Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten
Die Darstellung von Fallibilität als Inszenierungsstrategie der Autor-persona bei Horaz, Ovid und Seneca
1216
2024
978-3-3811-2982-9
978-3-3811-2981-2
Gunter Narr Verlag
Christoph Mayr
10.24053/9783381129829
Im Zentrum dieser Monographie steht die Frage, wie die römischen Autoren Horaz, Ovid und Seneca die Darstellung eigener Schwäche, eigenen Scheiterns und eigenen Fehlverhaltens als Mittel ihrer literarischen Selbstinszenierung einsetzen. Anhand ausgewählter Passagen der Satiren, der Tristia und Epistulae ex Ponto sowie der Epistulae morales wird untersucht, welche unterschiedlichen Ausprägungen von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten in den Texten jeweils dargestellt werden, mit welchen sprachlichen Mitteln diese Darstellung erfolgt und welche persuasiven Effekte durch sie erzielt werden. Es wird gezeigt, dass alle drei Autoren diese Darstellung nutzen, um sich bestimmte Kompetenzen und somit letzten Endes positiv konnotierte Eigenschaften zuzuschreiben.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-12981-2 www.narr.de www.narr.de www.narr.de Im Zentrum dieser Monographie steht die Frage, wie die römischen Autoren Horaz, Ovid und Seneca die Darstellung eigener Schwäche, eigenen Scheiterns und eigenen Fehlverhaltens als Mittel ihrer literarischen Selbstinszenierung einsetzen. Anhand ausgewählter Passagen der Satiren, der Tristia und Epistulae ex Ponto sowie der Epistulae morales wird untersucht, welche unterschiedlichen Ausprägungen von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten in den Texten jeweils dargestellt werden, mit welchen sprachlichen Mitteln diese Darstellung erfolgt und welche persuasiven Effekte durch sie erzielt werden. Es wird gezeigt, dass alle drei Autoren diese Darstellung nutzen, um sich bestimmte Kompetenzen und somit letzten Endes positiv konnotierte Eigenschaften zuzuschreiben. Mayr Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten Die Darstellung von Fallibilität als Inszenierungsstrategie der Autorpersona bei Horaz, Ovid und Seneca von Christoph Mayr <?page no="1"?> Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten <?page no="2"?> CLASSICA MONACENSIA Münchener Studien zur Klassischen Philologie Herausgegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Band 53 · 2018 CLASSICA MONACENSIA Münchener Studien zur Klassischen Philologie Herausgegegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Band 62 · 2024 <?page no="3"?> Christoph Mayr Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten Die Darstellung von Fallibilität als Inszenierungsstrategie der Autor-persona bei Horaz, Ovid und Seneca <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381129829 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0941-4274 ISBN 978-3-381-12981-2 (Print) ISBN 978-3-381-12982-9 (ePDF) ISBN 978-3-381-12983-6 (ePub) Umschlagabbildung: Marmorsphinx als Basis. Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6882. Guida Ruesch 1789. H: 91 cm INR 67. 23. 57. Su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e del Turismo - Museo Archeologico Nazionale di Napoli. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 1 11 1.1 13 1.2 17 1.2.1 17 1.2.2 20 2 25 2.1 27 2.2 31 2.2.1 32 2.2.2 43 2.2.3 49 2.3 55 2.3.1 57 2.3.2 61 2.3.3 68 2.4 79 3 83 3.1 83 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen . . . . . . . . . . Die Fallibilität der Autor-persona bei Horaz, Ovid und Seneca: Fragestellung und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen und zentrale Begriffe . . . . . . . . . . . . Historischer Autor, Autor-persona und biographische Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Selbst-)Inszenierung durch Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung und Textcorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 . . . . . . . . . . Die Fähigkeit des ‚Horaz‘ zur Unterscheidung schwerer und leichter Schwächen und Fehler - sat. 1,3 . . . . . . . . Die Auseinandersetzung des ‚Horaz‘ mit eigenen Schwächen und Fehlern - sat. 1,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die niedrige Herkunft des ‚Horaz‘ als Vorteil für seine Tätigkeit als Satiriker - sat. 1,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Scheitern des ‚Horaz‘ als Satiriker - sat. 2,6 . . . . . . ‚Horaz‘ aus der Perspektive des unqualifizierten Kritikers Damasippus - sat. 2,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die saturnalische Kritik des Davus an ‚Horaz‘ - sat. 2,7 Fazit: ‚Horaz‘ als fallibler und daher kompetenter Satiriker . . Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung und Textcorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3.2 87 3.2.1 87 3.2.2 92 3.2.3 95 3.3 105 3.3.1 106 3.3.2 109 3.4 114 3.4.1 114 3.4.2 116 3.4.3 120 3.5 126 3.5.1 127 3.5.2 129 3.5.3 132 3.6 134 4 137 4.1 137 4.2 143 4.2.1 143 4.2.2 151 4.2.3 163 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenhang zwischen Leben im und Dichten über das Exil - trist. 1,1, 3,1 und 5,1 . . . . . . . . . . . . . . . . Persuasionsziel: Öffentliche Wahrnehmung als exul poeta et patiens - trist. 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Nasos‘ ‚Odyssee‘ - trist. 1,5 und Pont. 4,10 . . . . . . . . . . Physische und psychische Krankheiten ‚Nasos‘ als Grundlage von Hilfegesuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Exil als Ursache von Krankheit und -Depression - -trist.-3,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Naso‘ als unschuldig Leidender - Pont. 1,10 . . . . . . . . . ‚Nasos‘ Fallibilität und das Verhältnis zu seiner Ehefrau . . . . . ‚Nasos‘ Versprechen ewigen Ruhms für seine Ehefrau - -trist.-1,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Exil als Betätigungsfeld für die Loyalität der -Ehefrau-- trist. 4,3 und 5,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Nasos‘ poetische Macht über seine Ehefrau - Pont. 3,1 Die Notwendigkeit des Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Nasos‘ Scheitern an der Akzeptanz des Exils . . . . . . . . ‚Nasos‘ Scheitern an der sprachlichen und kulturellen Integration in Tomi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der exul poeta et patiens als römischer Dichter-- -Pont.-4,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: ‚Nasos‘ Fallibilität als Stoff innovativer Dichtung . . . . . Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung und Textcorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Senecas‘ seelische Fallibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Senecas‘ Erfahrung im falschen Umgang mit Zeit und Trauer - epist. 1 und 63 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschwüre in ‚Senecas‘ Seele - epist. 8, 27 und 68 ‚Senecas‘ Scheitern an der Konsolidierung seines ethischen Fortschritts - epist. 7 und 87 . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4.3 171 4.3.1 171 4.3.2 179 4.4 188 5 193 5.1 193 5.2 196 5.3 198 5.4 200 5.5 201 205 205 206 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mögliche Vorteile des Alters - epist. 12 und 26 . . . . . . . ‚Senecas‘ Expertise im Umgang mit körperlichen Krankheiten - epist. 54 und 78 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: ‚Seneca‘ als fallibler Mensch und daher kompetenter Verfasser philosophisch-paränetischer Lehrbriefe . . . . . . . . . . Fazit: Persuasive Funktionen der Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Darstellung moralischer Schwächen und Fehler . . . . . . . . Die Darstellung körperlicher Krankheiten und Gebrechen . . Die Darstellung literarischen Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallibilität als möglicher Ausgangspunkt von Lern- und Entwicklungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Darstellung von Fallibilität in Kontexten der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Vorwort Die vorliegende Monographie ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2023/ 2024 an der Ludwig-Maximilians-Uni‐ versität München eingereicht wurde. Später erschienene Forschungsliteratur wurde für die Publikation nicht mehr berücksichtigt. Viele Menschen haben auf unterschiedliche Art und Weise dazu beigetragen, dass ich an meinem Promotionsvorhaben, das lange Zeit den Arbeitstitel „Schwäche und Scheitern“ trug, nicht selbst gescheitert bin. Ihnen allen sei an dieser Stelle von Herzen gedankt. Therese Fuhrer hat mich zur Fragestellung und Textauswahl der Arbeit angeregt und mir durch die langjährige Anstellung an ihrem Lehrstuhl ermöglicht, viele wertvolle Erfahrungen im universitären Lehr- und For‐ schungsbetrieb zu sammeln. Lisa Cordes hat die Arbeit von Beginn an mit sehr großem Interesse verfolgt und am Ende ohne zu zögern die Mühen des Zweitgutachtens auf sich genommen. Gerade in schwierigen Phasen stand sie mir nicht nur mit ihrer fachlichen Expertise, sondern immer auch mit privatem Rat zur Seite. Andreas Ammann hat unzählige meiner Fragen mit der ihn auszeich‐ nenden Geduld und Hilfsbereitschaft beantwortet. Mit ihm verbindet mich weit mehr als der Umstand, dass wir uns vier Jahre lang ein Büro geteilt haben. Auch Oliver Schelske und Tobias Uhle sind mir schnell zu guten Kollegen und noch schneller zu sehr guten Freunden geworden. Manuela Wunderl war mir stets eine verständnisvolle und gleichermaßen motivie‐ rende Gesprächspartnerin. Bianca Schröder und Janja Soldo haben Teile der Arbeit kommentiert und mir mehrfach nicht nur in fachlicher Hinsicht geholfen. Tobias Gräbert hat das Manuskript Korrektur gelesen. Für eventuell verbliebene Fehler bin freilich ich allein verantwortlich. Während meines Studiums habe ich viel durch die engagierte und begeisternde Lehre von Petra Riedl und Tobias Uhle gelernt. Martin Hose hat die Aufgabe des Drittprüfers in meiner Disputatio übernommen. Claudia Wiener hat mich während und nach der Promotion unterstützt. Beide habe sich zudem dazu bereit erklärt, dieses Buch in die Reihe Classica Monacensia aufzunehmen. Tillman Bub vom Narr Francke Attempto Verlag hat die Publikation äußerst zuvorkommend und kompetent betreut. <?page no="10"?> Mein größter Dank gilt drei Menschen, die nichts von Latein verstehen, ohne die dieses Buch aber nicht denkbar wäre. Meinen Eltern verdanke ich mehr, als ich hier in Worte fassen kann. Ohne Jasmin Knorr hätte ich die Arbeit an dieser Dissertation zwar begonnen, aber mit Sicherheit niemals zu Ende gebracht. München, im November 2024 Christoph Mayr 10 Vorwort <?page no="11"?> 1 Hose (2003) 55. Korenjak (2003) 61 zählt die biographische Interpretation antiker Texte durch das zeitgenössische Lesepublikum zu „deren wichtigsten Produktionsvorausset‐ zungen“. Die antike Neigung zur biographischen Interpretation betonen auch Clay (1998); Mayer (2003); Volk (2005). Dass diese Interpretation in der lateinischen Literatur selbst problematisiert und ihr teils sogar widersprochen wird, zeigt in jüngster Zeit Gärtner (2022) 210-216 am Beispiel von Phaedrus. 2 Als Autor-persona bezeichne ich eine Figur, die als Verfasser des Textes dargestellt wird, als dessen Ich-Sprecher sie in Erscheinung tritt, und die beispielsweise durch die Vergabe biographischer Informationen das Angebot macht, sie mit dem historischen Autor dieses Textes zu identifizieren. S. dazu S.-17. 3 Zum Begriff des Autorbilds s. S.-18 Anm.-22. 4 Viele dieser Eigenschaften und Handlungen, insbesondere unterschiedliche Ausprä‐ gungen von Schwäche und Fehlverhalten, lassen sich mit dem lateinischen Begriff vitium bezeichnen. Ich verwende Begriffe wie Schwäche und Fehler als Übersetzung von vitium nicht als philosophische Termini, sondern in einem allgemeinen Sinn zur Bezeichnung menschlicher Eigenschaften und Handlungen, die aus Sicht der Autor-persona falsch sind. Als vitium bzw. vitia lassen sich bezeichnen: 1. in einem allgemeinen Sinn Fehler, Schnitzer, Fehlgriffe, Missgriffe (Georges II A); 2. moralische Fehler, Vergehen, Schuld, Laster als Gegensatz von virtus (Georges II B 2; OLD 4: „defect of character, moral failing, vice“); 3. körperliche Krankheiten und Gebrechen sowie 1 Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen Da das zeitgenössische Lesepublikum antiker lateinischer Texte zur biographi‐ schen Interpretation von Literatur neigte, konnte „die Vorstellung, Gedichte würden von Zeitgenossen und Nachwelt biographisch gelesen und interpretiert [werden], kaum ohne Folgen für das Dichten bleiben.“ 1 Das lässt den Schluss zu, dass antike Autoren darum bemüht waren, ihre Autor-persona möglichst vorteilhaft darzustellen, um Leserinnen und Leser zu möglichst vorteilhaften Rückschlüssen auf ihre eigene Person zu bewegen. 2 Angesichts dieses Bemühens und des teils erheblichen rhetorischen Aufwands, mit dem entsprechende Darstellungen betrieben werden, ist Folgendes bemerkenswert: Auch in Texten, in denen eine Autor-persona in Erscheinung tritt und die dem Lesepublikum dadurch ein bestimmtes Autorbild vorführen beziehungsweise das Angebot machen, ein solches zu konstruieren, spricht diese Autor-persona häufig selbst über eigene Schwäche, eigenes Scheitern und eigenes Fehlverhalten und bringt damit ihre eigene Fallibilität offen zur Sprache. 3 Unter den bewusst breit gefassten Begriff der Fallibilität subsumiere ich in dieser Arbeit Eigenschaften und Handlungen, die allgemein für negativ befunden oder in einem Text negativ konnotiert werden. 4 Darunter zähle ich <?page no="12"?> medizinische Leiden (Georges I a und b); 4. Defizite und Unzulänglichkeiten aller Art (OLD 1: „a quality which impedes success, perfection, etc.“; OLD 2: „a defect, disorder (of the body, faculties, etc.)“. 5 Neckel (2021) 908-909 nennt weitere Formen von Scheitern, u. a. korrigierbares Misslingen, korrigierbare Misserfolge und das Ende von Handlungsmöglichkeiten in einzelnen oder allen Lebensbereichen. 6 Ähnlich Fuhrer (2024) 11-12. Unter „essential fallibility“, die jedem Menschen auf Grund seines Status als Mängelwesen zugeschrieben werden kann, subsumiert sie „natural physical (biological) and intellectual deficiencies“ und den Umstand, dass der Mensch auf die Hilfe von anderen Lebewesen und/ oder auf technische bzw. mechanische Un‐ terstützung angewiesen ist. Als situationsabhängige „individual failures“ nennt Fuhrer „errors of thinking, momentary physical weakness, moral errors, lack of emotional control.“ 7 Ich verwende das Substantiv Fallibilität und das Adjektiv fallibel unabhängig vom erkenntnistheoretischen Begriff des Fallibilismus, der zum Ausdruck bringt, dass „Erkenntnisse grundsätzlich keine absolute Gewissheit beanspruchen können“ (Heede 1972, 894). Zu den englischen Begriffen „fallibility“ und „fallibilism“ s. Soldo/ Fuhrer (2024). 8 In Ov. trist. und Pont. findet sich eine andere Erklärung für die Fallibilität der Autor-persona: Der verbannte Sprecher ‚Naso‘ betont wiederholt, vor dem Exil glücklich und unbeschwert gelebt zu haben, und benennt allein die Lebensumstände im Exil und die Trennung von Rom als Ursachen für seine körperlichen und seelischen Krankheiten, für die gescheiterte Integration in Tomi und für das (vermeintliche) Scheitern an der Produktion qualitativ hochwertiger Dichtung. beispielsweise Verhalten, das als moralisch falsch zu beurteilen ist, Schwäche im Sinne charakterlicher Unvollkommenheit, Schwäche im Sinne körperlicher Mängel, Defekte oder Krankheiten, psychische Schwäche wie geringe Resi‐ lienz oder Depression, Scheitern im Erreichen eines angestrebten Ziels, 5 oder ganz allgemein Defizite und Unzulänglichkeiten im Sinne eines Mangels an Perfektion. 6 Der Begriff der Fallibilität soll verdeutlichen, dass jeder Mensch mit moralischen, intellektuellen, physischen und psychischen Defiziten und Defekten unterschiedlicher Art behaftet ist, dass die Möglichkeit, schwach zu sein, zu scheitern und Fehler zu begehen also in jedem Menschen von Natur aus angelegt ist. 7 Der Umstand, dass Fallibilität ein anthropologisches Phänomen ist, erklärt, dass literarische Texte Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten ihrer Autor-per‐ sona zur Sprache bringen, obwohl diese auf Grund der zeitgenössischen Neigung zur biographischen Interpretation als grundsätzlich positiv konzipierte Figur angesehen werden kann. Denn es wäre auch innerhalb einer im Text entwor‐ fenen Welt nicht glaubwürdig, würde eine Autor-persona als Mensch ohne Fehl und Tadel dargestellt werden. Mit den Satiren des Horaz und den Epistulae morales Senecas teilen zwei der drei Werke, die in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, diese Auffassung. 8 Die Autor-persona der Satiren behauptet 12 1 Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen <?page no="13"?> 9 Hor. sat. 1,3,68-69: vitiis nemo sine nascitur; optimus ille est / qui minimis urgetur. S. dazu auch S. 41. In sat. 1,1,68-70 behauptet die Autor-persona, jeder Mensch könne und solle sich selbst in dem Verhalten erkennen, das in den Satiren kritisiert werde, in sat. 1,4,25-32, jeder Mensch habe Schwächen und verhalte sich bisweilen falsch. 10 Zu dieser „Anthropologie der Schwäche“ s. Fuhrer (2018) 107-114, Zitate S. 107-108. Fuhrer verweist neben dial. 6 (ad Marc.) 11,3-4 auf weitere Stellen, die physische und psychische Schwäche als angeborenen und unabwendbaren Bestandteil des menschli‐ chen Lebens darstellen, z. B. auf epist. 107,2; dial. 12 (ad Helv.) 10; nat. praef. 4. Ähnlich Tarrant (2006) 5-11: Seneca’s „works offer a depiction of actual life in which weakness, vice, and corruption are so prevalent that grounds for optimism are slim indeed“ (S. 5). 11 „Fallibility is (almost) everywhere“, so Soldo/ Fuhrer (2024) 3-4 in der Einleitung ihres Tagungsbands zu Fallibility and Fallibilism in Ancient Philosophy and Literature. Der Band geht wie ich von einem weiten Fallibilitätsbegriff aus. Die Beiträge „from Hesiod to Housman“ behandeln u. a. „moral, social and political failure; intellectual and epistemic inadequacy; tiredness; scribal mistakes; licentiousness; illness and physical frailty; fear; pain; exile; death“ (S. 3) in ganz unterschiedlichen Texten wie paganen und christlichen Dialogen, Traktaten, Briefen, Elegien und Dramen. 12 So z. B. Ludolph (1997) zu Plinius d. J.; Dugan (2005) und Kurczyk (2006) zu Cicero; Kleinschmidt (2013) zu Ausonius, Paulinus von Nola und Paulinus von Pella. Zum Begriff der Inszenierung s. S.-20. des Öfteren, dass jeder Mensch mit Schwächen und Fehlern behaftet sei, und nutzt diesen Allgemeinplatz auch als Entschuldigung für eigenes Fehlverhalten. 9 Die Epistulae morales sind wie andere philosophische Schriften Senecas von einer „Anthropologie der Schwäche“ geprägt und führen immer wieder als Kon‐ stante des menschlichen Lebens vor Augen, „dass der Mensch einen ständigen Kampf mit physischen und psychischen Schwächen zu führen habe.“ Senecas „Exempla illustrieren körperliche Schwächen, Hässlichkeit, Armut, Schande, Exil, materielle und ideelle Verluste als reale Möglichkeiten des menschlichen Daseins.“ 10 1.1 Die Fallibilität der Autor-persona bei Horaz, Ovid und Seneca: Fragestellung und Aufbau der Untersuchung Als anthropologisches Phänomen ist Fallibilität eine Grundkonstante des menschlichen Lebens und wird, wie soeben für die Satiren und die Epistulae morales skizziert, in antiken Texten auch als solche beschrieben. 11 In Bezug auf die Inszenierung einer Autor-persona hat sich die bisherige Forschung jedoch vor allem damit beschäftigt, wie literarische Texte deren positiv konnotierte Eigenschaften und Verhaltensweisen hervorheben. 12 Im Zentrum der vorlie‐ genden Untersuchung soll hingegen die Darstellung von Schwäche, Scheitern 1.1 Die Fallibilität der Autor-persona bei Horaz, Ovid und Seneca 13 <?page no="14"?> 13 Mit Knape (2003) 874 verstehe ich Persuasion als „den gesamten vom Kommunikator initiierten Überzeugungsvorgang mit dem Ziel, bei anderen einen Standpunktwechsel herbeizuführen“, wobei sich Persuasion „keineswegs im Argumentieren erschöpft.“ Knape (2000) 172-173 betont, dass der „klassische Kernpunkt […] jeglicher strate‐ gischen Kommunikation“ darin besteht, „dass ein aktiver Kommunikator im Persu‐ asionsfall bei seinen Kommunikationspartnern einen Wechsel (und sei er noch so gering) auf den Ebenen von Bewusstsein und Verhalten erzeugen will.“ Knape weist ausdrücklich darauf hin, dass „Arten und Möglichkeiten“ persuasiver Mittel unbegrenzt sind und dass „alles, was sich persuasiv instrumentieren läßt“, Gegenstand rhetorischer Untersuchung sein kann (S.-173), also auch die Inszenierung einer Autor-persona. und Fehlverhalten der Autor-persona der Satiren, der Tristia und Epistulae ex Ponto sowie der Epistulae morales stehen. Die Analysen ausgewählter Textstellen dieser Werke in den Kapiteln 2-4 gehen weder im Detail darauf ein, welche Begründungen oder Erklärungsver‐ suche für die fallible Natur des Menschen in den Texten beschrieben werden, noch, welche Strategien für den Umgang mit dieser falliblen Natur und den aus ihr resultierenden Folgen empfohlen werden. Mich interessiert vielmehr, wie die jeweilige Autor-persona die Darstellung ihrer eigenen Fallibilität als Inszenierungsstrategie einsetzt, das heißt, wie sie die Darstellung ihrer eigenen Fallibilität nutzt, um ein Bild von sich zu präsentieren, das andere zu bestimmten Einstellungen oder Handlungen bewegen soll. Ich will also fragen, welche Aus‐ prägungen ihrer Fallibilität eine Autor-persona darstellt, mit welchen sprachli‐ chen Mitteln diese Darstellung erfolgt und welche persuasiven Effekte durch diese Darstellung erzeugt werden. 13 Die Satiren, die Tristia und Epistulae ex Ponto sowie die Epistulae morales eignen sich für eine solche Untersuchung, da sie sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede aufweisen. Ihnen ist vor allem gemeinsam, dass sie aus der Perspektive einer Autor-persona verfasst sind, die in zahlreichen Passagen durch Ich-Aussagen und/ oder Aussagen anderer Figuren als schwach, schei‐ ternd und fehlerbehaftet dargestellt wird. Verssatire, (im Exil verfasste) Elegie und philosophisch-paränetischer Brief sind jedoch von unterschiedlichen lite‐ rarischen Traditionen und Konventionen geprägt, evozieren unterschiedliche Kommunikationssituationen und lassen die Autor-persona unterschiedliche Rollen einnehmen sowie unterschiedliche Persuasionsziele verfolgen. Das bietet die Möglichkeit, nach der eigenständigen Analyse ausgewählter Passagen der jeweiligen Werke einen textübergreifenden Vergleich anzustellen, welche per‐ 14 1 Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen <?page no="15"?> 14 Kap. 2-4 dieser Arbeit folgen der chronologischen Reihenfolge der behandelten Werke und unterziehen ausgewählte Textpassagen einer genauen sprachlichen und inhaltli‐ chen Analyse. Kap. 2 folgt weitestgehend der Gedichtfolge der Satiren. Kap. 3 und 4 sind nach inhaltlichen Gesichtspunkten aufgebaut, anhand derer sich einzelne Tristia und Epistulae ex Ponto bzw. einzelne Epistulae morales zu Gruppen zusammenfassen lassen. Die Ergebnisse der Textanalysen werden jeweils in einem Fazit festgehalten. Am Ende der Arbeit (Kap. 5) vergleiche ich die Ergebnisse der einzelnen Kapitel textübergreifend hinsichtlich der Darstellung moralischer Schwächen und Fehler, der Darstellung kör‐ perlicher Krankheiten und Gebrechen sowie der Darstellung literarischen Scheiterns. Zudem gehe ich darauf ein, dass Fallibilität als möglicher Ausgangspunkt von Lern- und Entwicklungsprozessen präsentiert werden kann und dass ihre Darstellung häufig in Kontexten der Rechtfertigung erfolgt. 15 Ein Vergleich der im Exil verfassten Briefe Ciceros und seiner Reden post reditum spricht dafür, dass das Eingeständnis der eigenen Fallibilität in der Öffentlichkeit nicht oder nur selten stattgefunden hat. In mehreren seiner privaten Briefe schreibt Cicero offen über Depressionen, die durch sein Exil ausgelöst worden seien (z. B. Att. 3,4; 3,12; fam. 14,1,1). In den öffentlichen Reden nach seiner Rückkehr hingegen erwähnt er diese Depressionen nicht, sondern inszeniert sich als souverän und planvoll agierender Politiker, der Rom freiwillig verlassen habe, um es vor weiterem Blutvergießen zu bewahren, so Kurczyk (2006) 212-219. In invektiven Texten werden Fehlverhalten und körperliche Defizite zwar öffentlich thematisiert, aber nicht in Bezug auf den Verfasser oder Sprecher, sondern in Bezug auf das Ziel der Invektive. 16 Zu diesem Effekt in Briefen und Briefliteratur s. Eickhoff (2021) 71-72; Edwards (2024) 128-130. suasiven Effekte die Darstellung von Fallibilität erzeugen und inwiefern diese Darstellung eingesetzt werden kann, um eine Autor-persona zu inszenieren. 14 In der bisherigen Forschung wurden mehrere persuasive Effekte beschrieben, die die Darstellung eigener Schwäche, eigenen Scheiterns und eigenen Fehlver‐ haltens durch eine Person haben kann. Insbesondere zu nennen sind die im Folgenden nur knapp umrissenen, durch die Reihenfolge ihrer Nennung nicht gewichteten und teils nicht klar voneinander abgrenzbaren Effekte: Gibt eine Person zu, fallibel zu sein, kann sie das nahbar wirken lassen und Sympathie hervorrufen. In der römischen Gesellschaft sprach man nur selten öffentlich über eigene Unzulänglichkeiten. 15 Das Sprechen beziehungsweise Schreiben über die eigene Fallibilität ist deshalb dazu geeignet, das Verhältnis und die Kommunikation mit einem Gegenüber als intim und vertraulich darzustellen. Denn nur in einem solchen vertraulichen Rahmen kann man offen über eigene Schwäche, eigenes Scheitern und eigenes Fehlverhalten sprechen. 16 Abgesehen davon, dass die Behauptung, frei von Fehlern zu sein, auf Grund des Status des Menschen als Mängelwesen unglaubwürdig wäre, sind die bereits genannten Punkte auch dazu geeignet, die Aussagen einer Person authentisch und glaub‐ 1.1 Die Fallibilität der Autor-persona bei Horaz, Ovid und Seneca 15 <?page no="16"?> 17 Fuhrer (2008) beschreibt diesen Effekt für Augustins Confessiones: „Der augustinische Text will gerade dadurch objektiv und authentisch wirken, dass […] ganz persönliche, teilweise intime Erfahrungen dargestellt werden, innere Kämpfe, persönliches Ver‐ sagen, unlautere Handlungen, ein Diebstahl, sexuelle Erfahrungen und Wünsche. […] Je ausgeprägter die Bekenntnishaltung, desto authentischer und glaubwürdiger wirkt die Darstellung“ (S. 179). Quante/ Kühler (2019) 216 definieren Authentizität: „Authenticity, when ascribed to a person or to some of her characteristics, essentially amounts to the idea that these characteristics truly stem from the person herself.“ 18 Diesen Effekt macht sich insbesondere der Ich-Sprecher der Satiren des Horaz zu Nutze, z. B. in sat. 1,3,19-20 und sat. 1,4. Der Ich-Sprecher der philosophischen Schriften Senecas weist immer wieder darauf hin, das Ideal des stoischen Weisen nicht zu erfüllen, und verteidigt damit v. a. in dial. 7 (vit. beat.) die Diskrepanz zwischen dem Anspruch seiner philosophischen Schriften und der eigenen Lebensführung. S. dazu Fuhrer (2000) und (2010); Jones (2014). Zur Verteidigung von ‚Horaz‘ und ‚Seneca‘ durch die Vorwegnahme möglicher Kritik s. auch Kap. 5.5. 19 Um zwischen historischem Autor und Autor-persona zu unterscheiden, beziehe ich mich mit den in gnomische Häkchen gesetzten Namen ‚Horaz‘, ‚Naso‘ und ‚Seneca‘ auf die jeweilige Autor-persona als im Text konstruierte Sprecher-Figur und mache Bezüge auf den jeweiligen historischen Autor stets als solche kenntlich. 20 Unter Kompetenz verstehe ich leicht abweichend vom erziehungswissenschaftlichen Kompetenzbegriff, wie ihn Weinert (2001) 27-28 definiert, bei Individuen verfügbares theoretisches und praktisches Wissen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die jemanden in die Lage versetzen, fachkundig über ein Thema zu schreiben und dieses Thema als Schriftsteller in ästhetisch ansprechender Form darzustellen. Fuhrer (2012) zeigt, dass Cicero, Seneca und Augustin bemüht sind, ihre Autor-persona als kompetenten Wissensvermittler zu inszenieren. Fuhrer vergleicht entsprechende Insze‐ nierungen mit der Funktion, die in modernen Publikationen Paratexte wie Klappentext oder Vorwort übernehmen. würdig wirken zu lassen. 17 Durch das Eingeständnis der eigenen Fallibilität kann man zudem Vorwürfe vorwegnehmen, sie im Voraus entkräften und sich so gegen echte oder potentielle Angriffe verteidigen. 18 Ausgehend von diesen Beobachtungen und vor dem Hintergrund der oben angesprochenen Neigung des zeitgenössischen Lesepublikums, literarische Texte biographisch zu deuten und aus ihnen Rückschlüsse auf deren historische Autoren zu ziehen, will ich mit dieser Arbeit für folgende These argumentieren: Die Darstellung der Fallibilität einer Autor-persona dient nie dazu, sie als Figur zu inszenieren, die in Gänze mit negativ konnotierten Eigenschaften ausgestattet ist und die ausschließlich als falsch zu bewertende Verhaltens‐ weisen zeigt. Vielmehr nutzen ‚Horaz‘, ‚Naso‘ und ‚Seneca‘ die Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten ihrer eigenen Person, um sich letzten Endes positiv konnotierte Qualitäten zuzuschreiben. 19 Sie bringen ihre Fallibilität zur Sprache, um sich als kompetente Verfasser eines Textes zu präsentieren und um andere zu bestimmten Einstellungen und Handlungen zu bewegen. 20 Beispielsweise gesteht ‚Horaz‘ Schwächen und Fehler ein, um 16 1 Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen <?page no="17"?> 21 Um trotz dieses Identifikationsangebots zwischen dem historischen Autor und seiner persona zu unterscheiden, beziehe ich mich mit den in gnomische Häkchen gesetzten Namen ‚Horaz‘, ‚Naso‘ und ‚Seneca‘ auf die jeweilige Autor-persona als im Text konstruierte Sprecher-Figur und mache Bezüge auf den jeweiligen historischen Autor stets als solche kenntlich. nicht als Moralist zu erscheinen, der Forderungen an andere stellt, die er selbst nicht erfüllen kann, und um Kritik anderer an seiner eigenen Person vorwegzunehmen. Der verbannte ‚Naso‘ wiederum beschreibt eigene physische und psychische Krankheiten nicht nur, um auf vordergründiger Textebene an das Mitleid und die Unterstützung seiner Adressatinnen und Adressaten und seines Lesepublikums zu appellieren, sondern auch, um sein innovatives Können als Dichter hervorzuheben. ‚Seneca‘ gibt als Absender der Epistulae morales eigenes Fehlverhalten nicht nur offen zu, um auf Erfahrung beruhende Expertise im Umgang mit diesem Fehlverhalten zu beanspruchen, sondern auch, um seinen Adressaten Lucilius dazu zu motivieren, sich selbst aktiv um ethischen Fortschritt zu bemühen und sich nicht von ‚Seneca‘ als seinem zwar weiter fortgeschrittenen, aber dennoch falliblen Briefpartner abhängig zu machen. 1.2 Theoretische Grundlagen und zentrale Begriffe 1.2.1 Historischer Autor, Autor-persona und biographische Informationen Autoren inszenieren die Figuren ihrer Texte so, dass die persuasive Wirkung dieser Texte unterstützt wird. Dazu können sie diese Figuren mit bestimmten Merkmalen, Charakterzügen und einer Biographie ausstatten und so Ähnlich‐ keiten und/ oder Übereinstimmungen mit einer historischen Person konstru‐ ieren oder behaupten, dass die im Text vergebenen Informationen auf eine historische Person rekurrieren. Durch die Vergabe solcher biographischer In‐ formationen wird dem Lesepublikum das Angebot gemacht, literarische Figur und historische Person im Prozess der Lektüre miteinander zu identifizieren. Jede Figur eines Textes bleibt gleichwohl immer literarisches Konstrukt und darf nicht mit der historischen Person gleichgesetzt werden, auf die im Text referenziert wird. Das gilt auch für eine Autor-persona. Als Autor-persona bezeichne ich eine Figur, die als Verfasser des Textes dargestellt wird, als dessen Ich-Sprecher sie in Erscheinung tritt, und die beispielsweise durch die Vergabe biographischer Informationen das Angebot macht, sie mit dem historischen Autor dieses Textes zu identifizieren. 21 1.2 Theoretische Grundlagen und zentrale Begriffe 17 <?page no="18"?> 22 Jannidis (2002) 27 definiert ein Autorbild „als Summe alles Wissens über einen realen Autor“, wozu er auch „alle Annahmen und Spekulation […], die Erinnerung an die Lektüreerfahrung und die Rückschlüsse auf den Autor auf Grund seines Textes“ zählt. Autorbilder sind jedoch nicht nur Teil der Rezeption, sondern können von Autoren selbst konstruiert werden, um „ihre kommunikativen Ziele zu erreichen, zu denen […] nicht zuletzt die Vermittlung eines bestimmten Autorbilds gehört“ ( Jannidis 2004, 22). Zu einem Überblick über das Konzept des Autorbilds und dessen Anwendung auf antike Literatur s. Tischer/ Gärtner/ Forst (2022) 7-16. 23 S. dazu Fuhrer (2012) 130-131. Zur Metapher der ‚Bühne des Texts‘ s. auch S. 123 mit Anm.-161. 24 So z. B. auch McNeill (2001) 7; Kurczyk (2006) 16, 31-32 mit Anm. 69, 50-54; Klein‐ schmidt (2013) 1-14. 25 In Hor. sat. wird die Autor-persona nur in 2,1,18 (Flaccus) und in 2,6,37 (Quintus) mit Namen genannt. In Ov. trist. und Pont. nennt sie sich ca. 40 Mal Naso (Stellenangaben dazu S. 83 Anm. 2). Der Absender in Sen. epist. nennt sich in jeder Grußformel Seneca und legt dem Adressaten in 68,10 den Vokativ Seneca in den Mund. Zum Effekt solcher Namensnennungen s. Kleinschmidt (2013) 64-65: Ein Sprecher kann sich „als eine literarische Figur präsentieren, die schon vorher in anderen Texten existiert hat, oder einen Bezug zur empirischen Welt herstellen. Dieser wird dann aktiviert, wenn ein Leser eine historische Person gleichen Namens kennt und im Text weitere Hinweise des sprechenden Ichs darauf findet, dass es mit dieser historischen Person identifiziert werden will.“ Durch die Inszenierung einer solchen Autor-persona entwirft der historische Autor ein Autorbild. 22 Er fungiert dabei gewissermaßen nur als Regisseur des auf der ‚Bühne des Textes‘ vorgeführten Geschehens und der darin involvierten Figuren und tritt im Text nicht selbst als Akteur in Erscheinung. 23 Literarische Texte zeigen also nicht, wer ihr Autor tatsächlich ist beziehungsweise war, sondern wie eine potentiell Ähnlichkeiten und/ oder Übereinstimmungen mit ihm aufweisende Figur im Text inszeniert wird, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. 24 Spricht oder schreibt eine Autor-persona über ihre eigene Fallibilität, heißt das also nicht, dass auch der historische Autor in entsprechender Hinsicht fallibel war, sondern dass er eine Figur seines Textes als fallibel inszeniert, um die persuasive Wirkung des Textes zu unterstützen. Diese Wirkung kann auch darauf abzielen, dem Lesepublikum das Angebot zu machen, ein bestimmtes Autorbild zu konstruieren. Die Inszenierung einer Autor-persona erfolgt häufig über die Vergabe biogra‐ phischer Informationen. In den Texten, die in dieser Arbeit behandelt werden, finden sich diesbezüglich unter anderem folgende Informationen: Name, 25 18 1 Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen <?page no="19"?> 26 Hier und in den folgenden Anmerkungen jeweils nur eine Auswahl: Hor. sat. 1,6,45-46; Ov. trist. 4,10,7-8. 27 Hor. sat. 1,5,77-78; 2,1,34. Ov. trist. 4,10,3-4 sowie unzählige Erwähnungen der patria (Sulmo, Rom, Italien) in den Exilelegien. Mit Informationen über die geographische Her‐ kunft vergleichbar sind Aussagen über den derzeitigen Aufenthaltsort der Autor-per‐ sona. Hor. sat.: Reise nach Süditalien (1,5), Forum Romanum (1,9), Sabinum (2,6). Ov. trist. und Pont.: Stationen der Anreise nach Tomi (trist. 1) und Tomi selbst. Sen. epist.: nicht näher bestimmbares Landgut (12), Baiae (51), Schiffsreise von Parthenope nach Puteoli (53), Wohnung ‚Senecas‘ über einem Bad (56), Landgut bei Nomentum (104). 28 Hor. sat. 1,6,71-84; Ov. trist. 4,10,15-16; Sen. epist. 108. 29 Ov. trist.: graue Haare als Folgen des Alters (4,8,1-2), Geburtsdatum (4,10,3-6, 11-14). Sen. epist.: fortgeschrittenes Alter (12; 26). 30 Hor. sat.: wiederholte Erwähnung von Maecenas, Vergil, Varius und anderen Personen (1,5; 1,6; 1,9; 1,10). Ov. trist. und Pont.: Adressierungen an die in Rom verbliebene Gattin (Stellenangaben dazu S. 114 Anm. 128) und an namentlich genannte Personen (Pont.), Erwähnung des Bruders, dreier Ehen, einer Tochter und eigener Enkelkinder (trist. 4,10,9-35, 69-76). Sen. epist.: Adressierung an Lucilius, Erwähnung der Gattin (50,2; 104,1) und anderer Personen (Marcellinus in 29; Bassus Aufidius in 30, Annaeus Serenus in 63, Maximus in 87, Attalos in 108). 31 Hor. sat.: Militärtribunat (1,6,48), Amt eines scriba quaestorius (2,6,36). Ov. trist.: Ämterlaufbahn (4,10,33-36). Sen. epist.: Rückzug vom öffentlichen Leben, von der Politik und von geschäftlichen Verpflichtungen (8). 32 Ov. trist. und Pont.: Altersschwäche (trist. 4,6,39-44; 4,8,1-4; Pont. 1,4,1-8), Krankheit (trist. 3,8), Magerkeit, Blässe, Appetitlosigkeit (Pont. 1,10). Sen. epist.: schwere Krank‐ heiten (54; 78), Altersgebrechlichkeit (12,1-5; 26,1-2; 67,2; 68,3). 33 S. dazu z. B. Hose (2003) 51: Es ist „nicht ausgeschlossen […], dass in einigen Ich-Aus‐ sagen […] tatsächliche biographische Data stecken - doch fehlt uns das methodische Werkzeug, das tatsächlich historische Material zweifelsfrei zu ermitteln.“ Ähnlich Volk (2005) 86-87: Die Trennung von historischem Autor und Autor-persona „does not on principle preclude the possibility that poetic texts might have an autobiographical component; it simply takes an agnostic attitude toward the individual poem’s real-life background, excluding it from the interpreter’s endeavor while not denying its possible existence.“ soziale Abstammung, 26 geographische Herkunft, 27 Ausbildung, 28 Alter, 29 soziale Beziehungen, 30 berufliche Laufbahn 31 und körperliche Konstitution. 32 Auf Grund der zeitlichen und räumlichen Nähe zur Entstehung eines Textes bestand für das zeitgenössische antike Lesepublikum die Möglichkeit, die Faktizität solcher Informationen zu kennen. Das macht es zwar plausibel, dass diese Informationen zumindest in ihren Grundzügen mit der Lebenswirklichkeit des historischen Autors übereinstimmen. Sie ermöglichen trotz dieser potentiellen Übereinstimmungen aber keine Rückschlüsse auf diese Lebenswirklichkeit des historischen Autors, sondern entwerfen lediglich ein Autorbild. Die nicht zu beantwortende und damit wenig gewinnbringende Frage nach dem Realitäts‐ gehalt biographischer Informationen wird im Folgenden deshalb nicht gestellt. 33 1.2 Theoretische Grundlagen und zentrale Begriffe 19 <?page no="20"?> 34 S. dazu Kap. 2.2.3. 35 Ich danke Bianca Schröder für den Hinweis auf Martin (2002) 157-158, der die Gesellschaft im republikanischen Rom als eine „mask-to-mask-society“ bezeichnet, um zu betonen, dass sie zum Ziele der sozialen Kontrolle „ausgeprägte Vorstellungen von Rollen entwickelt [hat], die das Handeln jedes Einzelnen in der Gesellschaft jederzeit erwartbar machen sollten.“ S. dazu auch Volk (2005) 85-86 mit weiterfüh‐ renden Literaturangaben in Anm. 13. Kreuzwieser (2016) 127-158 zeigt, dass Seneca „gesellschaftliches Handeln stets als Handeln in bestimmten sozialen Rollen begreift: Sowohl gelungene als auch nicht gelungene soziale Interaktion wird von Seneca mit der Metapher des ‚Auftretens‘ und dem ‚Annehmen von Rollen‘ beschrieben“ (S. 135). In der Forschung werden als Belege für das „alltägliche Rollenspiel“ (Seibert 2014, 66) auch rituelle Handlungen im öffentlichen Raum und Passagen literarischer Texte genannt. So weist Habinek (2000) 285 darauf hin, dass bei Bestattungsfeierlichkeiten Träger von Totenmasken die Rollen der Verstorbenen einnahmen, um sich dadurch in einem rituellen Kontext Autorität anzueignen. Seibert (2014) 66 zitiert Suet. Aug. 99: Der im Sterben liegende Augustus habe gefragt, ob er das „Possenspiel des Lebens gut gespielt habe“ (mimum vitae commode transegisse). Kreuzwieser (2016) 135 verweist auf Sen. epist. 77,20: Quomodo fabula, sic vita: non quam diu, sed quam bene acta sit, refert. 36 Zum Rollendenken in der rhetorischen Ausbildung und Praxis s. z. B. Bloomer (1997). Volk (2005) 86 Anm. 14 verweist diesbzgl. auf die Passagen, die im von Uwe Dubielzig verfassten Artikel persona des TLL angeführt werden, v.-a. auf Cic. Inv. 1,99. 37 Zu nennen ist insbesondere die auf Panaetios zurückgehende und bei Cic. off. 1,107-125 beschriebene sog. quattuor-personae-Theorie. Es wird dort zwischen vier sozialen Rollen (personae) unterschieden, die jeder Mensch zu übernehmen hat, um seinen sozialen Aussagen, die wie biographische Informationen als Referenzen auf die au‐ ßertextuelle Welt gelesen werden können (aber nicht müssen), sind vielmehr in die andere Richtung zu denken. Die Kenntnis biographischer Fakten ist für ein Verständnis der zu untersuchenden Texte nicht notwendig, eröffnet dem Lesepublikum je nach Vorwissen und Lektürehaltung aber bestimmte Deutungsmöglichkeiten. Denn die Vergabe biographischer Informationen kann dazu eingesetzt werden, die im Text entworfene Welt und die in ihr agierenden Figuren zu inszenieren. Beispielsweise lässt sich nicht rekonstruieren, ob es Folgen für die historische Person Horaz hatte, dass in den Satiren oftmals auf die niedrige soziale Herkunft der Autor-persona verwiesen wird. Der Hinweis auf diese Herkunft wird jedoch wiederholt für die Inszenierung der Autor-persona ‚Horaz‘ genutzt. 34 1.2.2 (Selbst-)Inszenierung durch Rollen Das Denken in und Übernehmen von Rollen war in der römischen Gesellschaft nicht nur zentraler Bestandteil des konkreten, häufig politischen Handelns 35 und der rhetorischen Ausbildung und Praxis. 36 Es ist unter dem Konzept der persona auch in philosophisch-theoretischen Schriften fassbar. 37 Ausgehend 20 1 Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen <?page no="21"?> Pflichten in angemessener Weise gerecht werden zu können. S. dazu Fuhrmann (1979); Gill (1988); Seibert (2014) 55-107; Kreuzwieser (2016) 61-93 mit einem Forschungsüber‐ blick auf S.-61-62. 38 Zur Übernahme von Konzepten und Begriffen der Theatersprache in die Soziologie s. Goffman (2017) 232-233, zur Übernahme dieser Konzepte und Begriffe aus der Soziologie in die Literaturwissenschaft s. Platz-Waury (2007b) 313-314. 39 Goffman (2017) 18 definiert eine Rolle als „das vorherbestimmte Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderen Gelegenheiten vorgeführt oder durchgespielt werden kann.“ Jordan (2015) 247 definiert: „In der Soziologie versteht man unter ‚Rolle‘ ein Set von Erwartungen einzelner Personen oder einer sozialen Gruppe, das an einen sozialen Akteur als Inhaber einer sozialen Position bzw. eines sozialen Status […] gerichtet wird.“ Entsprechende Erwartungen können verschiedene Aspekte wie z. B. das äußere Erscheinungsbild, die inneren Einstellungen, die Sprechweise oder konkrete Verhaltensweisen im privaten oder öffentlichen Raum betreffen. 40 Diese Erwartungen können durch literarische Traditionen vorgeprägt sein oder auf Rollenkonzepte Bezug nehmen, die „im sozialen Umfeld des Autors oder intendierten Rezipienten eine gewisse Realität haben“, so Fuhrer/ Zinsli (2003) 7-8. 41 Zu Rollenkonflikten aus soziologischer Perspektive s. Goffman (2017) 99-128 und Jordan (2015) 248, aus literaturwissenschaftlicher Sicht s. Fuhrer (2007). von diesem antiken Denken und Handeln wurden die Begriffe der Rolle und der Inszenierung in die Theatersprache übernommen und haben über die Sozialwissenschaften Einzug in die Literaturwissenschaft gefunden und sich dort etabliert, um soziale Interaktions- und Kommunikationsprozesse zu beschreiben. 38 Das in den Sozialwissenschaften beschriebene und von den Literaturwissen‐ schaften übernommene Rollenkonzept beruht auf der Auffassung, dass sich jeder Mensch mit Erwartungen konfrontiert sieht, die von außen an ihn gestellt werden oder die er an sich selbst stellt, und in der Regel versucht, sich diesen Erwartungen gemäß zu verhalten. 39 Auch Figuren literarischer Texte übernehmen eine oder mehrere Rollen oder bekommen eine oder mehrere Rollen zugeschrieben, an die sie selbst, andere Figuren und das Lesepublikum bestimmte Erwartungen stellen können. 40 Sind Menschen oder literarische Fi‐ guren nicht im Stande, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen, oder wollen sie diese nicht erfüllen, können Konflikte entstehen, die den ‚dramaturgischen Erfolg‘ ihres Agierens in einer bestimmten Rolle, also die Beeinflussung ihres ‚Publikums‘ in ihrem Sinne, erschweren können. 41 Auch die Autor-personae ‚Horaz‘, ‚Naso‘ und ‚Seneca‘ nehmen Rollen ein oder bekommen Rollen zugeschrieben, deren Nichterfüllung zu Rollenkonflikten führen kann. Von ‚Horaz‘ als Verfasser von Verssatiren ist beispielsweise zu erwarten, dass er aus einem moralischen Standpunkt heraus Kritik am Verhalten anderer üben wird und dass er das Verhalten, das er bei anderen kritisiert, 1.2 Theoretische Grundlagen und zentrale Begriffe 21 <?page no="22"?> 42 Genau damit arbeiten die Satiren 2,3 und 2,7, in denen andere Figuren der Autor-persona ‚Horaz‘ Fehlverhalten vorwerfen und so ihre satirische Kompetenz in Frage stellen. S.-dazu Kap. 2.3.2 und 2.3.3. 43 Stellenangaben zur Übernahme dieser Autorschaft s. S.-83 Anm.-3. 44 Die Rechtfertigung in dial. 7 (vit. beat.) lässt sich als Reaktion auf einen Rollenkonflikt des historischen Autors Seneca lesen. Zu dial. 7 s. Fuhrer (2000) und (2010); Jones (2014). 45 Mit Ontrup/ Schicha (1999) 7-9 und Fischer-Lichte (1998) 89 verstehe ich den Begriff der Inszenierung als wertfrei. 46 Fischer-Lichte (1998) 87-88 beschreibt Inszenierung als einen Vorgang, „der durch eine spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Materialien/ Personen etwas zur Erscheinung bringt, das ‚seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag‘.“ Fischer-Lichte zitiert hier Wolfgang Iser. 47 Ob Rezipierende einer Inszenierung diese als solche wahrnehmen, kann von unter‐ schiedlicher Bedeutung sein: Einige Inszenierungen wirken, während sie als solche wahrgenommen werden, andere gerade dadurch, dass sie als solche wahrgenommen werden. Bestimmte Formen der Inszenierung verlieren ihre Wirkung aber auch, wenn selbst nicht zeigt. Kann er diese Erwartungen nicht erfüllen, wirkt er in der Rolle des satirischen Kritikers unglaubwürdig. 42 ‚Naso‘ wiederum übernimmt die Autorschaft früherer Ovidiana und präsentiert sich damit als Dichter, der auf dem Höhepunkt seiner literarischen Karriere aus Rom verbannt wurde. 43 Deshalb ist für das Lesepublikum die Erwartung naheliegend, dass er weiterhin nach literarischer Anerkennung streben und sich insbesondere um eine Rück‐ kehr nach Rom bemühen wird. ‚Seneca‘ stellt sich zu Beginn jeden Briefs mit dem Namen der persona anderer Werke des historischen Autors Seneca vor. In der Rolle des Briefschreibers erweckt er dadurch die Erwartung, dass er eine stoische Grundhaltung sowie einen kompetenten Umgang mit philosophischem Gedankengut zeigen und zumindest versuchen wird, sein Denken und Handeln an den eigenen Ratschlägen auszurichten. Kommt er diesen Erwartungen nicht nach, wirkt er als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe unglaubwürdig und nimmt seinen Paränesen einen Großteil ihrer Überzeugungskraft. 44 Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage, wie eine Autor-per‐ sona durch die Darstellung ihrer Fallibilität inszeniert, das heißt ‚in Szene gesetzt‘, ‚gezeichnet‘ oder dargestellt wird. Als Inszenierung bezeichne ich die Zuschreibung beziehungsweise Übernahme von Rollen an beziehungsweise durch Figuren, die in einem Text agieren. 45 Der Begriff der Inszenierung umfasst dabei auch immer einen in aktiver Art und Weise gestalteten Akt der (Rollen-)Präsentation. 46 Dieser Akt erfolgt in literarischen Texten meistens nicht getrennt von der Rollenzuschreibung oder -übernahme, da die Zuschreibung, Übernahme und Präsentation von Rollen durch die sprachliche Gestaltung des Textes vollzogen und somit vom Lesepublikum ‚gleichzeitig‘ wahrgenommen werden. 47 22 1 Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen <?page no="23"?> sie als solche erkannt werden. S. dazu Ontrup/ Schicha (1999) 11; Fischer-Lichte (1998) 87. 48 Ontrup/ Schicha (1999) 7 (ohne Hervorhebungen). 49 Damit meine ich nicht die Autorintention, sondern den persuasiven Effekt, den ein Text durch seine rhetorische Gestaltung erzeugen will. Auch literarische Figuren, die inszenieren, können eine Intention haben, z. B. andere Figuren zu Einstellungen oder Handlungen zu bewegen. Zum Begriff der Persuasion s. S.-14 Anm.-13. 50 Anders als beim Begriff der Inszenierung, in dessen Zentrum die auf Persuasion abzielende Übernahme beziehungsweise Zuschreibung und Präsentation einer oder mehrerer Rollen steht, beziehe ich mich mit dem Begriff der Modellierung auf eine untergeordnete Ebene. Als Modellierung bezeichne ich die Art und Weise, wie eine Rolle durch (Rollen-)Parameter gestaltet wird. Unter (Rollen-)Parametern verstehe ich ver‐ schiedene Merkmale, Eigenschaften und Verhaltensweisen, durch deren Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein eine Rolle modelliert wird. 51 Platz-Waury (2007a) 587. De Temmerman (2010), bes. 28-43 zeigt das mit Verweis auf die Rhetoriktheorie differenziert für antike narrative Texte. Rüdiger Ontrup und Christian Schicha verstehen Inszenieren als den Vor‐ gang, durch den „Handlungen oder Zusammenhänge absichtsvoll mit einer bestimmten Wirkungsabsicht zur Erscheinung gebracht werden“, wobei „ein kalkuliertes Auswählen, Organisieren und Strukturieren von Darstellungsmit‐ teln“ stattfindet, „das in besonderer Weise strategisch auf Publikumswirkung berechnet ist.“ 48 Jeder Inszenierung liegt somit eine Intention der inszenierenden Instanz zu Grunde, die in der Regel darauf abzielt, andere Menschen zu be‐ stimmten Einstellungen oder Handlungen zu bewegen. Als ein maßgebliches Ziel jeder Inszenierung lässt sich somit Persuasion bestimmen. 49 In literarischen Texten finden Inszenierungen auf unterschiedlichen Ebenen statt. Auf der höchsten Ebene schreibt der historische Autor den Figuren im Text Rollen zu beziehungsweise lässt die Figuren Rollen einnehmen, die er durch die sprachliche Ausformulierung des Textes modelliert. 50 Auf auktorialer Ebene ist die Sprecher-Instanz für diese Zuschreibung und Modellierung von Rollen zuständig, auf figuraler Ebene können sie auch die Figuren eines Textes vornehmen. 51 Die Zuschreibung beziehungsweise Übernahme sowie die Präsen‐ tation von Rollen kann dabei direkt (z. B. durch explizite Aussagen) oder indirekt (z.-B. durch das Zeigen bestimmter Verhaltensweisen) erfolgen. Beispielsweise inszeniert sich ‚Horaz‘ in den Satiren selbst, indem er sich als Sohn eines Freigelassenen und Freund des Maecenas bezeichnet (1,6,45-55) und dadurch die Rolle eines sozialen Aufsteigers übernimmt oder indem er über sein eigenes Verhalten in dieser Rolle schreibt (1,5; 1,6; 1,9; 2,6). Er inszeniert aber auch andere, indem er über die Erziehungs- und Bildungsbemühungen seines Vaters spricht (1,6,71-87) oder indem er das Verhalten des Maecenas bei ihrer ersten Begegnung (1,6,54-64) und nach Jahren der Freundschaft (2,6,40-46) 1.2 Theoretische Grundlagen und zentrale Begriffe 23 <?page no="24"?> 52 S. dazu S.-26 Anm.-5. 53 S. z.-B. epist. 8,1; 27,1; 68,1. Diese drei Briefe werden in Kap. 4.2.2 behandelt. 54 Bisweilen wird Lucilius in der Forschung vor allem in frühen Briefen deshalb als bloßer fictus interlocutor angesehen, dessen Entgegnungen von ‚Seneca‘ lediglich imaginiert werden, um „die Darstellung […] um eine kritische Meinung zu ergänzen und die vorgebrachte Argumentation zu hinterfragen“ (Eickhoff 2021, 170). Auch wenn die Imagination potentieller Einwände als Strategie einer Selbstprüfung ‚Senecas‘ angesehen werden kann, so dies. S. 208-221, ist zu beachten, dass Lucilius mehrfach direkter Einfluss auf den ethischen Fortschritt ‚Senecas‘ zugestanden wird, er also als eigenständige Figur anzusehen ist. Zur Selbstprüfung ‚Senecas‘ s. S. 52 Anm. 57, zur Figur des Lucilius S. 140 Anm. 17, zu seinem Einfluss auf ‚Senecas‘ Fortschritt S. 144 mit Anm.-33. 55 Zur Frage, welcher Gattung trist. und Pont. zugehören bzw. zum ab trist. 4 allmählich überwiegenden Briefcharakter s. Stroh (1981) 2640-2644; Wulfram (2008) 214-404; Scheidegger Lämmle (2016) 237-243. schildert. Mit Damasippus und Davus treten in sat. 2,3 und 2,7 auch andere Figuren als inszenierende Instanzen in Erscheinung: Beide Figuren sind jeweils Hauptredner eines Dialogs mit ‚Horaz‘ und inszenieren durch ihre direkten Reden nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Gesprächspartner ‚Horaz‘. Da ‚Horaz‘ wiederum in beiden Dialogen auch als Autor-persona identifizierbar ist und somit als Verfasser der Satiren vorgestellt wird, 52 ist das im Text beschriebene Sprechen und Handeln des Damasippus und Davus, mit dem sie sich auf ‚Horaz‘ beziehen, immer auch eine (Selbst-)Inszenierung des ‚Horaz‘. Durch die Grußformel am Beginn jedes Briefs schreibt ‚Seneca‘ sich selbst die Rolle des Absenders, dem Lucilius die Rolle des Adressaten der Epistulae morales zu. Durch Aussagen über sich und über Lucilius inszeniert er sowohl sich selbst als auch seinen Briefpartner. In der evozierten brieflichen Kommunikationssi‐ tuation wird ‚Seneca‘ auch durch direkt oder indirekt zitierte Aussagen oder Nachfragen des Lucilius inszeniert. 53 Da solche Aussagen aus der Feder ‚Senecas‘ stammen, ist auch das eine Form der Selbstinszenierung. 54 Ovids Tristia und Epistulae ex Ponto sind gewissermaßen eine Mischform: Die Bücher trist. 1-3 enthalten mehrere Elegien, die nicht als Briefe markiert sind. Für sie gilt vor allem das zu den Satiren Gesagte, für die als Briefe gestalteten Tristia und für die Epistulae ex Ponto das zu Senecas Epistulae. 55 24 1 Einleitung: Fallibilität als anthropologisches Phänomen <?page no="25"?> 1 Der authentische Titel ist nicht zu erfahren. Schröder (1999) 76-78 macht Sermones plausibel: Zwar ist im Text selbst des Öfteren von satura die Rede (2,1,1; 2,6,17; zahlreiche Wortspiele mit satis). Die Kommentatoren haben jedoch den Titel Sermones vorgefunden (wohl zurückgehend auf Hor. epist. 1,4,1; 2,1,250; 2,2,60). Hätte Horaz sein Werk ‚Saturae‘ genannt, hätte kein Grund bestanden, durch eine Umbenennung in Sermones zu ihm in Widerspruch zu treten. Schröder führt die Verbreitung und Verwendung des Titels ‚Satura‘ darauf zurück, dass das Werk des Lucilius später mit satura gleichgesetzt wurde (z. B. bei Mart. 12,94,7; Quint. inst. 10,1,93-95; Porph. ad sat. 1,5,1). Zum Verhältnis von sermo und satura s. auch S.-27 Anm.-8. 2 Zur Bedeutungsentwicklung des lateinischen Adjektivs satiricus s. Classen (1993) 252-267, hier S.-253 und 260: Es wird „nie wie z.-B. tragicus gebraucht, um etwas als ‚wie eine Satire seiend‘ zu bezeichnen, vermutlich, weil die Satire nicht hinreichend einheitlich war, um eine solche Verwendung zu rechtfertigen - wenigstens nicht bis zur Zeit Quintilians.“ Die Verwendung des Adjektivs im heutigen Sinne etabliert sich erst ab dem 3. Jh. (Porphyrio) zur Bezeichnung, dass jemand „ob er Verfasser von Satiren ist oder nicht, [… ] in einer Art und Weise vorgeht oder schreibt, die für die [römische Vers-]Satire typisch ist.“ 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ Vorbemerkungen Bevor ich näher auf die Fragestellung und das Textcorpus dieses Kapitels eingehe, will ich kurz darlegen, wie ich Begriffe verwende, die sich vom lateinischen Wort satura ableiten lassen. Mit der kursiv gedruckten Bezeichnung Satiren beziehe ich mich auf eines oder auf beide Bücher der ursprünglich wohl unter dem Titel Sermones publizierten Gedichte des Horaz. 1 Mit den recte gedruckten Begriffen Satire und Satiren beziehe ich mich auf ein einzelnes beziehungsweise auf mehrere dieser Gedichte. Das Adjektiv satirisch verwende ich zur Bezeichnung einer Schreibart, die in unterschiedlichen Gattungen Anwendung finden kann. 2 Als satirisch bezeichne ich einen Text, in dem eine Person aus ihrer Sicht gegebene Schwä‐ chen und Fehler anderer oder ihrer selbst herausstellt. Im Zuge dessen kann diese Person zu wohlwollendem Lachen über diese Schwächen und Fehler einladen, sie der Lächerlichkeit preisgeben und/ oder kritisieren. Als satirische Kritik bezeichne ich also Äußerungen, mit denen eine Person das Verhalten ihrer selbst, primär jedoch anderer - oftmals durch überspitzt formulierten Spott - als falsch darstellt, als satirische Dichtung poetische Texte, in denen solche Kritik geübt wird. Zur Bezeichnung der Zugehörigkeit eines Textes zu einer Gruppe satirischer Dichtungen, die auf Grund verbindender Elemente <?page no="26"?> 3 Ich setze ‚Gattung‘ in gnomische Häkchen, da in der Forschung immer wieder die Schwierigkeit betont wird, eine Gattung, in der Lucilius, Horaz, Persius und Iuvenal schreiben, zu definieren. Dazu anschaulich Freudenburg (2001) 1 Anm. 1: „Failing to plumb the works of Roman verse satire down to that rock-hard, streamlined core (because ‚it‘ is not there), scholars have been forced simply to heap these works en masse onto a single generic plate (an impressive lanx-…) and to call that plate ‚satire‘. These works are thus ‚satire‘ because ‚on the plate‘, and not ‚one the plate‘ because ‚satire‘.“ Verbindende Elemente der römischen Verssatire sind u. a. der Hexameter, die thematische Ausrichtung auf die Herausstellung menschlicher Schwächen und Fehler, die oft unsystematisch und in ihrer Gedankenführung teils sprunghaft wirkende Behandlung entsprechender Themen und Inhalte innerhalb eines Gedichts, die „generische Polyphonie“ (Schmitz 2019, 57-71) und die Varianz an Darstellungsformen. S. dazu z. B. Seeck (1991a) 5-11; Classen (1993) 247-251; Braund (1996) 1-3. 4 Ausgehend von Kernan (1959) hat sich in der englischsprachigen Forschung die Be‐ zeichnung „the satirist“ etabliert, um Sprecherfiguren satirischer Texte zu bezeichnen. Es bleibt aber oft unklar, ob sich „satirist“ auf den historischen Autor, auf einen impliziten Autor, auf die Autor-persona oder auf einen von ihr zu unterscheidenden Ich-Sprecher bezieht. Sofern einzelne Forschungsbeträge nichts anderes erklären, verstehe ich unter „satirist“ die Autor-persona. Gleiches gilt für den Namen „Horace“ bzw. „Horaz“, wenn mit ihm nicht ausdrücklich der historische Autor gemeint ist. Zu Forschungsberichten über die Herangehensweise an Sprecherfiguren der Verssatire s.-McNeill (2001) 1-7; Schmitz (2019) 11-30. 5 ‚Horaz‘ spricht mehrfach selbst über Programm und Poetologie der Satiren (v. a. in sat. 1,1; 1,4; 1,10; 2,1) und präsentiert sich damit als deren Verfasser. Er wird auch von anderen Figuren als solcher vorgestellt, v.-a. in sat. 2,3 von Damasippus (s. dazu S.-64). Ähnlich Volk (2005) 89-91 allgemein über Texte, deren Sprecher als Autor-persona konfiguriert ist, und Schmitz (2019) 25 über Iuvenal: „Natürlich kann man auch beim Satiriker als Dichter sagen, dass es sich um eine vom Autor entworfene Figur handelt. Auf textimmanenter Ebene können wir aber vom Dichter der uns vorliegenden Satiren sprechen.“ als eine ‚Gattung‘ aufgefasst werden können, verwende ich den Begriff der römischen Verssatire. 3 Mit der Bezeichnung Satiriker meine ich immer die im Text inszenierte Autor-persona ‚Horaz‘ in der Rolle als Darsteller, Beobachter und Kritiker seiner eigenen Person und anderer. 4 Auch mit dem Ausdruck Verfasser satirischer Dichtung und vergleichbaren Formulierungen beziehe ich mich immer auf ‚Horaz‘, der auf textimmanenter Ebene der Satiren als deren Verfasser dargestellt wird. 5 26 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="27"?> 6 Wenn nicht anders angegeben, beziehe ich mich in diesem Kapitel mit den Bezeich‐ nungen Autor-persona und ‚Horaz‘ immer auf die Autor-persona der Satiren. Auch alle Stellenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die Satiren. Als Textgrundlage dient Shackleton Bailey (2008). Alle Übersetzungen sind adaptierte Versionen von Holzberg (2018). 7 Anderson (1982) 29 bezeichnet das als „central feature of Horatian and all Roman satire“. Buch 2 setzt sich fast ausschließlich aus Dialogen zusammen (s. dazu S. 56 Anm. 108). Nimmt ‚Horaz‘ an diesen Dialogen teil, steht seine Person aber weiterhin im Zentrum. So spricht er in 2,1 über seine eigene Dichtung oder lässt sich in 2,3 und 2,7 aus der Perspektive anderer Figuren beschreiben. 8 Hose (2013) argumentiert: Lucilius hat seine Gedichte Sermones genannt und deren Sammlung unter dem Begriff der satura zusammengefasst. Diese Sermones lagen im „Niemandsland des Gattungssystems“ (S. 307). Auch Horaz gibt keinen spezifi‐ schen Gattungsbegriff für Lucilius’ Gedichte, sondern bezeichnet sie mit genus hoc scribendi (1,4,65) oder hoc (1,10,46). V. a. in 1,4 konstruiert er jedoch eine ‚Ursprungs‐ geschichte‘ und inszeniert Lucilius als inventor einer Gattung, in dessen Nachfolge er stehe, den er aber zumindest hinsichtlich der in 1,4 und 1,10 thematisierten Aspekte übertreffe (S.-304-309). Zugleich reduziert er das Werk des Lucilius auf „die Facette der politisch-moralischen Satire“ und „erschreibt“ damit die literarische Tradition, in die er sich einreiht (S. 309). Erst Horaz hat also „eine - im modernen Sinne - satirische Form sowohl in der tatsächlichen Ausgestaltung der einzelnen Gedichte als auch durch die Konstruktion einer Gattung im Rückbezug auf einen Ausschnitt aus dem großen Corpus der Lucilianischen poemata geschaffen“ (S. 312). ‚Satire‘ hat sich aber erst nach Horaz als Gattungsbegriff etabliert (S. 311-313, s. dazu auch oben S. 26 Anm. 2 ). In 2,1,30-34 wird eine hohe Dichte an biographischen Informationen als spezifisch für Lucilius’ Dichtung dargestellt. Doch wird dort nur behauptet, dass Lucilius seine Gedichte als eine Art Tagebuch genutzt habe bzw. dass ‚Horaz‘ diese Gedichte so lese, woraus sich kein autobiographischer Anspruch des Lucilius ableiten lässt. 2.1 Fragestellung und Textcorpus In den Werken des Quintus Horatius Flaccus treten häufig Ich-Sprecher auf, die als Autor-persona konfiguriert sind. 6 Die starke Präsenz dieser Autor-persona in den Satiren lässt sich zum einen damit erklären, dass Spott über und Kritik an falschem Verhalten als ein zentraler Inhalt der römischen Verssatire in der Regel in Form von Monologen und aus der Perspektive einer ersten Person heraus geäußert werden. 7 Zum anderen ist satirisches Schreiben in der literarischen Tradition, in die sich die Satiren stellen beziehungsweise die sie konstruieren, durch die häufige Vergabe biographischer Informationen ge‐ prägt. 8 Die Autor-persona der Satiren, im Folgenden auch als ‚Horaz‘ bezeichnet, 2.1 Fragestellung und Textcorpus 27 <?page no="28"?> 9 In Buch 1 spricht ‚Horaz‘ u. a. über seine Herkunft und Erziehung (1,4,103-131; 1,6), seinen Tagesablauf (1,6,111-131; 1,9), seine Freundschaften (1,3,49-72; 1,5, bes. 39-44), v. a. diejenige mit Maecenas, und seine Zugehörigkeit zu dessen Umfeld (1,3,49-72; 1,5; 1,6,54-64; 1,9,43-60; 1,10,81-90). Viele dieser Themenbereiche werden auch in Buch 2 aufgegriffen, beispielsweise das Verhältnis zu Maecenas (2,3,307-320; 2,6,40-58; 2,7,29-35) oder das Alltagsleben in Rom und auf dem Sabinum (2,6). 10 1,3,20; 1,4,129-131; 1,6,65-66. Sofern ich es nicht anders deutlich mache, verwende ich Begriffe wie (moralische) Schwäche und Fehler als Übersetzung des lateinischen vitium in diesem Kapitel nicht als philosophische Termini, sondern in einem allgemeinen Sinn zur Bezeichnung menschlicher Eigenschaften und Handlungen, die ‚Horaz‘ als falsch beurteilt und zum Ziel satirischer Kritik macht. Zum Begriff vitium s. auch S. 11 Anm. 4. 11 Kernan (1959) 14-30 arbeitet diese Strategie als grundlegend für satirische Sprecher heraus. Zu Forschungsberichten über die Satiren s. in jüngerer Zeit Muecke (2007); Freudenburg (2009); Yona (2018) 5-12. 12 Ohne Definition verwenden den Begriff z. B. Oliensis (1998); Gowers (2003) und (2012); Kemp (2009); Yona (2018). nennt insbesondere im ersten Buch mehr solcher Informationen als in jedem anderen Werk des historischen Autors. 9 ‚Horaz‘ geht in der Rolle des Beobachters und Kritikers menschlichen Verhal‐ tens nicht nur auf andere, sondern immer wieder auch auf seine eigene Person ein und stellt dabei wiederholt auch eigene Schwächen, eigenes Scheitern und eigenes Fehlverhalten ins Zentrum der Satiren. In 1,3, 1,4 und 1,6 verwendet er den unbestimmt bleibenden Begriff vitia, um diese eigenen Schwächen und Fehler zu bezeichnen. 10 In den dialogischen Satiren 2,3 und 2,7 hingegen lässt er sich von anderen Figuren, die als seine Dialogpartner fungieren, unter anderem Jähzorn, übertriebenen Ehrgeiz, sexuelle Ausschweifung, übermäßigen Alko‐ holkonsum, Inkonsistenz und Doppelmoral und damit genau das Fehlverhalten vorwerfen, das er in vorausgehenden Satiren selbst als falsch kritisiert hatte. Mit seiner niedrigen sozialen Herkunft spricht ‚Horaz‘ in 1,6 über eine gänzlich andere Form von Fallibilität im Sinne einer Eigenschaft, die nicht er selbst, sondern andere als Defizit ansehen. Auch in 2,6 kommt er auf seine soziale Stellung zu sprechen, indem er seinen gesellschaftlichen Aufstieg als etwas beschreibt, das ihn am Verfassen satirischer Dichtung scheitern lässt. Die Forschung hat mehrfach erwähnt, dass ‚Horaz‘ das Eingeständnis seiner Fallibilität als Strategie einsetzt, um sich in eine Position zu versetzen, aus der heraus er Kritik an anderen üben kann. 11 Denn man würde einer Autor-persona, die sich als perfekt geriert, nur wenig Sympathie und noch weniger Glauben schenken, so dass ihre Aussagen und insbesondere ihre Kritik an anderen ins Leere laufen würden. Die englischsprachige Forschung verwendet zur Bezeichnung dieser Strategie des Öfteren den Begriff der ‚Selbst-Herabset‐ zung‘ („self-deprecation“), 12 geht in der Regel davon aus, dass ‚Horaz‘ diese 28 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="29"?> 13 Braund (1996) 29-36 spricht mehrfach von „invitations to laughter at his [sc. Horace’s] expense“. Gowers (2003) 86 verwendet den Begriff „self-mockery“, Plaza (2006) 167-256 zudem die Begriffe „self-directed humour“, „self-humour“ und „self-irony“. 14 So die Kapitelüberschrift bei Anderson (1982) 13-49: „The Roman Socrates: Horace and His Satires“. Auf S.-29 nennt Anderson ‚Horaz‘ einen „Socratic satirist“. 15 Anderson (1982) 35: „this satirist goes back […] to Socrates himself for his model. He does not denounce; he does not unfairly ridicule; he does not triumph rhetorically over vice; he does not ignore his own failings. Like Socrates, he uses the disarming technique of discussion to force people to re-examine their consciences and to achieve a more rational attitude towards fundamental ethical problems.“ Kritik an Anderson übt Freudenburg (1993) 9, da ‚Horaz‘ „predige“ anstatt sokratische Mäeutik anzuwenden („the satirist [takes a] nondialectical approach [and] pontificates“). 16 Beispielsweise bleibt unklar, wie das Verschweigen der politischen Zeitumstände und die Hervorhebung der widrigen Reiseumstände in 1,5 ‚Horaz‘ als „master of irony“ zeigen, oder inwiefern die Herausstellung seines niedrigen sozialen Status in 1,6 eine Form von „self-irony“ ist (Anderson 1982, 39-40). Die antike Rhetoriktheorie definiert Ironie als Äußerung, mit der man das Gegenteil dessen sagt, was man meint (Rhet. Her. 4,34; Cic. de orat. 2,269; Quint. inst. 6,2,15; 8,6,54-56). Diese Form von Ironie wendet ‚Horaz‘ nur sehr selten an. Ich erkenne in seinen Selbstaussagen auch keine ‚sokratische Ironie‘ in dem Sinne, dass er Wissen verheimlicht bzw. Unwissenheit vortäuscht, um Gesprächspartner zu Einsichten zu verhelfen (dissimulatio wie z. B. bei Cic. ac. 2 (Lucullus) 15 und Quint. inst. 9,2,44-46 beschrieben). 17 Freudenburg (1993) 3-51. Er übertitelt seine Unterkapitel z. B. mit „The Persona and Self-Parody“ (S.-21), oder „Self-Parody and the Influence of the Comic Stage“ (S.-27). ‚Selbst-Herabsetzung‘ einsetzt, um zum Lachen über sich selbst aufzufordern, und bezeichnet das häufig mit Begriffen wie „self-mockery“, „self-humour“ oder „self-irony“. 13 Der Ansatz, ‚Horaz‘ als selbstironischen Satiriker zu betrachten, geht auf William S. Anderson zurück. Er bezeichnet die Autor-persona insbesondere des ersten Buchs der Satiren als „Roman Socrates“: 14 ‚Horaz‘ wende Ironie im Stile des Sokrates an, um Menschen zur Selbstprüfung zu bewegen, ohne sie öffentlich anzuprangern oder auf unfaire Art und Weise lächerlich zu machen; dabei ignoriere er eigene Fehler nicht, sondern hebe sie selbstironisch hervor. 15 Die Ausführungen von Anderson und in seiner Nachfolge stehender Forscherinnen und Forscher mögen in Bezug auf die Haltung des ‚Horaz‘ gegenüber anderen zutreffen. In Bezug auf ‚Horaz‘ selbst können sie jedoch oft nicht deutlich machen, worin diese Selbstironie genau besteht und welche Schwächen und Fehler ‚Horaz‘ selbstironisch eingesteht. 16 Kirk Freudenburg setzt einen anderen Schwerpunkt als Anderson. Er versteht die Inszenierung der Autor-persona insbesondere in den Satiren 1,1, 1,2, 1,3 und 1,4 als eine Form von „self-parody“, durch die sich ‚Horaz‘ selbst der Lächerlichkeit preisgebe. 17 Nach Freudenburgs zentraler These erinnere ‚Horaz‘ in vielfacher Hinsicht an lächerlich wirkende Typen der Komödie und trete 2.1 Fragestellung und Textcorpus 29 <?page no="30"?> 18 Freudenburg (1993): „The image conveyed, that of a refined Callimachean street preacher, is incongruous, suggestive not of serious moralizing but of parody“ (S. 17). „He cannot handle the themes and illustrations of Greek popular philosophy. Much less can he handle topics that demand a certain degree of theoretical knowledge“ (S. 26). The „chief source of humor rests in self-parody, the satirist’s own incompetence“ (S. 27). The speaker of 1,1-3 „invites laughter, both at the dogmatism he so curiously mishandles and at himself as an inept moralizer“ (S. 32). Freudenburg nennt den Sprecher von 1,1, 1,2 und 1,3 „bumpkin or buffoon well known to Horace’s audience from the stage of popular comedy. […] Like his several counterparts on the comic stage, he is the typical doctor ineptus, the moralizer who, as Cynic, rustic, or buffoon, takes himself far more seriously than his abilities will allow“ (S. 32-34). Zetzel (1980) nennt ‚Horaz‘ als Sprecher der ersten drei Satiren „one of those street-corner philosophers“ (S. 69) und spricht von seiner „bumbling incompetence“ (S. 76-77 Anm. 62); ähnlich Gowers (2003). Turpin (1998) bezeichnet ihn als inkompetenten (epikureischen) Philosophen und zugleich als den Komödientypus des Parasiten am Tische des Maecenas. Er versteht ihn als „fictional character, whom we do not have to take seriously at all. […] The moralist of the first three satires is, to put it bluntly, a jerk [and a] ridiculous moralist“ (S.-122-123). 19 S. dazu z. B. Kemp (2009), (2010) und (2016); Yona (2018). Zweifel an Freudenburgs Thesen deutet bereits Lowrie (1993) an: „The parody of the speaker […] does not mean we are to throw the moral precepts, however conventional, however ironized, out with the bath water. […] when F. […] states that ‚the real sophistication of this piece [S. 1.1] consists not in the moral lessons themselves, but the clever manner in which Horace manipulates these lessons to serve aesthetic aims without ridiculing or subverting their moral intent.‘ I would not mind more exposition about how this works, how the precepts stick even though we laugh at the preceptor. […] How do we understand the literary criticism [in 1,4 and 1,10] through the mask, what are the limits to the parodied persona? “ vor allem in den ersten drei Satiren als ein philosophisch inkompetenter Straßenprediger („street preacher“) auf, der dazu auffordere, über ihn zu lachen, da er den Dogmatismus philosophischer Denkweisen nicht korrekt wiedergebe und sich dadurch als „inept moralizer“ offenbare, so dass er auch als Kritiker anderer nicht ernst genommen werden könne. 18 Dem stehen jüngere Arbeiten gegenüber, die nachweisen, dass ‚Horaz‘ philosophische Themen ernsthaft und fundiert behandelt. 19 Hinzu kommt, dass sich ‚Horaz‘ im Kontext des vielzitierten programmatischen Diktums ridentem dicere verum eine ernst zu nehmende Intention zuschreibt (1,1,23-27): Zwar weist die Häufung entsprechenden Vokabulars in dieser Passage der Komik eine große Bedeutung zu (iocularia; zwei Mal ridens; ludus). Sie wird aber primär als didaktisch wirksame Methode vorgestellt, gewissermaßen als süßes Lockmittel (crustula), hinter dem (amoto […] ludo) das Anliegen stehe, wie Lehrer (blandi 30 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="31"?> 20 Zu 1,1,23-27 s. z. B. Anderson (1982) 34-35; Seeck (1991a) 4-5, 20; Classen (1993) 249- 250; Brown (1993) 91-92; Gowers (2012) 58-59, 68-70. 1,10,7-15 betont ebenfalls, dass die Satiren nicht nur schallendes Gelächter erregen wollen, auch wenn die Anwendung von Komik als wirksame Persuasionsstrategie bezeichnet wird. Der Verzicht auf theoretische Erklärungen lässt sich u. a. mit der Erziehung des ‚Horaz‘ durch seinen Vater erklären. S. dazu auch S.-45 mit Anm.-72. 21 Unter satirischer Kompetenz verstehe ich Wissen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die einen Menschen in die Lage versetzen, menschliches Verhalten nach moralischen Kriterien zu beurteilen, sowie die darauf basierende Befähigung und Berechtigung, als falsch erkanntes Verhalten beispielsweise durch Witz und/ oder Spott bloßzustellen und zu kritisieren. Yona (2018) verwendet die Begriffe „ethical creden‐ tials“ und „moral credentials“ zur Bezeichnung dessen, was ich satirische Kompetenz nenne. Seine Monographie hat jedoch einen gänzlich anderen Schwerpunkt und fragt, wie die Satiren die Schriften Philodems rezipieren. 22 Darin unterscheidet sich mein Ansatz z. B. von Plaza (2006) 167-256. Sie beschreibt zwar vergleichbare Effekte wie ich, stellt jedoch „self-mockery“ und „self-irony“ ins Zentrum ihrer Untersuchung: „Reasonably kind mockery of the persona, including all self-mockery and self-irony on his part […] are used to create a character that is fair and straightforward“ (S.-169). 