass er sein Recht allemal vor Gericht suchen lassen konnte. Selbstbewusst bedienten sie sich rechtskundiger Anwälte, so dass deren Tätigkeit und Salär bereits in der ältesten Landesordnung für Thüringen von 1446 beschrieben und festgelegt wurde (§ 5). 7 2. Ressourcen im Spiegel der Landesordnungen und Landtagsakten (1446-1532) In der erwähnten Landesordnung von 1446, die jedoch nicht ratifiziert wurde, lassen sich die ältesten Widersprüche hinsichtlich der Ressourcen nachweisen. Diese betreffen hauptsächlich die Nutzung der Brache als Viehweide im System der Dreifelderwirtschaft. Nach dem Anbau von Winter- und Sommergetreide lagen größere Flurstücke, sog. Gewanne, im dritten Jahr brach. Auf den brachliegenden Flächen haben die Bauern, aber auch der Grundherr des Dorfes, ihr Vieh gehütet. Festlegungen über die Anzahl des gehüteten Viehs gab es ursprünglich nicht. Im Sachsenspiegel wurde bestimmt (Ldr. II 54, 1), dass das gesamte Vieh, außer Sauen mit Ferkeln, dem Hirten zu überantworten sei. Folglich galt der Hutungszwang. Die Dauer des Hütens richtete sich nach dem Entwicklungsstand der Vegetation und wurde von der bäuerlichen Gemeinde festgelegt - im Allgemeinen hütete man vom Frühjahr bis in den Spätherbst. Die Anzahl des Viehs, die jeder Bauer dem Hirten zu Beginn der Hutsaison überließ, richtete sich indirekt nach dem Umfang des individuell nutzbaren Ackerlandes hinsichtlich der Winterfütterung. Denn letztlich trug jeder Bauer für die Versorgung seines Viehs über den Winter hinweg selbst die Verantwortung. Diese Bestimmung 7 K ARLA J AGEN , Die Thüringische Landesordnung von 1446, Diss. masch. Univ. Leipzig 1951, Anhang, Bl. I-XXV, hier VI; G ERHARD M ÜLLER , Die thüringische Landesordnung vom 9. Januar 1446, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 50 (1996), S. 9-35, hier 20. <?page no="226"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 225 galt jedoch nicht für Schafe, da diese ganzjährig weiden können. 8 Im Zuge der Entwicklung des städtischen Textilgewerbes nahm die Nachfrage nach Wolle während des Spätmittelalters beständig zu, so dass besonders die Grundherren (mancherorts aber auch größere Bauern) vermehrt Schafe hielten, um die Märkte oder Verleger mit Rohwolle zu versorgen. Die zahlenmäßig angewachsenen Schafherden des Adels standen auf den zur Verfügung stehenden Brachflächen zunehmend in Konkurrenz zum bäuerlichen Vieh, zumal die Brachen innerhalb der Dreifelderwirtschaft nicht ausgeweitet werden konnten. Ein klassischer Ressourcenkonflikt, der sich durch die Jahrzehnte hinzog und am Vorabend des Bauernkrieges eskalierte. Allerdings - und darauf wird im Abschnitt über die Ressourcennutzung im Spiegel der Dorfordnungen zurückzukommen sein - haben die Bauern den Umfang der Brachen seit dem Spätmittelalter durch die sog. Besömmerung selbst reduziert. Besömmerung bedeutet, dass die Bauern, jedoch auf der Grundlage eines Mehrheitsbeschlusses in ihrer Gemeinde, nach der Ernte des Wintergetreides auf den Brachflächen eine schnellwachsende Zwischenfrucht zur Fütterung des Viehs ausgesät haben - beispielsweise Wicken oder Erbsen. Nachdrücklich wird dies in den Dorfordnungen bestätigt. 9 Nicht zuletzt aus diesem Grund haben manche Grundherren die Besömmerung der Brache verboten. 10 Eine Festlegung bezüglich der Nutzung der Brache lässt sich im Sachsenspiegel nicht finden, obgleich die Rechte und Pflichten der Hirten sowie der Flur- und Hutungszwang eindeutig geregelt sind. Insofern kollidierte die »offene Verfassung« des Sachsenspiegels mit den wirtschaftlichen Realitäten des 15./ 16. Jahrhunderts. Der Konflikt brach im Zuge des Bauernkrieges offen aus. 11 Diesen Widerspruch versuchten die thüringischen Stände auf dem Landtag vom Januar 1446 zu lösen. Sie ordneten an, die Schafhaltung der Schäferknechte strikt zu begrenzen. Die Schäferknechte waren die Hirten der großen Schafherden des Adels, 8 W OLFGANG J ACOBEIT , Schafhaltung und Schäfer in Zentraleuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, 2., bearb. Aufl. Berlin 1987; A NTJE B AUER , Schafhaltung und Wollproduktion in Thüringen im 16. Jahrhundert (Europäische Hochschulschriften 3/ 666), Frankfurt/ M. u. a. 1995. 9 B ERND S CHILDT , Bauer - Gemeinde - Nachbarschaft. Verfassung und Recht der Landgemeinde Thüringens in der frühen Neuzeit (Regionalgeschichtliche Forschungen), Weimar 1996, S. 155f. 10 U WE S CHIRMER , Agrarverfassung, Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft im spätmittelalterlichen Thüringen und Sachsen (1378-1525), in: E NNO B ÜNZ (Hg.), Landwirtschaft und Dorfgesellschaft im ausgehenden Mittelalter (Vorträge und Forschungen 89), Ostfildern 2020, S. 251-328, hier 318. 11 R UDOLF Q UIETZSCH , Der Kampf der Bauern um Triftgerechtigkeit in Thüringen und Sachsen um 1525, in: H ERMANN S TROBACH (Hg.), Der arm man 1525. Volkskundliche Studien (Veröff. zur Volkskunde und Kulturgeschichte 59), Berlin 1975, S. 52-77. <?page no="227"?> U WE S CHIR MER 226 die für ihre Arbeit und folglich als Lohn in den Herden selbst eigene Schafe mitführen durften. Die Zahl ihrer Schafe wurde auf höchstens 50 festgesetzt. 12 Diese Begrenzung lag im Interesse der bäuerlichen Gemeinden, aber auch des Adels. Ferner schlugen die Landstände vor, dass der Waidanbau der Bauern eingeschränkt werden solle. Im Thüringer Becken wurde seit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts im großen Stil Färberwaid angebaut - zum fiskalischen Nutzen einzelner Bauern, aber auch und vor allem der Waidhändler. 13 Letztere gehörten als sog. Waidjunker fast ausnahmslos zu den städtischen Oberschichten. Jedenfalls sollte nach Paragraph 30 bestimmt werden, dass höchstens zwei Acker von einer Hufe mit Waid besät werden durften. 14 (Eine Hufe umfasste im Allgemeinen circa 30 Acker.) Diese Einschränkung richtete sich gegen die Bauern und Waidjunker. Sie lag einzig und allein im Interesse jener, welche die Brachflächen mit genutzt haben - und das waren eben nicht nur die bäuerlichen Gemeinden, sondern vor allem die Grundherren mit ihren Schafherden. Der Hintergrund dieser Beschränkung muss im vorherrschenden landwirtschaftlichen Anbausystem gesucht werden. Waid war eine zweijährige Pflanze, die nicht in der Dreifelderwirtschaft angebaut werden konnte. Es bedurfte separierter Anbauflächen, die nicht dem Flurzwang unterlagen. Diesbezüglich ist anzumerken, dass die seit dem späten 13. Jahrhundert vermehrt wüst- und brachliegenden Flächen erst die Voraussetzungen geschaffen hatten, Waid im größeren Ausmaß auszusäen. Insofern verfestigte der Waidanbau den Verlust jener Ackergründe, die für den Getreideanbau sowie - und das besaß für die adligen Grundherren besondere Bedeutung - für die Brache genutzt wurden. Auf der Brache ließen die Grundherren, zum Argwohn der bäuerlichen Gemeinden, ihre großen Schafherden weiden. Die angestrebte Einschränkung des bäuerlichen Waidanbaus richtete sich, dies sei wiederholend festgehalten, auch gegen den Handel mit dem Farbstoff und die Waidjunker. Dies offenbart zugleich, wie die Mehrheitsverhältnisse auf den Landtagen gelagerten waren. Der Hoch- und besonders der Niederadel hatte das Sagen - zum Verdruss der Stadträte und städtischen Oberschichten. Allerdings sei auch betont, dass Fürst und Stände - zumindest zur Legitimation - den gemeinen Nutzen als Argument angeführt haben. 15 12 K. J AGEN , Landesordnung (Anm. 7), S. XIIf.; G. M ÜLLER , Landesordnung (Anm. 7), S. 25. 13 H ANSJÜRGEN M ÜLLEROTT , Das Thüringer Becken. Ein bedeutendes europäisches Waidanbaugebiet, in: ZAA 39 (1991), S. 186-199; A STRID S CHMIDT -H ÄNDEL , Der Erfurter Waidhandel an der Schwelle zur Neuzeit (Europäische Hochschulschriften III/ 998), Frankfurt/ M. 2004. 14 K. J AGEN , Landesordnung (Anm. 7), S. XV; G. M ÜLLER , Landesordnung (Anm. 7), S. 27. 15 K. J AGEN , Landesordnung (Anm. 7), S. X. <?page no="228"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 227 Die umfangreiche kursächsische Landesordnung des Jahres 1482 fasste die gesetzgeberische Entwicklung seit der Mitte des 15. Jahrhunderts weitgehend zusammen. Die Tatsache, dass die Ordnung als amtliche Verwaltungsschrift in der Offizin von Markus Brandis in Leipzig gedruckt wurde, 16 lässt die Absicht der Fürsten erkennen, das Gesetzeswerk landesweit (an alle und ein jeglichen in seinem Gericht, Gebiet und Amt) unters Volk zu bringen. In der Präambel ist ausdrücklich wieder vom gemeinen Nutzen die Rede. Inhaltlich spiegelt sich dies teilweise bezüglich des Schutzes des jungen Wildes bzw. der Vogelbruten wider. Die Fürsten sprachen ein generelles Jagdverbot zwischen Fastnacht und Pfingsten bzw. für Haselhühner und Wachteln bis zum St.-Lorenz-Tag aus. Der weitverbreitete Vogelfang mit Ruten, Tüchern oder Netzen wurde ganzjährig untersagt. Die Verbote galten grundsätzlich für alle sozialen Schichten - es betraf jedoch vorrangig die ärmeren Leute, die eifrig dem Vogelfang nachgingen. 17 Ansonsten schweigt sich diese doch umfängliche Landesordnung zur Ressourcennutzung aus. Nach der Leipziger Landesteilung von 1485 wird die landständische Aktenüberlieferung im ernestinischen Kurfürstentum Sachsen und im albertinischen Herzogtum Sachsen von Jahr zu Jahr dichter. 18 In beiden Territorien sowie in den angrenzenden Herrschaften der Grafen von Henneberg, Mansfeld oder Schwarzburg hatte im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts eine teilweise rasante gewerbliche Entwicklung eingesetzt, die größtenteils durch den Silber- und Kupferbergbau ausgelöst worden war. Es kam hinzu, dass Nürnberger Unternehmer wegen des akuten Energiemangels in der Reichsstadt sowie im nahegelegenen Amberger Eisenrevier ihre Saigerhütten nach 1461 schrittweise in den Thüringer Wald verlegt hatten. Der Standortwechsel war erfolgt, um den Wald- und somit den Energiereichtum auszunutzen. 19 In den Schmelzhütten wurde silberhaltiges Schwarzkupfer geschmolzen, welches aus der Grafschaft Mansfeld sowie aus Oberungarn herangekarrt wurde. Neben den Hütten im Thüringer Wald, im Mansfelder Revier und im Erzgebirge (incl. der Eisenhämmer), die allesamt Holzkohle verheizten, fragten jedoch auch die Salinen in Thüringen (u. a. Frankenhausen, Langensalza) und in Halle/ Saale unentwegt nach Scheitholz nach. Und schließlich muss berücksichtigt werden, dass es neben den Salinen und silber-, kupfer- und eisenerzschmelzenden Hütten spätestens 16 Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Bd. 8 (Eike von Repgow-Flühe), Berlin-Stuttgart 1978, Nr. 9388. 17 Vgl. das thematische Sonderheft zum Vogelfang: Sächsische Heimatblätter 27 (1981) Heft 3. 18 C ARL A UGUST H UGO B URKHARDT (Hg.), Ernestinische Landtagsakten, Bd. 1: Die Landtage von 1487-1532 (Thüringische Geschichtsquellen, NF 5), Jena 1902; W OLDEMAR G OERLITZ , Staat und Stände unter den Herzögen Albrecht und Georg 1485-1539 (Aus den Schriften der Sächsischen Kommission für Geschichte 32), Leipzig 1928. 19 W OLFGANG VON S TROMER , Gewerbereviere und Protoindustrien in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: H ANS P OHL (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (VSWG Beih. 78), Stuttgart 1986, S. 39-111, hier 92-98. <?page no="229"?> U WE S CHIR MER 228 seit 1418 eine Glashütte im Thüringer Wald gab (bei Judenbach). Weitere Glashütten folgten - vor allem sie waren es, welche fortwährend Holz verbraucht und maßgeblich zur Verwüstung und Verödung des Thüringer Waldes beigetragen haben. 20 Folglich zeichnete sich spätestens zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Mangel an Holz und Holzkohle ab. Gegenstrategien der Landesherrschaft waren vorerst lokale Wald- und Holzordnungen, um die Energienachfrage zu mindern bzw. zu regulieren. Die lokalen Mandate korrespondierten mit städtischen ›Polizey‹-Ordnungen oder den Ordnungen der bäuerlichen Gemeinden, die ebenfalls die Holzversorgung bzw. den Schutz der Wälder thematisierten. Insgesamt blieb ihre Wirkung begrenzt. Auf den Landtagen wurde das Thema bis zum Bauernkrieg nicht diskutiert. Jedenfalls ist es nicht in den Akten nachweisbar. Erstmals fanden die Güter-Verwüstung und das Abhauen des Holzes pauschal formuliert Aufnahme in den Entwurf der Landesordnung vom Dezember 1525. Sie wurde jedoch vom Fürsten und den Ständen nicht ratifiziert. 21 Die Inkraftsetzung erfolgte nach langen Diskussionen - nicht zuletzt wegen der Reformation und der damit in Verbindung stehenden Sequestration der geistlichen Güter - erst im Juni 1531. Die Verwüstung der Wälder, die gestiegene Nachfrage nach Holz, Holzkohle und Scheitholz sowie der generelle Energiemangel wird allerdings auch in dieser Ordnung nicht behandelt. Einzig der bereits in der Landesordnung von 1482 zu findende Passus vom Schutz des Wildes und der Vögel wurde übernommen. 22 Jedoch mehrten sich nach der veröffentlichten Landesordnung von 1531 Stimmen, welche die starke Inanspruchnahme der Wälder beanstandet haben. Gegen Ende des Jahres 1531 mahnte ein landständischer Ausschuss an, dass die Amtleute des Fürsten die Gehölze der sequestrierten Stifte und Klöster verstärkt beaufsichtigen sollten, um deren Verödung Einhalt zu gebieten. 23 Die Aufforderung dokumentiert, dass man diese Wälder nunmehr wohl als herrenlose Güter ansah, so dass sich jedermann dreist in ihnen bediente. Fast zeitgleich - wahrscheinlich als Replik auf die landständischen Monita - erörterten landesfürstliche Räte und ständische Delegierte geeignete Maßnahmen gegen die Verödung der Wälder, besonders auch die, die den Prälaten, Grafen und Herren gehören. Dem Raubbau sollte entgegengewirkt werden, damit keine Teuerung entstehe und es keinen Mangel an Holz beim Aufbau verbrannter Güter gebe. Ferner wurde gefordert, dass man das Aufkommen der Saiger- und Glashütten dadurch beschränke, dass man ihnen ein Maß mit der Feuerhaltung vorschreibe, falls sie nicht ganz abgeschafft werden sollten. 24 Und schließlich legten die Landstände 20 H ERBERT K ÜHNERT , Urkundenbuch zur thüringischen Glashüttengeschichte und Aufsätze zur thüringischen Glashüttengeschichte, Stuttgart 1973. 21 C. A. H. B URKHARDT , Landtagsakten (Anm. 18), S. 186f. (Nr. 350). 22 Landesarchiv Thüringen - ThürHStA Weimar, EGA, Reg. Q 125, fol. 8rf. 23 C. A. H. B URKHARDT , Landtagsakten (Anm. 18), S. 227 (Nr. 420). 24 C. A. H. B URKHARDT , Landtagsakten (Anm. 18), S. 237 (Nr. 428). <?page no="230"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 229 im Februar 1532 dem neuen Kurfürsten Johann Friedrich dem Großmütigen einen umfassenden Beschwerdekatalog über die Missstände im Lande vor. Sie erinnerten unter Punkt 11 daran, dass man der Verwüstung der Hauptwälder durch Saiger- und Glashütten [und] Hämmer nicht Einhalt getan habe. 25 Die gewerbliche Entwicklung wurde folglich als wichtigste Ursache für die massiven Zugriffe auf die Wälder angesehen. Freilich beruhte die Holznutzung der Glas- und Saigerhütten auf Verträgen der Kapitalgeber mit den Eigentümern der Gehölze. In dem Fall waren es Graf Wilhelm III. von Henneberg-Schleusingen (Saigerhütte Schleusingen, Vertragsabschluss 1461), Reichserbmarschall von Pappenheim (Gräfenthal, 1462; Hasenthal, 1488), die Grafen Georg und Friedrich von Henneberg-Römhild (Schwarza, 1462), der Abt des Klosters Georgenthal (Fugger-Hütte Hohenkirchen, 1462), der Herzog und Landgraf Wilhelm III. von Sachsen (Hüttensteinach, 1464; Eisfeld, 1472), die Grafen von Schwarzburg-Arnstadt (Arnstadt, 1463), Kurfürst Ernst von Sachsen (Messinghütte Unterneubrunn, 1485) oder der Markgraf Friedrich V. von Brandenburg-Kulmbach (Ludwigstadt, 1486). 26 Sie alle hatten der extensiven Nutzung der Wälder vertraglich zugestimmt. Der landständische Ruf der Jahre 1531/ 32 nach einem verstärkten Schutz der Wälder verhallte ungehört. Forste, Wälder und Gehölze wurden weiterhin arg ausgebeutet - vorrangig durch die Glashütten im Thüringer Wald. Sie benötigten Pottasche, welche die Aschenbrenner hergestellt haben. Die Glashütten und Aschenbrenner waren die eigentlichen Waldverwüster. Wohl infolge des unsachgemäßen Holzbrennens brannten weite Teile des Thüringer Waldes im Jahr 1540 rund vier Wochen, ohne dass es gelang, das Feuer zu löschen. Der große Waldbrand von 1540 war durch die anhaltende Hitze und Dürre, die während des Jahrhundertsommers geherrscht hatten, begünstigt worden. Auch aus dem Erzgebirge wird berichtet, dass die Hitze Waldbrände ausgelöst habe. 27 Außerdem lässt sich die übergebührliche Ausbeutung der Wälder anhand steigender Preise nachweisen. Sie stiegen für Bauholz (nach Stämmen oder Stubben), Holzkohle (nach Kübeln), Scheitholz (nach Klaftern) oder Reisigholz (nach Bund) zwischen 1520/ 25 und 1570 beständig an. 25 C. A. H. B URKHARDT , Landtagsakten (Anm. 18), S. 257 (Nr. 468). 26 P ETER L ANGE , Saigerhütten in Thüringen, in: Kupfer, Silber, Stahl. Beiträge zur Geschichte der Metallurgie, hg. von G ÜNTHER A RNOLD , Olbernau/ Sachsen 1988, S. 14-30, hier 17. 27 C HRISTIAN H OPF , Waldnutzung und Waldwirtschaft im Spiegel thüringischer Rechtsquellen des 16.-18. Jahrhunderts, Diss. iur. masch. Friedrich-Schiller-Univ. Jena 1951, Bl. 72-76; zu dem Jahrhundertsommer 1540 nach mitteldeutschen Quellen: U WE S CHIRMER , Verregnete Reformation? Witterung, Wetteranomalien und Klimatendenzen in Mitteldeutschland (1485-1547), in: I RENE D INGEL u. a. (Hg.), Initia Reformationis. Wittenberg und die frühe Reformation (LStRLO 33), Leipzig 2017, S. 199-247, hier 241f. <?page no="231"?> U WE S CHIR MER 230 Der Preisanstieg (daneben auch der des Getreides) spiegelt nicht zuletzt den robusten Wirtschaftsaufschwung jener Jahre wider. 28 Insofern standen die Beschwerden der bäuerlichen Gemeinden hinsichtlich der Holzversorgung und Waldnutzung vom Mai 1525 justament erst am Anfang einer wirtschaftlichen Entwicklung, die sich dem Bauernkrieg weiter verstärkt hat. Dieser Befund bezieht sich auf das ventilierte Problem, warum es zum Aufstand des gemeinen Mannes gekommen sei und welche Rolle diesbezüglich die Ressourcen gespielt haben könnten. Alternativ formuliert: Warum lassen sich keine gewaltsamen Proteste über die wahrlich hohen Energiepreise und die Holzknappheit nach der Mitte des 16. Jahrhunderts nachweisen? Die Wälder und allen voran der Thüringer Wald waren um 1600 derartig abgeholzt und teilweise auch verödet, dass manche Geistliche um göttlichen Beistand baten - so der Pfarrer Schuhmann, der Zwo christliche Waldpredigten oder Tractäten von den Wäldern, Pflanzung und Erhaltung derselben im Jahr 1607 in Jena drucken ließ. 29 In dieser Hinsicht sollten die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse und die wirtschaftliche Großwetterlage sowie andere mitwirkende Faktoren, die zur Befeuerung des Aufstandes vom Frühjahr 1525 beigetragen haben, berücksichtigt werden. Bezüglich der Waldnutzung in Thüringen sind die Ordnungen der bäuerlichen Gemeinden besonders aufschlussreich. 3. Ressourcen im Spiegel der Dorfordnungen Für Thüringen liegen circa 800 bis 900 Dorfordnungen vor. Der größte Teil umfasst die sog. ›Sammlung Günther Franz‹, die in Franzens Auftrag zwischen 1937 und 1941 zusammengetragen wurde. Sie schließt etwa 600 Dorfordnungen aus rund 450 Orten ein. Der Bestand wurde von Bernd Schildt ausgewertet. 30 Daneben existiert ein größerer Bestand im Staatsarchiv Rudolstadt, der gegenwärtig von Jana Kämpfe bearbeitet wird. Hinzu kommen weitere Dorfordnungen unterschiedlicher Provenienz, die bisher unbekannt waren. In Summa beinhalten fast alle Ordnungen Bestimmungen zur Wald- und Holznutzung, welche die Beschwerden der Bauern vom Mai 1525 eigentlich als absurd erscheinen lassen. Nachfolgend werden die internen 28 U WE S CHIRMER , Die wirtschaftlichen Wechsellagen im mitteldeutschen Raum (1480- 1806), in: Leipzig, Mitteldeutschland und Europa. FS für Manfred Straube und Manfred Unger zum 70. Geburtstag, hg. von H ARTMUT Z WAHR u. a., Beucha 2000, S. 293-330, hier 297-302. 29 H ELMUT W ILSDORF , Holz - Erz - Salz. Das Transportproblem im Montanwesen, in: D ERS . u. a. (Hg.), Bergbau, Wald, Flöße. Untersuchungen zur Geschichte der Flößerei im Dienste des Montanwesens und zum montanen Transportproblem (Freiberger Forschungshefte D 28), Berlin 1960, S. 7-183, hier 29. 30 B. S CHILDT , Bauer - Gemeinde (Anm. 9), S. 23 (Angaben zu den Quellen). <?page no="232"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 231 Bestimmungen der Ordnungen hinsichtlich der Gemeindewälder sowie der Nutzung der Brache und der Gemeindegewässer erörtert. Das reichhaltige Material, das teilweise indirekt ebenfalls über die Ressourcen informiert (Rechte und Pflichten des Dorfhirten, Hutungszwang und Ausnahmen davon, Taubenzucht, Vogelfang usw.), bleibt unberücksichtigt. In der Regel verfügte fast jede Dorfgemeinde über ihren gemeindeeigenen Wald. Nachbarschaftliche Holznutzungsrechte in herrschaftlichen Forsten sind nicht nachweisbar. Eine Ausnahme gab es jedoch im sehr waldarmen Thüringer Becken. Dort besaßen sieben Gemeinden Zugang zum Thüringer Wald. Die Dörfer wurden als die sieben Freiwald-Dörfer bezeichnet. Sie besaßen das Recht des freien Bezugs von Bau- und Brennholz aus dem sog. ›Freiwald‹. Der Freiwald war ein über 800 Hektar großer Waldbezirk, der gerichtsherrlich dem Kloster Georgenthal unterstand und sich bis an den Rennsteig erstreckte. Das Nutzungsrecht der sieben Gemeinden wird mit dem hochmittelalterlichen Landesausbau erklärt. 31 Im Zuge der Sequestration und Säkularisation des Klosters wurde der Freiwald mehrfach von kurfürstlichen Hofräten, Amtleuten und Forstfachleuten besichtigt und es wurde stets betont, dass es ein Freiwald sei. Nach der Säkularisation von Georgenthal durfte der Freiwald weiterhin von den sieben Gemeinden individuell genutzt werden. Eine kommerzielle Nutzung wurde ihnen, wie bereits vor der Reformation, strikt untersagt. 32 Die Dorfordnungen Thüringens dokumentieren eindrucksvoll, dass zu jeder Gemeinde ein Gemeindewald unterschiedlicher Größe gehörte. Die uneingeschränkte Nutzung und der Schutz dieser Gehölze oblagen der Gemeinde. Die Bedeutung des Waldes bzw. die Holznutzung für manche Gemeinde wird durch die Existenz besonderer Holzordnungen belegt. Offensichtlich waren das jene Gemeinden, die über größere Wälder verfügten. 33 Ansonsten finden sich in den Ordnungen wiederkehrend folgende Bestimmungen: Das Sammeln des Brennholzes wurde von Dorf zu Dorf unterschiedlich geregelt. Mancherorts war es nichtstimmberechtigen Gemeindemitgliedern gestattet; anderenorts war es ihnen verboten. Ebenso verschiedenartig waren die Bedingungen zur Entnahme von Reisig, Spreu und Stöcken - namentlich für die armen Leute, womit jene gemeint waren, die nicht vollberechtigte Gemeindemitglieder waren (Häusler, Hausgenossen). Annähernd überall gleich waren die Festlegungen über den Holzeinschlag. Die Schultheißen bzw. Heimbürgen wiesen den 31 H EINRICH H ESS , Der »Freiwald« bei Georgenthal, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde NF 10 (1897), S. 284-311. - Zu den sieben Dörfern vgl. Anm. 32. 32 F RITZ R OLLBERG , Die Freiwaldgerechtigkeit, ein altes Holzrecht der sieben Gemeinden Siebleben, Tüttleben, Grabsleben, Cobstädt, Pferdingsleben, Tröchtelborn und Uelleben, Diss. iur. masch. Univ. Jena 1922, Bl. 23f. 33 B. S CHILDT , Bauer - Gemeinde (Anm. 9), S. 149. <?page no="233"?> U WE S CHIR MER 232 Bauern gleichmäßig und gebührlich besondere Bäume oder gar Flecken zu. Wer rechtswidrig über das gebührliche Maß Holz schlug, wurde mit teilweise hohen Bußgeldern bestraft. Das Geld floss in die Gemeindekasse. 34 In den Gemeinden war der Weiterverkauf von hochwertigem Bauholz außerhalb des Dorfes verboten, das war nur innerhalb der Nachbarschaft möglich. Grünes Holz musste vielerorts bis spätestens Mai geschlagen und aus dem Wald geholt sein, damit der Neuaustrieb (Sommerlatten) keinen Schaden erlitt. 35 Die Gemeindewälder wurden kaum als Waldweide oder zur Eichelmast genutzt. Dafür standen die weitaus größeren Wälder der Fürsten oder Grafen zur Verfügung. Jedoch erhoben diese für die Eichelmast der Schweine Gebühren. Außerdem verfügten sie, dass die in die Wälder getriebenen Schweine Nasenringe tragen mussten, um die Baumbestände zu schützen. 36 Die bäuerlichen Gemeinden bezogen ihr Feuerbzw. Brennholz wohl fast ausschließlich aus den gemeindeeigenen Wäldern. Gleiches gilt für jenes Holz, welches sie für Zäune oder Etter benötigten (Ruten, Stangen). Die Eigenversorgung mit Bauholz blieb für die Bauern begrenzt - dafür waren die Gemeindewälder einfach zu klein. Somit waren sie bei umfangreichen Baumaßnahmen auf hochwertiges Bauholz aus den Wäldern der Fürsten oder Grafen angewiesen. Nachdrücklich unterstreichen es die Forstrechnungen landesfürstlicher Ämter. 37 Die Dorfordnungen belegen ausgezeichnet die Nutzung der natürlichen Ressourcen im Rahmen der genossenschaftlichen Feldgemeinschaft. Wie mehrfach betont, lag dem die Dreifelderwirtschaft zugrunde. Es war ebenso gesagt worden, dass aus der Dreifelderwirtschaft die Notwendigkeit einer koordinierten Nutzung des Ackerlandes erwuchs. Von der Bestellung der Äcker bis zur Ernte mussten fest vereinbarte Termine und die verbindliche Fruchtfolge eingehalten werden (Flurzwang). Die Ordnungen der bäuerlichen Gemeinden reflektieren folglich die geltende Eigentums- und Besitzordnung. Es muss in diesem Zusammenhang ferner wiederholt werden, dass der Besitz an Ackerland in der verhuften Flur konstituierend war. Nur wer derartige Ackergründe besaß, gehörte als vollwertiges Mitglied zur Gemeinde. Die Gemeinde setzte sich ausschließlich aus diesen Ackerlandbesitzern zusammen. Sie werden in den Quellen als Nachbarn bezeichnet. Die Gemeindeversammlung war 34 B. S CHILDT , Bauer - Gemeinde (Anm. 9), S. 150; C HR . H OPF , Waldnutzung (Anm. 27), Bl. 9-18. 35 B. S CHILDT , Bauer - Gemeinde (Anm. 9), S. 151. 36 C HR . H OPF , Waldnutzung und Waldwirtschaft (Anm. 27), Bl. 10, 84. 37 U LRIKE K AISER , Das Amt Leuchtenburg 1479-1705. Ein regionales Zentrum wettinischer Landesherrschaft (Veröff. der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 33), Köln 2012, S. 28-30; U WE S CHIRMER , Das Amt Grimma 1485-1548. Demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit (Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft 2), Beucha 1996, S. 185-194. <?page no="234"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 233 das höchste politische Organ im Dorf. Die Nachbarschaftsrechte waren unabhängig vom Umfang des Besitzes gleich. Das heißt, dass die Stimme eines Halbhüfners das gleiche Gewicht besaß wie die eines Voll- oder Mehrhüfners. In der Gemeindeversammlung galten grundsätzlich Mehrheitsbeschlüsse; die Minderheit hatte sich der Mehrheit zu beugen (Sachsenspiegel Ldr. II 55). Da die Viehwirtschaft für die Bauern - neben dem Getreideanbau - von herausragender Bedeutung war, nahmen die Hütung des Viehs, der Hutungszwang und die Stellung des Hirten einen zentralen Platz in den Ordnungen ein. Wie angedeutet, wurde das Vieh auf der Brache gehütet. Mit Blick auf die Ressourcenkonflikte des 16. Jahrhunderts sei jedoch darauf verwiesen, dass die Brache nicht unbedingt gänzlich und hinsichtlich der Vegetationszeit vollständig genutzt wurde. Dies wirkte sich selbstverständlich auf die großen Schafherden der Landesfürsten und des Adels aus. Allein die bäuerliche Gemeinde legte fest, wann die Hütung begann und bis wann der Hutungszwang bestand. Der Beginn des Hütens richtete sich nach den noch vorhandenen Winterfutterreserven und nach dem Entwicklungsstand der Vegetation. Einen pauschalen Beginn gab es folglich nicht. Bereits bei der Terminfestlegung des Hütens im Frühjahr konnte sich ein heftiger Streit zwischen der Gemeinde und dem Grundherrn entfachen. Prinzipiell galt, dass nur der Grundherr auf der Brache hüten lassen durfte. Allerdings konnte er dieses Anrecht verkaufen oder verpachten. Folglich wurden Rechtsansprüche fiskalisiert. Eine Besonderheit war das ostthüringische Dorf Raitzhain. Dort haben die Bauern ihre gesamte Brache besömmert. Allerdings mussten sie - wohl für den adligen Grundherrn - ersatzweise Weideland pachten, welches für die Hutung genutzt wurde. 38 Die Besömmerung der Brache lag selbstverständlich nicht im Interesse der Grundherren. Hinsichtlich der auszuwertenden Dorfordnungen muss also stets beachtet werden, wer der Grundherr war und ob er ein Interesse besaß, die Brache von seinen Schafen mit abweiden zu lassen. Entsprechend vielfältig und auch widersprüchlich sind die einzelnen Bestimmungen in den Dorfordnungen. Ebenso sind Jagdrechte zu berücksichtigen, denn die Brachflächen waren - im Gegensatz zu den mit Getreide besäten Flächen - jagdoffen. Durch die Besömmerung erhielt die Brache jedoch einen Status, der dem eines Sommer- oder Winterfeldes gleichkommen konnte. Die mit Kulturen aller Art bebauten Flächen durften selbst nach Sachsenspiegelrecht nicht bzw. nur in Ausnahmefällen betreten oder befahren werden. (Freilich: Im Sachsenspiegel wird das Sömmern mit keiner Silbe erwähnt.) Auch das sog. Grasen oder Krauten unterlag strengen Bestimmungen. War jedoch die Brache mit Wicken besät, so sollte sie weder für die Schafhutung noch für die Jagd genutzt werden. Zusammenfassend sei herausgestrichen: Im Zuge der agrarwirtschaftlichen Entwicklung des Spätmittelalters sind zwei widersprüchliche Prozesse in den Quellen zu greifen. Zum einen die extensive Bestandserweiterung der Schafherden durch 38 B. S CHILDT , Bauer - Gemeinde (Anm. 9), S. 155, 158. <?page no="235"?> U WE S CHIR MER 234 die Grundherren; zum anderen die intensivere Nutzung der Brachen durch Besömmerung seitens der Bauern. Daraus erwuchs ein klassischer Interessenkonflikt, der nicht zuletzt auf die Wiesen und Weiden der Bauern übertragen wurde. Das berührte die Einhegung separater und kleiner Wiesenstücke, um auf ihnen Kraut, Linsen oder Bohnen anzubauen. Dass diese intensive (Garten-)Nutzung ebenfalls das grundherrliche Jagdrecht beeinträchtigte, muss nicht betont werden. Folglich verboten die Herren die Einhegung bzw. sie versuchten, sie mit allen Mitteln zu unterbinden. 39 Es sei mit Blick auf den 4. Artikel der Zwölf Artikel der schwäbischen Bauern abschließend betont, dass sich in Thüringen eigentlich keine Jagd- und Fischereirechte in den Dorfordnungen als genossenschaftliche Vorrechte nachweisen lassen. Zwar konnte die Niederjagd ein Vorrecht der Schultheißen sein, doch dies beschränkt sich auf wenige Ausnahmen. Die Jagd auf Rot-, Damm- oder Schwarzwild war grundsätzlich ein Adelsprivileg. Fischereirechte lagen bei den Grafen oder Fürsten. Allein ihnen oblag es, einzelne Personen damit zu privilegieren. Die bäuerlichen Gemeinden nutzten hingegen, wo es die naturräumlichen Verhältnisse zuließen, ihre Dorfteiche, die sie genossenschaftlich bewirtschafteten. Selbstverständlich sind hinsichtlich der Jagd oder des Fischfangs Konflikte nachweisbar. Allerdings sind sie - im Vergleich zur Nutzung der Brache, zum extensiven Abweiden der Flächen durch die Schafherden des Adels oder zum Problem des Holzbezugs - nur von untergeordneter Bedeutung. 4. Ressourcenkonflikte im Spiegel thüringischer Beschwerdeschriften des Jahres 1525 Die Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauern waren um den 10. April 1525 in Mitteldeutschland bekannt - nicht zuletzt, weil sie u. a. in Erfurt nachgedruckt und verkauft worden sind. 40 Es bestehen keine Zweifel, dass die Beschwerdeschriften thüringischer Bauern die Zwölf Artikel rezipierten, aufgrund der verschiedenartigen Verfassungsverhältnisse zwischen dem deutschen Südwesten und dem thüringischmitteldeutschen Raum jedoch nur partiell. Beispielsweise wird der 3. der Zwölf Artikel (der sog. ›Leibeigenschafts‹-Artikel) in Thüringen nirgends erwähnt. Hinsichtlich der vorhandenen thüringisch-mitteldeutschen Beschwerdeschriften ist herauszustreichen, dass keine von ihnen im Druck erschien. Es liegen ausnahmslos handschriftliche Unikate vor. Manche von ihnen sind von ein und derselben Hand 39 B. S CHILDT , Bauer - Gemeinde (Anm. 9), S. 157. 40 M ANFRED K OBUCH / E RNST M ÜLLER , Der deutsche Bauernkrieg in Dokumenten. Aus staatlichen Archiven der Deutschen Demokratischen Republik, Weimar 1975, S. 60. - Der Druck der Zwölf Artikel in mitteldeutschen Offizinen spiegelt nicht die politische Gesinnung der Drucker, sondern deren Geschäftssinn wider. <?page no="236"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 235 geschrieben worden, was natürlich ein handfester Beleg dafür ist, dass manche Gemeinden von anderen ›abgekupfert‹ haben. 41 Fernerhin existieren fast keine Abschriften, was mit den Umständen ihrer Abfassung zu erklären ist. Die handschriftliche Überlieferung weist auf das unmittelbare politische Umfeld hin, in dem die Beschwerden verfasst wurden. Folglich sind einige quellenkritische Anmerkungen nötig. Es liegen insgesamt 44 mitteldeutsche (im weitesten Sinne) Beschwerdeschriften aus der Zeit des Bauernkriegs vor. Mit Blick auf die regionale und territoriale Verteilung sind es zwölf aus dem Herrschaftsbereich des Grafen Wilhelm VI. von Henneberg-Schleusingen, 42 22 aus dem Territorium des Grafen Günther XXXIX . von Schwarzburg-Arnstadt 43 sowie die der Städte Apolda, Neustadt an der Orla, Frankenhausen, Merseburg, Erfurt, Sangerhausen, Eger und des Dorfes Osterhausen. 44 Einen besonderen Quellenwert besitzen die Artikel des Bauernhaufens von Ichterhausen, weil sie unmittelbar während der Belagerung des dortigen Klosters aufgezeichnet wurden. 45 Und schließlich muss auf die Artikel der Pfarreien zu Unser Lieben Frauen und von St. Gertruden aus Halle/ Saale verwiesen werden, 46 die jedoch, ähnlich wie im Falle der Reichsstadt Eger, in anderen Zusammenhängen entstanden. Dass die vorliegenden Beschwerden und Artikel disparat sind, liegt mit Blick auf die verschiedenartigen territorialen Verfassungsverhältnisse sowie den Unterschied zwischen Stadt und Land auf der Hand. Bei fast allen Beschwerden gibt es vielfältige Hinweise, dass die Zwölf Artikel der schwäbischen Bauern zumindest teilweise adaptiert wurden. 41 Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland (AGBM), Bd. 2, hg. von W ALTHER P ETER F UCHS (unter Mitarbeit von G ÜNTHER F RANZ ), Jena 1942, S. 117, Anm. 1 (Nr. 1208 (g)). 42 Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland (AGBM), Bd. I, 2, hg. auf Grund des Nachlasses von O TTO M ERX von G ÜNTHER F RANZ , Leipzig 1934, S. 341-343 (Nr. 454 Ilmenau), S. 343f. (Nr. 455 Unter- und Oberpörlitz, Roda), S. 371 (Nr. 507 Meiningen), S. 427-435 (Nr. 625 Stadt Schleusingen und weitere Hennebergische Dörfer). 43 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 110-128 (Nr. 1208, a-u), Arnstadt (S. 101-105; Nr. 1202), Stadtilm (S. 108-110; Nr. 1207). 44 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), Apolda (S. 183f.; Nr. 1295), Neustadt/ Orla (S. 139-143; Nr. 1228), Frankenhausen (S. 168f.; Nr. 1269), Osterhausen (S. 169f.; Nr. 1270), Merseburg (S. 205f.; Nr. 1327), Erfurt (S. 250-252; Nr. 1390), Sangerhausen (S. 265-267; Nr. 1412), Eger (S. 299-301; Nr. 1463). 45 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 144f. (Nr. 1232). - Vgl. dazu die Auswertung: V OLKER G RAUPNER , Die Dorfgemeinden und ihre Artikel im Bauernkrieg, in: G ÜNTER V OGLER (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald (HMRG Beiheft 69), Stuttgart 2008, S. 347-361. 46 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 216-222 (Nr. 1345). <?page no="237"?> U WE S CHIR MER 236 Die thüringischen Beschwerdeartikel wurden alle während des bereits ausgebrochenen Aufstandes verfasst. Als erste hatten die Bewohner der Stadt Arnstadt am 25. April ihre Nöte und Sorgen verschriftlicht. Der Adressat war ihr Stadtherr Graf Günther XXXIX . von Schwarzburg-Arnstadt. 47 Die Arnstädter Artikel stehen im engsten Zusammenhang mit dem Verlauf der Revolte und bereits erfolgten Plünderungen. Aus diesem Grund muss der Blick auf den Grafen Günther XXXIX . und seinen unmittelbaren Nachbarn, den Grafen Wilhelm VI. von Henneberg-Schleusingen, gerichtet werden. Da der Arnstädter Beschwerdekatalog der älteste bzw. erste seiner Art war, sind wenige Bemerkungen zum Verlauf des Aufstandes in der Grafschaft Schwarzburg-Arnstadt angebracht. Der Protest brach dort am 23. April 1525 aus - es war ein Sonntag. Am 23./ 24. April plünderten die Aufständischen Kloster Paulinzella, das jedoch nicht gebrandschatzt wurde. Paulinzella gehörte neben dem Zisterzienserkloster Georgenthal zu den Hausklöstern der Grafen von Schwarzburg-Käfernburg. 48 Die Besitzungen und Patronatsrechte des Klosters lagen faktisch alle in der Grafschaft des Grafen Günther XXXIX . Insofern erscheint die Plünderung als ein Fanal, welches den Grafen zum Handeln zwang. Im Zuge der Plünderung von Paulinzella waren die Arnstädter Artikel entstanden. Womöglich hatte Günther von Schwarzburg, dessen Residenz sich in Arnstadt befand, die dortigen Untertanen angeregt, ihm ihre Sorgen zu offenbaren. Diese Vermutung gründet sich auf handfeste Indizien. Nach der Plünderung Paulinzellas zog der wohl inzwischen auf 8.000 Mann angewachsene Haufen am 25./ 26. nach Stadtilm, deren Stadtherr ebenfalls Graf Günther war. Der Bauernhaufen lagerte vom Abend des 26. bis zum 28. April vor Stadtilm, ohne dass größere Schäden entstanden wären. Die Kontrolle über die Stadt besaßen die Aufständischen. Im Prinzip lief die Belagerung glimpflich ab, weil sich Insurgenten, Stadtrat und Graf auf die Erhaltung der öffentlichen Ordnung geeinigt hatten. Das war ein Kompromiss, der auf der Zurückhaltung der Aufständischen, der Vermittlung der Ratsherren und auf dem Entgegenkommen des Grafen Günther gründete. Der Graf hatte die Aufständischen aufgefordert, Beschwerdeartikel zu verfassen, um auf deren Grundlage mögliche oder tatsächliche Missstände abzustellen. 49 Als Vorbild galt der Ausgleich zwischen der Stadt Arnstadt und dem Grafen selbst. Wie erwähnt wurde, hatten Rat und Gemeinde zu Arnstadt ihrem Grafen und Stadtherrn am 25. April eine 27 Artikel umfassende Beschwerde vorgelegt, auf die sich der Graf eingelassen und einer Bewilligung zugestimmt hatte 50 - Vermittlung als Herrschaftspraxis. Zeitgleich verfassten Stadtvogt, Rat und Gemeinde von Stadtilm ebenfalls ihre Beschwerden, die 47 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 101-105 (Nr. 1202). 48 G UIDO E INICKE , Zwanzig Jahre Schwarzburgische Reformationsgeschichte 1521-1541. Nach urkundlichen Quellen, 2 Bde., Nordhausen 1904/ 1909, hier Bd. 1, S. 299f. 49 G. E INICKE , Schwarzburgische Reformationsgeschichte (Anm. 48), S. 305. 50 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 216-222 (Nr. 1245). <?page no="238"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 237 jedoch wegen der dortigen Belagerung erst am 28. April verhandelt und nicht zuletzt bewilligt wurden. Alle beteiligten Akteure hatten bewiesen, dass sie grundsätzlich willens waren, anstehende Probleme und offene Fragen einvernehmlich zu lösen. Diesbezüglich waren die unterlassenen Plünderungen und die Besonnenheit der Aufständischen in Stadtilm sowie ihr Abzug nach Arnstadt eine wichtige Voraussetzung. 51 Es wurde gesagt, dass sich keine Abschriften einzelner Beschwerden erhalten haben. Das ist hinsichtlich der 27 Arnstädter Artikel inkorrekt, denn es ist - neben dem Original im (Schwarzburger) Staatsarchiv zu Rudolstadt - eine Abschrift überliefert. Bezeichnenderweise befindet sie sich im (Hennebergischen) Staatsarchiv zu Meiningen. Die in Meiningen archivierte Abschrift der Arnstädter Artikel stammt wohl aus der Kanzlei des Grafen Günther von Schwarzburg. Er wird sie an den Grafen Wilhelm VI. von Henneberg-Schleusingen geschickt haben. Wann dies geschah und ob dazu ein Begleitschreiben gehörte, bleibt offen. 52 Die in Meininger Archiv befindliche Abschrift deutet darauf hin, dass Graf Wilhelm VI. seine Untertanen ebenso angehalten hat, Beschwerden zu verfassen. Jedenfalls liegen für keinen Landstrich Thüringens derartig viele Artikel vor wie für die unmittelbar benachbarten Grafschaften Schwarzburg-Arnstadt und Henneberg-Römhild. Zumindest diese Beschwerdeartikel, die ohnehin vielerlei Bezüge zu den Zwölf Artikeln aufweisen, besitzen eine hohe inhaltliche Kohärenz. Insofern scheint es eine Verständigung zwischen den Aufständischen gegeben zu haben, die an die ›Kommunikation in Echoräumen‹ erinnert. Auf diesen Umstand hat bereits Walther Peter Fuchs in seiner 1942 vorgelegten Edition verwiesen. 53 Tatsächlich gibt es sehr viele wortwörtliche Abhängigkeiten und inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den Artikeln. Dies ändert jedoch nichts an ihrem Quellenwert. Bezüglich der Quellenauswertung muss noch etwas bedacht werden: Graf Wilhelm VI. hatte am 3. Mai 1525 die Zwölf Artikel anerkannt und auf sie geschworen, 54 weil er militärisch und politisch mit dem Rücken zur Wand stand. Sein mehr oder weniger erzwungener Eid auf die Schwäbischen Artikel hatte jedoch keinen Einfluss auf die unmittelbare Abfassung der Beschwerden seiner Untertanen. Sie haben - wie auch die aus der Grafschaft Schwarzburg-Arnstadt - ihre Sorgen und Nöte schriftlich offenbart, wobei nicht wenige Forderungen illusorisch anmuten, getreu dem Motto: ›Wünsch-Dir-was‹. 51 G. E INICKE , Schwarzburgische Reformationsgeschichte (Anm. 48), S. 301-305. 52 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 105, Anm. (Nr. 1202). 53 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 110-125 (Nr. 1208). 54 AGBM, Bd. I, 2 (Anm. 42) S. 401 (Nr. 579). Zur Sache: J OHANNES M ÖTSCH , Der Aufstand im südlichen Thüringen, in: G. V OGLER , Bauernkrieg (Anm. 45), S. 113-133; J ANIS W ITOWS - KI , »Das getan oder totgeschlagen.« Der Werrahaufen als ein Akteur im Bauernkrieg von 1525, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 157 (2022), S. 283-316. <?page no="239"?> U WE S CHIR MER 238 Nachfolgend werden die in den Grafschaften Schwarzburg-Arnstadt und Henneberg-Römhild verfassten Artikel vorrangig untersucht. Diesbezüglich stehen Fragen nach Ressourcen im Zentrum - die mannigfachen Forderungen nach freier Pfarrerwahl, abzuschaffenden bzw. zu reduzierenden Steuern, Zöllen, Diensten oder Zinsen, nach der Braugerechtigkeit auf den Dörfern bzw. dem Zugang der Bauern auf die städtischen Märkte u. ä. werden n i c h t erörtert. Eingangs sei auf eine Begebenheit aus Schmalkalden vom Mai 1525 verwiesen. Sie spiegelt schlaglichtartig das Begehren der Aufständischen wider. Demnach hatten dort einige von ihnen beschlossen, eine Fahne anzufertigen: Wir wollten einen Fetzen machen lassen, daran ein Kruzifix und geschrieben stehen sollt: Wer es mit dem Wort Gottes halten wollte, der soll zu diesem Fähnlein treten. Und neben [dem Kruzifix sollten] Fisch, Vogel und Holz auch gemalt sein. Und sollte das Kruzifix bedeuten: Das Evangelium und die Handhabung des Wortes von Gott; und bei den Vögeln, Fischen und Wäldern sollte dadurch zu verstehen sein, dass solches alles frei sein sollte. 55 Die Fischerei-, Wasser-, Jagd-, Holz- und Forstrechte werden faktisch in allen Beschwerdeartikeln angeführt - teilweise wortwörtlich übernommen. Ein ungehinderter Niesbrauch wurde eingefordert. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob man dieses Begehren aus den Zwölf Artikeln abgeleitet hatte oder ob es tatsächlich überall akute Probleme waren, die den Bauern und Bürgern unter den Nägeln brannten. Hinsichtlich der Waldnutzung und des Holzbezuges wurde dazu schon das Nötigste gesagt. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive wurde betont, dass das landesherrliche Regalrecht ein altes Recht war, aus dem staatliche Hoheitsrechte erwachsen sind. Es gab und gibt eindeutige Bestimmungen hinsichtlich der Fischerei-, Jagd- und Forstrechte. Das Ansinnen, uneingeschränkte Wald-, Fischerei- und Jagdrechte zu erlangen, war - gelinde gesagt - eine populistische Forderung. Insofern sei hinsichtlich der Diskussion über vermeintlich rechtmäßige Ansprüche der Aufständischen Zurückhaltung angemahnt. Allerdings gab es berechtigte Forderungen. Dazu ein Beispiel: Die Arnstädter monieren in ihren Artikeln ausdrücklich, dass die dort seit Jahren betriebene Saigerhütte Schäden verursache. Die Schlacken verschmutzten das Wasser, wodurch die Äcker und Viehtriften verdorben würden - Umweltschäden infolge des Hüttenbetriebs. 56 Bei fast allen Beschwerden nehmen die Hut- und Triftgerechtigkeit sowie generell die seitens der Grundherren beanspruchten Weiderechte ihrer Schafherden einen breiten Raum ein. Eine umfassende Detailanalyse käme einer positivistischen Aufzählung mit starken lokalen Bezügen gleich. Wie bei den Forderungen nach 55 AGBM, Bd. I, 2 (Anm. 42) S. 627f. (Nr. 1007) (Orthographie und Grammatik wurden geglättet). 56 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 104 (Nr. 1202). <?page no="240"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 239 freier Nutzung der Wälder und Gewässer sind ebenfalls, aber nur wenige, wortgetreue Übernahmen entsprechender Artikel nachweisbar. Allerdings überwiegen eindeutig authentische Klagen, die letzten Endes auf dieses für Thüringen so akute Problem hinweisen. Zumindest einige Beispiele sollen das illustrieren. In den bereits erwähnten Arnstädter Artikeln heißt es: Es begehren ein Rat und die Gemeinde das ›Walpertholz‹, welches dem Propst mit seinem Vieh nicht allein gestattet sei, darein zu treiben, sondern es soll frei sein und jeder für seine Notdurft gebrauchen, dieweil der Propst mit seinem Vieh auch auf unsere Güter und die Allmende treibt. 57 Die Artikel von Rudolstadt: Auch das die Schäfer allenthalben unsere Flur im Sommer und Winter meiden und nicht hüten, noch treiben. 58 Die Gemeinde von Wümbach (bei Ilmenau) forderte: Auch die umliegenden Schäfereien, von denen wir merklichen Schaden empfangen, sollen abgestellt werden. 59 Der Rat der Kleinstadt Plaue mahnte an: Das bei uns eine Schäferei des Junkers Hans von Lichtenberg aufgekommen ist, die uns Armen hoch verderblich an Wiesen, Äckern und Vieh ist. Wir Armen begehren, dass die Schäferei abgetan wird. 60 Im ersten Artikel beschwerten sich die Bauern von Espenfeld: Wir haben von alters das Recht gehabt, dass kein Schäfer unseres und eines anderen Herrn in Dorf und Feld hüten darf, weil es klein ist. Wir begehren, dass es dabeibleibe; wollen auch keinen anderen Hirten. 61 Die Gemeinde des Nachbardorfes Gräfenroda forderte: Wir wollen und sollen unsere Wiesen und eigenes Feld und Viehweiden im Gehölz [für andere Schäfer] verbieten und offene Macht haben, wann uns [das Hüten]. [Und wollen] keinen Schäfer leiden auf unseren Gütern und Viehweiden. 62 Besonders instruktiv sind die Forderungen des Rates und der Gemeinde der Stadt Neustadt an der Orla. Sie wandten sich mit ihrer Supplik an den Kurfürsten Johann von Sachsen, wiesen ihn auf die ihm gehörende Amtsschäferei zu Moderwitz hin und monierten: Euer Fürstlicher Gnaden hat eine Schäferei im Dorfe Moderwitz neben dem Schloss Arnshaugk gelegen. Dieselbe Schäferei ist nun vermietet und der Mieter treibt nun solche Schafe in unsere Stadtgüter, welches vormals nicht gewesen ist. Und tut uns also hiermit merklich bedrängen auf unseren Feldern, was uns ganz schwer und schädlich ist. Bitten Euern Fürstlichen Gnaden auch hier ein gnädig zu sehen, dass solches ungebührliches Schaftreiben in und auf unseren Feldern abgeschafft werde. Der Mieter solcher Schäferei hat auch sonst etwas mehr Schafe als es zuvor gewesen waren […]. 63 57 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 102 (Nr. 1202). 58 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 111 (Nr. 1208 (a)). 59 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 114 (Nr. 1208 (d)). 60 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 116 (Nr. 1208 (f)). 61 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 118 (Nr. 1208 (h)). 62 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 119 (Nr. 1208 (i)). 63 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 145 (Nr. 1232). <?page no="241"?> U WE S CHIR MER 240 Die Aufständischen, die vor dem Kloster Ichtershausen lagerten, forderten in ihren Artikeln den Landesfürsten auf: Das uns armen Leuten von Euern Fürstlichen Gnaden Amtsregierung durch Schäfereien an unseren Erbgütern merkliche Schäden ergangen sind, sonderlich in Weingärten. [Bitten] ihren Gnaden dies abzustellen. 64 Die Gemeinde von Apolda zeigt in ihrem 2. Artikel an: Beschwert sich eine ganze Gemeinde der Schäferei halben, die aufgekommen ist vor kurzen Jahren bei Manns Gedenken. Darin eine Gemeinde einen großen Schaden hat. Solches gedenkt ein gemeiner Mann nicht förderhin zuzulassen. 65 Die Beispiele könnten weiter ausgeführt werden. Zu guter Letzt sei aber auch betont, dass in den Beschwerden von Gemeinden außerhalb des Thüringer Waldes - so in Frankenhausen (wo der Bauernkrieg am 15. Mai 1525 sein blutiges Ende fand) oder in Osterhausen (circa 35 Kilometer östlich von Frankenhausen in der Grafschaft Mansfeld gelegen) - nichts zur übermäßigen Schafhaltung des Adels in den von ihnen verfassten Artikeln verlautbart wird. Forderungen nach freier Nutzung der Gewässer, Weiden, Gehölze und Wildbahnen sind dort jedoch zu finden. 66 Osterhausen, das sei nicht nur nebenbei erwähnt, gehört zu den nordöstlichsten Ausläufern des Bauernkrieges im Reich insgesamt. Aus dieser Großgemeinde, in der drei Kirch- und Bauerngemeinden vereint waren, sind nicht zuletzt zwölf Artikel überliefert, die eindeutig selbstständig verfasst wurden, authentisch sind und die sich mit Vehemenz gegen den Grundherrn (und indirekt auch) gegen die Grafen von Mansfeld richteten. Vielleicht aus diesem Grund zogen Graf Albrecht von Mansfeld und Veit von Drachsdorf am 15. Mai 1525 überfallartig ins Dorf ein, wo sie mindestens 70 Leute erschlugen und große Teile des Dorfes niederbrannten. 67 Brandschatzung als Vergeltung sollte in Thüringen als eine Ausnahme angesehen werden. Typisch für den mitteldeutschen Raum waren Strafgeldzahlungen. Abermals mit Blick auf die Ressourcen (und vor allem auf die extensive Schafhaltung des Adels) sei abschließend auf einen Konflikt und dessen Lösung verwiesen. In der Rhön, im hessisch-fränkisch-thüringischen Dreiländereck, liegt die Gemeinde Ginolfs. Sie ist nicht zuletzt wegen des seit dem späten 18. Jahrhundert dort gezüchteten schwarzköpfigen Rhönschafes bekannt. Die dortigen Bauern hatten sich im Frühjahr 1525 der Erhebung angeschlossen. Insgesamt sind sie, zumindest hinsichtlich ausgebliebener Leibesstrafen, glimpflich davongekommen. Jedoch zwang sie ihr Grundherr Georg von Eberstein der Ältere, der in Gingolfs einen Herrensitz (burgseß) hatte, im Juni 1525 in einen Vertrag, in dem eine Reihe grundherrlicher Festlegungen zum Nachteil der Bauern festgezurrt worden sind. Unter anderen heißt es im 4. Artikel, dass unser Junker im Dorf eine freie Schäferei hat. Wir wollen daher ewiglich 64 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 183 (Nr. 1295). 65 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 183 (Nr. 1295). 66 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 168-170 (Nr. 1269, 1270). 67 AGBM, Bd. 2 (Anm. 41), S. 169, Anm. 1 (Nr. 1270). <?page no="242"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 241 keine Schafe mehr halten ohne unseres Junkers Wissen, weil wir uns der Empörung schuldig gemacht haben. Im 7. Paragraphen verpflichten sich die Bauern: Wollen wir ewiglich kein Wildbret, Hasen, Vögel, Rebhühner jagen, ohne unseres Junkers Erlaubnis. 68 Der vom Grundherrn diktierte Vertrag korrespondiert mit allgemeinen Beobachtungen aus Thüringen, wonach die Schafhaltung der Bauern nach 1525 zurückgedrängt wurde. 69 Allerdings sind auch hierbei regionale Unterschiede festzustellen, zumal die Rechtslage unsicher war. Beispielsweise wurde im Osten Thüringens (Ämter Eisenach und Ziegenrück) die bäuerliche Schafhaltung kaum eingeschränkt. Die Bürger von Neustadt an der Orla, die sich - wie oben dargelegt - mittels Supplikation 1525 an den Kurfürsten gewandt hatten, erreichten im Jahr 1528, dass sich der übergriffige Amtsschäfer der ratsstädtischen Weideordnung beugen musste. 70 Die Gemeinde Ollendorf (im Thüringer Becken gelegen) prozessierte zwischen 1518 und 1579 gegen den Landesfürsten bzw. dessen Amtsschäferei zu Weimar. In ihrem letzten Endes erfolgreichen Prozess wurde sie zwar von der Stadt Erfurt juristisch unterstützt, indessen verdeutlicht diese Auseinandersetzung, welche rechtlichen Möglichkeiten den bäuerlichen Gemeinden offenstanden. Es entschieden Gerichte und nicht die Willkür der Herren. Insofern überrascht es nicht, dass manche bäuerliche Gemeinde vor Gericht unterlag. 71 Im ernestinischen Thüringen setzte schließlich die große Landesordnung von 1556 mit ihrem Artikel 75 einen Schlusspunkt. Darin werden sämtliche land- und forstwirtschaftlichen Ressourcen und deren Nutzung und Schutz in größere, durchaus landespflegerische und umweltschonende Zusammenhänge gestellt. Die gemeine Landeswohlfahrt stand über dem Eigennutz - weitgehend unabhängig von Stand und Status. 72 Ähnliche Ordnungen erließen faktisch zeitgleich Kursachsen, Hessen, Württemberg, Brandenburg-Ansbach oder Niederösterreich, so dass man »bei einem Teil der frühneuzeitlichen Landesherren ein keimendes Umweltbzw. Landschaftsschutzbewusstsein für ihre Territorien vermuten könnte«. 73 Dem ist fast nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht die Tatsache, dass die Fürsten und ihre Landstände durch den seit Ausgang des 15. Jahrhunderts ungehemmten Zugriff auf die natürlichen Ressourcen gezwungen worden sind, schützend einzugreifen. In dieser Hinsicht kann man die während des Bauernkrieges virulent gewordenen Ressourcenkonflikte in eine Reihe von Auseinandersetzungen stellen. Sie wurden während des Spätmittelalters evident und verschärften sich zwischen circa 1470 und 1525. 68 AGBM, Bd. I, 2 (Anm. 42) S. 571 (Nr. 915). 69 A. B AUER , Schafhaltung und Wollproduktion (Anm. 8), S. 125. 70 A. B AUER , Schafhaltung und Wollproduktion (Anm. 8), S. 125, 131. 71 A. B AUER , Schafhaltung und Wollproduktion (Anm. 8), S. 130f. 72 G REGOR R ICHTER , Die ernestinischen Landesordnungen und ihre Vorläufer von 1446 und 1482 (Mitteldeutsche Forschungen 34), Köln u. a. 1964, S. 61-64, 98. 73 A. B AUER , Schafhaltung und Wollproduktion (Anm. 8), S. 133. <?page no="243"?> U WE S CHIR MER 242 Infolge des Bauernkrieges sind diese Probleme kaum oder gar nicht gelöst worden - und wenn doch, dann zu nicht geringen Teilen zuungunsten der bäuerlichen Gemeinden, wie in Gingolfs. Damit war jedoch das Ressourcenproblem per se nicht gelöst. Der Zugriff auf die Natur, namentlich auf die Wälder, ging unvermindert weiter, so dass sich der frühmoderne Territorialstaat spätestens nach der Jahrhundertmitte veranlasst sah, regulierend einzugreifen. Dass diese Gebote, Mandate oder Verbote nur bedingt halfen, die Probleme zu lösen, steht freilich auf einem anderen Blatt. 5. Zusammenfassung Vor, während und nach dem Bauernkrieg sind allerorten Ressourcenkonflikte in Thüringen und den angrenzenden mitteldeutschen Regionen nachweisbar. Sie werden in den frühen Landesordnungen und in den Landtagsakten vielfach angedeutet, in den Artikeln und Beschwerden der Bauern aus dem Jahr 1525 indirekt und direkt widergespiegelt und es sind juristische, aber auch handgreifliche Auseinandersetzungen von verschiedenartigen Akteuren belegt. Typisch für Thüringen waren Kontroversen zur Wald- und Holznutzung zum einen sowie der Kampf der Bauern um die Hut- und Triftgerechtigkeit zum anderen. Selbstverständlich besaßen die bäuerlichen Gemeinden ihre eigenen Gehölze, aus denen sie sich jedoch wohl zu keiner Zeit komplett und ausschließlich mit hochwertigem Bauholz versorgen konnten - von berühmten Ausnahmen wie den sog. sieben Freiwald-Dörfern einmal abgesehen. Durch die eingeschränkte Nutzung der Gemeindewälder waren die Bauern letzten Endes marktabhängig. Die fiskalische Nutzung der großen landesfürstlichen Forste kann durch die erhaltenen landesherrlichen Amtsrechnungen ausgezeichnet belegt werden. Diese Quellen dokumentieren nicht nur die soziale und regionale Herkunft der Käufer des Holzes, sie zeigen zugleich auch an, dass die Holzpreise seit Beginn des 16. Jahrhunderts, besonders seit circa 1520, angestiegen sind. Der Preisanstieg wiederum spiegelt die kräftige gewerbliche Entwicklung wider, die nicht zuletzt durch die vielen Kupfer- und Eisenhütten, Salinen, Glashütten und das städtische Handwerk getragen wurde. Der Ruf der Bauern nach einer freien Waldnutzung war im Frühjahr 1525 überall hörbar. Allerdings sollte beachtet werden, dass das Forstregal ein traditionelles Recht der Fürsten und Grafen war, aus dem letztlich ein staatliches Hoheitsrecht erwuchs. Insofern muss hinsichtlich der bäuerlichen Forderungen nach freiem Waldzugang eine kritische Zurückhaltung angemahnt werden. Völlig anders sah dies bei der Hut- und Triftgerechtigkeit aus. Die Nutzung der Brache im System der Dreifelderwirtschaft war nicht detailliert geregelt. Es betraf ihre Besömmerung (und damit eine Verminderung der Hutungsfläche), teilweise die Anzahl der von einzelnen Bauern zur Hutung getriebenen Schafe und vor allem die <?page no="244"?> R ES S O UR C ENK ONF LIK TE IN T HÜRINGEN 243 großen Schafherden der Grundherren, deren Schafe immer stärker mit dem bäuerlichen Vieh konkurrierten. Aus diesem offenen Verfassungszustand wurde spätestens seit der Mitte des 15. Jahrhunderts ein Dauerkonflikt, der im Frühjahr 1525 in faktisch jeder Gemeinde auf die Agenda gesetzt wurde. Eindrücklich belegen dies die Beschwerden thüringischer Städte und Dörfer. Hinsichtlich möglicher Ursachen des Aufstandes des gemeinen Mannes muss man selbstverständlich auf die Ressourcenkonflikte verweisen - allerdings trugen in Thüringen noch eine Vielzahl anderer Faktoren zur Entfachung des gewaltsamen Protestes bei. 74 Mit Blick auf die Ressourcenkonflikte bleibt abschließend festzustellen, dass sie weder vor 1525, gleich gar nicht während des Bauernkrieges, aber auch nicht nach der Revolte gelöst worden sind. Die Auseinandersetzungen auf den Landtagen sowie vor allem die Landesordnungen und eine Vielzahl spezieller Mandate nach 1530, besonders jedoch nach der Jahrhundertmitte, belegen eindrücklich, dass die Wald- und Holznutzung und der Kampf um die Hut- und Triftgerechtigkeit ein offenes Problem, eine schwärende Wunde, geblieben sind. 74 U WE S CHIRMER , Die Ursachen des Bauernkriegs in Thüringen. Eine sozial-, verfassungs- und reformationsgeschichtliche Spurensuche, in: W ERNER G REILING / T HOMAS T. M ÜLLER u. a. (Hg.), Reformation und Bauernkrieg (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 13), Köln 2018, S. 21-70; D ERS ., Zu den Zusammenhängen von Herrschaftsverdichtung, obrigkeitlicher Reglementierung und Renitenz. Beispiele aus den kursächsischen Ämtern Colditz, Gotha, Grimma und Wittenberg (1485-1547), in: M ARION D AMMASCHKE / T HOMAS T. M ÜLLER (Hg.), Thomas Müntzer im Blick. FS für Günter Vogler zum 90. Geburtstag (Veröff. Der Thomas-Müntzer-Gesellschaft e.V. 29), Mühlhausen/ Thür. 2023, S. 153-177. <?page no="246"?> III. Das Ringen um Ressourcen in Oberschwaben <?page no="248"?> 247 C HRISTOPH E NGELHARD Eine gesprächsbereite Herrschaft. Die Reichsstadt Memmingen und ihre Bauern vor und während des Bauernaufstandes 1525 Anfang des Jahres 1525 spitzten sich die Konflikte zwischen Herren und Untertanen derart zu, dass der Schwäbische Bund am 11. Februar seine Mitglieder alarmierte. Bundeshauptmann Ulrich Artzt schrieb an die Städte des Bundes: Die vielen Empörungen des gemeinen Mannes in der Bundsverwandten Obrigkeiten haben den Bundstag nöthig gemacht, denn wo vor zwei oder drei Tagen die Bauern zwei oder dreihundert bei einander waren, sind sie in kurzen Tagen drei oder viertausend. Wenn es so weitergeht, was Gott verhüten möge, dann wird es alle hohe und niedere Obrigkeit betreffen. Deshalb hat der Bund sich entschlossen, da nach Gestalt der Sachen eine Stund zu lang ist, Gegenwehr und Strafe vorzunehmen. Deshalb will er das erste Drittel der Hilfe gebrauchen und von jedem Bundesstand verlangen, dass er sich mit der zweiten Hilfe bereitmache. Da wenig gutes Fussvolk vorhanden ist, so sollen womöglich Reisige geschickt werden. Ferner wird jedem Stand mitgetheilt, wie viel er Mann zu Ross und Fuss zu stellen hat, ebenso die Stellungszeit und der Stellungsort […]. 1 Die Reichsstadt Memmingen war vier Tage später bereit, Menschen zu Ross und zu Fuß bereitzustellen - unter der Bedingung, dass die nyemant wider recht thuen und die knecht an end vnd ort, da es nit wider vnser gemaind ist, geprauche, dan wir besorgten sonst in vnser stat die knecht nit uffzupringen. 2 In Memmingen nahm man die aufkeimende Krisensituation aber nicht nur auf der Ebene des Schwäbischen Bundes wahr, sondern auch in der unmittelbaren Umgebung. Am 13. Februar 1525 beriet man im Rat über Beschwerden von Tannheimer 1 W ILHELM V OGT , Die Correspondenz des schwäbischen Bundeshauptmanns Ulrich Artzt von Augsburg aus den Jahren 1524-1527. Ein Beitrag zur Geschichte des schwäbischen Bundes und des Bauernkriegs, in: ZHVS 6 (1879), S. 281-404, 7 (1880) S. 233-380, 9 (1882), S. 1-62, 10 (1883), S. 1-298, hier 6, S. 302 (Schreiben des Bundeshauptmanns Artzt an die oberen Städte, 11.2.1525). 2 StadtA Memmingen, A RP 15.2.1525; vgl. A RP 24.2.1525 bezüglich der Bewilligung von 70 Gulden zur Anwerbung von Landsknechten unter der Bedingung, diese Summe (nur) gegen das Herzogtum Württemberg, aber nicht gegen die Bauern zu geprauchen; vgl. F RANZ L UDWIG B AUMANN (Hg.), Akten zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges aus Oberschwaben, Freiburg im Breisgau 1877, S. 39, Nr. 58b. <?page no="249"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 248 Bauern des Klosters Ochsenhausen. Der dortige Abt hätte in allen beschwerungen enderung vnd beßerung angeboten. Doch befürchteten die Bauern, dass das Kloster diejenigen Dörfer - wo man nicht willens sei, anhaim zu bleiben - zur Wiederherstellung von rw vnd friden mit Gewalt vberziehen werde. Deshalb ermahnte der Rat am 15. Februar die Egelseer Bauern des Klosters Ochsenhausen, die in unmittelbarer Nähe der erst 1510/ 11 errichteten reichsstädtischen Illerbrücke lebten und von denen bereits drei zu den Aufständischen gezogen seien, (wohl vergeblich) dahain zu bleiben. 3 Begrüßt wurde gleichzeitig das Ansinnen der Bauern des Klosters Rot, dem dortigen Abt ihre Beschwernisse anzuzeigen, die sie wohl erst tags zuvor dem Schwäbischen Bund übermittelt hatten. Laut Ulrich Artzt forderten sie 1. eine Abschaffung der Leibeigenschaft, 2. die Umwandlung der Leiheform in Erbrecht, 3. die Belassung des Großzehnten, aber 4. die Abschaffung des Kleinzehnten, 5. die Beendigung der Frondienste, 6. einige Gültnachlässe, 7. den Zugang zu fließenden Gewässern, 8. eine Nutzung des Holzes zur Notdurft, 9. die Umwandlung des Reisens in eine Geldabgabe, 10. die Etablierung örtlicher Gerichtsstände, 11. die Abschaffung des Umgeldes für Wirte, 12. die Abschaffung des Ehrschatzes, 13. ein Durchführen von Gerichtsverfahren statt willkürlicher Inhaftierungen sowie 14. eine Verpflegung der Dorfrichter mit Essen. Aus Predigten von Geistlichen und Flugschriften von Gelehrten hätten die Bauern bereits eine lange Zeit vernommen, womit die armen Leute allenthalben beschwert seien. Jene sagen: Gott der Herr hab Gesetz gemacht und wie er sie gemacht hab, das seien die rechten Gesetz; sie ziehen sich auf das heilig Evangelium, dass ein Mensch nicht über das ander sei. 4 Auch die Bauern des Klosters Rot ermahnte der Memminger Rat, sich nicht (mit den Bauern des Baltringer Haufens) zu verbünden. 5 Am 17. Februar 1525 wurde im Memminger Rat auch der schwelende Konflikt zwischen dem Abt zu Kempten und den Bauern von Legau besprochen: Dieweil sy [… vom Fürstabt] das gotlich vnd recht [sic] begern vnd das bißher nit bekomen mugen, so sei darumb zwischen inen [und dem Fürstabt] also ain emperung. 6 Am gleichen Tag beschloss Memmingen mit der Benediktinerabtei Ottobeuren Kontakt aufzunehmen, da Sontheimer und Attenhauser Bauern das Schwören, also die Huldigung, verweigerten. 7 3 StadtA Memmingen, A RP 15.2.1525; vgl. R OLF K IESSLING , Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (Städteforschung A 29), Köln-Wien 1989, S. 776-779. 4 W. V OGT , Artzt (Anm. 1), S. 305-307. 5 StadtA Memmingen, A RP 15.2.1525; vgl. F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 35-37, Nr. 58b. 6 StadtA Memmingen, A RP 17.2.1525; vgl. F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 37f., Nr. 58b. 7 StadtA Memmingen, A RP 16.9.1524 und 26.10.1524; vgl. F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 35, Nr. 58b. Am 9.1.1525 wurden zu Obergünzburg 19 Artikel der fürststiftischen Bauern vom Kemptener Abt beantwortet; F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 51-75, ausführliches Protokoll der Tagung S. 75-84. <?page no="250"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 249 Am 1. März wurde in Memmingen bekannt, dass sich die Bauern der Abtei Ottobeuren mehrere Tage lang unter der Linde versammelt hätten, um der andern bawrschaft maynung zu vernemen - zum Unwillen des Abtes, der nur dieselben Zugeständnisse gewähren wollte wie bei fursten, herrn, stetten oder prelaten. 8 Auch von benachbarten Adeligen (Schwendi sowie Besserer in Pleß) kam die Nachricht, die Bauern seien aufrurig bzw. hätten geschworen, nit den andern bawrn anzulygen vnd ainander bei iren helfen zu handhaben. Der Rat beschloss: Ist erraten, man wel zuheren, was darauß werden wel. 9 Die Reichsstadt übernahm - auch aus (wirtschaftlichem) Eigeninteresse - die Rolle einer Vermittlerin, die ihr als privilegierter Sonderrechtsbezirk innerhalb der Ständegesellschaft zukam. 10 Gleichzeitig galt es, die unterschiedlichen Interessen ihrer Bürger und Ausbürger wahrzunehmen. Alle genannten Klöster betrieben Wirtschaftshöfe in der Stadt und vertrauten, ausgestattet mit Bürgerrechten, in Notzeiten auf Schutz. 11 Das Aufbegehren der Bauern wurde ganz offensichtlich als eine derartige Notsituation interpretiert. Nach einem kurzen Blick auf vorhandene Konflikte innerhalb der reichsstädtischen Bürgerschaft und auf die Lösungsversuche seitens des Rates soll im Folgenden das Agieren von Heilig-Geist-Spital, Bürgern und Reichsstadt in den Jahren vor 1525 skizziert werden, um hieraus einige Ursachen für das bäuerliche Aufbegehren im Memminger Einflussbereich abzuleiten. Schließlich gilt es zu klären, warum die Reichsstadt als Ort von Beratungen und Verhandlungen zu einem besonderen, über weite Strecken zunächst gewaltfreien Schauplatz des Bauernaufstandes werden konnte. 12 8 StadtA Memmingen, A RP 1.3.1525; vgl. F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 39, Nr. 58b. 9 StadtA Memmingen, A RP 13.2.1525; vgl. F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 35, Nr. 58b. 10 StA Augsburg, MüB RU Memmingen 3: Stadtrechtsprivileg von 1286; StadtA Memmingen, A 258/ 1: Abschriften der königlichen Privilegien, vor dem Bauernaufstand zuletzt 1521 durch Kaiser Karl V.; und 266/ 2, fol. 73/ 74: Denkbuch mit Abschriften der Privilegien und Huldigungen 1376 und 1401. 11 Zum Pfahlbürgerrecht siehe P ETER B LICKLE , Pfalbürger schwäbischer Reichsstädte, in: J OHANNES B URKHARDT / T HOMAS M. S AFLEY / S ABINE U LLMANN (Hg.), Geschichte in Räumen. FS für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 51-72, hier 71. 12 Vgl. Skizze der Handlungsräume Bürger-/ Einwohnerschaft, Nachbarschaft, Mitgliedschaft (im Schwäbischen Bund), Landschaft und Religionsgemeinschaft bei C HRISTOPH E NGELHARD , Memmingen im Frühjahr 1525. Eine oberschwäbische Reichsstadt im Gespräch mit Bürgern und Bauern, Städten und Klöstern, in: Reichsstadt im Bauernkrieg (Studien zur Reichsstadtgeschichte 12, hg. vom Mühlhäuser Arbeitskreis für Reichsstadtgeschichte), erscheint Anfang 2025. <?page no="251"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 250 1. Konflikte in der Stadtgesellschaft Neben den in der ›Großzunft‹ zusammengeschlossenen alten Geschlechtern hatten seit 1347 auch die elf Handwerkerzünfte mit ihren Zunftmeistern Anteil am Stadtregiment. Die zwölf Zunftmeister bildeten zusammen mit zwölf weiteren hinzugewählten Ratsmitgliedern die Grundlage des Stadtregiments. 1471 beklagten sich jedoch Vertreter der Großzunft über mangelnde Professionalität von Bürgermeister, Räten und Gesandten, die nicht mehr nach alt herkhommen vorwiegend aus der Großzunft rekrutiert würden, wie auch über zu starken Einfluss und conspiration der Zunftmeister, zum Schaden der Reichsstadt und zu Ungunsten der erbaren Geschlechter. Zu überdenken sei das hergebrachte Verfahren zur Wahl dieser Zunftmeister durch jeweils drei Personen aus jeder Zunft. Nötig seien vielmehr direkt gewählte Räte und solche, die nicht in freindtschafft miteinander verbunden seien. Bedenklich sei, dass die Handwerker-Zünfte ohne Wissen von Bürgermeister und Rat in Zunftangelegenheiten zu Gericht säßen, während die Großzunft keine Gerichtshoheit habe. Unzumutbar sei auch, dass Neubürger ohne Handwerk der Großzunft zugeordnet würden und damit berechtigt seien, an aller gemainschafft mit Täntzen vnd Mälern teilzunehmen, dardurch der Geschlechterische alt Herkhommen benommen wurde. Zu beklagen sei außerdem, dass Mitglieder aus Geschlechterfamilien wegen schlechter Schimpffwort der Stadt verwiesen würden, während gröbliche Zuredte von Bürgermeister und Räten ungestraft bleibe. Und zuletzt: Entgegen der Goldenen Bulle würden Leibeigene aus adeligen und klösterlichen Herrschaften zu Stadtbürgern gemacht. 13 Der Kaiser bestätigte 1473 zwar weite Teile der Zunftverfassung und die darin gefundene Balance zwischen den alten Geschlechtern und den Handwerkerzünften, doch vertieften »wirtschaftliche Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation […] die Gräben zwischen den Reichen und den Armen«. 14 Innerhalb der Stadtmauern sind Symptome einer Verschärfung sozialer Gegensätze zwischen den Kaufleuten als vermeintlichen Profiteuren und den Handwerkern (insbesondere den Webern) mit ihren Kaufkraftverlusten erkennbar. 15 Ab 1516 griff der Prediger Christoph Schappeler, Inhaber der Vöhlinschen Prädikaturstiftung in St. Martin, mit sozialkritischen Äußerungen gesellschaftliche Spannungen auf: Der prediger zu Sant Martin hat - notierte Stadtschreiber Ludwig Vogelmann 1521 im Ratsprotokoll - vor 14 tagen ain freventliche Predig gethan, […] also man 13 StadtA Memmingen, Wintergerst-Löhlin-Greiter-Chronik, fol. 145v-148. 14 P ETER B LICKLE , Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, Bd. 1: Oberdeutschland, München 2000, S. 25. 15 P EER F RIESS , Die Außenpolitik der Reichsstadt Memmingen in der Reformationszeit (1517-1555) (Memminger Forschungen 4), Memmingen 1993, S. 18-20. Chroniken berichten in den folgenden Jahren von Getreidemangel und Weberunruhen. 1501 fehlte es an Getreide, so dass Ludwig Conrater ausgeschickt wurde, da man es sonst nirgent umbs gelt bekhommen; vgl. StadtA Memmingen, Wintergerst-Löhlin-Greiter-Chronik, fol. 150r-150v. <?page no="252"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 251 straf die Reichen nit wie die Armen, so sie aus der Burgerzunft seyn, mit dem Anhang [Zusatz], er wölls der Gemaind befelhen. […] Das möcht sich zu ainer Aufrur ziehen, davon ist vil und mancherley geredt und erfunden, das er uns die Warheit gesagt hat, dann wir strafen nit. 16 In seiner Kritik am Stadtregiment könnte Christoph Schappeler sich auch auf den Ratserlass Gepot vnd Verpot bezogen haben, verabschiedet erstmals 1517 und überarbeitet am Montag nach St. Jakobstag 1520. 17 Abb. 1: Gepot vnd Verpot der Reichsstadt Memmingen 1520, Druck von Albrecht Kunne. Mit ihrer Verkündung konkretisierten Bürgermeister und Rat die zuletzt 1489 überarbeitete Ordnung vnd Satzung der Stadt. 18 Die Gepot vnd Verpot behandelten gotteslästerliches Fluchen und Schwören (inkl. Schmähung der Gottesmutter Maria), das Zutrincken (also die Verführung zum Alkoholgenuss), das Frühstücken in Wirtshäusern vor und während der Messe an Sonn- und Feiertagen, nächtliche Wirtshausbesuche, das Nachzechen in Zunft- und Wirtshäusern, nächtliches Lärmen oder 16 StadtA Memmingen, A RP vom 21.8.1521, zitiert nach P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 15), S. 42. Seit 1513 genoss der Geistliche aus St. Gallen die Pfründe einer Prädikaturstiftung, die die wohlhabende Kaufmannsfamilie Vöhlin 1479 an Memmingens Hauptkirche St. Martin im Einvernehmen mit Pfarrer (Antoniterpräzeptor) und Reichsstadt gegründet hatte. Anders als die zahlreichen Kapläne war er nicht nur verpflichtet, Messe zu lesen und am gemeinsamen Chorgebet teilzunehmen, sondern regelmäßig in deutscher Sprache zu predigen; vgl. F RIEDRICH D OBEL , Memmingen im Reformationszeitalter nach handschriftlichen und gleichzeitigen Quellen, Bd. 1: Christoph Schappeler, Memmingen 1877, S. 9-13. 17 StadtA Memmingen, historische Buchbestände 2° 14,15: Ettlich Gepot vnd Verpot, gedruckt bei Albrecht Kunne in Memmingen vollständiger Einblattdruck von 1517, überarbeitet und erweitert 1520, beschnittenener Einblattdruck; StA Augsburg, RL Memmingen MüB 17: vollständiger Einblattdruck von 1520; vgl. zuvor einige Artikel im 1396 angelegten Denkbuch der Reichsstadt; StadtA Memmingen, A 266/ 2: u. a. allgemeine Friedenspflicht, bei Gegenwehr von Delinquenten Auslieferung nach Memmingen, Verbot des Harnisch-Tragens beim Wein, beim Tanzen und in den Gungelstuben, Verbot des Harnisch-Verkaufs außer mit Erlaubnis durch Hauptleute und Vierer, Verbot des Karten- und Kegelspiels. 18 StadtA Memmingen, Wintergerst-Löhlin-Greiter-Chronik, fol. 148r-150r; vgl. StA Augsburg, RL Memmingen MüB 17. <?page no="253"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 252 Hofieren nach 9 Uhr in den Gassen oder auch nur den nächtlichen Aufenthalt im Freien ohne Licht, das Trommeln und Lärmen nach dem Ave Maria und ohnehin während der Gottesdienste in den Kirchen, Tanz und Spiel während des Wetterläutens und schließlich Verstöße gegen den Frieden, also gegen Ruhe und Ordnung in Stadt und Land. Zur Überwachung der Vorschriften und Mitteilung von Übertretungen waren seit 1517 haimliche kontschafter berufen, honoriert mit der Hälfte der eingenommenen Bußgelder. Zur Sicherung des Stadt- und Landfriedens wurden die Gepott vnd Verpott 1520 überarbeitet und verschärft, da man bisher im fridpruch vnd andern frefeln zuvil gnad vnd miltigkait mitgetailt habe. Klar gab man nun zu erkennen, dass man bei Landfriedensbrüchen niemands mer zuverschonen, inen daran nichtz mer nachzulassen, auch weder zil noch arbeit daran zunemen, es sol auch niemands mer komen vnd fürbit erlangen oder pringen, dan ain Rat will sy nicht mer erhörn. Fortan waren die Zunftmeister aufgefordert, zwei Personen zu benennen. Die Vorschriften für die Bürgerschaft wurden nun auch auf alle Gebiete übertragen, wo Spital oder Bürger gericht, zwing vnd penn innehätten, aber offenbar so willkürlich gehandhabt, dass es Schappeler als Ungerechtigkeit anprangern konnte. Vor dem Hintergrund immer beschwerlicher werdender Zeitläufte mit krieg , kranckhait, thüri vnd in vil annder weg ie lennger ie herter vnd beschwa(e)rlicher ertzaigen umschrieb die Reichsstadt ihre Ordnungskompetenzen, also ains Raths Vorbehallten, wie es in den Dorfgerichtsordnungen heißt, auch auf dem Land. Sie verband dies mit dem Hinweis, dass nach Bedarf eine Minderung, Merung, Ennderung oder Verkherung der Vorschriften erfolgen oder newe Gebott vnnd Verbott mehr zuosetzen vnnd zuomachen erforderlich sein können. 19 Kurz nach seiner Rückkehr von Zwinglis zweiter Zürcher Disputation 20 tat Christoph Schappeler am Sonntag nach Martini [15. Nov.] 1523 […] die erste Predigt 19 Vgl. Dorfordnungen im Einflussbereich der Reichsstadt Memmingen; StadtA Memmingen, A 70/ 1 (allgemein), A 89/ 2 (Frickenhausen), A 92/ 1 (Memmingerberg) und D Bd. I/ 33 (Woringen). 20 Zur Reformationsgeschichte Memmingens siehe v. a. P ETER B LICKLE , Memmingen - Ein Zentrum der Reformation, in: J OACHIM J AHN / H ANS -W OLFGANG B AYER in Verb. mit U LI B RAUN , Die Geschichte der Stadt Memmingen. Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, Stuttgart 1997, S. 351-418; P EER F RIESS , Die Zeit der Ratsreformation in Memmingen, in: Ebd., S. 419-456; B ARBARA K ROEMER , Die Einführung der Reformation in Memmingen. Über die Bedeutung ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren, in: Memminger Geschichtsblätter 1980, S. 1-226; vgl. auch J OHANN G EORG S CHELHORN , Kurtze Reformations-Historie der Kayserlichen Freyen Reichs-Stadt Memmingen aus bewährten Urkunden und andern glaubwürdigen Nachrichten verfasset, und bey Veranlassung des andern Jubel-Festes der Augspurgischen Confession an das Licht gestellt, Memmingen 1730; M ARTIN S ONTHEIMER , Die Geistlichkeit des Kapitels Ottobeuren. Von dessen Ursprung bis zur Säkularisation, 5 Bde., Memmingen 1912-1920 (insbes. Bd. 1 zur Prädikaturstiftung St. Martin/ Christoph Schappeler, S. 333-452); R UDOLF G AMPER , Christoph Schappeler (in Vorb.). <?page no="254"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 253 Lutherisch. 21 Unter Berufung auf das Göttliche Wort hinterfragte der Memminger Prediger nun kirchliche Traditionen, etwa vom Augsburger Bischof angeordnete Prozessionen und Dreifaltigkeitsmessen, sowie den Zehnten, der zwar rechtens sei, aber nicht aus göttlichem, sondern aus menschlichem Recht und daher auch nur so lange, als die weltliche Obrigkeit, der Magistrat, ihn zu zahlen gebiete. 22 In den Augen von Stadtschreiber Ludwig Vogelmann drohte eine Spaltung der gesamten Bürgerschaft - quer durch alle sozialen Schichten: ainer ist lutterisch, der ander nit; sorg wol, es werd ain partheyisch Ding und zu aim Unwillen raichen. 23 Die Mehrheit im Rat stärkte dem Prediger Christoph Schappeler im Konflikt mit dem Augsburger Bischof den Rücken. 24 Vogelmann konnte und wollte diese (Reformations-)Politik des Rates nicht mehr mittragen und legte im April 1524 sein Amt nieder. 25 Die Kritik Schappelers zeigte bei den kurz darauf einsetzenden Zehntverweigerungen von Bauern und Bürgern Wirkung. Doch scheint es den reichsstädtischen Spitalpflegern gelungen zu sein, die Bauern größtenteils zur Abgabe des Zehnten anzuhalten, der mit vielleicht einem Drittel das Heilig-Geist-Spital wesentlich finanzierte. ›Nur‹ für die Dörfer Steinheim und Dickenreishausen ist im Zehntbüchlein notiert, dass etliche Bauern keinen Zehnten gegeben hätten. 26 21 StadtA Memmingen, handschr. Chronik des Galle Greiter, hier zitiert nach M. S ONTHEI - MER , Geistlichkeit (Anm. 20), Bd. 1, S. 367; vgl. F. D OBEL , Reformationszeitalter (Anm. 16), S. 36; kritische Würdigung der Predigten Schappelers (aus altgläubiger/ katholischer Sicht) bei E UGEN R OHLING , Die Reichsstadt Memmingen in der Zeit der evangelischen Volksbewegung, München 1864, S. 116, 124; sowie M AURUS F EYERABEND , Des ehemaligen Reichsstiftes Ottenbeuren, Benediktiner Ordens in Schwaben sämmtliche Jahrbücher, Bd. 2, Ottobeuren 1814, S. 766, und Bd. 3, S. 28 (Zeuge: P. Nikolaus von Ellenbog OSB). 