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Übergänge im Tourismus – analysieren und gestalten

Tagungsband zur AKTF-Tagung 2023

1209
2024
978-3-3811-3252-2
978-3-3811-3251-5
UVK Verlag 
Ralf Rockenbauch
Achim Schröder
Kerstin Heuwinkel
10.24053/9783381132522

Übergänge positiv gestalten Übergänge im Tourismus sind allgegenwärtig, diese zu analysieren und zu gestalten ist unumgänglich. Mit diesem Thema beschäftigte sich deswegen auch 2023 die Jahrestagung des Arbeitskreises Tourismusforschung in der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG) e. V. (AKTF). Dieses Buch enthält wertvolle Beiträge von Expert:innen aus Wissenschaft, Praxis und Politik: Marcus Bauer, Julia E. Beelitz, Frauke Boltz, Lena Braitmayer, Anja Brittner-Widmann, Sarah Dornheim, Ina Dupret, Bernd Eisenstein, Jasmin Guerra, Kerstin Heuwinkel, Corinna Jürgens, Alexander Koch, Anne Köchling, Manon Krüger, Acácia Malhado, Ralf Rockenbauch, Knut Scherhag, Bettina Schmalfeld, Achim Schröder, Sabrina Seeler und Jessica Zenner Der Tagungsband richtet sich an Forschende und Studierende der Tourismus-, Sozial- und Geowissenschaften. Er ist zudem für die Tourismuspraxis und -politik eine aufschlussreiche Lektüre.

Prof. Dr. Tim Freytag
<?page no="0"?> Ralf Rockenbauch / Achim Schröder / Kerstin Heuwinkel (Hg.) Übergänge im Tourismus - analysieren und gestalten Tagungsband zur AKTF-Tagung 2023 <?page no="1"?> Übergänge im Tourismus - analysieren und gestalten <?page no="2"?> Prof. Dr. Ralf Rockenbauch, Prof. Dr. Achim Schröder und Prof. Dr. Kerstin Heuwinkel lehren und forschen an der htw saar in Saarbrücken. <?page no="3"?> Ralf Rockenbauch / Achim Schröder / Kerstin Heuwinkel (Hg.) Übergänge im Tourismus - analysieren und gestalten Tagungsband zur AKTF-Tagung 2023 mit Beiträgen von Marcus Bauer, Julia E. Beelitz, Frauke Boltz, Lena Braitmayer, Anja Brittner-Widmann, Sarah Dornheim, Ina Dupret, Bernd Eisenstein, Jasmin Guerra, Kerstin Heuwinkel, Corinna Jürgens, Alexander Koch, Anne Köchling, Manon Krüger, Acácia Malhado, Ralf Rockenbauch, Knut Scherhag, Bettina Schmalfeld, Achim Schröder, Sabrina Seeler, Jessica Zenner <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381132522 © UVK Verlag 2024 ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISBN 978-3-381-13251-5 (Print) ISBN 978-3-381-13252-2 (ePDF) ISBN 978-3-381-13253-9 (ePub) Umschlagabbildung: © Achim Schröder Gruppenbild: © Achim Schröder ∙ htw saar Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 13 27 39 57 71 91 109 129 145 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Heuwinkel Community-based Tourism: Zugänge und Regulierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anja Brittner-Widmann Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Bedeutung und Nutzung touristischer und nicht-touristischer Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabrina Seeler, Manon Krüger, Anne Köchling, Bernd Eisenstein Perspektivenwechsel in der Lebensqualitätsforschung: Beitrag des Tourismus zur Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia E. Beelitz, Lena Braitmayer Mobilitätswende in ländlichen Destinationen: Empirische Evaluation der Rolle der Gastgeber im touristischen Informations- und Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld Transitions along generations and environmental awareness: Do younger generations prioritize environmental concerns over older generations when selecting their means of transport? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knut Scherhag Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? - Müssen sich Destinationsmanagementorganisationen neuen Aufgaben stellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler Nachfragepotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten - Zeitliche Entwicklung auf Grundlage einer Langzeitauswertung der DestinationBrand-Studienreihe . . . . . . . . . . Corinna Jürgens Medialer Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq in der Metropolregion Paris . . . . . . . Marcus Bauer, Ina Dupret, Achim Schröder Übergänge grenzübergreifend barrierefrei gestalten. Eine Analyse bei Reisen von Menschen mit Behinderung im UNESCO-Biosphärenreservat Bliesgau und dem transnationalen Europäischen Kulturpark „Bliesbrück-Reinheim“ . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> Die Teilnehmenden an der AKTF-Tagung 2023 in Saarbrücken. <?page no="9"?> Vorwort „Einszweidrei, im Sauseschritt Läuft die Zeit; wir laufen mit.“ Wilhelm Busch (1832-1908) „Übergänge im Tourismus - analysieren und gestalten“ war das Thema der Jahrestagung des Arbeitskreises Tourismusforschung in der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG) e. V. (AKTF). Die Tagung fand an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (htw saar) vom 14. bis 16.6.2023 statt. Organisiert wurde die Tagung durch das Tourismuscluster der htw saar mit Unterstützung der Fakultät für Wirtschaftswissen‐ schaften. Die Tourismus Zentrale Saarland hat die Veranstaltung ebenfalls gefördert. Dieser Tagungsband entstand aus den Beiträgen der Tourismusexpertinnen und -ex‐ perten, um Vertreterinnen und Vertretern aus der Wissenschaft, Praxis und Politik einen Überblick zur Vielfalt der Themen und Handlungsoptionen zu geben. Motiviert war die Themenwahl insbesondere durch die zahlreichen und allgegenwärtigen Übergänge im Tourismus: • Auf Reisen verlassen Menschen ihr gewohntes Umfeld, um sich vorübergehend an anderen Orten aufzuhalten. Auf der Suche nach Gegenalltag und Differenzerfahrung passieren sie räumliche, soziale, kulturelle und landschaftliche Grenzen und durch‐ laufen verschiedene Phasen der Customer Journey. • Die Betriebe entlang der touristischen Leistungskette stehen vor der Herausforderung, möglichst reibungslose Übergänge zwischen den ineinandergreifenden Prozessen der Servicekette zu garantieren. Produkte sowie Destinationen durchlaufen verschiedene Phasen des Produkt-Lebenszyklus und stehen immer vor der Frage, wie Übergänge zu gestalten sind. • Seitens der Nachfragenden führen Übergänge in den Lebensphasen zu Änderungen des Anspruchs- und Reiseverhaltens und erfordern entsprechende Reaktionen seitens der Anbietenden. • Die Digitale Transformation steht zudem für den Übergang von der analogen zur di‐ gitalen Welt mit sich ändernden Geschäftsmodellen und Prozessen. Zentrale Aufgaben hier sind die Gestaltung der technologischen Schnittstellen ebenso wie die Gestaltung des Übergangs von der Technik zum Menschen - und umgekehrt. • Aktuell sind der seitens der Arbeitgebenden beklagte Fachkräftemangel und selbstbe‐ wusste Forderungen nach Work-Life-Balance von Seiten der Nachwuchskräfte und Arbeitnehmenden deutliche Zeichen des Übergangs vom Anbieterzum Nachfrager- (Arbeits-) Markt mit entsprechenden Konsequenzen für beide Seiten. <?page no="10"?> Materialien online Details zur Tagung finden Sie auf dem Blog der htw saar unter 🔗 http: / / s.narr.digital/ zkd50) und der Website des Arbeitskreises ( 🔗 http: / / s.narr.digital/ r6by1). Auf der Jahrestagung 2023 des AKTF wurden die Möglichkeiten, Konzepte und Grenzen für die Analyse und Gestaltung der vielfältigen Übergänge im Tourismus aufgezeigt und diskutiert. Zentrale Fragestellungen der Beiträge waren: 1. Welche Übergänge gilt es im Tourismus zu analysieren? 2. Welche zentralen Herausforderungen ergeben sich aus den touristischen Übergängen? 3. Wie lassen sich Übergänge im Tourismus positiv gestalten? 4. Was lässt sich aus Übergängen der Vergangenheit für die touristische Zukunft lernen? Die Ergebnisse wurden während der Tagung in den Themenbereichen Klimawandel, Mobi‐ lität, Transformation touristischer Räume, Mobilitätswende und Destinationsmanagement präsentiert. In diesem Tagungsband werden die Erkenntnisse der qualitativen und quantitativen Forschung (Mengen- und Wertgrößen) zusammengefasst. Dadurch werden Entwicklungen verdeutlicht (Rückschau, Bestände, Vorschau), die eine weitergehende kritische Analyse ermöglichen und mit anwendungsorientierten Handlungsempfehlungen zu kombinieren sind. Ziel ist eine Intensivierung der Aspekte zum nachhaltigen Management im Tou‐ rismus unter Berücksichtigung der regionalen und internationalen Besonderheiten der touristischen Dienstleistungsunternehmen. Dabei werden auch aktuelle Trends wie Glo‐ balisierung, Digitalisierung, Entrepreneurship sowie Nachhaltigkeit in allen Belangen (ökonomisch, ökologisch, sozio-kulturell) berücksichtigt. Letztlich führen unterschiedliche Formen von Innovation, Evolution, Disruption zu den notwendigen Anpassungen an die aktuellen Trends. Dabei gilt es die Chancen und Risiken sowie Nutzen und Kosten abzuwägen - mit interdisziplinären multioptionalen Ansätzen aus geografischer, sozialwissenschaftlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Die Diversität der Beiträge der Autorinnen und Autoren findet sich thematisch, metho‐ disch, sprachlich, redaktionell und formal in diesem Tagungsband wieder. Dies zeigt sich unter anderem auch in den unterschiedlichen Umsetzungen der genderneutralen Sprache, den unterschiedlichen Zitierweisen, optischen und inhaltlichen Gestaltungen, die von den Herausgebenden nicht geändert wurden, damit die Authentizität der Beiträge erhalten bleibt. Ebenso müssen die geäußerten Sichtweisen der Autorinnen und Autoren nicht zwangsläufig mit den Sichtweisen der Herausgebenden übereinstimmen. Letztlich geht es darum die Vielfalt der wissenschaftlichen Sichtweisen zu dokumentieren. Das Tourismuscluster der htw saar und die Herausgebenden danken allen, die zum Erfolg der Tagung und dem Tagungsband beigetragen haben, insbesondere den Autorinnen und Autoren, dem UVK Verlag, der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der htw saar, der Tourismus Zentrale Saarland, dem AKTF sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. 10 Vorwort <?page no="11"?> Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern viel Vergnügen bei der Lektüre des Ta‐ gungsbandes, der weiteren wissenschaftlichen Diskussion, ihrem weiteren Werdegang und würden uns freuen, wenn sie weiterhin eine nachhaltige Entwicklung persönlich vorantreiben, denn … „Nichts in der Geschichte des Lebens ist beständiger als der Wandel.“ Charles Darwin (1809-1882) Prof. Dr. Ralf Rockenbauch, Prof. Dr. Achim Schröder, Prof. Dr. Kerstin Heuwinkel Vorwort 11 <?page no="13"?> Community-based Tourism: Zugänge und Regulierungen Kerstin Heuwinkel Schlagwörter | Community-based Tourism, Tourismussoziologie, Reiseleitung, Zu‐ gänge, Regeln Abstract | Die Nutzung privater Räume im Tourismus hat eine lange Tradition. Neu ist eine durch ungleiche Machtverhältnisse ermöglichte Eroberung der letzten Sphären des Privaten. Unter dem Begriff des Community-based Tourism (CBT) werden u. a. Räume wie Kindergärten und Schulen oder auch Erlebnisse wie private Feiern zugänglich gemacht und in touristische Produkte überführt. Der Wunsch nach Authentizität und die vergleichsweise niedrigen Preise lassen die Nachfrage nach solchen Angeboten steigen. Ziel des Beitrags ist die exemplarische Analyse der Zugänge und Regulierungen touristischer Angebote im Kontext des Community-based Tourism. 1 Übergänge im Tourismus Die speziell für den Tourismus geschaffenen Strukturen, insbesondere in den Bereichen der Beherbergung, der Verpflegung, der Kultur-, Freizeit- und Sportaktivitäten, haben an Attraktivität eingebüßt oder werden von vielen Reisenden als Element des negativ besetzten Mainstreamresp. Massentourismus abgelehnt. Hinzu kommt der unter dem Begriff des Overtourism geführte Diskurs hinsichtlich des Zuviels an Tourist: innen in Destinationen (Goodwin, 2017; Kagermeier, 2021). Als Konsequenz verändern sich in Kombination mit steigenden Reisendenzahlen die Angebotsstrukturen hin zu Angeboten im Privaten. Dazu zählen nicht nur klassische Formen wie Bed and Breakfast, Chambre d’hôtes oder auch Urlaub auf dem Bauernhof, die privatwirtschaftlich organisiert sind, sondern Homestays, Kochkurse in Privaträumen sowie die Besuche von Kindergärten und Schulen im Kontext von Führungen und Touren in Communities insbesondere im Globalen Süden. Die Angebote im Umfeld von Communitybased Tourism (CBT) dringen noch weiter in das persönliche Umfeld vor und erobern die letzten Sphären des Privaten, weil sie auch ungefragt in Lebensbereiche eindringen. In Goffmans Modell der Bühnen werden nicht nur die Vorderbühnen, sondern auch die Hinterbühnen für das Publikum geöffnet (Goffman, 2003). Das Element der Freiwilligkeit und das Ideal der relativ ausgeglichene Machtbalancen (Elias, 1993) scheinen vor dem Hintergrund eines ökonomischen Ungleichgewichts gänzlich verloren zu gehen. Feminis‐ <?page no="14"?> tische Theorien (vgl. exemplarisch Cole, 2018 und Enloe, 2014) und Konzepte des Neo- Kolonialismus (vgl. exemplarisch Sharpley, 2018) decken geschichtlich und gesellschaftlich verankerte Beweggründe auf. Der Wunsch nach Authentizität und die vergleichsweise niedrigen Preise lassen die Nachfrage nach solchen Angeboten mitten im echten Leben steigen. Enzensberger hat bereits 1958 den Übergang vom sight-seeing zum life-seeing beschrieben: „Wie die Leute, die man besucht, in Wirklichkeit leben, das wird als neuer Gegenstand touristischen Interesses eingesetzt“ (Enzensberger, 1958, S. 171). Als treibende Kraft sieht er „Überlegungen kluger Promotoren“ (ebd.), die geschickt zwischen fehlenden Angeboten und unbefriedigter Suche vermitteln. Unter Begriffen wie Responsible und Slow Tourism, wird die nachfrageseitige Verschiebung analysiert und die Nutzung authentischer Angebote erfolgt bezogen auf Destinationen und Reisende. Etwas weniger berücksichtigt als die Angebotsseite ist bislang die Sicht der anderen Seite, sprich der Menschen, deren Leben betrachtet, miterlebt und zeitweise gelebt wird. Zwar finden sich frühe Modelle u. a. von Doxey (1975) und umfassende Konzepte wie Quality of Life (QOL) (Uysal et al., 2016). Allerdings bleiben diese in den Betrachtungen oft an der strukturellen Oberfläche oder fokussieren auf die Entwicklung und Überprüfung (psycho‐ logischer) Konstrukte. Auch hat sich die Qualität des life-seeings verändert. Wurden in den 1970er Jahren die Fischer in einem Hafen in Griechenland oder Italien beobachtet, sind es heute die Kindergartenkinder in Ländern wie Südafrika, Namibia und Botswana. Hinzu kommt, dass viele Angebote nicht reguliert sind und oft von Menschen angeboten werden, die nicht die erforderlichen Qualifikationen haben. Schließlich können sich im Gegensatz zu widerstandserprobten Katalan: innen die Einwohner: innen von Khayelitsha (Community in Kapstadt) aufgrund der strukturell schwächeren Position schlechter wehren. Diese wird verschärft durch fehlende Möglichkeiten der (medialen) Artikulation und politischen Ein‐ flussnahme. Ein zentraler Begriff ist in diesem Zusammenhang Empowerment (Heuwinkel, 2024, S.-63). Der Aufbau des Beitrags ist wie folgt. Er beginnt mit einer kurzen Einführung in CBT. Dem folgt eine Analyse der Angebotsstruktur mit einem besonderen Fokus auf die Veran‐ staltenden von CBT-Touren. Ein Vergleich zwischen Kapstadt und Mumbai fokussiert auf die Definition von Regeln für das Eindringen in das private Umfeld sowie die Festsetzung von Grenzen. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf mögliche Entwicklungen in europäischen Ländern. Somit adressiert der Beitrag den Aspekt der Fluidität (Bauman, 2003) zwischen tou‐ ristischen und privaten Sphären ausgehend von tourismussoziologischen Ansätzen (Heu‐ winkel, 2023), das dramaturgische Handeln und die Frage von Ungleichheiten und Macht‐ balancen. 2 Community-based Tourism: Das Private als Attraktion Community-based Tourism (CBT) ist kein klar abgegrenzter Begriff, sondern dient als ein Oberbegriff (umbrella term), der eine Vielzahl von touristischen Angeboten und Aktivitäten umfasst, die sich dadurch hervorheben, dass die Interessen der lokalen Bevölkerung berücksichtigt werden sollen. Damit verbunden sind die Annahmen, dass erstens CBT 14 Kerstin Heuwinkel <?page no="15"?> vorwiegend positive Effekte für die Bevölkerung hat und zweitens die Reisenden eine andere Art von Erlebnis und Interaktion suchen. Daraus resultierend findet oft eine Abgrenzung vom Pauschal- und Massentourismus statt (vgl. exemplarisch Lwoga, 2019). Die damit verbundene pauschale Abwertung des standardisierten und kommodifizierten Tourismus und die ebenfalls pauschale Aufwertung des CBT ist verkürzt (vgl. dazu Mundt, 2011). So wenig wie „der“ Massentourismus immer vor allem negative Auswirkungen hat, ist CBT automatisch gut für Bevölkerung, Umwelt und lokale Wirtschaft. Eine Analyse der oft in der wissenschaftlichen Literatur zitierten Definitionen zeigt, dass die am häufigsten verwendeten Schlagworte Beteiligung oder Partizipation, Empowerment, Entwicklung und kollektive Vorteile für die lokale Gemeinschaft sind (Heuwinkel, 2024). Die zentrale Idee ist, dass Tourismus, der auf lokalen Begebenheiten und Ressourcen beruht und massive Auswirkungen auf diese und damit die Lebensgrundlagen der Bevölkerung (Community) hat, nicht nur das natürliche Umfeld schützen, sondern zum Nutzen der Community gestaltet sein sollte. Murphy (1985) betonte die besondere und mehrfache Relevanz von Communities für den Tourismus. Sowohl Produkte und Dienstleistungen als auch das Image einer Destination hängen maßgeblich davon ab, wie die Einheimischen agieren und kooperieren. Mit Ausnahme von völlig abgeschotteten Resorts findet ein großer Teil touristischer Aktivitäten im öffentlichen Raum statt und nutzt öffentliche Infrastrukturen. In den Aufbau und Erhalt dieser Infrastrukturen fließen lokale Gelder und es kommt zu Begegnungen zwischen Einheimischen und Tourist: innen. Beispielsweise werden kulturelle und Sportveranstal‐ tungen, Märkte, Parks und Friedhöfe von beiden Gruppen besucht. Schließlich sind die Einheimischen diejenigen, die mit den Folgen des Tourismus in der Destination leben müssen, während Tourist: innen bei Bedarf neue Ziele aufsuchen können. Das wesentliche Merkmal von CBT-Produkten und Dienstleistungen ist, dass die lokale Bevölkerung diese entwickelten und am Markt positionieren. Bei allen damit verbundenen Prozessen ist im Idealfall die gesamte Community involviert. Ein Blick in praktische Umsetzungen von CBT zeigt eine Vielzahl von Ansätzen mit unterschiedlichem Erfolg (Goodwin, 2016; Heuwinkel, 2024). In vielen Fällen handelt es sich weniger um Community-based Tourism als um Tourism in Communities, sprich ein Besuch von Communities ist Teil der touristischen Dienstleistungskette. Die Übergänge zwischen den Formen sind fließend, bspw., wenn Menschen aus einer Community Führungen in dieser anbieten und ein Teil der Einnahmen direkt in die Community fließen. Es sollte von einer Skala ausgegangen werden, die von der Community als Objekt bis zur Community als Subjekt reicht. In einer differenzierten Betrachtung muss untersucht werden, an welchen Aktivitäten die Community in welchem Maße beteiligt ist. Eine Herausforderung besteht darin, dass durch angebotsorientierte Trends, die eine steigende Nachfrage generieren einzelne Projekte ihren ursprünglichen Charakter verlieren, da Angebote von anderen Akteuren aufgegriffen und gemäß den Wünschen der Nachfragenden verändert werden. Daraus resultiert eine Einschränkung der ursprünglich intendierten Ziele bis hin zur Verletzung von Regeln und Grenzen. Community-based Tourism 15 <?page no="16"?> Ein zentrales Element sind in diesem Kontext vermittelnde Strukturen, insbesondere menschliche Mittler: innen, die den Zugang zur Community gestalten und u. a. auf den Schutz derselben achten sollten. 3 Mittler: innen, Zugänge und Regeln Die Tourismusbranche verspricht eine Lösung vom Alltag, eine Gegenwelt mit Möglich‐ keiten, die ansonsten nicht gegeben sind. Die Tage oder Wochen des Urlaubs bedeuten Erholung, Glück, Luxus, Abenteuer und Freiheit. Im Zentrum steht das Ich oder auch die Familie und Gruppe, für die das Umfeld bestmöglich gestaltet wird. Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass Regulierungen und Kontrollen nicht gerne gesehen oder so unauffällig wie möglich formuliert werden. Hinzu kommt, dass Urlaub als liminale Phase (Turner, 1989) beschrieben werden kann. Der Aufenthalt an einem ungewohnten Ort entspricht einer Umwandlungsphase mit vom Alltag abweichenden Normen, die in ein Verhalten münden können, das ansonsten nicht respektiert wird. Beispiele dafür sind der Konsum von Alkohol und anderen Drogen, Prostitution sowie respektloser Umgang mit Menschen und Natur. Im Kontext der Debatte um Overtourismus wurden Forderungen nach Regulierungen des touristischen Handelns lauter und es werden frühe Ansätze aus den Bereichen des Res‐ ponsible Tourism aufgegriffen. Zentrale Begriffe zur Regulierung touristischer Aktivitäten sind in der Umweltpolitik mit dem Beispiel der Schutzgebiete zu finden oder im Bereich des Destinationsmanagements unter dem Begriff der (gesellschaftlichen) Tragfähigkeit (Mundt, 2011). Auch wenn immer mehr Destination (Beispiele sind Amsterdam, Dubrovnik, Venedig) konkrete Regeln umsetzen, ist der Aspekt der Verhaltensregeln in der Interaktion mit Einheimischen wenig thematisiert oder auf besondere (religiöse) Orte und einzelne Handlungen beschränkt. In den nächsten Abschnitten werden zunächst internationale und nationale Regelwerke für einen verantwortungsvollen Umgang vorgestellt und im Anschluss die Rolle von Tour Guides. 3.1 Regeln und Selbstverpflichtungen Der Global Code of Ethics for Tourism (Globale Ethikkodex für den Tourismus) (GCET) dient als grundlegender Bezugsrahmen für einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Tourismus (UNWTO, 2001). Er umfasst Grundsätze, die den Hauptakteuren des Tourismus als Orientierung dienen sollen und richtet sich nicht nur an die Reisebranche, sondern auch an Regierungen, Organisationen und Reisende. Der Global Code soll dazu beitragen, die Vorteile des Sektors zu maximieren und gleichzeitig seine potenziell negativen Auswir‐ kungen auf die Umwelt, das kulturelle Erbe und die Gesellschaft weltweit zu minimieren. Er wurde 1999 von der Generalversammlung der Welttourismusorganisation (UNWTO) ange‐ nommen und 2001 von den Vereinten Nationen anerkannt (UN Resolution A/ RES/ 56/ 212). Die UNWTO wurde in Folge ausdrücklich dazu aufgefordert, die wirksame Umsetzung der Bestimmungen zu fördern. Ein Aspekt, der seitdem kritisch diskutiert wird, ist die fehlende Rechtsverbindlichkeit bedingt durch den Ansatz des freiwilligen Umsetzungsmechanismus. 16 Kerstin Heuwinkel <?page no="17"?> Dieser soll primär durch die Anerkennung der Rolle des World Committee on Tourism Ethics (Weltkomitees für Tourismusethik) (WCTE), an das sich die Beteiligten bei Fragen zur Anwendung und Auslegung des Dokuments wenden können, gestützt werden. Ein zusätzlicher Rahmen sind die UN Sustainable Development Goals (SDGs) (UNESCO, 2015). Die UNWTO ist zuständig für die Förderung eines verantwortungsvollen, nachhaltigen und allgemein zugänglichen Tourismus, der auf die Erreichung der Agenda 2030 für nach‐ haltige Entwicklung und der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) ausgerichtet ist. Bereits 2019 und, nur durch die Pandemie unterbrochen, ab 2022 zeigt sich, dass die Freiwilligkeit der genannten Rahmenwerke für die systematische Umsetzung von Verhaltensregeln nicht ausreicht. Auch andere Branchen befinden sich im Übergang von einer freiwilligen Verpflichtung (insbesondere unter dem Begriff der Corporate Social Responsibility) hin zu einer verpflichtenden Nachhaltigkeitsberichterstattung (vgl. ESG- Berichterstattung, Environmental, Social and Corporate Governance). Das World Economic Forum (2023) formuliert, dass Regierungen auf allen Ebenen entschlossen mit politischen Maßnahmen reagieren müssen, um die touristische Nachfrage zu steuern. Es darf nicht wie bisher primär um finanziellen Gewinn gehen. Eine große Herausforderung im Tourismus besteht in der Umsetzung der Maßnahmen und der Kontrolle der tatsächlich angebotenen Leistungen. Die von Unternehmen wie Hotels, Fluggesellschaften aber auch von Destinationsmanagementorganisationen formu‐ lierten Regeln müssen in der täglichen Interaktion zwischen Individuen umgesetzt werden. 3.2 Tour Guides Neben Reiseveranstaltern, Transport- und Beherbergungsunternehmen, nehmen Tour Guides (Reiseleiter: innen resp. Gästeführer: innen) eine wichtige Position innerhalb des Tourismus ein, da sie die Interaktion zwischen Reisenden und Einheimischen ermöglichen und gestalten (Scherle und Nonnenmann, 2008). 1985 führte Cohen eine Studie über die Bedeutung der Reiseleitung durch. Er beschrieb die geschichtliche Entwicklung sowie Veränderungen. Cohen vertrat die Ansicht, dass Tourist Guides sowohl als Mentor: innen, die beim geistigen Wachstum helfen, als auch als Pfadfinder: innen (Path Finder), die Gebiete auskundschaftet, gesehen werden können. Während die ursprünglichen Aufgaben eher instrumenteller Natur waren, wie z. B. das Leiten und das Führen von Menschen, sind die kommunikativen Aufgaben in den letzten Jahren wichtiger geworden. Von einer professionellen Reiseleitung wird erwartet, dass sie Tourist: innen unterhalten und mit ihnen interagieren. Die Rolle von Reiseleiter: innen wird als ein eigenständiges Produkt oder eine Dienstleistung innerhalb des umfassenderen touristischen Produkts bzw. als wesentlicher Bestandteil dieses Produkts betrachtet und die Einbeziehung von Reiseleiter: innen steigert den Wert des touristischen Erlebnisses. Ent‐ scheidend sind das Fachwissen, die Erfahrung, das Führungstalent und der Einfallsreichtum der Reiseleiter: in (Kruczek, 2013). Reiseleiterin: innen haben verschiedene Rollen, die mit unterschiedlichen Aufgaben einhergehen. Zunächst übernehmen sie die Informations- und Wissensvermittlung ausge‐ hend von Orts- und Sprachkenntnissen. Sie müssen seriös und aktuelle Informationen vermitteln, was eine kontinuierliche Weiterbildung erfordert. Die Rolle der Vermittler: in Community-based Tourism 17 <?page no="18"?> wird um Elemente der Ausbilder: in und Tutor: in ergänzt. Dieses umfasst die Förderung einer respektvollen Haltung gegenüber Natur, Kultur und Gesellschaft. Kultur und damit verbundene Werte sind anschaulich zu vermitteln. Unterschiedliche Profile der Reisenden erfordern den Einsatz verschiedener Methoden in der Vermittlung. Wichtige Größen sind Interessen, Erfahrungen, Bildungsniveau und Aufmerksamkeit. Die Sicherheit der Reisenden sowie die Unterstützung bei Problemen und Notfällen werden nicht explizit formuliert, müssen bei Bedarf aber abgedeckt sein. Der Umgang mit Beschwerden und Reklamationen ist eine weitere Aufgabe und steht in einem engen Zusammenhang mit den Erwartungen der Reisenden. Deswegen müssen Reiseleiter: innen wissen, mit welchen Annahmen Reisende in ein Land kommen und welche Stereotype und Vorurteile Grund‐ lage für die Annahmen sind. Eine Herausforderung besteht darin, zwischen stereotypen Annahmen und der Realität zu vermitteln. Dieser Aspekt hat eine hohe Relevanz für CBT, da diese je nach Form eng mit Themen wie „Rückständigkeit“ resp. „Armut“ verbunden sind (Heuwinkel, 2024, S.-67 ff.). Trotz der zuvor formulierten sowohl umfassenden als auch anspruchsvollen Tätigkeiten ist der Beruf Reiseleiter: in nicht in allen Ländern staatlich geregelt und somit auch nicht mit einer verbindlichen beruflichen Ausbildung verbunden. Ein Beispiel dafür ist Deutschland. Um dennoch die erforderliche Professionalisierung und Standardisierung zu garantieren, bieten in Deutschland sowohl der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft e. V. (BTW) als auch Industrie- und Handelskammern (IHK) in einigen Bundesländern Zertifikatskurse an. Mehrere internationale Organisationen wie die World Federation of Tourist Guides Associations, (WFTGA) definieren Tour Guides als Personen, die Besucher: innen in der Sprache ihrer Wahl führen und das kulturelle und natürliche Erbe eines Gebietes erläutern, wobei diese Personen über gebietsspezifische Qualifikationen verfügen können. Solche Spezifikationen werden in der Regel von der zuständigen Behörde ausgestellt und/ oder anerkannt. 4 Fallstudien: Kapstadt und Mumbai In diesem Kapitel werden anhand von zwei Fallstudien die Regeln für Tour Guides im Allgemeinen und speziell für Touren in Communities beschrieben. 4.1 Tour Guides in Kapstadt: Grundlagen und Regelwerke Wenig überraschend orientiert sich Tourismus in Südafrika an der Cape Town Declaration on Responsible Tourism (2002). Diese ist stark von den Arbeiten Krippendorfs (1984, 1987) und seiner Tourismuskritik beeinflusst. Südafrika war das erste Land, das sich in seiner na‐ tionalen Tourismusstrategie ausdrücklich zum verantwortungsvollen Tourismus bekannte. Das White Paper on Tourism mit dem Titel „The Development and Promotion of Tourism in South Africa“ (1996) definiert responsible tourism als verantwortungsvolle Aktivitäten gegenüber der Umwelt, den lokalen Gemeinden, den Besucher: innen und einer verantwor‐ tungsvollen Regierung. Dem Papier zufolge bietet der Tourismus viele Möglichkeiten, z. B. Beschäftigung, Entwicklung von Fähigkeiten, ländliche Entwicklung. Tourismus sollte die 18 Kerstin Heuwinkel <?page no="19"?> lokalen Gemeinschaften einbinden, damit sie davon profitieren können. Auf der anderen Seite sollte das Wohlbefinden und die Sicherheit der Besucher: innen gewährleistet sein. The Institute of Professional Tourist Guides of Southern Africa (IPTGSA) greift die Cape Town Declaration auf und definiert eine Reiseleiter: in wie folgt: „Tourist Guides act as ambassadors of the country; they are the first to meet and welcome tourists and they are often the last ones to bid farewell to them when they leave the country.“ In Südafrika ist Tour Guide ein reglementierter Beruf, der durch nationale Gesetze und Richtlinien geordnet ist. Jede Person, die Tour Guide werden möchte, muss eine Ausbildung im Rahmen einer formalen Qualifikation absolvieren, die von der South African Qualifications Authority (SAQA) registriert wird. Wenn eine solche Person als kompetent erachtet wird, erhält sie ein Zertifikat, das von der Culture, Arts, Tourism Hospitality and Sports Sector Education and Training Authority (CATHSSETA) ausgestellt wird. Zusätzlich muss beim zuständigen Provincial Registrar eine Registrierung beantragt werden, um legal tätig zu sein. Dieses Verfahren ist im Tourismusgesetz (Tourism Act) von 2014 und in den Verordnungen über Tour Guides (Regulations in respect of Tourist Guides) von 1994 bzw. 2001 festgelegt. Es liegen drei Hauptverordnungen vor, die den Sektor der Reiseleitung regeln: Tourism Act No. 3 (2014), Regulations of Tourist Guides (1994 resp. 2001), The Code of Conduct and Ethics (Verhaltenskodex und die Berufsethik). Im Code of Conduct and Ethics wird auf das gewünschte Verhalten von Tour Guides im Umgang mit Reisenden eingegangen. Der Kodex besagt, dass eine professionelle Reiseleitung sich an die Grundsätze der südafrikanischen Verfassung halten muss und darüber hinaus die Vorschriften des Institute of Professional Tourist Guides of Southern Africa (IPTGSA) einhalten sollte. Vorschriften des Institute of Professional Tourist Guides of Southern Africa • Die Reiseleitung ist motiviert, den Reisenden zu helfen und einen hervorragenden Service zu bieten. Darüber hinaus sorgt sie dafür, dass die Tourist: innen ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich verbringen. • Keine Tourist: in darf aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, der ethnischen Zuge‐ hörigkeit, der Nationalität, einer Behinderung oder des Alters diskriminiert werden. • Die Reiseleitung hat sich unparteiisch und unvoreingenommen zu verhalten. Südafrika soll objektiv dargestellt werden. • Tour Guides sollten angemessen gekleidet und präsentabel, pünktlich, zuverlässig, ehrlich, gewissenhaft und taktvoll sein. Sie sind stets nüchtern und verantwortungs‐ volle Fahrer: innen. • Weiterhin wird eine Loyalität gegenüber der vertretenden Organisation oder dem Unternehmen erwartet. • Das Programm der Tour wird nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführt. Der Umgang mit Konflikten erfolgt sensibel und verantwortungsbewusst. Verletzungen oder Todesfälle sind der nächstgelegenen Tourismusbehörde oder Polizeistation zu melden. Community-based Tourism 19 <?page no="20"?> • Falsche Informationen dürfen nicht verbreitet werden und Tour Guides sind immer sachkundig. Wenn sie nicht über die gewünschten Informationen verfügt, können sie sich an die nächstgelegene Fremdenverkehrsbehörde wenden. • Tour Guides sind nicht befugt, ohne ärztliche Konsultation Medikamente zu ver‐ abreichen. Sie werden unter keinen Umständen auf Trinkgeld bestehen. Für die Sicherheit der Tourist: innen ist stets Sorge zu tragen. Die Reiseleitung trägt ihre Registrierungskarte und das Namensschild. • Menschen, Kulturen und die Umwelt sind mit Respekt zu behandeln. Bei einer Durchsicht der Punkte drängt sich an einigen Stellen die Frage auf, ob und wie die genannten Aspekte überprüft und bewertet werden können. Während das Tragen des Namensschildes trivial erscheint, ist die Forderung nach einer objektiven Darstellung vor dem Hintergrund sehr komplexer historischer, politischer und wirtschaftlicher Ereignisse eine Herausforderung. Sehr deutlich zeigt sich, dass der Schutz, das Wohlergehen und die Zufriedenheit der Tourist: innen im Mittelpunkt stehen. Einheimische und die lokale Kultur werden nur kurz erwähnt. 4.2 Tour Guides in Mumbai: Grundlagen und Regelwerke Der Code of Conduct for Safe and Honourable Tourism (Verhaltenskodex für sicheren und ehrbaren Tourismus) hat das Ziel, sichere Tourismuspraktiken zu fördern, die internatio‐ nalen Standards entsprechen und sowohl für Tourist: innen als auch für Einheimische in Indien gelten (Indian Ministry of Tourism, 2011). Das Hauptaugenmerk dieses Kodex liegt auf der Stärkung des wichtigen Aspekts Suraksha (Sicherheit), indem die Würde, die Sicherheit und der Schutz vor Ausbeutung aller am Tourismus beteiligten Personen gewährleistet werden. Die Leitlinien des Verhaltenskodex für den Tourismus konzentrieren sich auf mehrere Kernthemen. Eines der Hauptziele besteht darin, touristische Aktivitäten zu fördern und dabei die Grundrechte auf Würde, Sicherheit und Schutz vor Ausbeutung sowohl für Reisende als auch für Einheimische zu wahren. Dies gilt auch für Einzelpersonen und Gruppen, die in irgendeiner Weise vom Tourismus betroffen sind. Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Förderung der Prävention von Prostitution, Sextou‐ rismus und anderen Formen der sexuellen Ausbeutung in der Reisebranche. Dies ist wichtig, um die Sicherheit von Menschen, insbesondere von Frauen und Kindern, zu gewährleisten. Darüber hinaus zielen die Leitlinien darauf ab, Verhaltensweisen zu verhin‐ dern, die Menschen anfälliger für Straftaten machen könnten. Dazu gehören Praktiken wie der erzwungene oder unfreiwillige Drogenkonsum, die Verbreitung manipulierter und unwahrer Informationen sowie soziale und kulturelle Intoleranz. Durch die Förderung von verantwortungsbewusstem Verhalten und die Achtung der Rechte und der Sicherheit aller am Tourismus beteiligten Personen soll der Verhaltenskodex dazu beitragen, dass der Tourismus zu einer positiven und vorteilhaften Branche für alle wird. 20 Kerstin Heuwinkel <?page no="21"?> 4.3 Vergleich Kapstadt und Mumbai Der Hauptunterschied zwischen den Leitlinien der südafrikanischen und der indischen Regie‐ rung besteht in den behandelten Themen. Das Hauptanliegen in Indien sind die Sicherheit und damit verbundene Bereiche wie die Bestrafung von Sexualstraftaten. Dem Verbot von Drogen wird große Aufmerksamkeit geschenkt. Die strengen Vorschriften in diesen Bereichen für Unternehmen, die touristische Dienstleistungen anbieten, sollen dazu beitragen, dass sich Besucher: innen und Einwohner: innen, insbesondere Frauen, sicher fühlen. Der indische Kodex richtet sich häufig an die Leitungsebenen von Tourismusunternehmen. Südafrika hingegen legt großen Wert auf verantwortungsvolle Reisen und nachhaltigen Tourismus. Die Regeln zur Reiseleitung sind auf individueller Ebene angesiedelt und fokussieren auf das Auftreten der Reiseleitung und den Umgang mit Reisenden. 4.4 Umgesetzte Maßnahmen In einer empirischen Studie wurden zunächst Webseiten von Anbietern von Touren in Communites analysiert. Die Studie umfasst die Ergebnisse aus mehreren Bachelorarbeiten sowie projektbezogenen Arbeiten. In einem zweiten Schritt fand eine schriftliche Kon‐ taktaufnahme sowie Interviews statt. Die Erhebung diente der Ermittlung eines erstens Eindruck davon, welche Regeln resp. Empfehlungen formuliert werden. In den Gesprächen wurde weiter analysiert, wie diese Empfehlungen umgesetzt werden. Die nachfolgende Tabelle (→ Tabelle 1) deutet darauf hin, dass es eine Tendenz zu manchen Themen gibt sowie regionale Unterschiede bestehen. Regeln zum Fotografieren sind ein zentrales Element in beiden Destinationen. Während beispielsweise in Kapstadt auf den Umgang mit Kindern eingegangen wird, wird dieses in Mumbai nicht thematisiert. Dort hat das Thema Dresscode einen hohen Stellenwert. Gleiches gilt für das Nichtzeigen von Ekel angesichts von starken Gerüchen. - Cape Town (n = 11) Mumbai (n = 6) Camera policy 6 4 Dress Code (especially for females) 2 6 Hide disgust 0 3 Limited number of participants 1 4 Be kind and show respect 3 2 No treats/ money for children 4 0 Not taking valuables 3 1 No public money giving 2 0 Do not leave the group during the tour 1 0 Take your own rubbish 1 0 Community-based Tourism 21 <?page no="22"?> Do not pick up children 1 0 Local guides 5 4 Rules are mentioned (website or email) 7 5 Tabelle 1: Regeln in Kapstadt und Mumbai In den Interviews wurde danach gefragt, wie die Regeln umgesetzt werden und wie mit Abweichungen umgegangen wird. Die Proband: innen betonten den hohen Stellenwert von Kommunikation und setzen auf Erklärungen. Der Begriff Regel wird von der Mehrheit vermieden und es wird von Tipps und Empfehlungen gesprochen. Der Frage nach einem Umgang mit Abweichungen blieb unbeantwortet. „So, this is how we manage tour and suggest to our customers for tour.“ (Email: Dharavi tour) „[…] we don’t have rules really although we advised people to ask before taking pictures of people.“ (Email: Go Camissa) „So the first and the biggest do’s and don’ts I like to call it do’s and don’ts neither than rules because rules kind of are a lot more stricter okay? And do’s and don’ts is more like polite.“ (Online Interview, Boundless Explorism) Aufschlussreich ist der Umgang mit möglichen Konflikten. In diesem Zusammenhang wird auf die Fähigkeiten und Erfahrungen der Tour Guides verwiesen. Einige von ihnen kommen aus der Community andere betonen, dass sie seit vielen Jahren dort aktiv sind. „In any uncomfortable situation that might be coming I just give them an idea before and I request them If you find anything which is uncomfortable for you do not express it to in public rather tell to me so I will take you away from the places.“ (Online Interview, Boundless Explorism) Ein weiteres Thema war der Umgang mit Armutsstereotypen, da diese ein gängiges Bild in Verbindung mit Communities sind. Das gilt insbesondere dann, wenn die Begriffe Township (Kapstadt) oder Slum (Mumbai) verwendet werden. Die Verwendung der Begriffe Township und Slum wird unterschiedlich gehandhabt. Während einige Veranstalter die Begriffe weiterhin verwenden, gibt es andere, die diese explizit ablehnen und lieber von Community oder auch Neighbourhood sprechen ohne diese jedoch zu definieren. In beiden Destinationen fanden sich Personen, die darauf verwiesen, dass sie keine Armut, sondern erfolgreiche Projekte zeigen wollen. 22 Kerstin Heuwinkel <?page no="23"?> „If tourist are expecting poverty on our tour they will be disappointed.“ (Email: Dharavi) „If people are hoping to see poor and sad people, they will be disappointed.“ (Persönliches Gespräch, Uthando SA) Zusammenfassend finden sich in der praktischen Umsetzung wenig Regelungen, die bereits vor der Tour explizit als Regeln kommuniziert werden. Die Veranstalter vertrauen auf die Fähigkeiten und Erfahrungen der Reiseleitung. Es entsteht insgesamt der Eindruck, dass der Bereich nicht gerne offen thematisiert wird. Ebenfalls wird versucht, den Reisenden das Gefühl zu geben, dass sie nicht als Voyeur: in, sondern als Förder: innen aktiv sind und guten Gewissens eine Tour buchen können. 