23 Auch die Autor-persona ‚Seneca‘ lädt bisweilen dazu ein, über sie und ihr (Fehl-)Ver‐ halten zu lachen. Zu diesem Aspekt der senecanischen Philosophica liegen bisher jedoch nur wenige Arbeiten vor. S. dazu S.-175 mit Anm.-139 und S.-189-190. 24 1,8 ist kein Monolog des ‚Horaz‘, auch wenn der in 1,8 sprechende Priap oftmals als Platzhalter für ihn angesehen wird, z. B. von Schlegel (2005) 91; Plaza (2006) 66; Gowers (2012) 263-265. Die Monologe in Buch 1 tendieren auf Grund ihrer diatribenartigen Gestaltung dazu, den Eindruck eines Dialogs zu erwecken. Mehrere Dialoge in Buch 2 doctores) Lernprozesse anzustoßen ([sc. pueri] velint ut discere) im Hinblick auf ernste Themen (seria). 20 Im Zentrum des vorliegenden Kapitels steht deshalb nicht die Frage, wie ‚Horaz‘ das im Englischen häufig als „self-deprecation“ bezeichnete Einge‐ ständnis eigener Schwäche, eigenen Scheiterns und eigenen Fehlverhaltens nutzt, um zum Lachen über sich selbst einzuladen, sondern wie er dieses Eingeständnis einsetzt, um sich als kompetenter Satiriker zu inszenieren, 21 wie er sich durch die Behauptung, seine Fallibilität anzuerkennen und sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen, als aufrichtige und selbstreflektierte Person insze‐ niert, 22 und wie er durch die Darstellung unterschiedlicher Ausprägungen seiner Fallibilität die Kompetenz beansprucht, eigenes und fremdes (Fehl-)Verhalten beobachten und beurteilen zu können. 23 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 Das erste Buch der Satiren setzt sich mit Ausnahme von 1,8 formal aus Mono‐ logen der Autor-persona zusammen, 24 so dass ‚Horaz‘ alle Aussagen über seine 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 31 <?page no="32"?> wiederum tendieren auf Grund der in ihnen wiedergegebenen (diatribenartigen) Mo‐ nologe dazu, den Eindruck eines Monologs zu erwecken, so Sharland (2010) 1-51. S. dazu auch Braund (1996) 52-59; Harrison (2013) 153 zu Buch 1; Freudenburg (2021) 5-6 zu Buch 2. 25 Als solches Bindeglied verstehen 1,3 auch Kiessling/ Heinze (1961) 45-46; Sharland (2010) 136-161; Yona (2018) 128. Person entweder selbst tätigt oder anderen Sprecherfiguren in den Mund legt. Geht es um die Schwäche, das Scheitern und das Fehlverhalten des ‚Horaz‘, dann spricht er also selbst über seine Fallibilität oder sagt, dass sie ihm vorgeworfen worden sei oder werde. Dabei stellt er Aussagen über seine Fallibilität immer wieder in engen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Verfasser satirischer Dichtung. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, wie ‚Horaz‘ solche Aussagen einsetzt, um seine Rolle als Satiriker zu beschreiben und um die Fragen zu beantworten, welches und wessen Verhalten er in seinen Satiren herausstellt, wieso er dies tut und was ihn dazu qualifiziert. ‚Horaz‘ selbst wirft diese Fragen erstmals in 1,3 auf und kommt auch in 1,4 und 1,6 auf sie zu sprechen. In diesen drei Satiren behauptet er ausdrücklich nicht, das Ideal eines Menschen ohne Fehl und Tadel zu erfüllen oder dieses Ideal erfüllen zu müssen, um als satirischer Kritiker anderer auftreten zu können. Um diese Rolle glaubwürdig übernehmen zu können, hält es ‚Horaz‘ vielmehr für entscheidend, dass man nur unbedeutende Schwächen und Fehler hat, um deren Beseitigung man sich bemüht und die von positiv konnotierten Qualitäten und Handlungen aufgewogen werden. Vor diesem Hintergrund will ich fragen, wie sich ‚Horaz‘ in 1,3, 1,4 und 1,6 als Satiriker inszeniert, der nur mit harmlosen Schwächen und Fehlern behaftet ist und der dazu fähig und bereit ist, sich kritisch und konstruktiv mit seiner eigenen Fallibilität auseinanderzusetzen, und sie sogar als Impetus und Ausgangspunkt seiner Arbeit an den Satiren zu nutzen weiß. Des Weiteren will ich zeigen, wie ‚Horaz‘ auch die Erwähnung seiner im zeitgenössischen Kontext als minderwertig zu beurteilenden sozialen Herkunft einsetzt, um sich als kompetenter Satiriker zu inszenieren. 2.2.1 Die Fähigkeit des ‚Horaz‘ zur Unterscheidung schwerer und leichter Schwächen und Fehler - sat. 1,3 Der programmatische Charakter der Satire macht 1,3 zum Bindeglied zwischen 1,1 und 1,2 auf der einen und 1,4 auf der anderen Seite. 25 Zum einen rechtfertigt ‚Horaz‘ in 1,3 rückblickend sein souveränes Auftreten als Kritiker des Verhaltens anderer in den beiden vorausgehenden Satiren. Zum anderen wirft er selbst die 32 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="33"?> 26 Die Häufung entsprechender Vokabeln markiert Freundschaft und Fehlverhalten als zentrale Themen: amicitia/ amicus in V. 5, 26, 33, 38, 43, 50, 69, 73, 84, 93, 140; vitium in V. 1, 20, 26, 28, 35, 39, 44, 68, 70, 76; peccatum/ peccare in V. 75, 84, 96, 115, 118, 140; delictum/ delinquere in V. 79, 84, 141. Im Rahmen dieser Themenkomplexe werden weitere Aspekte behandelt, v. a. Inkonsistenz bzw. deren Gegenteil (iniquus/ aequus in V. 9, 53, 67, 69, 74, 98, 113, 118; s. dazu Kemp 2009). 27 Ich verstehe nicht jede Aussage, die ‚Horaz‘ als Sprecher von 1,3 tätigt, als indirekte Selbstbeschreibung. Anders die auf S. 36 Anm. 39 angeführten Forschungsbeiträge. Freudenburg (2001) 22-23 versteht sogar V. 76-98 als eine solche Selbstbeschreibung; ähnlich Turpin (1998) 132-133. 28 Tigellius singe sehr hoch oder sehr tief, gehe sehr schnell oder sehr langsam, habe 200 oder zehn Sklaven, prahle oder gebe sich bescheiden, bleibe bis zum frühen Morgen wach und verschlafe den Tag. Schon in 1,2,1-4 werden der ausschweifende Lebensstil des Tigellius und sein Tod erwähnt. Zu Tigellius s. Kiessling/ Heinze (1961) 25; Brown (1993) 100-101; Gowers (2012) 92. 29 Gowers (2012) 16: „Variations on shades of a key word - satis/ contentus [1,1], medius [1,2], aequus [1,3] - all three poems preach moderation in speech as well as behaviour.“ Frage auf, was ihn dazu befähigt, als ein solcher Kritiker aufzutreten, und greift damit auf die folgende programmatische Satire 1,4 voraus. Die Satire 1,3 hat drei Hauptthemen: (1) die Forderung nach Maßhalten, insbesondere in der Reaktion auf die Schwächen und Fehler anderer, da diese (2) unterschiedliche Schweregrade aufwiesen, weshalb man (3) insbesondere gegenüber Freunden eine wohlwollende Haltung einnehmen müsse. 26 Die ein‐ zelnen Sinnabschnitte der Satire greifen meist ineinander, so dass deren exakte Abgrenzung nicht möglich ist. Ich strebe im Folgenden keine vollständige Ana‐ lyse des Texts an, sondern behandle nur ausgewählte und für die Inszenierung der Autor-persona relevante Passagen. 27 2.2.1.1 Die Rechtfertigung des ‚Horaz‘ für sein Auftreten als satirischer Kritiker Die Satire beginnt mit einer generalisierenden Kritik am inkonsistenten Ver‐ halten von Sängern (1-3), die ab V. 3 auf einen Tigellius verengt wird, dessen Inkonsistenz sich nicht nur im Singen, sondern auch in anderen Lebensbe‐ reichen beobachten lasse (3-19). 28 Durch die anfängliche Verallgemeinerung (1: Omnibus hoc vitium est cantoribus) erweckt ‚Horaz‘ dabei wie schon in 1,1 und 1,2 den Eindruck, ohne Differenzierung alles und jeden zum Ziel von Spott und Kritik zu machen. Mit der Schilderung extremen, das heißt immer auch maßlosen Verhaltens führt er die beiden vorausgehenden Satiren in 1,3 auch inhaltlich fort. 29 In 1,1 tadelt er die Unzufriedenheit der Menschen, die 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 33 <?page no="34"?> 30 1,1,1-3: nemo […] contentus vivat; 61-62: bona pars hominum decepta cupidine falso / ‚nil satis est‘ inquit. Der Eindruck der Generalisierung entsteht z. B. durch die verallgemei‐ nernde Verwendung des Pronomens nemo (1, 108), durch die Verwendung einer Priamel, die mit dem Hinweis endet, dass sich die Beispielreihe noch unendlich fortführen lasse (3-14), oder durch die Warnung, die Unmöglichkeit der Bedürfnisbefriedigung treffe nicht nur auf Tantalus zu: quid rides? - mutato nomine de te / fabula narratur (69-70). 31 1,2,28: nil medium est (vgl. 1,106: est modus in rebus, sunt certi denique fines). Auch in 1,2 entsteht der Eindruck von Generalisierung, z. B. indem zwei Extreme gegenübergestellt werden, als ob sie die einzigen Alternativen wären (23-30). Kemp (2009) zeigt, wie das Thema der Mäßigung 1,2 und 1,3 verbindet. Als verbindendes Element von 1,2 und 1,3 dient zudem die Erwähnung des Tigellius jeweils direkt zu Beginn der Satire. 32 Dieser nach ca. 20 Versen eintretende Wechsel ist 1,1, 1,2 und 1,3 gemeinsam, so Rudd (1966) 14 und Sharland (2010) 139. 33 Die ersten drei Satiren lassen sich unter formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten zu einer Gruppe diatribenartiger Texte zusammenfassen. In 1,3 finden sich weniger diatribenartige Elemente wie Nachfragen eines fictus interlocutor und rhetorische Fragen des Sprechers. Die Satire ist aber dennoch diatribenartig in dem Sinne, dass sich ‚Horaz‘ in hortativem Ton an eine zweite Person und damit auch an das Lesepublikum wendet, so Sharland (2010) 135-161. Zum Begriff diatribenartig s. dies. S. 7-37. Zur Zusammengehörigkeit von 1,1, 1,2 und 1,3 s. auch Rudd (1966) 1-35; Van Rooy (1968) 41-54; Zetzel (1980) 65; Gowers (2012) 16; Yona (2018) 72-128. 34 Shackleton Bailey (2008) setzt einen retardierenden Gedankenstrich vor minora. Mit Courtney (2013) 81 weiche ich von dieser Interpunktion ab: „Some editors, including Shackleton Bailey, take the last word to be a joke in place of the expected maiora, but this makes it impossible to find a train of thought into which the sentence can fit.“ aus dem extremen und nutzlosen Streben nach materiellen Gütern resultiere. 30 Der Beginn von 1,2 rekurriert mit der Erwähnung von Verschwendung und Habgier auf die erste Satire und greift dann ein neues Thema auf, das in 1,1 bereits mitinbegriffen ist: das Unvermögen und die Weigerung der Menschen, ein vernünftiges Mittelmaß einzuhalten. 31 Auch strukturell knüpft 1,3 an die beiden vorausgehenden Gedichte an: ‚Horaz‘ greift mit der Widersprüchlichkeit des Tigellius zunächst auf die Thematik der goldenen Mitte und damit auf 1,2 zurück, um daraufhin mit der Reaktion auf das Fehlverhalten anderer einen neuen Gegenstand zu behandeln. 32 Auf Grund dieser Bezüge kann 1,3 als rückblickende Rechtfertigung der Haltung des ‚Horaz‘ in 1,1 und 1,2 gelesen werden. 33 Nach dem anfänglichen Spott über Sänger im Allgemeinen und Tigellius im Speziellen antizipiert ‚Horaz‘ eine mögliche Reaktion anderer, indem er sich von einem Interlocutor wie folgt unterbrechen lässt (19-20): - - Nunc aliquis dicat mihi ‚quid tu? 20 nullane habes vitia? ‘ immo alia et fortasse minora. 34 34 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="35"?> 35 So auch Sharland (2010) 141; Gowers (2012) 125; Yona (2018) 123. Auch ‚Seneca‘ bringt als Absender der Epistulae morales immer wieder die Frage zur Sprache, was ihn dazu befähigt, andere zu kritisieren und Lucilius Ratschläge und Verhaltensanweisungen zu erteilen, z.-B. in epist. 1,4; 8,1; 27,1; 63,17 (s. dazu S. 149-153 und S. 156). Im Gegensatz zu ‚Horaz‘ betont ‚Seneca‘ aber, die gleichen oder zumindest ähnliche Schwächen und Fehler wie die Ziele seiner Kritik und insbesondere wie sein Adressat zu haben, so z. B. in epist. 27,1 (s. dazu Kap. 4.2.2.2). Zu diesem Unterschied in der Inszenierung ‚Horaz’‘ und ‚Senecas‘ s. Kap. 5.1. 36 Plaza (2006) 191: ‚Horaz‘ inszeniert sich als „simple and unable to lie effectively“ (immo) sowie als „uncertain about the slightly minor status of his faults“ (fortasse). Plaza unterstellt ihm auf S. 170 und 197-98 jedoch den Versuch, durch das als aufrichtig ausgegebene Eingeständnis unbedeutender vitia über schwerwiegende vitia hinwegtäuschen zu wollen. Wie ich im Folgenden darlege, teile ich diese Auffassung nicht. 37 Zu 1,4 s. Kap. 2.2.2. 38 Auch ‚Seneca‘ tätigt in den Epistulae morales des Öfteren nur vage Selbstaussagen über seine Fallibilität. S. dazu z. B. S. 146 und S. 155. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Bezug auf die Vagheit von Selbstaussagen der Autor-personae ‚Horaz‘ und ‚Seneca‘ s. Kap. 5.1. Jetzt könnte einer zu mir sagen: „Was ist mit dir? Hast du gar keine Fehler? “ Natürlich, aber andere und vielleicht kleinere. Die hier formulierte Frage kann als Ausdruck der Auffassung verstanden werden, man dürfe die Schwächen und Fehler (20: vitia) anderer nur kritisieren, wenn man selbst keine habe. Indem ‚Horaz‘ diese Frage einem Interlocutor in den Mund legt (19: aliquis dicat), stellt er selbst zur Diskussion, was ihn dazu befähigt, in 1,1, 1,2 und insbesondere hier am Beginn von 1,3 die Rolle des Kriti‐ kers anderer einzunehmen. Seine Antwort liefert eine knappe Beschreibung, wie er sich in dieser Rolle sieht: Er gesteht zwar offen ein, fallibel zu sein (20: immo), doch würden sich seine Schwächen und Fehler sowohl in ihrer Qualität als auch in ihrer Größe von denjenigen unterscheiden, die er bei anderen kritisiere (20: alia et fortasse minora). ‚Horaz‘ unterscheidet also Fehler, die - wie im vorausgehend beschriebenen Falle des Tigellius - als schwerwiegend getadelt werden müssen, und solche, die - wie in seinem Falle - toleriert werden können. 35 Allerdings deutet er durch die Verwendung der einschränkenden Partikel fortasse auch Zweifel an, ob seine Fehler tatsächlich geringer als die des Tigellius sind, 36 und verdeutlicht so, über die Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstreflexion zu verfügen, die in der folgenden Programmsatire 1,4 als entscheidend für einen Satiriker vorgeführt wird. 37 Das Eingeständnis des ‚Horaz‘ bleibt jedoch vage, was des Öfteren als Versuch gedeutet wurde, über schwerwiegende Fehler hinwegzutäuschen. 38 In der Forschung wurde seine direkte Rede in V. 20 (immo alia et fortasse minora) 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 35 <?page no="36"?> 39 So Plaza (2006) 191-193; Sharland (2010) 140-141; Gowers (2012) 125-126; Courtney (2013) 81. Kemp (2009) 5 weist darauf hin, dass Kritik an anderen Menschen genuine Aufgabe eines Satirikers ist, vertritt jedoch die Ansicht, dass ‚Horaz‘ hier anhand seiner eigenen Person verdeutliche, wie schnell man Gefahr laufe, sich falsch zu verhalten. 40 Mit Brown (1993) 117 und Gowers (2012) 126 folge ich der einhelligen Überlieferung und lese amor: Fasst man amor als Selbstliebe, Selbstverliebtheit oder Selbstgefälligkeit auf, ist die von Shackleton Bailey (2008) übernommene Konjektur mos von Methner überflüssig. 41 Das Wortspiel mit ignorare, ignotus und ignoscere lässt sich nicht nachbilden. Versuche finden sich bei Gowers (2012) 119, 125-126 und Yona (2018) 122-123. Gowers übersetzt: „‚Do you not understand yourself (ignoras) or do you think you can deceive us as though we didn’t know you (ignotum)? ‘ Maenius replies, ‚I am understanding to myself ‘ (mihi ignosco).“ Yona übersetzt: „‚Look out, sir,‘ said someone, ‚do you not know yourself ? Or do you think you impose on us, as one we do not know? ‘ ‚I take no note of myself ‘, said Maenius.“ 42 Brown (1993) 116 nennt V. 20 sogar „essentially serious“. sogar mit dem Verhalten eines Maenius gleichgesetzt, das ‚Horaz‘ selbst in den unmittelbar folgenden Versen scharf kritisiert: Die Passage der V. 19-24 führe vor Augen, dass er nicht besser als Maenius handle, also Doppelmoral zeige-(21-24): 39 - Maenius absentem Novium cum carperet, ‚heus tu‘ - quidam ait, ‚ignoras te an ut ignotum dare nobis - verba putas? ‘ ‚egomet mi ignosco‘ Maenius inquit. - stultus et improbus hic amor 40 est dignusque notari. Als Maenius den abwesenden Novius scharf kritisierte, sagte einer: „He du, kennst du dich selbst nicht oder glaubst du, dass du uns täuschen kannst, als ob wir dich nicht kennen würden? “ „Ich selbst verzeihe mir“ sagte Maenius. 41 Dumm und unverschämt ist diese Selbstgefälligkeit und sie verdient, gerügt zu werden. In der Tat gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Maenius und ‚Horaz‘. Maenius habe, so die Behauptung des ‚Horaz‘, kein gutes Haar an einem Novius gelassen, der sich als Abwesender nicht habe verteidigen können (21). ‚Horaz‘ selbst wiederum verspottet am Beginn von 1,3 mit dem toten Tigellius ebenfalls jemanden, der sich nicht wehren kann. Zudem werden Maenius und ‚Horaz‘ nach ihrer Kritik an anderen mit der Frage nach eigenen Schwächen und Fehlern konfrontiert (19-20, 22-23). Doch im Gegensatz zu Maenius, der sich nicht mit eigenen Fehlern auseinan‐ dersetzen kann oder will, zeigt sich ‚Horaz‘ darum bemüht, seine vitia aufrichtig und selbstreflektiert einzugestehen. 42 Die erste an Maenius gerichtete Teilfrage (22: ignoras te? ) lässt sich verstehen als „Kennst du dich selbst und deine Fehler nicht? “. Die zweite Teilfrage (22-23: ut ignotum dare nobis / verba putas? ) 36 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="37"?> 43 S. dazu S.-42. 44 Plaza (2006) 190. 45 1,3,25-26: cur in amicorum vitiis tam cernis acutum / quam aut aquila aut serpens Epi‐ daurius? Gowers (2012) 126 weist darauf hin, dass Adler und Schlangen sprichwörtlich für ihre scharfen Augen bekannt waren. suggeriert, dass Maenius dem Fragenden und anderen mitnichten unbekannt ist. Obwohl andere ihn mit ihren Fragen gezielt darauf hinweisen, dass sie um seine Fehler wissen, sieht Maenius vollkommen über sie hinweg (23: egomet mi ignosco). Genau damit unterscheidet er sich grundlegend von ‚Horaz‘, der sich deutlich von dieser „dummen, unverschämten und [satirische] Rüge verdienenden Selbstgefälligkeit“ abgrenzt (24: stultus et improbus hic amor est dignusque notari) und sich gegenteiliges Verhalten zuschreibt. Ein weiterer, für die Inszenierung des ‚Horaz‘ jedoch wichtiger Unterschied wird am Ende der hier untersuchten Satire deutlich: Maenius ‚verzeiht sich selbst‘ (23), dem ‚Horaz‘ hingegen, so behauptet er zumindest, seine Freunde (139-140: mihi dulces / ignoscent, si quid peccaro stultus, amici). 43 Der Umstand, dass ‚Horaz‘ hier nicht genauer auf eigene Fehler eingeht, ist deshalb nicht als Anzeichen dafür zu verstehen, dass er auf kritische Aussagen über seine Person so reagiert wie Maenius. Vielmehr lässt er sich damit erklären, dass jede Spezifizierung eigener Schwächen die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ untergraben würde, da er Verhalten, das er selbst zeigt, kaum bei anderen kritisieren könnte. Durch die inhaltlich sehr eingeschränkte Informationsvergabe kann ‚Horaz‘ das Lesepublikum zudem dazu anhalten, nach weiteren Fehlern zu suchen und deren Bewertung als unbedeutend (20: alia et minora) nach der Lektüre von 1,3 zu bestätigen. 44 2.2.1.2 Der Ausgleich schlechter Eigenschaften durch gute Eigenschaften Die Kritik des ‚Horaz‘ an Maenius endet mit einer direkten Du-Ansprache: Maenius sehe mutwillig über eigene Unzulänglichkeiten hinweg, betrachte die Verfehlungen anderer aber mit sprichwörtlichen Adleraugen (25-26). 45 Der angeführte Grund, weshalb dieses Verhalten „dumm und unverschämt ist und verdient, gerügt zu werden“ (24), leitet mit der Beurteilung anderer auf ein neues Thema über: Wer zu sehr nach Fehlern anderer sucht, muss damit rechnen, dass auch andere wiederum das Gleiche tun (26-27). ‚Horaz‘ fordert im Folgenden dazu auf, genau das nicht zu tun und beschreibt eine unbestimmte dritte Person, um zu verdeutlichen, dass harmlose schlechte Eigenschaften durch gute Eigenschaften ausgeglichen werden können (29-34): 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 37 <?page no="38"?> 46 Ich übernehme die Konjektur diffluit von Shackleton Bailey (2008) nicht. Hier wird nachlässiges Äußeres geschildert, doch findet sich für diffluere i. S. v. ‚unordentlich herabhängen‘ im Gegensatz zu defluere kein Beleg. Zur Verbindung von defluere mit Kleidung s. TLL 5,1,364,7-11, zur Konnotation des Unordentlichen s. Georges, s. v. defluo B a α mit Verweis auf den vorliegenden Vers. Auch Kiessling/ Heinze (1961) 51 und Gowers (2012) 127 lesen defluit. 47 Der Ausdruck minus aptus acutis / naribus horum hominum lässt sich kaum übersetzen. Durch minus aptus wird Unangepasstheit zum Ausdruck gebracht, Kiessling/ Heinze (1961) 51 zufolge bezeichnen acutae nares „den feinen Scharfsinn, der Unpassendes oder Unharmonisches sofort wittert“. Ist eine Person wenig geeignet für die sensible Wahrnehmung anderer Menschen, verhält sie sich nonkonform zu deren Erwartungen. Brown (1993) 35 übersetzt „not quite suited to the keen sensivities of today’s society“, Gowers (2012) 127 „not too attuned to todays’s sniffy society“, Holzberg (2018) „er passt nicht recht zu den scharf urteilenden Nasen dieser Welt“. 48 Gowers (2012) 127-128 erklärt den Ausdruck ingenium ingens: „Here the phrase refers to great-heartedness or generosity of character, using figura etymologica to play on the idea that true worth is inborn (ingens), not based on superficial or artificial contrived impressions (cf. inculto).“ Ich danke Therese Fuhrer für die Übersetzung „großartig geartetes Wesen“. iracundior est paulo, minus aptus acutis 30 naribus horum hominum; rideri possit eo quod - rusticius tonso toga defluit 46 et male laxus - in pede calceus haeret: at est bonus, ut melior vir - non alius quisquam, at tibi amicus, at ingenium ingens - inculto latet hoc sub corpore. Einer ist ein wenig zu aufbrausend, zu wenig angepasst an die feinen Nasen der Menschen. 47 Man könnte ihn dafür auslachen, dass er einen bäurischen Haarschnitt hat, dass seine Toga schlampig herabhängt und dass der weite Schuh schlecht am Fuß sitzt: Aber er ist ein guter Mensch, so dass kein anderer Mann besser ist, er ist dir ein Freund und ein großartig geartetes Wesen 48 verbirgt sich unter dieser rauen Oberfläche. Den insgesamt fünf Eigenschaften, die hier als schlecht präsentiert werden, sind durch die dreimal verwendete kontrastive Konjunktion at nur drei positiv konnotierte Qualitäten gegenübergestellt. Diese sind somit wesentlich schwerer zu gewichten: Ein aufbrausendes Wesen werde durch einen Charakterzug aufgewogen, der im Text mit bonus (32) bezeichnet wird und der als moralische Integrität zu verstehen ist. Über Nonkonformismus könne man auf Grund enger Freundschaft hinwegsehen. Nachlässiges Äußeres, das sich in einem schlechten Haarschnitt, unordentlicher Kleidung und zu großen Schuhen manifestiere, 38 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="39"?> 49 Freudenburg (1993) 27-29 versteht die sehr ähnlich formulierte Selbstbeschreibung der Autor-persona in Hor. epist. 1,1,94-97 als Versuch, die Modellierung der Autor-persona in Hor. sat. zu rekonstruieren. Er liest die vorliegende Passage deshalb als indirekte Selbstbeschreibung des ‚Horaz‘, ebenso Brown (1993) 117-118; Sharland (2010) 143-146; Gowers (2012) 126-127. Kiessling/ Heinze (1961) 51 schließen diese Deutung kategorisch aus. Plaza (2006) 193-194 überträgt die beschriebenen Eigenschaften auch auf die Textsorte der Verssatire: Diese zeichne sich durch Aggressivität aus (iracundior), sei unangenehm für sensible Menschen (minus aptus acutis / naribus), habe eine „linguistic form that is sloppy“ (male laxus / in pede calceus haeret), und sei geschrieben aus der Sicht eines „innocent and unsophisticated country-dweller“ (rusticius). Jedoch habe sie auch eine moralisch aufrichtige Intention (bonus), diene den „interests of good citizens“ (tibi amicus) und verberge großes poetisches Talent unter einer rauen Oberfläche (ingenium ingens / inculto latet hoc sub corpore). Plaza bilanziert: „this caricature depicts ‚Horace‘ in a particular role, that of the persona as a satirist, or more drastically put, the man as his style“ (S. 194). Von größerem Gewicht als Plazas Argumente scheinen mir jedoch zwei Umstände zu sein: Zum einen zeichnen sich die Satiren vor allem im Vergleich zu anderen Verssatiren gerade nicht durch Aggressivität aus, sie werden in 1,4,34-38, 78-79 und 2,1,1-4, 21-23 sogar ausdrücklich gegen diesen Vorwurf verteidigt. Zum anderen zeigt v. a. die Kritik an der Verstechnik des Lucilius, dass sich ‚Horaz‘ um einen ästhetischen Umgang mit Metrik bemüht, die Satiren also keine ‚raue Oberfläche‘ haben. Zur Kritik an Lucilius s. auch S.-43 Anm.-63. 50 Das Lesepublikum kann und soll in den Verhaltensweisen, die in den Satiren als lächerlich und/ oder falsch dargestellt werden, eigenes Verhalten wiedererkennen, so 1,1,69-70: quid rides? - mutato nomine de te / fabula narratur). Diese Aufforderung zur Identifikation lässt sich m. E. auch auf die vorliegende Beschreibung der unbestimmt bleibenden dritten Person übertragen. 51 Ihr Ausmaß wird auch sprachlich eingeschränkt: Die Verbindung des Komparativs iracundior mit dem Ablativus mensurae paulo wirkt abschwächend, so Knorr (2004) 87 mit Anm. 73; Gowers (2012) 127. Kiessling/ Heinze (1961) 51 übersetzen minus mit „nicht recht“ und erkennen eine „schonende Ausdrucksweise, vor allem [in] rideri possit.“ Knorr (2004) 87-88 versteht rusticius als einen „verharmlosenden Komparativ“, minus als eine „euphemistisch abgeschwächte Negation“ und das eigentlich gemeinte non haeret als zu male haeret abgeschwächt. werde durch ein „großartig geartetes Wesen“ (33: ingenium ingens) ausgegli‐ chen. Entgegen der communis opinio lese ich diese Passage nicht als Selbstbeschrei‐ bung des ‚Horaz‘, verstehe sie aber dennoch als wichtigen Bestandteil seiner Strategie, sich als kompetenter Satiriker zu inszenieren. 49 Anders als in V. 20 spricht ‚Horaz‘ hier nicht über sich selbst, sondern über eine unbestimmte dritte Person. Dadurch fordert er das Lesepublikum implizit dazu auf, sich mit dieser Person zu identifizieren und deshalb der Argumentation, schlechte Eigenschaften ließen sich durch gute ausgleichen, zuzustimmen, um sie auch für sich selbst in Anspruch nehmen zu können, 50 insbesondere da die Charakterzüge und Äußerlichkeiten, die hier als negativ vorgeführt werden, kaum als allzu gravierend angesehen werden können. 51 Auf diese Weise wird die in V. 20 ge‐ 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 39 <?page no="40"?> 52 Dieser Topos findet sich u. a. bei Plat. Rep. 474d; Lucr. 4,1130-1169; Ov. ars 2,642-662. Durch seine Verwendung beansprucht ‚Horaz‘ Allgemeingültigkeit für seine Aussagen. 53 So sei etwas zu ausgeprägte Sparsamkeit als Wirtschaftlichkeit anzusehen, Taktlosig‐ keit als Direktheit und Hitzköpfigkeit als Lebhaftigkeit. 54 Kiessling/ Heinze (1961) 54-56; Brown (1993) 119-120. Die Formulierung nobiscum vivit (57) erinnert an Ausdrücke, mit denen andernorts auf das Umfeld des ‚Horaz‘ verwiesen wird: vixi cum quibus (1,4,81); convictor (1,6,47); non isto vivimus illic (1,9,48); me / cum magnis vixisse (2,1,75-76). Auffallend ist auch die Häufung von Verben in der ersten Person Plural, die ich hier nicht als verallgemeinernde Formulierung, sondern als konkreten Bezug auf ‚Horaz‘ und sein Umfeld verstehe. In V. 55-67 finden sich sieben entsprechende Verbformen: invertimus (55), furimus (56), damus (58), versemur (60), vocamus (62), inquimus (66), sancimus (67). 55 Georges, s. v. inverto II B 1 mit Verweis auf V. 55. 56 1,3,56-62: probus quis / nobiscum vivit, multum demissus homo: illi / tardo cognomen, pingui damus. hic fugit omnis / insidias nullique malo latus obdit apertum, / […]: pro bene sano / ac non incauto fictum astutumque vocamus. Mit Georges, s. v. cognomen a und dem dortigen Verweis auf V. 58 verstehe ich cognomen konkret als „Spitzname“ im Sinne eines Beinamens, „den man wegen […] einer besonderen Eigenschaft erlangte.“ Dafür sprechen auch V. 43-48: Euphemistische Kosenamen verweisen dort zugleich auf troffene Unterscheidung schwerwiegender und unbedeutender Fehler gestützt und das Lesepublikum dazu aufgefordert, ‚Horaz’‘ Fehler, von denen man in V. 20 keine konkreten, im weiteren Verlauf jedoch genauere Informationen erhält, als geringfügig anzusehen und deshalb zu entschuldigen. 2.2.1.3 Fehlverhalten im engen Umfeld des ‚Horaz‘ Dass es möglich ist, unbedeutende Fehler zu tolerieren, verdeutlicht ‚Horaz‘ im Folgenden anhand der Beispiele eines Liebhabers und eines Vaters, die über körperliche Mängel ihrer Geliebten beziehungsweise ihres Sohnes nicht nur hinwegsehen, sondern diese sogar als Vorzüge betrachten (38-48). 52 Diese euphemistische Beurteilung solle man auch auf kleinere charakterliche Mängel anderer übertragen, was insbesondere bereits bestehende Freundschaften ver‐ tiefe (49-54). 53 Doch rechnet sich ‚Horaz‘ im Folgenden selbst einer Gruppe zu, die das genaue Gegenteil dieser Forderung praktiziert (55-66). Zwar bestimmt er diese Gruppe nicht genauer. Es liegt jedoch nahe, sie als sein näheres Umfeld zu identifizieren. 54 Wie in V. 55-56 formuliert, „gibt“ diese Gruppe positiv konnotierten Charakterzügen und daraus resultierenden Handlungen eine „böse Deutung“ (at nos virtutes ipsas invertimus atque / sincerum furimus vas incrustare). 55 Sie macht auszeichnende Eigenschaften zum Ausgangspunkt spöttischer Spitznamen, indem sie beispielsweise moralische Integrität und Bescheidenheit als Einfalt oder Dummheit bezeichnet (56-58) oder Vorsicht und Voraussicht als Heuchelei und Hinterlist (56-62). 56 Auch die in V. 52 als positiv 40 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="41"?> körperliche Missbildungen und auf das Nomen gentile römischer Aristokratenfamilien. S. dazu Kiessling/ Heinze (1961) 51; Gowers (2012) 120. Georges, s. v. tardus II a β führt V. 57 als Beispiel für die Bedeutung „bedächtig“ an. Da tardus hier eine negative Eigenschaft bezeichnet, halte ich eine Übersetzung wie „Schwachkopf “ (Georges II a α; OLD 5) für passender. 57 1,3,63-66: simplicior quis et est […] / quovis sermone molestus: / ‚communi sensu plane caret‘ inquimus. 58 Der Superlativ minima [sc. vitia] in V. 69 lässt sich als Bezug auf den Komparativ minora [sc. vitia] in V. 20 verstehen. Das bringt Sharland (2010) 151 zu folgendem Schluss: In v. 68-69 ‚Horace‘ „undoubtedly means to refer to himself.“ bezeichnete Eigenschaft der Direktheit (simplicitas) deute die Gruppe als Mangel an Taktgefühl (63-66). 57 Durch die kontrastive Konjunktion at (55) stellt ‚Horaz‘ dieses Verhalten demjenigen gegenüber, das er unmittelbar zuvor als wünschenswert bezeichnet hat (29-54), und markiert so Handlungen seines Umfelds und seiner selbst als falsch. Es bleibt letzten Endes offen, ob er damit diejenigen Fehler beschreibt, die er in V. 20 minora nennt. Fest steht jedoch, dass er falsches Verhalten zugibt, indem er hier darüber spricht, worin es genau besteht - freilich auch, um zu betonen, dass es harmlos ist. Denn das Verleihen spöttischer Spitznamen ist als gegenseitige Neckerei einander nahestehender Menschen, nicht als scharfe Kritik zu verstehen, zumal ‚Horaz‘ am Ende der Satire beteuert, dass die Mitglieder des hier erwähnten Freundeskreises gerne dazu bereit seien, sich harmlose Vergehen gegenseitig zu verzeihen (139-141). ‚Horaz‘ selbst nennt die Forderung, das Verhalten anderer stets wohlwollend zu beurteilen, eine lex iniqua (67), da jeder Mensch fallibel sei (68: nam vitiis nemo sine nascitur). Er fordert dadurch nicht nur dazu auf, seine eigenen, freilich als harmlos bezeichneten Schwächen und Fehler mit seinen guten Eigenschaften aufzuwiegen (69-71: amicus dulcis, ut aequum est, / cum mea compensat vitiis bona, pluribus hisce, / si modo plura mihi bona sunt, inclinet). Er exkulpiert sich auch selbst, charakterisiert Fallibilität als condicio humana und spricht sich so erneut gegen die Auffassung aus, er müsse als Satiriker das Ideal der Fehlerfreiheit erfüllen. Doch entschuldigt er falsches Verhalten dabei keineswegs pauschal, sondern differenziert durch die Verwendung von Superlativen erneut unterschiedliche Schweregrade (68-69: optimus ille est / qui minimis [sc. vitiis] urgetur). 58 Da seine Inszenierung als kompetenter Satiriker in 1,3 maßgeblich auf dieser Differenzierung beruht, bemüht sich ‚Horaz‘ am Ende der Satire erneut um den Nachweis, dass es unterschiedliche Schweregrade von Fehlverhalten gibt. Dazu führt er ab V. 76 stark überzeichnete Beispiele aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben an, mit denen er die stoische Auffassung, dass alle Vergehen 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 41 <?page no="42"?> 59 Zu dieser Kritik an der Stoa s. Kemp (2009); Yona (2018) 123-126. Die Beispiele, die ‚Horaz‘ verwendet, lassen eine gewisse Abstufung erkennen: Ein Sklave isst beim Abräumen kaltgewordene Reste (80-83), ein Freund begeht einen unbedeutsamen Fehler (84), uriniert betrunken auf ein Speisesofa, zerbricht wertvolles Geschirr, hat keine Tischmanieren (90-91), begeht einen Diebstahl und schwere Vertrauensbrüche (94-95). Wenn man schon den Sklaven mit Kreuzigung bestrafen würde, was bliebe dann noch als Reaktion auf tatsächlich schwerwiegende Vergehen übrig? 60 1,3,77-79: cur non / ponderibus modulisque suis ratio utitur ac res / ut quaeque est ita suppliciis delicta coercet? ; 96-98: quis paria esse fere placuit peccata, laborant / cum ventum ad verum est; sensus moresque repugnant / atque ipsa utilitas, iusti prope mater et aequi. 61 1,3,115-119: nec vincet ratio hoc, tantundem ut peccet idemque / qui teneros caulis alieni fregerit horti / et qui nocturnus sacra divum legerit. adsit / regula, peccatis quae poenas irroget aequas, / ne scutica dignum horribili sectere flagello. 62 Die konditionale Formulierung si quid peccaro in Kombination mit dem Prädikativum stultus marginalisiert die hier angesprochenen Fehler. Das Prädikativ stultus ist in der Bedeutung ‚leichtsinnig‘ gebraucht (OLD, s. v. stultus 2: „(of actions, remarks, etc.) Characterized by stupidity, silly, inept, foolish“). Durch die Verwendung des Verbs ignoscere stellt ‚Horaz‘ einen Bezug zum Kontext seiner Selbstaussage in V. 20 her. als gleichwertig anzusehen seien, widerlegen und dazu auffordern will, auf unterschiedliches Fehlverhalten jeweils unterschiedlich zu reagieren. 59 Er stellt seine Aussagen dabei als allgemeingültig dar, indem er ausführlich darauf eingeht, dass die von ihm getroffene Unterscheidung der Vernunft (ratio), dem ‚gesunden Menschenverstand‘ (sensus), der allgemeinen Moral (mores) und dem Nutzen (utilitas) entsprächen (76-98) 60 und unabdingbare Voraussetzung für das soziale Zusammenleben einer funktionierenden Gesellschaft seien (99-124). 61 ‚Horaz‘ nutzt die Erwähnung der Stoa auch, um ein Kontrastbild zu seiner eigenen Person zu schaffen: Überspitzt schildert er, wie ein Stoiker als Folge seines Rigorismus soziale Ausgrenzung erfährt (133-139), und stellt der Ableh‐ nung und Ausgrenzung dieses Stoikers die Situation innerhalb seines eigenen Umfelds gegenüber: Wie in V. 20 behauptet und in V. 55-66 vorgeführt, verhalte er sich nur in geringem Ausmaß falsch. Seine Freunde würden das als Folge von Leichtsinn erkennen und deshalb verzeihen (139-140: et mihi dulces / ignoscent, si quid peccaro stultus, amici). 62 Anders als der am Beginn der Satire erwähnte Maenius (21-24) verzeihe er sich also nicht selbst, sondern andere täten dies. Er wiederum sei fähig und willens, im Gegenzug auch anderen zu verzeihen (141: inque vicem illorum patiar delicta libenter). Wäre dem nicht so, würde er also gravierendes Fehlverhalten zeigen und zugleich nicht über unbedeutendes Fehlverhalten anderer hinwegsehen, wäre er isoliert wie der ab V. 124 karikierte Stoiker. So aber kann er sich als Mitglied einer funktionierenden sozialen Gruppe präsentieren. 42 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="43"?> 63 Van Rooy (1968) 58-61 zufolge stellt ‚Horaz‘ die Fähigkeit und Bereitschaft zu dieser Differenzierung auch in der Kritik an Lucilius unter Beweis, indem er seinen Stil kritisiert, seine Auffassungsgabe, seinen Humor und seine freimütige Moralkritik hingegen lobt (1,4,7-9; 1,10,3-4, 64-67; 2,1,28-29). Auch Kemp (2010) betont, dass Lucilius nur für seinen Stil getadelt wird. Quint. inst. 10,1,93 distanziert sich von dem kritischen Urteil über Lucilius. S. dazu z.-B. Schmitz (2019) 46-48. Zwar fordert ‚Horaz‘ in der hier besprochenen Satire 1,3 Toleranz und wohlwollende Beurteilung anderer nur im Kontext von Freundschaften ein und behauptet lediglich, die Bereitschaft zu verzeihen im eigenen Umfeld und unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit in die Tat umzusetzen. Das schränkt aber nur seine Bereitschaft zu verzeihen auf Menschen, die ihm nahe stehen, ein. Seine Fähigkeit zur Unterscheidung schwerer und leichter Fehler wird dadurch nicht vermindert. Im Gegensatz zum Rigorismus der Stoa, wie er ihn kritisiert, nimmt ‚Horaz‘ also eine moderate Haltung ein und stellt sich dadurch nicht als strenger Moralist dar, der unerfüllbare Forderungen erhebt. Vielmehr führt er seine Auffassung vor Augen, dass es unterschiedliche Schweregrade von Schwächen und Fehlern gibt, und inszeniert sich als Mensch, der diese Schweregrade differenzieren und deshalb tatsächliches Fehlverhalten erkennen kann und der deshalb weder Schwächen und Fehler anderer übertreibt oder ungerechtfertigt kritisiert, noch eigene ignoriert. 63 Die Satire 1,3 stärkt ‚Horaz‘ somit nicht nur in der Rolle des satirischen Kritikers, die er schon in 1,1 und 1,2 eingenommen hat. Sie dient auch der Verteidigung gegen die in der folgenden Satire 1,4 vorgebrachten Vorwürfe, er erfreue sich daran, andere zu verletzen (1,4,34-38, 78-79). 2.2.2 Die Auseinandersetzung des ‚Horaz‘ mit eigenen Schwächen und Fehlern - sat. 1,4 Die am Beginn von 1,3 aufgeworfene Frage, wer satirische Kritik üben könne, wird in 1,4 aufgegriffen. Die Satire gliedert sich in zwei größere Abschnitte (1-102, 103-143). Die folgende Analyse beschränkt sich auf den zweiten Teil, in dem ‚Horaz‘ eigene Schwächen und Fehler zugibt, jedoch erneut als harmlos bezeichnet, und soll zeigen, wie er seine satirische Kompetenz ausdrücklich auf die konstruktive Auseinandersetzung mit diesen Schwächen und Fehlern zurückführt. Im ersten Teil spricht ‚Horaz‘ über literaturtheoretische Aspekte seiner Dichtung, indem er zunächst eine von der Alten Komödie ausgehende und von Lucilius aufgegriffene Tradition satirischen Schreibens konstruiert (1-7), sich dann deutlich von der Vielschreiberei des Lucilius abgrenzt (7-21) und schließlich der Frage nachgeht, 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 43 <?page no="44"?> 64 S. dazu Freudenburg (1993), bes. 33-39, 96-108, 119-128; Oliensis (1998) 18-36; Schlegel (2005) 38-51; Kemp (2010); Gowers (2012) 147-152; Courtney (2013) 87-93. 65 Es ist nicht zu beantworten, ob die im Text erwähnten Vorwürfe auch gegen den historischen Autor erhoben wurden, ob sie frei erfunden sind, oder ob eine Mischung aus beidem zutrifft. Gowers (2012) 147 erkennt in 1,4 „traditional moves common to all branches of blame poetry: paranoid response to injury, self-justification, disavowal of malice, competition with rivals, technical nit-picking, defamation and caricature.“ Ähnlich Freudenburg (1993) 52-53. 66 1,4,21-25, 69-78, v. a. 73-74: nec recito cuiquam nisi amicis, idque coactus, / non ubivis coramve quibuslibet. 67 Brown (1993) 136: „aiebat 115 covers each piece of direct speech in 109-120.“ was einen poetischen Text ausmacht-(38-62). 64 Insbesondere verteidigt er aber sich selbst und seine Dichtung gegen Vorwürfe eines Interlocutors (23-38, 64-103): 65 Anders als von diesem Interlocutor behauptet wird, stelle ‚Horaz‘ das Verhalten anderer in seiner Dichtung weder als falsch und lächerlich dar, um schallendes Gelächter zu erregen (34-38, 81-85), noch um sich daran zu erfreuen, Unschuldige böswillig und absichtlich zu verletzen (78-103). Vielmehr erklärt ‚Horaz‘, dass alle Menschen mit Schwächen und Fehlern ganz unterschiedlicher Art behaftet seien und er nur Menschen tadle, die das verdient hätten (22-33). Als Verteidigung gegen die Vorwürfe des Interlocutors lässt sich auch ‚Horaz’‘ Aussage verstehen, nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur auf eindringliche Aufforderung hin und nur vor seinen Freunden zu rezitieren. 66 Denn würde er lediglich dichten, um Lachen zu erregen oder um seiner Boshaftigkeit freien Lauf zu lassen, würde diese Motivation ins Leere laufen angesichts des Umstands, dass er seine Dichtung nur vor sehr kleinem Publikum und nur „unter Zwang“ (73: coactus) vortrage. 2.2.2.1 Das Verhältnis zwischen Erziehung und satirischer Kritik des ‚Horaz‘ Der Aspekt der Verteidigung verbindet die beiden Hauptteile der Satire, da der zweite Teil durch konditionale Formulierungen und die Bitte um Nachsicht ebenfalls in apologetischem Ton beginnt (103-108): - - Liberius si - dixero quid, si forte iocosius, hoc mihi iuris 105 cum venia dabis. insuevit pater optimus hoc me, - ut fugerem exemplis vitiorum quaeque notando. - cum me hortaretur parce, frugaliter atque - viverem uti contentus eo quod mi ipse parasset, - [sc. aiebat-…] 67 44 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="45"?> 68 Der folgende Absatz basiert auf Yona (2018) 129-164, bes. 137-146. 69 Mit Gowers (2012) 177 verstehe ich die in V. 109-115 vom Vater genannten Namen Albius und Baius als Platzhalter für bestimmte Typen falschen Verhaltens. Gowers nennt Albius „Man A“, Baius „Man B“, merkt an, dass auch die Namen Scetanus (112) und Trebonius (114) in alphabetischer Reihenfolge genannt werden, und liest die Passage als „moral equivalent to the child’s ABC“. Sie weist auch auf die bei Rhet. Her. 4,65 angeführte Erklärung einer notatio als fiktionale Schilderung eines Typus zum Zwecke der moralischen Erziehung hin. Seeck (1991b) 538 zufolge wird das Lesepublikum durch die Nennung solcher Platzhalter dazu „animiert, nach Personen zu suchen, auf die die Beschreibung passt.“ 70 Die Junktur contentus vivere wird schon in 1,1,1-3 verwendet und legt nahe, dass genügsame Lebensführung ein zentrales Thema von Buch 1 ist, so Oliensis (1998) 25. 71 Yona (2018) 137-138 stellt eine Häufung von auffordernden Finalsätzen in den Satiren und insbesondere im vorliegenden Abschnitt von 1,4 fest. 72 Leach (1971) zufolge nutzt ‚Horaz‘ den Hinweis auf seine nichtphilosophische Erzie‐ hung als Entschuldigung dafür, dass er eben doch freimütiger (liberius) und boshafter (iocosius) schreibe als er es in Abgrenzung zu Lucilius zu tun behauptet. Seeck (1991a) 9-10 erklärt den Verzicht auf theoretische Begründungen damit, dass sich ein Satiriker meist auf einen „Konsens der aus seiner Sicht Gutgesinnten“ beruft. Yona (2018) 134-141 erkennt hier Grundsätze des Epikureismus, der praktische Ethik sowie deren unmittelbaren Nutzen und Anwendbarkeit über die Theorie stellt. Der Verzicht auf Wenn ich etwas zu freimütig, wenn ich zufällig etwas zu spöttisch gesagt habe, wirst du mir das Recht dazu nachsichtig zugestehen. Daran hat mich mein hervorragender Vater gewöhnt, indem er jedes falsche Verhalten mit Beispielen rügte, damit ich es vermeide. Wenn er mich aufforderte, sparsam, wirtschaftlich und mit dem zufrieden zu leben, was er selbst mir verschafft hatte, [sc. sagte er-…] Die Grundsätze der Erziehung, wie sie hier und im Folgenden geschildert werden, und die Grundsätze der Art und Weise, wie ‚Horaz‘ in den Satiren die Schwächen und Fehler anderer herausstellt, haben eine Reihe an Gemein‐ samkeiten. 68 Zu nennen sind zunächst der freimütige und scherzhaft-spöttische Ton (103: liberius; 104: iocosius) sowie die schon von der Alten Komödie und Lucilius ausgeübte Rüge falschen Verhaltens (5: multa cum libertate notabant; 106: notando; vgl. auch 1,3,24: dignusque notari). Diese Rüge erfolgt sowohl beim Vater als auch beim Sohn meist nicht nominatim, sondern primär anhand bei‐ spielhafter Typen (106: exemplis; 126-128). 69 Beide fordern zu einer genügsamen Lebensführung auf (107-108: parce, frugaliter atque / viverem uti contentus), 70 oftmals in paränetischer Form (107: hortaretur). 71 Beide sind um die Vermittlung praktischer Ethik bemüht, die auf traditionellen Werten beruht, und verzichten auf ausufernde theoretische Begründungen (115-117: sapiens, vitatu quidque petitu / sit melius, causas reddet tibi: mi satis est si / traditum ab antiquis morem servare). 72 Wie in 1,4,107-115 geschildert, spricht der Vater über stadtrömische Laster, die auch ‚Horaz‘ aufs Korn nimmt, beispielsweise verschwenderischen 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 45 <?page no="46"?> theoretische Begründungen ist auch mit dem oft populärphilosophischen Charakter der Satiren zu erklären. 73 So auch Gowers (2012) 71. 74 Yona (2018) 141-145 führt zahlreiche Stellen für die Beschreibung von Farben, Geräu‐ schen und sensorischen Empfindungen in den Satiren an und hebt die Bedeutung hervor, die sensorischer Wahrnehmung für Erkenntnis und nachhaltigen Lernerfolg (v.-a. im Epikureismus) zugeschrieben wird. 75 In der Forschung wird immer wieder betont, dass die Sprache der Satiren „nicht erhaben ist wie [im Epos], sondern [sich] dem lockeren Umgangston der Gebildeten“ annähert (Holzberg 2018, 12). Gowers (2012) 22 spricht von „simulation of human speech (sermo)“ und von dem Bemühen „to reproduce the rhythms of colloquial speech or verse that approximates to it (sermo merus, sermoni propriora)“. Yona (2018) 145-147 spricht von „conscious imitation of the conversational diction“ und „everyday speech in order to communicate moral truth.“ 76 Yona (2018) 145-146: Zwar sind dem Vater in den Mund gelegte Adjektive wie contentus, malus, melior, inhonestus und inutilis Standardvokabeln moralischer Bewertungen, ihre Häufung ist hier jedoch auffällig. Yona führt weitere Belegstellen dieser Adjektive in den Satiren an. Ähnlich Gowers (2012) 178: „even H.’s famous catchphrase [1,4,116: mi satis est] is revealed as a paternal tic.“ Lebensstil und Habgier (1,1) oder sexuelle Maßlosigkeit (1,2). 73 Häufige Beschrei‐ bungen akustischer und optischer Wahrnehmung sowie der oft deiktische Cha‐ rakter dieser Beschreibungen sind der väterlichen Erziehung und den Satiren ebenfalls gemeinsam (109: nonne vides). 74 Die Verwendung zahlreicher Verba dicendi stellt die Erziehung als eine dezidiert mündliche dar (notare; hortari; deterrere; aio; formare dictis; iubere; obicere; vetare), was an die Gestaltung der Satiren als sermo erinnert. 75 ‚Horaz‘ führt dadurch nicht nur die inhaltliche Ausrichtung seiner Dichtung, sondern auch deren sprachliche Gestaltung und das von ihm verwendete pädagogische Vokabular auf die Erziehung durch seinen Vater zurück, und kann so seine vom zeitgenössischen Lesepublikum als Makel angesehene soziale Herkunft als etwas Positives darstellen. 76 2.2.2.2 Die Selbstkritik des ‚Horaz‘ als Ausgangspunkt seiner Kritik an anderen ‚Horaz‘ macht die Erziehung durch seinen Vater auch unmittelbar dafür verant‐ wortlich, frei von „Verderben bringenden Schwächen und Fehlern“ zu sein, führt also auch seine moralische Integrität auf seinen Vater zurück (129-131: Ex hoc ego sanus ab illis / perniciem quaecumque ferunt, mediocribus et quis / ignoscas vitiis teneor). Er behauptet im Folgenden, die im Vorausgehenden ausführlich beschriebene Erziehungsmethode seines Vaters übernommen zu haben, um sich selbstkritisch zu hinterfragen und mit eigenen Schwächen und Fehlern ausein‐ 46 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="47"?> 77 Oliensis (1998) 25-26: „As a grown man, the son dutifully internalizes his satiric father, becoming his own ever-present moral instructor.“ Gowers (2012) 180: „Horace’s current habit of introspection [is] the internalized version of his father’s moral teaching.“ 78 1,4,134-138: ‚rectius hoc est; / hoc faciens vivam melius; sic dulcis amicis / occurram; hoc quidam non belle: numquid ego illi / imprudens olim faciam simile? ‘ haec ego mecum / compressis agito labris. 79 Die Übersetzungen von dulcis amicis occurrere mit „make a good impression“ (Gowers 2012, 180) bzw. „einen angenehmen Eindruck machen“ (Holzberg 2018) halte ich für irreführend. Gemeint ist hier nicht, dass ‚Horaz‘ einen guten Eindruck hinterlassen will, sondern dass er Freunden mit angenehmem und zuvorkommendem Verhalten begegnen möchte, wie er es z. B. in 1,3,38-54 beschreibt. So auch die Übersetzung von Brown (1993): „This will make me agreeable in my dealings with my friends.“ Ähnlich die Formulierung in 1,6,70 (vivo carus amicis). 80 Gowers (2012) 180 spricht von „a new character for satire, born of self-scrutiny, not vindictive feelings against society“; ähnlich Schlegel (2005) 48. Auch für ‚Seneca‘ ist die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen seelischen und körperlichen Fallibilität wichtige Voraussetzung für das Verfassen der Epistulae morales. S. dazu Kap. 4.2.1, 4.2.2.1 und 4.3.2. anderzusetzen (131-140). 77 Dabei ersetzt er die mündlichen Unterweisungen des Vaters durch Selbstgespräche (137-138: haec ego mecum / compressis agito labris), in denen er den dozierenden Part übernimmt und sich exemplarisch auf falsche Handlungen anderer aufmerksam macht (134-138). 78 Als Ziel seiner Beobachtungen und Selbstgespräche, die er im privaten und öffentlichen Raum anzustellen behauptet (133: lectulus; 134: porticus), bestimmt ‚Horaz‘ nicht die Kritik an anderen, sondern Selbstkritik. Denn wie auf ihn bezogene Verben, Partizipien und Pronomina in V. 135-137 deutlich machen (hoc faciens vivam; occurram; ego […] imprudens […] faciam), beschreibt er hier vor allem das kritische Hinterfragen seines eigenen Verhaltens. Damit kann er sich nicht nur erneut gegen die Vorwürfe verteidigen, die er in der ersten Hälfte der Satire anspricht. Er kann vor allem betonen, durch die Beobachtung und Beschreibung des Verhaltens anderer in erster Linie sich selbst auf bessere Handlungsalternativen hinweisen zu wollen. ‚Horaz‘ gibt seine Gedichte da‐ durch als Texte aus, durch die er sich primär selbst moralisch verbessern und auf bessere Handlungsalternativen hinweisen (134-136: rectius hoc est; / hoc faciens vivam melius; sic dulcis amicis / occurram), 79 nicht jedoch andere von etwas überzeugen will, und macht so die Reflexion über seine eigene Fallibilität zum Ausgangspunkt seiner Beobachtung von und seiner Kritik am Verhalten anderer. Seine eigenen Schwächen und Fehler, die er offen bekennt, wenn auch nicht näher spezifiziert, werden so als Voraussetzung für die Arbeit an den Satiren vorgeführt. 80 Durch die Behauptung, seine Beobachtungen nur dann zu Papier zu bringen, wenn er Zeit und Muße hat (138-139: ubi quid datur oti, / illudo chartis), 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 47 <?page no="48"?> 81 Noch weiter geht Courtney (2013) 94: „Horace implies that his father’s instruction has left minor flaws in him, one of which […] is writing satire! This, however, he only does when he is at leisure (otium), from which me must infer that the serious business of his life (i.e. negotium) is self-improvement! “ In 1,6 betont ‚Horaz‘ seine Freiheit von politischen, geschäftlichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen und impliziert damit, jederzeit an der eigenen Verbesserung zu arbeiten. Zu 1,6 s. Kap. 2.2.3. 82 Oliensis (1998) 25-26: „As the father fashioned the son with dicta, so the son […] labors to improve himself. The appropriate object of laborious care is thus no longer the poetry […], but the person; satire is now not an artefact to be polished by the artist’s file, but the file itself.“ 83 Oliensis (1998) 25 spricht von „moral equipment“. 84 Anders Freudenburg (1993) 33-39: Der Vater sei wegen Übereinstimmungen mit der Figur des Demea aus Ter. Ad. als doctor ineptus anzusehen. Auf Grund der Gemeinsam‐ keiten, die der Vater und der Sohn hätten, habe die Modellierung des Vaters auch die Funktion, den Sohn lächerlich zu machen. Dagegen argumentiert Yona (2018) 131-134, 152-153: In der Regel widersetzt sich der Sohn in der Komödie seinem Vater, der Anweisungen meist harsch vorbringt und damit Ablehnung beim Sohn hervorruft (in Ter. Ad. 870-871 sogar Hass). In 1,4 und auch in 1,6 hingegen wird die Vater-Sohn-Beziehung als gesund („healthy relationship“) und Erfolgsgeschichte („success story“) dargestellt, von Missstimmungen ist keine Rede. Yona zieht als Vorlage für die vorliegende Passage Plaut. Trin. 301-317 in Betracht, wo der Sohn Lysiteles seine moralische Haltung ebenfalls auf seine Erziehung zurückführt. Die in der Forschung meist vorbehaltlos akzeptierte Auffassung, der Vater des ‚Horaz‘ sei nach Terenz’ Demea modelliert, geht v.-a. auf Leach (1971) zurück. bezeichnet ‚Horaz‘ Buch 1 zudem als eine Art Nebenprodukt seiner Selbstkritik, die er an dieser Stelle als ursprüngliches Anliegen für die Arbeit an den Satiren ausgibt. 81 Seine Gedichte werden dadurch nicht als Texte dargestellt, die von ‚Horaz‘ geformt werden, sondern als Texte, die ‚Horaz‘ formen. 82 Die poetische Ausarbeitung seiner Selbstkritik sowie das Aufzeigen alternativer Handlungsweisen führe durch den Schaffensprozess des Dichtens also auch zur moralischen Verbesserung des Dichters. Zugespitzt lässt sich formulieren: ‚Horaz‘ kann die Rolle des Satirikers einnehmen, nicht trotz, sondern gerade weil er fallibel ist, seine Fallibilität jedoch annerkennt und sich mit ihr ausein‐ andersetzt. Durch die Aussage, dass sein Vater ihm das ‚moralische Rüstzeug‘ 83 für diese Auseinandersetzung vermittelt habe, wird die Abstammung von ihm mit einer positiven Konnotation versehen. 84 Die Darstellung der Dichtung des ‚Horaz‘ als einer Art Nebenprodukt seiner Selbstkritik, die er zum Zwecke der eigenen Verbesserung anstellt, dient auch als Authentifizierungsstrategie. Indem ‚Horaz‘ am Ende der Programmsatire 1,4 behauptet, dass man mit den Satiren Beobachtungen und Gedanken lese, die er für sich selbst angestellt und zum eigenen Vergnügen zu Papier gebracht habe, präsentiert er das Eingeständnis eigener Schwächen und Fehler als unverfälschte und ehrliche Selbstanalyse. 48 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="49"?> 85 Nicht erwähnt werden V. 138-140 von Kiessling/ Heinze (1961); Rudd (1966); Brown (1993); Freudenburg (1993) und (2001); Kemp (2010); Yona (2018). Andere erklären lediglich, dass sich das Pronomen hoc auf die Tatsache bezieht, dass ‚Horaz‘ dichtet, z.-B. Schlegel (2005) 45-47; Gowers (2012) 181; Courtney (2013) 94. 86 Dazu Oliensis (1998) 26: „Situated […] within a published collection of care‐ fully-wrought satires, and at the conclusion of a poem that aggressively champions the value of literary labor, this closing assertion of dilettantism is designed to be taken with several grains of salt.“ 87 1,6,45-16: Nunc ad me redeo libertino patre natum, / quem rodunt omnes libertino patre natum. Der Ausdruck libertino patre natus wird neben der Wiederholung in V. 45-46 auch in V. 6 verwendet. In abgewandelter Form findet er sich zudem in V. 7-8, 21, 58-59, 64, 91 und 131. 88 1,6,45-46 erinnert an eine bei Diog. Laert. 4,46 überlieferte Aussage des Kynikers Bion (ἐμοῦ ὁ πατὴρ μέν ἦν ἀπελυεθεροσ ), mit der sich dieser bei Antigonos Gonatas vorgestellt hat. S. dazu und zum Rückgriff der Satiren auf kynische Elemente durch die diatribenartige Gestaltung v. a. von 1,1, 1,2 und 1,3 Freudenburg (1993) 5-21, 205-206; Sharland (2010) 1-52. Zu weiteren möglichen literarischen Vorlagen für die Inszenierung des Vaters von ‚Horaz‘ s. S. 48 Anm. 84. In der Prosa Senecas nutzt die Autor-persona des Öfteren satirische Darstellungsmittel, um Schwäche, Scheitern Die Verschriftlichung und Publikation seiner Beobachtungen und seiner Selbstreflexionen nennt ‚Horaz‘ abschließend „einen dieser unbedeutenden Fehler“ (139-140: hoc est mediocribus illis / ex vitiis unum). 85 Diese Aussage lässt sich als topischer Bescheidenheitsgestus verstehen, durch den er auf die literarische Qualität der vorliegenden Sammlung hinweisen will. Denn das hier am Ende eines programmatischen Gedichts als Resultat poetischer Spielereien ausgegebene Werk ist gerade kein bloßer lusus (139: illudo chartis), geschweige denn fehlerhaft, sondern hat einen hohen ästhetischen Anspruch. 86 Die Aussage dient zudem der erneuten Verteidigung gegen die Vorwürfe, die in der ersten Hälfte von 1,4 angesprochen werden: Auch wenn man Spott und Kritik der Satiren als Resultat eines lusus als boshafte, zumindest jedoch als falsche Handlung ansähe, müsste man sie als unbedeutende mediocria vitia entschuldigen. 2.2.3 Die niedrige Herkunft des ‚Horaz‘ als Vorteil für seine Tätigkeit als Satiriker - sat. 1,6 In der Satire 1,6 macht ‚Horaz‘ wiederholt auf seine Abstammung von einem freigelassenen Vater aufmerksam, insbesondere in der viel zitierten Behaup‐ tung, für sie verspottet zu werden (45-46). 87 Es ist irrelevant, inwiefern das in 1,6 und auch in 1,4 gezeichnete Bild des Vaters einer historischen Person entsprochen hat oder haben könnte, ob es primär an literarischen Vorlagen orientiert ist 88 und ob der Vater des historischen Horaz tatsächlich ein freige‐ 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 49 <?page no="50"?> und Fehlverhalten anderer Menschen und auch ihrer selbst herauszustellen und zu kritisieren. Solche satirischen Elemente lassen sich auch auf kynische Traditionen zurückführen. Zum Verhältnis Senecas zum Kynismus und insbesondere zu seinem Zeitgenossen Demetrios s. Goulet-Cazé (2015) 19-20, 100-102 und (2017) 311-316. Zum Verhältnis der (römischen) Stoa zum Kynismus s. Billerbeck (1978) 1-9 und (1991) 147-166; Goulet-Cazé (2015), bes. 41, 95-106 und (2017), bes. 252-253; Brancacci (2018) 182-196. Zu satirischen Elementen in den Epistulae morales s. S. 175 mit Anm. 138 und 139 sowie S.-189-190 mit Anm.-190-192. 89 Williams (1995) vertritt die These, dass der Vater des historischen Horaz kein freige‐ lassener Sklave gewesen sei, sondern sich nach der Eroberung Venusias nur kurzzeitig in römischer Kriegsgefangenschaft befunden habe. Williams sieht die Bezeichnung libertinus deshalb als gezielte Zuspitzung an, um den Kontrast zur Stellung des Maecenas möglichst groß erscheinen zu lassen. Zahlreiche Literaturangaben dazu bei Pausch (2021) 161 Anm.-28. 90 Der Vater wird in 1,6,72 macro pauper agello genannt; ähnlich V. 58-59. Da er sich die Ausbildung seines Sohns in Rom leisten konnte, wird dies i. d. R. als Übertreibung angesehen. S. dazu Freudenburg (1993) 5; Gowers (2012) 237; Yona (2018) 168-169. Courtney (2013) 102-103 versteht unter paupertas „not ‚poverty‘, as we understand it, but a modest sufficiency, the ideal of the peasant-farmer community of early Rome.“ 91 De Temmermann (2010) weist darauf hin, dass die antike Rhetorik empfiehlt, die familiäre, soziale und geographische Herkunft als loci a persona zur Personendarstel‐ lung zu nutzen. Koster (1980) 17-18 verweist diesbzgl. auf Cic. inv. 1,34-35, wo Hinweise auf die auch in sat. 1,4 und 1,6 stark betonte Erziehung und Herkunft zur Beschreibung der guten oder schlechten Lebensführung eines Menschen empfohlen werden. Cicero schmäht Piso bereits im ersten Absatz der Invektive In Pisonem für seinen color iste servilis und somit als (vermeintlichen) Abkömmling von Sklaven; s. dazu Koster (1980) 217, der auf S. 220 auch auf ein Fragment der Rede eingeht, in dem Pisos Mutter als Sklavin bezeichnet wird. Cicero selbst wiederum wird in der gegen ihn gerichteten (ps.-)sallustischen Invektive ebenfalls unmittelbar zu Beginn für seine nichtstadtrömische und nichtsenatorische Herkunft geschmäht (Ps.-Sall. In Tull. 1,2; s. dazu Koster 1980, 178-179). Suet. Aug. 4,2 berichtet, dass Antonius Augustus öffentlich als Nachfahre eines afrikanischen Urgroßvaters, der einfacher Händler gewesen sei, beleidigt habe (s. dazu Koster 1980, 145-146). Auch aus den Werken des historischen Horaz geht immer wieder hervor, welche Bedeutung der Abstammung eines Menschen beigemessen wurde, beispielsweise indem in 1,6,5-8 betont wird, wie außergewöhnlich es sei, dass Maecenas keinen großen Wert auf die Herkunft seiner Freunde lege, indem mehrfach preisend auf die Abstammung des Maecenas hingewiesen wird (z. B. 1,6,1-4; c. 1,1,1; 3,29,1) oder indem abwertende Bemerkungen über soziale Aufsteiger wiedergeben werden (epod. 4). In 1,6 wird insbesondere her‐ vorgehoben, welche Bedeutung die Herkunft eines Menschen für dessen öffentliche Wahrnehmung hat. Erwähnt werden Spott über (45-46) und Ressentiments gegen lassener Sklave oder nur ein temporärer Kriegsgefangener war. 89 Das gilt auch für die Größe seines Vermögens. 90 Entscheidend ist vielmehr, dass eine solche Herkunft im zeitgenössischen Kontext als minderwertig beurteilt wurde und sich somit als eine Ausprägung von Fallibilität im Sinne einer Unzulänglichkeit ansehen lässt. 91 50 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="51"?> Emporkömmlinge (5-6, 49-52), die ständige Konfrontation politisch ambitionierter Menschen mit der Frage nach ihrer Herkunft, mit der die Berechtigung zu politischem Handeln verknüpft wird (29-39), sowie freie Geburt als ein entscheidendes Kriterium für eine erfolgreiche politische Laufbahn (20-22). 92 Die Forschung hat sich bereits intensiv damit auseinandergesetzt. V. a. Zetzel (1980), Oliensis (1998) 17-63 und Gowers (2003) argumentieren: Der historische Autor Horaz präsentiert seine Autor-persona in 1,1 als außenstehenden Menschen, der in den Freundeskreis des Maecenas aufgenommen werden wolle, schildert in 1,3, 1,5, 1,6 und 1,9 das Verhältnis der Autor-persona zu dieser Gruppe, begründet und rechtfertigt in 1,6 ihre enge Beziehung zu Maecenas, und stellt sie in 1,9 und 1,10 als etabliertes Mitglied von dessen Umfeld dar. Mit Verweis auf Zetzel (1980) bezeichnet Freudenburg (1993) 198-200 diese Entwicklung als wichtiges Kriterium, an dem sich Struktur und Komposition des ersten Buches festmachen lassen. Zur Biographie des historischen Horaz s. Nisbet (2007). Im Folgenden soll der Blick nicht so sehr auf diesen sozialen Status und ge‐ sellschaftlichen Aufstieg des ‚Horaz‘ gerichtet werden, 92 sondern auf die Frage, wie ‚Horaz‘ die Erwähnung seiner sozial niedrigen und von der zeitgenössischen Gesellschaft als minderwertig angesehenen Herkunft nutzt, um seine Rolle als Satiriker zu modellieren. 2.2.3.1 Die Erziehung als Ursache der charakterlichen Integrität des ‚Horaz‘ ‚Horaz‘ kommt ab V. 65 auf seine eigene Person zu sprechen, indem er seinen Charakter (natura) mit einem außergewöhnlich schönen Körper (67: egregium corpus) vergleicht, auf dem vereinzelte Muttermale (67: inspersi naevi) zu finden sind (65-67). Zum einen führt er durch diesen Vergleich wie schon in 1,3 vor Augen, dass bei der Beurteilung eines Menschen harmlose Mängel und Defizite das Gesamturteil nicht wesentlich beeinflussen sollen, und trifft erneut eine Unterscheidung verschiedener Schweregrade an Fehlverhalten, indem er seine eigenen Schwächen und Fehler als vitia mediocria ac pauca (65) bezeichnet. Zum anderen zeigt er sich der Tatsache bewusst, dass man das Ideal eines fehlerfreien Menschen gar nicht erfüllen kann. Offen gibt ‚Horaz‘ deshalb auch hier zu, trotz der am Ende von 1,4 betonten Bemühungen noch „einige unbedeutende Schwächen und Fehler“ (65) zu haben. Bezogen auf seine Rolle als Satiriker heißt das: Von entscheidender Bedeutung ist für ihn in Übereinstimmung mit 1,3 und 1,4, dass er zwar Schwächen und Fehler habe, aber ein insgesamt rechtschaffenes Leben führe (66: natura alioqui recta); dazu habe ihn sein Vater befähigt, der hier wie schon in 1,4 als ein konservativer Mann dargestellt wird, der durch die Erziehung und Bildung seines Sohnes nicht so sehr seinen eigenen Aufstieg vorantreiben, 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 51 <?page no="52"?> 93 Zur Junktur vivo carus amicis s. S.-47 Anm.-79. 94 Avaritia und sordes lassen sich als Rückverweis auf 1,1 lesen, wo die Wörter avarus bzw. avere (1,1,94, 96, 103, 108) und sordidus (1,1,65, 96) mehrfach verwendet werden. Der Ausdruck mala lustra kann als Anspielung auf die in 1,2,30 gebrauchte Formulierung olens fornix verstanden werden. 95 1,6,65-84: atqui si vitiis mediocribus ac mea paucis / mendosa est natura, alioqui recta, velut si / egregio inspersos reprehendas corpore naevos; / si neque avaritiam neque sordis aut mala lustra / obiciet vere quisquam mihi, purus et insons / (ut me collaudem) si et vivo carus amicis: / causa fuit pater his. […] pudicum, / qui primus virtutis honos, servavit [sc. pater] ab omni / non solum facto, verum opprobrio quoque turpi. 96 Das Adjektiv ingenuus bezieht sich hier auf den sozialen Status. Wie Gowers (2012) 222-223 festhält, schwingt aber auch eine moralische Beurteilung mit: ingenuus „can mean either ‚free-born‘ (OLD s. v. 2) or ‚liberal, gentlemanly‘ (OLD s. v. 3) or both (cf. honestus, generosus, nobilis); it recurs at 21 (where H.’s lack of an ingenuus father is framed as a remote condition) and at 91 (linked with claros, where it is implied that Horace’s father was not ingenuus).“ 97 Ähnlich auch 1,9,44: [sc. Maecenas] paucorum hominum et mentis bene sanae. Mit Kiessling/ Heinze (1961) 150, Oliensis (1998) 38 und Gowers (2012) 294 sehe ich 1,9,44 sondern primär den Charakter seines Sohnes fördern wollte. ‚Horaz‘ führt es direkt auf seinen Vater zurück (71: causa fuit pater), dass er sich nicht der Habgier (68: avaritia), dem Geiz (68: sordes) und der sexuellen Ausschweifung (68: mala lustra) hingebe, sondern „auf lautere, anständige und liebenswerte Weise lebe“ (69-70: purus et insons […] et vivo carus amicis). 93 Als „vollkommen unbestechlicher (Sitten-)Wächter“ (81: custos incorruptissimus) habe sein Vater ‚Horaz‘ also gegen genau diejenigen moralischen Schwächen und falschen Verhaltensweisen gewappnet, die er andernorts tadelt, 94 und ihn so den Zustand moralischer Integrität bewahren lassen, der in V. 65-70 beschrieben und in V. 82 mit dem Adjektiv pudicus benannt wird. 95 Indem ‚Horaz‘ es wie schon in 1,4 direkt auf die Erziehung durch seinen Vater zurückführt, nur „einige unbedeu‐ tende Schwächen und Fehler“ zu haben, konnotiert er die Abstammung von diesem libertinus pater positiv. Indem er sagt, sogar von Vorwürfen schändlicher Lebensführung (84: opprobrium turpe) frei zu sein (82-84), präsentiert er seine Selbstdarstellung auch als Ansicht Dritter und will so Glaubwürdigkeit für seine Aussagen beanspruchen. Auch in der ersten Hälfte der Satire greift ‚Horaz‘ auf das Urteil eines anderen zurück, um seiner Inszenierung als Mensch, der nur harmlose Schwächen und Fehler hat, Glaubwürdigkeit zu verleihen. Mehrfach betont er, dass Maecenas keinen allzu großen Wert auf die Herkunft anderer Menschen lege, jedoch hohe moralische Anforderungen an potentielle Freunde stelle (7-8: referre negas quali sit quisque parente / natus, dum ingenuus; 96 50-51: te […] / cautum dignos assumere; 63: turpi secernis honestum). 97 Indem ‚Horaz‘ in 1,6 und auch in anderen Satiren immer wieder auf seine Freundschaft mit Maecenas zu sprechen kommt, 52 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="53"?> im Gegensatz zu Shackleton Bailey (2008) als direkte Rede des ‚Horaz‘ an, mit der er sich in eine Position versetzt, die derjenigen des sog. ‚Schwätzers‘ überlegen ist. 98 Auch in der Schilderung der ersten Begegnung mit Maecenas betont ‚Horaz‘, nur auf Grund seines Charakters in dessen Freundeskreis aufgenommen worden zu sein, um seiner Inszenierung dadurch Glaubwürdigkeit zu verleihen (1,6,52-64). Angesichts der Behauptung, man würde ihm den sozialen Aufstieg missgönnen (50: invidere), leitet ‚Horaz‘ die Freundschaft mit Maecenas ausdrücklich und ausschließlich aus seinem Charakter her (63-64: placui tibi, qui turpe secernis honestum, / non patre praeclaro sed vita et pectore puro). Vergil und Varius hätten ihn im Wissen um seinen Charakter mit Maecenas bekannt gemacht (54-55: nulla etenim mihi te fors obtulit. optimus olim / Vergilius, post hunc Varius dixere quid essem). Er selbst habe Maecenas bei ihrer ersten Begegnung lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass er aus niedrigen Verhältnissen stamme (58-59), sei dabei sogar in kindlich-verlegenes Stottern verfallen (56-57) und habe nur wenige unbeholfene Worte hervorgebracht: quod eram narro (60). Dass er Maecenas mit diesen Worten überzeugt hat, die nicht seinen sozialen Status oder sein dichterisches Können, sondern ausschließlich seinen Charakter beschreiben (so auch Oliensis 1998, 34; Yona 2018, 188), verdeutlicht ‚Horaz‘ durch die Aussage, dass er neun Monate später in dessen Freundeskreis aufgenommen worden sei (61-62). kann er seine moralische Integrität und somit seine satirische Kompetenz, die er in 1,3 und 1,4 ja unter anderem aus dieser Integrität ableitet, gewisser‐ maßen bestätigen: Würde er den moralischen Ansprüchen des Maecenas nicht genügen, könnte er sich nicht in dessen Umfeld verorten und als dessen Freund bezeichnen, wie er es beispielsweise in 1,3,63-66, in 1,5, hier in 1,6 und in 1,9 tut. Der wiederholte Hinweis auf die Freundschaft der Autor-persona ‚Horaz‘ zu Maecenas lässt sich dabei auch als Realitätsreferenz auf die Freundschaft des historischen Autors zum historischen Maecenas verstehen. Durch diese Realitätsreferenz wird ‚Horaz’‘ Inszenierung gegenüber einem Lesepublikum, das um die Freundschaft der historischen Personen wissen konnte, zusätzliche Glaubwürdigkeit verliehen. 98 2.2.3.2 Ein Tag im Leben des Satirikers ‚Horaz‘ Am Ende der Satire 1,6 stellt ‚Horaz‘ seine Herkunft auch in anderer Hinsicht als etwas dar, das ideale Rahmenbedingungen für seine Tätigkeit als Satiriker schafft. Vornehme Abstammung, so ‚Horaz‘, ziehe eine durch Geltungssucht motivierte politische Tätigkeit, noch mehr Erkundigungen nach der eigenen Herkunft, damit einhergehend vermehrte Missgunst (23-44) und insbesondere den von außen auferlegten Zwang nach sich, einen aufwändigen Lebensstil zu führen (100-111). ‚Horaz‘ behauptet, frei zu sein von dieser Belastung (99: onus molestum) und ein Leben fernab jeder politischen, geschäftlichen und gesellschaftlichen Ambition (51-52, 128-129) nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können (104-131). Damit suggeriert er, in seiner Dichtung keine 2.2 Die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ - Satiren 1 53 <?page no="54"?> 99 Gowers (2003) 80 betont, dass ‚Horaz‘ mehrere Verben verwendet, die dem Bereich des Klientelwesens zugeordnet werden können, seinen Tagesablauf aber als das genaue Gegenteil desjenigen eines typischen Klienten beschreibt. Gowers spricht von einem „re-routing of the language of clientela at every stage of the day: percontor, adsisto, mi‐ nistratur, sustinet, adstat, obeundus, iuvet, admonuit, interpellet, consolor.“ Zur Betonung dieser Unabhängigkeit in 1,6 s. auch Oliensis (1998) 32-36; Gowers (2012) 218-219, 244-245. 100 ‚Horaz‘ behauptet, sich alleine (112: solus) im öffentlichen Raum bewegen zu können, ohne einem konkreten Ziel nachzugehen (111-112: Quacumque libido est, / incedo; 113: pererro; 122: vagor). Er könne sich auf dem Forum, dem Circus und dem Marsfeld, also an Roms zentralen Orten der politischen, geschäftlichen und gesellschaftlichen Interaktion, aufhalten, ohne das Verhalten, das dort üblicherweise von öffentlich auftre‐ tenden Menschen erwartet wird, zeigen zu müssen, sondern sich nach Gemüsepreisen erkundigen, Wahrsager aufsuchen oder das Forum erst abends betreten (112-114). Er könne einen einfachen Haushalt führen, in dem einfache Kost serviert werde (114-118), ausschlafen (119-120, 122) und die freie Zeit zu Hause mit Lektüre oder Schreiben (an den Satiren) verbringen (123). Auch der Beginn von 1,9 legt nahe, dass ‚Horaz‘ den öffentlichen Raum als Materialsammlung für seine Dichtung nutzt. So widmet er sich in 1,9 auf der Via Sacra als zentraler Straße des Forum Romanum nicht der Politik oder Geschäften, sondern schlendert, wie er es gewohnt zu sein behauptet, tief in Beobachtungen und Dichtungen versunken umher (1,9,1-2). Zur Satire als städtischer Textsorte s. S.-60 Anm.-126. 101 Schlegel (2005) 55-56: „He could not be a satirist if he held Maecenas’s position and status. According to Horace’s construction of his poetic persona, the material simplicity of his life and his humble status are necessary conditions of satire, a ‚low‘ genre.“ Dass für das Funktionieren satirischer Texte ein niedriger Status ihrer Sprecher-Figur erforderlich sein kann, betonen Gowers (2003), bes. 56, 85; Plaza (2006) 53-57, 201-204. Ich argumentiere in Kap. 2.3.1, dass der soziale Aufstieg ‚Horaz‘ am Verfassen satirischer Texte scheitern lässt. Rücksicht auf die Befindlichkeiten anderer Menschen nehmen zu müssen, von deren Wohlwollen er abhängig wäre, würde er Ambitionen in politischer, geschäftlicher oder gesellschaftlicher Hinsicht hegen. Das lässt seine Kritik an anderen ehrlich und seine Selbstdarstellung authentisch wirken. Seine Unabhängigkeit betont ‚Horaz‘ auch durch die Schilderung seines Tagesablaufs (111-131): Gerade weil er keine bedeutenden Vorfahren habe, deshalb keinerlei politische Ambitionen hege und frei von den lästigen Pflichten eines Klienten sei, 99 könne er sich als eine Art Randfigur im öffentlichen Raum bewegen, die frei von allen Verpflichtungen menschliches Verhalten beobachten, so Material für die in 1,4 angesprochenen Reflexionen finden und Ziele für satirischen Spott ausmachen kann. 100 Seine niedrige Herkunft wird hier somit als Voraussetzung dargestellt, als Satiriker tätig sein zu können. 101 Indem ‚Horaz‘ seinen Alltag in Rom als einen Alltag beschreibt, der es ihm ermöglicht, satirische Beobachtungen anzustellen, und der zugleich auch Material für diese Beobachtungen liefert, kommt dem Treiben in Rom zentrale 54 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="55"?> 102 In 1,4 macht ‚Horaz‘ die Selbstreflexion im Privaten und im öffentlichen Raum zum Ausgangspunkt seiner Schriftstellerei, weist aber zeitgleich darauf hin, dass er in der Öffentlichkeit auch das Verhalten anderer beobachte und in seiner Dichtung verarbeite, der er in Mußestunden nachgehe. S. dazu S.-46. 103 Zum Setting von 2,3 s. S.-61 Anm.-133. 104 Zu 2,6 s. Kap. 2.3.1. 