22 B. K ROEMER , Reformation (Anm. 20), S. 75, mit Verweis auf F RIEDRICH B RAUN , Eine Memminger Kontroverspredigt 1524, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 1 (1926), S. 146. 23 StadtA Memmingen, A RP 25.9.1523; zitiert nach P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 15), S. 44. 24 StadtA Memmingen, A RP 20.1.1524. Der Augsburger Bischof raisonierte: Er [Schappeler] hette im gleich als mehr ain Huren, das wäre im alain Schad, aber sein Predig wäre fil Menschen Schad; vgl. B. K ROEMER , Reformation (Anm. 20), S. 83-85; Gutachten des Augsburger Stadtschreibers Conrad Peutinger sowie Notiz von Hans Keller und Bernhard Strigel über ihr Gespräch beim Bischof von Augsburg in StadtA Memmingen, A 341/ 5. 25 Vgl. P EER F RIESS , Die Causa Vogelmann. Vom lokalen Konflikt zum reichspolitischen Problemfall in der Reformationszeit, in: Memminger Geschichtsblätter 2015/ 2016, S. 79. 26 StadtA Memmingen, D 21/ 16; vgl. J OHANNES L AMBACHER , Das Spital der Reichsstadt Memmingen. Geschichte einer Fürsorgeanstalt, eines Herrschaftsträgers und wirtschaftlichen Großbetriebes und dessen Beitrag zur Entwicklung von Stadt und Umland (Memminger Forschungen 1), Memmingen 1991, S. 69-70, vgl. dazu ausführlich B. K ROEMER , Reformation (Anm. 20), S. 93-101. <?page no="255"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 254 In der Stadt wurden Zehntverweigerer, vermutlich überwiegend Ackerbürger, unter Androhung hoher Strafen vorgeladen bzw. gefangengenommen. 27 Die Festnahme des Bäckers Hans Heltzlin brachte die Stadt an den Rand eines Aufstandes der Gemeinde, in dessen Verlauf eine Disputation gefordert wurde - wie schon offt begert vnd sich vielmals erpotten. 28 Der Rat ließ Heltzlin frei und lud, als der innerstädtische Konflikt um die Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt zu Weihnachten 1524 in der Kirche zu Unserer Lieben Frau eskalierte, zu einem Religionsgespräch ein - auch als Zeichen gegenüber dem Kaiser, dass man schlüsl gwallt [habe], Regierung vnd verwalltung ernst nehme. Vom 2. Januar bis 6. Januar 1525 sprachen sämtliche Geistliche und Doctores der Stadt sowie einige Gäste (darunter der Konstanzer Generalvikar Johannes Fabri) sowie zwölf gewählte Stadtvertreter über sieben Thesen Christoph Schappelers zu Ohrenbeichte, Marien- und Heiligenverehrung, Zehnt, Abendmahl, Fegefeuer und Priestertum aller Gläubigen. Da die Geistlichen mit Hinweis auf die Kompetenzen des Bischofs von Augsburg bzw. denen eines Konzils schwiegen, kam es jedoch zu keinem konstruktiven Meinungsaustausch. 29 2. Herrschaftsintensivierung und Bauernbeschwerden im Memminger Einflussbereich Vor dem Hintergrund zunehmender Konflikte innerhalb von Einwohner- und Bürgerschaft sowie zwischen Herren und ihren Bauern im Umland dürfte es für den 27 Für Rolf Kießling rekrutierte sich die innerstädtische Opposition vorwiegend aus ärmeren Bevölkerungsschichten, wenngleich sich religiöse und soziale Motive vermischten; vgl. R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 3), S. 776f. Peter Blickle sah in der »Opposition der Gemeinde«, in der seines Erachtens »verhaltenen Hinwendung des Rates zur neuen Lehre« und in der »Überzeugungskraft Schappelers« wesentliche Ursachen für die weitere Reformation in Memmingen; vgl. P ETER B LICKLE . Die Revolution von 1525, 4. durchgesehene und bibliografisch erweiterte Aufl., München 2004, S. 162. 28 StadtA Memmingen, A 341/ 5 (ausführlicher Bericht Hernacht volgt alle Handlung wie sich die zwischen Bürgermeister und Rath und gemain irs Burgers hansen Heltzlins beck auch irs pfarrers halb den zehenden und seins Heltzlins vngehorsam betreffend […] begeben und verloffen hat); vgl. P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 15), S. 47; P. B LICKLE , Revolution (Anm. 27), S. 168. 29 T HOMAS P FUNDNER (Bearb.), Das Memminger und Kaufbeurer Religionsgespräch von 1525. Eine Quellenveröffentlichung mit einem Überblick, in: Memminger Geschichtsblätter 1991/ 92, S. 23-65, hier 33; C HRISTOPH E NGELHARD zur Disputation, in: Der Spiegelschwab. Heimatbeilage der Memminger Zeitung 2017, S. 1, 3, 5, 7; vgl. Kirchenarchiv Kaufbeuren 102/ 7, Beilage A; siehe auch P. B LICKLE , Zentrum (Anm. 20), S. 379/ 381, J ULIUS M IEDEL , Zur Memminger Reformationsgeschichte, in: Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 1 (1895), S. 172f. <?page no="256"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 255 Memminger Rat keine allzu große Überraschung gewesen sein, dass sich Mitte Februar 1525 auch Bauern aus seinem eigenen Einflussbereich an ihn wandten. 30 Dieser Bereich lag zwischen Kloster- und Adels-Herrschaften, war durchzogen und überlagert von Gebieten unter der Lehensherrschaft des Herzogtums Bayern im Osten bzw. der Landvogtei Schwaben im Norden und Westen, die die Hochgerichtsbarkeit ausübte, und bestand vor allem aus: a) Besitzungen des Heilig-Geist-Spitals, das seit 1367 von reichsstädtischen Pflegern verwaltet wurde und seit dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts verstärkt als Grundherr über 150 Bauern agierte, 31 b) teils umfangreichen Besitzungen von Bürgern, die Einzelhöfe erwarben, bisweilen sogar zu Ortsherren wurden, 32 und c) Dörfern, die die Reichsstadt unmittelbar erwarb und verwaltete. Die Grund- und Gerichtsherrschaft einschließlich des Besitzes von Kirchenrechten waren im Raum Memmingen sehr heterogen. Sie sollen jeweils mit den bekannten Beschwerden in Bezug gesetzt werden. Aus den bereits bekannten Ratsprotokollen im Stadtarchiv Memmingen sowie einem neu entdeckten kleinen Notizzettel aus der reichsstädtischen Korrespondenz im Staatsarchiv Augsburg lassen sich die bäuerliche Forderungen aus einzelnen Dörfern herauslesen. Seit 1448 besaß das Memminger Spital in Steinheim die Ortsherrschaft inkl. Gericht, Zwing und Bann (Gebots-/ Verbotsgewalt), dazu die Ehaftrechte, Kirchensatz und Lehenschaft der Kirche, Widdum und Vogtrecht sowie einen Großteil der Höfe, nämlich elf ganze, sieben halbe und 16 Sölden. Es gab zwei vom Spital beaufsichtigte Wälder: einen herrschaftlichen Bannwald und einen dörflichen Wald, dessen Nutzung 1462 auf Bauern nach Größe des Hofes aufgeteilt wurde. 33 Am 15. Februar 1525 wurden im Rat Forderungen aus der Steinheimer Bauernschaft besprochen: Die von Stainhaim haben begert, mit irem Pfarrer zu verschaffen, inen das Wort Gotz wie hinnen zu predigen, und das er in das Sacrament in baiderlai Gestalt reichen wel, notierte der Stadtschreiber ins Ratsprotokoll. Auch bräuchten sie ain pletzen holtz […] wie von alter herkomen ist. Falls man ihnen nicht entgegenkomme, so wellen sy der tag ains komen vnd mit inen zu morgen essen. 34 Die erste Forderung war in der Region nicht ungewöhnlich, auch wenn Peter Blickle zur Erkenntnis kam, dass nur 5 % der bäuerlichen Forderungen an den 30 StadtA Memmingen, A RP vom 15./ 22.2.1525. 31 Die nachfolgenden Angaben zur Grund- und Gerichtsherrschaft basieren vor allem auf P ETER B LICKLE , Memmingen (HAB, Teil Schwaben 4), München 1967; J. L AMBACHER , Spital (Anm. 26); R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 3). 32 R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 3), laut Reichssteuerliste von 1519/ 20 v. a. Besserer, Funk, Keller, Sättelin, Stebenhaber, Vöhlin und Zwicker. 33 StadtA Memmingen, D Bd. I/ 263, fol. 5 (1466), fol. 73 (1490) und fol. 153 (1498). 34 StadtA Memmingen, A RP vom 15.2.1525. <?page no="257"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 256 Schwäbischen Bund mit dem göttlichen Recht begründet wurden. 35 Der Rat ließ die Steinheimer Bauern wissen, dass man den Pfaffen auf dem Land nit wie in der stat beschitzen könne. Aber man berate der Sachen ain Außerung zu geben. Die zweite Forderung der Steinheimer Bauern nach einem Waldstück wurde abschlägig beantwortet - mit folgender Begründung: denn solt man inen ain platz eingeben, so mocht man ain fichwaid daraus machen, dardurch das holtz gemindert wurd vnd nit mer wachsen mecht. Das Spital solle jedoch der Dorfgemeinde erlauben, das holtz allenthalben im wald, das nit nutz sei, zu lesen und zu verkaufen. Die Androhung der Steinheimer hinsichtlich eines gemeinsamen Frühstücks kam beim Rat nicht gut an. Der Rat verlangte nach den Namen derjenigen, die dies angekündigt hätten, doch zeigten sich die Bauern untereinander solidarisch und willigten ein, das zu tun, was sy schuldig seien, so wel ain Rat als ir Her zu inen setzen. 36 Einem undatierten Notizzettel zufolge sorgten sich die Steinheimer Bauern auch um eine gerechte und vertragsgetreue Verteilung des Wassers auf den Gemeindefluren. Der Frevel halb, wegen der sie anders als früher beschwert bzw. gefangengenommen worden seien, begehren sy bei altem pruch bleiben lassen. Die Bauern forderten für sich den Zins aus der Gemeinde-Badstube ein. Im Übrigen sei ihnen vor zwei Jahren verboten worden, Holz aus dem Spitalwald zum Unterhalt gemeindlicher Straßen zu entnehmen, wozu sie verpflichtet waren. 37 Seit 1436 bzw. 1472 besaß das Spital fast das gesamte Dorf Dickenreishausen. 38 Erstmals 1492 ist hier auch ein Gemeindewald erwähnt. 39 Schon ab 1517 waren die Bauern von Kardorf erzürnt wegen der mangelhaften Seelsorge seitens des zuständigen Pfarrers von Dickenreishausen, dem ab 1519 erlaubt war, im Dorfweiher Fische zu fangen. 40 Im benachbarten Hitzenhofen erwarb das Spital 1436 den Meierhof und konnte 1454 das Kloster Rot verdrängen. Forderungen von Hitzenhofer Bauern sind nicht bekannt. Dies gilt auch für Volkratshofen, Priemen und Brunnen. Hier besaß das Spital ab 1436 einige Höfe. Daneben waren drei Höfe im Besitz von Heilig-Geist- Orden, Antonitern und Elsbethenkloster. Seit 1349 gehörten die Kirchenrechte von St. Stephanus in Volkratshofen dem Heilig-Geist-Orden; die Kirche wurde wenig später dem Kloster inkorporiert, was zur Folge hatte, dass ein Kreuzherr in Volkratshofen die Pfarrdienste verrichtete. 35 P. B LICKLE , Revolution (Anm. 27), S. 146. 36 StadtA Memmingen, A RP vom 15.2.1525. 37 StA Augsburg, RL Memmingen MüB 26 1/ 2. 38 1436: Maierhof und andere Güter samt Gericht, Zwing und Bann, 1472 übriger Teil des Dorfes inkl. Gericht, Zwing und Bann, Ehaftrechte (Mühle, Schmiede, Hirtenstab) und Vogtrecht der Pfarrkirche (einschließlich einer Filialkirche in Kardorf). 39 StadtA Memmingen, D Bd. I/ 263 fol. 43-45: 1492 ist die herrschaft und amman und die vier desß dorff Dickenreishausen ains worden von bessers nutz wegen vnd hand ain ordnung gemacht von der gemainer heltzer wegen, so sy hand. 40 StadtA Memmingen, D 37/ 6 (1517), D 39/ 13 (1519) und D Bd. I/ 264 (1520). <?page no="258"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 257 1459 hatte das Spital Gericht, Zwing und Bann samt einigen Höfen und Ehaftrechten in Buxach erworben. Die dortige Kirche war (seit 1405) in eine Messpfründe auf dem Barbara-Altar der Memminger Frauenkirche inkorporiert; die Seelsorge vor Ort erfolgte im Einvernehmen mit dem Spitalmeister durch den zuständigen Messpriester. Im südlich gelegenen Weiler Hart besaß das Spital seit 1436 einen Hof und ein Gütlein, dazu die Spitalmühle und den Spitalhof in spitalischer Eigenwirtschaft. Seit 1519 war der Fischfang in der Buxach verboten; zwei Jahre später ist im Ratsprotokoll zu lesen, dass Alle die, so in der Buchsach vischen, sollen gestraft werden. 41 Im Februar 1525 war aus Buxach zu hören, dass man auf Abgabennachlässe wie in anderen Dörfern hoffe. Beschwert sei man - dem bereits erwähnten undatierten Notizzettel zufolge - vor allem durch Wegnahme einiger Jauchert Ackerlandes und durch einen Mangel an Holz. 42 Holzgünz war grundherrschaftlich geteilt: Oberholzgünz gehörte seit 1444 zum Kreuzherrnkloster, Unterholzgünz samt dortigem Kirchensatz seit 1436 zum reichsstädtisch verwalteten Spital. Zum Eigenbedarf war vor 1525 der Zugang zu Brennholz in begrenztem Umfang bewilligt. So heißt es 1516 im Spitalamtsbuch: Des Holtz sol er nit anderst dan zw Zimern vnd zw Brenenn zw zimlicher Nottturft brauchen inn seinem Hawß vnd sunst des Gotzhawß Heltzer aller mueßig stan vnd waß er jetzo von Zimer uff der Hoffstatt hatt oder hinfuro darauff gepawen wirt, das alles sol nach seiner Abzug also dabeleiben vnd geitt zw Erschatz 36 gulden. 43 1525 beschwerten sich die Bauern beider Ortsteile darüber, dass der Pfarrer nicht das Evangelium verkünde. Die Abgaben auf ihre Güter seien zu hoch; Holz müssten sie selbst kaufen; die Todfallabgabe beschwer ihre Güter, weil ihnen etwas darauß genommen werde. 44 Aus dem östlich von Memmingen gelegenen Memmingerberg sind keine konkreten bäuerlichen Forderungen überliefert. Seit 1436 lagen die grundherrlichen Rechte im Dorf beim Spital, geistlich wurden die Bauern von der Pfarrei St. Martin in Memmingen betreut. Für das Dorf Lauben erwähnt der genannte Zettel, dass die städtisch verwaltete Dreikönigskapellenstiftung ihren Bauern in Lauben zuhören wolle. 45 Noch im 14./ 15. Jahrhundert war die Erbleihe, also die Neuverleihung des Gutes an den Leibeserben, geläufig. Um 1525 verlieh das Memminger Spital dagegen seine Güter in der Regel zu Leibrecht, also auf Lebenszeit des Beständers. 46 Zur Durchsetzung der Gerichts-, Wehr- und Steuerhoheit und »Abrundung herrschaftlicher 41 StadtA Memmingen, D Bd. I/ 33, A RP vom 12.6.1521. 42 Notizzettel im StA Augsburg, RL Memmingen MüB 26 1/ 2. 43 StadtA Memmingen, D Bd. I/ 265. 44 Notizzettel im StA Augsburg, RL Memmingen MüB 26 1/ 2. 45 Notizzettel im StA Augsburg, RL Memmingen MüB 26 1/ 2. 46 Vgl. J. L AMBACHER , Spital (Anm. 26), S. 199-209; Beispiele zum althergebrachten Erbrecht siehe u. a. StadtA Memmingen, D Bd. I/ 077 (Güterbeschreibung von 1436), D 69/ 1 (Urk 1446 Febr. 26), D 38/ 1 (Urk 1448 Aug 23); zum Leibrecht: uf sein ainigen Leib und Lebtag und nit füro noch lenger hingelichen und verliehen haben; StadtA Memmingen, D 81/ 3 (Urk 1571 <?page no="259"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 258 Rechte« war aber nicht nur der Wechsel vom Erbzum Leibrecht in der Grundherrschaft, sondern auch eine schriftweise Ausweitung der Leibeigenschaft entscheidend. Die Leibeigenschaft war erblich. Todfall- oder Ehrschatz-Abgaben sind ab der Mitte des 15. Jahrhunderts greifbar; ihre Höhe war beträchtlich. 47 Das Spital verweigerte bei Interesse mehrerer Personen prinzipiell die Güterteilung. Dadurch wurden viele Bauernsöhne und -töchter zu Ehalten, Taglöhnern oder Leerhäuslern, also zu Mitgliedern einer wachsenden unterbäuerlichen, in Amtsprotokollen allerdings nicht erwähnten Schicht. Möglich war lediglich die Abteilung von Kleinstparzellen von Allmenden bei Gründung von Sölden, mit negativen Auswirkungen auf die mittelbäuerlichen Schichten. 48 Im Besitz des Memminger Spitals befanden sich ab 1436 auch Höfe in Pleß sowie das dortige Dorfgericht als Lehen Herzog Wilhelms IV. von Bayern. Mit dem zuständigen Pfarrer zu Kellmünz konnte man in den Jahren vor 1525 einen Streit um den dortigen Zehnten beilegen. Im Zusammenhang mit einer Hofübergabe in Pleß ist 1524 vom Bau eines spitalischen Zehntstadels in Pleß die Rede. 49 Große Teile von Pleß und Fellheim befanden sich jedoch im Besitz des Memminger Bürgers Wilhelm Besserer. Laut Ratsprotokoll vom 15. Februar 1525 forderten die Bauern von Pleß freie Jagd und Fischerei, Freiheit in der Wahl des Ehegatten (das sich ain yeder verhewraten mug, wie er wel), einen Verzicht auf den Ehrschatz sowie eine Umwandlung der Leiheform vom Leibzum Erbrecht. Sie beteuerten, dem hawfen der bawrn wellen sy nit zulaufen, doch wollten sie tayl haben an all dem, was die gemainen bawrn forderten. 50 Okt 17). Überliefert sind auch die Bewirtschaftung eines väterlichen Hofes durch den Sohn, aber nur bis zum Tod des Vaters, oder die Weiterverleihung eines Gutes an eine Witwe, aber nur von Jahr zu Jahr; vgl. StadtA Memmingen, D Bd. I/ 43 (Urbar), Bd. I/ 76 (Leibeigenschaftsbuch), Bd. I/ 265 (Denkbuch). 47 Vgl. J. L AMBACHER , Spital (Anm. 26), S. 203, 234-236. Eine um 1436 angelegte Zehnt- und Zinsbeschreibung des Spitals führt noch wenige Aigen lüt des Spitals auf; ein Leibeigenenverzeichnis aus dem Jahr 1484 verzeichnet allein für Steinheim 50 Erwachsene und 60 Kinder, für Holzgünz elf Erwachsene und 40 Kinder. Das Spital-Denkbuch StadtA Memmingen, D Bd. I/ 265 verzeichnet etwa 1520 eine Hofübergabe in Memmingerberg von Vater zu Sohn mit einer gleichzeitigen Ergebung des Sohnes in die Leibeigenschaft. Ein Steinheimer Leibeigenen-Verzeichnis im gleichen Band enthält 33 Einträge von Einzelpersonen und vor allem Familien. Zum Wandel im 15./ 16. Jahrhundert ausführlich R OBERT D EES , The Power of Peasants. Economics and politics of farming in medieval Germany, 2024, S. 877-900 (v. a. bezüglich Woringen, Steinheim und Dickenreishausen). 48 J. L AMBACHER , Spital (Anm. 26), S. 208; vgl. Einträge im Denkbuch StadtA Memmingen, D Bd. I/ 264 (1500-1520 mit Bewerbungen von zwei oder mehr Grundholden auf ein Gut). 49 J. L AMBACHER , Spital (Anm. 26), S. 142; StadtA Memmingen, D Bd. I/ 265 (Hofübergabe an Marxen Strub mit Ehrschatz). 50 StadtA Memmingen, A RP vom 15.2.1525. <?page no="260"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 259 Die benachbarten Orte Boos und Bedernau gehörten der Memminger Familie Stebenhaber. Aus Boos kam im Februar 1525 die an sich beruhigende Nachricht, dass man mit dem Dorfherren ain gut herschaft vnd schirmhern gehept; man ersuche nun um Schutz vor den verbündeten Bauern. 51 Pleß und Boos lagen am Rande des Booser Harts oder der Freyen Pirsch, einem herrschaftsübergreifenden Waldgebiet. Als dort zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Waydwerckh durch Unordnung unnd Mißbrauch darnieder zu gehen drohte - zu Lasten von Lust, Kurtzweil und Nutz - verkündete König Maximilian mit Urkunde vom 16. Juli 1502 eine Ordnung und Satzung, wie es füran mit demselben Waydwerckhen sollichs Bosserharts gehallten werden solle. 52 Die regionalen geistlichen und weltlichen Herrschaften einschließlich der Reichsstadt Memmingen verboten hierauf zu Aufzug, Merung, Schonung vnd Handhabung des Wildgepradts das Jagen (mit Ausnahme der Kranatvögel) zu bestimmten Zeiten weder mit einer Büchse noch mit einer Armbrust. Gedanken moderner Forstwirtschaft hielten Einzug - auch in der Verwaltung des Memminger Spitalwaldes. 53 Dem Memminger Bürger und langjährigen Bürgermeister Hans Keller d. J. gehörten große Teile des Dorfes Erkheim, dem Memminger Spital nur zwei Höfe. Die beiden Kirchen waren mit St. Martin und dem Heilig-Geist-Orden in Memmingen verbunden. Am 22. Februar 1525 verkündete der Erkheimer Ammann Hans Mair vor der Dorfversammlung, dass er eine höhere Gült nicht leisten wolle. Im Übrigen solle der Berg zurück in Gemeindehand und der Wald frei zugänglich sein. 51 StadtA Memmingen, A RP vom 20.2.1525. 52 Zur Freien Pirsch im Booser Hart vgl. L UDWIG M AYR , Die freie Birsch von Memmingen gen. Booser Hart, in: Memminger Geschichtsblätter 3 (1914), S. 25-29, 33-39, 41-46, 57f. Auf Bitten der Reichsstadt Memmingen wurde am 16.6.1489 durch König Maximilian ein Vertrag zwischen dem Kaiser und dem Schwäbischen Bund einerseits und dem Pfalzgrafen bei Rhein und bayerischen Herzog Georg andererseits geschlossen, um das bayerische Begehren nach Schaffung eines Forstes und hierbei die Kompetenzen des kaiserlichen Landgerichts zu Marstetten/ Weißenhorn bezüglich des Booser Harts zu besprechen. 53 Der Sohn des Stadtschreibers Georg Meurer, Noe Meurer, wird Jahrzehnte später 1560 und 1576 zwei der wichtigsten Forst- und Jagdrechtsbücher der Zeit verfassen; vgl. auch C HRISTOPH E NGELHARD , Sie hätten mich und den kay mit ainander gefrezt. Michael Schwegelins Sorgen und Nöte um die Wälder der Reichsstadt Memmingen, in: J OACHIM H AMBERGER (Hg.), Forum Forstgeschichte. FS zum 25jährigen Bestehen des Arbeitskreises Forstgeschichte (Forstliche Forschungsberichte 216), Weihenstephan 2017, S. 33-37. <?page no="261"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 260 <?page no="262"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 261 Abb. 2: Geographica Delineatio der sog. Memmingischen Freyen Bürsch, nach einem Original abgezeichnet 1764. <?page no="263"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 262 Diese Forderungen stießen in der Versammlung auf allgemeine Zustimmung, worauf ein siebenköpfiger Ausschuss zu Verhandlungen mit der Herrschaft gewählt wurde - eine frühe Form geregelter Partizipation. 54 Weitere Dörfer befanden sich in bürgerlichem Besitz: Daxberg, ab 1493 im Besitz der Familie Zwicker, Gottenau, 1461 von der Memminger Familie Leutkircher an die Familie Funk verkauft, Wespach, im Besitz der gleichnamigen Familie, und schließlich Amendingen, seit 1455 im Besitz des Bürgers Jos Sättelin. Bäuerliche Forderungen sind aus diesen Dörfern nicht überliefert. Wie Amendingen gelangte auch Ungerhausen während des Zerfalls der Herrschaft Eisenburg in bürgerlichen Besitz, zuletzt 1503 in den Konrad Vöhlins. Die Vöhlin waren seit 1496 eng mit den Welsern in Augsburg verbunden und trieben überregional Handel. Innerhalb weniger Jahre gelang den Vöhlin in Ungerhausen und in der Herrschaft Frickenhausen der Erwerb der hohen Gerichtsbarkeit und dadurch eine außerordentliche Verdichtung der Herrschaftsrechte. 55 Da bürgerlicher Besitz im Umland zwar indirekten Einfluss seitens der Reichsstadt ermöglichte, aber sich bei Vererbung oder Veräußerung als instabil erweisen konnte, verfolgte der Rat vergleichsweise spät eine aktive Kaufpolitik. Ziel war ein größerer Einfluss auf die Ost-West-Handelsstraße und die Verhinderung konkurrierender Hochgerichtsrechte. 56 1515/ 16 erwarb die Reichsstadt von den Möttelin das Dorf Woringen - verbunden mit der Aufnahme von Darlehen sowie Steuererhöhungen. Gleichzeitig einigte man sich mit dem Fürststift Kempten auf eine gemeinsame Ausübung der hohen Gerichtsbarkeit innerhalb des Dorfetters und einer Teilung derselben außerhalb des Dorfes. Im Dorf wohnten 97 erwachsene Leibeigene zusammen mit 197 Kindern. 57 1520 erwarb die Reichsstadt von den Vöhlin die Herrschaft Frickenhausen (mit den Dörfern Frickenhausen, Arlesried, Dankelsried und Betzenhausen) samt der 54 StadtA Memmingen, A RP vom 22.2.1525; vgl. M. S ONTHEIMER , Geistlichkeit (Anm. 20), Bd. 1, S. 240; zur Herrschaft Erkheim und der dortigen Dorfgerichtsordnung von 1528 (StadtA Memmingen, D 271/ 2) siehe H ERMANN I MMERZ , Reichsherrschaft Erkheim 1350- 1803. Unterallgäuer Heimatbuch, Erkheim 2014, S. 38 (Einführung der Reissteuer durch die Reichsstadt in ihren Dörfern 1519/ 20) und S. 212 (Niedergerichtsbarkeit und Dorfgericht). 55 R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 3), S. 696; vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 10.7./ 18.11.1510 (zur Belehnung Konrad Vöhlins mit der hohen Gerichtsbarkeit in Ungerhausen). 56 R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 3), S. 296. 57 StadtA Memmingen, A RP vom 15.9. 1515 (Ungeld/ Leibsteuer), 12.9.1516 (Ungeld), 3./ 10.12.1515 (Kopfsteuer), 6.2.1516 (Darlehen) und D 78/ 2, D Bd. I/ 33, fol. 258v-260r (Leibeigene). <?page no="264"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 263 Hochgerichtsbarkeit sowie der Kirchenrechte in Arlesried und Frickenhausen. 58 Dokumentiert sind 1525 Beschwerden aus Frickenhausen (und wohl auch aus Buxach) über erfolgte Veränderungen etlich prauch, möglicherweise in Bezug auf Waldnutzungen. 59 Mit der Vergrößerung und Vertiefung des reichsstädtischen Einflusses im Osten und Süden ging auch eine Verwaltungsmodernisierung und Vereinheitlichung des Rechtsraumes einher. 1518 legten die Spitalpfleger Hans Weier und Eberhart Zangmeister sowie Hofmeister Jacob Vischer für den gesamten Spitalbesitz neue Urbare, Kopialbücher und Amtsprotokolle (Denkbücher) an, um die Verwaltung zu modernisieren. 60 Eine Professionalisierung der Schriftgutverwaltung lässt sich schon einige Jahre zuvor auch in der reichsstädtischen Kanzlei beobachten: Bereits ab 1508 führte Stadtschreiber Ludwig Vogelmann übersichtlich Protokoll im Rat; 1509 ließ er wichtige Stiftungsurkunden in einem Kopialbuch erfassen. 61 Zur Aufrechterhaltung dörflicher Ordnung und Regelung von Streitigkeiten finden sich für Dickenreishausen (1492) und Memmingerberg (1516) Hinweise auf eine Verständigung von Bauern und Herrschaft. 62 Eine Teilhabe der dörflichen Gremien und Vertreter an der Ausgestaltung von Dorfordnungen ist wenige Jahre später für Woringen (1519), für Frickenhausen (1520) und weitere Dörfer, wo das Spital Höfe besaß bzw. die Gerichtsherrschaft ausübte, nicht mehr ersichtlich. 63 58 Die Memminger Familie Vöhlin hatte diese Dörfer ab 1460/ 68 erworben und war seit 1517 auch im Besitz des Hochgerichts über dieselben. Ab 1520 erfolgte eine Aristokratisierung der Familie durch Ankauf der reichsfreien Herrschaft Illertissen; ab 1524 war Erhart II. Vöhlin Mitglied im Schwäbischen Bund. 59 Am 24.3.1524 hatte der Rat den Frickenhausener Bauern verboten, Holz in seinem von ihm erkauften Wald zu schlagen; vgl. F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S 42. 60 StadtA Memmingen, D Bd. I/ 40-41 (Grund- und Hofungsbücher), D Bd. I/ 42 (Urbarium und Grundbuch 1491), D Bd. I/ 263 (ab 1466), D Bd. I/ 264 (1500-1520), D Bd. I/ 265 (1518-1535), D Bd. I/ 266 (1522-1562); vgl. J. L AMBACHER , Spital (Anm. 26), S. 6-10. 61 StadtA Memmingen, A RP ab 1508 (Ratsprotokolle), D Bd. X/ 3 (Stiftungsbuch). 62 Dickenreishausen: 1492 ist die herrschaft und amman und die vier desß dorff Dickenreishausen ains worden von bessers nutz wegen und hand ain ordnung gemacht von der gemainer heltzer wegen, so sy hand; StadtA Memmingen, D Bd. I/ 263, S. 43; Memmingerberg: Die vier und etlich auß der gemaind zu Perg zaygen an, die nachvolgenden gepott seyen vor Jaren zu Perg gehalten worden. Vgl. J. L AMBACHER , Spital (Anm. 26), S. 190, mit Verweis auf StadtA Memmingen, A 92/ 1 (1516). 63 StadtA Memmingen, D Bd. I/ 33, fol. 2-23, ediert von J AKOB G ROSS , Ein altes Dorfrecht aus dem Allgäu, in: Allgäuer Geschichtsfreund 4 (1891), S. 49-60. Beim Verkauf des Dorfes ans Spital verblieb die Nutzung des Waldes weiterhin bei der Reichsstadt; vgl. auch StadtA Memmingen, A 70/ 1 und A 89/ 2 (Allerley gepott und verpott in der gmaindt auff dem Landt zuhalten.). <?page no="265"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 264 Abb. 3: Dorfgerichtsordnung für den Memminger Einflussbereich (Allerlay gebott und verbott, sambt der Gerichtsordnung und aid, wie es in den dörffern gehalten wirdt), ca. 1519/ 20. In den Dorfordnungen wurden polizeiliche Bestimmungen über Dorf, Feld und Wald fixiert und Besetzung und Kompetenzen der kommunalen Gremien geregelt: Von der Herrschaft wurden Dorfammann und Dorfbüttel eingesetzt. Zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens bestand ein Dorfgericht. Zu seiner Besetzung machte der Dorfammann gegenüber dem Spital den ersten Vorschlag; danach erfolgten weitere Vorschläge durch die jeweils als nächste vorgeschlagenen Richter, bis die nötige Anzahl (zwölf) erreicht war. Von der Gemeindeversammlung wurden Dorfvierer für polizeiliche Aufgaben gewählt; die Bauern wählten zwei Söldner/ Kleinhäusler, diese im Gegenzug zwei Bauern. 64 Berufungsinstanz war (zumindest kurzzeitig 1525) ein reichsstädtisches Dreizehnergericht - ab 1521 die letzte Instanz, da den Untertanen fortan die Appellation an ein kaiserliches Gericht untersagt war. 65 Mit den Gepot vnd Verpot von 1517/ 1520 wurden reichsstädtische Ordnungskompetenzen bekanntgegeben. Die hohe Gerichtsbarkeit der Reichsstadt bestand innerhalb der Stadtmauern sowie (ab 1516) in der Herrschaft Woringen und (ab 1520) in der Herrschaft Frickenhausen. 66 Wegen hoher Kaufsummen und befürchteter 64 Zur kommunalen Verfassung ausführlich: P. B LICKLE , Kommunalismus (Anm. 14), S. 40- 61. 65 R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 3), S. 304; StA Augsburg, RU Memmingen MüB 572 (Urk. 1521 Febr. 4); vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 9.1.1521 (Verbot der Appellation). 66 Erst ab 1548 besaß Memmingen die hohe Gerichtsbarkeit in den Dorfettern von Steinheim, Berg, Volkratshofen, Dickenreishausen, Hitzenhofen, Hart, Brunnen, Priemen, Buxach und Boos. <?page no="266"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 265 Schulden waren die Ankäufe von Woringen und Frickenhausen im Rat umstritten. Auch die Einführung einer Reis- und Kriegssteuer zur Finanzierung militärischer Kontingente für Kaiser und Reich sorgte 1519 für Unruhe in der Bürgerschaft, 67 ebenso die Verwendung gemeindlicher Strafgelder für reichsstädtische Zwecke ab Herbst 1524. 68 Fügt man alle genannten Aspekte zusammen, wird deutlich, dass die Memminger Führungsschicht wirtschaftliche, jurisdiktionelle sowie herrschaftliche Instrumente einsetzte, um ihre Position als Obrigkeit zur Geltung zu bringen. Gesteigerte Ansprüche auf Macht, Einfluss und Autonomie werden zu Beginn des 16. Jahrhunderts unter anderem in der Erweiterung der Hauptkirche St. Martin sichtbar, vor allem in den Halbwangenskulpturen der bürgerlichen Führungsschicht im 1507 vollendeten Chorgestühl - finanziert aus dem Etat der Kirchenstiftung. 69 Von 1519 bis 1521 wurde ein neues Spital-Amtshaus mit durchaus repräsentativer Ausstattung und Bemalung errichtet. 70 Für die Reichsstadt sehr kostspielig dürfte 1517 der Ausbau der Stadtmauer mit einer durchgängigen Pflasterung des Wehrganges gewesen sein 71 sowie fünf Jahre später die Erweiterung der 1488 errichteten Ratsstube. Mittels einer Verkürzung des 1495 neu errichteten Steuerhauses wurde der Bannbezirk ausgedehnt, um den Anforderungen einer hohen Gerichtsbarkeit hinsichtlich eines freistehenden Rathauses gerecht zu werden. 72 67 StadtA Memmingen, A RP vom 16.11.1519. Als Reichsstadt war Memmingen verpflichtet, zum Reichskontingent Reiter und Landsknechte zu stellen - nach der Ordnung von 1512: vier Pferde samt Reiter sowie 100 Knechte zu Fuß. 68 StadtA Memmingen, A RP vom 13.5.1524 mit Hinweis auf eine Diskussion um der gemaind, Ihrer frävel reden halb, wie ettlich vnnser new erkaufften dorffer redi gethan, sie wollen, das man die widerumb vnndere ain gmaind erthailen soll. 69 500 Jahre Chorgestühl in St. Martin zu Memmingen (mit Beiträge von C HRISTOPH E NGEL - HARD , H EINZ S CHAUER , A DALBERT M ISCHLEWSKI , A LBRECHT M ILLER , T INA N AUMOVIC , K ATHARINA VON M ILLER ), in: Memminger Geschichtsblätter 2006/ 2007, Memmingen 2007. 70 Vgl. Bauforschungen von W OLFRAM A RLART (1994/ 1999) zum Amtshaus Hallhof 4 mit Belegen in den Ratsprotokollen. Bau evtl. nach Vorbild des nach dem Stadtbrand 1516 in Biberach neu errichteten Spitals (1517 abgeschlossen). 71 C HRISTIAN K AYSER , Die Stadtmauer von Memmingen (Memminger Forschungen 8), Memmingen 2016, S. 35 (zur repräsentativen Ausgestaltung und Ergänzung der Mauer ab etwa 1445 bis um 1500); zum Wehrgang siehe auch J AKOB F RIEDRICH U NOLD , Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Anfang der Stadt bis zum Tod Maximilian Josephs I., König von Bayern, Memmingen 1826, S. 129. 72 Um 1480 erwarb die Stadt ein Anwesen im hinteren Bereich des späteren Rathauses. 1488 wurde eine neue Stube auf der oberen Lauben errichtet; vgl. StadtA Memmingen, Wintergerst- Löhlin-Greiter-Chronik (mit Stadtchronik im Anhang zu 1488). <?page no="267"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 266 3. Versuche eines gewaltfreien Interessensausgleiches zwischen Reichsstadt und Landschaft im Februar und März 1525 Acht Tage nach der eingangs erwähnten ›Teilmobilmachung‹ des Schwäbischen Bundes am 11. Februar ließ Bundeshauptmann Ulrich Artzt am 19. Februar den Augsburger Bürgermeister wissen, dass die Bauern bereits zahlreiche Beschwerden den Bundes-Verordneten übergeben hätten. Sollten sie Unbilliges fordern, möge man davon abstehen. Jhre Artikel sind viel, sie wollen die Eigenschaft, Dienst, Hölzer, Wasser und anderes frei haben, so Artzt. Für die Prüfung der Beschwerden seitens der jeweiligen Obrigkeiten waren 14 Tage vorgesehen - für manche Beteiligten viel zu lange, weil diese Zeit für Kriegsvorbereitungen verwendet werden konnte. 73 Der Memminger Rat beschloss am 22. Februar, jeweils drei Räte in jedes Gericht zu schicken, um dort über die an ihn herangetragenen Beschwerden zu beraten. Benannt wurden vier Zunftmeister sowie vier weitere erfahrene Räte. Die meisten Zünfte (mit Ausnahme der Bäcker, der Schmiede, der Zimmerleute) wurden berücksichtigt. Die Kommission war ausgesprochen prominent besetzt: Vier der acht Personen waren Mitglieder des Geheimen Rates. 74 73 W. V OGT , Artzt (Anm. 1), S. 311. 74 Von der Zunftmeister-Bank: Heinrich Löhlin (Zunftmeister der Tucher und Mitglied des Geheimen Rates), Eberhard Zangmeister (Zunftmeister der Kramer und Mitglied des Geheimen Rates), Simon Schöllhorn (Zunftmeister der Schneider), Hans Epp (Zunftmeister der Schuster); von der Räte-Bank: Ulrich Zwicker (Mitglied der Großzunft und des Geheimen Rates, zuvor Zunftmeister, Richter, Rat und Bürgermeister, seit 1521 Pfleger für Woringen), Hans Merckle (Mitglied der Metzgerzunft und des Geheimen Rates, zuvor langjähriger Zunftmeister, Einunger und Rat), Hans Heiß (Mitglied der Gerberzunft), Hans Wißmüller (Mitglied der Merzlerzunft, ab Frühling 1525 Bürgermeister); vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 22.2.1525, zitiert nach F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 38-39: Ist erraten, das man in ain yedes gericht schicken vnd im auf morgen zusamen biet vnd nachgends drei ratzbotschaften zu inen hinauß verordnen vnd ime sag: Ain rat bit sy, das sy fridlich bei ainander pleiben, niendert hinlaufen, sonder ain yedes gericht 4 außschieß vnd den ire beschwerung anzaigen vnd das aim rat anzaien, so wel sich ain rat darin vnnerweißlich halten, dan wa sy das darvber theten, mocht ain rat geursacht werden, weiter rat zu pflegen. Uf der zunftmaister banck sol reiten Lelin, Zangmaister, Schelhorn vnd Epp, uff der ratzbanck Zwicker, Merckle, Heißen vnd Wißmuller. Große zunft bit vmb lenger zeit, antwurt zu geben. Die Mitglieder des Geheimen Rates (Sechser) der Amtszeit 1524/ 25 waren: Ludwig Conrater, Ulrich Zwicker, Hans Mercklin sowie Hans Schulthais, Heinrich Löhlin, Eberhart Zangmeister; vgl. StadtA Memmingen, A Bd. 5; zu den Ämterlaufbahnen der Kommissionsmitglieder vgl. P ETER E ITEL , Die oberschwäbischen Reichsstädte im Zeitalter der Zunftherrschaft. Untersuchungen zu ihrer politischen und sozialen Struktur unter besonderer Berücksichtigung der Städte Lindau, Memmingen, Ravensburg und Überlingen (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 8), Stuttgart 1970 (Anhang I: Ämterlisten der Reichsstadt Memmingen 1446-1570, <?page no="268"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 267 Abb. 4: Auszug aus dem Memminger Ratsprotokoll vom 22. Februar 1525. Beabsichtigt war, die Bauern zu einem friedlichen Beieinander aufzufordern und von Bündnissen mit den aufständischen Bauern abzuhalten. Als Ansprechpersonen in den Dörfern sollten jeweils vier Vertreter (wohl nicht identisch mit den Vierern) benannt werden. Doch es kam anders: Die Dorfvertreter brachten ihre Themen nicht einzeln zur Sprache, sondern besprachen sich am 24. Februar zunächst gemeinschaftlich miteinander - ein für die damaligen Tage nicht ganz ungewöhnlicher, in der Memminger Geschichte allerdings ziemlich einmaliger Vorgang. Mit einer gemeinsamen Eingabe wandten sich 27 namentlich genannte Dörfer (Woringen, Dickenreishausen, Hitzenhofen, Hart, Buxheim, Steinheim, Memmingerberg, Ungerhausen, Holzgünz, Lowach/ Lauben, Frickenhausen, Arlesried, Dankelsried, Betzenhausen, Daxberg, Erkheim, Gottenau, Brunnen, Amendingen, Wespach, Boos, Underreichow [zunächst: Vnderrieda], Pleß, Buxach, Volkratshofen, Priemen, Westerhart) an den Rat. 75 S. 191-243), hier 206, 211, 215, 218, 225, 235f., 238; sowie auch: P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 15), S. 243, 246f. 75 Vgl. C ARL A DOLF C ORNELIUS , Studien zur Geschichte des Bauernkriegs (Abhandlungen der k. bayer. Akademie der Wissenschaften, III. Classe Bd. I.), München 1861, S. 7f. (zur Priorität der Memminger Eingabe), S. 31-33 (zur Originalität der Memminger Eingabe), S. 131 (zur Datierung der Eingabe), S. 150 (zur Datierung der Zehn Artikel); vgl. E. R OH - LING , Volksbewegung (Anm. 21), S. 8f. (zur Archiv-Situation); und P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 15), S. 71/ 72. <?page no="269"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 268 Ergebnis der bäuerlichen Beratungen waren wenige Tage später (spätestens am 3. März) Zehn Artikel. Zweifelsohne stehen diese in engem Bezug zu den Zwölf Artikeln der (schwäbischen) Bauernschaft: 76 (1) Die Gemeinden fordern das Recht, dass sie hinfuro selb ainen pfarrer erkiesen vnd erwollen, der vns das gotlich, allmechtig, lebendig wort vnd haillig ewangelion, welhes ist ain speiß vnserer sell, rain, lauter vnd clar nach rechtem verstand verkind vnd predige on allem menschenzusatz, ler vnd gebot. Gleichzeitig wolle man den Pfarrer unterhalten und gegebenenfalls diesen beurlauben dürfen (vgl. Art. 1 der Zwölf Artikel). (2) Eine Zehntpflicht lasse sich aus dem Neuen Testament nicht herleiten. Jedoch sage man eine Unterhaltung des Pfarrers durch die Gemeinde zu (vgl. Art. 2 der Zwölf Artikel, dort nur Ablehnung des Kleinzehnts, Verwendung des Kornzehnten für Geistliche, Arme und raysen). (3) Die Leibeigenschaft ist abzuschaffen bei Anerkennung einer von Gott geordneten Obrigkeit (vgl. Art. 3 der Zwölf Artikel einschließlich einer Pflicht zu Demut gegenüber jederman). (4) Dem armen mann steht ein Recht auf Wildfang und Wildschießen sowie Fischfang (mit Hinweis auf die Schöpfungsgeschichte) zu, sofern es sich nicht um rechtmäßig erkaufte Gewässer handle (vgl. Art. 4 der Zwölf Artikel). (5) Dienste, die von tag zu tag sich gemert vnd zugenommen haben, sollen auf das Maß wie die eltern gedienet haben, allein nach laut des wort gotes etc. zurückgeführt werden (vgl. Art. 6 und 7 der Zwölf Artikel). (6) Statt des Ehrschatzes soll ain zymliche[r] gult bei der Bestandsleihe gezahlt werden (vgl. Art. 11 der Zwölf Artikel bezüglich todt fall, zu dem kain mensch nichts hinfiro schuldig sein zuo geben, weder wenig noch vyl). (7) Hinsichtlich der grossen fraffel solle zum alten Herkommen zurückgekehrt werden (vgl. Art. 9 der Zwölf Artikel). (8) Allmenden (Holz, Äcker, Mäder und andere Gerechtigkeiten), so ainer gemaind vor zeyten zugehorig gewesen, sollen restituiert werden (vgl. Art. 5 der Zwölf Artikel bezüglich Holz-Allmenden, Art. 10 der Zwölf Artikel bezüglich Äcker-Allmenden, bei erkauften Wäldern/ Äckern Aushandlung von Vergleichen möglich). (9) Nach Abzug der Gülten an den Lehenherren solle der Verkauf von Getreideerzeugnissen zugunsten der Bauern möglich sein. Im Falle von Missernten oder Hagelschauern sollen Abgaben erlassen werden. (10) Gültabgaben bei etlichen gietern sollen verringert werden (vgl. Art. 8 der Zwölf Artikel, dann yetlicher tagwercker ist seyns lons wirdig). 76 Das Original der Zehn Artikel ist seit Jahrzehnten verschollen. Edition bei G ÜNTHER F RANZ (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, München 1963, S. 168-171; F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 120-126; vgl. Übertragung ins Neuhochdeutsche durch H EIDE R USZAT -E WIG , Die 12 Bauernartikel. Flugschrift aus dem Frühjahr 1525 (Memminger Geschichtsblätter, Sonderheft), Memmingen 2018. <?page no="270"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 269 Die Vertreter aus den Memminger Dörfern gelobten im Schlussartikel einem ersamen Rat, gantzer Gemaind mit Leib vnd Gut zu dienen, und zwar auf der Grundlage des - so die Bauern - seit zwei Jahren verkündeten Göttlichen Wortes. Sollten Artikel nicht dem Wort Gottes entsprechen, sollten sie ungültig sein. Gemeinsam ist den Zehn Artikeln der Memminger Bauern und den Zwölf Artikeln der oberschwäbischen Bauernschaft die Autorenschaft des Memminger Bürgers Sebastian Lotzer, eines Mitglieds des sog. Konventikelkreises um Christoph Schappeler. Lotzer hatte sich ab 1523 in mehreren Flugschriften (u. a. Ain christlicher sendbrief, darinn angetzaigt wirt, dz die layen macht und recht haben von dem hailigen wort gots reden, lern, und schreiben) gegen religiöse Bräuche wie Fasten, Feiertage, Ablasshandel, Heiligenanrufung und Wallfahren sowie gegen den Alleinanspruch des Klerus auf Schriftauslegung gewandt; am 27. Februar 1525 wurde er zum Feldschreiber des Baltringer Haufens berufen. 77 Noch am Tag der Eingabe beteuerte der reichsstädtische Rat, die Beschwerden ernstnehmen zu wollen: Als Obrigkeit [werde man] nach dem wort gottes oder nach billichait handeln. 78 Nach Hinzuziehung der beiden Prediger zu St. Martin, Christoph Schappeler und Simprecht Schenk, 79 erging am 15. März ein Ratsbescheid. 80 Er ist als schriftlich formulierte Antwort einer Herrschaft auf die Beschwerden ihrer Untertanen höchst bemerkenswert: Zustimmend äußerte sich der Rat zur Einsetzung geeigneter Pfarrer in den spitalischen Dörfern, allerdings ohne dörfliche Mitsprache. In Sachen Seelsorge durch Pfarrer auswärtiger Kirchherren bot er seine Vermittlung an (Art. 1. der Zehn Artikel). Zur Erlaubnis von Jagd und Fischerei - zur notturft, aber ohne rechtes Waidwerckgezeug vnd strick - (Art. 4 der Zehn Artikel) und zur Rückkehr zum alten Herkommen bei großen Freveln (Art. 7 der Zehn Artikel) wurde ebenfalls Zustimmung signalisiert. Notwendiges brenn-, zeunvnd zimerholtz könne dem Wald entnommen werden; bezüglich anderer Frevel solle es ein Moratorium geben. Der Rat war zudem unter Einschaltung einer Ratskommission bereit, die Gültabgaben zu verringern (Art. 10 der Zehn Artikel), Allmenden der Gemeinde zu restituieren (Art. 8 der Zehn Artikel) und den Verkauf von Getreideerzeugnissen durch die Bauern - nach Abzug der Gülten - zu tolerieren; bei Hagelschäden solle es ein 77 Vgl. H EIDE R USZAT -E WIG , Sebastian Lotzer - 5 Flugschriften aus der Reformationszeit (Memminger Geschichtsblätter, Sonderheft), Memmingen 2015. 78 StadtA Memmingen, A RP vom 24.2./ 13.3.1525. Am 13.3. trug Zunftmeister Hans Mercklin - ein Mitglied der Ratskommission vom 22.2. - eine Frage der Bauern vor: ob ain Rat vnd ire Herrn beim Evangelio pleiben wellen, so wellen sy auch hinder aim Rat pleiben. Antwortete der Rat mit ›Ja‹. Im Gegenzug wurden die Bauern zur Treue ermahnt; sie sollten, falls Bundsverwandte vom gmainen bund beschedigt oder vberzogen würden, anhaimsch pleiben vnd ains Ratz beschaid halten vnd erwarten. 79 StadtA Memmingen, A RP vom 1.3./ 15.3.1525. 80 G. F RANZ , Quellen (Anm. 76), S. 171-173; F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 120-126. <?page no="271"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 270 cristenlich nachlaßen, bei hohen Gültabgaben ein zimlich einsechen haben (Art. 9 der Zehn Artikel). Auf Ablehnung stieß im Rat die Forderung der Bauern nach Teilhabe an der Besetzung von Pfarrstellen (Art. 1 der Zehn Artikel) sowie nach einer Verringerung der Dienste (Art. 5 der Zehn Artikel), da diese größtenteils schon vor dem Ankauf der Höfe durch die Reichsstadt in Bestandsbriefen festgelegt worden seien. Hinsichtlich der künftigen Höhe des Großzehnten zugunsten von Geistlichen, Armen und für Raysen verwies der Rat auf mögliche überregionale Übereinkünfte (Art. 2 der Zehn Artikel). Statt einer Ergebung in die Leibeigenschaft (Art. 3 der Zehn Artikel) schlug der Rat die Zahlung eines Schirmgeldes vor, bei Aufrechterhaltung von Heiratsbeschränkungen. Statt des Ehrschatzes sollte künftig eine Güterverleihung jeweils auf nur ein Jahr erfolgen (Art. 6 der Zehn Artikel). 81 4. Vergebliche Beratungen auf regionaler Ebene bis zum Eingreifen des Schwäbischen Bundes im Juni 1525 Bereits am 6./ 7. März hatten sich die oberschwäbischen Bauernhaufen in der Memminger Kramerzunft zu einer ›Christlichen Vereinigung‹ zusammengeschlossen und eine Bundesordnung verabschiedet. 82 Am 8. März erbaten die Bauern, die allein das gotzwort zue richter haben wöln, eine weitere Versammlung, was ihnen genehmigt wurde. Doch zeigte sich der Rat skeptisch bezüglich einer konkreten und unmittelbaren Aussagekraft des Göttlichen Wortes, dwil got ain mal menschlich bei vns gewest sei, das er selbs personlich nit mer komen vnd richter sein werd. 83 81 Vgl. P. B LICKLE , Zentrum (Anm. 20), S. 391-393; P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 15), S. 74. 82 Mitteilung der Handlung und artickl bei W. V OGT , Artzt (Anm. 1), S. 356-359, zuvor Instruktion der Abgeordneten des Seehaufens zum Memminger Bauernparlament (mit drei Artikeln zur Predigt des Evangeliums, Versehung mit zwifacher narung und Recht auf Bestellung und Absetzung der Pfarrer), unterzeichnet von den Baltringer Bauernvertretern; Edition verschiedener Fassung der Bundesordnung siehe G OTTFRIED S EEBASS , Artikelbrief, Bundesordnung und Verfassungsentwurf. Studien zu drei zentralen Dokumenten des südwestdeutschen Bauernkrieges (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1988, 1. Abt.), Heidelberg 1988; vgl. Übertragung der Bundesordnung ins Neuhochdeutsche durch H EIDE R USZAT -E WIG , Was geschah im März 1525 in der Kramerzunftstube in Memmingen (Memminger Geschichtsblätter, Sonderheft), Memmingen 2022; Edition des Berichtes von Johannes Keßler von St. Gallen bei: G. F RANZ , Quellen (Anm. 76), S. 143-150. 83 StadtA Memmingen, A RP vom 8.3.1525; vgl. Auszüge aus den Memminger Ratprotokollen bei F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 25-48. In einem Schreiben an den Augsburger Rat äußerte Ulrich Artzt seine Verwunderung, dass die Memminger Räte söllich schriften in ir statt lassen außgeen. Aus Memmingen erhielt der Bundeshauptmann am 11.3. die Nachricht, dass die versammelten Bauern vor etlichen tagen wieder hinweg gezogen seien; vgl. W. V OGT , Artzt (Anm. 1), S. 362, 364. <?page no="272"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 271 Abb. 5: Antwort des Rates auf die Zehn Artikel der Memminger Bauernschaft, 15. März 1525. <?page no="273"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 272 Diese Skepsis mag auf außenpolitische Rahmenbedingungen und innenpolitische Erfahrungen zurückzuführen sein. Der Schwäbische Bund wies Memmingen an, den Prediger Christoph Schappeler aufzufordern, das er sich der bawren furter entschlahe oder sy auf den friden […] bewege vnd lere. 84 Beim Bund war nicht unbemerkt geblieben, dass Christoph Schappeler in Kontakt mit den (aufrührerischen) Bauern stand, die sich am 15. März ein zweites Mal in Memmingen trafen, und dass es den Bauern möglich war, in der Stadt Waffen zu erwerben. 85 Um sich regional abzusichern, lud Memmingen am 23. März die oberen Städte zu Beratungen zu einem Städtetag am 27. März 1525 ein; zeitgleich gelang es den Kemptener und Ravensburger Bürgermeistern, einen Waffenstillstand zwischen dem Schwäbischem Bund und den Bauern auszuhandeln. Kurz nach einem dritten Treffen der oberschwäbischen Bauern in Memmingen (am 30. März) fand am 31. März nochmals ein oberschwäbischer Städtetag in der Reichsstadt statt. 86 Der Rat befand sich in einer misslichen Zwickmühle: Nur mit Mühe gelang es ihm, die eigenen Bauern von einer Beteiligung am Aufstand abzuhalten, der auf den eigenen Wirkungsbereich überzugreifen drohte. 87 Gleichzeitig wuchs der innerstädtische Druck auf die Obrigkeit. 84 F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 150f. 85 W. V OGT , Artzt (Anm. 1), S. 370, zu Bescheid des Memminger Rates am 17.3.1525 und S. 377-379: Aus Ravensburg erhielt der Bund die Kunde, das die von Memingen den paurn gantz anhangig seyen und hat mir antzaigt, das er von einem von Memingen vernomen hab, das er mit einem paurn geredt hab, sy wöllen inen büchsen genug fürstrecken oder leyhen, hat der bauer gesagt, er wöl mit 4 rossen komen, hat er sagt: nain, er dürf nit mit 4 rossen komen, sonder es miessen 15 roß die eine erziehen wöllen, acht on zweyfel es wird den paurn fürgestreckt nach allem irem vermögen. Das ist swerlich zu hören, dardurch werden die paurn gesterckht etc. es wer viel davon zu schreyben. 86 Text des Abschiedes und weiterer Schreiben siehe bei F. L. B AUMANN , Akten (Anm. 2), S. 169-172, 176-179, 240-243; W. V OGT , Artzt (Anm. 1), S. 390, 394f.; StadtA Memmingen, A Bd. 229 (Verhandlungen mit den Bauern). 87 Vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 24.3.1525: Die Frickenhauser Bauern beteuerten das sy gedencken vnd ains ratz erkauft holtz mießig standen vnd nichtz gweltigelichs hawen vnd on recht nyemant des seinen entsetzen. Hauptmann Jeronimus Löhlin ließ wissen, dass seine [Lands-]Knecht nicht gegen die Bauern ziehen wollen und deswegen hinweg gelaufen. Angesichts des Niederbrennens der Burg Marstetten durch Bauern des Truchsessen von Waldburg baten die Bauern von Buxach, Westerhart, Woringen, Hart, Dickenreishausen und Volkratshofen am 3. April um einen Ratsbescheid. In StadtA Memmingen, RP vom 3./ 7.04.1525 ist notiert, dass die Woringer Bauern wollen verziehen, bis sie sehen, was die erbarn stett handlen und, sie werden dann geweltigt, von einem erbaren rat nit zu weichen. Auch im Raum Memmingen kam es wenig später zu Gewalt: Zu Ostern 1525 zerstörten Kardorfer Bauern aus Protest gegen mangelnde Seelsorge durch den Dickenreishausener Pfarrer Epimach Arnolt dessen Fenster sowie seinen Hausrat im Pfarrhaus; vgl. F. D OBEL , Reformationszeitalter (Anm. 16), S. 43; und M. S ONTHEIMER , Geistlichkeit (Anm. 20), Bd. 1, S. 132, Bd. 5, S. 500. <?page no="274"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 273 Außerhalb der Reichsstadt hatte man immer mehr den Eindruck, dass sich innerhalb der Stadtmauern die Balance zwischen Rat und Gemeinde zugunsten letzterer verschob. 88 Der Pfleger Eglofsteiner schrieb an Bayerns Herzog Wilhelm I. am 1. April 1525: Ich werde glaublich berichtet, daß die von Memmingen die Bauern durch haben ziehen lassen, die zu dem Haufen abgezogen sind, und sollen ihnen ein Geschütz geliehen haben; denn der Rath hat gar keine Gewalt Ich hätt´mich auch unterstanden, eine Kundschaft allda zu machen bei dem Burgermeister, der denn auch ein Bundsrath ist und E. G. Wirth; der hat sich aber allda weggethan, aus den Ursachen, daß ein Rath keine Gewalt hat. 89 Der bayerische Kanzler Leonhard von Eck kritisierte die bauernfreundliche Memminger Politik, sah aber auch eine Spaltung der Gesellschaft: Die Lutherischen, so arm sind, geben den Baurn recht, die nicht Lutherischen und die Lutherischen, aber reich sind, geben den Bauern unrecht. 90 Als am 8. April Bauern vor die Stadt zog und der Haldenwanger Pfarrer Christian Wanner um die Lieferung schwerer Geschütze ersuchte, ließ der Rat die Bürger in ihren Zünften mit Harnisch und Wehr versammeln. Der Rat musterte am Gründonnerstag 300 Bürger und ließ das längst verlassene Schottenkloster vor der Stadt abbrechen, damit es nicht als Versteck für die Bauern dienen könne. 91 Am 21. April berichtete der Schwäbische Bund von freuentlichen Handlungen des Memminger Bürgers Sebastian Lotzer. Desshalb möge ihn der Rath ins Gefängnis legen und bis auf weiteren Bescheid des Bundes verwahren, besonders aber dafür sorgen, dass Lotzer nicht gewarnt noch hingeschoben werde. 92 Am gleichen Tag löste das Verheimlichen von Korrespondenzen seitens des Rates gegenüber der Gemeinde einen Tumult unter den Memminger Bürgern aus. Auf den Straßen verlangte man Auskunft über einen Brief des Rates an die Gräfin von Frundsberg zu Mindelheim sowie einen Brief der Bauern an die Memminger Gemeinde. Der Rat flüchtete in die Kramerzunft. Unter dem Druck einer am Marktplatz versammelten Menge gemäßigter Bürger beriefen die beiden Bürgermeister eine Versammlung der Gemeinde in die Martinskirche ein. Drei Tage später verlas dort Lateinschulmeister Paul Höpp einen teilweise geschwärzten Brief, worauf erneute Wut entbrannte, die Kramerzunftmeister Eberhard Zangmeister von der Kanzel herab beruhigen konnte. Schließlich willigte der Rat in eine Wahl der Zweier, die bislang vom Rat bestimmt wurden, durch die Gemeinde ein. 93 88 Vgl. StadtA Memmingen, A Bd. 299 (Städtetagsabschied 27.3.1525: Dann die oberkaiten in den stetten iren gemainden zu schwach sein.). 89 Zitiert nach J OSEPH E DMUND J ÖRG , Deutschland in der Revolutions-Periode von 1522 bis 1526, aus den diplomatischen Correspondenzen und Original-Akten bayerischer Archive, Freiburg/ Breisgau 1851, S. 121f. 90 Zitiert nach B. K ROEMER , Reformation (Anm. 20), S. 121. 91 C HRISTOPH S CHORER , Memminger Chronick, Memmingen 1660, S. 64. 92 W. V OGT , Artzt (Anm. 1), S. 287. 93 Vgl. A SKAN W ESTERMANN , Eberhart Zangmeister. Ein Lebensbild aus der Memminger Reformationszeit, Memmingen 1932, S. 54; StadtA Memmingen, Galle-Greiter-Chronik, fol. 154v-156. Der Lateinschulmeister Paul Höpp wandte sich am 5.5.1525 an den Rat mit <?page no="275"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 274 Am 1. Mai wurde ein neuer Rat gewählt - mit nur geringen personellen Veränderungen, aber nun mit einer Mehrheit reformationsfreundlich gesinnter Mitglieder im Geheimen Rat. 94 Die Lage wurde immer unübersichtlicher: Christoph Schappeler erkannte am 2. Mai in den Bauern zügellose Barbaren, von denen jeder Glaube, alle Rechtschaffenheit und Billigeit gewichen sei. 95 Ab 22. Mai wurden die Tore mit jeweils einem Rat besetzt, ab 31. Mai zusätzlich mit einem Bürger. 96 Offenbar meldeten sich nun auch Bäuerinnen (bewrina) zu Wort - treiben mit giftgeben oder verbrennen etc., die sol man fengelich annemen. 97 Schließlich rief der Rat den Schwäbischen Bund um Hilfe. Am 9. Juni rückten Reiter und Landsknechte eines Bundesheeres in Memmingen ein; wenig später ließ der Rat Knechte zum Schutz auch einzelner Ratsmitglieder rekrutieren; fünf Bürger, darunter der Lateinschulmeister Paul Höpp, wurden hingerichtet. Am 6. Juli fanden Neuwahlen statt, was nur zu einer leichten Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten Gemäßigter und Altgläubiger führte. Erste reformatorische Änderungen nach dem Religionsgespräch im Januar wurden auf Druck der in Ulm versammelten Stände des Schwäbischen Bundes ebenso wie die Mitwirkung der Zunftmitglieder an der Wahl der Zweier beseitigt. Der Prediger Simprecht Schenk musste Memmingen verlassen. 98 Am 9. Juli leisteten die Bürger nicht nur gegenüber Bürgermeister und Rat, sondern auch wieder gegenüber dem Schwäbischen Bund einen Treueeid. 99 Die Huldigungen auf dem Land scheinen erst Anfang Oktober abgeschlossen gewesen zu sein. 100 der Bitte, den aufbegehrenden Bauern und Bürgern für den ain groß erschrecken und mißfallen zu vergeben, das sie verursacht haben. 94 P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 15), S. 75. Sechser 1525, eher neugläubig: Hans Keller, Ulrich Lieber, Hans Mercklin, Eberhart Zangmeister, dagegen altgläubig: Ludwig Conrater und Hans Schulthaiß. 95 Brief Schappelers an Zwingli vom 2.5.1525, Opp. VII, p. 392: Jam tandem in ancipiti re pendente nec evangelium nec pietatem nec aequitatem denique ullam prae se ferunt, sed feroci animo armis alterultri in sese digladiantur sanguinolentis). Er bat um Entschuldigung »damit nicht mit Sodoma und Gomorra wir alle als Ungläubige zu Grunde gehen.«; vgl. Übersetzung von Wilfried Stroh bei H. R USZAT -E WIG , Die 12 Bauernartikel (Anm. 76). 96 StadtA Memmingen, A RP vom 22./ 31.5.1525. 97 StadtA Memmingen, A RP vom 5.6.1525; vgl. nach P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 15), S. 74. 98 StadtA Memmingen, A 342/ 1; vgl. B. K ROEMER , Reformation (Anm. 20), S. 130-141, P. F RIESS , Ratsreformation (Anm. 20), S. 419f. 99 StadtA Memmingen, A Bd. 1; vgl. C HR . S CHORER , Chronik (Anm. 91), S. 66, auf der Basis der Wintergerst-Kimpel-Chronik im StadtA Memmingen. 100 Für den 22.8.1525 war das Schwören der Woringer Bauern vorgesehen. Am 30.8.1525 musste ein jeder Bauer gegenüber Zangmeister und Heinrich Löhlin bekennen, das er nie bei den paurn gewest, geraiset, geholfen vnd geraten habe. Der einstmals gefangene Schwegelin von <?page no="276"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 275 Auch nach 1525 ist es nicht zur Bildung einer korporativen Memminger Landschaft als Vertretung aller Dörfer, die mit Blick auf Bayern oder Tirol als konfliktverhinderndes Organ hätte wirken können, im Memminger Raum gekommen; das gemeinsame Formulieren von Anliegen im Februar 1525 blieb singulär in der Memminger Geschichte. Weitgehend unerfüllt blieben im Übrigen die Forderungen aus den Reihen der Memminger Bauernschaft - von der Einsetzung reformatorisch gesinnter Pfarrer in den Dörfern nach 1531 einmal abgesehen - auf Drängen, aber ohne Teilhabe der dortigen Bauern. 101 5. Resümee Aus den Korrespondenzen, Akten und Protokollen der Reichsstadt Memmingen schon Jahre vor dem Bauernaufstand von 1525 lassen sich in der Führung administrativer Register, in der Errichtung von Verwaltungsbauten sowie in Rechtssetzungen für Stadt und Land eine verstärkte Modernisierung, Professionalisierung und Intensivierung von Herrschaftsinstrumenten erkennen. Sie diente der Sicherung der regionalen Markt- und Machtstellung der Reichsstadt, die durch den Erwerb von Grund-, Gerichts- und Kirchenrechten unterstützt wurde. 102 Memmingen folgte den weltlichen und kirchlichen Herrschaften auf ihrem Weg nach mehr Autonomie, Einfluss und Repräsentation und hatte hierbei so manches Vorbild in deutschen oder gar welschen Landen im Blick, wie die Rechtssammlungen in der reichsstädtischen Bibliothek belegen können. 103 Rolf Kießling fasste diese Entwicklung prägnant zusammen: »Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen bürgerlicher Korporation und adeligem Standesbewußtsein ebneten sich dort ein, wo die gleiche Zielsetzung geboten war: in der Herrschaft über Land und Leute. Formen von ›Nachbarschaft‹ finden sich bis hinein in die Zeit von Reformation und Bauernkrieg«. 104 Die reichsstädtischen Gepot vnd Verpot von 1517/ 1520 sind Ausdruck dieser Herrschaftsansprüche und weisen gleichzeitig auf eine Krisenhaftigkeit hin, die in Woringen wurde ermahnt, seine geleistete Urfehde zu halten; vgl. StadtA Memmingen, A RP vom 21.8./ 31.8./ 15.9./ 4.10.1525. 101 P. F RIESS , Ratsreformation (Anm. 20). 102 R. K IESSLING , Die Stadt und ihr Land (Anm. 3). 103 In der Inkunabelsammlung des Stadtarchivs, die auf eine Büchersammlung des 1479 gestorbenen Antoniter-Präzeptors Petrus Mitte de Caprariis zurückgeht, finden sich mehr als nur theologische, philosophische oder kanonische Werke, sondern auch einige historische und juristische Werke - vielleicht aus der Stadtkanzlei eines Ludwig Vogelmann, wer weiß das schon angesichts spärlicher Eigentumsvermerke in den Büchern; vgl. C LAIRE B OLTON , The Incunable Collection Memmingen Stadtarchiv, Memmingen 2023. 104 R OLF K IESSLING , Memmingen im Spätmittelalter, in: J. J AHN / H.-W. B AYER in Verb. mit U. B RAUN , Die Geschichte der Stadt Memmingen (Anm. 20), S. 163-245. <?page no="277"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 276 den Augen der Obrigkeit herrschaftliche Eingriffe und einen Ausbau der Herrschaft des Rates über Bürger in der Stadt und Bauern auf dem Land legitimierte. Die Reichsstadt rechtfertigt ihre Ordnungspolitik ausdrücklich mit einer zunehmenden Zahl kriegerischer Auseinandersetzungen, Pestepidemien und Preissteigerungen. Die militärischen und ordnungspolitischen Verpflichtungen Memmingens in der Region lassen sich aus Korrespondenzen, Ratsprotokollen und Chroniken gut nachvollziehen. 105 Zeitgenössische Chroniken berichten zudem mehrfach von den gravierenden Auswirkungen einiger Pestwellen 1503, 1512/ 13, 1519 und 1521. 106 Allerdings sind lokale Quellen, aus denen sich eine Knappheit von Ressourcen (Wetteraufzeichnungen, Verzeichnisse zum jährlichen Ernteertrag) oder ein Anstieg der Lebensmittelpreise als Ursachen des Bauernaufstandes ablesen ließen, nicht bekannt. Aus den wenigen Steuerbüchern von 1450/ 51 und 1521 kann man einen Anstieg der Stadtbevölkerung von 4.000 Einwohnern (4-4,5 pro steuerbarem Haushalt) im Jahr 1450 auf gut 5.000 Einwohner 1521 herauslesen, im Vergleich zu Augsburg ein nur mäßiges Wachstum. 107 Für den Memminger Raum fehlen allerdings aussagekräftige Quellen, die einen Bevölkerungsanstieg auf dem Land belegen könnten. 108 Eine Ressource erwies sich in den Jahren vor 1525 allerdings als besonders knapp: Geld. Es galt deshalb für die Reichsstadt, für das reichsstädtisch verwaltete Spital und für die bürgerlichen Grundherren durch den Erwerb ertragreicher Güter oder die Erhöhung von Abgaben neue finanzielle Quellen zu erschließen - ein für die Zeit typischer Weg, der in einen Konflikt mit einer wachsenden Zahl von Bürgern und Bauern führte, die nur geringen Anteil am Wohlstand hatten. 109 In einer unzureichenden Abgaben- und Steuergerechtigkeit in Stadt und Land lässt sich somit eine wichtige Ursache des Aufbegehrens innerhalb von Bürger- und 105 Vgl. P. F RIESS (Anm. 15), S. 32-40, 50-70; StadtA Memmingen, diverse Einträge über Kriegszüge in den Chroniken des Galle Greiter und des Johannes Kimpel. 106 Vgl. K ONRAD M. M ÜLLER , Das »Große Sterben« im Allgäu. Pest und andere Seuchen in Mittelalter und Früher Neuzeit (Memminger Geschichtsblätter 2004/ 2005), S. 11f. 107 R. K IESSLING , Spätmittelalter (Anm. 104), S. 167; P EER F RIESS , Die Steuerbücher der Reichsstadt Memmingen von 1450 und 1451, in: Memminger Geschichtsblätter 1989/ 90, S. 157-298. Zum Bevölkerungswachstum handschriftliche Notiz Blickles in: D AVID S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 26), Stuttgart 1972, S. 120: »1. Die Bevölkerungszunahme ist nach wie vor unbewiesen. 2. Sie kann auch nicht von so ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein, wenn S[abean] Seite 117 meint, der B. K. [Bauernkrieg] unterscheide sich von den Aufständen der letzten 75 Jahre nur durch das Fehlen der Landsknechte im Land.« 108 Vgl. hierzu R. D EES , Peasants (Anm. 47), S. 1142-1150. 109 B ERND R OECK , Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München 2017, S. 749: Verbote, Steuern und Dienste weisen auf Ansprüche oder Mängel hin - auf »Nöte, die sich aus den beengter werdenden Umständen im Gestänge der Malthusschen Falle ergaben.« Zur Sozialstruktur vgl. P. F RIESS , Steuerbücher (Anm. 107). <?page no="278"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 277 Bauernschaft finden: Bürger verweigerten Zahlungen und zwangen Bürgermeister und Rat in eine inhaltliche Auseinandersetzung, die ihnen verfassungsrechtlich zustand. Bauern verwiesen auf althergebrachte Rechte und suchten das Gespräch mit ihren Obrigkeiten in Stadt, Spital und Bürgerschaft. Bürger und Bauern erkannten in der Heiligen Schrift eine Legitimation ihrer Forderungen. Anders als andere schwäbischen Obrigkeiten war eine wachsende Zahl von Ratsmitgliedern der Reichsstadt Memmingen ab Herbst 1523 bereit, auch im göttlichen Wort eine wenngleich unzureichend ausformulierte Grundlage menschlichen Zusammenlebens zu sehen. Dies ließ Memmingen im Frühjahr 1525 zu einem besonderen Ort eines lange Zeit gewaltfreien Ringens um mehr Teilhabe und Gerechtigkeit werden. <?page no="279"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 278 Ettlich Gepot und Verpot 1517/ 1520 110 Ettlich gepott vnnd ver pott, auf vnser frawen tag zu(o) Liechtmaß anno etc. fünffzechenhundert vnd sibensechen zu(o) Memingen fürgenomen Etlich gepot vnd ver pot, auff Montag nach Jacobi Apostoli Anno etc. fünffzehenhundert vnnd im zwaintzigisten zu Memmingen in der Statt vnd auff dem Land zuhalten fürgenommen Wjewol Burgermaister vnd Rat hie zu(o) Memingen. Das gotzlestern vnd zu(o)trincken hie vnd in vnsern gebieten hievor mermalen ernstlich ver poten vnnd darüber buß vnd straff gesetzt, so aber dasselbig bisher laider wenig erschossen, sunder gar ober hand genomen hat, sich auch die lewff mit krieg , kranckhait, thürii vnd in vil ander weg je lenger je ho(e)rtter vnd beschwerlicher ertzaigen, darab billich ain yede oberkait erschrecken empfachen, den zorn vnd straff gottes besorgen vnd so(e)llich übel souil müglich ist, für komen soll etc. Wiewol Burgermaister vnd Rat hie zu Memmingen das gotzlestern vnd zu(o)trincken hie vnd in unnsern gepieten hievor normalen ernstlich ver poten vnd darüber buß vnnd straff gesetzt, so aber dasselbig bißher laider wenig beschossen, sunder gar vberhand genommen hat, sich auch dy leuff mit krieg , kranckhait, thüri vnd in vil annder weg ie lennger ie herter vnd beschwa(e)rlicher ertzaigen, darab pillich ain yede oberkait erschrecken emphahen den zorn vnd straff gottes besorgen, vnd sollich übel sovil müglich ist fürkomen soll. Darumb so haben egemelte Burgermaister vnd Rat in erkantnuß was sy inen selbs vnd den yren schuldig sind, zu vorderst got dem almectigen zu lob vnd seiner werden mu(o)ter der junckfrawen Marie vnd allem himelischen cho(e)re, zu(e) ere vnd wirden, zu(o) abstellung vnd verhuetung des zorns vnd straff gottes, vns allen zu(o)trost vnd erwerbung go(e)tlicher gnaden vnd barmhertzigkait die nachgemelten satz vnd ordnungen ernewert, gepessert vnd hinfo(e)rter vestigelich zu(o)halten gesetzt. Darumb so haben egemelte Burgermaister vnd Rat mit sampt ir erbern gmaind in Erkantnus, was sy inen selbs vnd den iren schuldign sind, zu vorderst got dem Allmechtigen zu lob vnd seiner werden mu(o)ter der iunckfrawen Marie vnd allem himelischen chöre zu(o) ere vnd wirden, zu abstellung vnd verhuetung des zorns vnd straff gottes vns allen zu(o) trost vnd erwerbung göttlicher gnaden vnd barmhertzigkait die nach gemelten satz vnnd ordnungen ernewert, gebessert vnd hinfürter vestiglich zu(o) halten gesetzt. 110 Einblattdrucke im StadtA Memmingen und im StA Augsburg (Anm. 18). Vgl. D IETER S AAM , Albert Kunne aus Duderstadt. Der Prototypograph von Trient und Memmingen und die Produktion seiner Offizinen (ca. 1474 bis 1520), in: Bibliothek und Wissenschaft 25 (1991), S. 69-175, Katalog des Druck-Oeuvres: S. 157 (Nr. 151), 159 (Nr. 155); buchstabengetreue Übertragung, bei der die originäre Zeichensetzung grundsätzlich beibehalten, die Interpunktion jedoch zur Erhöhung der Lesbarkeit modernisiert wurde. <?page no="280"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 279 Vnd will ain Ersamer Rat hinfürter allwegen seine haimlichen kontschafter darüber halten vnd die ver precher on gnad darumb straffen. Sollichs soll auch ain yegclicher sein weyb, kinden vnd ehalten verkünden. Dann es soll vnd mu(o)ss ain yegclichs, es sey jung oder alt, manns oder frawen person, die auffgesetzten Bu(e)ß vnd straff, sopald es erfordert wirt, von stunden betzalen. Von gotzlestrunngenn Von gotzlestrungen Item wo(e)llicher oder wo(e)lliche inn flu(o)chen oder schwo(e)ren, ain oder mer stuck oder gelid, der almechtigkait gottes, seins hailigen fronleichnams oder leidens, ald sterbens nehmen oder sonst in ander weg got schmähen oder lestern, dessgleichen wer die mu(o)ter gottes in fluchen oder schelten nemet oder yr schmach oder vnere zu(o)füeget, wie vnd in wöllicherlay gestalt oder weiß, vnd mit was worten das beschehe, die sollen von yeclichem überfaren besonder, so oft es beschicht vnnd fürkompt, zu buß geben iiii ß haller. Item w(e)llicher oder wo(e)lliche in flu(o)chen oder schweren ain oder mer stuck oder glid der Allmechtigkait gottes seines hailigen fronlichnams oder leidens, ald sterben nemen oder sonst in andre weg got schmähen oder lestren, desgleichen wer die mu(o)ter gottes in fluchen oder schelten nemet oder ir schmach oder vnere zu(o)fueget. Wie vnd wo(e)llicherlay gestalt oder weis vnd mit was worten das beschehe, dee solln von yglichem vberfarn besonder, so oft es beschicht vnd furkompt, zu Bu(o)ß geben iiii ß heler. Item wo(e)llcher oder wo(e)liche schelten, vnd ain mensch dem andern flucht oder weinscht, ains oder mer hailigen gotes plag oder marter oder ander schedlich kranckhaiten, wie die genant werden, der yegclichs soll zu(o) buß geben, von yedem fluch besonder, so oft das beschicht vnd fürkompt, ii ß hal. Item wo(e)llicher oder wo(e)lliche schelten vnnd ain mensch dem andren flucht oder weinscht ains oder mer hailigen gottes plag oder marter oder ander schedlich krankhaiten oder sachen, wie die genant werden vnd den namen Gottes darzu nempt, der iegliche soll zu Bu(o)ß geben von iedem fluch besonder, so oft das beschicht vnd fürkompt, ii ß hel. Nempt aber ains den namen gottes nit darzu vnd winscht oder flucht also aim andern wie ietzgemelt ist, das sol, so oft es beschieht vnd furkompt, zu Bu(o)ß geben i ß hel. <?page no="281"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 280 Als dann got mit seinem hailigen namen vilmaln leichtuertigclich vnnd vermessenlichen genempt wu(e)rt, also so ains spricht bey got oder bey got es ist war oder got du leugst oder dergleichen, wie dann yemands bey dem namen gotes schwo(e)rt, ist die buß von yede leichtvertigen got nehmen ii pfening. Als dann got mit seinem hailigen namen vilmaln leichtvertiglich vnnd vermessenlichen genempt wirt, also so ains spricht bey got es ist war oder got du lewgst oder dergleichen, wie dan Jemands bey dem namen gottes schwert, Jst die Bu(o)ß von iedem leichtvertigen got nemen ii pfening. Von zu(o)trincken Von zutrincken Item nunhinfüro soll niemands weder jung noch alt dem andern zu(o)trincken weder durch bringen, tewten, wincken noch in ainich ander weg , wie das mit auffsatz hiewider gepraucht werden möchte. Es soll auch kain gastgeb noch ander, so gesellschaft in yren hewsern hielten, sollichs gestatten sonder sover sy das nit wenden mo€chten, sollichs an die oberkait pringen. Ist die buß von yedem überfarer wirten vnd gestten, als oft das beschich vnd füerkompt, i pfund haller. Item nunhinfüro soll niemands weder iung noch allt dem anndern zu(o)trincken weder durch pringen, tewten, wincken noch in ainich ander weg , wie das mit aufsatz hiewider gebraucht werden möcht. Es soll auch kain gastgeb noch ander, so gsellschaft in irn hewsern hielten, solliche gestatten, sunder soverr sy das nit wenden möchten, sollichs an die oberkait pringen, ist die Buß von iedem vberfaren wierten vnd gesten, alß oft das beschieht vnnd fürkompt, i pfundt hel. Ainander pru(e)derlich zu(o)warnen Unnd die weyl sollich übel sachen laider bey jungen vnd alten so gar in ain bo(e)ß gewonhait komen seyen, desshalb villeicht die bestelten kontschafter sollichen nit so gar stattlich vor sein möchten. So last ain Ersamer Rat allermenigclich alt vnnd jung , frawen vnnd manspersonen umb gotes vnd der selen hailes, auch des grossen trostes willen, des wir yn dieser zeyt davon gewärtig seyen, ernstlich vnd vleissig ermanen vnd piten. Wa yemands von dem andern, es sey wa es wöll, gotzlesterungen hörte oder in sehe oder erfüre zu(o) trincken, das ye ains das ander darum früntlich vnd pruederlich welle warnen davon zu(o)stan. <?page no="282"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 281 Die warnung gütlich antzu(o)nehmen Das soll auch menigclich prüederlicher vnd früntlicher maynung von dem andern, er sey wer er wöll, annemen, vnd sich darab keins vnwillens oder misfallens mercken lassen noch geprauchen. Dann wer das anders hielt vnd so(e)llichs ain Rat fürkeme, den vnd dieselben will ain Ersamer Rat über die auffgesetzten buß grösslich vnnd schwerlich straffen nach seiner erkantnuß. Ob ains das ander antzaigen wöllt Ob aber yemands were, der got zu lob vnnd ere vnd aim Ersamen Rat zu dienst vnd gefallen die gotzlesterer vnd zu(o)trincker, so er erfüre, angetzaigen wo(e)lte, dann vngetzwifelt ain yedes got dem almechtigen vnd aim Ersamen Rat ain groß wolgefallen thut vnd dardurch von got groß gnad vnd belonung erlangen mag. Der vnd dieselben so(e)llen so(e)llich gotzlesterer vnd zu(o)trincker ainem Bürgermaister oder yrem zunfftmaister, wo(e)llichem sye wo(e)llen, in gehaim anzeigen, dieselben soll auch ain yeder Burgermaister vnd zunftmaister an gutem gehaim behalten vnd niemans ero(e)ffnen. Tail von der bu(o)ß zugeben Vnd wer also yemands antzaiget vnd des begeret, dem soll vnd will ain Ersamer Rat gleich durchauß ain halbentail von der gesetzten bu(o)ß vnd nemlich die zwen pfening von yedem gotnemen gar volgen lassen. Die mag auch ain yedes mit got vnd eren wol annemen. Ain Rat hat auch verschafft, das aim yeden sollicher tail von der straff durch den Burgermaister oder sein zunftmaister, dem er das angetzaigt het, geraicht vnd gegeben vnd seinthalb in guten gehaim gehalten werden soll. <?page no="283"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 282 Von dem fruestucken Item Nunhinfüro sol niemeands an Sontagen oder andern gepanneten tagen for vnd ee die frona(e)mpter in den pfarren gar volpracht werden in wirtzheusern oder anndern orten in gsellschaften frustücken, essen noch trincken vnd hiewider kain auffsatz prauchen, es wölt dan ainer über veld bey i pfund haller bu(o)ß, die ain ieder, auch der wirt, so inen essen oder trincken geb, on gnad bezalen mu(o)ß. Und dieweyl sollich vbel sachen bisher durch die haimlichen ains Rats bestölte lusner nit hat mügen abgestölt werden, so hat ain Ersamer Rat mit sampt den ailffen dise ordnung darinn fürgenomen, das ain ieder zunftmaister nunhinfüro all wochen zwen man haimlich darzu(o) verordnen soll. Deßgleichen sollen alle die, so gericht, zwing vnd penn auf dem Land haben, durch sich selbs oder ire ampleut, auch all wochen besonder ain oder zwen man haimlich darzu verordnen. Und wo(e)lliche also verordnet werden, die sollen des bey irn aiden, so sy aim rat oder irer herschaft geschworen hand, gehorsam sein vnd niemans darin verschonen nach übertragen. Es soll auch niemands weder die verordneten lusner noch ander hiewider aincherlay bo(e)ser wort noch werck treiben, dann sollichs berürt das lob und die ere gottes vnd der selen seligkait, vnd will ain Ersamer Rat alle die, so hiewider murmelten redten oder teten, ernstlich darum straffen. Doch so sol kainer der also darzu verordnet wirt schuldig sein, sein aigen weib kind oder Ehalten anzugeben, sonder dieselben, so sy also <?page no="284"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 283 schwo(e)rn oder flu(o)chten vorhin va(e)terlich vnd treulich warnen vnd straffen. Was aber ain yeder darzu verordnet wirt sonst gotzlestrungen oder fluch ho(e)rte oder sehe oder hörte vo(e)r dem Rechten fronampt friestucken, die all sol er sovil im müglich ist auffmercken oder behalten vnnd seinem zunftmaister oder seiner herschaft oder irm amptman, dem es zugeho(e)rt, vnd sonst nimands andren beym aid all Achtag anzaigen. Dieselben so(e)llen dann die zunftmaister vnd herrn auch bey irn aiden für pringen an die ort vnd end, da hin es gehört vnd sonst niemands darinn vermarenn. Von nachtlichem sitzen vnnd wein herausgeben Von nachtlichem sitzen vnd wein herauß geben Es soll auch ain yeder gastgab vnd ander, so wein oder bier schencken, alle trincker, so er in seinem hawß het austreiben, sopald es nachtz zu sante Marti Newne geschlagen hat, vnd nach derselben stund kain wain noch bier mer auftragen noch herauß geben bey i pfund haller buß, das der wiert vnd die trincker yeder von yedem überfaren besonder geben so(e)llen. Es soll auch ain ieder gastgeb vnd ander, so wein oder bier schencken, alle trincker, so er in seinem hauß het ausstreiben, sopald es nachtz zu sant martin newne geschlagen hat, vnnd nach derselben stund kain wein nach bier mer aufftragen noch heraus geben, bei i pfund haller buß, das der wirt vnnd die trincker yeder von yedem vberfaren besonder geben sollen. Es were dann, das ain wirt ain erbern frembden gast by im het, den zu(o) eren yemands in sein her perg keme vnd lenger belib, darin soll es zimlich vnd beschaidenlich gehalten vnd doch dardurch wider obgeschriben gesatz kain aufsatz gepraucht werden, bey ernstlicher straff. Es wer dan, das ain wirt ain Erbern fremden gast bey im het, dem zu(o) Ern iemands in sein herberg keme vnd lenger plib, dar inn soll es zimlich vnbeschaidenlich gehalten vnd doch dardurch wider obgeschriben gesatzt kain aufsatz gepraucht werden bey ernstlicher straff. <?page no="285"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 284 Von nachzechen Von nachzechen Item nunhinfuro soll yn kainer zunft on sonnder erlawben ains zunfftmaisters oder seins verwesers kain nachzech mer gehalten werden bey ainem pfund haller buß. Das yeder uberfarer geben mu(o)ß. Item Nunhinfüro sol in kainer zunft noch wirtzheusern kain nachzech mer gehalten werden, bey i pfund hal. Buß, das yeder vberfarer geben muß. Nachts nach newnen auff der gassen nit reiten noch faren Nachtz nach newnen auff der gassen nit Reiten noch faren Niemands sol nachtz, nach dem es newne zu(o) sant Marti geschlagen hat, uf der gassen on ehaft vrsachen weder faren noch reiten, by i pfund hal. bu(o)ß. Niemands sol nachtz, nachdem es newne zu sant martin geschlagen hat, auff der gassen on ehaft vrsachen weder faren noch reiten, bey i lb hal. buß. Nachts on liecht nit auff der gassen zu(o)gan Nach neune on licht nit auff der gassen zu(o)gan Es soll auch niemands nachtz nach Newne on ain prinnend liecht auff der gassen gan, bey ainem pfunnd haller bu(o)ß. Es sol auch niemans nachtz nach newne on ain prinend liecht auff der gassen gan, bey x ß hal. buß von yedem vberfaren besunder. Nachtz auff der gassen nit trummen schlagen noch schreyen Nachtz auff der gassen nit truumen schlagen noch schreyen Niemands soll nachtz nach Ave maria zeit auff der gassen trummenschlagen noch wuest geschray oder vnfu(o)rn darauff treiben, bey i pfund hall. bu(o)ß. Niemands sol nachtz nach Ave maria zeit auff der gassen tru(o)men schlagen, noch wuest geschray noch vnfu(o)rn darauff treiben, bey i lb hal. buß. Die trummen für kain kirchen zu(o)schlachen Die trumen fur kain kirchen zuschlagen Im tag soll niemands die trummen fu(o)r die kirchen schlagen, darin man uff dieselben zeit die gotlichen a(e)mpter helt, by i pfund haller bu(o)ß von iedem überfaren besonder. Im tag soll niemands die trumen für die kirchen schlagen, bey i lb. hal. Buß, von iedem vberfaren besonder. Nach newn vrn nit hofieren Nach newnen vrn nit hofieren <?page no="286"?> E INE GES PRÄC HS B ER EITE H ER R S CHA F T . D IE R EIC HS S TADT M EMM INGEN 285 Niemands sol nachtz nach Newne auff der gassen hofieren weder mit singen noch pfeiffen on sonder wissen vnd erlauben ains burgermaisters oder seins verwesers, bey ainem pfund haller bu(o)ß. Niemands soll nach newne auff der gassen hofieren weder mit singen, noch pfeiffen an sonder willen vnd erlauben ains Burgermaisters oder seins verwesers, bey aim pfund haller buß. So man gegen dem weten leut nit tanntzen noch spilen So man gegem wetter leut nit tantzen noch spilen Item so oft vnd alslang man gegen dem weter hie leutet, soll niemands weder pfeiffen, tantzen noch spilen inn kainen weg , bey v ß haller bu(o)ß. Item so oft vnd alslang man gegen dem wetter hie leut, sol niemands weder pfeiffen noch spilen in kainem weg , bey v ß halr. Buß. Vnd sol hinfürter biß auff ains ratz erlauben gar niemands hie mer tantzen, bey i pfund haller buß. Vom frid vnd frevelln Item wievol ain Ersamer Rat hievor gute ordnung vom fridbieten vnd fridgeben gemacht vnd iarlich zum newen Rat verkünden lassen hat, so findet doch ain Rat das etlich, so inen mit worten frid geboten würt, nun dest fraidiger vnd frefenlicher seyn vnd nit friden loben noch halten wo(e)llen vnd etlich sonst auch gar leichtlich zu auffrurn bewegt werden. Das kompt villeicht auß dem, das ain Ersamer rat bisher etlichn im fridpruch vnd andern frefeln zuvil gnad vnd miltigkait mitgetailt hat. Darumb so last ain Rat ietzo meniglich warnen vnd ist sein ernstliche maynung die sätz vnd ordnungen des friedbietens vnd fridbrechenß halb nunhinfuro strenglich zuhalten vnd in der aynung straff, es sey umb fridpruch oder ander sachen, gar niemands mer zuverschonen, inen daran nichtz mer nachzulassen, auch weder zil noch arbeit daran zunemen, es sol auch niemands mer komen vnd fürbit <?page no="287"?