5 Diskussion und Ausblick Vor dem Hintergrund sich wandelnder Strukturen im Tourismus werden die Aufgaben und Zuständigkeiten neu verteilt und formuliert. Die typischen Zentren touristischer Ak‐ tivitäten fransen aus und es kann von einer Dezentralisierung gesprochen werden. Lokale Regierungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) entwickeln und implementieren Strategien, um touristische Angebote für sich zu nutzen. Diese umfassen Aktivitäten zur Entwicklung von Geschäftsmodellen und lokalen Tourismusangeboten. Es entstehen neue Rollen wie Tourismusaktivist: in und Tourismusexpert: in zusätzlich zu den traditionellen Rollen im Zusammenhang mit der Verbreitung von Wissen, der Bildung und der Betreuung von Reisenden (Kruczek, 2013). Es dominiert jedoch weiterhin die Rolle Tourist: in mit hohen Freiheitsgraden. Der touristische Handlungsspielraum scheint noch grenzenlos zu sein und auch wenn seitens der Tour Guides auf Regeln verwiesen wird, erfolgt die Durchsetzung nur zögerlich. Die in diesem Beitrag beschriebenen Erkenntnisse sind rein explorativ und müssten durch größer angelegte Studien weiter untersucht werden. Weiterhin wurden nur die beiden Städte Kapstadt und Mumbai untersucht. Die dort festgestellten Gemeinsamkeiten und Unterschiede müssten durch die Analyse weiterer Destinationen ergänzt werden. Abschließend ist zu diskutieren, wie lange noch Community-based Tourism resp. Tourismus in Communities primär im Globalen Südens angesiedelt sein wird. In den letzten Jahren verändern sich die Reiseströme und das touristische Verhalten in Länder des Globalen Nordens. Ökonomisch motivierte Angebote zu Meet the Locals und anderen als authentisch beschriebenen Begegnungen finden sich zunehmend auch in europäischen Großstädten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich finanzschwache Kommunen oder Non- Profit-Organisationen am Vorbild des CBT im Globalen Süden orientieren und ihre leeren Kassen durch Angebote in Communities aufbessern. Interessant wird die Antwort auf die Frage sein, wo die Grenzen des Privaten gezogen werden und wann beispielsweise die erste Gruppe indischer Reisenden eine Schule in Berlin besucht, um die Kinder während des Unterrichts zu fotografieren. Kontakt Kerstin Heuwinkel, htw saar | kerstin.heuwinkel@htwsaar.de Community-based Tourism 23 <?page no="24"?> Quellen Bauman, Z. (2003). The tourist syndrom. An interview with Zygmund Bauman. Interviewed by Franklin, A. Tourist Studies, vol 3(2). London: Sage. 205-217. Cole, S. (Hrsg.) (2018). Gender equality and tourism: Beyond empowerment. Wallingford: CABI. Doxey, G. (1976). A causation theory of visitor-resident irritants: Methodology and research inferences. 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Abgerufen von https: / / www.weforum.org/ agenda/ 2023/ 10/ what-is-o vertourism-and-how-can-we-overcome-it/ . Zugriff am 29.10.2023. Community-based Tourism 25 <?page no="27"?> Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Bedeutung und Nutzung touristischer und nicht-touristischer Räume Anja Brittner-Widmann Schlagwörter | Aktionsraum, Tourismusraum, Tourismusräume, Inwertsetzung, Pan‐ demie Abstract | Die Covid-19-Pandemie hat die Mobilität der Menschen stark eingeschränkt und zu tiefgreifenden Veränderungen in der Nutzung touristischer und nicht-touristi‐ scher Räume geführt. Die Einführung von Social Distancing, Lockdowns und Reisebe‐ schränkungen ab März 2020 führte zu einer drastischen Reduktion internationaler und nationaler Touristenankünfte. Die internationalen Ankünfte fielen von fast 1,5 Milliarden im Jahr 2019 auf 405 Millionen im Jahr 2020. Auch in Deutschland sank die Zahl der Gästeübernachtungen von rund 495,6 Millionen (2019) auf 302,3 Millionen (2020). Um die Pandemie einzudämmen und den Tourismus aufrechtzuerhalten, wurden Maß‐ nahmen wie Abstandsmarkierungen, Plexiglastrennscheiben und erhöhte Reinigungsin‐ tervalle eingeführt. Dies veränderte die Nutzung von öffentlichen und privaten Räumen erheblich. Öffentliche Räume wurden teilweise gesperrt oder stark reguliert, und es entstanden neue Erholungsräume in Wäldern und Parks. Beispiele wie die markierten Liegewiesen in Meersburg und das „SÜW Picknick“ an der Südlichen Weinstraße zeigen, wie touristische Angebote angepasst wurden. Privatwirtschaftliche Räume, insbesondere im Tourismus, entwickelten kreative Nut‐ zungskonzepte wie „Wohnmobil-Dinner“ und „Drive-In-Weihnachtsmärkte“, um Gäste trotz Einschränkungen zu bedienen. Zudem wurde der private Raum zunehmend touristisch genutzt, z. B. durch Camping auf privaten Grundstücken, gefördert durch Plattformen wie „Airbnb“ und „hinterland.camp“. Auch virtuelle Räume gewannen an Bedeutung, zum Beispiel mit virtuellen Stadtfüh‐ rungen und Museumsbesuchen, um kulturelle Erlebnisse trotz physischer Einschrän‐ kungen zu ermöglichen. Diese Entwicklungen zeigen, wie flexible und innovative An‐ passungen die Nutzung und Bedeutung von Räumen während der Pandemie verändert haben. Es bleibt abzuwarten, welche dieser Veränderungen langfristig Bestand haben und welche Raum- und Nutzungsmuster sich nach der Pandemie wieder normalisieren werden. <?page no="28"?> „Die virale Mobilität hat die Menschen während der COVID-19-Pandemie zum Stillstand gezwungen. Nach hektischen Lebensstilen und krampfhaften Tagen hat man sich im stillen Gefängnis der Unbeweglichkeit wiedergefunden. Mobilität war davor ein Synonym für Freiheit, Freizeit und Tourismus. Mobilität war ein Recht für jede/ jeden. Nun ist sie - gezwungenerweise - ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit, manchmal sogar eine Rücksichtslosigkeit geworden.“ (Scuttari 2021, S. 14, nach: Cresswell 2020, Scuttari 2020 und Scuttari et al. 2021) 1 Ausgangslage - Social Distancing, Physical Distancing, Spatial Distancing Am 31.12.2019 wurde die World Health Organization (WHO) informiert, dass erstmals im Dezember 2019 das Coronavirus SARS-CoV2 in China nachgewiesen wurde, welches schwere Atemwegsinfekte auslöst. Aufgrund der schnellen Verbreitung rief die WHO Ende Januar 2020 eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite aus, welche mit Datum 11. März 2020 als Pandemie (Covid-19-Pandemie) bezeichnet wurde (vgl. WHO 2022). Die deutsche Bundesregierung traf daraufhin am 16. März 2020 weitreichende Ent‐ scheidungen, um sowohl eine weitere Ausbreitung des Virus und die dadurch ausgelösten schwerwiegenden Krankheitsverläufe einzudämmen, als auch das Gesundheitssystem vor einem Kollabieren zu schützen. Zu den Vorgaben und Maßnahmen gehörten das Verbot von Großveranstaltungen und die Schließung von öffentlichen Einrichtungen, gastronomischen Einrichtungen, Beherbergungsbetrieben, Geschäften des Einzelhandels, Sportstätten und anderen Betrieben. Zudem gab es zum Teil auch hohe Auflagen, um soziale Kontakte weitestgehend einzuschränken (vgl. Rahnenführer 2022, S. 5f.). Stellvertretend für die erforderlichen Sicherheits- und Hygienemaßnahmen stand das Schlagwort „social distancing“ mit dem Ziel der Reduzierung der Ansteckungsgefahr. Mit Umsetzung der Maßnahmen erfuhr gleichzeitig die Digitalisierung in Deutschland einen wesentlichen Schub. Durch die verbesserten Möglichkeiten der Nutzung sozialer Medien wurde der Begriff alsbald von Vertretern der Sozialpsychologie und Medizin kritisiert (vgl. Breyer- Mayländer 2022, S. 26f.). Vielmehr sollte von ‚physical distancing‘ gesprochen werden, da mit Hilfe von Social Media einer sozialen Isolation vorgebeugt werden sollte. „Neben „physical distancing“ ist auch „spatial distancing“ als Terminus in der Fachwelt diskutiert worden, um deutlich zu machen, dass gerade eine emotionale und soziale Nähe in diesen besonderen Situationen erforderlich ist“ (ebd.). 2 Auswirkungen des Lockdowns auf das Tourismusaufkommen Der durch die Maßnahmen hervorgerufene sogenannte Lockdown hatte in Verbindung mit den restriktiven Ein- und Ausreisebestimmungen enorme Auswirkungen auf den Tou‐ rismus weltweit. Der Tourismus galt als einerseits Mitverstärker der Pandemie (Kreuzfahrt‐ schiffe oder Skidestinationen wurden zu Beginn der Pandemie als Hot Spots bezeichnet), andererseits auch als Geschädigter der Pandemie. Um den Tourismus so gut wie möglich zu bewahren, versuchten Destinationen, die virale und die touristische Mobilität zu 28 Anja Brittner-Widmann <?page no="29"?> entkoppeln, meist durch Maßnahmen wie Abstandsmarkierungen, Plexiglastrennscheiben, Erhöhung der Reinigungsintervalle und Verringerung von Kapazitäten (vgl. Scuttari 2021, S. 16). In allen Regionen weltweit kam es zu einem massiven Einbruch der internationalen Touristenankünfte: während im Jahr 2019 noch fast 1,5 Milliarden Ankünfte gezählt wurden, waren es im Jahr 2020 lediglich 405 Millionen; mit einer leichten Steigerung auf 427 Millionen im Jahr 2021 (vgl. UNWTO 2022). Der internationale Tourismus erholte sich im Jahr 2022 mit ca. 900 Millionen internationaler Ankünfte zwar weiter, blieb damit aber immer noch 37-% unter dem Niveau von 2019 (vgl. UNWTO 2023). Ein ähnliches Bild ergab sich für Deutschland. Lagen die Gästeübernachtungen in Beherbergungsbetrieben mit mehr als 10 Betten sowie auf Stellplätzen im Jahr 2019 noch bei rund 495,6 Millionen, sank die Zahl im Jahr 2020 auf rund 302,3 Millionen (-39,0%). 2021 konnte im Vergleich zum Vorjahr nur ein leichter Anstieg um +2,6% auf 310,2 Millionen erreicht werden, im Jahr 2022 stieg die Zahl immerhin wieder auf 450,7 Mio. (+45,3% ggü. 2021). Die Gästeankünfte reduzierten sich mit Beginn der Maßnahmen sogar um -48,6% von rund 190,0 Millionen im Jahr 2019 auf etwa 98,1 Millionen im Jahr 2020 und um weitere -1,3% auf rund 96,8 Millionen im Jahr 2021. Im Jahr 2022 wurden 160,3 Mio. Ankünfte gezählt, was eine Steigerung um +68,4% gegenüber 2021 bedeutete (vgl. Deutscher Tourismusverband e.-V. 2021, 2022 und 2023, nach Statistisches Bundesamt). Die Maßnahmen im Rahmen des Lockdowns führten zu Veränderungen von Reise‐ strömen und dadurch zu Veränderungen der Nutzung von Räumen. 3 Covid-19 und die Entstehung neuer Bedeutungszuweisungen von Räumen Die von der Bundesregierung getroffenen weitreichenden Entscheidungen schufen Rah‐ menbedingungen für Tourismusanbieter, als auch für Konsumenten bzw. Gäste, die zu extremen Veränderungen in verschiedenen Bereichen führten. So müssen die Maßnahmen im Kontext der Besucherlenkung betrachtet werden. Die Lenkung von Besucherströmen gab es im Rahmen von Entflechtungs- und Lenkungsstrategien bereits vor der Pandemie. Touristische Regionen, Attraktionen und Sehenswürdigkeiten wurden innerhalb ihrer Aufnahmekapazität reguliert, um Erlebnisqualitäten zu schaffen und gleichzeitig auch Natur und Umwelt zu schützen. Besucherlenkung soll Konflikte zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen reduzieren oder vermeiden. Dabei wurde vor allem auf die touristische Tragfähigkeit touristischer Räume im Sinne einer maximalen touristischen Nutzbarkeit verwiesen, bei der es keine negativen Auswirkungen auf natürliche Ressourcen, Erholungs‐ möglichkeiten, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur eines entsprechenden Gebietes geben sollte (vgl. Job, Vogt 2003, S. 861, nach WHO 1992). Job (1995, in: Job, Vogt 2003, S. 862) zeigt Maßnahmen der Besucherlenkung auf, die u. a. auch ‚harte‘ Maßnahmen im Sinne von Zwangsmaßnahmen wie zum Beispiel Ge- und Verbote, gewerbliche Beschränkungen oder Abzäunungen enthalten. Lag der Fokus bis dato erkennbar stark auf dem Umwelt- und Kulturschutz, so gewann mit Aufkommen der Covid-19-Pandemie der Gesundheitsschutz eine zunehmende Bedeutung. Es darf nicht unterschätzt werden, dass sich veränderte Rahmenbedingungen stark auf die - temporäre - Bedeutung und Nutzung von Räumen auswirken können. Ein wichtiger Auswirkungen der Covid-19-Pandemie 29 <?page no="30"?> 1 In diesem Zusammenhang sind auf die richtungsweisenden Arbeiten und Ansätze von Max Weber zum rationalen Handeln (1921), die Raum-Zeit-Strukturen nach Hägerstrand (1970), die sozialgeo‐ graphische Aktionsraumforschung der Münchner Schule nach Maier, Paesler, Ruppert et al. (1977) bis hin zu den handlungstheoretischen Grundlagen nach Werlen (1987) hinzuweisen. Aspekt findet bislang noch wenig Beachtung: durch die zunehmende Digitalisierung ist die körperliche Anwesenheit an bestimmten Orten nicht mehr zwingend notwendig. Somit entstehen - parallel zu den mehr oder weniger scharf abgrenzbaren Räumen im Sinne von Ausschnitten der Erdoberfläche - virtuelle Räume, die im Sinne von Weichhart (2010, S. 24) als konstituierte Räume mit Attributen und Werten belegt und in einen Sinn- und Bedeutungskontext eingeordnet werden. Hierdurch entstehen unterschiedliche, individuelle - reale oder virtuelle - Aktionsräume. 3.1 Grundlagen zur Aktionsraumforschung Dabei wird der Aktionsraum definiert als „die Summe bzw. die räumliche Verteilung der von einer Person im Alltag aufgesuchten Orte. Es handelt sich also um einen durch individuelles Handeln realisierten Raum. Die Aktionsraumforschung befasst sich demnach mit der Analyse, Beschreibung und Erklärung aktionsräumlichen Handelns. (…)“ (Schreiner 2018, S. 69). Dabei ist der dem „aktionsräumlichen Handeln“ (Schreiner 1998, in: Schreiner 2018, S. 70) zu Grunde liegende Raumbegriff nicht eindeutig, da Räume nicht nur über eine materielle Ausstattung verfügen und durch sie geprägt werden, sondern auch durch behaviouristische Grundkonzeptionen sowie handlungstheoretische Grundlagen 1 . Beson‐ ders Hägerstrand (vgl. Schreiner 2018, S. 72) geht auf die sogenannten Beschränkungen ein, die das Handeln und damit den Aktionsraum von Menschen beeinflussen: ‚capability constraints‘ (körperliche Notwendigkeiten wie Schlafen, Nahrungsaufnahme) ‚coupling constraints‘ (raumzeitliche Bündelungen von Unternehmungen mit anderen Menschen) sowie ‚authority contraints‘ (räumliche, zeitliche und soziale Beschränkungen des Zugangs zu bestimmten Orten). Aus diesen constraints lassen sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums erreichbare Ziele und Pfade von Personen ermitteln, die wiederum deren Aktionsraum bilden. Somit wird nachvollziehbar, dass die von Hägerstrand beschriebenen ‚constraints‘ in Folge des Lockdowns eine besondere Beachtung erfahren müssen: mit dem Verbot von Veranstaltungen und dem Schließen freizeit- und tourismusrelevanter sowie kultureller Einrichtungen wurden die Weichen gestellt, die individuellen Aktionsräume der Menschen zu verändern und den genutzten Räumen neue, andere Bedeutungen zu verleihen. 3.2 Veränderungen in Nutzung und Bedeutung des öffentlichen Raums Zur Einhaltung der erforderlichen Abstandsregeln wurden öffentliche Räume sowohl gesperrt, als auch in ihrer Nutzung reguliert. Neue Beschilderungshinweise prägten das Bild in stark frequentierten, vor allem bebauten Räumen und auf öffentlichen Verkehrsflächen (Maskenpflicht, Abstandsregelungen, Durchgangsverbote, Absperrungen etc.), um Besu‐ cherdichte und Kontaktpunkte zu reduzieren. Nächtliche Ausgangssperren trugen zudem zu einer zeitlichen Reduzierung möglicher Kontakte bei. Diese Maßnahmen dienten nicht 30 Anja Brittner-Widmann <?page no="31"?> mehr primär dem Kultur- und Umweltschutz, sondern dem Schutz der Gesundheit. Durch den weiterhin ungebremsten Bedarf an Erholungs- und Erlebnismöglichkeiten hatten sich Besucherströme dann vor allem auf Wälder, Naturschutzgebiete und Parkanlagen verlagert. Zur Veranschaulichung seien einige Beispiele aufgeführt: Die Stadt Meersburg am Bodensee hat zur Einhaltung der erforderlichen Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen im Sommer 2020 die öffentliche Liegewiese am Bodensee in vier mal vier Meter große Parzellen markiert, die ausschließlich durch markierte Wege erreicht werden konnten (vgl. Stuttgarter Zeitung 2020). Stadt Meersburg 2020. Fotografie: Lars Pentzek Abbildung 1: Parzellenmarkierung der öffentlichen Liegewiese in Meersburg am Bodensee | Quelle: Stadt Meersburg 2020, Fotografie: Lars Pentzek Die Destination Südliche Weinstraße hat ihre touristischen Produkte geändert und um das ‚SÜW Picknick‘ erweitert. 130 Rastplätze wurden ausgewiesen und vermarktet; Picknick- Körbe konnten online bestellt und direkt bei den angrenzenden Leistungsträgern vor Ort unter Einhaltung der Abstandsregeln abgeholt und wieder abgegeben werden (vgl. Südliche Weinstraße e. V. 2020). Die Pinakothek der Moderne widmet bis Ende Januar 2024 der Thematik „Pandemie im Park“ eine eigene Ausstellung („Ins Freie“) (vgl. Pinakothek der Moderne 2023), wo eigens für Parks designte Objekte ausgestellt werden, so u. a. die CoronaCrisisKruk, eine Bank mit zwei Sitzen im notwendigen Abstand zur Einhaltung der Hygieneregeln (siehe auch 🔗 https: / / object-studio.com). Veränderte Raum-Zeit-Verfüg‐ barkeiten im öffentlichen Raum haben Nutzungsströme verändert, aber die grundlegende Funktion der Erholungsnutzung beibehalten. Auswirkungen der Covid-19-Pandemie 31 <?page no="32"?> 2 Im Vergleich zum Jahr 2019 mit insgesamt 82.252 Neuzulassungen in Deutschland stieg die Zahl der Caravans und Reisemobile um 30 % im Jahr 2020 auf 106.859, im Jahr 2021 auf 106.908 an (vgl. CIVD 2022). 3.3 Veränderungen in Nutzung und Bedeutung des privatwirtschaftlichen Raums Touristische Dienstleistungen sind durch hohe Interaktion mit den Gästen gekennzeichnet. Alternative Konzepte zur Nutzung bestehender Infrastruktur und touristischer Produkte bzw. Dienstleistungen gab es während der Pandemie vor allem in zwei Bereichen: 1. Bestehende Nutzung von Produkten im Rahmen autarker Urlaubs- und Mobilitätsformen und 2. Änderung bzw. Anpassung der Produkte für andere Nutzungsformen. Die bestehende Nutzung von Produkten im Rahmen autarker Urlaubs- und Mobilitäts‐ formen lässt sich an verschiedenen Beispielen aufzeigen. Mit dem Zuwachs an Wohnmo‐ bilen 2 wurde mit Hilfe der Verbreitung über soziale Medien das sogenannte „Wohnmobil- Dinner“ von Restaurants angeboten. Somit konnten Gäste in ihrem eigenen Wohnmobil auf dem Außengelände von Restaurants die bestellten Speisen nach kontaktloser Übergabe direkt in ihrem Wohnmobil verzehren, ohne die Infrastruktur des Restaurants inkl. Sani‐ täreinrichtungen zu nutzen. Es erfolgt im Sinne der Take-away-Angebote eine Verlagerung der gastronomischen Dienstleistung in einen mobilen, privaten Raum der Gäste. Profitieren konnten vor allem Restaurants in ländlichen Regionen, die über ausreichende Parkmöglich‐ keiten am Restaurant verfügten (vgl. regiotec digital GmbH 2022). Ein weiteres Beispiel ist die Erlebbarkeit eines Weihnachtsmarktes im Freizeitpark Kalkar: im Winter Wunderland Drive-In 2021 konnten Gäste mit dem eigenen Pkw in unterschiedlichen Hallen einen Weihnachtsmarkt auf einer Gesamtfahrtstrecke von 2,5 km erleben, ohne ihren Pkw zu verlassen (vgl. Wunderland Kalkar 2021). Für eine starke Änderung bzw. Anpassung des Produktes für andere Nutzungsformen sind ebenfalls Beispiele zu nennen: Die Hochschwarzwald Tourismus GmbH hat in Kooperation mit der Feldbergbahn das „Gondelmenü Hochschwarzwald“ initiiert. Zu ausgewählten Terminen konnte in der Bergbahngondel bestellte Speisen regionaler Gas‐ tronomen verzehrt werden. Die Abstandsregeln konnten damit eingehalten werden (vgl. Hochschwarzwald Tourismus GmbH 2022). Das Angebot fand nur an wenigen Terminen statt, so dass eine Kompensation der ausgefallenen Nutzung der Bergbahn nicht stattge‐ funden hat. Auch die Umnutzung von Infrastruktur im Bereich Beherbergung zeigt, dass eine Kompensation der ausbleibenden Gäste auch durch Produktanpassungen nicht erfolgen könnte. Der Anteil der im Homeoffice tätigen Personen in Deutschland ist während des Lockdowns stark angestiegen, auf mehr als 25 % im Januar 2021 (vgl. Hans-Böckler- Stiftung 2022). Die fehlende Möglichkeit zum Homeoffice führte zu der Idee, leerstehende Hotelzimmer tagsüber als Arbeitszimmer bzw. Homeoffice-Ersatz anzubieten (vgl. abel consulting 2022). Der privatwirtschaftliche Raum hat unter den gegebenen Rahmenbedingungen und den daran gekoppelten Existenznöten die stärksten Produktanpassungen, -veränderungen und -innovationen hervorgebracht, bei gleichzeitigem Rückgang der Nutzungsintensität durch Verringerung der Kapazitäten. Es ist davon auszugehen, dass diese Angebote 32 Anja Brittner-Widmann <?page no="33"?> in der Post-Covid-Phase nicht weitergeführt werden, sondern dass die ursprünglichen Bedeutungszuweisungen dieser Räume und Produkte wieder fast vollständig zurückkehren. 3.4 Touristische Nutzung und Bedeutungszuweisung des privaten Raums Der Lockdown hat dazu geführt, dass der private Raum zunehmend als Schutzort, Lernort und Arbeitsort genutzt wurde. Hier soll allerdings vor allem die Freizeit- und touristische Nutzung und damit eine Touristifizierung des privaten Raums vorgestellt werden. Die För‐ derung der autarken Mobilitäts- und Urlaubsformen hat während des Lockdowns zu einer wachsenden Touristizifierung des privaten Raums beigetragen. Wöhler, Pott und Denzel (vgl. 2010, S. 7) bezeichnen Orte wie öffentliche Räume, photoöffentliche bzw. photogene Räume wie Restaurants und Cafés, Feste, Einkaufscenter, Museen etc. als Alltagsbühnen, die durch ihre Ausstattung als touristifiziert gelten, sobald sie von Touristen genutzt und symbolisch aufgeladen werden. Diese Touristifizierung hat der private Raum während des Lockdowns ebenfalls erfahren. Neben den Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen können drei Treiber identifiziert werden: erstens das zunehmende Bedürfnis nach autarken Ur‐ laubs- und Reiseformen, welche schon Züge des Cocoonings (im Sinne von Rückzug in die eigenen vier Wände, auch im eigenen Zelt, Wohnwagen, Wohnmobil) angenommen haben. Zweitens das wachsende Bedürfnis nach autarken Outdoor-Aktivitäten als Kompensation für den Rückzug in das eigene Zuhause und die fehlenden Auslandsreisen. Und drittens der zunehmende Trend zur Sharing Economy zusammen mit der Digitalisierung. Letzteres ermöglicht die Weiterentwicklung von Plattformen, die Übernachtungen auf privaten Grundstücken vermitteln, z. B. über Plattformen wie „zeltzuhause“ oder „hinterland.camp“. Schon seit Beginn des Reisens, verstärkt durch das Aufkommen von Airbnb vor dem Lockdown existierte bereits ein Angebot für die Buchung von Übernachtungen in privatem Wohnraum. Damit hatte die Touristifizierung des privaten Raums bereits seine Anfänge. Die veränderte Raum-Zeit-Verfügbarkeit bedingte eine erhöhte Nutzungsintensität des privaten Raums - auch von Fremden - bei einem gleichzeitigen Anstieg der Kapazitäten. Zukünftig ist davon auszugehen, dass die Nachfrage durch gleichbleibende Handlungs‐ muster von Individuen/ Gruppen konstant bleibt bzw. nur leicht zurückgehen wird. 3.5 Touristische Nutzung und Bedeutungszuweisung des virtuellen Raums Das Verbot von Stadtführungen führte zu einer Verlagerung der physisch an den Ort ge‐ bundenen Stadtführungen in den virtuellen Raum. Die virtuelle Begehbar- und Erlebbarkeit von Destinationen kann somit ohne Raum-Zeit-Restriktionen erfolgen und als Vorabinfor‐ mation für künftige Besuche oder als Erinnerung vergangener Besuche dienen. Virtuelle Stadtführungen können das Angebot physischer Stadtführungen auch nach der Pandemie ergänzen. Eine Verbreitung der Videos wird durch Soziale Medien gefördert. Museen laden zu interaktiven, virtuellen Führungen ein (z. B. Zeppelin Museum Friedrichshafen). Die Stuttgart Marketing GmbH (2022) hat insgesamt elf Stadtführungen online angeboten, um die Bekanntheit und das Image der Destination aufrecht zu erhalten. Die Dresden Marketing GmbH hat am 21. April 2020 das Video „Virtuell durch Dresden - die kleine Online-Stadtrundfahrt“ online auf dem Kanal Youtube zur Verfügung gestellt. Auswirkungen der Covid-19-Pandemie 33 <?page no="34"?> Seitdem wurde das Video 93.535 mal aufgerufen und hat 1.780 Likes (Stand 01.09.2023) erhalten. Die 180 Nutzerkommentare sind überwiegend positiv und wurden vor allem im Jahr 2020 gegeben und haben danach deutlich nachgelassen. Die Ergänzungen der realen Räume durch eine Darstellung im virtuellen Raum hat durch die Bedingungen des Lockdowns und dem damit verbundenen Digitalisierungsschub Fahrt aufgenommen. Wesentliche Veränderungen, Anpassungen oder Innovationen bestehender Produkte sind hierbei nicht erfolgt, vielmehr ist von einer Ergänzung zu sprechen. Die veränderte Raum-Zeit-Verfügbarkeit bedingte eine erhöhte Nutzungsintensität bei einer gleichzeitigen Reduzierung der quantitativen und zeitlichen Kapazitäten. Es ist davon auszugehen, dass virtuelle Räume als ergänzendes Produkt zur Vor- und Nachbereitung von Reisen durchaus Bestand haben werden. Resultierend aus den Entwicklungen in den vier dargestellten Kategorien wird deutlich, welchen Einfluss die nach Hägerstrand aufgezeigten constraints auch heute noch auf den Aktionsbzw. Handlungsraum von Individuen bzw. Gruppen haben, vor allem in Kombination mit den Maßnahmen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie. Daraus lässt sich ein Modell ableiten, welches nachfolgend vorgestellt wird. 4 Modell der Beziehungsebenen im tourismus- und freizeitorientierten Aktionsraum in der Covid-19-Pandemie Die durch die Strukturen der Gesellschaft geschaffenen konkreten räumlichen Gegeben‐ heiten wurden durch die Folgen des Lockdowns beeinflusst. Dies ist offensichtlich passiert, denn die Gesellschaft hat durch veränderte Rahmenbedingungen neue Tourismusräume konstruiert und erfahrbar gemacht. Aber: durch die Pandemie wurden Alltagsräume zu touristifizierten Orten, vor allem durch die Nutzung von privaten Gärten und Grundstücken von Touristen. Die Ausführungen und Beispiele haben gezeigt, dass, - wenngleich das Angebot eines Raumes bzw. einer Destination grundsätzlich unverändert bleibt - durch eine Verände‐ rung der Handlungsbedingungen und -maxime neue Nutzung von Räumen und damit auch veränderte Bedeutungszuweisungen entstehen. Zudem werden Räume durch die parallele Existenz virtueller Räume ergänzt. Öffentlicher Raum mit Einrichtungen und Verkehrsflächen, privater Raum und virtuelle Räume haben sich in ihrer Nutzungsintensität erhöht, privatwirtschaftliche Räume hingegen verringert. Es ist davon auszugehen, dass sich die Handlungsfolgen, die der Lockdown während der Covid-19-Pandemie hervorge‐ bracht hat, mit einem Abklingen der Pandemie wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückentwickeln. Im folgenden Modell sollen die Beziehungsebenen im tourismus- und freizeitorientierten Aktionsraum deutlich werden. 34 Anja Brittner-Widmann <?page no="35"?> Destination als Aktionsraum Raumgrundlagen: ursprüngliches und abgeleitetes Angebot Raumnutzung durch Übernachtungsgäste, Tagesgäste, Ausflügler und Einheimische (physisch präsent und/ oder virtuell) Handlungsbedingungen und -maximen Kapazitäten wie Raum-Zeit-Verfügbarkeit, Ressourcen und Informationen Aktionsräumlicher Handlungsvollzug Sinn, Aktivität, Bewegung privater Raum privatwirtschaftlicher Raum öffentlicher Raum mit Einrichtungen & Verkehrsflächen virtueller Raum Handlungsfolgen aufgrund des Covid-19-pandemiebedingten Lockdowns privater Raum privatwirtschaftlicher Raum öffentlicher Raum mit Einrichtungen & Verkehrsflächen virtueller Raum Zunahme der Nutzungsintensität im Outdoorbereich und auf öffentlichen (Verkehrs)-Flächen Abnahme der Nutzungsintensität durch Kapazitätsbegrenzungen und Schließungen trotz Produktveränderungen, -anpassungen u. -innovationen Zunahme der Nutzungsintensität durch neue Produkte und Nutzungsformen Zunahme der Nutzung digitaler Angebote im privaten Umfeld     (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Schreiner 1998, 13; Steinbach 2003, 16ff. und Reiff 2019, 262) Abbildung 2: Modell der Beziehungsebenen im tourismus- und freizeitorientierten Aktionsraum in der Covid-19-Pandemie | Quelle: Brittner-Widmann 2023, S. 113, in Anlehnung an SCHREINER 1998, S.-13; STEINBACH 2003, S.-16ff. und REIF 2019, S.-262 Auswirkungen der Covid-19-Pandemie 35 <?page no="36"?> 5 Fazit Der Beitrag hat gezeigt, wie stark sich Auswirkungen einer Pandemie auf das aktions‐ räumliche Handeln von Personen auswirken können. Besonders im Kontext von Freizeit und Tourismus haben bestehende touristifizierte Räume durch veränderte Nutzungen eine Ent-Touristifizierung erfahren, wohingegen bislang weniger stark touristisch aufge‐ ladene Räume zunehmend touristifiziert wurden. Als konstituierte Räume haben sie neue Attribute und Werte zugeschrieben bekommen, die sie in einen erweiterten Sinn- und Bedeutungskontext einordnen. Diese Erfahrungen muss die Tourismusbranche nutzen, um sich resilienter auf Katastrophen und weitreichende Änderungen einzustellen und damit die Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft als wichtige Kompetenz der Tourismusbranche zu erkennen und zu fördern. Kontakt Anja Brittner-Widmann, DHBW Ravensburg | brittnerwidmann@dhbw-ravensburg.de Quellen abel consulting (2022): Homeoffice im Hotel. - Zugriff am 16.08.2022 auf https: / / www.homeoffice-i m-hotel.de/ Breyer-Mayländer, T. 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B. den Lebensumständen oder veränderten Einstellungen immer wieder verschieben. Diese Subjektivität, Komplexität sowie Raum- und Zeitabhängigkeit erschweren eine standardisierte Messung von Lebensqualität. Freizeit, Konsum und Urlaubsreisen werden häufig als zentrale Hebel zur Steigerung der Lebensqualität angesehen. So ist auch das Forschungsinteresse an der Ermittlung des Beitrags von Urlaubsreisen zur Lebensqualität von Urlaubsreisenden in den letzten Jahren stetig gestiegen. Hierbei galt es maßgeblich der Ermittlung von positiven und negativen Effekten auf die ortsansässige Bevölkerung, inwieweit sich der Besuch von Gästen in einer Destination konkret auf die wahrgenommene Lebensqualität der dort ansässigen Bevölkerung auswirkt, wurde bisher jedoch weniger untersucht. Diese Forschungslücke wurde im Rahmen einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung adressiert. Dazu wurden zwischen Mai und August 2023 insgesamt 11.950 Deutsche ab 16 Jahren zu ihrer wahrgenommenen Lebensqualität befragt und neben allgemeinen Lebenssituationsaspekten auch tourismusspezifische Einflussfaktoren untersucht. Trotz multipler Krisen zeigen die Ergebnisse eine hohe Lebensqualität der Deutschen auf und machen darüber hinaus deutlich, dass die positiven Effekte des Tourismus als Treiber der wahrgenommenen Lebensqualität fungieren können. Gleichzeitig wird die Kontex‐ tabhängigkeit des komplexen Lebensqualitätskonstruktes deutlich. Dies erschwert die Entwicklung eines aus Praxissicht wünschenswerten einzelnen validen, reliablen und vergleichbaren Indikators als ergänzende Kennzahl zur Erfolgsmessung des Tourismus. Vielmehr bedarf es eines flexiblen Messinstruments, das neben standardisierten und vergleichbaren Komponenten auch destinationsspezifische Aspekte aufgreift und so <?page no="40"?> die Destinationen bei der Ableitung und Entwicklung konkreter Lösungsansätze unter‐ stützt. 1 Einleitung Urlaubsreisen gelten als wichtiger Motor für die persönliche Transformation und können sich positiv auf die Lebensqualität der Urlaubsreisenden auswirken (Pung et al., 2020). Zudem sind Urlaubsreisen für viele Menschen ein fester Bestandteil eines erfüllten Lebens. Dies zeigt sich beispielsweise in der unermüdlichen Reiselust der Deutschen (Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e. V., 2024) und spiegelt sich auch im kontinu‐ ierlichen Wachstum der (internationalen) Gästeankünfte vor Ausbruch der Covid-19-Pan‐ demie sowie den vielerorts schnellen Recovery-Tendenzen nach Wiederaufnahme des (internationalen) Reiseverkehrs wider (World Tourism Organization [UNWTO], 2024). Die anhaltend hohe touristische Nachfrage sichert zwar die wirtschaftliche Nachhaltig‐ keit vieler Destinationen, hat aber auch zur Gefährdung sozialer Tragfähigkeitsgrenzen und zu Unzufriedenheiten in der ortsansässigen Bevölkerung beigetragen (Eisenstein & Schmücker, 2021; Koens et al., 2019; Seeler & Eisenstein, 2023). Während die damit einhergehenden und zunehmend medial verstärkten Overtourismus-Debatten zunächst vor allem im städtischen Kontext stattfanden, sind (wahrgenommene) Nutzungskonflikte zwischen Einwohner*innen und Gästen zunehmend auch im ländlichen Raum spürbar und führen zu Unzufriedenheiten bei der lokalen Bevölkerung. Die Zufriedenheit der ortsansässigen Bevölkerung mit der touristischen Entwicklung am eigenen Wohnort gilt jedoch als elementar für die Wettbewerbsfähigkeit der Destination, weshalb das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung der Perspektive der Einwohner*innen in den letzten Jahren gestiegen ist (Eisenstein & Schmücker, 2021; Herntrei, 2019). Auch in der Destinationspraxis ist ein Wandel und eine Erweiterung der Aufgaben- und Zustän‐ digkeitsbereiche der Destinations-Management-Organisationen (DMO) zu beobachten, die über das Destinationsmarketing und -management hinausgehen und Aspekte des Standortaber auch des Lebensraummanagements einbeziehen (Dwyer, 2018). Um den Erfolg einer Destination langfristig nicht ausschließlich an ökonomischen Kennzahlen zu messen, ist ein Wandel in der Erfolgsmessung unabdingbar und es bedarf alternativer Kennzahlen, die soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele berücksichtigen (Deutsches Institut für Tourismusforschung, FH Westküste [DI Tourismusforschung] & Deutscher Tourismusverband [DTV], 2022; Uysal & Sirgy, 2019). Mit dem Tourismusakzeptanzsaldo (TAS) wurde ein standardisierter Indikator entwi‐ ckelt, der die durch die ortsansässige Bevölkerung wahrgenommenen Auswirkungen des Tourismus auf zwei Ebenen misst: (1) Messung der wahrgenommenen Auswirkungen des Tourismus auf den eigenen Wohnort (TAS-W); (2) Messung der wahrgenommenen Auswir‐ kungen des Tourismus im eigenen Wohnort auf sich persönlich (TAS-P). Das standardisierte Messinstrument ermöglicht sowohl zeitliche als auch räumliche Vergleiche und unterstützt Destinationen bei der ganzheitlichen strategischen Entwicklung unter Einbeziehung der ortsansässigen Bevölkerung (Eisenstein & Schmücker, 2021). Ergebnisse aus vier Jahren Akzeptanzforschung auf Bundesebene zeigen einerseits, dass die Tourismusakzeptanz 40 Sabrina Seeler, Manon Krüger, Anne Köchling, Bernd Eisenstein <?page no="41"?> Wohnort (TAS-W) im Zeitvergleich deutlich sinkt, zum anderen, dass die Tourismusakzep‐ tanz persönlich (TAS-P) jeweils geringer ausfällt als der TAS-W (DI Tourismusforschung, 2023). Insgesamt wird deutlich, dass der Tourismus durch die Bevölkerung sehr häufig als Wirtschaftsfaktor für den eigenen Wohnort bzw. die Region wahrgenommen wird, ein Zusammenhang des Tourismus mit den persönlichen Lebensbedingungen wird hingegen deutlich seltener hergestellt. Im Idealfall sollte der Tourismus im eigenen Wohnort jedoch nicht nur als Wirtschaftsfaktor fungieren und als solcher akzeptiert werden, sondern auch einen positiven Beitrag zur Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung leisten, der bestenfalls als solcher durch die ortsansässige Bevölkerung auch wahrgenommen wird. Während sich eine Vielzahl von Studien mit dem Einfluss des Tourismus auf Urlaubs‐ reisende beschäftigt hat und dabei einen positiven Zusammenhang zwischen Urlaubsreisen und Lebensglück postuliert (z. B. Pung et al., 2020; Sheldon, 2020; Smith & Dieckmann, 2017), haben sich bislang deutlich weniger Studien mit dem möglichen Einfluss des Tourismus auf die Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung beschäftigt (Lindberg et al., 2021; Seeler & Eisenstein, 2023; Uysal & Sirgy, 2019). Zudem liegen eine Vielzahl an standardisierten Instrumenten zur Messung der Lebenszufriedenheit bzw. des Lebens‐ glückes vor, beispielsweise der SKL Glücksatlas oder der OECD Better Life Index. Die zumeist umfangreichen Kriterienkataloge zur Messung der individuellen Lebenszufrieden‐ heit berücksichtigten jedoch weniger tourismusrelevante Aspekte. Um einen empirischen Beitrag zur Reduzierung dieser Forschungslücke zu leisten, war es das Ziel dieser Studie, einen Forschungsansatz zu entwickeln, der es ermöglicht, den Beitrag des Tourismus zur wahrgenommenen Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung zu untersuchen. In dem vorliegenden Beitrag werden ausgewählte uni- und bivariate Ergebnisse der Studie vorgestellt und diskutiert. 2 Lebensqualität und Tourismus 2.1 Definition und Messung von Lebensqualität Mit der zunehmenden Notwendigkeit der Definition eines neuen gesellschaftspolitischen Konzeptes, das über neoliberale Wachstumsstrategien und Ausrichtungen an der ökonomi‐ schen Gewinnmaximierung hinausgeht und soziale Nachhaltigkeitskomponenten stärker betrachtet, findet bereits seit den 1960/ 1970er Jahren in Politik und Wissenschaft eine intensive Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Lebensqualität statt (Noll, 2000, 2022; Zapf, 1972). Trotz der intensiven Auseinandersetzung und der häufigen Verwendung sowohl im alltäglichen als auch im politischen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch - Glatzer (2012, S. 124) sprach in diesem Zusammenhang bereits vor mehr als zehn Jahren vom „erfolgreichsten Begriff der letzten Jahre“ - liegt keine einheitliche Definition des Begriffes Lebensqualität vor. Li und Yost (2022) begründen dies mit der hohen Subjektivität und Komplexität des Lebensqualitätskonstruktes und Zapf sprach bereits 1972 von der Schwierigkeit einer einheitlichen Definition: „Lebensqualität ist eine schwierige Kategorie: politischer als Wohlfahrt, wissenschaftlicher als Wohlstand oder Glück, allgemeiner als „öffentliches Interesse“ […]; für Konservative erweckt sie Assoziationen gegen Vermassung und für gediegene Überschaubarkeit.“ (Zapf, 1972, S. 353). Durch die teilweise inkonsis‐ Perspektivenwechsel in der Lebensqualitätsforschung 41 <?page no="42"?> tente synonyme Verwendung von Begriffen wie Gemeinwohl, Lebenszufriedenheit oder (Lebens-)Glück wird die Begriffsabgrenzung zusätzlich erschwert. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) definiert Lebens‐ qualität (Quality of Life) als „die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen“ (WHO, 1998, S. 11). Damit wird nicht nur deutlich, dass es sich um ein subjektives Wahrnehmungsphänomen handelt, sondern auch dass Lebensqualität kontextabhängig ist und sich je nach Lebensumständen dynamisch verändern kann. In der Literatur wird zudem auf die Materialität und Immaterialität des Lebensqualitätskonstruktes verwiesen, die Mehrdimensionalität betont und argumentiert, dass es weniger um das Mehr, also die Quantität, sondern vielmehr um das Besser, also die Qualität geht (u. a., Li & Yost, 2022; Noll, 2000, 2022). In diesem Zusammenhang wird auch zwischen hedonischen und eudaimonischen Komponenten der Lebensqualität unterschieden (Li & Chan, 2020). Seeler und Eisenstein (2023, S. 101) fassen die Komplexität wie folgt zusammen: „Lebensqualität ist dabei immer eine subjektive Wahrnehmung und Bewertung der faktischen Lebensverhältnisse, welche sich in einem subjektiven Wohlbe‐ finden ausprägen, beispielsweise in Form von Zufriedenheit und Glück.“ Dabei betonen sie, dass neben positiven Emotionen, auch negative Gefühle, Zukunftspessimismus oder auch Einsamkeit dieses subjektive Wohlbefinden beeinflussen können (Seeler & Eisenstein, 2023). Obwohl die Subjektivität und Komplexität des Lebensqualitätskonstruktes eine einheitliche und standardisierte Messung erschweren, wurden in der Vergangenheit ver‐ schiedene Instrumente entwickelt, die nicht nur zu einem besseren Verständnis beitragen, sondern auch räumliche und zeitliche Vergleiche beobachten und erklären sollen. Die Messung von Lebensqualität kann sich sowohl auf objektive als auch auf subjektiv wahrgenommene Komponenten stützen. Erstere beziehen sich auf äußere bzw. externe Lebensbedingungen, die von außen beobachtet und bewertet werden können. Diese um‐ weltbezogenen Komponenten können sowohl gesellschaftsbezogene (z. B. Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, Armut) als auch personenbezogene Aspekte (z. B. Einkommen, Wohnsituation) sein (Schäfers, 2012). Die subjektive Lebensqualität erfordert die Selbstein‐ schätzung des Individuums und kann nach Glatzer (2012) in drei übergeordnete Themen‐ bereiche unterteilt werden: „der positiven Seite des Daseins (Glück und Zufriedenheit), die negative Seite der menschlichen Existenz (Sorgen, Ängste) und die Zukunftsperspek‐ tive der Menschen, die durch Optimismus oder Pessimismus gekennzeichnet sein kann“ (Glatzer, 2012, S. 125). Objektiv gute Lebensbedingungen führen nicht immer zu einer hohen subjektiv empfundenen Lebensqualität und Zufriedenheit. Dies wird als Dissonanz oder Unzufriedenheitsdilemma bezeichnet (Noll, 2000). Gleichzeitig bedeuten objektiv beobachtete schlechte Lebensbedingungen nicht automatisch einen negativen Einfluss auf das subjektive Wohlbefinden. Dies wäre dann als Adaption oder Zufriedenheitsparadox zu verstehen (Noll, 2000). Die zum Teil paradoxen Zusammenhänge erschweren neben der Subjektivität, der Multidimensionalität sowie der Dynamik des Lebensqualitätskonstruktes ebenfalls eine standardisierte Messung. Dennoch gibt es einige Ansätze zur vergleichbaren Messung der subjektiven Lebensqualität. Einige ausgewählte etablierte Beispiele sind in →-Tabelle 1 skizziert. 42 Sabrina Seeler, Manon Krüger, Anne Köchling, Bernd Eisenstein <?page no="43"?> Messinstru‐ ment Betrachtete Ein‐ heiten Erläuterung OECD Better Life Index OECD-Mitglieds‐ staaten + Schlüssel‐ partnerländer Der Better Life Index der OECD verfolgt seit Initiierung 2011 das Ziel, über ökonomische Kennzahlen hinaus das Wohlbefinden der Bevölkerung der OECD-Mitglieds‐ staaten (darunter auch Deutschland) sowie von Schlüssel‐ partnerländern (u.-a. Brasilien und Russland) dauerhaft mess- und vergleichbar zu machen. Der Better Life Index umfasst dabei sowohl materielle, als auch immaterielle Aspekte der allgemeinen Lebenssituation, die in elf The‐ menbereichen untergliedert sind: 1. Wohnverhältnisse, 2. Beschäftigung, 3. Bildung, 4.-Gesellschaftliches Engagement, 5. Lebenszufriedenheit, 6.-Work-Life-Balance, 7. Einkommen, 8. Gemeinsinn, 9.-Umwelt, 10. Gesundheit, 11. Sicherheit -Der Index zielt dabei nicht darauf ab, die Länder in einer standardisierten Rangfolge abzubilden. Vielmehr geht es darum, je nach individueller Wichtigkeit darzustellen, wie sich einzelne Staaten auf Basis der subjektiven Präferenzen einstufen. Der OECD Better Life Index für Deutschland lag 2023 auf einer Skala von 0 bis 10 bei 7,3 (OECD, o.-J.). World Happi‐ ness Report Ca. 130 Länder weltweit Seit 2011 werden im Rahmen des sogenannten Gallup World Polls jährlich mehr als 100.000 Personen weltweit gebeten, die eigene Lebenssituation auf einer Skala von 0 bis 10 bzgl. der folgenden sechs Bereiche zu bewerten: 1. Pro-Kopf-Einkommen, 2. Soziale Unterstützung, 3.-Ge‐ sundheitssituation (mental und physisch), 4. (Entschei‐ dungs-)Freiheit, 5. Großzügigkeit & Gemeinschaft, 6.-Wahrnehmung von Korruption -Der Happiness Score für Deutschland lag 2023 lt. World Happiness Report bei 6,9. Hierbei wird ein Durchschnitts‐ wert der letzten drei Jahre gebildet (Helliwell et al., 2023). SKL Glücks‐ atlas Deutsche Bundes‐ länder Im SKL Glücksatlas wird seit 2011 die allgemeine Lebens‐ zufriedenheit der Deutschen auf einer Skala von 0 bis 10 gemessen. Neben der Einschätzung der allgemeinen Le‐ benszufriedenheit werden auch weiterführende Aspekte zu den folgenden übergeordneten Themenbereichen be‐ trachtet: 1. Arbeit und Beruf, 2. Konsum und Zeitverwendung, 3.-Einkommen und Vermögen, 4. Familie und Freunde, 5.-Gesundheit -Für Deutschland gesamt wurde im Jahr 2023 eine durch‐ schnittliche Lebenszufriedenheit von 6,92 Punkten ge‐ messen. Die glücklichsten Menschen leben in Schleswig- Holstein (7,21 Punkte) und Hamburg (7,11 Punkte) (SKL Glücksatlas, 2023). Tabelle 1: Ausgewählte etablierte Instrumente zur Messung von Lebensqualität/ Glück/ Zufriedenheit | Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von: OECD (o. J.); Helliwell et al. (2023); SKL Glücksatlas (2023) In der World Database of Happiness hat die Erasmus Happiness Economics Research Organization (EHERO) der Erasmus University Rotterdam rund 40.000 (Stand 2021) Forschungsergebnisse aus verschiedenen Erhebungen rund um die Themen Glück und Perspektivenwechsel in der Lebensqualitätsforschung 43 <?page no="44"?> Lebenszufriedenheit zusammengetragen. Auch für Deutschland liegen Kennzahlen aus verschiedenen Studien vor, beispielsweise dem Ungleichheitsindex des Glücks (Inequality of Happiness), der angibt, wie groß die Unterschiede in der Lebensfreude innerhalb eines Landes sind. Beispielsweise schneidet Deutschland bei Daten aus den Jahren 2010 bis 2019 bezogen auf den Ungleichheitsindex des Glücks vergleichsweise gut ab und belegt Rang 23 von 157 untersuchten Staaten (Veenhoven, 2021). Die umfangreiche, wenn auch nicht erschöpfende Datenbank zeigt, wie vielschichtig das Thema in der Vergangenheit bereits untersucht wurde und verdeutlicht, dass verbindliche Maßstäbe aufgrund der Komplexität sowie der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten an Untersuchungsaspekten schwierig sind. Die Studien konzentrieren sich in der Regel auf einzelne Aspekte und Indikatoren und setzen unterschiedliche Schwerpunkte bei der Messung von Lebensqualität, dennoch ist den Ansätzen gemein, dass alternative Komponenten zur Bemessung des Wohlstandes im Mittelpunkt stehen, die sowohl objektive als auch subjektive Befindlichkeiten einbeziehen. Auch in der Tourismuswissenschaft und -praxis wird zunehmend nach alternativen Möglichkeiten der Erfolgsmessung von touristischen Unternehmen und Destinationen gesucht, die über ökonomische Nachhaltigkeitskomponenten hinausgehen und neben der Sicherstellung einer positiven Besuchs- und Erlebnisqualität für die Gäste auch die Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung berücksichtigen (Seeler & Eisenstein, 2023). Obwohl Aspekte wie Freizeit, Konsum oder auch Work-Life-Balance in viele Messinstru‐ mente einfließen und Studienergebnisse zeigen, dass Urlaubsreisen eine zentrale Rolle bei der Steigerung der Lebensqualität spielen können, werden tourismusspezifische Aspekte in etablierten Instrumenten bislang meist nur marginal berücksichtigt (Dolnicar et al., 2013; Veenhoven, 2021). 2.2 Lebensqualität im Kontext des Tourismus Freizeit und insbesondere Urlaubsreisen bergen ein großes Potenzial zur Entfaltung der wahrgenommenen Lebensqualität und tragen zum psychischen und sozialen Wohlbefinden bei (McCabe & Johnson, 2013; Randle et al., 2019; Uysal et al, 2020). Dolnicar et al. (2013) betonen, dass Urlaubsreisen drei zentrale Aufgaben in der Steigerung der individuellen Lebensqualität einnehmen können: (1) Urlaubsreisen bieten Raum für physische und mentale Entspannung und Erholung; (2) Urlaubsreisen bieten Raum für Persönlichkeits‐ entwicklung und die Möglichkeit, den eigenen Interessen nachzugehen; (3) Urlaubsreisen werten den eigenen Status durch symbolischen Konsum auf. Weiterhin stellt Sirgy (2010) fest, dass positive und negative Erinnerungen der letzten Urlaubsreise die Zufriedenheit in 13 Lebensbereichen und schließlich die allgemeine Lebenszufriedenheit beeinflussen können. Die Erkenntnis eines positiven Einflusses von Urlaubsreisen auf die Lebenszufrie‐ denheit und Lebensqualität der Urlaubsreisenden ist nicht neu (McCabe & Johnson, 2013; Opaschowski, 2008), hat aber in den letzten Jahren mit der zunehmenden Bedeutung der Erfüllung von Individualbedürfnissen und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch in der touristischen Praxis an Bedeutung gewonnen (Randle et al., 2019; Pung et al., 2020; Sheldon, 2020). Urlaubsreisen gehören für immer größere Teile der (deutschen) Bevölkerung zu einem erfüllten Leben und werden als Treiber der persönlichen Transformation und Verstärker 44 Sabrina Seeler, Manon Krüger, Anne Köchling, Bernd Eisenstein <?page no="45"?> der wahrgenommenen Lebensqualität verstanden (Seeler et al., 2021). Reisinger (2015) postuliert, dass kein anderer Lebensbereich das Bewusstsein derart positiv beeinflussen und schließlich zur persönlichen Transformation beitragen kann, wie der Tourismus. Dabei ist es unerheblich, ob eine persönliche Transformation mit der Urlaubsreise angestrebt wurde oder diese eher beiläufig als Resultat eines erinnerungswürdigen Urlaubserlebnisses, das sowohl positiver als auch negativer Natur sein kann, realisiert wird (Kirillova et al., 2017). Des Weiteren zeigen Randle et al. (2019) auf, dass der Stellenwert von Urlaubsreisen und dessen Einfluss auf das Wohlbefinden zwar in verschiedenen Lebensphasen variieren kann und einer subjektiven Bewertung unterliegt, insgesamt jedoch ein positiver Einfluss festgestellt werden kann. Laut SKL Glücksatlas ist die Lebenszufriedenheit im Urlaub überdurchschnittlich hoch und Deutsche, die mindestens einmal im Jahr zu Urlaubs- und Freizeitzwecken verreisen, sind glücklicher als Nicht-Reisende (SKL Glücksatlas, 2023). Auch wenn das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung des Beitrags des Tourismus zur Lebensqualität in den letzten Jahren zugenommen hat und sich die Erkenntnis durch‐ gesetzt hat, dass durch die Sicherstellung eines positiven Beitrags des Tourismus zur Lebensqualität der Urlaubsreisenden und gleichzeitig der ortsansässigen Bevölkerung die gesellschaftliche Verpflichtung des Tourismus im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung gewährleistet werden kann (Uysal et al., 2020), steht zumeist die Perspektive des Urlaubs‐ reisenden im Mittelpunkt der Betrachtung. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen aus Sicht der dauerhaft in der Destination lebenden Bevölkerung haben sich in der Vergangenheit vor allem mit den ökonomischen Effekten des Tourismus beschäftigt und Einkommensmöglichkeiten hervorgehoben, die sich positiv auf die Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung auswirken können (Croes et al., 2018; McCabe & Johnson, 2013). Andere Studien betrachten den Einfluss der touristischen Entwicklung in einer Destination auf das Wohlbefinden der ortsansässigen Bevölkerung, während sich weitere Untersuchungen auf objektiv beobachtbare Faktoren wie Kriminalitätsraten oder Arbeitslosenquoten beschränken (Kim et al., 2013; Liang & Hui, 2016; Veenhoven, 2021). Der Beitrag des Tourismus zur subjektiv empfundenen Lebens‐ qualität der ortsansässigen Bevölkerung wird im wissenschaftlichen Diskurs mit wenigen Ausnahmen bislang vergleichsweise weniger berücksichtigt. Beispielsweise entwickelten Andereck et al. (2007) eine Skala zur Messung des Beitrags des Tourismus zur Lebensqualität der lokalen Bevölkerung (tourism and quality of life scale (TQOL)). Darauf aufbauend identifizierten Andereck und Nyaupane (2011) insgesamt acht Lebensbereiche, die durch den Tourismus beeinflusst werden. Einen ähnlichen Ansatz verfolgten Kim et al. (2013), die den wahrgenommenen Einfluss des Tourismus auf verschiedene Lebensbereiche sowie die Lebenszufriedenheit der ortsansässigen Bevölkerung im US-Bundesstaat Virginia in verschiedenen Lebenszyklusphasen der Destination untersuchten. Liang und Hui (2016) erweiterten die TQOL um die Komponenten des Familienstatus sowie der Wohn- und Aufenthaltssituation am Beispiel von Shenzhen (China) und untersuchten nicht nur deren Einfluss auf die wahrgenommene Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung der Millionenstadt, sondern auch, inwieweit diese Aspekte die Einstellungen zur zukünf‐ tigen Tourismusentwicklung beeinflussen. Mathew und Sreejesh (2017) untersuchten den Einfluss einer nachhaltigen und verantwortungsvollen Destinationsentwicklung auf die wahrgenommene Lebensqualität und identifizierten vier zentrale Wirkungsbereiche: Perspektivenwechsel in der Lebensqualitätsforschung 45 <?page no="46"?> • Gemeinnütziges Engagement und Möglichkeiten der Mitgestaltung und Partizipation, • Beschäftigungsmöglichkeiten, • Qualifizierungsprogramme, • Bewusstseinsbildung. Auch Aleshinloye et al. (2021) fanden heraus, dass sich eine hohe Wohnortverbundenheit sowie die Wahrnehmung einer möglichen Mitbestimmung und aktiven Beteiligung (Em‐ powerment) an touristischen Entwicklungsprozessen positiv auf die wahrgenommene Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung auswirken kann und damit auch die Zufriedenheit mit dem Tourismus am eigenen Wohnort steigern kann. Obwohl die systematische Literaturrecherche klar aufzeigt, dass das Interesse an der Erforschung des Einflusses des Tourismus auf die Lebensqualität verschiedener An‐ spruchsgruppen in den letzten Dekaden deutlich zugenommen hat, konzentrieren sich die Studien - ähnlich wie in der allgemeinen Lebensqualitätsforschung - zumeist auf wenige ausgewählte Aspekte und setzen spezifische Schwerpunkte bei der Messung des Zusammenhangs zwischen Urlaubsreisen, Destinationsentwicklung, Zufriedenheit und Lebensqualität. Dabei erfolgt häufig eine maßgebliche Fokussierung auf tourismusspezifi‐ sche Aspekte, während allgemeine Indikatoren der Lebenssituation trotz ihrer anerkannten Relevanz weniger Beachtung finden. Ziel der durchgeführten Studie war es daher, ein umfassendes Messinstrument zu entwickeln, das es erlaubt, den möglichen Beitrag des Tourismus im eigenen Wohnort zur wahrgenommenen Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung im Kontext auch weiterer, nicht-tourismusspezifischer Faktoren zu ermitteln. Im vorliegenden Beitrag werden ausgewählte uni- und bivariate Ergebnisse der Studie vorgestellt. 3 Methodik Die in diesem Beitrag vorgestellten Ergebnisse sind Teil einer Repräsentativbefragung der deutschen Bevölkerung ab 16 Jahren, die auf einer zuvor durchgeführten Pilotstudie aufbaute. Im Fokus der Studien stand die Ermittlung des (möglichen) Beitrags des Tou‐ rismus zur wahrgenommenen Lebensqualität der Deutschen. Übergeordnetes Ziel war es dabei, ein valides und reliables Messinstrument zu entwickeln, das zur Identifikation und Implementierung alternativer Erfolgsindikatoren im Tourismus beitragen kann. Dazu wurden die folgenden drei Forschungsfragen definiert: 1. Welche Faktoren (ökonomische, ökologische, soziale) haben Einfluss auf die wahrge‐ nommene Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung? 2. Welche Rolle spielen die wahrgenommenen positiven und negativen Auswirkungen des Tourismus auf den eigenen Wohnort für die Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung? 3. Welchen Einfluss haben die Verbundenheit/ Identifikation der Einwohner*innen mit ihrem Wohnort sowie die wahrgenommenen Einflussmöglichkeiten und Wünsche bei der touristischen Gestaltung auf die wahrgenommene Lebensqualität? Um der Mehrdimensionalität des Lebensqualitätskonstruktes gerecht zu werden, wurden neben tourismusspezifischen Faktoren auch die Zufriedenheit und Wichtigkeit mit As‐ 46 Sabrina Seeler, Manon Krüger, Anne Köchling, Bernd Eisenstein <?page no="47"?> pekten der allgemeinen Lebenssituation (z. B. Lebenshaltungskosten, Gesundheitszustand, Freizeit- und Kulturangebot) untersucht sowie Fragen zur Identifikation mit dem Wohnort und den wahrgenommenen Einflussmöglichkeiten auf die touristische Entwicklung inte‐ griert. Bei der Fragebogenkonstruktion wurde auf bestehende Studien (z. B. Aleshinloye et al., 2021) und Messinstrumente (z. B. OECD Happiness Index, Tourismusakzeptanzstudie) zurückgegriffen und entsprechende Anpassungen zur Entwicklung eines vollstandardi‐ sierten, ca. 17-minütigen Fragebogens wurden vorgenommen. Auf dieser inhaltlichen Grundlage wurde zunächst eine Pilotstudie durchgeführt, in der im Zeitraum vom 22. September bis 20. Oktober 2022 insgesamt 3.839 Deutsche im Alter von 18 bis 74 Jahren online befragt wurden. Für eine mögliche Validierung der Ergebnisse auf Bundesebene wurde zusätzlich eine Aufstockung der Stichproben für Hessen (n = 774) und Niedersachsen (n = 783) realisiert. Um repräsentative Aussagen für die jeweilige Grundgesamtheit zu ermöglichen, wurde eine Quotenstichprobe mit anschließender Gewichtung nach den Kriterien Alter, Geschlecht und Herkunft gezogen. Für die Stichprobenziehung wurde das Online Access Panel von Norstat genutzt. Auf Basis der Ergebnisse dieser Pilotstudie wurde das Messinstrument verfeinert und geschärft und in einer zweiten Erhebungswelle mit erweiterter Methodik überprüft. Hierfür wurde ein hybrider Mehrmethodenansatz gewählt und zwischen dem 17. Mai und 07. August 2023 wurden insgesamt 11.950 Deutsche ab 16 Jahren telefonisch (Dual Frame, d. h. sowohl über Festnetzals auch über Mobilfunknummern) oder online befragt. Für die deutschen Bundesländer bestand die Möglichkeit, sich mit einer repräsentativen Stichprobe (n = mind. 400) an der Studie zu beteiligen. Von dieser Möglichkeit machten 12 Bundesländer Gebrauch, daneben erfolgte für Bayern, Mecklenburg-Vorpommern sowie Sachsen eine Erhebung auch auf Ebene der touristischen Regionen. Die Integration von telefonischen Interviews ermöglichte es zum einen, die Alters-Limitationen (bis 74 Jahre) von Online Access Panels zu umgehen, und zum anderen über Online-Panels schwer erreichbare Subgruppen (z. B. junge, weniger gebildete Männer) in die Befragung einzubeziehen. Neben Alter, Geschlecht und Wohnort wurde auch der höchste Bildungsabschluss der Befragten in die Quotierung und anschließende Gewichtung einbezogen. Dies hatte den Vorteil, dass einer möglichen Überrepräsentanz von höher gebildeten Personen (wie sie bei Online Access Panels häufig vorkommt) entgegengewirkt werden kann. Nach Datenerhebung und -bereinigung wurden die Daten zunächst univariat deskriptiv mit SPSS 27 ausgewertet. Um auch Unterschiede zwischen Teilgruppen (z. B. differenziert nach Alter, nach Herkunft) zu ermitteln, wurden zusätzlich bivariate Auswertungen in Form von Kreuztabellen durchgeführt. Um Aussagen darüber treffen zu können, ob die festgestellten Unterschiede auf die Grundgesamtheit übertragbar sind, erfolgten Signifikanzprüfungen nach Pearson Chi-Quadrat. In diesem Beitrag werden ausgewählte uni- und bivariate Ergebnisse für Deutschland vorgestellt. Perspektivenwechsel in der Lebensqualitätsforschung 47 <?page no="48"?> 4 Ausgewählte Ergebnisse und Diskussion 4.1 Hohe Lebensqualität trotz multipler Krisen Auf einer Skala von 0 = sehr niedrige Lebensqualität bis 10 = sehr hohe Lebensqualität stimmen insgesamt 46 Prozent der Deutschen zu, eine (sehr) hohe Lebensqualität zu haben (Antwortoptionen 8-10). Dies zeigt, dass die Deutschen trotz multipler Krisen und allgemein zumeist pessimistischen Zukunftsaussichten (Pinkwart et al., 2022) sich der positiven Lebensbedingungen durchaus bewusst sind und die eigene Lebensqualität größtenteils als (sehr) hoch einstufen. Im Vergleich der beteiligten Bundesländer zeigen sich statistisch signifikante Unterschiede und die Einschätzung einer (sehr) hohen Lebens‐ qualität schwankt zwischen 32 und 51 Prozent. Bei einer differenzierten Betrachtung nach ausgewählten soziodemographischen Kriterien lassen sich zudem die folgenden Aussagen ableiten: • Deutsche mit einer hohen wahrgenommenen Lebensqualität leben überdurchschnitt‐ lich häufig in Gemeinden mit weniger als 50.000 Einwohner*innen. 53 Prozent der Befragungsteilnehmenden in Gemeinden mit 1.000 bis 4.999 Einwohner*innen gaben an, eine (sehr) hohe Lebensqualität zu haben. • Sowohl junge Erwachsene zwischen 16 und 24 Jahren, als auch Personen ab 70 Jahren geben überdurchschnittlich häufig an, eine (sehr) hohe Lebensqualität zu haben. Die 55bis 69-Jährigen hingegen geben überdurchschnittlich häufig an, eine (sehr) geringe Lebensqualität zu haben. • Je höher die Schulbildung, desto höher fällt die Zustimmung zu einer (sehr) hohen Lebensqualität aus. Insgesamt stimmen 57 Prozent der Befragten mit einem Fach‐ hochschul- oder Universitätsabschluss zu, eine (sehr) hohe Lebensqualität zu haben. Dies spiegelt sich auch im Zusammenhang von Lebensqualität und Haushaltsnettoein‐ kommen wider: Je höher das monatliche Haushaltsnettoeinkommen, desto höher ist die Zustimmung zu einer hohen empfundenen Lebensqualität. • Befragte in kinderlosen Haushalten stimmen überdurchschnittlich häufig zu, eine (sehr) hohe Lebensqualität zu haben. • Liegt eine sehr hohe Tourismusintensität von mehr als 50 Übernachtungen je Ein‐ wohner*in vor, so fällt die Zustimmung zu einer (sehr) hohen Lebensqualität ebenfalls überdurchschnittlich hoch aus. Rund 54 Prozent der Befragten in tourismusintensiven Orten stimmen zu, eine sehr hohe Lebensqualität wahrzunehmen. Bei geringer Tou‐ rismusintensität fällt die Lebensqualität hingegen geringer aus. 4.2 Tourismuseffekte können Zufriedenheit mit der Lebenssituation stärken Die Befragungsteilnehmenden wurden gebeten auf einer 5er-Skala von 0 = überhaupt nicht zufrieden bis 4 = sehr zufrieden bzw. von 0 = überhaupt nicht wichtig bis 4 = sehr wichtig anzugeben, wie zufrieden sie mit ausgewählten Aspekten ihrer allgemeinen Lebenssituation sind und wie wichtig ihnen diese ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte sind. Am höchsten ist die Zufriedenheit mit den Möglichkeiten zur Naherholung und zum Aufenthalt in der Natur - insgesamt geben 75 Prozent der Deutschen an, mit diesen Möglichkeiten (sehr) zufrieden zu sein. In Mecklenburg- 48 Sabrina Seeler, Manon Krüger, Anne Köchling, Bernd Eisenstein <?page no="49"?> Vorpommern und Brandenburg liegen die Zustimmungswerte mit jeweils 81 Prozent über dem gesamtdeutschen Niveau. Auch mit den sozialen Beziehungen im eigenen Wohnort ist die Mehrheit der Deutschen (sehr) zufrieden (72 %), zudem wird die Nah‐ versorgung von 70-Prozent der Befragten als (sehr) zufriedenstellend bewertet. Bei den wirtschaftlichen Aspekten zeigt sich dagegen eine geringere Zufriedenheit sowie zudem auch eine vergleichsweise große Diskrepanz zwischen der empfundenen Wichtigkeit und wahrgenommenen Zufriedenheit. So geben beispielsweise 83 Prozent der Deutschen an, dass ihnen die Höhe der Kosten für Dinge des täglichen Bedarfs (sehr) wichtig ist, während nur ein Drittel der Befragten hiermit (sehr) zufrieden ist. Auch mit dem Angebot an Restaurants und Cafés (54 %) sowie dem Freizeit- und Kulturangebot (55 %) im eigenen Wohnort sind jeweils weniger Befragte (sehr) zufrieden - allerdings wird diese Aspekten auch eine vergleichsweise geringere Wichtigkeit zugeschrieben (→ Abbildung 1). Zudem zeigen sich zwischen den Bundesländern große Unterschiede in der Zufriedenheit mit dem Angebot: Angebot an Restaurants und Cafés: Spannweite: 38%-73%; Freizeit- und Kulturangebot: 38%-70%). 19 22 43 37 40 38 31 28 15 8 7 3 5 3 4 = sehr wichtig 3 2 1 0 = überhaupt nicht wichtig 21 18 39 33 37 36 27 31 18 12 10 5 6 4 Angebot an Restaurants & Cafés Freizeit- & Kulturangebot Naherholungs-/ Aufenthaltsmöglichkeiten in der Natur 4 = sehr zufrieden 3 2 1 0 = überhaupt nicht zufrieden Zufriedenheit Wichtigkeit Top-2 75 55 54 Top-2 81 61 56 Abbildung 1: Zufriedenheit und Wichtigkeit mit ausgewählten allgemeinen Lebenssituationsaspekten (Deutschland gesamt, n = 11.950, Angaben in gültigen Prozenten; Rundungsdifferenzen möglich) | Quelle: Eigene Darstellung Neben der Einschätzung der Zufriedenheit und Wichtigkeit einzelner Aspekte der allge‐ meinen Lebenssituation wurden die Befragten zudem gebeten anzugeben, inwieweit sie (positive) Auswirkungen des Tourismus auf den eigenen Wohnort in Bezug auf ausgewählte Lebensbereiche wahrnehmen. Demnach stimmen beispielsweise nur 40-Prozent der Deut‐ schen zu, dass es durch den Tourismus ein vielfältigeres Angebot an Restaurants und Cafés im eigenen Wohnort gäbe, 39 bzw. 33 Prozent nehmen wahr, dass es durch den Tourismus mehr Freizeitangebote im eigenen Wohnort gibt bzw. dass der öffentliche Nahverkehr durch den Tourismus gefördert wird. Eine Verbesserung der Nahversorgung durch den Tourismus erkennen nur 28 Prozent der Deutschen. Bei differenzierter Betrachtung wird deutlich, dass Befragte mit einer höheren Zufriedenheit mit den allgemeinen Lebenssitua‐ tionsaspekten auch häufiger einen positiven Beitrag des Tourismus erkennen. Dies trifft beispielsweise bezogen auf die Zufriedenheit mit dem öffentlichen Nahverkehr zu. Nehmen Perspektivenwechsel in der Lebensqualitätsforschung 49 <?page no="50"?> die Befragten wahr, dass der Tourismus den öffentlichen Nahverkehr positiv stärkt, so fällt die Zufriedenheit deutlich überdurchschnittlich aus als bei Befragten, die keinen positiven Beitrag des Tourismus zum öffentlichen Nahverkehr erkennen. Auch in Bezug auf die Wahrnehmung, dass der Tourismus das Orts- und Stadtbild verschönert, lassen sich statistisch signifikante Unterschiede dahingehend feststellen, ob ein positiver Beitrag des Tourismus zur Verschönerung des Orts- und Stadtbildes durch Befragte erkannt wird oder nicht: Während 60 Prozent der Befragten insgesamt mit dem Stadt- und Ortsbild (sehr) zufrieden sind, liegen die Zustimmungswerte bei den Befragten, die einen positiven Beitrag des Tourismus auf das Stadt- und Ortsbild wahrnehmen, bei 81 Prozent. Werden also positive Auswirkungen des Tourismus auf den eigenen Wohnort wahrgenommen, so spiegelt sich dies auch in höheren Zufriedenheitswerten in der Bevölkerung wider. Hieraus ist ableitbar, dass die Realisierung von positiven Effekten und das Erkennen des Beitrages des Tourismus auf den Wohnort (z. B. bezogen auf den Nahverkehr, Orts- und Stadtbild) zu einer allgemeinen Zufriedenheitssteigerung beitragen kann und somit dem Tourismus ein wichtiger Stellenwert in der Steigerung der Lebenszufriedenheit der ortsansässigen Bevölkerung eingeräumt werden kann. Insgesamt wird der Tourismus weitestgehend als wichtiger Wirtschaftsfaktor ver‐ standen, ein positiver Beitrag zu sozialen Lebensaspekten der ortsansässigen Bevölkerung sowie zum Erhalt einer lebenswerten Umwelt im Wohnort wird hingegen deutlich seltener wahrgenommen. Dies zeigt sich in allen betrachteten Bundesländern. 4.3 Identifikation mit dem eigenen Wohnort durch den Tourismus Obwohl ein positiver Beitrag des Tourismus zur eigenen Lebensqualität und zum Wohl‐ befinden der ortsansässigen Bevölkerung von weniger als einem Drittel der Deutschen erkannt wird, zeigen weiterführende Analysen, dass der Tourismus zur Identifikation mit dem eigenen Wohnort beitragen kann. So stimmen insgesamt 42 Prozent der Deutschen (vollkommen) zu, dass sie durch den Besuch von Gästen daran erinnert werden, dass sie einen besonderen Ort zu teilen haben und 40 Prozent der Deutschen möchten anderen davon berichten, was ihr Wohnort zu bieten hat. Der Wunsch der Bevölkerung, eine aktive Rolle als Botschafterin oder Botschafter für den eigenen Wohnort einzunehmen, schwankt in den Bundesländern zwischen 35 und 50 Prozent. Insgesamt zeigt sich, dass fast jeder zweite Befragte (48 %) stolz auf den eigenen Wohnort ist. Mecklenburg-Vorpommern erreicht im Bundesländervergleich den Spitzenwert von 67 Prozent. Darüber hinaus wurden die Befragten gebeten anzugeben, inwieweit sie sich mit dem eigenen Wohnort verbunden fühlen, ob ihr Gemeinschaftssinn gefördert wird oder ob Möglichkeiten zum Engagement wahrgenommen werden (→ Abbildung 2). 50 Sabrina Seeler, Manon Krüger, Anne Köchling, Bernd Eisenstein <?page no="51"?> Top-2 50 48 46 42 40 33 29 9 10 15 16 17 21 19 20 23 25 25 29 27 31 29 33 31 29 29 29 30 19 18 16 16 15 12 12 23 16 14 14 10 10 8 Ich fühle mich besonders, wenn Menschen hier Urlaub machen. [Wohnort] fördert den Gemeinschaftssinn in mir. Ich möchte anderen davon erzählen, was wir hier zu bieten haben. Wenn Gäste herkommen, erinnert es mich daran, dass ich einen besonderen Ort zu teilen habe. Ich fühle mich mit meiner Gemeinschaft hier stark verbunden. Es macht mich stolz, hier zu leben. [Wohnort] bietet mir Möglichkeiten, mich zu engagieren. 4 = stimme vollkommen zu 3 2 1 0 = stimme überhaupt nicht zu Abbildung 2: Identifikation mit dem eigenen Wohnort (Deutschland gesamt, n = 11.950, Angaben in gültigen Prozenten) | Quelle: Eigene Darstellung Weiterführende bivariate Auswertungen auf Basis der Einzelwerte zeigen, dass ein sehr hoher Wohnortstolz (Antwortoption stimme vollkommen zu) mit einer höheren wahrge‐ nommenen Lebensqualität einhergeht. So stimmen insgesamt 64 Prozent der Befragten mit sehr hohem Wohnortstolz zu, dass sie eine (sehr) hohe Lebensqualität (Antwortoptionen 8-10) empfinden. Darüber hinaus trägt ein sehr hoher Wohnortstolz positiv dazu bei, dass die Befragten über die Besonderheiten des eigenen Wohnortes berichten möchten: Bei einem sehr hohen Wohnortstolz (Antwortoption stimme vollkommen zu) stimmen rund 81 Prozent der Befragten zu, dass sie anderen von den Besonderheiten des eigenen Wohnortes erzählen möchten. Bei Befragten mit einem sehr niedrigen Wohnortstolz (Ant‐ wortoption stimme überhaupt nicht zu) fällt der Wunsch, anderen von den Besonderheiten des eigenen Wohnortes zu berichten, deutlich geringer aus und liegt lediglich bei 7 Prozent. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse der differenzierten Betrachtung auch, dass der Besuch von Gästen dazu beitragen kann, den Wohnortstolz der ortsansässigen Bevölkerung zu stärken: 94 Prozent der Befragten, die vollkommen zustimmen, dass sich durch den Besuch von Gästen an die Besonderheiten des eigenen Wohnortes erinnert werden, stimmen auch vollkommen zu, sehr stolz auf den eigenen Wohnort zu sein. Die weiterhin untersuchte Zufriedenheit mit dem Mitspracherecht an und der Einfluss‐ nahme auf die touristische Entwicklung im Wohnort fallen vergleichsweise gering aus. Allerdings zeigen die Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsbefragung auch, dass der Wunsch nach einer aktiven Beteiligung an der Tourismusentwicklung im Wohnort für weniger als ein Viertel der Befragten (sehr) wichtig ist. Ein eher passiver Konsum über Informationen die touristische Entwicklung im Wohnort betreffend (31 %) sowie der Wunsch sichtbarer politischer Bemühungen zur Förderung des Tourismus (37 %) sind hingegen jeweils rund einem Drittel der Befragten (sehr) wichtig, während die Zufriedenheit auch hier auf einem vergleichsweise geringen Niveau liegt (29 % bzw. 26 %). Perspektivenwechsel in der Lebensqualitätsforschung 51 <?page no="52"?> 5 Fazit In einer sich dynamisch verändernden, volatilen und komplexen Welt (VUCA-Welt) ist das Bedürfnis und der Wunsch des Einzelnen, die eigene Lebenszufriedenheit und das Glücksempfinden zu steigern und persönliche Resilienz aufzubauen von großer Relevanz. Die von Abraham Maslow begründete Positive Psychologie ist zwar nicht neu, gewinnt aber zunehmend an Bedeutung und dementsprechend ist auch im wissen‐ schaftlichen Diskurs das Interesse am komplexen Konstrukt der Lebensqualität aus Perspektive unterschiedlicher Forschungsdisziplinen in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen (Veenhoven, 2021). Neben Freizeit, Konsum und Work-Life-Balance wird auch Urlaubsreisen ein hoher Stellenwert in der Lebensqualitätsdiskussion eingeräumt und es besteht in der Tourismusforschung Einigkeit darüber, dass Urlaubsreisen einen positiven Beitrag zum Wohlbefinden und Glück sowie zur Lebenszufriedenheit und -qualität leisten (McCabe & Johnson, 2013; Randle et al., 2019; Uysal et al, 2020). Tou‐ rismus findet jedoch nie in Isolation statt und bedarf eines kontinuierlichen Austausches zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen, die dementsprechend in unterschiedli‐ cher Weise vom Tourismus beeinflusst werden (Eisenstein & Schmücker, 2021; Seeler & Eisenstein, 2023). Neben der Ermittlung des Einflusses von Urlaubsreisen auf die wahrgenommene Lebensqualität der Urlaubsreisenden ist daher auch der mögliche Beitrag des Tourismus zur Steigerung oder auch Beeinträchtigung der Lebensqualität der ortsansässigen Bevölkerung zu untersuchen und es bedarf eines Perspektivenwechsels in der Lebensqualitätsforschung. In der Vergangenheit fehlte es an umfassenden Messin‐ strumenten, die in standardisierter und vergleichender Weise den Beitrag des Tourismus zur Lebensqualität der dauerhaft in der Destination lebenden Menschen untersuchen und dabei weitere Aspekte der allgemeinen Lebenssituation, der Wohnortverbundenheit und der Mitgestaltungsmöglichkeiten berücksichtigen. Diese Forschungslücke wurde mit der vorliegenden Studie adressiert. Die Ergebnisse der umfangreichen bevölkerungsrepräsentativen Hybridbefragung zeigen nicht nur auf, dass die Lebensqualität in der deutschen Bevölkerung trotz multipler Krisen (Pinkwart et al., 2022) hoch ist, sondern auch, dass die wahrgenommenen positiven Effekte des Tourismus, zu einer höheren Einschätzung der eigenen Lebensqualität der Befragten beitragen können. Darüber hinaus wird deutlich, dass der Tourismus nicht nur einen positiven Beitrag zur Erhöhung der Wohnortverbundenheit leistet, sondern dass sich diese Wohnortverbundenheit auch positiv auf die empfundene Lebensqualität auswirkt. Erste bivariate Analysen zeigen bereits statistisch signifikante Unterschiede zwischen den betrachteten Bundesländern auf, die nicht nur die Subjektivität und Komplexität des Lebensqualitätskonstruktes verdeutlichen, sondern auch die Kontextabhängigkeit her‐ vorheben. Während in diesem Beitrag der Fokus auf den uni- und bivariaten Ergebnissen der Befragung der ortsansässigen Bevölkerung lag, sind weiterführende multivariate Analysen im Rahmen des Forschungsprojektes geplant, um dieser Komplexität und Mehrdimensionalität gerecht zu werden. Unter anderem erfolgte 2024 eine vertiefende Betrachtung der Wohnortverbundenheit und der Rolle der Identifikation mit dem Wohnort. Weitere tiefergehende Analysen sind in Bearbeitung, so dass ein nachhaltiger und wertvoller Beitrag zur Reduzierung bestehender Forschungslücke geleistet sowie praktischen Implikationen abgeleitet werden können. 52 Sabrina Seeler, Manon Krüger, Anne Köchling, Bernd Eisenstein <?page no="53"?> Kontakt Sabrina Seeler, FH Westküste | seeler@fh-westkueste.de Manon Krüger, FH Westküste | m.krueger@fh-westkueste.de Anne Köchling, FH Westküste | koechling@fh-westkueste.de Bernd Eisenstein, FH Westküste | eisenstein@fh-westkueste.de Quellen Aleshinloye, K. D., Woosnam, K.M., Tasci, A. D. 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Beelitz, Lena Braitmayer Schlagwörter | Nachhaltigkeit, Mobilität, Attitude-Behaviour-Gap, Gastgeber, Infor‐ miertheit Abstract | Der Tourismus verursacht acht Prozent der globalen CO 2 -Emissionen (zu‐ künftig vors. 12 %), wobei mehr als die Hälfte davon auf den touristischen Verkehr als Leistungsbereich bei An- und Abreise sowie bei der Mobilität vor Ort entfallen. Dieser stellt somit einen großen „pain point“ im Tourismus dar. Für An- und Abreise, besonders im alpinen Raum, wird der Pkw mit 83 % noch klar bevorzugt. Die Gemeinde Bad Hinde‐ lang im bayerischen Allgäu hat mit der Einführung des On-Demand-Mobilitätssystems EMMI-MOBIL eine konkurrenzfähige Alternative zum Individualverkehr geschaffen, die seit Dezember 2021 mit großem Erfolg betrieben wird. Um diesen Erfolg weiter auszubauen, spielen die Gastgeber als Kommunikatoren im touristischen Informations- und Entscheidungsprozess eine wichtige Rolle. Für eine gute und kompetent wirkende Kommunikation bzw. Beratung der (potenziellen) Gäste wird die Informiertheit der Gastgeber über das alternative Mobilitätssystem als Voraussetzung angenommen. Die empirische Evaluation in Anlehnung an das Modell der Wissenstreppe von North zeigt anhand des Praxisfalls EMMI-MOBIL, dass ein Großteil der Gastgeber, konkret der Unterkunftsanbieter, die vorhandenen Informationen nicht eigeninitiativ weitergab, sondern diese ihnen unter Anwendung von Suggestion entlockt werden mussten. Die Ergebnisse der Studie lassen die neue Hypothese entstehen, dass nicht nur das Vorhan‐ densein von Informationen, sondern vielmehr die Bewusstseinsbildung der Gastgeber und die daraus resultierende persönliche Überzeugung und Motivation ausschlaggebend für eine kompetente Beratung sind. Der Übergang von Informationen in Wissen und schlussendlich eine Kompetenz ist also unverzichtbar. 1 Relevanz des Übergangs in der Mobilität in ländlichen/ alpinen Destinationen Diskutiert man Übergänge im Tourismus, kommt man an der Forderung nach einer Ausrichtung des Segments am Entwicklungscredo Nachhaltigkeit nicht vorbei: Da der <?page no="58"?> Tourismus ökologische, sozio-kulturelle und ökonomische Ressourcen belastet, gleichzeitig aber auch seine eigene Attraktivität aus diesen schöpft, muss es ureigenes Interesse der touristischen Akteure sein, nachhaltig zu agieren. Unzureichendes Engagement wird in diesem Kontext häufig mit der Komplexität des Wandels begründet (vgl. Hughes et al. 2015), so dass eine probate Strategie des Übergangs in der Identifikation und priorisierten Bearbeitung der spezifischen „pain points“ des Tourismus gesehen werden kann: Es gilt, jene Aktionsbereiche zu erkennen, die im Tourismus einen besonders negativen Nachhaltigkeitsimpact hervorrufen und diese mit Vorrang zu transformieren. Analysiert man in diesem Sinne den CO 2 -Fußabdruck des globalen Tourismus, der mindestens acht Prozent (zukünftig vors. 12 %) der Gesamtemissionen ausmacht (vgl. Lenzen et al. 2018), zeigt sich deutlich, dass der Verkehr als Leistungsbereich einen solchen „pain point“ darstellt: Nahezu die Hälfte des Ausstoßes von CO 2 im Tourismuskontext wird durch die An- und Abreise sowie die Mobilität in den Destinationen induziert (vgl. Kompetenzzentrum Tourismus des Bundes 2022, 11 f). Dabei spielt der Luftverkehr die gewichtigste Rolle; im landgebundenen Tourismus ist jedoch der motorisierte Individual‐ verkehr die größte Herausforderung (vgl. UBA1 2020, 125). Wird der Tourismus im alpinen Raum fokussiert, zeigen Erhebungen, dass für die Reise in die Destination mit 83 % der Pkw bevorzugt wird (vgl. Baumgartner 2021, 25 f). Gründe für diese Verkehrsmittelwahl sind u. a. die Bequemlichkeit der Reisenden, die Flexibilität und Individualität, die mit der Nutzung des Autos einhergeht, der Preis und die erhöhte Verlässlichkeit (Stichwort „Mobilitätsgarantie“) gegenüber dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) (vgl. UBA2 2020, 5 und 27 f). Speziell im ländlichen Raum wird zudem mit einem Mangel an Alternativen und den großen Distanzen zwischen den touristischen Points of Interest (POI) argumentiert: Bus und Bahn decken oftmals die „letzte Meile“ nicht ab (vgl. Eckel 2022). Es besteht mithin ein ausgeprägter Bedarf nach durchdachten Mobilitätskonzepten, um den Nachhaltigkeitsübergang zu gestalten. Jene sollen einerseits Emissionen einsparen, müssen andererseits aber auch hoch attraktiv sein, um als Alternative zum motorisierten Individualverkehr wahrgenommen und tatsächlich auch genutzt zu werden. 2 Fallstudie EMMI-MOBIL Anwendungsbeispiel des vorliegenden Beitrags ist das Rufbussystem EMMI-MOBIL (i. e. EMissionsfrei.Miteinander.Individuell), welches im Dezember 2021 in der Destination Bad Hindelang eingeführt wurde. Es handelt sich hierbei um ein On-Demand-Mobilitätssystem, das aus - zur Zeit - zwei elektrisch betriebenen Kleinbussen (→ Abbildung 1) besteht, die bedarfsorientiert fahren. Kunden buchen eine Fahrt per App, werden am Wunschort abgeholt und zur nächsten Bushaltestelle oder direkt zu ihrem Ziel gefahren. Die Busse fahren im gesamten Gemeindegebiet ohne festen Fahrplan und haben keine vorgegebene Route. Ihre Betriebszeiten sind saisonabhängig. 58 Julia E. Beelitz, Lena Braitmayer <?page no="59"?> Bad Hindelang Tourismus/ Wolfgang B. Kleiner Abbildung 1: Einer der Elektrokleinbusse des EMMI-Mobil Mobilitätskonzepts | Quelle: 🔗 https: / / www.mattlihues.bio/ naturerlebnis/ emmi-mobil/ EMMI-MOBIL soll keine Konkurrenz zum ÖPNV darstellen, sondern vielmehr als Zubringer zu den Bushaltestellen sowie als flexible Ergänzung der bereits bestehenden Verbindungen dienen. Deshalb werden in der App auch ÖPNV-Verbindungen angezeigt, falls diese zum gewünschten Zeitraum verfügbar und am gewünschten Ort zumutbar sind. Durch die Kombination der beiden Mobilitätsangebote wird das Problem der Schließung der „letzten Meile“ gelöst. Um Leer- oder Doppelfahrten zu vermeiden, werden Fahrtwünsche einzelner Fahrgäste mit ähnlichen Zielen gebündelt (= Ridepooling). Mit der Gästekarte ist die Fahrt für Übernachtungsgäste kostenlos. Auch Bürger der Gemeinde können mit der soge‐ nannten Bad Hindelang PLUS BÜRGER-Karte kostenlos fahren. Kunden ohne Gästekarte zahlen den normalen streckenbasierten ÖPNV-Tarif zuzüglich eines Zuschlags von 1,00 €. Finanziert wird das Mobilitätsangebot durch den Kurbeitrag sowie den Gemeindehaushalt. EMMI-MOBIL kann in der Gesamtsicht bereits als erfolgreiches Mobilitätskonzept er‐ fasst werden. Hierfür spricht einerseits die Auszeichnung mit Preisen, z. B. die Prämierung mit dem „ARGE ALP-Preis für innovative Klimaschutzprojekte“ durch die Regierungs‐ chefkonferenz der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer sowie der 3. Platz beim Deutschen Tourismuspreis 2022. Andererseits zeigt sich der Erfolg des Systems aber auch ganz praktisch, in den Nutzerzahlen (über 18.000 Fahrgäste im ersten Betriebsjahr) und den positiven Feedbacks der Fahrgäste (i. e. Bewertung mit 4,7 von 5 Punkten bei einer Responsequote von ca. 50 %). Von einer flächendeckenden, die Verkehrsleistung in Bad Hindelang dominierenden Nutzung kann jedoch noch nicht gesprochen werden: Gemäß des Tourismusberichts 2022 der Destination sind im ersten Betriebsjahr von EMMI-MOBIL 7.799 Fahrten mit insg. 18.183 Fahrgästen realisiert worden, was einer Gesamtzahl von 198.801 Gästen im Referenzjahr gegenübersteht (vgl. Bad Hindelang 2022, 6 und 41). Entsprechend ist es erklärtes Ziel der Verantwortlichen, die Inanspruchnahme von EMMI- MOBIL konsequent weiter zu steigern, damit der ÖPNV gestärkt, Lücken zwischen den Mobilitätswende in ländlichen Destinationen 59 <?page no="60"?