105 Oliensis (1998) 17-63 geht im Detail auf diese Veränderungen ein. Freudenburg (2021) 4 fasst sie zusammen: „Whereas the first book of the Sermones charts the poet’s movement toward establishing a new life for himself in Rome in the aftermath of Philippi, the second book describes him living a life that is, by now, five or six years further on, fully established: plush with creature comforts (a new villa in the Sabine hills, luxurious dinners, famous friends, etc.).“ Zum Geburtsdatum des historischen Horaz und den Datierungen der Satiren s. Nisbet (2007); Gowers (2012) 1-5; Freudenburg (2021) 11-12. 106 S. dazu S.-51 Anm.-92. 107 Oliensis (1998) 4-5, 41-63 argumentiert: Das Verhältnis des historischen Horaz zu Maecenas war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Buch 2 so etabliert, dass eine Rechtfertigung des sozialen Aufstiegs in der Dichtung des Autors vor dem zeitgenössischen Lesepublikum nicht mehr nötig war. Bedeutung zu. 102 Auf dem Land könnte er kaum glaubhaft über die Laster der Großstadt schreiben, wie auch in 2,3 zu erkennen ist: Auf dem Sabinum, auf dem die Satire 2,3 spielt, kritisiert er nicht andere, sondern wird selbst zum Ziel von Spott und Kritik. 103 Der in 1,6 geschilderte Alltag in Rom ist als Kontrastfolie auch für meine Interpretation der Satire 2,6 wichtig, in der ‚Horaz‘ ebenfalls ausführlich auf seinen Alltag in Rom eingeht, ihn aber als etwas beschreibt, das ihn als etabliertes Mitglied der römischen (Kultur-)Elite am Verfassen satirischer Dichtung scheitern lässt. 104 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 Die in Buch 2 (31/ 30 v. Chr.) geschilderte Lebens- und Schreibsituation der Autor-persona hat sich im Vergleich zu derjenigen, die in Buch 1 (36/ 35 v. Chr.) beschrieben wird, verändert. 105 In Buch 1 zeichnet ‚Horaz‘ seinen sozialen Aufstieg nach. 106 In Buch 2 hingegen wird dieser Aufstieg nur noch am Rande thematisiert, beispielsweise indem andere Figuren Vorwürfe gegenüber ‚Horaz‘ erheben, er eifere sozial Höhergestellten nach und zeige sich ihnen gegenüber unterwürfig (2,3,307-320; 2,7,32-35, 80-82) oder indem ‚Horaz‘ selbst sagt, dass seine Freundschaft mit Maecenas dazu geeignet sei, Neid zu erregen (2,1,74-78; 2,6,49). 107 ‚Horaz‘ präsentiert sich in Buch 2 als etabliertes Mitglied der römischen (Kultur-)Elite, beschreibt in 2,6 jedoch, wie ihn dieser soziale Aufstieg am Verfassen satirischer Dichtung scheitern lässt, da er als etabliertes 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 55 <?page no="56"?> 108 Zum monologischen Charakter von Buch 1 s. S. 31 Anm. 24. Formal sind folgende Satiren in Buch 2 Dialoge, in denen ‚Horaz‘ auftritt: 2,1 (mit Trebatius), 2,3 (mit Damasippus), 2,4 (mit Catius), 2,7 (mit Davus), 2,8 (mit Fundanius). In 2,2 referiert ‚Horaz‘ die direkte Rede eines Ofellus, in 2,6,77-117 eine längere direkte Rede eines Cervius. In 2,5, einem Dialog zwischen den mythologischen Figuren Odysseus und Tiresias, tritt er nicht in Erscheinung. Oliensis (1998) 51 bezeichnet diese in formaler Hinsicht überwiegend dialogische Sprechersituation als „distinctive feature of Horace’s second satiric collection“. Ähnlich Muecke (1993) 6-8; Plaza (2006) 23, 88-89, 168-169; Sharland (2010) 165-170; Harrison (2013) 153; Freudenburg (2021) 5-7. 109 Plaza (2006) 216 betont, dass in 2,7 nicht individuelle Schwächen und Fehler des ‚Horaz‘ angesprochen werden, sondern „his flaws qua satirist“ (Plazas Hervorhebung); ähnlich Muecke (1993) 212. Mitglied der (Kultur-)Elite Schwächen und Fehler anderer und seiner selbst nicht mehr auf die Art und Weise beobachten, darstellen und kritisieren kann, wie er es in Buch 1 getan hat. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden gefragt werden, welche Gründe für dieses Scheitern genannt werden, wie dieses Scheitern dargestellt wird und welche Folgen es auf die Form und den Inhalt sowie auf die Inszenierung der Autor-persona ‚Horaz‘ in den Satiren des zweiten Buchs hat. Denn neben den Veränderungen der Lebens- und Schreibsituation des ‚Horaz‘, die vor allem in 2,6 thematisiert werden, lässt sich eine weitere Veränderung beobachten: Im Gegensatz zum monologischen Buch 1 sind fast alle Gedichte in Buch 2 Dialoge, fünf davon zwischen ‚Horaz‘ und einer anderen Figur. 108 Mit 2,3 und 2,7 stellen zwei dieser dialogischen Satiren das Verhalten des ‚Horaz‘ ins Zentrum. Er tritt in den beiden Satiren zwar nicht als Hauptredner in Erscheinung, spricht also nur wenig über sich selbst, doch werfen ihm seine Dialogpartner Damasippus und Davus unterschiedliches Fehlverhalten vor. Dabei beziehen sich Damasippus und Davus mit ihren Vorwürfen auf Äußerungen, durch die sich ‚Horaz‘ in Buch 1 selbst um den Nachweis seiner satirischen Kompetenz bemüht hat, und stellen somit gerade diese Kompetenz in Frage. 109 Ich will in den Abschnitten 2.3.2 und 2.3.3 dieses Kapitels plausibel machen, dass ‚Horaz‘ in 2,3 und 2,7 nicht in einen ‚echten‘ Dialog mit den Figuren Damasippus und Davus tritt, sondern sie als Dialogpartner funktionalisiert, um sich aus einer Außenperspektive heraus zu inszenieren. Durch die dialogische Gestaltung beider Satiren kann er die Möglichkeit eigenen Fehlverhaltens eingestehen, ohne dieses Fehlverhalten ausdrücklich und im Detail zugeben zu müssen. Durch die Figurenmodellierung und durch die jeweilige Gestaltung der dialogischen Satiren 2,3 und 2,7 wird die Mehrheit der gegen ‚Horaz‘ gerichteten Anschuldigungen jedoch als falsch zurückgewiesen. Als Autor-persona kann 56 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="57"?> 110 2,6 hat als „Krone der Horazischen Satirendichtung“ (Kiessling/ Heinze 1961, 298) viel Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren. Ich beschränke mich auf ausgewählte Aspekte der V. 1-76 und verweise an passender Stelle auf weiterführende Literatur. 111 Zwar dankt ‚Horaz‘ den Göttern (4: di; 5: Maia nate), doch stehen diese nur stellvertre‐ tend für Maecenas, so Freudenburg (2021) 226-227, 232-239. Der Dank an die Götter soll davon abhalten, Maecenas’ Schenkung als eine Art ‚Bezahlung für Auftragsdichtung‘ anzusehen, so Oliensis (1998) 46-51; Yona (2018) 233-235. 112 Der Duden, s. v. ‚prekär‘ definiert das Adjektiv: „in einer Weise geartet, die es äußerst schwierig macht, […] aus einer schwierigen Lage herauszukommen; schwierig, heikel, misslich“. 113 Freudenburg (2006) 104: The „speaker seems to have ‚arrived‘ and to have nothing much to complain about. And that makes him immediately problematic as a satirist. […] satire’s speakers are overwhelmingly unhappy with the political and social worlds that surround them, and they have much to complain about in their personal live as well.“ 114 Zu dieser Form von Scheitern s. Neckel (2021) 908: „Wer bestimmte Handlungsziele verfehlt, wird mit einzelnen Fehlschlägen konfrontiert. […] Scheitern heißt dann, dass in bestimmten Sinnbereichen des Lebens die Handlungsmöglichkeiten enden.“ 115 S. dazu Kap. 2.2.2 und 2.2.3. 116 In V. 1-19 beschreibt ‚Horaz‘ sein Leben auf dem Land, dem er in V. 20-65 die Schilderung seines Lebens in der Stadt gegenüberstellt. Ich fasse V. 1-19 deshalb als er so das Lesepublikum dazu auffordern, diese Anschuldigungen für nicht zutreffend zu erachten, ohne expliziten Widerspruch zu erheben und dadurch Gefahr zu laufen, unsympathisch und unglaubwürdig zu wirken. 2.3.1 Das Scheitern des ‚Horaz‘ als Satiriker - sat. 2,6 Zu Beginn der Satire 2,6 110 schildert ‚Horaz‘ das Sabinum in überschwänglichem Ton und dankt für dessen Schenkung (1-5). 111 Dabei erweckt er den Eindruck, ‚angekommen‘ zu sein und nichts zu haben, über das er sich beklagen könnte. Das versetzt ihn in eine prekäre Situation als Satiriker. 112 Denn als solcher muss er unzufrieden mit seiner Umwelt sein, um Ziele für Spott und Kritik zu finden. 113 Der soziale und finanzielle Aufstieg, den das Sabinum symbolisiert, lässt ‚Horaz‘ als Satiriker also in dem Sinne scheitern, dass seine Handlungsmöglichkeiten in einem bestimmten Sinnbereich seines Lebens enden: Auf seinem Landgut findet er keinen Stoff, um über die Laster der Großstadt zu dichten. 114 Er muss sich deshalb fragen, was er auf dem Sabinum zum Inhalt satirischer Dichtung machen kann (16-17: Ergo ubi me in montis et in arcem ex urbe removi, / quid prius illustrem satiris Musaque pedestri? ). Vor dem Hintergrund meiner Ausführungen zu den Satiren 1,4 und 1,6 115 wird deutlich, dass auch das Leben in Rom, wie ‚Horaz‘ es in 2,6,20-65 beschreibt, ihn zum Scheitern als Verfasser satirischer Dichtung verurteilt. 116 Auf Grund 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 57 <?page no="58"?> einen Sinnabschnitt auf und weiche damit von der Gliederung der mir bekannten Editionen und Forschungsbeiträge ab. Lediglich die Loebedition von Fairclough (1970) setzt einen Einschnitt nach V. 19. Einen Absatz nach V. 15 fügen ein: Shackleton Bailey (2008); Muecke (1993); Freudenburg (2021). Courtney (2013) 150 stellt die Verse in die Reihenfolge 16, 18, 19, 17, 20 um. 117 Diese neuen Formen nehme ich mit der Analyse von 2,3 und 2,7 in den Blick. S. dazu Kap. 2.3.2 und 2.3.3. 118 Der folgende Absatz basiert auf Muecke (1993) 194-195; Oliensis (1998) 46-47; Freu‐ denburg (2021) 225-232. 119 Bereits 1,9 zeigt, welche Folgen das Betreten des Forums zu üblichen Geschäftszeiten hat: ‚Horaz‘ stellt auch dann satirische Beobachtungen und Überlegungen an, wird aber vom sog. ‚Schwätzer‘ an ihnen gehindert und muss am Ende vor Gericht erscheinen. 120 Es finden sich mehrere Verben der Bewegung (23: rapere; 24 und 29: urgere; 37: reverti) und Zeitangaben (20: Matutinus pater; 24: ne prior; 34: ante secundam [sc. horam]; 37: hodie). Reckford (1997) identifiziert eine Reihe von Anspielungen auf die jeweilige Uhrzeit bzw. Stundenzahl, anhand derer sich der in 2,6 geschilderte Tagesablauf vom frühen Morgen über das Ende des ‚Arbeitstages‘ hin zum ‚Feierabend‘ auf dem Marsfeld gliedern lässt. des sozialen Aufstiegs und der Zugehörigkeit zum Umfeld des Maecenas kann er literarisch nicht mehr auf dieselbe Weise tätig sein, wie er es in 1,4 und 1,6 schildert. Mit dieser Interpretation von 2,6 lässt sich auch erklären, dass Buch 2 überwiegend dialogisch gestaltet ist und damit andere Formen satirischen Schreibens Anwendung finden als in Buch 1. 117 Nach der Frage, was er auf dem Land zum Inhalt satirischer Dichtung machen kann (16-17), kommt ‚Horaz‘ in 2,6 auf seinen Alltag in Rom zu sprechen. 118 Anders als er es in 1,6 ausführlich schildert, behauptet er, jetzt in der Stadt nicht mehr ohne Ziel herumschlendern (1,6,111-113), ausschlafen (119-120) sowie lesen oder schreiben (1,6,122-123) zu können, sondern sich mit Zeitdruck und vielfältigen Verpflichtungen konfrontiert (33: aliena negotia centum) zu sehen: Er berichtet von frühmorgendlichen Tätigkeiten auf dem Forum (23-24), das er in 1,6,113-114 erst abends und ohne sich typisch forensischen Aktivitäten zu widmen betritt. 119 Von dort geht es zur Villa des Maecenas auf dem Esquilin (29-34), wo er aufgefordert wird, wieder aufs Forum zurückzukehren (34-37). Daraufhin geht es zurück auf den Esquilin, wo er Maecenas um eine Unterschrift bitten soll (38-39). Zu guter Letzt begibt sich ‚Horaz‘ mit Maecenas ins Theater und aufs Marsfeld (48-49). Dieses Hin und Her ist von ständigem Zeitdruck geprägt. 120 Anders als in 1,6,112 (incedo solus) präsentiert sich ‚Horaz‘ in 2,6 als stets von Menschen umgeben: Er muss vor Gericht erscheinen (23-26) und sich den Weg durch die Menge bahnen (28-30), er wird von Bittstellern umringt (33-35, 38-39, 50-58) und von Magistratskollegen um Anwesenheit gebeten (36-37). Zudem berichtet er, sich mit Maecenas an stark frequentierten Orten wie dem Theater oder dem Marsfeld aufzuhalten (48-49). 58 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="59"?> 121 Ich gehe davon aus, dass folgende Verse verschiedenen Interlocutores in den Mund gelegt werden: 23-24, 29-31, 34-35, 36-37, 38-39, 49, 51-55a, 55b-56. 122 Mit Kiessling/ Heinze (1961) 308-309 und Muecke (1993) 204 lese ich das überlieferte perditur anstelle von deperit, einer Konjektur Müllers, die Shackleton Bailey (2008) übernimmt. 123 In 1,6,111-131 verwendet ‚Horaz‘ mit Ausnahme von V. 123 (unguor olivo) nur aktive Verbformen zur Beschreibung seiner Aktivitäten. 124 S. dazu S.-61 Anm.-133. Im gesamten hier zu besprechenden Abschnitt illustriert ‚Horaz‘, wegen seines jetzt stressigen Alltags keine Möglichkeit mehr zu haben, sich in der Stadt Rom alleine mit der Rezeption und Produktion von Literatur zu befassen (so noch 1,6,122-123, 128) oder im Stillen Beobachtungen anzustellen (so noch 1,4,133-139): Neben Maecenas (44-45) legt er im hier zu besprechenden Abschnitt acht weiteren Interlocutores direkte Reden in den Mund und betont damit, von allen Seiten in Beschlag genommen und den ganzen Tag über von ganz verschiedenen Personen angesprochen zu werden. 121 Ferner präsentiert er sich nicht mehr als selbstbestimmt, sondern bis auf V. 32 als passives Objekt der Handlungen oder als Adressat der direkten Reden anderer. Sein Hin- und Herlaufen wird durch unpersönliche Ausdrücke (26: ire necesse est; 33: ventum est) und/ oder als Konsequenz der Aktionen anderer dargestellt (23: me rapis; 35: Roscius orabat; 36-37: scribae […] orabant). Auch im Fazit des Abschnitts ist er (Dativ-)Objekt einer passivischen Konstruktion (59: perditur 122 haec inter misero lux). 123 Im Gegensatz zu Buch 1 schildert ‚Horaz‘ sein Leben in der Stadt hier also nicht als Ausgangspunkt und Materialsammlung für Beobachtungen anderer, sondern als etwas, das diese Beobachtungen und somit auch das aus ihnen resultierende Verfassen satirischer Dichtung verhindert. ‚Horaz‘ nennt sich angesichts dieser Situation „unglücklich“ (59: miser), bezeichnet den Aufenthalt in Rom als Verschwendung (59: perditur […] lux) und wünscht sich aufs Land, wo er sich Literatur und Muße widmen kann (59-64). Das Sabinum als zu imaginierendes Setting der Satire 2,3, 124 die Beschreibung des Landguts in 2,6,1-3 sowie die Nacherzählung eines dort abgehaltenen Gast‐ mahls in 2,6,65-117 erlauben es, die Erfüllung dieses Wunsches anzunehmen. Eine solche Wunscherfüllung versetzt ‚Horaz‘ jedoch in eine prekäre Situation: Sozialer Aufstieg, Freundschaft zu den führenden Männern des Staats, literari‐ scher Erfolg und finanzielle Sicherheit sind aus Sicht eines jeden Aufsteigers grundsätzlich wünschenswert. Auch ‚Horaz‘ bestätigt das, indem er am Beginn von 2,6 für die Schenkung des Sabinums dankt und seine Stellung im Umfeld des Maecenas als überaus angenehm bezeichnet (32: hoc iuvat et melli est, non 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 59 <?page no="60"?> 125 Oliensis (1998) 46: „Horace is secretly delighted, he confesses, at being thus recognized and recognizable.“ Ähnlich Muecke (1993) 200. Freudenburg (2021) 24 bezieht V. 32 auf „H.’s harried efforts on Maecenas’s behalf, as opposed to the unpleasant buissness that is loaded onto him by others.“ 126 Zur Verssatire als städtischer ‚Gattung‘ s. Braund (1992) 2-3 mit Anm. 7; Schäfer (2001); Lorenz (2017) 27-28; Larmour (2018). Die Abwesenheit von Rom ist auch für die literarische Tätigkeit des verbannten ‚Naso‘ hinderlich, jedoch aus anderen Gründen: Er behauptet, in Tomi auf keine literarischen Werke anderer Autoren zurückgreifen und seine Dichtung keinem literarisch sachverständigen Publikum präsentieren zu können. S. dazu S. 129 mit Anm. 186-190. ‚Seneca‘ wiederum stellt den Rückzug aus der (stadtrömischen) Öffentlichkeit als äußerst fruchtbar für seine literarischen Arbeiten dar. S. dazu Kap. 4.2.2.1 und 4.2.2.3. 127 Stellenangaben dazu S.-59 Anm.-121. 128 Zu diesem Titel s. S.-25 Anm.-1. 129 Zu Bautätigkeit als Ziel satirischer Luxuskritik s. Muecke (1993) 165; Freudenburg (2021) 169. mentiar). 125 Doch haben diese an sich positiv konnotierten Veränderungen für den Satiriker ‚Horaz‘ auch negative Aspekte, da sie ihn am Verfassen satirischer Texte hindern. Denn auf Grund seiner neu erworbenen Stellung ist er in einer Art Teufelskreis gefangen: Im Rom, wie er es in 2,6 schildert, hat ‚Horaz‘ schlichtweg keine Zeit und Gelegenheit, als Satiriker zu wirken. Die in 1,6 gezeigten Perspektiven, in der Stadt mit Muße literarisch tätig zu sein und satirische Dichtungen zu verfassen, werden zurückgenommen. Auf dem Land findet er jedoch keinen Stoff für die ‚städtische‘ Gattung, die er bedient. 126 Im Rückblick wird so auch die positive Umdeutung seines sozialen Status als libertino patre natus in 1,6 bestätigt: Eine niedrige gesellschaftliche Stellung, die keine Verpflichtungen mit sich bringt, ist vorteilhaft für einen Satiriker, sozialer Aufstieg hingegen hinderlich. All das resultiert in 2,6, stärker aber noch in 2,3 und 2,7 in einem veränderten Darstellungsmodus. Zwar ist 2,6 der einzige Monolog in Buch 2. Doch lässt ‚Horaz‘ in der ersten Hälfte der Satire eine Reihe anderer Sprecher zu Wort kommen, durch deren Reden er inszeniert wird, 127 und gibt in der zweiten Häfte eine Fabel über eine Land- und Stadtmaus als direkte Rede eines Cervius wieder. Auch in den anderen dialogischen Satiren des zweiten Buchs tritt er nicht als Hauptredner in Erscheinung. Insbesondere die zweite Hälfte von 2,6 lässt auch eine inhaltliche Verschiebung erkennen. Während des in V. 65-117 beschriebenen Gastmahls auf dem Sabinum entsteht ein Tischgespräch, das mit sermo, also mit dem wohl ursprünglichen Titel der Satiren benannt wird. 128 Als Inhalt dieses sermo werden jedoch keine satirischen Themen genannt (71: -sermo oritur, non de villis domibusve alienis), 129 sondern die Diskussion über 60 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="61"?> 130 Freudenburg (2006) identifiziert im gesamten Verlauf von 2,6 Vorausdeutungen auf die Carmina und spricht im gleichnamigen Aufsatz von Horaz’ „Playing at Lyric’s Boundaries“. Er verweist dazu auf den „elevated tone“ (S. 247) in V. 59-64, auf den Umstand, dass ‚Horaz‘ in 2,6 zum ersten und einzigen Mal in den Satiren in der Rolle des Gastgebers in Erscheinung tritt, die er in den Carmina sehr häufig einnimmt, sowie auf die Beschäftigung mit veterum libri (V. 61), die Freudenburg als griechische Lyrik versteht. Ähnlich Muecke (1993) 194, der zufolge 2,6 geprägt ist von einer „series of oppositions or tensions that are repeatedly explored in […] later works, the Odes and the Epistles: city/ country; political/ private; civic duty/ leisured uninvolvement (otium); Stoicism/ Epicureanism; Maecenas’s luxurious townhouse/ the Sabine estate; the world/ the individual.“ 131 Mayer (1994) 39 fasst den Inhalt der Epistulae wie folgt zusammen: „If we want a comprehensive description of the central issue of the collection it would be summed up in the phrase recte vivere“ (epist. 1,4,12; 1,8,3-12; 1,16,17, 21). Die Autor-persona bestimmt die Themenwahl in epist. 1,1,10 wie folgt: quid verum atque decens curo et rogo et omnis in hoc sum. 132 Cic. ad fam. 7,23, Att. 12,29, 33 und Iuv. 8,185 erwähnen einen Bankrott gegangenen Antiquitätenhändler und Immobilienmakler mit dem Namen Damasippus. S. dazu Yona (2018) 269 mit Anm. 52. Ich versuche nicht, die in 2,3 auftretende Figur Damasippus mit einer historischen Person zu identifizieren, sondern sehe Damasippus als rein literarische Figur an. 133 Das Sabinum wird nicht als Handlungsort genannt, in der Forschung aber einhellig als dieser identifiziert. S. dazu Muecke (1993) 130; Sharland (2010) 241 mit Anm. 33; Yona (2018) 279 mit Anm.-73; Freudenburg (2021) 107. ausdrücklich ethisch-philosophische Themen (72-76: malum; virtus; beatus; amicitiae; rectum; natura boni; summum [sc. bonum]). So lassen der soziale Aufstieg und die unter anderem darauf gründenden Aufenthalte auf dem Land ‚Horaz‘ in dem Sinne scheitern, dass sie ihn be‐ stimmter Handlungsmöglichkeiten berauben, genauer gesagt: der Möglichkeit, wie gewohnt satirische Texte zu verfassen. Versteht man es als Folge dieses Scheiterns, dass er sich neuen literarischen Formen und Inhalten zuwendet, 130 schafft sich ‚Horaz‘ gerade durch diese Zuwendung aber wiederum auch neue Handlungsmöglichkeiten, beispielsweise indem er die in 2,6,72-76 genannten ethischen Fragestellungen zum Inhalt vieler seiner Epistulae macht, die ebenfalls als auf dem Land verfasst zu denken sind. 131 2.3.2 ‚Horaz‘ aus der Perspektive des unqualifizierten Kritikers Damasippus - sat. 2,3 Die Satire 2,3 ist als Dialog zwischen ‚Horaz‘ und der Figur Damasippus gestaltet. 132 Das Setting geht aus den ersten Versen hervor: Beide befinden sich auf dem Sabinum. 133 Auf die Frage, was Damasippus dort zu suchen habe, bietet 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 61 <?page no="62"?> 134 Freudenburg (2021) 107-110 zufolge ist er ‚Horaz‘ nachgereist, um ihn durch einen stoischen Lehrvortrag vor falschem Verhalten zu bewahren. Freudenburg identifiziert Damasippus als den bei Cicero erwähnten Antiquitätenhändler und erwägt deshalb auch, dass er das Sabinum ausstatten solle und deshalb auf Wunsch von ‚Horaz‘ hin anwesend sei. Oliensis (1998) 53 spekuliert, Damasippus sei auf eine Einladung zum Abendessen aus und erhoffe sich vielleicht sogar, eine Position als ‚Hausphilosoph‘ bei ‚Horaz‘ zu erhalten. 135 Sharland (2010) 228-234 nennt die Figur Damasippus „Stertinius-Damasippus“ bzw. „Damasippus-Stertinius“, um auszudrücken, dass trotz der Behauptung in V. 33-34 nicht eindeutig ist, welche Aussagen von Damasippus selbst und welche von Stertinius stammen. 136 Zu diesem stoischen Paradox (omnem stultum insanire) s. z. B. Cic. parad. 27-32; Tusc. 3,7-11; Ronnick (1991), bes. 120-125. Ich gehe nicht näher auf dieses Paradox und den Lehrvortrag des Stertinius ein. S. dazu Bond (1987) und (1998); Sharland (2010) 225-260; Courtney (2013) 136-239; Yona (2018) 269-285. 137 Zwar wendet sich Damasippus an ‚Horaz‘, doch ist der Vortrag nicht an ihn als Adressaten angepasst, so Evans (1978) 307; Plaza (2006) 215; Yona (2018) 284. Zur komplexen Adressatensituation s. Sharland (2010) 225-260: Der historische Autor schreibt für das Lesepublikum einen Dialog zwischen ‚Horaz‘ und Damasippus, in dem die Figur Damasippus einen Vortrag wiedergibt, den sie von Stertinius gehört zu haben behauptet. Damasippus und ‚Horaz‘ adressieren sich als Dialogpartner gegenseitig, ursprünglicher Adressat des Stertinius-Vortrags war Damasippus, der Adressat des Vortrags, den Damasippus wiedergibt, ist Horaz‘, Adressat der gesamten Satire ist das Lesepublikum. Zu den Adressaten der Satiren s. Braund (1996) 52-59; McNeill (2001); Yona (2018) 5-7. 138 Vor allem das Ende hat wenig Aufmerksamkeit erfahren, wie z. B. die auffallend knappen Kommentare von Kiessling/ Heinze (1961), Muecke (1993) und Freudenburg (2021) zeigen. Letzterer ist auch ein anschauliches Beispiel für die häufige Vernachläs‐ sigung der Autor-persona: Freudenburg nutzt fast die Hälfte der Einleitung seines der Text keine Antwort. 134 Das stützt meine im Folgenden näher auszuführende These, dass diese Figur vor allem am Anfang und am Ende der Satire eingesetzt wird, um eine Außensicht auf die Autor-persona ‚Horaz‘ zu konstruieren. Die bisherige Forschung hat sich mit V. 41-295 vor allem auf den mit Abstand längsten Teil der Satire konzentriert, in dem Damasippus in Form eines Monologs einen Lehrvortrag des Stoikers Stertinius wiedergibt, wörtlich, wie er behauptet (33-34): 135 Stertinius, so Damasippus, habe ihm einen Vortrag über das stoische Paradox gehalten, dass jeder außer der Weise verrückt sei. Das, so will Damasippus zeigen, treffe auch auf ‚Horaz‘ zu (32: insanis et tu stultique prope omnes). 136 Während Damasippus den Stertinius-Vortrag wiedergibt, bezieht er sich jedoch nicht auf ‚Horaz‘ als sein direktes Gegenüber, so dass die beiden nur am Anfang und am Ende der Satire einen Dialog führen (1-32, 296-326) und nur dort über die Fallibilität des ‚Horaz‘ sprechen. 137 Die folgende Analyse beschränkt sich deshalb auf diese Teile der Satire. 138 62 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="63"?> Kommentars zu 2,3, um die Figur Damasippus mit dem bei Cicero erwähnten Dama‐ sippus zu identifizieren und dessen Biographie zu skizzieren (S.-107-110). 139 Muecke (1993) versteht membranae als „notebooks in codex form for work in progress“, so auch Kiessling/ Heinze (1961) 218. Freudenburg (2021) 113-114 hingegen versteht sie als Pergament, auf das ein ‚druckreifes‘ Werk übertragen wird. Beide Möglichkeiten betonen den Vorwurf der Unproduktivität: ‚Horaz‘ brauche nicht einmal ‚Notizpapier‘ (Kiessling/ Heinze und Muecke) oder bringe kein Werk zu Ende und brauche deshalb kein Pergament (Freudenburg). 140 Der Ausdruck nil dignum sermone (4) lässt sich einerseits als Anspielung auf den Titel Sermones verstehen, andererseits als „wert, darüber zu sprechen“. S. dazu Bond (1987) 4; Sharland (2010) 246 mit Anm. 43; Freudenburg (2021) 114. Ich beziehe den Ausdruck dignum promissis (5) auf Buch 2 der Satiren: Entgegen seiner Ankündigung bringe ‚Horaz‘ das Werk nicht voran. 141 Zur Kritik an der Vielschreiberei (des Lucilius) s. S. 43 Anm. 63. 1,4,9-13 und 1,10,67-72 betonen, welche Bedeutsamkeit ständige Korrektur und ständiges Überarbeiten für die Produktion ästhetisch ansprechender Literatur haben. Da Damasippus als Vorwurf formuliert, was ‚Horaz‘ in den programmatischen Satiren 1,4 und 1,10 als Voraussetzung für das Verfassen guter Dichtung beschreibt, werden die Satiren gegen Damasippus’ Willen als ästhetisch anspruchsvolle Dichtung dargestellt, so Freudenburg (2001) 113. 2.3.2.1 Damasippus als unqualifizierter Kritiker: Der Vorwurf literarischer Unproduktivität Die Satire 2,3 beginnt damit, dass Damasippus ‚Horaz‘ unvermittelt anspricht und ihm vorhält, zu wenig zu dichten: Er brauche wenig ‚Papier‘, da er zu selten schreibe oder bereits Geschriebenes wieder ausradiere und faul sei (1-2: Sic raro scribis ut toto non quater anno / membranam poscas, scriptorum quaeque retexens; 3: vini somnique benignus). 139 Deshalb erschaffe er nichts, was der Bezeichnung sermo würdig wäre (4: nil dignum sermone canas), ja bringe überhaupt keine geplanten literarischen Arbeiten zu Stande (5-6: ergo / dic aliquid dignum promissis: incipe. nil est). 140 Hinzu komme, dass er ausgerechnet an den Saturnalia, deren Treiben in der Stadt eine reiche Materialsammlung für seine Dichtung bieten würde, aufs Land geflohen sei (4-5: at ipsis / Saturnalibus huc fugisti) und sich so seiner Profession als Satiriker bewusst entzogen habe. Mit diesen Aussagen entlarvt sich Damasippus als unqualifizierter und deshalb unglaubwürdiger Kritiker. Er widerspricht sich selbst (3: vini […] benignus; 5: sobrius), heißt genau die Art literarischen Arbeitens gut, die in den Programmsatiren 1,4 und 1,10 bemängelt wird, und lehnt genau das ab, was dort als ein entscheidender Faktor für das Verfassen guter Dichtung angeführt wird. Denn Damasippus fordert zur Vielschreiberei auf und macht sich darüber lustig, dass ‚Horaz‘ seine Gedichte beständig korrigiert und überarbeitet (1-2). Als Ursache dafür, dass ‚Horaz‘ wenig dichtet, sieht er also gerade nicht genaues Arbeiten, sondern Faulheit an. 141 Er offenbart seine Unkenntnis auch, indem er 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 63 <?page no="64"?> 142 Freudenburg (2006) 108 mit Anm. 9 hält fest: Für den Vorgang des Dichtens wird in den Satiren das Verb ludere verwendet (1,4,138-139; 1,10,36; ähnlich Lucilius: ludus ac sermones in 1039W=1039M) oder Ausdrücke, die die ‚handwerkliche‘ Arbeit des Dichtens hervorheben (1,4,40: concludere versum; 1,10,46 und 74: scribere; 2,1,3: componere). Freudenburg versteht die Verwendung von canere als Vorausdeutung des historischen Autors auf die Carmina. 143 Ähnlich Bond (1998) 106; Sharland (2010) 256-258. Auch Lucilius werden in den Epistulae morales des Öfteren Vorwürfe oder zumindest kritische Fragen an ‚Seneca‘ in den Mund gelegt, die ‚Seneca‘ zum Anlass nimmt, über seine Fallibilität zu sprechen. Im Gegensatz zu Damasippus wird Lucilius jedoch immer als qualifizierter Gesprächs‐ partner dargestellt, dem nicht an der Kritik ‚Senecas‘, sondern am eigenen ethischen Fortschritt gelegen ist und der sogar zur kritischen Überprüfung der Aussagen ‚Senecas‘ aufgefordert wird. S. dazu S.-144 mit Anm.-33. 144 Auch der Vorwurf geringer literarischer Produktivität wird gewissermaßen performativ widerlegt: 2,3 ist die mit Abstand längste Satire beider Bücher und das zweitlängste Gedicht des historischen Autors Horaz überhaupt. Oliensis (1998) 56 nennt diesen Umstand „one of Horace’s best jokes“. zur Bezeichnung des Dichtens an den Satiren das Verb canere verwendet, das in der Regel nur für ‚höhere‘ Gattungen benutzt wird. 142 Zwar tritt ‚Horaz‘ nicht ausdrücklich als Verfasser von 2,3 in Erscheinung. Er ist aber dennoch als Autor der Satiren und somit auch als Autor des vorliegenden Dialogs identifizierbar. Denn Damasippus bezeichnet ihn am unmittelbaren Beginn der Satire nicht nur explizit als Dichter, sondern stellt ihn durch die Aussage, er bringe nichts zustande was der Bezeichnung sermo würdig wäre (4), auch als Verfasser satirischer Dichtung dar, so dass er als Verfasser der bisherigen Satiren identifiziert werden kann. Als solcher lässt er sich durch den Mund seines Dialogpartners Damasippus schriftstellerisches Versagen und Müßiggang vorhalten, verteidigt sich aber zugleich gegen dessen Unterstellungen, indem er ihn von Beginn an als unqualifizierten und damit auch als unglaubwürdigen Kritiker inszeniert und so auch all seine kommenden Anschuldigungen als unglaubwürdig darstellt. 143 Die Unterstellung, er scheitere daran, seiner Aufgabe als Satiriker nachzu‐ kommen, und er entziehe sich dieser Aufgabe deshalb bewusst durch den Aufenhalt auf dem Sabinum, widerlegt ‚Horaz‘ im Folgenden performativ, indem er erwidert, die Götter mögen Damasippus mit einem Barbier beschenken (16-17: Di te, Damasippe, deaeque / verum ob consilium donent - tonsore! ): 144 Da Damasippus’ vorausgehende Warnungen und Ratschläge gerade nicht der Wahrheit entsprechen, soll er sich seinen Bart abrasieren und nicht mit Hilfe seines äußeren Erscheinungsbildes vorgeben, ein Philosoph zu sein. Durch diese ironische und spöttische Bemerkung zeigt ‚Horaz‘: Ohne sein Gegenüber näher zu kennen, sieht er, dass dieser sich als Intellektueller gefällt, dass er seinen 64 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="65"?> 145 Damasippus antwortet, dass er sich um die Angelegenheiten anderer kümmere, seit er Bankrott gegangen sei und Stertinius ihn durch seinen Lehrvortrag vor dem Suizid bewahrt habe (18-40). In Kombination mit seinem folgenden moralisierenden Monolog offenbart er damit eine grundlegend andere Einstellung als ‚Horaz‘: Er will keine konstruktiven Ratschläge geben oder eine Verbesserung seiner selbst und/ oder anderer herbeiführen, sondern ad hominem kritisieren. Denn er sieht die Unterweisung durch Stertinius primär als Mittel an, um Angriffe mit gleicher Münze heimzahlen zu können (296-299). Durch die Inszenierung des Damasippus führt ‚Horaz‘ also vor, wie Kritik nicht geäußert werden soll, so Kiessling/ Heinze (1961) 215-216; Bond (1987) 3; Yona (2018) 278-279. Zu Unterschieden der Schreibbzw. Sprechweisen von Damasippus und ‚Horaz‘ s. Sharland (2010) 247-253; Yona (2018) 280-284. 146 Sharland (2010) 239-240, 246 schlägt vor, dass ‚Horaz‘ während des Vortrages von „Professor Snore“ (Stertinius) eingeschlafen sei und deshalb über so lange Zeit hinweg nichts sage. 147 2,3,301-302: qua me stultitia, quoniam non est genus unum, / insanire putas? ego enim videor mihi sanus? ; 305-307: Stultum me fateor, liceat concedere veris, / atque etiam insanum. tantum hoc edissere, quo me / aegrotare putes animi vitio? 148 Damasippus bzw. Stertinius benutzen folgende Ausdrücke dem Inhalt des Vortrags entsprechend sehr häufig: stultus/ stultitia in V. 32, 43, 54, 158, 159, 210, 221, 225, 276; Bart - wie er wenige Verse später selbst zugibt - nur auf Anraten des Stertinius trägt (34-35), und dass er dadurch eine Rolle einzunehmen versucht, die er nicht qualifiziert ausfüllen kann. ‚Horaz‘ benennt diesen Umstand mit wenigen Worten, nimmt ihn pointiert aufs Korn und entkräftet so die Behauptung, er scheitere als Satiriker. Auch seine anschließende Erkundigung, woher Dama‐ sippus ihn so gut kenne (17-18), ist ironischer Spott, da Damasippus’ Aussagen ja gerade nicht zutreffen. Dass der Verspottete das nicht erkennt und ernsthaft auf diese Frage antwortet, verleiht seiner Inszenierung als unverständiger Mensch und damit auch der Falsifizierung seiner Aussagen Nachdruck. 145 2.3.2.2 Damasippus’ Zweifel an der satirischen Kompetenz des ‚Horaz‘ Nach dieser Eröffnungspartie gibt Damasippus den Lehrvortrag des Stertinius in einem langen Monolog wieder, so dass ‚Horaz‘ erst wieder ab V. 300 mit einer direkten Rede in Erscheinung tritt. 146 Erneut macht er sich dort über Damasippus lustig und nimmt so eine ihm überlegene Position ein: Er spricht ihn auf Grund des vorausgegangenen Vortrags ironisch als Stoiker an und erinnert ihn beinahe hämisch an seinen wirtschaftlichen Bankrott (300). Die Nachfragen des ‚Horaz‘, in welcher Hinsicht er selbst ‚verrückt‘ sei, das heißt an welchen moralischen Schwächen und Fehlern er leide, sind also keine ernsthafte Erkundigung (301-302, 305-307). 147 Vielmehr dienen sie dazu, Damasippus zu verspotten, indem sich ‚Horaz‘ mehrerer Ausdrücke bedient, die dieser bei der Wiedergabe des Stertinius-Vortrages verwendet hat. 148 Sie zeigen auch, dass 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 65 <?page no="66"?> insanire/ insanus/ sanus in V. 32, 40, 44, 48, 52, 63, 64, 67, 74, 81, 102, 120, 128, 130, 134, 138, 158, 159, 160, 184, 197, 201, 218, 221, 225, 241, 246, 271, 275, 284. 149 Yona (2018) 284: Damasippus „directs his final criticisms towards the poet, who […] cleverly opened the way by means of the seemingly innocuous question ‚from what vice of the mind am I presently suffering‘.“ 150 Muecke (1993) 165 und Yona (2018) 227-278, 286 verstehen die erwähnte Bautätigkeit als Referenz auf die Lebenswirklichkeit des historischen Horaz im Sinne einer Erwei‐ terung des Sabinum. Freudenburg (2021) 168-169 erkennt im Verb aedificas (308) eine deiktische Funktion „as if to say: ‚just look at what’s going on right here! ‘“ (Freudenburgs Hervorhebungen). 151 ‚Horaz‘ schildert das Umfeld um Maecenas wiederholt als frei von allen Zwängen und Konkurrenzgedanken (1,5; 1,6, s. dazu S. 54 Anm. 99; 1,9,48-53) und führt die erste Begegnung mit Maecenas ausdrücklich auf das Betreiben anderer zurück (1,6,52-62; s. dazu S. 53 Anm. 98). Auch die erwähnte Bautätigkeit kann als Nacheifern des Maecenas verstanden werden, der zur Entstehungszeit von Buch 2 eine prachtvolle Villa auf dem Esquilin gebaut hat, so Muecke (1993) 165 und Yona (2018) 227-278, 286. ‚Horaz‘ Damasippus als Dialogpartner funktionalisiert, um eine Außensicht auf sich zu erzeugen: Er stellt diese Fragen, weil er weiß, dass Damasippus’ Antworten unglaubwürdig wirken werden. 149 Mit seinen Antworten auf diese Nachfragen knüpft Damasippus inhaltlich nur sehr lose an den monologischen Stertinius-Vortrag an: Er beschuldigt ‚Horaz‘ der ausufernden Bautätigkeit (307-309), des blinden Nacheiferns Hö‐ hergestellter und vor allem des Maecenas (309-313), der Doppelmoral (309-311), der aus seiner Sicht uninspirierten Dichtung (320), des Jähzorns (323), eines die eigenen Mittel übersteigenden Lebensstils (323-324) sowie der ausufernden sexuellen Leidenschaft (325). Für fast alle diese Bereiche lassen sich Bezüge zu Selbstaussagen der Autor-persona in Buch 1 herstellen. Die erwähnte Bautätig‐ keit kann auf das Sabinum bezogen werden, auf dem der Dialog spielt. 150 Damit widerspricht Damasippus dessen Schilderung als überschaubarem Landgut in 2,6,1-3 ebenso wie der Behauptung des ‚Horaz‘, er lebe bescheiden (1,6,111-131). Diese Behauptung zweifelt er überdies mit der Anschuldigung an, ‚Horaz’‘ Lebensstil übersteige seine Mittel (323-324). Auch die Aussage, er eifere höher‐ gestellten Menschen nach, wirft Fragen auf, da ‚Horaz‘ in Buch 1 darum bemüht war, jeden Anschein von ambitio, insbesondere hinsichtlich der Beziehung zu Maecenas, von sich zu weisen. 151 Der auf sexuelle Ausschweifung abzielende Vorwurf weicht sowohl von der Selbstdarstellung des ‚Horaz‘ als sexueller 66 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="67"?> 152 Prägnant Sharland (2010) 295: Horace „is continuously plagued by sexual failure and misfortune: from being the bed-soiling victim of the mendax puella in Sat. 1.5 to his hinted-at close brushes with the dangers of adultery, the ‚Horace‘ of the Satires has had trouble getting laid.“ 153 S. dazu S.-74 Anm.-180. 154 Folgende Forschungsbeiträge lesen die Reaktion des ‚Horaz‘ als Aggression und als Eingeständnis der von Damasippus erhobenen Vorwürfe: Kiessling/ Heinze (1961) 263- 264; Muecke (1993) 166; Bond (1998) 106; Knorr (2004) 194; Sharland (2010) 260. Bond (1987) 2 erkennt schon in V. 16-18 eine „immediate hostility towards Damasippus“. 155 Mit TLL 10,1,334,35 verstehe ich die Aufforderung parcas hier nicht als Drohung oder Warnung, sondern als Aufforderung, keine Anschuldigungen zu erheben (accusare) und niemanden herabzusetzen (detrectare). Versager in 1,5,82-85 152 als auch von den in 1,2 vertretenen und in 1,4 vom Vater vermittelten sexualmoralischen Standpunkten ab. 153 Angesichts dieser gravierenden Vorhaltungen fällt auf, dass sich ‚Horaz‘ nicht verteidigt. Er fordert sein Gegenüber lediglich dazu auf, zu schweigen (323: iam desine), sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern (324: teneas, Damasippe, tuis te) und ihn in Ruhe zu lassen (326: tandem parcas). Damasippus erwidert daraufhin nichts mehr, so dass die Satire endet und seine Anschuldi‐ gungen unwidersprochen bleiben. Ich verstehe die Reaktion des ‚Horaz‘ am Ende der Satire anders als die bishe‐ rige Forschung nicht als jähzornige Drohung und Eingeständnis der vorgewor‐ fenen Schwächen und Fehler. 154 Zum einen zürnt oder droht ‚Horaz‘ hier nicht, sondern fordert Damasippus lediglich genervt dazu auf, zu schweigen und ihn mit seinem unqualifizierten Gerede in Ruhe zu lassen. 155 Zum anderen hat er, wie er mit den spöttischen und ironischen Kommentaren in V. 16-18 und 300-307 verdeutlicht, eine überlegene Position inne und deshalb gar keinen Grund, aggressiv zu reagieren. Hinzu kommt, dass Damasippus’ Anschuldigungen auf Grund seiner Modellierung als unqualifizierter Kritiker von Beginn der Satire an unglaubwürdig wirken. Dass Damasippus, der vorher so weitschweifig aufgetreten war, auf ‚Horaz’‘ Aufforderung hin tatsächlich schweigt, hebt am Ende der Satire nochmals hervor, was für ein unverständiger Kritiker er ist. Denn anders als er in V. 296-299 behauptet, ist er gerade nicht dazu in der Lage, sich mit Hilfe stoischer Argumente gegen Angriffe zu verteidigen. Damasippus erkennt nicht einmal, dass die Abstufung, die ‚Horaz‘ in seiner spöttischen Schlussbemerkung vornimmt, der stoischen Lehre widerspricht (326: o maior, tandem parcas, insane, minori! ), und dass er und alles, was er zuvor gesagt hat, damit lächerlich gemacht werden. Die Satire 2,3 ist kein ‚echter‘ Dialog. Vielmehr legt ‚Horaz‘ Damasippus Worte in den Mund, die ‚Horaz’‘ satirische Kompetenz in Zweifel ziehen. ‚Horaz‘ 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 67 <?page no="68"?> 156 Ausdrückliche Verteidigungen des historischen Autors z. B. bei Kiessling/ Heinze (1961) 318-319, Bond (1987) und Knorr (2004) 188-195 zeigen den Erfolg dieser Strategie bis ins 21. Jh. 157 Ich sehe Davus als literarische Figur an. Die Nähe der Figur zum servus callidus der Komödie betonen Evans (1978) 310-311; Muecke (1993) 212-213; Yona (2018) 290-291; Freudenburg (2021) 261-266. 158 Zu diesem stoischen Paradox (solum sapientem esse liberum et omnem stultum servum) s. z. B. Cic. parad. 33-41; Tusc. 5,36-37; Ronnick (1991), bes. 125-131. Zu Davus’ (teils pseudo-)philosophischer Argumentation s. Rudd (1966) 188-201; Stahl (1974); Bond (1978); Sharland (2010) 261-316; Yona (2018) 288-302. Davus bezieht seine Argumente aus zweiter Hand, nämlich von einem ianitor des Crispinus (45). Zu abwertenden Erwähnungen dieses Crispinus in Buch 1 s. 1,120-121; 3,137-142; 4,13-16; Yona (2018) 288 mit weiteren Literaturhinweisen. inszeniert sich dadurch als Mensch, der die grundsätzliche Möglichkeit, sich falsch zu verhalten, anerkennen und sich selbst hinterfragen lassen kann. Durch die Vorwürfe, die er Damasippus in den Mund legt, fordert er dazu auf, seine satirische Kompetenz zu hinterfragen. Durch die Modellierung des Damasippus als unverständiger und damit auch unglaubwürdiger Kritiker verteidigt er sich jedoch indirekt gegen dessen Vorwürfe und lädt dazu ein, sie als unzutreffend zurückzuweisen. Das ist eine wesentlich wirksamere Verteidigungsstrategie als selbst Widerspruch zu erheben. 156 2.3.3 Die saturnalische Kritik des Davus an ‚Horaz‘ - sat. 2,7 Anders als in 2,3 setzt sich ‚Horaz‘ in 2,7 von Beginn an freiwillig den Vor‐ haltungen eines anderen aus und lässt sich unterschiedliches Fehlverhalten vorwerfen: Im Rahmen der Saturnalia erteilt er seinem Sklaven Davus die ausdrückliche Erlaubnis zu Spott und Kritik. 157 Davus beschuldigt ihn daraufhin der Doppelmoral, der Heuchelei, der sexuellen Hörigkeit, der Völlerei und eines ausufernden Lebensstils. Er will damit vor dem Hintergrund des stoischen Paradoxes, dass nur der Weise wirklich frei sei, nachweisen, dass ‚Horaz‘ als sein Herr genauso unfrei wie er selbst als Sklave ist. 158 Wichtiger als Davus’ Behauptung, seine Ausführungen würden auf der Stoa basieren, ist für die vorliegende Untersuchung allerdings der Umstand, dass er ‚Horaz‘ im Hauptteil des Gedichts genau die moralischen Schwächen und falschen Verhaltensweisen vorwirft, die in den Satiren kritisiert werden, und dadurch seine satirische Kompetenz in Frage stellt. Mich interessiert im Folgenden, wie ‚Horaz‘ auf diese Anschuldigungen reagiert und wie er sie nutzt, um seine Rolle als Satiriker zu modellieren. Anders als Damasippus wendet sich Davus durchgehend an ‚Horaz‘, der am Anfang und am Ende der Satire mit direkten Reden in Erscheinung tritt (2, 68 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="69"?> 159 Diesen Unterschied zu 2,3 betonen Evans (1978) 307; Muecke (1993) 212-213; Plaza (2006) 215; Sharland (2010) 257-258; Yona (2018) 284, 288. Shackleton Bailey (2008) markiert V. 83a (quisne igitur liber? ) durch Anführungszeichen als direkte Rede des ‚Horaz‘. Ich verstehe den Satz hingegen als typisches Element diatribischen Schreibens bzw. Sprechens und somit als direkte Rede des Davus. So auch Courtney (2013) 159; Freudenburg (2021) 139, 282. 160 Sharland (2010) 261-265 versteht alle bisherigen Satiren als Objekt zu ausculto; ähnlich Yona (2018) 292-293; Freudenburg (2021) 261-262. Harrison (2013) 166-167 sieht Davus zumindest als Kenner von 2,1-6 an. 161 In der evozierten Situation befindet sich Davus vor der Türe, ‚Horaz‘ erkennt ihn allein an seiner Stimme. Denn er reagiert auf die unvermittelte Gesprächseröffnung mit der Nachfrage Davusne? (2). 162 Das deuten auch Davus’ anfängliche Scheu, offen zu sprechen, sowie das Setting an den Saturnalia an. 163 Das Substantiv libertas kann nicht nur die verbale Freimütigkeit im Rahmen der Saturnalia bezeichnen, sondern auch die verbale Freimütigkeit satirischer Texte. Freu‐ denburg (1993) 86-92 und Gowers (2012) 154-155 verorten den Begriff der libertas im zeitgeschichtlichen Kontext am Ende der Republik und Beginn des Augusteischen Prinzipats. 4-5, 21-22, 116-118). 159 V. 43-44 erwähnen zudem nonverbale Reaktionen des ‚Horaz‘, die als dialogische Handlung angesehen werden können. Deshalb ist die gesamte Satire 2,7 Gegenstand der folgenden Analyse. 2.3.3.1 Davus als Kenner der Satiren Davus spricht ‚Horaz‘ unvermittelt an und beansprucht mit seiner Gesprächser‐ öffnung Glaubwürdigkeit dafür, nicht nur genau über dessen Dichtung, sondern auch über dessen Lebensführung Bescheid zu wissen. Er sagt, dass er seinem Herrn schon lange beim Dichten zuhöre (1: Iamdudum ausculto), also Zeuge des Entstehungsprozesses und somit Kenner der bisherigen Satiren sei. 160 Zudem verkehre er mit ‚Horaz‘ nicht nur wie ein Sklave (1: servus; 3: mancipium), sondern kenne ihn auch auf Grund eines persönliches Verhältnisses (2: amicus). Mit diesem Wissen ausgestattet, will Davus etwas sagen, scheut auf Grund seines Status als Untergebener aber davor zurück (1-2: cupiens tibi dicere servus / pauca reformido). ‚Horaz‘ fordert ihn daraufhin auf, sein Anliegen vorzubringen und die saturnalische „Dezemberfreiheit“ zu nutzen (4-5: age, libertate Decembri / […] utere. narra). Er scheint Davus so gut zu kennen, dass er ihn allein an der Stimme identifiziert, 161 und kann deshalb vermuten, dass er sich kritisch über ihn äußern werde. 162 Obwohl ‚Horaz‘ die faktische Macht hätte, seinen Sklaven zum Schweigen zu bringen, macht er sich durch die Aufforderung, die libertas Decembri zu nutzen, somit freiwillig zum Ziel von Davus’ saturnalischem Spott. 163 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 69 <?page no="70"?> 164 Sharland (2010) 264-265; Courtney (2013) 155; Harrison (2013) 167; Freudenburg (2021) 262. 165 Als doctor ineptus (Anderson 1982, 46) sehen Davus an z. B. Stahl (1974); Bond (1978); Knorr (2004) 216. Sharland (2010) 266-270 hingegen fordert: „to value Davus’ viewpoint, in spite of all this speaker’s infelicities“ (S. 269, ohne Hervorhebungen); ähnlich Plaza (2006) 215-216. Auffälligstes Indiz für Davus’ philosophische Inkompetenz ist die häufige Verwendung von Komparativen (8, 19, 25, 40, 41, 42, 47, 96), obwohl die Stoa keine Abstufung einzelner Übel kennt, so Sharland (2010) 286; Yona (2018) 299. 166 Evans (1978) 307; Yona (2018) 290, 292. 167 2,7,21-22: ‚Non dices hodie quorsum haec tam putida tendant, / furcifer? ‘ ‚ad te, inquam‘ ‚quo pacto, pessime? ‘. Davus kommt dieser Aufforderung jedoch anders nach als erwartet und spricht zunächst nur allgemein und ohne konkreten Bezug auf ‚Horaz‘ über inkonsistentes Verhalten (6-20). Durch seine erste längere zusammenhängende Rede wird somit vor allem er selbst als Figur modelliert: Hatte er sich in V. 1 als Hörer der Satiren ausgegeben, weist er deren genaue Kenntnis hier nach, indem er sich derjenigen diatribenartigen Schreibbeziehungsweise Sprechweise be‐ dient, die vor allem in 1,1, 1,2 und 1,3 Anwendung gefunden hat. Er übernimmt die Art und Weise, inkonsistentes Handeln darzustellen und zu verspotten, also von ‚Horaz‘. 164 Anders als Damasippus ist er deshalb nicht ausschließlich als doctor ineptus anzusehen, auch wenn viele seiner Argumente auf wackligen Beinen stehen, was die Kenntnis und die Wiedergabe der stoischen Lehre betrifft. 165 Denn als Mitglied von ‚Horaz’‘ Haushalt kann er glaubwürdig für sich in Anspruch nehmen, über die Lebensführung seines Herrn Bescheid zu wissen. 166 Gerade durch die Art und Weise, wie er spricht und agiert, kann er zudem die Fähigkeit nachweisen, die Rolle auszufüllen, die in den Satiren bisher von ‚Horaz‘ eingenommen wurde, und Schwächen und Fehler anderer bloßzustellen. All das lässt Davus potentiell glaubwürdig wirken. 2.3.3.2 Der Vorwurf der Doppelmoral und der täuschenden Rhetorik Davus scheint mit seinen Ausführungen über inkonsistentes Verhalten einen wunden Punkt getroffen zu haben: Obwohl ‚Horaz‘ selbst ihm die Erlaubnis zu Spott und Kritik erteilt hat und obwohl bisher keine direkten Vorwürfe an ihn gerichtet wurden, reagiert ‚Horaz‘ mit ungeduldig und ungehalten wirkenden Nachfragen, inwiefern sich das Gesagte auf ihn beziehe (21-22). 167 Diese Nachfragen schaffen für Davus die Möglichkeit, sich ausführlich zu äußern und ‚Horaz‘ in einem längeren Abschnitt der Doppelmoral und Lüge zu beschuldigen, ohne unterbrochen zu werden. Wie Damasippus am Ende von 2,3 greift er dabei mehrere Aspekte auf, die in vorausgehenden Satiren 70 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="71"?> 168 Die folgenden Ausführungen basieren auf Sharland (2010) 261-316, bes. 278-284; Yona (2018) 289-299; Freudenburg (2021) 262-263. 169 S. dazu Freudenburg (2021) 271. 170 2,7,22-26: laudas / fortunam et mores antiquae plebis, et idem / si quis ad illa deus subito te agat, usque recuses, / aut quia non sentis quod clamas rectius esse / aut quia non firmus rectum defendis. 171 Yona (2018) 295-296. 172 Mit V. 24 bezieht sich Davus auf 1,1,15-19 ([…] si quis deus ‚en ego‘ dicat / ‚iam faciam quod vultis. eris tu, qui modo miles, / mercator; tu consultus modo, rusticus. hinc vos, / vos hinc mutatis discedite partibus. eia! / quid statis? ‘ nolint; atqui licet esse beatis). Er zeigt damit erneut seine Kenntnis der Satiren. 173 2,7,28-29: Romae rus optas, absentem rusticus urbem / tollis ad astra levis. 174 2,7,29-32: si nusquam es forte vocatus / ad cenam, laudas securum holus ac, velut usquam / vinctus eas, ita te felicem dicis amasque / quod nusquam tibi sit potandum. Davus greift mit laudas securum holus (30) zurück auf 1,6,112 (percontor quanti holus ac far). Zu dieser und weiteren Bezugnahmen auf 1,6 s. Freudenburg (2021) 262-263. von Bedeutung für ‚Horaz’‘ Inszenierung als kompetenter Satiriker waren. 168 Er erhebt zunächst den Vorwurf der Heuchelei und Lüge, verwendet dabei mehrere Verba dicendi in der zweiten Person Singular und scheint sich als Kenner der Satiren damit auf Aussagen zu beziehen, die er dort von ‚Horaz‘ selbst gehört hat (22 und 31: laudas; 25: clamas; 28: optas; 31: dicis): 169 ‚Horaz‘ befürworte und empfehle den mos maiorum als Richtschnur (22-23). Er wolle und/ oder könne die eigene Lebensführung aber nicht danach ausrichten, da seine diesbezügli‐ chen Äußerungen entweder Lippenbekenntnisse seien (25) oder er nicht die Charakterstärke besitze, um sich an die mit dem mos maiorum einhergehenden Verhaltensmaßstäbe zu halten (26). 170 Damit bezichtigt Davus ‚Horaz‘, gegen zwei zentrale Erziehungsziele seines Vaters zu verstoßen (1,4,108: viverem uti contentus; 117: traditum ab antiquis morem servare), bezweifelt so unter anderem den Erfolg der in 1,4 und 1,6 geschilderten Erziehung und damit letzten Endes auch die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘, der diese in 1,4 und 1,6 ja ausdrücklich auf seine Erziehung zurückgeführt hat. 171 Des Weiteren unterstellt Davus ‚Horaz‘ genau das Verhalten, das dieser am Beginn von 1,1 selbst verurteilt hat: Wenn ein Gott ‚Horaz‘ in die von ihm gelobte Zeit der antiqua plebs zurückversetzen würde, würde er sich vehement dagegen wehren (23-24). 172 Auch nennt er die Einstellung seines Herrn zum einfachen Landleben, wie es in 2,6 als Gegensatz zum Leben in der Stadt stilisiert wird, heuchlerisch: In der Stadt wünsche sich ‚Horaz‘ aufs Land, auf dem Land preise er das Stadtleben (28-29). 173 Zudem lobe er ein einfaches Abendessen ohne Gesellschaft, wie es in 1,6,116-118 geschildert wird, nur, wenn er nirgends eingeladen sei (29-32). 174 Denn rufe, besser gesagt befehle (32: iusserit) Maecenas ihn kurzfristig zu sich, lasse ‚Horaz‘ alles stehen und liegen und brause vor 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 71 <?page no="72"?> 175 2,7,32-35: iusserit ad se / Maecenas serum sub lumina prima venire / convivam: ‚nemon oleum fert ocius? ecquis / audit? ‘ cum magno blateras clamore fugisque. Dazu Freuden‐ burg (2021) 272: The adverb serum „suggests that H. has been summoned as an afterthought to fill an empty space. As such, it constitutes a snide comment of Davus’s part concerning the relative insignificance of H. as an invitee, mocking his eagerness to please.“ 176 Freudenburg (2021) 265 und 272 zufolge stellt die Wortwahl ‚Horaz‘ hier nicht als Freund, sondern als Sklave des Maecenas dar. Oliensis (1998) 54 liest die erwähnte Eile als „gratifying index of Horace’s devotion to his friend“. Plaza (2006) 213-214 und Sharland (2010) 280-284 sehen es als verdecktes Lob an, dass Maecenas als so machtvoll gezeigt wird, dass er seinem Freund ‚Befehle‘ erteilen kann. Ungeduld auf, um dieser Aufforderung sofort nachzukommen, obwohl sie auf Grund der Spontaneität wenig Wertschätzung zum Ausdruck bringt (32-35). 175 Anders als in anderen Satiren mit großem rhetorischem Aufwand nahegelegt wird, sei ‚Horaz‘ also keineswegs unabhängig von Maecenas. 176 Gewissermaßen als Fazit seiner bisherigen Aussagen charakterisiert Davus ‚Horaz‘ aus der Perspektive eines Mulvius, indem er diesem Mulvius folgende Worte in den Mund legt (37-42): - - ‚etenim fateor me‘ dixerit ille - ‚duci ventre levem, nasum nidore supinor, - imbellicus, iners, si quid vis, adde popino: 40 tu, cum sis quod ego et fortassis nequior, ultro - insectere velut melior verbisque decoris - obvolvas vitium? ‘ „In der Tat gebe ich zu“, mag jener [sc. Mulvius] sagen, „dass ich wankelmütig bin und dass ich von meinem Bauch gesteuert werde. Ich hebe meine Nase bei Bratenduft, bin schwach, faul, und wenn du noch weiteres willst, füg’ hinzu: ein Schlemmer. Ausgerechnet du willst mich verhöhnen, als ob du besser wärst, obwohl du bist, was ich bin und vielleicht noch nichtsnutziger? Du willst mit schönen Worten deinen eigenen Fehler verdecken? “ Durch diese Worte des Mulvius beschuldigt Davus seinen Herrn, genau das zu tun, was er bei anderen kritisiert (40-41: tu, cum sis quod ego et fortassis nequior, / ultro insectere). Anders als Mulvius gebe er das aber gerade nicht offen zu, sondern erhebe sich über andere (41: velut melior) und leite daraus die Berechtigung ab, deren Verhalten anzuprangern (41: insectere). Dabei versuche 72 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="73"?> 177 Plaza (2006) 217: „So far from being what the satirist sets himself up to be, a good man speaking his moral lessons in blunt and artless language, ‚Horace‘ is charged with being the very opposite, an immoral man hiding his character behind exquisite verbal art.“ 178 Muecke (1993) 219 und Sharland (2010) 284 deuten die beschriebene Reaktion des ‚Horaz‘ als Bestätigung der Vorwürfe. 179 Bspw. brüstet sich Davus damit, Sex mit Prostituierten zu haben, und verwendet eine für die Satiren ungewohnt obszöne Wortwahl (47-52, s. dazu Freudenburg 2021, 275). In vergleichbarem Ausmaß obszön ist nur 1,2,33-36, 44-46, 68-71, 116-118. er, „mit schönen Worten“, das heißt mit Rhetorik, über seine eigenen Schwächen und Fehler hinwegzutäuschen (41-42: verbisque decoris / obvolvas vitium). 177 Davus erkennt, dass sich ‚Horaz‘ in den Satiren inszeniert, also darum bemüht ist, anderen ein bestimmtes Bild von sich zu präsentieren, und deutet dieses Inszenieren als Täuschungsabsicht: ‚Horaz‘ wolle sich nicht aufrichtig als fallibler Mensch darstellen, wie er es in 1,3, 1,4 und 1,6 zu tun behauptet, sondern sich in möglichst gutes Licht rücken und eigene Unzulänglichkeiten verdecken, auch, indem er die Schwächen und Fehler anderer hervorhebe. Dieser Vorwurf zieht nicht nur die moralische Integrität des ‚Horaz‘ in Zweifel, sondern insbesondere auch seine Berechtigung, andere zu kritisieren. Dennoch unternimmt ‚Horaz‘ keine mündlichen Rechtfertigungs- oder Verteidigungsver‐ suche. Davus behauptet jedoch, sich gegen Zorn- und Drohgebärden, vielleicht sogar gegen körperliche Gewalt wehren zu müssen (43-44: aufer / me vultu terrere; manum stomachumque teneto). Diese heftige Reaktion des ‚Horaz‘ wirkt wie eine vorschnelle Verteidigung und somit beinahe wie ein Eingeständnis. Zumindest erweckt sie den Eindruck, die bisherigen Beschuldigungen könnten zutreffen, da ‚Horaz‘ sie zu unterbinden versucht. 178 Davus’ Vorhaltungen erscheinen zunächst plausibel - auch und gerade weil er glaubwürdig machen kann, nicht nur mit der Lebensführung seines Herrn, sondern als ‚Hörer‘ und Kenner der Satiren auch mit seiner literarischen Selbstdarstellung in diesen Texten vertraut zu sein. 2.3.3.3 Der Vorwurf der sexuellen Ausschweifung Daraufhin geht Davus auch auf eigenes Verhalten ein. Dabei ist er keineswegs darum bemüht, sich als moralisch überlegen darzustellen. 179 Vielmehr will er zeigen, dass er selbst freier, das heißt weniger Zwängen ausgesetzt beziehungs‐ weise dass ‚Horaz‘ seinen Begierden hörig und deshalb unfrei ist (46-71): ‚Horaz‘ begehe mit großem Aufwand und unter Gefahr für Vermögen, Ruf und Leben wiederholt Ehebruch. Im Gegensatz dazu nehme Damasippus selbst die Dienste einer Prostituierten in Anspruch, was unkompliziert Befriedigung ver‐ schaffe, Unabhängigkeit garantiere und keinerlei Gefahr mit sich bringe. Davus 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 73 <?page no="74"?> 180 In 1,2,47-49, 73-79, 96-134 rät ‚Horaz‘ von gefährlichem und nur aufwendig zu erreichendem Sex mit verheirateten Frauen zu Gunsten von Sex mit Hetären oder Sklavinnen ab. Sein Vater wiederum habe den Verkehr mit Prostituierten schändlich (turpis) genannt, aber ebenfalls vor Ehebruch gewarnt und stattdessen zu einer concessa Venus geraten (1,4,111-115). 181 In 2,7,81-82 erwähnt Davus einen ‚Marionettenspieler‘, der ‚Horaz‘ lenke (alii servis miser atque / duceris ut nervis alienis mobile lignum). Dieser Marionettenspieler lässt sich ebenfalls als sexuelle Begierde(n) deuten, so Kiessling/ Heinze (1961) 331; Muecke (1993) 222, 224; Freudenburg (2021) 281-282. Oliensis (1998) 54-55 und Plaza (2006) 213-214 lesen V. 81-82 als erneuten Vorwurf der Hörigkeit gegenüber Maecenas. 182 Sharland (2010) 130 bezeichnet das Sexualleben des ‚Horaz‘ als „on-going issue in both books of Satires“, doch handelt nur 1,5,82-85 sowie der Vorwurf in 2,3,325 (mille puel‐ larum, puerorum mille furores) ausdrücklich davon. 1,2 und 1,4,113-115 thematisieren ausschweifendes Sexualleben im Allgemeinen. In 1,6,68 und 81-82 behauptet ‚Horaz‘, dass ihn die väterliche Erziehung vor dem Vorwurf schändlichen Sexuallebens bewahrt habe. 183 Zwar übernimmt ‚Horaz‘ am Ende von 1,2 die Rolle eines Ehebrechers, jedoch nur hy‐ pothetisch, wie durch zahlreiche Konjunktive ab V. 126 deutlich wird. Anders Sharland (2010) 127-129, die diese Verse trotz der Konjunktive als „first-hand experience“ ansieht. behauptet also, sich an die sexualmoralischen Empfehlungen zu halten, mit denen ‚Horaz‘ und sein Vater in 1,2 und 1,4 von Sex mit Matronen abraten und zu leicht verfügbarem und erlaubtem Sex mit Freigelassenen oder Sklavinnen raten. 180 ‚Horaz‘ hingegen verstoße, so Davus, durch wiederholten Ehebruch mit einer verheirateten Frau gegen diese Empfehlungen. Damit bezichtigt Davus ihn erneut der Heuchelei und Doppelmoral und auch der sexuellen Hörigkeit (46: te coniunx aliena capit). 181 In V. 21-22 hatte ‚Horaz‘ ungehalten, in V. 43-44 mit Zorn reagiert und dadurch den Anschein eines zumindest partiellen Eingeständnisses charakter‐ licher Schwäche erweckt. Hier erfährt man von keinerlei Reaktion. Die ab V. 46 geäußerten Anschuldigungen sexueller Hörigkeit sowie wiederholten Ehebruchs waren anders als die in V. 21-43 angesprochenen Punkte in seinen bisherigen Selbstaussagen nur von untergeordneter Bedeutung. 182 Sie wirken zudem kaum glaubwürdig. Denn Davus’ Äußerungen sind hier mit mehreren Elementen ausgeschmückt, die im Kontext der Komödie und des Mimos verortet werden können. Das lässt es wenig plausibel erscheinen, dass ‚Horaz‘ in der im Text evozierten Welt wie der hier beschriebene Typus der Komödie oder des Mimos agiert hat. 183 ‚Horaz‘ als Autor-persona der Satiren lässt Davus hier also auf diejenigen Gattungen zurückgreifen, in denen eine Figur mit seinem Namen eigentlich an‐ 74 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="75"?> 184 Ähnlich Freudenburg (2021) 264, 276-277. Zu den aus Komödie und Mimos übernom‐ menen Elementen s. auch Sharland (2010) 284-295. Zur Nähe der Figur des Davus zum servus callidus der Komödie s. S.-68 Anm.-157. 185 Bernstein (1987) 465-467, der allerdings einen anderen Schwerpunkt setzt: Durch den wenig plausiblen Vorwurf des Ehebruchs werde v. a. der Vorwurf der Abhängigkeit von Maecenas als falsch dargestellt. 186 ‚Horaz‘ erfreue sich an Gemälden und werde für einen Kunstkenner gehalten, Davus erfreue sich an Abbildungen von Gladiatorenkämpfen und werde als Nichtsnutz angesehen (95-101). Beide könnten Essen nicht widerstehen, der Sklave erfahre dafür bzw. für das Stehlen von Leckerbissen unmittelbare Bestrafung, der Herr müsse nur die langfristigen körperlichen Folgen seiner gesellschaftlich anerkannten Schlemmerei ertragen (102-109). ‚Horaz‘ betreibe jedoch größeren Aufwand, um Essen zu beschaffen: Er verkaufe Landgüter, wohingegen Davus nur Diebesgut eintausche (109-111). gesiedelt ist. 184 Eine ausdrückliche Verteidigung gegen Davus’ Unterstellungen ist deshalb nicht notwendig, sie erscheinen vielmehr als mindestens stark überzeichnete Darstellung des tatsächlichen Verhaltens seines Herrn. Michael Bernstein argumentiert dafür, dass das Lesepublikum dazu bewegt werden soll, diesen Schluss auch auf die eher plausiblen Beschuldigungen zu übertragen, die Davus bereits vorgebracht hat und noch vorbringen wird, und somit gerade diejenigen Punkte als unzutreffend, zumindest jedoch als stark übertrieben anzusehen, die sich auf Lebensbereiche beziehen, in die er als Sklave und Kenner der Satiren Einblick hat. 185 Wenn auch auf andere Weise als in 2,3 wird ‚Horaz‘ also auch in 2,7 durch die Inszenierung seines Dialogpartners gegen dessen Vorwürfe verteidigt. 2.3.3.4 Der Vorwurf der inneren Rastlosigkeit und Depression Da ‚Horaz‘ nicht reagiert, fährt Davus ungehindert fort. Er will im Folgenden nachweisen, dass sich sein Verhalten als Sklave und das seines Herrn nicht voneinander unterscheiden, sondern von der Gesellschaft lediglich unterschied‐ lich beurteilt werden (95-111). 186 Auch darauf reagiert ‚Horaz‘ nicht, so dass Damasippus ihn mit weiteren Vorhaltungen konfrontiert (111-118): - - ‚Adde quod idem - non horam tecum esse potes, non otia recte - ponere teque ipsum vitas fugitivus et erro, - iam vino quaerens, iam somno fallere curam: 115 frustra; nam comes atra premit sequiturque fugacem.‘ - ‚unde mihi lapidem? ‘ ‚quorsum est opus? ‘ ‚unde sagittas? ‘ - ‚aut insanit homo aut versus facit.‘ ‚ocius hinc te - ni rapis, accedes opera agro nona Sabino.‘ 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 75 <?page no="76"?> 187 In der Forschung finden sich unterschiedliche Ansichten, welche Vorwürfe Davus am Ende von 2,7 genau erhebt. Stahl (1974) 49-50 sieht ‚Horaz‘ als „den von den Stoikern so gern beschriebenen Antipoden des ausgeglichenen Weisen“ dargestellt. Kiessling/ Heinze (1961) 333 zufolge stellt Davus es als Folge von Unfreiheit dar, dass ‚Horaz‘ „nicht einmal mit sich selbst im Einvernehmen ist, sondern sich zu entfliehen sucht wie der Sklave dem harten Herrn.“ Ähnlich Bernstein (1987) 467: „The real consequence of not being free is to be always in flight from oneself.“ Sharland (2010) 304-305 zufolge bezeichnet Davus ‚Horaz‘ als „‚enslaved‘ to these cares […] to illustrate […] his master’s frustration at his inescapable moral captivity.“ Freudenburg (2021) 287 fokussiert sich auf den am Beginn von 2,7 von Davus erhobenen Vorwurf der Inkonsistenz, die ‚Horaz‘ zwischen Stadt und Land hin- und herspringen lasse, wobei er durch Alkoholkonsum und durch die Gesellschaft anderer die Flucht vor sich selbst suche. „Hinzu kommt, dass du keine Stunde mit dir allein sein, dass du deine Mußestunden nicht richtig nutzen kannst, und dass du dir selbst aus dem Weg gehst wie ein flüchtiger Sklave und Herumtreiber, indem du mal mit Wein, mal mit Schlaf deine Sorge täuschen willst: Vergeblich! Denn als finstere Begleiterin setzt sie dir zu und folgt dir, wenn du davonläufst.“ „Woher kriege ich einen Stein? “ „Wozu ist der nötig? “ „Woher Pfeile? “ „Entweder ist der Mensch verrückt oder er macht Verse.“ „Wenn du dich nicht auf der Stelle davonmachst, wirst du als neunter Landarbeiter auf das Sabinum kommen.“ Davus scheint sich auch hier auf frühere Selbstaussagen des ‚Horaz‘ oder auf Aussagen anderer über ihn zu beziehen: Die Unterstellung, sein Herr könne nicht mit sich allein sein und freie Zeit nicht sinnvoll nutzen (111-113), lässt sich als Widerspruch zu 1,4 und 1,6 lesen, wo ‚Horaz‘ seine Fähigkeit und Bereitschaft hervorhebt, allein verbrachte Zeit für Selbstreflexionen und satirische Beobachtungen zu nutzen. Die Unterstellung von Alkoholmissbrauch und Faulheit (114) kann als Wiederaufnahme der Vorwürfe verstanden werden, die Damasippus am Beginn von 2,3 äußert: ‚Horaz‘ könne und/ oder wolle die Rolle des Beobachters und akribisch arbeitenden Dichters nicht ausfüllen, sondern gebe sich der Trunksucht und dem Nichtstun hin. Im Vorausgehenden hatte Davus die bisherige Inszenierung des ‚Horaz‘ durch die Vorwürfe von Doppelmoral, Heuchelei, sexueller Ausschweifung und Hörigkeit, übertriebener Kunstliebhaberei, Völlerei und ausschweifendem Lebenswandel in Zweifel gezogen. Auch hier sagt er, dass ‚Horaz’‘ Selbstdar‐ stellung seinem Charakter und Verhalten widerspreche, und macht ihm so seine satirische Kompetenz streitig, die ‚Horaz‘ ja zu großen Teilen auf dieser Selbst‐ darstellung beruhen lässt. Davus’ Äußerungen bleiben zunächst unbeantwortet und somit auch unwidersprochen. Die Option bleibt bestehen, dass er Recht haben könnte. 187 Da er sich als qualifiziert erwiesen hat, Kritik zu üben, und er zudem auch die ausdrückliche Erlaubnis dazu hat, kann ‚Horaz‘ ihn - anders als 76 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="77"?> 188 Die Forschung behandelt den Schluss von 2,7 nur am Rande. Meist wird lediglich festgehalten, dass ‚Horaz‘ sein eingangs erteiltes Zugeständnis der libertas Decembri zurücknimmt und dadurch das ursprüngliche Machtverhältnis zwischen Herren und Sklaven wiederherstellt, so Stahl (1974) 51; Bond (1978) 97; Bernstein (1987) 468; Plaza (2006) 220; Sharland (2010) 308. 189 Dazu Plaza (2006) 217: „If Davus’ imputation of luxurious dining and fear of loneliness be true (105-15), then by implication, it may be concluded that the persona has not been truthful when elswhere […] praising simple living and boasting of his expert use of solitary otium.“ 190 Muecke (1993) 226 zufolge bezieht sich Davus hier auf den Mangel an innerer Ausge‐ glichenheit („lack of inner integrity and peace of mind“), dessen Folge der Wunsch sei, sich selbst zu entkommen. Sharland (2010) 305 versteht die comes atra als Depression, nennt sie ohne weitere Erklärung aber auch ein memento mori. 191 Wenig aussagekräftig ist der bloße Hinweis von Muecke (1993) 226, Sharland (2010) 306-307 und Freudenburg (2021) 288, wonach die erste ‚Waffe‘, nach der ‚Horaz‘ fragt, an die Komödie, die zweite an die Tragödie erinnere. Damasippus - jedoch nicht einfach lächerlich machen und als unglaubwürdig darstellen. Wie ich abschließend zeigen will, wendet er deshalb eine andere Verteidigungsstrategie an. 188 Will ‚Horaz‘ seine Autorität nicht untergraben, muss er reagieren und weitere Unterstellungen unterbinden, indem er die eingangs erteilte Erlaubnis, im Rahmen der Saturnalia Spott und Kritik zu üben, zurücknimmt, ohne aufge‐ bracht oder jähzornig zu wirken. Seine Passivität hat es Davus ja erst ermöglicht, Beschuldigungen vorzubringen, und auch nonverbale Drohungen in V. 43-44 konnten den Sklaven nicht aufhalten, sondern haben seine Anschuldigungen eher plausibel wirken lassen. ‚Horaz‘ darf nicht den Eindruck erwecken, dass diese Anschuldigungen, die seine Kompetenz als Satiriker in Frage stellen, zutreffen. 189 Er reagiert deshalb erst auf den Vorwurf der Depression (115: comes atra) und damit auf einen Vorwurf, der in keinem Zusammenhang mit seiner literarischen Tätigkeit als Satiriker steht und den er im Gegensatz zu Davus’ bisherigen Anschuldigungen in den Satiren nicht thematisiert hat. 190 Damit erweckt er den Eindruck, dass Davus mit genau diesem Vorwurf einen wunden Punkt getroffen habe, und lenkt so die Aufmerksamkeit auf eine Ausprägung von Fallibilität, die er zugeben kann, ohne die Wahrnehmung seiner Kompetenz als Satiriker durch das Lesepublikum zu gefährden. Um Davus zum Schweigen zu bringen, baut ‚Horaz‘ eine gewisse Drohkulisse auf, indem er ihm schwere körperliche Bestrafung in Aussicht stellt (116: unde mihi lapidem? […] unde sagittas? ) und androht, ihn zum Feld- und Arbeits‐ sklaven zu machen (117-118: ocius hinc te / ni rapis, accedes opera agro nona Sabino). 191 Er löst diese Drohkulisse jedoch sogleich selbst wieder auf, indem er den ager, den er Davus androht, mit dem letzten Wort der Satire als das Sabinum 2.3 Die Lebens- und Schreibsituation des etablierten Satirikers ‚Horaz‘ - Satiren 2 77 <?page no="78"?> 192 S. dazu S.-69. 193 Anders Kiessling/ Heinze (1961) 334: ‚Horaz‘ „gerät plötzlich in hellen Zorn […], in dem er vergisst, wo er ist und wen er vor sich hat: wie einen Hund […] oder ein wildes Tier […] will er Davus verscheuchen.“ Freudenburg (2021) 288 zufolge wird ‚Horaz‘ hier als „exploding comic bully“ inszeniert, der Kritik besser austeilen als einstecken kann; die entmenschlichende Phrase opera nona reduziere Davus zu einem bloßen Gegenstand; das Sabinum sei kein „pleasurable retreat, but […] a working farm with fields to be toiled in.“ Ähnlich Plaza (2006) 218. Meiner Deutung nahe kommt Stahl (1974) 49-50: Die Drohungen sind nicht „ernst zu nehmen; er vermag nicht, seinem Davus wirklich böse zu sein, wiewohl er sich getroffen fühlt, und so beendet er die Szene auch seinerseits mit nur halbem Ernst, der nachsichtiges Lächeln nicht ausschließt.“ 194 Yona (2018) 278-302 geht zwar davon aus, dass die erhobenen Vorwürfe zutreffen, hält aber fest: The „invective paradoxically […] confirms the moral competence and confidence of the poet’s persona. […] the overbearing and silly slave […] actually becomes the means by which Horace applies disarming criticism to himself and thus displays his good cheer and sense of moral honesty“ (S. 298-299, 301). Ähnlich Muecke (1993) 213; Sharland (2010), bes. 266-267, 291-292: Man tendiere dazu, ‚Horaz‘ als unschuldiges Opfer der Kritik des Davus anzusehen und deshalb zu verteidigen. Nicht ohne Widerspruch schreibt Sharland jedoch: „There is undoubtedly some satisfaction in seeing the satirist, who, as we have witnessed, has been berating others throughout the moralising satires, finally get his just deserts for being guilty of the very sins he has been lecturing against“ (S.-313). bestimmt. Davus ist als Kenner der Satiren mit der Schilderung des Sabinum als locus amoenus am Beginn von 2,6 vertraut. 192 Er wird deshalb kaum erwarten, dort zum schwer arbeitenden Feldsklaven degradiert zu werden. ‚Horaz‘ unter‐ bindet weitere Vorwürfe seines Sklaven also nicht mit der Androhung roher Gewalt, kann ihn mit der an sich harmlosen Drohung, auf das Sabinum geschickt zu werden, aber dennoch zum Schweigen bringen. Denn fährt Davus fort, wird ihm auf dem Landgut die Möglichkeit genommen, den von ihm selbst geschätzten ‚städtischen‘ Lastern zu frönen. 193 Wie schon in 2,3 nutzt ‚Horaz‘ das Setting und die Sprecherkonstellation in 2,7, um sich aus einer Außenperspektive zu inszenieren. Durch seine Reaktionen erweckt er in 2,7 mehrfach den Eindruck, dass einige der Vorwürfe, die Davus an ihn richtet, zutreffen könnten. So kann er die Möglichkeit, schwach und fehlerbehaftet zu sein, anerkennen, ohne seine Position durch konkrete Einge‐ ständnisse zu unterminieren. Das Lesepublikum wird dadurch sowohl in 2,3 als auch in 2,7 dazu aufgefordert, die von Damasippus beziehungsweise Davus vorgebrachten Vorwürfe zu bewerten, dadurch die satirische Kompetenz des ‚Horaz‘ zu hinterfragen - und anzuerkennen. 194 Das Setting beider Satiren an den Saturnalia erzeugt einen vergleichbaren Effekt, da es schon zu Beginn beider Dialoge darauf hindeutet, dass das jeweils Folgende als ein spiegelverkehrtes 78 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="79"?> 195 Vor allem der Umstand, dass ‚Horaz‘ Davus ausdrücklich die Erlaubnis zum Gebrauch der libertas Decembri erteilt, zeigt, dass ‚Horaz‘ seine Position und das Bild, das er von sich erzeugen will, als etabliert und gefestigt ansieht, und sich deshalb freiwillig zum Ziel saturnalischer Kritik macht. Gleiches gilt auch für das Verhältnis zu Maecenas, auf das in 2,7 mehrfach Bezug genommen wird: Es wird gerade dadurch, dass es Anlass für saturnalischen Spott ist, als ein in der öffentlichen Wahrnehmung gefestigtes präsentiert. 196 Zur Verwendung von vitium als Bezeichnung für Defizite und Unzulänglichkeiten aller Art s. OLD, s. v. vitium 1 und 2: „a quality which impedes success, perfection, etc.“, „a defect, disorder (of the body, faculties, etc.)“. 197 Wie ich am Ende dieses Fazits darlege, geht ‚Horaz‘ in Buch 1 aber nicht darauf ein, worin diese vitia bestehen. Erst in 2,3 und 2,7 wird genauer über seine potentiellen Schwächen und Fehler gesprochen. Bild der in den vorausgehenden Satiren geschilderten Welt und deshalb zumin‐ dest als stark überspitzt erscheinen muss. 195 2.4 Fazit: ‚Horaz‘ als fallibler und daher kompetenter Satiriker In der Satire 1,6 thematisiert ‚Horaz‘ mit seiner niedrigen Herkunft eine Eigenschaft, die andere als ein Defizit ansehen, die er selbst jedoch als Vorteil darstellt. 196 Denn sie befreit ihn von politischen, geschäftlichen und gesell‐ schaftlichen Verpflichtungen und schafft dadurch ideale Rahmenbedingungen, um satirische Beobachtungen anstellen und schriftlich festhalten zu können. Darüber hinaus weist er auf seine Abstammung von einem Freigelassen auch hin, um zu zeigen, dass er Maecenas, der hohe moralische Ansprüche an potentielle Freunde stellt, gerade nicht wegen seiner Herkunft, sondern aus‐ schließlich wegen seines Charakters als Freund gewonnen hat. Die Vergabe biographischer Informationen unterstützt diese Inszenierung: Das zeitgenössi‐ sche Lesepublikum konnte über Wissen sowohl über die soziale Herkunft des historischen Horaz als auch über seine Freundschaft mit Maecenas verfügen und dieses Wissen auf die im Text konstruierten Figuren übertragen, so dass insbesondere die charakterliche Integrität der Autor-persona durch Verweise auf diese Herkunft und diese Freundschaft bestätigt wird. In 1,4 und 1,6 behauptet ‚Horaz‘, durch seine Erziehung gegen diejenigen Laster gewappnet zu sein, die er in den Satiren kritisiert. Damit rechtfertigt er rückblickend nicht nur sein Auftreten als satirischer Kritiker anderer in 1,1, 1,2 und 1,3, sondern stellt sich auch als insgesamt rechtschaffend lebender Mensch dar, der nur unbedeutende Schwächen und Fehler (vitia) hat, über die sein Umfeld gerne hinwegsieht (1,3,139-142). Diese vitia gibt er in 1,3, 1,4 und 1,6 offen zu. 197 Ich habe dafür argumentiert, dass ‚Horaz‘ dieses Eingeständnis 2.4 Fazit: ‚Horaz‘ als fallibler und daher kompetenter Satiriker 79 <?page no="80"?