> C HRIS TO PH E NG ELHA RD 286 erlangen oder pringen, dan ain Rat will sy nicht mer erho(e)rn. Es mo(e)chte auch yemands mit lestrung gotz, seiner mu(o)ter vnd hailigen oder sonst in ander weg wider ain oder mer obgeschriben satz vnd ordnungen so frevenlich oder verachtlich handlen, ain ersamer Rat würd den oder dieselben noch ho(e)her an leib, leben, eren oder gut straffen nach seiner erkantnuß. Es mo(e)cht auch iemands mit lesterung gotz, seiner mu(o)ter vnd hailigen oder sonst in ander weg wider ain oder mer obgeschriben satz vnd ordnung so freuenlich oder verachtlich handlen, ein Ersamer rat wurd den oder dieselben noch ho(e)her an leib leben, eren oder gut straffen nach seiner erkantnus. Darnach wiß sich menigclich zu richten vnd vor schaden zu hueten Darnach wiß sich meniglich zu richten vnd vor schaden zuhieten. Doch aim Ersamen Rat in allweg sein oberkait vorbehalten. <?page no="288"?> 287 J OHANNES W OLFART Disputes Over Pastoral Care as Resource Conflicts. Examples from Lindau in the Peasant’s War and beyond Abstract Quellenbestände des Lindauer Stadtarchivs aus der Zeit des Bauernkriegs gewähren umfassend Einblick in den Streit der Stadt mit dem letzten altgläubigen Pfarrer von St. Stephan, Dr. Johann Faber (auch Fabri genannt). Sie zeigen, wie eng auch in Lindau die angehende evangelische Bewegung mit der Bauernerhebung verknüpft war. So veranlassten Zehntverweigerungen von Bauern in den Lindauer Gebieten die Einrichtung eines Kirchenpflegeramts und die Berufung evangelischer Prediger durch die Stadtgemeinde. Die faktische Absetzung Fabris begründete der Lindauer Rat durch dessen Abwesenheit während zweier verheerender Pestepidemien am Vorabend des Bauernkriegs (1519 und 1524). Der Vorgang selbst und die dahinter aufscheinenden Vorstellungen sind beispielhaft für die zahlreichen ›Enturlaubungen‹ (dimissiones) von Geistlichen im Laufe der sog. ›langen Reformation‹. Denn der Fall gewährt tiefere Einblicke in zeitgenössische Religionsvorstellungen als die eher schablonenartig verfassten Bestallungsurkunden der Stadtpfarrer, welche besonders aus dem späteren 16. Jahrhundert erhalten sind. So finden wir, dass die Lindauer sich Religion vorwiegend als Arbeitssphäre vorstellten und nicht als geistliche Sphäre oder Monopolkompetenz einer abgesonderten Geistlichkeit, dagegen aber als ganz gewöhnliche Dienstleistung, als human resource. Deshalb erscheinen uns auch die heftigen kommunalen Auseinandersetzungen um die Besetzung von Pfarrstellen, welche gerade die Bauernkriegsära kennzeichneten, weniger als Niederschlag wohlbekannter theologischer Debatten, sondern vielmehr als ein besonderer Ressourcenkonflikt. Aus dieser Sicht erhalten die Beschwerdelisten der Bauern - allen voran die berühmten ›Zwölf Artikel‹ aus Memmingen - eine ganz unerwartete inhaltliche Geschlossenheit, denn das kommunale Verlangen nach Pfarrerwahl und das Begehren nach Wiederherstellung der gemeinschaftlichen Forst- und Fischereirechte erscheinen nun beide als ein einziger Anspruch auf Kontrolle über lebensnotwendige Ressourcen. <?page no="289"?> J OHANN ES W OL FA R T 288 1. Introduction Enduring scholarly fascination with the resource conflicts of the German Peasant’s War surely derives from the high voltage that buzzes in the potential gap separating orthodox Marxist from bourgeois-conservative historians of all eras, including the early modern. While the tension was once especially pronounced in the Germanlanguage historiography (especially when there were still two Germanies), a comparable dynamic has also developed in English-language historiography, where significant differences between American and British receptions of Marxism, as well as marked differences in the influence of various confessional historiographies, continue to generate comparable potentials. Against this background, historians now habitually distinguish between material (widely deemed »socio-economic«) and ideal or ideological (commonly deemed »religious«) moments of conflict in the German Peasants’ War, with resource conflicts clearly belonging to the former category. The »new viewpoints« 1 of the 1970s - which included not only efforts at dialogue through the iron curtain, but also »heterodox« interpretations of tithe refusal against the background of anticlericalism, 2 or considerations of the Gospels as a source of legal norms equivalent to the lords’ textual instruments of Roman law property rights 3 - have demonstrated very little capacity to disestablish this basic dichotomy. Overall, it apparently remains normal to analyze key documents of the Peasant’s War in accordance with a self-evident dualism: between religious desires or reforming impulses, on the one hand, and material conditions, obligations, and grievances, on the other. Thus, for example, the famous demand for communal or congregational pastoral elections, which opened the Twelve Articles of the peasants first issued at Memmingen and then disseminated by print throughout the empire, is still commonly taken to be a sign of the religious awakening of the peasants of the German speaking lands. Recent work to recover the fifteenth-century story of endowed »peoples’ preachers« (Leutprediger 4 ), especially in the towns of southwest Germany and Switzerland, is often added as a prequel to this story of an upsurge in popular 1 For example, see B OB S CRIBNER / G ERHARD B ENECKE (Hg.), The German Peasant War of 1525 - New Viewpoints, London 1979. 2 For example, see H ENRY C OHN , Anticlericalism in the German Peasants War 1525, in: Past and Present 83 (1979), S. 3-31. 3 The most comprehensive argument, also well-received amongst English-speaking historians, is surely P ETER B LICKLE , The Revolution of 1525: The German Peasants’ War from a New Perspective. Translated by T HOMAS A. B RADY , J R ./ H. C. E RIK M IDELFORT , Baltimore 1981. 4 Direct quotations from Lindau sources retain original non-standard orthography and capitalization here; modern German terms follow modern usage, including capitalization for nouns. <?page no="290"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 289 religious desires and demands. 5 Even Peter Blickle’s forceful insistence that the Twelve Articles represented a uniquely concentrated ideological precipitate of »communalism« (Komunalgedanken) seems to have had little-to-no enduring impact on this self-contained practice of dividing religious (i. e., immaterial) from material (i. e., non-religious) motives or causes of the Peasants’ War. In the end, this is hardly surprising, given that historians of all schools and stripes, not to mention most dedicated »religionists« - i. e., those situated in academic units dedicated to the multidiscipline of Religious Studies - continue to operate with flexible and expandable understandings of religion itself, eschewing the concentrated effort required to establish the term as a scientific or otherwise narrowly disciplinary category and preferring, rather, to give free reign to religion as a »folk category.« 6 In view of this well-established historiography with its tendency to segregate the many and varied conflicts of the Peasants’ War into those fundamentally material and those categorically religious, one might reasonably ask: is there anything still to be gained for an understanding of the Peasants’ War by investigating so-called resource conflicts? The answer, of course, is a resounding »yes! « - and not just because the exercise affords one more opportunity to challenge »religion« as a habitual category of academic malpractice. In fact, other but no less basic concepts established in Peasant’s War studies - including even »conflict« and »resource« themselves - now also appear ripe for reconsideration. Since history writing consists, ultimately, in describing some manner of dialog between past and present, and because whatever counts as our »present condition« has indeed changed considerably since serious attempts to redirect traditional Peasant’s War historiography were last undertaken in the 1970s and 1980s, the overarching aim of this essay is to contribute towards such reconsideration, albeit within defined limits. First, considerations will pursue the concept of »resource conflict«; second, they will be framed by the case of the imperial city of Lindau. As it happens, I recently addressed issues arising from 5 For a survey of late medieval south German endowed preacherships, see B ERNHARD N EI - DIGER , Prädikaturstiftungen in Süddeutschland (1369-1530). Laien-Weltklerus-Bettelorden, Stuttgart-Leipzig 2011; for a recent case study, see R ITA V OLMER , Political Preaching and a Design of Urban Reform: Johannes Geiler of Kaysersberg and Strasbourg, in: Franciscan Studies 71 (2013), S. 71-88; a deliberate attempt to counter widespread representation of popular preaching as reflexive response to popular spiritual hunger in S USAN K ARANT - N UNN , Preaching the Word in Early Modern Germany, in: L ARISSA T AYLOR (ed.), Preachers and People in the Reformations and Early Modern Period, Leiden 2003, S. 193-219. 6 On religion as a »folk category«, see B ENSON S ALER , Conceptualizing Religion: Immanent Anthropologists, Transcendent Natives, New York-Oxford 2000, which relies conceptually on P AUL B OHANNAN , Justice and Judgement Among the Tiv, London 1957; compare also J ACK G OODY , Religion and Ritual: The Definitional Problem, in: British Journal of Sociology 12 (1961), S. 142-164. <?page no="291"?> J OHANN ES W OL FA R T 290 the definition of »conflict« in traditional approaches to Lindau’s early Reformation. 7 Which leaves the question of how to think about »resources« in relation to the early Reformation/ Peasants’ War. Therefore, it is the fundamental purpose of this essay to consider this question using documents contained in the Lindau archives. Finally, as I have argued elsewhere - as an exercise in establishing some »known unknowns« in lieu of oft-repeated myths about the unsatisfactory source situation - many rich collections of Peasant’s War sources remain unor underexplored, including those pertaining to the city of Lindau and its various jurisdictions (four mainland villages) and client-jurisdictions (primarily, endowments of the charitable foundation known locally as the Spital). 8 Therefore, as I explore what »resource« and »resource conflict« might mean in relation to the history of early modern Lindau, it also remains a secondary (and necessarily, open-ended) research aim to complement known archival sources for - and thereby also augment the historical record of - the Peasants’ War in Lindau jurisdiction. 9 2. Researcher Positionality and Research Questions I must admit that concerns regarding the self-evident nature of the concept »resource« do not derive from academic development or experiences alone. That is, neither formation in a school of skeptical or »revisionist« Reformation history nor a thirty- 7 J OHANNES W OLFART , Why Was There Even a Reformation in Lindau? The Myth and Mystery of Lindau’s Conflict-free Reformation, in: Renaissance and Reformation/ Renaissance et Réforme 40 (2017), S. 43-72. 8 J OHANNES W OLFART , Das argumentum ad ignorantiam, die Quellenlage und der nicht-narrative Verlauf des Bauernkriegs in Lindau, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 157 (2021), S. 361-372. This essay explored only one - main - condition of this neglect, namely: the emphasis on narrative historiography in historical research. Nevertheless, there are other reasons, including reasons for the concomitant dominance of a handful of ancient archival surveys and publication projects, such as those of F. Baumann or G. Franz, which must remain a puzzle for another occasion. 9 While I have researched the long Reformation in Lindau for decades, the Peasants’ War has not been a particular focus of research until recently. Nevertheless, the current essay is part of a ›workflow‹ that includes an attempt to counter-steer against the historiographical orthodoxy that the conflict passed Lindau by entirely (see K ARL S CHWEIZER / J OHANNES W OL - FART , Der Bauernkrieg 1525/ 26 in Stadt und Landkreis Lindau. Lindau 2024), as well as an effort to bring Lindau archivalia from this era to bear on larger questions in Religious Studies (see J OHANNES W OLFART , »Two Non-Theologians Walk into a Bar …«. A Micro-Historian in Conversation with a Public Intellectual, each of »Religion« in: W ILLI B RAUN / A ARON H UGHES (eds.), The Politics of Classification: Engaging the Work of Russell McCutcheon, Sheffield, forthcoming). <?page no="292"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 291 year career path in the company of Religious Studies scholars inclined towards theoretical and methodological debates, can fully account for my approach here. Instead, the overall perspective - or, in today’s academic speak, my own »positionality« - is that of an historian of early modern Lindau who is also a late modern Canadian. Notoriously, Canadian culture and Canadian national consciousness evolved in several phases of historical resource exploitation, from the fur trade of the colonial eras to current participation in global energy markets. As I conceived this essay in the summer of 2023 and now, again, as I compose a revised version for publication in the summer of 2024, Canadians are witnessing the devastation by wildfires of unimaginably large tracts of boreal forest. Moreover, very few people still deny human-caused aspects of the climate change that leads to these wildfires and their unthinkable costs, including the devastation of human settlements and communities established in our boreal forests. Consequently, such brutal destruction has given new energy and urgency to long-running debates about if and how Canadians should continue to develop their resource economies into yet further areas, such as rare earth element mining. These discussions (only with difficulty do I refrain from calling them »soul searching«) have also produced notable shifts in the meaning of the core concept »resource,« as governments and industry tout both alternatives to old-style natural resource extraction in so-called »knowledge economies,« and also now cast the workers and consumers of these new resource and knowledge economies, alike, as »human resources.« Of especial relevance here is the now widespread tendency to speak of »religious work« when describing the contributions of religious leaders or cultic specialists to these new economies. For example, current immigration laws and policies pertaining to so-called »temporary foreign workers« - that is, migrant workers with highly restricted residence rights and dependent largely on the needs and whims of employers - also make provisions for »religious workers.« In the case of temporary foreign workers doing such religious work, however, different rules apply, which means that religious work remains a privileged and special category of human resource. That is, religious workers and their labour is recognized as belonging within the range of human resources; but in also setting it apart - in the sense commonly associated with Emile Durkheim’s sociology of religion - this aspect of religion, as essential service provision, or labour, or human resource, is also immediately re-obscured. 10 In sum, the basic cast of the present investigation represents a confluence of three streams of inquiry: (1) long-running historiographical debates about the German 10 https: / / www.canada.ca/ en/ immigration-refugees-citizenship/ corporate/ publications-ma nuals/ operational-bulletins-manuals/ temporary-residents/ foreign-workers/ work-withoutpermit/ authorization-work-without-work-permit-clergy.html (visited on 1.8.2024); É MILE D URKHEIM , The Elementary Forms of the Religious Life. Translated by J OSEPH W ARD S WAIN , London 1912, bes. S. 47. <?page no="293"?> J OHANN ES W OL FA R T 292 Peasants’ War, especially its relation to the early Reformation; (2) equally well-worn theoretical questions pertaining to the extent and limits of »religion« as an analytical category; and (3) current Canadian civil society and government policy discussions over resource economies, especially human resource economies. In terms of the Lindau archive, especially its sources for the German Peasants’ War, such confluence issues in the following questions: (1) Does the historical record justify a conceptualization of early modern pastors as religious workers? (2) Can or should the service provision or job performance of religious workers be considered in the collective as a human resource? 11 (3) And, last-but-not-least, can disputes and conflicts over pastoral appointments in the early Reformation/ Peasants’ War era in Lindau be usefully understood as resource conflicts, albeit over human resources? 3. Representations of Religious Work, Especially in Cases of dimissio On the eve of the Peasants’ War the collective image of the clergy entailed considerable controversy throughout the German-speaking world. A well-known woodcut serving as the title page of a tract, »Vom alten und nüwen Gott/ Glauben/ und Ler,« published pseudonymously in Basel in 1521, may be considered as emblematic for the complex imagining of the clerical establishment as a class of »religious« social actors. This certainly applied to Lindau, since this very woodcut was demonstrably well-known locally. 12 (image 1) The vertically split image represents the established church as a corrupt human innovation, on the one side, and as an institution in accordance with the World of God ab origine, on the other. 11 Such a conception, of service provision and service providers as »human resources«, now also enjoys currency in in the German speaking academy. For example - and to remain quite close to Lindau - the chair at the Zeppelin Universität in Friedrichshafen ›Unternehmungsführung & Personalmanagement‹ is also advertised as ›Strategic Management & Human Resource Management‹, https: / / www.zeppelin-university.com/ chairs/ human-resourcesmanagement (visited on 1.8.2024). Similarly, at the renowned Hochschule in St. Gallen all courses formerly known as ›Wirtschaftslehre‹ have adopted the English term ›human resources‹, https: / / www.unisg.ch/ de/ studium/ programme/ bachelor/ major-betriebswirtschafts lehre-bwl/ curriculum/ (visited on 1.8.2024). 12 The Ehemalige Reichsstädtische Bibliothek Lindau owns a well-worn copy of this pamphlet (Bro. G. 52), which Eduard Kück (1896) attributed to the St. Gall mayor and humanist Joachim von Watt (Vadianus); other Reformation pamphlets and prints in this collection are annotated in the hand of the Franciscan lesemeister Michael Hug; it is further noteworthy that Faber complained specifically about the Lindauers taking him for a stocknar, which designation corresponds remarkably to this visual representation. <?page no="294"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 293 image 1: Title woodcut by an unknown hand; text by Joachim Vadianus <?page no="295"?> J OHANN ES W OL FA R T 294 The religious establishment supporting the carnival puppet pope is mocked as worldly and materialistic, with several carnival-float carriers clearly identified by name, including the then incumbent priest of Lindau’s parish church St. Stephan, Johannes Faber or Fabri (more on whom, below), as well as Aristotle with his compass and square. 13 On the other side, a host of loyal evangelicals, including Luther himself, is celebrated as part of a tradition of descent from the biblical brothers Aaron and Moses, likely a sly contrast to monastic »brotherhood.« On both sides, however, one sees depicted a genealogy of spiritual specialists, either evil and corrupt or righteous and pure. Such a visual representation of individual churchmen comprising transhistorical fraternities undoubtedly evoked doctrinal commonplaces such as the community of saints, or the spiritual genealogies found in martyrologies, hagiographical collections, and even in heresiologies, which cast the church as a traditional body. For sixteenth-century viewers it likely also resonated with those representations of smaller imaginary communities, especially monastic but also secular urban guild »brotherhoods«, whose traditions were established in institutional necrologies, chronicles, and so forth. More importantly, however, representation of the clergy functioning as a legal-estate-cum-occupational-caste also corresponds to a visible historical and social-political reality. Against this background, then, it also makes sense that the primary function of the clergy, to supply services of a spiritual nature, whether sacramental-cultic or evangelical-pastoral, was likewise the subject of lively imaginary, discursive and representational practices. Which is to say that, at the point of transition from the old to the new church (or at the point of return from serving the new to serving the old God, as the image had it), people gave ample thought and consideration to what churchmen actually did from day to day, as well as to the social purposes and products of their occupational identity - i. e., to religious work. In this regard, and against the background of the lively contemporary anticlericalism expressed in this woodcut, it is also highly noteworthy that the first of the Memmingen Twelve Articles (mentioned above) demanded significantly more than just the communal or congregational election of pastors. It also demanded the right to fire parish incumbents … without indeed specifying anything of the »spiritual corruption« found in later confessional documents and repeated in several long traditions of protestant self-representation ever since. Rather, grounds for clerical dismissal were simply identified as »improper behavior« (wenn er sich ungebürlich verhält). The identification of both qualified and unqualified religious workers raises several important questions about usual assumptions and practices in Reformation scholarship. While some of these questions tend towards the theoretical, others are much more down-to-earth and methodological, deriving from the possibility that provisions for the dismissal of clergy triggered bureaucratic work, which in turn 13 A likely visual pun, since the common German term for such geometrical instruments, Messgeräte, is a homonym for liturgical implements, especially eucharistic chalice and patten. <?page no="296"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 295 produced documentation. Turning to Lindau and her archives, then, it does seem that detailed documentations for the exact opposite of a spiritual vocation or pastoral appointment abound. Indeed, while one might search in vain for anything like modern »job descriptions« it is possible to locate multiple accounts of so-called dimissio or »putting on leave« (endurlaubung 14 ) of religious workers in early modern Lindau. Interestingly, though, these are to be found in a council file of assorted early modern documents that a nineteenth century archivist designated »appointment of preachers and teachers.« 15 In actuality, this file preserved only two clerical contracts establishing in any detail the labour conditions of religious workers - and these were not appointed to Lindau’s civic parish of St. Stephan itself but to the ex-urban mainland communities of Reutin (technically a subsidiary church of St. Stephan) and Laimnau (located in Lindau’s so-called »lower jurisdiction« and home to many serfs tied to the city’s almonry, or Spital). Each of these contracts established both a general duty of care (versehung 16 ), as well as specific details of compensation (basic pay plus various benefits), and diverse special conditions. In addition, however, each contract also contained an explicit dismissal clause. Indeed, from the point of view of the overall source situation these quasi-contracts or bare-bones-job descriptions were rather the exception than the rule. Much more abundant, as well as more telling, are the records of clerical dismissal in Lindau, to which we now turn. From a methodological standpoint alone, the very existence of dimissio clauses in the few clerical contracts mentioned above is highly suggestive and potentially significant. Since there are almost no job descriptions for Lindau clergy - at least not in the modern sense; that is, no documents laying out desirable competences or necessary functions of religious workers positively and in detail, negative descriptions or explanations of grounds for dismissal might prove very valuable. And, indeed, for clergy in Lindau’s emerging protestant church, there are extant documents detailing cases of dimissio, documents that also actually reveal some of the expectations placed on these early modern religious workers. Moreover, using such cases of clerical firings avoids many of the pitfalls associated with attempts to draw retrospective conclusions from later appointment diplomas (Bestallungsurkunden), documents more widely issued to protestant clergy in the seventeenth century. Generally, such formal documents were only produced once the dual processes of embourgeoisement and professionalization of the clergy were already well underway. Famously, however, these processes also entailed, among other things, concerted 14 Both the Latin term dimissio and its vernacular equivalents - endurlaubung, enturlaubung, or beurlaubung - are common throughout the Lindau sources for the long sixteenth century. 15 StadtA Lindau, RA 68,6: Anstellung von Predigern und Lehrern. 16 This is also the term that Faber used when he defended his performance in Lindau, for example in a supplication to the Imperial Court of 1526, which is preserved in StadtA Lindau, RA 63,1. <?page no="297"?> J OHANN ES W OL FA R T 296 efforts to conceal or dissemble any aspect of clerical vocation as occupation comparable to the spheres of craftsmen, labourers and peasants - as work qua work. Thus, the use of these Bestallungsurkunden to establish the sphere of religious work in any age represents yet another factor - here methodological in addition to the ideological factors already mentioned - contributing to the concealment of religious work as such. By contrast, and as will shortly be seen, the records of clerical dimissio from Lindau make it very clear that the vocation or job of a pastor could be - and indeed, was - considered simply work (Arbeit). Finally, perhaps the most remarkable thing about clerical firings over the course of Lindau’s long Reformation, 17 is the sheer density of such cases of dimissio that were preserved archivally. Furthermore, one is struck that, while much of the documentation might appear low-key, utilitarian, or banal (certainly compared with later ceremonial appointment diplomas), these clerical firings were significant events in more than one regard. Indeed, it seems that the long Reformation in Lindau both began and concluded with highly controversial pastoral dismissals. Thus, the decadeslong fight between the city administration and the last old-church incumbent of the city parish of St. Stephan Johann Faber (which nevertheless reached a dramatic highpoint during the Peasants’ War), as well as the so-called Neukomm Affair (Neukommhandel) of 1626, have already each enjoyed modern scholarly treatments. The eventful career and turbulent character of Alexius Neukomm have been addressed in several recent studies. 18 Although Johann Faber’s long career as a Catholic churchman and vigorous anti-protestant polemicist (in some circles he was celebrated as the »hammer of heretics«) has received considerably more scholarly attention than Neukomm’s, his likewise eventful time as parish priest in Lindau has been relatively neglected, even in the local Lindau historiography. Still, one could with some justification speak of a local »Faber Affair« or »Faberhandel.« Faber’s Lindau career, including his dimissio, de facto if not de jure, will be examined in some detail below. Yet, instead of starting with bookend cases of clerical firings from either 1525 or 1626, we will begin our examination of the Lindau data by considering some welldocumented cases of clerical dismissal from near the mid-point of Lindau’s long 17 For the concept of ›long Reformation‹ see, for example, A MY N ELSON B URNETT , Basel’s Long Reformation: Church Ordinances and the Shaping of Religious Culture in the Sixteenth Century, in: Zwingliana 35 (2010), S. 145-159. 18 J OHANNES C. W OLFART , Religion, Government and Political Culture in Early Modern Germany: Lindau, 1520-1628, Basingstoke 2002; compare O TTO M AYR , Die schwedische Belagerung der Reichsstadt Lindau 1647: Der Dreißigjährige Krieg am Bodensee und in Oberschwaben, München 2016; Mayr rejects contextual or conjunctural analyses of the conflict surrounding the introduction of auricular confession in Lindau and instead revisits with approbation older interpretations of the Neukommhandel as entirely the fault of one especially troublesome character, the pastor Alexius Neukomm. <?page no="298"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 297 Reformation. These occurred just as the Reformation was being institutionalized in the town, but before the onset of the heightened confessional tensions that accompanied the Thirty Years War. The Reformation-midpoint decade of the 1570s saw Lindau’s administration dismiss not just one but two pastors appointed to the parish church of St. Stephan. The first, Sebald Scheffler, appointed as a pastor of St. Stephan in 1566, was accused of openly challenging the integrity of two councilappointed church wardens (Kirchenpfleger), Haimprand Kettenacker and Peter Loy. Such accusations were documented variously starting in 1571. 19 Scheffler was eventually formally dismissed by the council after he took to the pulpit in defiance of council instructions, to denounce the wardens for breach of trust and alienation of church properties. The archival precipitate from the ensuing legal storm preserved many contemporary attitudes to religious work very clearly, along with the details of a local political kerfuffle. Notwithstanding the church wardens’ assurances that it was never their intention to attack the independence of the »office of preacher« (predigtamt), which they considered a »high and godly vocation« (hohen und göttlichen beruf), Scheffler preached a second inflammatory sermon in which he complained that his standing in Lindau was that of an »indentured day-labourer and worker« (gedingten taglöhner und arbaitter). It is not a little ironic that it was this action that finally sealed his fate and guaranteed his permanent dismissal. Remarkably similar expressions and representations were in evidence at the dismissal of Scheffler’s colleague, Tobias Rupp, later that same decade. 20 Following theological studies abroad, Rupp had been appointed to his hometown parish in 1561. He ran afoul of the city council, however, when he published a controversial theological pamphlet at the Basel press of Samuel Apiarius. Consequently, he was forced to leave Lindau permanently for Basel in 1576. Before dismissing their pastor, however, the council secured a detailed testimonial from Rupp’s Lindau colleagues, who did not support him. His colleagues reported that Rupp had done his »soulcaring work« (seelsorgerische arbeit) poorly, and that they considered him to be »an incompetent and destructive worker« (untüchtiger und schädtlichen arbaiter). Apparently, even after leaving Lindau, Rupp continued to interfere in parish affairs from his new home in Basel; in the words of his colleagues: Dieweyl er aber gleichwol in diser unser Kirchen soll feurabendt gemacht haben […] er sich dann unterstehe […] noch etwas weiter alhie 19 Documentation is in a file of various council dealings with city pastors covering several decades of the later sixteenth and early seventeenth centuries; StadtA Lindau, RA 68,3; in this case, Scheffler’s three colleagues (by the 1570s the city supported four clergy to minister to St. Stephen) also submitted a letter on his behalf, which was also clearly in defense of their office (Ampt). 20 Documentation is in a file predominantly dedicated to council actions against Flaccianism in Lindau during the 1570s; StadtA Lindau, RA 64,11. <?page no="299"?> J OHANN ES W OL FA R T 298 zu arbaiten. 21 Although such testimonies were clearly rhetorical and tendentious, what they do indicate very clearly is that it was entirely possible for Lindauers of that era to conceive of ministry as a species of work. In the firing records of Scheffler and Rupp we have two instances, for the 1570s alone, of the sustained and complex representation of pastoral care as work - even if the workers in question were also each formally appointed to ecclesiastical offices. Yet, religious work certainly did not accord in all aspects with other species of labour that were known, recognized, or idealized in Lindau. For example, the work of the guild-based crafts (Zunfthandwerk) was also conceived as much more than wage labour and was, further, distinguished categorically from a whole range of necessary jobs done by dishonourable folk (e. g., classically, animal or human corpse disposal). Moreover, for much of the late medieval and early modern periods, guildsmen were privileged constitutionally in Lindau, as elsewhere; in Lindau the influence of the guilds in local political culture endured even after an imperial mandate to dismantle formal guild constitutions was issued in the wake of the Schmalkaldic Wars. Therefore, Scheffler’s claim that he was being treated as a day-labourer or indentured servant was unmistakeably a grievance that he was being dishonoured, since he and his work were accorded an inferior status to that of a guildsman, long the basic qualification of any citizen. 22 Towards the beginning of the seventeenth century, working conditions and performance expectations for Lindau’s clergy were more commonly also documented positively. Yet, the ideological outlines of religious work already sketched above do not change substantially in these sources; indeed, they only become more distinct. For example, in 1601 the Lindau council hired a religious refugee from Klagenfurt, Matthias Mener, for the quasi-ministerial job of cantor, with the condition: Wie einem Cantori zusteet so wol in der Kirchen als der Schuol gebrauchen lassen. 23 When Mener approached the council with a request for designated office space in addition to the living quarters assigned to his family, he did so with the argument daß die Kopfarbait für ein schwäre müh unndt last seÿ, so woll in gaistlichen alß weltlichen sachen. 24 Similar attempts to associate »head work« with the »hand work« (Handwerk) that enjoyed such special 21 »Although he had as good as called it quits in our church […] he still had the nerve […] to work some more here.« All translations from Lindau sources are those of the author; StadtA Lindau, RA 64,11. 22 For an extensive treatment of the historical significance of occupational honour, see J OEL H ARRINGTON , The Faithful Executioner: Life and Death, Honor and Shame in the Turbulent Sixteenth Century, New York 2013. 23 Documentation of both Mener’s arrival in Lindau, as well as subsequent negotiations with the council regarding his employment, in StadtA Lindau, RA 68,7; this looks remarkably like a modern personnel file. 24 StadtA Lindau, RA 68,7: Mag. Matthias Mener to the Lindau council, 1601. <?page no="300"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 299 resonance in Lindau’s craft-guild-oriented political culture can already be found much earlier, however. For example, archival holdings pertaining to the local grammar school established in the first phase of the Reformation, include application letters from would-be recipients of a scholarship endowed to send local boys on to university. These are especially rich in details about occupation and vocation of would-be pastors. For example, when the Lindau burgher son and future city pastor Matthias Rot sought support for his studies in Wittenberg, he described his academic path as an occupational re-tooling or career change: wie mich dieselben E. W. von meinem handtwerk günstiglich zu dem studieren beruffen und gefoddert […] durch die genad gottes etwas guotten khünsten fruchtbars und nützlichs außzurichten. 25 In sum, when Lindau pastors, including the aforementioned Matthias Mener, started invoking scripture to call their own efforts »work in the vineyard of the Lord,« 26 the Lindauers’ concept of religious work, as well as the occupational culture of religious workers, had already developed and expanded well beyond the limits of this biblical imagery. Certainly, Lindau clergy in various phases of the long Reformation considered their occupation as service or »job« rather than as action in a separate spiritual sphere or pertaining to the unique capacities of a spiritual estate. Indeed, the latter vocabulary is only notable only for its complete absence, at least from early modern Lindau sources. Finally, it should be noted that Lindau was far from unique or eccentric in its attitudes to religious work and workers. Indeed, local discourse - meaning: specialist vocabulary plus discernable rhetorical intent or representational purpose in its application (i. e. speech-utterance plus speech-act) - accorded very closely with what Sabine Arend has recently extracted from a wide range of sixteenth-century German church ordinances. According to Arend, there was a general concept of work or service-provision jobs in the religious sphere that deliberately and categorically distinguished such religious jobs from concurrent loftier notions of »office« as an assigned seat in the divinely ordered universe, held only by academic theologians: »amongst the incumbents of offices in the sense of jobs church ordinances counted 25 StadtA Lindau, RA 68,6: Matthias Rot to the Lindau council, 1537. 26 The figure became especially widespread in the second half of the century. For example, Lucas Cranach the younger’s famous epitaph painting ›Im Weinberg des Herren‹ was completed and installed in the Wittenberg city church of St. Marien in the mid-1570s. Cranach placed known leaders of the Reformation in the vineyard performing various viticultural tasks, with Luther at the center of it all, rake in hand. Although vineyard cultivators were considered amongst the lowliest of workers, in Cranach’s depiction they are represented as ›potentially‹ very productive, nonetheless. In a side-by-side composition reminiscent of the woodcut ›Vom Alten und Nüwen Gott …‹, Cranach depicts the Roman ecclesial establishment stripping the left side of the vineyard, eating grapes, kindling fire, and filling the well with rocks - fortunately, with a fence separating the now perpetually barren ground of one half of the vineyard from the lush other half. See https: / / lucascranach.org/ de/ DE_ ESKStMW_NONE-ESKStMW012/ (visited on 1.8.2024). <?page no="301"?> J OHANN ES W OL FA R T 300 the following: pastors and preachers, who convey the articles of faith and administer the sacraments, schoolmasters, who not only teach reading and writing but also convey the contents of the catechism, superintendents, visitors, church and consistory lords, who exercise oversight duties and practice church discipline, as well as treasurers and welfare officers, who organize public charity and manage the common chest.« 27 4. Pastoral Service in Early Reformation, Peasants’ War, and Epidemic Crisis Which brings us, finally, to questions arising from Lindau’s archival sources for the period of the German Peasants’ War as well as for the early or incipient Reformation. The notions outlined above, of church-based occupations as jobs and of religious work largely as a range of service provisions - i. e., as work in the sense of social as well as economic production - appear to have endured over the entire course of the long Reformation. Thus, there appear to be marked continuities between the later and more magisterial or confessional phases of the Reformation, just discussed, and the earliest phases of religious reform, especially in conjunction with the Peasants’ War. Admittedly, some notion of religious office or vocation already enjoyed currency in the key decade of the 1520s, not least of all due to Luther’s own busy polemical activity on the subject. Yet, explicit representations of diverse church-based jobs meeting public needs or fulfilling particular social functions also abound in the Lindau archive for the 1520s. Exemplary data for such an understanding may be extracted, for example, from a correspondence file documenting exchanges between the Lindau council and the last pre-Reformation incumbent of the city parish of St. Stephan, the priest Johann Faber (mentioned above). 28 Apparently, on the eve of the Peasants’ War Faber (whom the Lindauers also sometimes called »Herrn Hans« and who later stylized himself Dr. Johannes Fabri) was frequently attacked in Lindau for his deficient pastoral performance, especially 27 S ABINE A REND , Staat und Familie - Formen des lutherischen Amtsverständnisses in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Archiv für Reformationsgeschichte/ Archive for Reformation History 110 (2019), S. 138-156, here at 142. The original German reads: »Zu den Inhabern von Ämtern im Sinne von Berufen werden in den Kirchenordnungen folgende gezählt: Pfarrer und Prediger, die die Glaubensinhalte vermitteln und die Sakramente spenden, Schulmeister, die nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch die Katechismusinhalte vermitteln, Superintendenten, Visitatoren, Kirchen- und Konsistorialräte, die Aufsichtspflichten haben und die Kirchenzucht üben, sowie Kastenmeister und Armenpfleger, die die Mittel für die öffentliche Fürsorge organisieren und im gemeinen Kasten verwalten.« 28 StadtA Lindau, RA 63,1: Dr. Joh. Fabri Contra Lindau 1523-1529. <?page no="302"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 301 by members of the local house of discalced Franciscans. The brothers’ lesemeister Michael Hug regularly gave sermons drawing large audiences of townsfolk, in which he directly criticized and mocked Faber along those lines depicted in the woodcut discussed above. After Hug died in the plague wave of 1524, and with Faber spending most of his time away from Lindau in Constance, where he functioned as episcopal vicar, Hug’s Franciscan colleague Sigmund Rötlin became Faber’s habitual substitute in Lindau. Rötlin, like Hug, was strongly inclined to the burgeoning evangelical movement and it is reasonable to assume that his influence, as well as Hug’s, contributed to tithe strikes against Faber in two consecutive years on the eve of the Peasants’ War. Yet, such tithe refusal also apparently met with council approval, at least unofficially. Indeed, it is reasonable to conclude that at this point the absentee Faber was fired de facto from his position as Lindau’s parish priest. The Lindauers would soon discover, however, that getting rid of Faber de jure was not quite so easily accomplished, when Faber repeatedly sued Lindau for reinstatement and/ or back-pay and damages, doggedly pursuing various legal actions against the city until his death in 1541. From our point of view, however, the documentation generated in the early-to-mid 1520s is especially enlightening because it reveals a wide range of attitudes to religious work - all pointing to an underlying conception of religion, whether material or service, as a resource, either plentiful or scarce. Thus, the tithe strikes against Faber and his de facto dismissal were justified by the Lindauers with the claim that Faber had cared for them insufficiently, i. e., that he had not done enough work or provided enough service in the parish. Faber’s counterargument amounted to assertions that he had provided exactly those religious goods and services that were required of him. Such exchanges more than suggest that the legal battle between priest and city hinged - at least at this early stage - very little on legal principles such as incumbency rights, or injury to the integrity of office, or violation of professional honour. Instead, at stake were differing - but not necessarily diametrically opposed - conceptions of the goods of pastoral care or religious service, and the occupational duty to provide the same. Indeed, their disagreements notwithstanding, Faber and Lindau appear to have shared a very similar, pragmatic attitude about the most fundamental function of a pastor, which apparently consisted in provision … of something. As their respective argumentative positions were formulated back-and-forth, however, it was ultimately only a difference between two sub-domains within religion - different, yet each decidedly oriented to resource provision - that animated the dispute. Thus, Faber insisted that he had offered his Lindau parishioners all the ritual resources they could have wanted. Lindau’s counterargument was that he had not tended to them personally or had failed to afford them sufficient pastoral care resources, which would have been necessary to ease their many agonies, especially in a time of epidemic plague. <?page no="303"?> J OHANN ES W OL FA R T 302 Image 2 and 3: recto and verso of a letter by Faber with Lindau comments. <?page no="304"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 303 <?page no="305"?> J OHANN ES W OL FA R T 304 A letter from Faber to the Lindau council, originally dated 1519 but annotated by several anonymous Lindau scribes in a kind of dialog with the absentee Faber up to 1524, throws this bifurcated understanding of religious service work into especially sharp relief. (image 2) As already noted, Faber offered the Lindauers ritual resources - goods and gestures prescribed by recognized authorities - to combat the plague in Lindau. Invoking the combined authority of the pope and his cardinals, Faber prescribed the Lindauers the following measures to combat outbreaks of plague in their town: five special masses on five consecutive days, with litanies and procession around the parish church. In addition to a cash sacrifice to be placed on the altar, each participant was to carry a lit offertory candle and recite daily Paternosters and Ave Marias, increasing in number from five to seven over the five days. According to Faber such observances were not only effective against the plague; all participants would also receive a remission of 240 days of purgatorial penance - an indulgence. Thus, Faber’s efforts on behalf of his parishioners appear as a prime example of that econometric piety criticized by early reformers, caricatured and lampooned in confessional polemics, and still commonly presented as evidence for the »corruption« of the late medieval church in many garden-variety college textbooks. One of the scribes - likely, a Lindauer - who received Faber’s apology commented on Faber’s prescribed course of ritual thus: Also het der andechtig Pater so ain mensch 3 h [eller] geopffert, die 5 tag mer den 50 fl darvon pracht. O Sancta Simplicitas. 29 A more extensive response - following chancery practice it was recorded on the reverse of Faber’s letter - suggests a more complex and nuanced picture of the Lindauers’ objections to Faber’s poor job performance. (image 3) Certainly, there was some mocking of Faber’s suggested course of ritual and its intention zu trost unnd hilff (als er sagt) seiner Pfarrkinder gen Lindaw. 30 But the Lindauers also conceded that the material costs of the five special masses were not a significant issue, since Faber had offered to set up a basin with money from which people could take offertory coins. According to the scribe, Faber himself had anticipated that the Lindauers might impute a motive of avarice to him and his anti-plague-measures. In the end, moreover, the council rejected Faber’s offer and their decision is recorded, once again, in an unmistakeably mocking tone: Wie ain angenem wolriechend opffer wer das gesein vor Got. 31 Despite their comically demonstrative rejection of Faber’s offer, however, the Lindau authorities continued to engage him in various negotiations. In part, this apparent wavering can probably be put down to the fact that Faber had indeed provided them with a substitute of whom they approved, and who actually gave them what they needed or expected by way of in-person care during an epidemic. 29 »Thus the pious Father, assuming a person sacrificed three pennies, made away with more than fify florins in five days O Sancta simplicitas.« 30 »… to comfort and aid (so he says) his parishioners in Lindau.« 31 »What a pleasant and sweet-smelling offering before God that would have been.« <?page no="306"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 305 Faber’s stand-in, the Franciscan brother Sigmund Rötlin (already mentioned above), was at this time well-known and respected for his evangelical preaching, regionally as well as locally. Thus, a reference in the »Constitutional Draft for a Christian Association,« issued at Memmingen at the height of the Peasants’ War, apparently identified him - not by name but as the »preacher in the friary in Lindau« - alongside Luther, Melanchthon, Zwingli and other early evangelical luminaries, as one of the fourteen doctors qualified to pronounce on Godly law. 32 Rötlin’s personal ministry and close contact with plague victims was not, of course, without risk. Not surprisingly, therefore, he died suddenly in November of 1525, presumably of plague. This meant that Faber’s absenteeism once more left Lindau with a pressing pastoral care deficit or religious supply-chain problem. Certainly, the Lindauers’ were inclined to exaggerate Faber’s delinquency, since they were now also defending themselves at court against Faber’s suit for the tithes associated with St. Stephan’s parish, which he claimed had not been remitted to him for two consecutive seasons. The issue here, it turns out, was twofold. On the one hand, there had apparently been tithe-strikes in Lindau territory. On the other hand, the Lindau council had evidently itself acted to redirect the tithes and to take control of the administration of tithe collection, which apparently included a confiscation of parish account books. The council did this, they claimed, to prevent a temporary deficit of tithe incomes during the peasants’ uprising from turning into a permanent loss. In reply to Faber’s suit for restitution of these tithes (and, possibly, the account books themselves, which he later tried to retrieve in person - see below), the council declared: Als Maister Sigmund Rötlin seliger mit tod abgangen und sich die Emporung der undertanen wider die Oberkaiten Erhept und niemands mer zehenden geben wollen Darmit dann der Zehend solicher pfarr [i. e., St. Stephan] durch solichs nicht in ainen abfall Kum und verblichen wurd, haben si der pfarkirchen pflegern uff dess jetz und vergangens herbst befolhen […]. 33 On balance, however, Lindau’s complaints against Faber mostly appear as pleas for better care and treatment under crisis conditions. According to the Lindauers, Faber had given in to his own fears and panic and had simply abandoned those entrusted to his care to their bitter fates, so that many had suffered and died without adequate care. Today, post- COVID -19, such exchanges sound all-too current and 32 H EIDE R USZAT -E WIG , Was geschah im März 1525 in der Kramerzunft in Memmingen? Bauern zwischen Gewaltbereitschaft und Friedenswillen (Sonderheft der Memminger Geschichtsblätter), Memmingen 2022, S. 28. 33 »When Master Sigmund Rötlin of blessed memory had died and the uprising/ outrage of the subjects against the rulers arose and nobody wanted to give the tithe anymore; in order that the tithe of this parish [i. e., St. Stephan] thereby not fall into disuse or be erased, they [the council] deputed the parish church wardens for this and last fall …«; StadtA Lindau, RA 63,1: Antwort uff Dr. Fabers Positions Articul, 1525; the file contains two copies, both apparently contemporary. <?page no="307"?> J OHANN ES W OL FA R T 306 familiar. Indeed, it would likely seem neither far-fetched nor entirely anachronistic to conclude that, to Lindau eyes, Faber was one of those frontline workers who simply abandoned their posts in the high-mortality chaos occasioned by epidemic disease. And so, the conflict between Faber and Lindau just carried on, strangely unchanged even as the Peasants’ War reached a first highpoint of revolutionary tension in the region between Allgäu and Lake Constance, and the collapse of the putative revolution and the brutal peasant massacres and mopping-up operations organized by Georg III von Waldburg (infamous as Bauernjörg) still loomed in the future. 34 Nevertheless, at this time a new rhetorical strategy also appeared in the increasingly legal correspondence between Faber and Lindau. Now, Faber denied that he had any economic interest whatsoever in the parish and insisted instead on purely »soulcarer« (selsorger) motives. That he was merely acting as a selsorger, or doing as properly befitted such a »soul-carer,« is a persistent theme in Faber’s various self-vindications and attempted apologia. The likewise standard Lindau response was he was particularly delinquent in this regard, such that one was forced to look after oneself (deshalben man sich selbs hat mussen versorgen). 35 The apparent rhetorical dissolution of the parish into material and spiritual elements here is especially noteworthy. It suggests clear ideological - in the sense of an ideal superstructure over material relations - motives or origins for »religion« as a spiritual sphere sui generis and/ or as an autonomous folk category. Thus, these exchanges between Faber and the Lindau council might be taken as a very early instance of what would develop over the course of the entire early modern period into »discourse on religion,« academic and non-academic alike (see above). In other words, in a certain sense the »religion question« that continues to animate the field of Religious Studies derives not from Reformation-era theological debates, or Enlightenment-era philosophical ones, but from existential struggles between lords and peasants projected onto relations between »soul-carers« and parishioners. In more immediate and practical terms, however, the positions of both parties in our story remained largely the same, so that the negotiations between Faber and Lindau rather reveal another - perhaps prior? - discourse, one in which religious work simply appeared as religious resource provision. As such, matters pertaining to religious work appear to have existed in very close proximity to other questions of material resources, and certainly not on any elevated plane of their own. 34 Vgl. P ETER B LICKLE , Der Bauernjörg, Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg, 1488-1531, München 2015. 35 StadtA Lindau, RA 63,1: Lindau Council response to Faber’s appeal to the Imperial Court, 1528. <?page no="308"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 307 5. The Valuation of Religious Work - as a Human Resource On 25 July 1525, barely a third of a year after the »Constitutional Draft for a Christian Association« had been conceived at Memmingen, and only three months after the fateful Treaty of Weingarten, Faber sent two letters, both extant, to Lindau from Memmingen. 36 In one he complained that the tithes from the harvests of 1523 and 1524 had still not been remitted to him, which he considered a violation of the principle that »nobody should be denied what is theirs« (nyemand des synen soll entsetzt wirden). As a matter of fact, Faber reiterated (or conceded? ), the Lindauers had been extremely well looked after by the substitute appointed by himself, Sigmund Rötlin. Nevertheless, Faber further intoned, the parish and its incomes were still rightfully his and his alone and nyemants gebuhret sich widere mich ynzetringenn unnd on recht zu entsetzen. 37 Although he made no explicit mention of it here, Faber’s arguments on this point were unmistakable references to the Twelve Articles. That is, Faber was beginning to conflate his problems in Lindau with the regional conflagration of the Peasants’ War, even as he emphasized his own moderation in these revolutionary times. Thus, in a supplication to the imperial chamber court of 1526, Faber insisted: so hab ich nit gelert wie der auffruerisch ErzCäzer der Luther, das man kein pawren soll leben lassen, darauff Ablaß geben, sondern zu frid und einigkait. 38 Further rationalizations of his job performance, less »public« and less politically dicey than an appeal to the emperor, emphasized the connection, too. Thus Faber assured the Lindau council: nit das ich der Schaff wollen noch ander Zittlichen nutz such oder beger sonder das uwere seel hail, auch gemainer statt nuz eer und Wolffart darzu bewegt. 39 Therefore, he insisted, he would continue to appoint substitutes to St. Stephan, for the »salvation and improvement/ health« (zu hayl und besserung) of the Lindauers. 40 On 10 August Faber’s other employer, the Bishop of Constance, then issued an arbitration mandate summarizing Faber’s position as follows: never had he sought special consideration or advantage but only those tithes to which he was entitled under the law; yet his main purpose was the spiritual well-being of the Lindauers. Therefore, Faber had supposedly offered assurances that he would use incomes from the Lindau parish only to hire a substitute 36 StadtA Lindau, RA 63,1: Faber to Lindau Council, 25 July 1525. 37 »… and nobody could justifiably barge in against him and remove him from the parish without legal warrant.« StadtA Lindau, RA 63,1: Faber to Lindau Council, 25 July 1525. 38 »… thus, he had not taught as the seditious arch-heretic Luther, that one should let no peasant live and then offered indulgence, but rather [Faber] had taught peace and unity.« StadtA Lindau, RA 63,1: Suplicatio [sic] of Faber to the Kammergericht. 39 »… not that I seek or desire the wool from his flock, nor any other worldly use, but that the salvation of your souls along with the common city’s utility, honour, and welfare moves me to such actions.« StadtA Lindau, RA 63,1: Faber to Lindau Council, 25 July 1525. 40 StadtA Lindau, RA 63,1: Faber to Lindau Council, 25 July 1525. <?page no="309"?> J OHANN ES W OL FA R T 308 and would redirect any surplus funds to the poor in Lindau’s Spital. On 7 September Lindau also received an instruction from Archduke Ferdinand in Tübingen on Faber’s behalf, which was remarkably sharp in formulating the central legal issue of illegitimate or unlawful dismissal. This document also specified the sums involved: for his service in Lindau Rötlin had received an annual salary of 40 florins, in addition to food and drink. Nevertheless, according to the instruction, he remained and was to remain »without all title« (on allen titel) to St. Stephan. Finally, it was claimed that the rightful incumbent, Faber, had been losing 115 florins annually on the parish. 41 At this juncture, following the archducal intervention, the calculation of parish incomes became a focal point of the dispute. For this reason, also, Faber requested of the council a letter of safe conduct to Lindau. Having refused to visit Lindau during the plague, he now wanted to retrieve parish account books, which he repeatedly referred to as his books, personally. At first the council made various lame excuses and floated diverse arguments against such an in-person visit from Faber; then, however, they admitted that, by the council’s own determination, the account books were now within the purview of the church wardens (Kirchenpfleger). As already mentioned, these had been appointed only recently, following the untimely death of Sigmund Rötlin and during the »uprising of the subjects« (emporung der untertanen - i. e., the Peasants’ War), to prevent tithe payments from lapsing altogether. 42 Furthermore, the Lindauers now returned to their original grievance against Faber, namely: that he had refused to come to Lindau during the plague outbreak to minister to the sick and dying. A brief to the city’s emissary at the imperial chamber court also emphasized this point: in Lindau one had seen no one who would take care of them and so they had, as a matter of necessity or in emergency, looked after themselves. Finally, the Lindauers flatly refuted the accusation that they had deprived Faber of his parish on illegitimately assumed authority. On the contrary: he had left them pitifully neglected (kläglich unversorgt) in their great need. 43 Yet, Faber made one more play at the imperial court, again with reference to imperial law and governance. Moreover, he finally referred to the Twelve Articles explicitly, and expressed his hope to the court: es werde gegen mir nit laut der pawren artigkel sondern nach dem Kayn Rechten und des hailigen Reichs ordnung gehandlet und geholffen. 44 Nevertheless, Faber was simultaneously remarkably defensive, intoning that he had always comported himself »as was right and proper for a soul-carer and pastor« (wie einem selsorger gezimpt […] und anderst so einem pfarrher zugehört). Above all, Faber insisted that he had in fact 41 StadtA Lindau, RA 63,1: Archduke Ferdinand to Lindau Council, 7 September 1525. 42 StadtA Lindau, RA 63,1: Antwort uff Dr. Fabers Positional Articul 1525. 43 StadtA Lindau, RA 63,1: Instruction Unnder Burgermaister Bodmer und Kröl, 1526. 44 »… one would not proceed against him according to the peasants’ articles but subject to imperial laws and the Holy [Roman] Empire’s constitution.« StadtA Lindau, RA 63,1: Suplicatio [sic] of Faber to the Kammergericht, 1526. <?page no="310"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 309 visited Lindau in person at the height of the plague and had ridden in and out of town without fear; moreover, when he had not been present in person, he had taken appropriate measures to ensure that the Lindauers »had been sufficiently supplied« (genugsam versehen gewesen) with vicars and ministry helpers. 45 Where once he claimed to have provided the resource of ritual in accordance with canonical authority, he now claimed to have also supplied the resource of pastoral care demanded by the Lindauers. In the end it came down to this: when the Lindauers complained that they had lacked pastoral resources Faber’s first counter had been that he had always ensured that sacramental resources were readily available in the town. Initially, therefore, the disagreement between Faber and Lindau hinged on the kind of resources required to meet the religious needs of Lindau. Yet, as their dispute unfolded Faber also admitted that Lindau’s demands for specifically human resources, while perhaps soteriologically inferior or even irrelevant, were nevertheless quite understandable, especially given the dire circumstances. Above all, Faber seemed to concede the legitimacy of such claims regarding his own duty of care during the plague waves of 1519 and 1524, when he himself invoked »common utility« (gemein nutz) in a way that signalled clear overlap with his sphere of competence. Yet, he continued to fight the Lindauers in court - and with every resource at his disposal. As the decade wore on, moreover, a further distinction emerged with greater clarity in the exchanges between the town and their ex-pastor, as follows. Towards the end of the 1520s the conceptual pair »soul carer« (seelsorger) and »church warden« (kirchenpfleger) was documented with increasing frequency. Yet, the emergence of these two terms suggests not so much differentiation as specialization of functions in Lindau’s rapidly evolving new ecclesiastical establishment. Taken together, moreover, these terms indicate a rapidly developing understanding of a common caring vocation or profession, almost certainly in response to a common human resource demand. Doubtlessly, one would be wrong simply to map the separate mandates or spheres of competence thus ascribed to pastors and church wardens onto a theoretical distinction between spiritual and material spheres. Naturally, the work of a church warden was directed towards the »stuff« of the ecclesiastical establishment - what was just at this time commonly identified as »church fabric« (kirchenfabrik or fabrica ecclesiae 46 ) - and its proper use and maintenance. The work of a pastor or »soulcarer,« however, also represented a resource - that of an essential service, even if in the domain of the »soul.« Moreover, especially at that moment in which a deadly epidemic overtook and disrupted all aspects of their society, people came to experience a desire for all kinds of care as an immediate, even bodily, need. Thus, it turns out that the Lindauers argued in increasingly formulaic terms: Faber had been their 45 StadtA Lindau, RA 63,1: Suplicatio [sic] of Faber to the Kammergericht, 1526. 46 On this evocative - especially for a materialist reimagining of historical ›religion‹ - expression see, for example, Art. ›fabrica ecclesiae‹, in: LMA 4, S. 214. <?page no="311"?> J OHANN ES W OL FA R T 310 »soul-carer« - but he had »abandoned those he had been bound to care for« (die er dan schuldig gewesen zuversehen verlassen). Implying that they had not so much dismissed Faber as he had removed himself from the parish, the Lindauers insisted that, despite their earnest requests and many pleas, Faber had refused to come to them. So, reluctantly, the urban commune had been forced to care for itself (sich selbs hat muessen versorgen). They pleaded the same thing, again, when Faber renewed his appeal to the emperor for restitution of church goods - monies, vestments, missals, and two silver ewers. Thus, not only was pastoral care cast as »religious work« but in the end it was practically established as service provision in some value relation to the material goods of the ecclesiastical establishment. The caring service of a religious worker could even be assessed or exchanged for specific church goods … but to do that properly would require a vote of the commune. Such a commune vote (as per the first of the Twelve Articles! ) was indeed held on 29 June 1526, and the decision taken to issue the ex-parish priest with the letter of safe conduct he so desperately wanted. On 2 August 1526 official assurances of Faber’s personal safety in Lindau were publicly proclaimed throughout the town. 47 6. Summary Findings on Lindau and the Peasants’ War When Sigmund Rötlin’s died in November 1525 he was succeeded by Thomas Gassner, a refugee from the nearby Austrian town of Bludenz, with the formal approval of the Lindau council (presumably representing the commune). 48 When Faber once again requested access to his parish and demanded the council’s guarantee of safe passage for this purpose, he was denied such access (as above). Apparently, the days of great need and high demand for the resource of »soul-care,« the days in which Lindau had clamoured for a visit from its parish priest, were now in the past. Likewise, the era in which people would be satisfied with masses and processions was now long gone. In this regard, one of the anonymous Lindau scribes who annotated Faber’s 1519 letter recommending anti-plague measures commented that what might have been acceptable in 1519 no longer found any takers in 1524. Thus, when the Abbess of the local convent sponsored a repeat of Faber’s recommended ritual anti-plague programme in her convent church in 1524, waren der leüt nit vil die darzu giengen dann man hat nichts darauff, sonder allain uff Christo, unnd wan es gotes will ist so hört es selb auff +. 49 Finally, with the appointment of two evangelical pastors in 1525 47 StadtA Lindau, RA 63,1. 48 K ARL H EINZ B URMEISTER , Thomas Gassner (Neujahrsblatt des Museumsvereins Lindau 21), Lindau 1971. 49 »not many people attended, since one held nothing of it, but rather trusted in Christ, and <?page no="312"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 311 (in addition to Gassner, Johannes Mock from neighbouring Bregenz), Lindau’s supply of »salvation and improvement/ healing« (hayl und besserung) had been secured. Thus, in the early summer of 1526 the Lindau council replied to yet another demand from Faber for a letter of safe passage as follows: in the first place, the council did not think it could adequately protect Faber’s person in Lindau; in the second place, Darzu wir dieser Zeyt an Verkündigern des waren wort gotes und Evangeliumbs kainen mangel haben.« 50 Yet, a rich and diverse supply of pastoral care and carers had existed in Lindau before the German Peasants’ War, just as the Reformation was establishing its first footholds in the town. Thus, Lindauers had already witnessed lively market competition amongst various preachers, for example when Johann Faber and Michael Hug had squared off to preach competing sermons on the feast of Corpus Christi 1523, in two churches not two hundred yards apart. 51 But the catastrophic plague outbreak of 1524, in particular, had dramatically increased the demand for pastoral care, as well as radically diminishing its supply, as Hug and his successor Rötlin succumbed and Faber resolutely absented himself. Lindau’s archival documentation for the hiring and - especially - firing of pastors reveals much about the labour conditions of religious workers, taking us well beyond the basic point that religion was work for those whose job it was to supply it and an essential human resource for everybody else. Thus, in terms of the historian’s basic parameters of time and space, the story from Lindau seems to bear out two general observations. First, that Lindau’s Reformation was indeed in many regards a socalled long Reformation. Second - and perhaps more significantly - that what obtained within the town walls (»on the island«) also held for Lindau’s extensive exurban territories (»on the mainland«), from nearby Reutin to far-away (only relatively) Laimnau. Indeed, everywhere one looks, the pastors’ habitual plaints that they were treated no better than day-labourers seems to accord with the fact that they were hirelings, contracted to supply a service. Furthermore, the Lindau situation thus also conforms to the normalized practice, recently generalized from sixteenth century church ordinances by Arend, according to which religious specialists were simply treated as any other communal or civil servant. 52 if it were God’s will, then it [the dying] would stop again on its own.« StadtA Lindau, RA 63: Faber to Lindau with plague remedies; annotated by Lindauers in several rounds; see also image 3, above. 50 »Furthermore, at this time we have no shortage of preachers of the true word of God and the gospels.« Lindau council (grudgingly) issues Faber for safe passage and entry into the town but denies his request for reinstatement; StadtA Lindau, RA 63,1: 2 August 1526; emphasis added. 51 K. H. B URMEISTER , Gassner (note 48), S. 22. 52 See note 27, above. <?page no="313"?> J OHANN ES W OL FA R T 312 Yet, as useful as it might be to take a long perspective on a Lindau Reformation bookended by two high-visibility clerical dismissals, one would also be quite wrong to conclude that nothing changed, or that there was no evolution of church and state whatsoever, over the course of a whole century. For example, a trend towards the professionalization of the clergy, also noted for other places in the German speaking lands over the course of the long sixteenth century, 53 is clearly discernable in Lindau. Similarly, the early »wild growth phase« (Wildwuchsphase) of the Reformation, which in Lindau overlapped significantly with the upheavals of the Peasants’ War, did display some unique characteristics. Thus, sources issuing from council circles abound in assurances that the town remained entirely calm as the Peasants’ War raged all around. 54 Of course, since townsfolk proper only represented a fraction of the population of Lindau and her territories, and therefore only a portion of the responsibility of the council as a legitimate government (Obrigkeit), such assurances represented at best a partial truth. Moreover, other documents - some even produced in the very same council circles - indicate the very opposite, namely: that the »uprising/ outrage of the subjects« (emporung der untertanen) - i. e., the German Peasants’ War - was indeed a decisive factor in Lindau’s Reformation, especially in the rapid re-organization of ecclesiastical financial administration and management under the oversight of church wardens (Kirchenpfleger), which was apparently meant to forestall a perpetual abolition of tithe incomes (as in the document discussed above). Such apparent »scribal slips« are revealing in more than one regard. For instance, the scribal note to the effect that anti-plague processions and litanies were deemed somewhat satisfactory in 1519 but completely unacceptable in 1524, permits a precise dating of a »Reformation moment« for Lindau - one, moreover, well in advance of such magisterial measures as the pensioning of the last Franciscans (1528) or the official iconoclasm in St. Stephan’s subsidiary church in Reutin (1534). Add to such scribal testimonies the circumstantial evidence of the inclusion of »the preacher of Lindau« (i. e., Sigmund Rötlin) on the list of evaluators at the end of the »Constitutional Draft for a Christian Association,« and the balance of evidence does begin to tilt in favour of some significant Lindau involvement in the Peasants’ War - in addition to the involvement of some significant Lindauers. 55 53 For example, see A MY N ELSON B URNETT , Teaching the Reformation: Ministers and their Message in Basel, 1529-1629, Oxford 2006. 54 »und sonnder In disen Uffrurigen sachen, also uffenthallten, das kain uffruor noch widerwill wenig noch vil unnder dem volckh in der statt nie Entstanden ist.« Such claims form the basis of a durable orthodoxy in local historiography. 55 In addition to Rötlin’s apparent sympathies, the active involvement of a Lindau citizen and minor nobleman, Dietrich Hurlewagen, was widely known. The most comprehensive scholarly treatment of Hurlewagen remains that of W ILHELM V OGT , Die Bodenseebauern und <?page no="314"?> D IS PU TE S O VER P A S TOR AL C A R E A S R ES OUR C E C ONFL IC TS 313 Finally, however, the especially well-documented firing of Johann Faber reveals a broader spectrum of Lindauers - ex-urban subjects rather than urban citizens, to be sure - who participated in »typical« acts of peasant resistance, most notably the stubborn tithe strikes covering the key two seasons preceding 1525. That this happened with the tacit collusion of the council, and that Faber was also mocked and threatened by his own urban parishioners, more-or-less clinches it: in the heat of the action of 1525, Lindauers took the side of the peasants. While it would be foolish to assume that all Lindauers supported the peasants, it must now also appear just as wrong to assert that no Lindauers did so, as Albert Schulze once did. 56 Whether or not sympathy for the peasants was divided along the lines separating guild folk and urban »communalists« from the small circle of quasi-aristocrats that increasingly dominated civic politics is difficult to determine on the basis of available sources. Nonetheless, it seems that even the latter faction - assuming they were not actually sympathetic to the peasants - acceded to the »public opinion« of the time in at least one important way. As regards provisions for pastoral care in the town, Lindau made official policy in accordance with stated peasant aims, both by hiring and firing pastors on their authority, as well as by taking control of parish finances and appointing church wardens. That is, in the chaos of both devastating epidemic and revolutionary upheaval Lindau undertook to nationalize (as it were) both selsorge and kirchenpflege. Thus, Faber’s eventual outright assertion that Lindau had treated him accordance with the Twelve Articles of the peasants is most telling. 7. A Parting Shot on Religion as a Resource Turning, finally, to the big picture framed by disciplinary questions from Religious Studies - that is, from a point of view beyond the regional history of the German Peasants’ War in Upper Swabia and along Lake Constance, or even beyond the important historiographical debates issuing from more than a century-and-a-half of modern German Peasants’ War studies: the apparent operationalization of the first ihr Hauptmann Junker Dietrich Hurlewagen im grossen Bauernkrieg, Augsburg 1892. Vogt both added some sources to those already published by F. Baumann and was also suitably skeptical in his approach to such sources, especially Hurlewagen’s own »Verantwortung« to the Swabian League. By contrast, several recent brief assessments are inclined to follow closely the line promulgated by the Lindau council after the collapse of the Peasants’ War, namely: that Lindauers remained wholly disinterested in the social upheavals; for a critical resumé of this tendency in local historiography, see J. W OLFART , Myth and Mystery (note 7). 56 »Die größte revolutionäre Entladung dieser Zeit ging in Lindau spurlos vorüber …«; A LBERT S CHULZE , Bekenntnisbildung und Politik Lindaus im Zeitalter der Reformation, Nürnberg 1971, S. 3. <?page no="315"?> J OHANN ES W OL FA R T 314 of the Twelve Articles in Lindau tells us something very important about early modern developments of the category »religion.