> Ortsteilen geschlossen, das Parkplatzproblem gelöst und die Luftverschmutzung sowie Lärmbelästigung durch den Individualverkehr reduziert werden. 3 Informierte Gastgeber als Förderer nachhaltiger Mobilität Eindeutige Empfehlung bei der Einführung von Mobilitätsalternativen ist - wie bei anderen Maßnahmen zur Steigerung der Nachhaltigkeit durch Verhaltensänderung - eine allseitige Kommunikation: Es gilt, Mehrwerte neuer Konzepte zu erfassen, diese als Aufwertung des touristischen Erlebnisses zu formulieren und sie konsequent an die Stakeholder zu kommunizieren (vgl. dwif 2022). Anreize statt Beschränkungen sollen mithin dazu führen, dass das Angebot in Anspruch genommen bzw. gegenüber anderen Verkehrsoptionen bevorzugt wird (vgl. Balderjahn 2021, 236). In Bezug auf das Anwendungsbeispiel ist vor diesem Hintergrund als besonders relevant erfasst worden, den Touristen EMMI-MOBIL vorzustellen und Anreize zur Nutzung des Rufbussystems zu setzen. In einer Bachelor Thesis (vgl. Eckel 2022) wurden analog die vom Tourismusbüro Bad Hindelang eingesetzten Kommunikationsmaßnahmen analysiert. Eins der zentralen Ergebnisse war dabei, dass die Gastgeber von den Gästen als wichtigste Informationsquelle erfasst wurden: Haben Ansprechpersonen in Hotels, Gasthöfen, Feri‐ enwohnungen etc. auf EMMI-MOBIL hingewiesen, wurde das Mobilitätskonzept deutlich häufiger wahrgenommen bzw. genutzt. Dies unterstreicht die Rolle des Gastgebers als Schlüsselfigur in der Überwindung der Attitude-Behaviour-Gap: Wie auch in → Abbildung 2 dargestellt, kann er in diversen Kommunikationssituationen auf das Mobilitätsangebot hinweisen. Aufgrund dieser diversen „touch points“ entlang der Customer Journey, hat der Gastgeber an verschiedensten Stellen des touristischen Informations- und Entscheidungs‐ prozesses Optionen zur Einflussnahme auf den Gast, speziell wenn es ihm dabei gelingt, Vertrauen (sog. „traveler trust“) aufzubauen (vgl. Herrmann 2018, 79 und 151). vor der Reise während der Reise nach der Reise Präferenz Buchung Planung Kaufanstoß/ Inspiration Information/ Suche Reise Teilen/ Bewerten Informationen auf Websites Telefonische Beratungsgespräche Mail mit Buchungsbestätigung Pre- Arrival Mails Beratungen an der Rezeption Post- Stay- Mails Abbildung 2: „Touch points“ entlang der Customer Journey | Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Brysch und Stengel 2021 und Horster 2022 Voraussetzung dafür ist allerdings die Informiertheit der Gastgeber: Liegt ein hoher Grad an Wissen über ein Produkt oder eine Dienstleistung vor, so kann der Gastgeber glaubwürdig und kompetent beraten (vgl. Herrmann 2016, 94). Außerdem gibt ihm erst das Vorhandensein von Informationen die Möglichkeit, sich dafür zu entscheiden, sein Wissen über eine Mobilitätsalternative einzusetzen und diese als positiv zu bewerben. 60 Julia E. Beelitz, Lena Braitmayer <?page no="61"?> Per Definition wird Wissen als „die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur Lösung von Problemen einsetzen [bezeichnet]. Wissen basiert auf Daten und Informationen, ist im Gegensatz zu diesen aber immer an eine Person gebunden.“ (Gabler Wirtschaftslexikon o. J.) Wissen ist also höchst individuell und entsteht durch eine Person, die Informationen nicht nur aufnimmt, sondern vernetzt. Wie in → Abbildung 3 dargestellt, kann Wissen vor diesem Hintergrund als stufenartiges Modell, als Wissenstreppe, beschrieben werden (vgl. North et al. 2016, 6) Die Basis der Treppe bilden Daten, die aus geordneten Zeichen entstanden und die durch Personen wahrnehmbar sind. Diese Daten werden zu Informationen, wenn sie in einen Bezugskon‐ text gestellt werden und eine Bedeutung bekommen, um später Entscheidungen treffen und Handlungen durchführen zu können. Zu Wissen werden die Informationen schließlich durch deren Vernetzung im Kontext des menschlichen Bewusstseins. Dieser Prozess ist stets personenbezogen, kontextspezifisch und wird von individuellen Erlebnissen beeinflusst. Der Sinn der Information wurde begriffen. Davon ausgehend entsteht durch Motivation und tatsächliches Handeln aus dem Wissen eine Kompetenz, also das Können (vgl. North et al. 2016, 5). Daten Wissen Informationen Kompetenz Zeichen + Bedeutung + Vernetzung + Sinn begriffen + Motivation + Handeln = Können Informiertheit Abbildung 3: Das Modell der Wissenstreppe | Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an North et al. 2016, S.-6 Unter dem Begriff der „Informiertheit der Gastgeber“ wird vor diesem Hintergrund im weiteren Verlauf verstanden, dass die Gastgeber nicht nur Informationen über Mobili‐ tätsalternativen besitzen, sondern sich daraus individuelles Wissen angeeignet haben. Dies führt zu dem gewünschten Ziel, dass diese die Gäste kompetent beraten und die Mobilitätsalternativen bewerben können. Als Zielsetzung ergibt sich folglich die Analyse der Informiertheit der Gastgeber im Fall des gewählten Anwendungsbeispiels: Das hiermit vorgestellte Forschungsprojekt hatte zum Ziel, den Status quo der Informiertheit der Gastgeber zu identifizieren und etwaige Abweichungen aufzudecken, um Empfehlungen für die DMO ableiten zu können. 4 Empirische Evaluation der Informiertheit der Gastgeber in Bad Hindelang Für die Analyse wurde eine qualitative Forschungsmethode (i. e. Mystery Checks) mit quantitativen Elementen in der Auswertung gewählt. Im Folgenden wird die Forschungs‐ Mobilitätswende in ländlichen Destinationen 61 <?page no="62"?> methode näher betrachtet, indem neben der Operationalisierung einzelner Begriffe die Datenerhebung sowie die Datenaufbereitung erläutert werden. 4.1 Operationalisierung Für die Durchführung der Forschungsmethode ist eine Operationalisierung einzelner theo‐ retischer Begriffe notwendig, um die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten sowie die (quantitative) Auswertung und Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu vereinfachen. Einer der zu operationalisierenden Begriffe ist die Informiertheit der Gastgeber. Hierfür wird als Indikator zunächst das Detailwissen als empirisch messbares Merkmal gewählt. Je detaillierter die Mobilitätsalternative beschrieben und erklärt werden kann, desto wahrscheinlicher wurde der Sinn dahinter begriffen und zu Wissen und somit Informiertheit des Gastgebers über EMMI-MOBIL vernetzt. Um schließlich ein kompetentes und erfolgreiches Beratungsgespräch führen zu können, ist die Kompetenz des Beraters gefordert. Diese zeigt sich in der aktiven Bewerbung und der Verleitung des Kunden zur Nutzung, was wiederum die eigene Überzeugung von der Mobilitätsalternative voraussetzt. Die Überzeugung wird bei der aktiven Bewerbung des On-Demand-Systems anhand von beispielsweise Nutzungsberichten oder der Nennung von Vorteilen gemessen. Außerdem wird auch die Art der Unterkunft als Einflussfaktor geprüft. Hierbei ist eine nähere Eingrenzung des Begriffs Unterkunftsart nötig, da dieser unterschiedlich interpretiert werden kann. Als ein offensichtlicher Indikator bietet sich die Unterteilung in die in Bad Hindelang angebotenen Unterkunftskategorien. Da jedoch im Praxisfall eine Unterkunft verschiedenen Unterkunftskategorien anbieten kann, ist eine klare Abgrenzung dieser nicht möglich, wodurch dieser Indikator entfällt. Auch die Unterteilung nach Größe, festgelegt anhand der Bettenzahl, ist aufgrund nicht durchgängig vorhandener Daten nicht möglich. Als Indikator für die Unterkunftsart wurde deshalb die Eigenschaft Bad Hindelang PLUS-Partner gewählt. Diese Eigenschaft ist allen Unterkünften vorbehalten, die ihren Übernachtungsgästen die Bad Hindelang PLUS-Gästekarte anbieten. Durch diese Gästekarte erhalten die Gäste zahlreiche Vergünstigungen wie beispielsweise die kostenlose Nutzung des ÖPNV und EMMI-MOBIL. Außerdem wird der Standort der Unterkunft in den verschiedenen Ortsteilen ebenfalls als messbares Merkmal bezüglich der Art der Unterkunft festgelegt. 4.2 Datenerhebung Bei der Wahl der Datenerhebungsmethode bietet eine Beobachtung den wichtigen Vor‐ teil, das tatsächliche Verhalten des Menschen erfassen zu können (vgl. Brosius et al. 2016, 5). Deshalb eignet sich diese Forschungsmethode in Form einer Simulation eines Beratungsgesprächs zwischen Gast (Forschender) und Gastgeber (Forschungsgegenstand) für diesen Forschungszweck besonders gut. Da es im Falle dieser Forschungsarbeit nicht umsetzbar war, die Gastgeber während den Beratungsprozessen zu beobachten, wurde die Methode der teilnehmenden Beobachtung gewählt. Als konkrete Datenerhebungsmethode fiel die Wahl innerhalb der teilnehmenden Beobachtung auf das Silent-Shopper-Verfahren oder auch Mystery Shopper-Verfahren genannt (vgl. Bruhn 2020, 154). Der Beobachter 62 Julia E. Beelitz, Lena Braitmayer <?page no="63"?> nimmt dabei eine aktive Rolle ein. Es ist jedoch keine Transparenz gegenüber dem Beobachteten gegeben, es handelt sich um eine verdeckte Beobachtung. Dadurch verhält sich die beobachtete Person natürlicher (vgl. Kirchmair 2022, 19). Diese Vorgehensweise eignet sich zur Prüfung der Qualität einer Dienstleistung, wie einer Beratung durch einen Gastgeber, besonders gut. Es handelt sich um einen objektiven, kundenorientierten Ansatz aus dem Dienstleistungsmanagement, um die Qualität zwar aus Kundensicht, nicht aber aus deren subjektiver Wahrnehmung heraus zu bewerten. Dabei gibt sich die Testperson bzw. der Beobachter als Kunde, in diesem Falle als potenzieller Gast, aus und simuliert somit eine reale Situation der Dienstleistungserbringung. Dadurch können Mängel im Erbringungsprozess erkannt und schließlich behoben werden, was dem Forschungsziel des Projekts, wie dargelegt entspricht (vgl. Bruhn 2020, 154 f). Zur Erläuterung des Erhebungsdesigns bedarf es neben der Festlegung der Rolle des Beobachters auch der Festlegung des Beobachtungsortes, der Beobachtungszeiten und des Beobachtungsobjekts (vgl. Döring & Bortz 2016, 326). Durchgeführt wird diese Methode im natürlichen Umfeld der Beobachtungsobjekte während der Beratungstätigkeit. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist die Vermeidung von Verzerrungen durch den Eingriff in natürlich ablaufende Prozesse sowie die Nähe zur Realität (vgl. Mayring 2016, 54 f). In diesem Fall begegnen sich Beobachtungsobjekt und Forschender im telefonischen Beratungsgespräch, also an einem typischen direkten Kontaktpunkt von Gastgeber und Gast. Deshalb wird die Methode im weiteren Verlauf als Mystery Checks und nicht Mystery Shopping bezeichnet. Das Telefon wurde als Medium gewählt, um einer realen Situation, in der ein potenzieller Gast Informationen bei einer potenziellen Unterkunft anfragt, möglichst nahe zu kommen. Als Beobachtungszeit wurde die Woche der Herbstferien 2022, genauer der 02.-04. November 2022, gewählt. Beobachtungsobjekte sind einzelne Gastgeber aus der Grundgesamtheit aller Gastgeber, die eine Unterkunft im Gemeindegebiet Bad Hindelang anbieten und auf der Website von Bad Hindelang Tourismus gelistet sind (vgl. Kirchmair 2022, 18). Diese Grundgesamtheit beträgt im Praxisfall zum Zeitpunkt der Durchführung 325. Auf Basis dieser Grundgesamtheit wurde eine Teilerhebung mit Hilfe einer Stichprobe durchgeführt (vgl. Brosius et al 2016, 61). Es wurde eine heterogene Stichprobe erstellt, das heißt es wurden Gastgeber aus verschiedenen Unterkunftsarten und -standorten gewählt, jedoch nicht proportional zur Grundgesamtheit verteilt. Innerhalb der Stichprobe wurden die einzelnen Fälle durch ein geschichtetes Zufallsauswahlverfahren gewählt, um die Prädetermination in Grenzen zu halten (vgl. Brosius et al. 2016, 70). Es wurde gezielt darauf geachtet, am Ende eine ungefähr ausgeglichene Anzahl an Bad Hindelang PLUS- Partnern und Nicht-Partnern einbezogen zu haben, um im Anschluss konkrete Aussagen über Zusammenhänge treffen zu können, wie es vom Auftraggeber gewünscht wurde. Alle anderen Merkmale wurden nicht berücksichtigt und die Gastgeber zufällig gewählt. Die Untersuchung wurde bei einem Stichprobenumfang von 50 beendet, da sich zunehmend eine theoretische Sättigung erkennen ließ, das heißt, weitere Fälle hätten keine neuen Erkenntnisse für die Theoriebildung mehr versprochen (vgl. Döring & Bortz 2016, 302). Außerdem soll verhindert werden, dass durch zunehmende Vertrautheit mit dem Vorgehen Wahrnehmungsverzerrungen bei dem Forschenden entstehen, da Selbstverständlichkeiten zunehmend übersehen werden (vgl. Lamnek & Krell 2016, 524). Mobilitätswende in ländlichen Destinationen 63 <?page no="64"?> Als Vorgehensweise für diese Methode wird eine systematische, teilstrukturierte Beob‐ achtung gewählt. Das für diese Untersuchung gewählte Orientierungskonzept, wie in → Abbildung 4 dargestellt, wurde an die schlussendliche Auswertungsskala sowie die Meinung des Tourismusdirektors von Bad Hindelang angelehnt. Die Skala wird im nächsten Kapitel im Zuge der Datenaufbereitung erläutert. 1 Keine Information über EMMI-MOBIL oder sonstige Mobilitätsalternativen 2 Erwähnt langjährige Mobilitätsangebote mit ÖPNV ☐ Erklärt ÖPNV ☐ Gästekarte ☐ An/ Abreiseticket 3 Nennt EMMI-MOBIL als Alternative und grundlegende Details, auch zum ÖPNV ☐ Was ist EMMI-MOBIL? ☐ Wer kann es nutzen? ☐ Was kostet es? ☐ Erklärt, wie ohne Auto angereist werden kann 4 Kann zusätzliche Details erklären und hält es für eine gute Alternative/ hat den Sinn begriffen ☐ Wie kann ich EMMI-MOBIL nutzen? ☐ Kennt das Fahrgebiet ☐ Kann die Buchung erklären ☐ Nennt offensichtliche Vorteile wie Flexibilität/ Kostenersparnis/ keine Parkplatzsuche 5 Wirkt begeistert und bewirbt alternative Mobilitätsmöglichkeiten aktiv, baut Vertrauen auf ☐ Berichtet von Nutzungserfahrungen ☐ Nennt alle Vorteile wie Flexibilität/ Nachhaltigkeit/ Kostenersparnis/ Zeitersparnis/ Mobil ab der Haustüre ☐ Wirbt für Anreise mit dem ÖPNV Abbildung 4: Theoretisches Konzept zur Orientierung während der Mystery Checks | Quelle: Eigene Darstellung Gestartet wurde jeder Anruf mit einer kurzen Erläuterung des Sachverhalts für den Gastgeber. Die Forschende hat sich dabei als potenzieller Gast offenbart, der an der Mög‐ lichkeit einer autofreien Anreise interessiert ist. Der weitere Verlauf des Gesprächs wurde spontan, aber mithilfe des Orientierungskonzepts geführt. Ziel dieser Untersuchung war es, den Wissensstand der Gastgeber herauszufinden, weshalb sich dazu entschieden wurde, durch gewisse Fragen suggestiv einzuwirken. Diese Suggestion dient dazu, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken, allerdings ohne es dabei aktiv zu manipulieren oder zu verzerren. Durch suggestive Fragestellungen kann ein Gesprächspartner dazu bewegt werden, Aussagen zu treffen, die er sonst nicht getroffen hätte, da sie für ihn selbstverständlich oder für das Gespräch nicht relevant erscheinen. Allerdings muss diese Suggestion dann fairerweise bei allen Forschungsobjekten angewandt werden. Bei der Durchführung dieser Forschung wurde die Suggestion angewendet, um den Gastgebern die Chance zu geben, weitere Informationen zu offenbaren und somit auszuschließen, dass der Grund für das Zurückhalten der Informationen lediglich die Abwesenheit dieser ist. Typische Suggestionsfragen waren die Frage nach der Mobilität vor Ort sowie die 64 Julia E. Beelitz, Lena Braitmayer <?page no="65"?> Frage nach einem Taxiunternehmen vor Ort als Alternative zum ÖPNV. Gegen Ende des Gesprächs wurde teilweise auch konkret nach Erfahrungs- oder Nutzungsberichten gefragt. Die Suggestion wurde bei der Auswertung beachtet, wie im Ergebnisteil nachzulesen ist. 4.3 Datenaufbereitung Zunächst wurden die gewonnenen, verbalen Daten in zusammenfassenden Beobachtungs‐ protokollen festgehalten (vgl. Lamnek & Krell 2016, 367). Hierbei wurde die Teiltran‐ skription angewendet, bei der lediglich besonders relevante Passagen aus dem Gespräch verschriftlicht werden und alles andere vom Forschenden summarisch zusammengefasst wird. Es ist zu beachten, dass an dieser Stelle schon eine Datentransformation vollzogen wird, die zu Inhaltsselektion führen kann (vgl. Mayring 2016, 94). Das Rohmaterial aus den Protokollen muss zur Auswertung anschließend sortiert und vergleichbar gemacht werden. Hierfür wurde eine Skala erstellt, anhand derer die Beratungen durch die Gastgeber nach Einzelfallanalysen der Gedächtnisprotokolle in fünf Stufen eingeordnet wurden. Um diese Skala zu erstellen, wurde zunächst der Praxispartner Bad Hindelang Tourismus dazu befragt, welche Inhalte die Gastgeber als Minimalanforderung weitergeben sollten und welche maximale Beratung sie in einem Beratungsgespräch durch ihre Gastgeber wünschen. Dabei stellte sich heraus, dass die Mindestanforderung darin besteht, den ÖPNV zu erwähnen und gegebenenfalls für mehr Information an die Touristeninformation zu verweisen. Die Maximalanforderung ist das aktive, unaufgeforderte bewerben des On-Demand-Mobilitätssystems als Alternative, von der der Gastgeber selbst überzeugt und begeistert ist. Diese Überzeugung äußert sich in der Weiterempfehlung, Nutzungsberichten oder der Nennung aller Vorteile, die durch die Nutzung der Alternative entstehen. Die Vorteile sind Flexibilität, nachhaltige Mobilität und Klimaschutz, Zeitersparnis, Kostenersparnis und Mobilsein ab der Haustüre. Die genannten Anforderungen wurden mit der Wissenstreppe in Anlehnung an North et al. (→ Abbildung 3) kombiniert und daraus eine Skala erstellt, anhand derer die einzelnen Gastgeber eingeordnet wurden. Sie besteht aus fünf Stufen. Auf der untersten Stufe befinden sich jene Gastgeber, die keinerlei Informationen über EMMI-MOBIL oder sonstige Mobilitätsalternativen weitergegeben haben. Die Bedingung für Stufe zwei ist die Erwähnung der langjährigen ÖPNV-Angebote. Mit ihr wird die Mindestanforderung des Praxispartners erreicht. Stufe drei ist für jene Gastgeber vorgesehen, die offensichtlich Daten über EMMI-MOBIL wahrgenommen und zu Informationen verarbeitet haben, da sie grundlegende Details dazu kennen. Dies entspricht Stufe zwei auf der Wissenstreppe. Zu den grundlegenden Details zählen die Erwähnung, was EMMI-MOBIL ist, wer es nutzen kann und was es kostet. Außerdem sollte in dieser Stufe erklärt werden, wie ohne das Auto angereist werden kann, da dies eine Nutzung von EMMI-MOBIL vor Ort wahrscheinlicher macht. War der Gastgeber fähig die grundlegenden Informationen weiter zu vernetzen und tiefgehende Details zu EMMI-MOBIL sowie einzelne Vorteile wie Flexibilität, Kostenersparnis und die wegfallende Parkplatzsuche zu erklären, so wurde er in Stufe vier eingeordnet. Seine Auskunftsfähigkeit zeugt von Informiertheit bzw. Wissen, da der Sinn der Informationen über EMMI-MOBIL begriffen wurde. Dazu gehört das grundsätzliche Wissen über die Nutzung von EMMI-MOBIL, das Fahrgebiert sowie den Mobilitätswende in ländlichen Destinationen 65 <?page no="66"?> Buchungsvorgang. Stufe fünf erfordert schließlich die Kompetenz des Gastgebers, das Wissen umzusetzen und durch aktive Beratung und Bewerbung der Nutzung zu handeln. Das Einbringen von Nutzungserfahrungen, das Nennen aller wichtigen Vorteile und die Bewerbung der Anreise mit dem ÖPNV sind hier Kriterien. 5 Zentrale Erkenntnisse In → Abbildung 5 wird die Auswertung der Einzelfallanalyen der einzelnen Beobachtungs‐ protokolle visualisiert und in Form einer Skala dargestellt. Grundsätzlich lässt sich bei der Auswertung der Mystery Checks und der dabei erstellten Protokolle festhalten, dass mit 40 der insgesamt 50 befragten Gastgeber die überwiegende Mehrheit auf Stufe drei oder höher eingeordnet werden konnte. Dies spricht dafür, dass EMMI-MOBIL bereits von einem Großteil der Gastgeber wahrgenommen wurde und Informationen an Gäste weitergegeben werden konnten. Anhand der Skala lässt sich außerdem bestätigen, dass definitiv Unterschiede in der Informiertheit der Gastgeber über EMMI-MOBIL und das Mobilitätskonzept in Bad Hindelang vorliegen, da auf jeder der fünf Stufen Einordnungen vorgenommen wurden. Bezogen auf die unterschiedlichen Arten der Gastgeber und die Relation zu deren Infor‐ miertheit, ist eine differenzierte Betrachtung erforderlich. Zunächst lässt sich festhalten, dass keine Auffälligkeiten in der Relation zwischen dem Indikator Unterkunftskategorie und der Informiertheit der Gastgeber festgestellt werden konnten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine klare Abgrenzung der einzelnen Kategorien aufgrund der Mehrfacheinord‐ nung nicht möglich war. Wird die Unterkunftsart nach PLUS-Partnern und Nicht-Partnern unterteilt, so lässt sich eine Relation erkennen. Es ist eine deutliche Abnahme an Partnern in den unteren Stufen zu erkennen. PLUS-Partner sind demnach besser informiert. Die Lage der Unterkünfte als Indikator für unterschiedliche Unterkunftsarten hat wiederum keine Auswirkung auf die Informiertheit und die Beratungskompetenz der Gastgeber. Es ist nicht erkennbar, dass die Entfernung vom Hauptort Hindelang oder die Abgeschiedenheit Einfluss darauf haben. Auffällig ist, dass die Bezeichnung von EMMI-MOBIL noch nicht durchgehend klar in der Kommunikation ist. Es wurden Begriffe wie EMMI-Bus oder E-Bus benutzt. Am häufigsten wurde der Begriff EMMI-MOBIL gegenständlich in Form von ‚das EMMI- MOBIL‘ verwendet. Ein besonders wichtiger Punkt, der bei der Auswertung der Ergebnisse auffällt, ist die häufige Notwendigkeit der Suggestionsanwendung, besonders zur Einordnung ab Stufe drei. Unter Einbezug des Modells der Wissenstreppe in die Interpretation lässt dies darauf schließen, dass viele Gastgeber Schwierigkeiten haben, von der Stufe der Information auf die Stufe des Wissens und vor allem, auf die Stufe der Kompetenz, und somit des Handelns in Form von aktiver Bewerbung, zu gelangen. Hier besteht großer Handlungsbedarf von Seiten des Tourismusbüros Bad Hindelang. 66 Julia E. Beelitz, Lena Braitmayer <?page no="67"?> 123 567 4 8 10 9 11 12 13 Hotel Ferienwohnung 14 15 16 17 18 19 20 21 22 25 26 29 30 23 24 28 27 Pension 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Bauernhof Ferienhaus 43 44 Privatzimmer 45 46 47 48 49 50 Hotel 1 Hotel 2 Hotel 3 Hotel 4 Hotel 5 Hotel 6 Hotel 7 Hotel 8 Hotel 9 Hotel 10 Ferienhaus 1 Ferienhaus 2 Ferienhaus 3 Ferienhaus 4 Bauernhof 1 Bauernhof 2 Bauernhof 3 Bauernhof 4 Bauernhof 5 Bauernhof 6 Pension 1 Pension 2 Pension 3 Pension 4 Pension 5 Pension 6 Pension 7 Pension 8 Privatzimmer 1 Privatzimmer 2 Privatzimmer 3 Privatzimmer 4 FeWo 1 FeWo 7 FeWo 3 FeWo 4 FeWo 5 FeWo 6 FeWo 2 FeWo 8 FeWo 9 FeWo 10 FeWo 11 FeWo 12 FeWo 13 FeWo 14 FeWo 15 FeWo 16 FeWo 17 FeWo 18 1 Keine Information über EMMI-MOBIL oder sonstige Mobilitätsalternativen 5 Wirkt begeistert und bewirbt alternative Mobilitätsmöglichkeiten aktiv, baut Vertrauen auf 3 Nennt EMMI-MOBIL als Alternative und grundlegende Details, auch zum ÖPNV 2 Erwähnt langjährige Mobilitätsangebote mit ÖPNV 4 Kann zusätzliche Details erklären und hält es für eine gute Alternative/ hat den Sinn begriffen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 48 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 49 50 FeWo= Ferienwohnungen Abbildung 5: Ergebnisskala mit stufenweiser Einordnung der Gastgeber nach ihrer Informiertheit | Quelle: Eigene Darstellung Mobilitätswende in ländlichen Destinationen 67 <?page no="68"?> 6 Fazit Die empirische Evaluation der Informiertheit der Gastgeber hat ergeben, dass die Mehrheit der Gastgeber in Bad Hindelang über Informationen zu EMMI-MOBIL verfügen bzw. diese auf Nachfrage abrufen können. Die ausgiebigen Maßnahmen des Tourismusbüros Bad Hindelang zur Information der ansässigen Stakeholder haben mithin gefruchtet. Aus den Studienergebnissen entsteht jedoch der Eindruck, dass das Mobilitätskonzept noch nicht durchgängig als Mehrwert erfasst bzw. kommuniziert wird. Entsprechend ist fraglich, ob der jetzige Stand der Kommunikation dem Ziel der Nutzungssteigerung von EMMI-MOBIL hinreichend zuträglich ist. Es soll demnach abgeleitet werden, dass die Informiertheit der Gastgeber tatsächlich nur als Basis (! ) der aktiven Beratung von Gästen mit dem Ziel der Nutzungssteigerung erfasst werden kann: Nicht nur das Vorhandensein von Informationen, sondern viel mehr die Bewusstseinsbildung, die persönliche Überzeugung und somit die Motivation der Gastgeber ist ausschlaggebend, um eine kompetente Beratung zu ermöglichen. Es wird angenommen, dass der entscheidungsbeeinflussende „traveler trust“ nur unter diesen Bedingungen entsteht. Folglich müssen die einzelnen Gastgeber zum Handeln, also zur Informationsweitergabe, animiert werden und den tatsächlichen Sinn eines alternativen Mobilitätskonzeptes begreifen. In einem aktuell angelaufenen Folgeprojekt wird vor diesem Hintergrund ein „Begeisterungskonzept“ ausgearbeitet, das unter dem Motto „besser für meine Gäste, für mich und meine Heimat“ emotionalen Zuspruch bei den Gastgebern zu EMMI-MOBIL erzeugen soll. Kontakt Julia E. Beelitz, HS Kempten | julia.e.beelitz@hs-kempten.de Lena Braitmayer, HS Kempten | lena.braitmayer@gmx.de Quellen Bad Hindelang (2022): Unser Jahr - Tourismusbericht 2022. online: https: / / www.marktbadhindel ang.de/ fileadmin/ Gemeinde/ Dateien/ Unsere_Gemeinde/ Tourismusberichte/ Tourismusbericht-Ba d-Hindelang-2022.pdf Balderjahn, Ingo (2021): Nachhaltiges Management und Konsumentenverhalten. Stuttgart: UTB. Baumgartner, Christian (2021): Nachhaltige Tourismusentwicklung. Erfahrung aus ländlich-alpinen Regionen. 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Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld Keywords | environmental awareness, generations, means of transport, domestic holidays Abstract | This research delves into the willingness of diverse generations, predomi‐ nantly Generation Z, to modify their transportation choices for domestic travel in Germany based on sustainability factors. An online survey distributed to 307 respondents helped explore how generational identities influence the attitude and behavior towards environmental sustainability in travel, focusing on the comparison between private cars and trains. Although the study revealed that a vast majority of participants regard sustainability as crucial, it did not establish a definitive relationship between generational cohort and the general significance attributed to sustainability or inclination for train use due to sustainability. However, certain nuances were identified across generations in travel choices driven by considerations of flexibility and travel duration. Generation Z participants, for instance, demonstrated a stronger tendency to opt for train travel due to flexibility, and it was found that preferences for train travel considering the travel duration varied significantly across generations. These findings signal that strategic interventions are necessary to translate the prevalent environmental awareness into sustainable travel choices. They highlight the importance of policies aimed at reducing private car usage, promoting public transportation, and intensifying educational efforts on environmental issues, particularly targeting upcoming generations. Furthermore, they point towards the necessity of further research into generational behaviors, considering the evolving factors like the impact of events such as the inflation in fuel prices on their travel choices. 1 Introduction The core of this study is to investigate the potential link between an individual’s gen‐ erational affiliation and their willingness to transition their travel behaviors towards <?page no="72"?> environmentally-friendly alternatives. A particular focus is given to Generation Z to ascertain whether this group displays significantly differing tendencies towards personal travel behavior change as compared to other generations. A comprehensive literature review forms the foundation of this study, shedding light on the levels of environmental awareness within different generational cohorts and contextualizing these insights within the larger framework of existing research. This background forms the basis against which survey data is analyzed, fostering a more nuanced understanding of the results. To empirically explore these relationships, the study employs an online survey to gather data from respondents across various generational cohorts. The survey is designed to capture key variables such as age, environmental awareness, transport preference, and intention to use train travel. The guiding research question explores whether environmental awareness impacts transport choice for domestic holidays, specifically the potential shift from car to train travel, and whether an individual’s generational affiliation influences this relationship. Two hypotheses are put forth. The first proposes a relationship between environmental awareness and sustainable transport preference for domestic travel, suggesting that this relationship may be more marked in younger generations and less evident in older ones. The second hypothesizes that generational membership may sway the choice of transport for domestic travel, with younger generations potentially more inclined towards train travel due to increased environmental awareness. Statistical analyses, including Fisher’s exact test and two-sample t-tests, are used to test the hypotheses and uncover potential generational differences in travel behavior. 2 Literature review 2.1 Conceptualizing environmental awareness Ham, Horvat, and Mrcela (2015) identify environmental awareness as crucial for the emer‐ gence of green consumerism. They also note that individual differences in environmental awareness, owing to varied motivations and levels of understanding, influence the selection of sustainable products. While ‘environmental awareness’ appears to be self-explanatory, its definition is not universally standardized. In academic discourse, synonymous terms such as ‘environmental consciousness’, ‘environmental concern’, ‘environmental responsibility’, and ‘environ‐ mental behavior’ are often utilized interchangeably. Assuming environmental awareness embodies both a pro-environmental attitude and subsequent ecologically friendly behavior, it closely aligns with the concept of environmental responsibility (Ham, Horvat, & Mrcela, 2015). 2.2 Theories to understand environmental awareness This paper elaborates on various theories and models for measuring environmental awareness, principally focusing on the “Theory of Planned Behavior”. 72 Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld <?page no="73"?> Ajzen introduced the Theory of Planned Behavior in 1985 as a framework for predicting human action. It suggests three core factors, namely attitude towards behavior, subjective norms, and perceived behavioral control, which govern an individual’s intentions, subse‐ quently guiding their behavior (Ambak et al., 2016). With proven correlations between behavioral intentions and actual actions, these intentions serve as reliable predictors of future behavior (Niaura, 2013). However, the Theory of Planned Behavior also acknowledges that past actions can shape future behavior, suggesting that the determinants of intentions can forecast habits. Therefore, habitual actions, like daily commuting, may be less influenced by attitudes and intentions. Conversely, infrequent decisions, such as the mode of transport for a trip (the focus of this paper), could be significantly affected by these factors. Individuals are more likely to choose a transportation mode if they hold a positive attitude towards it, feel social pressure to use it, and perceive their ability to use it as sufficient (Fu & Juan, 2016). Additionally, the Three-component Attitude Model, established by Malones and Ward in 1973, is a popular methodology to measure attitudes towards environmental awareness. The model consists of three elements: the cognitive component (the individual’s opinion on a topic), the affective component (emotional responses to the topic), and the conative or behavioral component (intention to act in a specific way) (Ham, Horvat, & Mrcela, 2015). Actions derived from these intentions can be measured using a pro-environmental behavior scale. The Customer Satisfaction Theory proposes that customers assess their experiences with a product or service based on their prior expectations and potential alternatives. This assessment process relates to any perceived discrepancies between the actual and expected performance of a product or service. The theory affirms that high service quality leads to satisfied customers, influencing their future transport choices and engendering loyalty towards the service provider (Yang & Zhu, 2006; Fu & Juan, 2017). Finally, the Travel Behavior Theory offers a crucial framework for discerning consumer transportation preferences. It suggests individuals seek to maximize utility and minimize disutility related to travel time and cost when partaking in out-of-home activities (Buehler, 2010). Additionally, the author argues that transport decisions are determined by the comparative attractiveness of different modes, taking into account factors such as cost, time, travel distance and comfort. 2.3 Connecting Environmental Awareness and Climate Change Defined by the United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC, 1992), climate change signifies a shift in average weather patterns over an extended period due to human-induced alterations to the global atmosphere. Rapid global warming, a key aspect of climate change, has been predominantly attributed to human activities, especially since the mid-20th century (Line, 2008; NASA’s Global Climate Change, n.d.). Production and combustion of fossil fuels release additional greenhouse gases, which are primary contributors to global warming and accelerate climate change (Line, 2008). Therefore, understanding climate change and its relationship to human activities is Transitions along generations and environmental awareness 73 <?page no="74"?> essential for developing a pro-environmental attitude and influencing environmentally friendly behavior. Research indicates high recognition of human-induced climate change among Germans, with approximately 78 % of the respondents attributing climate change to human activities (→ figure 1). Therefore, highlighting the impact of transportation choices on the environ‐ ment and promoting sustainable alternatives could potentially leverage existing awareness to encourage more sustainable behaviors. 37% 29% 12% 4% 2% 2% Climate change is mainly caused by human activity Climate change is partly a natural process and partly human caused Climate change is entirely human caused Climate change is mostly a natural process Climate change does not exist Climate change is entirely a natural process Share of respondents Figure 1: Opinions about the causes of climate change | Source: Ipsos, 2018 2.4 The Interplay of environmental awareness and transport choices The concept of public transport, unique and widely utilized, parallels to the character of any other goods or services (Fu & Juan, 2017). This viewpoint frames the traveler as a consumer, selecting from an array of transportation options that span across public (bus, train) and private vehicles to reach their desired destination. Among these options, rail transport stands as an environmentally sustainable preference. It is typically associated with lesser average greenhouse gas emissions when compared to other means such as cars and buses (Line, 2008). An upsurge in public transport use, particularly trains, can mitigate traffic congestion. Consequently, strategies encouraging a shift from private vehicles to public transport have been mirrored (Fu & Juan, 2017) in the anticipated increase in German train users to 23.5 million by 2025 (Statista, 2020). Contrastingly, the use of private cars instigates a multitude of environmental issues. These vehicles significantly contribute to climate change due to greenhouse gas emissions, urban air pollution through fine particulate matter, and noise pollution. These adverse effects are exacerbated during peak commuting hours or during highway congestion (Hauslbauer et al., 2022). In Germany alone, road transportation is responsible for 21 % of all carbon dioxide emissions (Umweltbundesamt, 2023). Yet, this dark reality does not deter the annual increase in registered automobiles (KBA, 2023). Individuals’ transportation choices are considerably influenced by economic considera‐ tions. With rising income levels, the pursuit of mobility independence via car ownership becomes increasingly feasible. However, the resultant traffic congestion, stress on infra‐ 74 Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld <?page no="75"?> structure, and intensified parking space competition underline the problematic that this independence has led to a society heavily reliant on cars (Line, 2008). Moreover, as incomes grow, so does the “opportunity cost per minute of travel time” (Buehler, 2010), signifying a rise in travel-associated costs even though travel times may decrease. This scenario is particularly noticeable in short-distance travel, where choices often lay between a car and a bike. However, in long-distance travel, high-speed trains like Germany’s Intercity-Express (ICE) may prove more efficient than cars. Interrelationship of attitude and travel choice Factors affecting the intent to use a particular type of transport range from financial resources, travel time, comfort, flexibility, to environmental consciousness and climate change concerns. Despite high awareness of climate change in Germany, there seems to be a hesitation to align transportation behavior with environmental protection (Line, 2008). According to → figure 2, the survey revealed that 59 % of respondents considered a private car important, yet only 25 % acknowledged their environmental harm. A mere 25 % were willing to try more environmentally-friendly means of transport (Statista, 2023). 59% 34% 33% 25% 25% 24% 24% 24% 19% 16% 5% Owning a car is important to me I am a car enthusiast The public transportation system in my area is good Driving cars is bad for the environment I try to opt for more environmentally-friendly means of transportation Fuel prices are making me opt for other forms of transportation (e.g., bike) The electric infrastructure prevents me from getting an electric car There are not enough parking spaces where I live I can imagine using a self-driving taxi I spend too much time commuting None of the above Share of respondents Figure 2: Attitudes towards mobility in Germany 2023 | Source: Statista Global Consumer Survey (GSC), cited in Statista, 2023 Another study conducted in 2020 (→ figure 3) revealed that half of the German respondents consider sustainability and environmental friendliness in their everyday decisions (IUBH Internationale Hochschule, 2020). However, their sustainable purchasing behavior doesn’t Transitions along generations and environmental awareness 75 <?page no="76"?> match this claimed environmental consciousness. This discrepancy could be another manifestation of the attitude-behavior gap. In travel context, the study found that six in ten individuals are consciously trying to minimize their car usage, favoring bikes, especially for short distances. Public transport options, however, receive slightly less consideration. 