> 198 Yona (2018) 123: „a satirist like Horace, although himself imperfect, at least acknow‐ ledges his faults and even puts them under the moral microscope for therapeutic examination […], which increases his self-awareness and consequently makes him better prepared to apply frankness to others.“ nutzt, um seine Rolle als Satiriker zu verhandeln und die Fragen zu beantworten, wen er zum Ziel seiner satirischen Kritik macht und was ihn dazu qualifiziert. ‚Horaz‘ behauptet, nur Verhalten zu tadeln, das dies auch verdient hätte, da er zwischen leichten und schweren Schwächen und Fehlern unterscheide und nur letztere kritisiere. Die Fähigkeit zu dieser Unterscheidung und den Impetus, das Verhalten anderer und auch seiner selbst zu beurteilen und falls nötig zu kritisieren, führt er nicht nur auf seine Erziehung zurück, sondern auch auf seine Bemühungen, sich selbst moralisch zu verbessern, indem er sich auf nachzuahmende und zu vermeidende Exempla aufmerksam macht. Die Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen und seine eigene Fallibilität zum Ausgangspunkt von Selbstkritik zu machen, versetzt ihn in die Lage, genau die moralischen Unzulänglichkeiten, an denen er seiner Darstellung nach nicht leidet, bei anderen hervorzuheben. Er kann satirische Gedichte schreiben, nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Fallibilität und der konstruktiven Auseinandersetzung mit ihr. 198 So inszeniert er sich nicht als Moralist, der von anderen ein Ideal einfordert, das er selbst nicht erfüllt und auf Grund der falliblen Natur jedes Menschen gar nicht erfüllen kann, sondern als Mensch, der sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten bewusst ist und deshalb über menschliches (Fehl-)Verhalten per se urteilen kann. Auch in Buch 2 wird die Frage verhandelt, was ‚Horaz‘ dazu qualifiziert, satirische Kritik zu üben. Der Alltag als etabliertes Mitglied der römischen Elite schränkt seine Handlungsmöglichkeiten als Satiriker massiv ein. Seine in 2,6 beschriebene Lebenssituation hat sich im Vergleich zu Buch 1 stark verändert. Ich habe es als Reaktion auf diese Veränderungen gelesen, dass er sich im überwiegend dialogischen Buch 2 neuen Formen satirischen Schreibens zuwendet und sich in 2,3 und 2,7 selbst zum Ziel der Kritik anderer macht. Die Figuren Damasippus und Davus werfen ‚Horaz‘ genau die Schwächen und Verhaltensweisen vor, die er in Buch 1 getadelt hat, und stellen dadurch seine satirische Kompetenz stark in Frage. Doch kann ‚Horaz‘ auch in den Dialogen 2,3 und 2,7 als Autor-persona und Verfasser der Satiren identifiziert werden, der gerade durch die dialogische Gestaltung der beiden Texte eine Außenperspektive der ‚advocati diaboli‘ Damasippus und Davus konstruiert. Dass ‚Horaz‘ in 2,3 und 2,7 hinsichtlich seiner Redeanteile in den Hintergrund tritt, ist deshalb keine Abkehr von seiner für das erste Buch der Satiren cha‐ rakteristischen Selbstdarstellung. Lediglich der Darstellungsmodus verändert 80 2 Die Fallibilität des Satirikers ‚Horaz‘ <?page no="81"?> 199 Auch Harrison (2013) 169 sieht „no move away from self-revelation“; ähnlich Oliensis (1998) 51-56; Freudenburg (2021) 7-10. Stahl (1974) 51-52 spricht bzgl. 2,7 sogar von einem „Geständnis-Charakter“ und einem „Tagebuch-, Brief-, oder kurz Privatcharakter“. 200 In 1,3 wird lediglich suggeriert, dass einer dieser Fehler das harmlose Necken von Freunden sei (s. dazu S. 40). Auch ‚Senecas‘ Aussagen über seine seelische und körperliche Fallibilität bleiben in den Epistulae morales des Öfteren vage (s. dazu S. 146 und S. 155). Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Bezug auf die Vagheit von Selbstaussagen der Autor-personae ‚Horaz‘ und ‚Seneca‘ s. Kap. 5.1. 201 Gowers (2003) 85: The speaker „anticipates the worst possible reception of his words or actions by portraying them in advance in the worst possible light.“ 202 Zu zeitgenössischen Ressentiments gegen soziale Aufsteiger s. S. 50 Anm. 91. Sharland (2010) 261-316, Yona (2018) 286 und Freudenburg (2021) 265-266 sehen die in 2,3 und 2,7 gegen die Autor-persona gerichteten Vorwürfe als solche an, mit denen der historische Autor Horaz konfrontiert wurde. sich, indem ‚Horaz‘ aus der Perspektive anderer Figuren dargestellt wird. 199 Dadurch kann ‚Horaz‘, der in 2,3 und 2,7 keinen ‚echten‘ Dialog mit Damasippus beziehungsweise Davus führt und in beiden Satiren mit der Autor-persona und damit als Verfasser der Satiren identifiziert werden will, einerseits die Fähigkeit und Bereitschaft zeigen, sich selbst zu hinterfragen beziehungsweise hinterfragen zu lassen, und andererseits die Möglichkeit einräumen, schwach und fehlerbehaftet zu sein, ohne dies im Detail begründen zu müssen. Darüber hinaus kann er durch die Gestaltung beider Satiren das Lesepublikum indirekt dazu auffordern, ihn gegen die erhobenen Vorwürfe zu verteidigen. ‚Horaz‘ legt in 1,3, 1,4 und 1,6 nicht dar, worin seine als vitia bezeichneten Schwächen und Fehler bestehen. 200 Er kann dadurch gewissermaßen in Vor‐ leistung gehen und so mögliche Angriffe vorwegnehmen, ohne sich durch detaillierte Beschreibungen seiner eigenen Unzulänglichkeiten verwundbar zu machen. Eine vergleichbare Strategie wendet er auch in Bezug auf seine Abstammung an: Indem er offensiv auf diese Abstammung hinweist, nimmt er Angreifern, Spöttern und Neidern ein mögliches Ziel. 201 Durch die Inszenierung seiner Autor-persona geht auch der historische Autor Horaz in Vorleistung und kann plausible oder tatsächliche Angriffe auf seine eigene Person, zumindest jedoch auf das Autorbild, das in den Satiren entworfen wird, vorwegnehmen, ohne sich selbst beziehungsweise dieses Autorbild angreifbar zu machen. Liest man die vorgebrachte Kritik an der Autor-persona als eine Kritik, mit der sich auch der historische Horaz zumindest potentiell auseinandersetzen musste, wird auch er durch die Inszenierung seiner persona gegen diese Kritik verteidigt. 202 2.4 Fazit: ‚Horaz‘ als fallibler und daher kompetenter Satiriker 81 <?page no="83"?> 1 Mit Elegien sind im Folgenden immer die Tristia und Epistulae ex Ponto gemeint, Bezugnahmen auf andere elegische Werke werden ausdrücklich kenntlich gemacht. Als Textgrundlage dienen Hall (1995) und Richmond (1990). Sofern nicht anders gekennzeichnet, sind alle Übersetzungen der Tristia adaptierte Versionen von Luck (1967). Alle Übersetzungen der Epistulae ex Ponto stammen vom Verfasser. 2 Der Ich-Sprecher der Exilelegien nennt sich ca. 40 Mal selbst Naso, z. B. in trist. 1,7,10; 3,3,73-76; 4,4,86; 5,1,35; Pont. 1,1,1; 2,2,2; 3,1,3; 4,16,1. Die Ich-Sprecher früherer Werke Ovids nennen sich ebenfalls Naso (am., Epigramma ipsius 1; 2,2; 2,13,25; 3,15,3; Ars 2,744; 3,812; rem. 71-72; fast. 377). Deren Inszenierungen und auch die Texte selbst beinhalten aber wesentlich weniger biographische Informationen, die ich mit Scheidegger Lämmle (2016) 171-246 dort primär als Mittel ansehe, um einen Werkzusammenhang unter einer in den Texten figurierten Autorschaft herzustellen. Mit ‚Naso‘ beziehe ich mich im Folgenden auf die Autor-persona der im Exil verfassten Elegien Ovids. 3 S. z. B. trist. 1,1,105-118; 1,7,11-16; 2,353-357; 3,3,73-76; 4,10,1-2; Pont. 2,9,73. Zu Bezugnahmen der im Exil verfassten Elegien auf frühere Werke Ovids s. Hinds (1985); Frings (2005) 210-262; Scheidegger Lämmle (2016) 171-246. 4 Dies geschieht vor allem durch die namentliche Nennung der Adressatinnen und Adressaten in den Epistulae ex Ponto. S. dazu Gaertner (2005) 6-8; Wulfram (2008) 236; Fuhrer (2012) 136. 5 Zu nennen ist diesbzgl. v. a. trist. 4,10. ‚Naso‘ nennt dort u. a. Geburtsort, Geburtsjahr und Geburtstag (3-6, 11-14), soziale Abstammung (7-8), ausgeübte Ämter (33-36), Bekanntschaft mit anderen Dichtern (43-50), drei Ehen (69-74), eine Tochter und Enkelkinder (75-76) sowie die Relegation (63-64). Zahlreiche Literaturangaben zu trist.-4,10 bei Feddern (2021a) 108 Anm.-39. 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens 3.1 Fragestellung und Textcorpus Nachdem Publius Ovidius Naso im Jahr 8 n. Chr. von Augustus nach Tomi ans Schwarze Meer relegiert wurde, macht er sein Leben und Leiden als Verbannter zum maßgeblichen Bezugspunkt seiner Elegien. 1 In fast allen 96 Elegien der Tristia und Epistulae ex Ponto lässt Ovid einen Ich-Sprecher auftreten, der als Autor-persona konfiguriert ist: Dieser Ich-Sprecher trägt den Namen ‚Naso‘, 2 schreibt sich die Rolle der Autorschaft früherer Werke Ovids zu, 3 verortet sich in dessen sozialem Beziehungsgefüge 4 und fordert durch die Vergabe weiterer biographischer Informationen dazu auf, ihn mit dem historischen Autor zu identifizieren. 5 Die Modellierung dieses Ich-Sprechers ‚Naso‘ knüpft in vielerlei Hinsicht an Traditionen der römischen Liebeselegie an. Diese setzt einen Ich-Sprecher voraus, der - meist in klagendem Tonfall - über sein emotionales und körper‐ liches Leiden und über sein Scheitern vor allem in der erotischen Werbung <?page no="84"?> 6 Dass Elegien grundsätzlich als klagende Dichtung aufgefasst wurden, geht aus der (falschen) antiken Etymologie der Elegie aus dem Klageruf ἔ ἔ λέγειν hervor. Zu dieser Etymologie s. z.-B. Wulfram (2008) 200. 7 Zur Transformation des ‚elegischen Systems‘ in der Exildichtung s. Stroh (1971) 250- 253; Helzle (2003) 23-24; Holzberg (2005) 181-182; Frings (2005) 221-227: Augustus wird umworben. ‚Naso‘ will anders als im Paraklausithyron der Liebeselegie keinen Zugang zum Haus der umworbenen Person, sondern zu Rom. Wie der poeta amator vor verschlossener Tür singt, um Einlass zu erhalten, schreibt ‚Naso‘ gewissermaßen vor ihm ‚verschlossenen‘ Grenzen. Zur Verwendung von Motiven der römischen Liebeselegie in trist. und Pont. s. Nagle (1980), bes. 19-108. Zur Parallele der ‚Exilkrank‐ heit‘ ‚Nasos‘ zur ‚Liebeskrankheit‘ des poeta amator in der römischen Liebeselegie s.-Thomsen (1979) 36-79; Videau-Delibes (1991), bes. 309-368. 8 In diesem Kapitel verwende ich die Begriffe psychisch, seelisch und emotional weitest‐ gehend synonym und meine damit nicht Defekte der Seele im philosophischen Sinn. Vielmehr verwende ich die Begriffe, um Belastungen, Krankheiten und Leidenszustände von rein körperlichen (physischen) zu unterscheiden. In trist. und Pont. werden die Begriffe mens und animus synonym gebraucht, so Thomsen (1979) 79-110. 9 Die Bezeichnung patiens stammt von Fuhrer (2022), die damit die Leidensfähigkeit und Pathos-Kompetenz ‚Nasos‘ hervorhebt. S. dazu S. 100. Claassen (1999) 31 unterscheidet die Rollen des poeta, des exsul (sic! ) und des vates: „poeta, a jocular poet who fell foul of the emperor; exsul, a suffering exile, who happened to be a poet; vates, a speaker of ‚divine truth‘ (what we today would call ‚psychological realism‘) about the emotional life of the second personage of the series, while as narrator often fudging the realities of both the first and the second.“ oder im Aufrechterhalten von Liebesbeziehungen dichtet. 6 Diese grundsätzliche Ausrichtung elegischer Dichtung auf das Scheitern und Klagen ihres Ich-Spre‐ chers prägt auch die im Exil verfassten Elegien Ovids, erfährt jedoch eine Trans‐ formation, indem der klagende und letzten Endes immer erfolglos bleibende Liebende durch die Figur des verbannten Dichters und amouröse Kontexte durch die Situation im Exil ersetzt werden. 7 Vergleichbar mit der Sprecher-Figur des poeta amator, der in der römischen Liebeselegie als Dichter und Liebhaber auftritt, nimmt auch ‚Naso‘ als Ich-Sprecher der Tristia und Epistulae ex Ponto eine Doppelrolle ein. Er inszeniert sich als verbannter Dichter (exul poeta) und als an der Verbannung Leidender (exul patiens), will also als exul poeta et patiens wahrgenommen werden, der an der körperlichen und emotionalen Bewältigung seiner Verbannung scheitert und der klagende Gedichte über dieses Scheitern sowie über die physischen und psychischen 8 Leiden verfasst, die damit einhergehen. 9 Auch wenn teils die Rolle des poeta, teils die des patiens stärker gewichtet wird, sind beide nicht voneinander zu trennen und haben wechselseitigen Einfluss aufeinander. Der Zustand und die Lebensumstände des exul patiens sind Voraussetzung und maßgeblicher Bezugspunkt der Dich‐ tung des exul poeta, ihnen werden unmittelbare Folgen auf seine literarische Produktion zugeschrieben. Durch die Verbannung verursachte biographische 84 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="85"?> 10 Der Kontrast früher vs. jetzt wird oft bemüht (z. B. in trist. 1,1,119-122; 4,1,67-74, 99-102; 5,3,1-12) und bezieht sich meist auf den Bruch in der Biographie als Dichter. Zum Gegensatz „Früheres und jetziges Ich“ s. das gleichnamige Unterkapitel bei Seibert (2014) 143-149. 11 S. z.-B. trist. 4,6,39-44; 4,8,1-4; Pont. 1,4,1-8. 12 S. z. B. trist. 1,3,15-16; 1,5,33-34; 1,9,7-20; 3,11,9; 4,7,1-10; 5,10,35-42; Pont. 2,3,25-26; 4,3. 13 S. z.-B. trist. 3,3; 3,8,25-32; 4,6,39-50; Pont. 1,10. 14 S. z.-B. trist. 3,8,25-32; 4,6,39-50; Pont. 1,10. 15 S. z.-B. trist. 1,11,35-36; 5,12,57; Pont. 1,5,7-8; 3,4,45-50. 16 S. z.-B. trist. 3,1,17-18; 3,14,43-50; 5,7,55-64; 5,12,57-58. 17 S. z.-B. trist. 3,8,37-38; 3,11,9; 5,10,35-40; Kap. 3.5.2. 18 S. z.-B. trist. 3,11,25-26; 5,9,15-19; Pont. 2,2,45-46; S.-133 mit Anm.-203. 19 Zur römischen Liebeselegie als werbender Dichtung s. Stroh (1971), dort S. 250-253 zu trist. und Pont. Brüche ‚Nasos‘ werden immer auch als Brüche in seiner Biographie als Dichter dargestellt. 10 Als exul poeta et patiens präsentiert sich ‚Naso‘ als in beinahe jeder Hinsicht fallibel. Er stellt sich als alt und schwach, 11 als einsam und sozial isoliert 12 sowie krank 13 und depressiv dar 14 und macht dafür ausschließlich seine Verbannung verantwortlich. Infolge dieses Zustands behauptet er, frühere poetische Fähig‐ keiten ganz oder teilweise verloren zu haben 15 und sogar seine Muttersprache Latein allmählich zu verlernen. 16 Zudem scheitert er daran, sich erfolgreich in das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld in Tomi zu integrieren. 17 Es gelingt ihm nicht, eine Begnadigung oder zumindest eine Abmilderung seiner Bestrafung zu erwirken. Mehrfach setzt er das Leben am Schwarzen Meer mit dem Tod gleich. 18 Wie diese Zusammenstellung zeigt, sind Schwäche, Krankheit, Isolation, Depression und Scheitern eines Verbannten die immer wieder aufs Neue behandelten Themen der im Exil verfassten Elegien Ovids. Die Tristia und Epistulae ex Ponto stehen auch insofern in der Tradition der römischen Liebeselegie, als die im Text konstruierte Autor-persona bestimmte Ziele erreichen will. 19 Mich interessiert im Folgenden, wie ‚Naso‘ die wiederholte Darstellung seiner Fallibilität und seine darauf beruhende Inszenierung als in beinahe jeder Hinsicht fallibler exul poeta et patiens als Strategie einsetzt, um solche teils ineinandergreifenden Ziele nicht nur zu beschreiben, sondern ins‐ besondere auch zu verfolgen. Dazu will ich zunächst anhand der Prolog-Elegien der Tristia sowie anhand des häufig bemühten Vergleichs des Verbannten mit der mythologischen Figur des leidenden Odysseus untersuchen, wie ‚Naso‘ den Inhalt seiner Elegien durch die Herausstellung seiner Fallibilität begründet 3.1 Fragestellung und Textcorpus 85 <?page no="86"?> 20 Da trist. 4,1 von Stroh (1981) eingehend untersucht wurde, gehe ich nicht näher auf diese Elegie ein. 21 Dass sich ‚Naso‘ als exul patiens inszeniert, um auf textimmanenter Ebene Mitleid zu erregen und dadurch andere zu seiner Unterstützung zu bewegen, wurde des Öfteren festgehalten. Die Forschung beschränkt sich jedoch meist auf die bloße Nennung dieses Ziels und geht nicht näher auf die Strategien ein, mit denen es im Text verfolgt wird. In der älteren Forschung ist eine biographische Deutung vorherrschend: Der historische Autor wolle Mitleid erregen und dadurch eine Amnestie erwirken, so z.-B. Kraus (1961) 1961-1962 und Fraenkel (1970) 146-147. Dagegen argumentiert Ehlers (1988), bes. 150 und 152, dass es wirksamere Mittel für Ovid gäbe, um eine Amnestie zu erwirken, als Elegien in neun Büchern zu veröffentlichen. Ich verstehe den Appell an Mitleid und die Bitte der Autor-persona um Hilfe deshalb v.-a. textimmanent. 22 Das vorliegende Kapitel unterteilt sich somit in drei größere Teile, in denen ich einzelne Passagen und Elegien nicht in chronologischer Reihenfolge untersuche, sondern sie hinsichtlich der Funktion gruppiere, welche die Darstellung von Fallibilität jeweils hat. Bernhardt (1986) 15-16 erklärt ihre vergleichbare Herange‐ hensweise wie folgt: „Fruchtbarer und dem Charakter der ovidischen Klagedichtung angemessener scheint die Gliederung nach exilphänomenologischen Aspekten, denn bei der Lektüre der Exilbriefe kristallisieren sich [… ] Themenbereiche heraus, die der Dichter immer wieder anspricht [… ].“ Da die Fallibilität in den beiden von ‚Naso‘ übernommenen (Teil-)Rollen des exul patiens und des exul poeta immer wieder behandelter und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteter inhaltli‐ cher Bezugspunkt ist, muss die Textauswahl exemplarisch bleiben. Trist. 2 wird auf Grund der besonderen Form nicht berücksichtigt. Auch trist. 4,10 wird trotz der hohen Dichte an Selbstaussagen der Autor-persona ausgespart, da die Elegie nicht auf die Darstellung der Fallibilität ‚Nasos‘ ausgerichtet ist, sondern auf die literarisch stilisierte Nachzeichnung seines Lebenslaufs und seiner Wahl des ‚Dichterberufs‘. (Kapitel 3.2). 20 Daraufhin soll die Frage im Zentrum stehen, wie ‚Naso‘ die Dar‐ stellung seiner Fallibilität nutzt, um an die Unterstützung anderer zu appellieren (Kapitel 3.3 und 3.4) 21 und um sich als kompetenter und innovativer Dichter zu profilieren (Kapitel 3.5). 22 86 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="87"?> 23 Es liegen bereits ausführliche Analysen der prologischen und damit auch programma‐ tischen Elegien trist. 1,1 und 3,1 vor, ich gehe deshalb nur auf ausgewählte Aspekte ein. Zu trist. 1,1 s. Posch (1983) 25-65; Wulfram (2008) 283-310; Mordine (2010). Zu trist. 3,1 s. Newlands (1997); Wulfram (2008) 362-373. Zum programmatischen und prologischen Charakter von trist. 1,1 s. Besslich (1974) 6; Evans (1983) 33. Posch (1983) 25 sieht die Prologfunktion als „literarische[n] Haupteinfall“ von trist. 1,1 an. Wulfram (2008) 279-310, 361-378, 398-404 untersucht die Prolog- und Epilog-Elegien der Tristia unter der Fragestellung nach der Einheit der Bücher, deren Zuordnung zur Gattung des römischen Versepistelbuchs und der Auseinandersetzung mit Hor. epist. Die Themenwahl wird in den Prolog-Elegien von Pont. nicht mehr im Detail begründet. Das für die Tristia Gesagte lässt sich aber weitestgehend auf sie übertragen, da sie als deren unmittelbare Fortführung bezeichnet werden (Pont. 1,1,15-18, bes. 17: rebus idem, titulo differt). 24 ‚Naso‘ befindet sich zum behaupteten Abfassungszeitpunkt von trist. 1,1 noch nicht in Tomi, sondern auf der Reise dorthin (trist. 1,1,127-128; 11,1-2). Zum ‚Plot‘ bzw. ‚romanartigen Aufbau‘ der Tristia s. Holzberg (2005) 182-202. Wulfram (2008) 310-341 bezeichnet trist. 1 in gnomischen Häkchen als ‚Reiseroman‘. 25 Die Apostrophe an ein fertiges Werk ist v. a. aus Hor. epist. 1,20 bekannt. Zum Verhältnis von trist. 1,1 zu Hor. epist. 1,20 s. Besslich (1974) 1-7; Posch (1983) 25-39; Williams (1992); Newlands (1997); Hardie (2002) 297-299; Wulfram (2008) 297-310. Zur Dichtung als Stellvertreterin in Rom s. auch trist. 5,4,49-50; Pont. 2,6,3-4; 4,9,5-8; Besslich (1974) 5; Nagle (1980) 85-91; Hardie (2002) 297-300. 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 3.2.1 Der Zusammenhang zwischen Leben im und Dichten über das Exil - trist. 1,1, 3,1 und 5,1 3.2.1.1 Die Tristia als Stellvertreter ‚Nasos‘ in Rom - trist. 1,1 und 3,1 Am Beginn von trist. 1,1 23 wendet sich der eben aus Rom abgereiste 24 ‚Naso‘ wie folgt an die personifizierte Buchrolle des Tristium liber primus (1-2): Parve - nec invideo - sine me, liber, ibis in urbem, ei mihi! quo domino non licet ire tuo. Ohne mich, mein kleines Buch - ich missgönne es dir nicht - wirst du die Stadt betreten, die, ach! , dein Herr nicht betreten darf. Da ihm selbst der Zugang zur Stadt verwehrt ist, bezeichnet sich ‚Naso‘ schon in V. 3 als exul, der die apostrophierte und im Folgenden detailliert beschriebene Buchrolle als seine Stellvertreterin nach Rom schicken muss (1: sine me, liber, ibis; 3 und 15: vade; 57: tu tamen i pro me, tu, cui licet, aspice Romam). 25 ‚Naso‘ weist damit unmittelbar zu Beginn der Tristia auf seine Tätigkeit als Dichter hin, auf seine Trennung von und seine Sehnsucht nach Rom (urbs), auf seine soziale 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 87 <?page no="88"?> 26 In trist. 1,1 finden sich mehrere Verba dicendi, mit denen ‚Naso‘ das von ihm gewünschte ‚Verhalten‘ der Buchrolle in Rom beschreibt: gratari (15), dicere (19, 67, 119), negare (19), loqui (22), defendere (25), peragere mandata (35). 27 Hardie (2002) 283-284, 300 weist auf die häufige Verwendung von Phrasen wie quolibet modo, qua licet und qua possum hin, durch deren Verwendung ‚Naso‘ betont, ausschließlich durch seine Dichtung in Rom präsent sein zu können. 28 Der physische Zustand des Buches, welches das Lesepublikum in Händen hält, ent‐ spricht nicht dem im Text beschriebenen, sondern wird erst durch den Akt des Lesens in der damit einhergehenden Imagination der Lesenden geschaffen. S. dazu Mordine (2010) 526-530, die das als Hinweis auf die Fiktionalisierung des Exil-Narrativs liest. 29 Übliche Zierelemente, die der liber nicht haben darf, sind eine purpurfarbene Hülle (5-6), ein in Zierschrift verfasster außen angebrachter titulus (7), ein mit Zedernöl eingeriebener und mit Bimsstein geglätteter Papyrus (7, 11-12) und Zierknöpfe an beiden Enden der Buchrolle (8). S. dazu die auf S.-87 Anm.-23 genannte Literatur. 30 Williams (1992) zeigt anhand der Wörter infelix (4), fucus (5), cedrus (7), felix (9), pumex-(11), hirsutus (12) und litura (13), dass Aussagen über das Äußere der Buchrolle auch auf ihren Stil und Inhalt zu beziehen sind. 31 Die gleiche Aussage findet sich in trist. 3,1,15-16. S. dazu Williams (1992) 187-188; Wulfram (2008) 286-287. Auch Ov. epist. 3,3 (Briseis an Achilles) erwähnt durch Tränen Isolation (sine me) und auf sein Klagen darüber (ei mihi! ). Dadurch umschreibt er seinen Zustand als exul poeta et patiens in kondensierter Form und weist zugleich auf zentrale Themen der kommenden Elegien voraus. Indem er die Buchrolle als seine Stellvertreterin, die für ihn sprechen werde, einsetzt, fordert er aber auch zu einer biographischen Lektüre auf. 26 Denn nur durch Dichtung sei es ihm möglich, in Rom präsent zu bleiben (15-16: verbisque meis loca grata saluta; / contingam certe quo licet illa pede). 27 Diese Aufforderung zur biographischen Lektüre wird im Folgenden aufge‐ griffen. Nach der ‚Inhaltsangabe‘ im ersten Distichon geht ‚Naso‘ detailliert auf die zu imaginierende äußere Beschaffenheit der apostrophierten Buchrolle ein: 28 Der liber dürfe, so ‚Nasos‘ Auftrag, keine sonst üblichen Zierelemente haben (3-12), sondern müsse äußerlich dem Erscheinungsbild seines Verfassers entsprechen (3: vade, sed incultus, qualem decet exulis esse; 10: fortunae memorem te decet esse meae). 29 Die Beschreibung dieser Beschaffenheit lässt sich auch auf den Stil und den Inhalt des Buchs beziehen. 30 ‚Naso‘ fordert also dazu auf, sein körperliches und seelisches Befinden als direkten Einfluss sowohl auf Stil und Inhalt der personifizierten Buchrolle als auch auf ihre Materialität anzusehen. Die Beschreibung der Buchrolle ist in V. 3-12 imperativisch formuliert, indem ‚Naso‘ Anweisungen gibt, wie sich der anthropomorph zu denkende liber ‚kleiden‘ soll. In V. 13-14 wiederum behauptet er ausdrücklich, dass deutlich sichtbare liturae der Buchrolle von seinen Tränen herrühren und nicht, wie es in literarischen Vorlagen der Fall ist, von Korrekturen eines sorgfältig arbeitenden Dichters (13-14). 31 Der (vermeintlich) ungepflegte poetische Stil, der klagende 88 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="89"?> verursachte liturae. Hinds (1985) 14-16 verweist auf Prop. 4,3,3-4 als Vorlage dieser Heroides-Stelle und versteht den Bezug auf Properz und Ov. epist. 3,3 v. a. als Markierung von trist. 1 als elegischer i. S. v. klagender Dichtung. 32 Zum Verhältnis von trist. 3,1 zu 1,1 s. Newlands (1997) 57-58; Wulfram (2008) 362-368. 33 Dadurch wird ein Bezug zum Titel der gesamten Sammlung hergestellt und deren Inhalt erstmals ausdrücklich als triste bestimmt. Hardie (2002) 286-287 mit Anm. 7 bezeichnet bereits die erste Verwendung des Adjektivs tristis als „phrase that names the Tristia“ (trist. 1,3,1: tristissima noctis imago). Zum Titel von trist. und Pont. s. Schröder (1999) 87-89. 34 Ov. am. 1,1,1-2: Arma gravi numero violentaque bella parabam / edere, materia conveni‐ ente modis. S. dazu Scheidegger Lämmle (2016) 179-187, Zitat S. 180 (ohne Hervorhe‐ bungen). 35 Hardie (2002) 284. Inhalt und sogar die materielle Beschaffenheit der Tristia werden dadurch als unmittelbare Folge des Lebens ihres Verfassers ausgegeben. Daran schließt der Beginn von trist. 3,1 an. 32 Die mit trist. 2 vorgebrachte Apologie hat keine Früchte getragen, denn ‚Naso‘ nennt sich bereits im ersten Vers von 3,1 miser exul beziehungsweise lässt sich vom Tristium liber tertius so nennen, der als personifizierter Sprecher und nach Rom gesandter Stellvertreter des Verbannten auftritt (1: ‚Missus in hanc venio miseri liber exulis urbem‘). Nach der an trist. 2 anknüpfenden Beteuerung, keine Liebeslehre zu sein (3-8), spezifiziert dieser liber seinen Inhalt, indem er sich mit der Aufforderung, man solle fragen, was er „mit sich bringe“, also beinhalte (9: inspice quid portem), direkt an das Lesepublikum wendet. Der liber selbst bestimmt diesen Inhalt als „ausschließlich Trauriges“ (9: nihil hic nisi triste videbis) 33 und erklärt das mit einem kausal aufzufassenden Ablativus absolutus: Buch 3 „entspreche seinen Entstehungsumständen“ (10: carmine temporibus conveniente suis), also wie schon Buch 1 dem Leben ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens. In Ov. am. 1,1,1-2 spiegelt eine in ähnlichen Worten formulierte Aussage die antike „Idee [wider], dass zwischen Dichtungsgegenstand und Dichtungsform ein passendes Verhältnis herrschen müsse.“ 34 Die Elegien trist. 1,1 und 3,1 gehen darüber hinaus, indem sie einen Zusammenhang mit der außertextuellen Welt herstellen. 35 Nicht nur die elegische Form, so behauptet ‚Naso‘, stimme mit dem Inhalt seiner Elegien überein, indem die Wahl des Versmaßes mit der Entfer‐ nung von Rom erklärt wird (3,1,11-12: clauda quod alterno subsidunt carmina versu, / vel pedis hoc ratio, vel via longa facit). Auch die Exilerfahrungen des Verfassers würden sich in Form und Gegenstand seiner Dichtung sowie in der 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 89 <?page no="90"?> 36 Trist. 3,1,13-16: quod neque sum cedro flavus nec pumice levis, / erubui domino cultior esse meo. / littera suffusas quod habet maculosa lituras, / laesit opus lacrimis ipse poeta suis. S. dazu Wulfram (2008) 364-366; S.-87 Anm.-23 und S.-88 Anm.-29. 37 S. dazu Luck (1977) 231; Frings (2005) 211-213; Wulfram (2008) 376-378. 38 Die Übersetzung von V. 10 stammt von Stroh (1981) 2639. als schäbig vorzustellenden Beschaffenheit ihres Trägermediums widerspiegeln (13-16). 36 3.2.1.2 Das Exil als Inspirationsquelle - trist. 5,1 Trist. 5,1 stellt sich in eine Reihe mit trist. 1,1 und 3,1. In den ersten beiden Versen der Elegie wird dazu aufgefordert, Buch 5 als Fortsetzung der Bücher 1-4 zu lesen, die hier als eine Einheit dargestellt werden (1-10): 37 - Hunc quoque de Getico, nostri studiose, libellum - - litore praemissis quattuor adde meis. - hic quoque talis erit, qualis fortuna poetae: - - invenies toto carmine dulce nihil. 5 flebilis ut noster status est, ita flebile carmen, - - materiae scripto conveniente suae. - integer et laetus laeta et iuvenalia lusi: - - illa tamen nunc me conposuisse piget. - ut cecidi, perago subiti praeconia casus, 10 - sumque argumenti conditor ipse mei. Auch dieses Büchlein, geneigter Leser, füge meinen vier Büchern hinzu, die ich bereits vom Getischen Strand geschickt habe. Es wird ebenfalls so sein wie das Geschick seines Dichters: Du wirst im ganzen Gedicht nichts Angenehmes finden. So beweinenswert meine Situation ist, so weinerlich ist auch meine Dichtung, da sie ihrem Inhalt entspricht. Als ich wohlauf und fröhlich war, habe ich fröhliche und jugendlich unbeschwerte Gedichte scherzhaft zu Papier gebracht. Jetzt aber ärgert es mich, jene Gedichte verfasst zu haben. Seit meinem Zusammenbruch verbreite ich die Kunde meines plötzlichen Unglücks und ich bin Dichter eines Stoffs, der ich selbst bin. 38 Durch die Verwendung vergleichender Konstruktionen (zwei Mal quoque; talis, qualis; ut, ita) wird die mit Buch 5 vorliegende Elegiensammlung erneut mit der Lage (3: fortuna) ihres Verfassers parallel gesetzt und als ebenso flebilis-(5) bezeichnet wie seine Dichtung (1-6). Diese Engführung wird verstärkt, indem auf den Gegensatz hingewiesen wird, der zwischen den früheren und den 90 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="91"?> 39 Stellenangaben dazu S.-83 Anm.-3. 40 Damit wird auch ein Persuasionsziel formuliert, das in die Elegie eingeschrieben ist: Ändern sich die Lebensumstände ‚Nasos‘, ändert sich auch der traurige Inhalt seiner Dichtung (39-46). Wer laeta et iuvenalia (7) lesen wolle, müsse sich also für seine Begnadigung einsetzen. S. dazu auch S.-94-95. 41 Ähnlich Stroh (1981) 26-67 Anm. 146; Videau-Delibes (1991) 395. Ovid transformiert damit ein Motiv der römischen Liebeselegie, in der die umworbene und das Leiden des poeta amator verursachende puella häufig als Inspirationsquelle genannt wird, so z.-B. Prop. 2,1,1-4: Quaeritis unde mihi totiens scribantur amores, / unde meus veniat mollis in ora liber. / non haec Calliope, non haec mihi cantat Apollo: / ingenium nobis ipsa puella facit. jetzigen Werken ‚Nasos‘ besteht: Anders als jetzt habe er als junger Mann jugendlich unbeschwerte Texte verfasst (7). Zwar bestreitet er durch die Gegen‐ überstellung der Junkturen integer et laetus und laeta et iuvenalia nicht, dass eine gewisse Beziehung auch zwischen der Lebenssituation und dem Inhalt seiner früheren Werke besteht, auf deren Autorschaft er in den Exilelegien wiederholt hinweist. 39 Doch konstruiert er dadurch für diese Werke keinen direkten Zusammenhang zwischen Leben und Dichtung. Vielmehr betont er, erst seit seinem Zusammenbruch (9: ut cecidi) ‚Stoff ‘ seiner Gedichte zu sein (9-10). ‚Naso‘ kann so die Anzahl der in den Tristia geäußerten Klagen ausdrücklich mit seinen in Tomi gemachten Erfahrungen begründen (25-26: si tamen e vobis aliquis, tam multa, requiret, / unde dolenda canam, multa dolenda tuli). Er antizipiert hier eine Nachfrage, auf die hin er beteuert, dass seine als dolenda bezeichneten Erlebnisse nicht erfunden seien; vielmehr gebe seine Dichtung nur einen kleinen Teil dessen wieder, was er durchmachen müsse (27-29: non haec ingenio, non haec conponimus arte: / Musa mea est propriis ingeniosa malis. / at quota fortunae pars est in carmine nostrae! ). Er kann eine vergleichbare Erkun‐ digung, die er wenig später in direkter Rede ausformuliert, deshalb wie folgt beantworten: Er werde erst aufhören, tränenreiche Werke zu schreiben, wenn auch seine Verbannung ein Ende finde (35-36: ‚quis tibi, Naso, modus lacrimosi carminis? ‘ inquis. / idem, fortunae qui modus huius erit). 40 Er geht sogar so weit, seine Elegien als „Diktat des Schicksals“ zu bezeichnen, so dass nicht etwas Angenehmes oder Erstrebenswertes als Inspirationsquelle für den exul poeta genannt wird, sondern die leidvollen Erfahrungen des exul patiens (37-38: quod querar, illa [sc. fortuna] mihi pleno de fonte ministrat, / nec mea sunt, fati verba sed ista mei). 41 Auch der Ich-Sprecher der Ars amatoria, der sich in der Rolle des praeceptor amoris ebenfalls ‚Naso‘ nennt, gibt seine Stoffwahl nicht als Folge göttlicher Inspiration, sondern als Folge eigener Erfahrung aus (ars 1,1,23-30). Mit Cédric 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 91 <?page no="92"?> 42 Scheidegger Lämmle (2016) 194-196. Frings (2005) 101-125 zeigt, wie die Autor-persona der Ars amatoria ihre didaktische Kompetenz als praeceptor amoris durch intertextuelle Bezüge bzw. Selbstzitate auf den Erfahrungen beruhen lässt, die der Ich-Sprecher der Amores gemacht hat. 43 S. dazu Ingleheart (2010) 288-290. 44 Zum Motiv der Gedichtbücher als Kinder ihres Verfassers s. Thomsen (1979) 67-79; Nagle (1980) 82-92. Zur Doppeldeutigkeit von corpus (literarisches Corpus vs. Körper) s. Scheidegger Lämmle (2016) 35, 222-224. 45 Zu Pont. 4,16 s. Kap. 3.5.3. Scheidegger Lämmle sehe ich diese Rückführung der didaktischen Kompetenz des praeceptor amoris in der Ars amatoria aber vor allem als Mittel an, um einen Werkzusammenhang mit den früher veröffentlichten Amores herzustellen. 42 Aus der rückblickenden und apologetischen Perspektive von trist. 2 fordert der verbannte ‚Naso‘ dazu auf, Leben und Werk eines Autors erotischer Werke grundsätzlich voneinander zu trennen (trist. 2,353-356). 43 Für die Tristia und Epistulae ex Ponto hingegen fordert er, genau diese Trennung nicht durchzu‐ führen, indem er die Elegien als direkte Folge des Erlebens seiner Verbannung ausgibt. Zwei Epilog-Elegien greifen dieses Argumentationsmuster auf. In trist. 3,14 bittet ‚Naso‘ einen Freund und Förderer, dafür zu sorgen, dass er in Rom nicht „zur Gänze abwesend“ ist (4: totus abesse), und setzt erneut die eigenen Gedichte als Stellvertreter ein: Als sein „Kind“ (12: nati; 14: stirps) soll sein literarisches Corpus auch seinen physischen Körper in Rom repräsentieren (7-8: retine corpus in urbe meum. / est fuga dicta mihi, non est fuga dicta libellis). 44 Zudem fordert er abermals dazu auf, bei der Beurteilung der in Buch 3 enthaltenen Elegien auch deren Entstehungsumstände zu berücksichtigen (27-28: quod quicumque leget - siquis leget - aestimet ante, / conpositum quo sit tempore quoque loco). In Pont. 4,16 sagt er im vorletzten Distichon, alles außer dem bloßen Leben verloren zu haben, das ihn nicht nur leiden lasse, sondern auch die einzige Inspirationsquelle für ihn sei, so dass ihm gar keine andere Möglichkeit bleibe, als klagende Elegien zu schreiben (49-50). 45 3.2.2 Persuasionsziel: Öffentliche Wahrnehmung als exul poeta et patiens - trist. 1,1 Welche Persuasionsziele ‚Naso‘ mit der in den vorausgehenden Abschnitten beschriebenen Parallelsetzung von Exilerleben und Exildichtung, mit der damit einhergehenden Aufforderung zur biographischen Lektüre seiner Elegien und mit der steten Thematisierung seiner Fallibilität verfolgt, will ich im Folgenden anhand von trist. 1,1 zeigen. Auf Grund der Stellung dieser Elegie am Anfang 92 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="93"?> 46 ‚Naso‘ erteilt dem Buch in trist. 1,1,69-104 explizite Anweisungen für das Auftreten gegenüber Augustus, so dass im Text selbst eine Begnadigung (34: sedibus in patriis […] posse mori) als Ziel der Publikation bestimmt wird, so Wulfram (2008) 289. Zum Verhältnis des historischen Ovid und seiner im Text konstruierten Autor-persona zu Augustus und dem Kaiserhaus s. Williams (1994) 154-209; McGowan (2009) 63-120, 191-197; Seibert (2014) 24-30; Galfré (2020). 47 Zu ‚Nasos‘ Streben nach öffentlicher Wahrnehmung s. auch trist. 3,4,45-46; 5,1,11-14, 79-80; 5,3,57-58; Pont. 2,6,3-4; 3,4; 3,5,33-44. Evans (1983) 94-95 zufolge waren die im Exil vefassten Elegien publica carmina (trist. 5,1,23), also keine private Kommunikation, sondern die Bemühung Ovids, sich poetisch neu zu erfinden und dadurch in der römischen Öffentlichkeit präsent zu bleiben. Ähnlich Nagle (1980) 78-81; Hinds (1985) 26; Ehlers (1988); Holzberg (2005) 201-202. Helzle (1989a) 25 zufolge werden v. a. in Pont. Kulturförderer und andere Poeten adressiert, welche die Elegien in Rom verbreiten konnten. 48 Wulfram (2008) 287 bezeichnet mandare (35, 119, 123) als „Schlüsselwort“ von trist. 1,1. Auffällig ist zudem die Häufung zwölf imperativischer Verbformen in den ersten 15 Versen: vade (3), habe (4), nec velent (5), nec notetur (7), nec geras (8), ornent (9), te decet (10), nec poliantur (11), videare (12), neve pudeat (13), vade (15), grata (15). Weitere an den liber gerichtete auffordernde Verbformen finden sich in V. 22, 25, 49, 50, 57, 60, 63, 67, 87, 88, 93, 97, 101, 104, 113, 114, 116, 119, 127. der Tristia und ihres damit einhergehenden prologischen Charakters, lassen sich die aus der Analyse von trist. 1,1 gewonnenen Erkenntnisse auch auf die kommenden Elegien übertragen. Da sich die Ziele, die der historische Autor mit der Publikation der Elegien in Rom verfolgt hat, nicht rekonstruieren lassen, deute ich trist. 1,1 textimmanent, gehe also nur auf solche Ziele ein, welche die Autor-persona ‚Naso‘ selbst im Text formuliert: Die angesprochene Buchrolle soll als seine Stellvertreterin seinen desolaten Zustand als exul patiens in Rom bekannt machen. Auf der einen Seite soll dies Mitleid hervorrufen und dadurch die adressierten Personen sowie das Lesepublikum zur Hilfe und Fürsprache bei Augustus motivieren. 46 Auf der anderen Seite soll ihn die Publikation als exul poeta in der öffentlichen Wahrnehmung Roms präsent halten. 47 Welche Ziele ‚Naso‘ mit der Publikation in Rom verfolgt, geht in trist. 1,1 daraus hervor, dass er den personifizierten Tristium liber primus, an den er sich wendet, nach Rom schickt und ihm explizite Aufträge erteilt. 48 Die futurischen Verbformen, mit denen ein solcher Auftrag ab V. 17 spezifiziert wird, lassen sich als auffordernde und zugleich als feststellende Aussagen verstehen: Die Buchrolle soll und wird das Lesepublikum in Rom nicht nur durch ihr schäbiges Äußeres (3-16), sondern auch durch ihren Inhalt über den Zustand des Verbannten informieren. ‚Naso‘ selbst reduziert diesen Zustand auf folgende Formel, die sich als knappe Zusammenfassung der kommenden Elegien lesen lässt: ‚Ich lebe, aber es geht mir nicht gut‘ (19: vivere me dices, salvum tamen esse negabis). Er legt dem personifizierten liber diese Worte als Antwort auf 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 93 <?page no="94"?> 49 Ähnlich Posch (1983) 35: „Fast hat man den Eindruck, Ovid habe […] sein Problem (quid agam) ins Zentrum des öffentlichen Interesses zwängen wollen.“ 50 Trist. 1,1,29-30: optet, / sit mea lenito Caesare poena levis; 33-34: quaeque volet, rata sint, ablataque principis ira / sedibus in patriis det mihi posse mori. Posch (1983) 37-38 hebt hervor, dass hier weder ‚Naso‘ noch der liber eine Begnadigung wünschen. Vielmehr sollen die Leserinnen und Leser dies tun. 51 Hervorzuheben ist neben den in V. 3-12 genannten Begriffen, die das Äußere der Buchrolle und den Stil ihres Inhalts beschreiben (s. dazu S. 88 Anm. 30), v. a. das in V. 39, 41 und 43 jeweils am Versanfang gebrauchte carmen, des Weiteren lector (23), liber (35), ingenium (36, 56), iudex (37, 45, i. S. v. Kritiker), deducere (39), scribere (41, 46), otium (41), legere (46, 50, 88), color (61, i. S. v. Stil). 52 S. dazu Nagle (1980) 114-115. mögliche Nachfragen nach seinem Wohlergehen in den Mund (18: siquis, qui, quid agam, forte requirat, erit), will durch die Publikation seiner Dichtung in Rom also als leidender Verbannter, als exul patiens, wahrgenommen werden. 49 Angesichts dessen soll das geneigte Lesepublikum von der Lektüre emotional berührt werden (27-28: invenies aliquem, qui me suspiret ademptum, / carmina nec siccis perlegat ista genis), deshalb ein Nachlassen von Augustus’ Zorn und eine Abmilderung der durch ihn verhängten Bestrafung wünschen und sich auch für eine solche Abmilderung einsetzen (29-30, 33-34). 50 Das erklärt im ersten Gedicht der Tristia deren thematische Ausrichtung: Um das Mitleid der adressierten Personen und des Lesepublikums erregen und sie dadurch zur Fürsprache bei Augustus bewegen zu können, muss sich der exul patiens möglichst umfangreich und möglichst häufig als hilfsbedürftig inszenieren. Doch lenkt ‚Naso‘ die Aufmerksamkeit auch auf seine Tätigkeit als exul poeta: Zum einen gibt er sich bereits in trist. 1,1,1-2 als Autor der angesprochenen und personifizierten Buchrolle zu erkennen, verwendet über die gesamte Elegie hinweg eine Vielzahl an Vokabular, das sich dem Bereich der Dichtkunst zuordnen lässt, 51 und übernimmt die Autorschaft früherer Werke Ovids (63-68, 105-122). Zum anderen entschuldigt er die im Vergleich zu diesen früheren Werken vermeintlich minderwertige Qualität der Tristia mit dem emotionalen Ausnahmezustand, in dem er sich befinde, und mit den als extrem widrig be‐ schriebenen äußeren Entstehungsbedingungen, angesichts derer sogar Homers poetisches Talent versagen würde (35-48). 52 Dass ‚Naso‘ trotzdem dichtet, stellt in Form eines performativen Selbstwiderspruchs sein poetisches Können unter Beweis, so dass er in der öffentlichen Wahrnehmung Roms als zwar leidender, aber zugleich versierter Autor - also als exul poeta et patiens - präsent bleiben kann. Auf diese Weise wird die Verbannung nicht nur hier und in allen anderen Prolog-Elegien der Tristia (3,1,17-18; 4,1,1-4; 5,1,69-74), sondern auch an 94 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="95"?> 53 Hier nur eine Auswahl aus drei Epilog-Elegien: 1,11; 3,14,27-52; Pont. 3,9,1-20. Die ältere Forschung hat die Qualität der im Exil verfassten Elegien teils tatsächlich für minderwertig gehalten. Nagle (1980) 140 Anm. 46 listet entsprechende Meinungen auf. Besonders drastisch fällt das Urteil bei Norden (1954) 75 aus: Die Epistulae ex Ponto gehören „zu dem Inhaltsleersten der ganzen römischen Literatur.“ 54 Nagle (1980) 109-166; Williams (1994) 50-99, der das entsprechende Kapitel seiner Monographie mit „Ovid’s pose of poetic decline“ übertitelt. 55 Scheidegger Lämmle (2016) 69-70 schreibt in einem Text gegebenen Hinweisen auf Mängel dieses Textes eine Appellfunktion zu, die dazu auffordert, ‚genau hinzusehen‘ und die Qualität des Texts zu würdigen. Luck (1961) untersucht Stil und Sprache der Tristia und stellt keinerlei Unterschied zu früheren Werken Ovids fest. Noch weiter geht Claassen (2008) 85-110: „Ovid’s exilic poems may be judged, at the prosodic level, as the culmination of his oeuvre.“ Gaertner (2007) 161-171 beschreibt den Stil der Exildichtung als „more prosaic and colloquial than that of [Ovid’s] earlier works“ (S. 165), führt diesen Umstand aber primär auf Konventionen antiker Epistolographie zurück (S. 168-169) und stellt demnach keinen ‚Qualitätsunterschied‘ fest. Trist. 1,1,59-62 behauptet, man erkenne den Autor der Tristia anhand des „Stils“ (color), woraus Wulfram (2008) 293 mit Anm. 298 ableitet: „So grundverschieden können für [Ovid] demnach die Tristien gar nicht von den noch in Rom entstandenen Werken sein.“ Ders. S. 294 weist zudem darauf hin, dass „die früheren Werke Ovids [in trist. 1,1,107] vor dem personifizierten Tristien-Buch gleichranging als fratres bezeichnet“ werden. zahlreichen weiteren Stellen für die vermeintlich geringe Qualität der Elegien verantwortlich gemacht. 53 Entsprechende Aussagen signalisieren, dass sich ‚Nasos‘ literarisches Werk, auf jeden Fall aber dessen Inhalt verändern werde, sobald sich seine Lebensumstände verändert hätten. Wolle man wieder fröhliche und hochwertige Dichtung lesen, wie sie ‚Naso‘ vor seinem Exil geschrieben habe (trist. 5,1,7: integer et laetus laeta et iuvenalia lusi), müsse man sich also für seine Rückberufung einsetzen. Wie Betty R. Nagle und Gareth D. Williams zeigen, ist dies jedoch nur eine „pose of poetic decline“: 54 Durch die Herausstellung der miserablen Lage des exul patiens und der daraus resultie‐ renden schwerwiegenden Folgen für jede literarische Tätigkeit des exul poeta wird das Lesepublikum in Form einer steten captatio benevolentiae regelrecht dazu gedrängt, das Niveau der vorliegenden Dichtung zu hinterfragen und als hochwertig anzuerkennen. 55 3.2.3 ‚Nasos‘ ‚Odyssee‘ - trist. 1,5 und Pont. 4,10 Der Mythos dient in den Tristia und Epistulae ex Ponto unter anderem als Folie zur Selbstanalyse, Selbstdefinition, Selbstdarstellung und Selbstmytho‐ logisierung der Autor-persona. In den meisten Fällen werden jedoch keine „ausführliche[n] Ekphras[en] der Mythenerzählung“ geboten, sondern lediglich „Paraphrasierungen, manchmal hinweisende Andeutungen auf einen Mythos“, 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 95 <?page no="96"?> 56 Seibert (2014) 163-214, Zitat S. 167. Zu einem Überblick über Ovids Umgang mit dem Mythos s. Graf (2002), der die Lizenz eines jeden Autors betont, Mythen für seine Zwecke neu- oder umzuschreiben, und damit die Selektivität und Tendenziösität des Mythos in Ovids Werken erklärt. 57 Zu diesem Leitmotiv s. Rahn (1958); McGowan (2009) 168-201; Seibert (2014) 215-250; Möller (2020). Odysseus bzw. Ulixes wird zehn Mal namentlich erwähnt: trist. 1,2,9-10; 1,5,57-84; 3,11,61-62; 5,5,3-4, 49-52; Pont. 1,3,33-34; 2,7,60; 3,1,53; 3,6,19-20; 4,10,9-30. Mehrfach wird auf den Mythos verwiesen, ohne dass der Heros namentlich genannt wird. Stellenangaben dazu bei McGowan (2009) 184; Seibert (2014) 215 Anm. 3. Auf solche kurzen und/ oder indirekten Erwähnungen dieses und anderer Mythen gehe ich nicht ein. S. dazu Schubert (1992) 251-354; McGowan (2009) 171-201; Seibert (2014) 162-214. 58 McGowan (2009) 172. 59 Rahn (1958) 116. Ähnlich die Kapitelüberschrift bei Holzberg (2005) 183: „Odysseus bei den Geten“. 60 Hinds (1985) 17-18. Die Ars wird in V. 114 auch mit Ödipus verglichen, ‚Nasos‘ Situation also auch als einer dramatischen Bearbeitung würdig dargestellt. 61 Trist. 1,1,119-120: his [sc. libris metamorphoseon] mando dicas, inter mutata referri / for‐ tunae vultum corpora posse meae. S. dazu Hinds (1985) 20-21; Wulfram (2008) 294: Ovid „fügt […] das ‚autobiographische‘ Tristien-Buch […] gleichsam als einen Annex, einen liber sextus decimus den Metamorphosen an.“ in denen einzelne Facetten herausgegriffen, somit unterschiedliche Mythen auf einen oder wenige zentrale Aspekte reduziert und für die Selbstdarstellung ‚Nasos‘ funktionalisiert werden. 56 Für diese Selbstdarstellung und die Veran‐ schaulichung seiner Situation greift ‚Naso‘ am häufigsten auf den Mythos des Odysseus zurück, der als Leitmotiv der gesamten Exildichtung anzusehen ist, auch wenn auf ihn oftmals nur mit sehr kurzen und/ oder indirekten Erwähnungen angespielt wird. 57 Zwar ist auf Grund des elegischen Versmaßes von Anfang an klar, dass es sich bei den Tristia nicht um ein Epos handeln kann. 58 Doch rückt ‚Naso‘ selbst seine Verbannung und damit den Inhalt seiner Elegien von Beginn an in die Nähe von Epos und Mythos. Bereits im ersten Buch der Tristia, das Helmut Rahn als „ovidische Odyssee“ bezeichnet, 59 stellt ‚Naso‘ die Erfahrungen, die er auf der Anreise nach Tomi macht, in unterschiedlichen Kontexten als episch-heroische Erlebnisse dar. Am Ende von trist. 1,1 setzt er nicht nur die gleichsam personifizierte Ars amatoria mit dem Vatermörder Telegonos und dadurch sich selbst mit dessen Vater Odysseus gleich (113-114). 60 Er erteilt der anthropomorph zu denkenden und nach Rom geschickten Buchrolle auch den Auftrag, den Metamorphosen mitzuteilen, die drastische Veränderung seiner eigenen Lebenssituation unter die ‚Verwandlungen‘ aufzunehmen (119-120). 61 Im ‚Plot‘ von trist. 1 ist ‚Naso‘ zum Abfassungszeitpunkt von 1,1 schon aus Rom abgereist, befindet sich aber noch auf der Anreise an den endgül‐ 96 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="97"?> 62 S. dazu S.-87 Anm.-24. 63 Helzle (2003) 16. 64 S. dazu Videau-Delibes (1991) 23-34; Hardie (2002) 286-288; McGowan (2009) 173-175. Wulfram (2008) 316-322 liest trist. 1,2 und 1,4 als Beschreibung ein und desselben Sturms, in dem (1,3) ‚Naso‘ „die Erinnerung an den als traumatisch empfundenen Abschied von Heimat, Haus und Gattin“ überfällt (S.-319). 65 S. z. B. trist. 3,2,7: plurima sed pelago terraque pericula passum; 3,11,59: tot mala sum fugiens tellure, tot aequore passus; 4,10,107: totque tuli terra casus pelagoque. 66 Rahn (1958) 116. tigen Bestimmungsort an der Westküste des Schwarzen Meers. 62 Er berichtet auf dieser Anreise über die Trennung von nahestehenden Menschen und seiner Frau (1,5; 1,6), über die Route nach Tomi (1,9) und die Widrigkeiten seiner Reise. Mit 1,2, 1,4 und 1,11 liegen insgesamt drei Sturmbeschreibungen vor, der „erste Eindruck, den der Leser [in 1,2] vom Ich-Erzähler gewinnt, ist - genau wie bei Hom. Od. 5,299 - mitten im Sturm.“ 63 Zudem rahmen die beiden Sturmbeschreibungen in 1,2 und 1,4 eine Elegie ein (1,3), in der die Schil‐ derung von ‚Nasos‘ letzter Nacht in Rom eng an Schilderungen vom Untergang Trojas und Aeneas’ Flucht aus der Stadt in epischen Dichtungen angelehnt ist. 64 Dadurch evoziert trist. 1 die Nähe zu Irrbeziehungsweise Seefahrten bekannter Heroen sowie zur letzten Nacht des Aeneas im brennenden Troja. Zudem erinnern Formulierungen, mit denen ‚Naso‘ seine Lage beschreibt, an Hom. Od. 1,4 und Verg. Aen. 1,1-4, wodurch er sich ebenfalls in eine Reihe mit den Titelhelden dieser beiden Epen stellt. 65 Im Folgenden soll mit Blick auf trist. 1,5 und Pont. 4,10 analysiert werden, wie ‚Naso‘ diese Episierung und Mythologisierung seiner Verbannung nutzt, um einerseits die literarische Verarbeitung seines Exils zu rechtfertigen und um sich andererseits als kompetenter Dichter zu inszenieren. 3.2.3.1 Der Vergleich ‚Nasos‘ mit Odysseus in trist. 1,5 Liest man Buch 1 als „ovidische Odyssee“, 66 ist trist. 1,5 deren Höhepunkt. Die Elegie lässt sich in zwei beinahe gleich lange Teile gliedern (1-44, 45-84). In der ersten Hälfte wendet sich der Verbannte an den anonym bleibenden Adressaten: Anders als vor seiner Relegation würden ihn nur noch sehr wenige Freunde unterstützen und er habe den Allgemeinplatz, dass sich wahre Freundschaften erst in echten Notlagen zeigen, am eigenen Leib erfahren (25-34). Umso überschwäng‐ licher dankt ‚Naso‘ dem Adressaten für die bisherige Unterstützung (1-16), verpflichtet ihn zugleich aber auch zu weiterer Hilfe (35-44). Er erwähnt mit Theseus und Pirithous, Orest und Pylades sowie Euryalus und Nisus bekannte mythologische Freundespaare (17-24), kann so dieser Verpflichtung Nachdruck 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 97 <?page no="98"?> 67 Seibert (2014) 170-174 zeigt, wie die Erwähnung mythologischer Freundespaare auch andernorts dazu genutzt wird, die Adressaten- und Leserschaft an ihre Freundestreue zu erinnern und zu Hilfe anzuspornen. Anders Davisson (1993) 225-228: „The knowledge that Theseus and Pylades risked their lives and that Nisus lost his might intimidate Ovid’s contemporaries rather than encourage them.“ 68 Die Synkrisis mit Odysseus umfasst acht Punkte: Strecke der Irrfahrten bzw. der Anreise ins Exil (59-62), Anzahl und Zuverlässigkeit der Gefährten (63-64), emotionaler Zustand bei der Abreise von Troja bzw. Rom (65-66), Unbedeutsamkeit Ithakas und Größe Roms (67-70), Voraussetzungen zum Ertragen von Strapazen (71-74), Zorn und Hilfe der Götter (75-78), ‚Faktizität‘ der Irrfahrten und des Exils (79-80), Heimkehr (81-84). ‚Nasos‘ Erzählung in V. 59-84 weicht stark von der homerischen Version des Mythos ab. S. dazu S.-102-105. 69 Odysseus reagiert mit seiner Erzählung auf die Nachfrage Aretes, der Frau des Alkinoos (Od. 7,241-242), Aeneas auf die Nachfrage Didos (Aen. 2,10-13). verleihen, zugleich aber auch seine eigene Hilfsbedürftigkeit hervorheben und sich selbst und seine Strapazen in die Nähe bekannter mythologischer Figuren stellen. 67 Daran knüpft der zweite Teil der Elegie an, in dem ‚Naso‘ darlegt, warum er überhaupt Hilfe nötig hat (45-84). Noch bevor er in einer ausführlichen Synkrisis mit Odysseus behauptet, mehr erleiden und ertragen zu müssen als der ‚Dulder par excellence‘ (59-84), stellt er seine Situation in die Nähe der Herausforderungen des homerischen Odysseus und des vergilischen Aeneas. 68 Beide Heroen reagieren in Hom. Od. und Verg. Aen. gleich auf die Aufforderung, ihre bisherigen Erlebnisse zu schildern: Sie betonen zunächst, wie schwierig es sei, all ihre Abenteuer zu berichten, erzählen sie dann aber ausführlich. 69 ‚Naso‘ antizipiert zu Beginn des zweiten Teils von trist. 1,5, ebenfalls aufgefordert zu werden, seine bisherigen Erlebnisse als Verbannter zu berichten (45-48): 45 scire meos casus siquis desiderat omnes, - - plus quam quod fieri res sinit, ille petit. - tot mala sum passus quot in aethere sidera lucent, - - parvaque quot siccus corpora pulvis habet. Wenn einer mein ganzes Unglück erfahren will, fordert er mehr, als meine Situation zulässt. So viel Leid habe ich ertragen, wie viele Sterne am Himmel leuchten und wie viele kleine Körnchen der trockene Staub hat. ‚Naso‘ wendet in der Reaktion auf die von ihm antizipierte Aufforderung die gleiche rhetorische Strategie an wie Odysseus und Aeneas, zwei der bekann‐ testen Helden des antiken Epos: Mit dem Hinweis auf die große Anzahl seiner Strapazen betont er zunächst die Unmöglichkeit der erbetenen Erzählung, berichtet dann jedoch detailliert von seinen Strapazen - und das nicht nur in der 98 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="99"?> 70 Zudem erinnern ‚Nasos‘ Worte in V. 45 an diejenigen, mit denen Aeneas seine Erzählung vom Fall Trojas vor Dido beginnt (Aen. 2,10: sed si tantus amor casus cognoscere nostros). In V. 45 bezeichnet ‚Naso‘ seine Strapazen mit der gleichen Vokabel, mit der in Aen. 1,9 die Erlebnisse des Titelhelden benannt werden: casus. 71 Hom. Il. 2,488-490 als Einleitung des Schiffkatalogs in der Übs. von Wolfgang Schade‐ waldt: „Die Menge freilich könnte ich nicht künden und nicht benennen, auch nicht, wenn mir zehn Zungen und zehn Münder wären und die Stimme unbrechbar, und mir ein ehernes Herz im Inneren wäre.“ Dieser Topos findet u. a. Verwendung in Verg. georg. 2,42-44 (Bitte an Maecenas um Inspiration); Aen. 6,625-627 (Aufzählung von Unterweltsstrafen durch Sibylle); Ov. ars 1,435-436 (Warnung vor unzähligen Arten, mit denen Frauen Männern Geschenke entlocken); fast. 2,119-120 (Lob des Augustus); met. 8,533-535 (Trauer der Schwestern des verstorbenen Meleagros). Eine Analyse dieser Stellen bietet Hinds (1998) 34-47. 72 Hinds (1998) 43; McGowan (2009) 175-177. Beide lesen die Ausdrücke pluraque ora und cum linguis pluribus (54) als Steigerung gegenüber den genannten Vorlagen. unmittelbar folgenden Synkrisis mit Odysseus, sondern auch in acht weiteren Büchern Tristia und Epistulae ex Ponto. 70 Die große Anzahl seiner Leiden veranschaulicht ‚Naso‘ nicht nur, indem er sie topisch mit der Anzahl der Sterne am Himmel und der Sandbeziehungsweise Staubkörner vergleicht, sondern auch, indem er in V. 53-56 behauptet, selbst mit einer unermüdlichen Stimme (53: vox infragilis), mit einer Lunge stärker als Eisen (53: pectus […] firmius aere) und mit zahlreichen Mündern und Zungen (54: pluraque cum linguis pluribus ora) könnte er nicht umfassend erzählen, was er bisher durchgemacht habe, da diese Erlebnisse als Gegenstand von Dichtung seine poetischen Kräfte überträfen (56: materia vires exuperante meas). Damit ruft er den auf Hom. Il. 2,488-490 zurückgehenden sogenannten „many-mouth-topos“ auf und überbietet ihn. 71 Waren es in der Ilias zehn, in der Aeneis 100, in den Metamorphosen 100 und in den Fasti 1000 Zungen beziehungsweise Münder, so bleibt deren Anzahl hier unbestimmt. 72 ‚Naso‘ behauptet dadurch nicht nur, dass seine Leiden unzählbar seien, sondern auch, dass sie auf Grund ihrer Anzahl und ihres Ausmaßes darstellungswürdiger seien als der Inhalt der hier aufgerufenen literarischen Vorlagen, insbesondere im Vergleich mit den Erlebnissen des Odysseus (57-58): - pro duce Neritio, docti, mala nostra, poetae, - - scribite: Neritio nam mala plura tuli. Anstatt über den Anführer aus Neritos, gelehrte Dichter, schreibt über mein Unglück. Denn ich habe mehr Unglück ertragen als der Anführer aus Neritos. 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 99 <?page no="100"?> 73 Anders Feddern (2021b). Er ist der Ansicht, „dass Ovids Schilderung zwar nicht frei von Übertreibungen ist, [aber] ernsthaft seine trostlose Situation“ darstellen soll (S. 361) und dass der historische „Ovid ernsthaft (ohne Komik und ohne Fiktionen) behauptet, in seinem realen Leben ein schlimmeres Unglück als Odysseus zu erleiden“ (S. 367, 376-377, 379). 74 Der Begriff Pathos-Kompetenz geht zurück auf Fuhrer (2022). Sie bezeichnet ‚Naso‘ als „figure that can lament and moan in a ‚competent‘ and rhetorically effective fashion“ (S. 190) und bilanziert: „The author Ovid creates an entirely new kind of figure - the figure of a failure who precisely because of his constant failing has at his disposal very specific experiences and skills and - thanks to his ‚pathological‘ knowledge - surpasses all previous hero-exemplars, even ‚patient‘ Odysseus“ (S.-196). 75 Zur Verwendung des Stilmittels der Hyperbolé in trist. und Pont. s. Tissol (2014) 6-18; Feddern (2021a), bes. 115-118; Fuhrer (2022). 76 McGowan (2009) 169-201 erkennt darin den Anspruch, Homer gleichzukommen: „in his capacity as poet (ingenium), Ovid is like Homer; in the amount of his suffering in exile (mala), he is like Ulysses“ (S.-177). Zwar sagt ‚Naso‘, dass er selbst eine solche literarische Darstellung nicht leisten könne. Er beweist in einem performativen Selbstwiderspruch aber gerade dadurch das genaue Gegenteil, dass er nicht nur im weiteren Verlauf von trist. 1,5 detailliert auf seine eigene Situation eingeht, sondern sein Leben in Tomi auch zum Gegenstand (56: materia) weiterer 90 Elegien in acht Büchern macht und es dabei aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Da sich im hier besprochenen Abschnitt aus trist. 1,5 zahlreiche intertextuelle Bezüge finden und ‚Naso‘ zudem ausdrückliche Aussagen über das eigene Dichten trifft, ist die Passage als rhetorischer Text zu verstehen, der ein bestimmtes Persuasionsziel verfolgt: 73 Je größer ‚Naso‘ die Herausforderungen präsentiert, mit denen er sich seiner Aussage nach konfrontiert sieht, desto grö‐ ßere Kompetenz kann er beanspruchen. Zum einen schreibt er sich Pathos-Kom‐ petenz zu: Er kenne eine Vielzahl, wenn nicht sogar alle Eventualitäten (45: casus […] omnes), in die ein Verbannter geraten könne, wisse also, wovon er rede, und inszeniert sich dadurch als eine glaubwürdige Figur, die kompetent klagen kann. 74 Zum anderen weist er durch die - wenngleich hyperbolische - Schil‐ derung seiner Lage auch sein poetisches Können nach. 75 Denn nimmt man die in V. 57-58 an andere Dichter gerichtete Aufforderung, Werke über ihn anstelle des Odysseus zu verfassen, ernst, dann wird deutlich: Der einzige, der dieser Aufforderung nachkommt, ist ‚Naso‘ selbst. Er beansprucht somit, als exul patiens mehr zu leiden als Odysseus, einer der bekanntesten Heroen des Mythos, und zeigt sich als exul poeta zugleich dazu in der Lage, die von ihm als unmöglich bezeichnete Aufgabe zu meistern, dieses Leiden poetisch zu verarbeiten und darzustellen. 76 100 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="101"?> 77 Pont. 4,10 gliedert sich in zwei größere Teile, deren erster für meine Fragestellung relevant ist. Nach dem einleitenden Gruß an den Adressaten und der Erwähnung seiner eigenen duritia (1-8) vergleicht ‚Naso‘ das Leben in Tomi mit einer verzerrten Version der Irrfahrten des Odysseus (9-30), erklärt dem Adressaten, weshalb das Schwarze Meer zufriere (31-70), und fordert ihn zu weiterer Unterstützung auf (71-84). Zu einer detaillierten Gliederung und Analyse der gesamten Elegie s. Davisson (1982). 78 Wulfram (2008) 259-279 argumentiert gegen Helzle (1989a) 31-36, dass Pont. 4 zwar vermutlich posthum publiziert, aber gerade wegen der auch von Helzle anerkannten Ordnungskriterien von Ovid selbst arrangiert wurde. Denn dass Pont. 4 im Vergleich zu den vorausgehenden Büchern ca. 130 Verse länger ist, einen längeren Zeitraum abdeckt und andere Personen als in den vorausgehenden Büchern adressiert werden, sind keine Beweise dafür, dass es in seiner grundlegenden Struktur nicht vom Autor selbst angeordnet wurde. Zum Aufbau von Pont. 4 s. auch Evans (1983) 153-154, 168-170. Es liegen zahlreiche Arbeiten zur Komposition von trist. und Pont. vor. Zur Gesamtstruktur s. Luck (1977); Evans (1983), bes. 171-174; Helzle (2003) 41-45; Holzberg (2005) 182-202; Wulfram (2008) 214-404. Zu trist. 1 s. Rahn (1958) 115-119; Videau-Delibes (1991) 19-105. Zu Pont. 1-3 s. Froesch (1968); Evans (1976); Gaertner (2005) 2-5. Zu Pont. 4. s. Evans (1983) 153-154, 168-170; Helzle (1989a) 31-36; Wulfram (2008) 259-279. 79 Trist. 1,5,71-74: illi [sc. Ulixi] corpus erat durum patiensque laborum: / invalidae vires ingenuaeque mihi. / ille erat adsidue saevis agitatus in armis: / adsuetus studiis mollibus ipse fui. 80 Pont. 4,10,3-8: ecquos tu silices, ecquod, carissime, ferrum / duritiae confers, Albinovane, meae? / gutta cavat lapidem, consumitur anulus usu, / atteritur pressa vomer aduncus humo. / tempus edax igitur praeter nos omnia perdet: / cessat duritia mors quoque victa mea. Möller (2020) 68 missversteht duritia als „die elegisch übersteigerte Härte seines Schicksals […], eine Härte (duritia), derer sich nicht einmal der Tod erbarmt.“ Zur Bedeutung von duritia s. TLL 5,1,2292,6-20: fere i.q. tolerantia, patientia; tolerandae iniquitatis facultas vel studium. 81 Pont. 4,10,1-2 erwähnt den sechsten in Tomi verbrachten Sommer. 3.2.3.2 Der Vergleich ‚Nasos‘ mit Odysseus in Pont. 4,10 In Pont. 4,10 und damit in einer der letzten Elegien der Epistulae ex Ponto werden die in trist. 1,5 aufgestellten Behauptungen durch eine erneute Gegenüber‐ stellung mit Odysseus gewissermaßen bestätigt. 77 Beide Gedichtsammlungen werden so durch den Vergleich mit dem mythologischen Heros eingerahmt. 78 In trist. 1,5,71-74 hat ‚Naso‘ seine physische Konstitution als das genaue Gegenteil des „abgehärteten und belastbaren Körpers“ von Odysseus bezeichnet. 79 Am Beginn von Pont. 4,10 hingegen behauptet er vor einem erneuten Vergleich mit dem Heros, derart große Widerstandsfähigkeit (4 und 8: duritia) erlangt zu haben, dass ihm nicht einmal der alles zu Grunde richtende Zahn der Zeit etwas anhaben könne (3-8). 80 Zwar lässt es der zeitliche Abstand von sechs Jahren zu trist. 1,5 plausibel erscheinen, dass sich der Verbannte an die Verhältnisse in Tomi gewöhnt und eine gewisse Widerstandskraft entwickelt hat. 81 Wie ich in Kapitel 3.5 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 101 <?page no="102"?> 82 Zwar haben Dichter die Lizenz zum freien Umgang mit mythischen Erzählungen, wie Graf (2002) mit Bezug auf Ovid betont. Eine derart starke Abweichung von einer Mythenversion, die wie Homers Epen als kanonisch gelten kann, ist jedoch auffällig. Mit falsch bzw. verzerrt meine ich deshalb abweichend von Homer. Amann (2006) 101-108 zeigt, wie durch diese Verzerrung Komik erzeugt wird. Gegen Amann argumentiert Feddern (2021b). S. dazu S.-100 Anm.-73. argumentiere, kann sich ‚Naso‘ aber bis zum Ende der Epistulae ex Ponto nicht mit dem Exil arrangieren. Im Kontext von Pont. 4,10 betrachtet soll der Hinweis auf seine duritia im direkten Vergleich mit trist. 1,5 deshalb vor allem verdeutlichen, dass er sich mit noch größeren Herausforderungen als früher konfrontiert sieht und nach wie vor an der Bewältigung dieser Herausforderungen scheitert. Sowohl die Erwähnung seiner Fallibilität in trist. 1,5 als auch diejenige seiner behaupteten Widerstandskraft in Pont. 4,10 sollen also verdeutlichen, in welcher desolaten Lage sich ‚Naso‘ befindet. In trist. 1,5 bringt er eigene Defizite zur Sprache, um seine Not bereits am Anfang der Tristia möglichst groß, sogar größer als die des Odysseus erscheinen zu lassen. In Pont. 4,10 hingegen attestiert er sich unvergleichliche Widerstandskraft, behauptet aber, ihr zum Trotze immer noch zu leiden. Gerade dadurch hebt er das Ausmaß seiner Misere am Ende des letzten im Exil entstandenen Gedichtbuchs nochmals hervor: Je größere Widerstandskraft er hat, umso schlimmer muss auch seine Lage erscheinen, wenn er sie auch nach mehreren Jahren als stärkere Belastung denn heroische Irrfahrten, wie sie im Mythos beschrieben werden, empfindet. 3.2.3.3 ‚Nasos‘ verzerrte Wiedergabe des homerischen Odysseus-Mythos Um das Ausmaß dieser Belastungen in einem Vergleich mit Odysseus überhaupt behaupten zu können, kann sich ‚Naso‘ nicht mit dem Heros vergleichen, wie er bei Homer beschrieben wird. Er stellt sich deshalb einer Odysseus-Figur gegenüber, die im Vergleich zu ihrer homerischen Darstellung zumindest als stark verzerrt bezeichnet werden muss. Denn in den beiden Versionen des Mythos, die in trist. 1,5 und Pont. 4,10 erzählt werden, geht ‚Naso‘ nicht nur sehr selektiv vor, indem er lediglich ausgewählte Episoden der Irrfahrten erwähnt. Er gibt diese auch falsch in dem Sinne wieder, dass sie deutlich von Homer abweichen. 82 Um nur einige Beispiele zu nennen: ‚Naso‘ übergeht den Umstand, dass der Titelheld der Odyssee im Laufe der Jahre alle seine 102 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="103"?> 83 Auf Grund unterschiedlichen Fehlverhaltens (z. B. Öffnen des Windschlauchs des Aeolus, Verzehr der Rinder des Helios) lassen sich diese Gefährten zudem kaum als lecta manus und socii fideles bezeichnen (trist. 1,5,63). Pont. 4,10,21-28 erwähnt die Laestrygonen, Polyphem, Skylla und Charybdis, nicht aber, dass Odysseus dort Gefährten verliert. 84 Trist. 1,5,81-82: denique quaesitos tetigit tandem ille Penates, / quaeque diu petiit, contigit arva tamen. Die Dauer der odysseischen Irrfahrten wird durch die Adverbien tandem und diu m.-E. nicht adäquat wiedergegeben. 85 Trist. 1,5,65: ille suam laetus patriam victorque petebat. 86 Williams (1994) 108-109; Montiglio (2008) 196-197. 87 Pont. 4,10,15-16: excipit Hippotades, qui dat pro munere ventos, / curvet ut inpulsos utilis aura sinus. 88 Pont. 4,10,18: nec degustanti lotos amara fuit. 89 Pont. 4,10,11-14: tempora solliciti sed non tamen omnia fati / pertulit, et placidae saepe fuere morae. / an grave sex annis pluchram fovisse Calypso / aequoreaeque fuit concubu‐ isse deae? 90 Trist. 1,5,71-74: illi [sc. Ulixi] corpus erat durum patiensque laborum: / invalidae vires ingenuaeque mihi. / ille erat adsidue saevis agitatus in armis: / adsuetus studiis mollibus ipse fui. Gefährten verliert, 83 erst 20 Jahre nach der Abreise aus Ithaka heimkehrt 84 und dabei keineswegs „fröhlicher Sieger“ (laetus victor) ist. 85 Zudem reduziert er die komplexe mythologische Figur fast ausschließlich auf physische Eigenschaften und erwähnt ihre intellektuellen Fähigkeiten, die Homer und auch Ov. met. 13,128-381 würdigen, mit keinem Wort. 86 Er ignoriert, dass das Geschenk des Aeolus nur der Intention nach, nicht aber im Resultat nützlich war, 87 und dass der - bei Homer von Odysseus gar nicht gekostete - Lotus zwar honigsüß schmeckt, jedoch verheerende Folgen für den Verzehrenden hat. 88 Des Weiteren ist es mindestens als euphemistisch zu bezeichnen, diverse Verzögerungen auf Odysseus’ Heimkehr auf die sexuelle Beziehung mit Calypso zu reduzieren und „angenehme Aufenthalte“ (placidae morae) zu nennen. 89 Durch diese verzerrte Wiedergabe des Mythos kann ‚Naso‘ einerseits be‐ haupten, dass seine Relegation auf Grund äußerer Umstände schlimmer und deshalb darstellungswürdiger ist als die Irrfahrten des Odysseus, denn der Heros hat, so behauptet ‚Naso‘ zumindest, weniger durchmachen müssen als er selbst. Seine Situation als Verbannter ist für eine literarische Darstellung aber auch neuartig in dem Sinne, dass ‚Naso‘ gerade nicht über heroische, sondern nur über miserable physische und psychische Voraussetzungen verfügt, um die ihm auferlegten Strapazen zu ertragen. Gerade das macht die Darstellung seiner Leiden und seines Scheiterns an der Bewältigung dieser Leiden zu innovativer Literatur. Der exul poeta et patiens ist kein epischer Held, sondern verweichlichter Poet. 90 Als solcher ist er zum Scheitern in dem Sinne verurteilt, dass er die Strapazen, denen er auf der Anreise nach und in Tomi selbst begegnet, 3.2 Schwäche und Leiden ‚Nasos‘ als Legitimation des Inhalts der Tristia 103 <?page no="104"?> 91 Fuhrer (2022), bes. 191-193: ‚Nasos‘ „suffering cannot be surpassed, it exceeds all the bounds known to literature and to real experience.“ Fuhrer orientiert sich am Muster des von Bernd Seidensticker beschriebenen Comparativus Senecanus und verwendet zur Beschreibung dieses Motivs den Ausdruck Comparativus Ovidianus: „The method consists of taking a familiar (literary or real) phenomenon, heightening it as it were competitively and thus creating something unknown and new“ (S.-193). 92 Ähnlich Schubert (1992) 280; McGowan (2009) 177, 183. 93 Davisson (1982) 33 spricht von ‚Nasos‘ „eagerness to prove that his own hardships provide a standard by which all others should be measured.“ 94 Ähnlich Davisson (1993) 230. anders als der „Dulder Odysseus“ (Pont. 4,10,9: patiens Ulixes) gerade nicht ‚mannhaft‘ ertragen kann, sondern nur durch das Verfassen elegischer, das heißt immer auch klagender Dichtung. Trist. 1,5 und Pont. 4,10 betonen aber nicht nur die Strapazen, mit denen der exul patiens konfrontiert wird, und die Fähigkeit des exul poeta, diese Strapazen literarisch zu verarbeiten. Durch die Vergleiche mit Odysseus wird ‚Nasos‘ Relegation auch als etwas vorgeführt, das alle bisherigen menschlichen Erfah‐ rungen und sogar den Mythos übertrifft. 91 Dadurch kann ‚Naso‘ die überzeitliche Relevanz des Mythos, der exemplarisch menschliche Herausforderungen vor Augen führt, aber insbesondere immer wieder auch auf das Scheitern bei der Bewältigung dieser Herausforderungen eingeht, für sich beanspruchen und so ebenfalls die Stoffwahl, also das eigene - freilich hyperbolisch beschriebene - Exil als materia (trist. 1,5,56) begründen. 92 Der freie Umgang mit den Details des Mythos lässt sich zudem als Hinweis darauf lesen, dass ‚Nasos‘ Rolle als exul poeta et patiens offen für Neu-Modellie‐ rungen ist. Der Protagonist der Elegien lässt sich wie ein epischer Held als Figur ansehen, die abhängig von Argumentationszusammenhängen und rhetorischen Zielen mit jeweils unterschiedlichen Eigenschaften und mit jeweils passenden narrativen Elementen ausgestattet werden kann. Indem ‚Naso‘ beispielsweise in trist. 1,5 und Pont. 4,10 Elemente aus dem Mythos entnimmt und sie für seine eigenen Darstellungszwecke aus- und umgestaltet, macht er sich selbst zu einem exemplum, welches dasjenige des Odysseus gewissermaßen ersetzen soll (trist. 1,5,57-58: pro duce Neritio, docti, mala nostra, poetae, / scribite: Neritio nam mala plura tuli). 93 Die Elegien erheben dabei nicht den Anspruch, faktuale (Nach-)Erzählung zu sein. Vielmehr geben sie sich als Dichtung zu erkennen, die der exul poeta et patiens mit Hilfe rhetorischer Strategien und literarischer Techniken ausgestaltet, um bestimmte Effekte zu erzeugen und Persuasionsziele zu erreichen. 94 Dazu werden in trist. 1,5 und Pont. 4,10 aber auch in anderen Elegien Ereignisse ausgewählt und tendenziös beschrieben, die nicht nur dem My‐ 104 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="105"?> 95 Auch in trist. 1,5,49-50 behauptet ‚Naso‘, dass seine Leiden so groß seien, dass ihre Schilderung unglaubwürdig wirken wird: multaque credibili tulimus maiora, ratamque, / quamvis acciderint, non habitura fidem. 96 S. z. B. trist. 3,5; 3,6; 4,5; 5,6; Pont. 1,6; 1,9; 2,3; 2,4; 2,10; 4,6; 4,8; 4,12. Zur Bedeutung von amicitia in der Exildichtung s. Helzle (1989a) 22-31; Wulfram (2008) 244 Anm.-116. 97 S. dazu Kap. 3.4.3. thos, sondern auch ‚Nasos‘ eigenem Erleben entnommen sind. Wenn ‚Naso‘ zum Beispiel sagt, von beinahe allen Freunden im Stich gelassen zu werden (trist.-1,5,33-34, 63-64), ist das auch in der Welt, die in den Tristia beschrieben wird, nur bedingt glaubwürdig - immerhin dankt der Verbannte wiederholt unterschiedlichen Adressatinnen und Adressaten für ihre Unterstützung. Doch soll ‚Nasos‘ Inszenierung als sozial isolierter und von beinahe allen Freunden im Stich gelassener Verbannter in ihrem unmittelbaren Äußerungszusammenhang die adressierten Personen zu (noch) mehr Hilfe bewegen. Auch die detaillierte Schilderung der widrigen Natur in Pont. 4,10,31-64 lässt sich so verstehen, dass ‚Naso‘ einzelne Aspekte der ihn umgebenden Umwelt aufgreift und so darstellt, dass er aus dieser Darstellung Kapital schlagen kann. Gerade durch die hyperbolische und, wie ‚Naso‘ selbst sagt, unglaubwürdige Beschreibung der ihn umgebenden Umwelt soll dem Adressaten vor Augen geführt werden, wie schlecht es dem Verbannten in Tomi geht (35-36: qui veniunt istinc, vix vos ea credere dicunt; / quam miser est, qui fert asperiora fide). 95 3.3 Physische und psychische Krankheiten ‚Nasos‘ als Grundlage von Hilfegesuchen Abgesehen von der im vorausgehenden Kapitel 3.2 beschriebenen Engführung seiner Exilerfahrung und Exildichtung wendet ‚Naso‘ vor allem vier Strategien an, um an die Hilfe anderer zu appellieren: In den meisten Fällen fordert er die Adressatinnen und Adressaten zur Unterstützung auf, indem er sich auf Werte wie Freundschaft und Freundestreue, auf eine gemeinsame Vergangenheit oder auf Verwandtschaftsverhältnisse beruft. 