« Early modern »religion« did not exist in realms immaterial and on planes spiritual or otherwise inaccessible epistemologically. Nor did religion represent a domain categorically set apart for legal-constitutional purposes or privatized to serve some emerging raison d’état. Religion - in the form of those services provided by religious workers - was, in the end, just another resource, along with those others which peasants demanded to control in their Twelve Articles. Like fish or firewood, religion was sometimes abundant but also often scarce; moreover, demand waxed and waned depending on local conditions (such as the frightful mortality of a plague outbreak). In principle, however, it was the job of religious workers, like either Faber or Rötlin, to supply the various »goods« of religion - rituals, the world of God, comfort and care in times of crisis - to all those who needed it. Sometimes they simply failed. According to the »rational choice theory« pioneered by the American sociologist of religion Rodney Stark, it is precisely such market conditions of religious resource supply and demand, that determine conversions, as well as subsequent changes in religious commitments or allegiances. 57 In retrospect, the cheerily optimistic attitude expressed by the Lindau council concerning the supply of pastoral care and carers immediately following the Peasants’ War thus appears as something rather more than just a rationalization of emergency measures and improvised self-help. In fact, the Lindauers already suspected what we can now see only slightly more clearly with hindsight: that by their own interventions the religious labour market in Lindau had been transformed; thus, in the long run they had significantly altered the supply-anddemand economics of basic religious resources. Therefore, also, what is now commonly called the Reformation appears much less as a principled and planned transformation of belief and worship practice and much more as an improvised response to a supply-chain problems affecting the availability of certain key human resources. Then as now, moreover, the question of whether sudden imbalances of religious supply and demand were due primarily to epidemic crisis, or to associated political upheavals, cannot be determined scientifically, only politically. 57 For the original basic formulations, see R ODNEY S TARK / W ILLIAM S IMS B AINBRIDGE , Networks of Faith: Interpersonal Bonds and Recruitment to Cults and Sects, in: American Journal of Sociology 85 (1980), S. 1376-1395; for discussion of the developed ›theory‹ in L AWRENCE A. Y OUNG (ed.), Rational Choice Theory and Religion, New York 1997. <?page no="316"?> 315 S TEFAN B IRKLE spenn und irrung zwischen Obrigkeit und Untertanen. Die Ritterherrschaft Angelberg und der Bauernkrieg »Er war wieder ein echter Riedheim, herrisch, draufgängerisch, rücksichtslos. Man spürt sofort sein kräftiges Regiment.« 1 Mit diesen Worten charakterisiert Alfred Schröder in seiner Beschreibung des Bistums Augsburg Conrad III. von Riedheim. Der wurde zwar erst vier Jahrzehnte nach dem Bauernkrieg Herr der hier zu untersuchenden Ritterherrschaft Angelberg, doch bietet sich Schröders Charakterisierung trotzdem als Einstieg ins Thema an. Denn die negativen Eigenschaften Conrads III. waren für Schröder Kennzeichen eines ›echten‹ Riedheim, und das Wörtchen »wieder« legt nahe, dass auch frühere Familienmitglieder einen ganz ähnlichen Charakter gehabt haben dürften. Zur negativen Bewertung durch den katholischen Geistlichen und Historiker Alfred Schröder 2 mag sicher auch die Tatsache beigetragen haben, dass Conrad III. von Riedheim im Jahr 1576 die Reformation in der Herrschaft Angelberg eingeführt hatte. 3 Conrads Vater Wilhelm IV. von Riedheim dagegen, dem er 1565 nachgefolgt war, wird deutlich positiver gesehen und von verschiedenen Autoren als ruhiger, auf Ausgleich bedachter Herrscher und damit als eher ›untypischer‹ Riedheim beschrieben. 4 Wilhelms direkte Vorgänger - sein Vater Conrad II. und sein Großvater 1 A LFRED S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg historisch und statistisch beschrieben, Bd. 9: Das Landkapitel Kirchheim, Augsburg 1934, S. 373. 2 Zu seiner Person vgl. G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL / G ÜNTER H ÄGELE / R UDOLF F RANKEN - BERGER (Hg.), Augsburger Stadtlexikon, 2., neu bearb. u. erw. Aufl. Augsburg 1998, S. 800. 3 Interessanterweise erscheint aber gerade in diesem Zusammenhang Conrad III. von Riedheim als eher besonnen agierende und vorsichtige bis zögerliche Persönlichkeit, die den Untertanen gegenüber mit Nachsicht vorging; vgl. S TEFAN B IRKLE , Reichsritterschaft, Reformation und Konfessionalisierung in Oberschwaben (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 19), Epfendorf 2015, S. 312-343, 363-366. Grundsätzlich zur Reformation in der Herrschaft Angelberg, die sich dort nur etwa für 40 Jahre behaupten konnte, vgl. auch F RIEDRICH R OTH , Die Reformation der Herrschaft Angelberg durch Konrad von Riedheim am 6. und 13. Mai 1576, in: BbKG 13 (1907), S. 253-271. 4 A. S CHRÖDER , Bistum Augsburg 9 (Anm. 1), S. 372f., zeichnet anhand mehrerer Beispiele »das Bild des friedliebenden Mannes«. G ABRIELE VON T RAUCHBURG , Kaiserbesitz, Residenzort, moderner Markt - die Ortsgeschichte des Marktes Tussenhausen, Tussenhausen 2002, S. 57-60, betont ebenfalls den eher ruheliebenden Charakter Wilhelms im Vergleich zu dessen Sohn Conrad, den sie als »zielstrebige, dynamische Persönlichkeit« beschreibt. <?page no="317"?> S TE FAN B IRKL E 316 Conrad I. - sind nun die beiden für die Zeit des Bauernkriegs relevanten Herrschaftsinhaber. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, haben beide in dieser Zeit eine Rolle gespielt, die mit zum negativen Familienbild bei späteren Autoren beigetragen hat - 5 Conrad I. im Rahmen von Auseinandersetzungen mit den Angelberger Untertanen im Vorfeld und Conrad II. dann im Verlauf bzw. im Nachgang des Bauernkriegs. Über die bereits fast ein Jahrzehnt vor dem Bauernkrieg entstandenen spenn und irrung gibt ein Vertrag Aufschluss, der 1516 zwischen Conrad I. von Riedheim und den Untertanen zur Beilegung der entstandenen Streitigkeiten geschlossen wurde. 6 Bevor nun in diesem Vertrag gezielt nach Ressourcenkonflikten zwischen Obrigkeit und Untertanen Ausschau gehalten werden soll, müssen zur Kontextualisierung noch kurz die Herrschaft Angelberg und die dortigen Herrschaftsverhältnisse in den Blick genommen werden. 1. Geschichte der Herrschaft Angelberg Den Kern der Herrschaft bildete der Hauptort Tussenhausen im heutigen Landkreis Unterallgäu mit der über dem Ort gelegenen Burg Angelberg. Bereits im Jahr 943 war Tussenhausen vom König und späteren Kaiser Otto I. an das Kloster Kempten geschenkt worden, weshalb die Herrschaft in der Folge als Lehen des Fürststifts Kempten begegnet. Seit 1455 besaß Tussenhausen zudem das Marktrecht, und zeitgleich war der Herrschaftsinhaber von Kaiser Friedrich III. mit dem Blutbann belehnt worden. 7 Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Herrschaft Angelberg bereits in der Hand der Familie von Riedheim. Wilhelm I. von Riedheim hatte sie 1438 von seinem Schwager Hans von Freyberg erworben. Die Herrschaft umfasste damals laut Kaufurkunde das Schloss und das Dorf mit zehn Höfen, einer Mühle und der Taferne sowie verschiedene Wiesen. Auch das Fischrecht in der Flossach und einigen Weihern wird ausdrücklich erwähnt, ebenso die lehensmäßige Abhängigkeit vom Fürststift Kempten. 8 5 Exemplarisch sei genannt A. S CHRÖDER , Bistum Augsburg 9 (Anm. 1), S. 371, der Conrad II. - auch aufgrund eines Streits mit dem eigenen Vater - als »rücksichtslose Natur« bezeichnet. Wohlwollen den Bauern gegenüber habe der Sohn »freilich so wenig wie sein Vater gezeigt.« 6 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. 7 R UDOLF V OGEL , Mindelheim (HAB, Teil Schwaben 7), München 1970, S. 48, 50f.; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 19, 32f. 8 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 30. <?page no="318"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 317 Abb. 1: Angelberg mit den beiden Orten Tussenhausen und Zaisertshofen. Ausschnitt aus Johann Baptist Homann, Protoparchiae Mindelhemensis Nova Tabula Geographica […], nach 1715. Zusätzlich brachte Wilhelm von Riedheim im Jahr 1459 den Nachbarort Zaisertshofen in seine Hand. Zaisertshofen war zunächst ein Eigengut gewesen, dann aber in nicht mehr ganz eindeutig zu rekonstruierenden Vorgängen in den Einflussbereich Kemptens gelangt und schließlich ebenfalls als Lehen des Fürststifts an von Riedheim verliehen worden. In diesem Kontext ist bereits von einigen Eigenleuten uff den Wäldern im Bereich von Irmatshofen, dem heutigen Markt Wald, die Rede. Die Herrschaft Irmatshofen, und damit den nordöstlichen Nachbarn von Zaisertshofen und Tussenhausen, muss Wilhelm von Riedheim kurz darauf, jedoch spätestens bis zum Jahr 1474 erworben haben. Irmatshofen, wo die von Riedheim seit 1480 ebenfalls über Hochgericht und Blutbann verfügten, sollte bis zum Jahr 1578 in der Hand der Familie bleiben. 9 9 S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 3), S. 310; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 28f.; G EORG U RBAN Z ACHER , Chronik der mittelalterlichen Herrschaft Schwabeck mit urkundlich-statistisch-topographischen Beiträgen des Marktes und Landgerichts-Bezirks Türckheim, München 1846, S. 35. <?page no="319"?> S TE FAN B IRKL E 318 Nach dem Tod Wilhelms wurde das Erbe, das zunächst auch noch die Herrschaft Schwabegg umfasste, 10 im Jahr 1474 unter dessen vier Söhnen aufgeteilt: 11 Die aus dem Schloss und dem Ort Tussenhausen bestehende Herrschaft Angelberg erhielt dabei Eglof I., während Zaisertshofen an Wilhelm II., Schwabegg aber an Ulrich fiel. Der oben erwähnte Conrad I. von Riedheim erhielt zunächst Irmatshofen. Als erster der Brüder starb Wilhelm II. im Jahr 1481 kinderlos. Zaisertshofen wechselte in den folgenden Jahren zwischen Eglof I. und Ulrich hin und her. Im Jahr 1506 - Ulrich war inzwischen ebenfalls verstorben, seine umstrittene Herrschaft Schwabegg an Bayern zurückgefallen - wurde schließlich Eglof I. vom Fürststift Kempten mit Zaisertshofen belehnt, das fortan nicht mehr als eigenständig, sondern als Teil der Herrschaft Angelberg behandelt wurde. 12 Mit dem Tod Eglofs im Jahr 1511 ging nun dessen Besitz an Conrad I. als den letzten verbliebenen Bruder über, der damit die Herrschaft Angelberg, bestehend aus den Orten Tussenhausen und Zaisertshofen, und die Herrschaften Irmatshofen und Waal in seiner Hand vereinigte. 13 Etwa um diese Zeit, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, entstand auch die Reichsritterschaft. Parallel und häufig in Konkurrenz zur Ausbildung des frühmodernen Territorialstaats entwickelte sich mit den Reichsrittern eine Zwischenform zwischen Reichsstandschaft und Landsässigkeit: Eine besonders enge, auch 10 Schwabegg war für Wilhelm von Riedheim der Ausgangspunkt seiner Erwerbungen in Mittelschwaben gewesen. Bereits 1433 hat er die Pfandschaft über die bayerische, damals aber an die Familie Waler vergebene Herrschaft in seine Hand bringen und später auf Wiederkauf direkt von den bayerischen Herzögen erwerben können. Die Möglichkeit des Wiederkaufs führte dann aber relativ bald zu Auseinandersetzungen um die Herrschaft Schwabegg. Zunächst konnte sich dabei von Riedheim behaupten, letztendlich sollte die Herrschaft der Familie jedoch wieder verloren gehen; vgl. R. V OGEL , Mindelheim (Anm. 7), S. 15-17; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 28. 11 Wilhelm I. hatte bereits zu Lebzeiten Angelberg und Zaisertshofen an seine erst teilweise volljährigen Söhne zur gemeinsamen Regierung übergeben. Er starb spätestens 1472; zwei Jahre später erfolgte dann die Erbteilung unter den Söhnen; vgl. S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 3), S. 310f. 12 S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 3), S. 311; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 35f., 40; D IES ., Dörfliches Selbstbewusstsein in der Herrschaft Angelberg. Die Ortsgeschichte von Zaisertshofen, Tussenhausen 2005, S. 28f. Zum Verlust der Herrschaft Schwabegg vgl. auch R. V OGEL , Mindelheim (Anm. 7), S. 16f.; G. U. Z ACHER , Schwabeck (Anm. 9), S. 253-259, 262-266. 13 S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 3), S. 311f. Die südlich zwischen Buchloe und Landsberg gelegene Herrschaft Waal war 1487 von Eglof I. und Ulrich von Riedheim gemeinsam erworben worden. Anfang des 16. Jahrhunderts entbrannten dort langjährige Erbschaftsstreitigkeiten, die 1527 schließlich zur Abtretung des letzten verbliebenen Anteils an der Herrschaft durch Conrad II. von Riedheim führte. Irmatshofen dagegen war bis zu einer Erbteilung unter den Söhnen Conrads II. im Jahr 1536 eng mit Angelberg verbunden. <?page no="320"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 319 immer wieder betonte Verbindung der Reichsritter zum Reichsoberhaupt, die sich zunächst über die Form der Steuerzahlung manifestierte, führte dazu, dass die Mitglieder der Reichsritterschaft zwar als reichsunmittelbar galten, aber im Unterschied zu den Reichsständen nicht über Sitz und Stimme auf den Reichstagen verfügten. Organisiert war die Ritterschaft, die sich im Reich allerdings nur in drei Ritterkreisen, nämlich in Schwaben, in Franken und am Rhein herausbilden konnte, in ›Orten‹, ›Vierteln‹ oder ›Kantonen‹. 14 In der Hand des jeweiligen Kantons lag dabei das Steuerrecht, während über andere Hoheitsrechte die jeweiligen Ritter verfügten. Kennzeichnend für die ›Landeshoheit‹ der Reichsritterschaft war damit eine Mischform aus korporativen und individuellen Elementen. 15 Die Herrschaft Angelberg erlangte im Lauf des 16. Jahrhunderts die Zugehörigkeit zum Kanton Donau der schwäbischen Reichsritterschaft. Details dieses Prozesses konnten die bisherigen Forschungen mangels aussagekräftiger Quellen für Angelberg nicht ans Licht bringen. Bei der Reformationseinführung durch Conrad III. von Riedheim in den 1570er Jahren und bei langjährigen Steuerstreitigkeiten im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert jedoch wurde der reichsritterliche Status in den Argumentationen immer wieder erwähnt. 16 Auf die Frage, ob die sich manifestierende Ritterschaftszugehörigkeit vielleicht schon im Kontext des Bauernkriegs eine Rolle gespielt hatte, wird später noch zurückzukommen sein. 2. Konflikt und zwischenzeitliche Lösung - der Vertrag von 1516 Auch der hier interessierende Konflikt zwischen Obrigkeit und Untertanen im Vorfeld des Bauernkriegs ist nicht besonders gut überliefert. Lediglich in einem Vertrag, der auf Vermittlung des Schwäbischen Bundes im Jahr 1516 zwischen Conrad I. von Riedheim und dessen Untertanen geschlossen wurde, gibt es Hinweise auf die 14 Für die Erforschung der Geschichte der Reichsritterschaft hat v. a. Volker Press wichtige Impulse geliefert und in Form mehrerer Aufsätze grundlegende Arbeiten dazu veröffentlicht; vgl. dazu zusammenfassend S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 3), S. 15-17. 15 V OLKER P RESS , »Korporative« oder individuelle Landesherrschaft der Reichsritter? , in: E RWIN R IEDENAUER (Hg.), Landeshoheit. Beiträge zur Entstehung, Ausformung und Typologie eines Verfassungselements des Römisch-Deutschen Reiches (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 16), München 1994, S. 108f. 16 W OLFGANG Z ORN (Hg.), Historischer Atlas von Bayerisch-Schwaben (Veröff. SFG), Augsburg 1955, Textteil S. 39, Kartenteil S. 33; M ICHAEL P UCHTA , Art. Reichsritterschaft, Kannton Donau, publiziert am 27.4.2015, in: HLB (aufgerufen am 24.3.2024); S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 3), S. 463f.; R. V OGEL , Mindelheim (Anm. 7), S. 51f.; G. U. Z A - CHER , Schwabeck (Anm. 9), S. 29-31. <?page no="321"?> S TE FAN B IRKL E 320 vorausgegangenen Streitigkeiten. 17 Weitere Dokumente, die Aufschluss zum Konflikt in der Herrschaft Angelberg geben könnten, haben sich nach derzeitigem Kenntnisstand in den Archiven nicht erhalten. Und auch der Vertrag scheint der Forschung lange Zeit unbekannt gewesen zu sein. In älteren Arbeiten zur Herrschaft Angelberg jedenfalls wird er nirgends erwähnt. Erst Gabriele von Trauchburg hat ihn zunächst ausführlich im Rahmen ihrer Ortsgeschichte von Tussenhausen ausgewertet und dann nochmals in ihrer Arbeit über Zaisertshofen thematisiert. 18 Aufbewahrt wird der Vertrag im Stadtarchiv Mindelheim, was möglicherweise mit dazu beigetragen hat, dass er von der Forschung lange nicht beachtet bzw. nicht entdeckt wurde. Denn dort würde man - trotz der Nachbarschaft - einen Vertrag über innere Angelegenheiten der Herrschaft Angelberg nicht unbedingt suchen. Der Lagerort des Vertrags erklärt sich aber dadurch, dass neben Wilhelm Güss von Güssenberg 19 auch Adam von Frundsberg 20 als Siegler des Vertrags in Erscheinung trat, über den das heute wahrscheinlich einzige erhaltene Exemplar des Vertrags nach Mindelheim gekommen sein dürfte. Überschrieben ist der Vertrag mit Entschaydung zwischen Conraden von Riedheim und seinen underthanen zue Angelberg und Zaisserzhoven anno etc. 1516, und bereits mit den einleitenden Sätzen wird nicht nur die grundsätzliche Konfliktlage beschrieben, sondern diese auch als recht dramatisch dargestellt: Zwischen Conrad von Riedheim und den Untertanen hätten sich nämlich spenn unnd irrung ergeben, und zwar von einem tage zum anndern, wie es ausdrücklich heißt. Die in Nördlingen versammelten bottschaffter, hauptleut und räthe etc. des Schwäbischen Bundes seien deshalb angerufen worden, in dieser Angelegenheit zu vermitteln. 21 Welche Seite den Schwäbischen Bund eingeschaltet hatte, geht aus dem Text leider nicht eindeutig hervor. Jedenfalls war der Schwäbische Bund laut Artikel 31 seiner Bundesordnung aus dem Jahr 1500 auch für Fälle wie dem in der Herrschaft Angelberg zuständig: Untertanen sollten sich gegen ihre Obrigkeit nicht in Ungehorsam begeben, sondern sich in allen Fällen, in denen sie den Eindruck hätten, dass gegen sy vnbillicher weiß, wider alt herkommen vorgegangen werde, zur gütlichen Beilegung des Streits an die gemaine versamlung des 17 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. 18 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 40-47; D IES ., Zaisertshofen (Anm. 12), S. 32-37. 19 Zu ihm und zu seiner Verbindung zum Schwäbischen Bund vgl. R UDOLF F RIEDRICH H EINRICH M AGENAU , Der Güssenberg und die Güssen. Ein Beitrag zur Kenntnis des Brenzthals und seiner Umgegend, Ulm 1823, S. 87-89. 20 Adam († 1518) war der Bruder des wesentlich bekannteren Landsknechtführers Georg von Frundsberg (1473-1528); vgl. F RIEDRICH Z OEPFL , Art. Frundsberg, Georg von, in: NDB 5 (1961), S. 670f. 21 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="322"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 321 Bunds wenden. Sollten baid tail aber nicht im Guten mit ainander zuuerainen sein, so solle der Bund eine Entscheidung fällen, der on irrung und widerred zu folgen sei. 22 In Angelberg waren die Fronten zwischen den Parteien augenscheinlich bereits sehr stark verhärtet und gegenseitige Vorwürfe und Anschuldigungen an der Tagesordnung, wie auch die verschiedenen Detailregelungen des Vertrags zeigen werden. Die einleitende Versicherung der Vertreter des Schwäbischen Bundes, nach ausführlichem Verhören und Betrachten das alles selbs von neuem mit vleiss wolbedachtlich erwägt und beurteilt zu haben und schließlich erst nach lannger unnd gutter bedennkung sowie nach gestallt unnd gelegenhait der sach unnd zuvorderst auff gut unnd vleissig erfarung unnd erkundigung sowie unter Berücksichtigung der Bundesartikel zu einer Entscheidung gekommen zu sein, darf wohl nicht nur als eine Sammlung leerer Worthülsen gesehen werden. Vielmehr deuten diese Formulierungen auf eine durchaus komplexe Situation hin. Zur Lösung der Spannungen mussten Zugeständnisse gemacht werden, die beiden Seiten wohl nur nach mühsamer Vermittlungsarbeit durch den Schwäbischen Bund abgerungen werden konnten. Um ein Wiederaufflackern des Konflikts zu verhindern, wurde auch ausdrücklich festgehalten, dass alle im Streit bereits gewechselten Worte, die zwischen Conrad von Riedheim, seinen Vögten, Amtleuten und Dienern einerseits und seinen armenleutten und unnderthänen andererseits gefallen seien, gegeneinander auffgehebt und keinem taill an seinen eren oder gutten laimbden [ = Leumund] verletzlich oder nachtailig sein sollten. Künftig, so das Ziel des Vertrags, sollten auf der Basis der Vergleichsregelungen Obrigkeit und Untertanen wieder dester fridlicher unnd ainiger beeinannder bleiben, sitzen und wonnen. 23 Wie Gabriele von Trauchburg schon feststellte, liefert der Vertragstext keinen eindeutigen Hinweis darauf, was Auslöser der Streitigkeiten war und wie lange diese zum Zeitpunkt des Vergleichs bereits andauerten. Die im Folgenden mehrmals auftauchende Formulierung, mit den getroffenen Regelungen wieder zum - konfliktlosen oder wenigsten konfliktarmen - Zustand aus der Regierungszeit Eglofs von Riedheim zurückzukehren, deuten jedoch stark darauf hin, dass erst die Übernahme der Herrschaft Angelberg durch Conrad von Riedheim im Jahr 1511 zur Eskalation geführt haben dürfte. 24 Auch die oben bereits im Wortlaut wiedergegebene Formulierung im Vertragstext, die Streitigkeiten seien von einem Tag auf den anderen ausgebrochen, stützen diese These und lassen ebenfalls vermuten, dass die Probleme v. a. mit der Person des Herrschaftsinhabers zusammenhängen dürften. Interessanterweise finden sich Hinweise auf ähnlich gelagerte Konflikte Conrads von Riedheim auch andernorts: In Gessertshausen gab es zeitgleich Differenzen mit mehreren 22 P ETER B LICKLE / R ENATE B LICKLE (Bearb.), Schwaben von 1268 bis 1803 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern II/ 4), München 1979, S. 248. 23 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. 24 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 40. <?page no="323"?> S TE FAN B IRKL E 322 Bauern, im Streitfall mit einem Hintersassen des Augsburger Katharinenklosters wurde von Riedheim durch den Schwäbischen Bund mit einer Geldstrafe belegt und der Abt des Klosters Irsee beklagte sich, von Riedheim würde das Einsammeln des Kleinzehnts in Unterdießen behindern. 25 Die größte Parallele zum Angelberger Fall zeigen jedoch Vorgänge in der Herrschaft Waal, die Conrad zumindest in Teilen gehörte. Dort hatte von Riedheim ein Jahr zuvor in einer Streitsache ebenfalls einen Vertrag mit seinen Untertanen geschlossen. 26 Mit großer Sicherheit kann man davon ausgehen, dass auch im Angelberger Vertrag von 1516 keine hypothetischen Angelegenheiten im Sinne einer reinen Konfliktprophylaxe geregelt wurden, sondern es zeigt sich bei der Lektüre deutlich, dass es für die einzelnen Punkte des Vergleichs jeweils einen konkreten Anlass, also eine tatsächliche Meinungsverschiedenheit zwischen Obrigkeit und Untertanen gab. Die Hauptkonfliktfelder hat dabei wiederum Gabriele von Trauchburg v. a. in ihrer Ortsgeschichte des Marktes Tussenhausen herausgearbeitet. Sie können hier jedoch noch mit einigen weiteren Details aus dem Vertragstext ergänzt und gezielt auf möglicherweise zugrundeliegende Ressourcenkonflikte untersucht werden. Als erster Punkt wurde im Vertrag festgehalten, dass die Untertanen aus Angelberg - in diesem Fall ist damit der Hauptort Tussenhausen gemeint - und dem Dorf Zaisertshofen schuldig und pflichtig sein [sollen], one widersetzen, sonnder getreu vleissig unnd williglich den burgkh- oder hoffbau mit allem dem, so darzu gehörig ist, mit iren diensten zu volbringen. Gemeint waren damit der landwirtschaftliche Anbau und die Bestellung der herrschaftlichen Äcker und Wiesen. Zu diesen Arbeiten zählte, wie detailliert aufgelistet ist, für Ackerflächen zunächst das Düngen, dann die Aussaat, anschließend das Abschneiden oder Mähen sowie das Einsammeln, Aufladen und Heimfahren der Ernte bis in den stadel, analog für die Wiesen das Mähen, Heuen und Heimfahren und für die Krautgärten ebenfalls das Düngen sowie das Verrichten weiterer üblicher Arbeiten. Ausdrücklich war all das jedoch auf den burgkh- oder hoffbau […], wie den herr Egloff von Riethaim sein [ = Conrads] bruder seliger hinder im verlassen habe, beschränkt. 27 Bereits bei diesem ersten Punkt deutet sich ein roter Faden an, der sich auch durch die weiteren Auseinandersetzungen zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen zieht: Der Streit war nicht nur mit Worten, sondern bald auch mit Taten geführt worden. Das wichtigste Druckmittel der Untertanen bestand dabei darin, pflichtige Dienste für die Obrigkeit einzuschränken oder gar nicht mehr zu leisten. Die Herrschaft dagegen wollte die eigenen Rechte offensichtlich nicht nur durchsetzen, sondern versuchte, sie weiter auszudehnen und im Gegenzug die Rechte der 25 F RANZ M AYER , Geschichte der ehemaligen Herrschaft Angelberg, Türkheim [1955], S. 32; G. VON T RAUCHBURG , Zaisertshofen (Anm. 12), S. 31. 26 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 50. 27 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="324"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 323 Untertanen zu beschneiden. Die im Vertragstext genannte ausdrückliche Beschränkung auf den Burg- und Hofbau sowie die genaue Aufzählung der zu leistenden Arbeiten - und damit auch die Festlegung der nicht inbegriffenen - deuten jedenfalls auf entsprechende Versuche von Riedheims hin. Ob diese Maßnahmen jedoch der eigentliche Auslöser der Streitigkeiten waren oder ob von Riedheim erst im Lauf eines sich zunehmend verschärfenden Konflikts zu diesen Mitteln gegriffen hat, lässt sich sowohl hier als auch bei anderen im Vertrag genannten Streitpunkten nicht eindeutig klären. Standen Baumaßnahmen am Schloss Angelberg an, so waren die Untertanen zu Fuhrdiensten für Kalk, Sand, Steine, Zimmerholz u. ä. sowie zu Handdiensten bei den eigentlichen Bauarbeiten verpflichtet. Außerdem mussten sie Brennholz ins Schloss liefern und dort aufschichten. Söldnern, die zu solchen Arbeiten im Schloss herangezogen wurden, hatte von Riedheim als Gegenleistung nach alter Tradition ein Mittagessen und abends Brot zu reichen. 28 Obwohl die Regelungen klar scheinen, hatte es auch hier Unstimmigkeiten gegeben: Die im Vertragstext wieder sehr deutliche Beschränkung der genannten Arbeiten einzig und allein auf das Schloss legt nahe, dass Conrad von Riedheim die Untertanen über Gebühr und eben auch außerhalb des Schlosses und für andere herrschaftliche Gebäude eingesetzt haben dürfte. Die Untertanen dagegen waren ihren diesbezüglichen Verpflichtungen zwar vordergründig nachgekommen, hatten tatsächlich aber statt zu obvermellten diensten nutzber leut […] jung unfruchtbar volckh geschickt. 29 Von größerer Bedeutung war bei diesen Streitigkeiten auch der Zeitpunkt für die zu verrichtenden Arbeiten. Denn im Vertrag wurde nun geregelt, dass die Untertanen künftig im außwerch, also im Frühling, von solchen Arbeiten verschont werden sollten. 30 Sicherlich standen zahlreiche Ausbesserungsarbeiten am Schloss nach Wind, Regen, Schnee und Frost im Herbst und Winter genau dann an, wenn sich im Frühjahr wieder besseres Wetter einstellte, doch konnte das schnell mit den zahlreichen landwirtschaftlichen Aufgaben in diesem Zeitraum kollidieren und bei den Untertanen den Eindruck einer willkürlichen Repressalie entstehen lassen. Conrad von Riedheim mag hier anfangs vielleicht tatsächlich nur die Durchführung der notwendigen Reparaturen gesehen haben, doch dürfte ihm das Druckmittel, über das er verfügte, durchaus bewusst gewesen sein. 28 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. Die ausdrückliche und ausschließliche Erwähnung der Söldner im Zusammenhang mit Arbeiten im Schloss legt nahe, dass die Vollbauern dazu nicht herangezogen wurden; vgl. G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 42. 29 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 42f. 30 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516; Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, https: / / fwb-online.de/ lemma/ auswerk.s.2n? q = auswerk&page = 1 (aufgerufen am 23.3.2024). <?page no="325"?> S TE FAN B IRKL E 324 Gerade vor dem Hintergrund eines sich zuspitzenden Konflikts wäre nun auch ein gezielter Einsatz nicht unwahrscheinlich. Weiteren Regelungsbedarf gab es bei den Hirten, die neben dem gemeindlichen auch für das herrschaftliche Vieh verantwortlich waren. So musste der Schweinehirte die Tiere morgens aus dem Schloss abholen, sie tagsüber zusammen mit den anderen Tieren aus dem Dorf beaufsichtigen und abends wieder zum Schloss zurücktreiben, was natürlich mit einem gewissen Aufwand verbunden war. Conrad von Riedheim scheint nun einen eigenen Hirten angestellt zu haben. Das wiederum brachte aber für den regulären Schweinehirten, der damit weniger Tiere zu beaufsichtigen hatte, Einbußen beim Hirtenlohn mit sich. Der Schwäbische Bund schlug zwei alternative Lösungen vor: Der Hirte musste entweder weiterhin täglich die Schweine aus dem Schloss Angelberg zu den übrigen Tieren ins Dorf treiben oder aber gegen eine jährliche Entschädigung in Höhe von zwei Pfund Heller den Hirten von Riedheims akzeptieren. 31 Je nachdem, was inen den von Angelberg […] am gelegensten sey, sollte zwischen den beiden Möglichkeiten gewählt werden. 32 Ansonsten sollte es jedoch mit der hut und der Besetzung der Hirtenstelle durch die Untertanen so belassen werden wie zu Zeiten Eglofs von Riedheim. Denn, wie die Untertanen selbs bekennen, stand von Riedheim als Gegenleistung für die Hirtenwahl durch die Untertanen eine Entschädigung zu. So sollten weiterhin die zehn Bauern samt Bader, Schmid und Müller - die oben erwähnten Söldner wurden hier also nicht belastet - Conrad von Riedheim als irem junckher […] jerlichs fur ein eerung zwelff pfennig anntwurten unnd geben. 33 Für Zaisertshofen und Irmatshofen als den beiden anderen Conrad von Riedheim zugehörigen Orten finden sich keine derart detaillierten Bestimmungen zum Hirten. Der Regelungsbedarf im Hauptort der Herrschaft dürfte sich v. a. mit den dortigen spezifischen Gegebenheiten und der Lage des herrschaftlichen Schlosses auf der Anhöhe über dem Marktort Tussenhausen erklären lassen. In Irmatshofen gab es jedoch noch ein zweites herrschaftliches Schloss, so dass dort die anderen bisher im Vertrag genannten Punkte ebenfalls relevant waren. Die nun getroffenen Regelungen entsprachen sinngemäß und oft auch im Wortlaut denen für Schloss Angelberg. So waren die armenleut auff dem wald ebenfalls zum Hofbau beim Schloss Irmatshofen, zu Fahr- und Handdiensten bei Baumaßnahmen und zum Brennholzmachen verpflichtet. Der Anspruch der Untertanen auf Verpflegung als Gegenleistung für die geleisteten Arbeiten war allem Anschein nach nicht mehr eindeutig zu klären. 31 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 46. 32 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. 33 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="326"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 325 Abb. 2: Schloss Angelberg über dem Markt Tussenhausen. Ausschnitt aus dem Stammbuch Paul Jenisch, später Joseph Jenisch, 1575-1647 bzw. 1648-1683. Im Gegensatz zu den klaren Regelungen beim Schloss Angelberg findet sich für Irmatshofen nur die recht vage Formulierung, dass es dort so gehalten werden solle, wie es üblich sei. 34 Einen interessanten Zusatz macht der Vertrag jedoch im Kontext der Bewirtschaftung der herrschaftlichen Äcker von Irmatshofen. Es sollte darunter nämlich ausschließlich der althergebrachte Hofbau verstanden sein. Andere Güter, davon die armenleut getriben, oder gezogen wern, oder hinfüro vertriben oder ziehen, oder in ander weg an in [ = Conrad von Riedheim] komen wurden, [sollten] in gemellten hoffbau nit gelegt, unnd mit den diennsten gepauet werden. 35 Hier hatte es also offensichtlich Bestrebungen des Herrschaftsinhabers gegeben, die Dienstpflicht der Untertanen auf ursprünglich nicht zum Schloss gehörende Güter auszudehnen. Dieser Praxis wurde nun ein Riegel vorgeschoben. Im Gegenzug wurde jedoch die Position des Herrschaftsinhabers beim Fischrecht gestärkt. In dieser Frage hatten nämlich die Untertanen selbst eingestehen müssen, dass sie sowohl aus dem bach dasselbs auff dem wald, womit nur die Neufnach oder einer ihrer Zuflüsse gemeint sein kann, als auch aus dem westlich von Irmatshofen entspringenden klaine[n] bechlin die Zusam genannt, nit gefischt noch daraus gewessert 34 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. 35 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="327"?> S TE FAN B IRKL E 326 hätten. Somit sollte auch in Zukunft dieses Recht allein Conrad von Riedheim als ihrem Junker zustehen. 36 Bestimmte Güter der Herrschaft Angelberg bzw. die darauf sitzenden Untertanen waren auch zur Haltung von Jagdhunden für die Herrschaft verpflichtet. Diese Pflicht wurde im Vertrag von 1516 bestätigt, bzw. es wurde eine ersatzweise Geldzahlung in Höhe von einem Pfund Heller vorgesehen. Mit Gabriele von Trauchburg wird man darin übereinstimmen können, dass die Verpflichtung zur Haltung von Hunden für die betroffenen Untertanen eine finanzielle Belastung war, aus der sie keinerlei eigenen Nutzen ziehen konnten: Die ursprüngliche Funktion der Hunde, Äcker und Wiesen vor Wildschäden zu schützen, dürfte nämlich im 16. Jahrhundert bereits deutlich in den Hintergrund gerückt sein, so dass die Hunde nun v. a. für das herrschaftliche Jagdvergnügen eingesetzt wurden. So war damals der jagdbegeisterte Kaiser Maximilian mehrmals in der Gegend, wobei er sich unter den Brüdern Eglof I. und Conrad I. von Riedheim nachweislich auch in Angelberg aufhielt. 37 Dass für Conrad von Riedheim die Jagd einen hohen Stellenwert besaß, zeigt sich aber auch darin, dass er sich offensichtlich mehrere Jäger leistete. Bei den Untertanen hatte wohl weniger deren Anzahl als vielmehr der Umstand für Unmut gesorgt, dass alle Jäger wie auch sonstige in Lohn und Brot stehende knecht im hauß von Riedheims von den üblichen Untertanendiensten befreit waren. In diesen Fragen bekam jedoch Conrad von Riedheim Recht, und es wurde im Vertrag festgehalten, dass die Untertanen derselben halben, der dienst, zesperrn oder zewidern, nit macht haben sollen. 38 Wahrscheinlich hatten also einzelne oder mehrere Untertanen über das bekannte Mittel der Verweigerung ihrer pflichtigen Dienste gegen diese als ungerecht empfundenen Regelung protestiert. Es verwundert nicht, dass angesichts des angespannten Verhältnisses von Obrigkeit und Untertanen auch die an die Herrschaft zu leistenden Abgaben unterschiedlich bewertet wurden. Vertragsbestimmungen zu den Todfallabgaben lassen zwar keine genauen Schlüsse zu, in welchem Maße diese zur Debatte gestanden hatten, schufen aber Klarheit für die Zukunft: So stand dem Herrschaftsinhaber beim Tod eines Untertanen bei Männern das besst roß und bei Frauen die besst ku zu. Und auch Bauern, die bereits zu Lebzeiten von ihrem Hof oder Gut abziehen wollten, mussten sich trotzdem zur Zahlung des Besthaupts nach dem Tod verpflichten. 39 36 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. 37 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 38-40, 42. 38 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. 39 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="328"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 327 Hinsichtlich der Unterbringung Fremder in der Herrschaft Angelberg wurde festgeschrieben, dass die Untertanen wol ungeveverlich ein nacht oder zwe unnd nit lennger, ein gutten freundt beherbergen dürfen. Sonst sollten sie jedoch niemanden ohne Wissen und Erlaubnis der Herrschaft aufnehmen, sondern sie hatten yederman zu den wurtzheusern [zu] weysen. Neben besseren Kontrollmöglichkeiten generierte eine solche Regelung zur Erhöhung der Übernachtungszahlen in der Taferne, die in Tussenhausen bekanntlich zum herrschaftlichen Lehen gehörte, auch Einnahmen für von Riedheim. In Zaisertshofen hatte es dagegen allem Anschein nach mehrere Fälle eigenmächtigen Ausschanks ohne Vorwissen Conrads von Riedheim gegeben. Dies sollte nun abgestellt werden, und auch die dortigen Untertanen hatten ihn künftig darumb, wie sich gepurt [zu] bitten, unnd [zu] begriessen und anschließend natürlich auch das Umgeld erberlich [zu] raichen unnd [zu] geben. 40 Weitere Unklarheit bestand in Zaisertshofen hinsichtlich der Abgabe der Gülten. Nach der Auffassung Conrads von Riedheim waren diese von alters her und auch zu Zeiten seines Bruders Eglof nach Kaufbeuren abgeführt worden, was die Untertanen jedoch verneinten. Was es genau damit auf sich hatte, geht aus dem entsprechenden Absatz des Vertrags nicht hervor, zumal in diesem Punkt keine eindeutige Entscheidung getroffen werden konnte. So hielten die Vertreter des Schwäbischen Bundes dazu lediglich fest, dass die Beweislast bei von Riedheim liege. Wenn er seine Position jedoch belegen könne, soll mit inen den von Zaysertzhofen sovil verfuegt [werden], damit sy in demselben auch gehorsam sein werden. 41 Auf die gesamte Herrschaft Angelberg bezogen war dann wieder die allgemein gehaltene Bestimmung, dass die Untertanen ihrem Herrn an seiner rennt und gulltt kein abbruch thun, sondern diese bezahlen sollen. Umgekehrt wurde aber auch von Riedheim ganz grundsätzlich ermahnt, jedermann seiner verrichteten Arbeit nach zu entlohnen. Bei den Bundessteuern, also den Zahlungen an den Schwäbischen Bund, die für seine Herrschaften anfielen, hatte von Riedheim versucht, die Kosten auf die Untertanen umzulegen. Auf seine diesbezügliche Klage hin trafen die Bevollmächtigten nun eine differenzierte Entscheidung: Hinsichtlich der rays und bundssteur kamen sie dabei von Riedheim weitgehend entgegen. Immer dann, wenn nämlich ein solcher Kriegsfall eintreten und diese Sonderabgabe erhoben werden sollte, mussten alle seine unnderthanen und armleut die Kosten billich tragen. Dabei dürfte von Riedheim jedoch nicht mehr einfordern, als im in demselben krieg oder raißsteur auffgelauffen, oder auf in gelegt worden ist. Auch sollten die Untertanen dabei gerecht und nach ihrem jeweiligen vermugen belastet werden. Anders fiel jedoch die Entscheidung des Bundes hinsichtlich der gemeinen, also der allgemeinen, regulären Bundessteuer 40 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 44. 41 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="329"?> S TE FAN B IRKL E 328 aus: Damit hatte Conrad von Riedheim, wie aus dem Text hervorght, bisher zwar ›nur‹ die Untertanen von Irmatshofen belastet, doch nun wurde ihm auch das untersagt. Denn die Vertreter des Schwäbischen Bundes waren zur Erkenntnis gelangt, dass andere Herrschaftsträger diese Kosten nicht auf ihre Untertanen abwälzten. Diesen sollte es von Riedheim nun gleichtun, die Steuer selbst zahlen und sein armleut damit nit beswern. 42 Im letzten Teil des Vertrags finden sich verschiedene Hinweise auf Versuche Conrads von Riedheim, gemeindliche und kirchliche Institutionen bei ihrer Arbeit zu behindern und auf einzelne Untertanen mit verschiedenen Restriktionen Druck auszuüben. Dabei setzte ihm der Schwäbische Bund nun jedoch klare Grenzen und erinnerte ihn an seine Pflichten, während es im ersten Teil des Vertrags stärker um die Rechte und Pflichten der Untertanen gegangen war. 43 Bei den Heiligenpflegern etwa hatte von Riedheim über seine Mitwirkung an der Rechnungslegung Druck aufzubauen versucht. Möglicherweise hatte es aber auch bereits bei der jährlich anstehenden Wahl schon Meinungsverschiedenheiten gegeben. Diesbezüglich wurde nämlich 1516 festgehalten, dass sie auch künftig dem alten Herkommen nach erfolgen solle und als Heiligenpfleger nur from, erber, redlich personen genommen werden sollen. Als Verantwortliche für das Kirchenvermögen hatten die Heiligenpfleger künftig sowohl vor von Riedheim als der weltlichen Obrigkeit, wie auch vor dem Pfarrer und vor den anderen Untertanen Rechenschaft abzulegen. Von Riedheim wurde nun jedoch unmissverständlich untersagt, nach seinem Gutdünken über das Heiligenvermögen und dessen Verwendung zu verfügen. Denn der heiligen gellt und nutzung soll im nit geantwurt, sondern dieses Geld allein für die kirchen und annder gotzzierden verwendet werden. Gelder, die er in der Vergangenheit wohl schon an sich gezogen hatte, die aber eindeutig den kirchen zugehorig seien, musste er wieder herausgeben. 44 Die zwelffer oder urtailsprecher sowie die Vierer mussten ebenfalls from, erber, redlich unnd unverlaimbt leut sein und über jährliche Wahlen ausgetauscht oder ergänzt werden. Und auch hier hatte sich von Riedheim ganz offensichtlich zu stark eingemischt, weshalb ihm nun auferlegt wurde, die für die niedere Gerichtsbarkeit zuständigen Zwölfer an irem rechtsprechen und erkennen nicht zu behindern, sie auch nicht mit neuen oder unzimlichen gebotten oder verpotten zu beschweren, sondern alles nach dem alten Herkommen zu belassen. 45 42 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 43f. 43 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 41, 45. 44 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 46. 45 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="330"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 329 Das alte Herkommen wird auch bei anderen, kleineren Punkten am Ende des Vertrags immer wieder als Grundlage für die nun schriftlich fixierte Regelung angeführt. Wie von Riedheim im Einzelnen davon abgewichen war, geht aus den entsprechenden Formulierungen leider nicht immer hervor. Die verschiedenen Punkte zeigen aber doch das breite Spektrum und die verschiedenen Stellen, an denen es zwischen Obrigkeit und Untertanen zu Spannungen gekommen war. So wird von Riedheim im Zusammenhang mit dem Ziegelstadel auferlegt, seinen Untertanen, die diesen mit Holz und anderem versehen mussten, 100 Dachziegel und 18 Pfennig zu geben und es sonst dem Herkommen gemäß zu halten. Beim Holzeinschlag sollte es ebenfalls bei den bisherigen Regelungen belassen werden. Eingeräumt wurde dem Herrschaftsinhaber hier das Recht, einen eigenen Holzwart einzusetzen, woraus jedoch für die Untertanen keine neue Belastung entstehen dürfe. Das mergeln, eine Form der Düngung, hatte von Riedheim seinen Untertanen aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen verboten. Nun wurde es ihnen mit der ebenso knappen wie eindeutigen Begründung, dieweil es ein gemainer nutz sei, wieder erlaubt. In Angelberg hatte es zudem Versuche von Riedheims gegeben, den Zoll an sich zu ziehen. Diesen hatte aber sein Bruder und Vorgänger Eglof den Untertanen unter der Auflage zugestanden, damit Wege, Brücken und Stege zu unterhalten. Auch bei diesem Punkt blieb es letztendlich bei der Regelung aus der Zeit Eglofs von Riedheim. 46 Schließlich regelt der Vertrag noch verschiedene Punkte zur Wahl des Wohnorts und der Partnerwahl durch die Untertanen. Die zunächst gemachte einfache Festlegung, dass bei Auf- und Abfahrt auch künftig die althergebrachten zwölf Pfennige an die Herrschaft anfallen sollten, kann sicher in verschiedene Richtungen gedeutet werden. Eindeutige Rückschlüsse, welche Seite möglicherweise dagegen verstoßen hatte, lässt sie aber nicht zu. Bei Eheschließungen aber hatte von Riedheim offenbar dahingehend Druck ausgeübt, dass sich seine Untertanen bevorzugt miteinander und nicht mit fremden Personen verheirateten. Wie andernorts konnten sich derartige Bestrebungen seitens der Herrschaften letztendlich aber nicht durchsetzen, 47 und so wurde nun auch Conrad von Riedheim ermahnt, seine armnleut nit darzue [anzu]halten, oder [zu] vermugen, das sy einannder zu der ee nehmen, [außer] sy thuen dann dasselbs mit willen und geren. Bei der Verheiratung zweier seiner Leibeigenen soll er sich zudem mit einer Salzscheibe und der Vogt mit zehn Schilling begnügen. Weiter sollte von Riedheim keinen Untertanen gegen dessen Willen auff seine gutter zu ziehen keinswegs dringen. Unverheirateten leibeigenen Untertanen, die Arbeit und Nahrung z. B. in den Städten suchten, hatte von Riedheim wohl ebenfalls regelmäßig Steine in den 46 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516; G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 43, 46. 47 Vgl. dazu P. B LICKLE / R. B LICKLE , Schwaben (Anm. 22), S. 103-105. <?page no="331"?> S TE FAN B IRKL E 330 Weg gelegt. Diese Untertanen sollte er künftig daran nicht mehr hindern, während sie sich aber ohne sein Wissen nirgends niederlassen durften. 48 Damit waren freilich noch nicht alle strittigen Punkte zwischen Conrad von Riedheim und den Angelberger Untertanen aus der Welt geräumt. So ist am Ende des Vertrags noch von weiteren Klagen mehrerer Personen die Rede, die jedoch wegen ihrer Weitläufigkeit und ohne eine vorherige genaue Prüfung von den in Nördlingen versammelten Vertretern des Schwäbischen Bundes nicht bereinigt werden konnten. Es wurde deshalb angeregt, zur weiteren Klärung dieser Fragen ein comiss auf den Bürgermeister und Rat der Stadt Memmingen zu stellen. 49 In einigen Einzelfällen verhängte der Schwäbische Bund in der Angelberger Angelegenheit aber auch konkrete Strafen. Wie diese genau aussahen und v. a. wer davon betroffen war, geht aus dem Text leider nicht hervor. So erfahren wir nur, dass vom Bund beschlossen wurde, ettlich umb ir frävenlich red und unfugklich handlungn zestraffen. Die Bestraften sollten jedoch ausdrücklich von Conraten von Riethaim one all irrung, widerumb einkomen und eingelassen werden, damit ihnen kein weiterer Nachtteil seitens ihrer Herrschaft entstehe. Eine Doppelbestrafung war damit also ausgeschlossen. Von Riedheim sollte nun wieder ir gnediger junckher und sie gethreu underthän sein. Bei Verstößen gegen den Vertrag drohte Conrad von Riedheim eine Geldbuße in Höhe von 600 fl., und die Untertanen hatten im Übertretungsfall ebenfalls mit ernstlicher straff zu rechnen, wie es abschließend heißt. 50 3. Zusammenfassung und Ausblick Ressourcenkonflikte zwischen Obrigkeit und Untertanen scheinen im Angelberger Vertrag aus dem Jahr 1516 an verschiedenen Stellen immer wieder durch. In manchen dieser Fälle liefert der Vertrag zusätzlich zur reinen Regelung der strittigen Punkte auch noch weitere Hintergrundinformationen zu den zugrundeliegenden Konflikten mit. In anderen Fällen dagegen gibt es zwar Indizien für einen möglichen Ressourcenkonflikt, der sich aber mit den knappen diesbezüglichen Angaben aus dem Vertrag nicht sicher nachweisen oder gar in seinem Verlauf rekonstruieren lässt. Gerade bei diesen Fällen schmerzt das Fehlen weiterer aussagekräftiger Quellen zur Herrschaft Angelberg für den fraglichen Zeitraum besonders. 48 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. 49 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. Über den Fortgang dieser Pläne konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. 50 StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="332"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 331 Dennoch lassen sich auch im Fall der Ritterherrschaft Angelberg verschiedene Ressourcen benennen, die entweder grundsätzlich knapp oder doch so wichtig waren, dass sie in einem sich verschärfenden Streit als Druckmittel eingesetzt werden konnten. Im Angelberger Fall deutet trotz der einleitenden Feststellung, der Konflikt sei von einem Tag auf den anderen entstanden, vieles darauf hin, dass der Auslöser zwar die Übernahme der Herrschaft durch Conrad von Riedheim gewesen sein dürfte, sich die Auseinandersetzung dann aber erst allmählich zur vollen Intensität aufgeschaukelt hat. Darauf deuten etwa die verschiedenen Schikanen beider Streitparteien hin, die im Text erwähnt sind: Wenn etwa die Untertanen für die oben genannten Arbeiten im Schloss oder zum Brennholzmachen gänzlich ungeeignete Personen schickten, kamen sie zwar ihrer Pflicht ›auf dem Papier‹ nach, provozierten Conrad von Riedheim aber gerade dadurch. Umgekehrt verärgerte von Riedheim seine Untertanen offensichtlich immer wieder, indem er sie bei der Ablieferung ihrer Abgaben ohne Begründung sehr lange warten ließ. 51 Versucht man jedoch, solche auch bei anderen Streitigkeiten nicht ungewöhnlichen Eskalationen auszuklammern und den Konflikt auf die ursprünglichen Streitpunkte zurückzuführen, so kristallisieren sich in Angelberg verschiedene strittige Ressourcen heraus. 52 Eine große Bedeutung besaßen dabei die Untertanen selbst bzw. deren Arbeitskraft. Denn diese beeinflusste direkt oder indirekt weitere Ressourcen. Dabei ist in einem dörflichen Umfeld in dieser Zeit v. a. an die landwirtschaftliche Produktion zu denken, bei der von der Vorbereitung des Bodens über die Aussaat, Pflege und Ernte bis hin zur Verarbeitung, aber auch bei der Viehwirtschaft ein entsprechend großer Aufwand betrieben werden musste. Zudem waren viele landwirtschaftliche Arbeiten kaum verschiebbar, sondern in starkem Maße witterungs- und jahreszeitenabhängig. Die Versuche von Riedheims, die Arbeitskraft seiner Untertanen stärker zu beanspruchen, war also schon allein deshalb konfliktträchtig, weil die Untertanen durch jeden zusätzlichen Frondienst von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten wurden. Aber auch die Untertanen hatten offensichtlich schnell gelernt, wie sie durch die Reduzierung oder die vollständige Verweigerung der Arbeiten, die sie für den Herrschaftsinhaber zu leisten hatten, Druck auf diesen ausüben und sich so wehren konnten Die später im Vertrag genannten Versuche Conrads von Riedheim, die Partnerwahl der Untertanen einzuschränken oder den Abzug in fremde Herrschaften zu unterbinden, weisen ebenfalls auf die Bedeutung der Ressource ›Untertanen‹ hin. 51 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 46. 52 Zur Einordnung des Angelberger Falls und der im Folgenden genannten strittigen Ressourcen vgl. auch die allgemeinen Aussagen zum Verhältnis von Herrschaftsträgern und ländlicher Gesellschaft in Schwaben bei P. B LICKLE / R. B LICKLE , Schwaben (Anm. 22), S. 90-105. <?page no="333"?> S TE FAN B IRKL E 332 Daneben sind für den Angelberg-Fall Abgaben und Steuern als wiederkehrender Streitpunkt zwischen Obrigkeit und Untertanen zu erkennen. Beispiele hierfür sind die weitgehend gescheiterten Versuche Conrads von Riedheim, die Belastung durch die Bundessteuern auf die Untertanen abzuwälzen, sowie seine erfolgreicheren Maßnahmen gegen den nicht regulierten Ausschank in Zaisertshofen, was gleichzeitig zur Sicherung der Umgeldeinnahmen beitrug. Indem er Ansprüche auf die Zolleinnahmen und das Heiligenvermögen anmeldete, versuchte er aber auch unmittelbar auf Gelder zuzugreifen, die direkt oder - im Falle der für die Kirchen zu verwendenden Heiligengelder - indirekt seinen Untertanen zustanden. Die Untertanen konnte sich beispielsweise auch beim strittigen Hirtenlohn grundsätzlich behaupten und hatten künftig zwei Optionen zur Wahl, mussten aber weiterhin bei der Wahl des Hirten die traditionelle Geldleistung an die Herrschaft entrichten. Diese Regelung brachte ebenso wie die Vorgaben für die Todfallabgaben und für Auf- und Abfahrt Klarheit für beide Seiten. Gerade für die Untertanen bedeuteten solche Festlegungen aber auch Schutz vor obrigkeitlicher Willkür. 53 Ähnliches lässt sich für Irmatshofen feststellen, wo von Riedheim zwar weiter neue Grundstücke an sich bringen, diese aber nicht zum althergebrachten Hofbau schlagen durfte, wodurch sich ihm weitere Zugriffsmöglichkeiten eröffnet hätten. Erwähnung findet auch die Ressource ›Holz‹ an mehreren Stellen des Vertrags. Dabei konnten beide Seiten Erfolge verbuchen: Von Riedheim etwa beim Brennholzschichten durch die Untertanen, während diesen umgekehrt durch den herrschaftlichen Holzwart keine neuen Belastungen entstehen durften. Für Holz- und sonstige Lieferungen an den Ziegelstadel wurden sie zudem mit Dachziegeln und Geld entschädigt. Jagd und Fischerei, und damit der Zugriff auf einen Teilbereich der Ressource ›Nahrung‹ werden im Angelberger Fall jeweils nur kurz genannt und lassen nur wenig Rückschlüsse auf die vorausgegangenen Konflikte zu. Die Klärung der Fischrechtsfragen in Irmatshofen jedenfalls scheint aufgrund der eindeutigen Sachlage schnell erledigt gewesen zu sein. Die Jagd dagegen wird nur indirekt über die Belastung der Untertanen durch die Pflicht zur Haltung von Jagdhunden angesprochen. Keine erkennbare Rolle in den Differenzen spielte die Zugehörigkeit Angelbergs zur sich herausbildenden Reichsritterschaft. Das erklärt sich aber schlüssig damit, dass die Auseinandersetzung in Angelberg eine interne Angelegenheit war, die sich zwischen Obrigkeit und Untertanen abspielte. Auf die jeweiligen Positionen, die Kräfteverhältnisse und die grundsätzliche Rollenverteilung zwischen dem junckher und dessen armenleut und underthänen 54 hatte die Zugehörigkeit von Riedheims und seiner Herrschaft zur Reichsritterschaft keinen Einfluss, konnten also auch nicht als 53 So auch G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 47. 54 So die typischen, wiederholt verwendeten Formulierungen in StadtA Mindelheim, Urk. 0312: Entscheidung zwischen Conrad von Riedheim und seinen Untertanen, [23.4.] 1516. <?page no="334"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 333 Argument ins Feld geführt werden. Anders hätte es vielleicht bei einer Beteiligung auswärtiger Kräfte mit konkurrierenden Herrschaftsrechten ausgesehen, die in Opposition zu von Riedheim getreten wären. Dann hätten sich für ihn möglicherweise - wie später bei seinem Urenkel Conrad III. im Kontext der Einführung der Reformation im Jahr 1576 - Hinweise auf die Zugehörigkeit zur Reichsritterschaft und die Berufung auf ritterliche Rechte als Argumente ebenfalls angeboten. 55 Das sind jedoch alles Spekulationen, denen weiter nachzugehen wenig Erkenntnischancen mit sich bringt. Interessanter dürfte deshalb die Frage nach dem Erfolg des Vertrags von 1516 sein: Konnten durch die Vermittlung des Schwäbischen Bundes die Konflikte zwischen Obrigkeit und Untertanen beigelegt werden? Zunächst scheint es so gewesen zu sein, da keine weiteren Differenzen überliefert sind. Andererseits kann diese Ruhe aber auch einfach von einer schlechten Überlieferungssituation für die folgenden Jahre und einer entsprechend dünnen Quellenbasis herrühren. 56 Bekannt ist jedoch, dass mit Conrad I. von Riedheim der Verursacher der Differenzen bereits kurze Zeit nach dem Vertragsabschluss noch im Jahr 1516 starb. Sein Sohn Conrad II. übernahm die Herrschaft Angelberg, hatte sich aber in einer langwierigen Auseinandersetzung zunächst gegen Erbansprüche zweier seiner Vettern durchzusetzen. 57 . Das alles mag zu einer Beruhigung beigetragen haben. Allerdings war es damit spätestens beim Ausbruch des Bauernkriegs auch in der Herrschaft Angelberg wieder vorbei. Gabriele von Trauchburg hat bereits recht detailliert Parallelen der Themenfelder des Vertrags von 1516 mit den Zwölf Artikeln von 1525 herausgearbeitet. Durch Gegenüberstellung verschiedener Textpassagen konnte sie zeigen, dass ein Großteil der bäuerlichen Forderungen von 1525 in Angelberg bereits neun Jahre zuvor nicht nur thematisiert, sondern v. a. auch auf dem Verhandlungsweg geregelt worden war. 58 55 Zu diesen späteren Ereignissen vgl. S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 3), S. 328, 463f. 56 Auch G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 47, konnte im Rahmen ihrer ortsgeschichtlichen Forschungen für die nächsten neun Jahre keine Quellen zum Zusammenleben oder zu Streitigkeiten zwischen dem Inhaber der Herrschaft Angelberg und den Untertanen ausfindig machen. Sie geht deshalb davon aus, dass nach dem Tod des Vaters auch »Conrad II. von Riedheim den Vertrag einhielt«; vgl. G. VON T RAUCHBURG , Zaisertshofen (Anm. 12), S. 37. 57 Zwei Cousins Conrads II. aus der Familie von Landau fochten unmittelbar nach dem Tod Conrads I. die Behandlung Angelbergs als reines Mannlehen an. Nach dieser Auffassung hätte ihre Mutter Rutgart, die eine Schwester von Eglof I. und Conrad I. von Riedheim war, an der Herrschaft Angelberg beteiligt werden müssen. Erst nach einem langjährigen Rechtsstreit konnte 1527 eine endgültige Regelung gefunden werden: Gegen die oben bereits erwähnte Abtretung seines Anteils an der Herrschaft Waal und eine Geldzahlung Conrads II. an Hans Jakob von Landau trat dieser von allen Ansprüchen auf die Herrschaft Angelberg zurück; vgl. G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 47f. 58 G. VON T RAUCHBURG , Zaisertshofen (Anm. 12), S. 41-45. <?page no="335"?> S TE FAN B IRKL E 334 Hätte der Angelberger Vertrag also, so könnte man weiterfragen, möglicherweise in irgendeiner Form als Blaupause und Deeskalationsstrategie für den Bauernkrieg dienen können? Und wenn ja, warum konnte es dann auch in Angelberg trotz der dort bereits vorhandenen Regelungen im Jahr 1525 ebenfalls zu Unruhen kommen? Diesen Fragen weiter nachzugehen, wäre sicherlich spannend. Als Problem erweist sich dabei jedoch wieder die Quellenlage: So gibt es, wie gerade schon erwähnt, für den Zeitraum von 1516 bis 1525 keine Hinweise auf Unstimmigkeiten zwischen Obrigkeit und Untertanen oder darauf, dass die Angelberger Untertanen mehr gefordert hätten oder Conrad von Riedheim weniger zugestanden hätte, als im Vertrag von 1516 geregelt war. Und auch zur Frage, inwieweit sich die Angelberger Bauern beim Ausbruch der Unruhen im Frühjahr 1525 überhaupt inhaltlich mit den Zwölf Artikeln und den dortigen Forderungen identifizierten oder ob sie vielleicht eher ›von der Welle mitgerissen wurden‹, lässt die Überlieferung keine Rückschlüsse zu. Denn selbst zum Verlauf des Bauernkriegs innerhalb der Herrschaft Angelberg ist außer einem Vorfall mit Beteiligung Conrads II. von Riedheim kaum etwas bekannt. Dieser Vorfall allerdings erlangte einige Bekanntheit und ist über verschiedene Chroniken überliefert. So berichtet der Ottobeurer Pater und Chronist Maurus Feyerabend, dass sich in der Gegend Bauern zu Hunderten in verschiedenen, durch die Farben ihrer Fähnlein unterscheidbaren Haufen versammelt hätten. »Die schlimmsten« aber, so Feyerabend, »waren die mit den rothen Fähnleins, worunter auch die von Angelberg dienten.« 59 Mitte April vereinigte sich das ›Rote Fähnlein‹ im heutigen Markt Rettenbach mit einem Teil des Allgäuer Haufens unter der Führung von Jörg Schmid, genannt ›Knopf‹ von Leubas. Am 22. oder 23. April verhafteten die Bauern Conrad von Riedheim auf seinem Schloss Irmatshofen, führten ihn ab und zündeten seine Schlösser an. Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang, dass Jörg Schmid ein sehr angespanntes Verhältnis zur Familie von Riedheim hatte. Zur Zeit, als Johann von Riedheim Abt des Fürststifts Kempten war, hatte er dessen Bestrebungen, die Untertanen möglichst vollständig in die Leibeigenschaft zu drängen, selbst miterlebt. Im dort 1491/ 92 ausgebrochenen Bauernaufstand war Jörgs Vater Heinrich Schmid auf dem Weg zu Verhandlungen verschwunden und wohl ermordet worden, wobei verschiedentlich über eine aktive Rolle des Fürstabts spekuliert worden war. 60 Ob und gegebenenfalls wie stark diese Ereignisse drei Jahrzehnte später für den Umgang der Bauern mit Conrad von Riedheim von Bedeutung waren, lässt sich 59 Zitiert nach G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 50. 60 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 52; A RTHUR M AXIMILIAN M ILLER , Jörg Schmid von Leubas, genannt der Knopf, in: G ÖTZ VON P ÖLNITZ (Hg.), Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 4 (Veröff. SFG 3/ 4) S. 67-99, hier 72-74; G ERHARD I MMLER , Art. Kempten, Fürstabtei: Politische Geschichte (Spätmittelalter), publiziert am 15.9.2009, in: HLB (aufgerufen am 24.3.2024). <?page no="336"?> S P ENN UN D IR R U NG ZWIS CH EN O BRIGK EIT UND U NTER TAN EN 335 nicht mehr feststellen. Einig sind sich die Chroniken, dass die Bauern bei Tussenhausen Gericht über ihn hielten, was der später verhaftete und verhörte Jörg Schmid in seiner Urgicht auch einräumte. Bei den weiteren Details dagegen gehen die Schilderungen teils weit auseinander: Einmal soll Conrad zur Strafe durch die Spieße der Bauern gegangen, ein anderes Mal bereits bei der Verhaftung »hart gestochen« worden sein, und ein dritter Chronist wollte gar wissen, dass er genau 13 Hieb- und Stichwunden erhalten habe. Auch von einem gescheiterten Fluchtversuch durch ein Abflussrohr wird vereinzelt berichtet. 61 Letztlich überlebte Conrad von Riedheim und kam gegen eine Geldzahlung, die je nach Darstellung entweder ein diktiertes Lösegeld, ein erfolgreicher Bestechungsversuch zur Schonung seines Lebens oder das Ergebnis von Verhandlungen war und zwischen 4.000 und 40.000 Goldstücken schwankte, wieder frei. Ein Jahr nach dem Bauernkrieg nahm er Anfang März 1526 dennoch Rache an den Anführern des Aufstands aus seiner Herrschaft, ließ sechs Männer enthaupten und dreien zur Strafe die Zunge herausschneiden. 62 Die Annahme, dass im Schicksal dieser drei Männer, die nun der Fähigkeit zur verständlichen Artikulation beraubt waren, der Ursprung der noch heute anzutreffenden Bezeichnung der Bewohner Zaisertshofens als ›Goaka‹ zu suchen sei, ließ sich bisher weder beweisen noch eindeutig widerlegen. 63 Unabhängig davon, ob es sich dabei aber um eine Legende handelt oder nicht - die Erinnerung an den Bauernkrieg und die vorausgegangenen Auseinandersetzungen mit dem Herrschaftsinhaber ist auch darin bis heute lebendig. 61 A. M. M ILLER , Jörg Schmid (Anm. 60), S. 91f. Eine Zusammenfassung der verschiedenen chronikalen Darstellungen findet sich bei G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 53-55. 62 G. VON T RAUCHBURG , Tussenhausen (Anm. 4), S. 56. 63 G. VON T RAUCHBURG , Zaisertshofen (Anm. 12), S. 46. <?page no="338"?> 337 S ILKE S CHÖTTLE Das Ringen um Ressourcen als Mittel der Konfliktentschärfung in den Vereinbarungen Georgs von Waldburg mit den Untertanen der Herrschaft Wolfegg 1. Es solte anderemas dann wie bisher beschehenn darinn furgenomen werdenn Eine Pergamenturkunde des Jahres 1526 im Gesamtarchiv der Fürsten zu Waldburg- Wolfegg und Waldsee, betreffend Abgaben, Steuern und Leibeigenschaft in der waldburgischen Herrschaft Wolfegg, leitet die Narratio damit ein, man sei der leibaigennschafft […] verpunden gwest und noch zugehörig und habe sich was derselbigen anhangt, als väll unnd geläss, ungnossami, hochzeitgellt unnd verkouffung der lewt beschwert ghapt unnd gemaint […], es solte anderemas dann wie bisher beschehenn darinn furgenomen werdenn. 1 Deutlich wird hiermit der Hoffnung auf Wandel der bestehenden Verhältnisse Ausdruck verliehen. Durch die Vereinbarung eines neuen Maßes, also einer quantitativen Veränderung der Belastungen, wollen die Bauern die Lasten der Leibeigenschaft mildern. Damit setzt die Stellungnahme die lange Reihe der bäuerlichen Klagen des Jahres 1525 fort, in denen regionale Ressourcenkonflikte erkennbar werden. Die Frage, welche Rolle sie in der Herrschaft Wolfegg gespielt haben, steht im Zentrum der folgenden Studie. Das zitierte Schriftstück stellt einen Vertrag dar, 2 den Georg Truchsess Freiherr zu Waldburg (1488-1531) 3 am 24. April 1526 und damit ein gutes Jahr nach der 1 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 7f. 2 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1 trägt den Dorsualvermerk: Vertrag deren unnderthonen in dene gericht Wolffegg, Haydtgau, Arnach unnd Ellwanngen gegen den wolgebornnen herrn Jeörgen truchsessen wegen der fäll, steurn unnd der leibaigenschafft etc. anno etc. 1526. 3 Vgl. zu Georg III. Truchsess Freiherr zu Waldburg P ETER B LICKLE , Der Bauernjörg, Feldherr im Bauernkrieg, Georg Truchsess von Waldburg 1488-1531, München 2015; G ABRIELE VON T RAUCHBURG , Gefechte und Schlachten - die Kontrahenten und die Ereignisse, in: E LMAR L. K UHN (Hg.), Der Bauernkrieg in Oberschwaben (Oberschwaben - Ansichten und Aussichten 8), Tübingen 2000, S. 175-198, hier 175-182; M ARTIN Z ÜRN , Georg III. von Waldburg, der Bauernjörg, in: Ebd., S. 295-314; J OSEPH V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg in Schwaben, Bd. 2, Kempten 1900, S. 422-768; D ERS ., Art. Waldburg, Georg III. Truchsseß von, in: ADB 40 (1896), S. 660-665 [Onlinefassung], http: / / <?page no="339"?> S ILK E S CHÖT TL E 338 Hochphase des oberschwäbischen Bauernkriegs und dem Abschluss des sogenannten Weingartner Vertrags 4 mit einem Untertanenausschuss der vier Gerichte Wolfegg, Haidgau, Arnach und Ellwangen für seine waldburgische Herrschaft Wolfegg betreffend Gefälle, Steuern und Leibeigenschaft abschloss und ausfertigen ließ. Eine weitere Vereinbarung wurde noch am gleichen Tag und mit demselben Ausschuss hinsichtlich Diensten, Dienstgeldern und Fasnachtshennen verbrieft. 5 Das Zustandekommen der Vereinbarungen zwischen dem Truchsessen und seinen Untertanen wurde bereits am 7. April 1526 in der Korrespondenz der Prälaten von Weißenau und Weingarten kommuniziert. Weil dort auch eine Übereinkunft von Bürgermeister und Rat der Stadt Ravensburg mit deren Untertanen angedeutet wurde, ist davon auszugehen, dass gemäß dem Weingartner Vertrag die in beiden Schriftstücken als Beglaubiger fungierenden Reichsstädte Ravensburg und Wangen www.deutsche-biographie.de/ (aufgerufen am 7.6.2023); K ASIMIR W ALCHNER / J OHANN B ODENT , Biographie des Truchsessen Georg III. von Waldpurg, Constanz 1832. 4 Peter Blickle verweist darauf, dass der Schwäbische Bund diesen Vertrag den Bodenseeischen Vertrag genannt habe, was anhand der angegebenen Quellen und auf Anfrage im Stadtarchiv Augsburg nicht nachvollzogen werden konnte, jedoch finden sich andere Quellen dazu, beispielsweise in W ILHELM V OGT (Hg.), Die Correspondenz des schwäbischen Bundeshauptmanns Ulrich Artzt von Augsburg aus den Jahren 1524 und 1525, ein Beitrag zur Geschichte des Bauernkrieges in Schwaben, Teil 4, [Augsburg] 1889, Nr. 825, S. 206; Martin Luther nennt den Vertrag den Vertrag zwischen dem löblichen Bund zu Schwaben, vnd den zweyen hauffen vnd versamlung der Bawrn am Bodensee vnd Algew. Beides zitiert nach P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 177, 182-188. Vgl. auch H ANS U LRICH R UDOLF , Ende und Ausgang - Der Weingartener Vertrag und die Folgen, in: E. L. K UHN (Hg.), Der Bauernkrieg in Oberschwaben (Anm. 3), S. 199-232, hier 199 und Anm. 2; B IRGIT F AIGLE , Der Weingartener Vertrag vom 22.4.1525, Zulassungsarbeit PH Weingarten im Fach Geschichte, Grünkraut, WS 1984/ 85, S. 33-42, gibt eine Zusammenstellung über die erhaltenen Textfassungen des Weingartner Vertrags. Eine der Originalausfertigungen des Vertrags befindet sich im StadtA Augsburg, AUS 1525 April 22. Häufig wird der Luther-Druck des Jahres 1525 bei G ÜNTHER F RANZ , Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 2), Darmstadt 1963, Nr. 63, S. 216-223, und der Druck von Silvan Othmar Augsburg 1525 in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, veröffentlicht bei A DOLF W AAS , Die Bauern im Kampf um Gerechtigkeit, München 1964, zwischen S. 176f., zitiert. Ein weiterer Druck des Jahres 1525 befindet sich im HStA Stuttgart, J 9 Bü 12; Abschriften sind im GesA Wolfegg und im HStA Stuttgart, H 54 Bü 12 und Bü 47 sowie H 53 Bü 71, vorhanden. Vgl. dazu auch H ANS -M ARTIN M AURER , Der Bauernkrieg im deutschen Südwesten. Dokumente, Berichte, Flugschriften, Bilder. Ausstellungskatalog, Stuttgart 1975, S. 57f. 5 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2 trägt den Dorsualvermerk: Der vier ampter der herrschafft Wolffegg de dato 1526 dienst, dienstgelt und faßnachthennen betreffend. Vertrag und Vereinbarung wurden von den Untertanenausschüssen jeweils auf Ebene der Gerichte für die gesamte gemaind geschlossen. <?page no="340"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 339 mit ihren Vertretern am Zustandekommen der waldburgischen Kompromisse beteiligt waren. 6 Ähnliche Verträge mit anderen Untertanenverbänden im Herrschaftsgebiet Georgs von Waldburg folgten, etwa mit der Herrschaft Essendorf. 7 Beide Schriftstücke und die dazu gehörige Supplik sollen unter dem Aspekt des Ressourcenkonflikts etwas ausführlicher als bereits geschehen in ihren Kontext gestellt werden. 8 Die Untersuchung soll auch in den Blick nehmen, wie gerade Georg von Waldburg, den als Oberster Feldhauptmann des Schwäbischen Bundes der »Mythos Bauernjörg« der Pappenheim’schen Truchsessen-Chronik umweht, 9 nach vollendetem Auftrag im Dienst des Schwäbischen Bundes mit seinen eigenen Untertanen um materielle und immaterielle Ressourcen rang und den in ganz Oberschwaben auch nach dem Abschluss des Weingartner Vertrags weiterschwelenden Konflikt um Herrschaft und Leibeigenschaft für seinen Einflussbereich entschärfte. 6 H EINRICH G ÜNTER (Bearb.), Gerwig Blarer Abt von Weingarten 1520-1567. Briefe und Akten (Württembergische Geschichtsquellen 16), Stuttgart 1914, Nr. 119, S. 77. 7 Vgl. zu den Verträgen Georgs von Waldburg mit den Untertanen der Herrschaft Essendorf über die Erleichterung der Leibeigenschaft und zur Einschränkung der ungemessenen Dienste vom 9. und 18. Mai 1526 die Edition in E. L. K UHN , Der Bauernkrieg in Oberschwaben (Anm. 3), S. 560-562. Vgl. zu weiteren Verträgen des Hauses Waldburg mit den Untertanen vom 16. bis 18. Jahrhundert H. U. R UDOLF , Ende und Ausgang (Anm. 4), S. 230f., Anm. 76. Vgl. hierzu auch W OLFGANG VON H IPPEL , Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, Bd. 1: Darstellung (Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte 1), Boppard 1977, S. 202f.; sowie P ETER B LICKLE , Die Revolution von 1525, 4. Aufl. München 2004, S. 259f.; D AVID W ARREN S ABEAN , Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie der sozialen Verhältnisse im südlichen Oberschwaben in den Jahren 1525 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 26), Stuttgart 1972, S. 16, 124, Anm. 59. 8 Beide Urkunden GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1 und WoWo U 1324-2 werden bereits erwähnt bei P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 379-392, sowie bei D ERS ., Die Revolution von 1525 (Anm. 7), S. 258-260. Auch wird der Inhalt von GesA Wolfegg, WoWo 1324-1 ohne konkrete Nennung der Urkunde und ohne Signaturangabe erwähnt bei H. U. R UDOLF , Ende und Ausgang (Anm. 4), S. 230f. und Anm. 76, sowie bei M ARTINA H AGGEN - MÜLLER , Der Allgäuer Haufen, in: E. L. K UHN (Hg.), Der Bauernkrieg in Oberschwaben (Anm. 3), S. 37-65, hier 62. Eine weitere Wiedergabe und Deutung des Inhalts findet sich zudem bei W. VON H IPPEL , Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg (Anm. 7), S. 203-205; Regesten und Wiedergabe des Inhalts erstmals bei J. V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg (Anm. 3), S. 631-633. 9 P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 411-460, insb. 432. <?page no="341"?> S ILK E S CHÖT TL E 340 2. Land, Leute und Leibeigenschaft in der waldburgischen Herrschaft Wolfegg Suchte man danach, eine Mikrogeschichte des Bauernkriegs zu verfassen, so fände sich in der waldburgischen Herrschaft Wolfegg als dem zentralen Teil des damaligen Gesamtherrschaftsgebiets der Waldburger ein ideales Fallbeispiel: Hier herrschte Georg Truchsess Freiherr zu Waldburg, der schon lange vor 1525 in Berührung mit aufständischen Untertanen gekommen war. Hier herrschte die Leibeigenschaft, welche die Menschen in ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis zu den Truchsessen von Waldburg setzte und deren Lebensumstände auf einem niedrigen Niveau hielt. Hier herrschte auch jene Beschwernis und Überladung, welche die waldburgischen Untertanen im Frühjahr 1525 dazu bewog, sich den aufständischen Bauernhaufen anzuschließen. Ausdruck dieser waldburgischen Beschwernisse ist eine Supplik, die undatiert ist, allem Anschein nach aber erst im Nachgang des Bauernkriegs und vermutlich infolge der Bestimmungen des Weingartner Vertrags im Frühjahr 1526 schriftlich gefasst wurde. Untermauert wird diese Vermutung dadurch, dass der bereits erwähnte Vertrag und die Vereinbarung der Wolfegger Untertanen mit Georg von Waldburg vom 24. April 1526 auf die Hauptpunkte der Supplik antworten und dass die Untertanen in der Supplik angeben, ihre Beschwerden auff bevelch und begern des Truchsessen zu formulieren. 10 Georg von Waldburg hatte 1511 sein Erbe in den Herrschaften Waldburg, Wolfegg, Waldsee und Zeil sowie den beiden Städten Waldsee und Wurzach angetreten. Grundbesitz, Herrschafts- und Gerichtsrechte von Klöstern, Adligen, Spitälern, Reichsstädten, Stadtbürgern und den Freien auf der Leutkircher Heide formten als Flickenteppich die unmittelbare Nachbarschaft der Waldburger Herrschaften. In seinem Herrschaftsbereich verfügte Georg von Waldburg über die hochgerichtlichen Rechte. Über die österreichischen Lehen innerhalb dieser Herrschaften, etwa der Stadt Waldsee mit rund zwei Dutzend Dörfern und Weilern, war er eng an das Haus Habsburg gebunden. 11 Aber Georg von Waldburg war nicht nur im Bilde über die komplexe Vielfalt herrschaftlicher Rechte in seiner oberschwäbischen Nachbarschaft. Seine Tätigkeit in militärischen Diensten Herzog Ulrichs von Württemberg, die er 1510 angetreten hatte, aber auch die Fehden seiner Familie brachten ihn früh und intensiv in Berührung mit der Landfriedensproblematik der Zeit. 12 In württembergischen Diensten lernte Georg von Waldburg, politische Schadensbegrenzung zu 10 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 1. 11 P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 23, 25. 12 P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 45-51; W ALTER G RUBE (Hg.), Faksimile-Ausgabe aus Anlass der 450-Jahrfeier der Errichtung des Tübinger Vertrags mit Transkription und geschichtlicher Würdigung, Stuttgart 1964, S. 26f. III 15-III 20, 33-40; A NDREAS <?page no="342"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 341 betreiben, dafür Kompromisse und Verträge zu schließen, Bündnisse einzugehen, Verrechtlichungs- und Verschriftlichungsprozesse zu nutzen, Recht etwa in Form harter Strafen gegen Empörung und Aufruhr aus obrigkeitlicher Machtvollkommenheit passend zu gestalten, und schließlich auch militärisch Präsenz zu zeigen und klug auslotend auch mit kriegerischer Gewalt durchzugreifen. Als Herzog Ulrich mit dem Überfall auf die Reichsstadt Reutlingen 1519 Landfriedensbruch beging, ein Vergehen, das er seinen Untertanen im Armen Konrad fünf Jahre zuvor vorgeworfen hatte, kam Georg von Waldburg damals im Dienst und Gefolge des Herzogs von Bayern in Berührung mit dem Schwäbischen Bund. Er selbst war für seine eigenen waldburgischen Herrschaften dem Bund erst am 21. November 1524 beigetreten. 13 Die Beschwernis und Überladung der Untertanen der waldburgischen Herrschaften aufgrund der Leibeigenschaft waren Ergebnisse der gesellschaftlichen Verfasstheit Oberschwabens, die sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts entwickelt hatte. Die ältere grundherrliche Verfassung war davon geprägt gewesen, dass Personen Güter bewirtschafteten, die das Eigen einer Herrschaft darstellten. Die Eigenleute dieser Güter sorgten für deren ordentliche Bewirtschaftung und leisteten daraus jährliche Abgaben und Dienste an ihren Herrn, dessen Eigentum nicht in Frage gestellt wurde. Wo Herrschaft auf Eigenschaft basierte, bedeutete jedoch jede Schmälerung der Eigenschaft an Leib und Gut auch eine Schmälerung der Herrschaft. Solche Schmälerung galt es aus der Sicht der Grund- und Leibherren schon seit dem 13. Jahrhundert zu unterbinden, als die rasch wachsenden Städte dem Land immer mehr Menschen entzogen. Als Folge davon verschärften sich die Bedingungen der Eigenverfassung in einem Transformationsprozess, der von der Eigenschaft zur Leibeigenschaft führte und aus Eigenleuten Leibeigene machte. Nach mehreren Eindämmungsversuchen verbot der Reichsabschied des Jahres 1431 auf Druck des Adels und der Prälaten als Hauptherrschaftsträger in Oberschwaben endgültig das Pfahlbürgerwesen und hinderte in der Folge die Städte daran, Bauern und Eigenleute ohne definierte Gerichtszugehörigkeit in ihr Bürgerrecht und ihren Schirm und Schutz aufzunehmen. Das Wachstum besonders der reichsunmittelbaren Städte, deren Bürger nach Jahr und Tag tatsächlich frei waren, verlangsamte sich dadurch. S CHMAUDER , Württemberg im Aufstand - der Arme Konrad 1514. Ein Beitrag zum bäuerlichen und städtischen Widerstand im Alten Reich und zum Territorialisierungsprozess im Herzogtum Württemberg an der Wende zur frühen Neuzeit (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 21), Leinfelden-Echterdingen 1998, S. 246-249. 13 P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 43, 49-51, 71-74; H ORST C ARL , Der Schwäbische Bund 1488-1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 24), Leinfelden-Echterdingen 2000, S. 138; J. V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg (Anm. 3), S. 475; K. W ALCHNER / J. B ODENT , Biographie des Truchsessen Georg III. (Anm. 3), S. 41. <?page no="343"?> S ILK E S CHÖT TL E 342 Adel und Prälaten geboten auf diese Weise dem Sog in die Städte Einhalt. Gleichzeitig verschärften sie auch die leibliche Bindung ihrer Leute an den Herrschaftsraum, indem sie die freie Wahl des Schutz- und Schirmherrn, die räumliche Freizügigkeit und die ungenossame Ehe mit Ehepartnern außerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs unter Androhung des Vermögenseinzugs verboten. Damit einher ging ein Gebots- und Verbotsrecht der Leibherren, so dass Herrschaft selbstverständlich mit einer Gesetzgebungs- und Gerichtshoheit verbunden wurde. Adel und Prälaten hatten mit dieser Transformation ihre Herrschaft eingehegt und ihren Untertanen gleichzeitig die auf Grund der wachsenden Abgabenlast auch materiell drückende Last der persönlichen und leiblichen Bindung an den Herrn und seinen Boden auferlegt. Mit der Transformation der Eigenschaft zur Leibeigenschaft wurde so ein Maß überschritten, das zu jener Beschwernis und Überladung führte, die in Ermangelung persönlicher Freiheit letztlich als Unrecht empfunden wurde. In Artikel 3 der Memminger Zwölf Artikel forderten die Bauern folgerichtig nicht Eigentum oder die Abschaffung der Grundherrschaft, sondern Freiheit und die Abschaffung der Leibeigenschaft. 14 Die Leibherrschaft Georgs von Waldburg machte hier keine Ausnahme. Seine Untertanen nannten sich selbst unserm gnedigen hern mit leibaigennschafft verwandt und aigenlewt unnd undertanen des wollgepornnen hern […] Jorgen truchsessen freyhern zu Waltpurg. 15 Peter Blickle geht für die Zeit des Bauernkriegs von circa tausend Untertanen in der waldburgischen Herrschaft Wolfegg aus. Die darin befindlichen rund zweihundert Höfe und Selden in etwa fünfzig Ortschaften und Weilern verfügten über Äcker, Wiesen, Wälder und eine Bewirtschaftung, die mit unterschiedlichsten Abgaben (väll, geläss 16 ), Steuern (stewr 17 ), Dienstgeldern (dienstgellt 18 ) und symbolhaften Naturalabgaben wie den jährlichen Fasnachtshennen (vaßnachthennen 19 ) belastet waren. Jeder Hofinhaber war zu Dienstpflichten (diensten 20 ) angehalten und zwar dazu, an einer bestimmten Anzahl von Tagen im Jahr für den herrschaftlichen Haushalt Fisch zu 14 P. B LICKLE , Die Revolution von 1525 (Anm. 7), S. 40-50; D ERS ., Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, 2. Aufl. München 2006, S. 25-62, 72-75, 90-92, 102-104; D ERS ., Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 33-40; W ALTER M ÜLLER , Wurzeln und Bedeutung des grundsätzlichen Widerstandes gegen die Leibeigenschaft im Bauernkrieg 1525, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 93 (1975), S. 1-41, hier 1-11. 