38,1% 35% 32,7% 29,6% 27,6% 26,1% 25% 22,8% 19,1% 18,8% 17,4% 37,4% 29,9% 31,5% 43,2% 42,2% 32,3% 39,9% 31,4% 38,7% 38,1% 37,9% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% Climate neutrality is the biggest challenge for humanity in the coming years I try to avoid flying I largely abstain from using a car and instead bike or walk I mainly buy regional groceries I pay attention to sustainable grocery shopping (e.g. sustainable fishing) When I travel/ have to travel, I mainly do so on public transport I am ready to spend more money on sustainable and/ or climate-friendly products For the sake of the environment I reduce meat consumption or completely abstain from… When buying clothing, I make sure it has been produced fairly and ecofriendly I do not buy foods which demand a lot of water for cultivation or need to be imported… When buying other products (e.g. furniture etc.) I make sure that these were… Completely agree Agree Share of respondents Figure 3: share of respondents (completely) agreeing with statements about personal behavior in terms of sustainability in Germany | Source: IUBH Internationale Hochschule, 2020 This data implies that while Germans are quite conscious of climate change, this con‐ sciousness does not consistently reflect in their transportation choices. Understanding the motivations behind these transport choices is critical for predicting shifts in travel behavior and furthering environmental awareness (Fu & Juan, 2017). 2.5 Contextualizing generational backgrounds Generations signify groups of individuals born within the same chronological bracket, sharing not only age proximity but also similar interests and engagement in specific activities. The definition of a generation typically encompasses the period in which children 76 Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld <?page no="77"?> mature into adults and subsequently bear their own children, with an approximate duration of 30 years (Oxford Learner’s Dictionary, n.d.). This section elucidates the behaviors and attitudes of the Baby Boomers, Generation X, Generation Y (also known as Millennials), and Generation Z. Attitudes, as delineated by Line (2008), play a pivotal role in decoding and explaining our thoughts, emotions, and behaviors. These are inherently subjective constructs due to their dependence on an individual’s personality, thus presenting challenges in their study. Differing from the three-component Attitude model, which includes cognitive, affective and conactive components, Line (2008) describes attitudes as exhibiting two dimensions: cognitive and affective. The cognitive dimension refers to neutral facts and beliefs, while the affective dimension corresponds to emotions engendered by the object of the attitude (Line, 2008). The generation known as Baby Boomers, born between 1946 and 1964 (Pricewaterhou‐ seCoopers GmbH 2024) was christened thus due to extraordinarily high birth rates during the 1950s and 1960s. Notable traits of this generation include career-orientation, high competitiveness, resilience, and adaptability. Regarding travel behavior, Baby Boomers seek qualitative experiences, especially concerning accommodation, service, and culinary experiences. They prefer domestic travel and display interest in national parks and wildlife viewing (Wagener, 2020, pp. 211-213). Born between 1966 and 1980, members of Generation X place a high value on stability, quality of life, work-life balance, and equality (Wagener, 2020, p.-82). Noteworthy traits of this generation include pessimism, hedonism, insecurity, and independence. As per travel preferences, Generation X exhibits a penchant for domestic travel with a preference for good price-performance ratio and high-quality services (Wagener, 2020, pp. 207-210). Members of Generation Y, born between 1980 and 1996, prioritize fulfilling jobs and partnerships, flexible working hours, and further training opportunities (Wagener, 2020, p. 82). Millennials are considered educated, optimistic, social, hedonistic, independent, and tech-savvy. When it comes to travel, they place importance on local, authentic experiences, prefer short but frequent trips, and value high-quality services and transparency (Wagener, 2020, pp. 214-219). Generation Z members, born between 1996 and 2010 (or 2012 depending on the definition), grew up in affluent, politically stable societies with significant technological influence (European Travel Commission, 2020, p. 11). This generation, often referred to as “digital natives”, has been shaped by high academic pressures, financial crises, terrorism, environmental concerns, and pandemics. Traits characteristic of Generation Z include pragmatism, realism, digital proficiency, impatience, and family orientation (Blum, 2021, pp. 67-72). When traveling, they seek unique, tailored, and flexible experiences (European Travel Commission, 2020). 3 Research approach This study investigates whether an individual’s generational affiliation influences their willingness to modify their choice of transport for domestic travel. It is aimed to contex‐ tualize our survey data with previous research on transportation choice among different Transitions along generations and environmental awareness 77 <?page no="78"?> generations for domestic travel. The primary research question is, “Do younger generations prioritize environmental concerns over older generations when selecting their mode of transportation for domestic travel? ” To supplement the secondary literature, this paper includes additional quantitative research. Using this theoretical background and methods, a survey was developed to delve deeper into the relationships between age, generation, attitudes, and behaviors concerning environmental sustainability in travel. The survey focuses exclusively on domestic travel in Germany, comparing two major transport modes: private cars and trains. Trains are generally regarded as environmentally friendly, while private cars are viewed as less environmentally sustainable. The online survey was first launched on March 3, 2022, through a hyperlink shared across various online platforms. The survey closed on April 8, 2022. All data collected was anonymous, strictly confidential, and untraceable to any participant. The survey, which took approximately 7 minutes to complete, targeted individuals living in Germany and of legal age. Participants ranged in age from 18 to 78, spanning several generations, including Generation Z, Generation Y (Millennials), Generation X, and Baby Boomers. This paper sought to draw comparisons between different generations. Notably, the majority of Generation Z are the offspring of Generation X (Trakšelys & Martišauskienė, 2014, p. 130), leading to potential conflicts, especially during Generation Z’s teenage years. We chose to compare Generation X and Generation Z to evaluate whether conflicts persist, even as “Big Zers”, the older subset of Generation Z, reach adulthood. Conflicts typically center around “habits and lifestyle choices” (Clarke et al., 1999, pp. 265-266), encompassing topics like environmental awareness and transportation preferences. 3.1 Research Methods The authors employed several tests to examine the survey responses in relation to the study’s hypothesis. For clarity in understanding and interpreting the data, an alpha value of 0.05 is consistently used across all tests. This paper utilized Fisher’s exact test for all generations, and a two-sample t-test for Generations Z and X to highlight the differences between these distinct generational groups. Both the Fisher test and t-test are hypothesis tests, where H 0 is the null hypothesis, and H 1 is the alternative hypothesis. Alpha, with a value of 0.05, is the level of significance. Fisher’s exact test, which analyzes independence, does not require a specific sample size, allowing it to yield reliable results even with few observations. The two-sample t-test, however, has prerequisites, including a sufficient sample size (n bigger than 30), independent samples, and random sample data used to check if a single group deviates from a known value. The test can only be used for two groups. Unfortunately, as explained in chapter 6 limitations, the oldest participant group, Baby Boomers, was too small for comparison using a twosample t-test. 78 Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld <?page no="79"?> 3.2 Survey Design The survey is structured into three main sections, each featuring several sub-sections, to gather comprehensive data. The first section targets the demographic information of the respondents, soliciting details about their age, gender, current occupation, and annual vacation budget. The second section gauges the individual’s attitude towards the environment, intending to measure their level of environmental awareness. This section focuses on cognitive components by probing the respondent’s views on issues such as climate change, the limitations of natural resources, and technological advancements. A series of statements were provided, and respondents were asked to express their level of agreement or disagreement on a four-point Likert scale. A four-point scale was chosen to eliminate neutral responses, forcing respondents to lean towards an opinion. Compared to a sixpoint Likert scale, this scale is easier to answer and therefore more suitable for our survey (Nemoto & Beglar, 2014). This part aims to provide a general insight into the individual’s stance on sustainability and nature-related issues. The third section delves directly into the research question, seeking further insight into the respondent’s attitudes towards eco-friendly travel. However, there’s a risk of respondents providing misleading answers to appear more socially acceptable, which could lead to skewed results (Bühner, 2011). The final section addresses the respondent’s current and past travel behaviors, and their willingness to adjust their future transportation choices for environmental reasons. In this section, a scenario developed by the authors to assess sustainable behaviour is presented. 4 Findings 4.1 Demographic Analysis Initially, an analysis of the demographic characteristics of the questionnaire respondents was conducted. Participants provided information on their age, gender, occupation, and annual vacation budget. The distribution shows that gender was not evenly represented: 38.1% were male participants, 61.6% were female, and one individual identified as diverse. The age distribution was uneven, with the oldest respondent being 78 years old and the youngest, surprisingly, 2 years old. This latter value (and subject) was removed from the dataset, as it likely constitutes an error, and only participants older than 18 years are considered. The mean age was 31.71 years. Upon completion of the questionnaire and the data collection process, the age data was grouped into four different generational categories: Baby Boomers, Generation X, Generation Y, and Generation Z. This grouping was performed to address the study’s hypothesis. The ensuing barplot (Figure 14: Generation & Gender Relation Barplot), depicts the distribution of the number of participants for each generational group, as well as the gender within each generational group. The generational groups were numerically coded from one to four for efficient data processing in R. Transitions along generations and environmental awareness 79 <?page no="80"?> The Generation Z (youngest group) had the highest representation with 49.7%, followed by Generation Y at 28.9%, Generation X at 18.8%, and Baby Boomers at 2.6%. 4.2 Environmental Awareness The study sought to understand participants’ opinions on sustainability through the question, “What does sustainability mean to you? ” The responses indicated that 90 % of the participants considered sustainability an essential factor, while 9.7% were indifferent, and one respondent expressed that it was unimportant. Moreover, when addressing environmental conservation, half of the respondents ac‐ knowledged its importance during travel. Participants were then asked to rate the impor‐ tance of environmental protection during travel on a scale of 1 (very important) to 4 (not important at all). Figure 4: Plot of Generation & Importance of Environmental Protection during Travels | Source: own figure Results revealed that Generation X attributed the most importance to environmental conservation, followed by Generation Z and Y Baby Boomers also showed interest, but to a lesser extent (→ figure 4). Overall, when considering all generations together, 49.8% considered environmental protection important, while 6.5% did not consider the environment at all when traveling. 80 Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld <?page no="81"?> When asked about their personal sustainability behaviors during travel, 62.5% believed they could do more to be sustainable, 22.5% were undecided, and 15 % felt their current behavior was adequate. Additionally, the respondents were asked for their general thoughts on human behavior. They were given four answer options, ranging from 1 (totally agree) to 4 (totally disagree). The average score (1.34) indicated that participants strongly agreed that humanity is overusing the planet’s resources. A correlation plot in R was used to examine the relationship between age and the importance of environmental protection. The correlation coefficient of -0.06 suggested no significant relationship between these variables. Participants were asked, “What do you trust when making sustainable travel decisions? ” They could select multiple responses. About 60.3% relied on transparency, 39 % valued certificates and seals, 38.7% trusted customer recommendations, and 18.2% did not consider sustainability. 26-% relied on other information sources. A Fisher’s Exact Test was conducted to examine the relationship between generational categories and sustainability importance. However, the p-value of 0.24 did not provide strong evidence to reject the null hypothesis (H 0 : no dependence between generation and relevance of sustainability). Figure 5: Plot of Generation & Motivation to Change Travel Behavior | Source: own figure The → figure 5 illustrates the motivation across generations to adopt more sustainable travel behaviors. While the majority of participants (62.5%) were willing to change, Generation Y was the most responsive, and Baby Boomers were least responsive. Transitions along generations and environmental awareness 81 <?page no="82"?> When exploring the willingness to pay extra for more sustainable travel options, the majority (70.4%) across all generations were open to this idea, with 29.6% opposing it. To further investigate this, another Fisher’s Exact Test was conducted. However, the pvalue of 0.96 did not provide strong evidence to reject the null hypothesis (H 0 : there is no dependence between generation and willingness to pay for more sustainable travels). Participants were then asked about the surcharge they would be willing to pay for more sustainable travel, with options ranging from up to 10 % to more than 30 %. Only a few participants (0.9%) were willing to pay a high surcharge of more than 30 %, with 4.7% agreeing to a surcharge of 21-30%. However, the majority (49.7%) were willing to pay a surcharge of 11-20%, and 44.7% would pay up to 10 % more for sustainable and environmentally friendly travels. Finally, participants were asked whether certain factors would motivate them to plan more sustainable travels. The majority (67 %) would be more inclined if time and organi‐ zational effort remained the same or were reduced. Around 65.7% would choose more sustainable alternatives if available, and 30 % viewed knowledge as a factor influencing their decision to travel more sustainably. 4.3 Understanding Transportation Preferences In line with the study’s hypothesis, it is important to gain insights on the preferred modes of transport used by travellers and, the following question was posed to the respondents: “What means of transportation did you typically use (prior to the Covid-19 pandemic)? ” Participants were allowed to select multiple options, enabling them to represent com‐ binations of different transportation modes. The findings revealed that 70 % of the respondents used a car. The survey also queried participants on train travel in Germany. The results showed that 65.15% responded affirmatively. Air travel was also considered, with 26 % of the respondents stating that they would travel by airplane within Germany. Public transportation, like buses, was used by 30.6% of participants. In conclusion, the survey highlighted that for their last vacation within Germany, a majority (70 %) of participants still used a car for transportation. However, 65 % of respondents also reported the train as one of their most frequently used means of transport, while 30-% indicated the bus as their choice of transportation. To better understand the transportation preferences of the participants, they were presented with a hypothetical situation which they were asked to imagine planning a oneweek holiday, traveling from Stralsund to Stuttgart (the shortest route being 905 kilometers) and asked to choose between taking a train (which would take approximately 8.5 hours with two transfers) or a car (which would take about 9.5 hours). The task was designed to evaluate how they would prioritize their preferences when it comes to travel for domestic holidays. Despite the two transfers required on the train journey, a considerable majority of the respondents (75.2%) indicated that they would choose the train, while 24.7% expressed their preference for traveling by car on this route. To delve deeper into their transportation preferences, respondents were asked why they chose their respective modes of transport (train or car). 82 Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld <?page no="83"?> For those who opted for the train, the responses revealed three primary reasons: comfort (71.9%), sustainability (63.7%), and total travel time (52.8%). A smaller fraction, 15.6%, preferred the train due to its reliability, while 1.7% of the participants mentioned they travel by train because they do not possess a driver’s license. In an effort to discern if generational variances exist concerning perceptions of transport sustainability, a one-way analysis of variance (ANOVA) was executed for each transpor‐ tation mode (train and car). The generation group (Generation X and Generation Z) constituted the independent variable, while the dependent variable was “sustainability reasons”. The following hypothesis was investigated: • H 0 : On average, generation X and generation Z use the train equally often due to sustainability reasons. The t-test produced a p-valuea = 0.30, which notably surpasses the alpha threshold of 0.05, suggesting that H 0 cannot be rejected. Consequently, we cannot assert that a significant difference exists. Furthermore, flexibility was investigated when using the train. The following hypothesis is established: • H 0 : On average, both Generation X and Generation Z use the train with equally often for flexibility reasons. The t-test showed a p-value = 0.001, which clearly falls below the alpha value of 0.05. This suggests that H 0 can be rejected, and a correlation between the generations (generation X and generation Z) in terms of train usage for flexibility reasons is apparent. Additionally, the variable travel duration when using train was also investigated in a ttest with the following hypotheses: • H 0 : On average, both generation X and generation Z use the train equally often due to travel duration. The test produced a p-value of 0.0006, which is smaller than the alpha value of 0.05, leading to the rejection of H 0 . This suggests a correlation between generational preferences for train travel based on travel duration. For those 76 participants who opted for the car, flexibility was with 96.05% the decisive point for this decision. Comfortability was the second most named reason (64.47%), followed by reliability of this mode of transport with 46 %. 0 % of participants would choose the car for sustainability reasons, but they would choose it because of the travel duration (15.9%). Again, for a meaningful and correct comparison of the generations and their travel intentions, the t-test is used to relate why people of the generation X or Z would choose the car. The following hypothesis is investigated regarding the variable flexibility: • H 0 : On average, both generation X and generation Z use the car equally often for flexibility reasons. The t-test showed a p-value is 0.96, which clearly exceeded alpha of 0.05. This means that H 0 cannot be rejected. Transitions along generations and environmental awareness 83 <?page no="84"?> Additionally, the variable travel duration when car usage was investigated. • H 0 : On average, both generation X and generation Z use the car equally often for travel duration reasons. The p-value is 0.78 and therefore exceeds alpha, meaning that a correlation between generations and their preferences of traveling by car due to travel duration can be considered. When conducting the t-test to compare for the variable of travel duration, the two-sample t-test shows clear results regarding the difference between train and car as transportation means. 5 Discussion The evolving expectations of the younger generations for increased freedom and autonomy, which involves exploring the globe and immersing in diverse cultures, confront the expanding environmental awareness, the climate crisis, and movements like Fridays for Future. A global study revealed that “climate change is the most concerning topic for 1 in 3 Gen Zers today” (European Travel Commission, 2020, p. 19). The survey findings corroborate this premise, with approximately 90 % of the respondents identifying sustainability as a vital consideration overall. Compared to 2014, when only a handful of youth designated sustainability and environ‐ mental conservation as vital life factors (Umweltbundesamt, 2016, p. 34), the trend has seen a dramatic shift in recent years. As per current resources, “Gen Zers are growing up with acute awareness of and their sense of responsibility towards global community and environment” (European Travel Commission, 2020, p. 8), thereby raising the pertinent question of how to reconcile consumption with environmental preservation. Survey results indicate that individuals across all generations incorporate environmental protection in their travel choices. Approximately 50 % of respondents perceive it as an important factor to be considered in their travel decisions. Furthermore, all participants preferring the car for the Stralsund-Stuttgart route were aware of its non-sustainable nature, with none citing “sustainability” as a motivating factor. Instead, factors like flexibility and comfort were the primary determinants. However, for this specific route, the assumption that younger generations demonstrate stronger environmental awareness in domestic travel choices than older generations, could not be substantiated with the current data, as evidenced in the previous tests. Based on Wagener’s study (2020), travel expenditure is age-dependent. Consequently, there is a notably high readiness to allocate funds for travel in the 40-50 age group, which for this paper, corresponds to Generation X. Primary research for this paper reveals that generational association impacts the willingness to pay a travel surcharge. This finding, although anticipated, is reasonable given the diverse financial and social statuses among the different generations. Older generations generally have more financial stability, while younger ones often remain in education or are at the outset of their careers, leading to financial instability. According to the European Travel Commission (2020), Generation Z, in particular, seeks validation before spending money with a specific brand. 84 Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld <?page no="85"?> When survey results related to transport choice are analyzed in light of Customer Satisfaction Theory, it becomes apparent that for sustainability-oriented companies to gain traveler trust, transparent disclosure of their actions and values is increasingly crucial. As outlined by this theory, transport choice heavily relies on its appeal and perceived advantages relative to other considerations. The survey findings affirm this, with reliability and flexibility emerging as primary factors. In terms of theoretical implications, this generates a concrete call to action for railways to enhance service quality to ensure customer satisfaction. Overall, it appears that a significant fraction of people in Germany is inclined towards sustainable travel, with more than half (65.15%) reporting that they used trains for national travel pre-pandemic. Since participants had the option to select multiple transport modes in the survey, the result encapsulates various combinations of transport usage. For instance, respondents who predominantly utilized public transport locally might still have used cars for reaching their destination, leading to multiple responses in the survey. A comparison of the figures reveals a slightly higher number of respondents (70 %) who reported traveling by car pre-pandemic as compared to by train. Additionally, familial phases may influence car preference. However, given the delayed onset of family life among the younger generations, a shift is expected in the future. Moreover, cars, once a status symbol for the baby boomers and Generation X, they are not viewed the same way by Millennials and Generation Z (Wagener, 2020, pp. 294-296). As a result, it can be projected that the inclination to use trains for intra-Germany travel will further increase among future generations. However, the current state of railways in Germany is not prepared to handle a large influx of travelers, as indicated by the introduction of the Deutschland-Ticket, introduced to alleviate inflated consumer prices. The ticket’s introduction also validated that German citizens are willing to avail of an offer if it is financially viable (Traufetter, 2022). Considering the structural and societal disparities between generations X and Z outlined in various sources, the potential for generational conflict exists. Survey results did not show a discernible difference in train usage among these generations with respect to sustainability. Consequently, a blanket statement cannot be made regarding whether younger generations, specifically Generation Z compared to Generation X, would favor train travel for sustainability reasons. However, there was a correlation between flexibility and less frequent train usage. Upon closer examination, flexibility was a common reason cited across generations for preferring cars. Most responses in this regard were from Generation X, explaining the test results. Conversely, the test findings show that Generation Z is more likely to use cars for timerelated reasons than older generations. This could be attributed to the fast-paced life in which younger people are immersed since birth. As Generation Z in this paper only includes those aged 18 and above, many already possess a driver’s license. Despite trains being faster in the given survey example, about 15 % of all respondents claimed that they would opt for the car due to time constraints. This contradictory statement suggests either a general disposition against the train or a lack of confidence in its reliability, given the route included two changes. The three-component model provides a plausible explanation for this phenomenon. These respondents appear to harbor a fixed opinion about Transitions along generations and environmental awareness 85 <?page no="86"?> trains and adhere to it irrespective of external factors or circumstances during decisionmaking or action. Consolidated emotions and feelings, influenced by personal experiences or narratives from influential individuals in their environment, may also contribute. The fact that awareness of sustainable consumption practices does not significantly influence motivation for sustainable travel among the majority of respondents implies that while knowledge and awareness of sustainable travel options are prevalent, alternatives and means for implementation are lacking. The focus should shift from repetitively providing the same action recommendations to devising and presenting more effective strategies for implementing a sustainable lifestyle, making them accessible to tourists in the market. Given the willingness across all generations to pay a slight surcharge for sustainable solutions, this could be capitalized on for this purpose. 6 Limitations Nonetheless, the study is subject to several limitations. A t-test could not be conducted for baby boomers due to the fact that only eight participants out of 307 surveyed belonged to this generation group, which is considerably fewer than the minimum requisite of 30 or more samples. Essentially, it is crucial to highlight that there are substantial differences in the number of survey participants across the respective generational categories. This discrepancy could be attributed to the online administration of the survey which was primarily disseminated among student cohorts. It can also be speculated that students majoring in tourism might possess a more nuanced understanding of the subject matter due to their specialized education. The average age of the participants is 31.71 years, and their employment status corroborates this fact, with the majority being either students or em‐ ployed individuals. According to the survey, retirees are significantly underrepresented, as are the unemployed and self-employed respondents. Therefore, obtaining a comprehensive portrait spanning all generations and their corresponding occupational statuses is beyond the scope of this research. When endeavoring to gauge environmental consciousness, a number of challenges surface, which can be clustered into three major categories. The first challenge pertains to the measurement of the myriad facets of an attitude. The second one centers on issues relating to the attitude itself, focusing on the discrepancy between attitude and past behavior. The final challenge pertains to the research sample itself and the potential bias introduced by social desirability (Ham, Horvat, & Mrcela, 2015). The ultimate aim is to adequately address these challenges to augment the quality, generalizability, and comparability of the research findings. Moreover, the responses from the participants are subject to their unique life circum‐ stances and social status. Generational overlaps can exist in several aspects, for instance, income brackets. Undergraduates and graduates could fall into either Generation Z or Generation Y categories. Therefore, it is not prudent to assert that certain stereotypes are exclusive to specific generations. This vast spectrum of diversity impedes the ability to make concrete observations across all generations. While the survey attempted to mitigate this issue with specific inquiries, a more detailed examination within each generation would yield a deeper understanding of group behavior patterns. 86 Acácia Malhado, Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld <?page no="87"?> 7 Conclusion The analysis of the collected survey data concerning environmental consciousness aligns well with prior research conducted on this subject within Germany. Evidence suggests that the level of environmental concern among Germans is relatively high and there is a broad understanding across all generations of the role humans play in climate change. A significant number of individuals express a readiness for change, but only a small fraction is truly prepared to embrace profound modifications in their daily routines, as revealed by the surcharge question. This discrepancy between stated attitudes and actual behavior, also known as the attitude-behavior gap, has also been examined and proved in previous research focusing on sustainable consumption. The study demonstrated that an individual’s generational cohort can influence their choice of transport for domestic travel, depending on certain valued aspects like flexibility and duration of travel. However, the hypothesis that younger generations favor sustainable transport options more than older generations due to heightened environmental aware‐ ness was not substantiated. Nevertheless, an intergenerational interest in railways as a sustainable travel option for domestic trips within Germany was evident. With escalating enthusiasm for sustainability and environmental conservation, the impetus for facilitating sustainable travel is predicted to intensify in the future. Bearing in mind these findings, both businesses and governments must find ways to leverage high levels of environmental awareness and translate it into sustainable consumer behaviors, particularly with regard to transport choices. This calls for the development and efficiency analysis of policies and measures aimed at discouraging private car use while promoting public transport. Furthermore, educating future generations on environmental challenges stands as a pivotal strategy in fostering environmental consciousness and encouraging sustainable shifts. Future research can expand our understanding of environmental behavior and its manifestation in transport choices, particularly focusing on Generation Z, as this demo‐ graphic is set to gain market influence as they transition from education into employment. Concurrently, Generation Alpha (those born between 2011 and 2025) will likely shape research in novel ways as they come of age around 2029. As these two groups gain prominence, Generation X and Baby Boomers might decrease in their relative importance for such research in the coming decades. Further investigations could also explore how the rise in gas and gasoline prices and the introduction of the Deutschland-Ticket by the German government might significantly influence consumer behavior across generations, and should be considered areas of immediate relevance. In conclusion, this study has underscored the paramount importance of comprehending and addressing the attitude-behavior gap in environmental consciousness, especially in relation to sustainable transportation choices for domestic holidays. It has shed light on the potential influence of generational cohorts on these choices, offering insights for both policy makers and businesses. Looking forward, fostering environmental consciousness across all generations and translating it into tangible, sustainable actions will be an imperative task, but also a significant opportunity. The forthcoming ascendance of environmentally-aware younger Transitions along generations and environmental awareness 87 <?page no="88"?> generations into the marketplace affirms the urgency of this task, while presenting exciting potential for the evolution of sustainable consumer behavior. Amid rapid societal changes and emerging challenges, harnessing this potential will be key to crafting a sustainable future, rooted not just in awareness, but in concrete actions towards environmental conservation. Contact Acácia Malhado, HS Stralsund | acacia.malhado@hochschule-stralsund.de and Frauke Boltz, Jasmin Guerra, Jessica Zenner, Bettina Schmalfeld References Ambak, K., Kasavar, K., Daniel, B., & Ghani, A. (2016). Bahavioral Intention to Use Public Transport based on Theory of Planned Behavior. 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Customer satisfaction theory applied in the housing industry: An empirical study of low-priced housing in Beijing. Tsinghua Science and Technology, 11(6), pp. 667-674, doi: 10.1016/ S1007-0214(06)70249-8. Transitions along generations and environmental awareness 89 <?page no="91"?> 1 Anmerkung: Kuhn bezieht sich bei seiner Betrachtung überwiegend auf den Umgang der eta‐ blierten Wissenschaft zum damaligen Zeitpunkt mit den Theorien von Isaac Newton und Albert Einstein. Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? - Müssen sich Destinationsmanagementorganisationen neuen Aufgaben stellen? Knut Scherhag Schlagwörter | Destinationsmarke, Branding, Destinationsentwicklung, Special Inte‐ rest, Smart Destination 1 Einleitung Zum Einstieg in die Diskussion wird zunächst ein Verständnis für den Begriff Paradigma vorgestellt. In der Wissenschaft werden unter Paradigmen Methoden, Denkweisen und Normen verstanden, die von Forschern zu einem bestimmten Zeitpunkt allgemein als Grundlage für ihre Arbeit - bspw. in der Lehre - anerkannt werden; d.-h., sie bilden die Basis für neue Erkenntnisse (Heinemann 2020). Laut Thomas S. Kuhn, einem der bedeu‐ tendsten Wissenschaftstheoretiker des 20.-Jahrhunderts, können neue Erkenntnisse, die dem aktuellen Stand der Forschung grundlegend widersprechen zu einer Veränderung der bisherigen Denkweisen in einem Fachgebiet führen; er spricht dann von einem Paradigmenwechsel - also einer wissenschaftlichen Revolution (Kuhn 1 1973, S. 197ff., 226). Gerade durch technologische Neuerungen wird das Aufgabenspektrum einer Destina‐ tionsmanagementorganisation (DMO) zunehmend erweitert. Bspw. war während der Coronapandemie die Besucherlenkung und -kapazitätssteuerung für viele DMO eine we‐ sentliche Aufgabe, um Gästeaufenthalte vor dem Hintergrund der geltenden gesetzlichen Regelungen (z. B. Abstände, Impfstatus) überhaupt zu ermöglichen. Dies führte in vielen Regionen dazu, dass elektronische Zähleinrichtungen die notwendigen Informationen kommunizierten, um ein coronaregelkonformes Nebeneinander zu ermöglichen. Für die Kapazitätssteuerung im öffentlichen Raum (z. B. Strandzugang), bei Veranstaltungen (Kon‐ zerte, Gartenschau) und in musealen Einrichtungen wurden sogenannte digitale „Ampeln“ entwickelt (Bad Dürkheim, 2021; Tourismus-Agentur Lübecker Bucht, 2021). So zeigt bspw. die Strandampel an der Lübecker Bucht (Scharbeutz, Haffkrug, Sierksdorf, Neustadt in Holstein mit Pelzerhaken, Rettin sowie Timmendorfer Strand mit Niendorf/ Ostsee, <?page no="92"?> Grömitz) dem Gast auf dessen Smartphone bereits vor der Ankunft an der Ostsee, welche Strandabschnitte (und Parkplätze) noch nicht ausgelastet sind und wo somit ein Aufenthalt möglich ist (Scherhag & Kurz 2023, S. 319) - allerdings ist eine aktive Nutzung durch den anreisenden Gast notwendig. Die Betrachtung der Destination als Lebensraum - nicht nur als touristisches Ziel - artikuliert ebenfalls eine neue Dimension an Anforderungen für das Management der Destination. Nicht mehr nur der Gast, sondern auch der Bewohner selbst rückt in den Fokus der Koordination. Ansätze von Smart City und Smart Destination skizzieren zunehmend neue Aufgabenfelder, die von einer DMO übernommen werden können (z. B. Schmücker 2021). Die hiermit verbundenen Herausforderungen können ein neues Aufgabenspektrum für die DMO zur Folge haben. Diese Betrachtung wird im Folgenden thematisiert, ebenso wie die Überlegung, inwiefern touristisches Destinationsmanagement aufgrund neuer Herausforderungen vor einem Paradigmenwechsel steht. 2 Touristische Destinationen Touristische Destinationen werden als geografischer Raum (Ort, Region, Mittelgebirge, Insel) abgegrenzt, den der jeweilige Gast (oder ein Gästesegment) als Reiseziel auswählt oder der von Reiseveranstaltern als Reiseziel vermarktet/ angeboten wird. Eine Destination enthält sämtliche für einen Aufenthalt notwendigen Einrichtungen für Beherbergung, Ver‐ pflegung, Unterhaltung/ Beschäftigung und ist damit die Wettbewerbseinheit im Incoming- Tourismus, die strategisch geführt werden muss (Bieger & Beritelli, 2013, S.-54). Vor allem das abgeleitete Angebot ist für den Gast von Bedeutung, da er aus dessen Vielfalt die seiner Erwartung entsprechenden Leistungen buchen kann (Eisenstein & Koch 2015, S. 9). Die Bewertung der Wettbewerbsfähigkeit ist dabei oft abhängig von den Leistungsträgern innerhalb der Destination, da deren Kompetenz die Ansprüche und Erwartungen der Gäste erfüllen muss. Demzufolge ist die Kundenorientierung der Leistungsträger (bspw. Hotellerie, Bergbahnen in Wintersportgebieten), bzw. der im Tourismus aktiven Betriebe, die Basis für eine im Wettbewerb erfolgreiche Destination (Bieger & Beritelli, 2013, S. 61; Scherhag 2007, S. 361). Zunehmend an Bedeutung gewinnen die Verkehrsinfrastruktur und Mobilitätsangebote innerhalb der Destination, wobei diese auch gerade für die Bewohner wichtig werden und eine lückenlose Versorgung gefordert wird (Scherhag & Kurz 2023, S.