96 Oftmals verspricht er den adressierten Personen auch, ihnen in seiner Dichtung für ihren bisherigen Beistand zu danken, und droht ihnen das Gegenteil an, sollten sie nicht helfen. 97 Mit einer dritten Argumentationsstrategie wendet er sich vor allem an Personen, die sich in Machtpositionen befinden. Beispielsweise verleiht er in trist. 4,4 seiner Hoffnung auf die clementia des Augustus Ausdruck, legt in Pont. 2,9 dem ortsansässigen König Cotys dar, dass nichts eines Königs würdiger sei, als Menschen zu helfen, oder appelliert in Pont. 4,4 und 4,5 an die Pflicht eines neu inaugurierten Konsuls in Rom zur Hilfe. 3.3 Physische und psychische Krankheiten ‚Nasos‘ als Grundlage von Hilfegesuchen 105 <?page no="106"?> 98 Zu ‚Nasos‘ Hilfegesuchen an seine Gattin s. Kap. 3.4. 99 Bernhardt (1986) 16. 100 Luck (1977) 204-208 bietet einen sehr knappen Kommentar. Bernhardt (1986) 206-210 geht nur auf den Anfang der Elegie ein. Auf ihren Ausführungen basiert Amann (2006) 164-167 größtenteils. 101 Zu Suizidgedanken und Todessehnsucht s. z. B. auch trist. 1,5,5-6; Pont. 1,2,57-58; 1,6,39-44; S.-108 Anm.-106. 102 ‚Naso‘ wünscht sich, auf Triptolemos’ oder Medeas Wagen nach Rom zu fahren (1-4) oder mit Perseus’ oder Daedalus’ künstlichen Flügeln dorthin zu fliegen (5-6). S. dazu Bernhardt (1986) 206-210. Mein Interesse gilt im Folgenden einer vierten Kategorie, nämlich der Frage, wie sich ‚Naso‘ durch die Darstellung der widrigen Verhältnisse in Tomi und deren Folgen auf seine physische und psychische Gesundheit als hilfsbedürftig inszeniert. Die exemplarische Textauswahl der Elegien trist. 3,8 und Pont. 1,10 orientiert sich an der Typologie Ursula Bernhardts, die zwischen allgemeiner Hilfesuche, der Hilfesuche bei Freunden und der Hilfesuche bei der Gattin unterscheidet 98 und davon keine separate Kategorie der Hilfesuche bei Augustus abtrennt, da er auf der um Mitleid und Begnadigung ersuchenden Textebene fast immer im Hintergrund als Adressat mitzulesen ist. Zudem liegt mit trist. 2 ein eigenes, ‚großes‘ an Augustus gerichtetes Gnadengesuch vor. 99 3.3.1 Das Exil als Ursache von Krankheit und Depression --trist.-3,8 Die Elegie trist. 3,8 hat in der Forschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit erfahren, obwohl sich in ihr viele Motive finden, die für die Exildichtung charak‐ teristisch sind. 100 Der Verbannte äußert den Wunsch, nach Rom zurückkehren oder zumindest Tomi verlassen zu dürfen, macht das Leben am Schwarzen Meer für eine Vielzahl unterschiedlicher körperlicher sowie seelischer Krankheiten verantwortlich und spricht über Suizidgedanken. 101 Der Text gliedert sich in zwei fast gleich große Teile (1-22, 23-42). In V. 1-22 wird ‚Nasos‘ Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, als unrealistisch dargestellt, indem er mit mehreren Adynata verglichen und durch den Gebrauch des Konjunktivs Imperfekt als unerfüllbar markiert wird. 102 Er kann mit seinen eigenen Kräften und Mitteln also gar nicht anders, als an einer Rückkehr nach Rom zu scheitern. Denn nur Augustus kann diese Rückkehr (13-18) oder einen Ortswechsel ermögli‐ chen (19-22). Ab V. 23 geht ‚Naso‘ dazu über, über schwere Krankheiten und Depressionen zu berichten, um der Bitte nach Erleichterung seiner Relegation Nachdruck zu verleihen. Damit steht trist. 3,8 am Ende einer Reihe von Hilfe‐ gesuchen, die mit trist. 3,4 beginnt und sich mit trist. 3,5 und 3,6 fortsetzt. Die 106 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="107"?> 103 Trist. 1 thematisiert v. a. die Anreise nach Tomi, das im zweiten Buch nur eine untergeordnete Rolle spielt. Trist. 3,1 handelt in Rom. In trist. 3,2,1-8 spricht ‚Naso‘ lediglich von der Ankunft in Scythia. Sein genauer Aufenthaltsort bleibt auch in trist. 3,3 unbestimmt; dass er detailliert aufzählt, an was er sich an seinem neuen Aufenthaltsort nicht gewöhnen kann und was einer Genesung von schwerer Krankheit im Wege steht (7-12), impliziert aber, dass er sich bereits längere Zeit dort aufhält. Ähnlich Luck (1977) 161. 104 Zur Bedeutung von languor s. S.-109 Anm.-111. vorausgehenden Elegien appellieren jedoch hauptsächlich an die Freundestreue der adressierten Personen, so dass ‚Naso‘ seinen desolaten physischen und psychischen Gesundheitszustand in trist. 3,8 zum ersten Mal ausdrücklich als Argument einsetzt. In Anknüpfung an die Elegie trist. 3,3, die sich erstmals mit den Verhältnissen nach der Ankunft in Tomi befasst und in der erstmals von schwerwiegenden Folgen der dortigen Umwelt auf Körper und Geist die Rede ist, macht ‚Naso‘ in trist. 3,8 das Klima (23: caelum; terra; aurae) für seine desolate Konstitution verantwortlich: 103 Er werde geplagt von andauernder Schwäche (24: perpetuus languor; 104 31: nec viribus adlevor ullis), Schlaflosigkeit (27: vexant insomnia), extremer Magerkeit und Appetitlosigkeit (27-28: vixque / ossa tegit macies, nec iuvat ora cibus) sowie Blässe (29-31: quique per autumnum percussis frigore primo / est color in foliis, quae nova laesit hiemps, / is mea membra tenet). ‚Naso‘ leide also an Erkrankungen, die nicht einzelne Körperteile betreffen, sondern seine gesamte Physis schwer beeinträchtigen. Den Ausbruch dieser Erkrankungen lässt er zeitlich mit seiner Ankunft am Schwarzen Meer zu‐ sammenfallen (27: ut tetigi Pontum) und legt damit nahe, dass sein Körper erst wieder erstarken wird, wenn ein Ortswechsel stattgefunden hat, wenn sich also die als unerträglich beschriebenen Umweltbedingungen verändert haben. Diese Selbstinszenierung als schwer Kranker wird durch Hinweise auf psychische Leiden intensiviert, die ‚Naso‘ als ebenso gravierend bezeichnet wie die genannten physischen Symptome (33: nec melius valeo, quam corpore, mente). Er zieht zudem die Möglichkeit in Betracht, dass eine Depression Ursprung seiner dann psychosomatischen Symptome sein könnte (25: seu vitiant artus aegrae contagia mentis). All das erzeugt den Eindruck, dass Körper und Geist des Verbannten in einer Art Teufelskreis gegenseitig schädlichen Einfluss aufeinander nehmen (33-34: nec melius valeo, quam corpore, mente, sed aegra est / utraque pars aeque binaque damna fero). Hinzu kommt, dass die schwere Depression, an der ‚Naso‘ leide, ihn nur an seinen bedauernswerten Zustand denken lasse (35-36: haerens 3.3 Physische und psychische Krankheiten ‚Nasos‘ als Grundlage von Hilfegesuchen 107 <?page no="108"?> 105 Ich weiche mit der überlieferten Variante lugenda von Hall (1995) ab, der mit tegenda eine Konjektur von Riese übernimmt. 106 Vergleichbare Aussagen finden sich auch in früheren Elegien, sind aber anders moti‐ viert. So liegt dem Todeswunsch in trist. 3,2,24-30 nicht das Ziel zu Grunde, eine Notlage zu beenden. Vielmehr will ‚Naso‘ ihr dort gewissermaßen präventiv vorbeugen. In trist. 3,3 wird das Bedauern, nicht vor der Relegation gestorben zu sein, nicht mit Krankheit, sondern mit dem Wunsch nach einer Bestattung in der Heimat begründet (29-36; ähnlich trist. 4,6,49-50; Pont. 1,2,57-58). Hier in trist. 3,8 hingegen wird durch iterative Formulierung ein Zusammenhang zwischen den psychischen Belastungen, dem biographischen Bruch und den Suizidgedanken ‚Nasos‘ hergestellt: Immer wenn (37: cumque) ‚Naso‘ sich seine Lage vor Augen führe, denke er an Selbsttötung. 107 Das betonen z.-B. auch trist. 1,1,19-20, 29-30; 1,2,59-68; 5,2,55-60; Pont. 1,2,89-92. ante oculos veluti spectabile corpus / adstat fortunae forma lugenda meae). 105 All diese Belastungen kontrastiert er gemeinsam mit der sozialen Isolation in Tomi abschließend mit seinem früheren Leben und kommt im Zuge dieser Gegenüberstellung zu dem Schluss, so große Todessehnsucht zu haben, dass er es bedauere, dass ihn Augustus nicht zum Tode verurteilt habe (37-40: cumque locum moresque hominum cultusque sonumque / cernimus, et, qui sim qui fuerimque, subit, / tantus amor necis est, querar ut cum Caesaris ira, / quod non offensas vindicet ense suas). 106 Implizit argumentiert ‚Naso‘ damit, dass es keinen Grund gibt, sich selbst zu töten, wenn sich seine Lebensumstände verändern. Diesen Gedankengang greifen auch die beiden letzten Verse auf (41-42: at, quoniam semel est odio civiliter usus, / mutato levior sit fuga nostra loco). Wie ‚Naso‘ im vorausgehenden Distichon 39-40 in Erinnerung ruft, wurde er von Augustus ausdrücklich nicht mit dem Tode bestraft. 107 Sein Tod würde, egal ob durch Krankheit oder durch Suizid verursacht, diesem Urteil und somit dem Willen des Kaisers zuwiderlaufen. ‚Naso‘ geht in der vorliegenden Elegie also nicht nur ausführlich auf seine körperlichen und seelischen Krankheiten ein, um Mitleid hervorzurufen, sondern auch um vor Augen zu führen, dass Augustus dem Wunsch nach einer Abmilderung seines Strafurteils nachkommen müsse, wenn er wolle, dass seine ursprünglich verhängte Strafe umgesetzt werde. Wollen die Adressatinnen und Adressaten sowie das Lesepublikum, dass es ‚Naso‘ gut geht, müssen sie sich wiederum bei Augustus für eine solche Abmilderung einsetzen. Denn wie die Adynata am Anfang der Elegie und die für physische und psychische Gesundheit schädlichen Umwelteinflüsse verdeutlichen, kann es ‚Naso‘ aus eigenem Antrieb weder schaffen, nach Rom zurückzukehren, noch, sich in Tomi von seinen körperlichen und seelischen Krankheiten zu erholen. 108 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="109"?> 108 Unschuldig heißt jedoch nicht, dass ‚Naso‘ keine Schuld an seiner Verbannung trägt, sondern nur, dass er nichts für die in Tomi herrschenden Umstände und seine daraus resultierenden Leiden kann. Ehlers (1988) zeigt, dass ‚Naso‘ sein Exil keineswegs als Willkürakt des Augustus darstellt, sondern stets als gerechtfertigte und teils sogar als zu milde Strafe (z. B. trist. 1,2,95-96; 4,4,43-44; 5,10,49-50; Pont. 1,1,49; 1,2,95-96; 1,10,43-44). Ähnlich Helzle (2003) 67. 109 Die Kommentare behandeln die Bezüge von Pont. 1,10 zu Ov. am. 2,10 und die Parallelen der in Pont. 1,10 geschilderten Symptome zu denjenigen der Sprecher-Figur der römischen Liebeselegie ausführlich. Ich gehe deshalb nicht auf sie ein. 110 Pont. 1,10,1-2: Naso suo profugus mittit tibi, Flacce, salutem, / mittere rem si quis, qua caret ipse, potest. Helzle (2003) 239, Gaertner (2005) 500 und Tissol (2014) 172-173 identifizieren den Adressaten als L. Pomponius Flaccus, der im Rahmen militärischer Tätigkeiten selbst Kenntnisse von der Gegend um Tomi erlangt hat, seinen in V. 37 erwähnten Bruder als Graecinus Pomponius Flaccus und somit als Adressaten von Ov. am. 2,10; Pont. 1,6; 2,6; 4,9. 111 Zur Ambiguität des auch in trist. 3,8,24 verwendeten Substantivs languor s. Gaertner (2005) 502: languor „can refer both to physical (TLL s. v. 926.57-927.58) and mental (TLL s. v. 927.59-928.16) weariness.“ Dass die hier beschriebenen Symptome (auch) psychosomatisch sind, deuten V. 35-36 an; ich gehe unten näher darauf ein. Ähnlich schon die auf S.-107 zitierten Verse trist. 3,8,25, 33-34. 3.3.2 ‚Naso‘ als unschuldig Leidender - Pont. 1,10 In Pont. 1,10 schildert ‚Naso‘ vergleichbare physische und psychische Krank‐ heiten wie in trist. 3,8, nutzt ihre Darstellung argumentativ jedoch in anderer Hinsicht. Denn indem er erklärt, dass nicht eigenes (Fehl-)Verhalten nach der Abreise aus Rom Ursache seines miserablen Gesundheitszustands sei, kann er sich als unschuldig Leidender inszenieren. 108 Zudem setzt er das Eingeständnis eigener physischer und psychischer Schwächen auch als Strategie ein, um den Adressaten enger an sich zu binden und ihn so zu weiterer Unterstützung aufzufordern. 109 Schon die Grußformel gibt die Richtung der Elegie vor, die deutlich als Brief markiert ist: Als Absender zeigt sich ‚Naso‘ unsicher, ob er dem Adres‐ saten Flaccus „Wohlergehen“ (salus) wünschen kann, wenn er es selbst nicht hat (1-2). 110 Zwar betont er entgegen früherer Aussagen, keine körperlichen Symptome zu verspüren (5-6: nec dolor ullus adest, nec febribus uror anhelis, / et peragit soliti vena tenoris iter). Doch spricht er von völliger Erschöpfung (languor) 111 auf Grund emotionaler Belastungen (curae), die auch körperliche und/ oder psychosomatische Folgen nach sich ziehen (3-4: longus enim curis vitiatum corpus amaris / non patitur vires languor habere suas), beispielsweise eine über acht Verse hinweg ausführlich beschriebene Appetitlosigkeit (7-14). Auf welche konkreten Ursachen all das zurückzuführen ist, bleibt offen. Doch 3.3 Physische und psychische Krankheiten ‚Nasos‘ als Grundlage von Hilfegesuchen 109 <?page no="110"?> 112 Es bleibt offen, welches Verhalten mit deliciae gemeint ist. Mit der Übersetzung „aus‐ schweifender Lebensstil“ versuche ich, den vorausgehenden Kontext (Essen) und die ab V. 29 genannten Verhaltensweisen zu berücksichtigen (Völlerei, Alkoholmissbrauch, sexuelle Ausschweifung). Zur Bedeutung von delicia i. S. v. voluptas, delectatio, laetitia und luxuria s. TLL 5,1,446,4-447,7. Die Kommentare erklären deliciae unterschiedlich. Helzle (2003) 243-244: „Deliciae bezieht sich hier auf die vom Luxus hervorgerufene Verweichlichung […], die das Gegenteil zum vielgepriesenen mos maiorum war.“ Gaertner (2005) 511: „luxurious habits, OLD 4b; delicias is picked up in 18 and 19, where the meaning gradually shades towards the regular usage of deliciae for ‚delights‘; in 19 deliciae clearly refers to ‚delights‘, in 18 either ‚delights‘ or ‚luxurious habits‘ could apply.“ Tissol (2014) 175-176: „daintiness; oversensitive delicacy, OLD 5b.“ 113 Kataloge ‚glücklicher‘ Verbannter sind fester Bestandteil von Trostschreiben, Pont. 1,3 ist Antwort auf ein solches Trostschreiben. S. dazu Bernhardt (1986) 38-45. 114 Helzle (2003) 133 zufolge stellen auch Catull 46,6 und Strabon 14,1,37 Smyrna als angenehmen Exilort dar. geht ‚Naso‘ in ironischem Tonfall darauf ein, was nicht Ursache für seine Leiden ist (15-20): 15 haec ego non ausim, cum sint verissima, cuivis - - scribere, delicias ne mala nostra vocet. - scilicet is status est, ea rerum forma mearum, - - deliciis etiam possit ut esse locus. - delicias illi precor has contingere, siquis, 20 - ne mihi sit levior Caesaris ira, timet. Ich würde es nicht wagen dies, auch wenn es die reine Wahrheit ist, jedem Beliebigen zu schreiben, damit er meine Leiden nicht ausschweifenden Lebensstil nennt. 112 Frei‐ lich ist mein Zustand, ist meine Lage derartig, dass es sogar Raum für ausschweifenden Lebensstil geben kann! Wenn einer fürchtet, dass Caesars Zorn für mich zu leicht ist, soll ihm dieser ausschweifende Lebensstil zu Teil werden. ‚Naso‘ betont mit der dreimaligen Verwendung des Wortes deliciae, dass nicht ausschweifender Lebensstil die Ursache seiner ausführlich beschriebenen Krankheitssymptome ist, und setzt sich damit von anderen berühmten Ver‐ bannten ab, die am Ort ihrer Bestrafung ein durchaus angenehmes Dasein führen konnten - zumindest gemäß seiner eigenen Aussage wenige Elegien zuvor (Pont. 1,3,61-84). 113 Angeführt werden dort unter anderem die folgenden Beispiele: P. Rutilius Rufus habe im Jahr 92 v. Chr. ein freiwilliges und zeitlich begrenztes Exil im kleinasiatischen Smyrna verbracht. 114 Patroklos sei nach dem Totschlag an dem jungen Sohn des Amphidamas an den Hof des Peleus in Thessalien geflohen, wo er als hospes (74) mit Achill Bekanntschaft gemacht habe. In römischer Urzeit habe man sogar das Rom nahe gelegene Tibur als 110 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="111"?> 115 Tibur war berühmt für seine Schönheit und üblicher Verbannungsort in der römischen Urzeit, so Tissol (2014) 102. Gaertner (2005) 267 verweist diesbzgl. auf Polyb. 6,14,8; Liv. 3,58,10; 43,2,10; V. Max. 5,1,1; Ov. fast. 6,666. 116 S. z.-B. trist. 1,1,128; 3,3,3; 4,4,9; Pont. 1,2,74; 2,7,66; 3,4,58. 117 Auf Grund der Wiederholung folge ich Gaertner (2005) 510 nicht, der vorschlägt, V. 15-20 hinter V. 36 zu stellen. Auch Tissol (2014) 175-176 spricht sich gegen eine Umstellung aus. 118 Pont. 1,10,21-24: is quoque, qui gracili cibus est in corpore, somnus / non alit officio corpus inane suo, / sed vigilo, vigilantque mei sine fine dolores, / quorum materiam dat locus ipse mihi. Ich verstehe die dolores (23) als psychische Belastungen, auf Grund derer ‚Naso‘ nachts wach liegt. Zum einen schließt er selbst körperlichen Schmerz aus (5), zum anderen handelt das vorausgehende Distichon, an das V. 23-24 mit der Konjunktion sed anschließen, von Schlaflosigkeit. Die Kommentare weisen lediglich auf Parallelen zu Symptomen der ‚Liebeskrankheit‘ in der römischen Liebeselegie hin (s. dazu auch S. 84 Anm. 7). Gaertner (2005) 89 übersetzt dolores mit „pains“, Tissol (2014) 177 mit „woes“. 119 Pont. 1,10,25-28: vix igitur possis visos agnoscere vultus, / quoque ierit quaeras qui fuit ante color. / parvus in exiles sucus mihi pervenit artus, / membraque sunt cera pallidiora nova. 120 Die Schilderung der Appetitlosigkeit in V. 7-14 bereitet die Absage an Alkoholmiss‐ brauch und Völlerei in V. 29-32 gewissermaßen vor. Selbst wenn die Möglichkeit dazu bestünde, was in V. 31-32 eindeutig verneint wird, würden Nektar und Ambrosia ‚Naso‘ nicht reizen. 121 Ähnlich schon V. 23-24: dolores, / quorum materiam dat locus ipse mihi. Ende der Welt (82: ultima terra) angesehen und daher als Verbannungsort genutzt. 115 Gerade der zuletzt genannte Punkt fällt ins Auge, da ‚Naso‘ selbst Tomi häufig als „Ende der Welt“ bezeichnet. 116 Er grenzt sich in Pont. 1,10 somit nicht nur von anderen, ‚glücklichen‘ Verbannten ab, sondern weist auch jede Schuld von sich, seine physische und psychische Entkräftung durch eigenes (Fehl-)Verhalten hervorgerufen zu haben: Nicht sein Lebenswandel und erst recht kein „ausschweifender Lebensstil“ (deliciae), sondern nur die äußeren Umstände in Tomi seien für seine Krankheiten verantwortlich. Dieses Argumentationsmuster wird im Folgenden wiederholt. 117 Zunächst geht ‚Naso‘ nochmals darauf ein, welche Beschwerden ihn plagen (21-24: Schlaf‐ losigkeit und ständige Sorgen; 118 25-28: extreme Magerkeit und Blässe 119 ), um dann explizit zu sagen, was nicht dafür verantwortlich ist. Durch die Stellung der Negationen non und nec als jeweils erstes Wort eng aufeinander folgender Verse (29, 31, 33, 34) führt er mit Nachdruck vor Augen, dass nicht Verhalten wie Alkoholmissbrauch und Völlerei (29: immodicus Lyaeus; 31: epulae) 120 oder sexuelle Ausschweifung (33: Veneris damnosa voluptas) seinen Zustand verursachen, sondern ausschließlich seine Umgebung (35: unda locusque), 121 auf die durch die Anfangsstellung in V. 35 deutlich hingewiesen wird, sowie eine 3.3 Physische und psychische Krankheiten ‚Nasos‘ als Grundlage von Hilfegesuchen 111 <?page no="112"?> 122 Die einzigen Befürchtungen ‚Nasos‘, die in anderen Elegien thematisiert werden, beziehen sich darauf, ob seine Schilderungen der Bedingungen in und um Tomi glaubwürdig sind, s. z. B. trist. 1,5,49-50; 5,1,29-30; Pont. 4,7; 4,10,3. S. dazu Seibert (2014) 217-221. 123 Trist. 3,3 ist die erste Elegie, die ausdrücklich als Brief markiert ist (1: haec mea epistula). Sie ist jedoch kein Hilfegesuch. Antizipierte Fragen (1, 5-6) kennzeichnen die Elegie ebenso als ‚halben Dialog‘ wie zahlreiche Imperative und direkte Anreden. Zudem verwendet ‚Naso‘ zum ersten Mal das Imperfekt als Brieftempus (2 und 4: eram) sowie die konventionelle Grußformel vale (88), die in allen Elegien nur ein weiteres Mal verwendet wird (trist. 5,13,34). durch diese Umgebung hervorgerufene schwere Depression (36: anxietas animi, quae mihi semper adest). Bei der Lektüre von Pont. 1,10 irritieren zwei Dinge, die in der bisherigen Forschung noch nicht angesprochen wurden: Zum einen fällt ‚Nasos‘ Aussage ins Auge, er klage über seine Leidenssituation im Exil nicht bei jedem Belie‐ bigen (15-16) - immerhin hat er in bisher fünf Büchern Tristia immer wieder sehr ausführlich über diese Leidenssituation geschrieben und in den bisherigen neun Elegien von Pont. 1 sogar an acht unterschiedliche Personen. Zum anderen ist der Umstand festzuhalten, dass an keiner anderen Stelle der vorausgehenden Elegien von Befürchtungen die Rede ist, man könne ihm die Erkrankungen, über die er so oft berichtet, als Folge eines ausschweifenden Lebensstils auslegen (16: -delicias ne mala nostra vocet). 122 Auf Grund dieser Widersprüche deute ich die vorliegende Passage textim‐ manent. Indem ‚Naso‘ sein offenes Bekenntnis als potentiell rufschädigend bezeichnet, markiert er das Verhältnis mit dem Adressaten Flaccus als ein sehr vertrauliches und schafft so einen funktionellen Rahmen, innerhalb dessen er als Absender des Briefs Pont. 1,10 bestimmte Inhalte transportieren kann: Da der Adressat ihn sehr gut kennt (15-16, 30), kann er ihm gegenüber ohne jede Gefahr physische und vor allem psychische Schwächen zugeben. Seine Aussagen werden so innerhalb der für die Dauer der Elegie geschaffenen Kommunikationssituation beglaubigt: Warum sollte er einen vertrauten Freund anlügen? Das Lesepublikum steht dabei gewissermaßen außerhalb dieser Kom‐ munikation und beobachtet sie wie durch ein Schlüsselloch, ohne dass die in der Fiktion des Textes evozierte Nähe und Vertraulichkeit zwischen Absender und Adressat beeinträchtigt wird. Eine vergleichbare Strategie wendet ‚Naso‘ bereits in trist. 3,3 an. 123 Indem er sich dort ausschließlich an seine Gattin wendet, nutzt er das Eingeständnis schwerster Krankheit als Mittel der Intimisierung. Wie dort gegenüber seiner Ehefrau kann er sich hier gegenüber Flaccus frei von gesellschaftlichen, sozialen und geschlechtsspezifischen Normen äußern und dadurch Authentizität und 112 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="113"?> Glaubwürdigkeit für seine Aussagen und seine auf ihnen basierende Inszenie‐ rung als in beinahe jeder Hinsicht fallibler Verbannter beanspruchen. Die Hervorhebung der Vertraulichkeit der Kommunikation mit dem Adres‐ saten dient in Pont. 1,10 auch dessen Verpflichtung: Da ‚Naso‘ durch die Heraus‐ stellung der vertraulichen Kommunikationssituation betont, nur ihm gegenüber offen über seine Krankheiten sprechen zu können, muss sich Flaccus zu umso mehr Einsatz für ihn verpflichtet fühlen. Einen vergleichbaren Effekt kann ‚Naso‘ auch dadurch erzielen, dass er abschließend die bisherige Unterstützung von Flaccus und seinem Bruder hervorhebt (37-44): - haec nisi tu pariter simili cum fratre levares, - - vix mens tristitiae nostra tulisset onus - vos estis fracto tellus non dura phaselo, 40 - quamque negant multi, vos mihi fertis opem. - ferte, precor, semper, quia semper egebimus illa, - - Caesaris offensum dum mihi numen erit. - qui meritam nobis minuat, non finiat, iram, - - suppliciter vestros quisque rogate deos. Wenn du meine Krankheiten und Sorgen nicht gemeinsam mit dem dir ähnlichen Bruder lindern würdest, hätte ich die Belastung der Depression kaum ertragen. Ihr seid ein weicher Strand für meinen zertrümmerten Kahn, ihr bringt mir die Hilfe, die viele verweigern. Bringt sie, ich bitte euch, auch in Zukunft immer, weil ich sie immer nötig haben werde, solange der göttliche Caesar sich von mir beleidigt fühlen wird. Dass er den gerechtfertigten Zorn auf mich verkleinert, nicht, dass er ihn beendet, darum bittet beide demütig eure Götter. Ohne Flaccus und dessen Bruder hätte ‚Naso‘ seine Depression (38: tristitiae onus) nicht ausgehalten. Das verleiht seiner abschließenden Bitte Nachdruck. Immerhin spricht er andernorts wiederholt von Suizidgedanken, denen er, so wird hier impliziert, ohne die Hilfe der angesprochenen Brüder nachgegeben hätte und nachgeben werde, sollten sie ihn nicht weiterhin unterstützen. Da er selbst nichts an seiner Lage ändern könne und da er, wie die im Vorausgehenden beschriebene Entkräftung verdeutlicht, dem Tod nahe sei, werden Flaccus und auch dessen Bruder zu künftiger Hilfe verpflichtet: Denn der Verbannte sei in der Vergangenheit (38: tulisset), in der Gegenwart (37: levares; 39: estis; 40: fertis) und vor allem in der Zukunft (41: ferte; semper egebimus; 44: rogate) auf sie als beinahe einzige Unterstützer angewiesen (40: quamque negant multi, vos mihi fertis opem). 3.3 Physische und psychische Krankheiten ‚Nasos‘ als Grundlage von Hilfegesuchen 113 <?page no="114"?> 124 Das folgende Kap. 3.4 basiert auf Mayr (2024). 125 Bernhard (1986) 16. 126 S. dazu Nagle (1980) 51-55; Evans (1983) 78-79, 102-105, 124-129; Davisson (1984) 334-337. Zu liebeselegischen Motiven in der Exildichtung allgemein s. S.-84 Anm.-7. 127 Zu diesem Motiv in der römischen Liebeselegie s. Stroh (1971) 235-249, zur Verwendung in trist. und Pont. s. ders. S.-250-253. 128 An die Gattin adressiert sind trist. 1,6; 3,3; 4,3; 5,2; 5,11; 5,14; Pont. 1,4; 3,1. Von ihr bzw. ihrem Geburtstag handelt trist. 5,5. Staffhorst (1965) 1-2 und Helzle (1989b) versuchen, die stets nur coniunx oder uxor genannte Ehefrau mit einer historischen Person zu identifizieren. Derartige Versuche bleiben auf Grund fehlender Informationen ebenso spekulativ wie Helzles These, dass die Gattin dem historischen Autor Ovid nach Tomi gefolgt sei, da sie nach Pont. 3,1 nicht mehr adressiert wird. S. dazu auch Wulfram (2008) 232 mit Anm.-73. 129 In trist. 1,3, v. a. 81-102, hebt ‚Naso‘ die Liebe und Loyalität seiner Frau hervor. Die Elegie ist aber nicht an sie adressiert, sondern schildert ‚Nasos‘ letzte Nacht in Rom. 3.4 ‚Nasos‘ Fallibilität und das Verhältnis zu seiner Ehefrau 124 Die Elegien, die ‚Naso‘ an seine in Rom verbliebene Ehefrau adressiert, lassen sich mit Ursula Bernhardt als eigenständige Kategorie von Hilfegesuchen ansehen. 125 In der Forschung hat man diese Elegien zwar bisher nicht als zusammengehörige Gruppe untersucht, aber zumindest auf bestimmte Gemein‐ samkeiten hingewiesen, vor allem auf die Übernahme und Verarbeitung von Motiven der römischen Liebeselegie, 126 darunter insbesondere das topische Versprechen ‚Nasos‘, dass er seiner Ehefrau durch ihre Erwähnung in seiner Dichtung ewigen Ruhm verleihen könne und werde. 127 Ich will im Folgenden fragen, inwiefern ‚Naso‘ dieses Versprechen in Verbindung mit der Darstellung seiner eigenen Fallibilität einsetzt, um seine Gattin zur Unterstützung und Fürsprache zu motivieren. 128 3.4.1 ‚Nasos‘ Versprechen ewigen Ruhms für seine Ehefrau---trist.-1,6 Mit trist. 1,6 wendet sich ‚Naso‘ erstmals direkt an seine Frau als Adressatin und dankt ihr, dass sie ihn gegen Angriffe in Rom verteidigt habe (5-18). 129 Dieser Dank geht in einen Lobpreis über. ‚Naso‘ betont, dass seine poetischen Fähigkeiten nicht die eines Homer seien. Nur deshalb stehe sie den aus dem My‐ thos bekannten Gattinnen Andromache, Laodameia und Penelope als Paradebei‐ spielen treu liebender Ehefrauen in Ansehen nach, obwohl sie diese im Hinblick auf die auszeichnende Eigenschaft der probitas übertreffe (19-24). Wenngleich ‚Naso‘ sein poetisches Können topisch als gering bezeichnet (29-33), verspricht 114 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="115"?> 130 Hinds (1999) 124. Montiglio (2008) 203 zeigt, dass der Vergleich mit Penelope die Ehefrau nicht nur lobt, sondern auch dazu auffordert, sie nachzuahmen. Dennoch stehen Dank und Lob hier im Vordergrund. 131 Als appellative Fragen verstehe ich Fragen, deren Ziel es nicht ist, Informationen von einem Gegenüber zu erhalten, sondern dieses zu einer Handlung zu bewegen, z. B. durch den Hinweis auf die moralische Pflicht zu dieser Handlung oder durch das Hervorrufen von Schuldgefühlen angesichts der Vernachlässigung dieser Pflicht. 132 Hinds (1999) 125-128 liest die Aussage, dass ‚Nasos‘ Ehefrau der erste, Penelope der zweite Rang unter den Heroinen zukäme (23-24), als Anspielung auf Ov. epist.: Hätte ‚Naso‘ seine früheren poetischen Kräfte, würde er die Epistulae Heroidum mit einem Brief seiner Gattin eröffnen und sie damit über alle anderen Frauen stellen, die dort als Absenderinnen in Erscheinung treten. er, seiner Frau die gleiche literarische Unsterblichkeit zu verleihen, wie sie die genannten mythologischen Frauen hätten. In einem performativen Selbst‐ widerspruch betont er so seine Fähigkeiten als exul poeta: Obwohl die widrigen Bedingungen des Exils sein poetisches Können verringert hätten, sei er dazu bereit und dazu fähig, seiner Frau ein ewig währendes Denkmal zu erschaffen (36: carminibus vives tempus in omne meis). Er funktionalisiert so sowohl sein Können als exul poeta wie auch und vor allem seine prekäre Situation als exul patiens als Ausgangspunkt, um seine Ehefrau in dem Vergleich mit Andromache, Laodameia und Penelope zu lobpreisen und zugleich zu weiterer Unterstützung anzuspornen. 130 Beides soll die Gattin in Verbindung mit einer Liebesbeteuerung (1-4) und ‚Nasos‘ Selbstdarstellung als vollkommen von ihr abhängiger Ehe‐ mann (5-8) dazu motivieren, sich weiterhin für ihn einzusetzen. Denn ihre Tatkraft ist, so zeigt ‚Nasos‘ Inszenierung als hilfsbedürftiger Verbannter, nicht nur dringend notwendig, sondern, so zeigt sein Dank, auch wirksam. Die sprachliche Gestaltung von trist. 1,6 erweckt den Eindruck, als ob das Lob der Ehefrau bedingungslos erfolgt. Die Elegie ist ein in formaler Hinsicht rein deskriptiver Text, in dem weder Imperative noch andere Formen der Aufforderung verwendet werden. Anders als in späteren Gedichten, die sich an die Gattin richten, finden sich hier auch keinerlei appellative Fragen. 131 Alle Aussagen, die sich auf ‚Nasos‘ Ehefrau beziehen, beschreiben Verhalten, das sie seiner Aussage nach gezeigt hat oder zeigt. Auch das Versprechen literarischen Fortlebens bezieht sich auf ihr vergangenes und gegenwärtiges Verhalten und dient somit dessen positiver Verstärkung. Lediglich implizit deutet ‚Naso‘ an, dass sie auch in Zukunft den Einsatz zeigen muss, für den er sie in trist. 1,6 noch vor Penelope als Muster einer loyalen und treu liebenden Ehefrau gepriesen hatte, wenn sie will, dass es ihrem Mann gut geht und dass er sie in seiner Dichtung verewigt. 132 3.4 ‚Nasos‘ Fallibilität und das Verhältnis zu seiner Ehefrau 115 <?page no="116"?> 133 Ähnlich Nisbet (1982) 53. Nagle (1980) 49-50, 54-55 stellt einen Bezug dieser Zweifel zu denen des Liebhabers an der Treue und Loyalität der umworbenen Frau in der römischen Liebeselegie her. 134 Nagle (1980) 52. Evans (1983) 78-79 versteht V. 31-84 als „lecture on her responsibilities to him. […] Ovid […] instructs her how to behave in his absence.“ 135 Die Aussagen, sie schäme sich anders als früher ihres Mannes und verheimliche die Ehe mit ihm, unterstellen der Ehefrau Sorge um ihr öffentliches Ansehen. Vor diesem Hintergrund konstatiert Nisbet (1982) 55: „Ovid’s fortune gives his socially ambitious wife something to boast about.“ 136 Zur Bezeichnung dieser Leidenssituation werden vielfältige Ausdrücke verwendet: saevis ego sum Iovis ignibus ictus (69), materia tristis (73), malae res (79-80), fortuna (81), tempora (83). 3.4.2 Das Exil als Betätigungsfeld für die Loyalität der Ehefrau-- trist. 4,3 und 5,14 Im Vergleich zu trist. 1,6 verändert sich der Ton späterer Tristia deutlich. So äußert sich ‚Naso‘ am Beginn von trist. 4,3 und somit ca. zwei Jahre nach seiner Abreise aus Rom skeptisch, ob seine Frau überhaupt noch an ihn denkt (1-10). Zwar schilt er sich sogleich für diese Gedanken und fordert sich auf, derartiges Misstrauen abzulegen (11-20). Doch verstärken Fragen, ob sie unter der Trennung von ihm leidet, den Eindruck, dass er an ihrer Loyalität zweifelt (21-26). 133 Anklagende Fragen unterstellen, dass sie gerade dies nicht tut (21-26, 49-56), und weisen auf Grund ihres appellativen Charakters auf spätere Imperative voraus, mit denen ‚Naso‘ sie dazu auffordert, seiner Lage entsprechende Emotionen zu zeigen (35-37). Er hält seine Frau sogar dazu an, die Ehe mit ihm nicht zu verheimlichen, sich ihres verbannten Mannes nicht zu schämen und sich auch in ihrem öffentlichen Auftreten seiner Situation entsprechend zu verhalten (49-68). 134 All das gipfelt in eine an die Gattin gerichtete Aufforderung, durch en‐ gagierte Unterstützung die potentiell positiven Effekte zu nutzen, die der Zustand ihres Mannes als exul patiens für ihre eigene öffentliche Wahrnehmung bietet-(69-84). 135 Erneut zieht ‚Naso‘ somit einen Vorteil aus seiner Leidenssitu‐ ation, indem er sie zum - hier jedoch nur mehr potentiellen - Ausgangspunkt des Ansehens seiner Frau und dadurch auch ihrer Motivation, Hilfe zu leisten, macht. 136 Doch verknüpft er das frühere Versprechen von Ruhm jetzt auch mit Forderungen-(79-84): - quae latet inque bonis cessat non cognita rebus, 80 - apparet virtus arguiturque malis. - dat tibi nostra locum tituli fortuna, caputque - - conspicuum pietas qua tua tollat, habet. 116 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="117"?> 137 Ähnlich Nisbet (1982) 54. Das Substantiv materia kann sowohl das Objekt, an dem eine Tugend ausgeübt wird, bezeichnen (OLD, s. v. materia 6) als auch den Inhalt oder das Thema eines Buches (OLD, s. v. materia 7). Das Verb implere trägt hier die Bedeutung ‚mit Inhalt füllen‘. S. dazu OLD, s. v. impleo 6: „To fill out (a theme, argument, etc.)“. Der Lobpreis bzw. der Ruhm als Ergebnis dieses Lobpreises wird bezeichnet als gloria-(74), titulus (81) und laudes (84). Das Substantiv exemplum (72), die Adjektive publicus (76), cognitus (79) und conspicuus (82) sowie die Verben latere (79), apparere (80) und argui (80) implizieren ebenfalls Ruhm im Sinne positiver öffentlicher Wahrnehmung. 138 Auf die Möglichkeit wird durch die Verwendung der Substantive materia (73), locus (81) und munus gratum (83) hingewiesen sowie durch die Aussage, virtus zeige sich nur unter widrigen Umständen (79-80). Die Notwendigkeit wird durch mehrere Imperative zum Ausdruck gebracht: consurge (71), esto (72), inple (73), utere (83); man beachte auch en (84). Dazu Evans (1983) 79: „His lecture on responsibilities is not praise for past actions, but an exhortation for the future.“ utere temporibus, quorum nunc munere grato - - en patet in laudes area lata tuas. Tatkraft [virtus], die in guten Zeiten verborgen und untätig ist, wird erst in widrigen Zeiten voll Unglück deutlich sichtbar. Meine Lage gibt dir die Gelegenheit für Ruhm, und deine Loyalität [pietas] hat einen Ort, an dem sie ihr Haupt weithin sichtbar erheben kann. Nutze die Umstände, durch deren willkommenes Geschenk, sieh hin, dir jetzt ein weites Feld offensteht, um Ruhm zu erwerben. Im Gegensatz zu trist. 1,6 preist ‚Naso‘ seine Frau hier in trist. 4,3 nicht mehr für auszeichnende Eigenschaften (1,6,15: virtus; 19: probitas; 23: pia), sondern fordert sie auf, ihre Tatkraft und Loyalität (4,3,80: virtus; 82: pietas) zu demonstrieren. Darüber hinaus schreibt er die Verantwortung für ihre Reputation ihr selbst zu. Seine zukünftigen Gedichtbücher seien abgesehen vom ganz allgemeinen Thema Exil sozusagen unbeschrieben. Es liege deshalb in ihren Händen, ob sie weiterhin mit ihrem Lobpreis gefüllt werden (73: materiam tuis tristem virtutibus inple). 137 ‚Nasos‘ Aussagen sind keine uneingeschränkte Würdigung früherer Taten mehr, sondern, wie mehrere Imperative verdeutli‐ chen, Aufforderungen. Sie sind keine Ankündigung preisender Dichtung mehr, sondern führen der Gattin die Möglichkeit und insbesondere die Notwendigkeit vor Augen, sich mit eigenen Taten Anerkennung zu verschaffen. 138 Besonders anschaulich tritt dieser Kontrast in einer fast wörtlich wieder‐ holten Aussage zu Tage, die auf Wortebene nur minimal, in ihrem Inhalt jedoch signifikant abgewandelt ist: In trist. 1,6,26 nennt ‚Naso‘ seine Gattin „Musterbeispiel einer guten Ehefrau“ (exemplum coniugis bonae), in trist. 4,3,72 hingegen fordert er sie auf, ein ebensolches zu sein (exemplumque mihi coniugis esto bonae). Auch Vergleiche mit dem Mythos dienen in trist. 4,3 nicht mehr 3.4 ‚Nasos‘ Fallibilität und das Verhältnis zu seiner Ehefrau 117 <?page no="118"?> 139 Trist. 5,14,23-24: area de nostra nunc est tibi facta ruina; / conspicuum virtus hic tua ponat opus. 140 Heyworth (1995) 145. 141 Hinds (1999) 123-124 versteht den Beginn von trist. 5,14 als Widmung der gesamten Tristia an die Gattin, so dass ‚Naso‘ hier die Erfüllung des in trist. 1,6 gegebenen Versprechens ewigen Ruhms behaupte. 142 Nagle (1980) 51-53 spricht von „the idea of reciprocity of services rendered and repayment in poetry. [In trist. 5,14] Ovid is not thanking for past favours, but urging future ones. […] her action, rather than his poetry, will determine her fame.“ Ähnlich Evans (1983) 105. 143 Genannt werden Penelope und Andromache (als Inbegriff loyaler Ehefrauen), Alkestis (die ihr Leben für das ihres Gatten Admetos opferte) sowie Euadne und Laodameia (die ihren Gatten Kapaneus und Protesilaos freiwillig in den Tod folgten). Wie einfach im Vergleich dazu v. a. die Fürsprache bei Augustus sei, betont ‚Naso‘ auch in der an die Gattin gerichteten Didaxe in Pont. 3,1. S. dazu Davisson (1984) 330-333. primär als Hervorhebung ihrer auszeichnenden Qualitäten, sondern vor allem als motivierende Hinweise. Wie Hektor durch den Trojanischen Krieg, wie Tiphys als Steuermann der Argo durch die stürmische See und wie Phoibos als Gott der Heilkunst durch Krankheiten zu Ruhm gekommen seien, so könne und solle auch die Gattin Kapital aus der Relegation ihres Mannes schlagen und sich dadurch Bekanntheit verschaffen (75-80). Auch in trist. 5,14 begründet ‚Naso‘ Forderungen, die er an seine Ehefrau stellt, indem er seine Notlage als potentielles Betätigungsfeld für ihre virtus (24), ihre pietas (28) und ihren socialis amor (28) bezeichnet. 139 Wahre und damit wahrhaft erwähnenswerte Qualitäten, so wiederholt ‚Naso‘, würden sich nur in Ausnahmesituationen zeigen, was sie für sich nutzen könne und solle: Sei ihr Ruf in der Vergangenheit dem ihres Mannes untergeordnet gewesen, so verschaffe ihr sein Exil jetzt die Möglichkeit, sich selbst einen Namen zu machen. 140 Vor diesem Hintergrund lässt sich ‚Nasos‘ Erinnerung, „welch große Denk‐ mäler“ (1: quanta monimenta), er ihr in seiner bisherigen Dichtung erschaffen habe (1-14), als Hinweis darauf verstehen, dass er ‚seinen Teil der Abmachung‘ erfüllt habe, indem er ihr literarisches Weiterleben ermöglicht beziehungsweise seine Bereitschaft und Fähigkeit dazu unter Beweis gestellt habe. 141 Jetzt liege es an ihr, ihre Loyalität durch Taten zu zeigen und sich dadurch gute Reputation zu erwerben. 142 Fragen, ob sie sehe, welch lang anhaltendes Ansehen durch den Mythos bekannte Frauen genössen (35-40), haben dabei appellativen Charakter, zumal ‚Naso‘ darauf hinweist, dass anders als in deren Fall lediglich „Liebe und Treue“ nötig seien, um ihm zu helfen (41-42: morte nihil opus est pro me, sed amore fideque: / non ex difficili fama petenda tibi est). 143 Am Ende von trist. 5,14 und damit in den letzten beiden Distichen der Tristia beteuert ‚Naso‘, dass seine Frau gar nicht zu mehr Einsatz und Hilfe motiviert 118 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="119"?> 144 Nagle (1980) 53; Evans (1983) 105. 145 Vergleichbar ist Pont. 2,11,13-22. ‚Naso‘ erkennt dort die Hilfsbereitschaft seiner Frau an, dankt dem Adressaten aber, sie wie ein williges Pferd zu noch mehr Tatkraft anzuspornen. 146 ‚Naso‘ wendet sich in trist. 5,2 nicht explizit an seine Frau, sie wird in der Forschung jedoch als Adressatin identifiziert. S. dazu Davisson (1984) 334-335. 147 Trist. 5,2 wurde teils als zwei separate Gedichte überliefert. Ich lese V. 45-78 nicht als eigenständige Elegie, sondern als konkrete Ausformulierung des in V. 43-44 angekündigten Bittgebets an Augustus, das innerhalb eines Gedichts nahtlos an V. 1-44 anschließt. 148 Evans (1983) 102-103. werden müsse (43-46). Das entkräftet das Vorausgehende aber nicht, sondern betont abschließend nochmals die erwartete Gegenleistung. 144 Denn dass ‚Naso‘ am Ende der letzte Elegie der Tristia einen versöhnlichen Ton anschlägt, lässt sich vor allem auf die Epilog-Funktion der Elegie zurückführen. Ein kritischer Abschluss der Sammlung, der wegen der Endstellung leicht in Erinnerung bleibt, würde in der im Text evozierten Kommunikationssituation wohl kaum dazu beitragen, die Gattin anzuspornen. Ihr verbannter Mann setzt deshalb auf positive Bestärkung. 145 Dass ‚Naso‘ seiner Frau gegenüber eine zunehmend kritisch und ungehalten wirkende Haltung einnimmt, geht auch aus seiner sehr deutlichen Kritik in trist. 5,2 hervor: 146 Er befinde sich nur noch in Tomi, da sie ihrer Pflicht nicht nachkomme, nicht bei Augustus für ihn fürspreche und ihn vollkommen im Stich lasse (33-42). Er deutet auch an, dass er sich nicht mehr auf sie verlasse, weshalb er sich selbst an Augustus wenden werde (43-44). 147 Auch das soll die Ehefrau zum Handeln bewegen und gibt in der zweiten Elegie in trist. 5 zugleich den Ton für das restliche Buch vor. 148 Zusammenfassend lässt sich sagen: ‚Naso‘ behauptet im Verlauf der Tristia, dass die Beziehung zu seiner Frau gescheitert sei oder zumindest zu scheitern drohe, da sie zu wenig für ihn tue und ihn im Stich lasse. Dadurch inszeniert er auch sie als fallibel in dem Sinne, dass sie sich seiner Auffassung und, so suggeriert die mehrfache Erwähnung von Pflichten ihm gegenüber, auch der Auffassung der Gesellschaft nach falsch verhält, da sie diesen Pflichten nicht nachkommt. Diese Darstellung des drohenden Scheiterns der ehelichen Beziehung ist geeignet, Mitleid bei den Adressatinnen und Adressaten sowie Leserinnen und Lesern hervorzurufen und sie dazu zu bewegen, im Sinne ‚Nasos‘ auf seine Gattin einzuwirken. Mit der Analyse von Pont. 3,1 soll im Folgenden untersucht werden, wie ‚Naso‘ gerade dieses Scheitern aber auch für seine persuasiven Ziele funktionalisieren kann, indem er droht, allein seine Ehefrau dafür verantwortlich zu machen. 3.4 ‚Nasos‘ Fallibilität und das Verhältnis zu seiner Ehefrau 119 <?page no="120"?> 149 Nagle (1980) 53-54 nennt folgende Ausdrücke auffordernden Charakters: oportet (35, 144), decet (40), debes (41, 75), an mereare (62), exigit (73), exigis ipsa (74), nec sumus indigni (79), debetur meritis gratia […] meis (80). Bernhardt (1986) 55 zählt „33 mas‐ sive Ermahnungen und Aufforderungen zu tatkräftiger Hilfe“. Evans (1983) 125, 128 bezeichnet Pont. 3,1 als „summary statement of all earlier letters [to Naso’s wife]." 150 Zum zweiten Teil der Elegie s. Staffhorst (1965) 6-10; Nagle (1980) 44-46; Evans (1983) 125-131; Davisson (1984); Colakis (1987); Frings (2005) 227-231. 151 S. dazu Davisson (1984) 326-327. Zu zahlreichen weiteren Passagen, in denen die lebensfeindliche Umgebung in und um Tomi geschildert wird, s. Staffhorst (1965) 10; Bernhardt (1986) 40 Anm. 2; Helzle (2003) 77. Zur Stilisierung von Tomi als locus horribilis s. Nagle (1980). 3.4.3 ‚Nasos‘ poetische Macht über seine Ehefrau - Pont. 3,1 Pont. 3,1 ist mit 166 Versen abgesehen von trist. 2 nicht nur die längste Elegie der Tristia und Epistulae ex Ponto, sondern formuliert auch deren eindringlichstes Hilfegesuch. 149 ‚Naso‘ wendet sich ein letztes Mal an seine Ehefrau und macht seine Notlage abermals zum Ausgangspunkt von Bitten um Unterstützung. Doch geht er anders als beispielsweise in trist. 3,8 und Pont. 1,10 nicht auf physische und psychische Krankheiten ein, um seine Hilfsbedürftigkeit zu unterstreichen, sondern greift erneut auf die Argumentationsmuster zurück, die im Zentrum der beiden vorausgehenden Kapitel 3.4.1 und 3.4.2 stehen. Er transformiert diese Argumentationsmuster aber, indem er betont, dass sein Status als exul patiens ihn als exul poeta auf der einen Seite dazu befähigt, ewigen Ruhm zu verleihen, und auf der anderen Seite, mit denselben Mitteln auch negative Reputation zu verschaffen. Eine vergleichbare rhetorische Strategie lässt sich auch in anderen Elegien finden, die Analyse von Pont. 3,1 hat somit exemplarischen Charakter. Die Elegie lässt sich in zwei Teile untergliedern. Den größten Teil nimmt eine Unterweisung ein, in der ‚Naso‘ die Rolle eines praeceptor übernimmt und seiner Ehefrau detaillierte Anweisungen erteilt, wie sie sich gegenüber Livia, der Frau des Augustus, verhalten soll, um eine Abmilderung seiner Bestrafung zu erreichen (95-166). Die Forschung hat sich intensiv mit dieser Didaxe und vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sie Motive, Argumentationsmuster und Formulierungen aus Ovids erotischer Dichtung aufgreift und verarbeitet. Die folgende Analyse beschränkt sich deshalb auf ausgewählte Passagen des ersten Teils. 150 Der Beginn der Elegie schildert detailliert die lebensfeindlichen Umweltbe‐ dingungen in Tomi (1-30). 151 Diese Schilderung von Tomi als locus horribilis dient nicht nur dazu, ‚Nasos‘ erneut vorgebrachten Wunsch nach einem Orts‐ wechsel zu begründen (1-6). Sie soll auch die vermeintliche Monothematik der Epistulae ex Ponto und damit auch des vorliegenden Hilfegesuchs rechtfer‐ 120 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="121"?> 152 Dass die im Exil verfassten Elegien Ovids keineswegs monothematisch sind, zeigt in jüngerer Zeit die Zusammenstellung verschiedener Themenbereiche von Möller (2020) 61-62: „Erotik, Religion, Mythos, Jura, Topographie, Psychologie, Pathologie (Körpermetaphorik: Krankheit, Tod, Gewalt), Distanz/ Trennung, Sozialdiagnostik.“ 153 Zu trist. 5,2 s. S.-119. 154 Vergleichbar trist. 5,14,19-20: quae nequis possit temeraria dicere, persta, / et pariter serva meque piamque fidem. 155 Staffhorst (1965) 1-2 („beinahe aggressiv“); Nagle (1980) 53 („very impatient tone“); Evans (1983) 127-129 („indignant“; „impatient and superior tone“; „frustrations after years of exile and disappointment at lack of support“); Bernhardt (1986) 55 mit Anm. 3. 156 Mit Owen (1963) lese ich opus. Dazu Staffhorst (1965) 27: „Das ‚Werk der Fama‘ besteht darin, dass die Frau ruhmvoll in aller Munde genannt wird.“ Richmond (1990) liest das von Heinsius emendierte onus. tigen (29-30: non igitur mirum, finem quaerentibus horum / altera si nobis usque rogatur humus). 152 Denn trotz ununterbrochener Bitten (30: usque) befindet sich ‚Naso‘ immer noch am Schwarzen Meer, was nicht der Fall wäre, wenn sich seine Gattin stärker für ihn eingesetzt hätte (31-42). Der Verbannte suggeriert damit wie schon in trist. 5,2,33-42, sogar von seiner Frau im Stich gelassen zu werden, und fordert sie deshalb eindringlich dazu auf, sich Tag und Nacht mit all ihrer Kraft für ihn einzusetzen (35-42). 153 Er untermauert diese Forderungen, indem er das bereits mehrfach geäußerte Versprechen aufgreift, ihr Ruhm verleihen zu können: Bisher habe er sie in seinen Gedichten immer alle Erwar‐ tungen erfüllen lassen, die an eine gute Ehefrau gestellt werden. Damit sich diese ‚Vorschusslorbeeren‘ (praeconia) bewahrheiten können, solle sie diesen Erwartungen nachkommen. 154 Dieser positiv bestärkende Motivationsversuch schlägt jedoch unvermittelt in eine ungehalten wirkende Drohung um: 155 Denn ‚Naso‘ habe nicht nur die Macht, Ruhm zu verleihen, er könne seiner Frau auch schlechte Reputation verschaffen (43-56): - magna tibi imposita est nostris persona libellis: - - coniugis exemplum diceris esse bonae. 45 hanc cave degeneres; ut sint praeconia nostra - - vera, vide Famae quod tuearis opus. 156 - ut nihil ipse querar, tacito me Fama queretur, - - quae debet fuerit ni tibi cura mei. - exposuit mea me populo Fortuna videndum, 50 - et plus notitiae, quam fuit ante, dedit. - notior est factus Capaneus a fulminis ictu, - - notus humo mersis Amphiaraus equis; - si minus errasset, notus minus esset Ulixes, 3.4 ‚Nasos‘ Fallibilität und das Verhältnis zu seiner Ehefrau 121 <?page no="122"?> 157 Da persona hier im übertragenen Sinne als Rolle aufzufassen ist (Staffhorst 1965, 26; Davisson 1984, 328), sind damit auch Erwartungen verbunden, die an diese Rolle gestellt werden. 158 Bernhardt (1986) 55-62, bes. 61-62: „Wie Kapaneus wurde er vom Blitz getroffen, wie Amphiaraus lebendig begraben, wie Odysseus irrte er umher […], wie Philoktet schließlich erlitt der Exilant eine Wunde, die nur der heilen kann, der sie schlug, und wie eben dieser Philoktet muß sich der nach Tomis Verbannte als Aussätziger fühlen, da ihn so viele seiner ehemaligen Freunde meiden.“ 159 Zur Bezeichnung des Exils als ruina s. z. B. trist. 1,5,5; 4,10,99; 5,8,33; 5,14,23; Pont. 1,9,13; 2,3,60. magna Philoctetae vulnere fama suo est. 55 si locus est aliquis tanta inter nomina parvis, - - nos quoque conspicuos nostra ruina facit. Eine bedeutende Rolle ist dir in meinen Büchlein auferlegt worden: Man wird dich als Musterbeispiel einer guten Ehefrau bezeichnen. Hüte dich davor, den Erwartungen, die mit dieser Rolle einhergehen, nicht nachzukommen. 157 Damit sich meine Lobes‐ hymnen als wahr herausstellen, bedenke, welchen Ruf du bewahren willst. Um selbst nichts zu klagen: Das Gerede der Leute wird, auch wenn ich schweige, klagen, wenn du dir keine angemessenen Sorgen um mich machst. Fortuna hat mich der Betrachtung der Öffentlichkeit ausgesetzt und mir mehr Bekanntheit verliehen, als ich früher hatte. Capaneus wurde bekannter durch den Blitzschlag. Amphiaraus ist bekannt, weil seine Pferde im Boden versanken. Wenn er weniger herumgeirrt wäre, wäre Odysseus weniger bekannt. Philoktet hat wegen seiner Wunde großen Ruhm. Wenn unter so bedeutenden Namen Platz ist für unbedeutende kleine, lässt auch mein Zusammenbruch mich aus der Masse hervorstrahlen. Wie Capaneus, Amphiaraus, Odysseus und Philoktet, deren Schicksalsschläge er gewissermaßen in sich vereint, 158 sei ‚Naso‘ gerade wegen seines „Zusammen‐ bruchs“ (56: nostra ruina) 159 und, da er diesen in seiner Dichtung verbreitet, auch durch dessen literarische Verarbeitung in den bisherigen Tristia und Epistulae ex Ponto stärker in die Aufmerksamkeit der (lesenden) Öffentlichkeit gerückt als zuvor. Der exul poeta schildert die Lage als exul patiens als existentiell bedrohlich, schreibt ihr durch den Vergleich mit den genannten Heroen aber auch eine potentiell positive Wirkung zu. Diese bezieht sich anders als in früheren Elegien hier jedoch nicht auf seine Gattin, sondern auf ‚Naso‘ selbst: Wie den genannten mythologischen Heroen deren Strapazen, so habe ihm seine Lage als exul patiens und insbesondere sein Scheitern, diese Lage zu bewältigen, 122 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="123"?> 160 Bernhardt (1986) 56 bezeichnet V. 50 als Ausdruck der persönlichen Erfahrung ‚Nasos‘, dass ein Schicksalsschlag auch einen „positiven Nebeneffekt haben kann, indem er dem Opfer neben allem Unglück auch zur Popularität verhelfen mag.“ 161 Stroh (1971) 251 Anm. 11 erklärt die Metapher „in scaena esse = eine Person des öffentlichen Lebens sein“ mit Cic. Planc. 29; ad Brut. 1,9,2; de orat. 3,162; Hor. sat. 2,1,71. Zur Verwendung dramatischer Terminologie und Konzeptionen in Pont. 3,1 s. Davisson (1984). Zur Metapher eines Textes als Bühne, auf welcher der Autor als ‚Regisseur‘ Handlungen und Figuren inszeniert, s. Fuhrer (2012) 130-131. 162 Wulfram (2008) 375. 163 Da ‚Naso‘ die peer-group seiner Gattin und seine weibliche Leserschaft in V. 64 als non paucae bezeichnet und diese peer-group bzw. Leserschaft als potentielle Kritikerinnen seiner Gattin darstellt (s. dazu S. 124 ), lese ich hier mit Owen (1963) paucis. Ähnlich Staffhorst (1965) 23: „Da testibus kein Kollektivbegriff […] ist, müßte non parvis doch wohl mit ‚bedeutend‘ übersetzt werden; es kommt hier aber auf die Zahl an.“ Richmond (1990) liest parvis. größere Bekanntheit (50: plus notitiae) verschafft. 160 Gerade diese Bekanntheit verleiht ihm auch Macht. Denn das Exil beziehungsweise dessen Darstellung in den Elegien erschafft eine große textuelle ‚Bühne‘, auf der ‚Naso‘ als ‚Autor‘ und ‚Regisseur‘ seine Frau in Szene setzen kann (59: scaena spectabere magna). 161 Erfüllt sie, so ‚Naso‘ Argumentation, die mit der Rolle als Ehefrau einherge‐ henden Erwartungen (43: persona), wird sie von der (lesenden) Öffentlichkeit als das exemplum coniugis bonae (44) und die pia uxor (60) wahrgenommen werden, als die ‚Naso‘ sie schon früher dargestellt hat. Intensiviert sie ihre Bemühungen um ihn nicht, kann er aber auch das Gegenteil bewirken und ihr auf der ihm geschaffenen ‚Bühne‘ beziehungsweise mit der Macht als ‚Autor‘ und ‚Regisseur‘ dieser ‚Bühne‘ negative Reputation verschaffen, indem er sein Scheitern, eine Amnestie zu erhalten, auf sie und ihren mangelnden Einsatz zurückführt. ‚Nasos‘ Fallibilität verleiht ihm somit Macht über seine Ehefrau. Diese Macht wird auch daran deutlich, dass ‚Nasos‘ Ehefrau nicht als „eigen‐ ständige, […] sich losgelöst von ihrem Gatten profilierende Existenz“ präsentiert wird, 162 sondern als Person, die davon abhängig ist, dass ihr Mann sie auf der textuellen Bühne der in Tomi entstandenen Werke ‚erschreibt‘ (59-66): - quidquid ages igitur, scaena spectabere magna, 60 - et pia non paucis 163 testibus uxor eris. - crede mihi, quotiens laudaris carmine nostro, - - qui legit has laudes an mereare rogat. - utque favere reor plures virtutibus istis - - sic tua non paucae carpere facta volent. 65 quarum tu praesta ne livor dicere possit - - ‚haec est pro miseri lenta salute viri.‘ 3.4 ‚Nasos‘ Fallibilität und das Verhältnis zu seiner Ehefrau 123 <?page no="124"?> 164 Staffhorst (1965) 34 zufolge erfordert „praestare in der Bedeutung ‚sich hervortun, sich auszeichnen‘ […] alicui, aliqua re […] oder wenigstens einen präpositionalen Zusatz.“ Er versteht praestare hier deshalb in der Bedeutung ‚Gewähr leisten, sicherstellen‘. 165 So Möller (2020) 67-68 über einen ähnlichen Vergleich mit Odysseus in trist. 5,5,51-52. 166 OLD, s. v. specto 6: „to look at closely or carefully, inspect, examine, scrutinize“; c: „to look at, judge in a particular light, by a particular standard“. 167 In Ansätzen bereits Stroh (1971) 251-252. Was auch immer du also tust, man wird dich auf einer großen Bühne genau betrachten und vor nicht gerade wenigen Zeugen wirst du eine pflichtschuldige Ehefrau sein. Glaube mir, so oft du in meiner Dichtung gelobt wirst, fragt jeder, der diese Lobprei‐ sungen liest, ob du sie verdient hast. Und wie meiner Meinung nach die Mehrheit der Frauen die von mir gepriesenen Tugenden gutheißt, so werden wohl nicht gerade wenige dein Verhalten scharf kritisieren. Sieh zu, 164 dass deren Missgunst nicht sagen kann: „Sie ist gleichgültig gegenüber dem Wohlergehen ihres armen Mannes.“ ‚Naso‘ akzentuiert die Verbannung in Pont. 3,1 wie schon in trist. 1,5 und Pont. 4,10 als konstruktive Kraft für sein literarisches Schaffen, indem er sich selbst mit mythologischen Figuren vergleicht und seine Verbannung damit ins Heroische sublimiert. 165 Darüber hinaus macht er die eigene Fallibilität, das heißt hier sein Exil und sein Scheitern, dieses zu bewältigen, dadurch aber auch zum Ausgangspunkt seiner - auch literarischen - Reputation und damit zur Grund‐ lage seiner Macht über die Reputation seiner Gattin. Insbesondere durch die ausdrückliche Erwähnung seines Lesepublikums kann er Druck auf sie ausüben: Die Leserinnen und Leser in Rom würden genau prüfen (59: spectabere), 166 ob sie wie eine treu liebende Ehefrau handle und ihr Lob deshalb berechtigt sei (61-62: quotiens laudaris carmine nostro, / qui legit has laudes an mereare rogat). Sollte sich ihr Verhalten ihm gegenüber nicht ändern, könne und werde ‚Naso‘ ihre Taten nicht mehr positiv hervorheben, sondern so über sie berichten, dass sie stark kritisiert werde. Insbesondere seine Leserinnen seien gerne dazu bereit (64: non paucae carpere facta volent). Zwar zeigt ‚Naso‘ seiner Ehefrau auch in Pont. 3,1 die Möglichkeit auf, im Gegenzug für Hilfe Lob und Dank zu erhalten. Doch kündigt er insbeson‐ dere das Gegenteil, nämlich inkriminierende Erwähnung im Gegenzug für zu wenig Unterstützung an. 167 In trist. 4,3 hat er ihr die Verantwortung für ihre lobende Erwähnung und positive Darstellung in seiner Dichtung übertragen. Hier hingegen droht er ihr mit negativer Reputation. Die nur in Pont. 3,1 erfolgende Erwähnung eines primär als weiblich vorgestellten Lesepublikums in Rom (64: paucae; 65: quarum) lässt diese Drohung wesentlich konkreter wirken als die topischen Versprechen ewigen Ruhms, die ‚Naso‘ in früheren Elegien geäußert hat. 124 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="125"?> 168 Zu dieser Veränderung s. Staffhorst (1965) 8; Evans (1983) 126; Colakis (1987) 214. 169 S. z.-B. trist. 5,5,59-60; Pont. 2,2,111-112. 170 S. z. B. trist. 1,5,17-24; 5,9,1-10; Pont. 3,2,35-36; 4,7,53-54; 4,8,43-70. Helzle (1989a) 21-30 verortet entsprechende Aussagen im Kontext des römischen amicitia-Begriffs: „Some [poems] express gratitude for an officium received, others constitute an officium amicitiae in themselves and thus serve as incentives for the addressee to answer this by an officium on behalf of the poet“ (S. 25). Zu amicitia in der Exildichtung s. S. 105 Anm.-96. 171 Trist. 1,8,49-50: effice peccati ne sim memor huius, et illo / officium laudem, quo queror ore, tuum. 172 S. dazu Nagle (1980) 152-154. 173 Pont. 4,3,3-4: nomine non utar, ne commendere querela / quaeraturque tibi carmine fama meo. Vergleichbar ist auch Ovids eigenständiges Werk Ibis, in dem der ebenfalls als Dabei ist festzuhalten, dass der exul poeta diese poetische Macht über seine Frau zwar betont, in den folgenden Versen jedoch eine versöhnliche und ab V. 89 sogar eine entschuldigende Haltung einnimmt, auch wenn er weiterhin klare Erwartungen an ihr Verhalten hat (67-68, 71-76, 79-86) und eine erneute Drohung ausspricht (77-78). 168 Dieser Wechsel schränkt die bisherige Argumen‐ tation aber nicht ein. Zum einen inszeniert sich ‚Naso‘ durch ihn als vollkommen von seiner Ehefrau abhängiger exul patiens und will ihr dadurch nochmals bewusst machen, wie unabdingbar ihre Unterstützung für ihn ist (67-70). Zum anderen kann er sie vergleichbar mit der positiven Bestärkung am Ende von trist. 5,14 empfänglich für die kommende Didaxe stimmen, indem er ihre bisherigen Verdienste um ihn erwähnt (69-70, 74-76, 83-84, 89-94). Die hier in Pont. 3,1 untersuchte Selbstinszenierung ‚Nasos‘ als Dichter, der auf Grund seiner Fallibilität Macht über die Reputation anderer hat, wird durch vergleichbare Äußerungen in anderen Elegien bestätigt. ‚Naso‘ argumentiert auch anderen Adressaten gegenüber, dass seine Relegation die Möglichkeit bietet, positiv konnotierte Eigenschaften unter Beweis zu stellen, 169 und dass er bereit und fähig ist, entsprechende Handlungen mit lobender Erwähnung zu vergelten. 170 Er macht aber beispielsweise in trist. 1,8 den anonym bleibenden Adressaten auch darauf aufmerksam, ihn mit ein und demselben Mund (1,8,50: os, zur Bezeichnung von Dichtung verwendet) entweder für frühere Treulosigkeit schmähen oder für künftige Unterstützung rühmen zu können. 171 Der Adressat von trist. 4,9 wird vor die gleiche Wahl gestellt: Entweder er ändert sein Verhalten und verdient sich dadurch Lob und Dank, oder er bleibt treulos und hasserfüllt und wird auf ewig geschmäht werden. 172 In Pont. 4,3 verschweigt ‚Naso‘ entgegen der Mehrzahl der Epistulae ex Ponto sogar den Namen des treulos gewordenen Adressaten, um ihm nicht einmal durch die namentliche Nennung in einem Schmähgedicht Bekanntheit zu verschaffen. 173 3.4 ‚Nasos‘ Fallibilität und das Verhältnis zu seiner Ehefrau 125 <?page no="126"?> Autor-persona konfigurierte Ich-Sprecher den Namen des geschmähten Adressaten verschweigt. 174 Heinemann/ Weiß (2020) 121-124. 175 Heinemann/ Weiß (2020) bilanzieren: „Das elegische Ich der Tristia und Epistulae ex Ponto ist dazu verdammt, ein poeta exul zu sein“ (S. 131). Sie kommen aber unter anderen Voraussetzungen als ich zu diesem Schluss: Indem ‚Naso‘ „die Funktion eines Kulturbringers für die Geten einnimmt, ja gar durch sein Gedicht [Pont. 4,13] die Romanisierung des Schwarzmeerraumes bewirkt“ (S. 126), wird Tomi im Verlauf des Exils „in den Rang einer Roma secunda“ erhoben, in der ‚Naso‘ „kulturelle Errungen‐ schaften wie Frieden und politische Ordnung genießt [und] mit ihren Einwohnerinnen und Einwohnern Sprache und Werte teilt“ (S. 130). Da die neue Umgebung ‚Nasos‘ lateinische Dichtung über sie missversteht, klagt sie ihn (wie in Pont. 4,14,15-26 beschrieben) analog zur Verurteilung der Ars amatoria im ‚originalen‘ Rom an. Er „bleibt dadurch auch in einem neuen Rom exiliert“ (S. 131). Wie im Folgenden deutlich werden wird, stimme ich der Auffassung nicht zu, dass ‚Naso‘ als Kulturbringer fungiere und Sprache und Werte mit den Einheimischen teile. Das gilt auch für die These, Tomi werde zu einer Roma secunda stilisiert. 3.5 Die Notwendigkeit des Scheiterns Matthias Heinemann und Adrian Weiß zeigen, dass sich die äußeren Rahmen‐ bedingungen des Exils im Laufe der Epistulae ex Ponto verbessern, da ‚Naso‘ in Pont. 4 „seine neue Heimat Tomis nicht mehr als miles gegen heranrückende Barbarenstämme verteidigen muss“, in Pont. 4,9 alle Voraussetzungen für das Bestehen einer pax fidelis in der Region um Tomi als erfüllt dargestellt werden und nach dieser Elegie 4,9 keine Kriegshandlung mehr, sondern eine „geregelte römische Verwaltung einer Provinz am Pontus“ erwähnt wird. Sie leiten daraus auch eine „Art Akklimatisierung“ ‚Nasos‘ „mit den Verhältnissen des Exils“ ab, eine „wesentliche Reduzierung der Klagen über die Tomiten“ sowie die „Tendenz […], dass sein Wunsch nach einem Ortswechsel […] in den letzten beiden Büchern von Pont. abnimmt.“ 174 Ich will im Folgenden hingegen dafür argumentieren, dass ‚Nasos‘ Klagen über Tomi und seine Wünsche nach einem Ortswechsel nicht nachlassen und dass seine innere Verfassung trotz möglicher Verbesserungen der äußeren Rahmenbedingungen gleichbleibt, ja bis zum Ende von Pont. 4 gleichbleiben muss: ‚Naso‘ muss an der Bewältigung und Akzeptanz seines Exils sowie an der Integration in die Gesellschaft Tomis scheitern, da er ansonsten nicht nur seine Identität als römischer Autor aufgeben würde, sondern auch die Übernahme der Doppelrolle des exul poeta et patiens und somit seine gesamte literarische Tätigkeit zum Scheitern verurteilt wäre. 175 126 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="127"?> 176 Pont. 4,6,7-8: perstat enim Fortuna tenax votisque malignum / opponit nostris insidiosa pedem. Sofern nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich alle Stellenangaben in diesem Kap. 3.5.1 auf das vierte Buch der Epistulae ex Ponto. 177 Bitten um Hilfe und Fürsprache finden sich z. B. in 5,45-46; 8,21-28, 89-90; 9,72-74; 12,39-50; 13,49-50. Dank als Mittel positiver Verstärkung findet sich z. B. in 1,25-28; 5,31-46; 6,21-35; 9,51-52. 178 Das Widrige Klima und die Gefahren, die von benachbarten Stämmen ausgehen, werden auch in Pont. 4,7 und 4,9 erwähnt und sollen die militärischen Erfolge Roms, welche die Adressaten in der Region errungen haben, größer erscheinen lassen. 179 S. dazu Kap. 3.5.3. 180 So auch Evans (1983) 154; Wulfram (2008) 278 mit Anm. 238. Anders Heinemann/ Weiß (2020) 121-122. 3.5.1 ‚Nasos‘ Scheitern an der Akzeptanz des Exils Selbst Jahre nach seiner Abreise aus Rom ist ‚Nasos‘ Situation unverändert beklagenswert und lässt seinen Wunsch nach Rückkehr nicht in Erfüllung gehen. 176 Wiederholt bittet er die Adressaten des letzten Buchs der Epistulae ex Ponto deshalb um Hilfe und Fürsprache oder dankt ihnen, um sie durch positive Verstärkung zu weiterer Unterstützung zu motivieren. 177 Er versichert, dass Tomi tatsächlich ein solcher locus horribilis sei, wie er stets behauptet (7,1-6; 10,31-36), 178 und betont, sich gegen seinen Willen am Schwarzen Meer aufzu‐ halten (6,9,1-2). Er wünscht sich fort (8,79-90) und behauptet, dass er dem Ort seiner Verbannung sogar die Unterwelt vorziehen würde (14,7-14). Den Inhalt von Pont. 4,14 als einer der letzten seiner nach Rom gesandten Elegien fasst ‚Naso‘ wie folgt zusammen: Sie biete keine Informationen, außer dass er einigermaßen gesund sei und sich wegwünsche (14,1-14). Noch in der vorletzten Elegie äußert der Verbannte die Befürchtung, immer nur das Gleiche, also Amnestie zu wünschen (15,29: et pudet et metuo semperque eademque precari). Er bezeichnet den Wunsch nach einem Ortswechsel als „unbezähmbar“, so dass er nichts gegen ihn ausrichten könne (15,31: verum, quid faciam? res inmoderata cupido est) und er Italien weiterhin als mea tellus ansehe (15,38). In den letzten beiden Distichen der letzten Elegie Pont. 4,16 resümiert er sogar, dass ihm das Leben nichts mehr biete außer Anlass für Klagen (16,49-52). 179 Anders als ‚Naso‘ am Beginn von Pont. 3,7 angesichts seines Scheiterns, eine Amnestie zu erreichen und das Exil zu akzeptieren, voller Resignation angekündigt hat (3,7-8: ergo mutetur scripti sententia nostri, / ne totiens contra, quam rapit amnis, eam), findet also weder eine inhaltliche Neuausrichtung seiner Dichtung statt noch eine Veränderung seiner Einstellung gegenüber dem Exil. 180 Vereinzelte wohlwollende Aussagen über die Bewohner Tomis sind deshalb nicht als Ausdruck dafür zu verstehen, dass sich ‚Naso‘ an die dortige Gesell‐ schaft angepasst oder in diese Gesellschaft integriert hat, sondern als rhetorische 3.5 Die Notwendigkeit des Scheiterns 127 <?page no="128"?> 181 Zur Darstellung der Einheimischen als Barbaren s. S.-131 Anm.-195. 182 Evans (1983) 158; Gauly (2021) 67. 183 Die geistige Imagination Roms ist eigenständiges Thema von trist. 4,2, bes. 67-74. ‚Naso‘ geht mehrfach darauf ein, wie er sich sehnsuchtsvoll Rom und die dort zurückgelas‐ senen Menschen vor Augen führt, s. z. B. trist. 3,2,21-22; 3,4,55-59; Pont. 4,4; 4,9. S. dazu Nagle (1980) 93-100, die zahlreiche weiteren Passagen anführt. Strategie. Denn indem er in Pont. 4,9 und 4,14 behauptet, die Einheimischen seien ihm wohlgesonnen (9,89, 97; 14,55-56), würden ihm Steuerfreiheit gewähren (9,101-104; 14,53) und sogar seine Begnadigung wünschen (9,99-100), kann er indirekt an die Leserschaft in Rom appellieren: Wenn selbst die Bewohner des Schwarzmeerraums, die er sonst als grausame Barbaren darstellt, nur das Beste für ihn wollen, 181 müssen sich der Adressat und andere Leserinnen und Leser in Rom umso mehr dazu gedrängt fühlen, ihn zu unterstützen. 182 Dass er diese Unterstützung nötig hat und sich trotz der genannten Privilegien aus Tomi wegwünscht, betont ‚Naso‘ in Pont. 4,14, noch bevor er um die Gunst der Einheimischen wirbt: Ihm sei die eigene Gesundheit verhasst, er habe keinen Wunsch, außer Tomi verlassen zu können. Selbst die Syrten, Charybdis oder die Styx seien ihm lieber als Tomi (14,5-14). Auch schränkt er vorausgehende positive Aussagen über den Ort seiner Verbannung zumindest stark ein, indem er die Elegie mit dem als unerfüllbar markierten Wunsch enden lässt, in Tomi möge es Hoffnung auf Frieden und ein gemäßigteres Klima geben (14,61-62: di modo fecissent, placidae spem posset habere / pacis et a gelido longius axe foret). Welche Bedeutung das ersehnte Rom für den Verbannten immer noch hat, wird auch in Elegien deutlich, in denen er dortige Ereignisse imaginiert. Pont. 4,4 beispielsweise mutet zunächst optimistisch an durch die Aussage, dass es selbst in schlimmsten Situationen Anlass zur Freude gebe und dass selbst der ans Ende der Welt verbannte ‚Naso‘ in heitere Stimmung versetzt worden sei und seine Lage habe vergessen können. Dies, so wird betont, sei jedoch nur möglich gewesen, da ihm bei einem Strandspaziergang die personifizierte Fama von Rom und von der dortigen Ernennung des adressierten Sextus Pompeius zum Konsul berichtet habe (11-22). Nicht die Akzeptanz der Relegation lässt also ‚Nasos‘ Sorgen verschwinden, sondern als nova gaudia (21) bezeichnete Nachrichten aus Rom, die ihn dazu bewegen, die Inauguration des designierten Konsuls zu imaginieren und sich an die Stadt zurückzuerinnern. 183 ‚Naso‘ kontrastiert das ersehnte Rom mit der Unwirtlichkeit (22: asperitas) seines Aufenthaltsorts und nennt sich nach der Imagination Roms ausdrücklich „unglücklich“, da er dem Spektakel in Rom nicht beinwohnen kann (43-44: me miserum, turba quod non ego cernar in illa, / nec poterunt istis lumina nostra frui). Nur dadurch, also durch etwas, das in Rom geschieht, kann ihm das Leben in Tomi erleichtert 128 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="129"?> 184 Zu Pont. 4,4 s. Helzle (1989a) 104-119: „Both the apparition of Fama and the imagined inaugural ceremony stress the poet’s distance from Rome. […] Thus the form of the ‚Konsulatsgedicht‘ is used by Ovid to draw attention to his separation from Rome and to his loyalty [to the emperor]. Both factors ought to encourage Augustus to recall him“ (S.-106-107). 185 Eine Unterscheidung der als Getisch, Sarmatisch oder Pontisch bezeichneten Sprachen ist nicht möglich. 186 Dass es sich dabei um eine captatio benevolentiae handelt wird v. a. in der Epilog-Elegie trist. 3,14,49-52 deutlich: crede mihi, timeo ne sint fera mixta Latinis, / inque meis scriptis Pontica verba legas. / qualemcumque igitur venia dignare libellum, / sortis et excusa condicione meae. Diese und die im Folgenden genannten Stellen sind im Kontext der „pose of poetic decline“ zu verorten, die Nagle (1980) 109-166 und Williams (1994) 50- 99 beschreiben: ‚Nasos‘ Behauptungen, dass seine Sprach- und Dichtungskompetenz nachgelassen hätten, lenken die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die Qualität der Elegien. S. dazu S.-95 mit Anm.-55. 187 Trist. 3,14,37-41; 5,12,53-54. 188 Trist. 3,11,9; 3,14,47; 5,7,51-54; 5,10,37-38; 5,12,55-56. 189 Trist. 3,1,17; 3,14,48-50; 5,7,59-60. 190 Trist. 3,14,43-47; 5,12,57-58. werden (21-22: at mihi dilapsis inter nova gaudia curis / excidit asperitas huius iniqua loci; 49-50: haec tua pertulerit si quis mihi verba, fatebor / protinus exilium mollius esse meum). 184 3.5.2 ‚Nasos‘ Scheitern an der sprachlichen und kulturellen Integration in Tomi ‚Naso‘ erwähnt mehrfach, Kontakt mit der Sprache der Einheimischen zu haben. 185 Er nutzt entsprechende Aussagen, um die vermeintlich geringe lite‐ rarische Qualität seiner Dichtung zu entschuldigen und so in Form einer captatio benevolentiae um deren wohlwollende Rezeption zu bitten: 186 Seine Gedichte seien in einer barbara terra (trist. 3,1,18) entstanden, in der miserable Produktions- und Rezeptionsbedingungen für Literatur herrschten 187 und in der er nur von ausländischer Sprache umgeben sei. 188 Man dürfe sich deshalb nicht über unlateinische Ausdrücke und Barbarismen in seinen Gedichten wundern. 189 Denn er verlerne allmählich sogar seine Muttersprache. 190 Dieser im Text behauptete Verlust des Lateinischen findet einen ersten Höhepunkt in trist. 5,7. ‚Naso‘ betont dort, dass er dazu gezwungen werde, auf die Sprache der Einheimischen zurückgreifen. Denn auf Grund der fehlenden Sprachpraxis im Lateinischen würden ausgerechnet ihm, dem Romanus vates (55), lateinische Wörter nicht mehr einfallen (57-58: et pudet et fateor: iam desuetudine longa / vix subeunt ipsi verba Latina mihi! ). Als römischer Dichter bittet er deshalb die Musen um Verzeihung dafür, dass er das Meiste auf 3.5 Die Notwendigkeit des Scheiterns 129 <?page no="130"?> 191 Nagle (1980) 133-140 versteht diese Behauptung als Symbol für den dichterischen Tod („poetic ‚death‘“) des Verbannten, der damit zum Ausdruck bringen wolle, dass seine Karriere als römischer Autor beendet sei. Sie erklärt den Ausdruck poeta Getes als „oxymoron, the equivalent of nullus poeta, or at least poeta ineptus“ (S. 133). Evans (1983) 165 leitet aus der behaupteten Transformation ab, dass sich ‚Naso‘ von Rom, dem dortigen Literaturbetrieb und den dortigen literaturkritischen Maßstäben abgewandt habe. Beides geht m. E. zu weit, da das im Text erwähnte getische Gedicht als ein in lateinischem Versmaß verfasstes Loblied auf den römischen Kaiser beschrieben wird und Pont. 4,16 ‚Naso‘ als nachzuahmendes Beispiel für römische Autoren präsentiert. Zu Pont. 4,16 s. Kap. 3.5.3. 192 Williams (1994) 91-92 betont, dass dadurch eine außerordentliche Sprachkompetenz impliziert wird: The „grasp of the [Getic] language would have to be quite extraordinary if he was to portray such evocative Roman concepts as virtus (27), imperium (28) and pudicitia (29) successfully. […] The Getae acknowledge the quality of Ovid’s performance (21-22), but this would surely only be possible if he had mastered the Getic idiom for royal laudes.“ 193 Das betont Nagle (1980) 133. Sarmatisch sage und, so suggeriert seine Selbstbezeichnung als vates sowie die Anrede an die Musen, auch dichte (55-56: ille ego Romanus vates - ignoscite, Musae! - / Sarmatico cogor plurima more loqui). ‚Nasos‘ Anpassung an und Integration in die Sprachgemeinschaft in Tomi wird als unfreiwillige und unerwünschte Reaktion auf äußere Umstände darge‐ stellt, da sie mit dem Verlust der eigenen Muttersprache einhergehen. Dieser Verlust versetzt ‚Naso‘ als exul poeta in eine prekäre Lage, wie er in Pont. 4,13 als einer der letzten Elegien der Epistulae ex Ponto hervorhebt. Topisch bezeichnet er seine lateinische Dichtung als minderwertig (3-18) und erklärt das Nachlassen seiner lateinischen Sprachkompetenz damit, dass er durch den Kontakt mit Sprache und Kultur der lokalen Bevölkerung zum paene poeta Getes (18) ge‐ worden sei. 191 Er berichtet sogar von einer Teilnahme am lokalen Kulturbetrieb (17-24): Er habe in einer Lesung ein in lateinischem Versmaß, aber auf Getisch verfasstes Gedicht über den römischen Kaiser vorgetragen (20: structaque sunt nostris barbara verba modis; 23: materiam quaeris? laudes: de Caesare dixi) und damit sogar das Gefallen der einheimischen Bevölkerung gewonnen (21: placui). Zunächst wird ‚Nasos‘ Spracherwerb des Getischen in Pont. 4,13 als etwas Positives präsentiert: Er habe solche Kenntnisse des Getischen erworben, dass er sich allmählich in den wie auch immer gearteten lokalen Kulturbetrieb habe integrieren können. 192 Doch werden Spracherwerb und Integration, anders als es auf den ersten Blick erscheinen und anders als man es für einen langjährigen Verbannten annehmen mag, dabei nicht als erstrebenswerte Prozesse vorgeführt, sondern als Abstieg und Verschlechterung: Zum einen gehen sie in der Darstel‐ lung ‚Nasos‘ immer mit dem Sprachverlust des Lateinischen einher, 193 weshalb 130 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="131"?