15 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 2-7. 16 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 8. 17 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 33. 18 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 13. 19 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 25. 20 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 26, 28. <?page no="344"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 343 fangen (visch zufurn 21 ), Brennholz zu schlagen (prennholltz zuhawenn 22 ), das Getreide des Hofbaus in Wolfegg zu ernten (sein gnaden […] ir winterkornn unnd haber abschneiden 23 ), bei der Jagd zu helfen (zum jagenn helffenn 24 ) und Baufronen zu leisten (im wider helpfen zimlich buwen 25 ). Die Wolfegger Untertanen unterstanden der Gesetzgebungs- und Gerichtshoheit Georgs von Waldburg, seiner Vögte und Amtleute, die zivil- und strafrechtliche Urteile vollzogen und die einzuhaltenden Gebote und Verbote kontrollierten. Geboten war es unter anderem, sich keinem anderen Schutzherrn zu unterstellen (schierm 26 ) und keine Ehe außerhalb des Kreises der Untertanen der waldburgischen Herrschaften (ungnossami 27 ) einzugehen. 28 3. Die waldburgische Herrschaft Wolfegg im Bauernkrieg Ohne Zweifel war Georg von Waldburg einer der wichtigsten Protagonisten des Bauernkriegs in Oberschwaben. An Lichtmess 1525 wurde er zum Obersten Feldhauptmann für das Heeresaufgebot des Schwäbischen Bundes berufen, das dem Aufstand der Bauern ein Ende bereiten sollte. Bereits im Oktober 1524 war ihm von Erzherzog Ferdinand, in dessen Diensten er seit 1520 stand, die Oberste Feldhauptmannschaft über ein habsburgisches Heer übertragen worden, um den beginnenden Aufruhr am Hochrhein einzudämmen und die Rückkehr Herzog Ulrichs in das Herzogtum Württemberg zu verhindern. Noch im November 1524 hatten die Untertanen von Mühlhausen im Hegau der habsburgischen Regierung ihre Beschwerden vorgetragen. Nachdem die Mühlhauser das Angebot des Straferlasses nicht angenommen hatten, übermittelte Georg von Waldburg ihnen am 15. Februar 1525 unter dem Vorwurf des Landfriedensbruchs und der unerlaubten Empörung ein Mandat mit Kapitulationsbedingungen, das keinerlei Zugeständnisse machte und bei Missachtung militärisches Eingreifen nach sich ziehen würde. 29 Georgs eigene Bauern kämpften ebenfalls für eine Verbesserung ihrer Situation. Schon 1523 hatten sich die Untertanen der Waldburger Herrschaften empört, auch wenn der sachliche Grund dafür nicht mehr nachvollzogen werden kann. Georg von 21 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 17. 22 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 18. 23 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 20-22. 24 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 24. 25 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 24f. 26 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 27. 27 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 8, 21. 28 P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 24-27, 31. 29 P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 95-108, 292. <?page no="345"?> S ILK E S CHÖT TL E 344 Waldburg soll damals zwischen den Aufständischen und seinem in Stuttgart weilenden Cousin Wilhelm vermittelt haben, der ihm mitteilen ließ, wenn ihr mir nit so lieb wäret, ich wollt gegen sie [die Bauern] handeln solcher Maß, daß sie gebührliche Strafe empfängen und künftig noch viele Jahre müßten daran denken […]. 30 Jetzt, im Jahr 1525, zögerten die waldburgischen Untertanen zunächst, sich den benachbarten Aufständischen anzuschließen. Anfang Januar 1525 berieten sie sich mit den Städten Waldsee und Wurzach über Verteidigungsmaßnahmen gegenüber dem Baltringer Bauernhaufen. Im Februar 1525 wurden sie von Untertanen des Klosters Ochsenhausen und von Kisslegger Bauern unter Drohung zum Anschluss an die Aufständischen aufgefordert. Am 13. Februar 1525 meldete die Stadt Ravensburg ihrem Bundesgesandten Heinrich Besserer in Ulm, dass die Empörung jetzt auch bei den Untertanen des Truchsessen Georg von Waldburg ausgebrochen sei. 31 Diese wollten mit Georg von Waldburg zunächst über ihren Schutz verhandeln und setzten ihm hierzu bis 3. März 1525 eine Frist. Georgs militärische Verpflichtungen ließen dies nicht zu. Er wandte sich daher Ende Februar brieflich an seine Untertanen, rief sie zum Gehorsam und forderte sie auf, sich nicht in die aufständischen Haufen einzureihen. Als Georg nicht erschien, schlossen sich die Waldburger Bauern Anfang März zu einem Unterhaufen der Allgäuer auf der Wurzacher Heide zusammen und wählten den der neuen Lehre anhängenden Pfarrer Florian Greisel von Aichstetten zu ihrem Hauptmann. 32 Am 4. April 1525 wurde die Schlacht bei Leipheim zum Auftakt für die militärische Niederwerfung der Bauern in Oberschwaben. Die vernichtende Niederlage des Baltringer Haufens machte jegliche Vermittlungslösungen zunächst hinfällig. Bündische Kapitulationsartikel zwangen dazu, der angestammten Herrschaft zu huldigen und alle bisherigen Dienste und Abgaben zu leisten. Nachdem inmitten seiner Herrschaften das Schloss Linden bei Unteressendorf in Brand gesteckt worden war, konnte Georg von Waldburg als Oberster Feldhauptmann im Krieg auch jetzt keine direkten Verhandlungen mit seinen Untertanen aufnehmen. Daher stellte er nochmals brieflich klar, dass die Obrigkeit ihm und nicht seinen Untertanen zustehe. Sollten sie sich dem Schwäbischen Bund nicht ergeben, gefährdeten sie Leben und Güter. Er habe keinen von ihnen aus seinem Treueid entlassen, weshalb die Eide, die sie den Bauernhaufen und der Christlichen Vereinigung geschworen hätten, 30 Zitat nach J. V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg (Anm. 3), S. 191; P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 43f.; M ARTIN Z ÜRN , »Ir aigen libertet«. Waldburg, Habsburg und der bäuerliche Widerstand an der oberen Donau 1590-1790 (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 2), Tübingen 1998, S. 196. 31 F RANZ L UDWIG B AUMANN , Akten zur Geschichte des Deutschen Bauernkrieges aus Oberschwaben, Freiburg 1877, Nr. 97, S. 109f.; W ILHELM V OGT , Die bayrische Politik im Bauernkrieg und der Kanzler Dr. Leonhard von Eck, das Haupt des schwäbischen Bundes, Nördlingen 1883, S. 398. 32 J. V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg (Anm. 3), S. 516f.; M. Z ÜRN , Waldburg, Habsburg und der bäuerliche Widerstand (Anm. 30), S. 196f. <?page no="346"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 345 nichtig seien. Die Waldburger Bauern wollten darauf erneut verhandeln, weshalb Georg von Waldburg nun mit dem Bundesheer nach Wurzach zog. Dort forderte er vergeblich die Auslieferung Florian Greisels und das Ablegen der Waffen. In einem Vermittlungsgespräch mit dem waldburgischen Untertanen Hans Leutze antwortete dieser auf die Frage, warum seine Untertanen einen Geistlichen zu ihrem Anführer gewählt, ihn, Georg von Waldburg, als rechtmäßigen Herrn dagegen abgesetzt hätten: Wir thuen [das] als wuetig und aufruerig leut. 33 Darauf ließ Georg von Waldburg am 14. April 1525 die Erhebung der Allgäuer Bauern, unter denen sich seine eigenen Waldburger Untertanen aus den Herrschaften Wolfegg, Waldsee und Zeil befanden, in der Schlacht von Wurzach gewaltsam niederschlagen. 34 An den folgenden Tagen sammelten sich die entkommenen Allgäuer Bauern, der Seehaufen und die herannahende Verstärkung bei Altdorf und Kloster Weingarten. Angesichts der weiteren Brandherde im Südwesten, in die der Schwäbische Bund involviert war, entschloss Georg von Waldburg sich am 17. April 1525 auf Basis der bereits vorbereiteten Vorschläge des Schwäbischen Bundes zum Abschluss des Weingartner Vertrags, der am 22. April 1525 in Ravensburg ausgefertigt und beglaubigt wurde. Er bestimmte einerseits die Restitution der bisherigen Ordnung und formulierte andererseits Bedingungen für die Beilegung gegenseitiger Beschwerden vor Schiedsgerichten. 35 4. Die Nachverhandlungen des Jahres 1526 in der waldburgischen Herrschaft Wolfegg Der Schwäbische Bund hatte vor Altdorf und Weingarten also keinen militärischen Sieg errungen, sondern war mit dem Weingartner Vertrag das Zugeständnis von Nachverhandlungen eingegangen. Die Reformen, die der Vertrag ermöglichen sollte, wurden nur von wenigen Reichsständen innerhalb des Schwäbischen Bundes aufgegriffen, darunter - soweit durch die Forschungen von Peter Blickle bekannt - durch das Reichskloster Irsee, das Fürststift Kempten und die waldburgischen Herrschaften des Truchsessen Georg von Waldburg. Auch Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Ravensburg verhandelten 1526 erneut mit ihren Untertanen. 36 Die meisten Bundesmitglieder jedoch haderten mit dem Vertrag, hätten sich eine militärische Entscheidung gewünscht und waren an Veränderungen, die ihre Herrschaft in Frage 33 Zitat nach P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 172. 34 P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 159-173; K. W ALCHNER / J. B ODENT , Biographie des Truchsessen Georg III. (Anm. 3), S. 88-91; G. F RANZ , Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs (Anm. 4), Nr. 61, S. 210. 35 H. U. R UDOLF , Ende und Ausgang (Anm. 3), S. 206-209. 36 H. G ÜNTER , Gerwig Blarer (Anm. 6), Nr. 119, S. 77. <?page no="347"?> S ILK E S CHÖT TL E 346 stellten, nicht interessiert. Zudem blieben die Bauern in Oberschwaben über den Weingartner Vertrag hinaus vielerorts widerständig. Herrschaft musste also weiterhin gesichert werden. Auch Georg von Waldburg musste das seit der Schlacht von Wurzach stark belastete Verhältnis zu seinen Untertanen neu ausrichten und bestehende Konfliktpotentiale entschärfen, um seine Herrschaft zu stabilisieren. Auch wenn seine Untertanen zu den Besiegten vor Wurzach zählten, schloss der Weingartner Vertrag die Allgäuer Bauern im Ganzen in die Bestimmungen mit ein. 37 Georg von Waldburg muss seine Wolfegger Untertanen daher dazu aufgefordert haben, ihre Beschwerden zu formulieren. Die vier Gerichte Wolfegg, Arnach, Haidgau und Ellwangen verfassten daraufhin eine gemeinsame Supplik. 5. Die Supplik von 1526 Die Wolfegger Untertanen baten in der Supplik von 1526 darum, der Leibeigenschaft, den Gefällen, dem Hochzeitgeld, der ungenossamen Ehe, den Steuern und dem Loskauf von der Leibeigenschaft nach göttlichem und kaiserlichem Recht und anhand adliger Tugend Maß und Ordnung zu verleihen (darinn ordnung unnd maß zegeben). 38 Dienste würden dem Herrn zwar nicht abgeschlagen, sollten aber auf ein früheres Maß reduziert werden (wie wir dann die unnserer gnedigen herrschafft den alten truchsässen ewer gnaden fälliger gedechtnus vorfarn gethan haben beleyben läß). Vor der Erbauung des Schlosses Wolfegg seien dort rund sechzehn Höfe gestanden, deren Ackerbau, jährliche Dienste und Dienstgelder zusätzlich auf die Untertanen umgelegt worden seien. 39 Das Ungeld für Wein in Wolfegg habe sich in den letzten zwanzig Jahren stark erhöht. Es solle hierin wieder ein vernünftiges Maß gefunden werden, nämlich ordnung und maß wie ewer gnaden zu tun wol waiß. 40 Große Beschwerden wurden gegen die Pfarrer vorgebracht, die zum Klein- und Großzehnt zahlreiche Seelgeräte und andere Pfennige verlangten. Die ursprünglich nur für Getreide vorgesehene Zehntpflicht werde auch von Bienen, Fohlen, Kälbern, Hühnern, Gänsen, Enten, Säuen, 37 P. B LICKLE : Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 188, 375f.; G ÜNTHER F RANZ (Hg.)/ W ERNER F LEISCHHAUER (Mitarb.), Jacob Murers Weißenauer Chronik des Bauernkrieges von 1525, Sigmaringen 1977, S. 34f.; O TTO E RHARD , Der Bauernkrieg in der gefürsteten Grafschaft Kempten (Allgäuer Geschichtsfreund, Beiträge 1), Kempten-München 1908, S. 98-112; M. H AGGENMÜLLER , Der Allgäuer Haufen (Anm. 9), S. 55, 62-65. 38 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 15-24; inhaltliche Wiedergabe bei P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 379f., und D ERS ., Die Revolution von 1525 (Anm. 7), S. 258f., Anm. 4; regestartige Wiedergabe bei J. V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg (Anm. 3), S. 630f. 39 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 25-35. 40 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 36-48. <?page no="348"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 347 Zwiebeln, Rüben, Erbsen, Linsen, Flachs, Hanf und allen anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen verlangt. Generell wurde um die Abstellung jeglichen Missbrauchs gebeten: Sollichen articul stellen wir die mässigung uberall zu. Gefordert wurde von Georg von Waldburg als dem Verständigen und Erfahreneren, unmässigkaitt und mißpreuch entsprechend abzustellen. 41 Die Nutzung der einst freien Bäche und gemeinsamen Wasserstellen sei den Untertanen unlängst verwehrt worden. Man fordere dieses Recht zurück, denn nur mit den über die Lehen zugänglichen Weihern und Seen komme man nicht aus. 42 Auch bitte man darum, das Verbot zurückzunehmen, Bäume für Brenn- und Bauholz zu schlagen. 43 Das jährliche Verkünden der neuen Gebote und Verbote sei für viele Untertanen zu schwierig zu verstehen und zu memorieren, so dass manchem aus Unkenntnis oder Unverstand Schaden entstehe. Man bitte darum, die Satzung zum Teil aufzuheben und nicht so streng einzuhalten. Georg von Waldburg könne, wann immer ein Unrecht geschehe, nach Recht und Gefallen strafen. 44 Auch solle es erlaubt werden, Füchse, Hasen und Vögel mit der Büchse oder der Armbrust zu erlegen. 45 Mit den drei eingesetzten Statthaltern sei man prinzipiell einverstanden, jedoch solle Wilhelm von Reischach sich in seinen haißen reden zurücknehmen. 46 Zudem seien die Taxen für die Ausfertigung der Lehensbriefe zu hoch und zu undurchsichtig. 47 Schließlich habe man Mangel an Holz und bitte um jährlichen Ausgleich. 48 Werde man mit Georg von Waldburg nicht einig, solle es bei dem vorherigen Vertrag bleiben. 49 Damit war vermutlich der Vertrag über die Dienstpflichten von 1515 gemeint, der einige Dienste bereits monetarisiert hatte. 50 6. Der Vertrag von 1526 Zu welchem Kompromiss gelangte die Landschaft der vier Gerichte Wolfegg, Arnach, Haidgau und Ellwangen mit Georg von Waldburg hinsichtlich dieser Beschwerden? Der Vertrag vom 24. April 1526 - Peter Blickle nennt ihn den »Wolfegger Vertrag« - behandelt die Fragen der Leibeigenschaft, der Gefälle und Gelässe, 41 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 49-66. 42 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 67-74. 43 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 75-85. 44 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 86-101. 45 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 102-106. 46 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 107-116. 47 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 117-133. 48 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 134-138. 49 GesA Wolfegg, WoWo 1443 (Akten), Z. 11-14. 50 GesA Wolfegg, WoWo U 1145b (alte Nr. 571). <?page no="349"?> S ILK E S CHÖT TL E 348 der Steuern und - wie in der Hinleitung erklärt wird - auch des Hochzeitgelds, der ungenossamen Ehe und des Freikaufs von der Leibeigenschaft. 51 Was Gefälle und Gelässe betrifft, solle im Todesfall eines Mannes, der einen ganzen Hof oder vier Pferde zum Ackerbau besitzt, der Rossfall mit 6 Gulden und der Häsfall mit 3 Pfund 15 Schilling Heller entrichtet werden. 52 Im Todfall einer Frau solle der Kuhfall mit 3 Gulden und der Häsfall mit 1 Pfund 10 Schilling Heller bezahlt werden. 53 Wer aber mit drei Pferden Ackerbau treibe, solle im Todesfall den Rossfall mit 4 Gulden und den Häsfall mit 3 Pfund Heller, im Todesfall der Frau den Kuhfall mit 2 Gulden und den Häsfall mit 1 Pfund 5 Schilling Heller aufbringen. 54 Wer mit zwei Pferden Ackerbau treibe, habe den Rossfall mit 3 Gulden, den Häsfall mit 2 Pfund Heller, im Todesfall der Frau den Kuhfall mit anderthalb Gulden und den Häsfall mit 15 Schilling Heller abzugeben. 55 Wer mit nur einem Pferd arbeite, der müsse im Todesfall den Rossfall mit 1 Gulden und den Häsfall mit 1 Pfund Heller, im Todesfalls der Frau den Kuhfall mit einem halben Gulden und den Häsfall mit 10 Schilling Heller ausgleichen. 56 Wer aber gar keinen Hofbau betreibe, der solle im Todesfall des Mannes den Rossfall mit einem halben Gulden und den Häsfall mit 10 Schilling Heller, im Todesfall der Frau den Kuhfall mit 5 Böhmisch 57 und den Häsfall mit 5 Schilling Heller begleichen. 58 Bisher in Form von Vieh und Kleidung geleistete Gefälle im Todesfall wurden nun also in Geldleistungen überführt, die minutiös nach der Größe, den zur Verfügung stehenden Arbeitshilfen und dem Vermögen des Hofes gestaffelt wurden. In Bezug auf die ungenossame Ehe kam man überein, diese auf ewig aufzuheben: Verner der ungnossami halb ist […] abgeredt, beschlossen unnd zugesagt, das hinfurtter in kunfttig unnd ewig zeitt die mans personen auch die töchtern unnd frawen ungestrafft wol macht habenn 51 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1; inhaltliche Wiedergabe bei P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 383f., und D ERS ., Die Revolution von 1525 (Anm. 7), S. 259f., Anm. 8-11; W. VON H IPPEL , Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg (Anm. 9), S. 202-204; regestartige Wiedergabe bei J. V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg (Anm. 3), S. 631f. 52 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 13-15. 53 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 15. 54 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 16f. 55 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 17f. 56 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 18f. 57 5 Böhmisch (1 Böhmisch auch Dreikreuzer genannt) standen zu den übrigen Währungsangaben in einem Verhältnis von einem Viertel Gulden, 15 Kreuzern oder (bei 1 Gulden = 35 Schilling Heller) rund 9 Schilling Heller. Vgl. dazu P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 383, sowie H ELMUT K AHNT / B ERND K NORR , Alte Maße, Münzen und Gewichte. Ein Lexikon, Mannheim u. a. 1987, S. 39. Dieser Wert korrespondiert mit der absteigenden Linie des Ross- und Häsfalls für Männer und Frauen mit und ohne Hofbau. 58 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 19f. <?page no="350"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 349 söllen, zu weyben unnd zu mannen wo sy wöllenn. Jedoch sollten nach wie vor freie Frauen, die einen Leibeigenen der Herrschaft Waldburg ehelichten, binnen Jahresfrist durch Unterwerfungseid an die Herrschaft gebunden werden. Bei Nichteinhaltung konnte der Leibeigene mit seiner Frau der Herrschaft verwiesen werden. 59 Was den Freikauf von der Leibeigenschaft betraf, so konnten sich ledige Männer jetzt für 3 Gulden und ledige Frauen für 4 Gulden freikaufen. Für die Ausstellung entsprechender Dokumente mussten sie die notwendigen Taxen aufbringen und sollten dann macht habenn hinweg zu ziechenn unnd irß gefallens schierm oder burgrrecht anzunemen frey zubelibenn oder sunst irs leibs unnd gutzhalb zuhanndlen wie inn fugt unnd eben ist. Die Bedingung dafür war, dass ihre verkauften Güter in der Steuer der Herrschaft verbleiben sollten. Eine etwaige Rückkehr in die waldburgische Herrschaft sollte die erneute Ergebung in die Leibeigenschaft nach sich ziehen. Wollten Leibeigene in der Herrschaft Waldburg sesshaft bleiben, so betrug der Preis für den Freikauf das Doppelte, für einen Mann 6 Gulden und für eine Frau 8 Gulden. 60 Das Hochzeitgeld, das zuvor 10 Schilling Heller betragen hatte, wurde abgeschafft. 61 Die Steuern sollten wie von alters her und ohne Verzug bis zum Nikolaustag gezahlt werden. Wer dies nicht konnte, wurde der Herrschaft verwiesen. 62 7. Die Vereinbarung von 1526 Die Vereinbarung vom 24. April 1526 enthielt Regelungen zu den Diensten, den Dienstgeldern und den Fasnachtshennen. 63 Wie der bereits 1515 geschlossene Vertrag sah sie den teilweisen Ersatz der Dienste durch Geldleistungen vor und präzisierte darüber hinaus bestimmte Arbeiten. 64 Für einen Ackerbau mit vier Pferden wurde das Dienstgeld auf 34 Schilling Heller, für einen mit drei Pferden auf 1 Pfund Schilling Heller, für einen mit zwei Pferden auf 17 Schilling Heller, für einen mit nur einem Pferd auf 8 ½ Schilling Heller, für einen Mann ohne Pferd auf 7 Schilling 59 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 21-25. 60 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 25-32. 61 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 33. 62 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 33-35. 63 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2; inhaltliche Wiedergabe bei P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 381-383; J. V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg (Anm. 3), S. 632f.; W. VON H IPPEL , Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg (Anm. 9), S. 204f. 64 GesA Wolfegg, WoWo U 1145b (alte Nr. 571); P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 30, 379; W. VON H IPPEL , Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg (Anm. 9), S. 203f.; J. V OCHEZER , Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg (Anm. 3), S. 439. <?page no="351"?> S ILK E S CHÖT TL E 350 Heller und für einen Mieter auf 3 Schilling Heller festgelegt. Das Dienstgeld musste am Martinstag, spätestens jedoch am Andreastag gezahlt werden. 65 Wenn es erforderlich sei, solle für den herrschaftlichen Haushalt an einem Tag im Jahr Fisch gefangen, 66 beim Jagen geholfen 67 und Brennholz gemacht werden, wobei 4 Fuder zu spalten seien. Vergütet werde das Brennholzmachen mit einer Speise. Wer die 4 Fuder nicht an einem Tag schaffe, solle die geforderte Menge auf eigene Rechnung und an einem anderen Tag leisten. 68 Für die Ernte des Wintergetreides und des Hafers solle aus jedem Haushalt jährlich eine Person zur Verfügung gestellt werden. Ein Mann erhalte dafür 12, eine Frau 10 Pfennig am Tag. Diese Personen sollten erwachsen und leistungsfähig sein: Doch das sy gewachssenn, gesund unnd nit kindisch personen seyenn. Der Erntetag beginne um 7 Uhr in der Frühe und ende um 6 Uhr abends. 69 Sollten herrschaftliche Gebäude abbrennen, würden auch Baufrondienste gefordert. 70 Jedes Ehepaar solle zudem wie von jeher eine Fasnachtshenne abliefern und für jede Leibhenne 8 Pfennig bezahlen. 71 8. Das Ringen um Mäßigung in Herrschaft und Leibeigenschaft Werfen wir einen Blick auf die Ressourcen, um die in der Supplik, dem Vertrag und der Vereinbarung des Jahres 1526 zwischen den Wolfegger Bauern und Georg von Waldburg gerungen wird, so zeigt sich schnell, dass materiellen Ressourcen immer auch eine immaterielle Komponente innewohnt. Die in Vertrag und Vereinbarung aufgegriffenen Gefälle, das Hochzeitgeld, der Freikauf aus der Leibeigenschaft, die Dienste, Dienstgelder, Fasnachtshennen, Leibhennen und Steuern stellen allesamt sowohl wirtschaftliche Belastungen als auch einschlägige Symbole der Leibeigenschaft dar. Die Wolfegger Bauern stellen diese Komponenten der Leibeigenschaft in ihrer Supplik nicht grundsätzlich in Frage. Was die Wolfegger Bauern in jedem Punkt ihrer Supplik jedoch erbitten, ist die Rückkehr zu Maß und Mitte und damit die Rückkehr zu einer von Beschwernis und Überladung freien Form der Bindung an den Herrn. Und so ist es das eingangs zitierte Maß, das ins Zentrum des Ringens um die genannten Ressourcen tritt und für die Untertanen eine Kompromissbildung immanent in sich birgt: Es solte anderemas dann wie bisher beschehenn darinn furgenomen werdenn. Allein jedoch die Rückkehr zu einer moderateren Form der Bindung hätte 65 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 12-16. 66 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 17. 67 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 24. 68 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 18-20. 69 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 20-23. 70 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 24f. 71 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-2, Z. 25f. <?page no="352"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 351 für Georg von Waldburg vermutlich eine empfindliche Schmälerung seiner herrschaftlichen Stellung bedeutet. Und so rang der Truchsess nicht nur um die Bindung von Untertanen an seine Herrschaft, die erst durch die seine Güter bewirtschaftenden Personen eine vollgültige Herrschaft war, sondern ganz konkret um die Erhaltung der Leibeigenschaft, die seine Untertanen räumlich in der Herrschaft hielt. Herrschaft und Leibeigenschaft stellten für Georg von Waldburg existentielle Ressourcen dar. Betrachten wir etwas genauer das Zerren an der Ressource Leibeigenschaft, denn im Vertrag mit den Wolfegger Untertanen werden auf den ersten Blick vermeintlich spektakuläre Zugeständnisse gemacht: Die Ahndung der ungenossamen Ehe wird aufgehoben und der Freikauf aus der Leibeigenschaft ermöglicht. Das Verbot der ungenossamen Ehe hatte dazu gedient, die Menschen in der Herrschaft zu halten und Mobilität und Freizügigkeit zu beschränken. Es war die Grundvoraussetzung, Leibeigenschaft als Ressource nutzen zu können. Die Freigabe des Verbots im Vertrag des Jahres 1526 klingt daher bahnbrechend, stellt aber nur einen scheinbaren Gewinn dar, denn in gleichem Zuge wird dieses Zugeständnis eingehegt. Freie Frauen, die in die Herrschaften Waldburg heiraten, müssen sich binnen Jahresfrist durch Eid in die Leibeigenschaft ergeben. Auch der Freikauf hat seine Haken: Nur Ledige können sich freikaufen und wegziehen, sofern sie sich dies wirtschaftlich leisten können. Eine Rückkehr in die Waldburger Herrschaft zieht erneut die Leibeigenschaft nach sich. Wer dort bleiben möchte, muss die doppelte Freikaufsumme aufbringen, die einem sehr hohen Todgefälle gleicht und faktisch erst die Nachkommen frei macht. Die unverminderte Fortführung von Steuern, Taxen und Ungeldern bewirkte jedoch, dass Geldmittel auf niedrigstem Niveau gehalten wurden. Durch die Ehe mit einer Leibeigenen oder einem Leibeigenen in einer der Waldburger Herrschaften konnte die Freiheit auch wieder verlorengehen, denn sie zog ebenfalls erneut die eigene Leibeigenschaft nach sich. Es war in den waldburgischen Herrschaften also nur schwer möglich, frei zu werden und frei zu bleiben. Nachgeben im Ringen um Herrschaft und Leibeigenschaft findet für Georg von Waldburg dort eine Grenze, wo seine Herrschaft räumlich beginnt und wo selbst Mäßigung diese Herrschaft ideell und rechtlich schmälert. Mäßigung findet für Georg von Waldburg daher auch dort ein Limit, wo Stabilisierung gewünscht ist und daher kein Ringen um Herrschaft und Leibeigenschaft zugelassen werden kann. So wird die Gesetzgebungs- und Gerichtshoheit Georgs von Waldburg selbstverständlich keiner Mäßigung unterzogen. In recht demonstrativer Weise wird zudem indirekt auf jene Forderungen der Supplik eingegangen, die auf Georg von Waldburg als Anmaßung gewirkt haben müssen. Er verbindet sie mit der Fixierung noch benötigter Dienste und der zugehörigen Bedingungen. So bleibt die Gewässernutzung den Untertanen genommen, dafür soll zusätzlich ein Mal im Jahr für den herrschaftlichen Haushalt Fisch gefangen werden. Die Bitte um Freigabe der Jagd auf Kleinwild wird ignoriert, aber die Untertanen sollen einen Tag <?page no="353"?> S ILK E S CHÖT TL E 352 jährlich bei der Jagd helfen. 72 Die Bauern bitten vergeblich um Holz und das Recht auf Holzeinschlag, aber sie selbst müssen für das Einschlagen von vier Fuder Brennholz für den herrschaftlichen Haushalt jährlich zur Verfügung stehen. Über den Ackerbau der in der Supplik genannten sechzehn Höfe, auf deren Grund nun Schloss Wolfegg steht, wird kein Wort verloren, aber jeder Hof muss für die Ernte des Hofbaus eine Person zur Verfügung stellen. Über die Verpflichtung zu den Baufronen vermerkte Peter Blickle bereits, es könne sich um eine Retourkutsche für den von den Bauern während des Bauernkriegs verursachten Brand des Schlosses Linden handeln. 73 Die Frondienste als starkes Signum der Leibeigenschaft blieben also erhalten. Es kostete Georg von Waldburg allerdings wenig, sie mit einer Speise oder ein paar Pfennigen zu entlohnen. Er dagegen erhielt dafür eine schriftlich fixierte Verpflichtung seiner Untertanen. Wirkliche Zugeständnisse machte Georg von Waldburg also nur dort, wo seine Herrschaft keine Schmälerung fand oder wo seine Herrschaft gleichzeitig gestärkt wurde. Dazu gehörte für ihn offenbar durchaus die Kommunikation mit den Untertanen und die Anpassung der Verhältnisse an veränderte Realitäten. Die schon 1515 verfasste Vereinbarung mit den Wolfegger Untertanen zu Diensten und Dienstgeldern, die oben erwähnten brieflichen Ansprachen an seine Bauern während des Jahres 1525 und die Aufforderung zur Formulierung ihrer Beschwerden infolge des Weingartner Vertrags beweisen eine vorhandene Bereitschaft für den gegenseitigen Austausch. Dazu trat die in Vertrag und Vereinbarung auffallende Geste, nicht mehr benötigte materielle Abgaben und Dienste in Geldleistungen je nach Größe und Vermögen des bewirtschafteten Gutes umzuwandeln. Ein Beispiel dafür sind die Todgefälle, die im Todesfall in der Abgabe des besten Stücks Vieh und der Kleidung bestanden hatten. 74 Sie blieben auch in monetarisierter Form eine große wirtschaftliche Belastung, die keineswegs erlassen oder aufgegeben wurde, wie es etwa eine Forderung der Zwölf Artikel gewesen war. Mit der Monetarisierung war jedoch die Versachlichung eines persönlichen und demütigenden Akts der Hergabe verbunden. Die Umwandlung der Gefälle in Geldleistung nahm dieser Handlung etwas von 72 W. V OGT , Die bayrische Politik (Anm. 31), S. 83f., 398f., 408: Wie anmaßend die Freigabe der Jagd, wenn auch nur auf Kleinwild, und die Freigabe der Gewässernutzung auf Georg von Waldburg und seinesgleichen gewirkt haben muss, zeigt die hämische und solche Forderungen nach Freigiebigkeit ins Lächerliche ziehende Reaktion des bayerischen Kanzlers Leonhard von Eck auf ähnliche Forderungen. 73 P. B LICKLE , Der Bauernjörg (Anm. 3), S. 381f. 74 W. VON H IPPEL , Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg (Anm. 9), S. 171, Anm. 759. Die Staffelung der Gefälle nach der Größe des Gutsbesitzes ist nach Hippel ein recht frühes Beispiel. <?page no="354"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 353 ihrem erniedrigenden Charakter und von der sichtbaren Zeichenhaftigkeit der Leibeigenschaft als persönlicher Abhängigkeit. 75 Georg von Waldburg dagegen machte im Ringen um Herrschaft und Leibeigenschaft im Prinzip keinerlei Zugeständnisse, sondern sicherte sich mit der schriftlichen Fixierung dieser Geldleistungen seine Herrschaft. Zusätzlich blieben symbolische Abgaben als demonstratives ›Ausrufezeichen‹ stehen. Die Leistung der Fasnachthenne als vielleicht stärkstem Signum der Leibeigenschaft stellte schlussendlich klar, wer der Herr und wer die Untertanen sind und wem im Ringen um Maß und Mitte zwischen Leibeigenschaft und Herrschaft die Oberhand zustand. Egal welchen Wert die Henne hatte, sie blieb als materielle und immaterielle Ressource grundherrliches und leibherrliches Symbol für die Anerkennung der Herrschaft Georgs von Waldburg. 76 Das Ringen um Maß und Mitte konnte aus der Sicht Georgs von Waldburg also nur so weit gehen, wie seine Herrschaft keinerlei Schmälerung fand. Mit entsprechenden Bedingungen wusste er scheinbare Zugeständnisse wirksam in Zaum zu halten, seine Interessen zu sichern und durch schriftliche Fixierung seine Herrschaft zu stabilisieren. Als erfahrener Diplomat und Kriegsherr ergriff er infolge des Weingartner Vertrags in seinen eigenen Herrschaften klug die Flucht nach vorn und sah in der Verschriftlichung von Vereinbarungen kein Mittel der Herrschaftspreisgabe, sondern der Herrschaftssicherung, während sein Entgegenkommen den Bauern gegenüber faktisch gering blieb. Bahnbrechend erscheinende Zugeständnisse wie die Freigabe der ungenossamen Ehe und die Möglichkeit des Freikaufs aus der Leibeigenschaft blieben durch die Kopplung an gut abgewogene wirtschaftliche Bedingungen, real gesehen, folgenlos und eingehegt. Dazu trug bei, dass die Bauern vor Altdorf und Kloster Weingarten ohne militärischen Sieg geblieben waren und dadurch in keine fordernde Verhandlungsposition eintreten konnten. Ihr durchaus mit Klartext argumentierendes Ringen um Maß und Mitte musste daher weitgehend folgenlos bleiben. Das Ringen um Ressourcen jeglicher Art blieb auch nach dem 75 A DALBERT E RLER , Art. Besthaupt, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von D ERS ./ E KKEHARD K AUFMANN , Berlin 1978, Bd. 1, Sp. 397-398: Im besten Stück Vieh, einem Pferd oder einem Rind, steckt die Arbeit, Mühe und Sorge vieler Jahre. Das Lebewesen ist lebendige Grundlage der Existenz, Hilfe bei der täglichen Arbeit und Ressource für die Nachfahren. A DOLF F INK , Art. Kleid, Kleidung, in: Ebd., Bd. 2, Sp. 860-864: Im Häs steckt die Sorgfalt seiner Herstellung und Pflege. Als Schutz und Schmuck auf dem Leib getragen, schützt es seit dem Sündenfall vor der Nacktheit, die Geburt und Tod miteinander verbindet, und ist Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand. 76 Art. Fastnachthenne, in: H ERMANN F ISCHER (Bearb.), Schwäbisches Wörterbuch, 2. Bd., Tübingen 1908, Sp. 974f.; K URT A NDERMANN , Das Huhn im Recht, Zinshühner im Spiegel der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Überlieferung, in: A NDREAS D EUTSCH / P ETER K ÖNIG (Hg.), Das Tier in der Rechtsgeschichte (Akademiekonferenzen 27), Heidelberg 2017, S. 365-376. <?page no="355"?> S ILK E S CHÖT TL E 354 Weingartner Vertrag im Jahr 1526 ein einseitiges Tauziehen, das von den bestehenden Machtverhältnissen bestimmt war. Mag sich einerseits die Realität der Untertanen dabei zunächst faktisch nicht oder nur wenig verändert haben, so ist ein Jahr nach der Schlacht von Wurzach doch ein Georg von Waldburg zu beobachten, der mit seinen Untertanenverbänden in den Dialog trat, um sich mit ihnen zuvertragen, 77 sie im Gegensatz zu vorherigen Vereinbarungen als Vertragspartner zu respektieren und als Ergebnis eine gemeinsame Übereinkunft zuzulassen. 77 GesA Wolfegg, WoWo U 1324-1, Z. 11, 13. <?page no="356"?> 355 Editionen 78 [o. D., um 1526] Gesamtarchiv der Fürsten zu Waldburg-Wolfegg und Waldsee in Wolfegg, WoWo 1443 (Akten, alte Nr. 5098), deutsch Kurzregest: Supplik der Untertanen der vier Gerichte Wolfegg, Haidgau, Arnach und Ellwangen wegen ihrer Beschwerden. 1 Auff bevelch und begern des wolgebornen herren, 2 herr Georgen truchsässen freyherr zu Waldburg, 3 herr zu Wolffegk etc. unnsers gnedigen herrn, durch 4 den edlen unnd vesten Jacoben von Segkendorff in 5 besatzung und ernewerung der gericht an die vier 6 ämpter namlich Wolffegk, Arnach, Haydgew 7 unnd Ellwanngen irer beschwerd articul halber, so 8 sy bißher getragen, gethan, setzen und stellen die 9 unnderthanen der obberurten vier ämpter gehorsam- 10 licher unnd unndertäniger mainung nachvolgend 11 articul. Doch sowie sy sich sollicher mit irn gnaden 12 nit vergleichen noch verainen möchten, das es dann 13 bey dem vertrag darein ir gnad sy gnedigklichen ge- 14 lassen hat beleybe. 15 Erstlich der aigenschafft halber, deren mittel 16 anhanngt, gross und klain fall, hochzeitt gellt, 17 ungenossami, stewr, erkouffung und annders 18 sollichen articul stelln wir zu ewr gnaden 19 der gestallt, darinn ordnung unnd maß zegeben, 20 nach dem götlichen und kayßerlichen rechten, 21 und wie ewr gnad als der verstenndig ausser 22 adellicher tugenntt und redlichem angepornem 23 geplütt und gemütt inen vreylich und leidlich 24 zu tun wol waiß und genaigt ist. 25 Zum anndern der dienst halber schlahen wir dieselben 26 zum taill nit ab, der gestallt, das man unns bey den 78 Die Einrichtung des Textes orientiert sich an den einschlägigen Empfehlungen von W AL - TER H EINEMEYER (Hg.), Richtlinien für die Edition landesgeschichtlicher Quellen, 2. Aufl. Marburg-Hannover 2000, S. 36-38. Die Transkription erfolgt buchstaben- und zeilengetreu. Die Getrennt- und Zusammenschreibung erfolgt einheitlich nach der Vorlage. Die Interpunktion orientiert sich zur besseren Lesbarkeit am heutigen Gebrauch. <?page no="357"?> S ILK E S CHÖT TL E 356 27 dinsten wie wir dann die unnserer gnedigen herrschafft 28 den alten truchsässen ewer gnaden fälliger gedechtnus vor- 29 farn gethan haben beleyben läß. Dann vor unnd es das 30 schloss Wolffegk wie es yetz ist erpawen, sind unnge- 31 farlich sechzehen hewßer alda geweßen, die selbigen 32 auch der acker baw darein gehörig. Ist nun mer 33 aller bey berurttem schloss, die wir als die unndertanen 34 mit dinsten versehen müssen, zu sampt dem dinst- 35 gellt so wir järlichen geben müssen. 36 Zum dritten dess ungeltz halber, tragen wir die beschwerd, 37 das vor zwainzig, zwayundzwainzig und mer jarn, 38 dieweyll dannecht noch das dorff Wolffegk, da 39 yetz das schloss stat, geweßen, nit mer ungellt gegebn 40 worden, dann sechs pfundt haller. Es haben vil oder 41 wenig wirt geschenckt, davon es aber yetzo kommen 42 unnd schwerlich ungelt gegeben wirtt, das gemaine 43 lanndtschafft, so bißher auff den verhör tagen und 44 sunst alda zern, entgellten müssen, unnd den wein 45 dester tewrer und zu höherm gellt trincken. Ist 46 daruff unser undertänig bitt deshalb gnedigs ein- 47 sehen haben, ordnung und maß wie ewer gnaden zu tun 48 wol waiß darinnen machen. 49 Zum vierdten der pfarrer unnd capplan halber allent- 50 halb in der herschafft unnd ewer gnaden oberkaitt tragn 51 wir nit wenig beschwerden. Namlich mit klain 52 unnd gross zehenden, selgeretten unnd annder unzim- 53 lichen gülten, als banschatz-, leyb-, fewr- und garten- 54 pfennig. Item von immen, fillin, kelber, hüner, 55 gennß, enntten, sew, zwybel, ruben, hierß erßen, 56 leinßen, werck, hanff etc. und in summa mit allen 57 dem man umbgat unnd der arnman herttigklich 58 erzeugtt und erarbaitt, ist der zehend taill der pfaffen, 59 wellens auch haben. Sollichen articul stellen wir 60 die mässigung uberall zu. Ewer gnaden als dem mer- 61 verstenndigen und erfarnen dieser sachen mit under- 62 täniger bitt ewer gnaden wölle unns als ir arm 63 gehorsam undertan gnedigklich bedencken unnd 64 die unmässigkaitt und mißpreuch obengezaigter 65 und anndrer stuck abzutun, damit der arm nit also 66 gnach von den gaistlichen beschorn werd. <?page no="358"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 357 67 Zum funfften so haben flecken und dörffer in ewer gnaden 68 herrschafft zum taill frey bech und gemains 69 wasser gehapt, daruff in zu zeitten verpott beschehn 70 dieselbigen begern wir, wie die vor allter geweßen 71 sind unndertänigklich furo wider frey und gmain. 72 Dann allain der fliessenden unnd stillstennden wasser 72 halber als weyher unnd see und der wasser so zu 73 lehen verlihen sind, stannden wir still und laßen die 74 in irem werden wie vor. 75 Der aignen unnd lehen gütter halber ist bißher in 76 verpott und satzung durch ewer gnaden gemacht und 77 geordnet, das dhainer [sic! ] kain bernden, bom, aichen, 78 heger und annders das zu zeitten zu raumung und 79 besserung der gütter dienen möcht, nit abhawen 80 und paumen sölle etc. Ist dess stuckhalber unnser 81 undertänig begern gnedigklichen zuzelaßen, 82 das ain yeder in sollichem unnd annderm sein 83 gutt nutzen, niessen und bessern mög, seinem 84 nutz und gutt bedrucken und nach vermög seins 85 lehen oder kauffbrieffs. 86 Zum sechsten so sind auch bißher vil newer ge- 87 pott unnd sonnderlich die satzung durch ewer gnaden 88 geordnett unnd gemacht, die wir als ewer gnaden gehor- 89 sam arm unnderthan zehallten unnd volstrecken 90 ausser schuldiger pflicht willig wern. Aber 91 dieweill der grösser taill sollicher ewer gnaden under- 92 thanen, so man die satzung järlichen verkundt 93 hat, aus sollichen schlechten verstand sind, das inen 94 unmuglich ist, die articul all zu behallten, dardurch 95 dann mancher seins ainfallts und unverstannds 96 halber in schaden gefallen. Ist unnser unndertänig 97 begern, sollich schwere gepott und die satzung zum tail 98 abzutun unnd nit so strenng hallten, kan nichtz 99 dester weniger ewer gnadene ain yeden so er etwas un- 100 rechtz hanndelt nach gestallt der sachen unnd 101 ewer gnaden gefallen unnd wie recht ist straffen. 102 Dess waydwercks halber als fuchs vom strick, 103 haßen unnd vogel mit der bix oder armprost 104 zu purschen gnedigklich erlauben unnd kain ge- <?page no="359"?> S ILK E S CHÖT TL E 358 105 pott daruber setzen, wie dann bißher 106 beschehen. 107 Unnd nachdem ewr gnad diß verganngen 108 jar zu Wolffegk im schloss drey statthallter ge- 109 hapt, namlich junckhern Wilhalm von Reyschach, 110 junckhern Jacoben von Seckendorff und Johanns 111 Schuller vogt etc. haben wir ab den zwayen Segken- 112 dorff unnd vogt, gar dhain [sic! ] clag. Aber 113 unnser unndertänig bitt ist, ewer gnaden wölle unns 114 Wilhalm von Reyschach entladen oder gnedigklich 115 mit ime verschaffen, das er unns als arm leut 116 mit sein haißen reden entlaß. 117 Der amptlewt halber als vögt, amman, waybel 118 unnd sonnderlich die schreiber wölle ewer gnaden 119 sovil gnedigs einsehen haben, damit wir als 120 armlewt wissen, was wir ainem yeden tun 121 sollen und sein belonnung sey. Dann wir inn 122 zeitten in bezallung der brieff betewrt werden 123 unnd sonnderlich in den zertaillten lehen gütter, 124 sy seyen vom haws Österreich oder von ewer gnaden. 125 So also ain lehen gutt in drey, vier, funff oder mer 126 tails gethaillt und man lehnen soll, als vill tail 127 sovil brieff unnd umb ain yeden allwegen sonderlich 128 ain guldin vier gross, were unnser undertäinig 129 begern, sovern es die empfaher sollicher gütter 130 mit aim lehentrager und aim brieff außrichten könden, 131 das ewer gnaden es dabey gnedigklichen beleyben ließ, da- 132 mit der unrost umb die, deßgleichen umb anndere brieff, 133 damit wir auch betewrtt, dess ringer wurde. 134 Es haben auch in den vorgemellten vier ampter all 135 unndertan gemainlich nit klainen mangel an 136 holz. Darumb wölle ewer gnaden, ist ir unndertänig 137 bitt, gnedigs einsehen haben, damit sy järlichn 138 zimblicher maßen versehen werden. <?page no="360"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 359 1526, April 24 (zeinstag nach Jeorgy) Gesamtarchiv der Fürsten zu Waldburg-Wolfegg und Waldsee in Wolfegg, WoWo U 1324-1 (alte Nummer: 572), Ausfertigung auf Pergament, deutsch, 2 Siegel des Bürgermeisters und Rats der Städte Ravensburg (beschädigt) und Wangen Kurzregest: Vertrag der Untertanen der vier Gerichte Wolfegg, Haidgau, Arnach und Ellwangen mit Georg Truchsess von Waldburg wegen der Fäll, Steuern und Leibeigenschaft 1 Wir nachbenempten Bastion Jos vom Grymenstain, Paulin Huser vom Hoff, Hanns Huber genant Fries vonn Rottennbach unnd Hanns Stipplin von Mittelurbach als fur unns selbs unnd auch fur ain gantze gemaind aller dern so dem 2 wollgebornnen herrn her Jorgen truchsessen freyhern zu Waltpurg etc. unserm gnedigen hern mit leibaigennschafft verwandt unnd in dem gericht zu Wolffeck seßhafft seind reich unnd arm, Hanns Bader, Hanns Zurn unnd Jeorg Lang 3 zu Haiggow unnd Hans Muller zu Ernsperg als fur unns selbs unnd auch fur ain gantze gemaind reich unnd arm aller aigenlewt unsers gnedigen hern so in dem gericht Haiggaw seßhafft seind, Hanns Spenlin genant Halderr 4 unnd Baltus Gull baid zu Arnach, Hanns Lewtz von Nidermulin unnd Ulrich Burster von Truchschwendi, als fur unß selbs unnd auch fur ain gantze gmaind reich und arm aller aigenlewt unsers gnedigen hern so in dem gericht Arnach seßhafft 5 seind, Claus Rottegger von Pfaffenriedt, Jeorg Erman von Ellwangen unnd Hans Kößler vom Tristoltz, als fur uns selbs und auch fur ain gantze gemaind reich unnd arm aller aigenlewt unsers gnedigen hern so in dem gericht Ellwangen seßhafft 6 bekennen mit dem brieff fur unß auch die gemelten gemainden all userhalb des gerichts Waltpurg gehörig, auch fur unser erben unnd nachkomen, als wier denn als aigenlewt unnd undertanen des wollgepornnen hern hern Jorgen truchsessen freyhern 7 zu Waltpurg und diser zeitt statthalter des furstenthumbs Wuertennberg etc. unsers gnedigen hern der leibaigennschafft damit wier seiner gnaden vordern unnd auch seiner gnaden selbs verpunden gwest und noch zugehörig seind unnd was derselbigen 8 anhangt als väll unnd geläss, ungnossami, hochzeitgellt unnd verkouffung der lewt beschwert ghapt unnd gemaint habenn, es solte anderemas dann wie bisher beschehenn darinn furgenomen werdenn etc. Wiewoll nun lenger dan jeman furdencken 9 mag vonn vill jarn här ain gemainer gepruch deßhalbenn von seiner gnaden vordern unnd auch von seinen gnaden selbs unwidersprechlich gehalten wordenn ist. Nochdann uß sonderer bewegnus unnd gnaden unns unnd unsern erben und 10 nachkomen zugutt. So hatt sich sein gnad gnadigklich bewillgt, sich solcher stuckhalb mit unns guttlich zuverainen und in ewigkait wie hernach gemellt wurdt von sein gnaden irn erben unnd nachkomen auch unns unsern erben und <?page no="361"?> S ILK E S CHÖT TL E 360 11 nachkomen gehaltenn zu werdenn, zuvertragen. Darauff wier nun unnd sonnder jede parthey von dem gericht wie gemellt ist außgeschossen worden seind mit volkumen gwallt unnd befelch von allermengklichem derselbigenn unnd solch 12 handlung mit vorgemeltem unserm gnedigen herrn gutlich furzunemen zubeschliessen, zuversprechenn unnd nach aller notturfft zubevesten unnd zuversichern, das wier darumb unns von wegen obgemellter gemainden unnd gericht und 13 auch fur unns selbs all unser erbenn unnd nachkomen mit sein gnaden also veraint unnd vertragen habenn. Nemlich am ersten der väll unnd geläss halber, ist abgeredt beschlossenn unnd zugesagt, wölcher seiner gnaden aigen man ist oder furo in- 14 kunfftig zeit seiner gnaden erben sein wurt und der ain gantzen hoff oder zu vier rossenn als mer aigen oder lehen zubuwen hat, das der man so er mit tod abgeet fur sein ross val er hab gute oder schlechte ross fur und fur in ewig zeitt sechs gulden 15 unnd fur den häs vall drew pfund funffzehen schilling haller geben. Unnd so aber ains sölchenn mans weib stierpt, so soll von derselbigenn fur irn leib vall als fur ain ku drey gulden und fur irn häss vall ain pfund zehen schilling haller bezallt 16 werdenn. Wölcher aber mit drew rossen buwt oder zu sovill rossen feld unnd buw hat, lehenn oder aigen, soll der mann fur den roßvall vier gulden unnd fur sein häs vall drew pfund haller unnd so desselbigen fraw abstierpt fur irn ku vall 17 zwen gulden unnd fur den häss vall ain pfund funff schilling haller gebenn unnd antwurtten. Wo aber ainer mit zwayen roßenn buwt oder buw hat, lehenn oder aigen, soll der man so er abstierpt drey gulden unnd fur den häs vall zway 18 pfund haller unnd die fraw desselbigenn anderhalbenn gulden unnd fur den häs vall funffzehenn schilling haller gebenn. Item unnd wölcher mit ainem ross buwt oder buw hat, lehenn oder aigen, soll der man fur den rossvall ain 19 gulden unnd fur den häss vall ain pfund haller und so die fraw stierpt fur den ku vall ain halben gulden und fur den häß vall zehen schilling haller bezaln unnd außrichtenn. Wolcher aber gar nicht hat unnd zu ghaws ist alsdann 20 soll der man fur den roßvall ain halben gulden unnd fur den häs vall zehen schilling haller unnd so desselbigen fraw abstierpt fur irn leibfall funff behimsch unnd fur den häss vall funff schilling haller geben. Unnd also in denn 21 fällenn allen fur unnd fur in ewig zeitt von unns unsern erben unnd nachkomen gehaltten, weitter nit gefordert auch minder nit gegeben werden in khain weg. Verner der ungnossami halb ist also abgeredt beschlossen unnd zugesagt, das 22 hinfurtter in kunfftig unnd ewig zeitt die mans personen auch die töchtern unnd frawen ungestrafft wol macht habenn söllen, zu weyben unnd zu mannen wo sy wöllenn. Doch wo ain mans personn ain tochter oder frawen nimpt, die ainem 23 andern hernn dann vorgedachtem unserm gnedigen herren oder seiner gnaden erben mit leibaigennschafft zusteet, so soll derselbigenn ain jeder der also gehyrat hat, schuldig sein das weib in jars frischt nach im mit leibaigennschafft an ir gnad <?page no="362"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 361 24 oder ir erbenn zubringen unnd zuergebenn unnd umb desselbig brieff unnd urkund wie vonn alter auffrichtenn. Wo er aber das in solcher zeitt nit thät aus seiner gnaden oder irer erben herschafft ziechen unnd darinn hawßwesennlich 25 nit wonen so lanng bis er sölchen wie gemellt statt unnd vollg gethonn hat. Zum drittenn verkouffenßhalb mit den aignen lewten soll es hinfuro in kunfftig unnd ewig zeitt nachfollgennder gstallt ghallten werdenn. Wann ain lediger 26 gsell oder tochter so gedachtz unnsers gnedigen herrn oder seiner gnaden erben leibaigenn ist, sich vonn der leibaigennschafft erkouffen frey werden unnd in andere gericht ziechen wöllen, so söllen der ledig gsell irn gnaden fur die leibaigenschafft 27 nit mehr dann drey guldenn unnd die töchtern ome vier gulden zugeben schuldig sein unnd darzu die brieff umb sölch erledigung lösenn wie vonn alter unnd darnach macht habenn hinweg zu ziechenn unnd irß gefallens schierm oder 28 burgrrecht anzunemen frey zubelibenn oder sunst irs leibs unnd gutzhalb zuhanndlen wie inn fugt unnd eben ist. Doch mit dem gedingt wo dieselbigenn gelegne gutter in gedachtz unnsers gnedigen herrn oder seiner gnaden erbenn 29 herrschafftenn ligenn, die sy bißher verstewrt hettenn, so söllen die selbenn gütter sy werden verkoufft als nit in sölcher stewr dahin sy ghörn bleibenn unnd daraus nit gezogenn werdenn, in khain weg. Dergleichenn wo dieselbigen erkouff- 30 tenn ledigenn gsellenn oder töchtern hernach uber kurtz oder lanng in irer gnaden herschafften wider ziechen wöllten, söllen sy desselbigen anders nit macht haben, dan mit gedachtz unnsers gnedigen herrn oder seiner gnaden erben wissen 31 unnd bewiligenn, wo sich aber mann oder frawen personen der aigennschafft irs leibs erledigenn unnd erkouffen unnd in irer gnaden herschafftenn bleiben, aber sich auff anderer herrn gütter setzen oder ziechenn wölten, so soll ain 32 jede manns personn nit mer dann sechs gulden unnd ain frawen bild acht gulden gebenn unnd mit erledigung der brieff dergleich auch mit den güttern so sy in den stewrn ligenn hettenn in allermas wie obsteet gehallten werden. 33 Zum vierdten so soll das hochzeitgellt furterhin ab unnd khain personn dasselbig inn kunfftig unnd ewig zeitt zugebenn nit schuldig sein. Zum funfften unnd letsten der stewr halb so wier die lanndtschafft genn Wolffegk ghörig 34 irn gnaden järlich zugebenn schuldig seind, ist obgeredt das es gehaltenn werden soll wie vonn alter, doch das ain jeder aigenman oder fraw so in der herschafft sitzt sein aufferlegt stewr alle jar on verzug bis uff sannt Niclaus tag gebenn 35 unnd bezaln oder aber wo das nit beschäch uß der herschafft ziechenn soll. So lanng bis es die stewr bezallt unnd geben hat alles getrewlich unnd ongeverd. Unnd des alles zu warenn urkund, so haben wier verordnetten ußschutz 36 wie wier vonn namen zu namen ernennt seind fur die vier obgemellten gericht unnd mengklichem darinnen wonend so gedachtem unserm gnedigen hern mit aigennschafft zustannd usserhalb Walltpurgern auch fur unns selbs und <?page no="363"?> S ILK E S CHÖT TL E 362 37 all unnser erben unnd nachkomen mit gantzem vleis unnd ernnst erbettenn, die vestenn fursichtigenn unnd weysenn burgermeister unnd rätt der steet Ravenspurg unnd Wangen, das ain jede irer stat sigell fur unnß unnser erben 38 unnd nachkomen doch inn unnd irn erben unnd nachkomen in allweg onschaden offennlich gehenckt habenn an disen brieff, der geben ist uff zeinstag nach Jeorgy nach Cristi gepurtt des funffzehenhundristen und im 39 sechsunndzwaintzigisten jar. 1526, April 24 (zeinstag nach Jeorgy) Gesamtarchiv der Fürsten zu Waldburg-Wolfegg und Waldsee in Wolfegg, WoWo U 1324-2 (alte Nummer: 573), Ausfertigung auf Pergament, 2 Siegel des Bürgermeisters und Rats der Städte Ravensburg und Wangen Kurzregest: Vereinbarung der Untertanen der vier Gerichte Wolfegg, Haidgau, Arnach und Ellwangen mit Georg Truchsess von Waldburg wegen Dienst, Dienstgeld und Fastnachtshennen 1 Wier die nachbenempten Bastion Jos vom Grymennstain, Paulin Huser vom Hoff, Hanns Huber genant Fries von Rottennbach unnd Hanns Stipplin vonn Urbach, von wegenn gantzer gemaind reich unnd 2 arm so in dem gericht Wolffeck gesessenn seind, auch fur unns selbs all derselbigenn unnd unnser erbenn unnd nachkomen, Hanns Bader, Hanns Zirn unnd Jeorg Lanng vonn Haiggöw, unnd Hannes 3 Muller vonn Ernsperg, vonn wegenn gantzer gemaind reich unnd arm so in dem gericht Haiggow gsessenn seind, auch fur unnß selbs all derselbigenn unnd unnser erbenn unnd nachkomen, Hanns 4 Spennlin genant Halder unnd Baltus Gull vonn Arnach, Hanns Lewtz vonn Nidermulin unnd Ulrich Burster vonn Truchschwenndi vonn wegenn gantzer gemaind reich unnd arm so in dem gericht 5 Arnach gsessenn seind auch fur unns selbs all derselbigen unnd unnser erbenn unnd nachkomen, Claus Rottegger vonn Pfaffennriedt, Jeorg Erman vonn Ellwanngen unnd Hanns Kößlere 6 vom Tristolltz vonn wegenn ganntzer gemaind reich unnd arm so in dem gericht Ellwanngen gesessen seind, auch fur unns selb unnd all daselbigen unnd unnser erbenn unnd nachkomen 7 bekennen mit dem brieff unnd thund kunt allermenngklich als wier dann von abgemelten gerichten unnd allen einsassen unnd unndertanen derselbigenn in gemain und jedem sonder- 8 lich mit volkumen gewallt unnd befelch außgeschossen unnd verordnet worden seind, mit dem wolgepornnen hern hern Jorgen truchsessenn freihern zu Walttpurg unnd diser zeit statthalter des <?page no="364"?> D A S R INGEN UM R ES S OUR CEN AL S M ITT EL DER K ONF LIK TEN TS C HÄR FUNG 363 9 furstennthumbs Wuertennberg etc. unserm gnedigen herrn, unns der diensthalb so wier dan seinen gnaden zuthun schuldig seind zehen jar lang wie es damit gehalten werden soll zuverainen 10 zubeschliessen unnd enntlich nach notturfft mit briefflicher urkund auffzurichten, das wier darumb frey willig unnd wolbedachtlich unns an stat in namen gedachtter gericht unnd 11 gemainden in allermaß als ob sy all vonn namen zu namen hierinn geschribenn stunden, auch fur unns selbs all unnser erben unnd nachkomen mit vorgedachttem unnserm gnädigen herrn 12 vertragen unnd zuhalten zugesagt habenn wie hernach vollgt. Im ersten so soll ain jeder in den obgemelten gerichten gsessen der mit vier rossen buwt oder zu vier rossenn buw hat des jars 13 uff Martini oder auff das lengst bis Anndres vierunddreyssig schilling haller zu dienstgellt geben unnd wo er aber zu annderhalber oder zwayen meinnen buw hett, soll er nach anzall 14 der vierunnddreyssig schilling dester höher angelegt werden. Wölcher aber zu drew rossen buw hat, der soll järlichs uff gemelte zeit ain pfund funff schilling haller dienstgelt geben. Wölcher zu 15 zwayen rossenn buw hat sibennzehen schilling haller. Zu ainem roß buw newndthalben schilling haller. Wölcher aber ein hawßröchin unnd kain buw hat, der soll järlichs uff gemelte zeit 16 sibenn schilling haller gebenn. Wo aber ainer nit aigen herberg hat, sonnder zu ghaws sein muß, der soll drey schilling haller bezalen. Unnd darzu so sollenn wier auch schuldig sein ain 17 jeder ain tag im jar so sein gnad oder ir erbenn des notturfftig seind unnd wier darumb erfordert werdenn visch zufurn wie vonn alter. Es soll auch dergleichenn ain jeder schuldig sein ain tag 18 im jar so er darumb erfordert unverhindert prennholltz zuhawenn an ortenn wo er des beschaidenn wurdt unnd nemlich desselbigenn tags vier fuder spelltenn unnd vierunndzweintzig gütter 19 speltenn fur ain fuderr. Darzu sollenn sein gnad unnd ir erbenn unns speys gebenn wie vonn alter. Wölcher aber die vier fuder uff ain tag nit auffmacht, der solls hernach vonn stunden uff ain 20 annder tag uber sein restenn erfollenn. Wann es auch järlichs im wintter oder haberurigstenn das man korn schneiden wurt, so sollenn die vier gemelten gericht zu Wolffeck gehörig schuldig sein 21 uff die zeit so sy darumb berufft unnd erfordert werdenn, aus ainem jeden haws ain mensch zuschickenn, es seyen frawenn oder man wie unnd sovill man dann dern jeder zeit bedarff. Die 22 selbigenn söllenn dann sein gnaden oder irn erbenn ir winterkornn unnd haber abschneiden. Dafur sollenn ir gnad ainer mans personn des tags zu hinn zwölff pfennig unnd ainerr 23 frawenn zehenn pfennig geben. Doch das sy gewachssenn, gesund unnd nit kindisch personen seyenn unnd morgens umb sibne ann die arbaitt unnd abenndtz umb die sechsse davonn gangen. 24 Die gemellt lanndtschafft soll auch sein gnaden unnd irn erbenn zum jagenn helffenn wie vonn alter. Unnd wan ain herr verprun das Got der almechtig wennd, so sollenn wier im wider helpfen 25 zimlich buwen unverhindert unnd verjett dieser abredung. Der vaßnachthennen halb soll ain jedes egemächid ain vaßnachthennen wie vonn alter unnd sunst ain jedes fur ain hennen dero <?page no="365"?> S ILK E S CHÖT TL E 364 26 leibaigennschafft acht pfennig gebenn unnd hiemit so sollen wier die vorgemelten zehen jar lanng bey den diensten unnd dem dienstgellt von stuck zu stuck hierinn ermellt bleiben verner 27 noch weitter vonn sein gnaden oder irn erben deßhalb nit angelugt erfücht noch gedrengt werden gar inn khain weys noch weg. Wann aber die zehenn jar verscheinen unnd außwerden und wier 28 unns weitter mitainander alsdann in obgerurter oder anderer mas nit vertragenn, so soll es mit allen diensten furter bleiben wie wier diesern gnaden vor uffrichtung des dienstgeltz gethon. Doch sollen die vom 29 Tristoltz hierinn nit begriffenn sein, sonnder bey dem dienstgellt blibenn wie sy bißhär geben haben unnd als seiner gnaden urbar deßhalb ußweist getrewlich unnd ungeverd. Unnd des alles 30 zu warem urkund, so haben wier verordneten ußschutz wie wier vonn namen zu namen ernent seind fur die vier obgemelten gericht unnd mengklichem darinnen wonend so gedachttem unserm gnedigen 31 hern mit aigennschafft, zustand oder nit gmain und sonder auch fur unns selbs unnd all unser erbenn unnd nachkomen mit gantzem vleis unnd ernst erbetten die vesten fursichttigen unnd weysenn 32 burgermeister unnd rät der steet Ravennspurg unnd Wangen, das ain jede irer stat sigell fur unns unnser erbenn unnd nachkomen doch inn unnd irn erben unnd nachkomen in allweg 33 onschaden offennlich gehenckt habenn an disenn brieff, der gebenn ist uff zeinstag nach Jeorgy nach Cristi gepurt des funffzehenhundirsten unnd inn sechsunndzwaintzigisten jar. <?page no="366"?> 365 P ETER R ÜCKERT Der Abt im Konflikt. Jacob Murer und das Prämonstratenserstift Weißenau im Bauernkrieg 1. Einleitung * […] deus a nobis laudetur, status ordinis et monasterii nostri incolomis servetur […] - »Wir wollen Gott preisen, und unser Orden und das Kloster sollen vor Schaden bewahrt werden«, 1 so führt Jacob Murer, Abt des Prämonstratenserstifts Weißenau, sein Vorwort zu einem prächtigen Traditionscodex aus, den er bald nach den Ereignissen von 1525 zusammenstellt (Abb. 1). Murer stand noch ganz unter dem Eindruck des gewaltigen Aufruhrs und fährt hier fort: »Meine Nachfolger mögen durch das Vorbild ihrer Vorgänger, die ein gutes Regiment geführt haben, ermahnt werden, sich unseren Untertanen nicht streng, sondern mild und gemäßigt zu zeigen, damit solche Übel, wie sie von Beginn meiner Regierung an aufgetreten sind, die zukünftigen nicht mehr betreffen. In den ersten drei Jahren meines Abbatiates haben in ganz Deutschland die Untertanen ihren Herren den Gehorsam verweigert und gegen sie die Waffen ergriffen […]«. Auch seine Untertanen und Bauern hatten sich gegen sein Kloster und ihn persönlich aufgelehnt - mei subditi et mancipes se opposuerunt monasterio et mihi -, und aus dieser erschütternden Erfahrung heraus betont er die eindrückliche Mahnung an seine Nachfolger zur Milde und Mäßigung. Wir erkennen den ›Abt im Konflikt‹: entsprechend dem Ansatz dieses Tagungsbandes, ›regionale Ressourcenkonflikte im Bauernkrieg von 1525‹ analytisch zu betrachten, 2 fokussieren wir diese Konflikte nun auf eine beteiligte Person; freilich eine überaus prominente Person, denn Jacob Murer hat diese Ereignisse intensiv schriftlich verarbeitet und dokumentiert. Von herausragender Bedeutung ist dabei * Der Beitrag basiert auf dem Vortrag, der am 19.11.2023 im Rahmen der Tagung › ›Beschwert und überladen? ‹ Die Rolle regionaler Ressourcenkonflikte im Bauernkrieg von 1525‹ in Memmingen gehalten wurde. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten, der Text um den wissenschaftlichen Apparat ergänzt. 1 Das Zitat nach R ENATE S TAHLHEBER , Der Norbert-Zyklus im Weißenauer Traditionscodex, in: 850 Jahre Prämonstratenserabtei Weißenau 1145-1195, hg. von H ELMUT B INDER , Sigmaringen 1995, S. 331-374, hier 335f., nach der Handschrift 41 im Fürstlichen Gesamtarchiv von Waldburg-Zeil, Schloss Zeil (künftig: ZAM 41), die Übersetzung wurde angepasst. 2 Vgl. die Einführung von Peer Frieß und Dietmar Schiersner in diesen Band. <?page no="367"?> P ET ER R ÜC KER T 366 seine ›Weißenauer Bilderchronik‹ des Bauernkriegs, die als einzigartiges Zeugnis von den Geschehnissen um Murer und sein Kloster Weißenau kündet. 3 Entsprechend sind Leben und Werk des Weißenauer Abts auch bereits gut bekannt, zuletzt durch die einschlägigen Forschungen von Peter Eitel, 4 auf die ich mich im Folgenden stützen kann. Unsere Perspektive auf den ›Abt im Konflikt‹ verlangt allerdings eine doppelte Betrachtungsebene, gleichsam eine äußere und eine innere Perzeption: die Darstellung der ›äußeren‹, historischen Handlungsabläufe, der Konfliktereignisse und ihrer herrschaftlich-politischen Bewältigung steht dabei dem ›inneren Konflikt‹ des Abtes im persönlichen Umgang mit dieser existentiellen Krise gegenüber. Wie es im Eingangszitat bereits anklang, war Murer persönlich schwer betroffen, und seine umfangreichen Selbstzeugnisse erlauben uns eine außergewöhnlich intensive mentalitätsgeschichtliche Annäherung. Dabei sind neben den einschlägigen Texten auch zahlreiche Bilder anzusprechen, die von Murer gesammelt, angeleitet, in Auftrag gegeben wurden - eine einzigartige ›Bilderflut‹ von besonderer Intensität und teils hervorragender Qualität, welche eine Nähe zur Kunst und den Bildmedien als starken persönlichen Wesenszug bereits greifen lassen. Vor diesem medialen Hintergrund also zum ›Abt im Konflikt‹: Wir wollen Jacob Murer vor allem selbst sprechen lassen, in seinen Texten und Bildern. So wollen wir ebenso den ›Ressourcenkonflikt‹ mit den Untertanen im Ablauf der Ereignisse erfahren wie den inneren Konflikt des Abtes. Wir können damit auch die persönliche Ressource ›Gewissen‹ ansprechen, um dem Ansatz dieses Bandes zu entsprechen. Zunächst aber ist die Biographie Murers kurz vorzustellen und in die zeitgenössische Geschichte des Stifts Weißenau einzubinden, das im Folgenden - trotz stiftischer Augustinusregel - entsprechend der Tradition und Selbstwahrnehmung als ›Kloster‹ bezeichnet werden soll. 5 Jacob Murers Umgang mit der Schriftlichkeit und seinen Bildern soll dann neue Aufschlüsse über seine Wahrnehmung der Kriegsereignisse und seine Konfliktbewältigung geben und damit schließlich die Annäherung an eine bemerkenswerte Persönlichkeit verbinden. 3 Siehe die Edition von G ÜNTHER F RANZ (Hg.), Jacob Murers Weißenauer Chronik des Bauernkrieges von 1525, Sigmaringen 1977. 4 P ETER E ITEL , Jacob Murer, Abt und Chronist der Weißenau. Ein Lebensbild aus der Zeit des Bauernkriegs, in: 850 Jahre Prämonstratenserabtei Weißenau 1145-1195 (Anm. 1), S. 195-218. Dazu demnächst D ERS ., Schreiben und Beschreiben als Krisenbewältigung. Jakob Murer, Abt von Weißenau - ein Leben in Bedrängnis, in: Akteure des Bauernkriegs im deutschen Südwesten. Motive - Strategien - Kommunikation - Lernerfahrung, hg. von S IGRID H IRBODIAN / S ABINE H OLTZ / E DWIN E RNST W EBER (im Druck). 5 Allgemein dazu S ÖNKE L ORENZ / O LIVER A UGE / S IGRID H IRBODIAN (Hg.), Handbuch der Stiftskirchen in Baden-Württemberg, Ostfildern 2019. <?page no="368"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 367 Abb. 1: Jacob Murer. Federzeichnung im Traditionscodex von Weißenau, 1524. <?page no="369"?> P ET ER R ÜC KER T 368 2. Jacob Murer - Spuren einer Biographie Jacob Murer stammte aus Konstanz, wie er selbst gerne betonte, der berühmten Bischofsstadt am Bodensee. 6 Dort wurde er 1468 als Sohn des wohlhabenden Bürgers und Malers Hans Murer († 1486/ 87) geboren. Dort hat er wohl die Domschule besucht, jedenfalls eine intensive Ausbildung erhalten und sicher auch eine enge Beziehung zur Kunst und Bilderwelt von Vater und Bruder aufgebaut, den wir ebenfalls als bedeutenden Maler kennen. 7 Bald finden wir Jacob als Novizen im Prämonstratenserkloster Weißenau wieder; von Konstanz aus etwas abgelegen, aber nicht weit von der nahen Reichsstadt Ravensburg, woher die Familie des Vaters stammte. 8 Im Jahr 1489 lässt er sich hier einen Ablassbrief für seinen Beitrag zur Türkenhilfe ausstellen, 9 und ein Jahr später erhält Jacob mit 22 Jahren die Erlaubnis zur vorzeitigen Priesterweihe in Weißenau. 10 Dort steigt er in der Hierarchie des Konvents bald auf: 1495 steht er bei der Wahl des neuen Abts Johannes Mayer als Subprior bereits hinter Abt und Prior an dritter Stelle. 11 Mit dem Abt Johannes Mayer sollte sich Jacob Murer gut verstehen; er galt als Stütze der Klosterverwaltung und wurde vom Abt mit wichtigen Aufgaben gerade in der Seelsorge betraut. Bekanntlich betreuten die Weißenauer Prämonstratenser zahlreiche inkorporierte Pfarreien, meist in der Nähe des Klosters. 12 Einen wichtigen Außenposten stellte die große Pfarrei Ummendorf bei Biberach dar, das Heimatdorf von Abt Mayer. Hier wurde Jacob Murer 1499 als neuer Pfarrer und Seelsorger eingesetzt, hier fand er seine Unterkunft im stattlichen Pfarrhof und die Nähe zu seiner Gemeinde. Hier stifteten Abt Johannes und Jacob Murer bald darauf auch gemeinsam zwei Tafelbilder zur Neuausstattung einer Kapelle. 13 Eine Beschreibung der nicht mehr vorhandenen Bilder, die den hl. Norbert, den Gründer des Prämonstratenserordens, zeigten, bemerkt darauf einen Chorherrn mit einigen Pfarrkindern und 6 Zum Folgenden P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 196. 7 Vgl. dazu D ANIEL H ESS / T HOMAS E SER (Hg.), Der frühe Dürer, Nürnberg 2012, S. 383f.; zur Künstlerwerkstatt der Familie Murer vgl. Spätmittelalter am Oberrhein, Teil 1: Maler und Werkstätten 1450-1525, hg. von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Stuttgart 2001, S. 81- 98. 8 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm.4), S. 196. 9 HStA Stuttgart, B 523 U 113. 10 HStA Stuttgart, B 523 U 170. 11 HStA Stuttgart, B 523 U 171. 12 G EORG W IELAND , Gemeinschaft im Wandel. Der Weißenauer Konvent vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, in: 850 Jahre Prämonstratenserabtei Weißenau 1145-1195 (Anm. 1), S. 119- 178, 140-142. 13 F RANZ -J OSEF M ERK , Johannes Mayer aus Ummendorf, Weißenauer Abt am Ende des Mittelalters (1495-1523), in: 850 Jahre Prämonstratenserabtei Weißenau 1145-1195 (Anm. 1), S. 179-194, 181. <?page no="370"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 369 die Inschrift O Joannes chare, pro me et meis subditis Deum deprecare - »O, lieber Johannes, lass mich und die Meinen dir befohlen sein«. 14 Und daneben: Sub fratre Jacobo Murer Plebano […] 1503, darunter sein Wappenschild mit dem dreiblättrigen Lindenbaum (Abb. 2). Wir erkennen also Jacob Murer als Stifter dieser Votivtafeln, die er für sich und seine Ummendorfer Gemeinde im Jahr 1503 der Kapelle Johannes des Täufers verehrte. Abb. 2: Das Familienwappen Jacob Murers: Ein dreiblättriger Lindenbaum mit Wurzel. Die mit dieser frommen Stiftung zum Ausdruck gebrachte Verehrung für den hl. Johannes den Täufer wie den Ordensgründer Norbert teilte Jacob Murer mit seinem Abt Johannes Mayer wie mit seinen Ummendorfer ›Schäfchen‹, welche die Johanneskapelle als weithin bekanntes Pilgerziel pflegten. 15 Überhaupt betont Murer auch später noch, wie er seine Pfarrei lange Jahre in gutem Einvernehmen mit den Ummendorfern führte und sich oft als Vermittler zwischen der Gemeinde und dem strengen Abt Mayer verstand. 16 Immerhin sollte er die Pfarrei über 23 Jahre versehen, bis er 1523 in Weißenau zum Abt gewählt wurde, ohne dass es zu bemerkenswerten Konflikten vor Ort gekommen wäre. 14 H ANS H UTZEL / A LFRED B USCHLE , Die Johanneskapelle in Ummendorf, in: Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach 10 (1987) Heft 1, S. 33f. 15 H. H UTZEL / A. B USCHLE , Johanneskapelle (Anm. 14), S. 33f. 16 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 196. <?page no="371"?> P ET ER R ÜC KER T 370 3. Jacob Murer als Abt von Weißenau Jacob Murer war inzwischen 55 Jahre alt, als er nach dem Tod seines energischen und oft harschen Vorgängers den Abtstab in Weißenau am 13. April 1523 übernahm. 17 Das Notariatsinstrument, das den Wahlgang dokumentiert, 18 beschreibt die Einigung der Äbte von Rot an der Rot, Obermarchtal und Schussenried auf Murer, der sogleich in sein Amt eingesetzt wurde. Der neue Abt bedankte sich mit wertvollen Geschenken bei seinen Wählern und Unterstützern, 19 er fühlte sich seinem hohen Amt verpflichtet und sah sich gleich in einer politisch schwierigen Situation: Wie Peter Eitel gezeigt hat, drängte der habsburgische Landesherr damals darauf, die Hoheitsrechte der oberschwäbischen Reichsklöster mit Hilfe der Landvogtei Schwaben zu übernehmen bzw. diese geistlichen Herrschaften landsässig zu machen. 20 Noch drängender allerdings war in diesen Jahren die »lutterische Sektiererei«, die Unruhe, die mit dem Auftreten Martin Luthers und den Forderungen nach der Reformation inzwischen auch weite Teile der bäuerlichen Bevölkerung Oberschwabens erfasst hatte. 21 Gerade die benachbarten Reichsstädte, wie Biberach, sollten sich ab 1523 der Reformation und ihren klosterfeindlichen Ansätzen öffnen. Dazu kamen die wirtschaftlichen Probleme - drei Missernten hintereinander in den Jahren 1522 bis 1524: Als Jacob Murer im Juli 1524 vom Kloster Weingarten aus zurück nach Weißenau reitet, sieht er die Verwüstung, die Sturm und Hagel (horribilis grando) zuvor angerichtet hatten. 22 An einzelnen Orten hatte der Hagel sämtliche Trauben von den Weinstöcken geschlagen, und beim Getreide war die Zerstörung der Ernte ebenso schrecklich. Dadurch konnte Murer schon den Bedarf des Klosters an Getreide nicht mehr aus den Abgaben der Bauern decken und musste eine große Menge Korn für teures Geld zukaufen. So standen der Abt von Weißenau, sein Konvent, aber vor allem doch seine Bauern vor einem elementaren Ressourcenkonflikt: Jetzt ging es um die Ernährung der bäuerlichen Familien, die nichts ernten konnten und nicht über Vorräte oder ersparte Ressourcen verfügten - eine prekäre Notlage, die der Abt durch Geldanleihen für seine besonders betroffenen Untertanen aufzufangen suchte. In Gornhofen erhielt jeder Hintersasse 3 Pfd. Heller, in Taldorf die Gemeinde insgesamt 50 Gulden. 23 Dafür 17 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 196. 18 HStA Stuttgart, B 523 U 174. 19 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 197. 20 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 197. 21 Allgemein dazu P ETER R ÜCKERT (Bearb.), Freiheit - Wahrheit - Evangelium. Reformation in Württemberg, 2 Bde., Ostfildern 2017. 22 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 198, nach HStA Stuttgart, B 523 Bd. 1. Vgl. dazu den Beitrag von Christian Pfister in diesem Band. 23 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 20. <?page no="372"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 371 musste Murer hohe Summen bei Ravensburger Bürgern leihen und Zinsgüter des Klosters abgeben. Wir gehen davon aus, dass diese ›Soforthilfemaßnahmen‹ des Abtes für seine Bauern und seinen Konvent jedenfalls die schlimmsten Versorgungsprobleme kurzfristig lösen konnten und behalten freilich im Blick, dass der Abt auch die Rückzahlung seiner Aushilfe erwartete. 24 Schon bald darauf kann sich Jacob Murer jedenfalls weiter um die Zusammenstellung und Kodifizierung der Weißenauer Urkunden kümmern, die er damals in mehreren prächtigen Bänden abschreiben lässt: 25 Hier dokumentiert er nicht nur sein persönliches Interesse an der Klostergeschichte und der Rechtssicherung seiner Privilegien. Besonders zeigt er seine bibliophilen Neigungen und seinen Sinn für künstlerische Gestaltung und Bilderschmuck, ebenso wie seine eigene Kunstfertigkeit im Schreiben und Zeichnen. Hier finden wir jeweils am Beginn der Handschriften sein prächtiges Abtswappen mit Murers Familienwappen im gevierten Schild, dem Abteiwappen und der Jahreszahl 1524 (Abb. 2). Es folgt in der Prachthandschrift Murers eigenhändiger lateinischer Gründungsbericht der Abtei (Abb. 3), bevor ein klösterlicher Schreiber mit der Abschrift der Urkunden fortfährt. 26 Parallel dazu führt der Abt die Eintragungen in seinem persönlichen ›Gedenckbuch‹ fort: 27 Dieses Buch hatte Murer gleich nach Antritt seines Abbatiats 1523 als eine Art Rechenschaftsbericht begonnen, um für sich und den Konvent besondere Vorkommnisse und Ausgaben zu dokumentieren: ein durchaus persönliches Werk pragmatischer Schriftlichkeit, das Murer zur Vergewisserung und Erinnerung anlegte und das seine eigene Perspektive auf die damaligen Ereignisse ›hautnah‹ widerspiegelt. Wir kommen noch darauf zurück. 4. Der Abt im Konflikt: Jacob Murer im Bauernkrieg Inzwischen war der große Konflikt ausgebrochen. Hören wir Jacob Murer in seinem zeitnahen Bericht über die Anfänge des Bauernkriegs, wie er diesen seinem eingangs zitierten Traditionscodex einfügte: 28 »Im Jahre 1524 nach der Fleischwerdung des Herren, im dritten Jahr meiner Regierung, begannen Aufruhr und Empörung in ganz Deutschland, so wie ihn die Welt noch nicht erlebt hatte. In diesem habe ich mich sehr eifrig und mit größter Sorge und Mühe, persönlich und durch meine Beamten 24 Vgl. dazu die Beiträge von Stefan Sonderegger und Arman Weidenmann in diesem Band. 25 Das so betitelte ›Copeibuch‹ mit der Signatur HStA Stuttgart, H 14 Bd. 288 von 1524 sowie ZAM 41 von 1524; vgl. dazu P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 199. 26 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 200, nach ZAM 41. 27 HStA Stuttgart, B 523 Bd. 6; dazu G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 17, abgedruckt dort S. 36-40. Die Verweisangaben von Franz sind entsprechend zu korrigieren. 28 ZAM 41. <?page no="373"?> P ET ER R ÜC KER T 372 mit Versprechungen und allen möglichen Zugeständnissen an die Hintersassen meines Klosters bemüht, um sie davon abzuhalten, vom Kloster abzufallen […]. Sie alle und jeder einzelne von ihnen hatten Mitleid mit mir und bedauerten, dass ich in solch großer Unruhe ihr Herr und Prälat geworden sei […].« 29 Verkehrte Welt! Mitleid und Mitgefühl der Untertanen mit ihrem geistlichen Herren sprechen aus diesen Worten; eine persönliche Nähe, die Murer nicht zuletzt zur breiten Darstellung der ungeheuerlichen Geschehnisse in einer eigenen, aufwändigen Bilderchronik bewegte, wie er hier ankündigt. Aus dieser berühmten, einzigartigen Bilderchronik Jacob Murers schöpfen wir nun die detaillierten Informationen und Eindrücke zu den Vorgängen um Weißenau und nehmen nun ganz seine eigene Perspektive ein; wir finden uns wieder beim ›Abt im Konflikt‹. Murer stellt seine Ausführungen unter die Überschrift Von dem burenkrieg, wie es in dem ergangen sige, allain das goczhus anträffend. 30 - Er will sich also bei seinem Bericht auf die Ereignisse um Weißenau beschränken, die er gleichsam als Augenzeuge miterlebte. Trotzdem kennt er natürlich die bäuerlichen Erhebungen in der Umgebung; er beginnt seinen Text mit den Rottungen der Bauern in den Herrschaften Lindau und Tettnang Ende Februar 1525. Dieser ›Rappertsweiler Haufen‹ oder ›Seehaufen‹ erhob gegenüber der Herrschaft Forderungen gemäß den Zwölf Artikeln und forderte am 23. Februar auch die Weißenauer Bauern in etlichen Dörfern auf, sich ihm anzuschließen. 31 Do kamend die goczhusleut all in die Ow von den dörffern umb raut, wie si sich halten sölltend, und allwegen bi der nacht, das ich uffston muost […]. Eine verstörende Situation für den Abt: Seine Bauern werfen ihn bei Nacht aus dem Bett und wollen wissen, wie sie sich in dem Aufruhr verhalten sollen. Und trotz seiner guten Worte und dem Hinweis auf ihren Untertaneneid halten sie zu den Aufständischen, glauben an deren Sache und wollen vor allem ihre Güter jetzt als Eigentum behalten. Abt Murer erinnert sich, wie er wenige Wochen zuvor noch auf dem Weg nach Ulm in seiner alten Gemeinde Ummendorf Station machte und damals seine Gerichtsleute aus den umliegenden Dörfern ins Ummendorfer Pfarrhaus bestellte, um sie nach ihrer Loyalität zu befragen. Im Beisein des neuen Ummendorfer Pfarrers Dr. Caspar Nell und seines Schreibers Martin Rietmann beschwor er diese örtlichen Bauernvertreter in Erinnerung an ihr langes gutes Auskommen - gerade während seiner Zeit als Ummendorfer Pfarrer, als er ihnen Geld und Korn geliehen und manche Gevatterschaft übernommen habe: Darumb ich sie bitt, das si nitt von mir wichend; 32 hätten sie Beschwerden, würden sie sich schon einig. 29 Übersetzung nach G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 42. 30 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 27. 31 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 21. 32 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 28. <?page no="374"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 373 Abb. 3: Der eigenhändige Gründungsbericht für Weißenau von der Hand Jacob Murers. <?page no="375"?> P ET ER R ÜC KER T 374 Abb. 4: Der Schwur der Ummendorfer Bauern. Detail aus der Weißenauer Bilderchronik von Jacob Murer. Danach fragte Murer sie einzeln: Also hubend sie all uff ihre fingern, sie wellten bi mier beliben, bis auf den Obermüller, hieß Klaus (Abb. 4). Schließlich ließ Murer die Leute in die beiden Wirtshäuser des Ortes gehen, jedem ein Brot und ein Maß Wein vorsetzen zur feierlichen Bestätigung der weiteren gegenseitigen Verbundenheit. Doch welche Enttäuschung: Kaum, dass der Abt am nächsten Tag weiterritt, liefen die Bauern nach Baltringen zum dortigen Haufen und fielen von ihm ab - sie brauchend brief und siegel an mir, schreibt er enttäuscht. 