-323). Touristische Destinationen funktionieren formal als Netzwerke, die auf die kooperative Zusammenarbeit der Leistungsersteller, aber auch auf das Mitwirken von Verwaltung, Politik sowie der Bewohner angewiesen sind (Eisenstein 2022, S. 249f.). Ohne eine Zu‐ sammenarbeit der verschiedenen Stakeholder ist die Entwicklung einer gemeinsamen Zielsetzung und strategischen Ausrichtung nur sehr schwer möglich. Ebenso ist ein posi‐ tives Urlaubserlebnis für Gäste oftmals nicht möglich, da die Leistungsträger individuelle unternehmerische Interessen verfolgen (bspw. Gewinnmaximierung vs. Berücksichtigung von Gästeinteressen); gleichzeitig ist die Professionalität in der Aufgabenerfüllung unter‐ schiedlich. Eine gemeinsame Zielsetzung und vor allem Strategieerarbeitung wird dadurch erschwert. Die Förderung und Unterstützung der Zusammenarbeit der Stakeholder wird als eine wichtige Aufgabe einer DMO angesehen (siehe Kasten „Aufbau Tourismusnetzwerk 92 Knut Scherhag <?page no="93"?> Rheinland-Pfalz“). Darüber hinaus wird das Aufgabenspektrum einer DMO unterschiedlich definiert, je nach Autor sind es unterschiedliche Schwerpunkte (Bieger & Beritelli 2013, S.-66f.; Scherhag 2018, o. S.). Aufbau Tourismusnetzwerk Rheinland-Pfalz (Hünerfauth 2023a) Die Rheinland-Pfalz Tourismus GmbH befindet sich zur Zeit (September 2023) in der Netzwerkakquise zu den strategischen Geschäftsfelder Wein & Kulinarik, Kultur, Natur & Aktiv und Wellness & Prävention. Innerhalb der Geschäftsfelder sollen auf Basis der Netzwerke und Kooperationen Leitprodukte entwickelt werden, die dann im Mar‐ keting sowohl der Geschäftsfelder als auch des Bundeslandes als Ganzes eingebunden werden und so der Tourismusdestination Rheinland-Pfalz ein unverwechselbares Profil verleihen. Ein zentraler Mehrwert ist der Wissenstransfer im Netzwerk. Gemeinsam können Angebote weiterentwickelt und Innovationen vorangetrieben werden. Durch die Mit‐ telbündelung im Netzwerk können darüber hinaus Kosten und auch Zeit eingespart werden. Perspektivisch wird das Marketing der Rheinland-Pfalz Tourismus GmbH auf Angebote bzw. Produkte der strategischen Geschäftsfelder ausgerichtet werden. Das Management und die Führung des Systems Destination (→ Abbildung 1) müssen auf einer wirksamen Planung und Leistungserbringung im Netzwerk beruhen, was vom Grundsatz her nur auf der operativen Ebene aus Sicht des Gastes funktioniert (Bieger & Beritelli 2013, S. 60). Dort kann er die notwendigen Teilleistungen bei den vernetzten Leistungsträgern buchen/ erwerben und nutzen. Auf den übergeordneten Ebenen, sowohl im Kontext strategischer Geschäftsfelder als auch die gesamte Destination betreffend, ist meist kein klares Bild des Gastes für die DMO vorhanden, da dieser seine Zugehörigkeit zu strategischen Geschäftsfeldern selektiv und situativ - allerdings unbewusst - auswählt und anpasst (z. B. Jahreszeit, Zusammensetzung der Reisegruppe, Reiseanlass), somit nur be‐ dingt mit einer spezifischen Thematik (im Sinne einer Zielgruppendefinition) ansprechbar ist. Gleichzeitig stehen einzelne Leistungsträger mit unterschiedlichen Zielgruppen in direktem Kontakt, so dass auch hier in der Regel keine klare strategische Ausrichtung auf Gästesegmente durch die DMO umgesetzt werden kann. Auf der Destinationsebene ist das Management ebenfalls eingeschränkt, da es zu Überschneidungen zwischen den Geschäftsfeldern kommt, sowohl bei der grundsätzlichen strategischen Entscheidung, als auch bei der Ansprache potenzieller Leistungsträger, die eine entsprechende Fokussierung auf spezifische Zielgruppen vornehmen sollen. Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? 93 <?page no="94"?> Tourismusort Tourismusorganisationen Tourismusunternehmen/ betriebe Subsystem Tourismusobjekt: institutionelle Subsysteme Subsystem Tourismussubjekt Reisende System Tourismus Ökonomische Umwelt Soziokulturelle Umwelt Technologische Umwelt Ökologische Umwelt Politische Umwelt Tourismusunternehmen/ betriebe Tourismusunternehmen/ betriebe Tourismusorganisationen Abbildung 1: System Destination | Quelle: Kaspar 1996, S.-12 2.1 „Klassische“ Aufgaben einer Destinationsmanagementorganisation Eine Zusammenfassung der Aufgaben einer DMO, formuliert von unterschiedlichen Autoren, findet sich bei Bieger und Beritelli (2013, S. 65ff.), allerdings wird das Aufga‐ benspektrum unterschiedlich weit abgegrenzt. An dieser Stelle kann grundsätzlich von einem Paradigma hinsichtlich der DMO und ihrer Aufgaben gesprochen werden, da die grundsätzlichen Aufgaben von mehreren Autoren in ähnlicher Form formuliert werden. Als „klassisch“ werden einer (privatrechtlichen) DMO die folgenden Punkte zugeschrieben (Kaspar 1996, S. 98), die einerseits an einer Unterstützung der Leistungsträger ausgerichtet sind, andererseits eine allgemeine Akzeptanz des Tourismus im Zuständigkeitsgebiet der DMO erreichen soll. Dabei wird insbesondere eine Interessenvertretungsaufgabe der Tourismuswirtschaft gegenüber der Politik/ Verwaltung im Zuständigkeitsbereich, die Angebotsgestaltung und Werbung für die Destination betont. Grundsätzlich haben die Tou‐ rismusabteilungen (Regiebetrieb oder Teil einer Abteilung in der Kommunalverwaltung) weitgehend ähnliche Aufgaben zu erfüllen, allerdings in der Regel ohne wirtschaftliche Präferenzen, da Erträge in den Gesamthaushalt eingehen. • Allgemeine, politische, verwaltungsmäßige Aufgaben. Hier wird oft der (von der Kommune übertragene) Einzug einer Kur-/ Tourismusabgabe von Gästen und Stakeholdern genannt. Auch die Vertretung der touristischen Inter‐ essen in öffentlichen Sitzungen ist hier zu nennen, ebenso wie die Mitarbeit bei der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur (z. B. Radwege, Wohnmobilstellplätze) sowie der touristischen Ausschilderung. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die Rechtsform einer DMO das Aufgabenspek‐ trum gerade in diesem Bereich einschränken kann. So sind öffentlich-rechtlich geführte 94 Knut Scherhag <?page no="95"?> DMO i. d. R. nicht in der Lage bspw. die Vermietung von Wohnobjekten, sei es für Gäste aber auch für Mitarbeitende in der Tourismuswirtschaft vor Ort, anzubieten. Für privatwirtschaftliche Rechtsformen sieht dies etwas anders aus. • Förderung eines allgemeinen Tourismusbewusstseins in der Bevölkerung. Gerade die aktuellen Diskussionen zum Overtourismus und die Widerstände aus der Bevölkerung gegenüber Touristen (z. B. Rappold 2023, o. S.) stellen eine DMO vor Herausforderungen, die eine strukturierte Kommunikation mit belastbaren Informationen erfordert und die Bedeutung des Tourismus als Wirtschaftsfaktor für die Destination in den Vordergrund stellt. Den stattfindenden Demonstrationen von Tourismusgegnern kann die DMO nicht entgegentreten, da derartige Veranstaltungen von den örtlichen Verwaltungseinheiten zu genehmigen und auch zu begleiten sind. Die DMO kann hier argu‐ mentativ die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus im Zuständigkeitsgebiet erläutern und gemeinsam mit den Demonstrierenden nach Lösungen suchen, die ein Nebeneinander der Bedürfnisse von Bewohnern und Touristen innerhalb der Destination berücksichtigt. • Koordination des touristischen (Gesamt-)Angebotes und Mitgestaltung einzelner Pro‐ dukte, was insbesondere in Kurorten der Fall ist; dort werden darüber hinaus zum Teil Kureinrichtungen von der DMO geführt. Grundsätzlich erfolgt die Produktion von Einzelleistungen, aber auch von spezifischen Reisepaketen (z. B. Wellness, Kulinarik) durch die Leistungsträger selbst, da sie den direkten Kontakt zu den buchenden Gästen haben und auf deren spezifische Interessen reagieren können. Andererseits können sie mit ihren spezifischen Leistungen entspre‐ chende Nischenzielgruppen ansprechen. • Die Beseitigung von Interessenkonflikten zwischen unterschiedlichen Gruppen von Leistungsträgern und die Vermittlung zwischen einzelnen Gruppierungen in der Destination; dabei ist die Kommunikation der unterschiedlichen Anforderungen ein‐ zelner Stakeholdersegmente, bspw. bezogen auf die Infrastruktur in der Destination oder die Ansprache von differenzierten Kundensegmenten (Special Interest), eine herausfordernde Aufgabe (weiterführend z.-B. Scherhag & Menn 2010). • Kommunikation der Destination nach außen zu den verschiedenen externen Interes‐ sengruppen, wie bspw. Behörden, Reiseveranstaltern oder Werbeträgern. In Ergänzung dazu werden von Heath und Wall (1992, S. 166) die strategische Entwicklung der Destination, genauso wie die Übernahme von Marketingfunktionen betont, wobei hier die erhöhte Sichtbarkeit und eine verbesserte und präzisere Wahrnehmung durch potenzielle Gäste betont wird. Gerade die Marketingfunktion wird derzeit als eine der wichtigsten Aufgaben einer DMO angesehen, was immer wieder in Gesprächen mit der Geschäftsführung von DMO deutlich wird. Zur Erhöhung der Sichtbarkeit von Destinationen werden diese darüber hinaus häufig markiert; daraus ergibt sich eine weitere, zentrale Aufgabe einer DMO: die Destination als Wettbewerbseinheit einheitlich zu führen und nach außen zu vermarkten (Bieger & Beritelli 2013). Die Umsetzung einer Markenstrategie für eine Destination ist mit relativ großem Aufwand verbunden, denn neben der finanziellen Belastung, der Beauftragung eines Unternehmens für die Entwicklung einer Markenstrategie und die Übernahme der Markenführung (oft wird diese Aufgabe durch die DMO erfüllt) müssen die Stakeholder in der Destination (Leistungsträger, Verwaltung, Bürger…) in den Markenentwicklungs‐ Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? 95 <?page no="96"?> prozess involviert werden. Die Diskussion um Destinationsmarken nimmt in der wissen‐ schaftlichen Literatur einen breiten Raum ein (z. B. Cai 2002, Scherhag 2003, Thilo 2017, Morgan et al. 2010; Baker 2019, Eisenstein & Scherhag 2022). Auch die Interessenvertretung gegenüber weiteren Organisationen werden von Heath und Wall (1992, S. 166) herausgestellt; dies betrifft bspw. Regionalagenturen und deren übergeordnete Landestourismusorganisation. Anzumerken ist, dass für diese Aufgaben grundsätzlich die Unterstützung der am Tourismus beteiligten Akteure der Destination notwendig ist, da letztendlich deren Leistungen die Gäste zu einer Buchung motivieren und nicht die Darstellung der Destination auf einer übergeordneten Verwaltungs-/ Manage‐ mentebene (Scherhag 2007, S.-353-355). Die Ausarbeitung der strategischen Ausrichtung, verbunden mit der Ausarbeitung eines Tourismuskonzeptes für die Destination, erfordert die umfangreiche Einbindung aller tourismusrelevanten Stakeholder. Auch wenn der Gast ein Produktbündel nachfragt, sind verschiedene Unternehmen an dessen Gestaltung mit unterschiedlichem Engagement und Umfang beteiligt und es müssen Schnittstellen bedient werden (Bieger & Beritelli 2013, S. 66). Idealerweise stimmen sich einzelne Leistungsträger ab und bieten Leistungsbestand‐ teile an, die sich zu einem Special Interest Produkt verbinden. In der Konsequenz wird die DMO zur „eierlegenden Wollmilchsau“, einer Organisation, die in der Lage ist, alle Bedürfnisse aller Beteiligten zu befriedigen und allen Ansprüchen zu genügen (Duden 2023). 2.2 Neue Aufgaben für Destinationsmanagementorganisationen Wie bereits erwähnt, wurden durch die Coronapandemie neue Aufgaben an die DMO übertragen, was insbesondere die Kommunikation der gesetzlichen Bestimmungen an die Leistungsträger sowie die (potenziellen) Gäste der Destination betraf. Dahinter verbirgt sich die „neue“ Aufgabe Dienstleister in der Informationstechnologie, denn es mussten digitale Lösungen entwickelt und umgesetzt werden, um die relevanten Informationen über die verschiedenen Wege an die Adressaten zu bringen und in einer Datenbank (Knowledge Graph) abzulegen, auf die alle Kommunikationsmedien Zugriff haben und die von allen Leistungsträgern mit Informationen - am besten automatisiert - versorgt wird. Die Nutzung der bereitgestellten Informationen kann zu einer freien Kombination der Daten führen und somit einen Mehrwert gegenüber den einzelnen Informationsbausteinen erreichen. Die große Herausforderung für die DMO in diesem Zusammenhang bildet sich vor allem in zwei Bereichen ab: einerseits ist kompetentes Personal notwendig, das in der Lage ist, entsprechende IT-Lösungen zu gestalten, zu pflegen und zu bedienen. Andererseits muss die DMO finanzielle Hürden überwinden, um entsprechende Lösungen und notwendiges, in der Regel zusätzliches Personal finanzieren oder diese bei ausgewiesenen Dienstleistern kaufen zu können. Durch die digitale Kommunikation von freien, aber auch belegten Kapazitäten für die Freizeitgestaltung, wird eine digitale Buchung der noch freien Plätze durch die Besucher notwendig (als Überbleibsel aus der Coronapandemie); gleichzeitig können Alternativen angeboten werden, sofern keine Buchungen mehr möglich sind. Häufig ist hierzu notwendig, dass die Besucher mit einem Profil eingeloggt sind, auf das die Datenbank zugreifen kann, um so „passende“ Angebote vorschlagen zu können. In Verbindung mit diesen Zusammenhängen 96 Knut Scherhag <?page no="97"?> ist das Thema der Besucherlenkung zunehmend in den Fokus der Aufgaben einer DMO getreten. Dabei helfen die digital verfügbaren Informationen, um Alternativen zu überfüllten Plätzen und Einrichtungen zu kommunizieren. Vernachlässigt wird dabei, dass die Gäste eine eigene Agenda für ihren Aufenthalt haben und attraktive Orte und Einrichtungen besuchen möchten, was auch vor dem Hintergrund der Social Media Aktivitäten von Bedeutung ist. Eng verbunden mit diesen Herausforderungen ist die Beratung der touristischen Akteure zu sehen. Diese müssen ebenfalls auf ihre neuen Aufgaben - zuallererst die Betreuung der gemeinsamen Datenbank mit relevanten Informationen (bspw. Vakanzen, Zeitfenster für eine Buchung, Preisoptionen, Alternativen) - vorbereitet und geschult werden. Meist stößt ein Basiskonzept an Grenzen, da die individuelle Situation der einzelnen Stakeholder betrachtet und berücksichtigt werden muss. Da mittlerweile nahezu jeder Leistungsträger mit einem eigenen Internetauftritt im Markt präsent ist, können die eigenen Kundinnen und Kunden unmittelbar angesprochen und Special Interest Leistungen/ Produkte, auch unabhängig von der Positionierung der Destination als Ganzes, angeboten werden (→ Ab‐ bildung 2). Dies erleichtert eine gemeinsame Destinationskommunikation nicht unbedingt, da möglicherweise keine geeigneten Schnittstellen für die Datenkommunikation vorliegen. Auch interessiert sich ein Teil der angesprochenen Gäste lediglich für das unmittelbare Special Interest Angebot und nimmt die allgemeinen Informationen zur Destination nicht wahr, bzw. stellen diese Informationen für einen Teil der Gäste keinen Mehrwert dar und werden nicht gespeichert. Gerade das unterschiedliche Niveau der einzelnen Leistungsträger im Umgang mit digitalen Systemen ist eine große Hürde in der Umsetzung solcher Aufgaben durch eine DMO oder einen beauftragten Dienstleister. Beherbergungsbetriebe usw. Destinationsmanagementorganisation Infrastruktur touristische Attraktionen Gewerbe sonstige touristische Anbieter natürliche Umwelt Märkte ökonomische Umwelt gesellschaftliche Umwelt politische Umwelt Abbildung 2: Individuelle oder vernetzte Kommunikation im System Destination | Quelle: vgl. Bieger & Beritelli 2013, S.-S. 62; Smartphone: ©-Andrii - stock.adobe.com) Vor dem Hintergrund einer vielfachen digitalen Vernetzung der Leistungsträger und sonstigen Unternehmen und Einrichtungen, die am touristischen Aufkommen teilhaben, Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? 97 <?page no="98"?> wird es zunehmen aufwendiger, eine Destination als Wettbewerbseinheit aufzubauen, sofern sie nicht bereits eine Position in der Wahrnehmung der Reisenden erreicht hat. Die hiermit oft thematisierten Aktivitäten zum Aufbau von Destinationsmarken sind demnach auch nicht (mehr) für alle Destinationen relevant. Zunehmend werden Stimmen laut, die dem Markenprozess für Destinationen kritisch gegenüberstehen sowie eine Veränderung im Aufgabenspektrum einer DMO sehen (z. B. Beritelli & Laesser 2019; Scherhag 2022, Seeler et al. 2022). 3 Neue Herausforderungen für Destinationsmanagementorganisationen 3.1 Smart City/ Smart Destination Digitalisierung sollte nicht als isolierte Strategie einzelner Teilbereiche im Aufgabenspek‐ trum einer DMO angesehen werden. Vielmehr muss sie als integraler und unabdingbarer Teil jeder Aufgabenbewältigung mitgedacht und konsequent umgesetzt werden (Berndt & Dobmann 2023, S. 242). Diese Umsetzung sollte alle Aufgabenbereiche einer DMO umfassen. Durch die Möglichkeit der Digitalisierung von Netzwerkarbeit, Besucherlen‐ kung, Kommunikation untereinander sowie Kommunikation nach außen ist eine Vielzahl von Aufgaben und ganzer Aufgabenfelder auf Destinationsmanagementorganisationen übertragen worden. Bspw. nutzt das Bundesland Nordrhein-Westfalen für sein Projekt „FLOW.NRW - Integriertes Tourismus- und Standortmarketing für die digitale und kreative Szene in Nord‐ rhein-Westfalen“ digitale Strukturen, um verschiedene Städte/ touristische Destinationen zusammenzubringen. An der Schnittstelle zwischen Tourismus- und Standortmarketing soll mit der Gestaltung von sieben Modulen zur Vernetzung der Digital-, Kreativ- und Tourismuswirtschaft innerhalb NRWs beigetragen und Wertschöpfungspotentiale in der Zusammenarbeit herausgearbeitet werden. Zeitgleich soll Nordrhein-Westfalen im inter‐ nationalen Wettbewerb als attraktive Städtedestination und Lebensraum dargestellt sowie Schnittstellen zu tourismusrelevanten Netzwerken, Partnern und Hochschulen geschaffen werden (Hiltermann et al. 2023, S. 6). Daraus ergibt sich eine Reihe von Aufgabenfeldern, die eine DMO bisher nicht betreut hat - demzufolge ist auch die relevante Personalausstattung nicht vorhanden. Mit dem „neuen“ Zuschnitt der Aufgaben entfernt sie sich zunehmen von einer Koordination der Leistungsträger und den mit der Destinationsvermarktung verbundenen Aufgaben hin zu einer „Lebensraumkoordinierungseinrichtung“ - was einem Paradigmenwechsel bzgl. der Struktur und Kernaufgaben einer DMO nahe kommt. Die hinter diesen Aufgaben liegenden Strukturen weichen von den bisherigen ab, die zur Koordination von touristischen Stakeholdern notwendig sind. Zugleich nehmen sie an Komplexität zu. Sie müssen in die Struktur der Kommunalverwaltung, Stadtverwaltung oder auch von Landkreisen/ ländlichen Räumen eingefügt werden und sich den dortigen Hierarchien stellen. 98 Knut Scherhag <?page no="99"?> 2 Für die Begriffe Smart City und Smart Region besteht derzeit noch keine allgemeingültige Definition; am geläufigsten ist im deutschsprachigen Raum aktuell: „Die Begriffe Smart City und Smart Region stehen für die Vision digital vernetzter Städte und Regionen, welche sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltige Ziele verfolgt. So etwa eine verbesserte Ressourceneffizienz, eine erhöhte Lebensqualität, die Förderung der lokalen Wirtschaft, die Schaffung von Innovationsräumen, mehr gesellschaftliche Teilhabe sowie eine erhöhte Zugäng‐ lichkeit und Effizienz öffentlicher Dienstleistungen.“ (Bitkom e.-V., 2019, S.-9) Im städtischen Kontext finden Veränderungen in Richtung Smart City 2 statt, was aller‐ dings bedeutet, dass die Daseinsvorsorge für die Bewohner auf einen digitalen Austausch und in einem hohen Maß an digitaler Infrastruktur aufbauen wird. Touristische Themen sind zunächst in diesem Ansatz nicht explizit ausgewiesen (→ Abbildung 3). Nichtsdesto‐ trotz kann das Thema der Besucherlenkung mit Hilfe der digitalen Informationsübertra‐ gung innerhalb des relevanten Raumes verbessert werden, sofern Auslastung/ Wartezeiten, Ticketbuchung und Wegbeschreibung direkt von den Besuchern abgefragt und genutzt werden können. Abbildung 3: Handlungsfelder einer Smart City | Quelle: Scherhag & Kurz 2023, S. 322 in Anlehnung an Bee Smart City, 2019, S.-12 Das Konzept der Smart Destination stellt eine Fokussierung der Smart Region auf eine touristische Nutzwertgestaltung für alle Stakeholder dar, die mit der Destination (= regionaler Raum) in Kontakt stehen; zu nennen sind hier vor allem die Leistungsträger, Non-Profit-Organisationen (z. B. Naturschutzorganisationen, Heimatvereine…), Bewohner und Gäste. Erkennbar ist dabei eine stärkere Ausrichtung auf den Gast - vordergründig, um sein Urlaubserlebnis zu verbessern; verschwiegen wird häufig, dass die Arbeitsweise in der Destination vor allem zwischen einzelnen Leistungsträgern besser strukturiert und auch automatisiert wird, was zu einer Effizienzsteigerung und einem höheren Ertrag führen kann (Scherhag & Kurz 2023, S. 329). In einem engen Zusammenhang steht aber auch, dass umfangreiche Aufgaben durch die Touristiker, in der Regel die DMO, umgesetzt und erfüllt Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? 99 <?page no="100"?> werden müssen. Dazu gehört vor allem das Lebensraummanagement in Verbindung mit einer nachhaltigen Entwicklung und die Einbindung der Bevölkerung. Begründet wird dies häufig damit, dass ein Tourismuskonzept nur schwer umgesetzt werden kann, wenn nicht alle Beteiligten - auch die nicht vom Tourismus Profitierenden (z. B. Einwohner) - in seine Entwicklung eingebunden wurden. Wird die Aufgabenzuordnung einer öffentlich-rechtlichen DMO bei Kaspar (1996, S. 91- 102) näher betrachtet, so ist ein Teil der vorstehend genannten Aufgaben bereits vor rund 40 Jahren ein Thema gewesen, wenn auch ohne digitale Unterstützung: so wurde das touristische Leitbild u. a. zur Konkretisierung von Nutzungs-/ Flächenwidmungsplänen sowie bei der Ausweisung von Schutzzonen berücksichtigt. Auch waren zur touristischen Zielsetzung der Erhalt der Landschaft, Standortvorsorge für touristische Betriebe sowie die touristische Entwicklung unter Berücksichtigung von ökologischer Belastbarkeit und wirtschaftlicher Tragfähigkeit des Raumes sowie vorrangigerer Beteiligung der Bewohner gesetzlich vorgegeben. 3.2 Soziale Medien Mit dem Einsatz von Social Media Applikationen erfährt die Informationssuche und auch die Reiseentscheidung selbst eine neue Dimension. Ging der Weg der Reiseentscheidung bis zur Verbreitung der sozialen Medien weitgehend über die Zielgebiete, die für den Reisewilligen eine Anziehungskraft ausübten und die Suche nach möglichen Angeboten für einen Aufenthalt initiierten (oft auch über Reiseveranstalter), werden heute zunehmend attraktive Angebote in abonnierten oder „gelikten“ Social-Media-Kanälen „gefunden“ und als buchungswert angesehen. Erst im zweiten Schritt erfolgt ein Abgleich mit den reiseein‐ schränkenden Informationen, wie Erreichbarkeit des Reiseziels, möglicher Reisezeitpunkt, Kosten usw. Damit verbunden sind neue Aufgaben für eine DMO: so wird weniger die Vermarktung der Destination selbst als zentrale Aufgabe anzusehen sein; da die wenigsten DMO buchbare Angebote vertreiben, muss die Suche der Reisewilligen über andere Adressen verlaufen. Die umfangreichen Aktivitäten im Marketing und der Bewerbung um neue Gäste wird bereits an der ein oder anderen Stelle in Frage gestellt, da der Gast zunehmend über andere Kontakte seine Reiseentscheidung trifft (Beritelli & Laesser 2019). Da die Social Media Kanäle von vielen Seiten mit Informationen „gefüttert“ und die Bedeutung von User Generated Content zunimmt, wird es eine zentrale Aufgabe der DMO oder einer eingesetzten Organisation sein, die Korrektheit der kommunizierten Informa‐ tionen zu überprüfen. Zunehmend wird von DMO abgelehnt, die Verantwortung für die Korrektheit der Informationen zu übernehmen, bspw. für die Routenführung von Wander- oder Radwegen, ob die Wege begehbar sind oder über gesperrtes Gelände verlaufen. So wurde eine „Blaue Lagune“ als besonderer Spot durch eine Online-Redakteurin im Sauerland kommuniziert - dass diese in einem eingezäunten Betriebsgelände liegt und kein 100 Knut Scherhag <?page no="101"?> 3 Da die genaue Lage der „Lagune“ nicht kommuniziert werden soll - es wäre dann mit uneinsichtigen Individuen zu rechnen - wird hier explizit auf die Quellenangabe verzichtet. Die Informationen stammen aus einem persönlichen Gespräch. Zutritt für Touristen möglich ist, wurde nicht erwähnt 3 . Für Motorradfahrende, die gerne auf legalen Schotterstraßen unterwegs sind, gibt es den Transeurotrail. Auf seiner Webseite ( 🔗 www.transeurotrail.org) werden GPX-Dateien von verschiedenen Personen in den europäischen Ländern zum Download angeboten. Der Nutzer, der die Routen abfahren will, muss allerdings u. a. akzeptieren, dass diese Wege möglicherweise nicht mehr vorhanden sind, nicht mehr befahrbar sind oder die Durchfahrt mittlerweile verboten ist - d. h., sie müssen sich mit den verfügbaren Informationen auseinandersetzen. Die Betreiber der Webseite übernehmen keine Verantwortung zu den GPX-Dateien/ vorgestellten Routen. Auch die Aktivitäten von Influencern können eine DMO an die Grenze der Leistungs‐ fähigkeit bringen. Einerseits buchen DMO Influencer und Blogger, damit sie über die touristischen Attraktionen in der Destination berichten und über ihre Follower Besuche motivieren. So fand in Rheinland-Pfalz im Juni 2023 die 10. Bloggerwanderung statt (Hü‐ nerfauth 2023b). Andererseits lassen sich Influencer teilweise nicht von Zutrittsverboten oder Regelungen aufhalten, um ein „tolles“ Foto mit sich selbst posten zu können. So geschehen an den Gumpen am Königsbach im Nationalpark Berchtesgaden. Nachdem dort ein Influencer-Post veröffentlicht wurde zog es tausende Fototouristen an den Wasserfall, was zu Müll, Zerstörung der Natur und sogar Todesfällen geführt hat. Der naturschützerisch wertvolle Ort liegt weit abseits des offiziellen Wegenetzes im Schutzgebiet, was auch dazu führte, dass für die Zuwegung die Natur zerstört wurde (o. V. 2020). Nun ist der Ort weitläufig für rund 5 Jahre gesperrt, Zuwiderhandlungen können bis zu 25.000 Euro kosten (o. V. 2021). Ein Erfolgsfaktor wird sein, inwieweit falsche oder ungenaue Informationen korrigiert werden können, so dass es nicht zu Fehlverhalten kommt. Diese Aufgabe kann von einer DMO oder auch von anderen Organisationen nicht übernommen werden, da die Quellen zu unterschiedlich und nicht kontrollierbar sind. Ein Weg geht dabei sicherlich über die Betreiber entsprechender Angebote, aber auch diese können den User Generated Content aus den unterschiedlichsten Quellen nur bedingt kontrollieren. Hier wird es wichtig sein, inwieweit die Kommunikatoren einsichtig sind und unerwünschte Beiträge nicht veröffentlichen; die DMO sollte als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Unterstützen können bspw. Unternehmen wie urbnups ( 🔗 https: / / urbnups.com/ ), die einerseits mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) Erlebnisse an Orten gestalten und kommunizieren, andererseits aber von den Projektpartnern die Freigabe der Textbausteine fordern, damit es nicht zu Falschinformationen kommt. In der Angebotskommunikation wird es an Bedeutung gewinnen, dass die einzelnen touristischen Akteure in der Destination vernetzt sind und gemeinsame Angebote zielgrup‐ penspezifisch, mehrwertstiftend und treffsicher über die relevanten Mediakanäle an die Zielgruppe(n) herantragen können. Dabei können sie sich gegenseitig überprüfen, so dass keine fehlerhaften Informationen kommuniziert werden. Unterstützt wird diese Aufgabe durch Smart City-/ Smart Destination-Prozesse, die derzeit in vielen Kommunen umgesetzt, zumindest aber angestoßen werden. Neben neuen Lebensraumkonzepten mit dem Neben‐ Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? 101 <?page no="102"?> einander von bspw. Wohnen und Tourismus, Kultur und Arbeiten, wird die Zufriedenheit aller Stakeholder in bereisten Gebieten ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Zukunft sein. Dabei werden zunehmend alternative (nachhaltige) Verkehrskonzepte sowie eine neue Mobilität auch der Reisenden gefordert. Das sich daraus ergebende Mobilitätsmanagement sollte idealerweise in Kooperation mit den örtlichen Verkehrsbetrieben erfolgen (Berndt & Dobmann 2023, S.-259). 3.3 Modellierung strategischer Aufgaben Der Wandel von der Destinationswahrnehmung hin zur produktspezifischen, ausstattungs‐ basierten Reiseentscheidung anhand besonderer Special Interest Angebote wird zuneh‐ mend von den Leistungsträgern, aber auch durch die Verbreitung von User Generated Content erreicht. Dazu wird vor allem die Funktionsweise der sozialen Medien und deren hauptsächlichen Nutzergruppen betrachtet sowie der Einfluss von KI thematisiert, da diese in der Zukunft die Auswahl der Zielgruppe, aber auch das Design der zielgruppenspezifi‐ schen Produktinhalte generieren kann (Hammerschmidt & Kimpflinger 2023). Gleichzeitig muss eine DMO sich mit neuen Aufgaben auseinandersetzen, bspw. müssen Beteiligungs‐ prozesse für alle relevanten Stakeholder ausgearbeitet und umgesetzt werden, genauso wie das zur Verfügungstellen einer entsprechenden Dateninfrastruktur und Kontrollme‐ chanismen bezogen auf fehlerhafte Informationen, solange diese im Zuständigkeitsbereich liegen. Bei den Basisstrategien der Marktabdeckung (→ Abbildung 4), die seit geraumer Zeit im Marketing Anwendung finden (z. B. Kotler, Keller & Opresnik 2017, S. 333-335), ist aus der Perspektive einer DMO sehr schnell zu erkennen, dass zunehmend die Diversifikation aufgrund von Special Interest Angeboten im Vordergrund der Kommunikation stehen wird. Aber eine multiple, selektive Spezialisierung (→ Abbildung 5) wird schnell dazu führen, dass die Aufgabe „Marktbearbeitung“ von den Leistungsträgern selbst übernommen werden muss, da die Kapazitäten der DMO an ihre Grenzen stoßen werden. Jeder Leis‐ tungsträger wird seine Zielgruppen sehr spezifisch und individuell ansprechen, was dazu führt, dass hier eine enge Bindung aufgebaut werden kann; die Kommunikation von Special Interest Erlebnissen führt dazu, dass die Aufmerksamkeit der Gäste auf sehr individuelle Angebote gelenkt werden kann. Insbesondere, wenn zunehmend weitere Aufgabe im Zusammenhang mit Lebensraummanagement zu übernehmen sind, wird die DMO nicht mehr die Kapazität haben, Nischenprodukte und -zielgruppen in einem Maße erfolgversprechend ansprechen zu können, wie es eine dezentrale Kommunikation ermöglicht. In dieser Situation kann die DMO (umgangssprachlich oft „die Destination“) nicht mehr den Erwartungen der einzelnen Leistungsträger gerecht werden, da deren Anforderungen zu unterschiedlich sind. 102 Knut Scherhag <?page no="103"?> P4 P3 P2 P1 M1 M2 M3 M4 Product-/ Market concentration Niche strategy P4 P3 P2 P1 M1 M2 M3 M4 Full Product-/ Market covering P4 P3 P2 P1 M1 M2 M3 M4 Market specialisation P4 P3 P2 P1 M1 M2 M3 M4 Product specialisierung P4 P3 P2 P1 M1 M2 M3 M4 Diversification selective specialisation P x = Product X M y = Market Y Abbildung 4: Basisstrategien der Marktabdeckung | Quelle: z.B Kotler & Bliemel 1995; Freyer 211, S.-391 P4 P3 P2 P1 M1 M2 M3 M4 P x = Product X M y = Market Y P5 P6 P7 P8 M5 M6 M7 M8 Abbildung 5: Special Interest Produkte in der Marktbearbeitung von Stakeholdern einer Destination | Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Kotler & Bliemel 1995 Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? 103 <?page no="104"?> Aufgaben im Kontext des Lebensraummanagements kann die DMO weiterhin als „Für‐ sprecher“ touristischer Anforderungen und Themen wahrnehmen und den Fokus nach innen, auf die Bedarfe der Stakeholder in der Destination, richten. Mit Instrumenten des Binnenmarketings können diese themen-, aber auch kompetenzbezogen vernetzt werden und so für die Special Interest Zielgruppen unmittelbarer erkennbar sein. Weitere Ansätze zur Zusammenarbeit in Destinationen weiten den organisatorischen Aufwand weiter aus; bspw. wird mit dem Ansatz der Leisure Sharing Economy (vgl. Kasten) versucht, die Bewohner in Städten und Destinationen mit ihren individuellen Freizeitmöglichkeiten in das touristische Angebot einzubinden. Neben rechtlichen Fragen (z. B. Versicherung, Steuern) ist unklar, wie sich das Angebot in den Destinationsauftritt einbinden lässt, um dem Gast einen Überblick zu vermitteln. Es ist davon auszugehen, dass Individuen profitieren werden, die Gemeinschaft aber eher nicht. Die Individualegoismen sind nach wie vor zu stark gegenüber einer gemeinsamen Problemlösung oder eines kooperativen Engagements, was zur Förderung von Resilienz von Bedeutung wäre. Leisure Sharing Economy Leisure Sharing Economy bedeutet, dass Menschen ihre Haushalts- und Freizeitres‐ sourcen mit anderen teilen oder vermieten. Das können Dinge sein wie ihre Zeit, Fähig‐ keiten, Erfahrungen, Ausrüstung oder sogar Teile/ Flächen ihres Hauses zur privaten Freizeitnutzung. Es ist ähnlich wie bei Carsharing, wo Menschen ihre Autos teilen, oder beim Vermieten von Wohnungen. Bei der Leisure Sharing Economy geht es jedoch um weitere Aspekte des (An-)Mietens von Gütern, Flächen und der Einheimischen selbst im Kontext von Freizeitaktivitäten, Erlebnissen und kultureller Interaktion. In der Leisure Sharing Economy können Menschen ihre Ressourcen Gästen anbieten oder durch diese mitnutzen lassen. Zum Beispiel können sie ihre Sportausrüstung wie Fahrräder, Ski oder Kajaks vermieten. Sie können auch Outdoor-Aktivitäten wie geführte Wanderungen oder Klettertouren organisieren oder ihre Fähigkeiten und Kenntnisse für kreative oder kulturelle Aktivitäten teilen. (Quelle: Einleitung zum Fragebogen „Expertenbefragung zur Leisure Sharing Economy“ auf 🔗 https: / / www.surveymonkey.de/ r/ 987J9NC) Vorstehend wurde das Projekt FLOW.NRW bereits beschrieben. In dessen Rahmen wollen Tourismus NRW e. V. sowie die Projektpartner neue Wege gehen und ihre Aufgabe als DMO neugestalten. Kern des Projekts bildet die Marke urbanana; im Folgenden wird FLOW.NRW, der offizielle Projektname, textlich ebenfalls als urbanana dargestellt. Zielgruppen des Projekts urbanana sind die folgenden (Hiltermann et al. 2023, S.-6f.): • „Bewohner: innen, Touristen: innen • Internationale Studierende in NRW • Expats • Akteur: innen der urbanen Szene & Expats • Vertreter: innen der Digital-, Kreativ- und Tourismuswirtschaft“ 104 Knut Scherhag <?page no="105"?> Alleine aus der Darstellung dieser Zielgruppen wird deutlich, dass nicht mehr die klassi‐ schen Aufgaben einer DMO im Vordergrund stehen können, sondern weitere Aufgaben hinzukommen. Für diese wird es notwendig sein, dass die DMO über qualifiziertes Personal verfügt, das diese Aufgabenfelder erfüllen kann; das eigentliche touristische Aufgabenspek‐ trum wird zunehmend aus dem Tätigkeitsfokus genommen. Dies führt dann zwangsläufig dazu, dass diese von anderen Organisationen oder auch durch die Leistungsträger selbst bewältigt werden müssen; sofern dies nicht möglich ist gänzlich wegfallen. 4 Schlussbemerkung Eine realistische Umsetzung der vorstehend thematisierten neuen/ zusätzlichen Aufgaben bzw. eine Veränderung des Tätigkeitsfeldes einer DMO wird noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen, auch wenn in einzelnen Kommunen erste Schritte erkennbar sind. Es wurde in diesem Beitrag daher auch keine modellhafte Destination skizziert, sondern der Versuch formuliert, wie ein Nebeneinander von touristischen Unternehmen, die auf eine zumindest stabile Besucherzahl angewiesen sind, Bewohner von Regionen mit deren Anforderungen an ihren Lebensraum und auch eine Berücksichtigung nachhaltiger Konzepte gelingen kann. Dazu scheint das Aufgabenspektrum einer DMO überarbeitet werden zu müssen und veränderte Prioritäten im Umgang mit diesen Aufgaben müssen definiert und gefestigt werden. Gleichzeitig ist über die berufliche Ausbildung der Mitarbeitenden nachzudenken, da mit neuen Aufgaben auch neue Kompetenzen gefordert werden. Dies wird zu einem Umdenken im Zusammenhang mit der Stellenstruktur in einer DMO führen müssen. Einige der zukünftigen Herausforderungen für eine DMO werden bereits diskutiert, vor allem im Zusammenhang mit Digitalisierung und der Gestaltung vernetzter Strukturen; der Wegfall bisheriger Aufgaben (z.-B. Gästewerbung und -vermittlung) wird bisher nur zögerlich betrachtet, da hiervon unter anderem das bisherige Personal in einer DMO betroffen sein kann. Soziale Medien sind nicht steuerbar und entziehen sich daher dem koordinierten Zugriff der DMO; bestenfalls hat sie einen Überblick über die eigenen Posts, keinesfalls aber über die Kommunikation in den sozialen Medien der Leistungsträger (siehe den Beitrag von Brittner-Widmann). Veränderte Suchroutinen und eine sich wandelnde Reisezielwahr‐ nehmung spielen eine wichtige Rolle bei der Kundenansprache und verändern sich im Zeitverlauf kontinuierlich. Es kommt zunehmend zu spontanen Reise- und Ausflugsentscheidungen, eine langfris‐ tige Kundenansprache erscheint daher aus Kosten-/ Nutzenüberlegungen wenig erfolgver‐ sprechend zu sein. Vielmehr muss mit direkt buchbaren Erlebnissen gearbeitet werden. Die Multioptionalität der Reisenden trägt dazu bei, dass eine Zielgruppenzuordnung nur noch temporär erfolgen kann; die dazu notwendigen Informationen und Zielgruppenbe‐ schreibungen befinden sich ebenfalls in einem kontinuierlichen Wandel. Darüber hinaus sind die potenziellen Gäste - je nach Situation - in mehreren Zielgruppen zu finden, je nach Intention, die mit der zukünftigen Reise verbunden wird. In der Folge werden Special Interest Produkte verstärkt nachgefragt, da diese eine spezifische Reisemotivation spontan befriedigen können und ein neues Erlebnis versprechen. Die Leistungsträger wiederum sind somit in der Pflicht, entsprechende zielgruppenspezifische Nischenprodukte zu erstellen, Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? 105 <?page no="106"?> die der spezifischen, spontanen Nachfrage gerecht werden können und den Erlebnischa‐ rakter des Angebotes kommuniziert (Gardini & Sommer 2023, S.-6). Destinationsmanagement verlagert sich hin zu einer Steuerung der Leistungsträger und Koordination der Bewohnermeinungen, was bedeutet, dass die Entwicklung einer regio‐ nalen Identität - die auch von Gästen wahrgenommen werden kann - eine zentrale Aufgabe wird. Denn die sozialen Tragfähigkeitsgrenzen werden zunehmend in den Reisezielen, vor allem im Städtetourismus, erreicht, was besonders in den Wohnregionen zu einer „Tourismusmüdigkeit“ führen kann (siehe den Beitrag von Seeler et al.). Zunehmend wird die Aufgabe des Nachhaltigkeitsmanagements in die DMO integriert, was im Konzept der Smart Destination ein wichtiger Faktor ist (Scherhag & Kurz 2023, S. 320). Gleichzeitig muss aber darauf hingewiesen werden, dass derartige Aufgaben meist ohne eine Durchsetzungskompetenz erfüllt werden sollen, da gegenüber den an der Produktion touristi‐ scher Angebote beteiligter Unternehmen keine Weisungsbefugnis besteht - eine solche kann bestenfalls durch den Gesetzgeber formuliert werden, was wiederum ein langer Weg ist. Im Zuge der Nachhaltigkeitsdiskussion gewinnt die Nutzung nachhaltiger Verkehrsmittel an Bedeutung, wodurch die Wahrnehmung der Verkehrsplanung ebenfalls an Wichtigkeit für die touristische Angebotsgestaltung in Reisezielen gewinnt (siehe den Beitrag von Beelitz & Braitmayer). Das Management von Touristenströmen wird im Zusammenhang mit der Digitalisierung immer häufiger als Aufgabe einer DMO angesehen; allerdings besteht hier ebenfalls nur eine bedingte Durchsetzungskompetenz, da die individuelle Angebotsgestaltung durch Leistungsträger nicht unterbunden, bzw. koordiniert werden kann. Das spezifische Erlebnis wird nach wie vor durch die Anbieter über die eigenen Kommunikationswege angeboten. Es bleibt abzuwarten, wie die Aufgaben einer DMO in Zukunft neu gestaltet und welche Kompetenzen damit verbunden sein werden; gleichzeitig kann die Frage, ob es zu einem Paradigmenwechsel in der Aufstellung einer DMO kommen wird, nicht generell beant‐ wortet werden. Die Besonderheiten der einzelnen touristischen Destinationen werden bei der Aufgabenformulierung weiterhin eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Trotz allem lässt der Fokus auf Smart Destination einen Wandel erwarten, sollte diese Entwicklung konsequent umgesetzt werden. Kontakt Knut Scherhag, HS Worms | scherhag@hs-worms.de Quellen Bad Dürkheim. (2021). Besucherampel. https: / / www.bad-duerkheim.de/ kultur-tourismus/ kur-welln ess/ salinarium-freizeitbad-und-sauna/ . Zugegriffen am 03.10.2021. Baker, B. 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Bloggerwandern Rheinland-Pfalz 2023: Die Teilnehmer stehen fest. online im Internet (Stand 27.09.2023): https: / / rlp.tourismusnetzwerk.info/ 2023/ 04/ 11/ 10-bloggerwander n-rheinland-pfalz-2023-die-teilnehmer-stehen-fest/ Kaspar, C. (1996): Die Tourismuslehre im Grundriss. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 5. Auflage Kotler, P. & Bliemel, F. (1995): Marketing Management Folienvorlagen. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 8. Auflage Paradigmenwechsel im Destinationsmanagement? 107 <?page no="108"?> Kotler, P., Keller, K. L. & Opresnik, M. O. (2017): Marketing-Management - Konzepte-Instrumente- Unternehmensfallstudien. München: Pearson, 15. Auflage Kuhn, T. S. (1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp Morgan, N., Pritchard, A. & Pride, R. (2010): Destination Branding: Creating the unique Destination proposition, Amsterdam et al.: Elsevier 2nd rev. Ed. o. V. (2020): Nationalpark Berchtesgaden will Gumpen am Königsbach sperren. 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Hierzu erfolgte eine zeitliche Längsschnittuntersuchung basierend auf Daten der DestinationBrand-Studienreihe. Für 25 verschiedene Urlaubsaktivitäten wird vergleichend aufgezeigt, ob ein wachsendes, stagnierendes oder schrumpfendes In‐ teressentenpotenzial auf dem deutschen Markt vorliegt. Inwiefern es durch die Covid-19 Pandemie zu verändertem Reiseverhalten gekommen ist, steht nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, Beeinflussungseffekte können aber nicht ausgeschlossen werden. Der wissenschaftliche Mehrwert des Beitrags liegt in der vergleichenden Anlage der Untersuchung für einen Zeitraum von 2013 bis 2022; die praktische Relevanz ergibt sich aus der Bedeutung des Markt- und Nachfragepotenzials von Urlaubsaktivitäten als Kriterium der im Rahmen der Wettbewerbspositionierung der Destination notwendigen Themenselektion. 1 Theoretische Einordnung und Relevanz der Untersuchung Hinsichtlich der Planung, Erstellung und Vermarktung des touristischen Leistungspro‐ gramms können Destinationen als „strategische Netzwerke co-produzierender rechtlich selbständiger und zugleich zu einem gewissen Grad wirtschaftlich interdependenter Ak‐ teure angesehen werden, die das Ziel der Realisierung von Wettbewerbsvorteilen verfolgen“ (Eisenstein & Koch 2015, S. 12). Um diesem Ziel näher zu kommen, ist aufgrund der Komplementarität- und Interdependenz der Einzelbestandteile des Destinationsleistungs‐ bündels eine interorganisationale Zusammenarbeit unumgänglich (Tschiderer 1980, S. 25ff; Eisenstein 2014, S. 109ff). Die kooperative Koordination eröffnet der Destination additive <?page no="110"?> 1 Nach Eisenstein 2018, S. 75 mit Bezug auch auf Haedrich 2001, S. 42 und auf Haedrich & Tomczak 1996, S.-134, leicht verändert. Kompetenzen und Handlungsspielräume, die über diejenigen einzelner Unternehmen und Akteure hinausgehen (Fischer 2009, S.-138; Fuchs 2013, S.-87). Um das Leistungsbündel der Destination erfolgreich am Markt positionieren zu können, müssen u. a. drei Voraussetzungen erfüllt werden: Das Leistungsbündel (respektive der Produktmix) muss zunächst bereitgestellt, es muss zweitens an die dynamischen Marktbe‐ dingungen angepasst und es muss schließlich kommuniziert werden (Wöhler 1997, S. 18). Die Bereitstellung, Marktanpassung und Kommunikation der durch Vernetzung zu einem abgestimmten Leistungsbündel koordinierten Einzelprodukte sollten auf der Basis einer die Destination umfassenden zielgerichteten touristischen Planung erfolgen: Insofern sich die in der Destination Beteiligten auf eine gemeinsame Destinationsentwicklung ausrichten, die auf einer breit akzeptierten Wettbewerbspositionierung der Destination basiert, können sich Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenzdestinationen aufbauen lassen (Eisenstein 2021, S.-380) 1 . Dabei steht die Destination - in Verbindung mit dem sich seit den 1990er Jahren intensivierenden Wettbewerb der Reiseziele (Keller & Koch 1995, S.-16ff; Kozak & Baloglu 2011, S. 9), der allgemeinen und branchenspezifischen Informationsflut (Esch 2014, S. 25; Pott 2007, S. 180) und den Tendenzen zur Homogenisierung touristischer Angebotselemente (Morgan, Pritchard & Piggott 2002, S. 335; Trasser 2006, S. 226) - vor der Beantwortung folgender Fragestellung: „Wie kann die Destination im Rückgriff auf spezifische Ressourcen und Fähigkeiten mittels eines differenzierenden Nutzenversprechens bei touristischen Ziel‐ gruppen ausreichender Größe eine dauerhafte Präferenz im Vergleich zu konkurrierenden Reisezielen erlangen? “ (Eisenstein 2021, S.-380). Aus der Beantwortung dieser Frage ergibt sich die (Ziel-)Positionierung der Destination inklusive eines (bestenfalls differenzierenden) Nutzenversprechens an die touristische Nachfrage (Burmann, Schade & Müller 2014, S. 282). Mittels des für den Destinationsmar‐ kenaufbau essenziellen Nutzenversprechens (Eisenstein 2022, S. 86) und über das daraufhin ausgerichtete Destinationsmarketing werden Bedürfnisbefriedigung versprechende Erwar‐ tungshaltungen der Touristen an die Destination aufgebaut. Diese können umso besser erfüllt werden, je besser die komplementären und interdependenten Einzelbestandteile des Destinationsleistungsbündels darauf - und aufeinander - abgestimmt sind. Dabei wendet sich die Destination gemäß der obigen Fragestellung mit spezifischen Ressourcen an ausge‐ wählte Zielgruppen. Durch die Definition von Verknüpfungen aus Angeboten bestimmter Urlaubsaktivitäten bzw. -themen, die die entsprechenden Ressourcen und Fähigkeiten der Destination widerspiegeln, und potenziellen touristischen Marktsegmenten ergeben sich Themen-Zielgruppenkombinationen (→ Abbildung 1), die als strategische Geschäftsfelder (SGF) der Destination benannt werden können. Im Rahmen der Wettbewerbspositionierung der Destination und der Ausrichtung des strategischen Destinationsmarketings muss es folglich nicht nur zu einer Priorisierung und Fokussierung auf die chancenreichsten Zielgruppen, sondern auch zu einer Selektion und Konzentration auf die potenzialträchtigsten Themen der Destination kommen. Diese Themen zielen oftmals auf Urlaubsaktivitäten ab. Die Möglichkeiten bei der 110 Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler <?page no="111"?> 2 In der Praxis u. a. als „themenspezifische Urlaubswelten“ (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Ge‐ sundheit Mecklenburg-Vorpommern 2022, S. 26) oder als auf Themen basierende „Produktmarken“ (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg 2021, S. 50ff) tituliert. Teilweise wird auch zwischen „Profilthemen“ und „Ergänzungsthemen“ (siehe z. B. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Verkehr des Landes Saarland 2015, S. 14) bzw. zwischen Auswahl der Themen zur Positionierung des Leistungsbündels der Destination sind in der Regel begrenzt, weil die in der Destination vorhandenen Fähigkeiten, Ressourcen und Produktionsfaktoren die diesbezüglichen Entfaltungsmöglichkeiten der Destination limitieren. Möglichkeit zur Themenansprache weniger gut durchschnittlich sehr gut Themen-Portfolio Baden-Württemberg ZG 1 ZG 2 ZG 3 ZG 4 ZG 5 Marktanteil deutsche Urlaubsreisende gesamt Baden-Württemberg Urlaubsreisende 2020/ 2021 28% 27% 5% 6% 14% 22% 6% 6% 14% 12% Kulinarik Natur Wandern Landurlaub Wein (Klein-)städtisches Flair Städtereise Schlösser & Gärten Kultur Wellness Familien Sport Rad fahren UNESCO Nachhaltiger Urlaub Abbildung 1: Beispiel für eine Matrix mit Themen-Zielgruppenkombinationen (als Ergebnis einer zuvor durchgeführten Nutzwertanalyse) als Instrument zur Entscheidungsunterstützung bei der im Rahmen der Destinationspositionierung zu treffenden Auswahl von zu priorisierenden Themen (hier für Baden-Württemberg 2023) | Quelle: Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg und Deutsches Institut für Tourismusforschung 2023 mit Bezug auf inspektour (international) GmbH 2022 In der Praxis werden zumeist zunächst die thematischen Fokusse festgelegt 2 , um anschlie‐ ßend die diesbezüglichen Chancen zur Erschließung verschiedener Marktsegmente zu definieren (siehe z. B. Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Nachfragepotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten 111 <?page no="112"?> „Kernthemen“ und „Entwicklungsthemen“ (siehe z. B. Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus Schleswig-Holstein 2021, S.-40ff) differenziert. 3 Dass es durchaus sinnvoll sein kann, den Sinus- und den BeST-Ansatz zu kombinieren, zeigen Seeler et al. (2023, S.-99ff). Tourismus Schleswig-Holstein 2021, S. 40ff; Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Verkehr des Landes Saarland 2015, S. 14f). Dabei ist es aus theoretischer Perspektive nachrangig, ob das methodische Vorgehen bei der praktischen Anwendung als „Themen‐ orientiertes Zielgruppenmarketing“ (Wendling 2023, o. S.) oder als „Zielgruppenorientiertes Themenmarketing“ (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württem‐ berg 2021, S. 39) bezeichnet wird; entscheidend bleibt, dass die kombinierte Betrachtung der Angebots- und Nachfrageperspektive je Geschäftsfeld als state of the art im Allgemeinen (Meffert, Burmann & Kirchgeorg 2015, S. 248ff) wie auch im Speziellen - d. h. auf die Destinationspositionierung bezogen (Köchling, Eisenstein & Koch 2015, S. 177) - anerkannt wird. Die Selektion der für die Destination erfolgversprechenden Zielgruppen kann dabei auf Basis destinationsunabhängiger Marktsegmentierungsmodelle wie den Sinus-Milieus (siehe beispielsweise Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen 2019, S. 32ff) oder der BeST-Urlaubertypologie (siehe beispielsweise Seeler 2022, S. 7ff; Seeler et al. 2023, S. 99ff) 3 erfolgen. Für die Auswahl der potentialträchtigsten Themen kann beispielsweise eine auf mehreren Kriterien beruhende, datengestützte Nutzwertanalyse genutzt werden. Hierbei können neben destinationsunab‐ hängigen auch spezifisch auf die Destination bezogene Kriterien mit jeweiligem Themen‐ bezug Berücksichtigung finden (siehe beispielsweise Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg 2021, S.-44). Eines der Kriterien, auf das in der Regel im Rahmen der Nutzwertanalyse bezüglich der Themenselektion zurückgegriffen wird, ist das Kriterium der Marktgröße (siehe z. B. Minis‐ terium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg 2021, S. 44; Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Verkehr des Landes Saarland 2015, S. 15). Dieses lässt sich mittels der Menge der an der Urlaubsaktivität Interessierten beziffern (→ Abbildung 2). Die zeitliche Entwicklung der themenbezogenen Interessentenpotenziale ist daher für die Abschätzung des Nachfragepotentials von Relevanz und unterstützt bei der Überprüfung, Neuausrichtung und Weiterentwicklung der strategischen Wettbewerbspositionierung im Destinationsmanagement. 112 Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler <?page no="113"?> 4 „Die Entwicklung der DestinationBrand-Studienreihe erfolgte in den Jahren 2008/ 09 im Rahmen eines Forschungsprojekts des DITF (ehemals IMT) der FH Westküste, worauf die erste Destination‐ Brand-Studie im Frühjahr 2009 implementiert wurde. Seit 2014 wird die Studienreihe durch die inspektour GmbH durchgeführt und weiterentwickelt“ (Koch & Trimborn 2022, S.-224). Analyse-Quadrant Pfalz > Kategorie für relative Wettbewerbsplatzierung: Alle untersuchten Destinationen (bis zu 171 Reiseziele je Thema)  Pfalz Quellmarkt: Deutschland Basis: Alle Befragte Anzahl der Befragten: 1.000 Analyse-Quadrant Kulinarik Kultur Natur Sport Städtereise Familien Mountainbike Rad fahren Wandern Weinreise 0% 20% 40% 60% Interessentenpotenzial je Thema (Top-Two-Box) niedrig durchschnittlich hoch Relative Wettbewerbsplatzierung 80% Anmerkungen: ► Größe der Themenkreise = Gestützte Themeneignung des Reiseziels Pfalz ► Letzte berücksichtigte Erhebung im Oktober bis Dezember 2021 Untersuchte Themen für die Destination Pfalz Abbildung 2: Beispiel für die Nutzung des Kriteriums „Interessentenpotenzial“ im Rahmen eines Analysequadranten als Instrument zur Entscheidungsunterstützung bezüglich der zur Destinations‐ positionierung zu treffenden Auswahl von zu priorisierenden Themen (hier Pfalz 2021) | Quelle: Pfalz.Touristik e.-V. 2022, S.-33, mit Bezug auf inspektour (international) GmbH 2022 2 Die Sekundärquelle: Die DestinationBrand-Studienreihe Seit dem Jahr 2009 4 stellt die DestinationBrand-Studienreihe jährlich Informationen zur nachfrageseitigen Wahrnehmung von über 130 Destinationen in Deutschland zur Verfü‐ gung (Koch & Trimborn 2022, S. 224; Eisenstein, Heubeck & Müller 2009). Die Studienreihe befriedigt damit die in der Praxis deutlich gestiegenen Informationsbedürfnisse bezüglich der nachfrageseitigen Wahrnehmung von Reisezielen im Rahmen der Imagepflege, der Markenführung und des Reputationsmanagements von Destinationen. Dabei bildet das Konzept der identitätsbasierten Markenführung das theoretische Fundament der Studien‐ reihe (Koch & Trimborn 2022, S.-221ff; Eisenstein et al. 2017, S.-267ff). Die im Rahmen der Studienreihe in Deutschland durchgeführten Onlinebefragungen sind für die in Privathaushalten lebende, deutschsprachige Online-Bevölkerung im Alter Nachfragepotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten 113 <?page no="114"?> 5 „Das Interessentenpotenzial wird anhand des prozentualen Anteils der Top-Two-Box auf einer Skala von „5 = sehr großes Interesse“ bis „1 = gar kein Interesse“ gemessen“ (Eisenstein et al. 2017, S. 276). Die Fragestellung lautet: „In der folgenden Frage geht es um Ihr allgemeines Interesse an Urlaubs‐ aktivitäten, d. h. unabhängig von einem bestimmten Reiseziel. Wie groß ist Ihr Interesse, in Ihrem Urlaub mit mindestens einer Übernachtung folgenden Aktivitäten nachzugehen? “ (inspektour (international) GmbH und DI Tourismusforschung (2020)). 6 Dies führt mitunter zu sehr geringen Schwankungsintervallen (beispielsweise liegen diese bei einer Stichprobengröße von 10.000 unter einem Prozentpunkt). 7 Beispielsweise für die Urlaubsaktivität „Gärten und Parks besuchen“ (Eisenstein & Dornheim 2022, S.-259ff) oder die Urlaubsaktivität „Wandern“ (Eilzer & Harms 2019, S.-33ff). von 14 bis 74 Jahren repräsentativ (Koch & Trimborn 2022, S. 225). Die Studienreihe besteht aus drei jährlich wechselnden Einzelstudien mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten. Gemäß Koch & Trimborn (2022, S.-224f) handelt es sich dabei um: • „Studie 1 „Markenstudie“: Destinationsmarkenvierklang (Bekanntheit, Sympathie, Besuchsbereitschaft, Nutzung/ persönliche Bindung) • Studie 2 „Themenstudie“: Themenkompetenz der Destinationsmarke • Studie 3 „Profilstudie“: Eigenschaften der Destinationsmarke.“ Im Jahr 2023 wurde erstmals eine Erweiterung hin zu einem vierten Teil der Studienreihe (Studie 4 „Tourismus- und Lebensraumstudie“) durchgeführt, die u. a. auf Angebotsbeur‐ teilungen sowie Elemente der Lebensqualität und Willkommenskultur abzielt (Koch 2024b). Zudem wurden auf dem deutschen Quellmarkt bereits mehrfach die (destinationsunab‐ hängigen) Interessentenpotenziale für unterschiedliche Urlaubsthemen und Urlaubsakti‐ vitäten gemessen 5 (inspektour (international) GmbH 2023d), wobei die repräsentativen Stichproben teilweise eine sehr hohe Fallzahl erreichten 6 (Koch & Trimborn 2022, S. 225; → Abbildung 3). Im Jahr 2022 wurden 39 Urlaubsaktivitäten in einer Stichprobe von 15.000 Probanden untersucht (inspektour (international) GmbH 2023b). Erhebungsjahr Stichprobengröße 2013 11.000 2016 17.000 2019 4.000 2022 15.000 Abbildung 3: Erhebungsjahre und Stichprobengrößen (Interessentenpotenziale im Quellmarkt Deutschland) | Quelle: Koch 2024a Um die zeitliche Entwicklung der Interessentenpotenziale unterschiedlicher Urlaubsakti‐ vitäten zu ermitteln, wurden ausgewählte Daten der DestinationBrand-Studienreihe aus den Jahren 2013 bis 2022 erstmals umfänglich und vergleichend analysiert. Zwar liegen bereits für einzelne Urlaubsthemen und -aktivitäten Analysen und Publikationen auf Basis von Daten der DestinationBrand-Studienreihe vor 7 , doch wird im Rahmen der vorliegenden 114 Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler <?page no="115"?> Analysen erstmals die zeitliche Entwicklung der Interessentenpotenziale verschiedener Urlaubsaktivitäten vergleichend gegenübergestellt, so dass wachsende und schrumpfende Nachfragepotenziale einer relativen Betrachtung unterzogen werden können. Die gesamte Studienreihe hält mittlerweile Daten zum Interessentenpotenzial von über 50 unterschied‐ lichen Urlaubsthemen und Urlaubsaktivitäten vor. Allerdings wurden • verschiedene Urlaubsaktivitäten nur einmalig abgefragt, sodass kein zeitlicher Verlauf dargelegt werden kann; • andere Urlaubsthemen und -aktivitäten wurden nur in den ersten Jahren der Studien‐ reihe erhoben, sodass keine zeitlich aktuellen Potenziale ausgewiesen werden können • und bei wieder anderen wurde deren Bezeichnung im Zeitverlauf geändert, sodass keine Vergleichbarkeit mehr gewährleistet ist. Nach einer diesbezüglichen Bereinigung des Aktivitäten-Portfolios standen für die vorlie‐ gende Untersuchung letztendlich 25 verschiedene Urlaubsaktivitäten zur Verfügung, deren Entwicklung über den Zeitverlauf verglichen werden konnte. Bei der Betrachtung im Zeitverlauf sind die verschiedenen Interessentenpotenziale erwartungsgemäß unterschiedlich stark gewachsen oder geschrumpft. Auch unterliegen sie einer unterschiedlichen Dynamik. Die im Folgenden angeführten relativen Veränderungen ergeben sich aus den Daten von 2013 und 2022. Um die Dynamiken während des gesamten zeitlichen Verlaufs im Zeitraum von 2013 bis 2022 detaillierter darlegen zu können, wurden in den Grafiken auch die Werte aus den Jahren 2016 und 2019 visualisiert, so dass letztendlich vier Werte im 3-Jahres-Abstand abgebildet werden können. 3 Empirische Befunde 3.1 Interessentenpotenziale im Referenzjahr 2022 Die → Abbildung 4 zeigt für das Jahr 2022 die auf dem deutschen Quellmarkt vorliegenden Interessentenpotenziale der 25 untersuchten Urlaubsaktivitäten auf. Die dargestellten Potenziale weisen dabei eine - an der Top-Two-Box (Skalenwert 5 „sehr großes Interesse“ + Skalenwert 4) gemessene - Range von 20-% bis 72-% auf. Das größte Interessentenpotenzial liegt bei der Aktivität • „Sich in der Natur aufhalten“ vor (72-%), gefolgt von • „Kulinarische/ gastronomische Spezialitäten genießen“ (67-%), • „Baden und am Strand aufhalten“ (63-%), • „Städtereise unternehmen“ (60-%) und • „Burgen, Schlösser & Dome besuchen“ (55-%). Die geringsten Potenziale unter den untersuchten Themen weisen • „Campingurlaub/ Caravaningurlaub/ Reisemobilurlaub machen“ (28-%), • „Angebote zur Industriekultur besuchen (z. B. Fabriken, Zechen, Industriekulturmu‐ seen)“ (27-%), • „Wassersport ausüben (nicht Segeln)“ (25-%), • „Wintersport ausüben (z.-B. Ski fahren, Langlauf)“ (23-%) und schließlich Nachfragepotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten 115 <?page no="116"?> 8 Zur Fragestellung und Skalierung siehe Fußnote 5. • „Mountainbike fahren“ (mit lediglich 20-%) aus. DestinationBrand 22: Ranking der untersuchten Urlaubsaktivitäten zum allgemeinen Interessentenpotenzial Quellmarkt: Deutschland; Basis: Alle Befragte | Anzahl der Befragten: 15.000; Top-Two-Box auf Skala von „5 = sehr großes Interesse“ bis „1 = gar kein Interesse“ Urlaubsaktivität % der Fälle Urlaubsaktivität % der Fälle Sich in der Natur aufhalten 72% Museen / Ausstellungen / Kunstmuseen besuchen 38% Kulinarische / gastronomische Spezialitäten genießen 67% Lebendige „Szene“ erleben (z.B. trendige Shoppingviertel, Festivals, alternative Künstlerszene, lebendiges Nachtleben) 38% Baden und am Strand aufhalten 63% Events besuchen 36% Städtereise unternehmen 60% Rad fahren (nicht Mountainbike fahren) 35% Burgen, Schlösser & Dome besuchen 55% Kultur- / Musikfestivals besuchen 34% Gärten / Parks besuchen 54% Weinreise machen (z.B. Weinproben, Weinfeste besuchen, Weinbergwanderungen, Teilnahme an der Weinlese) 31% Sich aktiv im und am Wasser aufhalten 52% Gesundheitsangebote nutzen (selbstzahlend, nicht Kur) 29% Wandern 47% Campingurlaub / Caravaningurlaub / Reisemobilurlaub machen 28% Wellnessangebote nutzen 47% Angebote zur Industriekultur besuchen (z.B. Fabriken, Zechen, Industriekulturmuseen) 27% Kulturelle Einrichtungen besuchen / Kulturangebote nutzen 42% Wassersport ausüben (nicht Segeln) 25% Shoppingmöglichkeiten nutzen 41% Wintersport ausüben (z.B. Ski fahren, Langlauf) 23% UNESCO Welterbestätten besuchen 41% Mountainbike fahren 20% Urlaub auf dem Lande verbringen (z.B. auf dem Bauernbzw. Winzerhof) 39% Abbildung 4: Interessentenpotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten im deutschen Quellmarkt (Angaben des Top-Two-Box-Anteils) 8 | Quelle: inspektour (international) GmbH 2023b 3.2 Entwicklung der Interessentenpotenziale im Zeitraum 2013-2022 Beim Vergleich der Interessentenpotenziale der Jahre 2013 und 2022 auf Basis der prozen‐ tualen Veränderungen zeigt sich, dass die höchsten Wachstumsraten bei den folgenden drei Urlaubsaktivitäten vorliegen (→ Abbildung 5, hierbei beziehen sich die Veränderungen auf indizierte Werte, das Basisjahr bildet dabei das Jahr 2013, zu berücksichtigen sind hierbei zudem die absoluten Anteile (siehe Abbildung 4)): • „Weinreise machen“ (+37,2%), • „Urlaub auf dem Lande verbringen“ (+27,3%) und • „Mountainbike fahren“ (+22,4%). 116 Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler <?page no="117"?> 106,9 134,0 137,2 100,0 95,9 127,1 127,3 96,4 110,3 122,4 80 90 100 110 120 130 140 150 2013 2016 2019 2022 Index Erhebungsjahr Weinreise machen Urlaub auf dem Lande verbringen Mountainbike fahren Abbildung 5: Indexdarstellung der drei Urlaubsaktivitäten mit dem größten relativen Wachstum des Interessentenpotenzials von 2013-2022 (2013 = 100) | Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Datenbasis inspektour (international) GmbH 2023a Relativ betrachtet sind im selben Zeitraum die Interessentenpotenziale bei den folgenden Aktivitäten am stärksten gesunken (→-Abbildung 6): • „Rad fahren (nicht Mountainbike fahren)“ (-12,9%), • „Sich aktiv im und am Wasser aufhalten“ (-9,9%) sowie • „Events besuchen“ (-8,6%). 100,0 92,6 92,0 91,4 83,1 83,9 90,1 88,6 83,7 87,1 70 80 90 100 110 2013 2016 2019 2022 Index Erhebungsjahr Events besuchen Sich aktiv im und am Wasser aufhalten Rad fahren (nicht Mountainbike fahren) Abbildung 6: Indexdarstellung der drei Urlaubsaktivitäten mit dem größten relativen Rückgang des Interessentenpotenzials von 2013-2022 (2013 = 100) | Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Datenbasis inspektour (international) GmbH 2023a Die → Abbildung 7 zeigt die relativen Veränderungsraten der Interessentenpotenziale der untersuchten Urlaubsaktivitäten im Vergleich der Erhebungsjahre 2013 und 2022 . Es wird deutlich, dass 15 der 25 untersuchten Urlaubsreiseaktivitäten eine positive Entwicklung aufzeigen, während das Interessentenpotential bei zehn Themen gesunken ist. In Ergänzung zu den oben angeführten Top-3 („Weinreise machen“, „Urlaub auf dem Lande verbringen“ und „Mountainbike fahren“) sind auch die Urlaubsaktivitäten Nachfragepotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten 117 <?page no="118"?> • „Campingurlaub, Caravaningurlaub, Reisemobilurlaub“ (+21,4%) sowie • „Angebote zur Industriekultur besuchen“ (+18,4%) durch ein außergewöhnliches Wachstum des Nachfrageinteresses gekennzeichnet. In Ergänzung zu den drei Urlaubsaktivitäten mit dem am stärksten gesunkenen Nach‐ frageinteresse („Rad fahren (nicht Mountainbike fahren)“, „Sich aktiv im und am Wasser aufhalten“ sowie „Events besuchen“) weisen auch die Urlaubsaktivitäten • „Städtereise unternehmen“ (-8,0%) sowie • „Kultur-/ Musikfestivals besuchen“ (-7,9%) deutliche Rückgänge beim Interesse auf. Es fällt darüberhinausgehend auf, dass alle drei in der Untersuchung berücksichtigten wasserorientierten Aktivitäten durch ein rückläufiges Interessentenpotenzial gekennzeichnet sind: • „Sich aktiv im und am Wasser aufhalten“ (-9,9%) • „Wassersport ausüben (nicht Segeln)“ (-6,4%) und • „Baden und am Strand aufhalten“ (-4,6%). Scheinen die wasserbezogenen Urlaubsaktivitäten einem einheitlichen Trend zu folgen, kann ein solcher bei näherer Betrachtung von - im weitesten Sinne - kulturbezogenen Urlaubsaktivitäten nicht festgestellt werden. Im Gegenteil: Während der Vergleich der Interessentenpotenziale von 2022 mit 2013 für Urlaubsaktivitäten wie • „Angebote zur Industriekultur besuchen“ (+18,4%), • „Kulinarische/ gastronomische Spezialitäten genießen“ (+7,2%), • „UNESCO Welterbestätten besuchen“ (+7,2%) und • „Burgen, Schlösser und Dome besuchen“ (+4,6%) ein Wachstum ausweist, haben die Nachfragepotenziale bezüglich der Aktivitäten • „Events besuchen“ (-8,6%), • „Städtereise unternehmen“ (-8,0%), • „Kultur-/ Musikfestivals besuchen“ (-7,9%) sowie • „Kulturelle Einrichtungen besuchen/ Kulturangebote nutzen“ (-4,0%) an Volumen eingebüßt. Darüber hinaus gibt es erste Hinweise, dass nur relativ wenige Urlaubsaktivitäten auf einem vergleichsweise stabilen Interessentenpotenzial basieren; zu nennen wären hier vier Aktivitäten, die alle nur relativ geringe Veränderungsraten beim Vergleich der Werte von 2013 und 2022 aufweisen: • „Museen/ Ausstellungen/ Kunstmuseen besuchen“ (+0,6%), • „Lebendige „Szene“ erleben“ (+1,8%), • „Wintersport ausüben (z.-B. Ski fahren, Langlauf)“ (-1,8%) und • „Sich in der Natur aufhalten“ (+1,9%). Inwieweit sich bei den Potenzialen dieser Urlaubsaktivitäten innerhalb des Zeitraums von 2013 und 2022 eine Dynamik entfaltet hat, wird in 3.3 näher geprüft. 118 Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler <?page no="119"?> 87,1 90,1 91,4 92,0 92,193,695,4 96,0 96,398,2 100,6 101,8 101,9 104,6 107,2 107,2 109,9 111,0 112,2114,4 118,4 121,4 122,4 127,3 137,2 80 90 100 110 120 130 140 Rad fahren (nicht Mountainbike fahren) Sich aktiv im und am Wasser aufhalten Events besuchen Städtereise unternehmen Kultur- / Musikfestivals besuchen Wassersport ausüben (nicht Segeln) Baden und am Strand aufhalten Kulturelle Einrichtungen besuchen / Kulturangebote nutzen Wellnessangebote nutzen Wintersport ausüben Museen / Ausstellungen / Kunstmuseen besuchen Lebendige „Szene“ erleben Sich in der Natur aufhalten Burgen, Schlösser & Dome besuchen UNESCO Welterbestätten besuchen Kulinarische / gastronomische Spezialitäten genießen Gesundheitsangebote nutzen (selbstzahlend, nicht Kur) Wandern Gärten / Parks besuchen Shoppingmöglichkeiten nutzen Angebote zur Industriekultur besuchen Campingurlaub / Caravaningurlaub / Reisemobilurlaub machen Mountainbike fahren Urlaub auf dem Lande verbringen Weinreise machen Index Abbildung 7: Veränderung der Interessentenpotenziale als Indexwerte von 2013-2022 (2013 = 100) | Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Datenbasis inspektour (international) GmbH 2023a Nachfragepotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten 119 <?page no="120"?> 9 Ausgewiesen als jeweilige Top-Two-Box-Anteile in %. 3.3 Stabilität und Dynamik der Interessentenpotenziale im Zeitraum 2013- 2022 Bei der Betrachtung der Interessentenpotenziale der verschiedenen Urlaubsaktivitäten im Zeitverlauf wird ebenso deutlich, dass diese sich bezüglich ihrer Entwicklungsdynamik unterscheiden. Bereits der Vergleich der Größe der Interessentenpotenziale aus dem Jahr 2013 mit denen aus dem Jahr 2022 konnte Hinweise darauf geben, dass das Marktpo‐ tenzial einiger Urlaubsaktivitäten vergleichsweise stabil (beispielsweise „Museen/ Ausstel‐ lungen/ Kunstmuseen besuchen“), das von anderen hingegen als veränderlich (beispiels‐ weise bei den Aktivitäten „Weinreise machen“ oder „Rad fahren“) charakterisiert werden kann. Doch durch die nun erfolgende Einbeziehung der zudem vorliegenden Werte aus den Jahren 2016 und 2019 ist es möglich, die einzelnen Potenziale noch aussagekräftiger hin‐ sichtlich ihrer Dynamik und Schwankungsbreite zu untersuchen: Hierzu kann die jeweilige Spannweite - definiert als Differenz von Maximum und Minimum der vier Messpunkte 9 - herangezogen werden. → Abbildung 8 zeigt die Spannweiten sowie die in den vier Messjahren 2013, 2016, 2019 und 2022 aufgetretenen Maximum- und Minimumwerte der Interessentenpotenziale für die 25 untersuchten Urlaubsaktivitäten auf. Die geringsten Spannweiten zeigen sich bei den folgenden Interessentenpotenzialen der Urlaubsaktivitäten • „Museen/ Ausstellungen/ Kunstmuseen besuchen“ (1,4%-Punkte) als im Vergleich am stabilsten; gefolgt von der Aktivität • „Wintersport ausüben (z.-B. Ski fahren, Langlauf)“ (1,9%-Punkte). Erst mit einigem Abstand folgen eine ganze Reihe von Aktivitäten, deren Nachfragepo‐ tenziale durch eine vergleichsweise noch geringe Dynamik gekennzeichnet sind. Auch konnten die sich beim Zeitvergleich 2022 mit 2013 ergebenden Hinweise auf eine besonders hohe Stabilität der Interessentenpotenziale bei weiteren Urlaubsaktivitäten („Lebendige Szene erleben“, Spannweite: 3,8%-Punkte und „Sich in der Natur aufhalten“; Spannweite: 5,0%-Punkte) nicht bestätigen. Gemessen an der Spannweite sind die mit Abstand dynamischsten Nachfragepotenziale bei den beiden Urlaubsaktivitäten • „Sich aktiv im und am Wasser aufhalten“ (9,8%-Punkte) und • „Urlaub auf dem Lande verbringen“ (9,6%-Punkte) festzustellen. Erst mit Abstand folgt die Urlaubsaktivität „Weinreise machen“ (8,4%-Punkte), bevor sich nach erneutem Abstand weitere Themen anschließen können. 120 Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler <?page no="121"?> 10 In der Abbildung werden für die verschiedenen Urlaubsaktivitäten aus Gründen der besseren Visua‐ lisierung Kurzbezeichnungen verwendet. Die genauen, längeren Bezeichnungen können Abbildung 4 entnommen werden. 15% 25% 35% 45% 55% 65% 75% Maximum Minimum Wert 2022 9,8%P 9,6%P 8,4%P 7,4%P 7,2%P 6,9%P 6,6%P 6,5%P 6,2%P 5,6%P 5,0%P 5,6%P 4,8%P 4,8%P 4,7%P 4,3%P 3,8%P 3,7%P 3,7%P 3,4%P 3,4%P 3,0%P 1,9%P 1,4%P 3,8%P Spannweite Abbildung 8: Spannweiten der Interessentenpotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten auf Basis der Erhebungsjahre 2013, 2016, 2019 und 2022 (in %-Punkten (%P) der Top-Two-Boxen) 10 | Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Datenbasis inspektour (international) GmbH 2023a Nachfragepotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten 121 <?page no="122"?> Auffällig ist zudem, dass kein Zusammenhang zwischen der Größe und der Spannweite des Interessentenpotenzials vorliegt. Sowohl Urlaubsaktivitäten mit relativ großen Interes‐ sentenvolumina („kulinarische, gastronomische Spezialitäten genießen“, Spannweite: 7,4% Punkte) als auch Aktivitäten mit einem relativ geringen Interessentenpotenzial („Urlaub auf dem Lande verbringen“, Spannweite: 9,6%-Punkte) sind durch eine hohe Schwankungs‐ breite charakterisiert. Zum anderen können bei Fällen mit relativ geringer Spannweite ebenso Urlaubsaktivitäten mit hohem Interessentenpotenzial (beispielsweise „Baden und am Strand aufhalten“, Spannweite: 3,8%-Punkte) wie mit niedrigem Interessentenpotenzial (beispielsweise „Wintersport ausüben“, Spannweite: 1,9%-Punkte) angezeigt werden. 3.4 Marktgröße/ Marktentwicklungs-Matrix für den Zeitraum 2013-2022 Von großer praktischer Relevanz bei der Auswahl bzw. Priorisierung von Themen im Rahmen der Wettbewerbspositionierung der Destination sind Informationen darüber, ob es sich bei den wachsenden oder schrumpfenden Nachfragepotenzialen jeweils um relativ große oder kleine Potenzialvolumina handelt. Zur Visualisierung dieser Zusammenhänge bietet sich eine zweidimensionale Matrix an, die den jeweiligen Interessentenvolumina („Marktgröße“) aus dem Jahr 2022 die entsprechende Potenzialentwicklung („Marktent‐ wicklung“) - in Form der relativen Veränderung der Werte aus dem Jahr 2022 im Vergleich zum Jahr 2013 - gegenüberstellt (→-Abbildung 9). Aus der Abbildung wird deutlich, dass im Zeitraum 2013-2022 nur wenige Themen mit bereits vergleichsweise großen Interessentenpotenzialen im Basisjahr 2013 ein weiteres re‐ latives Wachstum generieren konnten. Hierzu zählen insbesondere die Urlaubsaktivitäten • „Gärten/ Parks besuchen“ (Volumen 2022: 54 %; Relatives Wachstum 2013-2022: +12,2%), • „Wandern“ (47-%; +11,0%) sowie • „Kulinarische/ gastronomische Spezialitäten genießen“ (67-%; +7,2%). Aber auch die Interessentenpotenziale der Urlaubsaktivitäten • „Burgen, Schlösser und Dome besuchen“ (55-%; +4,6%) sowie • „Sich in der Natur aufhalten“ (72-%; +1,9%) (als die Urlaubsaktivität mit dem insgesamt größten Interessentenvolumen) konnten noch weiteres Wachstum - wenn auch nur in einem kleineren relativen Umfang - generieren. Zu den Urlaubsaktivitäten mit vergleichsweise größerem Nachfragepotenzial 2022, die eine schrumpfende Entwicklung im Vergleich zu 2013 vorweisen, gehören • „Sich aktiv im und am Wasser aufhalten“ (52-%; -9,9%), • „Städtereisen unternehmen“ (60-%; -8,0%), • „Baden und am Strand aufhalten“ (63-%; -4,6%) sowie • „Wellnessangebote nutzen“ (47-%; -3,7%). Den genannten Urlaubsaktivitäten steht eine ganze Fülle an Themen mit vergleichsweise kleinerem Interessentenpotenzial gegenüber. Am auffälligsten sind hierbei die bereits zuvor angeführten Urlaubsaktivitäten, die auch bei der Gesamtbetrachtung mit den relativ 122 Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler <?page no="123"?> 11 In der Abbildung werden für die verschiedenen Urlaubsaktivitäten aus Gründen der Übersichtlichkeit Kurzbezeichnungen verwendet. Die genauen, längeren Bezeichnungen können → Abbildung 4 entnommen werden. höchsten Wachstumsraten aufwarten können; diese gehören alle zu den Aktivitäten mit einem vergleichsweise kleineren Markt-potenzial. Es handelt sich um • „Weinreise machen“ (31-%; +37,2%), • „Urlaub auf dem Lande verbringen“ (39-%; +27,3%) und • „Mountainbike fahren“ (20-%; +22,4%). Unter den Urlaubsaktivitäten, die über ein kleineres bis mittelgroßes Interessenpotenzial verfügen, gibt es allerdings auch solche, deren Potenzial im Zeitraum 2013-2022 zurück‐ gegangen ist. Zu diesen gehören beispielsweise • „Rad fahren (nicht Mountainbike fahren)“ (35-%; -12,9%), • „Events besuchen“ (36-%; -8,6%) und • „Kultur-/ Musikfestivals besuchen“ (34-%; -7,9%). Industriekultur Baden / Strand Burgen Camping Events Gärten / Parks Gesundheit Kulinarik Kultur- / Musikfestivals Kultur Lebendige „Szene“ Mountainbike fahren Museen Rad fahren Shopping Aktiv im und am Wasser Natur Städtereise UNESCO Welterbestätten Landurlaub Wandern Wassersport Weinreise Wellness Wintersport -20% -10% 0% 10% 20% 30% 40% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% Relative Veränderung 2013-2022 Interessentenpotenzial 2022 in Top-Two-Box-Anteil Abbildung 9: Marktgröße/ Marktentwicklungs-Matrix zu den verschiedenen Interessentenpotenzi‐ alen für den Zeitraum 2013-2022 11 | Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Datenbasis inspektour (international) GmbH 2023a Nachfragepotenziale ausgewählter Urlaubsaktivitäten 123 <?page no="124"?> 12 DestinationBrand wurde 2009 für den Quellmarkt Deutschland entwickelt, es erfolgte dann eine schrittweise Erweiterung auf internationale Quellmärkte und seit 2020 wird die Erhebung der Studienreihe in 10 Quellmärkten parallel durchgeführt (Koch & Trimborn 2022, S. 226; inspektour (international) GmbH 2023c). 4 Zusammenfassung und Ausblick Die vorliegende Untersuchung betrachtete, inwieweit sich die Nachfragepotenziale von Ur‐ laubsaktivitäten in der deutschen Bevölkerung im Zeitraum 2013 bis 2022 verändert haben. Diesbezügliche Informationen sind im Hinblick auf die im Rahmen der Wettbewerbsposi‐ tionierung von Destinationen notwendige Auswahl und Priorisierung von Themen von großer Bedeutung. Erwartungsgemäß verfügen die 25 in die vorliegende Untersuchung ein‐ gehenden Urlaubsaktivitäten über Interessentenpotenziale ganz unterschiedlicher Größe. Beim Vergleich der Werte von 2013 mit 2022 fällt zunächst das außerordentliche Wachstum des Interessentenpotenzials der Urlaubsaktivität „Weinreise machen“ (+37,2%! ) auf. Interessant scheinen auch die unterschiedlichen Trends bezüglich des Interesses zur Urlaubsnutzung von Zweirädern: Während das Nachfragepotenzial für das „Mountainbike fahren“ beim Vergleich der Jahre 2013 und 2022 relativ betrachtet zu den wachstums‐ stärksten gehört (+22,4%), musste bezüglich des Interessentenpotenzials der Urlaubsakti‐ vität „Rad fahren (nicht Mountainbike fahren)“ der höchste relative Rückgang festgestellt werden (-12,9%). Auffällig sind zudem die relativen Rückgänge der Nachfragepotenziale aller drei in die Untersuchung integrierten wasserorientierten Urlaubsaktivitäten („Sich aktiv im und am Wasser aufhalten“ (-9,9%), „Wassersport ausüben (nicht Segeln)“ (-6,4%) und „Baden und am Strand aufhalten“ (-4,6%)). Die Analyse der Spannweiten konnte belegen, dass die (mit Abstand) stabilsten Nachfra‐ gepotenziale bei den Urlaubsaktivitäten „Museen/ Ausstellungen/ Kunstmuseen besuchen“ (1,4%-Punkte) und „Wintersport ausüben“ (1,9%-Punkte) vorliegen. Zu den Urlaubsaktivitäten mit bereits großem Interessentenpotenzial, die von 2013 bis 2022 weiterhin ein nennenswertes Wachstum generieren konnten, gehören insbesondere „Gärten/ Parks besuchen“ (+12,2%), „Wandern“ (+11,0%) sowie „Kulinarische/ gastronomi‐ sche Spezialitäten genießen“ (+7,2%). Bei den Urlaubsaktivitäten mit vergleichsweise kleinerem Nachfragepotenzial konnten im betrachteten Zeitraum insbesondere die bereits genannten Aktivitäten „Weinreise machen“ (+37,2%) und „Mountainbike fahren“ (+22,4%), aber auch „Urlaub auf dem Lande verbringen“ (+27,3%) große Wachstumssprünge voll‐ ziehen. In Anbetracht der gewonnenen Erkenntnisse scheint es lohnenswert, die Untersuchung nach der neuerlichen Erhebung der Interessentenpotenziale der Urlaubsaktivitäten im Rahmen der DestinationBrand-Studienreihe fortzuführen. Hierbei sollten über die bishe‐ rigen Betrachtungen hinausgehende Analysen in Erwägung gezogen werden, insbesondere bezüglich unterschiedlicher Interessensentwicklungen auf Basis soziodemographischer Merkmale und hinsichtlich differenzierender Betrachtungen der Interessentenpotenzia‐ lentwicklungen unterschiedlicher Zielgruppen (gemäß Sinus-Milieu- oder BeST-Typen- Segmentierung). Zudem könnte ein Vergleich der Entwicklungen der Interessentenpoten‐ ziale in unterschiedlichen Quellmärkten (z. B. Deutschland, Österreich, Schweiz etc.) interessante Ergebnisse liefern 12 . 124 Bernd Eisenstein, Sarah Dornheim, Alexander Koch, Sabrina Seeler <?page no="125"?> Kontakt Bernd Eisenstein, FH Westküste | eisenstein@fh-westkueste.de Sarah Dornheim, FH Westküste | dornheim@fh-westkueste.de Alexander Koch, inspektour GmbH | alexander.koch@inspektour.de Sabrina Seeler, FH Westküste | seeler@fh-westkueste.de Quellen Burmann, Ch., Schade, M. & Müller, A. (2014): Erfolgreiche Führung von Destinationsmarken: Das Fallbeispiel Bremen. In: Hartmann, R. & Herle, F. (Hrsg.): Interkulturelles Management in Freizeit und Tourismus. Kommunikation - Kooperation - Kompetenz. Berlin (Schriften zu Tourismus und Freizeit, 17), S.-281-288. Eilzer, C. & Harms, T. (2019): Wandern im Urlaub - Stand der Marktforschung und deutschlandweite repräsentative Erkenntnisse. 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Der im Nordosten von Paris und den Pariser Vororten gelegene Kanal erfährt in den letzten Jahren eine Imageveränderung. Nicht zuletzt wegen der umfangreichen Stadtentwicklungsprojekte, die dort im Gange sind, bildet sich nach und nach ein positive(re)s Image aus. Neue Raumnutzungen und -aneignungen finden statt und der Tourismus gewinnt an Bedeutung. In einer Mediendiskursanalyse werden Artikel der Tageszeitung Le Parisien untersucht, da die Zeitung aufgrund ihrer Auflagenstärke als diskursbeeinflussend eingestuft wird. So können dominierende narrative Muster in kodierenden Verfahren herausgearbeitet werden. Die qualitative Diskursanalyse zeigt, dass sich ein Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq herauskristallisiert, der sich in drei - sich teilweise überlappende - Diskurse untergliedern lässt: Erstens wird der Kanal als Veranstaltungsort konstruiert, zweitens wird der Kanal bzw. das Gebiet um den Kanal als Ort der Freizeitgestaltung dargestellt und drittens wird der Ourcq-Kanal als Raum der Subkultur (re-)produziert und dabei vor allem mit Street Art in Verbindung gesetzt. Die in den Diskursen thematisierten Tourismusformen am Kanal können dem New Urban Tourism zugeordnet werden. Hierbei vermögen es gastronomische und kulturelle Angebote (u. a. Street Art Touren) die tradierte Grenzziehung zwischen Paris intramuros und den banlieues außerhalb der Ringstraße (Boulevard péripherique) weniger bedeutsam werden zu lassen. Auch weitere physische, soziale, mentale Grenzziehungen und deren Verwischen werden deutlich. Der Kanal wird als Kontinuum von attraktiven Freizeit- und Tourismusaktivitäten dargestellt. <?page no="130"?