> 194 Auch an anderen Stellen, in denen ‚Naso‘ auf den unfreiwilligen (trist. 5,7,56: cogor) Erwerb der einheimischen Sprache und den Verlust des Lateinischen eingeht, weist er darauf hin, sich für diesen Erwerb zu schämen, z.-B. in trist. 3,14,45, 49; 5,7,55, 57. 195 Nagle (1980) 135, 139. U.a. trist. 5,7,45-52 und 5,10,27-34, 43-44 stellen die Einheimischen als Menschen dar, die dieses Namens kaum würdig seien: In ihrer Grausamkeit ähnelten sie Wölfen, sie trügen Hosen und seien eine gesetzlose barbara turba, die nicht einmal durch den Einfluss griechischer Koloniegründungen in ihrer Umgebung kultiviert worden sei. Zur Stilisierung der Geten als Barbaren s. Nagle (1980). 196 Zu (Ovids) „enormer Popularität unter den Zeitgenossen“ und einer ihn „auf Händen tragenden ‚Fangemeinde‘“ s. Wulfram (2008) 280-282. 197 Diese Isolation wird eindrücklich in trist. 5,10,35-42 beschrieben. 198 Ähnlich Williams (2002) 234: The „isolation is potentially compounded by a secondary form of exile: either alienation from his new cohabitants, or yet further alienation from Rome if he learns, however reluctantly, to adapt to his foreign circumstances. This ambigous condition [marks] Ovid as a ‚poet between two worlds‘.“ Williams zitiert mit „poet between two worlds“ den Untertitel der breit rezipierten und ursprünglich auf Englisch publizierten Monographie von Fraenkel (1970). er sich gegenüber dem römischen Lesepublikum zu schämen behauptet (19: a, pudet). 194 Zum anderen bezeichnet er die Einheimischen, denen er in früheren Elegien, die seinen Kontakt mit ihrer Sprache thematisieren, die Eigenschaft des Menschseins abgesprochen hat, sogar als Besucher seiner Lesung noch als Barbaren (22: inhumani). 195 Vor einem solchen Publikum Anklang zu finden, kann keine besonders große Leistung für den Romanus vates (trist. 5,7,55) und meist gefeierten zeitgenössischen römischen Dichter sein. 196 Denn das barbarische Publikum in Tomi drücke sein Wohlgefallen nicht mit Applaus, sondern mit Raunen und dem Geklapper von Waffen aus, die es zu der Lesung mitbringe (35-36: plenas omnes movere pharetras, / et longum Getico murmur in ore fuit). Erschwerend hinzu kommt, dass ‚Naso‘ seine Identität als Römer gefährdet, wenn er wie in der in Pont. 4,13 erwähnten Lesung auf Getisch dichtet und sich damit an die einheimische Bevölkerung anpasst. Seine desolate Lage als exul poeta ist also derart ausgeprägt, dass er sie mit jedem Bewältigungsversuch vergrößert und sich in ein Dilemma stürzt: Entweder orientiert er sich weiterhin an Rom und passt sich nicht an sein neues Lebensumfeld am Schwarzen Meer an, bleibt dann aber sozial isoliert. 197 Oder er integriert und akkulturiert sich, verliert damit jedoch insbesondere den kulturellen Kontakt nach Rom und degeneriert vom paene poeta Getes zum vollkommen unkultivierten Dichter vor barbarischem Publikum. 198 Indem er diese beiden Möglichkeiten aufzeigt und insbesondere die Anpassung an und Integration in die Verhältnisse in Tomi als Abstieg präsentiert, inszeniert sich ‚Naso‘ als Verbannter, dem diese Anpassung und Integration nicht gelingen können und dürfen. Beide Alternativen würden die Hoffnung auf seine Rückkehr 3.5 Die Notwendigkeit des Scheiterns 131 <?page no="132"?> 199 Deshalb ist die Frage irrelevant, ob der historische Ovid tatsächlich auf Getisch geschrieben hat. Williams (1994) 91-99 gibt einen Forschungsüberblick zu dieser Frage, verneint sie und erklärt sie ebenfalls für irrelevant. 200 In Pont. 4,14,5-14 äußert er diesen Wunsch auch ausdrücklich. 201 Zur Komposition von Pont. 4 s. S.-101 Anm.-78. nach Italien zunichtemachen: Würde er als exul patiens alle körperlichen und emotionalen Belastungen der Verbannung überwinden und sich erfolgreich integrieren, hätte er als exul poeta nichts mehr, worüber er in Tomi schreiben könnte. Denn die Ankündigung, unter fröhlichen Lebensumständen auch fröh‐ liche Dichtung zu verfassen, gilt nur unter der Voraussetzung seiner Rückkehr nach Italien. Auf Grund der fehlenden Sprachpraxis in seiner Muttersprache, von der ‚Naso‘ schon in trist. 5,7,57 spricht (desuetudo longa), wäre er wiederum nicht mehr dazu fähig, auf Latein zu publizieren, so dass es gar keinen Anlass gäbe, ihn nach Rom zurückzurufen. Es ist also gerade die Doppelrolle des exul poeta et patiens, wegen der er an der Bewältigung des Exils scheitern muss. ‚Nasos‘ Aussagen über den Erwerb der einheimischen Sprachen und über die Teilnahme am Kulturbetrieb in Tomi sind deshalb vor allem als rhetorische Strategie zu verstehen, um am Ende der Epistulae ex Ponto seine prekäre Situation als römischer exul poeta zu veranschaulichen, die er selbst immer wieder hervorhebt. 199 Er versteht sich nicht nur in der letzten Elegie Pont. 4,16 als dezidiert römischer Dichter. Auch die oben erwähnten Elegien Pont. 4,9 und 4,14 können so verstanden werden, dass er gar nicht in die lokale Gesellschaft aufgenommen werden will, sondern sich nach Rom zurücksehnt. 200 Denn anstatt den Einheimischen in 4,9 für eine Steuerbefreiung und für ihr Wohlwollen zu danken, legt er ausführlich dar, welch große pietas und kultische Verehrung er selbst dem gesamten Kaiserhaus in Rom entgegenbringe (105-126), und wendet sich dabei auch direkt an Kaiser Tiberius (127-134). Es scheint, dass ‚Naso‘ als exul poeta gar nicht anders kann, als über Rom zu schreiben: Selbst sein (angeblich) auf Getisch verfasstes Gedicht sei in lateinischem Versmaß geschrieben und habe den römischen Kaiser zum Inhalt (Pont. 4,13,20: structaque sunt nostris barbara verba modis; 23: materiam quaeris? laudes: de Caesare dixi). 3.5.3 Der exul poeta et patiens als römischer Dichter---Pont.-4,16 Wie Pont. 4,16 zeigt, entscheidet sich ‚Naso‘ am Ende dafür, sich weiterhin an Rom zu orientieren. Denn er inszeniert sich in diesem letzten Gedicht, das er im Exil verfasst, 201 dezidiert als römischer Dichter, indem er sich an den Anfang eines Katalogs zeitgenössischer Autoren stellt. In den letzten Versen von Pont. 4,16 und somit gewissermaßen als Bilanz seiner Jahre in Tomi betont er, sowohl 132 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="133"?> 202 Dazu Fuhrer (2022) 197: „The poeta exul Ovid succeeds in presenting [his] failure. In presenting failure the empirical author himself does not fail but precisely through his portrayal of the foundering self remains creative and innovative.“ Davisson (1982) sieht diesen performativen Selbstwiderspruch als die in Pont. 4,10 erwähnte duritia an. 203 Zur Darstellung ‚Nasos‘ als lebender Toter bzw. zur Gleichsetzung der Verbannung mit dem Tod s. Grebe (2010), mit Bezug auf Pont. 4,16 s. Nagle (1980) 22-32, bes. 31; Evans (1983) 167; Helzle (1989a) 179. Weiterführende Literaturangaben bei Wulfram (2008) 285 Anm.-269. 204 Helzle (1989a) 179 betont, dass Angriffe des Livor i. d. R. nur auf lebende Autoren erfolgen (Ov. am. 1,15,1-4, 39-40; trist. 4,10,123-124; Pont. 3,4,73-74; Hor. c. 2,20,4). Er paraphrasiert ‚Nasos‘ Argumentation wie folgt: „I was famous while alive, but now I am ‚dead‘, Envy; therefore you had better back down since you are not supposed to affect the dead.“ Ders. S. 181: „Ovid’s address to Livor is occasioned by the outstanding fame he has won. Livor therefore is a foil for Ovid’s fama.“ Anders Bernhardt (1986) 297: „Konnte der Livor ihm [früher] nichts anhaben, so ist ihm auch jetzt, da er als Dichter nur noch ein Schatten seiner selbst ist, jede Angriffsfläche genommen.“ 205 Hose (2021) 978-979. 206 Zu den im Katalog genannten Dichtern s. Evans (1983) 5-6; Bernhardt (1986) 298-300; Helzle (1989a) 183-194. daran gescheitert zu sein, eine Amnestie zu erreichen, als auch, seine Verbannung emotional zu verarbeiten: Aus der Heimat vertrieben (47: summotus patria) habe er alles verloren außer seinem bemitleidenswerten Leben (49-50: omnia perdidimus, tantummodo vita relicta est, / praebeat ut sensum materiamque mali). Dieses Leben biete ihm nichts mehr außer dem Erleben von Leid (sensus mali), das nicht mehr größer werden könne (52: non habet in nobis iam nova plaga locum). Gerade diese Lage des exul patiens liefert dem exul poeta aber auch einen Gegenstand für seine Dichtung (50: materia) und verschafft ihm so die Möglichkeit, sein poetisches Können unter Beweis zu stellen: ‚Naso‘ scheitert an der Bewältigung der Verbannung und der durch sie hervorgerufenen physischen und psychischen Schwächen. Die literarische Verarbeitung dieses Scheiterns und dieser Schwächen meistert er jedoch virtuos: Als exul poeta gelingt es ihm, seinen bemitleidenswerten Zustand als exul patiens dazustellen. 202 Es gelingt ihm sogar so gut, dass er sich in dieser letzten Elegie als nachahmenswerter Autor für römische Zeitgenossen präsentieren kann. Dafür bezeichnet er sich am Beginn und am Ende von Pont. 4,16 als lebenden Toten (1: Naso raptus; 3: post cineres; 48: cineres mei; 51: extincti artus). 203 Denn als solcher kann er sich nicht nur gegen den personifizierten Livor (47) und somit gegen Kritik an seinem poetischen Werk wehren (3-4, 45-48). 204 Er kann sich in einer „literarhistorischen Selbstverortung“ 205 auch an den Anfang eines Katalogs 30 namentlich genannter zeitgenössischer römischer Autoren stellen und so den zu erwartenden Effekt eines solchen Katalogs gewissermaßen umdrehen (5-46). 206 In trist. 4,10 hatte sich ‚Naso‘ als Nachfolger der Augusteer Horaz, 3.5 Die Notwendigkeit des Scheiterns 133 <?page no="134"?> 207 Helzle (1989a) 180. Bernhardt (1986) 299 betont, dass Vertreter des Epos, des Dramas, der Elegie und der Bukolik genannt werden. 208 Ähnlich Helzle (1989a) 179. Eine vergleichbare Argumentation in Pont. 3,1 analysiere ich Kap. 3.4.3. Anders Wulfram (2008) 263, dem zufolge ‚Naso‘ seinen Anspruch auf Ruhm hier „buchextern auf seinen früheren, vorexilischen Dichter-Aktivitäten“ beruhen lässt. Auch Bernhardt (1986) 296 zufolge geht es hier darum, „seine Vorrangstellung […] vor seiner Verbannung zu bekräftigen.“ Vergil, Gallus, Tibull und Properz bezeichnet. In Pont. 4,16 hingegen präsentiert er andere Schriftsteller nicht als seine Vorgänger und Vorbilder, sondern als seine in allen Gattungen tätigen Nachfolger und Nachahmer. 207 Gerade die literarische Verarbeitung der eigenen Fallibilität in insgesamt neun Elegienbü‐ chern verschafft ‚Naso‘ also literarisches Ansehen, mehr Ansehen noch als er zu ‚Lebzeiten‘ vor seinem metaphorischen ‚Tod‘ im Exil hatte (3: famaque post cineres maior venit). 208 Denn trotz der in den knapp 100 vorausgehenden Tristia und Epistulae ex Ponto ausführlich geschilderten Lebensumstände als exul patiens, trotz der Auswirkungen dieser Lebensumstände auf seine Gesundheit und vor allem trotz der wiederholten Behauptung, gerade ihretwegen keine gute Dichtung schreiben zu können, ist er als exul poeta dazu fähig, diese Lage in und durch seine Elegien so darzustellen, dass er diese Darstellung als nachahmenswert bezeichnen kann. 3.6 Fazit: ‚Nasos‘ Fallibilität als Stoff innovativer Dichtung Das Exil schadet ‚Naso‘ zwar, da es ihn, zumindest behauptet er das im Text, aller körperlichen, seelischen und poetischen Kräfte beraubt und ihn deshalb bis zum Ende der letzten Elegie an der Bewältigung und Akzeptanz seiner Lebens‐ situation in Tomi scheitern lässt. Gerade diese Schwächen und dieses Scheitern ‚Nasos‘ als exul patiens eröffnen aber auch vielfältige Möglichkeiten für den exul poeta. Die inhaltliche Fokussierung auf die physischen und psychischen Leiden einer verbannten Autor-persona macht die Tristia und Epistulae ex Ponto zu innovativer Dichtung. ‚Naso‘ kann also gerade die Darstellung seiner eigenen Fallibilität nutzen, um die literarische Verarbeitung des Exils zu begründen. Die Engführung von Exilerleben und Exildichtung und die Behauptung, die Elegien seien unmittelbare Folge seines körperlichen und seelischen Zustands, erklären nicht nur die immer wieder erfolgende Darstellung dieses Zustands. Sie sollen auf vordergründiger Textebene auch dazu dienen, Mitleid hervorzurufen und die Adressatinnen und Adressaten sowie das Lesepublikum in Rom zur Unterstützung und Fürsprache zu motivieren, um so eine Amnestie zu erhalten oder zumindest einen Ortswechsel zu erreichen. 134 3 Die Fallibilität ‚Nasos‘ als exul poeta et patiens <?page no="135"?> 209 Durch diese Inszenierung seiner Autor-persona präsentiert sich auch der historische Autor Ovid als kreativer und innovativer Dichter, der in der literarischen Verarbeitung seiner eigenen Lebenssituation im Exil poetisches Kapital aus realen Rahmenbedin‐ gungen schlägt und der die neuartige Sprecher-Figur des exul poeta et patiens sowie deren Schwäche und Scheitern über neun Bücher hinweg virtuos in Szene setzen kann. 210 Zum Dichten als Mittel zur Ablenkung s. trist. 4,1 sowie die ausführliche Analyse der Elegie bei Stroh (1981). 211 Indem ‚Horaz‘ die Satiren des ersten Buchs in sat. 1,4 als eine Art Nebenprodukt seiner kritischen Selbstreflexion und seine Fallibilität dadurch gewissermaßen als Vorausset‐ zung seiner Dichtung ausgibt (s. dazu S. 46-49), stellt auch er eigene Schwächen und Fehler in eine enge Verbindung mit seiner literarischen Tätigkeit. Diese Verbindung ist anders als im Falle des verbannten ‚Naso‘ aber nicht unauflösbar. Denn die Satiren sind nicht in dem Maße wie die im Exil verfassten Elegien Ovids auf die Beschreibung der Lebens- und Schreibsituation ihrer Autor-persona ausgerichtet, sondern vor allem auf die Beobachtung, Beschreibung und Kritik des Verhaltens anderer. Selbst wenn sich ‚Horaz‘ all seiner Schwächen und Fehler entledigen würde, hätte er mit dem (Fehl-)Verhalten anderer also noch genug Material für seine satirische Dichtung. Durch seine Inszenierung als in beinahe jeder Hinsicht fallibler Verbannter kann ‚Naso‘ zudem den Anspruch erheben, durch seine Exilerfahrung Pa‐ thos-Kompetenz erworben zu haben und deshalb inhaltlich fundiert über ganz unterschiedliche Facetten des Lebens eines Verbannten berichten zu können. Durch die literarische Verarbeitung der Lebensumstände im Exil kann er aber insbesondere poetisches Können unter Beweis stellen. Trotz widrigster Umstände, trotz seiner physischen und psychischen Schwäche und trotz seines Scheiterns gelingt es dem exul poeta et patiens, gerade diese Umstände, diese Schwäche und dieses Scheitern in literarisch anspruchsvoller Form sowie aus immer neu und anders akzentuierter Perspektive darzustellen. Ganz unabhängig von der Frage nach der Historizität der Aussagen ‚Nasos‘ lässt sich also sagen: Je widriger er die Verbannung und je größer er die aus ihr resultierenden Schwächen und das Ausmaß des damit einhergehenden Scheiterns darstellt, desto kompetenter wirkt er als Dichter. 209 ‚Nasos‘ Fallibilität als exul patiens wird dabei in eine unauflösbare Verbindung mit seinem literarischen Schaffen als exul poeta gestellt: Würde er seine Leiden als exul patiens bewältigen, hätte er keinen Stoff mehr, um als exul poeta Elegien zu dichten. Würde er jedoch aufhören zu dichten, würde sich seine Situation sogar noch verschlimmern, da er keine Ablenkung mehr von seinem Leid hätte 210 und auch nicht mehr die in Kapitel 3.4 beschriebene poetische Macht über seine Adressatinnen und Adressaten für sich in Anspruch nehmen könnte, um diese zu mehr Hilfe zu motivieren. 211 3.6 Fazit: ‚Nasos‘ Fallibilität als Stoff innovativer Dichtung 135 <?page no="137"?> 1 Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich alle Stellenangaben in diesem Kapitel auf die Epistulae morales. Als Textgrundlage dient Reynolds (1965), die Übersetzungen stammen vom Verfasser. Zu detaillierten Forschungsberichten s. in jüngerer Zeit Edwards (2019) 1-32; Eickhoff (2021) 162-178; Soldo (2021) xiii-xxxvii. 2 Zum Begriff der Paränese s. S.-140 Anm.-20, zu dem der Persuasion s. S.-14 Anm.-13. 3 Zu diesen unterschiedlichen Rollen s. Edwards (1997) 33-36; Bartsch (2015). 4 Bspw. sind dem Annaeus Serenus (s. zu ihm S. 148 Anm. 50) dial. 2 (const. sap.), dial. 9 (tranqu.) und evtl. dial. 8 (ot.) gewidmet, dem Bruder Senecas dial 3-5 (de ira) und dial. 7 (vit. beat.), der Mutter dial. 12 (Helv.), dem Schwiegervater dial. 10 (brev. vit.). 5 Zur Selbstbezeichnung des Ich-Sprechers als ‚Seneca‘ s. neben den Grußformeln der Epistulae z. B. dial. 8 (ot.) 1,4; dial. 9 (tranqu.) 1,1. Zu den Effekten einer solchen Namensnennung s. S.-18 Anm.-25. 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophischparänetischer Briefe 4.1 Fragestellung und Textcorpus Die philosophischen Schriften des Lucius Annaeus Seneca sind aus der Per‐ spektive von Ich-Sprechern verfasst, 1 die unterschiedliche Rollen einnehmen, zum Beispiel die des Prinzen-Erziehers in De clementia, die des sich gegen Vorwürfe der Doppelmoral verteidigenden Philosophen in dial. 7 (vit. beat.), die des Vertrauten und Trostspenders in den Consolationes (dial. 6, 11 und 12) oder die des Absenders philosophisch-paränetischer und damit auch persuasiver (Lehr-)Briefe in den Epistulae morales ad Lucilium. 2 Auch wenn diese Ich-Spre‐ cher also verschiedene Rollen einnehmen, lassen Sie sich unabhängig davon immer einer Autor-persona namens ‚Seneca‘ zuordnen. 3 Die Konfiguration des jeweiligen Ich-Sprechers als diese Autor-persona erfolgt beispielsweise durch die Widmung eines Werks an eine Person, die im Umfeld des historischen Autors verortet werden kann, 4 durch die Nennung des Namens Seneca 5 oder durch die Vergabe anderer biographischer Informationen. Die beiden zuletzt genannten Punkte sind insbesondere in den Epistulae zu beobachten: Deren Absender nennt sich in der Grußformel zu Beginn jedes Briefs selbst Seneca und kommt im Verlauf der Sammlung auf eine Vielzahl von <?page no="138"?> 6 S. z. B. 7,3-5; 12,1-3; 54,1-5; 57,1-3; 87,1-4. Ob solche Ereignisse tatsächlich wie beschrieben stattgefunden haben, ist zwar oftmals fraglich, jedoch nicht relevant. S. dazu Watson/ Watson (2009) 221-222; Eickhoff (2021) 164 mit Anm. 17. Fuhrer (2010) 113 zufolge ist die Kenntnis biographischer Daten für das Verständnis der Prosa Senecas nicht notwendig; das zeitgenössische Publikum wusste jedoch, wie es eventuelle Leerstellen füllen kann und soll, insbesondere bzgl. (politischer) Aussagen über zeitgeschichtliche Ereignisse und Personen, v. a. über Nero. Ähnlich Edwards (2021). 7 Dass er kein sapiens ist, betont ‚Seneca‘ z. B. in 6,1; 8,2; 57,3; 87,4-5; dial. 7 (vit. beat.) 17,3-18,2; dial. 12 (Helv.) 5,2. 8 Zu dieser Anthropologie der Schwäche s. S. 13 mit Anm. 10. Zum Begriff des Autorbilds s. S.-18 Anm.-22. 9 Nach 42,1 wird ein vir bonus nur einmal in 500 Jahren geboren. In dial. 7 (vit. beat.) verteidigt sich ‚Seneca‘ gegen Vorwürfe der Doppelmoral und Heuchelei sogar explizit mit dem Hinweis, er beschreibe in der Definition des Weisen nicht sich selbst, sondern ein von ihm nicht erreichtes Ideal. Zu den in dial. 7 thematisierten Vorwürfen der Doppelmoral und der Verteidigung gegen sie s. Fuhrer (2000) und (2010); Jones (2014). Ereignissen zu sprechen, von denen er behauptet, sie persönlich erlebt zu haben, und die damit vorgeben, auf das Leben des historischen Autors zu referieren. 6 ‚Seneca‘ beansprucht bekanntermaßen nie den Status eines Weisen, sondern bezeichnet sich stets als falliblen Menschen, indem er über unterschiedliche Formen eigener Schwäche, eigenen Scheiterns und eigenen Fehlverhaltens berichtet. 7 Das lässt sich damit erklären, dass Senecas Schriften von einer Anthropologie der Schwäche geprägt sind, Schwäche, Scheitern und Fehlver‐ halten also als Konstanten des menschlichen Lebens darstellen, so dass es unglaubwürdig wäre, würde der historische Autor Seneca seine persona als das Autorbild, das er in seinen Texten konstruiert, als einen Menschen inszenieren, der nicht fallibel ist. 8 Hinzu kommt, dass der Status des stoischen Weisen in Senecas Schriften zwar als Ziel des Philosophierens, zugleich aber auch als beinahe unerreichbares Ideal beschrieben wird, so dass es auch aus diesem Grund kaum glaubwürdig wäre, würde der historische Autor seine persona als die Erfüllung dieses Ideals darstellen. 9 Der Schwerpunkt des vorliegenden Kapitels liegt auf der Frage, in welcher Beziehung das wiederholte Eingeständnis und die deutliche Akzentuierung ganz unterschiedlicher Formen der Fallibilität ‚Senecas‘ zu seiner Rolle als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe stehen. Die Textauswahl beschränkt sich auf ausgewählte Epistulae, da die Autor-persona in keinem anderen Werk des his‐ torischen Autors so prominent in Erscheinung tritt, so dass auch ihre Schwäche, ihr Scheitern und ihr Fehlverhalten häufiger als anderswo zur Sprache gebracht werden. Zudem wird die Frage, was ‚Seneca‘ zur Übernahme der Rolle eines Vermittlers philosophischen Wissens befähigt, in den Briefen öfter und deutli‐ 138 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="139"?> 10 S. z. B. 1,4 (s. dazu S. 144); 8,1 und 27,1 (s. dazu S. 151, 152 und 156); 63,14 (s. dazu S. 149). 11 Cancik (1967) 67; Edwards (1997) 34. 12 Zu einem Überblick über antike Brieftheorie s. Trapp (2003) 42-46; Eickhoff (2021) 51-84. Zu brieftypischen Elementen in den Epistulae s. Conradie (2010) 69-75; Dietsche (2014) 21-30, 45-51; Kreuzwieser (2016) 205-239; Edwards (2019) 6-9, 19-20; Soldo (2021) xxiv-xxix. 13 S. dazu z.-B. Cancik (1967) 50-51; Eickhoff (2021) 52-54. 14 Ein Brief lässt sich als Manifestation von Freundschaft und als ideales Vehikel für ihren Ausdruck ansehen. S. dazu Dem. de eloc. 231; Trapp (2003) 40-42; Eickhoff (2021) 49. 15 Zu diesem Effekt des Eingeständnisses der eigenen Fallibilität s. auch S. 16 mit Anm. 17. ‚Naso‘ nutzt das Eingeständnis eigener körperlicher und seelischer Erkrankungen in Pont. 1,10, um das Kommunikationsverhältnis mit seinem Adressaten als vertraulich darzustellen. S. dazu Kap. 3.3.2. 16 Zur Informalität epistolographischen Schreibens s. Dem. de eloc. 225, 229, 231-232; Trapp (2003) 43-44; Eickhoff (2021) 52-55. Edwards (2019) 8 verweist bzgl. des epistolographi‐ schen „conversational style of writing“ auf 22,8; 38,1; 40,1; 65,2; 67,2; 75. In 75,1 behauptet ‚Seneca‘, er schreibe Lucilius so, wie er mit ihm sprechen würde (s. dazu S. 199 mit Anm. 15). In 115,1 fordert er Lucilius auf, sich beim Schreiben von Briefen auf deren Inhalt und nicht auf deren Formulierungen zu konzentrieren. Zur Wirksamkeit nichttechnischer und authentischer Sprache im Hinblick auf Lernerfolge s. Kreuzwieser (2016) 172-177. In der Auffassung ‚Senecas‘ ist lebendiges und authentisches Sprechen (viva vox) auch in Schriftform zwischen physisch Abwesenden möglich, so dies. S.-208-216. cher aufgeworfen als in anderen senecanischen Philosophica, beispielsweise indem ‚Seneca‘ sie selbst stellt 10 oder indem sein teils großer Autoritätsanspruch Hand in Hand geht mit dem Hinweis auf eigene Unzulänglichkeiten. 11 Dass die Autor-persona als Absender von Briefen stärker als in anderen Werken Senecas ins Zentrum gestellt wird, lässt sich unter anderem mit den Konventionen antiker Epistolographie erklären. 12 Selbstaussagen, insbesondere solche über eigene Erlebnisse und Erfahrungen sowie über die eigene Gesund‐ heit, sind zentraler Bestandteil antiker Briefliteratur. 13 Die Epistulae zeigen zumindest eine Seite eines Briefwechsels zwischen zwei Freunden. 14 Diese Kommunikationssituation ist besonders dazu geeignet, über sich selbst und die eigene Fallibilität zu schreiben: Im Setting der Epistulae wendet sich ‚Seneca‘ an Lucilius als einzigen Adressaten, dem gegenüber er offen und aufrichtig über eigene Schwäche, eigenes Scheitern und eigenes Fehlverhalten sprechen kann. Dem Lesepublikum wird so eine als intim und vertraulich geschilderte Kommunikationssituation vorgeführt, in deren Rahmen getätigte Aussagen authentisch wirken. 15 Dieser Eindruck wird häufig auch durch den Einsatz informeller, nichttechnischer und anschaulicher Sprache hervorgerufen. 16 Für das Funktionieren dieser Kommunikationssituation und der in ihr angewandten 4.1 Fragestellung und Textcorpus 139 <?page no="140"?> 17 Zu Lucilius s. z. B. Edwards (2019) 5-6; Soldo (2021) xiv-xvii. Beide gehen auch auf die Frage ein, ob die Epistulae echte Briefe sind. Dazu grundlegend Abel (1981): Es liegt kein echter Briefwechsel vor, der Adressat ist aber eine historische Person (weiterführende Literatur dazu z. B. bei v. Albrecht 2004, 11 Anm. 1; Wulfram 2008, 412-423). Abel zeigt, dass sich die Epistulae an ein breites Publikum richten und von Beginn an zur Publikation vorgesehen waren. Kreuzwieser (2016) 222 beschreibt das Verhältnis von Lucilius und Lesepublikum: „Mit Lucilius wird […] auch ein weiterer Adressatenkreis angesprochen, aber nicht als Kollektiv, sondern sofern der Leser ein Einzelner und Besonderer ist. Lucilius fungiert damit als Chiffre für den einzelnen Menschen, an den sich die Epistulae morales richten“ (Kreuzwiesers Hervorhebung). 18 71,31 vergleicht die Vermittlung von Philosophie mit dem Färben von Wolle: Teils reiche ein Vorgang aus, teils seien mehrere notwendig, damit Wolle die Farbe ganz aufsaugen könne. Die stoische Lehre sei analog dazu nur wirksam, wenn sie die Seele nicht nur äußerlich (d. h. ein Mal) ‚eingefärbt‘ (animum coloravit), sondern sie ‚durchtränkt‘ habe (infecit). Dietsche (2014) 16-21 spricht sich überzeugend gegen die Strukturierung in Briefgruppen, Briefkreise oder ähnliches aus, wie sie Cancik (1967), Maurach (1970) und Hachmann (1995) vornehmen. Zu einem Überblick über die Arbeiten von Cancik, Maurach und Hachmann s. Richardson-Hay (2006) 13-33. 19 Zu dieser literarischen Tradition philosophischer Lehrbriefe s. z. B. Inwood (2007b); Setaioli (2014); Soldo (2021) xxv-xxvii. 20 Grötzinger (2003) 552 definiert den im strengen Sinne nicht antiken Terminus der Paränese: „Ganz allgemein kann P. stehen für Ermahnen, Aufrufen, Ratschläge geben, Anweisung erteilen, aber auch für Ermutigung und Zuspruch. Eine P. ist ein schrift‐ liches oder mündliches Zureden in der Regel auf eine freundliche, aber dennoch bestimmte Weise, die auf ein besonderes Verhalten oder Handeln abzielt und sowohl kognitive wie emotionale Aspekte berücksichtigt.“ Kommunikationsstrategien ist es unerheblich, ob die Briefe echt oder fiktiv und ob sie an eine historische Person oder fiktive Figur Lucilius adressiert sind. 17 Obwohl inhaltliche Wiederholungen für erfolgreiche Lernprozesse unerläss‐ lich sind und obwohl sich die Briefe des Öfteren aufeinander beziehen, lassen sich die Epistulae gewissermaßen auch als Einzelfallstudien lesen. 18 Anders als bei den thematisch enger gefassten Dialogi ermöglicht es die Wahl der Briefform ‚Seneca‘ somit, sich mit jedem Brief in anderen oder zumindest anders perspektivierten Situationen zu präsentieren und so auf unterschiedliche Ausprägungen seiner Fallibilität einzugehen. Zudem stehen die Epistulae in der literarischen Tradition philosophischer Lehrbriefe, in denen Selbstaussagen und Selbstreflexionen der Autor-persona auch auf Grund der soeben skizzierten epistolographischen Konventionen mehr Raum einnehmen als es beispielweise in philosophischen Traktaten der Fall ist. 19 Viele Epistulae sind paränetische und damit auch persuasive Briefe. 20 Der Ab‐ sender ‚Seneca‘ nimmt in ihnen die Rolle eines Lehrers, Erziehers und Ratgebers 140 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="141"?> 21 Ich verwende die Begriffe Lehrer, Erzieher und Ratgeber synonym zur Bezeichnung eines Vermittlers theoretischen und praktischen philosophischen Wissens. Diese Rolle übernimmt ‚Seneca‘ als Absender philosophisch-paränetischer Briefe. 22 Den Praxisbezug der Epistulae betonen z.-B. 16,3; 20,1-2; 75,7; 108,35. 23 Ich verwende den Begriff der seelischen Fallibilität, um Schwäche, Scheitern und Fehl‐ verhalten, die aus dem Zustand des animus resultieren, von rein körperlichen Mängeln und Krankheiten abzugrenzen. Dass Seneca wie andere Philosophen häufig auf die Analogie körperlicher und seelischer Gebrechen zurückgreift, wurde bereits erhellend untersucht. Ich gehe deshalb nur am Rande darauf ein. Zur Analogie körperlicher und seelischer Gebrechen sowie zur Analogie der Philosophie und Heilkunst s. Hadot (1969) 13-16, 142-158; Edwards (1999), (2005) und (2024); Dietsche (2014) 65-97 mit weiterführenden Literaturangaben. 24 Des Öfteren dienen insbesondere Aussagen über ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität v. a. als Aufhänger eines Briefs. S. dazu S.-171 Anm.-119 und 121. 25 Zur zunehmenden Theorielastigkeit und Komplexität s. Maurach (1970) 199-206; Schafer (2009) 67-84; Dietsche (2014); Uhle (2018) 237-240; Edwards (2019) 4, 9-10. ein, der seinem Adressaten Verhaltensanweisungen und -ratschläge erteilt. 21 Er will Lucilius theoretisches und praktisches Wissen vermitteln und ihn davon überzeugen, sein Denken und Handeln an diesem Wissen auszurichten. 22 Um damit Erfolg zu haben, muss ‚Seneca‘ plausibel machen, dass er über bestimmte Kompetenzen verfügt, die ihn in die Lage versetzen, Anweisungen und Ratschläge in Form schriftlicher Paränesen erteilen zu können. Darüber hinaus muss er nachweisen, dass seine Anweisungen und Ratschläge in der Praxis anwendbar und förderlich für die Bemühungen um ethischen Fortschritt sind. Vor diesem Hintergrund will ich im vorliegenden Kapitel fragen, wie ‚Seneca‘ die Darstellung eigener Schwäche, eigenen Scheiterns und eigenen Fehlverhaltens nutzt, um sich als fachkundiger und glaubwürdiger Verfasser von Paränesen zu inszenieren und um seinen Adressaten Lucilius dazu zu ermutigen, diese Paränesen in die Tat umzusetzen. Dazu analysiere ich in Kapitel 4.2 Briefe, in denen ‚Seneca‘ über seine seelische Fallibilität spricht, also über Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten, die aus dem Zustand seines animus resultieren, und in Kapitel 4.3 Briefe, in denen er seine körperliche Fallibilität, also rein physische Krankheiten und Gebrechen thematisiert. 23 Es sollen allerdings nicht alle Passagen analysiert werden, in denen ‚Seneca‘, sei es kurz, sei es ausführlich, auf eigene Schwäche, eigenes Scheitern und eigenes Fehlverhalten eingeht. 24 Die Textauswahl bleibt deshalb ebenso exemplarisch wie die aus ihr gewonnenen Interpretationen. Die Epistulae werden in ihrer überlieferten Anordnung immer theorielastiger und bieten zunehmend weniger Raum für Selbstaussagen ihres Absenders. 25 Unter‐ sucht werden deshalb vor allem Briefe aus der ersten Hälfte des überlieferten 4.1 Fragestellung und Textcorpus 141 <?page no="142"?> 26 Dietsche (2014) 3-6 fragt nach den „sprachlichen Überzeugungstechniken“ der Epistulae und kommt zu dem Schluss, dass „die römische Philosophie insgesamt dem Geist verpflichtet“ ist, „sich nicht auf das sachliche Argumentieren allein zu verlassen, sondern zusätzliche Techniken der Überzeugung, also außerhalb der Sache liegende ‚Stimuli‘ zu verwenden.“ Als einen solchen Stimulus verstehe ich auch die Inszenierung der Autor-persona. Auf philosophische Inhalte gehe ich deshalb nur im Detail ein, wenn sie für die Inszenierung der Autor-persona relevant sind. Forschungsliteratur dazu führe ich an geeigneter Stelle in den Fußnoten an, wobei ich mich auf aktuelle Kommentare oder Übersichtsdarstellungen beschränke, in denen sich weiterführende Literaturangaben finden. 27 Zu dieser Kultur des Scheiterns s. Neckel (2021), der mit dem Begriff des heroischen Scheiterns beschreibt, dass Scheitern heute oftmals „als Voraussetzung für künftige [unternehmerische] Erfolge“ und „als Etappe auf dem Weg zum Erfolg […], gewisser‐ maßen als ein eigener Leistungsbeweis“ angesehen wird. Ähnlich Soldo/ Fuhrer (2024) 2: Recently, „[r]egarding failure as an opportunity [for (self-)improvement] goes beyond the old saying that everyone can learn from their mistakes, and beyond the idea that the experience of loss and damage can lead to wisdom. Failure is not merely interpreted positively in retrospect, but it is actually the goal: it gives access to specific knowledge and thus increases the chances of succuess. The analysis of one’s mistakes is treated as a productive and insightful process […]. The aim is to optimise a process or product by minimising problems and susceptibility to errors from the outset. Thus, making a mistake is in that sense an advantage, and the ‚virtuosity‘ of failure becomes an important element of successful performance.“ Zur Kultur des Scheiterns s. auch Fuhrer (2024) 7-10. Corpus, wenngleich festzuhalten gilt, dass sich ‚Seneca‘ bis zu dessen Ende als fallibler proficiens präsentiert. In Bezug auf ‚Senecas‘ seelische Fallibilität werden Briefe behandelt, in denen er über seinen falschen Umgang mit Zeit (epist. 1) und Trauer (epist. 63), über „Geschwüre“ (ulcera) in seiner Seele (epist. 8, 27 und 68) und über Scheitern an der Konsolidierung seines ethischen Fortschritts spricht (epist. 7 und 87). In Bezug auf ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität werden Briefe behandelt, in denen er über sein Alter und Alterungsprozesse (epist. 12 und 26) sowie seine körperlichen Krankheiten spricht (epist. 54 und 78). 26 Im Laufe der folgenden Untersuchung komme ich wiederholt darauf zu sprechen, dass es in den Epistulae als Möglichkeit dargestellt wird, aus Feh‐ lern, Rückschritten, Krankheiten, Schmerzen und anderen Ausprägungen der eigenen Fallibilität bestimmte Erfahrungen und Erkenntnisse zu gewinnen, die den ethischen Fortschritt eines Menschen unterstützen und zu bestimmten Lern- und Entwicklungsprozessen führen können. Es gilt jedoch zu beachten, dass es im Gegensatz zu einer in heutiger Zeit des Öfteren beschworenen Kultur des Scheiterns nie als Ziel ausgegeben wird, zu scheitern oder Fehler zu begehen, um entsprechende Erfahrungen machen und Erkenntnisse gewinnen zu können. 27 Denn jede Konfrontation mit eigenen Unzulänglichkeiten und 142 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="143"?> 28 Anschaulich betont auch dial. 7 (vit. beat.) 1: Trifft man falsche Entscheidungen und nimmt dadurch eine falsche Abzweigung auf dem Weg zur Weisheit, erkennt das aber nicht, entfernt man sich umso schneller von ihr. 29 Soldo (2021) xix-xx betont die zentrale Bedeutung beider Themen für das Corpus. Auf den Einleitungscharakter von epist. 1 weist die Forschung geschlossen hin. Ich gehe nur auf ausgewählte Aspekte des Briefs ein, zu dem zahlreiche Untersuchungen vorliegen, z. B. Maurach (1970) 25-29; Hachmann (1995) 21-28; v. Albrecht (2004) 9-23; Ker (2009a) 155-161; Eickhoff (2021) 178-185. Zu ausführlichen Kommentierungen s.-Richardson-Hay (2006) 129-146; Edwards (2019) 75-82. 30 Auch Maurach (1970) 29 und Hachmann (1995) 27 stellen das fest, jedoch ohne im Detail auf den lateinischen Text einzugehen. 31 In den ersten beiden Sätzen finden sich fünf Imperative, der erste davon bereits als zweites Wort des Briefs: fac, vindica, collige, serva, persuade. Weitere Imperative finden sich in § 2: fac, conplectere. Zum Einsatz von Imperativen, Jussiven und prädikativen Gerundiven in den Epistulae s. Richardson-Hay (2006) 108-111. Defiziten wird in den Philosophica Senecas als unangenehm und leidvoll beschrieben, die menschliche Fallibilität nie als etwas dargestellt, das dem ethischen Fortschritt per se dienlich ist. Doch führt ‚Seneca‘ anhand seiner eigenen Person vor, dass man aus einer solchen Konfrontation zumindest ‚das Beste machen‘ kann: Trotz der Unannehmlichkeiten, die Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten unweigerlich mit sich bringen und immer behalten, kann man die Auseinandersetzung mit ihnen nutzen, um Lern- und Entwicklungs‐ prozesse anzustoßen. Diese Prozesse bedürfen jedoch sowohl großer eigener Anstrengung als auch fachkundiger Anleitung durch andere, sie sind immer nur eine Möglichkeit, nie Automatismus. ‚Seneca‘ selbst verdeutlicht das, indem er wiederholt auch auf eigene Rückschritte zu sprechen kommt (Kapitel 4.2.3). 28 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 4.2.1 ‚Senecas‘ Erfahrung im falschen Umgang mit Zeit und Trauer - epist. 1 und 63 4.2.1.1 ‚Senecas‘ falscher Umgang mit Zeit - epist. 1 Der die Sammlung eröffnende Brief behandelt die Themen Zeit und Tod und fungiert damit als inhaltliche Einleitung des gesamten Corpus. 29 Er dient aber auch dazu, den Absender ‚Seneca‘ von Beginn an mit Qualitäten auszustatten, die für einen Verfasser paränetischer Briefe wichtig sind und die sich auch in vielen späteren Epistulae beobachten lassen. 30 Die Grußformel sowie die Häufung von Imperativen in den ersten Sätzen heben die Rolle des Lucilius als Empfänger von Instruktionen in Briefform hervor. 31 Sie betonen zugleich aber 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 143 <?page no="144"?> 32 In der Forschung wird immer wieder betont, dass das Adverb ita als erstes Wort nach der Grußformel, die Imperative in § 1 und der Hinweis auf einen Brief des Lucilius in § 2 (fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis) epist. 1 als Antwortschreiben ‚Senecas‘ ausgeben. S. dazu Maurach (1970) 24; Richardson-Hay (2006) 129; Schafer (2011) 36-37; Edwards (2019) 77. Auch die in dieser Arbeit untersuchten Briefe 7, 8, 27 und 68 sind ausdrücklich als Antwortschreiben markiert, des Weiteren z. B. die Briefe 9, 14, 23, 71, 72, 76 und 88. 33 Lucilius wird des Öfteren in diese Rolle des kritischen Beobachters versetzt, so dass ihm eine Spiegelfunktion zukommt: Er soll ‚Seneca‘ hinterfragen und so als Schüler auch den Lehrer in seinen Bemühungen um ethischen Fortschritt unterstützen. Zu dieser Spiegelfunktion s. Edwards (1997) 32; Kreuzwieser (2016) 223-239; Uhle (2018) 242. 34 Schafer (2011) 36: „There are nine first-person singular verbs in this part. The letter moves from barsh and second-personal to reflective and confessional.“ Edwards (2019) 80: „The letter’s stylistic register now shifts from paraenesis to confession, as its focus moves to the author.“ auch die Rolle ‚Senecas‘, der sich mit den ersten Wörtern des Briefs in konden‐ sierter Form als Verfasser von Paränesen inszeniert, die er auf ausdrücklichen Wunsch seines Adressaten hin verfasst. Denn bereits unmittelbar zu Beginn von epist. 1 wird dieser erste Brief und damit das gesamte Briefcorpus als Reaktion auf ein vorausgehendes Schreiben des Lucilius ausgegeben. 32 Im Folgenden kritisiert ‚Seneca‘ den Umgang der Menschen mit der Zeit und grenzt sich von dem aus seiner Sicht falschen Handeln der breiten Masse ab (1-3). Obwohl er Lucilius in Form von Imperativen mehrere Verhaltensanwei‐ sungen erteilt und andere Menschen kritisiert, erhebt er dabei keinen absoluten Wahrheits- und Erkenntnisanspruch, sondern räumt die Möglichkeit eigenen Irrtums ausdrücklich ein: Lucilius soll sich selbst davon überzeugen, dass die hier und in späteren Briefen aufgestellten Behauptungen so zutreffen, wie er sie in der schriftlichen Formulierung der Epistulae vorfindet (1: Persuade tibi hoc sic esse ut scribo). Indem ‚Seneca‘ so darauf hinweist, dass auch er falsch liegen kann, fordert er seinen Adressaten nicht nur zu einem eigenen Urteil auf. Er weist Lucilius durch den Hinweis auf seine eigene Fehlbarkeit unmittelbar zu Beginn der Briefsammlung auch eine entscheidende Funktion als kritischer Beobachter zu, der wichtige Impulse für den ethischen Fortschritt ‚Senecas‘ geben kann und soll. 33 In § 4 wechselt ‚Seneca‘ von Kritik und Paränese, die sich an andere Personen richten, zu Aussagen über sich selbst. 34 Er leitet diesen Wechsel ein, indem er zu Beginn von § 4 die Nachfrage vorwegnimmt, was ihn dazu befähigt, in §§ 1-3 andere für ihren Umgang mit Zeit tadeln und insbesondere Lucilius Vorschriften für den korrekten Umgang mit Zeit erteilen zu können (4: Interrogabis fortasse quid ego faciam qui tibi ista praecipio). Im Zuge seiner Antwort auf diese Frage bekennt ‚Seneca‘, selbst nicht frei von ‚Zeitverlusten‘ zu sein, also teilweise 144 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="145"?> 35 Dass sich ‚Seneca‘ nicht aus der Menge der Kritisierten ausschließt, zeigen die Prono‐ mina nobis, nostrum und nos (1 und 3), die implizierte Antwort auf eine rhetorische Frage (2: Quem mihi dabis, qui […]? , Antwort: niemanden) sowie die Verbformen fallimur und prospicimus (2). Zudem ist zum Partizip agentibus (1) das Pronomen nobis zu ergänzen (Richardson-Hay 2006, 133; Edwards 2019, 78-79). 36 Dass der verlustfreie Umgang mit Zeit ein Ideal und ein gewisser Verlust deshalb unvermeidbar ist, wird durch die verallgemeinernde Formulierung in § 1 deutlich: quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedem subducuntur, quaedam effluunt. 37 Die Übersetzung von perdere mit „verlieren“ folgt TLL 10,1,1267,59-66 (spectat ad ea, quae fiunt contra intentionem perdentis). Vor dem Hintergrund des aus Nachlässigkeit (vgl. auch 1: per neglegentiam) resultierenden Verlierens fasse ich die Haltung, die mit dem Adjektiv luxuriosus bezeichnet wird, nicht als absichtlich verschwenderische, sondern als leichtfertige Haltung auf (OLD, s. v. luxuriosus 2b: „wanton, licentious“). 38 Richardson-Hay (2006) 141-142 leitet aus dem Gegensatz von luxuriosus und diligens ab: „It has not been easy for Seneca to ‚balance his account‘.“ Ihr zufolge ist luxuriosus in den senecanischen Philosophica immer negativ konnotiert, diligens hingegen „an expression of judgment and reason“. 39 S. dazu S.-158 Anm.-84. 40 Hierin besteht ein entscheidender Unterschied zur Inszenierung der Autor-persona der Satiren: ‚Horaz‘ behauptet, andere und harmlosere Schwächen und Fehler als die Ziele genau das zu tun, was er bei anderen kritisiert. 35 Denn ein verlustfreier, das heißt stets auf das Ziel der sittlichen Verbesserung ausgerichteter Umgang mit Zeit sei ein Ideal und deshalb auch von ‚Seneca‘ nicht zu erreichen. 36 Denn als proficiens „verliere“ er Zeit (perdere), da er leichtfertig sei (4: Fatebor ingenue: quod apud luxuriosum sed diligentem evenit, ratio mihi constat inpensae. Non possum dicere nihil perdere, sed quid perdam et quare et quemadmodum dicam; causas pauper‐ tatis meae reddam). 37 Dennoch handle er in einer Hinsicht „sorgfältig“ (diligens), da er „Buch führe“ über seine als „Ausgaben“ bezeichneten Zeitverluste (ratio mihi constat inpensae). Er wisse deshalb um sein falsches Verhalten (luxuriosus) und dessen Folgen (paupertas), hinterfrage sich jedoch selbstkritisch und könne deshalb zumindest sagen, worin seine Fehler bestünden, das heißt, „wieviel“ Zeit (quid) er „weshalb“ (quare) und „auf welche Art und Weise“ (quemadmodum) verliere. Indem ‚Seneca‘ so einen zielführenden Umgang mit Fehlverhalten exemplifiziert, zeigt er, um das Richtige zu wissen, sich aber dennoch auch selbst um dessen Umsetzung bemühen zu müssen. 38 ‚Seneca‘ führt seine ‚Zeitverluste‘ somit nicht nur auf die anthropologisch begründete Erklärung zurück, dass jeder Mensch Zeit verliert (1-3), sondern ausdrücklich auch auf eigenes Fehlverhalten. Da er die Anerkenntnis von Schwächen und Fehlern andernorts den ersten und entscheidenden Schritt jeder ethischen Verbesserung nennt, 39 kann er so behaupten, zumindest diesen Schritt gemacht zu haben und deshalb zu wissen, wovon er spricht, wenn er andere kritisiert oder unterweist. 40 Durch Aussagen über die eigene Fallibilität kann er 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 145 <?page no="146"?> seiner satirischen Kritik zu haben, und leitet u. a. gerade daraus seine Kompetenz zu dieser satirischen Kritik ab (s. dazu Kap. 2.2.1). Wie ich im Folgenden zeige, führt ‚Seneca‘ seine Kompetenz, anderen Ratschläge und Verhaltensanweisungen für den Umgang mit unterschiedlichen Ausprägungen ihrer Fallibilität zu erteilen, hingegen immer wieder auf die eigene Erfahrung im Umgang mit genau diesen Ausprägungen zurück. 41 Maurach (1970) 28-29; Baier (2005) 56-60; Schafer (2011) 36-37. 42 Dass ‚Seneca‘ hier vage bleibt, ist also kein Widerspruch dazu, dass er sein Verhältnis zu Lucilius als ein intimes und vertrauliches darstellt. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Bezug auf die Vagheit von Selbstaussagen der Autor-personae ‚Horaz‘ und ‚Seneca‘ s. Kap. 5.1. 43 Wohl auf Grund des Indikativs non possum im vorausgehenden Satz übersetzen alle mir bekannten Übersetzungen und Forschungsbeiträge dicam und reddam mit „ich kann“ bzw. „I can“. Nur v. Albrecht (2004) 10 zieht in Betracht, dicam und reddam als futurische Verbformen aufzufassen, und übersetzt: „Ich will es dir offen bekennen. […] Ich werde sagen, was ich verliere, warum und wie; ich werde über die Ursachen meiner Armut Rechenschaft ablegen.“ Er liefert jedoch keine weitere Erklärung und konstatiert lediglich: „Es gehört zum Gepräge der Epistulae morales, daß der Philosoph aus seiner eigenen Unvollkommenheit keinen Hehl macht und gerade durch diese Aufrichtigkeit (fatebor ingenue) um den Zuhörer wirbt.“ zudem den Eindruck von Authentizität und Glaubwürdigkeit erzeugen, seinen Umgang mit eigenem falschen Verhalten als nachahmenswert präsentieren und die Wirksamkeit seiner Ratschläge anhand seiner eigenen Person vorführen. 41 Zwar gibt ‚Seneca‘ seine Fallibilität offen zu und sagt, die Gründe für seine Zeitverluste und seine Zeitarmut benennen zu können und zu wollen. Man erfährt jedoch keinerlei Details über diese Gründe. Diese Vagheit in ‚Senecas‘ Selbstaussagen lässt sich zum einen damit erklären, dass eine detaillierte Schilderung eigenen Fehlverhaltens seine Stellung als Lehrer, Erzieher und Ratgeber untergraben und von den Instruktionen, die er erteilt, ablenken könnte. Zum anderen wird Lucilius in den Epistulae morales als ein enger Freund ‚Senecas‘ dargestellt, der seinen Briefpartner gut kennt und deshalb in der evozierten Kommunikationssituation auch ohne weitere Informationen wissen kann, „wie viel“ Zeit sein Freund „weshalb“ und „auf welche Weise“ verliert. 42 Das Lesepublikum hingegen verfügt in wesentlich geringerem Ausmaß oder gar nicht über dieses Wissen und ist anders als Lucilius auf genauere Informationen angewiesen. Die Verbformen dicam und reddam (4), die sich wie das Prädikat fatebor im Satz zuvor als Futur I und damit auch als eine Ankündigung ‚Senecas‘ lesen lassen, sind also dazu geeignet, Neugier zu wecken. 43 Gerade weil ‚Seneca‘ von Beginn des Briefs an imperative Verhaltensanweisungen erteilt und dadurch die Rolle des Lehrers, Erziehers und Ratgebers übernimmt, will man die „Gründe 146 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="147"?> 44 Es lässt sich nicht abschließend klären, ob die Verbformen dicam und reddam Kon‐ junktiv Präsens oder Futur I sind. Versteht man die Verbformen als Konjunktiv Präsens, ergibt sich vor dem Hintergrund der indikativischen Formulierung non dicere possum nihil perdere (4) folgende Deutungsmöglichkeit: ‚Seneca‘ behauptet, zu wissen, „wie viel“ Zeit er „warum“ und auf „welche Weise“ verliert, nimmt aber wie schon in § 1 nicht in Anspruch, dass dieses Wissen vollkommen gesichert ist, und räumt mit der konjunktivischen Formulierung auch hier die Möglichkeit eigenen Irrtums ein. Die Verbformen dicam und reddam lassen sich in diesem Fall wie folgt paraphrasieren: ‚Ich könnte sagen, wie viel Zeit ich warum und auf welche Weise verliere, könnte also die Gründe für meine Zeitverluste nennen. Ich bin mir aber nicht absolut sicher, ob diese Gründe wirklich zutreffen.‘ 45 Zum Begriff der geistigen Übung s. Hadot (1991), bes. 13-47, der versucht mit dem Be‐ griff „geistig“ (in der französischen Erstausgabe: „spirituel“), unterschiedliche „Adjek‐ tive oder Qualitätsbezeichnungen wie ‚psychisch‘, ‚moralisch‘, ‚ethisch‘, ‚intellektuell‘, ‚des Denkens‘ und ‚der Seele‘“ zusammenzufassen (S. 13-14). Als Formen einer solchen Übung nennt Hadot z. B. Lektüre, Dialoge mit sich selbst und anderen, retrospektive Kritik des eigenen Handelns und Hören von Lehrvorträgen. Ziel einer geistigen Übung ist es, „einer Idee, einem Begriff oder einem Prinzip in der Seele Leben zu verleihen“ (S. 18), d. h. sich durch das Antizipieren einer Situation dazu zu befähigen, die Idee, den Begriff oder das Prinzip beim Eintreten dieser Situation anwenden zu können (z. B. Selbstbeherrschung). 46 Kierdorf (1999) 710. 47 Als Bezeichnung dieser geistigen Übung hat sich in der Forschung ausgehend von Cic. Tusc. 3,29 das Substantiv praemeditatio etabliert, obwohl Seneca es nicht verwendet. Das Substantiv meditatio findet sich z. B. in 54,2; 70,18, 27; 82,8. Das Verb praemeditari findet sich nur in 107,4. Hingegen wird meditari verwendet z. B. in 4,5; 26,8, 10; 36,8; 69,6; 91,8; 113,27. Die praemeditatio wird in den Philosophica Senecas oft thematisiert, abgesehen von den genannten Stellen z. B. in 30,18; 76,34; 98,5; 107,3-4; 114,27; dial. 6 (ad Marc.) 9-11; dial. 10 (brev. vit.) 7,3. Zur geistigen Übung der praemeditatio s. Hadot für seine Zeitverluste“ (4: causae paupertatis) wissen und wird so im ersten und einleitenden Brief der Sammlung zur Lektüre weiterer Epistulae motiviert. 44 4.2.1.2 ‚Senecas‘ falscher Umgang mit Trauer - epist. 63 Als eine wichtige Maßnahme zur Vorbereitung auf den eigenen Tod und denje‐ nigen anderer Menschen sowie auf alle weiteren Schicksalsschläge rät ‚Seneca‘ wiederholt zur geistigen Übung der praemeditatio mortis beziehungsweise der praemeditatio futurorum malorum, zu der in stoischen Schriften immer wieder aufgefordert wird: 45 Man soll potentielle Unglücksfälle aller Art, insbesondere den mit Sicherheit eintretenden Tod, im Geiste antizipieren und sich durch die rationale Erkenntnis der Bedeutungslosigkeit dieser Unglücksfälle von der Furcht vor ihnen befreien. Dieses „gedankliche Antizipieren von Übeln als Vorbeugung gegen überraschende Schicksalsschläge“ 46 wird beispielsweise in 24,2 skizziert. 47 Dort verspricht ‚Seneca‘ dem Lucilius, ihn auf „anderem [d. h. 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 147 <?page no="148"?> (1969) 60-62; Newman (1989), bes. 1483-1496; Armisen-Marchetti (2008); Ker (2009a) 162-168. 48 24,2: Sed ego alia te ad securitatem via ducam: si vis omnem sollicitudinem exuere, quid‐ quid vereris ne eveniat eventurum utique propone, et quodcumque est illud malum, tecum ipse metire ac timorem tuum taxa: intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis. Zu dieser Passage und ihrer Auseinandersetzung mit epikureischem Gedankengut s. Dietsche (2014) 136-141. Edwards (2019) 131-154 kommentiert epist. 24, dort weiterführende Literaturhinweise auf S.-135. 49 Hadot (1969) 126-135 bezeichnet den Zustand der sollicitudo als „einen festen Gegen‐ begriff “ zu dem der securitas, der das Freisein von seelischen Zuständen wie Furcht, Sorge und Kummer bezeichnet (S.-126-127). 50 Tac. ann. 13,13,1 und Mart. 7,45 erwähnen einen Seneca sehr nahestehenden Serenus (ohne Cognomen), Plin. nat. 22,96 einen Annaeus Serenus als praefectus Neronis vigilum. Serenus gewidmet sind dial. 2 (const. sap.), dial. 9 (tranqu.) und evtl. dial. 8 (ot.). Griffin (1976) 89-90, 353-355 und 447-448 zufolge wurde seine politische Karriere wesentlich durch Seneca gefördert. stoischem] Wege“ als dem im unmittelbar Vorausgehenden angesprochenen epikureischen „zur Sorglosigkeit zu führen“ (alia te ad securitatem via ducam) und ihm eine Strategie aufzuzeigen, jede innere Unruhe und Besorgnis ablegen zu können. 48 Dieses als securitas bezeichnete Ziel der Freiheit von Furcht, Sorge und Kummer, also von sollicitudo, 49 sei durch das Antizipieren (proponere) gefürchteter zukünftiger Unglücksfälle zu erreichen. Denn eine umfassende und genaue Prüfung (metiri; taxare) bringe rationale Einsicht (intellegere) in den Status dieser Unglücksfälle als indifferentia. Die in 24,2 mit den Verben proponere, metiri, taxare und intellegere angespro‐ chene kognitive Imagination, Prüfung und Einsicht ist auch in epist. 63 von Bedeutung. Anlass des Briefs ist ‚Senecas‘ Tadel des Lucilius dafür, dass er beim Tod eines Freundes zu sehr getrauert habe. Um Lucilius dabei zu helfen, künftig in angemessenem Ausmaß zu trauen, will ‚Seneca‘ ihm den richtigen Umgang mit dem Verlust nahestehender Menschen vermitteln. Mich interessiert im Folgenden vor allem, wie ‚Seneca‘ dieses Ziel mit Hilfe von Selbstaussagen erreichen will, in denen er offen zugibt, früher selbst maßlos über den Tod seines engen Freundes Annaeus Serenus getrauert und damit falsch und entgegen der Instruktionen, die er hier und andernorts erteilt, gehandelt zu haben. 50 Der Umgang mit dem Tod wird bereits im ersten Satz als übergeordnetes Thema des Briefs genannt: ‚Seneca‘ bringt sein Missfallen darüber zum Aus‐ druck, dass Lucilius maßlosen Schmerz über das Ableben eines Freundes empfunden habe (1: plus […] aequo dolere te nolo). Er betont zwar, dass es besser wäre, überhaupt nicht zu trauern. Doch bezeichnet er dies als ein kaum zu verwirklichendes Postulat, dem nur ein weit fortgeschrittener Philosoph entsprechen könne; und sogar dieser verspüre beim Tod eines nahestehenden 148 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="149"?> 51 63,1: Nobis autem ignosci potest prolapsis ad lacrimas, si non nimiae decucurrerunt, si ipsi illas repressimus. Nec sicci sint oculi amisso amico nec fluant; lacrimandum est, non plorandum. Dietsche (2014) 242-243 zufolge wird maßvolles Trauern hier wegen des konsolatorischen Kontexts erlaubt und um „der Stoa den Eindruck unmenschlicher Härte und abstoßender Kälte zu nehmen.“ Ähnlich Studnik (1958) 32-35. 52 Studnik (1958) 30 spricht von „gedanklich ineinandergreifenden Partien des Briefes“ und „gewaltsame[n] Zäsuren an den von Seneca absichtlich kaschierten Übergangs‐ stellen“. 53 Ker (2009a) 109 zufolge hat sich ‚Seneca‘ selbst an diese Anweisung gehalten und den verstorbenen Serenus in epist. 63 durch Lucilius ersetzt. Ker stützt sich bei dieser Interpretation auf die Verwendung des Attributs carissimus (in § 14 auf Serenus, in § 16 auf Lucilius bezogen) Der Vokativ carissime gehört in der lateinischen (Brief-)Literatur jedoch zum Standardrepertoire persönlicher Anreden, so dass ihm nur wenig Bedeu‐ tung beigemessen werden kann (s. z. B. Cic. fam. 11,21,3; Quint. 2,6,4; 3,4,6; Ov. trist. 1,5,3; Pont. 2,3,55). In den Epistulae wird der Vokativ Lucili carissime verwendet in 23,6; 32,3; 53,7; 61,4; 79,13; 113,1. Ker zufolge wird der Eindruck des Ersetzens auch dadurch gestützt, dass Serenus als Widmungsträger der dial. 2, 8 und 9 (const. sap., ot. und tranqu.) ebenfalls durch Lucilius ersetzt wurde, dem nach Serenus’ Tod nat., epist. und dial. 1 (prov.) gewidmet wurden. Zur Datierung des Tods von Serenus um das Jahr 62 s. Griffin (1976) 89-90, 447-448; Williams (2003) 12-13. Menschen Gefühlsregungen. Deshalb sei maßvolle Trauer erst recht für profi‐ cientes wie ‚Seneca‘ und Lucilius verzeihlich. 51 In den folgenden Paragraphen wird die Forderung nach solch maßvoller Trauer weiter ausgeführt, indem ‚Seneca‘ maßlose Trauer kritisiert und kon‐ krete Ratschläge erteilt. Diese beiden Punkte sind nicht eindeutig voneinander zu trennen und greifen ineinander, auch um die Konventionalität der Argumen‐ tation zu überdecken. 52 Kritik wird in § 2, § 9 und §§ 10-13 wie folgt geübt: Übermäßige Emotionen verkämen schnell zu einer Zurschaustellung, beispiels‐ weise um der Öffentlichkeit die Liebe zu einem verstorbenen Menschen, den man zu dessen Lebzeiten vernachlässigt habe, zu beweisen (2 und 9). Auch schätze man noch lebende Freunde gering, wenn man sich von ihnen nicht trösten lasse (10). Des Weiteren gäbe zu langes Trauern Anlass zu Spott, da es entweder vorgetäuscht oder töricht sei (12-13). In diese Kritikpunkte ein‐ geflochten sind mehrere handlungsorientiere Instruktionen: Man solle Verstor‐ bene in angenehmer Erinnerung halten, um sich gerne an sie zurückerinnern zu können-(3-7), und Freundschaften so lange wie möglich auskosten (8). Anstatt den Verlust eines Freundes zu beklagen, solle man einen neuen gewinnen (11). 53 Nach diesem paränetischen Teil antizipiert ‚Seneca‘ die Verwunderung des Lucilius, weshalb ausgerechnet er Kritik an anderen übe, obwohl er sich beim Tod des Annaeus Serenus selbst von seiner Trauer habe übermannen lassen (14: Haec tibi scribo, is qui Annaeum Serenum carissimum mihi tam inmodice flevi ut, quod minime velim, inter exempla sim eorum quos dolor vicit). 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 149 <?page no="150"?> 54 63,14-15: Hodie tamen factum meum damno et intellego maximam mihi causam sic lugendi fuisse quod numquam cogitaveram mori eum ante me posse. Hoc unum mihi occurrebat, minorem esse et multo minorem - tamquam ordinem fata servarent! Itaque adsidue cogitemus tam de nostra quam omnium quos diligimus mortalitate. Tunc ego debui dicere, ‚minor est Serenus meus: quid ad rem pertinet? post me mori debet, sed ante me potest.‘ Quia non feci, inparatum subito fortuna percussit. Nunc cogito omnia et mortalia esse et incerta lege mortalia. 55 Armisen-Marchetti (2008) 103, die auch darauf hinweist, dass das bei Cicero gebrauchte Verb praemeditari von Seneca erstmals durch praecogitare ersetzt wurde und dass dadurch die imaginative Komponente der hier thematisierten geistigen Übung („ima‐ ginative component of this spiritual technique“) stärker hervorgehoben wird. Anders als in epist. 1 stellt sich ‚Seneca‘ dadurch hier nicht als nachzuahmendes Beispiel dar, sondern führt sich zunächst ausdrücklich als negatives exemplum an, das sich früher genau gegenteilig zu den im Mittelteil des Briefs erteilten Instruktionen verhalten hat. Dass er jetzt jedoch kompetent ist, Ratschläge zu erteilen, verdeutlicht ‚Seneca‘ am Ende des Briefs durch mehrere Selbstaussagen in §§-14-15. Entscheidend ist dort der wiederholte Wechsel zwischen der Schilderung seines Verhaltens in der Vergangenheit und seiner Bewertung dieses Verhaltens aus gegenwärtiger Perspektive. Diese zeitliche Differenz wird durch den wie‐ derholten Wechsel von Verbformen in Vergangenheitstempora und Präsens sowie entsprechender Temporaladverbien akzentuiert. Durch die Verwendung präsentischer Verbformen und Adverbien betont ‚Seneca‘, dass er sich zum evozierten Abfassungszeitpunkt des Briefs gegensätzlich zu früher verhalte. Er sei jetzt dazu in der Lage, seine frühere übermäßige Trauer zu verurteilen (hodie […] damno). Denn jetzt erkenne er sowohl die Ursachen für sie als auch bessere Alternativen (intellego; Hortativ cogitemus; Realis debui, „ich hätte müssen“). 54 Worin er diese Alternativen sieht, veranschaulicht er ebenfalls durch den Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart: Er habe aus Fehlern gelernt und sich deshalb weiterentwickelt. Anders als früher (numquam cogitaveram; duratives Imperfekt occurrebat; tunc debui; non feci) denke er jetzt über die menschliche Sterblichkeit nach (hodie […] damno et intellego; nunc cogito) und vergegenwärtige sich, dass alles vergänglich und zudem der Macht des unberechenbaren Schicksals unterworfen sei (omnia et mortalia esse et incerta lege mortalia). Die Häufung von Verben, die kognitive Vorgänge bezeichnen (intellegere; occurrere; cogitare), heben dabei den hohen Stellenwert hervor, welcher der praemeditatio mortis als geistiger Übung eingeräumt wird. Denn diese Verben, vor allem das vier Mal gebrauchte cogitare, verweisen auf dieses hier nicht mit einem Terminus technicus benannte, aber doch klar beschriebene Antizipieren von Übeln. 55 Durch die Wortwahl wird somit suggeriert, dass 150 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="151"?> 56 Abgesehen von dial. 8 (ot.) finden sich im Werk Senecas zahlreiche Passagen zum Begriff des otium, der selten Faulheit oder Untätigkeit, sondern meist produktive Muße und Zurückgezogenheit bezeichnet. Hengelbrock (2000) 77-87 zeigt anhand von epist. 72 den Unterschied zum otium-Begriff Ciceros: Seneca versteht Philosophie nicht als „gehobene Freizeitbeschäftigung, der man bei Gelegenheit nachgehen konnte, sofern nichts Wichtigeres anlag“, sondern „als studium virtutis [also als] eine permanente Haltung“, bei der die „Loslösung von allen occupationes [… ] gerade für den proficiens sehr hilfreich sein“ kann (S.-79-80). Zur Verwendung des Begriffs otium in den Epistulae s. Richardson-Hay (2006) 273-290; Eickhoff (2021) 161-233. Die Argumente, mit denen otium als Rückzug ins Private gerechtfertigt wird, gleichen sich in den Epistulae und in dial. 8: Der Rückzug (oft mit secedere oder secessus bezeichnet) entspreche sowohl den Lehren als auch den Beispielen stoischer Lehrer. Er sei insbesondere gerechtfertigt, wenn der Staat unwiederbringlich verdorben sei oder von schlechten Menschen beherrscht werde, wenn ein Mensch zu wenig Einfluss oder Kraft habe, um etwas zu bewirken, und seine Mitwirkung an der Politik deshalb nicht erwünscht sei oder wenn schlechte Gesundheit politische Tätigkeit verhindere. Zudem sei auch rein geistige Tätigkeit als eine vita activa im Dienste der Allgemeinheit anzusehen, insbesondere wenn sie die eigene Verbesserung zum Ziel habe, mit der man immer auch anderen nütze. ‚Senecas‘ Wandel auf der rationalen Erkenntnis eigenen Fehlverhaltens beruhe, auf Grund derer er jetzt um die Notwendigkeit wisse, sich durch die geistige Übung der praemeditatio mortis auf den eigenen Tod und den Tod anderer vorzubereiten, und auf Grund derer er auch Lucilius dazu auffordern könne, es ihm gleichzutun (15 und 16: cogitemus). 4.2.2 Die Geschwüre in ‚Senecas‘ Seele - epist. 8, 27 und 68 Die Briefe 8, 27 und 68 sind als Antwortschreiben konzipiert: Epist. 8 und 27 werden jeweils mit einer in direkter Rede zitierten Nachfrage des Lucilius eröffnet, mit der er sich ausdrücklich erkundigt hat, was ‚Seneca‘ dazu befähigt, ihm Instruktionen und Unterweisungen zu erteilen (8,1: ‚Tu me‘ inquis ‚[…] iubes […]? ‘; 27,1: ‚Tu me‘ inquis ‚mones? ‘). Brief 68 beginnt mit der Zustimmung ‚Senecas‘ zum Plan seines Adressaten, sich ins private otium zurückzuziehen (68,1: Consilio tuo accedo: absconde te in otio). Die Tatsache, dass epist. 8 und 27 die einzigen Briefe der gesamten Sammlung sind, die unmittelbar nach der Grußformel eine direkte Rede des Lucilius zitieren, stellt eine enge Verbindung zwischen ihnen her. Epist. 8 und 68 wiederum werden durch die Thematik des Rückzugs miteinander verbunden, 56 epist. 27 und 68 durch das Motiv der Selbstprüfung und Selbstanklage sowie durch die Betonung der Notwendigkeit, dass sich Lucilius selbst aktiv um seinen 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 151 <?page no="152"?> 57 Edwards (1997) zeigt die große Bedeutung, die der Selbstprüfung („self-scrutiny“) im Werk Senecas zukommt, und betont, dass deren Ziel nie (Selbst-)Bestrafung oder die Entwicklung von Schuldgefühlen ist, sondern immer Selbstverbesserung („self-trans‐ formation“). Der locus classicus für die Vorführung einer solchen Selbstprüfung ist dial. 5 (de ira 3) 36-37 (s. dazu Ker 2009b; Kreuzwieser 2016, 189-201). In den Epistulae wird sie u.-a. thematisiert in 16,2; 28,10; 59,7-8; 83,1-2; 101,8. Hadot (1969) 66-74 nennt sie examen conscientiae und bestimmt als ihr Ziel, eigene Handlungen kritisch bewerten zu können, um den eigenen ethischen Fortschritt überprüfen und bestenfalls jederzeit rationale Kontrolle über sein Handeln behalten zu können. 58 Zur Analogie körperlicher und seelischer Gebrechen s. S.-141 Anm.-23. 59 Zur Datierung der Epistulae s. Edwards (2019) 3; Soldo (2021) xiii-xiv. 60 Zu diesem möglichen Rückbezug s. Williams (2003) 13-15; Richardson-Hay (2006) 273-276. Zum Thema des Rückzugs in epist. 5-8 s. Edwards (2019) 82, in epist. 13-21 s. Soldo (2021) xxi-xxiii bzw. Soldos Kommentierung dieser Briefe. Fuhrer (2018) zeigt, wie durch die von Seneca immer wieder beschriebene Anthropologie der Schwäche Freiräume für neue soziale Rollen geschaffen werden, die es ermöglichen, „ohne Gesichtsverlust von der öffentlichen Bühne abzutreten“ (S. 112 mit Verweis auf dial. 9 (tranqu.) 4,7-8). 61 Zu Brief 7 s. Kap. 4.2.3.1. Fortschritt bemühen muss. 57 Allen drei Briefen gemeinsam ist die Erwähnung körperlicher Krankheit als Metapher für seelische Fallibilität, mit der ‚Seneca‘ anschaulich hervorhebt, dass er selbst fehlerbehaftet ist und darunter leidet. 58 Im Zentrum des Folgenden soll die Frage stehen, wie ‚Seneca‘ die Erwäh‐ nung von „Geschwüren“, „verdorbenen Säften“ und „Eiterbeulen“ (8,2: ulcera; 68,8: ulcus; collectio; vomica) in seiner Seele und die Selbstbezeichnung als Kranker (27,1 und 68,9: aeger) in den unterschiedlichen Äußerungskontexten der drei Briefe einsetzt, um sich als kompetenter Lehrer zu inszenieren und zugleich Lucilius zu mehr eigener Aktivität zu motivieren. 4.2.2.1 ‚Senecas‘ Erfahrung mit Geschwüren in der eigenen Seele - epist. 8 Die Paragraphen 1, 2 und 6 des achten Briefs rechtfertigen den Rückzug ‚Senecas‘ aus dem öffentlichen Leben. Da die Epistulae auf 62-65 n. Chr. datiert werden, lässt sich der thematisierte Rückzug in Beziehung zu demjenigen des historischen Autors setzen. 59 Der Brief ist jedoch auch ohne diesen Rück‐ bezug verstehbar. 60 Im unmittelbar vorausgehenden Brief 7 rät ‚Seneca‘ dem Lucilius, sich von schädlichen Einflüssen der breiten Masse fernzuhalten. 61 Daran anschließend wird Lucilius als Eröffnung von Brief 8 eine Nachfrage in den Mund gelegt, durch die er ‚Senecas‘ Haltung als Stoiker in Zweifel zieht, ihn dadurch zur Rechtfertigung des eigenen Rückzugs auffordert und sich auf diese Weise auch nach seiner Expertise als lehrender Philosoph erkundigt 152 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="153"?> 62 Richardson-Hay (2006) 271 erklärt diese Frage mit den Themen der vorausgehenden Briefe: „Ever since ep. 5 where Seneca outlined man’s social duty and fellowship (ep. 5.4), linking this in ep. 6,2-6,4 with the obligation friends owe each other, Lucilius has been aware of the need to consider how his actions might serve and be of benefit to others. […] it is understandable that after reading ep. 7 […], at the beginning of ep. 8 he reacts vigorously to the notions of ep. 7 […].“ 63 Zu dieser Maxime s. z. B. dial. 8 (ot.) 1,4: Usque ad ultimum vitae finem in actu erimus, non desinemus communi bono operam dare, adiuvare singulos, opem ferre etiam inimicis senili manu. Nos sumus qui nullis annis vacationem damus et, quod ait ille vir disertissimus, canitiem galea premimus [Verg. Aen. 9,612]; nos sumus apud quos usque eo nihil ante mortem otiosum est ut, si res patitur, non si ipsa mors otiosa. Zum Ausdruck in actu mori s. S.-154 Anm.-68. 64 Abel (1981) 486 zufolge „erklärt [er] sich über das Absehen seines literarischen Unterfangens.“ Hachmann (1995) 68 zufolge nimmt er „die Gelegenheit wahr, über seine eigene Lebensführung und seine Tätigkeit Rechenschaft abzulegen“, so dass epist. 8 „die erste bewusste Vorstellung seiner Tätigkeit“ ist (S.-71). 65 Der Nutzen für andere wird in §§ 3-5 auch durch die Verwendung auffordernder Verbformen hervorgehoben, mit denen sich ‚Seneca‘ an andere wendet. Hachmann (1995) 70 zählt sechs Imperative (vitate; subsistite; tenete; scitote; contemnite; cogitate), sieben Konjunktivformen in begehrendem Sinn (devitet; ut indulgeatis; ne pareat; sedet; extinguat; arceat; sit) und eine Gerundivform (tractandum est). 66 Mit Hachmann (1995) 69-71 verstehe ich unter humana divinaque tractare (6) die Beschäftigung mit Ethik und Physik, die Paränese und Belehrung miteinschließt. Die Betonung des Nutzens der Beschäftigung mit „menschlichen und göttlichen Angelegen‐ heiten“ dient auch dazu, diese von der zeitgenössischen (Schul-)Bildung abzugrenzen, die andernorts für die Vermittlung reinen Faktenwissens sowie antiquarischer und für die sittliche Verbesserung nutzloser Gelehrsamkeit kritisiert wird. Zu dieser Kritik in epist. 88, 106 und dial. 10 (brev. vit.) 13 s. Baier (2005) 49-50; Gauly (2019), bes. 135-136. (1: ‚Tu me‘ inquis ‚vitare turbam iubes, secedere et conscientia esse contentum? ubi illa praecepta vestra quae imperant in actu mori? ‘). 62 Als Reaktion auf diese Nachfrage, die aus dem Widerspruch zwischen der stoischen Maxime des in actu mori 63 und ‚Senecas‘ Rückzug aus dem öffentlichen Leben resultiert, legt ‚Seneca‘ dar, wie er seine Rolle als Verfasser von Paränesen auffasst: 64 Er habe sich nicht aus Eigeninteresse vom öffentlichen Leben, von der Politik und von geschäftlichen Verpflichtungen zurückgezogen (2: ab hominibus […] a rebus, et in prima a meis rebus), sondern um anderen Menschen nützen zu können (1: In hoc me recondidi et fores clusi, ut prodesse pluribus possem; 2: posterorum negotium ago; 3: rectum iter […] aliis monstro; 6: cum posteris loquor). 65 Seine im Privaten betriebenen Studien (1: studia; 6: humana divinaque) seien deshalb nicht als Untätigkeit (1: inertia), sondern als nützliche Aktivität im Dienste der Allgemeinheit anzusehen. 66 Zur argumentativen Unterstützung dieser Behauptung vergleicht ‚Seneca‘ die Ermahnungen, die er für andere schriftlich verfasst, mit Rezepten für nützliche Arzneimittel (2: Illis [sc. posteris] aliqua quae possint prodesse conscribo; salutares 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 153 <?page no="154"?> 67 Zu compositio als medizinischem Terminus technicus s. TLL 3,0,2139,82-2140,31. 68 Das wird auch durch die vierfache Verwendung des Verbs agere in § 2 und § 6 zum Ausdruck gebracht. Mit Verweis auf TLL 1,451,21-33 bezeichnet Williams (2003) 68-69 die Junktur in actu mori (1) als „Senecean coinage in this general sense“. 69 8,6: Si haec mecum, si haec cum posteris loquor, non videor tibi plus prodesse quam cum ad vadimonium advocatus descenderem aut tabulis testamenti anulum inprimerem aut in senatu candidato vocem et manum commodarem? 70 Zu dieser in 75,8-15 beschriebenen Hierarchie s. S.-163. 71 Ähnlich Maurach (1970). admonitiones, velut medicamentorum utilium compositiones, litteris mando). 67 Damit schreibt er sich im Rahmen seiner vita contemplativa Eigenschaften und Verhaltensweisen zu, die durchweg positiv konnotiert sind: Er lebe trotz oder vielmehr gerade wegen seiner Zurückgezogenheit auch eine vita activa. 68 Immerhin betätige er sich tagsüber und auch in Teilen der Nacht mit philo‐ sophischen Fragestellungen und halte seine Erkenntnisse dieser Betätigung als „heilsame“ (salutaris) und „nützliche“ (utilis) Instruktionen schriftlich fest. Durch seine im Privaten angestellten theoretischen Studien nütze er anderen somit auch in der Praxis (1 und 2: prodesse) - und das sogar in größerem Ausmaß (6: plus prodesse) als durch juristische oder politische Tätigkeiten, wie man sie seiner Aussage nach von einem in der Öffentlichkeit auftretenden Geschäftsmann, Anwalt und Politiker erwarte (6). 69 Um diese Selbstdarstellung als Antwort auf Lucilius’ Eingangsfrage plausibel wirken zu lassen und um seinen Rückzug und seine damit einhergehende philosophische und schriftstellerische Tätigkeit glaubwürdig als etwas Nützli‐ ches rechtfertigen zu können, bringt ‚Seneca‘ eigene „Geschwüre“ (2: ulcera) zur Sprache, die metaphorisch zu verstehen sind. ‚Seneca‘ gesteht hier also ausdrücklich seine seelische Fallibilität ein. Auch wenn seine Geschwüre nicht mehr wuchern würden, seien sie nicht vollkommen geheilt (2: persanata non sunt, serpere desierunt). Diese Aussage lässt sich als Bild für den Zustand des ethischen Fortschrittes auffassen: In einer Hierarchie der proficientes stehe ‚Seneca‘ nicht mehr ganz unten, sondern in der Mitte, auf Grund bisher gemachter Fortschritte auf jeden Fall weiter oben als früher. 70 Er betont, dass er die Wirksamkeit seiner „Heilmittel“, also seiner schriftlichen Paränesen, an sich selbst und seinen eigenen Geschwüren erprobt habe, bevor er sie anderen erteile (esse illas [sc. admonitiones] efficaces in meis ulceribus expertus). Wie durch das Partizip expertus hervorgehoben wird, könne er also Ratschläge erteilen, die auf eigenen Erfahrungen basieren. 71 Dieses Erfahrungswissen hebt ‚Seneca‘ auch durch das Bekenntnis hervor, dass er den richtigen Weg, den er jetzt anderen zeige, selbst erst spät und vom Umherirren müde erkannt habe (3: Rectum iter, quod sero cognovi et lassus 154 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="155"?> 72 Anders Richardson-Hay (2006) 279-280: „Sero looks back at ep. 1 and Seneca’s concern with man’s proper and fruitful use of time (‚sera parsimonia in fundo est‘, ep. 1,5). Seneca characterised himself there as a poor man with little time left (ep. 1,4), and there is again here a sense of a man trying to make up for loss of time.“ 73 Soldo (2021) xix-xx verweist mit epist. 12, 21, 26 und 29 auf mehrere Briefe, in denen von ‚Senecas‘ hohem Alter, seinem bald bevorstehenden Tod oder seiner Sorge um Nachruhm die Rede ist. Hinzu kommt ‚Senecas‘ Hinweis, dass 29,9 das letzte Mal sei, dass er Epikur zitiere. All das erzeugt, so Soldo, den Eindruck, er stehe am Rande des Todes („on the brink of death“). 74 Zu dieser Wegmetapher s. z. B. 8,3; 44,7; 73,5; 92,31; 99,7, 17; 107,2; dial. 7 (vit. beat.) 1; Armisen-Marchetti (1989) 86-90; Jones (2014) 411-413 mit weiterführender Literatur in den Anm. Die Metapher wird im Werk Senecas des Öfteren verwendet, um zu verdeutlichen: Den Status eines Weisen zu erreichen, ist ein langer Prozess, der nur in Ausnahmefällen zum Ziel führt. Die meisten Menschen treffen immer wieder falsche Entscheidungen, nehmen also falsche Abzweigungen auf dem Weg zur Weisheit, und machen deshalb immer wieder Schritte weg von ihrem Ziel oder haben gar ein falsches Ziel vor Augen. Deshalb muss man stets kontrollieren, ob man den richtigen Weg eingeschlagen hat und sich noch auf diesem befindet. Denn für den ethischen Fortschritt genügt es nicht, auf dem bloßen Lebensweg voranzuschreiten, d. h. älter zu werden; vielmehr muss man philosophisch in dem Sinne voranschreiten, dass man auf dem Weg zur Weisheit Fortschritte in der praktischen Anwendung theoretischen philosophischen Wissens macht. errando, aliis monstro). 