33 Der Aufruhr war jetzt in vollem Gange und sollte gleich neuen Schwung bekommen, als die österreichische Landvogtei ein Landesaufgebot von 200 Bauern gegen die Aufständischen im Schwarzwald schicken wollte 34 - die oberschwäbischen Bauern sollten gegen ihre Schwarzwälder Brüder antreten! Als Sprecher der Bauern tritt jetzt Stefan Rahl auf, ein Weißenauer Hintersasse vom Hof Herbisreute oder Rahlenhof bei Weißenau, ein vermögender Mann mit einem großen Hof. Er spricht an verschiedenen Orten zu den Bauern und gerade zu den anderen Weißenauer gotzhuslut. In Untereschach stellen sie ihn auf einen Stuhl, und was er redt gefiel den buren, hettend in für ainen herrgott, kommentiert Murer. Er reagiert schnell und schickt seinen Prior Lanz mit Dr. Nell nach Eschach, um die Bauern von ihrem Abfall abzuhalten, doch da wolcz niemand hören reden, sonder übel ansehen, das sie müstend wieder zu mir riten - nucz 33 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 28. 34 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 21. <?page no="376"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 375 geschaffet, si flüchtig gemachet. Es war zu spät: Murer und seine Chorherren mussten zurück ins Kloster fliehen; jetzt war Schlimmes zu befürchten. Wir treten näher heran und blicken ihm über die Schulter. Dabei sehen wir Jacob Murer als Redaktor am Werk seiner Chronik, wie er für die nächste entscheidende Szene ausweist: Nota nach dem möchte man malen, wie die buren in das goczhus gend und fair mier stand und begeren von mier, inen ze schweren […] das ich och büresch wäre […]. 35 Den Drahtzieher kennen wir schon: Stefan Rahl gemeinsam mit Hans Moser von Furt hatte sogar einen Notar mitgebracht, um den Eid des Abtes auf die Bauern und die Zwölf Artikel schriftlich abzunehmen! Murer konnte diese heikle Situation mit seiner Zusage, nurmehr das luter, hell evangelium predigen zu lassen - damit zugleich einen Slogan der Reformation bedienend -, gerade so überstehen. Aber immer mehr Bauern kamen jetzt in die Weißenau und brachten ihre Klagen vor. - Ein komplexes Bild, das dann doch nicht ausgeführt wurde. 36 Für diese Zeichnungen waren bekanntlich mehrere Hände am Werk; eine davon war sicher die Hand des Abtes, der jedenfalls Vorzeichnungen und Skizzen dazu anlegte. Damit zurück zu den Ereignissen, die sich jetzt überschlagen sollten: Auf die Bedrängungen der Bauernführer hin zog es Abt Murer vor, sich in Ravensburg in Sicherheit zu bringen, um den Bauern nicht doch noch den Eid leisten zu müssen. Den Konvent wollte er gerne im Kloster zurücklassen, aber die Furcht der Brüder war zu groß, so dass sie - bis auf vier Chorherren - gleich hinterher in den Schutz der sicheren Stadtmauern liefen. 37 Diese vier Zurückgebliebenen sollten ruhig zu den Bauern schwören und diesen genügend zu essen und zu trinken geben und nur daufair sin, daß si [das] goczhus nitt verbranntend […]. Murer hatte von den Zerstörungen der umliegenden Klöster gehört und rechnete mit dem Schlimmsten. 38 Ich hab das hailtum und silbergeschirr in die statt lauss füren in min hus in das gewölb […]. Im Gewölbe des Weißenauer Stadthofs in Ravensburg waren wenigstens die Reliquien, das Silbergeschirr sowie die Privilegien und Urkunden sicher, 39 ebenso der Silberschatz und die Urkunden des Tochterklosters Schussenried, die er auch hier verbarg. Die wertvollen Glasfenster hatte Murer noch schnell aus ihren Fassungen genommen und auf das Gewölbe der Marienkapelle im Kloster geschafft. 40 Und die Bauern kommen jetzt in großer Zahl, Männer und Frauen - Murer schätzt 700 -, vor das Kloster. Sie werden zunächst nicht eingelassen, sondern auf freiem Feld mit Brot und Wein verköstigt. Doch lange lassen sie sich nicht aufhalten, 35 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 29. 36 W ERNER F LEISCHHAUER , Kunstgeschichtliche Einordnung der Bilder, in: G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 57-60, hier 58. 37 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 30. 38 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 43. 39 Nach ZAM 41, vgl. G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 42. 40 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 21, 42, nach ZAM 41. <?page no="377"?> P ET ER R ÜC KER T 376 dringen ein und treiben ihr unwesen […] mit essen und trinken, toll sein, schlachen ainanren, türen zerschlachen der kuche und pfistre, da ze nemmende, was inen gefiel, mitt fischen, ussfüren und tragen uß dem kloster, frowen und man, win und brot. 41 Die Plünderung und Verwüstung der Weißenau durch die gewaltsamen Bauern war nicht zu vermeiden, aber das Kloster konnte immerhin vor weiterer Zerstörung und Brand bewahrt werden, bis die Bauern weiterzogen - das Hauptziel von Abt Murer war erreicht. Über Waldsee ging der Bauernzug nun Richtung Ummendorf nach Norden, machtent bris, die blundret und genomen, was si gefunden haben, und insonder das hus zuo Umendorf zerschlagen und mier das kairn auch genommen. 42 Sein alter Pfarrhof in Ummendorf wurde zerstört und sein Getreide weggeführt, jammert Murer. Die Verwüstung des Klosters und des Ummendorfer Pfarrhofs konnte Murer nur aus sicherer Entfernung in Ravensburg mitbekommen, wo jetzt die ebenso vertriebenen Konvente von Ochsenhausen und Schussenried in ihrer Not Aufnahme begehrten. Doch Murer konnte sie nicht unterbringen und ihnen nur sein verlassenes Kloster anbieten, was sie aber nicht annehmen wollten. Mit dem Kriegseintritt des Schwäbischen Bundes Anfang April 1525 sollte sich das Blatt wenden: Murer beschreibt den Strafzug des Bundesheeres, bis dieser auf dem Weg nach Norden auch nach Ummendorf kam: Und wie die buren mier das min genommen hattend, also namend die raissigen den buren das ier och, wärend fast hessen: sie süchtend in den bachöffen, galgbrunnen, uff dem kierchhof mitt graben, liessend kein statt hin, si süchtend, nammend innen ain gros güt von husblünder. 43 Murer kennt die Opfer der Landsknechte persönlich, so auch den Dieb eines Kelches aus der Ummendorfer Kirche, der an einem Baum aufgehängt wurde (Abb. 5). Die gefangenen Bauern mussten nun dem Heerführer Georg Truchsess von Waldburg ihren Schwur ablegen, dem Abt von Weißenau gehorsam zu sein wie zuvor und ihre Waffen abzulegen. Etliche der gefangenen Ummendorfer Bauern wurden nach Ulm geführt, und Murer setzte sich gleich für deren Freilassung ein. Er habe sie nie verklagt, betont er, wie ›hart‹ sie sich auch ihm gegenüber verhalten hätten, und aus der Rückschau: Sie dankten ihm seine Barmherzigkeit nicht. 44 Sein Gewissen hatte jedenfalls seinen inneren Konflikt hier zugunsten von Barmherzigkeit und Verzeihen entschieden. Doch den Bauern sollte es bald schlecht ergehen: Am Ostertag, dem 16. April, wurde der große Hof von Stefan Rahl durch die Söldner niedergebrannt, so dass die Weißenauer Mönche noch in Ravensburg über das große Feuer erschraken. 41 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 31. 42 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 32. 43 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 33. 44 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 33. <?page no="378"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 377 Abb. 5: Die Vergeltung des Schwäbischen Bundes an den Ummendorfer Bauern. Detail aus der Weißenauer Bilderchronik von Jacob Murer. <?page no="379"?> P ET ER R ÜC KER T 378 Ein Kind von Rahl und sein Vieh fielen dem Brand zum Opfer, 45 wozu der Abt hier allerdings kein Wort verliert. Die Landsknechte vertrieben auch die Bauern aus dem Kloster Weißenau, so dass Murer und sein Konvent zurückkehren konnten. 46 Die Versuche Murers, seine Bauern nun wieder für sich zu gewinnen und sie ihren Untertaneneid schwören zu lassen, sollten erst mit der Unterstützung durch die Stadt Ravensburg gelingen, indem gemeinsam Landsknechte angeworben werden konnten. Erst unter diesem Eindruck drohender Gewalt do luffend si all, ain dairf nach dem ander, in das goczhus, mier ze schweren. Allso uff ier bitt und grossen verhaissen, nummen ze tuond, sagtend, sie werdend ferfürt wairden, lies ich si mier den alten aid schweren, lies inen den vertrag lesen, den her Jörg Truchseß gemacht hätt. - Gemeint ist der ›Weingartner Vertrag‹, der kurz zuvor vom Truchsessen Georg von Waldburg, dem ›Bauernjörg‹, mit den Bauernführern vor Weingarten ausgehandelt worden war, um den Frieden wiederherzustellen. 47 Damit beendet Murer seine Bilderchronik des Bauernkriegs, auch wenn dieser sich in anderen Regionen noch weiter fortsetzen sollte: aus Murers Perspektive eine persönliche Aufarbeitung der schrecklichen Ereignisse, die er wenige Jahre nach deren gewaltsamen Ende für die Nachwelt auf diese Art festhalten wollte - nicht als gelehrte lateinische Chronik zur Erbauung seines Konvents, sondern als bildmächtige, eingängige Erzählung der ungeheuerlichen Vorgänge, als Rechtfertigung und zur Selbstvergewisserung für ihn und seine Brüder, zur Mahnung und Erinnerung für die weiteren Betrachter, die das Kloster besuchten - in seiner Bildsprache durchaus darauf angelegt, auch die bäuerlichen Untertanen zu erreichen. Eingebettet in die mediale Welt des Weißenauer Abtes fokussiert dieses besonders kunstfertige Werk ganz den ›Abt im Konflikt‹ des Bauernkriegs und lässt gleichzeitig den inneren Konflikt Murers im Umgang mit seinen aufständischen Bauern erkennen. Betrachten wir nun diesen inneren Konflikt auch für die nächsten Jahre noch etwas genauer. 5. Jacob Murer und die Folgen des Bauernkriegs Freilich war die Unruhe im Land mit den vereinzelten Huldigungen der Bauern auf den Weingartner Vertrag nicht zu Ende. 48 Jacob Murer selbst hält in seinem bereits angesprochenen ›Gedenckbuch‹ die weiteren Vorgänge fest, jetzt aber als tagebuchartig geführte chronikalische Einträge - ohne Bilder, gleichsam spontan dahinfließend. 49 Er beobachtet, wie die Bauern im Mai das Kloster Langnau bei Tettnang 45 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 22. 46 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 34. 47 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 22. 48 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 25. 49 HStA Stuttgart, B 523 Bd. 6, ab Bl. 20. <?page no="380"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 379 plündern und wiederum nach Weißenau ziehen wollen. Er beschreibt die anschließende Versammlung der weltlichen und geistlichen Herren des Bundes in Ravensburg zum weiteren gemeinsamen Vorgehen und wie er seine Eigenleute dabei einsetzen sollte. 50 Doch fanden alle Orte Ausflüchte, um nicht für ihn in den Krieg gegen die anderen Bauern ziehen zu müssen; sie fügten sich erst dem Druck Erzherzog Ferdinands und der österreichischen Landvogtei. Die erneute Plünderung und Besetzung des Klosters Weißenau konnte abgewendet werden, die von der Landvogtei für ihre Untertanen verlangte Reissteuer wurde aber eingefordert. Die lange Steuerliste zeigt, dass die Klosterleute bis auf wenige Ausnahmen so arm waren, dass sie kaum etwas zur Steuer geben konnten. Einer der wenigen ›Reichen‹ war Stefan Rahl auf dem zuvor verbrannten Rahlenhof. 51 Damit waren die unmittelbaren Bedrohungen des Klosters erledigt, und auch die weiteren Bemerkungen von Abt Murer zum Bauernkrieg sollten sich nun auf wenige Reminiszenzen beschränken. Murer rechnet jetzt ab: Zunächst die profanen Kosten, die er für den Aufenthalt seines Konvents in Ravensburg zu entrichten hatte, 52 vor allem in Form von Weingeschenken für Gastfreundschaft und Unterstützung, auch an die Truppenführer des Schwäbischen Bundes, besonders den Bauernjörg. Nach den bereits eingangs geschilderten Unwetterkatastrophen war die Not bei den Bauern so groß, dass sie ihm wiederum keine Abgaben leisten konnten und Murer abermals Schulden auch für sie aufnehmen musste. 53 Doch, so betont er in seinem Traditionsbuch: Neid und Unruhe der Bauern hatten sich noch nicht gelegt, und seine Fluchtmöglichkeit nach Ravensburg wollte er unbedingt offenhalten - Murer lebt weiter in Angst. Ein Hass wie nie zuvor auf die gesamte Geistlichkeit war zu spüren, wie er selbst damals in Ulm erfährt: Als er dort mit dem Abt von Schussenried an einer Schmiede vorbeikommt, stimmen gleich drei Männer mit lauter Stimme das bekannte Lied an, über den schwarzen münch der uber die mur usfiel. 54 Dieses schön liedt von dem Bruder Conradt, wie er nymmer in dem Kloster hat wöllen bleiben, verspottet die Mönche und drängt sie, über die Klostermauer ›auszusteigen‹ (Abb. 6). Murer und sein Abtsbruder kamen hier noch einmal davon. Trotz solcher persönlichen Anfeindungen hielt Jacob Murer selbstverständlich am alten Glauben und seinem Gelübde fest. Er schloss auch auf die von seinen 50 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 37; P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 202-204. 51 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 25. 52 Vgl. ZAM 41, dazu G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 43. 53 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 44. 54 G. F RANZ (Hg.), Weißenauer Chronik (Anm. 3), S. 44. Ein Flugblatt mit dem Lied von Bruder Conrad findet sich als Nürnberger Druck von 1562 unter der Signatur Yd 9802 in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin (VD 16 S 3558). <?page no="381"?> P ET ER R ÜC KER T 380 Untertanen vorgelegten Beschwerden keine neuen Verträge mit ihnen, 55 wiewohl die Bauern ihre Abgaben und ihren Gehorsam zum Teil weiterhin verweigerten. 56 Das ›Gift der Reformation‹ war gerade in Ummendorf zu spüren, und auch die benachbarten Reichsstädte verfielen nacheinander der ›lutherischen Häresie‹. 57 Ja, aus Murers eigenem Weißenauer Konvent waren schon viele Brüder geflohen und hatten geheiratet. »Es hätte um die Klöster wohl nicht schlechter stehen können«, resümiert er resigniert. Die letzten Jahre des Abtes sind von Resignation gezeichnet: Er beklagt diese ellende zit und große Armut, gerade bei seinen Bauern. 58 Die buren wärend so arm, das si mier nunt geben kundend, wie fil si demm gotzhus schuldig wärend, ich welt dann die buren von wib und kind vertreibenn und ier säch nemmen. Er hat sogar Angst, dass die Bauern Frau und Kinder zurücklassen und diese ins Kloster schickten: gond in das closter, da muos man uch ze essend geben. Allso was es ain zit! 55 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 203. 56 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 203. 57 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 204. 58 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 206. Abb. 6: Das Lied vom Bruder Konrad, Nürnberg 1562. <?page no="382"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 381 Murer leidet mit seinen Bauern. Sein Geist lebt im alten Glauben, in der Tradition von Kirche und Herrschaft, für ihn war der Aufstand der Bauern keine gerechte Sache und ihre Bestrafung eigentlich notwendig. Aber er hatte Einsicht in ihre Not, er kam ihnen entgegen, wo er konnte, wenn er sich auch nicht mehr auf rechtliche Vereinbarungen einlassen wollte. Die Bauern waren ihm gegenüber wortbrüchig geworden, sie hatten ›Brief und Siegel‹ gebrochen, sie konnten ihm keine verlässlichen Vertragspartner mehr sein. Murers Vertrauen in seine Bauern war verloren, mehr noch: Er hatte Angst vor ihnen. Jacob Murer und sein innerer Konflikt im Umgang mit seinen Untertanen, ausgelöst durch das verlorene Vertrauen in deren Loyalität, kann beispielhaft für ein traditionelles Herrschaftsverständnis stehen, das durch den Aufstand der Bauern essentiell in Frage gestellt wurde. 6. Epilog Jacob Murer bleibt die Kunst der Schrift und der Bilder, die er stets zum Lob Gottes, seines Ordens und seines Klosters eingesetzt wissen wollte. Dabei tritt nochmals seine eigene Persönlichkeit mit ihrer Familientradition in den Vordergrund, wie bereits mit seinem Amtswappen und Konterfei verschiedentlich gezeigt. In diesen letzten Jahren verstärkt er seine persönlichen Anstrengungen in der Vermittlung seiner geistlichen Botschaften auf hohem künstlerischen Niveau: Er lässt seinen Traditionscodex 59 mit einem großartigen Bilderzyklus zur Gründungsgeschichte des Klosters und zur Vita des hl. Norbert ausstatten. 60 Er lässt eine Medaille mit seinem Porträt fertigen (Abb. 7), er gibt die Weißenauer Äbtetafel in Auftrag. 61 59 ZAM 41. 60 R. S TAHLHEBER , Norbert-Zyklus (Anm. 1). 61 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 206. Abb. 7: Medaille auf Abt Jacob Murer, um 1530. <?page no="383"?> P ET ER R ÜC KER T 382 Daneben stiftet Murer eine großartige Altartafel mit der Kreuzigung Christi, wohl für die St.-Jodokus-Kapelle in Ravensburg. 62 Sie zeigt den Abt als Stifter unter dem Kreuz. Seine Demutsgeste gilt aber deutlich der Mutter Gottes, gestützt auf Johannes den Evangelisten, der auch sein Barett hält (Abb. 8). Doch das außergewöhnlichste Zeugnis von Murers preziösem Umgang mit Text und Bild bietet sein ›Ummendorfer Kopialbuch‹, das er 1532 von seinem Schreiber Andreas Rietmann anlegen lässt, 63 wegen der entstandenen Streitigkeiten mit den Ummendorfer Bauern, wie es hier heißt. 64 Murers Hand findet sich in zahlreichen Randbemerkungen und Nachträgen zum Text immer wieder, aber in einzigartiger Weise in den zusätzlich eingeklebten Zeichnungen - lavierte Federzeichnungen von höchster Qualität, die diesem ›Ummendorfer Kopialbuch‹ eine herausragende kunsthistorische Bedeutung beimessen lassen. 65 Diese Zeichnungen stammen offensichtlich aus der Privatsammlung des Abtes, die er zum Teil wohl schon aus dem Kunstbestand von Vater und Bruder übernommen hatte. Jetzt lässt er damit sein letztes Werk ausschmücken, mit geistlichen Szenen ebenso wie mit frühen Naturstudien - eine beeindruckende Botschaft und ein Signal seiner Verbundenheit mit Schrift und Bild, mit Kloster und Konvent, mit Gott und der Welt (Abb. 9). In dieser Hingabe seiner gepflegten Bildersammlung können wir auch die intensive Beschäftigung mit Tod und Ende erkennen, die Murer damals selbst vorbereiten lässt: Man solle ihn, wie seine Vorgänger, vor dem Hochaltar der Marienkapelle begraben mit der Grabinschrift: Hic iacet sepultus venerabilis pater et dominus, dominus Jacobus Murer ex Constantia, abbas ab anno sui electionis 1523 suique obitus 15 … Hanc sibi elegit requiem cum patribus suis. - »Hier liegt begraben der ehrwürdige Vater und Herr, Herr Jacob Murer aus Konstanz, Abt vom Jahr seiner Wahl 1523 (bis zum Jahr) seines Todes 15 … Er hat sich diese Ruhestätte bei seinen Vätern erwählt«. Der Tod erreichte Jacob Murer bald darauf am 9. Juni 1533 nach zehnjährigem Abbatiat mit 65 Jahren. Seine letzte Ruhe fand er am gewünschten Ort bei seinen Weißenauer Vätern. Der Aufstand der Bauern war der große Konflikt seines Lebens; seiner Verarbeitung und persönlichen Vergewisserung verdanken wir diese sensiblen Eindrücke vom Bauernkrieg, die weit über Murers Person und Oberschwaben hinaus Bedeutung haben und Erinnerung verdienen. 62 Vgl. P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 216. 63 HStA Stuttgart, H 14 Bd. 287. 64 P. E ITEL , Jacob Murer (Anm. 4), S. 209. 65 D. H ESS / T H . E SER (Hg.), Der frühe Dürer (Anm. 7); vgl. dazu auch P. R ÜCKERT (Bearb.), Freiheit - Wahrheit - Evangelium (Anm. 21), Katalogband, S. 48-50 (I RIS B RAHMS ), sowie P ETER R ÜCKERT , Angst vor dem Teufel? Die Versuchung Christi aus dem Ummendorfer Kopialbuch Jacob Murers, in: Archivnachrichten 63 (September 2021), S. 14f. <?page no="384"?> J A CO B M UR ER UND DA S P RÄMON S TR AT EN S ER S TI FT W EIS S ENA U 383 Abb. 8: Altartafel mit Jacob Murer als Stifter, um 1530. <?page no="385"?> P ET ER R ÜC KER T 384 Abb. 9: Die Versuchung Christi. Zeichnung im Ummendorfer Kopialbuch von Jacob Murer, [vor 1532]. <?page no="386"?> 385 G ERHARD I MMLER Der Memminger Vertrag von 1526. Ein Meilenstein auf dem Weg zu einer kooperativen Agrarverfassung im Fürststift Kempten Zwischen dem Fürststift Kempten und seinen Untertanen hatten schon im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts Konflikte geschwelt, die 1491/ 92 zu offenem Widerstand führten; im Großen Bauernkrieg gehörte das Kemptener Stiftsland zu den Gebieten, in denen die Erhebung des ›gemeinen Mannes‹ mit am frühesten begann und sich in besonders gewaltsamen Formen ausprägte. 1 Nach der militärischen Niederwerfung der Erhebung vermittelten Räte des Schwäbischen Bundes den Memminger Vertrag vom 20. Januar 1526; Peter Blickle hat ihn als die »Verfassung« des Fürststifts Kempten bis zu dessen Untergang 1802/ 03 gewürdigt, 2 näherhin qualifiziert als einen Agrarverfassungsvertrag, der in allgemein verfassungsrechtliche Kategorien hinein ausgreift. 3 In spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Agrarverfassungsverträgen geht es immer wieder darum, wie natürliche Ressourcen, aber auch der Ertrag bäuerlicher Arbeit zwischen Grundherren oder, allgemeiner gesprochen, Inhabern herrschaftlicher Positionen und ihren Untertanen aufgeteilt werden sollen. Da im Memminger Vertrag - anders als in den Zwölf Artikeln - keine klassischen Ressourcenkonflikte erwähnt werden, soll im Folgenden der Begriff Ressourcen weiter gefasst werden. Im Sinne der Unterscheidung Peter Blickles zwischen ›älterer Grundherrschaft‹ (hochmittelalterliche Villikationsverfassung) und der sich im Spätmittelalter herausbildenden und in der Frühneuzeit voll entwickelten ›neueren Grundherrschaft‹ wird 1 Zum Verlauf des Bauernkriegs im Allgäu noch immer am besten: F RANZ L UDWIG B AU - MANN , Geschichte des Allgäus, Bd. III: Die neuere Zeit (1517-1802), Kempten 1895 (ND Aalen 1973), S. 7-151. 2 P ETER B LICKLE , Persönliche Freiheit und politische Macht. Der Herrschaftsvertrag zwischen den Untertanen und dem Abt des Stifts Kempten von 1526 als Verfassung, in: W OLF - GANG J AHN u. a., Bürgerfleiß und Fürstenglanz. Reichsstadt und Fürstabtei Kempten (Veröff. zur Bayerischen Geschichte und Kultur 38/ 39), Augsburg 1998, S. 17-30. 3 »… daß der Agrarverfassungsvertrag weit in die allgemeine Verfassungsebene hineinreicht und in engster Beziehung zur Territorialstaatsverfassung steht, so daß es auch vom Inhalt her nicht ganz unberechtigt sein dürfte, ihn in die Nähe des Herrschaftsvertrags zu rücken.« P ETER B LICKLE , Grundherrschaft und Agrarverfassungsvertrag, in: D ERS ., Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes, Berlin-Boston 1989, S. 241-261, hier 254. <?page no="387"?> G ERHA RD I MMLE R 386 Verfügung über Ressourcen hier vor allem als die prinzipielle Verfügungsgewalt des gemeinen Mannes über das von ihm bebaute Land einschließlich des Erbrechts interpretiert, 4 wobei diese im Laufe der Frühen Neuzeit allmählich eine Erweiterung erfuhr. Dies wird dann, um den regionalen Bezug auf das Fürststift Kempten hervorzuheben, in Beziehung gesetzt zur regionalen Wirtschaftsweise. Dabei wird auch Bezug zu nehmen sein auf einen agrarökonomischen und rechtlichen Vorgang, der für die Siedlungsstruktur im mittleren, südlichen und westlichen Teil des Allgäus bis heute prägend wirkt: die Vereinödung als frühe Form der Flurbereinigung samt einer Aufteilung der Allmende und der Beseitigung von Flurzwang und Weidedienstbarkeiten. 5 Zwar weitete sie sich seit dem frühen 18. Jahrhundert über weite Teile des Ober- und Westallgäus sowie angrenzende Gebiete Oberschwabens aus, doch stellte sie lange Zeit ein sehr spezifisches Phänomen des Kempter Stiftslandes dar. 6 Ihr Beginn, der in der Literatur traditionell in der Zeit um 1550 angenommen wird, 7 ist allerdings auf 1449 und damit Jahrzehnte vor dem Großen Bauernkrieg anzusetzen. 8 Nicht mehr haltbar ist es daher, den Beginn der Vereinödungsbewegung unter anderem als durch die Not der bäuerlichen Untertanen nach dem Bauernkrieg verursacht anzusehen. 9 Vielmehr muss man sich die Frage stellen, ob es nicht ein gemeinsames Motiv gab, das die Bauern des Klosters Kempten veranlasste, sowohl ihre Fluren zu vereinöden wie auch im und unmittelbar nach dem Bauernkrieg bestimmte Ziele hinsichtlich der Nutzungsrechte an ihren Höfen anzustreben. Klassische Ressourcenkonflikte um die Nutzung von Wald und Weide sowie um das Jagd- und Fischrecht scheinen im Fürststift Kempten sowohl für den Ausbruch der Empörung der Untertanen wie bei der Konfliktbeilegung nach dem Ende des Bauernkriegs nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Es sind lediglich zwei Verträge über Wald- und Weidenutzung aus dem Jahr 1526 nachzuweisen, die 4 P. B LICKLE , Grundherrschaft (Anm. 3), S. 242, 259f. 5 Zum Inhalt der Vereinödung vgl. P ETER N OVOTNY , Vereinödung im Allgäu und in den angrenzenden Gebieten, Kempten 1984, S. 10, 13. 6 Zu ihrer geographischen Verbreitung vgl. die Liste bei P. N OVOTNY , Vereinödung (Anm. 5), S. 145-164. Die Vereinödung von Kenners bei Gestratz im damals vorarlbergischen Teil des Westallgäus ist der einzige Fall außerhalb des Kemptener Stiftslandes vor 1700, den Novotny namhaft machen kann. 7 P. N OVOTNY , Vereinödung (Anm. 5), S. 38f., 46, 145. Vgl. auch H ANS B ERGMEIER , »Wie sie Einödinen gemachet«. Vereinödung im Kemptener Raum - ein Beitrag zur Geschichte der ländlichen Neuordnung durch Flurbereinigung (Berichte aus der Flurbereinigung 56), München 1986, S. 23, der von einem Beginn »um 1560« ausgeht. 8 G ERHARD I MMLER , Die Vereinödung im Fürststift Kempten als Ergebnis des Zusammenwirkens von Obrigkeit und Untertanen, in: »Mehr als 1000 Jahre …«. Das Stift Kemoten zwischen Gründung und Auflassung 752 bis 1802, hg. von B IRGIT K ATA u. a. (Allgäuer Forschungen zur Archäologie und Geschichte 1), Friedberg 2006, S. 219-235, hier 219. 9 P. N OVOTNY , Vereinödung (Anm. 5), S. 38. <?page no="388"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 387 die stiftische Herrschaft in einem Fall mit zwei Untertanen, im anderen mit den Gemeinden Buchenberg und Eschachried (Gde. Buchenberg) geschlossen hat. 10 In beiden Fällen lagen spezielle Verhältnisse vor, die sich aus den geographischen Gegebenheiten, nämlich Höhenlagen über 900 m mit ausgedehnten Wald- und Moosflächen, sowie aus Viehwirtschaft als vorrangiger Art der Landnutzung ergaben. 11 Weitere Verträge über die Nutzung natürlicher Ressourcen sind im Archiv des Fürststifts Kempten bis zum Jahr 1531, in dem es zur endgültigen Streitbeilegung kam, nicht nachzuweisen. 1. Der Memminger Vertrag Mit der Niederlage der Allgäuer Bauern beim Treffen an der Leubas am 14./ 15. Juli 1525 12 waren die der heißen Phase des Aufstands vorangegangenen Bemühungen des Schwäbischen Bundes um einen Ausgleich zwischen dem Fürststift Kempten und seinen Untertanen keineswegs zu Ende. Dem Bund war vielmehr daran gelegen, wenigstens durch die Beseitigung einer übermäßigen oder gar willkürlichen Ausbeutung der Untertanen und eine Fixierung der Lasten weiteren Aufständen in der Zukunft vorzubeugen. Daraus resultierten Verhandlungen zwischen Fürstabt Sebastian von Breitenstein und Bevollmächtigten der Bauern unter Vermittlung von Räten des Schwäbischen Bundes vom 18. bis 20. September in Memmingen, am 11. November in Nördlingen und am 8. bis 19. Januar 1526 erneut in Memmingen. 13 Der Memminger Vertrag vom 19. Januar 1526 war zunächst einmal, dies gilt es festzuhalten, ein Übereinkommen, das zwischen dem Stift und der Mehrzahl seiner Untertanen als individuellen Vertragspartnern geschlossen wurde. Darauf weist sowohl der Umstand, dass das Stift sich schon vorher ohne Beteiligung des Schwäbischen Bundes mit seinen Untertanen in der Pfarrei Martinszell sowie einem Teil der 10 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 2360 (1526 Aug. 7), 2361 (1526 Aug. 13). 11 Beide Fälle betrafen das Gebiet der Pfarrgemeinden Buchenberg und Rechtis (Gde. Weitnau) im Südwesten des Stiftslandes, schwelten schon seit der Zeit des Fürstabts Johann von Wernau (reg. 1460-1481) und wurden 1526 schließlich im Wesentlichen zugunsten der Bauern beigelegt; vgl. G ERHARD I MMLER , Geschichte des Ortes Buchenberg, in: Pfarrei und Pfarrkirche St. Magnus in Buchenberg. Beiträge über Geschichte, Kunst, kirchliches Leben, Buchenberg 1994, S. 9-12, hier 11. 12 Vgl. dazu F. L. B AUMANN , Geschichte des Allgäus (Anm. 1), S. 124-128. Um eine eigentliche Schlacht handelte es sich nicht, denn am 14. Juli wich das Heer des Schwäbischen Bundes einem Angriff der Bauern zunächst aus; am 15. flohen die Bauern aus ihrer Defensivstellung, nachdem ihnen durch das heftige gegenseitige Feuer der Artillerie das Pulver ausgegangen war. 13 F. L. B AUMANN , Geschichte des Allgäus (Anm. 1), S. 142-144, 147-150. Dort auch knapp zusammengefasst die Bestimmungen des Vertrags. <?page no="389"?> G ERHA RD I MMLE R 388 Hintersassen in der Pfarrei Buchenberg am 25. Oktober 1525 auf den Martinszeller Vertrag geeinigt hatte, 14 wie auch insbesondere der Wortlaut der Vertragsurkunde selbst: Dass es sich um ein Dokument handelt, das man als ›multiple Individualvereinbarung‹ bezeichnen könnte, belegt ganz klar seine Formulierung, indem der von 1.604 Untertanen am 3. Januar 1526 ausgestellte Gewaltbrief für deren Bevollmächtigte (Konrad Maier zu Götzen, Ulrich Holdenried zum Wieserichs, beide Pfarrei Betzigau, Hans Funk zu Buchenberg, Peter Stöckh zu Waldeck in der Pfarrei Wiggensbach, Hanns Stockhman zu Anzenried, Pfarrei St. Lorenz, Matthäus Mergkh zu Unterthingau und Hans Herz zu Obergünzburg) eingangs inseriert ist. 15 Diese Charakteristika entsprechen den damaligen staatsrechtlichen Verhältnissen im Allgäu, wo sich ein personenverbandsrechtliches Verständnis von Herrschaft im Spätmittelalter zu einem regionalen Sonderrecht verdichtet hatte, das die Ausbildung geschlossener Territorien erschwerte und verzögerte. 16 Der wesentliche Inhalt der einzelnen Artikel des Memminger Vertrags ist der folgende: Art. 1: Der Bund, den die Untertanen im Vorfeld der bewaffneten Erhebung geschlossen haben, wird aufgehoben. Künftig dürfen sie keinen solchen Bund mehr schließen. Diese Bestimmung, die dem Stift, aber wohl auch dem Schwäbischen 14 F. L. B AUMANN , Geschichte des Allgäus (Anm. 1), S. 144-146. Ihre Vollmacht für die Vertreter der Bauern beim Nördlinger Tag zogen daher 13 Untertanen in der Pfarrei Buchenberg sowie zu Schwaighausen (Pfarrei Kempten-St. Lorenz) ausdrücklich zurück (StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 2310) - auch dies ein Beleg für ein auf dem Individualwillen beruhendes Konsortium zum Zweck gemeinsamer Verhandlungen, nicht aber für eine institutionalisierte Landschaft. Ob jene Buchenberger Bauern zu ihrem Ausscheren aus der Solidargemeinschaft dadurch bewogen wurden, dass sie sich dafür ein Entgegenkommen der Herrschaft bezüglich des oben erwähnten Konflikts um Waldweiderechte erhofften oder ihnen dies gar in Aussicht gestellt worden war, muss dahingestellt bleiben. Motive für die besonders kompromissbereite Haltung der Martinszeller sind nicht zu erkennen. 15 Der Memminger Vertrag ist in mehreren zeitgenössischen Exemplaren überliefert: StA Augsburg, Altkemptische Landschaft, Urk. 3: Ausfertigung für die Untertanen; ebd., Fürststift Kempten Archiv Urk. 2820/ 2: zeitgenössische beglaubigte Kopie für das Fürststift; und 2820/ 3: zwei Exemplare der Unterhändlerurkunden mit deren Siegeln und Unterschriften, aber ohne den inserierten Gewaltbrief, dazu unter derselben Nr. eine Abschrift des 18. Jh. Eine weitere Kopie des ganzen Vertrags, beglaubigt von der Kanzlei der Reichsstadt Kempten am 1. September 1666, findet sich unter StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 2340/ 4. Weshalb die Original-Ausfertigung für das Stift fehlt, muss offenbleiben, möglicherweise ging sie im Dreißigjährigen Krieg verloren. Druck des Vertrags bei: P ETER B LICKLE / R ENATE B LICKLE (Bearb.), Schwaben von 1268 bis 1803 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern; Abt. II: Franken und Schwaben vom Frühmittelalter bis 1800 4), München 1979, Nr. 81, S. 292-304. 16 R UDOLF W IEDEMANN , Der «Allgäuische Gebrauch» einer Gerichtsbarkeit nach Personalitätsprinzip (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 11), München 1932. <?page no="390"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 389 Bund als Vermittler so wichtig war, dass sie an die Spitze aller Artikel gerückt wurde, ist grundlegend. Somit ist es nicht richtig, den Memminger Vertrag, ohne damit seine zentrale Bedeutung als Agrarverfassungsvertrag mindern zu wollen, als den Beginn einer institutionalisierten Landschaft im Fürststift Kempten anzusehen. 17 Gerade die Anerkennung einer Einung der Landsassen steht nämlich üblicherweise am Beginn der Entwicklung einer landständischen Verfassung, wie das Beispiel der Schneitbacher Urkunde von 1302 im Herzogtum Oberbayern zeigt. 18 Das aber gewährte der Memminger Vertrag den kemptischen Stiftsuntertanen ausdrücklich nicht. Art. 2: Die Untertanen verpflichten sich zur Bezahlung aller während des Aufstands schuldig gebliebenen Steuern, Gülten, Todfälle, Hauptrechte, Ehrschätze, Lehengelder und Dienste. Bemerkenswert ist hier schon, dass die Steuern an erster Stelle stehen, wie auch, dass im ganzen folgenden Vertragstext typische grund- und lehenherrliche Abgaben wie Gülten, Ehrschätze und Lehengelder - von der Beschränkung der bei darauf bezüglichen Beurkundungen anfallenden Kanzleitaxe (Art. 8) sowie dem Recht auf ein unparteiisches Messverfahren bei der Gültlieferung (Art. 12) abgesehen - offenbar keinerlei Regelungsbedarf auslösten, also nicht strittig waren. Dem somit gesetzten Schwerpunkt gemäß befassen sich die beiden folgenden Artikel ausschließlich mit dem Steuerwesen. Art. 3 besagt: Zur Beseitigung bisher bestehender ungleichait bei der Anlegung der Steuer durch die Amt- und Hauptleute soll künftig jeder Untertan selbst sein liegendes und fahrendes Vermögen alle drei Jahre eidlich angeben und von jeweils hundert Pfund Heller zehn Schilling Heller bezahlen und von Teilbeträgen von hundert Pfund den entsprechenden Bruchteil. Festgesetzt wurde also eine rein proportionale 17 Hierdurch unterscheidet sich der Memminger Vertrag grundlegend z. B. von der Schneitbacher Urkunde von 1302, in der die Herzöge von Oberbayern ihren adeligen Landsassen das Recht einräumten, eine Einung zu bilden, um herzoglichen Steuerforderungen ohne Bewilligung durch den Landesadel Widerstand zu leisten; vgl. dazu K ARL -L UDWIG A Y , Altbayern von 1180 bis 1550 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, Abt. I: Altbayern vom Frühmittelalter bis 1800 2), München 1977, Nr. 400, S. 498f. Wenn P ETER B LICKLE , Die Landstandschaft der Kemptener Bauern, in: ZBLG 50 (1967), S. 203- 241, hier 238, das Entstehen der stift-kemptischen Landschaft in das 15./ 16. Jahrhundert ansetzt, so ist das also eine allzu frühe Datierung. Richtig ist dagegen, wenn er (S. 237) den Memminger Vertrag die »Magna Charta der stift-kemptischen Landschaft« nennt: Wie die Magna Charta von 1215 eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung des englischen Parlamentarismus war, legte der Memminger Vertrag unentbehrliche Grundlagen für die Entstehung der stift-kemptischen Landschaft, aber er schuf sie noch nicht. Blickle selbst hat implizit seine zu weit gehende Interpretation von 1967 später relativiert und auf das rechte Maß zurückgeführt; vgl. P. B LICKLE , Persönliche Freiheit und politische Macht (Anm. 2), S. 18f., 28. 18 Zur Schneitbacher Urkunde vgl. Anm. 17. <?page no="391"?> G ERHA RD I MMLE R 390 Steuerberechnung, die ein halbes Prozent des Vermögens ausmachte. Die Einziehung der Steuer soll auf Kosten des Stifts durch dessen Amtsleute geschehen, doch ist es den Untertanen jeder Pfarrei freigestellt, auf ihre Kosten jemanden dazu abzuordnen. 19 Gilt Art. 3 für die landesherrliche Steuer, so regelt Art. 4 die Aufbringung von Steuern, die dem Stift von höheren Instanzen auferlegt werden: Wenn dem Reich oder dem Schwäbischen Bund Kriegssteuern zu bezahlen oder Soldaten zu stellen sind, soll der Fürstabt dies durch die Hauptleute den Untertanen anzeigen. Diese müssen dann drei Viertel davon als Reissteuer aufbringen, das Stift ein Viertel. Dies bedeutete, dass auch Abt und Konvent aus klösterlichen Eigenbetrieben sowie aus den Erträgen der Grundherrschaft zu den Reichslasten beitragen mussten. Den Untertanen wird auch hier erlaubt, auf ihre Kosten zur Einziehung der Reissteuer einen Beobachter zu verordnen, wobei, auch wenn dies nicht ausdrücklich so festgehalten ist, in diesem Falle wohl ebenso jede Pfarrei für ihren Sprengel dazu berechtigt sein sollte. Die zum Unterhalt des Reichskammergerichts dienenden ›Kammerzieler‹ sowie Bundesbeiträge außerhalb von Kriegsfällen gehen ganz zu Lasten des Stifts. Zur Heimatverteidigung darf das Stift die Untertanen aufbieten, muss aber den Wehrmännern pro Monat zwei Gulden geben; das entsprach der Hälfte des damals üblichen Monatssolds eines Landsknechts. 20 Ein weiterer Schwerpunkt der Beschwerden der Bauern war, wie schon die Beschwerdeartikel 21 zeigen, die noch vor Ausbruch der gewaltsamen Erhebung für die Obergünzburger Ausgleichsverhandlungen vom 9. bis 14. Januar 1525 verfasst worden waren, die Leibeigenschaft. Insbesondere die erzwungenen Standesminderungen der Zinser und der daran haftende Todfall, dem gleich drei Artikel des Memminger Vertrags gewidmet sind, hatte für viel Unmut gesorgt. Nach Art. 5 müssen Eigenleute des Stifts diesem den Todfall reichen. Wer bis zu hundert Pfund Heller Vermögen hat, muss einen halben Gulden, wer mehr besitzt, einen Gulden bezahlen. Damit sollen alle Ansprüche der Herrschaft auf eine Beteiligung an der Erbschaft eines verstorbenen Leibeigenen abgeschafft sein. Da ein Gulden damals 210 Pfennig, ein Pfund Heller 60 Pfennig waren, entspricht dies bei einem Nachlass, dessen Wert ein wenig über hundert Pfund Heller hinausging, einer Erbschaftssteuer in Höhe von 3,5 % mit degressivem Steuersatz. Auf jeden Fall bedeutete die Regelung eine ganz erhebliche Erleichterung gegenüber der bisher vom Stift beim Tod von Leibeigenen geforderten Halbteilung des Nachlasses. 22 19 Vgl. P. B LICKLE , Persönliche Freiheit und politische Macht (Anm. 2), S. 18. 20 Vgl. P. B LICKLE , Persönliche Freiheit und politische Macht (Anm. 2), S. 19. 21 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 273. 22 Vgl. P. B LICKLE , Persönliche Freiheit und politische Macht (Anm. 2), S. 20. Die dort angegebenen »rund 1,5 Prozent« stellen wohl eine Schätzung des durchschnittlichen Todfallsatzes <?page no="392"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 391 Art. 6 enthält einen nicht ganz leicht aufzulösenden Widerspruch in sich selbst. Zunächst besagt er, dass die Allerheiligen-, St.-Martins- und St.-Nikolaus-Zinser künftig kein Hauptrecht und keinen Gewandfall mehr leisten sollen, sondern den Freizinsern gleichgestellt werden. Aus dem gleich folgenden Artikel ergibt sich jedoch, dass die Freizinser von Hauptrecht und Gewandfall gerade nicht frei waren. Dieser eklatante Widerspruch kann nur mit der Annahme erklärt werden, dass die durch den Memminger Vertrag abgeschafften besonderen Gruppen von Zinsern bezüglich dieser Erbschaftsabgaben bisher schlechter gestellt gewesen waren als die Freizinser, künftig aber wie diese von der Umwandlung der Naturalin eine Geldabgabe profitieren sollten. Nach Art. 7 müssen nämlich alle Eigenleute wie Freizinser als Hauptrecht, d. h. als Erbschaftsabgabe, das beste Stück Vieh geben, dürfen es jedoch zu Geld anschlagen und von dem Anschlag ein Viertel abziehen. Anstelle des Gewandfalls sollen Erben Verstorbener, die bis zu zehn Schilling Steuer bezahlten, ein Pfund Heller abführen; bei einem Steueranschlag über zehn Schilling waren zwei Pfund Heller fällig. Es steht den Erben jedoch frei, das beste Gewand des Verstorbenen in natura zu geben. Das Stift verzichtet auf die Einziehung des Erbes kinderlos verstorbener Eigenleute. Beim Tod von Frauen fällt nur der Gewandfall an. Wer aus Armut kein Vieh hat, gibt ebenfalls nur den Gewandfall, es sei denn er hat anderes bewegliches Vermögen, von dem dann gemäß der Steuerleistung das Hauptrecht zu geben ist. Bemerkenswert war, dass man es für notwendig hielt, detailliert zu regeln, was zu geschehen habe, wenn der Erblasser vor seinem Tod Vieh verpfändet hatte: Dies sollte erlaubt sein, wenn ein Kreditnehmer seinen Gläubigern nichts anderes als Vieh als Sicherheit bieten könne, doch sollte bestraft werden, wer diese Vergünstigung zur Hinterziehung des Hauptrechts missbrauche. Der Grundzug des Memminger Vertrags, die freie Disposition der Untertanen über ihren Besitz zu sichern und zugleich dem Stift stabile willkürfreie Einnahmen in Geld zu gewährleisten, tritt hier klar hervor: Das Verbot der Abgabenhinterziehung durch trickreichen Missbrauch wirtschaftlicher Freiheit ist das notwendige Pendant zur Rechtssicherheit durch Fixierung der bisher oft in willkürlicher Höhe erhobenen Abgaben von Todes wegen. Die restlichen sieben Artikel dienten teilweise nur der zeitlich beschränkten Abwicklung von Folgen des Bauernkriegs, seien aber der Vollständigkeit halber alle kurz aufgeführt. Art. 8: Das Stift verzichtet auf die wegen des Aufstands eingetretene Verwirkung der Lehen. Unterlassene Belehnungsakte aufgrund von Mannfällen sind nachzuholen. Analog gilt für Bestandgüter: Auch wenn einzelne Untertanen bereits aufgefordert worden sind, sie zu räumen, so dürfen die Beständer doch darauf bleiben, in Würdigung der aus den Beschwerdeartikeln von 1525 sich ergebenden Nachlasswerte dar; dazu ebd., S. 25-27. <?page no="393"?> G ERHA RD I MMLE R 392 sofern sie schuldige Zinsen und Naturalabgaben nachzahlen. Das Stift verzichtete also darauf, Lehen aufgrund des Treubruchs durch den Aufstand einzuziehen oder Pachtverträge zu kündigen und machte bereits vorgenommene Kündigungen rückgängig. Eine Dauerregelung war, dass das Siegelgeld für einen Bestandbrief auf zwei Kreuzer festgelegt wird. Art. 9: Die nicht bezahlte Reissteuer (Kriegssteuer) von 1524 ist nachgelassen. Ein bleibender Erfolg der Untertanen war Art. 10: Eigenleute und Zinser des Stifts dürfen untereinander heiraten; Kinder folgen in diesem Falle dem Stand der Mutter. Wenn aber ein Eigenmann oder Zinser des Stifts mit einer Freien oder der Untertanin einer anderen Herrschaft sich vermählen will, soll der Ehemann binnen acht Monaten durch Kauf oder Tausch mit dem bisherigen Leib- oder Zinsherrn seine Frau in den Untertanenverband des Stifts bringen und zwar in den Stand, dem er selbst angehört. Für den darüber auszustellenden Brief sind zwei Kreuzer zu bezahlen. Wer dagegen verstößt, wird bestraft. Auf Dauer förderte diese Regelung die Bildung eines abgeschlossenen Untertanenverbandes, innerhalb dessen Freiheit der Eheschließung bestand. Tendenziell in dieselbe Richtung weist Art. 11: Der Abzug vom Vermögen, das aus der Grafschaft Kempten gezogen wird, beträgt bei Zinsern 10 %, und der Zinser erhält einen Freibrief. Bei Eigenleuten beträgt der Abzug ebenfalls 10 %, doch werden dieselben durch den Wegzug nicht frei, sondern müssen dem Stift weiter jährlich einen Schilling Leibsteuer und ein Fastnachthuhn sowie nach dem Tod Hauptrecht und Gewandfall reichen. Die Freilassung aus der Leibeigenschaft unterliegt freier Vereinbarung, doch soll die Gebühr für den Freibrief nicht mehr als einen Gulden betragen. Zurückgelassene liegende Güter müssen fortziehende Personen an Stiftsuntertanen verkaufen. Auch hier tritt hervor, worauf die Vertragsbestimmung letztlich hinausläuft: auf den Umbau eines differenzierten Systems personenrechtlicher Abhängigkeiten in einen territorialen Untertanenverband. Art. 12 beruht wohl darauf, dass ein bestimmter stiftischer Beamter den Bauern Anlass zur Beschwerde gegeben hatte. Daher sollte künftig die Gült von einem geschworenen Gültmesser gemessen werden, nicht mehr vom Kastenvogt. Art. 13 führt den Inhalt der Art. 10 und 11 weiter: Das Verbot des Verkaufs oder der Verpfändung der Güter von Eigenleuten an andere Personen als Eigenleute des Stifts sowie durch stiftische Zinser nur an Zinser oder Eigenleute wird gelockert: Eigenleute dürfen von nun an liegende Güter auch an Zinser verkaufen. Art. 14 statuiert eine einmalige Schadensersatzregelung: Für die Plünderung des Stifts und seiner Burgen im Bauernkrieg ist eine Entschädigung von 12 Gulden pro Haushalt zu bezahlen. <?page no="394"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 393 Der abschließende Art. 15 bestätigt dem Abt alle oberkheit, freiheit, jurisdiction, hohen und niedern gerichten, legt ihm aber auch auf, alle freie zinser, zinserin, aigenlewt oder untertanen […] durch dhain fängknus in ain andern stand [zu] dringen noch bewegen, sonder ain yeden in und bei dem stand er ist pleiben [zu] lassen. 23 Ungeachtet dieser allgemeinen Verpflichtung auf die beiderseitigen alten Rechte, die vor allem die Zinser gegen deren gewaltsame Verkürzung durch die Herrschaft sichern sollte, bewirkten aber die Bestimmungen der Art. 10, 11 und 13 gerade eine weitgehende Gleichstellung von Freizinsern und Leibeigenen, wobei den letzteren bezüglich der Wahl des Ehepartners und der Freizügigkeit Rechte zugestanden wurden, die bisher nur den Zinsern zugekommen waren. 24 Da nach Abschluss des Memminger Vertrags Zweifelsfälle auftauchten, kam es am 1. Juni 1527 zu einem erneuten Vertragsschluss, der den ersten Vertrag authentisch interpretierte. Bezeichnenderweise betraf der erste und Hauptpunkt wieder die Steuer: Zur steuerbaren Fahrnis sollten Futtervorräte, Obst und Geflügel sowie Vieh, das bis spätestens acht Tage nach St. Martin zum Hausgebrauch geschlachtet wurde, nicht zählen. Ferner wurden bei Gotteshausgütern, d. h. bei den vom Stift an Untertanen auf Lebenszeit verliehenen Gütern, die Zinsen und Gülten vom Gutswert abgezogen. Das bedeutet, dass die Belastung durch grundherrschaftliche Abgaben sich steuermindernd auswirkte. Eine wichtige Folge davon war, dass Abgabensteigerungen anlässlich von Übergaben dieser Güter, wodurch rechtlich ein neues Grundleiheverhältnis begründet wurde, für das Stift weniger attraktiv wurden, weil eine erhöhte Abgabenbelastung automatisch durch eine niedrigere Steuer zugunsten des Grundholden teilweise ausgeglichen wurde. Die übrigen Artikel betreffen wiederum die Höhe von Kanzleitaxen und Bestimmungen über das bei der Gültlieferung anzuwendende Maß. 25 Offenbar sahen die stift-kemptischen Untertanen vor allem hier die Gefahr fortdauernder obrigkeitlicher Willkür, wobei es vielleicht mehr die Beamten und Bediensteten des Stifts als Abt und Konvent waren, denen man auf diesem Gebiet mit einem gehörigen Maß an Misstrauen begegnete. Am Samstag nach Pfingsten 1531 hinterlegten schließlich vier Vertreter der Stiftsuntertanen den Memminger Vertrag samt seiner Erläuterung von 1527, dazu den 1491/ 92 ebenfalls zu Memmingen geschlossenen Vertrag 26 sowie verschiedene auf den Rechtsstreit vor dem Schwäbischen Bund bezügliche Schriften bei der Stadt Kempten und bestimmten, dass die Truhe zu diesen Dokumenten nur geöffnet werden solle, wenn Vertreter der Märkte Obergünzburg, Unterthingau, Buchenberg und Legau dies gemeinsam verlangen würden. In diesen Märkten solle je ein von der 23 P. B LICKLE / R. B LICKLE , Schwaben (Anm. 15), S. 303. 24 P. B LICKLE , Persönliche Freiheit und politische Macht (Anm. 2), S. 20, 25-28. 25 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 283. 26 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 1429; vgl. P. B LICKLE , Landstandschaft (Anm. 17), S. 211. <?page no="395"?> G ERHA RD I MMLE R 394 ganzen Gemeinde erwählter Untertan einen der vier Schlüssel verwahren, wobei er aber nicht Ammann oder Hauptmann sein dürfe. Diese Amtsträger waren nämlich dem Stift verpflichtet. 27 Diesen vier Männern wurde, wenn sie zusammen agierten, das Recht eingeräumt, vom Rat der Reichsstadt ein Vidimus der Dokumente zu erbitten, die Originale aber sollten stets im dortigen Archiv verbleiben. 28 Seitens der vertragsschließenden Untertanen wird hier nun tatsächlich von dem bei Abschluss des Memminger Vertrags noch festgehaltenen Prinzip der gewillkürten Rechtsgemeinschaft von Individuen abgegangen. Kraft Selbstermächtigung handeln die vier Stiftsleute, die vor dem Rat der Reichsstadt Kempten erscheinen und ihr Anliegen vortragen, als Beauftragte der ganzen Untertanenschaft und konstituieren die Urkundentruhe quasi als deren kollektives Eigentum. Mangels eines regulären gemeinsamen Organs, das mit Art. 1 des Memminger Vertrags nicht vereinbar gewesen wäre, mussten sie aber ein solches hilfsweise über die Gemeinden der mit dem Marktrecht begabten Orte des Stiftslandes benennen. Das Kernanliegen des Memminger Vertrags war somit eine Art Tauschgeschäft: Die Untertanen gewannen, wie Blickle dies ausgedrückt hat, »Verläßlichkeit bezüglich der Staatsquote (Feudalrente) der von ihnen erwirtschafteten Vermögen«, das Stift konnte als Gewinn verbuchen, dass die geburtsständischen Unterschiede zwischen den Gruppen seiner Untertanen weitgehend nivelliert und seine obrigkeitlichen Rechte, insbesondere auf Steuerzahlung, Gerichtshoheit und Pflicht zur Landesverteidigung, unzweifelhaft anerkannt wurden. 29 Alle Eigenleute und Zinser mussten fortan gehorsam, gerichtsbar, rayß- und steyrbar, dienstbar und bottmäßig sein, wie Art. 1 des Memminger Vertrags dies formuliert. Dies war nicht nur von Bedeutung gegenüber den Beispielen sich selbst verwaltender bäuerlicher Länder wie den Schweizer Urkantonen oder des so nahen und auf Kosten des St. Galler Klosterstaates entstandenen Landes Appenzell, 30 sondern auch im Hinblick auf noch nicht lange zurückliegende Versuche der Reichsstadt Kempten, durch die Verleihung des Bürgerrechts an stiftische Freizinser, die dennoch als Ausbürger auf dem Lande wohnen blieben, die Landesherrschaft des Stiftes von innen her auszuhöhlen. 31 27 Zwar fehlen für das 16. Jahrhundert Quellen über die Art der Bestellung der Ammänner und Hauptleute, doch ist anzunehmen, dass schon damals die Rechtsverhältnisse so waren wie für die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts belegt (vgl. Anm. 36). 28 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 286. 29 P. B LICKLE , Persönliche Freiheit und politische Macht (Anm. 2), S. 18-20, Zitat 19. 30 Zu dessen Vorbildwirkung im Allgäuer Bauernkrieg vgl. P. B LICKLE , Persönliche Freiheit und politische Macht (Anm. 2), S. 18. 31 G ERHARD I MMLER , Gerichtsbarkeit und Ämterbesetzung in Stadt und Stift Kempten zwischen 1460 und 1525. Eine Auseinandersetzung um Territorialisierung, Landeshoheit und Einflußsphären in Schwaben, in: ZBLG 58 (1995), S. 507-552, hier 538-540. <?page no="396"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 395 2. Die weitere Entwicklung bis zum Ende des 17. Jahrhunderts Aufgrund des hohen Anteils freieigenen oder lediglich beutellehenbaren Grundbesitzes im Kempter Stiftsland spielte die Grundherrschaft für die regelmäßigen Einkünfte der Fürstabtei nur eine untergeordnete Rolle. Die Steuern waren daher das hauptsächliche Mittel der Finanzierung von Staatsaufgaben wie fürstlicher Repräsentation. 32 Aufgrund des Memminger Vertrags war es dem Stift fortan rechtlich verwehrt, in Fällen besonderen Geldbedarfs, von den vom Reich ausgeschriebenen Kriegssteuern abgesehen, die Steuern einfach zu erhöhen. Unter den, vom Schmalkaldischen und Fürstenkrieg nur kurz unterbrochen, im Allgäu friedlichen äußeren Umständen der Jahre 1525 bis 1618 garantierte der Memminger Vertrag für mehr als hundert Jahren den inneren Frieden zwischen dem Stift und seinen Untertanen. Erst in der finanziell angespannten Wiederaufbauphase nach dem Dreißigjährigen Krieg kam es zu neuen Konflikten. Dabei spielten neben den Steuern die Fronen die Hauptrolle, eine Materie, die der Memminger Vertrag gar nicht behandelte, wohl da sie im 16. Jahrhundert keinen wesentlichen Beschwerdeanlass der Stiftuntertanen darstellten. Unter dem seit 1639 amtierenden Fürstabt Roman Giel von Gielsberg erlangte aber das Problem willkürlich erhöhter Fuhrfronen insbesondere bei herrschaftlichen Baumaßnahmen erhebliche Virulenz. 33 Zur 32 Vgl. P ETER B LICKLE , Kempten (HAB, Teil Schwaben 6), München 1968, S. 55-73. Blickle übersieht allerdings, dass neben dem freien bäuerlichen Eigen auch stiftische Beutellehen, die im Mannes- und Frauenstamm erblich waren, eine wesentliche Rolle spielten. Zum Rechtsstatus der sehr zahlreichen Lehen des Fürststifts Kempten in bäuerlicher Hand äußert sich ein anonymes Rechtsgutachten aus der Zeit um 1700 (StA Augsburg, Fürststift Kempten, Lehenhof B 409) folgendermaßen: Vor allem halte ich vor ohngezweifflet, dasß die in dem Allgey so genante bauren-lehen nicht allein dem nammen nach, sondern in der thath rechte lehen seyen. Welches auß dem von denen vasallis dem lehen-hoff abzustatten habenden pflicht clar erhellet, da sye dem lehen-herren getrey zu sein, den nutzen zu förderen, schaden und nachtheill zue warnen und wenden etc. etc. anloben, atqui haec forma est iurisiurandi fidelitatis, quod vasallus domino praestat. Der Verfasser des Gutachtens begründet ferner, es tue der Leheneigenschaft der bäuerlichen und bürgerlichen Lehen keinen Abbruch, dass für diese Lehen keine Kriegsdienste geleistet würden, und dass bei ihnen das bürgerlich-rechtliche und nicht das lehenrechtliche Erbrecht angewandt werde, denn erstens könne an die Stelle der Dienste eine certa pensio treten, wobei er fortfährt: Hoc feuda vocantur ab authoribus censualia et ab emphyteusi in hoc sufficienter differunt, quod emphyteuta non teneatur iuramentum fidelitatis praestare, bene vero vasallus censualis, etiam iuxta consuetudinem Campidonae hucusque observatam. Zweitens gelte die spezielle Lehenerbfolge bei den Lehen ex pacto et providentia [maiorum], bei den Erblehen (feuda haereditaria) aber die zivilrechtliche. Auß diesem biß daher abgehandleten folget, daß unser quaestionirt allgeyische lehen seyen und müßen genennet werden feuda ignobilia censualia haereditaria. 33 P. B LICKLE , Landstandschaft (Anm. 17), S. 221-223; V OLKER L AUBE , Die Basilika St. Lorenz und die Residenz in Kempten: ein Grossbauprojekt des 17. Jahrhunderts in der öffentlichen Auseinandersetzung, in: Histoire des Alpes. Storia delli Alpi. Geschichte der Alpen 7 (2002), S. 67-82, hier 76. <?page no="397"?> G ERHA RD I MMLE R 396 Beilegung der Streitigkeiten griff man, nachdem der Memminger Vertrag im Archiv der Reichsstadt Kempten wiederentdeckt worden war, auf diesen zurück. Neue Verträge von 1667 und 1680 bestätigten ihn und dehnten ihn darüber hinaus auf alle stiftischen Untertanen aus, auch diejenigen, die eigentlich an den etwas weniger günstigen Martinszeller Vertrag gebunden waren. Durch die Übernahme von 50.000 Gulden Schulden des Stifts und die zu deren Tilgung erfolgte Einrichtung einer Landschaftskasse gelang es der Untertanenschaft nun tatsächlich, einen permanenten Landschaftsausschuss und damit eine Landschaft als Institution zu etablieren. Außerdem regelten die Verträge von 1667 und 1680 die Materie der Fronen in der Weise, dass diese durch Geldzahlungen ersetzt wurden, 34 für die sich bezeichnenderweise der Begriff Fronsteuer einbürgerte. Für die bäuerlichen Betriebe war dies sicher weit günstiger, als zu einem für die Arbeiten auf dem eigenen Hof möglicherweise sehr ungelegenen Zeitpunkt zu einer Dienstleistung für die Herrschaft herangezogen zu werden. 3. Die endgültige Fixierung der Landesverfassung im Hauptlandesrezess von 1732 Die Lage von 1666/ 67 wiederholte sich in den 1720er Jahren, als der langjährig regierende Fürstabt Rupert von Bodman versuchte, durch Einführung neuartiger Abgaben und einer kreativen Interpretation der alten Verträge die Einnahmen zu erhöhen. Die Untertanen hatten 1689 die Auflösung des Landschaftsausschusses und seine Ersetzung durch eine 1692 einberufene Versammlung der Ammänner und Hauptleute zunächst hingenommen. 35 Anstelle einer gewählten Repräsentation war damit eine von der Herrschaft selbst bestimmte Notabelnversammlung getreten. 36 34 P. B LICKLE , Landstandschaft (Anm. 17), S. 225. 35 StA Augsburg, Fürststift Kempten Regierung B 40, fol. 54v-63r: Hofratsprotokoll, 1689 März 5 und 9; ebd. B 43, fol. 273v-275v, 1692 Nov. 27. Dass allerdings auch die Herrschaft nicht glaubte, ganz ohne eine Repräsentation der Untertanen auskommen zu können, belegt die Tatsache, dass in einem Eintrag im Hofratsprotokoll vom 2. Mai 1710 vier Gesuchsteller, die sich über eigennütziges Verhalten der Wirte zulasten der Landschaftskasse beim Ersatz der Verpflegungskosten für durchmarschierende Truppen beschwerten (StA Augsburg, Fürststift Kempten, Regierung B 60, fol. 92v), im Index des Protokollbandes als Landtaußschüss bezeichnet werden; drei der Beschwerdeführer waren Ammann bzw. Hauptmann, nicht aber der vierte. Möglicherweise fühlte sich dieser zum Handeln namens der gesamten Untertanenschaft noch aus seiner Wahl vor 1689 legitimiert; jedenfalls nahm der Hofrat an seiner Beteiligung offenbar keinen Anstoß. 36 Die Ammänner und Hauptleute wurden vom Stift aus den Reihen der in der jeweiligen Gemeinde angesehenen Untertanen ernannt; vgl. K LAUS VON A NDRIAN , Der Gemeinde- <?page no="398"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 397 In der Konfliktsituation aber wählten die Untertanen 1721 aus eigener Initiative erneut einen Ausschuss, um unter Berufung auf die alten Verträge beim Reichshofrat Klage einzulegen. Dieser bestätigte am 23. August 1725 die Gültigkeit der bis dahin zwischen dem Stift und seinen Untertanen geschlossenen Verträge. 37 In der Folge kam es unter Vermittlung einer kaiserlichen Kommission zu gütlichen Verhandlungen, wobei hier nur die Verhandlungspunkte interessieren, die direkt auf den Memminger Vertrag zurückgehen, also die Steuern sowie die Frage der persönlichen Freiheit betreffen. Die Landschaft legte diesbezüglich in der Zeit zwischen dem Reichshofratsurteil und dem 3. April 1727 38 einen Vertragsentwurf vor, 39 dem das Stift mit einem Gegenvorschlag 40 antwortete: Die erste Beschwerde betraf den Vorwurf, dass die Steuer seit 1693 nicht mehr eidlich neu veranlagt, sondern nach dem vom Stift ursprünglich zur Erhebung des Weidenschmalzes, einer Naturalabgabe, 41 eingeführten Weidenfuß erhoben werde, vorstand im Stift Kempten in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Teure Heimat. Wochenbeilage zum Lokal-Anzeiger Dietmannsried 10/ 1960, S. 1f.; sowie anhand des Beispiels der Gemeinde Durach: M ARIA A NNA W EIXLER -S CHÜRGER / J OHANN L EITNER (Bearb.), Geschichte der Gemeinde Durach, Kempten 1995, S. 187f. 37 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 302, S. 3; F. L. B AUMANN , Geschichte des Allgäus III (Anm. 1), S. 290f.; P. B LICKLE , Landstandschaft (Anm. 17), S. 225. 38 Terminus ante quem gemäß StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 302, S. 33v. Die frühere Datierung »wohl 1731« in G ERHARD I MMLER (Bearb.), Staatsarchiv Augsburg. Fürststift Kempten Archiv I (Bayerische Archivinventare 51), München 2002, S. 440, ist zu korrigieren. 39 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 302, fol. 2r-25v. 40 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 302, fol. 26r-31r. 41 Zur Rechtsgrundlage und Entwicklung der Weidenschmalzabgabe nimmt ausführlich ein Gutachten des Hofrats an die Hofkammer vom 29. Oktober 1754 Stellung: Am 29. April 1553 habe Fürstabt Wolfgang angeordnet, dass die Untertanen, die übriges Schmalz hätten, dieses bis auf Widerruf gegen Bezahlung beim Hof abliefern sollten. Es handelte sich also zunächst um die Konstituierung eines Vorkaufsrechts unter Berufung auf die landesherrliche Gewalt, zu gebieten und zu verbieten. Das in der Folgezeit mehrmals erlassene Gebot wurde am 20. Mai 1589 dahingehend verschärft, als der Verkauf an andere Orte mit schwerer Strafe bedroht wurde. Erstmals am 9. Mai 1604 wurde der Schmaltzzedel in neuer Form abgefasst. Es hieß nun, jeder Untertan müsse von jeder habenden Rinderwaidt oder Winterfuer ein Pfund Schmalz liefern umb gebürender bezahlung. Am 6. Mai 1623 änderte man den Wortlaut erneut, indem es nunmehr hieß, von einer jeden habenden waydt, sie werden gleich mit rosß oder vich beschlagen. Die Entwicklung zu einer steuerähnlichen Abgabe auf Grundvermögen kann als abgeschlossen angesehen werden, wenn in einem Mandat des Fürstabts Roman vom 13. Mai 1643 befohlen wird, anstelle des üblichen Pfundes pro Weide für dieses Jahr nur ein halbes Pfund, jedoch ohne Bezahlung, zu liefern. Da in den Pflegämtern Hohenthann, Falken, Obergünzburg und Unterthingau ein schwereres Gewicht üblich war, wurde den Untertanen dort die Vergünstigung gewährt, dass gegen Lieferung des ortsüblichen Pfundes das Schmalz am <?page no="399"?> G ERHA RD I MMLE R 398 der erstens überspannt sei und dem zweitens auch die Professionisten und Handwerker und alles Vermögen unterworfen worden sei. Der Forderung, die Eidsteuer wieder einzuführen, wollte die Herrschaft nachkommen, bestand aber auf der Einbeziehung der Freiberufler, Handwerker und ledigen Leute, da dies dem Herkommen entspreche. In letzterem Punkt ging es offenbar um die Schließung einer im Memminger Vertrag zwangsläufig gegebenen Regelungslücke, da 1526 die Reichsstadt Kempten noch das unbestrittene Handels- und Gewerbezentrum für das fast gänzlich agrarisch strukturierte stiftische Umland gewesen war, während seit Mitte des 16. Jahrhunderts die schließlich 1713/ 28 zur Stadt erhobene Ansiedlung rund um das Stift - die ›Stiftsstadt‹ - zu einem erheblichen Teil diese Funktion übernommen hatte. 42 Eine Besteuerung der dort ansässigen Handwerker und Händler zu unterlassen, hätte für das Stift bedeutet, auf den fiskalischen Ertrag seiner erheblichen Investitionen zum Ausbau der Stiftstadt zu verzichten. Sofort akzeptiert haben die stiftischen Unterhändler die auf die Erläuterung des Memminger Vertrags von 1527 gestützte Forderung, Vieh, das bis St. Martin zum Hausgebrauch geschlachtet wurde, steuerfrei zu lassen. Etwas differenzierter fiel die Antwort auf die dritte Beschwerde aus, in der die Untertanen die Wiedereinführung der ihnen vermeintlich zustehenden Steuerermäßigung für auf einem Gut lastende Schulden forderten. Seitens des Stifts gestand man dies gemäß dem Wortlaut des Vertrags von 1527 für Renten und Gülten sofort zu, da es ohnehin so gehandhabt werde. Bei Passivschulden aber müssten gemäß der Landesordnung die Gläubiger die Steuer tragen. Beim zehnten Beschwerdepunkt, der die Erhebung des Weidenschmalzes betraf, wies das Stift zwar die Forderung der Untertanen ab, dieses nur von einer jeden wahrhafften Viehwaydt liefern zu müssen, da es in Art. 7 des Vertrags von 1667 Wayd und nicht Viehwaydt heiße, war aber bereit, Unstimmigkeiten im Weidenfuß zu berichtigen. Die elfte Beschwerde betraf den Vorwurf, dass die aufgrund des Vertrags von 1680 zur Ablösung der Fronen eingeführte Fronsteuer über den festgesetzten Betrag von 9.000 fl. jährlich erhöht worden sei. Dem hielt das Stift entgegen, dass kein Untertan höher belastet worden sei als im Jahr 1680; die Vermehrung der Fronsteuer gehe auf Rodungen im herrschaftlichen Wald und neu erbaute Häuser zurück. Auch in mehreren weiteren Punkten erklärte die Herrschaft, alles abschaffen zu wollen, jeweiligen Pfarrsitz vom Stift abgeholt werde. Als man im 18. Jahrhundert überall im Fürststift das kemptische Gewicht einführte, wurde den Untertanen in den genannten Pflegämtern zugestanden, nur noch nach Kempter Gewicht liefern zu müssen; die Abholung erfolgte damals aber nur noch in den Marktflecken Legau und Obergünzburg; StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 2811. 42 Vgl. W OLFGANG P ETZ , Zweimal Kempten - Geschichte einer Doppelstadt (1694-1836) (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 54), München 1998, S. 25-29, 297-305. <?page no="400"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 399 was nachweislich den alten Verträgen zuwiderlaufe, beanspruchte aber die Befugnis zur Regelung neu entstandener Sachverhalte. Eine stark politische Dimension hatte die 14. Beschwerde: Die Untertanen bemängelten, dass entgegen dem Wortlaut der Verträge von 1526, 1527 und 1667 die Bezeichnung ihrer Vertreter als Ausschüsser und der Begriff Landschaft, der seit zwei Jahrhunderten gebräuchlich sei, in Zweifel gezogen werde. Tatsächlich hatten die aufständischen Bauern 1525 diesen Begriff einmal verwendet, nämlich bei den Verhandlungen in Füssen mit Räten Erzherzog Ferdinands im Mai; wenn ihre Vertreter sich dabei als Bevollmächtigte ›gemeiner Landschaft und beider Haufen von Ober- und Niederallgäu‹ bezeichneten, so sollte dies aber ganz offensichtlich einen regionalen Bezug ohne jede Bindung an eine bestimmte Herrschaft signalisieren. 43 Doch dürfte die in dem Begriff Landschaft mitschwingende Bedeutung, nicht einfach Objekt von Herrschaft, sondern Vertragspartner und Mitträger an den öffentlichen Belangen zu sein, für die Untertanen von hohem Symbolwert gewesen sein. Dass dieser Begriff, der im Memminger Vertrag nicht vorkommt, 44 seit 1667 einen institutionell-staatsrechtlichen Sinn erhalten hatte, setzte aber den schon angesprochenen, durch den Memminger Vertrag wesentlich geförderten Wandel von Staatlichkeit voraus. Die stiftischen Unterhändler wussten offenbar nicht so recht, was sie mit dieser Forderung anfangen sollten, und verhielten sich durch die Erwiderung, ihre Verhandlungspartner sollten diesen Punkt näher erläutern, zunächst dilatorisch. Ebenfalls von hoher symbolischer Bedeutung für die Untertanen war die 15. Beschwerde. Sie richtete sich gegen die pauschale Bezeichnung der Untertanen als ›leibeigen‹ entgegen der Unterscheidung des persönlichen Standes in den alten Verträgen sowie gegen die Multiplikation des Hauptrechts bei solchen Bauern, die mehr als ein Gut innehatten. Gefordert wurde, künftig alle Untertanen als Zinser gelten zu lassen, soweit die Leibeigenschaft nicht in Einzelfällen aus alten Büchern und Registern nachgewiesen werden könne. Eine Stellungnahme zu diesem Punkt vermieden die stiftischen Verhandler zunächst ebenfalls. Ein Vergleichsprojekt vom selben Jahr 45 brachte weitere Annäherungen: Der Weidenfuß solle von beiderseitigen Beauftragten so berichtigt werden, dass die liegenden Güter, Gewerbegerechtigkeiten und Aktivkapitalien, die auf Zins liegen, und auch ledige Leute (offenbar waren damit Kinder der Untertanen ohne eigenen Hausstand gemeint, die z. B. durch Erbschaft von einem verstorbenen Elternteil oder 43 F. L. B AUMANN , Geschichte des Allgäus III (Anm. 1), S. 98f. 44 Auch der Begriff Ausschüsser kommt im Memminger Vertrag nicht vor; die Unterhändler der Bauern werden dort als anwelt und gewalthaber bzw. volmechtige gewalthaber bezeichnet (vgl. P. B LICKLE / R. B LICKLE , Schwaben (Anm. 15), S. 293, 303), was individuelle prozessrechtliche Beauftragung und nicht politische Repräsentation bezeichnet. 45 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 302, fol. 32-53’. Datierung gemäß dem Eintrag auf S. 33’ besage des Reichshoffräthlichen Conclusi vom 3. April dieses 1727ten Jahrs. <?page no="401"?> G ERHA RD I MMLE R 400 von kinderlosen Verwandten bereits eigenes Vermögen besaßen) einbezogen, grundherrliche Abgaben und Passivschulden dagegen abgezogen werden und das Bargeld nicht angesetzt werde; bei den Passivschulden gestand das Stift dies jedoch nur mit den Vorbehalten zu, dass geklärt werde, wie es zu halten sei, wenn der Zins an steuerfreie Stiftungen gehe, und dass Passivschulden an auswärtige Gläubiger nicht abgezogen werden dürften. Nach Rektifikation des Weidenfußes sollten die Untertanen darüber abstimmen, ob sie dabei zu bleiben wünschten oder zur Eidsteuer zurückkehren wollten. Das Weidenschmalz selbst solle nur noch von tatsächlichen Grundweiden gefordert werden. Die Belegung neu erbauter Häuser mit einer Fronsteuer von 45 Kreuzern wollten die Untertanen anerkennen. Dagegen wehrte sich das Stift nicht mehr gegen den Gebrauch der Begriffe Landschaft, Ausschüsser und Deputierte. Hinsichtlich der Personalabgaben von Freizinsern und Leibeigenen wie Leibsteuer, Fastnachtshennen und Todfällen sollte es beim alten Herkommen bleiben, mit einer sehr differenzierten, an die wirtschaftlichen Verhältnisse anknüpfenden Regelung für Inhaber zweier Höfe: Im Prinzip sollten diese das Hauptrecht nur einmal geben müssen, doch habe jemand, der ein ihm gehöriges zweites Gut verpachtet, das Hauptrecht doppelt zu geben, wenn er es mit lebendem Inventar verpachtet. Hat aber der Pächter eigenes Vieh, so hat dieser das Besthaupt zu geben. Um das Jahr 1730 fiel einem stiftischen Beamten auf, dass das Stift seit langem den halben oder ganzen Gulden Todfall nicht mehr beziehe, obwohl es doch möglicherweise gemäß Art. 5 des Memminger Vertrags noch immer das Recht dazu habe. Außerdem fragte er sich, ob man nicht dessen Art. 10 so auslegen könne, dass die Einheirat Auswärtiger bei der Regierung angezeigt werden müsse, ehe die Eheverkündung geschehen dürfe, damit die Einheiratenden mittelß handgelübt alß underthanen aufgenommen werden. 46 Da der Todfall in Geld eine Abgabe war, die nach dem Memminger Vertrag nur die Leibeigenen traf - Zinser hatten nur das Besthaupt bzw. dessen Ablösung in Geld zu geben -, schlägt sich hier das Problem nieder, dass nach den Bevölkerungsverlusten des Dreißigjährigen Kriegs und der anschließenden Einwanderung zahlreicher Neusiedler 47 vor allem aus dem Alpenraum über die Zugehörigkeit zu den alten Geburtsständen keinerlei Klarheit mehr herrschte. Das alte Instrument, um die nachteiligen Folgen der ungenosssamen Ehe für die Herrschaft zu vermeiden, nämlich Art. 10 des Memminger Vertrags, schien daher allenfalls noch als Polizeimaßnahme zur Kontrolle der Zuwanderung brauchbar. 46 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 632. 47 Vgl. W ERNER L ENGGER , Die Einwanderung aus Tirol nach Ostschwaben nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Schwaben. Tirol. Historische Beziehungen zwischen Schwaben und Tirol von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Ausstellung der Stadt Augsburg und des Bezirks Schwaben. Beiträge, Rosenheim 1989, S. 307-314. <?page no="402"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 401 Der Hauptlandesrezess von 1732 wurde weitestgehend auf der Basis des Vergleichsprojekts von 1727 abgeschlossen. Hinsichtlich der jetzt als Cammer-Steur bezeichneten Steuer erhielt er in seinen Art. 1-4 noch allerlei sehr differenzierte Regelungen zur Steuerpflicht bei Darlehensaufnahmen der Untertanen untereinander, bei milden Stiftungen und bei Auswärtigen sowie hinsichtlich der Steuerveranlagung der Warenvorräte und Handelsschulden der Kaufleute, in denen sich die seit 1526 erfolgte Differenzierung der Wirtschaftsstruktur des Stiftslands niederschlug. Drei Jahre lang sollte die Steuer gemäß eidlicher Selbstveranlagung erhoben werden, danach abgestimmt werden, ob es dabei bleiben solle oder der bis dahin zu rektifizierende Weidenfuß zur Anwendung komme. Dieser sollte von Vertretern der Herrschaft und Landschaft unter Zuziehung geschworener Feldmesser so erstellt werden, dass ein Ertrag von 100 fl. aus Grund und Boden samt Vieh als eine Weide gerechnet wurde. Die Landschaft sollte das Recht haben, bei Bedarf eine Neuveranlagung zu verlangen. In Art. 15 wurde aus der längst eingetretenen Herstellung eines einheitlichen Untertanenverbands die rechtliche Konsequenz gezogen: Da der Unterschied von Freizinsern und Eigenleuten sich gänzlich verloren habe, behalte sich das Stift zwar die herkömmlichen Abgaben vor, werde in Freibriefen aber nur noch erwähnen, dass der Betreffende aller dergleichen Rechten, und Gerechtigkeiten, mit welchen ihnen [Fürstabt und Konvent] derselbe mit Leib und Gut zugethan geweßt, in Gnaden entlassen sei. Entgegen dem Entwurf von 1727 sollte immer nur ein Hauptrecht fällig sein, auch wenn jemand mehr als ein Gut besaß. Für die Erben Verstorbener, die kein Vieh ihr Eigen nannten, wurde eine Art Erbschaftsteuer eingeführt, die nach dem Nachlasswert gestaffelt war. 48 In diesem sang- und klanglosen Verzicht auf die an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit dem Stift so wichtige Leibeigenschaft äußerte sich ebenso wie schon in der Anerkennung der Untertanenschaft und ihrer gewählten Vertreter als ›Landschaft‹ die Einsicht, dass im Sinne eines neuzeitlichen Verständnisses von Staatlichkeit es dem Stift nützlich sei, ein Bewusstsein der Landesbewohner von ihrer einheitlichen Unterstellung unter die Landeshoheit des Fürstabts zu fördern. Die 48 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 300, fol. 13r-46v: Unterhändlerurkunde mit Petschaften und Unterschriften von drei Kapitularen, zwei Beamten, drei landschaftlichen Konsulenten, dem Landschaftskassier und 23 Untertanenvertretern, 24. Dez. 1731. Die endgültige Ausfertigung durch Fürstabt Anselm, das Kapitel und Vertreter der Landschaft vom 16. Februar 1732 ist nicht im Original überliefert, sondern in einer zeitgenössischen Abschrift (StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 5810) und als Insert in der kaiserlichen Bestätigung vom 1. Juni 1737 (ebd., Urk. 5836/ I). Nach der letzteren wurde der Rezess bereits 1791 in einem Sammelband der Verfassungsurkunden des Fürststifts gedruckt (ebd., B 306). Moderner Druck: P. B LICKLE / R. B LICKLE , Schwaben (Anm. 15), Nr. 153, S. 485-503, Zitat zu Art. 15 s. dort S. 478. <?page no="403"?> G ERHA RD I MMLE R 402 Anerkennung einer als juristische Person verfassten Untertanenschaft als Vertragspartner und den Verzicht auf marginale fiskalische Vorteile aus einer rechtlichen Schlechterstellung einzelner Hintersassen nahm man dabei in Kauf. Durchaus förderlich für die Identitätsbildung der Stiftsuntertanen als einer Gemeinschaft von Bewohnern eines Staatswesens, die untereinander und mit der Herrschaft unlösbar verbunden waren, dürfte auch die gemäß den Bestimmungen des Hauptlandesrezesses durchgeführte Abstimmung über den Modus der Steuerveranlagung gewesen sein. Dieses bemerkenswerte Beispiel direktdemokratischer Entscheidungsfindung im Ancien Régime erbrachte ein nach dem Vorausgegangenen überraschendes Ergebnis: Mit 3.750 gegen 651 Stimmen entschied sich eine überwältigende Mehrheit für den Weidenfuß als Besteuerungsgrundlage 49 und desavouierte damit die landschaftlichen Unterhändler, die lange am alten Modus der Eidsteuer gehangen hatten. Zugleich stellte dies eine Bestätigung für die Richtigkeit des stiftischen Kurses dar, sich auf Verhandlungen über eine gemeinsam aufzustellende zuverlässige Steuerveranlagung einzulassen. Der Nebenrezess vom 12. April 1737 50 bestätigte das Abstimmungsergebnis vertraglich. In Art. 4 dokumentiert er sogar eine 180°-Grad-Wende der Landschaft: Sie, die anfangs die Steuerfreiheit für Handwerker und Händler gefordert hatte, wollte nun sogar innerhalb der Landesgrenzen befindliches Vermögen auswärtiger Händler der Steuer unterwerfen. Dies lehnte aber die Herrschaft als gegen die alte Observanz verstoßend ab. In Wahrheit standen dahinter vermutlich Befürchtungen wegen Repressalien benachbarter Reichsstände oder wegen einer abschreckenden Wirkung auf die Niederlassung auswärtiger Kaufleute in der Stiftstadt. 51 Eine letzte Ergänzung brachte die Deklaration des Fürstabts Engelbert vom 22. März 1754, 52 wonach auf stiftischem und somit steuerfreiem Grund erbaute Privathäuser künftig nach Ablauf gewährter Freijahre steuerpflichtig werden sollten. Dauernd steuerfrei bleiben sollten nur noch die Häuser von Adeligen und stiftischen Räten sowie die seit dem späten 17. Jahrhundert um neu angelegte Glashütten entstandenen Dörfer Kreuzthal und Ulmerthal kraft der den dortigen Siedlern gewährten Privilegien. 53 Der Fürstabt versprach, dass solche Befreiungen für Neubrüche in Zukunft nicht mehr erteilt werden sollten. 49 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 300, fol. 174. 50 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 300, fol. 51-67; und ebd., Urk. 5833. 51 Vgl. den bei W. P ETZ , Zweimal Kempten (Anm. 42), S. 222f., erwähnten Fall der Tiroler Kaufleutefamilie Falger, die trotz ihrer Niederlassung in der Stiftstadt Kempten lange das Bürgerrecht von Reutte beibehielt und es vermied, in die stiftische Kramerzunft einzutreten. 52 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv Urk. 5963 I. 53 Zu diesen Siedlungen vgl. G ERHARD I MMLER , Probleme der Waldnutzung in Schwaben, dargestellt am Beispiel des Fürststifts Kempten, in: R OLF K IESSLING / W OLFGANG S CHEFF - KNECHT (Hg.), Umweltgeschichte in der Region (Forum Suevicum 9), Konstanz 2012, S. 161-180, hier 169-174. <?page no="404"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 403 4. Langfristfolgen für die Agrarstruktur Damit war im Fürststift Kempten, soweit dies unter den Bedingungen des Ancien Régime überhaupt denkbar war, ein gerechtes, die Lasten möglichst proportional zum profitablen Vermögen verteilendes Steuersystem etabliert. Dies bedeutete einen erheblichen Modernitätsvorsprung etwa gegenüber den umständlichen Methoden, nach denen im Kurfürstentum Bayern die Steuern berechnet wurden: Dort geschah dies für die Landsteuer nach einem komplizierten Steuerfuß, der auf das Jahr 1612 zurückging und nur einmal, nämlich 1721, unvollkommen revidiert wurde. Für die ›Anlagen‹, d. h. Quasi-Steuern, die an die Stelle ursprünglicher Naturalleistungen und Scharwerksdienste getreten waren, galt der sehr grobe Hoffuß. 54 Hauptprobleme neben der veralteten und nur sehr eingeschränkt proportionalen Steuerveranlagung waren die oft mangelnde Berücksichtigung der sog. ›walzenden Stücke‹, d. h. von Grundstücken, die nicht fest zu einer agrarischen Betriebseinheit gehörten, sondern frei handelbar waren, die unzureichende steuerliche Erfassung von Einnahmen aus ländlichem Gewerbe sowie die gänzlich anders geartete Besteuerung von Grundstücken der Bürger von Städten und Märkten. Grundlegende Reformen scheiterten immer wieder an den divergierenden Interessen des Landesherrn und der Landschaft als der Vertretung der drei privilegierten Stände. 55 Dagegen bestand unter dem stift-kemptischen Steuersystem anders als in Altbayern kein Erfordernis, den Umfang bestimmter Höfe unverändert zu halten. Bei Zu- oder Verkäufen einzelner Grundstücke passte die Steuer sich automatisch an. Dies begünstigte die Mobilität des Bodens und daher das ökonomische Denken der Bauern. 56 Da zudem für die Masse der Höfe der Steuerbelastung im Kempter Stiftsland weit höhere Bedeutung zukam als der durch grundherrliche Abgaben und weil es zudem dem Stift bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts gelang, die Adelsherrschaften innerhalb der alten Grenzen der Grafschaft Kempten fast restlos aufzukaufen, 57 54 M ANFRED R AUH , Verwaltung, Stände und Finanzen. Studien zu Staatsaufbau und Staatsentwicklung Bayerns unter dem späteren Absolutismus (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 14), München 1988, S. 216-219: Beim Steuerfuß wurde der Viehbestand sowie nach einem komplizierten Verfahren, das den Ertrag, die Bodengüte, die Grundgerechtigkeit und anderes berücksichtigte, der Grundbesitz besteuert, der Hoffuß kannte nur ›ganze Höfe‹ als Basis-Bezugsgröße sowie Bruchteile davon, wobei ursprünglich die Ausstattung mit Pferden als Anhaltspunkt gedient hatte: Ein ganzer Bauer konnte vier Pferde halten. 55 Dazu ausführlich M. R AUH , Verwaltung, Stände und Finanzen (Anm. 54), S. 219-282. 