72 Er habe einen langen Lebensweg hinter sich 73 und gibt offen zu, auf diesem falsche Abzweigungen genommen, das heißt Fehler gemacht zu haben (errare) und mit ermüdenden Rückschlägen konfrontiert worden zu sein. 74 Gerade diese Konfrontation versetzt ihn jetzt aber in die Lage, die Schwierigkeiten nachzuvollziehen, denen man auf dem Weg des ethischen Fortschritts, das heißt bei den Bemühungen um diesen Fortschritt, begegnen kann. Diesen Weg zu beschreiten oder gar an dessen Ziel angekommen zu sein, behauptet ‚Seneca‘ freilich nicht, sondern nur, ihn erkannt zu haben (cognovi) und ihn deshalb trotz der eigenen Fallibilität beziehungsweise gerade wegen der Erfahrung im Umgang mit ihr auch anderen zeigen zu können (aliis monstro). Dass ‚Seneca‘ nicht darauf eingeht, worin seine im Text erwähnten metapho‐ rischen „Geschwüre“ (ulcera) und sein „Umherirren“ (errare) genau bestehen be‐ ziehungsweise bestanden haben, ist dabei von Vorteil. Lucilius soll als ‚Patient‘ sehen, dass ‚Seneca‘ als sein ‚Arzt‘ selbst nicht vollkommen ‚gesund‘ ist. Denn die Behauptung, keine Fehler zu haben, wäre für einen proficiens wie ‚Seneca‘ nicht plausibel. Doch wird der ‚Patient‘ nicht durch detaillierte Beschreibungen der Krankheiten seines ‚Arztes‘ von den eigenen abgelenkt. Darüber hinaus werden ‚Senecas‘ Kompetenzen und der Nutzen seines Rückzugs für andere verallgemeinert, jede Konkretisierung würde sie beschränken. Auch die admoni‐ 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 155 <?page no="156"?> 75 ‚Seneca‘ fordert in §§ 3-5, sich vor der Meinung der Masse in Acht zu nehmen, sich nicht von Zufälligkeiten (fortuita) abhängig zu machen und dem Körper nur zuzugestehen, was für dessen Gesundheit (bona valetudo) unabdingbar ist. Zu diesen admonitiones s. Maurach (1970) 48; Hachmann (1995) 68-71; Richardson-Hay (2006) 279-284; Dietsche (2014) 179-182. 76 Abel (1981) 486. 77 Allein in epist. 1-26 bezeichnet ‚Seneca‘ seine an Lucilius gerichteten Äußerungen sieben Mal mit den Verben monere, admonere oder commonefacere (5,1; 16,6; 21,7, 11; 24,16 und 19) und zwei Mal mit dem Substantiv admonitio (8,2; 13,15). Das Verb emendare wird fünf Mal zur Bezeichnung eines zentralen Ziels philosophischer Betätigung verwendet, wie sie in den Epistulae empfohlen wird (4,1; 5,3; 6,1; 25,1). tiones, die er in §§ 3-5 formuliert, sind recht allgemein gehalten. 75 Sie sind jedoch die „Quintessenz dessen […], was sein schriftstellerisches Schaffen vermitteln will“ und „auf das genaueste eingepaßt in den Gedankengang des ersten und zweiten Buchs.“ 76 4.2.2.2 ‚Seneca‘ als exemplum für den Umgang mit Geschwüren in der Seele - epist. 27 Auch in epist. 27 wird Lucilius die Frage in den Mund gelegt, was ‚Seneca‘ dazu qualifiziert, andere zu instruieren (1: ‚Tu me‘ inquis ‚mones? iam enim te ipse monuisti, iam correxisti? ideo aliorum emendationi vacas? ‘). 77 Da die beiden Briefe 8 und 27 durch diese in direkter Rede zitierten Nachfragen eng miteinander verbunden sind, fällt ein Widerspruch ins Auge: In epist. 8 beantwortet ‚Seneca‘ die fast wortgleiche Eingangsfrage des Lucilius durch die Aussage, anderen zu nützen, indem er „heilsame Ermahnungen“ für sie aufschreibe, die er an seinen eigenen „Geschwüren“ erprobt habe (8,2). In epist. 27 sagt er unter Verwendung der gleichen Bildsprache zwar ebenfalls, dass er ‚krank‘ sei. Doch betont er ausdrücklich, keine Behandlungen vornehmen zu wollen, da er sozusagen „im gleichen Krankenhaus liege“, also gleiche oder zumindest ähnliche Fehler wie Lucilius als Adressat beziehungsweise als ‚Patient‘ habe (1: Non sum tam inprobus ut curationes aeger obeam; tamquam in eodem valetudinario iaceam). Durch dieses Bekenntnis schreibt sich ‚Seneca‘ nicht nur erneut Erfahrungs‐ wissen zu, hier im Besonderen über diejenigen Fehler, an denen auch Lucilius leidet. Er stellt sich durch das Bild des Krankenhauses auch ausdrücklich auf eine Stufe mit seinem Adressaten und zeigt damit, ihm nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe zu begegnen. Vergleichbar mit der in 1,1 ausgesprochenen Auf‐ forderung zur kritischen Überprüfung seiner Aussagen kann er so illustrieren, Lucilius als Gesprächspartner ernst zu nehmen und ihm in den gemeinsamen philosophischen Bemühungen, von denen mit den Epistulae nur eine Seite 156 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="157"?> 78 Zu Lucilius’ Einfluss auf ‚Seneca‘ s. S.-144 mit Anm.-33. 79 Hachmann (1995) 198-200 schließt aus der Verwendung der Verben conloqui und communicare „auf eine intensivere Beteiligung des Lucilius am Erziehungsprozeß. […] Lucilius soll unabhängiger werden und nicht immer nur nach dem ‚Lehrer‘ blicken, sondern sich auch selbstständig zu Wort melden.“ 80 Ob die Epistulae ein echter Briefwechsel sind oder nicht, ist für das Funktionieren dieser Kommunikationssituation nicht von Bedeutung. Zu dieser Frage s. S.-140 Anm.-17. 81 Weisheit wird in 20,5 mit folgenden Worten definiert: quid est sapientia? semper idem velle atque idem nolle. S. dazu Soldo (2021) 251, 259-260. Konsistenz wird wiederholt als Eigenschaft des Weisen angeführt (neben 20,5 z. B. auch in 35,4). Hier ist aber von Wünschen eines Kindes die Rede, die nicht die eines Weisen sein können, da sich die Vernunft nach stoischer Auffassung erst mit ca. 14 Jahren entwickelt (Smith 2014, 353 mit Anm. 36). Dass die Wünsche eines puer für einen senex wie ‚Seneca‘ unangemessen sind, betont z.-B. 61,1. 82 Dass ‚Seneca‘ sein Denken und Handeln als falsch bewertet, legt nicht nur die konsta‐ tierende Verbform pudebit nahe (2: Clamo mihi ipse, ‚numera annos tuos, et pudebit eadem velle quae volueras puer, eadem parare‘), sondern auch die Bezeichnung seiner Wünsche als vitia und „in innere Unruhe versetzende Vergnügungen“, die es abzulegen gelte (Dimitte istas voluptates turbidas). vorliegt, auch positiven Einfluss auf seine eigene Entwicklung zuzugestehen. 78 Denn er tausche sich mit ihm wie mit einem gleichberechtigten Partner aus (tamquam in eodem valetudinario iaceam, de communi tecum malo conloquor et remedia communico). Das Eingeständnis eigener Schwäche lässt ‚Seneca‘ hier also nicht nur erfahren, kompetent und glaubwürdig erscheinen, sondern soll Lucilius auch darin bestärken, eigene Ansichten und Erfahrungen mit seinem Briefpartner zu teilen, und ihn dadurch auch zu eigener Aktivität motivieren. 79 Indem sich ‚Seneca‘ auf eine Stufe mit ihm stellt, kann er sich zudem als Beispiel inszenieren, das Lucilius nachzuahmen fähig ist. Dennoch legt ‚Seneca‘ die Rolle des Lehrers, der weiter fortgeschritten ist als sein Schüler, im Folgenden nicht ab und erteilt nach der Einleitung des Briefs eine Rezeptionsanweisung für die Epistulae: Lucilius soll sie als ein Selbstgespräch ‚Senecas‘ verstehen, zu dem er exklusiv zugelassen ist (1: Sic itaque me audi tamquam mecum loquar; in secretum te meum admitto et te adhibito mecum exigo). Das dient als Intimisierungs- und Beglaubigungs‐ strategie: In §§ 2-3 formuliert ‚Seneca‘ in direkter Rede eine Selbstanklage, die gerade dadurch authentisch wirken soll, dass Lucilius in der evozierten Kommunikationssituation als deren einziger Zeuge dargestellt wird. 80 In dieser intimen Situation identifiziert ‚Seneca‘ einen Fehler: Er habe es nicht geschafft, Wünsche abzulegen, die für ein Kind angemessen seien, nicht jedoch für einen erwachsenen Mann (2). 81 Infolgedessen fordert er sich mit einer Reihe von Imperativen eindringlich zur Veränderung seines falschen Denkens und Han‐ delns auf (numera; praesta; dimitte; circumspice; moriantur). 82 Er führt damit die 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 157 <?page no="158"?> 83 Dazu Baier (2005) 58-59: „Der impetus des Schülers wird nicht zuletzt dadurch stimu‐ liert, daß der Lehrer seine eigene Betroffenheit durch eigene Erfahrung unterstreicht. [Um] den Schüler in [die richtige] Richtung [zu] locken, […] reicht der Zugang über die Ratio nicht aus, es ist vielmehr das eigene überzeugende Beispiel oder […] die ‚persönliche Geschichte‘ erforderlich.“ Baier fasst als Senecas „pädagogische Postulate“ (S. 59) für gelingende Motivation und Lernerfolg zusammen: Kombination aus ratio‐ naler und emotionaler Aktivierung der Lernenden, Vorbildfunktion der Lehrenden, Wiederholung und Anschaulichkeit. Zu Senecas Didaktik s. auch v. Albrecht (2004) 68-98; Schafer (2009), bes. 85-110, und (2011); Kreuzwieser (2016) 95-124, 223-239. Zu Senecas Gebrauch von exempla s. Kreuzwieser (2016) 159-188. 84 Zur Anerkenntnis eigener Fehler als erster Schritt des ethischen Fortschritts s. z. B. 6,1 (hoc ipsum argumentum est in melius translati animi, quod vitia sua quae adhuc ignorabat videt); 28,9 (initium est salutis notitia peccati); 53,8 (vitia sua confiteri sanitatis indicium est). S. dazu und v. a. zu epist. 6 Maurach (1970) 41-44; Hachmann (1995) 55-62; Edwards (1997) 31; Richardson-Hay (2006) 229-247; Kreuzwieser (2016) 172-177; Uhle (2018) 240-242. 85 Die Forschung betont, dass ‚Seneca‘ die Unterweisung anderer immer auch als Selbst‐ unterweisung bzw. Selbsterziehung ansieht. Das impliziert seinen Willen zur eigenen Verbesserung. Kreuzwieser (2016) 223-239 schreibt der Unterweisung des Lucilius auch ein Moment der Selbstprüfung ‚Senecas‘ zu, durch die er an der eigenen Verbesserung arbeitet. Ähnlich Cancik (1967) 76-88; Hengelbrock (2000) 97-102. Da der Name des Adressaten Lucilius ein Deminutiv des Pränomens des historischen Autors (Lucius) ist, wurde teils sogar angenommen, ‚Seneca‘ wende sich mit den Epistulae an sich selbst. S. dazu z. B. Ker (2009a) 154 Anm. 32. Zu Argumenten gegen diese Auffassung s. Soldo (2021) xv-xvi. richtige Einstellung gegenüber der eigenen Fallibilität und zugleich die mögliche Wortwahl für eine kritische Selbstprüfung vor. In 8,3-5 hatte ‚Seneca‘ durch die Verbform clamo in Kombination mit zahlreichen Imperativen Forderungen an andere gestellt. Hier stellt er diese Forderungen in gleicher Formulierung an sich selbst (2: -Clamo mihi ipse in Verbindung mit oben genannten Imperativen) und führt sich damit als nachzuahmendes exemplum für den von ihm geforderten Umgang mit eigenen Fehlern an. Diese Selbstdarstellung als ein Mensch, der fehlerbehaftet ist, sich mit seinen Fehlern aber konstruktiv auseinanderzusetzen weiß, ist ein wichtiger Faktor für das Gelingen einer Wissensvermittlung, die auf praktische Anwendung abzielt. Denn für eine solche Vermittlung insbeson‐ dere ethisch richtigen Handelns ist zusätzlich zum Zugang über die ratio das Beispiel des Lehrenden von zentraler Bedeutung, um motivierend auf Lernende einwirken zu können. 83 Anhand seiner eigenen Person zeigt ‚Seneca‘ zudem, dass die Paränesen, die er in den Epistulae formuliert, umsetzbar sind, dass es also möglich ist, eigene Fehler zu identifizieren und anzuerkennen. Diesen ersten und wichtigen Schritt hat er seiner Selbstdarstellung nach absolviert: 84 Er will sich verbessern 85 und inszeniert sich in epist. 27 als Person, die dazu im Stande ist, eigene Urteile als 158 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="159"?> 86 Abgesehen von Allegri (2012) ist mir keine ausführliche Untersuchung des Briefs bekannt. Richardson-Hay (2006) 271-290 passim weist auf einige inhaltliche und sprachliche Gemeinsamkeiten mit epist. 8 hin. Die Kommentare von Summers (1983), Costa (1988), Inwood (2007a) und Edwards (2019) gehen nicht auf epist. 68 ein. Maurach (1970) 146-147 und Hachmann (1995) 224 bieten lediglich Paraphrasen des Inhalts. falsch zu erkennen und sich zu deren Änderung aufzufordern. Die in epist. 8 getroffene Behauptung, selbst von Fehlern betroffen zu sein, aber mit diesen umgehen zu können, wird in epist. 27 wiederholt, die motivierende Wirkung des vorliegenden Briefs dadurch unterstützt: Der unterwiesene Lucilius sieht, dass auch der ihn unterweisende ‚Seneca‘ beständig an der eigenen Verbesserung arbeiten muss und arbeitet und dass diese Arbeit auch Früchte trägt. Wenn ‚Seneca‘ die ersten Schritte des ethischen Fortschritts schafft, dann kann auch Lucilius sie gehen - er liegt, so ‚Seneca‘, ja im gleichen Krankenhaus, steht als proficiens also auf der gleichen oder zumindest auf einer ähnlichen Stufe wie ‚Seneca‘. Unabdingbar für Erkenntnis und für das Erreichen moralischer Gesundheit ist es jedoch, so Philosophie zu betreiben, wie es in den Epistulae theoretisch ausgeführt und hier anhand der Selbstanklage der Autor-persona praktisch vorgeführt wird. Man kann und soll also die Unterstützung und Expertise anderer für die eigene Verbesserung in Anspruch nehmen. Doch betont ‚Seneca‘ in §§ 4-8 und in dem im folgenden Kapitel 4.2.2.3 zu bespre‐ chenden Brief 68, dass sich ethischer Fortschritt letzten Endes nur durch eigene Anstrengungen herbeiführen lässt (27,4: Multum restat operis, in quod ipse necesse est vigiliam, ipse laborem tuum inpendas, si effici cupis; delegationem res ista non recipit; 8: -bona mens nec commodatur nec emitur). 4.2.2.3 Die Geschwüre in ‚Senecas‘ Seele als Motivation des Lucilius - epist. 68 Noch ausführlicher als in den Briefen 8 und 27 greift der bisher nur wenig unter‐ suchte Brief 68 auf die Metaphorik körperlicher Krankheiten zur Umschreibung seelischer Gebrechen zurück. 86 Die Forschung betont meist nur die Tatsache, dass sich ‚Seneca‘ in 68,9 im übertragenen Sinne als Kranker bezeichnet, um auf seinen Status als proficiens hinzuweisen. Im Zentrum der folgenden Analyse soll hingegen die Frage stehen, welche persuasive Funktion diese Aussage im Kontext des Briefs hat und wie diese Aussage eingesetzt wird, um Lucilius zu verstärkter eigener Aktivität zu motivieren. Brief 68 wird abermals als Reaktion auf ein Schreiben des Lucilius ausge‐ geben, der von seinem Plan berichtet habe, sich ins private otium zurückzu‐ ziehen. ‚Seneca‘ heißt diesen Plan gut und legt dar, dass ein solcher Rückzug in 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 159 <?page no="160"?> 87 Der Beginn erinnert damit an 8,1, wo Lucilius genau das bezweifelt. Wie dort wird ihm in 68,10 eine Nachfrage in den Mund gelegt, die ‚Senecas‘ stoische Haltung in Frage stellt: ‚Otium‘ inquis ‚Seneca, commendas mihi? ad Epicureas voces delaberis? ‘ Ähnlich auch die Frage des Interlocutors in dial. 8 (ot.) 1,4: ‚Quid ais, Seneca? deseris partes? ‘ Zum otium-Begriff Senecas s. S. 151 Anm. 56. ‚Seneca‘ fordert Lucilius mehrfach dazu auf, sich ins private otium zurückzuziehen, z.-B. in 19,5-9; 22,1; 36,1; 68,1. 88 S. dazu Kap. 4.2.2.1. 89 Edwards (2024) 135 zu dieser Analogie: „Seneca exhorts us to imagine the experience of acute physical suffering to help us confront the urgent need to remedy the ills afflicting our animus […]. The weakness of the mind should be treated […] with the same expert care as those of the body.“ Einklang mit der stoischen Lehre stehe, jedoch vor unverständigen Menschen kaschiert werden müsse (1-5). 87 Daraufhin fordert er Lucilius dazu auf, sich nach dem Rückzug in Form einer schonungslosen Selbstanklage gerade mit seinen schlechtesten Eigenschaften auseinanderzusetzen (6: Cum secesseris, non est hoc agendum, ut de te homines loquantur, sed ut ipse tecum loquaris. […] de te apud te male existima. […] Id autem maxime tracta quod in te esse infirmissimum senties). Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, bemüht ‚Seneca‘ die Analogie körperlicher und seelischer Gebrechen: Jeder Mensch kenne die individuellen Mängel seines Körpers und kümmere sich um diese. Doch habe auch jede Seele kranke Teile, für die eine „medizinische Behandlung“ notwendig sei (8: Nota habet sui quisque corporis vitia. […] Sic in animo nostro sunt quaedam quasi causariae partes quibus adhibenda curatio est). ‚Seneca‘ behauptet in der Antwort auf die antizipierte Frage des Lucilius, was er in seiner eigenen Zurückgezogenheit tue, genau dieser Notwendigkeit nachzukommen (8: Quid in otio facio? ulcus meum curo). Er nutzt die Erwähnung moralischer „Geschwüre“ hier also in anderer Hinsicht als in epist. 8 zur Legitimation sowohl des eigenen Rückzugs als auch desjenigen von Lucilius, der in § 1 ja als Schreibanlass von Brief 68 ausgegeben wird. Im achten Brief hat ‚Seneca‘ seinen eigenen Rückzug mit dessen Nutzen für andere erklärt. 88 Hier hingegen rechtfertigt er einen solchen Rückzug ganz allgemein mit der Notwendigkeit, dass jeder Mensch die Krankheiten seiner Seele heilen müsse. Bei körperlichen Beschwerden akzeptiere man Untätigkeit, wenn sie Genesung zum Ziel habe (7: Si ostenderem tibi pedem turgidum, lividam manum, aut contracti cruris aridos nervos, permitteres mihi uno loco iacere et fovere morbum meum). Umso mehr sei produktives otium beziehungsweise der Rückzug ins private otium zur Heilung der Seele angebracht. 89 Denn deren Defekte seien für andere zwar nicht unmittelbar erkennbar, jedoch wesentlich schwerwiegender als körperliche Gebrechen (maius malum est hoc, quod non possum tibi ostendere). 160 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="161"?> 90 Diese Bemühungen sind nicht nur darin erkennbar, dass ‚Seneca‘ am Anfang auf ein Schreiben bzw. Vorhaben des Lucilius zu reagieren behauptet (1: Consilio tuo accedo) und dessen in direkter Rede formulierte Nachfragen antizipiert (10: ‚Otium‘ inquis ‚Seneca, commendas mihi? ad Epicureas voces delaberis? ‘), sondern auch in der Aussage, Lucilius erhoffe sich Hilfe von ihm (9: Erras, qui hinc aliquid auxili speras). Mit der Verwendung der gleichen Metaphorik bezeichnet sich ‚Seneca‘ auch in epist. 8 und 27 dezidiert als fehlerbehaftet. Anders als dort spricht er in 68,8 aber anschaulich und ausführlich nicht nur von einem „Geschwür“ (ulcus), sondern auch von einer „Ansammlung verdorbener Säfte und einer Eiterbeule mitten in der Brust“ (in pectore ipso collectio et vomica est), die er zudem mit detailliert beschriebenen körperlichen Gebrechen vergleicht (pes turgidus; livida manus; contracti cruris aridi nervi). Das dient dazu, den Rückzug ins otium zu rechtfertigen, hat aber noch einen weiteren und, wie ich meine, entscheidenderen Effekt: ‚Seneca‘ will Lucilius dazu motivieren, selbst aktiv zu werden (68,8-9): Nolo nolo laudes, nolo dicas, ‚o magnum virum! contempsit omnia et damnatis humanae vitae furoribus fugit.‘ Nihil damnavi nisi me. (9) Non est quod proficiendi causa venire ad me velis. Erras, qui hinc aliquid auxili speras: non medicus sed aeger hic habitat. Malo illa, cum discesseris, dicas: ‚ego istum beatum hominem putabam et eruditum, erexeram aures: destitutus sum, nihil vidi, nihil audivi quod concupiscerem, ad quod reverterer.‘ Si hoc sentis, si hoc loqueris, aliquid profectum est. Ich will nicht - ich will es nicht! -, dass du mich lobst, ich will nicht, dass du sagst: „Welch großer Mann! Er hat alles verachtet, hat die Leidenschaften des menschlichen Lebens verdammt und sich zurückgezogen.“ Nichts habe ich verdammt außer mir! (9) Es gibt keinen Grund, dass du um des Fortschritts willen zu mir kommen willst. Du irrst dich, wenn du von hier irgendeine Hilfe erhoffst: Nicht ein Arzt, sondern ein Kranker wohnt hier. Ich will lieber, dass du Folgendes sagst, wenn du wieder weggegangen bist: „Ich hielt diesen Menschen immer für glücklich und gebildet, ich hatte meine Ohren gespitzt: Ich wurde enttäuscht, habe nichts von dem gesehen, nichts von dem gehört, was ich wollte, zu dem ich zurückkehren würde.“ Wenn du das fühlst, wenn du das sagst, wurde ein Fortschritt gemacht. Die hier zu besprechende Passage aus Brief 68 beginnt in § 6 mit dem an Lucilius gerichteten Appell zur Selbstprüfung und endet in § 9 mit dem Wunsch, dass er die „Geschwüre“ in ‚Senecas‘ Seele erkennen und so weit voranschreiten möge, dass er nichts mehr von ihm lernen könne. Durch die Selbstbezeichnung als ‚Kranker‘ will ‚Seneca‘ seinen Adressaten in den bereits erkennbaren eigenen Bemühungen um sittliche Verbesserung bestärken: 90 Ziel des Lucilius muss es 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 161 <?page no="162"?> 91 Diese Individualität wird durch den Vergleich körperlicher und seelischer Gebrechen in § 7 betont: Nota habet sui quisque corporis vitia. Itaque alius vomitu levat stomachum, alius frequenti cibo fulcit, alius interposito ieiunio corpus exhaurit et purgat; ii quorum pedes dolor repetit aut vino aut balineo abstinent. […] Sic in animo nostro sunt quaedam quasi causariae partes quibus adhibenda curatio est. sein, so weit zu kommen, dass er ‚Senecas‘ Anleitung nicht mehr bedarf. Wenn er diesen Punkt erreicht hat, wurde sowohl von ihm selbst als auch in ‚Senecas‘ Unterweisung „ein Fortschritt gemacht“ (aliquid profectum est). Die dreifach verwendete, auf ‚Seneca‘ bezogene Verbform nolo in § 8 verleiht ‚Senecas‘ Forderung Nachdruck, ihn nicht als einen weit fortgeschrittenen Philosophen anzusehen. Es gebe keinen Grund (non est quod; erras), sich von ihm Anregungen für den eigenen Fortschritt oder irgendeine Hilfe zu erhoffen. Er sei eben kein Arzt, sondern ein Kranker (non medicus sed aeger hic habitat). Zwar übernimmt ‚Seneca‘ auch in epist. 68 die Rolle eines Lehrers, der Instruk‐ tionen und Ratschläge erteilt. Dennoch überwiegt der Aspekt der Aktivierung des Adressaten, der insbesondere durch die Aufforderung zur schonungslosen Selbstanalyse in § 6 hervorgehoben wird: Imperative und futurische Verbformen (ut loquaris; existima; tracta; loqueris; adsuesces) sowie die Häufung von Prono‐ minalausdrücken mit Bezug auf Lucilius (de te; ipse tecum; de te apud te; in te) machen deutlich, dass es auf Grund der Individualität der seelischen Gebrechen in Lucilius’ eigener Verantwortung liegt, sich selbst zu prüfen und anzuklagen. 91 Das heißt freilich nicht, dass Lucilius ‚Seneca‘ gleichkommt oder gleich‐ kommen wird. Denn in diesem Falle wären nicht nur der hier nicht behan‐ delte Rest von Brief 68, sondern auch alle weiteren paränetischen Epistulae hinfällig. Mit meiner Interpretation will ich aber dafür argumentieren, dass ‚Seneca‘ durch die Erwähnung seiner seelischen Fallibilität beziehungsweise seiner „Geschwüre“ und anderer Krankheiten in seiner Seele je nach Kontext verschiedene Effekte erzeugen kann, die sich auch wegen des Voranschreitens der Briefsammlung und des damit einhergehenden Fortschritts des Adressaten unterscheiden. In 8,2 hatte ‚Seneca‘ seine schriftlichen Paränesen als „heilsame Ermahnungen“ (salutares admonitiones) bezeichnet und sie mit „Rezepten für nützliche Medikamente“ verglichen (velut medicamentorum utilium composi‐ tiones), deren Wirksamkeit er an seinen eigenen „Geschwüren“ erprobt habe (illas efficaces in ulceribus meis expertus). Er hebt dadurch am Beginn der Sammlung auf eigener Erfahrung beruhende Kompetenzen hervor und stellt seine Schriften als nützlich dar, formuliert dabei aber nur recht allgemein gehaltene und sozusagen einführende Verhaltensanweisungen, mit denen er nicht näher auf Lucilius eingeht. In epist. 27 wiederum nutzt er die Erwähnung der „Geschwüre“ in seiner Seele unter anderem, um sich auf eine Stufe mit 162 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="163"?> 92 S. dazu Hengelbrock (2000) 36-95, der anhand der Briefe 52, 71 und 72 jedoch auch zeigt, dass keine systematische und immer deckungsgleiche Einteilung unterschiedlicher Kategorien vorgenommen wird. Die grundlegende Zuordnung aller proficientes zur Kategorie der stulti entspricht der orthodoxen stoischen Lehrmeinung. Auch die Einteilung in drei Klassen scheint gängigen Vorlagen zu folgen, so ders. S. 44 mit Anm. 28. Zu epist. 52 s. auch Kreuzwieser (2016) 106-112: Je nach naturgegebener Anlage des Einzelnen brauchen proficientes unterschiedlich starke Hilfestellung, um sittlich fortzuschreiten. 93 In 75,9 wird behauptet, proficientes dieser Kategorie hätten alle Affekte und Fehler abgelegt (omnes iam adfectus ac vitia posuerunt), in 75,12 hingegen, dass sie sich der Krankheiten der Seele (morbi animi) entledigt hätten, jedoch noch Affekte (als ursprüngliche Ursachen ihrer morbi animi) verspüren würden. In 72,10 werden Men‐ schen dieser Kategorie wie folgt beschrieben: [sc. sapientiam] non quidem contigerunt, in conspectu tamen et, ut ita dicam, sub ictu habent: hi non concutiuntur, ne defluunt quidem; nondum in sicco, iam in portu sunt. Lucilius zu stellen und als Beispiel zu inszenieren, das dieser nachzuahmen in der Lage ist. In Brief 68 schließlich soll das Eingeständnis metaphorisch zu verste‐ hender „Geschwüre“ (ulcera), „verdorbener Säfte“ (collectio) und „Eiterbeulen“ (vomica) dazu dienen, dem mit Voranschreiten des Briefcorpus ebenfalls weiter vorangeschrittenen Adressaten die Notwendigkeit vor Augen zu führen, sich selbst noch mehr um die eigene moralische Verbesserung zu bemühen. 4.2.3 ‚Senecas‘ Scheitern an der Konsolidierung seines ethischen Fortschritts - epist. 7 und 87 In 75,8-15 unterscheidet und beschreibt ‚Seneca‘ drei hierarchisch geordnete Kategorien (classes) von proficientes: 92 Solche der obersten Kategorie haben einen festen Stand nahe bei (in vicinia; prope), jedoch außerhalb (extra) der Weisheit erlangt. Sie können nicht mehr von diesem Stand zurückfallen, ver‐ fügen über das für den Erwerb der Tugend grundlegende Wissen und haben alle Krankheiten der Seele (morbi animi) abgelegt. Ob sie frei von Affekten sind, bleibt offen (9-12). 93 Wegen mangelnder Praxis in der Anwendung ihres Wissens unterscheidet sie vom Weisen aber das Vertrauen auf und das Wissen um das, was sie erreicht haben (inexperta fiducia; scire se nesciunt). Menschen der zweiten Kategorie haben sich eines Großteils ihrer schlechten seelischen Eigenschaften (animi mala) und Affekte entledigt, können sich ihres Fortschritts anders als die proficientes der ersten Kategorie aber nicht sicher sein, da sie jederzeit wieder zurückfallen können (13). Proficientes der dritten Kategorie haben einige, jedoch längst nicht alle als vitia bezeichneten Schwächen und Fehler abgelegt. Doch ist auch das bereits als lobenswerte Leistung anzusehen (14-15). 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 163 <?page no="164"?> 94 Uhle (2018) 245. 95 Zu diesem kontradiktorischen Widerspruch s. Hengelbrock (2000) 10-16. 96 So z. B. 72,6: Hoc, inquam, interest inter consummatae sapientiae virum et alium procedentis quod inter sanum et ex morbo gravi ac diutino emergentem, cui sanitatis loco est levior accessio: hic nisi adtendit, subinde gravatur et in eadem revolvitur, sapiens recidere non potest, ne incidere quidem amplius. Corpori enim ad tempus bona valetudo est, quam medicus, etiam si reddidit, non praestat - saepe ad eundem qui advocaverat excitatur: animus semel in totum sanatur. S. dazu Hengelbrock (2000) 81-82. 97 Edwards (2019) 84 listet zahlreiche Forschungsliteratur zu epist. 7 auf. Ausgangspunkt meiner Ausführungen ist Maurach (1970) 45-47. ‚Seneca‘ selbst lässt sich der zweiten dieser Kategorien zuordnen. 94 Trotz gewisser Fortschritte beschreibt er immer wieder, wie er sich mit Rückschlägen und Rückschritten konfrontiert sieht, die ihn in falsche Denk- und Handlungs‐ muster zurückfallen lassen. Dadurch zeigt er zum einen, dass er hinsichtlich seines philosophischen Wissens und seines mitunter darauf basierenden ethi‐ schen Fortschritts zwar einen gewissen Vorsprung vor Lucilius für sich rekla‐ mieren kann, dass er sich als proficiens auf Grund des kontradiktorischen Wi‐ derspruchs zwischen sapiens und insipiens/ stultus aber trotz dieses Vorsprungs nicht über den Adressaten seiner Briefe erhebt. 95 Zum anderen verdeutlicht er durch die Erwähnung eigener Rückschritte, dass ethischer Fortschritt keine lineare Entwicklung ist und dass, um die von ihm selbst benutzte Analogie see‐ lischer und körperlicher Krankheiten zu bemühen, weder Linderung noch Ge‐ nesung einer ‚Krankheit‘ automatisch Immunität gegen erneute ‚Ansteckung‘ oder Schutz gegen einen erneuten ‚Ausbruch‘ bewirken, sondern oftmals nur temporär wirken oder nur Symptome kurieren, sofern man nicht durch eine umfassende ‚Heilung‘ den Status eines sapiens erreicht hat. 96 In den beiden Briefen epist. 7 und 87 beschreibt ‚Seneca‘ sein eigenes Scheitern als proficiens, indem er offen darüber spricht, dass er immer wieder in falsche Denk- und Handlungsmuster zurückfalle und es ihm deshalb misslinge, bereits errungene Teilerfolge auf dem Weg zur Weisheit zu konsolidieren. Die beiden folgenden Kapitel 4.2.3.1 und 4.2.3.2 untersuchen, wie ‚Seneca‘ das Eingeständnis und die Darstellung dieses Scheiterns und dieser Rückschritte nutzt, um auf der einen Seite Lucilius zu warnen, nicht in den Bemühungen um die eigene Verbesserung nachzulassen, und um sich auf der anderen Seite selbst als fachkundiger und glaubwürdiger Lehrer zu inszenieren. 4.2.3.1 ‚Senecas‘ Scheitern als Warnung für Lucilius - epist. 7 Epist. 7 ist der erste Brief der Sammlung, in dem ‚Seneca‘ seine Fallibilität ausdrücklich zur Sprache bringt (1: Ego certe confitebor inbecillitatem meam). 97 164 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="165"?> 98 Edwards (2019) 85 übersetzt ex eo quod composui mit „from the mental calm I have achieved“ und erklärt: „componere is often used by S. for the process by which philosophical exercise produces a state of mental calm (c.f. e.g. 2.1, 4.1, 23.7, 71.19-20, 95.57, 120.11).“ Zu epist. 6,1 s. S.-158 Anm.-84. 99 Auch sprachlich wird dieses Scheitern als ein sich wiederholender Prozess dargestellt, so Richardson-Hay (2006) 251-252: Die Adverbien numquam und nusquam (1) impli‐ zieren ebenso wie die Litotes nemo non und die Negation nihil (2), dass ‚Seneca‘ die genannten Konsequenzen bei jedem Kontakt mit der Menge verspürt. 100 7,1: Nondum illi [sc. turbae] tuto committeris. Das Temporaladverb nondum impliziert den für Seneca charakteristischen Fortschrittsgedanken, so Maurach (1970) 45. Er antwortet mit dem Brief auf eine Nachfrage des Lucilius, was man besonders meiden müsse, indem er vor dem schädlichen Einfluss anderer warnt (1-3, 6-12), und verdeutlicht diese Warnung durch den Hinweis auf sein eigenes Scheitern, indem er ausgehend von eigenen Erlebnissen auf die negativen Konsequenzen des Kontakts mit anderen zu sprechen kommt: Immer wenn sich ‚Seneca‘ in die Öffentlichkeit begebe, würden sich seine Charakterdispositionen auf Grund seiner eigenen inbecillitas zum Schlechten verändern (1: numquam mores quos extuli refero). Denn der Kontakt mit der Menge mache Teilaspekte seiner bereits am Beginn von epist. 6,1 angesprochenen Verbesserung rück‐ gängig und lasse schlechte Verhaltensweisen, die er sich mit Kraftanstrengung abgewöhnt habe, zurückkehren (aliquid ex eo quod composui turbatur, aliquid ex iis quae fugavi redit). 98 ‚Seneca‘ veranschaulicht sein Scheitern, positiven Veränderungen Dauer zu verleihen, indem er sich mit Kranken vergleicht, die auf dem Weg der Besserung, aber noch nicht vollkommen genesen sind: Wie diese einen Rückfall erleiden, wenn sie unter Menschen gehen, so mache auch er beim Kontakt mit der Menge wieder Rückschritte. 99 Er wisse also aus eigenem Erleben, wovor er warnt, und kann somit Glaubwürdigkeit für diese Warnung beanspruchen. Zwar gesteht ‚Seneca‘ Lucilius zu, bereits Fortschritte gemacht zu haben. 100 Er stellt sich selbst jedoch als weiter fortgeschritten dar, indem er Lucilius die Eingangsfrage des Briefs in den Mund legt, und unterstreicht so auch seine Warnung: Wenn selbst ‚Seneca‘ sich dem schädlichen Einfluss von Menschen nicht widersetzen kann, obwohl er um die Konsequenzen des Kontakts mit der unverständigen Mehrheit weiß, dann muss sich Lucilius umso mehr in Acht nehmen. Denn selbst bei ‚Seneca‘ träten nach einem Besuch von Zirkusspielen regelmäßig bereits vorhandene schlechte Charakterzüge erneut und sogar stärker als zuvor zu Tage (3: avarior redeo, ambitiosior, luxuriosior; immo vero crudelior et inhumanior, quia inter homines fui). 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 165 <?page no="166"?> 101 Zum Folgenden s. Jones (2014). 102 Ich stimme Jones (2014) nicht zu, dass ein Lehrer, der das Ideal der virtus nicht erreicht, als Heuchler angesehen wird (S. 402: „if the true standard of virtue is adopted, the teacher of Stoicism will be seen to fall short of it and dismissed as a hypocrite“). Jones geht bei ihrer Analyse von anderen Prämissen aus als ich. Sie sieht die in epist. 87 beschrieben Reise ‚Senecas‘ wie Allegri (2004) 15-19 als „theme weekend of pretend penury“ an (S. 416), also als Askese, wie sie z. B. in 18,5-6 empfohlen wird. Für diese Deutung finde ich jedoch keine Anhaltspunkte im Text. 103 Zur Metapher des Wegs und des Reisens s. S. 155 Anm. 74. Zur Metapher der Weisheit als sicherer Hafen und zur Metapher der Schiffahrt s. Armisen-Marchetti (1989) 153-154, 140-143, 270-271. Die Aussage, Schiffbruch vor dem Besteigen eines Schiffs erlitten zu haben, lässt sich als Ausdruck dafür verstehen, dass eine Unternehmung bereits vor ihrem Beginn zum Scheitern verurteilt ist, so Inwood (2007a) 241 mit Verweis auf Sen. contr. 7,1,4. Wie Summers (1983) 297 versteht Garbarino (1997) den ersten Satz des Briefs 4.2.3.2 ‚Senecas‘ Rückschritte auf dem Weg des Fortschritts - epist. 87 Madeleine Jones behandelt Brief 87 im Rahmen eines Aufsatzes über Heuchelei und Doppelmoral („hypocrisy“) in den Epistulae. 101 Sie versteht den Stoizismus als ein Denksystem, das „hypocrisy“ geradezu fördert, da jeder proficiens die stoische Lehre zwar vertreten, sie als insipiens/ stultus aber nie vollständig in die Tat umsetzen kann. Jones weist darauf hin, dass deshalb auch ‚Seneca‘ zum Scheitern an der vollständigen und dauerhaften Umsetzung der stoischen Lehre in der Praxis verurteilt ist, so lange er den Status eines proficiens innehat. Dennoch liest sie epist. 87 zu großen Teilen als Ausdruck seiner Doppelmoral und Heuchelei („hypocrisy“ als negativer Terminus, wie ihn Jones meinem Verständnis nach verwendet). Anders als Jones sehe ich die in epist. 87 zu Tage tretende Diskrepanz zwischen ‚Senecas‘ Wissen um das richtige Denken und Handeln und dessen Umsetzung in der Praxis jedoch nicht als eine solche „hypocrisy“ an, sondern als offen eingestandenes Scheitern: 102 ‚Seneca‘ befindet sich seiner Selbstdarstel‐ lung zufolge auf dem richtigen Weg, verfügt über richtige innere Einstellungen und zeigt richtige Verhaltensweisen, ist in seinem Fortschritt aber noch nicht gefestigt genug, um diesen Qualitäten Dauer verleihen zu können. Vielmehr bekennt er wie schon in epist. 7, unter bestimmten äußeren Umständen wieder in falsche Denk- und Handlungsmuster zurückzufallen. Der Brief beginnt mit ‚Senecas‘ Aussage, er habe Schiffbruch erlitten, noch bevor er ein Schiff bestiegen habe (1: Naufragium antequam navem ascenderem feci). In der Forschung wird diese Aussage als Ausdruck dafür verstanden, dass seine ‚philosophische (Schiffs-)Reise‘ zur Weisheit als ‚sicherem Hafen‘ trotz eventueller Fortschritte gar nicht gelingen kann, solange er als proficiens mit Fehlern behaftet ist. 103 ‚Seneca‘ nutzt die Metapher des Schiffbruchs, um 166 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="167"?> nicht als Ausdruck von Scheitern, sondern als Metapher dafür, dass sich ‚Seneca‘ vor der in §§ 1-5 beschriebenen Reise freiwillig materieller Dinge entledigt habe, deshalb wie ein Schiffbrüchiger nur über das verfüge, was er am Körper trage, und sich somit im Wesentlichen wie ein Weiser präsentiere. Zu Argumenten gegen diese Ansicht s. Allegri (1999). 104 S. dazu S.-158 Anm.-84. 105 Ich beschränke mich im Folgenden auf §§ 1-5. Brief 87 gliedert sich in zwei größere Teile, wobei § 11 als Überleitung fungiert. Die eigentliche Reisebeschreibung findet sich in §§ 1-5a, in §§ 5b-10 betont ‚Seneca‘ die Nichtigkeit materieller Güter, in § 11 leitet er zum zweiten Teil über, in dem er sich mit verschiedenen Auffassungen auseinandersetzt, ob Reichtum ein Gut und Tugend ausreichend für ein glückliches Leben sei (12-41). Zu dieser Gliederung s. Inwood (2007a) 239-240, zum zweiten, von mir nicht behandelten Teil s. Allegri (2004) 75-108. 106 Auch Garbarino (1997), Allegri (1999) und (2004) lesen die Reisebeschreibung metapho‐ risch. ein differenziertes Bild davon zu zeichnen, dass dem ethischen Fortschritt eines proficiens immer auch Rückschritte immanent sind: Als proficiens bleibt er zum Misserfolg in der dauerhaften praktischen Umsetzung der stoischen Lehre vorverurteilt und fällt deshalb immer wieder zum Anfang seiner ‚philo‐ sophischen Reise‘ zurück. Doch kann das Verhalten, das ein solches Zurück‐ fallen verursacht, auch einen Erkenntnisprozess auslösen, der andernorts als entscheidend für die eigene Verbesserung vorgestellt wird. 104 Infolgedessen kann ‚Seneca‘ zwar keineswegs klug im Sinne von weise, aber unter bestimmten Voraussetzungen zumindest klüger an den Ausgangspunkt seiner Reise zurück‐ kehren und davon ausgehend erneut starten, so dass seine eigenen Lern- und Entwicklungsprozesse zwischen die aufeinander folgenden Zyklen von Fort- und Rückschritt treten-(1: -Interim hoc me iter docuit). Das Bild der Reise aufgreifend führt ‚Seneca‘ dieses Wechselspiel zwischen Fort- und Rückschritt bis § 5 weiter aus. 105 Er kommt zwar nicht mehr auf das Bild der Seereise oder des Schiffbruchs zurück. Doch behauptet er, Brief 87 auf einer Reise zu schreiben, die sich ebenfalls als Metapher für seinen philosophischen Weg (1: iter) als proficiens verstehen lässt und die er in §§ 1-5 beschreibt. 106 Diese Reise habe ihn einerseits gelehrt, wie viele Dinge überflüssig seien (1: hoc me iter docuit quam multa haberemus supervacua et quam facile iudicio possemus deponere quae, si quando necessitas abstulit, non sentimus ablata). Wie er in §-4, auf den ich unten näher eingehe, sagt, habe ihm dieser Weg andererseits aber auch deutlich gemacht, dass er genau diese auf ihm gewonnenen Erkenntnisse nicht dauerhaft in konkretes Handeln umsetzen könne. In § 2 betont ‚Seneca‘ die Fähigkeit, in der Überschaubarkeit und Schlichtheit seiner Reisegruppe unabhängig von materiellen Dingen „zwei äußerst glück‐ liche Tage“ (2: biduum […] beatissimum) verbringen zu können, und inszeniert 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 167 <?page no="168"?> 107 87,2: Cum paucissimis servis, quos unum capere vehiculum potuit, sine ullis rebus nisi quae corpore nostro continebantur, ego et Maximus meus biduum iam beatissimum agimus. Allegri (2004) 20 zufolge ist die Erwähnung einer geringen Anzahl an Sklaven ein häufiges Motiv, um die Genügsamkeit tugendhafter Menschen zu verdeutlichen. Dass ‚Seneca‘ als Gepäck nur hat, was er am Körper trägt, bezeichnet Allegri als Metapher für seine Autarkie gegenüber äußeren Gütern. Angesichts des weiteren Verlaufs des Briefs sei aber dahingestellt, ob sich ‚Seneca‘ hier in eine Reihe mit Stilbon stellt, dem nach der Eroberung seiner Heimatstadt und dem Verlust von Familie und Eigentum in 9,18 folgender Ausspruch zugeschrieben wird: omnia mea mecum sunt. 108 87,2: Culcita in terra iacet, ego in culcita; ex duabus paenulis altera stragulum, altera opertorium facta est. 108,23 zufolge verwendet ‚Seneca‘ auf Anweisung seines Jugend‐ lehrers Attalos auch im Alter noch eine einfache harte Matratze. S. dazu Allegri (2004) 20-21. 109 87,3: De prandio nihil detrahi potuit; paratum fuit non magis hora, nusquam sine caricis, numquam sine pugillaribus; illae, si panem habeo, pro pulmentario sunt, si non habeo, pro pane. Reynolds (1965) setzt non magis hora in Cruces. S. dazu Inwood (2007a) 241. Als caricae bezeichnete trockene Feigen waren ein Lieblingsessen Zenos (Inwood 2007a, 241-242) und typisches Nahrungsmittel für Arme. Essgewohnheiten werden oftmals als Spiegel für den Lebensstil eines Menschen genutzt, so Allegri (2004) 21-23. 110 87,4: Vehiculum in quod inpositus sum rusticum est; mulae vivere se ambulando testantur; mulio excalceatus, non propter aestatem. 111 87,3: Cotidie [sc. caricae] mihi annum novum faciunt, quem ego faustum et felicem reddo bonis cogitationibus et animi magnitudine, qui numquam maior est quam ubi aliena seposuit et fecit sibi pacem nihil timendo, fecit sibi divitias nihil concupiscendo. Allegri (2004) 23-25 zufolge spielt der Satz auf den Brauch an, an Neujahr getrocknete Feigen als Ausdruck des Wunsches für ein ebenso süßes und angenehmes neues Jahr zu schenken; mit der Verbform reddo wende sich ‚Seneca‘ gegen die Vorstellung eines von äußeren Umständen abhängigen Glücks, das er sich nicht nur an Neujahr, sondern jeden Tag selbst verschaffen könne. sich damit als Mensch, der grundsätzlich dazu in der Lage ist, gemäß der von ihm selbst vertretenen Maximen zu leben. Er reise nur mit wenigen Sklaven und den Dingen, die er am Körper trage, 107 schlafe auf einer einfachen Matratze, 108 begnüge sich mit einfachem Essen, betreibe philosophische Studien 109 und fahre mit einem einfachen Wagen. 110 Er sei sogar dazu in der Lage, sich ohne fremdes Zutun jeden Tag unabhängig von materiellen Dingen und ohne Furcht vor Schicksalsschlägen eine „glückbringende und glückliche Zeit zu verschaffen“. 111 Dem stellt er das Bekenntnis gegenüber, diese als auszeichnend hervorgeho‐ benen Qualitäten nicht dauerhaft bewahren zu können. Denn kaum treffe er auf andere Reisegruppen, schäme er sich seiner einfachen Mittel (4-5): Vix a me obtineo ut hoc vehiculum velim videri meum: durat adhuc perversa recti verecundia, et quotiens in aliquem comitatum lautiorem incidimus invitus erubesco, quod argumentum est ista quae probo, quae laudo, nondum habere certam sedem et 168 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="169"?> 112 Übersetzung nach Rauthe (1996) und Nickel (2009). 113 Allegri (2004) 36-38 ordnet verecundia hier dem Begriff der αἰσχύνη zu, also der Angst, sich vor anderen zu blamieren, die daran hindere, das Richtige zu tun. Erröten (rubor) wird in epist. 11 als selbst von einem Weisen nicht kontrollierbare körperliche Reaktion dargestellt. Es besteht jedoch ein zentraler Unterschied zum vorliegenden Brief: In Brief 11 wird als Ursache des Errötens ausdrücklich keine infirmitas mentis (5), sondern die novitas der Situation für einen unerfahrenen Redner benannt. S. dazu Richardson-Hay (2006) 332. 114 Mit einem Realis leitet ‚Seneca‘ in § 5 eine direkte Rede ein, in der er darlegt, was er beim Aufeinandertreffen mit der anderen Reisegruppe hätte sagen müssen: Contra totius generis humani opiniones mittenda vox erat. S. dazu Inwood (2007a) 242. 115 Allegri (2004) 29. immobilem. Qui sordido vehiculo erubescit pretioso gloriabitur. (5) Parum adhuc profeci: nondum audeo frugalitatem palam ferre; etiamnunc curo opiniones viatorum. Kaum kann ich mich dazu durchringen, offen sehen zu lassen, dass dieser Wagen mir gehört: Hartnäckig hält sich bis heute die falsche Scham vor dem Richtigen, und so oft wir auf eine vornehmere Reisegruppe treffen, erröte ich gegen meinen Willen. Das ist der Beweis, dass das, was ich gutheiße, was ich lobe, noch keinen festen und unverrückbaren Platz in meinem Leben hat. Wer wegen eines schäbigen Wagens errötet, wird sich eines prachtvollen rühmen. (5) Bis heute habe ich zu wenig Fortschritt gemacht: Ich wage es noch nicht, meine Genügsamkeit öffentlich zu zeigen. Auch jetzt noch kümmere ich mich um die Meinungen der Reisenden. 112 Vor anderen habe ‚Seneca‘ seine ausdrücklich als „falsch“ bezeichnete „Scham für das richtige Verhalten“, also für den geringen materiellen Aufwand auf seiner Reise, trotz seiner im kleinen Kreis gezeigten richtigen inneren Haltung nicht dauerhaft ablegen können (durat adhuc perversa recti verecundia; invitus erubesco). 113 Er wisse zwar, dass er sich durch andere Reisende nicht von seiner Haltung gegenüber materiellen Dingen hätte abbringen lassen dürfen, sondern diese Haltung der anderen Reisegruppe gegenüber sogar als die einzig richtige hätte verteidigen müssen. 114 Gerade seine trotz Fortschritten immer noch bestehende „falsche Scham für das richtige Verhalten“ sei jedoch Beweis dafür, dass er nicht in der Lage dazu sei, diese von ihm als richtig (an-)erkannte Haltung auch außerhalb des privaten Raums einzunehmen (argumentum est ista quae probo, quae laudo, nondum habere certam sedem et immobilem). Dieser Kontrast zwischen theoretischem Wissen und dem Scheitern in dessen praktischer Anwendung verdeutlicht, wie schwer die Konsolidierung ethischen Fortschritts ist. 115 Mit der Beschreibung, wie sich seine Genügsamkeit in der Anwesenheit anderer in Luft auflöst, verdeutlicht ‚Seneca‘, dass die richtige 4.2 ‚Senecas‘ seelische Fallibilität 169 <?page no="170"?> 116 Allegri (1999) 90. 117 Garbarino (1997) 151. Armisen-Marchetti (2004) 316-317 erkennt in der Reisebeschrei‐ bung und der Schilderung von ‚Senecas‘ Scheitern Komik und Selbstironie. Auch wenn ich diese Auffassung nicht teile, stimme ich der von Armisen-Marchetti beschriebenen Funktion der Selbstdarstellung ‚Senecas‘ in epist. 87 zu: „En se raillant lui-même, Sénèque ne se contente con pas d’amuser son lecteur, mais il adopte une véritable stratégie didactique et philosophique: il signifie bien à son disciple qu’il n’est pas le sage omniscient et dogmatique, le maître vénéré dont la parole aurait une force oraculaire; il n’est même pas le maître au sens premier du terme, c’est-à-dire celui qui sait face à celui qui ne sait pas. L’autodérision humoristique au contraire l’installe sur le même plan son élève, abolissant toute relation de supériorité et toute tension. L’un et l’autre sont des amis cherchant la vérité de conserve; le premier est certes un peu plus avancé que l’autre, mais si peu“ (S.-321). 118 Allegri (1999) 93. innere Einstellung im Privaten zwar ein erster und wichtiger Schritt, aber keinerlei Garantie für ethischen Fortschritt ist. 116 Das ist keine Abwertung oder gar Zurücknahme der im bisherigen Verlauf des Briefcorpus erteilten Paränesen und soll auch nicht zeigen, dass jede Bemühung, sie in die Tat umzusetzen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. ‚Seneca‘ behauptet mit dem ersten Teil der vorliegenden Reisebeschreibung ja, grund‐ sätzlich zu richtigem Denken und Handeln fähig zu sein. Er sei lediglich „bis jetzt zu wenig“ beziehungsweise „noch nicht“ weit genug vorangeschritten (4: durat adhuc; nondum; parum adhuc profeci; 5 nondum; etiamnunc). Die Möglichkeit zu weiterer Verbesserung besteht also. Dass er bisher zu wenig erreicht zu haben behauptet, kann somit auf der einen Seite als Hinweis auf bisherige Erfolge verstanden werden und auf der anderen Seite als Eingeständnis, wie viel es auch für ihn noch zu tun gibt, um falsche Werturteile auszumerzen. 117 ‚Senecas‘ Bekenntnis eigenen Scheiterns ist eine wirkungsvolle Warnung an ihn selbst, aber auch an Lucilius, nicht in ihren Bemühungen nachzulassen. 118 Denn selbst wenn der Rückschritt dem Fortschritt eines jeden proficiens immanent ist, wie schon der erste Satz des Briefs verdeutlicht, selbst wenn man das Ziel der Weisheit also nur sehr schwer oder gar nicht erreichen kann, lohnt sich das Streben danach. Wie ‚Seneca‘ mit Hilfe des stoischen Konzepts des Fortschritts anhand seiner eigenen Person zeigt, führt die Bemühung um richtiges Handeln vielleicht sogar nie zu diesem Ziel. Sie kann aber dabei helfen, zumindest auf Teilstrecken des philosophischen Wegs oder zumindest vorübergehend ethisch richtig zu handeln. 170 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="171"?> 119 Neben den in dieser Arbeit behandelten Briefen z. B. in den epist. 65, 67, 78 und 104. Viele entsprechende Passagen sind als Aufhänger sehr kurz gehalten. Krankheit und Gebrechlichkeit der Autor-persona erwähnen, teils im übertragenen Sinne zur Bezeichnung von Krankheiten des animus, auch dial. 2 (const. sap.) 16; dial. 7 (vit. beat.) 17,4; dial. 12 (ad Helv.) 19,1. 120 S. dazu S.-139 Anm.-13. 121 Zu solchen als Aufhänger fungierenden Briefanfängen s. Cancik (1967) 68-72, 89-91; Ker (2009a) 151-152. Zum Vorwurf der Hypochondrie s. Courtil (2015) 127-146. Zu Diagnoseversuchen s. z.-B. Griffin (1976) 42-43; Berno (2006) 123-124. 122 S. dazu S.-155 Anm.-73. 123 Zur Datierung der Epistulae s. Edwards (2019) 3; Soldo (2021) xiii-xiv. 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität ‚Seneca‘ kommt im Verlauf der Briefsammlung immer wieder auf seine körper‐ liche Fallibilität zu sprechen. 119 Mitteilungen über das eigene Wohlbefinden sind typische Elemente antiker Briefe. 120 Die Forschung liest sie im Falle der Epistulae oft als rein funktionelle Gesprächseröffnungen oder als Ausdruck der vermeintlichen Hypochondrie des historischen Autors oder macht sie zur Grundlage biographistischer Diagnoseversuche. 121 Ich will im Folgenden hin‐ gegen fragen, welche persuasiven Funktionen die Darstellung des Alters und der Altersgebrechlichkeit sowie der körperlichen Krankheiten der Autor-persona ‚Seneca‘ hat. Dazu nehme ich in Kapitel 4.3.1 in den Blick, wie ‚Seneca‘ sein Alter und seine damit einhergehende körperliche Gebrechlichkeit in epist. 12 und 26 ausdrücklich als Belastung beschreibt, jedoch auch auf potentielle Vorzüge hinweist, die beide mit sich bringen können. In Kapitel 4.3.2 untersuche ich die Darstellung körperlicher Krankheiten in epist. 54 und 78. Die Symptome der in epist. 8, 27 und 68 erwähnten Krankheiten bleiben auf Grund ihrer meta‐ phorischen Verwendung unbestimmt. In den Briefen 54 und 78 hingegen wird das Bild der Krankheit nicht im übertragenen Sinn gebraucht. Vielmehr spricht ‚Seneca‘ hier ausdrücklich über gesundheitliche Beschwerden und Schmerzen als Manifestationen seiner körperlichen Fallibilität. 4.3.1 Mögliche Vorteile des Alters - epist. 12 und 26 Der Absender der Epistulae inszeniert sich insbesondere in den Briefen 1-29 als Mann, dessen Tod unmittelbar bevorsteht. 122 Auch ohne Rückbezug auf den historischen Autor, der zum Entstehungszeitpunkt der Epistulae über 60 Jahre alt war, ist es somit auf textimmanenter Ebene plausibel, dass ‚Seneca‘ häufig über das eigene Alter und dessen Folgen schreibt. 123 Dabei stellt er mehrfach die Vorzüge heraus, die sein Alter trotz der physischen Gebrechlichkeit, die es 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 171 <?page no="172"?> 124 Edwards (2005) nennt die im Folgenden angeführten und weitere Passagen, geht aber nicht näher auf sie ein. 125 Zu 12,5-6 s. S.-176 Anm.-141. 68,13: Haec aetas optime facit ad haec studia: iam despumavit, iam vitia primo fervore adulescentiae indomita lassavit; non multum superest ut extinguat. 126 67,2: Ago gratias senectuti quod me lectulo adfixit: quidni gratias illi hoc nomine agam? Quidquid debebam nolle, non possum. Cum libellis mihi plurimus sermo est. 127 83,3: Hodiernus dies […] totus inter stratum lectionemque divisus est; minimum exercitationi corporis datum, et hoc nomine ago gratias senectuti: non magno mihi constat. Cum me movi, lassus sum; hic autem est exercitationis etiam fortissimis finis. Die Briefe 14 und 15 empfehlen moderates Fitnesstraining, dessen Ziel körperliche Ermüdung ist. S. dazu Soldo (2021) 80, 83-87, 112-133. 128 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf 12,1-5. In diesem ersten Teil von Brief 12 berichtet ‚Seneca‘ über sich selbst und die Konfrontation mit seinem Alter (senectus). Mit senectus wird i. d. R. das Alter ab 60 Jahren bezeichnet, so Eyben (1973). Edwards (2019) 96-97 listet zahlreiche Forschungsliteratur zu epist. 12 auf, die sich hauptsächlich mit dem zweiten Teil des Briefs beschäftigt, in dem ‚Seneca‘ fordert, sich jeden Tag auf den eigenen Tod vorzubereiten. mit sich bringe, habe. 124 Beispielsweise lasse es vor allem körperliche Begierden abklingen (12,5-6; 68,13), 125 fessle ans Bett, halte so von falschen Handlungen ab und ermögliche intensive Lektüre (67,2). 126 ‚Seneca‘ berichtet auch davon, dass sein Körper schnell ermüde und deshalb mehr Zeit für Betätigung des animus bleibe (83,3). 127 Am Anfang der Briefsammlung zeichnet er in epist. 12 und 26 jedoch ein mehrschichtiges Bild seiner Einstellung gegenüber dem Alter und dem Älterwerden. 4.3.1.1 ‚Senecas‘ Scheitern an der Akzeptanz des eigenen Alterns-- -epist.-12 Im ersten Teil von epist. 12 beschreibt ‚Seneca‘ einen Zornesausbruch und damit ein Verhalten, das primär aus dem Zustand seines animus resultiert. Ich behandle den Brief jedoch im Kontext körperlicher Fallibilität. Denn zum einen ist der Anlass des geschilderten Zornesausbruchs ‚Senecas‘ Erkenntnis seines eigenen Alters und des damit einhergehenden physischen Verfalls. Zum anderen ist Brief 12 sehr eng mit Brief 26 verknüpft, der sich ebenfalls mit körperlichen Verfallsprozessen auseinandersetzt, in dem ‚Seneca‘ aber noch stärker als in Brief 12 auf deren mögliche Vorteile hinweist. 128 In epist. 12 lassen sich zwei Zeitebenen unterscheiden: In der evozierten Kommunikationssituation sind der erste Satz nach der Grußformel und §§ 4-11 in der Gegenwart ‚Senecas‘ als Verfasser des Briefs geschrieben; in §§ 4-5 fordert er dazu, das Alter willkommen zu heißen, da es voller voluptas sei, wenn man es zu nutzen wisse. In §§ 1-3 hingegen schildert er im Rückblick, wie ihm genau 172 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="173"?> 129 Die Schilderung in §§ 1-3 wird mit rückblickenden Verben im Plusquamperfekt und Imperfekt eröffnet (1: veneram; querebar). Darauf folgende Verbformen im Präsens dienen dazu, Anschaulichkeit zu erzeugen. Die Abfassungszeit der Briefs wird evoziert durch die präsentischen Verbformen video (1) und debeo (4), die Hortative conplectamur und amemus (4) und durch im Präsens formulierte konstatierende Aussagen in §§ 4-5. Es bleibt unklar, ob ‚Seneca‘ den Brief auf seinem Landgut oder anderswo verfasst hat. Mit „Landgut“ übersetze ich das lateinische suburbanum (1 und 4). Eine villa suburbana lag außerhalb, aber nicht allzu weit entfernt von Rom (Edwards 2019, 97). In 104,1 und 110,1 erwähnt ‚Seneca‘ ein Nomentanum, in 123,1 ein Albanum. Welches Landgut hier gemeint ist, wird nicht gesagt und ist nicht relevant. Watson/ Watson (2009) 213-221 gehen im Detail darauf ein, dass der in epist. 12 beschriebene Besuch ein literarisches Konstrukt ist. 130 Zum ‚Alter‘ des Landhauses s. S.-175 Anm.-138. 131 Zu Platanen als Element im Setting philosophischer Dialoge s. Ronnick (1999) 224-228: Anders als in Plat. Phaidr. und Cic. de orat. spenden die Platanen hier keinen Schatten, sondern stehen als Symbol für die Sterblichkeit des Menschen. das bei einem Besuch auf seinem Landgut nicht gelungen ist und er mit Zorn und gehässigem Spott auf Personen reagiert hat, die ihm die eigene Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit vor Augen geführt haben. 129 ‚Seneca‘ nennt keinen Anlass für den Besuch seines Landguts und lässt die Nacherzählung dieses Besuchs mit seiner Beschwerde über die Kosten des vom Einsturz bedrohten Gebäudes beginnen (1: Veneram in suburbanum meum et querebar de inpensis aedificii dilabentis). Auf diese Beschwerde hin habe der Gutsverwalter beteuert, dass er nichts gegen den Verfall des Gebäudes ausrichten könne, da er ein unabwendbarer und altersbedingter Prozess sei (Ait vilicus mihi non esse neglegentiae suae vitium, omnia se facere, sed villam veterem esse). In der nacherzählten Situation gelingt es ‚Seneca‘ nicht, sich mit dieser Erklärung zufrieden zu geben. Da ihm der heruntergekommene Zustand des Gebäudes die eigene Vergänglichkeit verdeutlicht, versetzt ihn die Erklärung des Verwalters vielmehr in Beunruhigung und lässt ihn sich fragen, was ihm selbst bevorsteht, wenn bereits die Steine einer Villa morsch sind, die er selbst erbaut oder zumindest erweitert hat und die somit gleich alt wie er ist (Haec villa inter manus meas crevit: quid mihi futurum est, si tam putria sunt aetatis meae saxa? ). 130 Als Reaktion auf die Erklärung des Verwalters und die Beunruhigung, die sie bei ihm ausgelöst habe, sei er, so ‚Senecas‘ rückblickende Schilderung, in Zorn verfallen und habe geradezu nach einer Möglichkeit gesucht, diesem freien Lauf zu lassen (2: Iratus illi proximam occasionem stomachandi arripio). Er habe die Nachlässigkeit des Verwalters auch für den knorrigen und kahlen Zustand der Platanen vor dem Haus verantwortlich machen wollen. 131 Doch habe der Verwalter erneut jede Schuld von sich gewiesen und den Zustand der Bäume ebenfalls mit deren Alter erklärt (Iurat per genium meum se omnia facere, in 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 173 <?page no="174"?> 132 Zumindest erweckt ‚Seneca‘ diesen Eindruck, indem er die drei Situationen, in denen er mit seinem Alter konfrontiert wurde, immer anschaulicher beschreibt: Über den schlechten Zustand des Gebäudes erfährt man in §-1 lediglich aus seiner Beschwerde, die Erwiderung des Verwalters ist in indirekter Rede formuliert. Der Zustand der Platanen wird in § 2 durch die zitierte direkte Rede ‚Senecas‘ mit fünf Eigenschaften genau beschrieben (s. dazu Watson/ Watson 2009, 217-219). Die Erwiderung des Verwalters ist erneut in indirekter Rede gehalten, wird jedoch intensiviert, da sie anders als in-§-1 nicht durch ein bloßes ait eingeleitet, sondern als Beteuerung präsentiert wird (iurat per genium meum). ‚Senecas‘ gehässiger Spott über Felicio ist in § 3 wie die Erwiderungen des Sklaven in direkter Rede formuliert, so dass sich sogar ein kurzer Wortwechsel ergibt: Die Reden ‚Senecas‘ gehen detailliert auf Felicios Gebrechlichkeit ein, Felicio erwähnt Einzelheiten ihres früheren Verhältnisses. Eine Steigerung erfolgt auch, indem ‚Seneca‘ zunächst über ein lebloses Gebäude, dann über lebende, aber nichtmenschliche Pflanzen und schließlich über einen Menschen spricht und dabei immer schlechteres Verhalten zeigt. 133 Felicio selbst bezeichnet sich mit dem außer bei Cic. Att. 1,8,4 (dort jedoch deliciolae) nicht belegten Deminutiv deliciolum. ‚Seneca‘ greift das auf, nennt ihn aber delicium. Zur Bedeutung von deliciolum bzw. delicium s. Richardson-Hay (2006) 357; Edwards (2019) 100. Beide weisen auf eine mögliche sexuelle Konnotation hin. 134 Watson/ Watson (2009) 219 mit Anm.-56 argumentieren, dass Felicio höchstens Mitte 50 ist, ‚Seneca‘ hingegen über 60; ähnlich Edwards (2005) 14. 135 Edwards (2019) 93: „Ep. 12 opens with the image of an old man who has not yet fully absorbed the lessons of philosophy.“ 136 Das legt § 4 nahe, in dem ‚Seneca‘ andeutet, dass erst der Besuch des Landguts ihn sein Alter habe gewahr werden lassen: Debeo hoc suburbano meo, quod mihi senectus mea quocumque adverteram apparuit. nulla re cessare curam suam, sed illas [sc. platanos] vetulas esse), so dass ‚Seneca‘ seinen Zorn auf etwas anderes habe richten müssen. Der Brief beschreibt, wie er sich weiter in diesen Zorn hineingesteigert 132 und einen auf der Türschwelle des Gebäudes sitzenden Sklaven betrachtet habe, den er trotz dessen Beteuerung nicht als seinen früheren ‚Spielkameraden‘ und Lieblingssklaven Felicio erkannt habe oder erkennen habe wollen (3). 133 Gehässig habe er sich daraufhin über Felicio lustig gemacht, indem er den alten und gebrechlichen Mann als Toten bezeichnet und für seine ausgefallenen Zähne verspottet habe. Dabei habe ‚Seneca‘ verkannt, dass Felicio sogar jünger als er selbst und sein eigener körperlicher Zustand deshalb wohl nicht wesentlich besser als derjenige des Sklaven sei. 134 Mit dieser detaillierten Schilderung bekennt ‚Seneca‘, beim Besuch seines Landguts verschiedene falsche Verhaltensweisen gezeigt zu haben, die er nach Jahren der philosophischen Tätigkeit nicht hätte zeigen dürfen: 135 Er hat sich von der Erkenntnis der eigenen Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit beunruhigen lassen. Entweder hat er sich innerlich also noch nicht ausreichend auf den eigenen Tod als unausweichliche Folge körperlichen Alterns vorbereitet und damit eine der zentralen Forderungen der Epistulae nicht in die Tat umgesetzt. 136 Oder er wusste um sein Alter und den damit einhergehenden körperlichen 174 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="175"?> 137 Wie Watson/ Watson (2009) 222 und Edwards (2019) 97 betonen, handelt ‚Seneca‘ damit gegen Ratschläge, die er in dial. 3-4 (de ira) gegeben hat und die er in späteren Briefen geben wird (z.-B. 18,14-15 und 47,17 zum Umgang mit Sklaven). 138 Folgende Aspekte lassen die Schilderung überspitzt wirken: ‚Seneca‘ hat das Landhaus frühestens in seiner Jugend erworben, es ist also mindestens ca. 15 Jahre jünger als er und deshalb kaum so baufällig wie hier beschrieben (s. dazu Watson/ Watson 2009). Er steigert sich geradezu in seinen Zorn hinein (s. dazu S. 174 Anm. 132). Der körperliche Zustand des Felicio ist, auch wenn er Sklave ist, wohl so desolat zu denken wie beschrieben. 139 Es wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich in den philosophischen und auch in den dramatischen Werken des historischen Seneca des Öfteren satirische Darstellungen menschlichen Fehlverhaltens finden. In der Forschung wird jedoch meist nur ‚Senecas‘ satirische Darstellung des Verhaltens anderer untersucht. S. dazu z. B. Motto/ Clark (1994); Edwards (2017); Fuhrer (2018) 111-112 mit weiterführender Literatur in Anm. 53. Zur satirischen Selbstdarstellung ‚Senecas‘ liegen nur wenige Arbeiten vor, z.-B. Armisen-Marchetti (2004). S. dazu S.-189-190 mit Anm.-192. Graver (2023) 227 verweist darauf, dass ‚Seneca‘ Humor einsetzt, um Grenzen sowie deren Überschreitung und damit Fehlverhalten anderer und seiner selbst zu verdeutlichen. Zu kynischen Elementen solcher satirischen (Selbst-)Kritik s. die in S. 49 Anm. 88 angeführte Literatur. Zum Begriff des Satirischen und der Satire s. S.-25. Verfall, war aber nicht bereit, beides zu akzeptieren. Denn anders als er es in §§ 4-5, also zum behaupteten Abfassungszeitpunkt von epist. 12 fordert, konnte oder wollte er beim Besuch seines Landguts die möglichen Vorzüge des Älterwerdens nicht erkennen, sondern hat mit heftigem Zorn und gehässigem Spott auf Personen reagiert, die ihm seine Gebrechlichkeit vor Augen geführt haben. 137 Die besprochene Passage lässt sozusagen hinter die Fassade blicken und zeigt ‚Seneca‘ hier nicht als fortgeschrittenen stoischen Philosophen, sondern als falliblen Menschen, der in §§ 1-3 nicht nur schildert, wie er daran gescheitert ist, die potentiellen Vorzüge des Alters zu erkennen und sich wie von ihm selbst gefordert innerlich auf den eigenen Tod einzustellen, sondern auch, wie er daran gescheitert ist, seine Emotionen zu kontrollieren. ‚Seneca‘ beschreibt sein Fehlverhalten als gebrechlicher, vor allem aber als zorniger und gehässig spottender Mann dabei wesentlich detaillierter als in anderen Briefen. Gerade diese Detailliertheit lässt die vorliegende Schilderung auch überspitzt wirken, 138 so dass sie sich auch als satirische (Selbst-)Darstellung ‚Senecas‘ verstehen lässt, der hier anhand seiner eigenen Person anschaulich vor Augen führt, wie lächerlich es wirkt und wie falsch es ist, sich in eine Emotion wie ungerechtfer‐ tigten Zorn gegenüber anderen hineinzusteigern, anstatt sich selbstkritisch und konstruktiv mit eigenem Fehlverhalten (hier die fehlende innere Vorbereitung und Akzeptanz des eigenen Alterns) auseinanderzusetzen. 139 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 175 <?page no="176"?> 140 Zur Endstellung des Briefs am Ende von Buch 1 s. Hachmann (1995) 99-116, der überzeugend gegen die These von Maurach (1970) 25-74 argumentiert, epist. 11 sei als Abschluss einer Einheit der Briefe 1-11 anzusehen, epist. 12 hingegen als Beginn einer Einheit der Briefe 12-15. Zur Einheit des zweiten Buchs der Epistulae, also Brief 13-21, s. Soldo (2021) xvii-xxiii. Zur Darstellung von ‚Senecas‘ Scheitern an der Konsolidierung seines ethischen Fortschritts in epist. 7 und 87 s. Kap. 4.2.3. 141 Diese voluptas ist positiv konnotiert. Sie steht für die tranquillitas animi, die darin besteht, nicht mehr von körperlichen Vergnügungen abhängig zu sein und keine Begierden mehr zu verspüren, so 12,5: Iucundissima est aetas devexa iam, non tamen praeceps, et illam quoque in extrema tegula stantem iudico habere suas voluptates; aut hoc ipsum succedit in locum voluptatium, nullis egere. Quam dulce est cupiditates fatigasse ac reliquisse! S. dazu Hachmann (1995) 101-102 mit Anm. 1; Edwards (2019) 100-101, die auch auf Gemeinsamkeiten der Argumentation des vorliegenden Briefs mit Cic. Cato hinweist. Ähnlich neben 68,13 auch 26,3: quae enim querela est, quod incommodum, si quidquid debebat desinere defecit? 142 Zu solchen Lern- und Erkenntnisprozessen s. S.-142 mit Anm.-27 und S.-158 Anm.-84. Mit seiner Inszenierung als fallibler und in seinem Fehlverhalten teils sogar lächerlich wirkender proficiens kann ‚Seneca‘ Lucilius nicht nur vor dem hier be‐ schriebenen Fehlverhalten warnen. Er kann am Ende von Buch 1 auch nochmals prominent in Erinnerung rufen, selbst fallibel zu sein und in seinem Bemühen um eine konstruktive Auseinandersetzung mit seiner Fallibilität auch immer wieder zu scheitern. 140 Dass ‚Seneca‘ nicht darum bemüht zu sein scheint, nur von richtigem Verhalten berichten zu wollen, stellt ihn dabei als glaubwürdig dar und lässt seine Aussagen zum Abschluss des ersten Buchs authentisch wirken. Des Weiteren ist das offene Eingeständnis seines Fehlverhaltens dazu geeignet, die Aufmerksamkeit des Lucilius zu wecken und ihn so auf den zweiten Teil des Briefs vorzubereiten. Dort fordert ‚Seneca‘ dazu auf, das Alter willkommen zu heißen und zu lieben. Denn unter der Voraussetzung, dass man es zu nutzen wisse, sei es voller voluptas (4: Conplectamur illam [sc. senectutem] et amemus; plena est voluptatis, si illa scias uti). 141 Anhand seiner eigenen Person führt ‚Seneca‘ zuvor in §§ 1-3 jedoch vor, wie schwer es ist, diese Forderung und auch die Voraussetzung des Wissens um den richten Umgang mit dem eigenen Altern zu erfüllen. Er zeigt durch die Gestaltung des Briefs auf zwei Zeitebenen, die seine eigene Entwicklung implizieren, aber auch, dass Scheitern und Fehlverhalten Lernprozesse in Gang setzen können. 142 176 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="177"?> 143 So z. B. auch Hachmann (1995) 105. Anders Maurach (1970) 102-104, der die Verbindung mit epist. 24 und 25 für wesentlich offensichtlicher und wichtiger hält als die mit epist.-12. 144 26,1: Modo dicebam tibi in conspectu esse me senectutis: iam vereor ne senectutem post me reliquerim. Aliud iam his annis, certe huic corpori, vocabulum convenit, quoniam quidem senectus lassae aetatis, non fractae nomen est. 145 ‚Seneca‘ bezeichnet Felicio in 12,3 ebenfalls als decrepitus. Das Adjektiv wird in den Epistulae nur an diesen beiden Stellen verwendet, in den übrigen Werken Senecas nur in dial. 10 (brev. vit.) 11,1. 146 Zur Bedeutung von iniuria s. TLL 7,1,1674,69-79. 147 26,2: Gratias tamen mihi apud te ago: non sentio in animo aetatis iniuriam, cum sentiam in corpore. Tantum vitia et vitiorum ministeria senuerunt: viget animus et gaudet non multum sibi esse cum corpore; magnam partem oneris sui posuit. Exultat et mihi facit controversiam de senectute: hunc ait esse florem suum. 148 26,3: Ire in cogitationem iubet et dispicere quid ex hac tranquillitate ac modestia morum sapientiae debeam, quid aetati, et diligenter excutere quae non possim facere, quae nolim, proinde habiturus atque si nolim quidquid non posse me gaudeo. Bei der Umschreibung dieser Selbstreflexion impliziert ‚Seneca‘ sogar, nicht nur philosophische Bemühungen 4.3.1.2 Körperliches Altern als mögliche Unterstützung des ethischen Fortschritts - epist. 26 Bereits der erste Satz der epist. 26 verdeutlicht die enge Verbindung zu epist. 12. 143 Hatte ‚Seneca‘ dort von seiner senectus gesprochen, sagt er hier, diese Altersstufe schon überschritten zu haben. Anders als im früheren Brief verdeutlicht er diesen Zustand dabei nicht durch Vergleiche, sondern spricht ihn direkt an: Die Bezeichnung senectus sei insbesondere im Hinblick auf seinen Körper nicht mehr passend, da dessen Kräfte nicht mehr nur nachlassen würden, sondern bereits gebrochen seien (1). 144 Lucilius solle ihn deshalb als „altersschwachen Greis“ bezeichnen, der schon am Rande des Todes stehe, sich ‚Seneca‘ also wie den in 12,3 als äußerst gebrechlich beschriebenen Felicio vorstellen (inter decrepitos me numera et extrema tangentis). 145 ‚Seneca‘ weist also darauf hin, dass seine körperliche Gebrechlichkeit im Vergleich zu epist. 12 sehr viel weiter fortgeschritten ist, und bezeichnet diesen Umstand ausdrücklich als unangenehm, indem er davon spricht, die aetatis iniuria am eigenen Körper zu spüren (2). 146 Er erwähnt jedoch keinerlei Schwierigkeiten, sein physisches Altern zu akzeptieren, sondern behauptet in §§ 2-5, gerade dessen Vorteile am eigenen Leib zu erfahren: Mit seinem Körper seien ausschließlich schlechte Eigenschaften gealtert. Sein animus hingegen könne sich gerade wegen seiner körperlichen Gebrechlichkeit allmählich von seiner materiellen Hülle lösen und stehe auch deshalb in voller Blüte (2). 147 Infolgedessen dränge sein animus ‚Seneca‘ geradewegs dazu, sein Denken und Handeln kritisch zu hinterfragen (3). 148 ‚Seneca‘ präsentiert das Nachlassen 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 177 <?page no="178"?> (sapientia), sondern allein das bloße Älterwerden (aetas) zumindest teilweise für die positiv konnotierten Eigenschaften der tranquillitas und der modestia morum verant‐ wortlich zu machen. Hachmann (1995) 106 zufolge deklariert er seine tranquillitas hier als ein Geschenk des Alters, um die Gefahr zu vermeiden, überheblich zu wirken. 149 Zu diesen Zeitebenen in epist. 12 s. S.-173 Anm.-129. 150 Lucilius wird in 26,4 folgender Einwand in den Mund gelegt: ‚Incommodum summum est‘ inquis ‚minui et deperire et, ut proprie dicam, liquescere. Non enim subito inpulsi ac prostrati sumus: carpimur, singuli dies aliquid subtrahunt viribus.‘ 151 26,4: Ecquis exitus est melior quam in finem suum natura solvente dilabi? non quia aliquid mali ictus est et e vita repentinus excessus, sed quia lenis haec est via, subduci. seiner körperlichen Kräfte, mit dem in seinem Falle auch ein Nachlassen seiner seelischen vitia einhergeht, dadurch als etwas, das für seine sittliche Verbesserung hilfreich war und ist. Indem er Brief 12 und 26 eng miteinander verknüpft, weist er nicht nur auf das Voranschreiten seines körperlichen Verfalls hin, sondern deutet auch eine innere Entwicklung an. Durch die unterschiedlichen Zeitebenen wird bereits in epist. 12 ein gewisser Fortschritt impliziert: Anders als in der rückblickend beschriebenen Situation in 12,1-3 ist ‚Seneca‘ zum evozierten Abfassungszeitpunkt in 12,4-5 dazu in der Lage, das Abflachen von Begierden als Vorteil des Älterwerdens zumindest zu benennen. 149 In epist. 26 inszeniert er sich als noch älter, geht zugleich ausführlicher auf die Vorzüge seines Älterwerdens ein und lässt sich nicht mehr durch sein Alter beunruhigen oder sogar in Zorn versetzen. In 12,4-5 weist er lediglich allgemein darauf hin, dass das Alter Begierden abflachen lasse und unter bestimmten Bedingungen angenehm sein könne. In 26,2-3 hingegen betont er nicht nur, dass seine Begierden abflachen würden, sondern auch, dass sein Alter und auch sein physischer Verfall seinen animus zur Reflexion anregen und dadurch seinen ethischen Fortschritt geradezu vorantreiben würden. Lucilius habe, so vermutet ‚Seneca‘ in § 4, jedoch Schwierigkeiten, diesen Standpunkt zu teilen, da er das Nachlassen physischer Kräfte ausdrücklich als Unglück und allmähliches Dahinsiechen empfinde. 150 Hatte ‚Seneca‘ in 12,1-3 noch eine ähnliche Einstellung, widerspricht er seinem Briefpartner hier ausdrücklich und kommt dabei auf einen weiteren potentiellen Vorteil des Älterwerdens zu sprechen, indem er es ausdrücklich als einen natürlichen Auflösungsprozess sowie als einen sanften Übergang in den Tod und damit als Möglichkeit bezeichnet, sich auf das eigene Sterben vorzubereiten (4). 151 Zwar schreibt er sich in 26,3 die Eigenschaft der tranquillitas zu und suggeriert in 26,4-5, dass er sein Älterwerden nutze, um sich auf seinen Tod vorzubereiten. Er sagt aber dennoch nicht, am Ziel seiner Bemühungen angekommen zu sein, indem er ausdrücklich darauf hinweist, den Tod als die entscheidende 178 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="179"?> 152 26,4-6: Ego certe, velut adpropinquet experimentum et ille laturus sententiam de omnibus annis meis dies venerit, ita me observo et adloquor: ‚nihil est‘ inquam ‚adhuc quod aut rebus aut verbis exhibuimus; levia sunt ista et fallacia pignora animi multisque involuta lenociniis: quid profecerim morti crediturus sum. […] Remove studia tota vita tractata: mors de te pronuntiatura est.‘ 153 Zu diesem Verhältnis von animus und corpus s. z. B. Smith (2014); Kreuzwieser (2016) 37-59; Soldo (2021) 80-87. 154 Zum Folgenden s. Edwards (1999), (2005) und (2024). 155 Zu dieser Anthropologie der Schwäche s. S.-12-13 mit Anm.-10. 156 Zu Metapher der Kriegsführung s. z. B. 13,1-3 (s. dazu Soldo 2021, 51-60); 78,16 (s. dazu Edwards 1999, 60). Diese Argumentation ist derjenigen in dial. 1 (prov.) vergleichbar, wo sich ebenfalls viele Kampf- und Kriegsmetaphern finden (z. B. 2,3; 3,4; 4,4). In epist. 67,14 und 82,11 wird behauptet, dass sich virtus nur im Umgang mit Phänomenen wie Krankheit, Schmerz, Armut, Exil und Tod zeigen könne. S. dazu Edwards (1999) 254-255 mit Anm.-11 und (2024) 139-142. Prüfung der eigenen Haltung noch nicht überbeziehungsweise bestanden zu haben-(5-6). 152 4.3.2 ‚Senecas‘ Expertise im Umgang mit körperlichen Krankheiten - epist. 54 und 78 Senecas Philosophica weisen dem Körper eine dienende Funktion gegenüber der Seele zu: Dem animus ist Vorrang gegenüber dem corpus einzuräumen. 153 Angesichts dieses Primats der Seele hält Catharine Edwards fest: 154 Nicht nur in den Epistulae, sondern auch in anderen Werken Senecas finden sich viele detaillierte Darstellungen ganz unterschiedlicher körperlicher Mängel, Krank‐ heiten und Verletzungen. Das kann angesichts der senecanischen Anthropologie der Schwäche zwar nicht verwundern, steht jedoch in Widerspruch zur geringen Bedeutung, welche die Stoa dem Körper beimisst. 155 Edwards löst diesen Wi‐ derspruch auf: Wenngleich physische Gebrechen in der Prosa Senecas nie als etwas Positives oder Erstrebenswertes bezeichnet werden, werden sie dennoch als etwas dargestellt, aus dem man potentiellen Nutzen für den ethischen Fortschritt ziehen kann. Denn sieht man sich mit Krankheit und Schmerz konfrontiert, leidet man zwar, kann aber das Beste daraus machen, indem man ‚Krieg führt‘ gegen Krankheit und Schmerz und diese Auseinandersetzung nutzt, um seine Tugend (virtus) und Seelenstärke (firmitas animi) zu trainieren und unter Beweis zu stellen. 156 Um körperliche Gebrechen als eine Art Übungs- und Betätigungsfeld für diese virtus und firmitas animi nutzen zu können, müssen jedoch zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss der betroffene Mensch es schaffen, sich in Auseinandersetzung mit Krankheit und Schmerz zu behaupten und dadurch seine innere Stärke zu fördern. Zweitens darf er nicht 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 179 <?page no="180"?> 157 In 58,35-36 wird in diesem Fall Suizid als angemessen bezeichnet. S. dazu Edwards (2005) 16-17. 158 Die Forschung versteht diesen Anfall meist als Asthmaattacke. Ich lege mich auf keine Diagnose fest und verwende die Übersetzung „Atemnot“. Zu Diagnoseversuchen s. Griffin (1976) 42-43; Berno (2006) 123-124; Courtil (2015) 132-134, 192-197. Ab‐ gesehen von der Kommentierung durch Berno (2006) 113-157 hat epist. 54 in der Forschung wenig Aufmerksamkeit erfahren. Die Kommentare von Summers (1983) 227-230 und Costa (1988) 169-171 liefern wie Helzle (1988) und Hachmann (1995) 257-258 nur wenige Informationen. Inwood (2007a), Conradie (2010) und Edwards (2019) gehen nicht auf epist. 54 ein, Edwards (2005) 14-15 nur am Rande. Meist wird der Brief lediglich als Beleg dafür zitiert, dass ‚Seneca‘ über eigene Krankheiten schreibt. 159 Berno (2006) 113-115 unterteilt den Brief in einen autobiographischen (1-3, 6) und einen paränetischen Teil (4-5, 7). Anders als Berno sehe ich den Schwerpunkt der zweiten Hälfte jedoch - trotz der eher theoretischen Reflexionen in §§ 4-5 und der Imperative recipe und lauda et imita in § 7 - nicht in paränetischen Unterweisungen, sondern wegen zahlreicher Verben in der ersten Person und Pronomina mit Bezug auf den Absender auch in ‚Senecas‘ Inszenierung. von derart schlimmen Schmerzen und anderen physischen Beeinträchtigungen geplagt werden, dass die Tätigkeit des animus behindert oder sogar vollkommen verhindert wird. 157 Mit epist. 54 und 78 werden im Folgenden zwei Briefe analysiert, in denen ‚Seneca‘ ausdrücklich auf seinen eigenen Umgang mit schwersten körperlichen Krankheiten zu sprechen kommt. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei vor allem ein Aspekt, den die Arbeiten von Edwards nicht berücksichtigen, nämlich die Frage, welche persuasive Wirkung die Darstellung körperlicher Fallibilität in Bezug auf ‚Senecas‘ Rolle als Verfasser paränetischer Briefe hat. 4.3.2.1 Atemnot als meditatio mortis - epist. 54 Als Anlass des Briefs gibt ‚Seneca‘ einen schweren Anfall akuter Atemnot (suspirium) als Manifestation seiner insgesamt desolaten körperlichen Konsti‐ tution aus. 158 Nach dem einleitenden Hinweis auf diesen schlechten gesundheit‐ lichen Zustand und der Schilderung der Symptome des Anfalls (1-2) kommt er auf seinen Umgang damit zu sprechen (3-7). 159 Er geht dabei auf zwei unter‐ schiedlichen Zeitebenen auf den Anfall ein, indem er in §§ 6-7 behauptet, den Brief zu einem Zeitpunkt zu verfassen, an dem seine Symptome nachgelassen hätten, aber noch nicht vollständig abgeklungen seien. In §§ 1-5 beschreibt er somit aus einer rückblickenden Perspektive den Höhepunkt des Anfalls, unter dessen unmittelbarem Einfluss er zum Zeitpunkt des Abfassens des Briefs noch zu stehen behauptet. 180 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="181"?> 160 Der omnium codicum consensus überliefert comitatum, was Lipsius zu commeatum emendiert. Mit Reynolds (1965) übernehme ich diese Konjektur, da die Junktur comi‐ tatum dare in antikem Latein nicht belegt ist. Zur Bedeutung von commeatus s. TLL 3,0,1826,47-1827,4: prorogatio, spatium temporis, mora, libertas. 161 Die Übersetzung von Fink (2007) ist unpräzise: „Ganz recht, dass du danach fragst: Derart gut bin ich über alles informiert.“ Ähnlich Rauthe (1986): „Ganz zu Recht stellst du die Frage: einfach nichts ist mir unbekannt.“ Anders Gummere (1961): „And you surely have a right to ask; for it is true that no kind is unknown to me“; Graver/ Long (2015): „and well you may [ask], for there is no illness with wich I am unacquainted.“ 162 Zu Senecas Umgang mit medizinischer Terminologie des Griechischen s. Courtil (2015) 241-249, der festhält, dass in den Epistulae durchaus griechische Begriffe übernommen werden (z.-B. 24,14: stomachicus; 75,12: phthisis). 163 S. dazu Berno (2006) 120-121. Bereits mit den ersten Worten nennt ‚Seneca‘ seine schlechte Gesundheit einen dauerhaften Zustand (1: Longum mihi commeatum dederat mala valetudo) und legt durch die Verwendung der Junktur longus commeatus nahe, dass Frei‐ heit von körperlichen Beschwerden für ihn eine Ausnahme sei. 160 Er antizipiert die Reaktion des Lucilius auf die Nachricht, diese leidensfreie Zeit sei plötzlich und unvorhergesehen zu Ende gewesen (repente me invasit), indem er ihm die Nachfrage in den Mund legt, um welche Krankheit es sich genau handle. Diese Erkundigung sei angebracht, da ‚Seneca‘ keine Krankheit unbekannt sei (‚Quo genere? ‘ inquis. Prorsus merito interrogas: adeo nullum mihi ignotum est) 161 und er „alle Gebrechen und Gefahren des Körpers“ kenne und durchlitten habe (Omnia corporis aut incommoda aut pericula per me transierunt). Die ersten beiden Paragraphen des Briefs bringen diese umfangreiche Ex‐ pertise zur Geltung. Dass sich diese nicht nur auf die Praxis, das heißt auf das physische Erleben von Schmerz erstreckt, sondern auch auf theoretisches medizinisches Wissen, deutet ‚Senecas‘ Aussage an, dass er seine Atemnot mit ihrem griechischen Namen benennen könnte, den lateinischen Terminus suspirium aber für passender halte (quare Graeco nomine appellem nescio; satis enim apte dici suspirium potest). 162 Doch führt er mit Kürze und Heftigkeit lediglich zwei Symptome des Anfalls an (Brevis autem valde et procellae similis est impetus). Bedeutung bekommen hier also nicht so sehr die konkreten Symptome zugewiesen, sondern der Umstand, dass sie die aller anderen Erkrankungen überträfen, so dass man sie als Todeskampf erlebe (nullum mihi videtur molestius. Quidni? aliud enim quidquid est aegrotare est, hoc animam egerere). Militärisches Vokabular (commeatus; invadere; impetus) hebt das Ausmaß des Leidensdrucks zusätzlich hervor. 163 Diese persönliche Empfindung ‚Senecas‘ wird mit dem Hinweis objektiviert, dass auch „Ärzte die Krankheit Vorbereitung auf den Tod nennen“ (Itaque medici hanc ‚meditationem mortis‘ vocant). 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 181 <?page no="182"?> 164 54,3: Tam ridicule facio, si hoc fine quasi bona valetudine delector, quam ille, quisquis vicisse se putat cum vadimonium distulit. Zur negativen Konnotation von ridiculus im gesamten Werk Senecas s. Berno (2006) 132. 165 Ähnlich Helzle (1988) 30-31; Berno (2006) 126. 166 Dieser Kontrast zwischen passivem Ausgesetztsein und aktiver Bewältigung wird auch durch das stark betonende ego vero am Ende von § 3 hervorgehoben; ähnlich Berno (2006) 120-122, 135. Reynolds (1965) markiert mit einem Absatz vor ego vero einen neuen Sinnabschnitt. ‚Seneca‘ behauptet im Folgenden trotz seiner Leiden, die innere Haltung einzunehmen, zu der er hier und andernorts rät: Er habe den Tod immer vor Augen und bereite sich innerlich auf ihn vor (7: non trepidabo ad extrema, iam praeparatus sum, dazu unten). Doch sei er keineswegs „fröhlich“ (hilaris), weil er die als Schreibanlass ausgegebene Attacke schwerer Atemnot überlebt habe. Vielmehr nennt er eine solche Freude „lächerlich“ (ridicule facio) 164 und stellt ihr das Verhalten gegenüber, das er während des Anfalls gezeigt habe und immer noch zu zeigen behauptet: Er ordne sich seinen Gebrechen nicht unter, sondern biete ihnen die Stirn, was er auch sprachlich zum Ausdruck bringt, indem er sich in § 1 und § 2 zum passiven Objekt seiner Krankheit macht, der er ab § 3 aktiv entgegenzutreten behauptet. Das Subjekt mala valetudo regiert im ersten Satz das Akkusativ-Objekt longum commeatum. Es entsteht der Eindruck, ‚Seneca‘ (Dativ-Objekt: mihi) sei der Macht dieser mala valetudo ausgesetzt. Zudem findet sich in §1 und § 2 nur ein Satz, in dem er selbst Subjekt ist - jedoch der passiven Verbform adsignatus sum. ‚Seneca‘ macht sich durch die Verwendung mehrerer Pronomina (mihi; me; mihi; per me; mihi) in fünf Sätzen zum Objekt von Aussagen, die seinen schlechten Gesundheitszustand benennen (mala valetudo; zwei Mal nullum [sc. genus malae valetudinis]; omnia corporis aut incommoda aut pericula). 165 Im Gegensatz dazu verwendet er in den Paragraphen, in denen er über seinen Umgang mit dem Anfall spricht, zahlreiche aktive Prädikate in der ersten Person Singular und zeigt so, diesem Anfall aktiv entgegentreten zu können (3: non desii; 4: inquam; scio; 6: non desii; 7: non trepidabo; praeparatus sum; cogito; exeam). 166 Den Gedanken des aktiven Entgegentretens führt ‚Seneca‘ im Rückblick weiter aus: Er sei dem Höhepunkt seines Erstickungsanfalls damit begegnet, dass er sich unaufhörlich mit aufmunternden und stärkenden Gedanken und Ermahnungen beruhigt und gut zugeredet habe (3: Ego vero in ipsa suffocatione non desii cogitationibus laetis ac fortibus adquiescere; 6: exhortationibus […] adloqui me non desii) und immer noch beruhige - seine Atemnot ist in der evozierten Schreibsituation ja noch nicht vollständig abgeklungen (6: suspirium […] remansit, nec adhuc, quamvis desierit, ex natura fluit spiritus; sentio haesita‐ tionem quandam eius et moram). Die Aussage, dass diese Selbstermahnungen 182 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="183"?> 167 Berno (2006) 148. 168 54,4-5: ‚Quid hoc est‘ inquam ‚tam saepe mors experitur me? Faciat: ego illam diu expertus sum.‘ ‚Quando‘ inquis. Antequam nascerer. Mors est non esse. Id quale sit iam scio: hoc erit post me quod ante me fuit. Die Ausführungen von Dietsche (2014), bes. 140-141 zu epist. 78, lassen sich auch auf die epikureisch eingefärbte Argumentation in 54,3-5 übertragen: Entscheidend ist nicht, „wieviel epikureisches Gedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist; für therapeutische Zwecke sind Anleihen beim ‚Feind‘ völlig legitim, zumal es in der Praxis durchaus Überschneidungen gibt.“ 169 Ähnlich Berno (2006) 114-115; Smith (2014) 357-360. 170 54,7: quae est enim virtus, cum eiciaris, exire? Tamen est et hic virtus: eicior quidem, sed tamquam exeam. Der Gegensatz zwischen passivem eici und aktivem exire wird im und -beruhigungen stumm erfolgen (6: exhortationibus tacitis scilicet, nam verbis locus non erat), hebt einerseits die Schwere des Anfalls hervor, andererseits auch ‚Senecas‘ Fähigkeit, sich ihr zum Trotz auch ohne Worte und mit Hilfe des animus philosophisch zu betätigen. 167 Mit welchen Gedanken und Ermahnungen sich ‚Seneca‘ während seines Anfalls beruhigt und gut zugeredet habe, beschreibt er in § 4 und § 5, auf die er am Beginn von § 6 zurückverweist. Er zitiert in § 4 und § 5 eine direkte Rede, mit der er sich selbst versichert habe, dass der Tod keine Macht über ihn habe. Beide Paragraphen haben durch mit inquam beziehungsweise inquis eingeleitete direkte Reden den Charakter eines fingierten Dialogs, in dem ‚Seneca‘ argumentiert, dass der Zustand nach dem Tod demjenigen vor der Geburt entspreche und dass dieser Zustand frei von Leiden und Qualen sei. 168 Für wichtiger als den Inhalt dieser Argumentation halte ich den Kontext, in den sie eingebettet ist: § 4 und § 5 werden durch den letzten Satz von § 3 und den ersten Satz von § 6 eingerahmt. Durch Wiederholungen und Bezugnahmen bilden die beiden Sätze eine Klammer um § 4 und § 6: Das Prädikat non desii in Verbindung mit einem Infinitiv wird in § 3 und § 6 verwendet, der Ausdruck exhortationibus adloqui (6) greift cogitationibus laetis ac fortibus adquiescere (3) auf. So wird die Aufmerksamkeit vor allem auf das aktive Verhalten ‚Senecas‘ gelenkt. Der konkrete Inhalt des mit den Substantiven cogitationes und exhorta‐ tiones umschriebenen Philosophierens ist nur von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger erscheint ‚Senecas‘ Bemühen, Lucilius gegenüber nachzuweisen, dass er den Tod nicht fürchte, weil er sich angesichts der eigenen körperlichen Fallibilität und mit Hilfe der Reflexion über sie auf ihn einstelle. 169 Durch die erneute Gegenüberstellung passivischer und aktivischer Formulie‐ rungen beansprucht ‚Seneca‘ im letzten Paragraphen 7 die Fähigkeit (virtus), Krankheit und Tod aktiv zu begegnen: Auch wenn er durch äußere Umstände, also zum Beispiel durch Krankheit, aus dem Leben „hinausgeworfen werde“ (eicior), sei er dazu in der Lage, selbstbestimmt „hinauszugehen“ (exeam). 170 Er 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 183 <?page no="184"?> letzten Satz des Briefs verstärkt durch die Gegenüberstellung von Freiwilligkeit und Zwang: nihil invitus facit sapiens; necessitatem effugit, quia vult quod coactura est. Berno (2006) 153-154 geht ausführlich auf diese Genera verbi ein. 171 Schon in § 3 stellt sich ‚Seneca‘ durch den Ausdruck non desii cogitationibus laetis ac fortibus adquiescere als weit fortgeschritten dar. Denn Berno (2006) 136 zufolge sind laetus und fortis typische Adjektive, mit denen die Haltung des Weisen gegenüber dem Schicksal im Allgemeinen und dem Tod im Speziellen beschrieben wird. Berno verweist diesbezüglich auf epist. 30,3 sowie dial. 1 (prov.) 3,13 und 5,8. 172 Die Inszenierung als nachzuahmendes Beispiel wird durch die Verwendung der Imperative lauda und imitare noch verstärkt. Denn wie Berno (2006) 152 betont, verwendet der historische Autor Seneca die Form lauda nur drei weitere Male (41,8; 78,21; nat. 4a, praef. 14), den Imperativ imitare nur hier sowie in Tro. 117 und Med. 398. 173 Ker (2009a) 163: „The asthma has trained him in readiness for death.“ Edwards (1999) 60 in Bezug auf 78,16: „If the athlete’s training is torture, [Seneca] implies, then the sick person’s torture may itself be training. Facing up to adversity reinforces one’s ability to face adversity in the future.“ kann sich dadurch als fortgeschrittener Philosoph inszenieren, freilich ohne dabei zu behaupten, ein sapiens zu sein. 171 Der Anfall von Atemnot wird in epist. 54 als ‚Übungsfeld‘ in dem auf S. 179 skizzierten Sinne präsentiert: Er verursacht stärkste körperliche Leiden. ‚Seneca‘ inszeniert sich jedoch als dazu in der Lage, gerade diese Leiden in dem Sinne zu nutzen, dass er sich durch die Auseinandersetzung mit ihnen physisch und psychisch auf seinen Tod vorbereiten kann. Die physische Vorbereitung erfolge durch die Erstickungsanfälle, die einem Todeskampf gleichkämen. Die psychische Vorbereitung, die auf Grund des Primats des animus wichtiger ist, betreibe er mit Hilfe philosophischer Reflexionen. Infolgedessen sieht er sich als innerlich gerüstet an, behauptet, den Tod nicht zu fürchten (7: non trepidabo ad extrema, iam praeparatus sum) und stellt sich damit als nachzuahmendes Vorbild für Lucilius dar (hoc tibi de me recipe; lauda et imitare). 172 ‚Seneca‘ behauptet, sich durch die aktive Auseinandersetzung mit der eigenen körperlichen Fallibilität in die Lage versetzt zu haben, sich trotz größter Qualen auf den animus konzentrieren zu können. Er messe seiner Krankheit keinerlei Bedeutung bei (6: Quomodo [sc. spiritus, Atem] volet, dummodo non ex animo suspirem), außer dass sie sich als Ausgangspunkt und Gegenstand philosophischer Überlegungen nutzen lasse. 173 Durch die Bestimmung der Schreibsituation behauptet er, sich auch zu einem Zeitpunkt geistig betätigen zu können, zu dem er die Symptome akuter Atemnot immer noch spüre. Dass er diese Atemnot als schwerwiegender denn andere Gebrechen bezeichnet (2: nullum mihi videtur molestius), suggeriert dabei, dass er umso mehr Expertise beanspruchen kann, je mehr und je stärker er leidet. Denn je größer ein Leiden, desto größere Kenntnisse erfordert der Umgang mit ihm. 184 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="185"?> 174 ‚Seneca‘ empfiehlt dementsprechend, keine Angst vor dem Tod zu haben (5: contemne mortem), Schmerz mit der richtigen inneren Einstellung zu begegnen, d. h. ihm keinerlei Bedeutung beizumessen (13: levis est dolor si nihil illi opinio adiecerit. […] levem illum, dum putas, facies), und ihm mit Tätigkeit des animus Widerstand zu leisten (15: Toto contra ille pugnet animo; 21: bene luctare cum morbo). 175 Schrijvers (1990) 374-375. 176 Schrijvers (1990) behandelt neben Aufbau und Bezugnahmen des Briefs zu Cic. Tusc.-2 die Frage, inwiefern seine Argumentation auf epikureischer Philosophie basiert. Er führt die Behauptung, Schmerz sei entweder lang und leicht oder kurz und heftig, auf hippokratische Traditionen zurück. Conradie (2010) 205-282 kommentiert den Brief, Inwood (2007a) und Edwards (2019) gehen nicht auf ihn ein. Maurach (1970) 165-166, Summers (1983) 261-270 und Costa (1988) 177-182 liefern nur wenige Informationen. Edwards (1999) 260-264 fasst die empfohlenen Strategien zum Umgang mit Schmerz zusammen, die zwischen Distanzierung (z. B. § 10) und Ankämpfen (z. B. § 16) schwanken. 4.3.2.2 Die Wirksamkeit der Philosophie als Heilmittel - epist. 78 Als Anlass der epist. 78 wird anders als in 54 nicht eine Krankheit des Absenders, sondern eine des Adressaten ausgegeben: ‚Seneca‘ reagiert auf ein Schreiben des Lucilius, in dem dieser ihn über eine Erkrankung informiert habe, und stellt vor diesem Hintergrund ein übergeordnetes Thema seines Briefs in Aussicht: Er wolle mitteilen, welche innere Haltung er aus eigener Erfahrung als Trost und Hilfe bei schwerer Krankheit empfehlen könne (3: Quae mihi tunc fuerint solacio dicam). Ausgehend von der Aussage, die Trias aus Todesangst, Schmerzen und Absenz körperlicher Genüsse mache eine Krankheit „schwer zu ertragen“ (6: Tria haec in omni morbo gravia sunt), konzentriert sich ‚Seneca‘ auf drei konventionelle Argumente: Der Tod sei nicht zu fürchten (5-6, 25-27); alle Schmerzen seien ertragbar, auch wenn man keine oder nur wenige körperliche Genüsse verspüre (7-9, 11, 13-17, 22-24); der animus sei wesentlich wichtiger als der Körper, geistige Betätigung schaffe zudem Ablenkung von Schmerzen (10, 18-21, 28). 174 Um die Konventionalität dieser Argumentation zu überdecken, gliedert ‚Seneca‘ seine Ausführungen nicht streng, sondern reiht einzelne Punkte asso‐ ziativ aneinander und greift häufig neue Themen auf, um daraufhin auf etwas zurückzukommen, das bereits im Vorausgehenden behandelt wurde. 175 Mich interessiert im Folgenden nicht so sehr, welche Ratschläge ‚Seneca‘ erteilt, sondern wie er auf seine eigene Erfahrung mit Krankheiten hinweist. Ich gehe deshalb nur auf ausgewählte Passagen des Briefs ein. 176 Unmittelbar nach der Grußformel kommt ‚Seneca‘ auf die von Schnupfen und Fieberanfällen ausgelösten Leiden des Lucilius zu sprechen (1: Vexari 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 185 <?page no="186"?> 177 Zur mit destillatio bezeichneten Krankheit s. Conradie (2010) 218 Anm. 20; Courtil (2015) 132, 191-192. 178 Zu dieser Bedeutung von expertus sum s. TLL 5,2,1680,19-1681,10: acced. notione acerbi, duri, molesti sim.: i. q. pati, tolerare, sustinere, subire sim. 179 Conradie (2010) 217. 180 ‚Seneca‘ begründet diese Entscheidung wie folgt: Sein Vater hätte angesichts des Todes seines Sohns nicht „tapfer“ (fortiter) handeln können. Also war es eine selbstlose und ethisch richtige Entscheidung, am Leben zu bleiben und den Vater so davor zu bewahren, übermäßig zu trauern und dadurch falsch zu handeln. S. dazu Conradie (2010) 218-221. Epist. 70 behandelt die Frage, ob bzw. wann Suizid angebracht ist: Man soll am Leben bleiben, wenn man dadurch anderen nützen kann. Die Entscheidung für oder gegen den Suizid ist aber immer eine Einzelfallentscheidung. S. dazu Edwards (2019) 213-217. te destillationibus crebris ac febriculis). 177 Er bringt dadurch Mitgefühl zum Ausdruck und zeigt zugleich, die Beschwerden seines Adressaten ernst zu nehmen. Beides führt ‚Seneca‘ darauf zurück, selbst leidvolle Erfahrungen mit eben diesen Beschwerden gemacht zu haben (molestius mihi est quia expertus sum hoc genus valetudinis). 178 Auf Grund dieser Erfahrungen kann ‚Seneca‘ nicht nur glaubwürdig machen, Mitgefühl mit Lucilius zu empfinden, sondern auch, Instruktionen erteilen zu können. 179 Er weist auf das Ausmaß der Symptome hin, die Lucilius’ Krankheit früher bei ihm selbst hervorgerufen hätten: Trotz jugendlicher Stärke (adulescentia), sei er ihr völlig „unterlegen“ (succubui et eo perductus sum ut ipse destillarem, ad summam maciem deductus). Deshalb habe er oft den Entschluss zum Suizid gefasst (2: Saepe impetum cepi abrumpendae vitae), ihn jedoch nie in die Tat umgesetzt. Dass er sich letzten Endes gegen die Selbsttötung entschieden habe, stellt er als wohlüberlegte, tapfere und vor allem ethisch richtige Handlung dar. 180 Damit behauptet ‚Seneca‘, dass er trotz größter physischer Leiden dazu im Stande gewesen sei, sich durch philosophische Überlegungen aus der passiven Lage als Objekt seiner Krankheit (succubui; perductus; deductus) in eine aktive und handlungsfähige Position zu versetzen (Cogitavi […]. Itaque imperavi mihi ut viverem). Wie in epist. 54 kann er somit nicht nur jahrelange Expertise im Umgang mit körperlicher Fallibilität beanspruchen, sondern auch behaupten, dass er diese Fallibilität als Ausgangspunkt und Gegenstand philosophischer Überlegungen zu nutzen wisse. Diese Überlegungen hätten ihn zu Erkenntnis und Umsetzung des ethisch Richtigen geführt und, so legt er mit dem Ausdruck impetus (2) nahe, sogar dazu befähigt, Gefühlsaufwallungen mit Hilfe des animus zu kontrollieren. Hatte ‚Seneca‘ dem Philosophieren, zu dem er rät, in Brief 54 zumindest beruhigende Kraft attestiert, bezeichnet er es in 78,3 ausdrücklich als Grund 186 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="187"?> 181 78,3: Quae mihi tunc fuerint solacio dicam, si prius hoc dixero, haec ipsa quibus adquies‐ cebam medicinae vim habuisse; in remedium cedunt honesta solacia, et quidquid animum erexit etiam corpori prodest. Studia mihi nostra saluti fuerunt; philosophiae acceptum fero quod surrexi, quod convalui; illi vitam debeo et nihil illi minus debeo. 182 Man beachte das Zeitverhältnis im ersten Satz von § 3: Quae mihi tunc fuerint solacio dicam, si prius hoc dixero. In § 4 berichtet ‚Seneca‘ davon, dass ihm der Beistand von Freunden in schwerer Krankheit geholfen habe. Er verwendet dazu in vier Sätzen sechs auf ihn bezogene Pronomina und elf Verbformen, mit denen er eigene Handlungen beschreibt. Eine solche Dichte an Selbstaussagen findet sich im weiteren Verlauf des Briefs nicht mehr. 183 78,10: Illud autem est quod inperitos in vexatione corporis male habet: non adsueverunt animo esse contenti; multum illis cum corpore fuit. Ideo vir magnus ac prudens animum diducit a corpore et multum cum meliore ac divina parte versatur, cum hac querula et fragili quantum necesse est. 184 Costa (1988) 179 zufolge trägt die Bezeichnung inperiti „the almost technical sense of people who are not strengthened and comforted by (Stoic) philosophy“. Ähnlich Conradie (2010) 236-237. 185 Ähnlich epist. 8,2, s. Kap. 4.2.2.1. 186 Zu dieser Kampfmetapher s. S.-179 mit Anm.-156. 187 Ähnlich Cancik (1967) 32; Conradie (2010) 280. für seine Genesung (3). 181 Indem er seine rückblickende (3: tunc) und als autobiographisch markierte Selbstaussage in §§ 1-4 an den Anfang von epist. 78 stellt, kann er nicht nur praktisches Erfahrungswissen beanspruchen, sondern auch hervorheben, dass das Philosophieren, wie er es empfiehlt, wirksam und relevant ist, noch bevor er sich ab § 5 theorielastigen Ausführungen und konkreten Instruktionen zuwendet. 182 ‚Seneca‘ inszeniert sich dadurch auch als Mensch, der den von ihm selbst wiederholt postulierten Primat des animus in die Tat umgesetzt hat und damit die Qualitäten des in § 10 beschriebenen vir magnus ac prudens zeigt. 183 Anders als die „Unerfahrenen“ (inperiti) 184 kenne er sich als expertus (1) 185 mit physischen Qualen (in vexatione corporis) aus und leiste ihnen aktiv Widerstand. Durch die Darstellung dieses aktiven Widerstands in den ersten drei Paragraphen des Briefs wird suggeriert, dass er wie in § 21 gefordert mit seiner Krankheit gerungen (bene luctare cum morbo; vgl. das militärische Vokabular in 54,1-2), damit „Tugend auch auf dem Krankenbett“ bewiesen habe (virtuti etiam in lectulo locus; vgl. 54,3: in ipsa suffocatione) und so ein „herausragendes Beispiel“ (insigne exemplum; vgl. 54,7: lauda et imitare) abgebe. Trotz anfänglicher Niederlagen (1: succubui) habe ‚Seneca‘ den ‚Kampf ‘ mit seiner Krankheit letzten Endes also gewonnen. 186 Die Auseinandersetzung mit der in epist. 54 und 78 in Szene gesetzten körperlichen Fallibilität habe ihn Strategien für den Umgang mit ihr erkennen lassen, die ihn auch in die Lage versetzen, Paränesen verfassen zu können. 187 Da er sich an seine eigenen 4.3 ‚Senecas‘ körperliche Fallibilität 187 <?page no="188"?> 188 78,18: Illud quoque proderit, ad alias cogitationes avertere animum et a dolore discedere. Cogita quid honeste, quid fortiter feceris; bonas partes tecum ipse tracta. Allegri (2012) 361 stellt über das Verb tractare eine Verbindung zu 16,2; 65,15; 68,6; 118 sowie dial. 5 (de ira 3) 36 und der dort beschriebenen Selbstprüfung her. Zu dieser Selbstprüfung s.-S.-152 Anm.-57. Ratschläge zu halten behauptet, kann er gegenüber Lucilius Glaubwürdigkeit für diese Paränesen beanspruchen. Im Vergleich zu Brief 54 fällt diesbezüglich der Wechsel von Selbstaussagen hin zu konkreten Aufforderungen auf: In epist. 54 beschreibt ‚Seneca‘, wie er sich angesichts größter Qualen mit aufmunternden und stärkenden Gedanken beruhigt und gut zugeredet hat (54,3: cogitationibus laetis ac fortibus adquiescere; 6: exhortationibus […] adloqui). Im vorliegenden Brief hält er Lucilius genau dazu (78,13: exhortari te) und zur Ablenkung mit geistiger Tätigkeit an (cogitationes), die als ethische Selbstreflexion und Selbstprüfung näher spezifiziert wird (78,18). 188 4.4 Fazit: ‚Seneca‘ als fallibler Mensch und daher kompetenter Verfasser philosophisch-paränetischer Lehrbriefe ‚Seneca‘ bringt in den Epistulae morales unterschiedliche Ausprägungen seiner seelischen Fallibilität zur Sprache, also Schwächen, Scheitern und Fehlverhalten, die aus dem unzulänglichen Zustand seines animus resultieren, und er nutzt die Selbstdarstellung als fallibler proficiens, um unterschiedliche Persuasionsziele zu verfolgen. Durch die Eingeständnisse eigenen Fehlverhaltens im Umgang mit Zeit und Trauer in den Briefen 1 und 63 kann er nachweisen, aus persönlicher Erfahrung um die Notwendigkeit zu wissen, sich mit eigenen Fehlern ausein‐ anderzusetzen, aber auch die Schwierigkeiten zu kennen, die einem bei dieser Auseinandersetzung begegnen können. Auf Grund seines Erfahrungswissens kann er Wirksamkeit für die Verhaltensratschläge beanspruchen, die er Lucilius erteilt, zumal er behauptet, diese Wirksamkeit an „Geschwüren“ (ulcera) in seiner eigenen Seele erprobt zu haben (epist. 8). Seinen Umgang mit diesen Geschwüren führt ‚Seneca‘ in epist. 27 als nachzuahmendes Beispiel und damit sich selbst als kompetenten Lehrer vor. Er weist auf die „Geschwüre“ in seiner Seele aber auch hin, um seinen Briefpartner zu Eigeninitiative anzuspornen: Lucilius soll sich nicht von seinem fehlerbehafteten Lehrer abhängig machen, der in den Bestrebungen nach ethischem Fortschritt selbst immer wieder scheitert. Vielmehr soll und muss er sich selbst aktiv um die eigene moralische Verbesserung bemühen (epist. 68). Durch die Schilderung seines eigenen Schei‐ 188 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="189"?> 189 Der Umstand, dass wohl auch der historische Autor Seneca eine schwache körperliche Konstitution hatte, verleiht dieser Inszenierung seiner Autor-persona zusätzliche Plau‐ sibilität. Cass. Dio 59,49 berichtet, dass Caligula Seneca nur nicht habe hinrichten lassen, da er auf Grund seiner schlechten Konstitution von Senecas baldigem Tod ausgegangen sei. Zu Spekulationen über den Gesundheitszustand des historischen Seneca s. S. 171 Anm.-121 und S.-180 Anm.-158. 190 In der Forschung wird des Öfteren darauf hingewiesen, dass sich in allen Werken Senecas (potentiell) komisch wirkende Passagen finden. Grant (2000) identifiziert zahlreiche solcher Passagen in den Epistulae, in denen z. B. durch Wortspiele, durch un‐ erwartete und teils der Logik widersprechende Gedankengänge, durch die Verwendung von Spitznamen oder durch Lautmalereien Komik erzeugt wird (s. dazu auch Graver 2023, 223-238). Grant geht aber nicht auf Passagen ein, in denen die Autor-persona selbst zum Ziel von Spott und Komik wird. Grant zufolge haben solche komischen Passagen v. a. zwei Funktionen: Seneca „employs humour primarily to hold the attention of his readers, but he also takes it as a rhetorical and philosophical device to aim against the fear of death. It is a commonplace that anything which can be treated in a derisory fashion becomes somehow less fearsome“ (S.-319). terns in den Briefen 7 und 87 stützt ‚Seneca‘ diese Inszenierung seiner eigenen Person sowie die auf ihr beruhende Argumentation und warnt Lucilius, nicht in seinen Bemühungen um ethischen Fortschritt nachzulassen. Auch durch die Darstellung seiner körperlichen Fallibilität kann ‚Seneca‘ nachweisen, über theoretisches und praktisches Wissen zu verfügen, und vor‐ führen, dass seine Ratschläge für den Umgang mit körperlichen Defiziten und Defekten in der Praxis umsetzbar und wirksam sein können. So legt er in epist. 54 und 78 nicht nur nahe, jahrelange Expertise im Umgang mit Krankheiten zu haben, sondern auch, dass die von ihm empfohlene philosophische Tätigkeit bei der körperlichen und emotionalen Bewältigung von Krankheiten helfe. 189 Er beschreibt seine körperliche Fallibilität auch als einen potentiellen Vorteil, der die Möglichkeit bietet, sie unter bestimmten Voraussetzungen zum Ausgangs‐ punkt und Gegenstand philosophischer Reflexion sowie zum Übungsfeld für die eigene virtus zu machen und so bestimmte Lern- und Entwicklungsprozesse anzustoßen. Körperliche Schwäche egal welcher Art wird dabei aber nie als etwas Erstrebenswertes präsentiert. Vielmehr zeigt ‚Seneca‘ anhand seiner eigenen Person, wie schwer es auch für ihn ist, diese von ihm skizzierten Möglichkeiten zu nutzen, zum Beispiel indem er detailliert schildert, daran gescheitert zu sein, Altern als natürlichen Prozess anzuerkennen und dessen potentielle Vorzüge zu identifizieren (12,1-3). Die Darstellung der Fallibilität ‚Senecas‘ kann auch komisch und/ oder sati‐ risch überspitzt wirken. 190 Mireille Armisen-Marchetti verweist in Bezug auf ko‐ mische Passagen, in denen die Person ‚Senecas‘ im Zentrum steht, vor allem auf „witzige Anekdoten“, mit denen einige Briefe beginnen und die zum Lachen über 4.4 Fazit: ‚Seneca‘ als fallibler und daher kompetenter Verfasser von Lehrbriefen 189 <?page no="190"?> 191 Armisen-Marchetti (2004) 311 spricht von „anecdotes pleins de drôlerie“, „situations inattendues et plaisantes“ und „anecdotes spirituelles“. 192 Armisen-Marchetti (2004) nennt folgende Passagen, die sie jedoch nicht im De‐ tail analysiert und bei denen sie auch kaum erklärt, warum sie komisch wirken: 12,1-4; 53,1-5; 56,1-3; 57,1-2; 67,1; 76,1; 83,3-6; 87,1-4. Sie beschreibt fünf Funktionen solch komischer Selbstdarstellungen: (1) Er zeigt, dass er sich seiner seelischen und körperlichen Fallibilität bewusst ist und weist auch Lucilius auf diesen Umstand hin. (2) Er stellt sich auf eine Stufe mit seinem Adressaten, auch um den Eindruck von Überlegenheit zu vermeiden. (3) Dass ‚Seneca‘ über Erlebnisse berichten kann, in denen er sich in unvorteilhaften und komischen Situationen befunden hat, markiert das Lehrer-Schüler-Verhältnis mit Lucilius als eng und vertraut. (4) Sein Scherzen über die eigene Fallibilität soll zeigen, dass es besser ist, über die Zufälligkeiten des Lebens zu lachen, als sich über sie zu ärgern. (5) Insgesamt will ‚Seneca‘ ein Bild von sich präsentieren, das nicht an einen strengen Moralisten erinnert („un portrait familier et souriant, fort éloigné de l’image rebutante du moraliste sentencieux“, S.-311). 193 Baier (2005) 56-60 betont, dass Lernende nur dann motiviert werden können, wenn sie „im weitesten Sinne emotional beeindruckt“ werden (S. 56). Das ist m. E. der Fall, wenn die lehrende Person von der eigenen Fallibilität spricht. S. dazu auch S.-158 Anm.-83. 194 Görgemanns (2001) nennt als wesentliche Elemente der Protreptik „Vorführung der Kunst“, den Hinweis auf „den Nutzen für das Leben“ und auf „die Hilflosigkeit ohne sie“ (S. 468). Dietsche (2014) zufolge sind die Epistulae insgesamt protreptisch in dem Sinne, dass sie versuchen, den eher der epikureischen Schule zugeneigten Lucilius von der stoischen Lehre zu überzeugen. ‚Seneca‘ einladen. 191 Dabei betont sie, dass nur die Darstellung an sich harmloser Formen von Fehlverhalten und körperlichem Gebrechen komisch sein kann. Die von ihr beschriebenen Funktionen dieser Passagen überschneiden sich im Wesentlichen mit den Funktionen, die ich für die Darstellung der seelischen und körperlichen Fallibilität ‚Senecas‘ herausgearbeitet habe. 192 ‚Senecas‘ Darstellung seiner eigenen Schwäche, seines eigenen Scheiterns und seines eigenen Fehlverhaltens hat auch ein pädagogisch-didaktisches sowie ein motivierendes und protreptisches Moment und unterstützt somit das pa‐ ränetisch-persuasive Anliegen der Epistulae. Zum einen vermittelt ‚Seneca‘ seinem Adressaten bestimmte Inhalte nicht nur auf rationaler Ebene, sondern kann ihn insbesondere durch das Eingeständnis seiner Fallibilität auch auf emo‐ tionaler Ebene ansprechen. 193 Zum anderen betont er durch seine Inszenierung, dass auch er selbst immer wieder mit Herausforderungen und Rückschlägen konfrontiert wird und aktiv um die eigene moralische Verbesserung ringen muss, dass diese Verbesserung mit Hilfe der von ihm erteilten Ratschläge und mit Hilfe der von ihm vermittelten praxisorientierten Philosophie aber möglich ist. Das ist dazu geeignet, den textinternen Adressaten Lucilius aber auch das mitadressierte Lesepublikum zu motivieren, eigenes Denken und Handeln an den Ratschlägen auszurichten, die in den Epistulae gegeben werden, und das durch deren Lektüre erworbene Wissen praktisch anzuwenden. 194 Motivierend 190 4 Die Fallibilität ‚Senecas‘ als Verfasser philosophisch-paränetischer Briefe <?page no="191"?> 195 Zum einen bezeichnet ‚Seneca‘ die Unterweisung durch exempla effektiver als diejenige durch praecepta (s. dazu S. 158 Anm. 83). Zum anderen ist tatsächliche Hilfe zur Lebensbewältigung nur von Menschen zu erwarten, die sich auch in ihrer eigenen Lebensführung an die von ihnen vermittelten Lehren halten, so z. B. 6,6: [sc. Zeno] vitae eius [sc. Cleanthis] interfuit, secreta perspexit, observavit illum, an ex formula sua viveret. Platon et Aristoteles et omnis in diversum itura sapientium turba plus ex moribus quam ex verbis Socratis traxit; 75,4: quod sentimus loquamur, quod loquimur sentiamus; concordet sermo cum vita. Sowohl für den Lernerfolg als auch für die Feststellung, ob Lehrende ex formula sua leben, ist in erster Linie die Authentizität ihrer Aussagen (viva vox) entscheidend und nicht, ob diese mündlich oder schriftlich sowie in physischer An-/ oder Abwesenheit der Lernenden erfolgen, so Kreuzwieser (2016) 172-177, 208- 216. Zu Senecas Kritik am zeitgenössischen Unterricht, der Worte statt Taten (disputare, non vivere) lehre (108,23) s. Baier (2005) 49-50; Gauly (2019). 196 Zu epist. 15 und 16 s. Soldo (2021) 112-169. wirkt auch der Umstand, dass ‚Seneca‘ Ratschläge erteilt, die er selbst erprobt zu haben und anzuwenden behauptet. Dadurch erfüllt er wichtige didaktische Postulate, die er in den Briefen formuliert. 195 Hinzu kommt, dass die Briefform für ‚Seneca‘ die Möglichkeit schafft, Argu‐ mentationen, Selbstreflexionen, Ermahnungen, Paränesen etc. ihren Ausgangs‐ punkt von alltäglichen Situationen nehmen zu lassen, in die sich Lucilius und das Lesepublikum leicht hineinversetzen können und die sie möglicherweise selbst kennen. Philosophisches Wissen wird in den Briefen, die in dieser Arbeit unter‐ sucht wurden, anhand von Themen vermittelt, die jeden Menschen betreffen. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit Zeit (1), Tod und Trauer (63) sowie mit Alter (12 und 27) und körperlicher Krankheit (54 und 78). Das stützt die beispielsweise in epist. 15 und 16 prägnant formulierte Behauptung, dass die Notwendigkeit zu philosophieren für alle Menschen gegeben sei (16,5: philoso‐ phandum est). 196 4.4 Fazit: ‚Seneca‘ als fallibler und daher kompetenter Verfasser von Lehrbriefen 191 <?page no="193"?> 1 Zu diesen elegischen Gattungskonventionen s. S. 84 mit Anm. 7, zu den Persuasions‐ zielen, die in den Prolog-Elegien der Tristia formuliert werden, s. Kap. 3.2.2. 2 S. dazu S.-12. 5 Fazit: Persuasive Funktionen der Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten ‚Horaz‘, ‚Naso‘ und ‚Seneca‘ nutzen die Darstellung unterschiedlicher Ausprä‐ gungen ihrer Fallibilität, um sich bestimmte positiv konnotierte Qualitäten und bestimmte Kompetenzen als Verfasser derjenigen Texte zuzuschreiben, als deren Autor-persona sie konfiguriert werden. In den Satiren und den Epistulae morales ist die Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten nur ein Mittel, um die jeweilige Autor-persona zu inszenieren, und nimmt insgesamt nicht so viel Raum ein wie ‚Horaz’‘ Beobachtung, Beschreibung und Kritik des Verhaltens anderer beziehungsweise ‚Senecas‘ Bemühen, theoretisches und praktisches philosophisches Wissen zu vermitteln. Auf Grund elegischer Gattungstraditionen und insbesondere auf Grund der Persuasionsziele, die vor allem in den Prolog-Elegien der Tristia formuliert werden, ist ‚Nasos‘ Fallibilität hingegen zentraler Inhalt der im Exil verfassten Elegien Ovids. 1 5.1 Die Darstellung moralischer Schwächen und Fehler In den Satiren und Epistulae morales wird des Öfteren darauf hingewiesen, dass jeder Mensch von Natur aus fallibel ist. Vor diesem Hintergrund dient die Darstellung der moralischen Schwächen und Fehler von ‚Horaz‘ und ‚Se‐ neca‘ unter anderem dazu, ihre Selbstdarstellung als Verfasser von Satiren beziehungsweise von philosophisch-paränetischen Briefen grundsätzlich glaub‐ würdig erscheinen zu lassen. Denn die Behauptung, selbst keine Fehler zu haben, würde beide Figuren unglaubwürdig wirken lassen, gerade weil sie selbst Fallibilität als eine Grundkonstante menschlicher Existenz beschreiben. 2 Die Anerkenntnis eigener moralischer Schwächen und Fehler ist ‚Horaz‘ und ‚Seneca‘ somit gemeinsam, sie unterscheidet sich jedoch hinsichtlich des Aus‐ maßes der dargestellten Fallibilität und hinsichtlich der Detailliertheit dieser Darstellung. ‚Horaz‘ erwähnt in sat. 1,3, 1,4 und 1,6 eigene moralische Schwächen und Fehler, die er als vitia bezeichnet und nicht näher spezifiziert. Dass er darauf verzichtet, diese vitia und auch deren Ursachen detailliert zu beschreiben, lässt <?page no="194"?> sich damit erklären, dass er Verhaltensweisen, die er selbst zeigt, nur schwerlich bei anderen kritisieren könnte. Denn die Kritik an falschem Verhalten als ein zentraler Inhalt seiner satirischen Dichtung würde in diesem Fall ins Leere laufen - insbesondere weil er behauptet, gerade nicht an denjenigen Schwächen und Fehlern zu leiden, die er bei anderen Menschen herausstellt. Aus dem gleichen Grund erfahren wir auch nichts über schwerwiegende moralische Schwächen und schwerwiegendes Fehlverhalten des ‚Horaz‘ - abgesehen von den Vorwürfen, die Damasippus und Davus in sat. 2,3 und 2,7 vorbringen, gegen die er jedoch verteidigt wird. Dass in sat. 2,3 und 2,7 zumindest die Möglichkeit unterschiedlichen Fehlver‐ haltens des ‚Horaz‘ anhand detaillierter Vorwürfe anderer aufgeworfen wird, lässt sich wie folgt erklären: ‚Horaz‘ selbst inszeniert sich in Buch 2 der Satiren als Person, die noch mehr in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gerückt ist als in Buch 1. Es wirkt deshalb plausibel, dass beispielsweise Damasippus davon ausgeht, über ‚Horaz‘ und seine Lebensführung Bescheid zu wissen und ihm konkretes Fehlverhalten vorwerfen zu können. Dass Davus Spott über und konkrete Kritik an seinem Herrn formuliert, erscheint auf Grund des evozierten Settings der Satire an den Saturnalia und auf Grund des auch im Text beschriebenen sozialen Verhältnisses zwischen ‚Horaz‘ als Herrn und Davus als seinem Sklaven ebenfalls plausibel. Darüber hinaus ist die Ausformulierung konkreter Vorwürfe in beiden Texten besonders dazu geeignet, ‚Horaz’‘ satiri‐ sche Kompetenz zu verhandeln, da sie ihm genau das Verhalten vorwirft, das er in Buch 1 bei anderen kritisiert hatte. ‚Seneca‘ benennt verschiedene Formen von Schwäche, Scheitern und Fehl‐ verhalten, die aus dem Zustand seines animus resultieren, und nutzt entspre‐ chende Aussagen über seine seelische Fallibilität, um seine Rolle als Autor philosophisch-paränetischer Briefe zu verhandeln. Im Gegensatz zu ‚Horaz‘ führt er die Kompetenz zur Übernahme dieser Rolle jedoch auf eigene Erfah‐ rungen in genau denjenigen Bereichen zurück, über die er schreibt. Dabei scheint er darum bemüht zu sein, eine Balance zwischen vagen und konkreten Darstellungen seiner seelischen Fallibilität zu finden. In epist. 8, 27 und 68 erhält man keine genauen Informationen über die „Geschwüre“ (ulcera) in ‚Senecas‘ Seele. Etwas ausführlicher geht er in epist. 1 und 63 auf seinen falschen Umgang mit Zeit und Trauer ein. Differenzierter fallen Aussagen in epist. 7 und vor allem 87 aus, mit denen er auf sein Scheitern zu sprechen kommt, bisher gemachte Fortschritte zu konsolidieren. Für diese Balance zwischen vagen und konkreten Aussagen über die eigene Fallibilität lassen sich zwei Erklärungen finden: Auf der einen Seite würden de‐ taillierte Beschreibungen die Erfahrungen ‚Senecas‘ und somit auch seine Kom‐ 194 5 Fazit: Persuasive Funktionen der Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten <?page no="195"?> 3 Die Widmung an Maecenas erfolgt in sat. 1,1,1. Namentliche Anreden an ihn finden sich in 1,3,64; 1,6,1 und 47. 4 Das Lesepublikum kann und soll in dem als falsch und/ oder lächerlich dargestellten Verhalten eigenes Verhalten wiedererkennen, so 1,1,69-70: quid rides? - mutato nomine petenzen, die er auf diese Erfahrungen zurückführt, auf Bereiche einschränken, in denen er selbst schwach ist, scheitert und Fehler begeht; zudem könnte er Lucilius wohl kaum dazu motivieren, sich an Denk- und Handlungsweisen zu orientieren, deren genaues Gegenteil er als sein Lehrer, Erzieher und Ratgeber praktiziert. Auf der anderen Seite ist ‚Seneca‘ um den Nachweis bemüht, dass er selbst über theoretisches und vor allem praktisches Wissen in denjenigen Bereichen verfügt, über die er sich mit Lucilius austauscht, und dass seine Ratschläge und Verhaltensanweisungen, wie anhand seiner eigenen Person vorgeführt wird, tatsächlich anwendbar sind und wirksam sein können. Wenngleich die orthodoxe Stoa keine Abstufung unterschiedlicher Schwä‐ chen und Fehler kennt und eine solche Abstufung auch in den Epistulae morales nicht explizit vorgenommen wird, suggeriert ‚Seneca‘ des Öfteren, durchaus schwerwiegende Schwächen und Fehler zu haben beziehungsweise zu begehen. Der richtige Umgang mit Zeit und mit der menschlichen Sterblichkeit sind wich‐ tige Anliegen nicht nur der Epistulae morales, sondern vieler philosophischer Schriften des historischen Seneca. Scheitern und Fehlverhalten im Umgang mit diesen beiden Aspekten des menschlichen Lebens, wie sie in epist. 1 und 63 für die Autor-persona beschrieben werden, sind somit auch unabhängig von der Frage, ob Fehler aus stoischer Sicht überhaupt verschieden gewichtet werden können, als durchaus bedeutsam anzusehen. Dies gilt auch für die in Brief 7 und 87 geschilderten Rückfälle ‚Senecas‘ in falsche Denk- und Handlungsmuster. Die Ausprägungen seiner seelischen Fallibilität sind also, anders als es ‚Horaz‘ für seine Person behauptet, nicht alle als harmlos einzustufen, wie auch ihre metaphorische Bezeichnung als „Geschwüre“ (ulcera), „Eiterbeule“ (vomica) und „Ansammlung verdorbener Säfte“ (collectio) in den Briefen 8, 27 und 68 nahelegt. Dass ‚Senecas‘ Selbstaussagen über eigene moralische Schwächen und Fehler detaillierter ausfallen als die des ‚Horaz‘, lässt sich auch auf die jeweilige Gattung und auf die damit einhergehenden Kommunikationssituationen der Satiren und der Epistulae morales zurückführen. Zwar ist das erste Buch der Satiren dem Maecenas gewidmet und ‚Horaz‘ wendet sich vereinzelt auch direkt an ihn. 3 Die meisten Satiren des ersten Buchs evozieren jedoch keine konkrete Kommunikationssituation, ihre Kritik richtet sich meist an nicht näher bestimmbare Typen menschlicher Verhaltensweisen, die in einer zweiten Person Singular oder Plural angesprochen werden, oder an eine nicht näher bestimmte Allgemeinheit beziehungsweise an das Lesepublikum. 4 Im Gegensatz 5.1 Die Darstellung moralischer Schwächen und Fehler 195 <?page no="196"?> de te / fabula narratur. Zu den Adressaten der Satiren s. Braund (1996) 52-59; McNeill (2001); Yona (2018) 5-7. 5 Auf S. 146-147 argumentiere ich, dass diese Kommunikationssituation auch ein Grund dafür sein kann, dass ‚Senecas‘ Aussagen über seine Fallibilität vage bleiben: Lucilius kennt ihn sehr gut und braucht deshalb keine genaueren Informationen. Der verbannte ‚Naso‘ macht sich die Darstellung seiner brieflichen als einer intimen und vertraulichen Kommunikation bspw. in Pont. 1,10 ausdrücklich zu Nutze. S. dazu Kap. 3.3.2. 6 Erwähnt wird lediglich der für das Exil verantwortlich gemachte error, den ‚Naso‘ vor seiner Verbannung begangen hat. Wie Ehlers (1988) zeigt, stellt ‚Naso‘ diesen error zwar als ein Versehen, nicht jedoch als harmlosen Fehltritt dar, indem er sein Exil als Strafe für diesen error als gerechtfertigt, teils sogar als zu milde bezeichnet. S. dazu auch S. 109 Anm. 108 . Vor allem in trist. 2, aber auch an vielen anderen Stellen argumentiert ‚Naso‘, dass auch das carmen der Ars amatoria als zweite im Text immer wieder genannte Verbannungsursache nicht als moralisches Fehlverhalten anzusehen ist. dazu werden die Epistulae morales als intime und vertrauliche Briefe dargestellt, in denen ‚Seneca‘ gegenüber Lucilius als einzigem Adressaten offen, aufrichtig und ohne Gefahr beispielsweise für seine öffentliche Reputation über seine Fallibilität sprechen kann. 5 Dass in sat. 2,3 und 2,7 detailliert auf mögliches Fehlverhalten des ‚Horaz‘ eingegangen wird, lässt sich durch das dialogische Setting beider Satiren und den jeweiligen Wunsch der Gesprächspartner des ‚Horaz‘ erklären, ihn in möglichst schlechtes Licht zu rücken. In den Tristia und Epistulae ex Ponto erhalten wir keine Informationen darüber, dass die Autor-persona im Exil moralische Schwächen hat oder Fehler begeht. 6 Deren Eingeständnis wäre für die Persuasionsziele, die ‚Naso‘ selbst formuliert, sogar hinderlich. Denn in der Welt, die in den beiden Gedichtsamm‐ lungen evoziert wird, würden entsprechende Hinweise kaum Mitleid für den Verbannten hervorrufen. Sie wären vielmehr dazu geeignet, einen gegenteiligen Effekt zu erzeugen, da sie Adressatinnen und Adressaten sowie Leserinnen und Leser zu dem Schluss bewegen könnten, ‚Nasos‘ Lebensführung in Tomi sei moralisch fragwürdig, weshalb er kein Mitleid verdiene und zu Recht verbannt sei. 5.2 Die Darstellung körperlicher Krankheiten und Gebrechen Dass ‚Naso‘ und ‚Seneca‘ anders als ‚Horaz‘ bisweilen sehr ausführlich auf ihre körperliche Fallibilität eingehen, erscheint zunächst angesichts des Alters des jeweiligen historischen Autors plausibel. Der historische Horaz war zum Entstehungszeitpunkt der beiden Bücher der Satiren ca. 30 beziehungsweise 35 Jahre alt, Ovid wurde im Alter von 51 Jahren verbannt, Seneca schrieb 196 5 Fazit: Persuasive Funktionen der Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten <?page no="197"?> 7 Horaz wurde 65 v. Chr. geboren, Buch 1 wurde 31/ 30 v. Chr. veröffentlicht, Buch 2 36/ 35 v. Chr. (s. dazu S. 55 Anm. 105). Ovid wurde 43 v. Chr. geboren (trist. 4,10,3-6, 11-14) und 8/ 9 n. Chr. verbannt. Die Tristia wurden 9-12 n. Chr., Pont. 1-3 im Jahr 13/ 14 n. Chr., Pont. 4 wohl posthum publiziert (s. dazu Wulfram 2008, 259-279, 376-378). Seneca wurde um die Zeitenwende geboren, die Epistulae morales werden auf nach 62 n. Chr. datiert (s. dazu Edwards 2019, 3; Soldo 2021, xiii-xiv). Zur Inszenierung der Autor-personae ‚Naso‘ und ‚Seneca‘ als ältere Männer s. S. 19 Anm. 29 und S. 155 Anm.-73. 8 S. dazu S.-171 Anm.-119 und 121. 9 ‚Naso‘ schreibt sich die Verantwortung für sein Exil zwar selbst zu, indem er es als grundsätzlich gerechtfertigte Strafe für seinen error darstellt (s. dazu S. 109 Anm. 108 die Epistulae morales mit knapp 60 Jahren. 7 ‚Naso‘ und ‚Seneca‘ nutzen die Darstellung ihrer körperlichen Fallibilität, die sie als gravierend, teils sogar als potentiell lebensbedrohlich schildern, jedoch auch als Mittel, um sich selbst zu inszenieren. ‚Seneca‘ verwendet Informationen über seine körperliche Fallibilität des Öfteren als Aufhänger von Briefen, 8 geht aber beispielsweise in epist. 54 und 78 auch ausführlich auf eigene Krankheiten ein. Er kann so einerseits auf seine jahrelange Erfahrungskompetenz im Umgang mit diesen Krankheiten hinweisen und andererseits die Relevanz der Epistulae morales hervorheben. Denn wie beispielsweise seine Beschreibung physischen Alterns als natürlicher Prozess zeigt, muss sich jeder Mensch mit körperlichen Mängeln und Defekten auseinandersetzen. Dabei helfe, so wird anhand ‚Senecas‘ Person vorgeführt, die von ihm beschriebene und empfohlene Art, Philosophie zu betreiben. Noch häufiger als die Epistulae morales gehen die Elegien Ovids auf Krank‐ heiten ihrer Autor-persona ein. Zum einen lässt sich das wie im Falle der Epistulae morales auf die briefliche Kommunikationssituation einiger Tristia und fast aller Epistulae ex Ponto zurückführen, zum anderen auch auf literari‐ sche Konventionen der Gattung Elegie, die einen leidenden und scheiternden Ich-Sprecher voraussetzt. Vor allem aber kann es mit den Persuasionszielen erklärt werden, die ‚Naso‘ selbst formuliert: Er muss seine Lage in Tomi als möglichst schlimm schildern, um den Inhalt seiner Dichtung rechtfertigen und um an Mitleid und Hilfe seiner Adressaten- und Leserschaft appellieren zu können. Dazu beschreibt er unterschiedliche körperliche Gebrechen, geht aber auch auf psychische Erkrankungen ein, die er teils als Folge, teils als Ursache seiner physischen Schwächen und Krankheiten darstellt. Ebenfalls auf Grund der von ihm selbst formulierten Persuasionsziele bestimmt ‚Naso‘ im Gegensatz zu ‚Seneca‘ genau eine Ursache all seiner körperlichen und auch seelischen Erkrankungen: Er macht ausschließlich das Exil, genauer gesagt die dort herrschenden Lebensbedingungen, für sie verantwortlich. 9 ‚Seneca‘ 5.2 Die Darstellung körperlicher Krankheiten und Gebrechen 197 <?page no="198"?> und S. 196 Anm. 6). Doch bezieht sich diese Verantwortung nur auf früheres (Fehl-)Ver‐ halten. In Tomi selbst verhält sich ‚Naso‘ seiner Aussage nach richtig und kann sich deshalb als unschuldig Leidender inszenieren. Zu dieser Inszenierung in Pont. 1,10 s. Kap. 3.3.2. 10 In sat. 1,5 berichtet ‚Horaz‘ u. a. über Magenprobleme, Schlaflosigkeit und eine Bindehautentzündung (lippitudo), die er allesamt auf widrige Bedingungen einer Reise zurückführt, und lenkt die Aufmerksamkeit damit von den politischen Zeitumständen dieser Reise im Gefolge des Maecenas weg. 11 S. dazu S.-63-64 mit Anm.-141. 12 Zu Horaz’ „Playing at Lyric’s Boundaries“ in Buch 2 der Satiren s. Freudenburg (2006); S.-61 Anm.-130. hingegen nennt abgesehen von natürlichen und unabwendbaren Alterungspro‐ zessen keine Ursachen für seine Krankheiten. Sie lassen sich jedoch mit der senecanischen Anthropologie der Schwäche erklären, der zufolge jeder Mensch von Geburt an ein Mängelwesen und deshalb auch mit physischen Defiziten und Defekten behaftet ist. Da die Darstellung eigener physischer Krankheiten und Gebrechen für die Inszenierung des ‚Horaz‘ keinen Mehrwert hat, spricht er mit Ausnahme von sat. 1,5 nicht über seine Gesundheit oder seinen Körper. 10 5.3 Die Darstellung literarischen Scheiterns In sat. 2,3 wirft Damasippus dem ‚Horaz‘ literarisches Scheitern in der Hinsicht vor, dass er seiner Profession als Satiriker aus Faulheit nicht nachkomme und keine satirische Dichtung zustande bringe. Dieser Vorwurf wird jedoch im Text selbst widerlegt und der ästhetische Anspruch der Satiren betont. 11 In sat. 2,6 schildert ‚Horaz‘ seinen im Vergleich zu sat. 1,6 stark veränderten Tagesablauf und zeigt damit indirekt, wie er am Verfassen satirischer Dichtung insofern scheitern muss, als sein sozialer Aufstieg seine bisherigen Handlungsmöglich‐ keiten als Satiriker beendet. Zugleich deutet er aber auch neue Handlungsmög‐ lichkeiten an und stellt seine literarische Kompetenz unter Beweis, indem er die äußeren Umstände, die ihn daran scheitern lassen, satirische Dichtung so zu schreiben, wie er es bisher gewohnt war, als Anlass nimmt, sich in Buch 2 neuen Formen satirischen Schreibens und mit den Epoden, den Carmina und den Epistulae letzten Endes auch neuen Inhalten und Gattungen zuzuwenden. Der soziale Aufstieg, der ‚Horaz‘ als Satiriker scheitern lässt, erscheint damit letztlich als fruchtbarer Boden für neue literarische Unternehmungen. 12 Auch ‚Naso‘ behauptet, in literarischer Hinsicht zu scheitern. Sein Scheitern wird jedoch anders beschrieben. Dass äußere Bedingungen die Handlungsmög‐ lichkeiten des ‚Horaz‘ als Satiriker beenden, geht in sat. 2,6 nur indirekt aus 198 5 Fazit: Persuasive Funktionen der Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten <?page no="199"?> 13 Stellenangaben dazu S.-85 Anm.-15 und 16. Zum Verlust des Lateinischen s. Kap. 3.5.2. 14 S. dazu S.-94-95. 15 75,1: Minus tibi accuratas a me epistulas mitti quereris. Quis enim accurate loquitur nisi qui vult putide loqui? Qualis sermo meus esset si una desideremus aut ambularemus, inlaboratus et facilis, tales esse epistulas meas volo, quae nihil habent accersitum nec fictum. Diese Aussage ist mit der „pose of poetic decline“ ‚Nasos‘ insofern vergleichbar, als sie die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die sprachliche Gestaltung der Epistulae morales lenkt. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass ‚Naso‘ behauptet, auf Grund äußerer Umstände keine gute Dichtung verfassen zu können, ‚Seneca‘ hingegen kein ästhetisches Urteil über seine Briefe fällt und behauptet, absichtlich auf deren rhetorische Ausgestaltung zu verzichten. Zu dieser simplicitatis simulatio in den Epistulae morales s. das gleichnamige Unterkapitel bei Dietsche (2014) 98-101. der Beschreibung seines Tagesablaufs und dem Kontrast zu seinem in sat. 1,6 geschilderten Tagesablauf hervor. ‚Naso‘ hingegen sagt selbst immer wieder ausdrücklich, dass die Verbannung und die dort herrschenden Bedingungen ihm am Verfassen qualitativ hochwertiger Dichtung hindern würden und ihn sogar seine Muttersprache als grundlegende Voraussetzung für das Verfassen von Dichtung verlernen ließen. 13 Im Gegensatz zu ‚Horaz‘ attestiert er den äußeren Umständen seiner Lebenssituation auch unmittelbare Folgen auf sein Inneres, beispielsweise indem er über Depressionen berichtet, die ihn nur minderwertige Elegien traurigen Inhalts dichten ließen. Abstrahiert man entsprechende Aus‐ sagen von der vordergründigen Deutungsebene, ist ‚Nasos‘ Scheitern freilich nur eine „pose of poetic decline“. 14 Es ist sogar fruchtbar in dem Sinne, dass ‚Naso‘ gerade durch die Darstellung dieses behaupteten literarischen Scheiterns sein poetisches Können und seine Innovationskraft als exul poeta et patiens zeigen kann. Sowohl in den Satiren als auch und vor allem in den Tristia und Epistulae ex Ponto wird das (vermeintliche) literarische Scheitern der Autor-persona letztlich also angesprochen, um ihr schriftstellerisches Können vorzuführen. Dieser Aspekt spielt für ‚Seneca‘ zumindest in der evozierten brieflichen Kom‐ munikationssituation mit Lucilius keine Rolle. Zwar steht die in hohem Maße rhetorische und ästhetisch anspruchsvolle Gestaltung der Epistulae morales für das Lesepublikum außer Frage. Beispielsweise in epist. 75 betont ‚Seneca‘ ge‐ genüber Lucilius jedoch, absichtlich keine ausgefeilten Briefe zu schreiben, da er mit ihm wie in einem persönlichen und unverstellten Gespräch kommunizieren wolle. 15 Auch die Bewertung der in den Epistulae morales dargestellten Lebens- und Schreibsituation ‚Senecas‘ unterscheidet sich von denjenigen ‚Horaz’‘ und ‚Nasos‘. Denn während ‚Horaz‘ seinen Aufenthalt auf dem Sabinum fernab der Großstadt Rom in sat. 2,6 als hinderlich für seine literarische Tätigkeit als 5.3 Die Darstellung literarischen Scheiterns 199 <?page no="200"?> 16 Zu epist. 8 s. Kap. 4.2.2.1, zu epist. 68 s. Kap. 4.2.2.3. Satiriker beschreibt und auch ‚Naso‘ behauptet, dass ihn die Trennung von Rom am Verfassen hochwertiger Dichtung scheitern lasse, erklärt ‚Seneca‘, sich absichtlich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen zu haben, um „noch mehr Menschen nützen zu können“ (epist. 8,1: in hoc me recondidi et fores clusi, ut prodesse pluribus possem), und bezeichnet seinen Rückzug beispielsweise in Brief 8 und 68 ausdrücklich als fruchtbaren Boden sowohl für die Arbeit an sich selbst als auch an seinem literarisch-philosophischen Werk. 16 5.4 Fallibilität als möglicher Ausgangspunkt von Lern- und Entwicklungsprozessen ‚Horaz‘ und ‚Seneca‘ beschreiben ihre Schwächen, ihr Scheitern und ihr Fehlverhalten als anthropologisches Phänomen und erklären, dass sich die Auseinandersetzung mit ihnen lohne. Beide bezeichnen es aber nie als Ziel, schwach zu sein, zu scheitern oder Fehler zu begehen, um absichtlich Situa‐ tionen für eine solche Auseinandersetzung herbeizuführen. Vielmehr wollen sie Eigenschaften und Verhaltensweisen, die sie selbst als etwas Negatives beurteilen, ablegen oder zumindest Strategien für einen konstruktiven Umgang mit ihnen finden. Dennoch stellen sie die unterschiedlichen Ausprägungen ihrer Fallibilität auch als etwas potentiell Nützliches in dem Sinne dar, dass sie sich unter bestimmten Voraussetzungen zum Ausgangspunkt positiv konnotierter Lern- und Entwicklungsprozesse machen lassen. Sie behaupten nicht, durch solche Prozesse selbst klug im Sinne von fehlerfrei oder weise geworden zu sein, jedoch klüger: Beide betonen, gerade durch die Auseinandersetzung mit ihrer Fallibilität Erfahrungen und Kompetenzen erworben zu haben und immer noch zu erwerben, die sie dazu befähigen, satirische Kritik zu üben beziehungsweise philosophisch-paränetische Briefe zu verfassen. ‚Naso‘ hingegen führt seine physischen und psychischen Gebrechen sowie sein (vermeintliches) literarisches Scheitern nicht auf anthropologische Ursa‐ chen zurück. Er spricht nicht davon, als Mensch schon vor seiner Verbannung fallibel gewesen zu sein, sondern macht ausschließlich die Bedingungen in Tomi dafür verantwortlich. Er berichtet von keinen aktiven Versuchen, seine Verbannung zu akzeptieren und deren physische und psychische Folgen zu bewältigen. Selbst den Erwerb von Kenntnissen der einheimischen Sprachen seines Exilorts stellt er nicht als geplanten Prozess dar, um sich in die dortige Gesellschaft zu integrieren, sondern als von ihm nicht kontrollierbare Folge 200 5 Fazit: Persuasive Funktionen der Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten <?page no="201"?> 17 Stellenangaben dazu S.-129 Anm.-188. 18 Eine solche Nachfrage antizipieren z. B. epist. 1,4 und 63,14, wörtlich zitiert wird sie in 8,1 und 27,1. Auch die Briefe 7 und 68 sind ausdrücklich als Antwortschreiben ‚Senecas‘ markiert, des Weiteren z.-B. die Briefe 9, 14, 23, 71, 72, 76 und 88. 19 S. dazu Kap. 3.2.1 und 3.2.2. In trist. 4,1 erklärt Naso, dass er über seine Verbannung dichte, um sich durch die Tätigkeit des Dichtens gerade von der Verbannung abzu‐ äußerer Einflüsse. 17 Anders als ‚Horaz‘ und ‚Seneca‘ nutzt er eigene Schwächen und eigenes Scheitern nicht als Objekt, um an sich selbst zu arbeiten, sondern um die inhaltliche Ausrichtung seiner Elegien auf seine Leidenssituation als Verbannter zu rechtfertigen, um auf seine Pathos-Kompetenz hinzuweisen und um die Darstellung eigener Schwäche und eigenen Scheiterns zur Grundlage seiner Hilfegesuche und zur Grundlage des Nachweises seines poetischen Könnens zu machen. 5.5 Die Darstellung von Fallibilität in Kontexten der Rechtfertigung Die jeweilige Autor-persona der untersuchten Texte kommt häufig in unter‐ schiedlichen Kontexten der Rechtfertigung auf ihre Fallibilität zu sprechen und nutzt die Darstellung dieser Fallibilität auch als Begründung, weshalb sie literarisch tätig ist. ‚Horaz‘ nimmt in sat. 1,3,19-20 die kritische Nachfrage vorweg, was ihn dazu befähigt, das Verhalten anderer zu beurteilen, und behauptet in sat. 1,4 mit seiner Dichtung auf Kritik, in sat. 1,6 auf Spott und Schmähungen anderer zu reagieren. In den dialogischen Satiren 2,3 und 2,7 sind all seine direkten Reden Reaktionen auf Vorwürfe seiner Gesprächspartner. ‚Seneca‘ gibt die eigene seelische und körperliche Fallibilität bisweilen als unmittelbaren Schreibanlass aus (z. B. epist. 12 und 54) und präsentiert mehrere Epistulae morales als Antwort auf teils antizipierte, teils in direkter Rede zitierte Nachfragen des Lucilius, was ihn als falliblen Menschen dazu qualifiziert, parä‐ netische Briefe zu verfassen. 18 Insbesondere in den Satiren und in den Epistulae morales werden somit häufig Situationen der Rechtfertigung konstruiert, in deren Rahmen die Autor-persona auf ihre Fallibilität zu sprechen kommt. Diese Konstruktion ausdrücklicher Rechtfertigungssituationen ist in den Tristia und Epistulae ex Ponto weniger stark ausgeprägt. Doch wird, wie die Prolog-Elegien der Tristia zeigen, auch hier die Inszenierung einer falliblen Autor-persona genutzt, um die Stoffwahl direkt und indirekt zu erklären, indem ‚Naso‘ seine Exildichtung mehrfach als unmittelbare Folge seiner Exilerfahrung bezeichnet und diese Exilerfahrung als Inspirationsquelle beschreibt, so dass er gar nicht anders könne, als über sie zu dichten. 19 ‚Naso‘ nutzt die wiederholte 5.5 Die Darstellung von Fallibilität in Kontexten der Rechtfertigung 201 <?page no="202"?> lenken. Da dieser Aspekt, der sich ebenfalls als eine Rechtfertigung lesen lässt, von Stroh (1981) eingehend untersucht wurde, bin ich nicht näher auf ihn und auf trist. 4,1 eingegangen. 20 Zu sat. 1,4 s. Kap. 2.2.2. 21 Zu diesem Scheitern s. Kap. 2.3.1 und Kap. 5.3. Zur monologischen Form von Buch 1 und zur dialogischen Form von Buch 2 s. S. 27 Anm. 7, S. 31 Anm. 24 und S. 56 Anm. 108. Zur veränderten Lebens- und Schreibsituation des ‚Horaz‘ im zweiten Buch der Satiren s. S.-55 mit Anm.-105 und 107. 22 Zur literarischen Kritik in sat. 1,4 s. S. 44-45, dort weiterführende Literatur in Anm. 64 und 65. Zur Rechtfertigung des sozialen Aufstiegs und der Freundschaft mit Maecenas im ersten Buch der Satiren s. Kap. 2.2.3. Behauptung, auf Grund der in Tomi herrschenden Bedingungen und auf Grund seines Zustands als exul patiens keine hochwertige Dichtung mehr verfassen zu können, auch, um sich als exul poeta in Form einer captatio benevolentiae für die - wohlgemerkt nur vermeintlich - geringe literarische Qualität seiner Elegien zu rechtfertigen. Auch ‚Horaz‘ erklärt Form und Inhalt der Satiren mit dem Hinweis auf seine Fallibilität, indem er den Impetus zur Beobachtung und Kritik des Verhaltens anderer in sat. 1,4 auf die Auseinandersetzung mit seinen eigenen Schwächen und Fehlern und die Art und Weise dieser Beobachtung und Kritik und somit die Form seiner satirischen Dichtung auf die Erziehung durch seinen freigelassenen Vater zurückführt. 20 Dass das zweite Buch der Satiren zur dialogischen Form tendiert und dass ‚Horaz‘ in sat. 2,3 und 2,7 selbst zum Ziel von Spott und Kritik wird, lässt sich mit seinem Scheitern erklären, als etabliertes Mitglied der römischen (Kultur-)Elite satirische Texte so zu schreiben, wie er es in Buch 1 getan hat. 21 Die Darstellung der eigenen Fallibilität durch die Autor-persona lässt sich in den Satiren auch in folgender Hinsicht als eine Rechtfertigung beziehungsweise als eine Verteidigung verstehen. Indem der historische Autor Horaz seine Autor-persona über eigene Schwächen, eigenes Scheitern und eigenes Fehlver‐ halten sprechen lässt, kann er sozusagen in Vorleistung gehen, plausible oder tatsächliche Angriffe auf seine eigene Person, zumindest jedoch auf sein im Text konstruiertes Autorbild vorwegnehmen und so potentiellen oder tatsächlichen Kritikern ‚den Wind aus den Segeln nehmen‘. Die Autor-persona ‚Horaz‘ wird so nicht nur gegen literarische Kritik verteidigt, sondern auch und vor allem gegen Kritik an ihrem sozialen Aufstieg. 22 Gerade dieser vor allem in Buch 1 immer wieder thematisierte soziale Aufstieg lässt sich auch als ein Grund für die Vagheit der Selbstaussagen des ‚Horaz‘ ausmachen. Um grundsätzlich glaubwürdig zu wirken und mögliche Vorwürfe zu antizipieren, gesteht er seine Fallibilität zwar ein; indem er in Bezug auf seine moralischen Schwächen und 202 5 Fazit: Persuasive Funktionen der Darstellung von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten <?page no="203"?> Fehler nur sehr vage von vitia spricht, bietet er als sozialer Aufsteiger möglichen Kritikern aber keine konkrete Angriffsfläche. Auch in den Epistulae morales kann die Darstellung moralischer Schwächen und Fehler der Autor-persona als Verteidigungsstrategie des historischen Autors verstanden werden. Dieser verteidigt sich vor allem in dial. 7 (vit. beat.) als Mensch, der als politisch einflussreicher Akteur, als reicher Geschäftsmann und zugleich als philosophischer Autor tätig ist, gegen den Vorwurf der doppelmora‐ lischen Lebensführung mit dem Hinweis auf seinen Status als fallibler proficiens. Auch Briefe, in denen die Autor-persona ‚Seneca‘ auf eigene moralische Schwä‐ chen, eigenes Scheitern und eigenes Fehlverhalten zu sprechen kommt, lassen sich als Teile einer solchen Verteidigung lesen. Eine solche Verteidigung der Autor-persona, die sich in Bezug zum histori‐ schen Autor bringen lässt, findet in den Tristia und Epistulae ex Ponto nur bedingt statt. Sie bezieht sich in den im Exil verfassten Elegien Ovids vor allem auf die rückblickende Darstellung des für das Exil verantwortlich gemachten Fehlverhaltens als error und auf die Aufforderung, das carmen der Ars amatoria nicht als unmoralische Liebeslehre zu verstehen. 5.5 Die Darstellung von Fallibilität in Kontexten der Rechtfertigung 203 <?page no="205"?> Literaturverzeichnis Im Folgenden sind nur Textausgaben und Übersetzungen angeführt, aus denen direkt zitiert oder auf die ausdrücklich verwiesen wird. Sie sind zunächst nach antikem Autor, dann nach Publikationsdatum geordnet. 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Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ literaturwissenschaft/ reihen/ classica-monacensia/ Band 34 Helmut Löffler Fehlentscheidungen bei Herodot 2008, X, 242 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6381-1 Band 35 Gregor von Nazianz Über Vorsehung Περὶ Προνοίας Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Andreas Schwab 2009, 142 Seiten €[D] 39,9,00 ISBN 978-3-8233-6418-4 Band 36 Peter Grossardt Achilleus, Coriolan und ihre Weggefährten Ein Plädoyer für eine Behandlung des Achilleus-Zorns aus Sicht der vergleichenden Epenforschung 2009, XII, 159 Seiten €[D] 39,9,00 ISBN 978-3-8233-6483-2 Band 37 Regina Höschele Die blütenlesende Muse Poetik und Textualität antiker Epigrammsammlungen 2010, X, 375 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6552-5 Band 38 Alexander Müller Die Carmina Anacreontea und Anakreon Ein literarisches Generationenverhältnis 2010, VIII, 300 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6575-4 Band 39 Andreas Patzer STUDIA SOCRATICA Zwölf Abhandlungen über den historischen Sokrates 2012, X, 370 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6579-2 <?page no="219"?> Band 40 Maria Gerolemou Bad Women, Mad Women Gender und Wahnsinn in der griechischen Tragödie 2011, X, 442 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-6580-8 Band 41 Karin Mayet Chrysipps Logik in Ciceros philosophischen Schriften 2010, 340 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6581-5 Band 42 Nikolaos Vakonakis Das griechische Drama auf dem Weg nach Byzanz Der euripideische Cento Christos Paschon 2011, 184 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6582-2 Band 43 Evanthia Tsigkana Studien zu Euripides’ Elektra Das Motiv der Erwartung im griechischen Drama 2012, 320 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6724-6 Band 44 Margot Neger Martials Dichtergedichte Das Epigramm als Medium der poetischen Selbstreflexion 2012, 392 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6759-8 Band 45 Isabella Wiegand Neque libere neque vere Die Literatur unter Tiberius und der Diskurs der res publica continua 2013, XIV, 362 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6811-3 Band 46 Sophia Bönisch-Meyer/ Lisa Cordes/ Verena Schulz/ Anne Wolsfeld/ Martin Ziegert (Hrsg.) Nero und Domitian Mediale Diskurse der Herrscherrepräsentation im Vergleich 2014, VIII, 485 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6813-7 Band 47 Fabian Horn Held und Heldentum bei Homer Das homerische Heldenkonzept und seine poetische Verwendung 2014, IV, 388 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6837-3 Band 48 Jan-Markus Pinjuh Platons Hippias Minor Übersetzung und Kommentar 2014, 264 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6849-6 Band 49 Olga Chernyakhovskaya Sokrates bei Xenophon Moral - Politik - Religion 2014, XII, 279 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6863-2 Band 50 Lukians Apologie Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Markus Hafner 2017, 159 Seiten €[D] 38,00 ISBN 978-3-8233-8071-9 Band 51 Manuel Caballero González Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur 2017, 628 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6991-2 <?page no="220"?> Band 52 Philipp Weiß Homer und Vergil im Vergleich Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine Ästhetik 2017, 392 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8110-5 Band 53 Andreas Patzer Von Hesiod bis Thomas Mann Dreizehn Abhandlungen zur Literatur- und Philosophiegeschichte 2018, 245 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8190-7 Band 54 Vicente Flores Militello tali dignus amico Die Darstellung des patronus-cliens- Verhältnisses bei Horaz, Martial und Juvenal 2019, 366 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8296-6 Band 55 Alexander Schütze, Andreas Schwab (eds.) Herodotean Soundings The Cambyses Logos 2023, 429 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8329-1 Band 56 Margot Neger Epistolare Narrationen Studien zur Erzähltechnik des jüngeren Plinius 2021, 448 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8345-1 Band 57 Alexander Sigl Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur 2023, 511 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8503-5 Band 58 Maria Anna Oberlinner Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris 2023, 285 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8526-4 Band 59 Cagla Umsu-Seifert Olympiodors Kommentar zu Platons Alkibiades Untersuchung, Text, Übersetzung und Erläuterungen 2023, 690 Seiten €[D] 118,00 ISBN 978-3-8233-8590-5 Band 60 Manuela Wunderl Das Symposion bei Herodot 2023, 530 Seiten €[D] 108,00 ISBN 978-3-381-10111-5 Band 61 Björn Victor Sigurjónsson Sic notus Achilles? Episches Narrativ und Intertextualität in Statius’ Achilleis 2023, 314 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-381-10721-6 Band 62 Christoph Mayr Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten Die Darstellung von Fallibilität als Inszenierungsstrategie der Autorpersona bei Horaz, Ovid und Seneca 2024, 217 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-381-12981-2 Band 63 Caroline Hähnel Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass 2024, 294 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-381-12091-8 <?page no="221"?> ISBN 978-3-381-12981-2 www.narr.de www.narr.de www.narr.de Im Zentrum dieser Monographie steht die Frage, wie die römischen Autoren Horaz, Ovid und Seneca die Darstellung eigener Schwäche, eigenen Scheiterns und eigenen Fehlverhaltens als Mittel ihrer literarischen Selbstinszenierung einsetzen. Anhand ausgewählter Passagen der Satiren, der Tristia und Epistulae ex Ponto sowie der Epistulae morales wird untersucht, welche unterschiedlichen Ausprägungen von Schwäche, Scheitern und Fehlverhalten in den Texten jeweils dargestellt werden, mit welchen sprachlichen Mitteln diese Darstellung erfolgt und welche persuasiven Effekte durch sie erzielt werden. Es wird gezeigt, dass alle drei Autoren diese Darstellung nutzen, um sich bestimmte Kompetenzen und somit letzten Endes positiv konnotierte Eigenschaften zuzuschreiben. Mayr Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten Die Darstellung von Fallibilität als Inszenierungsstrategie der Autorpersona bei Horaz, Ovid und Seneca von Christoph Mayr