56 Zur hohen Fluktuation des Grundeigentums, verglichen mit Altbayern, vgl. P. N OVOTNY , Vereinödung (Anm. 5), S. 43f., auch wenn dessen Rückführung des Phänomens auf eine besondere ›alemannische Art‹ und ›die frühzeitig entwickelte Viehhaltung‹ als sehr weit hergeholt erscheint. 57 Einzelheiten vgl. G ERHARD I MMLER , Das Fürststift Kempten, in: HBG III/ 2, S. 311-317, hier 315. <?page no="405"?> G ERHA RD I MMLE R 404 bestand kein Hindernis für die Ausbreitung einer Gewohnheit, die Differenzierung eigentumsrechtlicher Verhältnisse - freieigen, lehenbar oder Gotteshausgut, d. h. leibfällig 58 - innerhalb einer landwirtschaftlichen Betriebseinheit gar nicht mehr auf bestimmte Parzellen zu radizieren. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts bürgerte es sich vielmehr ein, in Gutsbeschreibungen etwa zu sagen, ein Gut habe vier Weiden Gotteshausgut, fünf Weiden Lehen und acht Weiden freies Eigentum. »Die Bauern profitierten davon insofern, als bei einer späteren Wertsteigerung des ganzen Gutes nach wie vor nur die frühere Anzahl von Weiden lehenbar war, während sie [die Zahl der lehenbaren Weiden] analog zur allgemeinen Wertsteigerung ebenfalls hätte vermehrt werden müssen«. 59 Natürlich konnte diese Freiheit auch missbraucht werden. Fürstabt Rupert von Bodman sah sich veranlasst, durch ein Mandat vom 19. November 1696 zu verbieten, dass Untertanen bei Verkäufen einzelner Grundstücke diese als steuer- und abgabenfrei ausgaben, um höhere Preise zu erzielen; dabei drohte die Gefahr, das Restgut, insbesondere wenn der Vorgang mehrmals geschah, über die Leistungsfähigkeit hinaus zu belasten. 60 Der Mechanismus der relativ sinkenden Abgabenlast bei Verbesserung der Ertragskraft eines landwirtschaftlichen Betriebs galt aber nur für fixierte Abgaben wie Grundzinse, Gülten und Lehengelder. Dagegen stieg, wenn der Hof wertvoller wurde, spätestens bei der nächsten Renovation des Weidenfußes auch der Steueranschlag, so dass die Herrschaft ein Interesse daran haben musste, die Ertragskraft der Güter zu heben. 61 So dürfte es kein Zufall sein, dass gerade in die Jahre 1737/ 38, d. h. unmittelbar nach der endgültigen Regelung der Steuerfrage, ein Vorgang fällt, bei dem der damalige Fürstabt Anselm Reichlin von Meldegg persönlich entschied, auf die Gemeinde Altusried Druck auszuüben, der Vereinödung ihres Ortes zuzustimmen: Betreiber dieser Maßnahme war ein wohlhabendes Gemeindeglied, ein Müller. Wenn die Gemeinde, so der Fürstabt, so sehr am alten Herkommen hänge, dann müsse sie auch akzeptieren, dass die früheren, offenbar außer Übung gekommenen Ehaftrechte des Müllers wiederhergestellt würden. In der Folgezeit stellte sich das Stift immer entschiedener auf die Seite von Befürwortern der Vereinödung und verschärfte den Druck auf abgeneigte Gemeindeglieder, bis man schließlich 1791 die Vereinödung von Willofs genehmigte, obwohl nur 16 der 30 Gemeindeangehörigen 58 Auch bei den rechtlich leibfälligen Gütern war aber die Hofübergabe an einen Sohn oder mangels eines solchen auch an eine Tochter in der Regel völlig unproblematisch, wie zahlreiche Einträge auf Gotteshausgüter bezüglicher Übergabeverträge in den Briefprotokollen des Landammannamtes und der Pflegämter beweisen. 59 P. N OVOTNY , Vereinödung (Anm. 5), S. 72. 60 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv A 2697. 61 P. N OVOTNY , Vereinödung (Anm. 5), S. 38. <?page no="406"?> D ER M EMMING ER V ER TR AG VON 1526 405 dafür waren. 62 Eine von einem Pfarrer des Stiftslandes verfasste Denkschrift aus dem Jahr 1789 betont ausdrücklich, das freye Eigenthum habe naturrechtlich den Vorrang vor dem Gemeinbesitz an Allmenden und jeder Grundbesitzer besitze daher das Recht, deren Aufhebung zu fordern. Die stiftische Regierung wollte ganz so weit zwar nicht gehen, doch auch die Argumentation des Stiftsherrn und Hofkammerrats Freiherr von der Schleiß, dass örtliche Umstände Ausnahmen rechtfertigten, wies Vereinödungsgegnern die Beweislast zu. 63 Freies Eigentum bedeutet in der genannten Denkschrift natürlich nicht die Freiheit von Abgaben an einen irgendwie gearteten Herrn, sondern die freie Bestimmung über die Nutzung von Grund und Boden ohne kollektive Bindungen durch einen Flurzwang und ähnliches. Dennoch lässt sich mit der naturrechtlichen Begründung der Forderung ein fernes Echo der zu Beginn der Französischen Revolution verkündeten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 64 vernehmen. Bedenkt man zudem, dass der Abgabenempfänger unter den örtlichen Verhältnissen nicht ein vielleicht fern an einem königlichen oder fürstlichen Hof weilender adeliger Grundherr, sondern die durch Fürstabt und Konvent repräsentierte Institution Fürststift als Landesherrschaft war, und dass zudem die Untertanen auf dieselbe durch den Landschaftsausschuss Einwirkungs- und im finanziellen Bereich Mitbestimmungsmöglichkeiten besaßen, 65 d. h. gemeinsam mit Fürstabt und Konvent den Staat bildeten, dann wird deutlich, welchen Erfolg die kemptischen Bauern trotz ihrer Niederlage im Bauernkrieg mit dem Memminger Vertrag langfristig erzielt hatten. 62 G. I MMLER , Vereinödung (Anm. 8), S. 219-235, hier 222-229. 63 G. I MMLER , Vereinödung (Anm. 8), S. 230. 64 Vgl. dort Art. 2: Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. 65 Auf die Bedeutung der Koinzidenz von Landesund, soweit vorhanden, Grundherrschaft im Fürststift Kempten für die Vereinödung im Kontrast zu Altbayern verweist zurecht P. N OVOTNY , Vereinödung (Anm. 5), S. 44f. Zur Zusammenarbeit der fürstäbtlichen Behörden mit Vertretern der Landschaft und den dahinterstehenden Interessen der an möglichst freier Verfügung über ihren Grundbesitz orientierten Vollerwerbsbauern vgl. G. I MMLER , Vereinödung (Anm. 8), S. 233. <?page no="408"?> 407 T HOMAS P FUNDNER Die Beschwerden der Bauern des Irseer Klostergebietes von 1527 Über die Unruhen der Bauern im Irseer Gebiet während des Bauernkriegs hat der Mönch und Zeitgenosse Marcus Furter eine Chronik 1 verfasst, die in zwei Handschriften erhalten ist. Diese weichen allerdings voneinander ab. Zu seinem Vorhaben bemerkte Furter: Mein Vorsatz ist es nämlich nicht gewesen, ein Geschichtswerk zu schreiben, sondern knapp unser Elend [des Klosters Irsee] zu beweinen. 2 Trotz dieser dezidiert persönlichen Sichtweise lässt sich aus seiner Darstellung eine Chronologie der Abläufe gewinnen. Alfred Schröder hat die Ereignisse folgendermaßen zusammengefasst: »Unter der Irsee’r Bauernschaft, welche von Kaufbeuren aus mit der neuen Lehre bekannt geworden war, nahm der Aufstand am Aschermittwoch den 1. März [1525] seinen Anfang. Simon Müller, ein Klosterunterthan zu Pforzen, veranlaßte eine Zusammenrottung der Bauern. Man beschloß den Aufstand. Die nach Eggenthal einberufene Bauernschaft der Irsee’schen Orte nahm die Losung des ›göttlichen Rechts‹ auf und entschied sich für den Anschluß an den Obergünzburger Haufen […].« 3 Am 3. März trugen die Bauern dem Abt Peter III. Fend und seinem Convent in Gegenwart des Vogtes ihre Beschwerden vor. Die Verhandlungen verliefen jedoch erfolglos. Darauf beschlossen die Bauern eine Zusammenkunft in Pforzen für den 6. März. Die Versammelten erklärten sich bereit, ihre Artikel dem Abt zu überreichen und dessen Antwort in Baisweil am 13. März entgegenzunehmen. Der Inhalt dieser Artikel ist nicht überliefert. Bekannt sind aus der näheren Umgebung die Artikel der 1 F RANZ L UDWIG B AUMANN (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs in Oberschwaben (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 129), Tübingen 1876, Nr. VII: Historia belli rusticorum (ursinensium) von P. M ARCUS F URTER , S. 313-355. 2 F. L. B AUMANN (Hg.), Quellen (Anm. 1), S. 317 (übersetzt aus dem Lateinischen). 3 A NTON S TEICHELE / A LFRED S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg historisch und statistisch beschrieben, Bd. 6: Das Landkapitel Kaufbeuren, Augsburg 1896-1904, S. 200. Vgl. auch W ALTER P ÖTZL , Der Irseer Konvent und seine Äbte in der Neuzeit (1501-1802), in: Das Reichsstift Irsee. Vom Benediktinerkloster zum Bildungszentrum. Beiträge zu Geschichte, Kunst und Kultur, hg. von H ANS F REI (Beiträge zur Landeskunde von Schwaben 7), Weißenhorn 1981, S. 17-75. <?page no="409"?> T HOMA S P F UNDNER 408 Kaufbeurer Bauern, 4 die Beschwerden der Oberbeurer Bauern 5 sowie der Bauern von Weicht und Wiedergeltingen. 6 Die Irseer Bauern waren mit den Zugeständnissen des Klosters nicht zufrieden und machten mit dem Obergünzburger Haufen gemeinsame Sache: »In der Nacht zum 1. April fielen die von Baisweil und Eggenthal, mit einem Teil der Aufständischen von Obergünzburg vereint, in Irsee ein, besetzten den Freithof bei St. Stephan und wußten sich noch in derselben Nacht durch friedliche Zusagen den Eintritt ins Kloster zu verschaffen, woselbst sie Lebensmittel wegnahmen, die Befestigung verstärkten […].« 7 Die Bedrängnisse des Klosters durch verschiedene Gruppen gingen weiter, führten zur Flucht des Konvents nach Kaufbeuren und gipfelten am 18. Mai darin, dass angeblich auswärtige Untertanen das Kloster in Brand steckten: 8 »Zu einigem Schadenersatze mußten die Unterthanen, über deren Beschwerden am 7. Mai 1527 durch Vermittlung Jörgs von Benzenau ein gütlicher Vergleich zwischen den Parteien abgeschlossen wurde, von jedem Haus dem Kloster 4 Gulden erlegen; die Rädelsführer wurden zur Strafe gezogen […].« 9 Die Bauern der einzelnen Irseer Dörfer brachten 1527 der Zahl und dem Inhalt nach unterschiedliche Beschwerdeartikel vor: Baisweil (15), Eggenthal (10), Lauchdorf und Großried (13), Irsee (9), Romatsried (3), Ketterschwang (5), Ingenried (9), Pforzen (6), Rieden (11) und Leinau (8). Die ausführlichen Akten mit Beschwerden und Verhandlungen der Bauern haben sich erhalten. 10 Sie werden hier erstmals vollständig ediert. 11 Ausgleichsverhandlungen der Bauern mit ihren Herrschaften zum Vergleich finden sich beispielsweise im Martinszeller Vertrag (25. Oktober 1525), im Memminger Vertrag (19. Januar 1526) oder den Verträgen des Truchsessen von Waldburg 4 F. L. B AUMANN (Hg.), Quellen (Anm. 1), Nr. VIII: Aus Hörmanns Kaufbeurer Sammlung, S. 357-365, hier 359. 5 T HOMAS P FUNDNER , Die Beschwerde der Oberbeurer Bauern gegen ihren Pfarrer 1525, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 68 (1999), S. 178-183. 6 G ÜNTHER F RANZ , Der deutsche Bauernkrieg, Aktenband, München-Berlin 1935, S. 164- 166 (Nr. 30: 1525 März 3, Artikel von Wiedergeltingen; Nr. 31: 1525 März 3, Artikel von Weicht). 7 A. S TEICHELE / A. S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg 6 (Anm. 3), S. 200. 8 F. L. B AUMANN (Hg.), Quellen (Anm. 1), S. 345; Oberdorfer Haufen nach A LFRED S CHRÖ - DER , Das Bistum Augsburg historisch und statistisch beschrieben, Bd. 7: Das Landkapitel Oberdorf, Augsburg 1906-1910, S. 201; Buchloer Haufen nach F RANZ L UDWIG B AUMANN , Geschichte des Allgäus, Bd. 3: Die neuere Zeit 1517-1802, Kempten 1894/ 95, S. 109. 9 A. S TEICHELE / A. S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg 6 (Anm. 3), S. 202. 10 StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv, Bd. 560/ 1. 11 Auszüge in P ETER B LICKLE / R ENATE B LICKLE (Bearb.), Schwaben von 1268 bis 1803 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern II/ 4), München 1979, S. 304f. <?page no="410"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 409 mit seinen Bauern 1526. 12 Die Irseer Vereinbarungen dokumentieren ebenfalls den nachträglichen Interessenausgleich zwischen Herrschaft und bäuerlichen Untertanen. Dass diese Ereignisse nachhaltig im kulturellen Gedächtnis erhalten geblieben sind, zeigen die wiederholten Rückbezüge. In den Privilegien zur Baudingsordnung des Klosters Irsee (1541) 13 wird auf die Bauernunruhen und die Zerstörung des Irseer Klosters Bezug genommen. Die erhaltenen Statuten der Irseer Baudingsordnung von 1664/ 65 14 sowie die der Irseer Jagd-, Fisch-, Holz-, Wald- und Forstordnung von 1787 15 behandeln ebenfalls viele Punkte der Beschwerden von 1527. Zur Handschrift Bei den Beschwerden der Irseer Bauern 1527 handelt es sich um eine Abschrift wohl aus dem 18. Jahrhundert. Editionskriterien Bei der Wiedergabe der Handschrift wird Buchstabentreue gewahrt, Konsonantenverdoppelung beibehalten, gängige Überzeichen a ü i ö belassen, weitere Überzeichen ů sind nicht berücksichtigt. Bei der unregelmäßigen Groß- und Kleinschreibung wird durchgängig Kleinschreibung verwendet außer bei Eigennamen und Satzanfängen. Varianten bzw. alternative Lesungen, die der Schreiber nebeneinander oder übereinander wiedergibt, werden voneinander geschieden und damit kenntlich gemacht. Die Seitenzahlen der Vorlage werden in [ ] gesetzt. 12 A LFRED W EITNAUER , Die Bauern des Stifts Kempten 1525/ 26 (Alte Allgäuer Geschlechter XXV, Allgäuer Heimatbücher 39), Kempten 1949. Vgl. dazu den Beitrag von Silke Schöttle in diesem Band. 13 S TEFAN F ISCHER , Klosterspuren - die dörfliche Wirklichkeit 1750-1820. Das Leben in den Dörfern Ingenried, Irsee, Leinau, Pforzen und Rieden, Neustadt a. d. Aisch 2022, S. 266 (enthält die Baudingsordnung des Klosters Irsee 1664-1665). 14 S T . F ISCHER , Klosterspuren (Anm. 13), Quellenanhang; auch bei P ANKRAZ F RIED , Der »Staat« des Reichsstiftes Irsee, in: Das Reichsstift Irsee (Anm. 3), S. 133-151, Anhang (mit der Baudingsordnung von 1664/ 65). 15 S T . F ISCHER , Klosterspuren (Anm. 13), Quellenanhang. <?page no="411"?> 410 Irsee - Bauern StA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv, Bd. 560/ 1, fol. 1-107 (einst BayHStA München, Abt. 1, KL Irsee 212) [1r] ao: 1527. coll: ex orig: Ich Jörg von Benzenaw zu Kemnat der Elter, 1 und Unser Lieben Frauen gottshauß zu Irsin erbkastenvogt bekenn offenlich und thun kundt allermaniglich mit dem Brieff, alß vergangner zeit zwischen dem ehrwürdigen herrn Petern abbte, 2 prior, und ganzen convente Unser Lieben Frauen gottshauß zu Irsin ains, und allen dessselben gottshauß dörffern, gerichten, aigenleuthen, hinderßässen, und underthanen mit nahmen Bayßweyll, [E]ogentall, Lauchdorff und Grosßriedt, das dorff Irsin mit sambt den weylern Bickenriedt, Ogenriedt und Romazriedt, Ingenriedt, Pforzen [/ 1v] Leinaw, Rieden und Ketterßwang, 3 anders theils irrung und spenn erhebt und zugetragen, dernhalb dann alle des gottshauß Irßin underthanen, nebent und bey anderen ihren nachbauren sich über vilfeltig zimmlicher fürschleg, so ich ihnen alß gedachts gottshauß Irsin kastenvogt angezaigt in empörung / : wiewohl unbillich : / begeben, darumb dann der Löblich Bundt im landt zu Schwaben, 4 sich in dapfer ristung und gegenwehr wider solliche abgefallne baurschafften, zu handthabung gemains landtfriden, und daß die oberkeiten bey ihren herrschafften bleiben mügen, erhebt, und nach vil dargespannen [/ 2r] und verbrachten arbeiten, alle baurschafften dahin gestelt, daß sy die abgefallen baurschafften, von neuen dingen ihren herrschafften widerumb huldigung thun, auch schwöhren und mit bezahlung rent, zins und gülten, und anderen dienstbarkeiten wie vor und von alter herkommen gewärtig seyn sollen, doch ob die underthanen gegen ihren herrschafften beschwehrung hetten, sodann sollen sich die herrschafften und ihre underthanen umb solliche ihr beschwehrung gütlich miteinander vergleichen, wo aber dasselb in der güte nit seyn möchte, und die underthanen, 1 Jörg von Benzenau, Erbkastenvogt für das Kloster Irsee; vgl. A LFRED S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg historisch und statistisch beschrieben, Bd. 7: Das Landkapitel Oberdorf, Augsburg 1906-1910, S. 244-246, er war seit 1515 Alleininhaber der Herrschaft Kemnat und übergab diese 1530 seinem Sohn Simprecht; vgl. E DUARD Z IMMERMANN , Kaufbeurer Wappen und Zeichen (Allgäuer Heimatbücher 40), Kempten 1951, S. 30. 2 Abt Peter (III., Fend) von Irsee, stand dem Kloster 1506-1533 vor; vgl. A NTON S TEI - CHELE / A LFRED S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg historisch und statistisch beschrieben, Bd. 6: Das Landkapitel Kaufbeuren, Augsburg 1896-1904, S. 199. 3 Bei den Ortschaften des ehemaligen Irseer Gebietes fehlen bei den Verhandlungen 1527 noch Mauerstetten (erst 1530 wurde das Dorfgericht ans Kloster verkauft) und Schlingen (niedere Gerichtsbarkeit erst 1530). Die hohe Gerichtsbarkeit und der Blutbann von Kloster und Dorf gehörte auf Grund der Klostervogtei zur Herrschaft Kemnat. Im Jahre 1692 kaufte das Kloster diese Gerechtsame einschließlich über sein Gebiet vom Stift Kempten; vgl. A. S TEICHELE / A. S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg 6 (Anm. 2), S. 218. 4 Zum Schwäbischen Bund vgl. P ETER B LICKLE / R ENATE B LICKLE (Bearb.), Schwaben von 1268 bis 1803 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern II/ 4), München 1979, S. 150-153, 231-238. <?page no="412"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 411 und ihr oberkaiten desshalb strittig würden, so solle alßda ge- [/ 2v] meine versamblung des Löblichen Bundts darumb zuentschaiden haben, weliche gesezte huldigung bestimbts gottshauß Irsin underthanen alles zuhalten geschwohren, und dweyl mir alß kastenvogt des gottshauß Irsin in sollichem zuhandlen gebührt und zusteht, hab ich alß der der dem gottshauß Irsin wie ain kastenvogt bey altem brauch, recht, und herkommen, helffen, auch die underthanen desselben gottshauß bey billichen und zimlichen dingen zu handt haben, und zubehalten schuldig seyn erwegen, ob solliche streittung und beschwehrung die des gottshauß Irsin unterthanen zehaben vermainen in der güttlichkait abgelaint werden [/ 3r] möchte, bedacht, und darauf gedachts gottshauß Irsin underthanen, und gerichts leuth alle auf einen bestimbten tag für mich gen Kauffbeyren erforderen lassen und ungefährlich dits mainung angesagt, wie sich des gottshauß unterthanen alß sy demselben huldigung gethan, sich in ihrm reden merckhen lassen hetten, daß sy in etlichen stückhen gegen dem gottshauß Irsin beschwehrung hetten, dweyl dann under anderen des Löbl. Bundts articlen aigentlich begreiffen, daß die underthanen und ihre herrschafften, umb ihr gehabte zwyspaltung gütlich miteinander verainen, oder aber gemeine versamblung des Löbl. Bundts darin zuentscheiden haben solle, damit [/ 3v] aber mühe und arbeit verhüet, cost und schaden, so mittler zeit den partheyen auflauffen möchte, erspahrt, so were er, alß das gottshauß Irsin kastenvogt, des gottshauß Irsin und die underthanen vor sollichem, alß viel an ihme were, zuverhüeten schuldig, welle auch sich hierin keine arbeith befillen noch tauren lassen, sondern soviel fleisß mit den ihenigen die er dem gottshauß und ihnen zu gut darzu nemmen, erbitten, und bey ihme haben welte, ankern, dass die sachen zu allen thailen mit dem geringisten alß er der hoffnung, abgelaint, damit weiter ungnad, unwille, und unfreundtschafft, so sich zwischen den [/ 4r] partheyen täglich sunst zutragen und begeben möchte verfürt und abgestelt, und aufdaß alle des gottshauß Irsin gerichts underthanen, und so viel da gegen gemeltem gottshauß beschwehrung zuhaben vermaint sich das sy güttlicher handlung bey mir und wen ich deßhalb so dem gottshauß und desselben underthanen zu gut kommen mügen nemmen werde / : doch unvergreiffenlich : / nit wägerung, sonder underthänig bitten, in der gutlichait zubeladen, darin sy sich alß die underthänigen, auch erzaigen, und was leidenlich und billich sey gegen verfolg thun wellen gemainlich und alle hören lassen haben, darauf ich obbestimbter [/ 4v] Jörg von Bennznaw von allen gerichten, dörfferen, und weyleren, so dem gottshauß Irsin zugehörig, und iedem insonders warin ieder fleckh beschwehrung haben sey, das von artickel zu artickhelen mir geschrifftlich zustellen seyen, begert, das also den underthanen gefällig, damit fruchtbarlich gehandlet werden müge, geweßen, mir darauf in gegenwirtigkeit so ich bey überantwurtung sollicher iedes fleckhen beschwehrung insonderheit darzu erbetten hab, die edlen frummen und vesten Maurizen von Altenßhoffen, Conraten Fuchßen zu Ebenhoffen, und Matheußen Klamer, der zeit alten burgermaister zu Kauffbeyren, 5 ieder fleckh sein be [/ 5r] schwehrung geschrifftlich überantwürt, und damit fruchtbarlich gehandlet, haben ich und die obbestimbte mein zuerbettene gütliche underthädinger und für 5 Moritz von Altmannshofen, 1525 Landvogt in Kempten; vgl. E. Z IMMERMANN (Anm. 1), Kaufbeurer Wappen und Zeichen, S. 2; Konrad Fuchs von Ebenhofen erhielt von Kaiser Max das Schlösschen Ebenhofen verliehen, 1502 ist er auch Inhaber des Erb- und Pfandlehens der Reichsvogtei Aitrang; vgl. ebd., S. 128. Matthias Klammer, achtmal Bürgermeister, letztmals im Amt belegt Juli 1525. Im Januar 1527 ist er neben Bürgermeister Georg Rössler <?page no="413"?> T HOMA S P F UNDNER 412 uns selbs für billich erwegen, dass iedes fleckhen in sonderheit eingelegte beschwehrung gedachtem herrn Peter abbte, auch seinem convent darvon abgeschrifft mit zutheilen sey, damit sie sich darin, was dargegen ihrthalb die notturfft auch erfordern sey berathschlagen, und auf andere gelegenheit, und in ainer kürze gebührende antwurth geben mügen, dass also baiden theilen, nemblich herrn Petern abbte, auch seinem convente zu Irsin dergleichen desselben gottshauß Irsin gerichts underthanen gefällig [/ 5v] geweßen, darumb wir die überantwurte beschwerungen zu dreyen mahlen abschreibn lassen, und mit unserer der güttlichen underthädinger aigen handen underschribn haben, demnach gedachtem abbte und seinem convent von iedem fleckhen aine, auch iedem fleckhen sein eingelegte beschwehrung widerumb für sich selbs, und ich mit sambt meinem güttlichen underthädinger die dritt abgeschrifft damit darin kain weiter neuerung gemacht werden möge behalten, darauf ich mit sambt anderen gütlichn underthädingeren, und alle partheyen abgeschaiden, darnach auf heut dato hab ich obgenanter Jörg von Benznaw mit sambt Mauricen von Altnßhoffen, [/ 6r] der obangezeigten beschwehrung halb und damit bestimbter herr zu Irsin mit sambt seinem convent auf iedes fleckhn eingelegte beschwehrungen antwurth geben sey, den gedachten partheyen widerumb zu Irsin in dem gottshauß zuerscheinen tag angesezt, und insonderheit darzu die ienigen, so der sachen geschickht, und taugenlich zu seyn ermessen, für Conraten Fuchßen, Endreßen von Hohenegg, und weylundt Matheißen Klamer seeligen, Hannsen Ruffen stattschreiber zu Kauffbeyren erbetten, und alß ich mit sambt Mauricen von Altenßhofen Endreßen von Hochenegg und Hanßen Ruffen stattschreiber 6 gen Irsin in das gotts [/ 6v] hauß kommen seyn, die obbestimbte alle des gottshauß gerichts underthanen erschinen, wie vor mit underthäniger bitte, sy in ihren beschwehrnüssen gnädiglich zu bedenckhen, darauf gedachter herr zu Irsin mit sambt seinem convente erschinen, und auf alle ihre underthanen beschwehrung dargegen geschrifftlich antwurth übergeben, haben demnach zu fürdrung der sachen, der von Baißweyll beschwehrung, und was darauf abbte und convente zu Irsin für antwurth gestelt, für hand genohmmen, das gegen einander verleßen, und den gesandten und gewalthaberen deren von Baißweyll was gedachter herr [/ 7r] und convent zu Irsin auf ihr eingelegte beschwehrungen für antwurth gestellt, eröffnet, und ihren weiteren bericht begehrt, und also härwider was die von Baißweyll für weitere underrichtung gethan, gedachtem herrn zu Irsin und seinem convent auch anzaigt, damit wir aller beschwehrungen halb, und darauf genugsamben bericht und Stadtschreiber Hans Ruf als Zunftmeister an der Regelung der Korneinfuhr des Klosters Irsee in ein neu errichtetes Haus beim Kornhaus zugegen; vgl. H ELMUT L AUSSER (Hg.), Von Abele bis Zoller. 201 Kaufbeurer Familien im späten Mittelalter (Kaufbeurer Schriftenreihe 16), Thalhofen 2016, S. 137-139. 6 Hans Ruf, Stadtschreiber zu Kaufbeuren, 1525 gehört er der vom Schwäbischen Bund berufenen Kommission an, welche die über die Bauern des Allgäus verhängte Brand- und Strafsteuer einzunehmen hat; vgl. H. L AUSSER (Hg.), Von Abele bis Zoller (Anm. 5), S. 256. Andreas von Hohenegg, 1526 Pfleger zu Rettenberg, Vermittler zwischen den Bauern des Stifts und dem Fürstabt von Kempten; vgl. F RANZ L UDWIG B AUMANN , Geschichte des Allgäus, Bd. 3: Die neuere Zeit 1517-1802, Kempten 1894/ 95, S. 144, Siegel S. 145. 1520 Junker Endreß von Hohenegk zu Vilsegh, des Hochstifts Augsburg Pfleger zu Rettenberg; vgl. E DUARD Z IMMERMANN , Kempter Wappen und Zeichen (Allgäuer Heimatbücher 60), Kempten 1963, S. 170. <?page no="414"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 413 empfangen; Nach sollichem haben wir auf alle der von Baißweyll beschwehrung articl etliche mittel den partheyen fürgehalten, und zu iüngst mit ihrer bayder theil vorwissen und nach vil gehabtem fleiss mühe und arbeith, dahin bracht, dass die uns güttliche entschaid[ung] darin gewilliget haben, demnach der von Baiß [/ 7v] weyll ersten beschwehrungs articl, darauf herr Petern abbte und des convents zu Irsin gestelte antwurt und demnach unser aller vier gefaßt mittel eröffnet und lauth der von Baißweyl [erster] beschwehrung articl also zum: Ersten seyn wir beschwehrt wann sy die gütter bestehen, dass sy die mit schwehren und grossen erdschezen 7 zu ihren handen bringen müssen, dann von alter her. Darzu abbt, prior und convente die antwurth gegeben, menniglich sey wissendt, auch ganz offenbahr, daß [/ 8r] die güther darumb erdtschäz empfangen dem gottshauß Irsin, mit grundt, boden, und aller anderer zugehörung zustehen, und so derselben ains verlihen oder verlassen werde, so sey es billich, daß für den eingang sollicher verleihung ein erdtschaz genohmmen, alß und wie das in Latein pro arrha 8 genant werde / : es seye auch allenthalben der gebrauch : / das gottshauß Irsin habe auch darin kein neuerung angefangen, sonder also von alter her gefunden. Darauf wir disen entscheid gegeben dweyl von alterher des also gebraucht, daß dan ein Herr und sein Convent zu Irsin des fürohin also auch brauchen mügen, doch daß sy die underthanen darinn [/ 8v] gnädiglich halten unnd bedenckhen und nach billichkait auß ain hofguth, oder hofs die erdtschaz nemmen seyen, damit die arm leuth nit beschwehrt werden. Der ander der von Baißweil beschwerde articl also lautend, dass ihr bestandt güther beschwehrt worden seyen mit kessen, darnach dieselben keß zu gelt gemacht namblich fünff schilling haller für ain vierthail, und für ain ganzen hof vier keß oder ain pfundt haller. Darzu Abbte, Prior und Convente antwurthet wie dass sollichs nit unbillich beschehe, und geschehen sey, dann sunst [/ 9r] die güther an den anderen gülten dester ringer verlassen haben; aber sy mügen leiden, die underthanen geben dester mehr korn oder pfenning gült, sodann wöllen sy an der gült der keß auch ain billich einsehung und ringerung thun, zu dem sy sollichs nit ain neus, dan an vil orthen und enden keß gülten auch gegeben und gebraucht werden. Darauf wir disen entschaid gegeben, dweyl die bösten gütter also bißher mit den gülten gebraucht, und kein neüerung darin gefunden, sonder die underthanen dermassen angenohmmen haben, dass dann bey sollichem wie ain [/ 9v] underthan des angenommen hat, bleiben solle. Der dritte der von Baißweyl beschwehrung articul, also lautend, daß die gütter und hofstetten etlicher beschwehrt werden mit hewnen ayr und graßgelt mehr dann von alter her gewesen. Darauf abbt prior und convente andwurth, wie dass die güther so mit billichen und leidentlichen zinßen, ihren underthanen gelassen worden seyen mit grundt und boden dem gottshauß Irsin zugehörig, demnach so mügen sy dieselben ihrs gottshauß güther verlasßen, wie dasßelb guth wohl 7 Erdscheze, Erdschatz: bestimmte Grundsteuer; vgl. DWB 8, Sp. 1685 https: / / woerter buchnetz.de/ ? sigle=DWB2&lemid=E11339 (aufgerufen am 23.4.2024). 8 Pro arrha (arrabo-onis): Unterpfand, Kaufgeld; vgl. E DWIN H ABEL / F RIEDRICH G RÖBEL (Hg.), Mittellateinisches Glossar, 2. Aufl. Paderborn u. a. 1989, Sp. 25. <?page no="415"?> T HOMA S P F UNDNER 414 ertragen, gedenckhen, sy seyen [/ 10r] auch ihnen und ihrem gottshauß das wohl schuldig, sy haben sich bißher dermassen auch beflisßen, daß sy ihre, und ihrs gottshauß güther dermassen hingelasßen, daß die underthanen darbey wo sy ain zimliche zehrung gebrauchen und an sich nemmen seyen, wohl bleiben mügen, sy haben auch bißher zu sollichem ihrn underthanen nit gezwungen, noch genöth, daß dieselben mehr gült, dann ain guth wohl ertragen müge, geben müssen, darzu so ain guth ledig werde, so standts in des ienigen willen, der darumb bitten sey, das guth umb die gült, so demselben angezaigt, anzunemmen, oder darvon zustan, dann es sey offenbahr, so ain guth ledig werde, [/ 10v] daß allweg mehr dann ain persohn darumb ansuchung thuen und bitten seyen, darzu so gestehen er abbt, prior und convente in das gottshauß Irsin aignen güther kain altherkommen der zins, dann die güther nicht der underthanen sonder ihrem gottshauß zustehn, darzu auch ihre underthanen kain erbsgerechtigkait zu solchen güthern haben, darumb sy ihre gütter nach ihrem und ihrs gottshauß nutz verleihen und verlassen mügen, alß wie dann sy das ihnen und ihrem gottshauß wohl schuldig seyen und haben demnach abbte, prior und convente, dweyl ihr underthanen an vil orthen sollichs begern seyn angerufft und gebetten, mit ihren [/ 11r] Underthanen darob und daran zuseyn, dass sy von sollichem unbillichen begehren abstanden, dann wellicher ain aigen guth hat und dasselbig ledig werde, möge das nach seinem nutz verleihen und verlassen wohl möchte seyn, da die güther in urpew 9 gelegen, und der leuth nit soviel alß ietzo geweßen, möchtend die güther in ringerem anschlag gewesen seyn, dweyl aber die güther ietzo allenthalb in gutem bau, und hoch angeschlagen werden, so haben ihre vorderen seel. Gedächtnus sollich gült billich erhöhen mügen, daß aber sy abbte, prior und convente nit gethan, sonder in mass obsteht ihre vorderen uß [gestr. so sy] billichait und ihrer notturfft nach [/ 11v] gethun, auch des fug, recht, und gewalt gehabt haben. Darauf wir dits mittel gemacht, und also entschaiden, wie ainer ainen hoff und gelegen guth bestanden hab, daß es auch billich also bleiben sey, aber der hoffstetten halb, so dem gottshauß zugehören, darauff dann auf disen tag hewßer, die den bauren alß aigen zustehen seyn, daß es dan bey den zünsen und gülten, wie die auf disen tag eingeschriben, und gegeben auch also bleiben und darin kein neüerung des zinß gemacht werden, wo auch solliche hoffstetten durch absterben der innhaber ledig werden, daß dann solliche hofstatten an ihren zinßen auch nit beschwehrt, sonder wie die ietzo mit zinßen beladen, also [/ 12r] bleiben sollen, ob aber ainer oder mehr ab sollichem des gottshauß hofstatten, ihre häußer verkauffen und die hofstetten behalten seyn, so sollen sy die, die hofstatten behalten, nicht destominder die zins wie vor von sollichen hofstatten zugeben schuldig und verbunden seyn. Der viert der von Baissweyl beschwehrung articel also lauthendt, so ainer seiner nachbauren ain hauß und ab der hofstatt dem gottshauß zins vorhin geht, verkauffen seyn, was dann solliche hofstatt dem gottshauß zu zins gibt, sovil muß ainer zu erst einschreibgelt oder zu erdtschaz geben, das [/ 12v] wäre bey ihnen von alter nit also herkommen. 9 Urpew, Urbau: Wüstung, öd; vgl. DWB 24, Sp. 2380, https: / / woerterbuchnetz.de/ ? sigle=DWB&lemid=U13619 (aufgerufen am 23.4.2024). <?page no="416"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 415 Darzu abbte, prior und convente geantwurt, daß die hofstätten die ihre underthanen dermassen under ein ander verkauffen seyn nit ihr, sonder ihnen und ihren gottshauß zustehen und zugehören, die underthanen hätten auch ausßerhalb ihrer bewilligung, solliche hofstätten zuverkauffen nit macht, noch gewalt, welle dan sy ihre underthanen je ainer dem anderen so gut und freundtlich seyn, das mügen sy wo sy deren gewilligen leiden, doch an ihren rechten und gerechtigkeiten unschädlich, es seye auch bißher bey dem [/ 13r] gottshauß also gebraucht und damit kein neües angefangen, sondern werde soliches an anderen orthen und enden auch also gebraucht oder aber sy ihre underthan lassen sollichs verkauffen, das sy dann lauth ihren beständ nit macht haben underwegen, das mügen und wellen sy alles von ihrs gottshauß wegen wohl leiden. Drauf wir dits mittel gemacht, ob ainer sein behaußung des auf des gottshauß grundt und boden steht verkauffen und dann derselb käuffer den zins von der hofstatt einschreiben lassen würde, sodann soll derselb, so sich umb sollichen zinß eisnchreiben lasst, [/ 13v] allein dem schreiber ain kreüzer, zugeben schuldig seyn, sunsten soll derselb umb nichten weiter angelangt noch angesucht werden, dann allein den jährlichen zins aufgesezte zihl bezahlen solle. Der fünfft der von Baißweyl beschwehrung articel also lauthend, sie seyen beschwehrt, daß ihnen gebotten werde, daß sy bey zehen gulden auß der herrschafft nit heürathen sollen. Darzu abbte, prior und convente des gottshauß Irsin geantwurt, allermänniglich sey wissendt, das sollichs an vil orthen und enden gebraucht [/ 14r] werde, darumb sy und sonderlich dweil sollichs also von alter her gefunden und sy damit kein neües angefangen, welle ihnen auch nit gebühren darin enderung zemachen, wo aber von anderen herrn und nachbahren deßhalb einsehung geschehe, alßdann und in demselben welten sy sich unverwißlichen halten, daß aber ihnen ausserhalb anderen herrn und nachbaurn darin enderung machen sey ihnen nit gebührlich, noch verantwurtlich haben, auch des zethun nit macht noch gewalt. Darauf wir dits mittel gemacht, ob fürohin ainer oder aine die dem [/ 14v] gottshauß Irsin mit der leibaigenschafft zugehörig, sich zu ainer andern persohn, die anderen herrschafften, wie die genant, ehelichen verheürathen were, oder würde, sodann solle dieselb person so dem gottshauß Irsin mit der leibaigenschafft zugehört und demnach also hinder dem gottshauß und in desselben gerichten ihr wohnung habe, und darin sesshafft seyn wellen, allen fleiss gebrauchen und ankeren 10 ob er die andere sein mitpersohn an das gottshauß Irsin auch bringen möchte oder aber ainen wechßel thun möge darzu dann ain jeder herr zu Irsin und seine nachkommen gnädiglichn gewilligen sollen und so demnach ain [/ 15r] wechßel gemacht wird oder nit, so soll die person, so auß der ungenosse 11 geheurath hat, ainen herrn zu Irsin zu strauff nit mehr dann zwen gulden verfallen und zubezahlen schuldig sein, wo sich aber ains zu einer frey person ehelich verheüraten were, und demnach dieselb frey person sich an des gottshauß Irsin zu aigen ergeben ist, sodann so soll die ander person, dweyl es die andern mitbringen ist, die obbestimbte straff zugeben nit schuldig, sonder der ledig seyn, 10 Ankeren: daran wenden; vgl. A LFRED G ÖTZE , Frühneuhochdeutsches Glossar (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 101), 7. Aufl. Berlin 1967, S. 10. 11 Ungenosse: Ehe zwischen Unebenbürtigen; vgl. A. G ÖTZE , Frühneuhochdeutsches Glossar (Anm. 10), S. 219. <?page no="417"?> T HOMA S P F UNDNER 416 dergleichen wo einer oder eine die andere seine mitperson uff seinen schaden erkauffen und auch an das gottshauß Irsin zu aigen bringen were, sodann solle dieselb person, dweyl es die andern auch mitbringen ist, die [/ 15v] obbestimbte straff zugeben auch nit schuldig sonder deren ledig seyn, wo aber kein kauff oder wechßel gemacht werden möchte, so soll doch die person die dem gottshauß Irsin mit der leibaigenschafft zugehört, also des gottshauß seyn und bleiben, auch wie andere des gottshauß Irsin aigenleuth mit dienste gewärthig, auch nach derselben abgang fall- und haubtrecht, 12 nach billichhait gegeben werden soll, doch so des gottshaß gütter, darauf dann die person so dem gottshauß mit aigenschafft nit verwandt, noch zugehörig gebohren erzogen oder sunst mit heürath darauf kommen, durch absterben der persohn, so den bestandt der gütter ingehabt [/ 16r] ledig wird, sodann soll es in ains herrn zu Irsin, derselben persohn so dem gottshauß mit aigenschafft nit zugehörig, dieselben gütter ihnen zuverleihen oder zuverlassen, guten willen und gefalln stehen, ob aber ain aigen mensches sey manns oder frauen personen sich ausser des gottshauß gerichten thun und der aigenschafft halb sich ledig machen welt, so solle ain herr zu Irsin gegen denselben personen und nachdem ains ieden vermügen, sich gnädig erzaigen, und von ihme der aigenschafft halb umb ain zimlich gelt kommen lassen. Der sechßt der von Baißweyl beschwehrung articel also lauthendt, sy seyendt beschwhrt [/ 16v] der schaff und lemmer, auch gaissen halber dan sovil ihn iunge werden, wolle der pfarrer von ietlichem zwen pfenning zu zehenden haben, vermainen sy des seye unbillich. 13 Darzu abbt, prior und convente zu Irsin geantwurt, wie daß die zehenden 14 von ihnen nit von neüem erdacht, sonder im alten testament durch gott zugeben aufgesezt worden were, auch also und bisher gebraucht und allenthalb zugeben gepflogen, ihnen welte auch nit gebühren daran enderung zemachen auch die pfarr an ihren pfärrlichen rechten ringeren zulassen, es gebühre auch ihnen, daß sy nit maister Bernharden [/ 17r] iezigen pfarrer red halten, und handln seyen, daß er die pfarre, wie er die gefunden und von alter her gebraucht hab, also behalten sey. Darauf wir disen entschaid gesezt und gegeben, daß uns darin enderung oder neüerung zemachen nit gebühre, noch zustand, sonder sollen sy die von Baißweyl und ander die gross und kleinzehenden, wie die von alter her gebraucht, getreulich geben und überantwurten, es wäre dann, daß deßhalb im Hayl. Reich ein sondere ordnung gemacht würde, alßdann sollen sy demselben geleben und nachkommen. [/ 17v] 12 Fall- und Hauptrecht; vgl. Anm. 15 zu Todfall. 13 Zu den Baisweiler kirchlichen Verhältnissen vgl. A NTON S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg historisch und statistisch beschrieben, Bd. 2: Die Landkapitel Agenwang, Aichach, Baisweil, Bayer-Mänching, Burgheim, Augsburg 1864, S. 320f. 14 Groß- und Kleinzehnt; vgl. H EIDE R USZAT -E WIG (Bearb.), Die 12 Bauernartikel. Flugschrift aus dem Frühjahr 1525 (Memminger Geschichtsblätter, Sonderheft), Memmingen 2018, Artikel 2, S. 69f. <?page no="418"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 417 Der sibendt der von Baißweyl beschwehrung articel, daß sy beschwehrt seyn mit den todfällen 15 und begern reich und arm darin milderung und mass. Darzu abbt, prior und convent zu Irsin die antwurt gegeben, wie daß sy darin niemandt beschwehrt haben, wellen auch das noch nit thun, daß dann ihnen das nachzulassen gebühre, sey ihnen gegen anderen herrschafften und nachbauren nit verantwurthlich, doch wellen sy sich härin gebührlich, zimlich und leidenlich halten, wo auch desshalben ain enderung der handlung gemess gemacht, darvon welten sy gern red halten lassen [/ 18r] Darauf wir disen entscheid gemacht und gegeben, daß in disem fall gegen gottshauß Irsin kein bequemmlich ordnung gemacht werden muge, ursachen dweyl das gottshauß aigne leuth kein geschworne steyr, darauf dann in disem fall ordnung und mass der todtfälle halb gestelt nit gegeben, damit es aber wie billich, leidentlich gehalten, so ist gesezt, daß die todtfälle von den personen, so in ainem guten zimlichen vermögen seyn, wie von alter her gegeben und genohmmen werden sollen, aber von denen so arm und eins kleinen vermügen auch wayßen und kleinen unerzogenen kinder hinter ihn verlassen, do solle ain herr zu Irsin [/ 18v] und sein nachkommen sich gnädiglich erzaigen und halten und dermass barmherzigkeit beweißen, als die gegen gott dem allmächtigen darumb antwurt geben und den lohn empfachen wellen, damit die armen wittwer, wittwen und wayßen auch kleine kinder gnad befunden zuhaben spihren mügen. Dern acht der von Baißweyl beschwehrung articul, daß ihr begehren sey, so der zehendt zu baißweyl außgetroschen werde, daß dann stroh und schweinis 16 im dorff bleiben und ihnen zukauffe gegeben werde. [/ 19r] Darzu appt, prior und convent zu Irsin dits antwurt gegeben, wie daß sy sich in dem und bißher also gehalten, dass sy nit weiter noch mehr, dan ihr merckliche notturfft gen Irsin führn lassen haben, alß wie ihnen dan sollichs wohl gebühre und zustand sy haben auch des fug, macht, recht und gewalt, und soviel sy des nit empören künden oder mügen, werden sy von sollichem nit abstehn, es müge ihnen auch sollichs niemandt verargen, dann sy sollichs ihnen selbs und ihrem gottshauß wohl schuldig seyen, zu dem so thuen sy etlichmahl den zehenden daselbst zu Baißweyl verkauffn, und so sollichs geschicht, alßdann so seyen sy [/ 19v] nit weiter noch mehr darvon nemmen, dan was in kauff angedingt werde, daß dan ihnen und ihrem gottshauß darin ordnung zemachen, des zugestatten, welle ihnen nit annemmlich noch füglich seyn, sy mügen auch sollichs nit leiden, dann es stande in ihrem gefallen, die zehenden zu verkauffen oder ihren gottshauß selbs einsamblen zelassen. 15 Todfall, Sterbefall: Besitzwechselabgabe, die beim Tod eines dinglich oder persönlich Abhängigen an den Herrn zu zahlen war, meist in der Form des besten Stücks Vieh oder des besten Gewandes; vgl. E UGEN H ABERKERN / J OSEPH F RIEDRICH W ALLACH , Hilfswörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl. Tübingen 1987, S. 597. 16 Schweinis: Abfall vom Getreide; vgl. H ERMANN F ISCHER (Hg.), Schwäbisches Wörterbuch 5, Tübingen 1920, Sp. 1267. <?page no="419"?> T HOMA S P F UNDNER 418 Darauf wir abbte, prior und convente antwurth für ein zimlich und billich mittel erwegen und den von Baißweyl, dass sy von sollichem ihrem begern gütlich abstanden gesagt, die sich also underthäniglich halten [/ 20r] wellen zugesagt. Der neundt der von Baißweyl beschwehrung articel, wie daß die so die hayligen ackher, alß die kirchen pfleger verleihen, haben auf ein iede juchart ein mezen korn geschlagen, dass sy wider alt herkommen und begehren, dass man ihn sollichs abthüe und halt wie von alter her. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin dits antwurth gegeben haben, wie daß sy solliche anforderung von ihren underthanen denen von Baißweyl etwas befrembde und nit unbillich in dem, dass sy der kirchen oder [/ 20v] heyligen ackher nit mügen noch wellen lassen verleihen wie die wohl ertrage, mügen, sy sezen auch in keinen zweiffel, wo die ackher eins ieden aigen, er were dieselben nach seinem nuzen und guten gefallen verlassen, also seye es mit den heiligen ackhern auch und nit unbillich, dann wo man dieselben wie die von der gemaindte zu Baißweyl wellen, verleihen lassen würde, so welte ein ieder einen ackher haben, dardurch dann zwischen ihnen unwill auch neüdt und hass erwachsen und der kirchen nuz nit gefürdert, und sey ganz billich, daß man die ackher, wie dieselben wohl ertragen verlassen sey, verhoffen auch es werde darin [/ 21r] kein enderung gemacht. Darauf wir berathschlagt und erwogen, daß der von Baißweyl beger nit gar füglich sey, demnach mit ihnen den gesandten und gewalthabern, sovil gütlich redt gehalten, dass sy von sollichn begern abgestanden. Der zehendt der von Baißweyl beschwehrung articel also lauthendt, wie sy auf dem berg mäder haben, darvon sy waydt und grassgelt bißher gegeben, dweyl aber der mehrer theil dselbn mäder zu [gestr. güther] äcker gemacht, darvon dann ain herr zu Irsin gült und zehenden nemmen, sey nit billich, dass [/ 21v] sy von dem, das sy nit niessen, noch mit ihren vich brauchen mügen, darvon waidgelt geben, begehren, daß ihnen das waidgelt nachgelassen werde. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, wie daß allwegen der enden von den erbawen güthern der gewohnlich zehend, auch waydt gelt gegeben und geraicht, auch also bißher gehalten worden sey, sy haben auch darin kein neüerung gemacht, sonderen also gefunden, darumb ihr begehr frembd und bitten, dass die von Baißweyl von solchem ihrem fürnehmmen gewißen werden. [/ 22r] Darauf wir disen endtschaidt gegeben und gemacht, dweil der gemainde zu Baißweyl an demselben ende darvon sy bißher jährlichs vierzehen pfundt halber zu waydgelt geben haben, durch den acker bau an der waydt etwas entzogen wird, so sölen sy die von Baißweyl fürohin zu iährlichem waidgelt geben, namlich siben pfundt haller, an wellichen berührten siben pfundt haller sy die von Baißweyl dritthalb pfundt haller, von denen von Lauchdorff innemmen und empfahen, und also die siben pfundt die von Baißweyl dem gottshauß Irsin iährlichs ohn costen und schaden zuantwurten schuldig und verbundn seyn sollen. [/ 22v] <?page no="420"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 419 Der aylfft der von Baißweyl beschwehrung articel also lautendt wie dass sy vom hirtenstab 17 vierhundert ayr geben müssen, des seyen sy beschwehrt. Darzu abbt, prior und convente die antwurth gegeben, wie dass sy sollichs nit angefangen, noch auch sollichs erdacht, auch kein neüerung gemacht, sonder also von alter her gefunden, verhoffen auch also zubleiben und mit ihnen kein neüerung noch enderung gemacht. Darauf wir disen entschaid gemacht und gegeben, dweil sollichs der iezig praelat zu Irsin das nit gemacht noch aufgesezt, sonder sollichs also gefunden [/ 23r] hat, dass dann auch billich bey sollichem also bleiben und die vierhundert ayr iährlichs geben seyen. Der zwölfft der von Baißweyl beschwehrung articel also lautendt, sy seyen beschwehrt der farrn 18 und eber halb vermeinen dieselben sollen ohn der gemeinde zu Baißweyl schaden uff dem widenhoff 19 gehalten werden. Darzu abbt, prior und convent zu Irsin die antwurt gegeben, wie daß sy sollichs also gefunden und bißher gebraucht, wellendt auch also bey ihrem brauch bleiben und verhoffen kain neüerung damit anzuheben. [/ 23v] Darauf wir disen entschaidt und gütlichen vertrag gemacht haben, dweyl der widenhoff zu Baißweyl dem gottshauß Irsin zugehörig ist, dass dann bey demselben widenhof billich eber und farrn ohn der von Baißweyl costen und schadn gehalten werden, wellicher eber den von Eggenthal, Lauchdorff und anderen weylern daselbst umbgelegen, auch gewertig seyn solle. Der dreyzehend der von Baisweyl beschwehrung articel also lautendt, sy beschwehren sich, daß man die so tagdienst 20 thun müssen mit speiß nit versehen sey, dass dieselbigen ihr arbeit dest stattlicher vollbringen mügen. [/ 24r] Darzu abbt, prior und convent zu Irsin die antwurth gegeben, wie daß ihnen nit müglich seye, iederman nach seinem willen mit essen und trünckhen zuersettigen, dann bey weylen seyen an sollichen tag diensten etwann schwanger frauen, etwann alte etwann iung leüth erscheinen, die dann ains ungleichen gemüths und willens seyen und wie man ihnen speiß mit kochen beraytten ist, dennoch kein benügen, dan wie iezo layder in dem zutrünckhen 21 der gebrauch sey, also welle es 17 Hirtenstab: Teil der Dorf- und Gemeindeherrschaft, bestehend in der Aufsicht über das Weidewesen; vgl. E. H ABERKERN / J. F. W ALLACH , Hilfswörterbuch (Anm. 15), S. 283. 18 Farre: Stier; vgl. A. G ÖTZE , Frühneuhochdeutsches Glossar (Anm. 10), S. 72. 19 Widenhof: häufig bezeichnet widem nicht lediglich die Grundstücke, sondern ein Kirchengut als Ganzes, auch mit den zu seiner Bewirtschaftung gehörenden Gebäuden usw., das vom Geistlichen selbst oder von weltlichen Pächtern bewirtschaftet sein kann; vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), https: / / www.dwds.de/ wb/ dwb/ widem (aufgerufen am 23.4.2024). 20 Tagdienste: Dienste; vgl. H. R USZAT -E WIG (Bearb.), Bauernartikel (Anm. 14), Artikel 6, S. 72. 21 Zutrinken: dies wird zu einem Brauch eines mehr oder weniger rohen geselligen Trinkens, der besonders im 15. bis 17. Jahrhundert herrschte und in einen Trinkzwang ausartete; vgl. <?page no="421"?> T HOMA S P F UNDNER 420 auch in dem essen entstehen, dardurch dan niemandt seins willens und gefallens ersettiget werden mag, aber nicht destminder, damit sich die ienigen so zu [/ 24v] den tag diensten erfordert werden nit zu klagen haben, so wellen sy bey ihren köchen und kölleren darob und daran seyn, auch verschaffen, damit die speiß mit allem fleiss beraith werde, darzu sy auch getreülich halten und aufsehen haben wellen, damit denselben, so an den tag diensten mit ihrer arbeith erscheinen, was von alter herkommen ist, getreülich widerfahren und mitgethailt werde. Darauf wir disen entschaift gemacht und gegeben, daß ein herr zu Irsin mit den seinen ernstlich verschaffen solle, daß es, wie die antwurth gegeben, also gehalten und vollzogen werde. [/ 25r] Der vierzehendt der von Baißweyl beschwehrung articel also lautendt, sy begehren, daß man das holz gleich außthail 22 den armen alß dem reichen nach gestaet der sachen. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt gegeben, daß sy solliche anforderung von ihren underthanen den von Baißweyl beschwehre, dan ihn sollichs zuthun nit müglich sey, dan iedem nach seinem willen und gefallen holz zugeben, ob sy gleichwohl zehenmahl mehr hölzer hetten, dannacht nit erraichen were, es sey auch ihnen zuthun in ihrem vermögen nit, sonder begehren, daß die von [/ 25v] Baißweyl alß ihre underthanen von sollichen ihrem fürnehmmen gewißen und das gottshauß bey altem brauch bleiben lassen, dann die ordnung in den hölzern sey nit neu, sonder darumb gemacht, damit in künfftig zeit an holz destminder mangel werde. Darauf wir disen entschaidt gemacht und gegeben, wo ainer holz zu bauen die notdurfft erforderen were, sodann solle sich ein herr zu Irsin in gebung zimblichs bauholz nit wideren, sonder gnädiglich halten, damit die häußer, städel und speicher in bau gehalten werden mügen. [/ 26r] Der fünffzehendt und letst der von Baißweyl beschwehrung articel begehren sy daß man ihnen zum rechten ein beystandt thüe ietlichem zu seiner notturfft. Darzu abbte, prior und convente des gottshauß Irsin die antwurth, daß sy für sich selbs und ihre underthanen und aigne leuth zu aller billichait zu fürdern willig und genaigt seyen und ob fürohin iemandt der ihren es wäre zu der gütlichait oder zum rechten ains beystandts nothtürffigerers oder würde darzu wollen, sy ihre ambtleuth dermassen wie oblauth, dass sy ihren armen leuthen hilff und beystandt zu der güttlichait oder [/ 26v] im rechten thun seyen, halten, doch uff des costen der also ains beystands begehrt, demselben solle es alßdann getreülich gefolgen. Darauf wir disen entschaid gemacht, dweyl abbt, prior und convente zu Irsin nach vermüg ihrer antwurth sy des so ihrer underthanen von Baißweyl begehren willig thun und vollziehen wellen, dass dann billich bey sollichem erbiethen bleiben. Damit so sollen bayd obgemelt partheyen obangezaigter irher gehabten spenn, irrung und zwytrachtung inmass [/ 27r] obstatt auf ein ganz end geaint, gericht und vertragen seyen, auch herüber kain thail den anderen über und wider disen entschaidt, spruch und vertrag weiter und mehr umb nichten anlangen, ansuchen bekümmeren noch beschwehren, sonder alß einen gemachten, bewilligten und DWB 32, Sp. 873, https: / / woerterbuchnetz.de/ ? sigle=DWB&lemid=Z12160 (aufgerufen am 23.4.2024). 22 Holz außthailen; vgl. H. R USZAT -E WIG (Bearb.), Bauernartikel (Anm. 14), Artikel 5, S. 71f. <?page no="422"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 421 angenohmmenen vertrag getreülich gegeneinander halten, nämblich ein herr zu Irsin gegen seinen underthanen gnädiglich erzaigen und so sy ie zu zeiten ainer oder mehr ihrer notturfft halb zu seiner ehrwürden kommen, dieselben gnädiglich hören, mit guten und freundtlichen worthen räthen, also guten beschaid geben, här [/ 27v] wider und dargegene sollen sy die von Baißweyl sich gegen einen herrn und praelaten zu Irsin alß gegen ihren gerichts und grundts und leibherrn auch underthäniglich halten, erzeigen, beweißen und thun, auch ihre aufgesezt zins und gülten zu iederzeit antwurthen alß wir gehorsamb underthanen des schuldig pflichtig und verbunden seyn. Darauf solle kein theil das gegen den anderen in ungnaden noch unwillen nimmer gedenckhen, sonder sollen fürohin die von baißweyl alß des gottshauß Irsin underthanen gelübten, und geschwöhren bey sollichen ihren gethanen ayden bleiben, dem [/ 28r] selben gehorsamlich, und underthäniglich wie frummen leuthen gebührt und zustat anhangen, geleben und nachkommen. Und nachdem etlich des gottßhaus Irsin gerichts underthanen in etlichen ihren beschwehrungen ain gleichlautende mainung alß die von Baißweyl angezeigt, auch für beschwehrungen gehabt und dermassen fürbracht, wie dann dieselben beschwehrungen mit den von Baißweyl sich vergleich und darauf wir entschaid und einen gütlichen spruch auf ihr baider partheyen bewilligen und zulassen gemacht haben wir uns alßbald auf denselben entschaidt [/ 28v] referirt und demselben entschaid auf iedes theils beschwehrung gleich eröffnet, das dann also von allen des gottshauß underthanen williglich angenohmmen worden ist. Der von Eggenthal ersten beschwehrung articel also lauthende, sy seyen beschwehrt insondheit disem gleich des baudings 23 halb, dann do abbt othmar 24 seeliger gedächtnus des bauding angefangen hab, so sey domahls verhaissen worden, fürohin in ewig zeit zubleiben lassen, wie von alter herkommen, sey sollichs aber bißher an ihn nit gehalten, damit sy in mannigfältig weg beschwehrt seyen. [/ 29r] Darzu abbte, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, wie dass sy sollich bauding nit allein, sonder auch in stätten und anderen gottshäusern gehalten werde und sey des baudinge darumb angefangen und gemacht, dass ein ieder underthan im iahr ainest mit seiner herrschafft rechnung thüe, dergleichen ob ainer seinen bestandt aufrecht und redlich, auch sein bestandt guth getreülich und weßenlich haben und halten sey zuverkunden, es sey auch den underthanen ganz nuzlich und gut damit sy sich mit bezahlung darin zurichten und zu halten wissen, dan in einem bauding werde 23 Bauding: Dorfgericht; vgl. E. H ABERKERN / J. F. W ALLACH , Hilfswörterbuch (Anm. 15), S. 159f. Versammlung der Hörigen eines Gutes oder einer Herrschaft mit Beschlußrecht in Feldbausachen, Recht auf Feststellung der Gülten, Recht auf Schlichtung von Streitsachen; Versammlung, anläßlich der Hörige ihre Abgaben an den Grundherren entrichteten; Gerichtsversammlung einer Herrschaft über die Hörigen‹; metonymisch auch: ›Abgabe an den Grundherrn‹ sowie ›der grundherrlichen Gerichtsbarkeit unterliegendes Land; vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch: https: / / fwb-online.de/ lemma/ bauding.s.2n? q=bauding& page = 1 (aufgerufen am 23.4.2024). 24 Abt Otmar Binder stand dem Kloster 1490-1501 oder 1502 vor. Zur Reform des Klosters Irsee erließ Bischof Friedrich von Augsburg 1494 eine ›charta reformationis‹. »Abt Otmar zeichnete sich durch Baulust aus.« 1495 ließ er Eggenthal zur Pfarrei erheben; vgl. A. S TEI - CHELE / A. S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg 6 (Anm. 2), S. 184f. <?page no="423"?> T HOMA S P F UNDNER 422 alles das ienig, so zu dem [/ 29v] gemeinen aufgerichten landtfriden dient, berathschlagt, dergleichen was die underthanen an ihren gülten bezahlt oder sunst hinderstellig schuldig seyen berechnet und ainander zuberichten, dergleichen ob die nachbauren sunst auch gegen einander in irrung stenden des zuerörthern und außzurichten, dergleichen so man in dem bauding zesamen komme, kunde uff vilerley weg des der herrschafft und den underthanen guth und nuzlich sey, handlen machen, seze und ordnen, wie männiglich für nuz seyn, bedenckhen und ermessen mag, das dann alles nach länge zuerzehln underlassen wird. [/ 30r] Darauf wir disen entschaidt und mit bayder partheyen wissen und willen gemacht und gegeben, dweil das bauding allein zu verhüetung allerley irrung und umb fridens willn zuhalten gemacht und fürgenohmmen, daß dann die underthanen ab sollichem kein beschwehrung haben, sonder sollichs in maßen des angefangen, iährlichs billich gehalten werden und die underthanen demselbigen gewärtig sein sollen. Der ander der von Eggenthal beschwehrung articel also lauthendt, ihn sey ain bott gestelt worden bey zehen gulden, daß ein ieder sein kindt verheurathen [/ 30v] sole ausserhalb der herrschafft oder mit ihrem willen, sollichs ihnen und ihren kindern zu grossen nachtheil raiche. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin wie auf der von Baißweyl fünfften beschwehrung articel antwurth gegeben hat, darauf wir auch gleich disen entschaid wie wir auf derselben von Baißweyl fünfften beschwehrung articel gemacht gegeben, auch also des articel halb vertragen sein sollen. Der dritt der von Eggenthal beschwehrung articel also lauthende, weiter seyn wir beschwehrt mit ganz überflüssigem [/ 31r] hofgelt an gülten und hofstatten zinß, so ihn auferlegt sey mehr dann von alterher, auch insonderheit darein geschlagen ayr, keß, hener, so bey menschen gedächtnus nit geweßen sey. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin antwurth wie uff der von Baißweyl anderen beschwehrung articel gegeben, darauf auch wir dasselb mittel und den endtschaidt wie uff der von Baißweyl anderen beschwehrung articel gemacht und also vertragen seyn sollen. Der viert der von Eggenthal beschwehrung articel also lauthend, wir seyn beschwehrt [/ 31v] der pfärrlichen rechten halb sein in hoffnung des großen zehenden halb solle ans sollichs beschehen auch stroh und schweinis im dorff bleiben, damit die güther angestraifft werden, auch begehren wir, dass uns deßhalb werde gestelt und gelassen ain farr, voll 25 und eber, alßdann anderthalb der gebrauch an vil orthen ist. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt geben, wie dass sy sich ganzlich versehen, dass sy die von Eggenthal einen ehrlichen und gelehrten pfarrer haben, der auch ihnen alle billichait und was er schuldig sey, widerfahren lass, ob sy aber daran [/ 32r] ainichen mangel hatten und sy des glaublichen bericht empfangen, sodann wellen sy darin handlen, des sich gebühre, der stier, eber und vollen halb geben sy die antwurt wie uff der von Baißweyl zwelfften beschwehrung articel gegeben sey 25 Voll, vole: junges Pferd, ross; M ATTHIAS VON L EXER , Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 26. Aufl. Stuttgart 1951, S. 294. <?page no="424"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 423 und der zehenden auch stroh und schweines halb, geben sy die antwurth wie auf der von baißweyl achten beschwehrung articel. Auf den ersten puncten dises vierten der von Eggenthal beschwehrung articel lassend wir es, wie die verantwurtung desselben stet, bleiben, auch des für billich und zimlich erkennen. [/ 32v] Der stier, eber und vollen halb, darinne entschaiden wir, dweyl der widenhof zu Eggenthal iezo dermassen verlihen worden ist, daß der keinen eber, stier oder vollen halten solle, so und dann der widenhof fürohin ledig wird, so solle ein herr zu Irsin oder seine nachkommen dem gemainen dorff zu Eggenthal dem widenbauren, daß derselb einen stier halten und haben solle, ohn des dorffs schaden andingen, und dweyl so sollen ein herr zu Irsin der gemaindt zu Eggenthal iährlich für einen stier, damit derselb gehalten werden müge, ain gulden daran zu steyr geben, so aber ein herr zu Irsin auf dem widenguth ain [/ 33r] stier halten und haben ist, sodann solle der gulden zugeben abseyn. Des ebers halb ist gemacht, daß der eber so zu Baißweyl gehalten werden solle, den von Eggenthal, Lauchdorff und anderen weyleren daselbst umb die dem gottshauß Irsin zugehörig seyn, auch warten und sich desselben gebrauchen mügen. Des folen halb ist gemacht, dweyl bißher der enden keiner gehalten worden ist, daß dann sollicher zu halten auch abseyn, dann alß zugedenckhen nit vil gestatten, daselbst seyn, sonder sich des, des zu Irsin gehalten gebrauchen mügen, stroh und schweines halb entscheiden wir wie auf der von Baißweyl [/ 33v] achten beschwehrung articel gesezt und gemacht, den auch die gemelten von Eggenthal also bewilliget und angenohmmen. Der fünfft der von Eggenthal beschwehrung articel also lauthend, ferrer sein wir beschwehrt und begehren, dass uns solle holzgegeben werden, dem armen alß dem reichen, zu der notturfft, darmit wir die häußer mügen bessern. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, dass die häußer, so auff ihren güthern gebauen und darzu gehören, so dieselben zu besseren die notturfft erforderen und [/ 34r] sy des glaublichen bericht empfangen, alßdann wellend sy sich gegen ihren underthanen gnädiglich und gebührlich halten, aber arm und reich holz zegeben, lassend sy des bey der verantwurtung wie auf der von Baißweyl vierzehenden beschwehrung articel gestelt ist bleiben. Darauf entscheiden wir, dweyl abbt, prior und convente sich zu gebührlicher notturfft holz zu zimmerern zugeben bewilliget, das dann billich bey sollichem erbiethen bleiben solle, und die von Eggenthal sollichs zu danckbarkeit annehmmen seyen. [/ 34v] Der sechst der von Eggenthal beschwehrung articel also lauthendt, ferrer seyn wir beschwehrt, dass wir bayden herrschafften sollen dienen, insonderheit zu der zeit, so wir sollten an unser arbeith seyn. Darzu abbt, prior und convente die antwurth gegeben, daß sy ihrer underthanen zu Eggenthal und sunst mit tag diensten nit weither noch mehr dann von alter herkommen benüegen und darzu erforden lassen, sy wellen auch ihr arme leüth darin weiter ungeren beschwehren, es were dann, daß sollichs auß mercklicher notturfft seyn miest, ie und zu demselben werden ungezweiffelt sich ihre [/ 35r] underthanen auch gehorsamblich erzeigen. Darauf wir disen entschaidt gemacht, dweyl abbt, prior und convente zu Irsin, daß sy ihr arm leuth über alt herkommen mit den tag diensten nit beschwehren, sonder wie sy die gefundn also bleiben zulassen in ihrer antwurth hören lassen u haben, daß dann billich bey sollichen tag diensten auch <?page no="425"?> T HOMA S P F UNDNER 424 bleiben solle, es were dann wie iezo die augenscheinlich ein gottshauß Irsin der begangen brunst 26 halb mehr tag dienst die notturfft erfordern were oder würde, in demselben sollen die underthanen sich auch gehorsamb und willig erzeigen. [/ 35v] Der sibend der von Eggenthal beschwehrung aerticel also lauthendt, ferrer ist ain gemainde beschwehrt mit dem hirtenstab massen wir iährlichs darvon geben hundert ayr, so vormahls nit geweßen ist. Darauf abbt, prior und convente zu Irsin, wie uff der von Baißweyl elfften beschwehrung articel geantwurth gestelt haben. Darauf wir auch den entschaidt, wie auf der von Baißweyl elfften articel gegeben, also baiden theilen geöffnet und das also bleiben zulassen angezeigt. [/ 36r] Der acht der von Eggenthal beschwehrung articel also lautendt, weiter begehren wir, daß uns der bach einßtheils frey sey, wie von alter her, auch des mezgen zu unser notturfft. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gestelt, dass sy in massen ihrer underthanen der von Eggenthal articel gestelt, am wasser kein alt herkommen gestanden, dann grundt, boden, wasser, wasserrecht sey ihn und ihrem gottshauß zugehörig, sy wellen auch sich des ohn recht nit entsezen lassen, dergleichn von der mezge wegen, sagen sy, daß sy ihren underthanen zu ihr [/ 36v] ieds notturfft in und zu ihren behaußungen zu mezgen nit gewaigert aber sunst neu mezgen wider alt herkommen, des sy nit gefreut, aufzerichten, des haben sy zuthun noch zugewilligen nit fug, recht, noch gewalt, es würde auch ihnen von ihren nachbauren nit gestattet. Darauf wir dißen entschaidt gegeben und gemacht, dweyl abbt, prior und convente in diser antwurth, so uff gestelten articel gegeben, gegründt, das dann billich von des wassers und mezgens wegen, wie die antwurth gestelt, bleiben solle, doch sollen und mügen sy die von Eggenthal des wasser in ihrem articel begriffen zu aller ihrer notturfft [/ 37r] allein des fischens abzestan, sunst gebrauchen. Der neundt der von Eggenthal beschwehrung articel also lautendt, und seyn der hoffnung der gütter halb so wir bestandts weiß inhaben, die lasse man uns niesen und brauchen zu unser notturfft, damit wir rent und gült geben mügen, und fürohin mit gebotten deßhalb nit beladen in mass wie vor. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, daß man den güttern mit bauen und anderen darzu gehörigen sachen außwarten sey, haben sy bißher nie [/ 37v] niemandt gewert, wellen auch des noch nit thun, was dann die billichait zu den güetern erfordert, daß aber sy gestatten oder gemaint und gelegen sein welle, ihren underthanen mit des gottshauß güthern ihrs gefallens damit umbzugehen, wellen sy nit thun, künden auch des zugewilligen nit in rath fünden, dann wo sy ihre underthanen mit sollichen ihren bestandt güthern ihrs gefallens solten oder möchten umbgehen, was wurde darauß gefolgen? Nichts anders, dann dass sy auß unseren güthern etliche stuckh wurden verkauffen, etliche versezen, etliche verleyhen, etliche holz darauß verkauffen, [/ 38r] ein andern erblehen machen, ainander darauf verheürathen, und sunst vil dergleichen fäll zutragen und begeben 26 Gottshauß Irsin brunst: »[… am 18. Mai [1525] legten die Bauern […] an das Kloster Feuer, welches die Kirche, die alte und die neue Abtei und das Conventgebäude vernichtete«; A. S TEICHELE / A. S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg 6 (Anm. 2), S. 201. <?page no="426"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 425 würden, die dem gottshauß unleidenlich wern, darumb bitten wir unser underthanen von sollichen ihrem unbillichen begehren zuweisen. Darauf wir disen entscheidt gegeben, dweil des bauding dermaß wie man die güther bestandtsweiß in halten und haben sey aufgericht, daß dann auch billich bey sollichem, wie einem die gütter verlassen, bleiben und die von Eggenthal von sollichem ihrem begehren billich abstanden. [/ 38v] Der zehendt und letst der von Eggenthal beschwehrung articel, also lautendt, weiter ist unser begehren, daß die mäder so in unser tratt 27 ligend, die sollen uns so im dorff gesessen verlassen werden und frembden und außwartigen leüthen weiter und mehr nit verlassen werden, dann uns das bißher zu grossem nachtheil geraicht hat, mehr dan in einem weg, und wellen uns gänzlich versehen, sollich beschwehrung werde uns gemindert und wellen sollichs kurzlich und schlechtlich gesezt haben und was dan anderen gottshauß leüthen dermaß weiter gemacht wird und entscheiden werden, in mehren articlen anders wie oblauth [/ 39r] wellen wir uns auch vorbehalten haben. Darzu abbt, prior und convente die antwurth gegeben, wie daß sy ob sollichem ihrer underthanen begehren befrembdung tragen, es sey auch zuhören unbillich, dan wo ihr beger statt geschehe, was würde ihnen darauß gefolgen? Nichts anders dann daß sy die möder, wie die bauren haben welten verlassen müesten, was dann ihnen und ihrem gottshauß darauß für ein nachtheil und schaden entstan würde, hab ein ietlicher leichtlichen zu bedenckhen, bitten aber die underthanen von sollichem ihrem fürnehmmen zuweißen, dan sy und ihr gottshauß haben auch noch mehr underthanen [/ 39v] die sollichen mödern gesessen und derselben alß nottürfftig, alß die von Eggenthal haben. Darauf wir disen entschaidt gemacht, dweil die möder dieser zeit verlihen und auch füglicher weiß von den so dieselben bestandts weiß inhaben, nit zunemmen noch zuerfordern seyn, daß dann dieselben wie einer bestanden also bleiben solle, so und wann aber deren eins ledig würde, so sollen die von Eggenthal zu sollichen mädern von männiglichem darzu umb das gelt wie ein anderer geben wöllte gelassen werden, darin sy auch ein herr zu Irsin gnädiglich fürderen solle mit dem bedinglichen [/ 40r] anhang, was andern des gottshauß underthanen fürohin auß gnaden oder sunst mitgetheilt oder anderen in ihrn beschwehrungen so herin nit begriffen, nachgelassen, das solle alles und iedes den von Eggenthal auch recht vorbehaltn und außgedingt seyn. Darmit bayd partheyen aller ihrer spenn, auch gegen und miteinander geaint und vertragen seyn, das auch also bayd theil in massen obgeschriben stat gegeneinander zuhalten bewilliget und für sich ihre nachkommen und erbn angenohmmen haben. [/ 40v] Der von Lauchdorff ersten beschwehrung articel gegen dem gottshauß Irsin also lautendte, am ersten der leibaigenschafft halb, wann ain leibaigen mann oder frau stirbt und sonder so arm seyn, daß sy dem herrn gross und vil haubtrecht geben müessen, dardurch zu zeiten die kinder so sy verlassen in armuth und vom landt getriben werden, dergleichen wann ain leibaigen mann oder frau, ain mann oder weib zu der ehe nimbt, so unserem herrn mit der aigenschafft nit verwant ist, dass sy dem herrn 27 Tratt: Tritt- und Trattrecht, das innerhalb eines Gewannes bestehende Recht der einzelnen, zur Feldbestellung und Ernte über andere Grundstücke zu fahren; vgl. E. H ABERKERN / J. F. W ALLACH , Hilfswörterbuch (Anm. 15), S. 623. <?page no="427"?> T HOMA S P F UNDNER 426 lauth eines verbotts zehen gulden verfallen seyn sollen, das doch von alter her und bey keinem herrn herumb der gebrauch ist. [/ 41r] Darzu abbt, prior und convente zu Irsin, wie uff der von Baissweyl sibenden und fünfften beschwehrung articel sy anzaigt, also auch geantwurth haben wellen. Darauf wir auch wie wir auf dieselben bayden gestälten beschwehrung articel die mittel gemacht, ihn den von Lauchdorff eröffnet, die das also zuhalten bewilliget, und die gesandten und gewalthaber angenohmmen. Der ander der von Lauchdorff beschwehrung articel also lautende, weiter seyen wir mit unßerem pfarrer auch mercklich beschwehrt, ursachen halb, daß ein ietlichs [/ 41v] hauß allhie dem pfarrer alle iahr ein mezen korn, auch die ganze gemeinde dem pfarrer alle iahr hundert ayr geben muß und auch wir von unserem korn und früchten so ain merckhlichen zehenden geben, darvon ein pfarrer und ein helffer ehrlich und wohl underhalten werden möchten. Darzu abbt prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, dass sy und ihr pfarrer zu Lauchdorff nit anders nemmen und empfahen, dann von alter her dem gottshauß und dem pfarrer zugehöre, sy tragen auch nit wissen, daß sy der pfarrer über alt herkommen betrange, sonder [/ 42r] er der pfarrer nicht anders fürnemme, dann er fug und recht auch [gestr. was] uns ihm selbs und der pfarr schuldig alß wie ihme angezeigt, auch andere pfarrer vor ihme gehabt und auch gethan haben, darzu seyn sy den zehenden nit anderst nemmen, dann von alter her und mass sy denselben zehenden auch von einer ietlichen feürstatt, einen mezen kern iährlichs zu antwurten von dem gottshauß Aursperg 28 erkaufft, der zuversicht, bey sellichem was sy erkaufft gehandhabt und behalten theten, deßhalb glaubwürdig brieff und sigel wie ihre vorforderen abbte und convente zu Irsin [/ 42v] von abbt und convente zu Aursperg das dorff und gericht lauchdorff erkaufft, darin der zehend auch der berührt mezen korn aigentlich begriffen vor uns einlegen mit begehren sy bey sollichem bleiben zulassen und ihre underthanen von sollichem ihrem begehren zuweißen. Darauf wir disen entschaidt gemacht, dweil deßhalb glaublich brieff und sigel die ob neunzig iahren alt seyn gesehen und hören lassen haben verhanden seyn, wie das sollicher mez korn von alle [gestr. alten] feürstatten zu Lauchdorff iährlich gegeben, auch also an das gottshauß Aursperg kauffweiß [/ 43r] kommen ist, daß dann billich bey sollichem auch bleiben und fürohin von einer ieden feürstatt zu Lauchdorff iährlichs ein mez korn dem gottshauß Irsin oder wo ein praelat das zugeben verordnet, mit sambt den hundert ayern dem pfarrer oder anderen antwurten sollen. Der dritt der von Lauchdorff und Grossriedt beschwehrung articel also lautendt, deßgleichen zeigen die von Grossriedt an, wie sy alle vier 29 dem pfarrer allhie zu Lauchdorff iährlichs dreissig schilling haller geben müessen, und wissen nit warumb, dergleichen wie unser herr zu Irsin alle iahr zwölff [/ 43v] stier uff ihr wayd under ihr vieh schlage, das an disem orth der gebrauch nit sey, darob sy gross beschwehrt seyen. 28 Aursperg: Kloster Ursberg; vgl. A. S TEICHELE , Das Bistum Augsburg 2 (Anm. 13), S. 355. 29 Bei […] alle vier […] handelt es sich evtl. um einen Schreibfehler. <?page no="428"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 427 Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, wie dass sy auch ihr pfarrer zu Lauchdorff gegen den von Grossriedt und anderen sich nit anderst, dan wie von alter herkommen understanden zugebrauchen, auch sy solliches gefunden, auch er abbte des alles kein anfang in massen ihm zugemessen werde, geweßen, sonder also uff ihn kommen, und also gefunden, wellen auch kein neues zemachen begehren, sonder bittend die von Grossried dahrin [/ 44r] zuvermügen, daß sy bey dem wie sy von alter her ihre güther und mit dem beding der wayd rinder bestanden, bleiben, dergleichen dem pfarrer was sy von alter her schuldig gewesen, des nochmahls zahlen und iährlichs antwurten, dann es seyen die pfärrliche recht darumb sy ain pfarrer zu Lauchdorff wie andere seine pfarr underthanen mit allen pfarrlichen rechten gewarten muss. Darauf wir disen entschaid und sonderlich dweyl wir desßhalb einen glaublichen besigelten brieff bey acht und vierzig iahren alt 30 gesehen und hören lassen haben, der was ieden [/ 44v] underthan zu Großriedt dem gottshauß Irsin und dem pfarrer zu Lauchdorff schuldig seye, anzaigt, gemacht, dweyl die dreissig schilling dem pfarrer zu Lauchdorff für pfärrliche recht bißher gegeben, auch also einem pfarrer von alter langwühriger und hergebrachter poßeß zugehören seyn, das dann billich bey sollichem auch bleiben und sy die von Grossried iährlichs einem pfarrer die dreissig schilling halber zu antwurten schuldig seyn sollen und der waid rinder halb ist gemacht, dweil deßhalb auch glaublich brieff und sigel vorhanden seyn, daß dermassen die höf zu Großried daß ein ieder hof dem gottshauß [/ 45r] Irsin dreu waidrinder auf der waid gehen haben und halten solle, also verlassen und von alter herkommen in brauch ist, das dann billich bey sollichem alten brauch auch bleiben solle, doch daß durch einen praelaten zu Irsin oder seine ambtleuth vich dahin geschlagen werde, daß dem anderen vich nit schaden thüe ungefährlich. Der viert der von Lauchdorff beschwehrung articel also lautendt, auch muß ein gemainde zu Lauchdorff, arm und reich dem herrn zu Irsin, von gemeinem hirten lohn iährlich zwen säckh haber geben, darab sich ain gemainde beschwehrt, angesehen daß ein gemeinde [/ 45v] nit wissen hat, auß was uhrsachen sy sollichen haber geben, auch kein dorff allhie umb sollichen haber geben ist. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt gegeben, daß sy solliche gült haber gleich den andern güettern zu Lauchdorff erkaufft haben, auch sollichen gült haber in ihrem kauffbrief, den sy hiemit darin zuersehen einlegen wellen, sy seyen auch sollichs zinß in ruhiger poßeß und haben damit, wie ihnen zugemessen, kein neüerung gemacht, sonder laut ihrs kauffs brieffs also gefunden und dweil ihr underthanen die von Lauchdorff auch andere, dem Löblichen [/ 46r] Bundt auch ihnen abbt, prior und convente zu Irsin, daß sy alles des ienig, so von alter herkommen ist, thun wellen geschwohren haben, das dann ihre underthanen dahin gewißen werden, dass sy dem des sy schuldig folg und stat thun. Darauf wir dißen entscheidt gemacht und gegeben, dweil solliche angezeigte zwen säckh haber gült, mit sambt anderen güthern zu Lauchdorff von dem gottshauß Aursperg an das gottshauß Irsin kauff weiß kommen ist, daß dann billich bey sollichem auch bleibe und die von Lauchdorff bestimbt zwen säckh haber iährlichs zugeben [/ 46v] schuldig seyn sollen. 30 […] besigelten brieff, bey acht und vierzig iahren alt […] bezieht sich wohl auf 1467; vgl. A. S TEICHELE , Das Bistum Augsburg 2 (Anm. 13), S. 355. <?page no="429"?> T HOMA S P F UNDNER 428 Der fünfft der von Lauchdorff beschwehrung articel also lautende, und dweil dann in allen gerichten hierumb mehr dann menschen gedächtnus inhalt, der gebrauch geweßen und noch ist, daß ein ieder so den widenhof baut, auf seinen costen einer gemeinde einen hagen 31 und eber halten, so haben wir doch bißher alle iahr einem, so sollichen hagen und eber gehalten, drey pfund haller geben müssen, darin wir auch beschwehrt seyn, ursach halber, daß der, so den widenhof baut, den bach, so auf der gemainde fleucht und gät und der gemeinde zugehört, allein braucht und nießt. [/ 47r] Darzu abbt prior und convente zu Irsin des stiers und eber halb, wie uff der von Baisweil zwölfften beschwehrung articel die antwurth gestelt, gegeben haben, des wassers halb sagen sy, das wasser, wasserfluß, grund und boden zu Lauchdorff sey lauth ihrs beyhandign kauffs brieff erkaufft und ihren underthanen darzu, noch daran kein recht, noch alten gebrauch gestanden, sonder mügen sy des wasser nach ihren und ihres gottshauß nuz und notturfft brauchen, führen und leithen ihrthalb unverhindert und begehren, dass ihre underthanen von sollichem allem gütlich abgewißen werden. [/ 47v] Darauf wir disen entschaidt und zu erst des ebers und stiers halb gegeben, wie auf der von Eggenthal vierten beschwehrung articel nämlich, daß ein herr zu Irsin ihnen am stier iährlichs, damit derselb gehalten, ein gulden zu steur geben solle, biß der widenhof zu Lauchdorff ledig wird, darnach solle einem widenbauren einen stier zehalten angedingt werden, den eber sollen sy brauchen der zu Baißweyl verordet wird und des wassers halb ist gemacht, dweil daßselb wasser bißher und von alter her also kommen, bey dem widenguth geweßen, auch ein widenbaur dasselb wasser zu wassern gebraucht hat, das dan billich [/ 48r] noch also seyn und bleiben solle, doch so überflüssig wasser were, so solle ein ieder dasselb zu billicher notturfft niessen und brauchen, doch dem rechten wasser und wasserfluss ohn schaden. Der sechst der von Lauchdorff beschwehrung articel also lautendt, dann unserer gütter halben seyen wir auch hoch und gross beschwehrt, uß ursachen, daß solliche stuckh und güther wann sy ledig werden mit hofgelt oder erdschez, deßgleichen mit graßgelt, gänß, hener und ayr über die maß und vilmehr dann von alter herkommen geweßen, auch wie unserm günstigen iunckhern Jörgen von [/ 48v] Benznau gut wissen ist, daß uns zugesagt, und weiter mit hofgelt noch andern, wie oblaut, nit zustaigen, ge[gestr. sagt] staigt worden seyn, deßgleichen die so hailigen ackher habn, sich auch beschwehren. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin wie auf der von Baißweil anderen und dritten articel geantwurt haben auch also geben und der hailigen güther, wie auf der von Baißweyl neundten beschwehrung articel die antwurt gestelt, sey auch also geben. Darauf wir disen entschaidt gemacht, [/ 49r] daß die güther wie die dieser zeit mit zinßen beladen seyen, auch also bleiben solln und ob fürohin dern ains oder mehr ledig wurden, sodann so sollen und mügen dieselben nach des gottshauß zu Irsin nuz und des gesezten baudings brauch verlichen und verlassen werden, doch solle ein herr zu Irsin an erdtschez an zinßen und gülten sy gnädiglich halten und beweißen damit die underthanen bey dem gottshauß seyn und bleiben mügen 31 Hagen: Zuchtstier; A. G ÖTZE , Frühneuhochdeutsches Glossar (Anm. 10), S. 114. <?page no="430"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 429 Der sibendt der von Lauchdorff beschwehrung articel also lauthendt ferrer ist einer ganzen gemeinde [/ 49v] zu Lauchdorff bittend begehren ob sach were, daß eienr so ein gut oder hoff allhie inn hat, darauf er verdirbt oder sunst darvon ziehen welt, daß ein herr denselben ein zimblichs darvon verfolgen laß, doch dem herrn an seiner gerechtigkeit ohn schaden. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt geben, wie daß ihnen der von Lauchdorff begern kains weg zugedulden noch zuerleiden sey, dann die güther nit ihr sonder des gottshauß seyen, sy wellen auch zu sollichen des gottshauß güethern iemandt keienr gerechtigkeit gestehen und sodann die [/ 50r] underthanen zu des gottshauß gütern kein andere gerechtigkeit, dann wir sy die bestanden haben, so mag auch nit gefolgen, dass sy ihr gerechtigkeit dweyl sy deren keinen haben, verkauffen mügen, es ist auch bißher in des gottshauß güthern der gebrauch nit geweßen, darumb sy auch, dweil es dem gottshauß nachtheilig, das nit gewilligen, sonder bitten die underthanen von sollichem zuweißen. Darauf wir disen entscheid gegeben und gemacht, wo augenscheinlich und mit wahrhafftigen ursachen angezeigt werden mag, dass einer [/ 50v] seinem bestand guth nit stattlich vorstehen oder des nach billicher notturfft nit bauen kan, oder sunst einer anderen seiner notturfft halb von einem guth ziehen welte, sodann solle ein herr zu Irsin mit seinem wissen ein sollichen abziehen und von dem bestandt kommen lassen und einem anderen der ihm und dem gottshauß gefällig und gelegen, leihen und verkauffen mag, doch solle es in eins herrn zu Irsin willen und guten gefallen stehen, die schuld, so der also abziehen schuldig, dieselb sein schuldt bey dem der obgeschribner mass abziecht oder bey dem, der also durch sein bewilligen [/ 51r] uff zieht, zuhaben, zugewarten und zuerfordern, mit dem bedinglichen anhang und underschaid ob einer so also aufziehen were, mit einem herren ein neüen bestandt machen und treffen welte, derselb soll nach billichen dingen, umb einen erdtschaz vertragen, wo aber einer allein den besteandt des der also abzeücht annehmmen und denselben haben und behalten welt, derselb soll kein erdschaz zugeben schuldig noch verbunden seyn. Der acht der von Lauchdorff beschwehrung articel also lauthende, es ist auch einer gemeinde bitte, dass mann [/ 51v] ihnen dem armen und dem reichen einem ieden, anchdem und sich gebührt zimlich holz gegeben und uns mezgen lass, wie von alter beschehen ist. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin von erst von des holz wegen, wie uff der von Baißweyl vierzehenden beschwehrung articel die antwurt gestelt, also wellen sy die auch gegeben haben und von des mezgen wegen, geben sy die antwurth wie auf der von Eggenthal achten beschwehrung articel. Darauf wir disen endtscheidt gemacht, dweyl die zu Lauchdorff für andn [/ 52r] fleckhen und dörffer an holz mangel haben, dass dann ein herr zu Irsin sy die von Lauchdorff für andn des gottshauß Irsin underthanen mit zimmer und brenn holz gnädiglich halten und bedenckhen solle, des also sein ehrwürd zuthun günstlich bewilligt und des mezgen halb, lasst man es, wie auf der von Eggenthal achten beschwehrung articel gemacht und gestelt ist, bleiben. Der neundt der von Lauchdorff beschwehrung articel also lauthende, auch so sizen hie zu Lauchdorff zwen bauren und dieselben schlecht oder treibt ieder neun haubt vieh auf unser gemainde [/ 52v] wayd, des auch ihnen wie ander unser vich von gemeinen hierten gehalten und gibt ihr keiner von <?page no="431"?> T HOMA S P F UNDNER 430 sollichem vieh kein hirten lohn, geben auch dem hirten kein essen, des sich ein gemeinde hoch beschwehrt, dann nyendart hierumb ein sollicher brauch ist. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt gegeben, daß sy sich des nit anderst, dan wir sy die lauth brieff und sigel erkaufft, mit den zwayen höfen und ihren vichen gebrauchen, es sey auch also die gerechtigkeit in kauff anzaigt, darumb sy auch billich bey sollichem bleiben wellen. [/ 53r] Darauf wir disen entschaidt gemacht und gegeben, dweil solliche gerechtigkeit der zwey höfe also an des gottshauß Irsin käufflichen auch von alter herkommen und gebraucht worden ist, daß dann billich auch also bleiben solle, biß sy des mit recht entsezt werden. Der zehend der von Lauchdorff beschwehrungm articel also lautende und ob hinfüro über kurz oder lang zeit anderen herren praelaten oder vom adel in dißem lande auß eingebung und gnad des allmächtigen ihren unterthanen an der leibaigenschafft oder anderen beschwerden, nichts außgenohmmen, etwas nachgelassen oder ringerung thun [/ 53v] würden, an demselben wellen wir uns hierin gar nichts verzigen, sonder dasselb vorbehalten haben. Darauf wir denen von Lauchdorff den entschaidt gegeben haben, was durch ein concilium oder kayser, könig, churfürsten, fürsten und die stände des Heyl. Reichs gemacht werde, das welln wir ihnen und andern, des ihn zuguth kommen möchte nit abgestreckt haben. Der elfft der von Lauchdorff beschwehrung articel also lautendt, sy beschwehren sich des baudings, ursachen dass bott und verbott erneuert werden [gestr. und] [/ 54r] und sy die güther widerumb von neuem mit gebender handt bestehen müssen. Darzu abbt, prior und convente zu Irrsin wie uf der von Eggenthal achten beschwehrung articel die antwurt gestelt, also geben haben wellen. Darauf wir auf den entschaidt wie auf denselben achten articel gemacht, also hiemit aber geben haben und daß des bauding gehalten werden solle. Der zwölfft der von Lauchdorff beschwehrung articel also lautende, dweil sich die von Lauchdorff ihrs theils, umb die schädn dem gottshauß zugefügt, vertragen [/ 54v] und wo iemandt insonderheit etwas entfrembt desselben wider zuerstatten bewilliget über solches mein herr zu Irsin weiter abtrag von der gemaindt ersucht, begehren sy desselben entlassen zewerden. Darzu abbt, prior und convente die antwurth gegeben, dass sy es sollicher schäden halb bey dem gemachtn vertrag durch Adamen von Stain 32 aufgericht, gern bleiben lassen wellen, haben aber 32 Adam vom Stain auf Ronsberg, 1488 trat er dem Schwäbischen Bund bei, wurde 1505 kaiserlicher Rat und später auch Vogt des Klosters Ottobeuren. Als Mitglied des Bundes beteiligte er sich 1525 am Krieg gegen die aufständischen Bauern; vgl. E. Z IMMERMANN , Kempter Wappen und Zeichen (Anm. 6), S. 325. Item rustici Johannis Adami de Lapide [Stain] castrum ejus quoque ceperunt […]; F RANZ L UDWIG B AUMANN (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs in Oberschwaben (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 129), Tübingen 1876, Nr. VII: Historia belli rusticorum (ursinensium) von P. M AR - CUS F URTER , S. 329; vgl. D ERS ., Geschichte des Allgäus 3 (Anm. 6), S. 11. <?page no="432"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 431 allein des so ihnen entfrembt und ihre underthanen noch bey hends haben erforderen lassen und des auch nit unbillich suchen werden. [/ 55r] Darauf wir auch nichts weiters in dem articel zumachen wissen, sonder bey gegebner antwurth bleiben lassen. Der dreyzehendt und letste der von Lauchdorff beschwehrung articel also lautendt, alß uff meines gnädigen heren von Irsin ansinne an der kirchen biß in fünffthalb hundert gulden verbauen und aber in der dachung nit vollbracht, damit dan daß sollicher bau nit gar zergehe, das sein gnad rath und hilff damit des gottshauß gedeckht werde oder bey einem reichen hailigen gelt lehen helff. Darauf abbt, prior und convente [/ 55v] zu Irsin die antwurth gegeben, wann ihr gottshauß dermahls nit sogar verderbt und verbrent worden wäre, so welten sy, wie billich gern zu sollichem bau fürderung gethan haben, dweyl aber ihrenthalb, daß sy ihr gottshauß selbs bauen und machen lassen müssen, die notturfft erforderen und sy sunst auch arm seyen, so wissen sy ihnen dieser zeit mit dheinen entlehen zehelffen, darzu sey ihnen nit wissen, dass die kirchen ihnen zugehörig mit gelt gefasst, darumb sy sich sunst wie sy muge behelffn solln. Darauf wir auch keinen anderen ent [/ 56r] schaid dann wie die antwurth ist, geben haben mügen. Hernach folgen die beschwehrden einer ganzen gemaind zu Irsin gegen dem gottshauß daselbst. Der erst von Irsin beschwehrung articel also lautend, anfangs seyn wir von Irsin beschwehrt in unserem trib und tratt, der uns gefährlicher weis geschmählert, genohmmen und entwert wird, nemblich an der schlut dem neün anger und an hofenmad darauf wir den hievor auch von und nach der segeßen 33 gemeinen trib und tratt wie auf [/ 56v] andere wißmäder gehabt, der uns aber iezo außdem das enger darauß gemacht worden, seyn entwert, bitten und begehren mit allem fleiss diemüthiglich, daß ihnen derselb trib und tratt wie von alter her widerumb gefolgen, dergleichen sey ihn genommen ein guter theil an dem kraut garten, der ausserhalb des klosters ligend sey, begehren, daß des alles widerumb zu einem gemeinen vich trib gewendt werde. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, ob gleichwohl sollichs geschehen, des doch ihnen nit wissendt wäre und zu des gottshauß nuz und nothdurfft etwas eingefangen, [/ 57r] so haben sy sollichs zuthun fug, macht, recht und gewalt, dan grund und bodn ihnen und ihrem gottshauß zustehe, also sagen sy gleicher gestalt und maß zu dem kraut garten, dass abbt Othmar seel. gedächtnus sollichs wohl fug gehabt hab, auch ieden boden darzu derselb füglich und gelegen gebrauchn haben mügen, und alß sy bericht, so sey der gemeinde zu Irsin für solliche krautgarten, über daß man ihnen sollichs nit schuldig geweßen mit einem anderen boden erstattung geschehen. Darauf wir disen entschaidt gemacht, dass die enger inmassen die uff disen tag gemacht und bereith seyn also [/ 57v] enger seyen und bleiben sollen, doch so sollen und mögen dieselben enger vor und biß uff st. Jörgen tag mit dem gemeinen vich besucht und wie andere wayd gebraucht werden, ob aber ie zu zeiten ein herr zu Irsin einen anger mit dem gromat seinem vich stan und nit mehen lassen were oder würde, sodann so solle die gemainde ihr vich darein zutreiben nit gewalt haben, sonder damit biß uff st. Gallen tag still stan wellichen anger aber ein herr zu Irsin gromattet und das 33 Segeßen: wohl Sense; vgl. A. G ÖTZE , Frühneuhochdeutsches Glossar (Anm. 10), S. 199. <?page no="433"?> T HOMA S P F UNDNER 432 gromadt ab dem anger geführt ist, sodann sollen und mügen sy die gemainde zu Irsin mit ihrem gemainen viche in demselben anger auch [/ 58r] Treiben, welchen anger aber ein herr zu Irsin mit dem gromath 34 stan lassen will, daßselb solle sein ehrwürden deren ammann und des dorffs führern anzaigen, dami alßdann dieselben bey dem hierten darob seyn, daß er in denselben anger zu derselben zeit mit dem vich darein zu treiben still stand, deßgleichen solle fürohin die gemeinde zu Irsin alles ihr viche allein für den gemainen hirten schlagen und kainer das sein für sich selbs oder allein halten, es wäre dan daß ie zeiten einem ein vich bresthafft wäre, so solle doch das nach des ammanns und des dorffs führern befelch außgeschlagen werden, auch sollen die möder alß die genant sein Schmids Mads, Hannsen [/ 58v] Kreuzers Mad und Ludwigen Kreuzers Madt, so an den neüen engeren und an die Schlut stossen seyn fürohin mäder seyn und bleiben, es sollen und mügen auch dieselbe mäder mit dem viche wie andere holz mäder besucht, genuzt und genossen werden. Der ander der von Irsin beschwehrung articel also lautendt, auch hab man ihnen ein hölzlin oder wäldlin eingraben, 35 bey Ogenrieder weyer wellichs einer gemainde aigen und zugehörig genommen und der gemainde darumb und darfür nichts geben wordn sey, bitten sy ihnen dasselbig widerumb zu geben und folgen zulassen. [/ 59r] Darzu abbt, prior und convente die antwurth geben, daß sy ab sollichem ihrer unterthanen begehren grosses befrembden tragen, dan auß dem ihren unbillichen begehren erfinde sich, daß sy billich geschwigen sölten, dann darbey ist zugedenckhen, daß sy lieber / : alß wie sy angefangen : / alle oberkait und herrlichkeit selbs haben welten, ob das ihrem ayde, den sy geschwohren gemäß sey, gib ich den so das hören, zuurtheiln, und zu noch mehrer und weiterer unterricht, grundt und boden und alles des darzu gehört, sey ihr und [gestr. des] ihrs gottshauß, darumb ihr vorfahren seel. und guter gedächtnis sollichen ihren grundt und boden [/ 59v] nach ihrs gottshauß nuz gebraucht und bewendt haben, sy seyen auch ihren unterthanen den vor Irsin darumb und deßhalb kein antwurth zugeben schuldig. Darauf wir disen entschaidt gemacht, daß ein herr zu Irsin des holz so in dem angezeigten 36 wäldlin stehet zu seiner und seines gottshauß nothdurfft in einer zimlichen zeit abhauen lassen und brauchen solle und wen das geschehen ist, sodann solle derselb plaz einer gemeinen vichwaydt gebraucht werden. Der dritt der von Irsin beschwehrung articel also lauthendt, deßgleichen so hab [/ 60r] ein herrschafft des gottshauß einer gemeinde zu Irsin zwen weeg im feldt genohmmen, des begehren sy widerumb zugebrauchen. Darzu abbt prior und convente zu Irsin die antwurth [gestr. ge] geben haben, daß sy in dem kein neüerung gemacht, sonder haben die also gemacht gefunden wohl haben ihre underthanen zu Irsin ohne erlaubnis und des ihnen keines weegs gebührt hat understanden, die weeg und sonderlich den einen aufgethan, darumb ihnen alß der oberkeit von ihren underthanen zuklagen gebühre und bitte, 34 Gromat: zweiter Schnitt; vgl. A. G ÖTZE , Frühneuhochdeutsches Glossar (Anm. 10), S. 112. 35 […] wäldlin eingraben […]: wohl ›umgehauen‹ gemeint. 36 Für angezeigten von einer anderer Hand gebessert angezogenen. <?page no="434"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 433 daß man ihre underthanen zu Irsin dahin vermüge, daß sy solliche [/ 60v] weeg in vorigen stand bringen und vermachen seyen. Darauf wir den entschaidt gemacht haben, dass der weeg uff der hohen strass gelegen so genant ist der zwerchweeg und gegen dem stainem kreuz gat, wie von alter her gebraucht ein weeg seyn und bleiben solle. Der viert der von Irsin beschwehrung articel also lautendt, item nachdem etliche hofstätten hie zu Irsin umb iährlich zins verlassen dieselben zins seyen bey den alten praelaten dem gottshauß eingezogen und empfangen worden, unangesehen, daß [/ 61r] sollich hofstatten einer gemeinde zugehörig, wiewohl der iezig unser gnädiger herr sollichs abgestelt und den zins einer ganzen gemeinde in das gemein hirten lohn folgen lass, so haben sy aber bißher nicht destminder umb sollichs alle iahr bitten müssen, alß ob ihnen dieselben zins nit zugehören, sonder allein auß gnaden gegeben würde, das doch nit billich, dann sollichs sey einer gemeinde zugehörig, alß menniglich wisse und werden alle iahr in das gemein hirten lohn gewendt dem gottshauß alß wohl, alß einer gemeinde zu gut, darumb bitten sy, dass sy fürohin, sollichs bittends umb das ihr entladen, auch dasselb hoffstatten geldt von [/ 61v] den gemainden auß des gottshauß registern und büchern werde abgethan und der gemeinde ungebetten einzenehmmen und zuempfahen zugeben werde. Darzu abbt, prior und convente guter mass wie vor dan des mehr für antwurth geben haben, wie das ihre underthanen selbs bekennen, daß sollichs die alten praelaten gethan haben, so sy nun sollichs zu des gottshauß nuz, alß sy des wohl fug und macht gehabt gethan, so müg man ihnen darumb nichts args zumessen, sonder daß sy sollichs dem gottshauß schuldig geweßen seyen, gesagt werden [/ 62r] muss, und dwil sollichs also von alter herkommen sey billich, daß mans auch darbey bleiben lass und alß ihre underthanen, daß man sollichs in den registern abthun solle begehren ist, und sy ihrenthalb wohl angesehen, aber ihnen sey sollichs nit verantwurthlich wissen und gedenckhen, auch nit, dass sy sollichs ihnen und ihrem gottshauß nuzlich noch zethun sey, doch so stehe das begehren und bitten in iederman, aber das thuen und lassen in dem der sollichs billich zeseyn bedenckht, wie aber ihre underthanen in dem ein grundtueste ihrs begehren haben, geben sy denienigen, so darin handlen zuerkennen, was willens und gemüths [/ 62v] die bestimbte ihre underthanen auch gelobten und geschwohren seyen erfinde sich in dem und anderen articlen. Darauf wir disen entschaid gegeben, daß sollichs bitten in massen bißher beschehen, gehalten und so das geschicht, alßdann so solle sich ein herr zu Irsin gnädiglich erzaigen. Der fünfft der von Irsin beschwehrung articel also lautende, weiter so seyen wir ein ganze gemeinde zu Irsin vil iahr her mercklich beschwehrt worden mit den überschwencklihcen hofdiensten so her und her ie länger ie mehr in das gottshauß thun muessn, [/ 63r] bitten, deßhalb gütlich darein zusehen, damit sy sollicher mercklicher beschwerde der diensten entladen und wie ander des gottshauß hindersässen, gerichts und arm leuth bleiben zulassen, ob dan die vom gottshauß dienst lehen haben, etwas derhalben weiter schuldig seyn, das wöllen und sollen sy thun nach altem brauch und herkommen und nach vermögen der alten registern und lehenbücher darüber sagendt. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, wie daß ihnen nit wissend sey, daß sy ihre underthanen die von Irsin oder ander über und wider alt herkommen mit [/ 63v] diensten <?page no="435"?> T HOMA S P F UNDNER 434 ie beschwehrt oder das zuthun erforderen lassen haben, sonder begehrn nit anderst, dan daß ihre underthanen von Irsin was von alter herkommen gebraucht thun seyen, alß wie sy dann ihnen alß ihre ordenliche oberkeit gerichts, grundts und leibsherrn zuthun schuldig seyen. Darauf wir disen entschaidt gemacht und vertragen, namlich dermassn und also, daß die in der pfarr zu Irsin in massen von alter herkommen, die tag dienst alß in hayat, gromat und sonst zu anderer gebührender zeit, wie bißher gebraucht worden ist, mit mehen, heyen, einführen [/ 64r] und anden darzu dienstlich dienen und thun sollen, auch so solle in sollichn tagdiensten niemandt gefreyt seyn, auch in hayat und gromat und dieweil man an solcher arbeith ist, solle niemandt außgenohmmen noch zu anderer arbait gebraucht werden, auch so sollen die von Irsin und dießelb pfarr sunst in den tag diensten zimmlich und leydenlich gehalten werden, wo aber ain oder mehr person den also zu den tagdiensten gebotten oder sunst darzu gehörig nit erscheinen würden, sodan so solle dieselbe person einen anderen an statt zustellen und zugeben schuldig und verbunden seyn, damit es gleich und freuntlich gegen und [/ 64v] under einander gehalten werden müg, dergleichen so [gestr. ob] sy obangezeigter mass einen tagdienst thun seyn, so sollen sy die pfarrleuth zu Irsin die mit personen versehen und verwalten die darzu taugenlich seyn. Der sechst der von Irsin beschwehrung articel also lauthendt, item bißher hab ihr gnädiger herr zu Irsin offt und manigmahls den schmid zu irsin in dem kloster gebraucht und behalten, das dan einer gemeinde merckhlichen und grossen nanchteil bracht habe und bitten fleissig, dass solliches fürohin abgestelt werde. [/ 65r] Darzu abbt, prior und convent zu Irsin dits antwurth gegeben, wie daß sy ab sollichem ihrer underthanen fürnehmen beschwehrung tragen, dann sy darin kein neües angefangen, sonder also gefunden und auch bißher gebraucht wordn sey und wie sy die gefunden, also verhoffen sy dabey zubleiben und kein neües mit thuen angefangen. Darauf wir disen entschaidt gemacht und gegeben, wo sy alß ein herr zu Irsin, prior und convente und ein gemeinde zu Irsin sich eins schmidts halb mit einander nit vergleichen mügen, oder kündten, dass dann ein herr zu Irsin für sich selbs einen aignen schmidt [/ 65v] haben und halten müge, dergleichen ein gemeinde zu Irsin auch für sich und die ihren einen aignen schmidt brauchen und halten mügen, doch sollen sy die gemeinde zu Irsin die gnad, die ihnen ein herr und deren convent zu Irsin iezo des schmidts halb auß dheiner gerechtigkeit, bewilligen, nachgeben und zulassen ist die frey wahl haben mit einem herren zu Irsin einen gemeinen schmidt, oder für sich selbs einen zu haben und zubestellen, doch so sy einen eignen schmidt annehmen und bestellen wellen oder werden, so solle derselbe schmidt wie in anderen des gottshauß gerichten gehalten werden. [/ 66r] Der siebendt der von Irsin beschwehrung articel also lauthendt deßgleichen so sey ihnen bißher verbotten worden, gemein hirten ihren nuz nach zubestellen, sonder haben sy allein hirten unserem gnädigen herrn gefällig annehmmen müssen, ob gleich einer der gemeinde nit nüzlich, sonder hochbeschwehrlich gewßt seyen und wiewohl sy allwegen mit dem gottshauß bißher ein gemeine hirtschafft gehabt und haben solln, so habe doch unserer gnädiger herr den mehreren theil erbeut der gemeinen hirtschafft zu seinem vich und gestüeth einen aignen hirten bestelt,dieselben haben dann allenthalben <?page no="436"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 435 die besten wayden vor der [/ 66v] anderen gemeine hirtschafft gefrezt 37 und abgetriben, ein gemainde zu mercklichn schaden und nachtheil zu dem daß sein gnad ein gemainde zu Irsin ohn das mit merckhlicher und überschwenckhlicher anzahl kess und vich überschlagen hat, bitten sollichs abzustellen, darin zimlich milterung und nachlass fürzunehmmen. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt [gestr. ge] geben, wie dass sy ab sollichem ihrer underthanen anzaigen beschwehrung tragen, dann die von Irsin sollen wissen, daß sy damit kein neüerung gemacht, noch mit dem hirten zedingn [/ 67r] understanden haben, darumb sey ihr beger, dass der hüertign massen von alter her gebraucht, also bestelt werde, zum anderen der wayd halb sagen sy, wann ihrer underthanen beger folg geschehe, so wären ihre underthanen herren und sy knecht und hetten demnach nit mehr macht noch [gestr. und] gewalt ihr aigne grundt und boden die ohn alles mittel ihnen und ihrem gottßhauß zugehören zu ihrer notdurfft zu suchen, des dann zuhören ganz frembd und unbillich wäre, sy wöllen aber sich des ihren nit entsezen lassen, sonder wellend ihr vich zu und von der wayd wie des ihnen am füeglichsten seyn kann dweil die vichwayd ihr sey zusuchn befehlen [/ 67v] Darauf wir disen entschaid gemacht und zu erst des hierten halb, daß ein herr zu Irsin sein oberkait haben und brauchn müg und wo noth sey, darin gebührlich zereden vorbehalten seyn solle und der wayd halben, da solle sein ehrwürd, daran seyn und verschaffen, daß solches leidenlich und zimlich gehalten, auch das gestüet oder ander vich ander leüthen nit zu schaden getriben werde und sonderlich der mäder so im bann seyn zuverschonen und darüber nit zutreiben, damit es wie billich anden ohn schaden müge geschehen. Der acht der von Irsin beschwehrung articel also lautende verer vor etlichen [/ 68r] Jahren ist der gemeinde entzogen worden die zwen bäch, nämlich der ain an der Burgsteig, der ander im Hopfen mäd, bitten dieselbigen der gemeinde widerumb zugestelt werden. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt geben haben, wie daß ihnen nit wissendt seye, daß dies wasser so des gottshauß seyn, der gemeinde zu Irsin zugehören sollen, sonder des sey mehr und ganz offenbahr, daß grundt und boden, wasser, wasserfluß mit sambt den vichwayden und aller anderer herrlicheit und oberkeiten daselbst umb ihnen und ihren gottshauß zugehören, sich auch der boden [/ 68v] wie billich lange iahr vorher alß des ihren gebraucht und den bauren darin noch daran ganz nichts zugehören sey, darumb sy sich des ihren, wie von alter her gebrauchen werden. Darauf wir dißen entschaidt gemacht, dweil solliche boden vor menschen gedenckhen, wie wir uns aigentlich und auß anderer unterthanen zu Irsin selbs bekennen, erfahren, dem gottshauß Irsin zugehört hab, daß dann billich bey sollichem auch bleiben und fürohin die bäch dem gottshauß allein zustehen und zugehören sollen. Der neundt der von Irsin beschwehrung [/ 69r] articel also lautende, weiter sey ein ganze gemeinde zu Irsin etwann viel iahr her vom gottshauß mercklich beschwehrt und verhindert worden mit den 37 Gefrezt: vraz, fressen; veretzen, vretzen: abweiden, verfüttern; vgl. M. VON L EXER , Taschenwörterbuch (Anm. 25), S. 269, 297. <?page no="437"?> T HOMA S P F UNDNER 436 heurathen, in dem, daß keiner mit der herrschafft zu Kemnath aignen leuthn sich nit haben thunn 38 verheurathn, welches doch vor iahren nit also gehalten worden, sonder sey bey den herrschafftn Irsin und Kemnath gegeneinander frey erlaubt und vergundt geweßen, bitten solches noch also zugestatten und gehalten zewerden, und ob deßhalben bey anderen und frembden herrschafften der aigen leuth und der heurath halb einicherley änderung oder minderung, auch anderen des gottshauß aigen leuthen beschehe und fürge- [/ 69v] nohmmen würde, es wäre an leibaigenschafft, hoffgült, hofdiensten und anders, wie es genant müg werden, das wellen die von Irsin ungezweiffelter hoffnung und zuversicht seyn, man werde sy bey demselben auch bleiben lassen und von anderen nit aussünderen. Darzu abbt, prior und convente die antwurth, der aigen leuth und heyrath halb gegeben, daß sy es bey der antwurth, wie auf der von Bayßweill fünfften und sibenden beschwehrung articel gemacht, bleiben lassen und des mehr wie ihnen nit wissendt sey wie ihre vorfahren der enden ain gebrauch gehabt und gehalten, wo aber [/ 70r] die von Irsin deßhalb und darumb glaubwürdigen schein, daß es dermassn wie sy es fürgeben gehalten, auch also gebraucht sey, sodan wellen sy sich ganz unverwißlichen halten, wo aber die von Irsin des nit thuen mügen verhoffen sy bey dem brauch zubleiben. Darauf wir, wie auf der von Baissweil fünfften und sibenden beschwehrung articel des mittel und der entscheid gemacht worden ist ihnen auch geöffnet, anzaigt und verleßen lassen haben, mit dem anhang, ob fürohin ein gemaind ordnung in alle ihre begehrungn gemacht, des solle ihne wie andn ihrn herrschafften auch außgedingt und vorbehaltn seyn [/ 70v] Der von Romazridt ersten beschwehrung articel also lautende angfänglich sey ihn entzogen trib und tratt in dem Rorwang, 39 welicher vor etlichen iahren der gemeinde zu Romazriedt iedermanns unverhindert hat zugehört, bitt ain ganze gemeinde zu Romazried solliche trib und tratt ihnen widerumb hinfüro gebrauchen und niessen zulassen. Darzu abbt, prior und convent zu Irsin die antwurth gegeben, wie daß trib und tratt zu Romazried dem gottshauß Irsin ohn alles mittel zugehören sey, darumb so mügen sy dieselben zu des gottshauß nothturfft ohn der von Romazriedt irrung und einred [/ 71r] gebrauchen, der trib und tratt deren sy die von Romazriedt im Rorwang beremen, darzu sagen wir, daß söllichs bey menschen gedächtnus ein waldt, so unserem vogtherrn dem von Benzenau zugehört hat, geweßen ist, wellichen und sonderlich Wilhelm von Benzenau seeliger sollichen waldt uns und unserem gottßhauß, den nach des gottshauß nuz und nothdurfft zugebrauchen frey und ledig zugestelt und umb einen ewigen iahrtag 40 gegeben, derhalb unser unterthanen in ihrem fürgeben und begehren irren, darumb sey ihr begehr mit den von Romatzriedt, dass sy von sollichem ihrem begehrn gütlich abstanden gewissen werden. [/ 71v] 38 Für thunn von einer anderer Hand gebessert teren. 39 Rorwang, Röhrwang: Höfe oberhalb Eggenthal. 40 Jahrtag: Jahrtagsmesse zum Andenken u Seelenheil einer verstorbenen Person; vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), https: / / www.dwds.de/ wb/ Jahrtags gottesdienst (aufgerufen am 23.4.2024). <?page no="438"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 437 Darauf wir disen entscheidt gemacht, dweyl sy die von Romazriedt in ihrem anbringen kein grundtveste haben, daß dann billich bey abbt, prior und convente zu Irsin gegebener antwurth bleiben und die von Romazriedt des gottshauß Irsin darin unverhindert bleiben lassen sollen. Der ander der von Romazriedt beschwehrung articel also lautende, weiter seyn wir grösslich beschwehrt sonderlich in dem grossen graß-gelt, auch kören gülten, welche vor iahren nit so gross geweßen seyn, sonder allemahl wann ainer gehoffet hat, ist ainer beschwehrt worden were unser demüetig ernstlich bitte umb ain nachlassung und milderung in demselben zuthuen und von uns [/ 72r] nehmmen die gülten und graßgelt, so unser vorfahren die solliche güther ingehabt, geben haben. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth, wie auf der von Baißweyl dritten beschwehrung articel geben haben, und des mehr, daß sy dweil sy in ihrem gottshauß geregiert kein neüerung gemacht, auch zünß und gülten nicht erhöcht, daß aber die gülten dieser zeit her erhöcht, sey ihrs bedunckhens die ursach, vor hundert und noch mehr iahren seyn nicht soviel personen die den güthher nach gestelt, alß iezo geweßen und sodann einer ein guth verleihen sey, er dem, der dem guth stattlich vor seyn und seine [/ 72v] zins und gült bezahlen müge zuleihen genaigt. Darauf wir disen entschaidt gleich anderen des gottshauß Irsin underthanen gemacht, daß es billich bey dem, wie einer ein guth angenohmmen und bestanden hab, also bleiben solle, es were dan, daß einem alß derselb, wie sy sich merckhen lassen, haben ettliche stuckhe, alß ackher und möder bestanden und iezo dieselben wie ihm angezeigt, nit funden und nicht destminder dieselben verzinßen müssen, darumb sollen dieselben in einer kürze besichtiget werden und ob sy an ihrem bestand güteren mangel erfundn, sodan so sollen an den zinsen auch ein billicher [/ 73r] nachlaß widerfahren. Der dritt der von Romazriedt beschwehrung articel also lautende und ob sach würde, daß anderen hindersassen und aigenen leuthen des gottshauß ein nachlassung zugeben würde, es were an koren, graßgelt, leibaigenschafft, hofgelt, hofdienst, heyrathen und anden dingen, wie die genant mügen werden, bitten wir mit aller unterthänigkeit, dass uns sollichs auch zugeben werde und wir von anden leuthen nit außgeschlossen, dargegen und harwider wellen auch wir allweegen thun alß des gottshauß getreu hindersässen. [/ 73v] Darzu prior und convente zu Irsin die antwurt gegeben, wie daß sy der ungezweiffelten hoffnung und zuversicht seyen, daß ihnen und ihrem gottshauß, in den dingen kein neüerung noch veränderung geschehe, sonder wie von alter her sy also [gestr. ver] bleiben lassen. Darauf wir ihnen disen entschaidt gegeben, was in den dingen allen, wie die genant seyn oder werden mügen, anderen des gottshauß Irsin leuthen gerichten und underthanen gemacht oder noch geschehen mag, dasselb solle ihnen den von Romazriedt auch alles widerfahrn und gefolgn. [/ 74r] Item die einödinen, alß Bickhenried und Ogenriedt, in das gericht gen Irsin gehörig, seyn auch auf disen tag ihrer eingelegten beschwehrung halb vertagt und beschaiden worden, die aber nit erschinen, nicht destminder haben wir ihnen was anndern des gottshauß Irsin aigen leuthen, underthanen und gerichtläuthn für billich und der gelegenheit nach gemacht, dasselb solle ihnen auch sament und sonderlich gegundt und verwilliget seyn. <?page no="439"?> T HOMA S P F UNDNER 438 Der von Keterschwang erst beschwehrung articel also lautend, sagen wir seyn und sey den eltern zu Keterschwang in frischer gedächtnus und gut wissen, wie ein ge [/ 74v] meinde daselbst zu Keterschwang ein gemein holz gehabt und das zu ihrer nothdurfft gebraucht und genossen hat, ein herrschafft zu Irsin, das holz einer gemeinde genohmmen, und zu ihrem holz gehauen, ist einer gemeinde bitten und begehren, daß ein herrschafft sollich holz wider einer gemeinde zustell und geb, damit sy ihre kindt destbaß erziehen mügen. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, sy gestehen nit, dass sy solliches gethan, darzu daß das holz der gemeinde zugehöre, sonder sey gerichtzwang und bann und alle oberkeit zu Keterschwang des gottshauß Irsin, darzu werden sy auch nit [/ 75r] Gewilligen, noch gestatten, iedem holz nach seinem willen zugeben oder brauchen zu lassen, mit mehr angehenckter antwurth, wie auf der von Baissweil vierzehenden beschwehrung articel die antwurth gegeben haben. Darauf wir disen endtschaidt wie auf der von Baißweil vierzehenden articel gemacht, gegeben und des mehr dweil sollichs alles bey den alten herrschafften geschehen, das dann auch billich fürohin also gehalten werden solle. Der ander der von Ketterßwang beschwehrung articel also lautende, weiter hat ein herrschafft zu Irsin etliche [/ 75v] äcker ie und zu ihren handen gebraucht, die einer gemeinde auch zugehört, darvon auch dann iezo ein herrschafft auch rent und gült nehmen sey, einer gemeinde bitten und begeren, dass sölche ackher einer gemeinde widerumb gegeben werden. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin wie uff der von Baißweyl zehenden beschwehrung articel die antwurth gegeben, also wellen sy die auch darzu gegeben haben und des mehr dweil ihre underthanen zu Keterßwang das sollichs vormahls äckher geweßen seyn selbs bekomen und anzeigen, so ist es [/ 76r] auch kein gemeiner vich trib geweßen, sonder seyen sollich äckher der sterbenden leuff und teurung halb meinen urpau geweßen und komen, darumb folge nit, dass die deßhalb und darumb einer gemeinde zugehören, sonder verhoffen, dass es billich wie sy sollichs gefunden also behalten seyen. Darauf wir disen entschaidt gegeben, dweil sollichs mit neuerlicher sonder vor langer zeit beschehen, das dann billich dem gottshauß Irsin sollichs zugehören sey. Der dritt der von Keterßwang beschwehrung articel also lautende, item es ist auch einer gemaind begehren, wann ein [/ 76v] arms vor der herrschafft zuschaffen hab, daß man ihm außrichtung geb und nit hin und her umbschickhen, alßwie dan bißher beschehen ist. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt gegeben, wie dass sy selbs sollichs zuthuen sich schuldig erkennen, sy wellend auch soviel ihnen sammt und sonderlich immer müglich sollichs getreulich vollziehen und ihre arme leut mit gnädigem und gutem beschaid fürderlich abfertigen. Darauf wir disen entschaidt auch gemacht, daß ein herr zu Irsin, dergleichen deßselben ambtleuth ihre unterthanen [/ 77r] gnädiglich und freundtlichen hören, auch also gnädiglichn und freundtlichen entschaidt geben sollen, damit die arme underthanen hilff, guten rath und billichen beschaidt erlangen mügen. <?page no="440"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 439 Der viert der von Keterßwang beschwehrung articel also lautendt, item es ist auch einer gemeinde begehren, wann einer von leder zucket 41 und schlecht, daß einer wie von alter herkommen fünff schilling haller schuldig sey, bitten sy man welle sy bey sollichem ihrem alten herkommen bleiben lassen. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, wie daß ihre [/ 77v] unterthanen von Keterßwang, ding, des wider alle billichait und erbarkeit begehren seyen, dann die frevel und straffn seyen darumb aufgesezt, damit in viel fällen unrath und unwille abgelainth, dann wo sollichs durch sazung der frevel oder anderer gebührlicher straff nit fürkommen, so würde sich bey leichtfüertigen personen vil unwille, empörung und aufrur erhöben, dardurch dann todtschläg und anders übels begeben und erfolgen, darzu sey der frevel auffgesezt und gemacht, damit die fridsamben bey frid und recht bleiben mügen, wissen also ihren underthanen denn von Keterßwang darin kein ande ordnung zugeben und zemachen, dann wie [/ 78r] sollicher frevler halb allenthalben der gebrauch sey. Darauf wir disen entschaidt gemacht, dweil die so frevlen billich gestrafft werden, das dann billich bey abbt, prior und convente zu Irsin gegeben antwurth bleiben solle. Der fünfft der von Keterßwang beschwehrung articel also lauthendt, item der leibsgerechtigkeit oder anderer articel, was durch ewer vest und weißheit oder durch die stände des bundts gemacht und erkant wird, dem wellen wir getreulich nachkommen und einer herrschafft bottmässig, gehorsamb und dester williger seyn [/ 78v] Darzu abbt, prior und convente zu Irsin wie auf der von Baissweyl fünfftn und sibenden beschwehrung articel die antwurth gegeben, also welle sy die iezo auch gestelt haben. Darauf wir auch wie auf dieselben die entschaidt und mittel gestelt, bleiben lassen, mit dem bedinglichen anhang, was anderen des gottshauß aigenen leuthen unterthanen und gerichtn gemacht und gestelt sey, daß sollen sy die von Keterswang auch gebrauchen. Item hernach folgend ettlicher personen zu Keterßwang beschwehrung articel und [/ 79r] zu erst Conrad Mayrs, Lauxen Mayrs, sagendt, daß ihnen von der herrschafft genohmmen worden sey der Mayr waldt darin haben ihre vordern ene und vätter holz gemacht, gehauen was sy zu ihrer nothdurfft gebraucht haben, und alß er Conrad Mayr zwey iahr nach seinem bestandt und gemelts Luxen Mayrs vatter Hanns Mayr das gemelt holz zu ihrer nothdurfft brauchen wellen, hab ihnen ein herrschafft das holz genohmmen und des mehr, Conraden Mayr vier hofstatten und Lauxen Mayr zwo hofstatten auß ihren güteren genohmmen, darvon dann ein herrschafft auch zins und gült nemmen seyen und nicht destminder so müessen [/ 79v] sy ihre gesezte gült geben, mehr hab man auß deren guth genohmmen drey möder am waldt gelegen, die auch zu wald gewachßen, darzu hab man die höf iedem umb ein sackh roggen gestaigt, und Lauxen hof umb fünffzehen kreuzer graß gelt, ist ihr bitten und begehren, man welle ihnen das widerumb in die güter verfolgen und bey der 41 Vom leder zucken: das Schwert aus der (ledernen) Scheide ziehen; vgl. H ANS -U LRICH D ELIUS , Frühneuhochdeutsches Glossar zur Luthersprache (Martin Luther Studienausgabe 6) Leipzig 1999, S. 107. <?page no="441"?> T HOMA S P F UNDNER 440 alten gült bleiben lassen wie dan des mencher bidermann zu Keterßwang gut wissen und in gedächtnus hat. Item Mang Heinzelmann klagt, man hab auß seinem gut genohmmen drey viertel ackhers, die haben in hof gehört, [/ 80r] müess iezo die ausserhalb des hoffs vergülten, sey sein bitt und begehren, man welle ihm sollichs wider in das gut lassen verfolgen, wie dann von alter her geweßen sey. Item Jörg Linder sagt, man hab auß seinem guth genohmmen vier hofstatten, haben die bauren vorhin den zinß eingenohmmen, aber iezo so thüe ein herrschafft die einnehmmen, bitte und begehr er man lass die widerumb in das guth verfolgen. Item mehr hab man ihm etliche äckher auß dem guth genohmmen und hab ihme sein gnädiger herr von Irsin zugesagt, er welle ihm die widerumb in dß guth lassen, begert der noch und sey darzu dß guth gestaigt word. [/ 80v] Darzu abbt, prior und convente alß zu der sonderen ihrem unterthanen beschwerden articel haben sy die antwurth geben, wie auf der von Baißweyll dritten beschwehrung articel und das mehr dweil es solang herkommen, daß die angezeigte möder zu einem waldt gemacht seyn, mug man wohl abnehmmen, daß dann sy des wie sy angezeigt, nit, sonder durch ihre vorfahren, die das fug, recht und gewalt gehabt, gehandelt, auch also bißher gebraucht, der hoffnung, daß dann billich bey sollichem auch bleiben solle. Darauf wir dißen entschaidt gemacht und gegeben, dweil die, so sich in ihrer beschwehrung angezeigt, daß sollichs von [/ 81r] alter her nit geweßt und doch ein anders, nahmlich daß es bey weylund abbt Eblin und abbt Mathißen seeliger 42 gedechtnuß beschehen sey erfunden, daß dann billich bey dem wie einer bestanden hab, also bleiben sey. Hernach folgend die articel und beschwehrungen der gemeinde zu Ingenriedt, darin sy gegen dem gottshauß vermeinen beschwehrt zeseyn. Item zum ersten verhoffen wir beschwehrt zeseyn an unseren güttern mit grossen hofgilten an etlichen stückhen, daß man uns mehr darauf hat geschlagen, dann der alt brauch geweßen ist, item mit graß gülten und mit henner, auch ayern an [/ 81v] unseren häußeren und hoffstätten. Darzu abbt, prior und convente wie auf der von Baißweyll dritten beschwehrung articel die antwurth gegeben und des mehr, die güther daselbst mügen die gülten wohl ertragen, dann sy ein gut feldt haben seyen. Darauff wir dann wie den von Baißweil auf denselben articel, das mittel und den entschaidt gesezt, auch also gemacht und ihnen eröffnet haben. Der ander der von Ingenriedt beschwehrung articel also lautend, man hab ihnen bißher ein gebott bey zehen gulden gethan [/ 82r] dass keiner, weder mann, noch weib ausserhalb der herrschafft nemen, sey ihnen ein grosser beschwehrung, beschwehren sich auch des kleinen zehenden alß leib pfenning, kälber, garten gewächß und anders. 42 Peter II. (Alblin), 1460-1474; Mathias Steinbrucker, 1474 bzw. 1477-1490; vgl. zu beiden A. S TEICHELE / A. S CHRÖDER , Das Bistum Augsburg 6 (Anm. 2), S. 177, 183f. <?page no="442"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 441 Darzu abbt, prior und convente zu Irsin, und nemlich auf den ersten puncte diß articels geben sy die antwurt, wie auf der von Baißweyl fünfften und sibenden beschwehrung articel gegeben sey, und auf den anderen puncten dits anderen articels geben sy die antwurth, wie auf der von Baißweil sechsten articel gestelt word. sey. Darauf wir wie auf derselben von Baiß [/ 82v] weyl fünfften, sechßten und sibenden articel die entschaidt gemacht, auch also geben haben. Der dritt der von Ingenriedt beschwehrung articel also lautende, wir seyn beschwehrt mit den todtfällen. Darauf antwurth und endtschaidt, wie den von Baißweil sibenden beschwehrung articel gegeben und gemacht ist, ihne auch also anzaigt und für gefällig gleich den anden angenohmmen. Der viert der von Ingenriedt beschwehrung articel also lautende, ob sach wäre, daß einer von einem hof ziehen welte, od sunst [/ 83r] verderben wölte, so solle man ihme ein zimliches darauß gan lassen, daran solle doch dem herrn an seiner gerechtigkeit nichts abgan. Darauf antwurt und entschaidt wie auf den sibenden der von Lauchdorff beschwehrung articel gegeben und gemacht worden ist, ihnen auch für gefällig angenohmmen. Der fünffte der von Ingenriedt beschwehrung articel also lautendt, wie daß sy die herrschafft an ihrer gemeinde nit irren solle, alß bißher beschehen sey, begehren auch, daß ihnen auf den widenhof ein stier gehalten werde. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin [/ 83v] die antwurth gegeben, wie ihnen nit wissend sey, daß Ingenriedt für sich selbs etwas gemeines oder andere gemeinde haben, dann männiglich wissendt, daß Ingenriedt mit gericht, grundt und boden, herrlichkeit und oberkeit ihnen und ihrem gottshauß Irsin zugehörig sey, sy gestehen auch nit, daß ihre underthanen zu Ingenriedt einiche gemeinde haben oder sich des berehmen mügen, sonder wellen und werden sy dieselben ihre gemeinden, es sey an holz und sunst an trib und tratt brauchen und brauchen lassen, wie von alter her an gottshauß kommen. Darauf wir disen entschaidt gemacht und geben, daß es mit der gemeinde am holz [/ 84r] und sunst wie von alter herkommen ist, also bleiben solle, der ammann des dorffs Ingenriedt vierer 43 mit sambt des gottshauß Irsin holzwarten zu gebührender zeit und zu zimlicher und billicher nothdurfft söllichs holz der gemeinde zu Ingenriedt außzutheilen macht und gewalt haben und sonst, mit anden hölzeren, solle es wie mit anden des gottshauß unterthanen gehalten werden. Und des stiers halb ist gemacht, so und wann fürohin der widenhof daselbst zu Ingenriedt ledig wird, sodann solle demselben widenbauren, daß er der gemeinde ohn schaden ein stier halten sey angedingt wordn, und damit diezeit underthanen zu Ingenriedt des nit gar zu schaden kommen dweil solle [/ 84v] ein herr zu Irsin der gemeinde zu Ingenriedt iährlichs daran ein gulden zu steyr geben, wann aber ein widenbaur 43 Vierer: angesehene Bauern, die dem Ammann zur Seite gestellt werden; es bleibt offen, ob von Gemeinde gewählt oder von der Obrigkeit; vgl. S TEFAN F ISCHER , Klosterspuren - die dörfliche Wirklichkeit 1750-1820. Das Leben in den Dörfern Ingenried, Irsee, Leinau, Pforzen und Rieden, Neustadt a. d. Aisch 2022, S. 112. <?page no="443"?> T HOMA S P F UNDNER 442 den inmassen obstat ein stier der gemeinde haben und halten ist, dann solle sollicher gulden auch abseyn. Weiter sagend die von Ingenriedt, daß sy mit dem bauding beschwehrt seyen. Darauf antwurth und entschaid wie auf der von Eggenthal ersten beschwehrung articel gegeben und gemacht worden ist. Der sechst der von Ingenriedt beschwehrung articel also lautendt, von des zehenden [/ 85r] wegen was auf dem holin wechßt, das wellen wir geben wie von alters her, aber des stroh und schweines solle zu Ingenriedt im dorff bleiben und nit darauß geführt noch verkaufft werden, auch solle es ihnen umb einen zimlichen pfenning geben werden. Darauf antwurt und entschaidt wie auf der von Baißweil achten beschwehrung articel gegeben und gemacht worden ist. Der sibendt der von Ingenriedt beschwehrung articel also lautendt, item es ist wissentlich dem edlen und vesten iunckher Jörg von Benzenau zu Kemnath, unserem günstign [/ 85v] iunckher mit sambt etlichen convente herrn ze Irsin die der alten seyen, daß man ihnen ihre güter nit staigen solle, verhaissen worden, sonder bey den altn herrn diensten bleiben lassen, wie dann der stiffts brieff inhalt und außweißt. Darauf antwurt und entschaidt wie auf der genanten von Baißweil drittn beschwehrung articel gegeben und gemacht ist. Der acht der von Ingendriedt beschwehrung articel also lautende, weiter ist unser beger, daß man den diesntleuthen alß schnittern, möderen sollichem volckh zuessen geb, dass sy darbey bleiben mügen, [/ 86r] und dester getreülicher ihr arbeit vollbringn mügen. Darauf antwurth und entschaidt wie auf der von Baißweil dreizehenden ebschwehrung articel gegeben und gemacht wordn ist. Der neundt der von Ingenriedt beschwehrung articel also lautendt, mehr ist unser beger, dass einem ietlichen an den rechten ein beystandt geben werde, dem armen alß dem reichen und was der alt stifft brieff außweißen, darbey welle sy gutwillig bleiben. Darauf antwurth und entschaidt wie auf der von Baißweil fünffzehendn beschwehrung [/ 86v] articel gegeben und gemacht, des also von baidn theilen zuhaltn bewilliget und angenommen worden ist. Hernach folgend die beschwehrnußen der gemeinde zu Pforzen. Der erst der von Pforzen beschwehrung articel also lautendt, am ersten bitten wir ewer gnad, uns zu waiden, damit wir zumdgottsdienst baß gefirdert werden, dann wir offt ohn ein heiligen mess stehen und bleiben müssen unser mehr dann zweyhundert menschen, und geben doch alle pfärrliche recht, und bitten umb gottes willen, uns sollichs zuwenden, dann allweg den anderen Sonntag und dn andn feyrtag ohn ein mess müssn seyn [/ 87r] Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth geben, wie daß sy für selbs willig auch schuldig seyen den gotttsdienst zufürderen, daß aber auf ihr begehr mehr priester dann ein pfarrer dahin zestelllen, sey also von alter her nit kommen, sonder ob menschen gedenckhen hab ein pfarrer <?page no="444"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 443 Pforzen und die zwey filial Rieden und Leynaw versehen, auch den dreiren fleckhen alle pfärrlich recht erzaigt, bewißen und gethan, ob aber ein pfarrer daselbst die pfarr wie der gebrauch und von alter herkommen ist, es wäre mit mess halten, in verkindung des worths gottes oder sunst mit anderen ceremonien der kirchen, nit versehen thete, und sy alß abbt, prior und convente [/ 87v] sollichs glaublichen bericht hetten, sodann welten sy darin das sy auß billichait schuldig der gebühr nach handlen, daß auch ein pfarrer mehr dan ein kirchen oder filial versehen sey, nit ein neues sonder an viel anderen und mehr orthen also gebraucht und gehalten werde, und dannoch ein pfarrer alle pfärrliche recht derselben enden thun sey. Darauf wir dißen entschaidt gemacht haben, dweil von alter her [gestr. dermahls] dermaß alß die antwurth anzeigt, die pfarr und die filial also bißher versehen worden seyn, daß dann ein pfarrer sollichs nochmahls, zum aller getreulichsten thun, seine pfarrleuth wie bißher gebraucht, [/ 88r] versehen und versorgen sey, darob auch ein ieder herr zu Irsin und seine nachkommen getreulich halten solle, damit denselben pfarr unterthanen in verkündigung des worth gottes und sonst auch alle andn pfärrliche recht mitgetheilt und widerfahren mügen. Der ander der von Pforzen beschwehrung articel also lautende, es sey auch bey menschen gedächtnus auf dem widenhofe ein stier, ain voll und eber geweßen und gehalten worden, daß sey ihn abgangen und thuen doch nicht destminder alle pfärrliche recht und dem pfarrer das geldt darvon geben müssen. [/ 88v] Darzu abbt, prior und convente diß 44 antwurth sover ihr pfarr zu Pforzen, daß er die stuckh haben und haltn solle, darfür gelt einnemmen sey es billich, daß er die stuckh also halte und haben solle, sunst lassen sy es wie auf der von Baißweil beschwehrung zwelfftn articel die antwurth gegeben und gestelt, auch also bleiben. Darauf wir disen entschaidt und vertrag gemacht, dieweyl des gottshauß Irsin daselbst zu Pforzen ein widenhof haben ist, dass dann daselbst auf dem widenhoff ein stier und eber auch gehalten und fürohin einem widenbauren des zuhalten angedingt werden solle, und dweil dieser zeit der widenhof nit ledig auch dem widen [/ 89r] bauren das zehalten nit angedingt ist, dweil solle ein herr zu Irsin der gemeinde zu Pforzen iährlichs einen gulden darfür geben, wellicher eber auch auf die von Riedn, Leinau und anderer daselbst umbsässen dem gottshauß Irsin zugehörig wartn solle und nachdem aber dieser zeit kein schweinß mutter der enden vorhanden ist, dweil soll und mag man mit einem eber zehalten still stehen oder mügen sich sunst damit bey anden nachbauren des behelffen. Der dritt der von Pforzen beschwehrung articel, also lautende, item es ist der gemeinde zu Pforzen genohmmen und entzogen worden ein ackher und zwey möder [/ 89v] bey manns gedenckhen, und nimbt mein gnädiger herr zu Irsin den zinß ein, ist unser diemüttig bitt und begehren, der gemeinde widerumb folgen lassen, dann die drey stuckh der ackher und die zwey möder seyn gemacht wordn auß und von der gemeinde, und ist der gemeinde vor geweßen und iezo nit mehr, mit begehr uns verfolgen lassen und widerumb zu werden. 44 Für diß von einer anderer Hand gebessert die. <?page no="445"?> T HOMA S P F UNDNER 444 Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth geben, alda gestehen sy ihnen den von Pforzen keines weegs weder äcker noch möder genohmmen noch entzogen, sy haben auch des kein wissen und ob gleichwohl sollichs durch ihre vor- [/ 90r] fahren seeliger gedachtnus geschehen wäre, so hätten sy des fug, recht, macht und gewalt gehabt, dan grund und boden auch das gericht und alle oberkeit wäre des gotteshauß Irsin geweßen und noch seyn were. Darauf wir disen entschaidt und vertrag gegeben und gemacht, dweil sollichs auf ihrer anderer von Pforzen selbs anzeigen vor viel vergangen iahren beschehen seyn solle, daß dan billich wie bißher auch also gehalten worden. Der viert der von Pforzen beschwehrung articel, also lautendt, item es ist uns ein waidtgelt, mit namen zwey pfundt haller auf ein gemeinde gelegt, vom zoll und geben nicht destminder rent und gült darvon, [/ 90v] und dannoch syben ganz reinisch, so man nent des pflug eyßen gelt, bitten wir auch umb gottes willen uns fürohin zu überheben und anchzulassen. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurt geben, wie daß ihnen gar und ganz nit gebühr noch zustandt ihres gottshauß zinß und gülten zuringeren und nachzelassen, sonder schuldig seyen die zunehmen 45 wo das füglich und billicher weiß geschehen müg und die zins die also und obgeschribner mass durch die von Pforzen gegeben sey ein alt herkommen und nit neülich erdacht, noch sy selb iezo gemacht wohl sey zubedenckhen, dweil sy ihre unterthanen von Pforzen sich iezo des [/ 91r] klainen zugeben wideren, was sie dann mit dem mehreren und grösserem zuthuen, wie sy dann in ihrem fürnehmmen gewest, understanden, darumb begehren sy, daß ihren underthanen von Pforzen und ande thuen das von alter herkommen sey, alß wie sy dem Löblichen Bundt und nachfolghend uns geschwohrn haben. Darauf wir disen entschaidt gegeben, dweil sollichs von alter her also gebraucht auch dermassen bißher dem gottshauß zugehört hab, daß dann billich bey sollichem auch bleiben und fürohin die zins geben seyn. Der fünfft der von Pforzen beschwehrung [/ 91v] articel also lautendt, item wann einer muss hoffen, so legt mein herr von Irsin einem ieden ein neuen hoffdienst ein, dweil dann sollichs ein neüerung ist, bitten wir umb gottes willen, man wölle uns solliche neüerung darmit mir beschwehrt seyn ablassen, so wellen wir allweg thuen wie und was wir dann von rechten und göttlichn sachen wegen schuldig seyen, alles williglich und underdienstlich. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, wie dass ihne nit wissend sey, daß ihre underthanen zu Pforzen tagdienst wann sy die underthanen wellen die gütter also verlassn, [/ 92r] und verlihen worden seyen, sonder vermeinen wie einen ein gut angenohmmen und bestanden hab, also solle er darvon thuen wie einer dasselob williglich angenohmmen und bestanden hab. Darauf wir disen entschaidt gemacht, daß billich sey wie einer ein gut frey und gutwilliglich angenohmmen und bestanden hab, also solle auch einer darvon thun was ihm angedingt sey. 45 Für zunehmen von einer anderer Hand gebessert zumehren. <?page no="446"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 445 Der sechßt und letst der von Pforzen beschwehrung articel also lautende, item von wegen der brugg, 46 da gat ein landstrass, die gefreyt ist von kayser und küngen und mangel [/ 92v] an der brugg offt beschicht, daß leuth ertrünckhen, so erfährt man uns das unser darvon wir rent und gült geben und grosser schadt beschicht und der 47 wir einen der uns uff den unseren schaden thuet, erwischen, so will man uns daran schlagen und sagen, warumb mann nit ein brugg machen, bitten wir umb gottes willen, daß man uns das unser darvon wir wir rent und gült geben, helff retten und verhieten, dann es stät leib, leben und guth darumb underhergen und zuverliehren. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, daß sy sich in dem ganz unverweißlich und wie ihr vor- [/ 93r] fahren seeliger gedächtnus halten, dergleichen mit bitten und ansuchen wie billich sy unsere underthanen zu Pforzen es auch thun und halten sollen, gewißen werden. Darauf wir disen entschaid gemacht und gegeben, daß ein herr zu Irsin zu sollicher brugg wie derselben vorfahren und von alter her geweßen, sich in gebung des holz auch also erzeigen und sunst, wie der gebrauch ist halten, dergleichen so sollen die von Pforzen mit ihren tagdiensten, wie von alter herkommen, sich auch gehorsamblich halten. Item der heyrath, der aigenschafft der [/ 93v] Todtfälle, gebung des holz und sunst anderer Articel halb solle es mit und gegen den von Pforzen wie mit anden des gottshauß Irsin gerichten und underthanen gehalten werden. Hernach folgend die articel und beschwehrungen des dorffs zu Rieden, und am ersten von wegen des gottsdiensts dem wir offt und lange zeit haben nachgeruefft und ganz gütlich, wie dann unserem gnädigen herrn zu Irsin noch in guter gedächtnus ist, uns darbey nie geholffen worden, bey dem wir eben vil und zu gemeinen iahren bey dritthalb hundert säckh korens des auf dem holin wechst geben, bey dem allen [/ 94r] so manglen wir doch mit der heiligen mess und verkündigung des worth gottes, des andern sontags und zu etlichen zeiten mehr manglen müssen. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth wie auf der von Pforzen ersten articel gestelt, geben haben welln. Darauf wir disen entschaidt gemacht und gegeben, dweil von alter her nie kein aigner pfarrer noch priester vormahls zu Rieden geweßen noch gehalten word. ist, dass dann auch billich, wie vor gebraucht, also gehalten, doch solle ein herr zu Irsin und deren nachkommen mit ihrem pfarrer zu Pforzen redt haben und darzu [/ 94v] halten, dass er ihnen den von Rieden mit allen pfärrlichen rechten getreülich außwarte, und sy wie von alter herkommen mit messhalten in verkündigung des worth gottes versehen sey, damit ihnen den von Riedn alle billichait gedeüe und widerfahre. Der ander der von Rieden beschwehrung artickhel also lauthende, weiter so haben wir einen widenhof darvon unser herr von Irsin rent, zinß und gült einnemmen sey, bey wellichem widenhof weder volln, eber noch stier keins gehalten werde, des dann von alter her nit geweßen, sonder die obbestimbte 46 Brugg bei Pforzen; vgl. S TEFAN D IETER (Bearb.)/ G ÜNTHER P IETSCH , Die Urkunden der Stadt Kaufbeuren (Stadt, Spital, Kirchengemeinden, Kloster) 1501-1551, 2 Teilbde. (= Veröff. SFG 2a/ 14), Thalhofen 1990, hier Bd. 2, S. 348, Urkunde Nr. 1203: anno 1537. 47 Für der von anderer Hand gebessert wa. <?page no="447"?> T HOMA S P F UNDNER 446 stückh bey dem widenhof geweßen nicht destminder müessen wir den viechzehenden dem pfarrer geben, und uns doch nit geschehen ist und noch nit geschicht [/ 95r] das uns billich geschehen sollte. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth, wie auf der von Pforzen anderen articel gegeben, gestelt haben wöllen. Darauf wir dißen entschaidt gemacht und gegeben und nemlich des ebers halb, den sollen und mügen sy der zu Pforzn gehalten werden solle, gebrauchen und eins vollen halb ist unßers bedunckhens, dweil kein sonder gestüet daßelbst zu Rieden standen, nit noth, dass einer gehalten werden solle, und eins stiers halb ist entschaiden, dweil der widenhof iezo dermaß, daß einer daselbst [/ 95v] einen stier haben und halten solle, nit verliehen worden ist, dass dann ein herr zu Irsin ihnen den von Rieden, darfür, doch auß dhainer gerechtigkeit allein auß sonderen gnaden, alle iahr ein pfundt haller geben solle, mit dem gedinge so und wann der widenhof daselbst zu Rieden ledig wird, daß dann ein herr zu Irsin demselben widenbauren, daß er der gemeinde zu Rieden ohn ihren schaden ein stier zehalten, andingen solle. Der dritt der von Rieden beschwehrung articel allso lauthende, item mit staigung unserer güter auch mit erdschezen an unseren häußeren und hofstätten [/ 96r] Darzu abbt, prior und convente zu Irsin wie auf der von Baißweil ersten und anderen beschwehrung articel die antwurt gestelt gegeben haben. Darauf wir auf der von Lauchdorff sechßten articel der vertrag und endtschaid gemacht worden ist, ihnen auch also gegeben und angezeigt, die des [gestr. bey] benüegig angenohmmen. Der viert der von Rieden beschwehrung articel also lautende, item daß iemandt bey zehen gülden kein heyrath ohn der herrschafft wissen machen solle. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin [/ 96v] die antwurth wie auf der von Baißweil fünfften beschwehrung articel gestelt geben haben wellen. Darauf wir auch den endtschaidt und vertrag wie auf derselben von Baißweil fünfften articel gemacht, geben haben. Der fünfft der von Rieden beschwehrung articel also lautendt, item in Todtfällen seyn wir beschwehrt, ob einer stürb und verdürb, daß man ihme ein zimliches lassen darauß gehen, daran solle seinen gnaden nichts abgan. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin der Todtfäll halb wie auf der von [/ 97r] Baißweil sibenden beschwehrung articel die antwurth gestelt geben. Darauf wir auf den entschaidt und vertrag, wie auf derselben von Baißweil sibenden beschwehrung articel gemacht und gesezt, auch also geben und angezeigt haben. Und sunst ab den güteren zuziehen haben der herr zu Irsin, prior und convente die antwurth und wir darauf den entschaidt und vertrag gemacht, wie auf der von Lauchdorff siebenden beschwehrung articel gestelt und den partheyen angezeigt word. Der sechst der von Rieden beschwehrung articel also lautendt, item beschwehrt seyn [/ 97v] wir mit dem bauding und was auß dem holin wechst das stroh und schweines im dorff bleiben umb ein zimlichen pfenning, was dan von zehenden kombt. <?page no="448"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 447 Des bauding betreffende haben abbt, prior und convente zu Irsin und wir darauf den vertrag, wie auf deren von Eggenthal ersten beschwehrung articel die antwurth und darauf den entschaidt gestelt und gegeben worden ist, gemacht. Stroh und schweines betreffendte, darauf abbt, prior und convente zu Irsin und wir den endtschaidt und vertrag gemacht und gegeben, wie auf deren von Baißweil achten beschwehrung articel gestelt ist. [/ 98r] Der siebndt der von Rieden beschwehrung articel also lautende, es ist auch unser diemüthig bittn und begeren, daß man uns bey dem alten dienste bleiben lass, alß wie dan der stifftbrief innhalt und außweißt. Darauf antwurth und endtschaidt auch vortrag, wie auf der von Eggenthal sechsten articel gegeben, gemacht wordn ist. Der acht der von Rieden beschwehrung articel, item so ist das der gemeinde bitten, dass man das holz gebe zum bad, alß wie von alter geweßn und iezund abbrochen ist, auch denen zu geben holz die es nothtürfftig seyn, dem armn alß dem reichen. [/ 98v] Darauf antwurth und endtschaidt, wie auf der von Baißweil vierzehenden beschwehrung articel gestelt, gemacht und vertragen seyn und das ein herr zu Irsin die von Rieden alß andn des gottshauß unterthane mit dem holz halten solle. Der neündt der von Rieden beschwehrung articel also lautende, item es ist unser begeren daß einem ietlichen zum rechten ein beystandt geben werde, dem einen alß dem anden. Darauf antwurth und endtschaidt wie auf der von Baißweil fünffzehenden articel gestelt, gegeben und also gemacht worden ist. [/ 99r] Der zehend der von Rieden beschwehrung articel also lautendt, item ein gemeinde zu Rieden bittendt auch ewr gnadt, daß wir auch einen wirt halten seyn, wie andere unsere umbsässen dann offt kindes kranckfrauen auch andere kranck leuth zu zeiten weins nottürfftig seyen, sodann muess mann den wein tag und nacht über feldt reichen, das seyen ihnen ein grosse beschwehrung. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth geben, sy haben iezo sollichs und zuvor bewilliget und einen würt zehalten erlaubt und selber sich derselb wie billich halten sey, wellen sy des noch länger gestatten. Darauf und dweil beide theil des articels [/ 99v] halb sich vorhin vereint keines endtscheidts nottürfftig gewesen seyn. Der aylfft und letst der von Rieden beschwehrung articel also lautende, item zum letsten von wegen des tribs auf die Beyssenaw, die uns von einer herrschafft nidergelegt worden ist, biß zu dem außtrag nicht destminder so muss ein gemeinde zu Rieden ganz underthäniglich, dass sollichs zu einem außtrag komm das waydt gelt geben auf sollichs bitte ein gemeinde zu Rieden ganz underthäniglich, dass sollichs zu einem außtrag komm, dester williger wellen wir von Rieden dem gottshauß Irsin auch einer löblichen herrschafft Benznau tag [/ 100r] und nacht getreulich wie ein underthan gewärtig seyn. <?page no="449"?> T HOMA S P F UNDNER 448 Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, daß sy in sollichem allen müglichen fleiss brauchen wellen, damit die sachen erörtert werden, wellen sich in dem aigentlich erfahren und was alßdann in demselben sich zuthun gebühr, getreülich handeln, damit die spenn zum fürderlichsten auch außgericht. Darauf wir seiner ehrwürd., prior und convente ze Irsin gesagt, daß sy sollichs inmassen ihr antwurth gestelt, zuthun schuldig, auch darob und daran seyn solln, daß die underthanen in sollichen spennen [/ 100v] zu fürderlichem außtrag verholffen werden, damit die obbestimbte partheyen auch aller ihrer irrung geaint und vertragen seyn solln, mit dem anhang, ob anderen des gottshauß Irsin underthanen in den oder anderen articlen etwas geändert würde, solle den von Rieden auch mitgetheilt werden. Hernach folgendt deren von Leinaw beschwehrung articel, und von erst, so ist unser bitt und begerung, daß man uns welle halten pfärrliche recht und nämlich ist das der mangel, daß wir ein stier müssen kauffen oder entlehnen und müssen dem pfarrer vich zehendt geben und beschicht ihn nichts darumb. [/ 101r] Darzu abbt, prior und convente zu Irsin, und sonderlich der pfärrlichen recht halb gebn sy die antwurth wie auf der von Pforzn ersten beschwehrung articel und des stiers halb, wie auf der von Pforzen anderen articel die antwurt auch gestelt ist. Darauf wir des ersten alß der pfärrliche recht halb, das mittel und den vertrag wie auf der von Rieden ersten beschwehrung articel gemacht und beschlossen worden ist, des stiers halb ist gemacht, so und wann der widenhof zu Leinau ledig wird, sodann solle ein herr zu Irsin dem widenbauren, daß er der gemeinde zu Leinau einen stier haben und ohn ihren schaden halten sey andingen und dweil die [/ 101v] gemeinde zu Leynaw also auf ihren costen einen stier haben sein, dweyl solle ein herr zu Irsin ihnen den von Leinau iährlichs ein pfundt haller darvon zusteür geben. Der ander der von Leinau beschwehrung articel also lautend, so ist uns in dem bauding verbotten worden, daß ausserhalb der herrschafft keiner heurathen solle, weder manns noch frauen persohnen an zehen gulden, so ist nun unser fleissig bitten und begehren, daß eins sich, wo es seinen freyen frummen wisse zuschaffen verheurathen mügen und doch dem herrn an seiner gerechtigkeit ohn schaden. [/ 102r] Darauf antwurth und entscheidt wie auf der von Baißweil fünfften und sibenden beschwehrung articel gegeben, gemacht auch also vertragen seyn sollen. Der dritt der von Leinau beschwehrung articel also lauthendt, so sit unser bitt und begehren, daß man uns mit den tag dienstn und dienen wie von alter her halt. Daruaf antwurth und entschaidt wie auf der von Eggenthal sechsten beschwehrung articel gegeben, gemacht ist. Der viert der von Leinau beschwehrung articel also lauthende, wie daß unser herr [/ 102v] zu Irsin mit den erdschezen gegen uns so hert sey, ist unser bitt und begehren, daß doch in demselbn ein mittel [gestr. gemacht] gesucht werde. <?page no="450"?> D IE B ES CHW ERD EN DER B A U ERN DES I R S E ER K LOS T ER GE BI ET ES V ON 1527 449 Darauf antwurth und endtschaidt wie auf der von Baißweil ersten beschwehrung articel gegeben ist, gemacht. Der fünfft der von Leinau beschwehrung articel also lautendt, unser bitt und begehren ist, daß man doch einem nun holz zu seiner notturfft geben sey. Darauf antwurth und entschaidt wie auf der von Baißweil vierzehendn beschwehrung articel gegebn, gemacht ist. [/ 103r] Der sechst der von Leynau beschwehrung articel also lauthendt, es ist unser bitt und fleissig begehren, ob sach wärn, dass einer von seinem guth sollte, oder verdürbe, oder sein frummen sunst möchte schaffen, daß doch ein herr zu Irsin einem auß dem seinen liess gefolgen, das zimlich were, doch dem gottshauß ohn schadn. Darauf antwurth und entschaidt wie auf der von lauchdorff sibenden beschwehrung articel gegeben, gemacht und also vertragen seyn sollen. Der sibendt der von Leynau beschwehrung articel also lauthendt so ist im bauding [/ 103v] verbotten worden, bey einem gulden, daß wir unser trib und tratt nit suchen sollen, nachdem unser trib get, auch in dießelben mit vich nit fahren, noch unser notturfft nach in den wäldn nit suchen sollen. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, wie daß ihnen nit wissendt sey, daß sy ihren underthanen zu Leynau zimliche und billiche trib und tratt verbotten haben sollen, daß aber den von Leynau oder andern ihren underthanen in verbottne oder verpanne hölzer und waid darin zusuchen gebühren, wellen sy keines wegs gestattn, dann [/ 104r] waßfür ein schad darauß entsprung und kommen würde, sey leichtlich [gestr. zuor] abzunehmmen, darzu so gestehen sy ihn den von Leynau deren noch andn enden kein gerechtigkeit, dann grundt und boden, auch trib und tratt zu Leinau sey ihr und ihrs gottshauß Irsin darumb sy der ansuchung billich von ihren underthanen überhebt. Darauf wir disen entschaidt gemacht, daß die von Leinau mit ihrem vich trib und tratt an gebührende und zimlichen enden besuchen lassen solln, aber in verbotne wälde und hölzer sollen sy ihr vich zutreiben abstan und sunst auch ganz ungefährlich halten. [/ 104v] Der acht und letst der von leynau beschwehrung articel also lauthende, wir sein auch der hoffnung was andern des gottshauß Irsin gerichten fürohin für billich und recht mitgetheilt, ob wir gleichwohl in unseren beschwehrungen articln dieselben nit gesezt, desselb solle uns auch verfolgen und mitgetheilt werden. Darzu abbt, prior und convente zu Irsin die antwurth gegeben, daß sy die von Leynau alß ihre underthanen nit außgeschlossen, sonder wie andn gottshauß leuth halten wellen, auch der hoffnung seyn, sy werden sich fürohin underthänig und gehorsamb erzeigen. [/ 105r] Darauf wir ihnen den entschaidt gemacht und gegeben, ob fürohin im Heiligen Reich oder sunst zwischen dem gottshauß Irsin derselben abbt, prior und convente dergleichen desselben gottshauß underthanen, aignen leuthen und gerichten ein gemeine ordnung gemacht, dasselb solle nit allein den von Leynau, sondern allen den ienigen so dem gottshauß Irsin zugehören, außgedingt und vor- <?page no="451"?> T HOMA S P F UNDNER 450 behalten seyn, darauf soll zwischen obbenannten herrn zu Irsin, prior und convente gedachts gottshauß und derselbn underthanen, aigen leuth und gerichten, auch hindersässen, für sich, alle ihre nachkommen und erben aller unwill, aufruhr, unlust zwittrach und [/ 105v] widerwertigkeit, so sich aller irrung halb, biß an heut dato zwischen gedachten partheyen zugetragen und darumb dann die underthanen bemelts gottshauß Irsin ihr beschwehrung, wie hievor lautter und eigentlich begriffen ist, hiemit gar und ganz aufgehebt und hingelegt haissen und seyn, sonder auch alle und iede person in disem vertrag begriffen, gegen einander gericht und geschlicht seyn, sollichen obgemeltn unsern gütlichen vertrag, sprüch und entschaidt, haben alle theil für sich ihre erben und nachkommen zuhalten angenohmmen bewilliget und zugesagt dem in allen und ieden puncten und articlen gestrackhs nachzukommen, darwider nit [/ 106r] zuthun, noch gethan werdn, gestatten in dhein weiß noch weeg. Doch so ist hierin mit aigentlichen und außtrucktn wortten vorbehalten und angezeigt worden, ob fürohin über kurz oder lang zeit durch ein gemein oder general conclusum oder durch die Römische Kay. Mayt. unseren allergnädigstn herrn und durch die stände des Heyl Röm. Reichs in disen oder dgleichen fällen ein reformation oder ein ande ordnung machen, fürnehmmen und sezen würden, wie und in was weeg sich das begebn und zutragen würde, so disem gütlichen spruch, vertrag und entschaidt etwas entgegen und zuwider seyn möchte in demselbn haben wir dn underthane gegen [/ 106v] dem gottshauß und härwider dem gottshauß gegen ihren underthanen, nit vertädingt, sonder baiden thailen dasselb außgedingt und vorbehalten haben, wellichs güttlichen spruchs entschaidts und vertrags gedachter herr zu Irsin für sich und in nahmen seines convents dgleichn die underthanen sament und sondlich brieff und sigell erfordert und begehrt, des wir bayden theilen also geschrifftlich und mit unseren aignen insiglen bewärt mitzetheilen uns bewilliget. Des alles zu warem urkundt, so haben wir die obbestimbte vier güttliche sprüchleuth unser ieder sein eigen insigel offenlich an den brieff, doch uns [/ 107r] dem gottshauß und härwider dem gottshauß gegen ihren underthanen, nit vertädingt, sonder baiden thailen dasselb außgedingt und vorbehalten haben, wellichs güttlichen spruchs entschaidts und vertrags gedachter herr zu Irsin für sich und im nahmen seines convents dgleichn die underthanen sament und sondlich brieff und sigell erfordert und begehrt, des wir bayden theilen also geschrifftlich und mit unseren aignen insiglen bewährt mitzetheilen uns bewilliget. Des alles zu warem urkundt, so haben wir die obbestimbte vier güttlichen sprüchleuth unser ieder sein eigen insigel offenlich an den brieff, doch uns [/ 107v] unseren erben und nachkommn, insiglen ohnschädlich gehenckht und allen des gottshauß underthane sich des, ihre erben, und nachkommen, zu ihrer notturfft gebrauchn mügn, also zugestelt. Beschehen und gebn auf afftermontag nach dem sontag Misericordia Domini nach Christi unsers liebn herrn gebuhrt gezehlt taußendt fünffhundert zwanzig und siben iahrs. <?page no="452"?> 451 Autorenverzeichnis Dr. Stefan Birkle Archivar des Fürstlich und Gräflich Fuggerschen Familien- und Stiftungsarchivs, Dillingen Univ.-Prof. Dr. Stefan Ehrenpreis Professur für Geschichte der Neuzeit an der Universität Innsbruck Christoph Engelhard Leiter des Stadtarchivs Memmingen Prof. Dr. Helmut Flachenecker Lehrstuhl für fränkische Regionalgeschichte, Universität Würzburg Dr. Peer Frieß Ministerialrat Bayerische Staatskanzlei, München Stefan Huber M. A. Wiss. Mitarbeiter an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München Dr. Gerhard Immler Ltd. Archivdirektor am Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München Prof. em. Dr. Christian Pfister Senior Researcher: Oeschger Centre for Climatic Change Research (OCCR), Universität Bern Prof. Dr. Ulrich Pfister Professur für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Neueren und Neuesten Zeit, Universität Münster Pfarrer Thomas Pfundner Evang.-Luth Pfarramt Holzschwang/ Hausen Prof. Dr. Peter Rückert Leiter des Hauptstaatsarchivs Stuttgart <?page no="453"?> 452 Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Scheffknecht Historiker, Lehrtätigkeit am Bundesgymnasium Bregenz, an der Pädagogischen Hochschule Feldkirch und an der Universität Innsbruck, Gemeindearchivar Lustenau Prof. Dr. Dietmar Schiersner Professur für Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Pädagogische Hochschule Weingarten Prof. Dr. Uwe Schirmer Professur für Thüringische Landesgeschichte an der Universität Jena Dr. Silke Schöttle Leiterin des Stadtarchivs Ravensburg Arman Weidenmann lic. phil. Wiss. Mitarbeiter am Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen Univ.-Doz. Mag Dr. Andreas Weigl Dozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien Prof. Dr. Johannes Wolfart Professur für Religion an der Carleton Universität Ottawa <?page no="454"?> 453 Nachweis der Abbildungen Beitrag S TEFAN B IRKLE Abb. 1 BSB, 2 Mapp. 8-3,1; Rechte: CC BY-NC-SA 4.0 Deed Abb. 2 Württembergische Landesbibliothek, Cod. hist. qt. 298; Rechte: Public Domain Mark 1.0 Beitrag C HRISTOPH E NGELHARD Abb. 1-5 StadtA Memmingen Beitrag C HRISTIAN P FISTER Abb. 1 Wikimedia commons, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Les_Tr%C3%A8s_Riches_Heures_du_duc_de_Berry_f%C3% A9vrier.jpg Abb. 2 BSB, 4 L.imp.c.n.mss. 73. https: / / www.digitale-sammlungen.de / de/ view/ bsb00093696? page=422,423 Beitrag P ETER R ÜCKERT Abb. 1-3 ZAM 41 Abb. 4-5 ZAM 54 Abb. 6 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Y 9802 Abb. 7 Vorlage: Landesmuseum Württemberg, Stuttgart Abb. 8 Vorlage: Stadt Ravensburg Abb. 9 HStA Stuttgart, H 14 Bd. 287 Beitrag A RMAN W EIDENMANN Abb. 1 Marco Zanoli; www.wikipedia.de; cc-by-sa/ 2.0/ de Abb. 2 https: / / www.e-codices.unifr.ch/ de/ kol/ S0023-2/ 304/ 0/ Abb. 3 Vadianische Sammlung, GS q 2H/ 12 Beitrag J OHANNES W OLFART Abb. 1 Ehemalige Reichsstädtische Bibliothek Lindau (B), Bro G. 52; Foto: M. Breitwieser Abb. 2-3 StadtA Lindau (B), A III 63,1; Foto: J. Illigasch <?page no="455"?> Forum Suevicum Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen herausgegeben von Dietmar Schiersner Lieferbare Bände: 8 Rolf Kießling, Prof. Dr. Dietmar Schiersner (Hrsg.) Erinnerungsorte in Oberschwaben Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis 2009, 400 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-86764-183-8 9 Rolf Kießling, Dietmar Schiersner (Hrsg.) Umweltgeschichte in der Region 2011, 384 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-86764-321-4 10 Reinhard Baumann, Rolf Kießling (Hrsg.) Mobilität und Migration in der Region 2013, 326 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-86764-443-3 11 Dietmar Schiersner (Hrsg.) Zeiten und Räume - Rhythmus und Region 2015, 380 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-86764-634-5 12 Reinhard Baumann, Paul Hoser (Hrsg.) Krieg in der Region 2017, 408 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-86764-827-1 13 Dietmar Schiersner, Georg Seiderer (Hrsg.) Schwaben und Franken Regionalgeschichte im Vergleich 2019, 320 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-86764-909-4 14 Peer Frieß, Dietmar Schiersner (Hrsg.) Aus Sorge um die Gesundheit Geschichte der Medizin in der Region 2021, 442 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7398-3176-3 15 Wolfgang Scheffknecht, Dietmar Schiersner, Anke Sczesny (Hrsg.) Bildung und Region 2023, 436 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-381-11491-7 16 Peer Frieß, Dietmar Schiersner, (Hrsg.) Beschwert und überladen? Die Rolle regionaler Ressourcenkonflikte im Bauernkrieg von 1525 2024, 452 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-381-12971-3 <?page no="456"?> STEFAN EHRENPREIS Der Bauernkrieg in Tirol als Ressourcenkonflikt STEFAN HUBER Die Ressource Wald zwischen Landesherr und Untertanen im bayerischen Landgericht Tölz 1476-1528 HELMUT FLACHENECKER Der Kampf um immaterielle und naturale Ressourcen im Bauernkrieg in Franken. Von Häckern, Bauern und Stadtviertelsbewohnern UWE SCHIRMER Ressourcenkonflikte in Thüringen und in den angrenzenden mitteldeutschen Regionen (1446-1532) III. Das Ringen um Ressourcen in Oberschwaben CHRISTOPH ENGELHARD Eine gesprächsbereite Herrschaft. Die Reichsstadt Memmingen und ihre Bauern vor und während des Bauernaufstandes 1525 JOHANNES WOLFART Disputes Over Pastoral Care as Resource Conflicts. Examples from Lindau in the Peasant’s War and beyond STEFAN BIRKLE spenn und irrung zwischen Obrigkeit und Untertanen. Die Ritterherrschaft Angelberg und der Bauernkrieg SILKE SCHÖTTLE Das Ringen um Ressourcen als Mittel der Konfliktentschärfung in den Vereinbarungen Georgs von Waldburg mit den Untertanen der Herrschaft Wolfegg PETER RÜCKERT Der Abt im Konflikt. Jacob Murer und das Prämonstratenserstift Weißenau im Bauernkrieg GERHARD IMMLER Der Memminger Vertrag von 1526. Ein Meilenstein auf dem Weg zu einer kooperativen Agrarverfassung im Fürststift Kempten THOMAS PFUNDNER Die Beschwerden der Bauern des Irseer Klostergebietes von 1527 <?page no="457"?> www.uvk.de ISBN 978-3-381-12971-3 „Beschwert und überladen“ - Mit diesen Worten beklagten sich oberschwäbische Bauern bei Ihrer Obrigkeit im Frühjahr 1525. Was mit Protestversammlungen und Beschwerdeschriften begann, endete wenige Monate später in blutigen Massakern mit Tausenden von Toten, dem sog. „Bauernkrieg“. Wofür starben sie? Starben Sie umsonst? Worum ging es wirklich? Die Masse der Bauern - so die Ausgangsthese - kämpfte schlicht für ein würdevolles Leben. Sie wollten ihre Familien ernähren, sie wollten ihre Angelegenheiten selbst regeln und sie wollten ihr Seelenheil sichern können. Das wollten ihre geistlichen und weltlichen Herren auch. Die Ressourcen hätten für alle gereicht. Die einzelnen Beiträge dieses Tagungsbandes zeigen überzeugend: Da, wo nach einem Ausgleich der Interessen gesucht wurde, musste niemand sterben. Gemordet wurde da, wo eine Seite glaubte, ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen zu können.