> 1 Innerhalb des Gebietes, das von den ehemaligen Stadtmauern umschlossen wurde. 1 Einleitung: Tourismus in Paris und den Vororten Dass Paris eine der nachgefragtesten Metropolen weltweit ist, dürfte nicht neu sein. Zahlreiche bekannte Sehenswürdigkeiten lassen den Städtetourismus boomen. Dabei kon‐ zentrieren sich die meisten Tourist: innen auf Hotspots in den zentralen Pariser Arrondis‐ sements - besonders im direkten Umkreis der Seine und damit bei den Hauptattraktionen wie dem Eiffelturm, der Kathedrale Notre Dame oder dem Louvre (Dittel et al. 2023; Freytag und Bauder 2018, S. 447-448). Welche Rolle spielt Tourismus aber auch entlang des Ourcq- Kanals in den banlieues, den angrenzenden Pariser Vororten im Département Seine-Saint- Denis? Das Département Seine-Saint-Denis nordöstlich der Pariser Stadtgrenze wird durchaus mit trister, grauer Hochhausbebauung und damit einhergehenden sozialen Problemen (wie Armut, Kriminalität, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, etc.) assoziiert (u. a. Dikeç 2007; Tijé-Dra 2014, S. 90; Weber 2016, S. 22). Zu diesem negativen Image trägt auch die mediale Berichterstattung bei, die mitunter ein eher einseitiges Bild des heterogenen Départements mit aktuell weitreichenden Transformationsprozessen zeichnet. Ebenfalls finden sich jedoch weitläufige Einfamilienhaussiedlungen, neue Wohn- und Bürogebäude sowie neu gestaltete öffentliche Räume wieder und formen so ein buntes, abwechslungsreiches Raumpastiche - ein Gebiet, in dem sich Neunutzungen und Neustrukturierungen ergeben und Funktionen durchmischt sind (Albecker 2015, o. S.; Kühne 2017, S. 20; Weber 2016, S. 33). Mit der gotischen Kathedrale von Saint-Denis befindet sich auch eine bekannte Sehenswürdigkeit im Département Seine-Saint-Denis, die ebenfalls Erwähnung in einigen Reiseführern findet (u. a. ADAC Reiseführer Paris von Fieder 2023, S. 118; CityTrip Plus Paris von Kalmbach 2019, S. 153-154) und damit als eine der wenigen Sehenswürdigkeiten aufgegriffen wird, die nicht in Paris intra-muros 1 , d. h. innerhalb der Ringstraße Boulevard périphérique, lokalisiert ist, die die zwanzig Arron-dissements von Paris umschließt. Auch heute noch wird in Reiseführern teilweise auch von einem Besuch der Pariser Vororte abgeraten (DuMont Reiseführer Paris von Kalmbach 2022) - wenn diese überhaupt in der Auflistung der Pariser Sehenswürdigkeiten und empfohlenen Aktivitäten vorkommen. So werden die Vororte als „Brennpunkt sozialer Konflikte“ (Kalmbach 2022, S. 239) beschrieben, Saint-Denis und die banlieue als „Synonym für Drogen und Randale, Gangs und Getto - und seit den Anschlägen auch für Terror“ (ebd., S. 239) gleichgesetzt und mit einem Foto eines brennenden Autos unterstrichen. Der Canal de l’Ourcq befindet sich im soeben skizzierten Département und durchzieht den ehemals hauptsächlich industriell geprägten Nordosten von Paris - vom Bassin de la Villette - über die Städte Pantin bis Bondy im territoire Est Ensemble (→ Abbildung 1). 130 Corinna Jürgens <?page no="131"?> Abbildung 1: Paris mit den im Nordosten angrenzenden Städten der Plaine de l‘Ourcq (in den banlieues liegend) | Quelle: Eigene Darstellung, Kartendaten © OpenStreetMaps Am Ourcq-Kanal selbst finden seit einigen Jahren weitreichende Umbrüche statt, die auf etwa 200 Hektar zu modernen Neubauten und neuen gastronomischen Angeboten im direkten Umfeld des Canal de l’Ourcq führten (in der Plaine de l’Ourcq - der Ourcq-Ebene) und auch noch in Zukunft führen werden (Est Ensemble 2018). Insgesamt erstrecken sich die Flächen, die beplant werden, von Pantin im Westen bis Bondy im Osten auf dem Gebiet des territoire Est Ensemble und damit auf einer Länge von etwa sieben Kilometern (→ Abbildung 1). Dort wird bis zum Jahr 2030 Wohnraum für etwa 25.000 Bewohner: innen geschaffen - unter anderem, um der hohen Wohnungsnachfrage im Großraum Paris zu begegnen. Bemalte Fliesen an der Uferpromenade deuten bereits auf eine entspannte Freizeitnutzung am Wasser hin. Auch eine Aufwertung öffentlicher Räume und neue Freizeitangebote wie bspw. Restaurantschiffe und Bars wurden zwischenzeitlich umgesetzt. Hier stellt sich nun die Frage, inwieweit das Gebiet mit den neuen Freizeitmöglichkeiten auch touristisch interessant und relevant wird. In diesem Beitrag wird untersucht, wie in der Tageszeitung Le Parisien über den Ourcq- Kanal berichtet wird und welchen Platz Tourismus bzw. Freizeit in der Berichterstattung einnehmen, konkreter welche Diskurse (re-)produziert werden, die einen Tourismusbezug aufweisen. Zunächst wird mit der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe sowie Konzepten aus den Border Studies die theoretische Rahmung des Artikels dargelegt, gefolgt von der methodischen Operationalisierung und den Ergebnissen aus der Diskursanalyse. Hierbei werden drei identifizierte Diskurse um den Ourcq-Kanal mit Tourismusbezug erläutert, bevor der Artikel mit einem Fazit und Ausblick schließt. Medialer Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq in der Metropolregion Paris 131 <?page no="132"?> 2 Theoretische Rahmung Um mediale Diskurse in der Plaine de l’Ourcq herausarbeiten zu können, wird die post‐ strukturalistische Hegemonie- und Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe (1985) als theoretischer Zugang gewählt. Daran anknüpfend werden vielfältige Grenzziehungspro‐ zesse in der Berichterstattung der Zeitung Le Parisien tiefergehend mit Konzepten der Border Studies analysiert. Diskurse werden von Laclau und Mouffe (2001 [1985], S. 108) als Gesamtheit von sprachlichen und nichtsprachlichen Bestandteilen gefasst, die auch die materielle Umwelt und soziale Beziehungen einbeziehen, und als veränderlich begriffen. Trotz einer benö‐ tigten temporären Bedeutungsfixierung von Begriffen oder Konzepten sind Diskurse nicht statisch, sondern werden in permanenten machtvollen Aushandlungsprozessen verhandelt und sind insofern wandelbar (Laclau und Mouffe 2001 [1985]; Glasze und Mattissek 2021; Weber 2018). Die Sprache wird als elementar eingestuft, da erst durch die Zuschreibung von Eigenschaften - zu Personen, Räumen und Regionen - und deren (Re-)Produktion Bilder entstehen, die wiederum unser Verhalten beeinflussen. Übertragen auf den vorliegenden Artikel bedeutet dies, dass in der Lesart von Laclau und Mouffe öffentliche Diskurse prägen, inwiefern Orte touristisch bzw. freizeitmäßig interessant erscheinen. In Dichotomien von gut/ schlecht oder richtig/ falsch (Paasi 2021, S. 20), attraktiv/ unattraktiv, schön/ nicht schön, einen Besuch wert/ keinen Besuch wert, werden permanent Grenzziehungen gezogen. Diese können implizit und/ oder explizit geäußert werden. Laclau und Mouffe nehmen eine Unterscheidung in Diskurs und Feld der Diskursivität bzw. diskursives Außen vor (Laclau und Mouffe 2001 [1985], S. 113). Das diskursive Außen versammelt die ‚Elemente‘ eines Diskurses, also diejenigen diskursiven Bestandteile, die nicht im Diskurs integriert sind, sondern in dessen (notwendiger) Abgren‐ zung außerhalb des Diskurses, im sogenannten diskursiven Außen liegen und potenziell zu einem anderen Zeitpunkt in ‚Momente‘ eines Diskurs verwandelt werden können - also in diejenigen Bestandteile, die in einem Diskurs verortet werden (Laclau und Mouffe 2001 [1985], S. 105, 113; Nonhoff 2007, S. 10). So wären - vereinfachend illustriert - diskursiv als unattraktiv (re-)produzierte Eigenschaften im diskursiven Außen eines Diskurses verortet, in dem sich als attraktiv (re-)produzierte Eigenschaften als ‚Momente‘ im Diskurs befinden würden. Eine Grenzziehung findet an dieser Stelle statt, die wiederum mit den Border Studies tiefergehend analysiert werden kann (siehe Ende dieses Kapitels). Auch wenn die Abgrenzung für die Stabilität eines Diskurses notwendig ist, wirkt sie dennoch potenziell den Diskurs destabilisierend - Umformungen eines Diskurses und Brüche im Diskurs sind möglich, die Eingliederung neuer ‚Momente‘ kann im Zuge einer diskursiven Verschiebung in eine Äquivalenzkette erfolgen ( Jørgensen und Phillips 2002, S. 27; Glasze und Mattissek 2021, S. 137). Äquivalent artikulierte ‚Momente‘, die sich in sogenannten Äquivalenzketten um einen Knotenpunkt (ein ‚Moment‘ von zentraler Bedeutung) herum anordnen, können so machtvoll und dominierend werden, dass ihr Konstruktionscharakter in Vergessenheit geraten kann und sie als „natürlich gegeben“ (Glasze 2007, Abs. 18) erscheinen (Laclau und Mouffe 2001 [1985], S. 112, 127; Glasze und Mattissek 2021, S. 147). Dominierende Diskurse werden als hegemoniale bzw. sedimentierte Diskurse bezeichnet (Glasze und Mattissek 2021, S. 151; Jørgensen und Phillips 2002, S. 7). Dennoch sind die Bedeutungszuschreibungen beispielsweise zu Räumen und Perso‐ 132 Corinna Jürgens <?page no="133"?> 2 Gekennzeichnet sind die Artikel mit der Abkürzung LP und dem jeweiligen Datum des Artikels im Format Jahr-Monat-Tag. nengruppen wandelbar und werden in einer andauernden, dynamischen (Re-) Produktion von Eigenschaften hervorgebracht (Laclau und Mouffe 2001 [1985], S.-111f.). Die Border Studies ermöglichen, Grenzziehungen über die Laclau und Mouffe’sche Konzeptualisierung weitergehend zu konturieren. Wie in der Diskurstheorie werden auch in den Border Studies Grenzen als sozial konstruiert und Grenzziehungen als diskursive Prozesse und Praktiken verstanden (einführend u. a. Gerst et al. 2021; Weber et al. 2020). Grenzen können eine einschließende oder ausschließende Wirkung entfalten und dahingehend ein verbindendes oder trennendes Element darstellen (Iossifova 2015, S. 91). Hierbei kann grob in immaterielle - wie alltagsweltliche, kulturelle, soziale und mentale - und materielle Grenzziehungen (unter anderem architektonischen und infrastrukturelle Grenzen) unterschieden werden (Breitung 2011, S. 57-58; Iossifova 2013, S. 2; Gibson und Canfield 2016, S. 74). Die jeweiligen Grenzen bilden sich in dynamischen Prozessen aus. Eine neue Grenzziehung wird dabei als Bordering verstanden, eine sich verfestigende Grenze als Rebordering und der Prozess, in dem eine Grenze an Bedeutung verliert als Debordering (Liao et al. 2018, S.-1094; Wille 2021, S.-109). Eine Verknüpfung der poststrukturalistischen Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe mit den Konzepten der Border Studies ermöglicht es, Grenzziehungsprozesse verstärkt in ihrer Tiefe zu analysieren, da Grenzziehungsprozesse in der Hegemonie- und Diskursthe‐ orie nur, wie bereits angerissen, oberflächlich adressiert werden. 3 Methodik Passend zur theoretischen ,Brille‘ basieren die empirischen Ergebnisdarstellungen in diesem Artikel auf einer Mediendiskursanalyse der Zeitung Le Parisien. Sie liefert die empirischen Daten und wurde ausgewählt, da sie als auflagenstarke Pariser Tageszeitung (Statista 2023), genauer als Boulevardzeitung, mit diskursgestaltend einzustufen ist. In den ausgewählten Artikeln wird analysiert, welche Tourismusbezüge im medialen Diskurs der Zeitung Le Parisien hergestellt werden. Dafür werden in kodierenden Verfahren narrative Muster, die die Diskurse bilden, herausgearbeitet (Glasze et al. 2021). Die 374 analysierten Artikel 2 wurden aus insgesamt 1.788 Artikeln aus den Jahren 2007 bis 2022 ausgewählt, da in ihnen der Canal de l’Ourcq eine zentrale Rolle in der Berichterstattung spielt. Das Jahr 2007 wurde aus zwei Gründen für den Start der Mediendiskursanalyse ausgesucht: zum einen begannen die Planungen für die Métropole du Grand Paris, zum anderen lief das Großprojekt der Plaine de l’Ourcq teilweise in diesem Jahr an. Für eine zeitliche Kontrastierung und um den diskursiven Verlauf untersuchen zu können, wurde die Diskursanalyse bis einschließlich Ende 2022 fortgeführt. Die Zeitungsartikel wurden in qualitativen Diskursanalysen, genauer in kodierenden Verfahren analysiert, wobei in einem offenen, induktiven Verfahren narrative Muster, also wiederkehrende Muster in der Berichterstattung, herausgearbeitet wurden, die auf dominante, hegemoniale Diskurse schließen lassen (Glasze et al. 2021; Weber 2018). Sowohl äquivalent als auch different artikulierte Diskursbestandteile werden damit offengelegt und Bedeutungsverknüpfungen in Medialer Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq in der Metropolregion Paris 133 <?page no="134"?> beispielsweise sich wiederholenden Wortfolgen deutlich. Eine wiederkehrende Verknüpfung von Wörtern mit gleichbleibenden Bedeutungszuschreibungen zeigt hegemoniale Muster an. Da Bedeutungszuschreibungen in Aushandlungsprozessen entstehen, sind diese jedoch prinzipiell wandelbar und das Ansehen einer bestimmten Region kann immer wieder neu mit positiven und/ oder negativen Attributen aufgeladen werden. So werden Bedeutungsverschie‐ bungen möglich, die in der Konsequenz gesellschaftlich relevant werden und einen Einfluss auf das Verhalten ausüben können. Mittels Diskursanalysen kann letztlich einerseits aufge‐ zeigt werden, dass machtvolle, wenn auch temporäre Bedeutungsfixierungen machtvolle Diskurse erzeugen, welche bei entsprechender Dominanz als „natürlich gegeben“ erscheinen (Glasze 2007, Abs. 18), andererseits kann aber auch die Kontingenz von Diskursen aufgezeigt werden, indem diskursive Veränderungen in den Fokus gerückt werden. 4 Diskurse um den Canal de l‘Ourcq mit Tourismusbezug Das Gebiet der Plaine de l’Ourcq hat in den letzten 15 Jahren einen starken Wandel erlebt und auch gegenwärtig und in den kommenden Jahren finden vielschichtige Veränderungsprozesse statt. Dazu gehört beispielsweise die gestiegene Bedeutung des Ourcq-Kanals für eine freizeitliche Nutzung. In der Analyse der Zeitungsartikel der Tageszeitung Le Parisien können drei Diskurse differenziert werden, in denen ein Tourismusbezug vorhanden ist. Diese stehen nicht streng abgrenzbar nebeneinander, sondern können sich überlappen und Schnittmengen aufweisen. Geordnet sind sie nach ihrer Dominanz in den analysierten Zeitungsartikeln, das heißt, nach ihrem jeweiligen Vorkommen in den Artikeln, beginnend mit dem Diskurs, der sich in den meisten Artikeln finden lässt. Der erste Diskurs konstruiert den Kanal als Veranstaltungsort. Im zweiten Diskurs wird der Kanal bzw. das Gebiet um den Kanal als Ort der Freizeitgestaltung gerahmt. Der Diskurs um den Kanal als Raum der Subkultur (re-)produziert den Ourcq-Kanal als alternativen Raum, dabei vor allem prominent verknüpft mit Street Art. Der Kanal wird aufgrund seiner zahlreichen farbenfrohen Graffiti an den Ufern touristisch in Wert gesetzt. Sie werden nachfolgend mit entsprechenden Narrationen vorgestellt. 4.1 Diskurs um den Kanal als Veranstaltungsort Der Diskurs um den Kanal als Veranstaltungsort ist der dominanteste Diskurs, der in der Mediendiskursanalyse herausgearbeitet wurde und den Ourcq-Kanal als attraktiven Ort für Veranstaltungen konstruiert. Dabei sind temporäre Veranstaltungen wie das Festival Été du Canal zentral für diesen Diskurs und werden zu einem Knotenpunkt. Im Rahmen des jährlich im Sommer stattfindenden Festivals werden Schifffahrten, Wassersportaktivi‐ täten, Konzerte und weitere Aktivitäten wie beispielsweise Ateliers und kommentierte Spaziergänge angeboten und diskursiv als Momente verankert. Im Folgenden findet sich ein Auszug aus einem Zeitungsartikel, der die Schifffahrten in den Fokus rückt. Die Pendelschiffe auf dem Ourcq sind die Stars des Sommers. […] Die am 31. Mai auf dem Canal de l’Ourcq gestarteten Flusskreuzfahrten für 1 € haben bereits 20.000 Passagiere erreicht, das erklärte Ziel für das Ende des Sommers. IST ES der unschlagbare Preis? Das langsam gemächliche Tempo? Die kommentierte Touristentour? […] Sicherlich steckt all dies in dem fast unverhofften Erfolg 134 Corinna Jürgens <?page no="135"?> 3 «Les navettes de l’Ourcq sont les stars de l’été. […] Les croisières fluviales à 1 € lancées le 31 mai sur le canal de l’Ourcq ont déjà atteint les 20 000 passagers, l’objectif affiché pour la fin de l’été. EST-CE le prix, imbattable ? Le rythme, lentement tranquille ? La visite touristique commentée ? […] Il y a certainement de tout cela dans le succès presque inespéré des navettes fluviales à 1 € qui, chaque weekend, parcourent le canal de l’Ourcq entre le bassin de la Villette et le pont de Bondy (Seine-Saint-Denis).» 4 Weiteres Beispiel: „Es ist das unumgängliche Ereignis der Ferien! Eine neue Ausgabe des Kanalsom‐ mers entlang des Ourcq-Kanals beginnt kommenden Samstag mit Aktivitäten bis zum 25. August. Während der Wochenenden erlauben die Pendelschiffe von Villette (Paris) nach Bondy für 1 oder 2 € zu gelangen.“ (LP 2019-07-01, Übersetzung CJ) bzw. «C’est l’événement incontournable des vacances ! Une nouvelle édition de l’Eté du canal débute samedi prochain le long du canal de l’Ourcq, avec des activités jusqu’au 25 août. Durant les weekends, des navettes fluviales permettront de rejoindre la Villette (Paris) à Bondy pour 1 ou 2 €.» der 1 €-Flusspendelboote, die jedes Wochenende den Canal de l’Ourcq zwischen dem Bassin de la Villette und der Brücke von Bondy (Seine-Saint-Denis) befahren. (LP 2008-08-02, Übersetzung CJ) 3 Das Zitat steht stellvertretend für die hausgearbeiteten narrativen Muster 4 , in denen der Ourcq-Kanal als attraktiv aufgrund der angebotenen Schifffahrten während der Ver‐ anstaltung Été du Canal gerahmt wird. Es handelt sich um eine jährlich stattfindende Veranstaltung, über die wie im Jahr 2008 in der vorangehenden Narration berichtet wird und die die Freizeitmöglichkeiten des Kanals in den Vordergrund stellt. Interessant hierbei ist, dass die Route der Schifffahrt als vom Bassin de la Villette kommend bis zur Brücke von Bondy beschrieben wird. Dabei überwindet die Schifffahrt mehrere administrative Grenzen, die unerwähnt bleiben: vom 19. Arrondissement der Stadt Paris kommend über Pantin, Bobigny und Noisy-le-Sec bis nach Bondy (→ Abbildung 1). Auch die Tatsache, dass die genannten Städte im Département Seine-Saint-Denis liegen und damit zu den banlieues, genauer den nordöstlichen Vororten von Paris gehören, bleibt unausgesprochen - und wird damit nicht weitergehend diskursiv (re-)produziert. Darüber hinaus fährt das Schiff auf seiner Route auch unter dem Boulevard périphérique durch - jener bedeutenden Straße, die Paris umschließt und damit baulich manifestiert Paris von den banlieues trennt (→ Abbildung 1) und für diejenigen, die sich ohne Auto fortbewegen, als infrastrukturelle Grenze wirkt. Eine oftmals wirkmächtige Grenzziehung in diesseits und jenseits des Boulevard périphérique wird im zitierten narrativen Muster nicht vollzogen. Im Alltag entfaltet der Boulevard périphérique durchaus eine symbolische Wirkung und hat eine mentale Grenzziehung zur Folge - viele Pariser: innen halten sich in ihrer Freizeit nicht in den Vororten auf, unter anderem wegen des negativen Images. Oftmals wird Paris als attraktiv und alles jenseits des Boulevard périphérique als unattraktiv aufgefasst und vermieden. In diesem Kontext dagegen wird der Boulevard péripherique nicht als Grenze herausgestellt. Stattdessen werden mit dem Hafenbecken von Villette und der Brücke von Bondy andere Raumbezüge erwähnt, mit dem Kanal assoziiert und als Momente diskursiv verankert. In der Kartendarstellung des Festivals wird ebenfalls darauf verzichtet, die Ringautobahn einzuzeichnen, um ein anderes, ein größeres Bild von Paris zu etablieren, welches den Kanal als Bindeglied, als Kontinuum sieht (→ Abbildung 2). Zudem wird dem Pkw als Fortbewegungsmittel weniger Bedeutung zugesprochen, indem jeweils auf die Anbindungen des ÖPNV zu den einzelnen Veranstaltungsorten verwiesen wird (bspw. „Porte de Pantin M5“ für die Métrostation Porte de Pantin der Métrolinie 5, die zum Parc de la Villette führt). Auch die administrativen Grenzen zwischen den einzelnen Medialer Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq in der Metropolregion Paris 135 <?page no="136"?> Städten fehlen in der Zeichnung und stattdessen sind Parks (Parc de la Villette, Parc de la Bergére, Parc de la Poudrerie) oder Veranstaltungsorte (Place de la Pointe in Pantin) zur Orientierung eingezeichnet (→ Abbildung 2). Passerelle Passerelle Passerelle Pont du Landy Pont du Landy Pont du Landy Pont du Landy Pass. P Pass. P Pass. P Pass. P Pass. P T de Flandre de Flandre de Flandre de Flandre de Flandre de Flandre Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Pass. de la fraternité Pass. de la fraternité Pass. de la fraternité Pass. de la fraternité Pass. de la fraternité Pass. Franc Moisin Pass. Franc Moisin Pass. Franc Moisin Pass. Franc Moisin Pass. Franc Moisin Pass. Franc Moisin Pass. de l’écluse Pass. de l’écluse Pass. de l’écluse Pass. de l’écluse Pass. de l’écluse Passerelle Thiers Passerelle Thiers Passerelle Thiers Passerelle Thiers Passerelle Thiers Passerelle Thiers Passerelle Thiers Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Pont Hippolyte Pont Hippolyte Pont Hippolyte Boyer Boyer Boyer Pont Hippolyte Boyer Pont Hippolyte Pass. P-S Girard Pass. P-S Girard Pass. P-S Girard Pass. P-S Girard Pass. P-S Girard Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Pont du Parc CANAL SAINT-MARTIN DARSE DU MILLÉNAIRE BASSIN DE LA MALTOURNÉE SEINE CANAL DE L’OURCQ CANAL SAINT -DENIS CANAL SAINT- DENIS BASSIN DE LA VILLETTE SEINE SEINE F R A NC MO I SI N P ONT R UE A NAT OLE FR A N C E P ONT BOULE V A R D Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle Passerelle CANAL SAINT- DENIS A M B ROISE CR O IZAT PONT RU E DE SEIN E P O NT Q U A I DE CRIMÉE PONT R U E L A FOLIE P ONT D E DE BON D Y PONT G E NER AL LECL C ERC PO N T AVE N UE DE DELIZ Y PONT R U E SAINT-OUEN PONT D E SAI NT-OU EN P ONT D E LA STATION GARE DES MINES PARIS CENTRE QUAI DE LA SEINE QUAI DE LA LOIRE TERRE TERRE BOBIGNY LA PRAIRIE PARC DE LA BERGÈRE JARDIN21 — KILOMETRE 25 GUINGUETTE GRANDES SERRES PARC DE LA VILLETTE CE PLAN N’EST PAS À L’ÉCHELLE Pass. Romy Schneider Pass. Romy Schneider L’OASIS D’OREMI HALAGE-LIL’Ô GRAND PARC DES DOCKS DE SAINT-OUEN PARC DÉPARTEMENTAL DE L’ÎLE-SAINT-DENIS BERGES DE SEINE PARC FORESTIER DE LA POUDRERIE CANAL DE L’OURCQ STATION D’ÉTÉ LA COLOC DE L’OURCQ BASSIN DE LA VILLETTE DÉPART CROISIÈRES SUR CANAL DE L'OURCQ › Paris Plages : 9/ 07> 21/ 08 › Bassins de baignade › Parc nautique › Bateaux électriques STALINGRAD JAURÈS SAINT-OUEN › L’été audonien : 8/ 07 > 28/ 08 › Guinguette › Village sportif › Ateliers › Bassin de baignade MAIRIE DE ST-OUEN AULNAY-SOUS-BOIS › Parc nautique : 9 > 31/ 07 de 15h à 22h › Concerts et bals › Sports › Exposition Bicentenaire du canal de l'Ourcq NOISY-LE-SEC / BONDY DÉPART NAVETTES FLUVIALES > 7/ 08 › Concerts flottants › Parc nautique : jusqu'au 07/ 08 de 15h à 19h › Culture, sport, ateliers › Exposition 200 ans du canal de l'Ourcq NOISY LE SEC PONT DE BONDY PARC DE LA VILLETTE DÉPART NAVETTES FLUVIALES DÉPART CROISIÈRES SUR CANAL SAINT-DENIS › Concerts flottants › Cinéma en plein air : 20/ 07 > 21/ 08 › Expositions, spectacles, ateliers › Location de vélos A.I.C.V. 38 bis quai de la Marne PORTE DE LA VILLETTE PORTE DE PANTIN CN D Plage / Parc nautique DU 9 JUILLET AU 14 AOÛT 2022 Information sur tourisme93.com/ ete-du-canal Réservation des croisières, balades et ateliers sur Piste cyclable Navettes fluviales EMBARCADÈRES DES NAVETTES FLUVIALES : PARC DE LA VILLETTE PANTIN BOBIGNY NOISY-LE-SEC/ BONDY De 14h à 21h, toutes les 40 minutes 1 € le samedi, 2 € le dimanche. Gratuit pour les enfants de -10 ans (dans la limite de 2 enfants par adulte). Concerts flottants BOBIGNY-PANTIN-R. QUENEAU Q u a r t i e r c u l t u r e l e t c r é a t i f Magasins généraux Pavillon Maurouard Maison du parc La Géode Les Canaux La Rotonde de Stalingrad Stade de France L'Orfèvrerie Le 6b Grands Moulins de Pantin Fondation Fiminco PANTIN - PLACE DE LA POINTE DÉPART NAVETTES FLUVIALES › Concerts flottants › Parc nautique : 19/ 07 > 6/ 08 › Exposition Regards du Grand Paris aux Magasins généraux + CN D › Spectacles › Péniches culturelles › 30>31/ 07 ÉGLISE DE PANTIN Basilique cathédrale de Saint-Denis BOBIGNY DÉPART NAVETTES FLUVIALES › Concerts flottants › Bobigny Plage : 9 > 31/ 07 de15h à 22h › Culture, sport, ateliers › Location de vélos Libres et gonflés BOBIGNY - PABLO PICASSO FREINVILLE SEVRAN T4 T 1 PARC FORESTIER DE LA POUDRERIE › Balades nature et patrimoine › Sport, culture et bals › Canoé kayak › Golf › Location de vélos à la Gare du Vert-Galant VERT-GALANT SEVRAN-LIVRY SAINT-DENIS DÉPART CROISIÈRES SUR LA SEINE TOUR DE L'ÎLE-SAINT-DENIS › Street Art Avenue Saison 5 › Guinguette et festivités au 6b LA PLAINE - STADE DE FRANCE STADE DE FRANCE SAINT-DENIS SAINT-DENIS PORTE DE PARIS EPINAY-SUR-SEINE › Les Rendez-vous des Berges : 3/ 07 > 25/ 09 › Concerts et spectacles EPINAY-SUR-SEINE ROSE BERTIN Accès aux berges par la rue de l'Abreuvoir T8 L’ILE-SAINT-DENIS › Guinguette et ateliers à Lil’Ô › Big Jump métropolitain 10/ 07 › Culture et ateliers EPINAY-SUR-SEINE SAINT-DENIS L'ILE-SAINT-DENIS T 1 AUBERVILLIERS › Street Art Avenue Saison 5 › Péniches culturelles › Culture, sport, ateliers › 1>3, 15>17 et 22>24/ 07 5>7 et 26>28/ 08 CANAL SAINT-DENIS CORENTIN CARIOU AIMÉ CÉSAIRE T3 b eteducanal seinesaintdenistourisme @eteducanal @CDT93 Le Barboteur › 8>10/ 07 et 19>21/ 08 CROISIÈRES 14 12 T 1 Abbildung 2: Karte des Festivals Été du Canal aus dem Jahr 2022 | Quelle: Seine-Saint-Denis Tourisme 2022 136 Corinna Jürgens <?page no="137"?> Die administrativen, teils physischen und symbolischen Grenzen können mit Schifffahrten überwunden werden. Die Schifffahrt vermag es, dass administrative oder straßenbezogene Grenzen bedeutungslos werden, da der Kanal davon unbeirrt seinen Wasserlauf fortführt, die Schifffahrt weitergeht und auch genau diese im Vordergrund steht (Deborderingpro‐ zess). Dem Kanal kommt damit eine verbindende Funktion zwischen Paris intra-muros und den banlieues zu. Mit dem kostengünstigen Angebot überwindet die Schifffahrt (→ Abbildung 3) ebenfalls finanzielle Grenzen. In einem im landesweiten Vergleich überdurchschnittlich armen Département trägt der günstige Preis von ein bis zwei Euro dazu bei, dass die Schifffahrt möglichst allen ermöglicht wird, unabhängig der finanziellen Ressourcen. Abbildung 3: Bootsfahrt im Rahmen des Festivals Été du Canal in Bobigny | Quelle: Eigene Aufnahme (2022) Während der Diskurs um den Kanal als Veranstaltungsort zeitlich begrenzte Veranstal‐ tungen umfasst, also bestimmte Events, Festivals oder Themenwochen, handelt es sich im nächsten Diskurs um dauerhaft verfügbare Angebote der Freizeitgestaltung. 4.2 Diskurs um den Kanal als Ort der Freizeitgestaltung Der Diskurs, der den Kanal als Ort der Freizeitgestaltung in der Tageszeitung Le Parisien rahmt, umfasst permanente gastronomische und kulturelle Angebote wie beispielsweise Bars und Restaurants an den Kanalufern. Hierbei wird das Kanalgebiet als Bereich mit vielen attraktiven Ausgehmöglichkeiten gerahmt, wie folgendes narrative Muster verdeutlicht, in dem der Ourcq-Kanal mit einem anziehenden gastronomischen Angebot äquivalent artikuliert wird: Medialer Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq in der Metropolregion Paris 137 <?page no="138"?> 5 «Et si la banlieue devenait un jour plus branchée que la capitale ? […] Passé le parc de la Villette, il n’est désormais presque plus possible de parcourir 200 m sans croiser une terrasse, une péniche ou une guinguette, jusqu’à Bobigny. Des sites, tous situés au bord du canal de l’Ourcq, devenu en quelques années l’un des lieux de sortie les plus en vogue du Grand Paris.» 6 Unter Guinguettes werden spezielle Bars unter freiem Himmel bezeichnet, die oftmals mit bunten Lichterketten, Holzterrassen, verschiedenen Sitzgelegenheiten wie Biertischgarnituren oder Liege‐ stühlen ausgestattet sind. Sie können an Fluss- oder Kanalufern liegen, bieten Getränke und Speisen an und oft begleitet Live-Musik den Abend. Und wenn die Vorstädte eines Tages angesagter wären als die Hauptstadt? […] Nach dem Parc de la Villette bis nach Bobigny, ist es nun fast nicht mehr möglich, 200 Meter zu gehen, ohne auf eine Außenterrasse, einen Kahn oder eine Guinguette zu treffen. Orte, die alle am Ufer des Canal de l’Ourcq liegen, der in wenigen Jahren zu einem der beliebtesten Ausflugsziele im Großraum Paris geworden ist. (LP 2021-08-14, Übersetzung CJ) 5 In vorliegender Narration wird das gastronomische Angebot an den Kanalufern hervorge‐ hoben, welches zahlreich vorhanden ist - räumlich verortet zwischen „dem Parc de la Villette bis nach Bobigny“. Verschiedene gastronomische Typen werden unterschieden: von einer Außenterrasse über einen Kahn zu einer Guinguette 6 . Die Bars und Restaurants mit ihrer Außengastronomie liegen ebenso wie die bewirtschafteten Frachtkähne (péniches) und die Guinguettes auf oder am Ourcq-Kanal (→ Abbildung 4) und werden als Momente in den Diskurs um den Kanal als Ort der Freizeitgestaltung eingegliedert. Abbildung 4: Péniche in Pantin | Quelle: Eigene Aufnahme (2023) 138 Corinna Jürgens <?page no="139"?> 7 Weiteres Beispiel: „Das Département plant, den Flusstourismus und die Street Art Ausflüge zu intensivieren. „Die Graffiti haben sich zu einem regelrechten touristischen Interesse entwickelt“, versichert Olivier Meier.“ (LP 2021-08-02, Übersetzung CJ) bzw. «Le département prévoit d’intensifier le tourisme fluvial et les balades street art. «Les graffitis sont devenus de véritables intérêts touristiques», assure Olivier Meier.» 8 «On a testé le parcours sur le canal de l’Ourcq, haut en couleur. Au départ du bassin de la Villette, à Paris, une croisière de 10 km sur le canal de l’Ourcq propose de découvrir des belles illustrations de street art, […]. On embarque au début du quai de la Loire, à deux pas de la Rotonde de Stalingrad (XIXe arrondissement), à destination de Bondy (Seine-Saint-Denis).» Bei dem vielfältigen gastronomischen Angebot ist es nicht wichtig, ob dieses in Paris intra-muros liegt oder außerhalb von Paris, in den Vororten. Wichtig scheint, dass sie am Kanal liegen. Damit wird ein neuer räumlicher Fokus auf den Ourcq-Kanal selbst gelegt. Die oftmals dominante Grenzziehung zwischen Paris und den banlieues spielt hierbei keine Rolle mehr, die symbolische und mentale Grenzziehung des Boulevard périphérique scheint immer mehr an Bedeutung zu verlieren und überwindbar zu sein (siehe Kapitel 4.1). Ein Deborderingprozess findet statt. Auch indem der Ourcq-Kanal mit seinen Ufern als begehrtes Ausflugsziel im Großraums Paris bezeichnet wird, also der Großraum Paris als Raumbezug gewählt wird, wird die Grenzziehung in Paris und Vororte vernachlässigt und der Großraum Paris als Moment im Diskurs um den Kanal als Ort der Freizeitgestaltung integriert. Der Canal de l’Ourcq scheint als Kontinuum zu fungieren, die Aneinanderreihung von gastronomischen Betrieben als verbindend zwischen dem 19. Arrondissement von Paris und den Vororten. Dennoch wird die Frage aufgeworfen, ob die Vorstädte künftig ‚angesagter‘ sein könnten als die Hauptstadt und ein Gegensatz aufgemacht. Hier schimmert die mentale Grenzziehung zwischen intra- und extra-muros also nach wie vor durch, wenn auch in weniger dominanter Form. Deutlich wird auch, dass das veränderte, aufgewertete Image noch neu ist und sich damit der Imagewandel erst seit kurzer Zeit, in den letzten Jahren, vollzieht. Der Diskurs um den Kanal als Ort der Freizeitgestaltung ist damit noch weniger dominant vertreten im Vergleich zum Diskurs um den Kanal als Veranstaltungsort. 4.3 Diskurs um den Kanal als Raum der Subkultur Im Diskurs um den Kanal als Raum der Subkultur wird die Kanalgegend als attraktiv und erlebenswert dargestellt, unter anderem wegen der zahlreichen bunten Graffiti an den Ufern und auch touristisch in Wert gesetzt. Ein narratives Muster 7 verknüpft den Kanal in positiver Art und Weise mit der Street Art Kunst. Folgendes Beispiel macht dies deutlich: Wir haben die farbenfrohe Fahrt auf dem Canal de l’Ourcq getestet. Vom Bassin de la Villette in Paris aus führt eine 10 km lange Bootsfahrt auf dem Canal de l’Ourcq an schönen Illustrationen der Street Art vorbei, […]. Sie gehen am Anfang des Quai de la Loire, in der Nähe der Rotonde de Stalingrad (XIX. Arrondissement), an Bord und fahren nach Bondy (Seine-Saint-Denis). (LP 2022-08-18, Übersetzung CJ) 8 Wie ersichtlich wird, werden Street Art-Schifffahrten auf dem Canal de l‘Ourcq angeboten, die auf einer Strecke von zehn Kilometern die visuellen Botschaften an den Wänden entlang der Ufer thematisieren. Indem die Graffiti und Street Art als „schöne Illustrationen“ Medialer Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq in der Metropolregion Paris 139 <?page no="140"?> bezeichnet werden, lassen sie den Kanal mit seinen Ufern als erlebenswert erscheinen und verknüpfen den Ourcq-Kanal und die Street Art diskursiv. Auch die im Alltag verwendete Dichotomie zwischen schön und unschön, zeigt, dass Orte, Gegenstände etc. und insofern auch als Street Art eingestufte Werke im öffentlichen Raum diskursiv mit Bedeutung aufgeladen werden und ihre Zuschreibungen kontingent, also wandelbar, sind und abhängig von den Betrachtenden und ihrer jeweiligen Perspektive (teilweise) als Kunst verstanden werden (können) - unter anderem durch gesellschaftliche Diskurse beeinflusst. Das zugrunde liegende Verständnis einer touristisch bzw. freizeitlich (un-)interessanten Tour, wandelt sich mitunter mit der Zeit. Insofern kann eine Grenzziehung zwischen einem touristisch attraktiven und einem unattraktiven Angebot gezogen werden. Die erwähnte Street Art-Tour startet an der Rotonde de Stalingrad und fährt bis nach Bondy - damit legt sie die gleiche Strecke zurück wie die Pendelschiffe während des Festivals (siehe Kapitel 4.1). Die sonst präsente Grenzziehung in diesseits und jenseits des Boulevard périphérique findet auch hier keine Erwähnung. Nur der in Klammern stehende Zusatz Seine-Saint-Denis gibt Aufschluss darüber, dass sich die Fahrt im Großraum Paris bewegt. Auch hier befinden sich die Raumbezüge Bassin de la Villette, Quai de la Loire, Rotonde de Stalingrad sowie Bondy als Momente im Diskurs um den Kanal als Raum der Subkultur. Durch die äquivalente Nennung der Raumbezüge mit dem Canal de l’Ourcq wird sein Verlauf in den Vordergrund gerückt, unabhängig der administrativen Grenzen, die er durchläuft. Neben den Bootstouren sind auch kommentierte Spaziergänge zur Street Art auf der Plattform „Explore Paris“ buchbar, die (touristische) Angebote im Großraum Paris vermarktet. Durch die positive Konnotation von Street Art mit dem Ourcq-Kanal und der Inwertsetzung dieser ursprünglich subkulturellen Szene in von der Plattform organisierten und kommentierten Touren wird die Street Art aufgewertet, diskursiv als Moment im Diskurs etabliert und ein positives Image gezeichnet - trotz der bis auf Ausnahmen größtenteils illegalen, aber geduldeten Praktik am Kanal. In einer Äquivalenzkette reihen sich der Canal de l’Ourcq, Street Art, kommentierte Spaziergänge und Schifffahrten, das Bassin de la Villette sowie Seine-Saint-Denis aneinander. 4.4 Diskussion Wie gezeigt wurde, können drei Diskurse in der Mediendiskursanalyse differenziert werden, in denen ein Tourismusbezug vorhanden ist. Sie lassen sich einem übergeordneten Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq zuordnen und können dementsprechend als Dis‐ kursteile eingestuft werden, die sich teilweise überlappen und miteinander verwoben sind. Insofern lassen sie sich nicht exakt voneinander abgrenzen. Im ersten Diskurs wird der Kanal bzw. das Kanalgebiet als Veranstaltungsort konstruiert. Temporäre Veranstal‐ tungen wie das Festival Été du Canal sind zentral für diesen Teil des Tourismusdiskurses. Der Diskurs, der den Kanal als Ort der Freizeitgestaltung rahmt, umfasst permanente gastronomische und kulturelle Angebote wie beispielsweise Bars und Restaurants an den Kanalufern. Der Diskurs um den Kanal als Raum der Subkultur wiederum verknüpft den Ourcq-Kanal mit Street Art und damit mit einer bestimmten kulturellen Szene. Wie bereits erwähnt wurde, können sich die einzelnen Diskursteile überlappen. Beispielsweise 140 Corinna Jürgens <?page no="141"?> überschneiden sich die Konstruktion des Kanals als Veranstaltungsort und als Raum der Subkultur im Bereich der Street Art: bestimmte kommentierte Schifffahrten, die im Rahmen des Festivals Été du Canal angeboten werden, thematisieren auch die Street Art, haben aber auch andere thematische Schwerpunkte. In den analysierten Diskursen bilden sich Grenzen in einem dynamischen Prozess neu aus, verwischen oder können sich festigen. Es ließen sich einige Grenzziehungen konstatieren, auf die noch einmal eingegangen wird. Eine baulich manifestierte Grenze - der Boulevard périphérique - und eine oftmals damit einhergehende soziale und mentale Grenzziehung verliert in den Diskursen um den Canal de l‘Ourcq, die einen Tourismusbezug aufweisen, an Bedeutung. Stattdessen wird der Fokus auf den Kanal selbst gelegt, der als attraktiv beschrieben wird und zeigt, dass ein Imagewandel im Gange ist. Dies trifft auch auf die immer noch dominante Grenzziehung in banlieues und Pariser Kernstadt zu, die mit dem Boulevard verknüpft ist und ebenfalls an Bedeutung verliert (Debordering), unter anderem durch die Wahl veränderter Raumbezüge wie den Großraum Paris. Der Kanal wird als Kontinuum von attraktiven Freizeit- und Tourismusaktivitäten dargestellt (gastro‐ nomisches Angebot, Schifffahrten, Street Art Touren, kulturelle Angebote im Rahmen des Festivals Été du Canal), der die Gebiete diesseits und jenseits der Ringstraße verbindet, dabei administrative Grenzen überwindet und alltagsweltliche Grenzen weniger bedeutsam werden lässt. Auch finanzielle Hürden werden teilweise weniger relevant für die Teilhabe an freizeitlichen Aktivitäten (bspw. günstige Schifffahrten). Es können insofern einige Grenzüberwindungen (administrativer, finanzieller, mentaler Art) festgestellt werden. Die in den Diskursen thematisierten Tourismusformen am Canal de l’Ourcq können dem New Urban Tourism zugeordnet werden: ein Interesse an der Alltagswelt der lokalen Bevölkerung (Stichwort live like the locals) steht im Fokus und damit auch die von ihnen besuchten Orte und Freizeitaktivitäten im Gegensatz zu klassischen Sehenswürdigkeiten wie beispielsweise Kirchen oder sogenannte Must-See-Highlights, die in Reiseführern angepriesen werden (vgl. Frisch et al. 2019; Füller und Michel 2014; Novy 2010). So haben New Urban Tourists ein Interesse daran, die von den locals besuchten kulturellen und gastronomischen Orte zu erkunden und sich abseits der ausgetretenen Pfade (off the beaten track) zu bewegen (Maitland und Newman 2014). Das Besuchen von Restaurantbooten (Péniches), von Guinguettes, von Bars am Canal de l’Ourcq in den Pariser banlieues kann eher einem Interesse an außergewöhnlichen gastronomischen Angeboten, auf der Suche nach Authentizität, zugeordnet werden. Auch ein entsprechendes Interesse an einer Kulturszene mit Street Art (Graffiti, Murals, Stencils, Cut outs, etc.), also Interesse an einer Szenekultur, kann einem Erleben des Ourcq-Kanals zugeschrieben werden. Doch wer gehört zu den locals und wer nicht? Wer wird als Tourist: in gelesen? Diese Fragen sind mitunter schwer bis gar nicht zu beantworten und auch insgesamt kann ein blurring (Kagermeier et al. 2021), ein Verwischen der Abgrenzung zwischen Tou‐ rist: innen und lokaler Bevölkerung bzw. zwischen einem touristischen und freizeitlichen Verhalten konstatiert werden. Wozu führt ein partielles Überlappen von Bedürfnissen von Stadtnutzer: innen - sei es temporär oder permanent - und eine ausbleibende dichotome Unterscheidung in touristisch und nichttouristisch? Medialer Tourismusdiskurs am Canal de l’Ourcq in der Metropolregion Paris 141 <?page no="142"?> 5 Zukünftiger Tourismus am Canal de l’Ourcq Die Rolle des Tourismus bzw. einer freizeitlichen Nutzung am Canal de l’Ourcq hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Die derzeit ablaufende Stadtentwicklung am Kanal führt zu neuen gastronomischen und kulturellen Angeboten, zu neuen Raumnutzungen und -aneignungen. Festivals wie das Festival Été du Canal und Internetplattformen (Explore Paris, Enlarge your Paris) mit vielfältigen Angeboten im Großraum Paris lenken die Aufmerksamkeit auch auf die Vororte von Paris. Auch die Olympischen Spiele im Jahr 2024 bringen eine eigene Dynamik mit sich, die zu vielfältigen Veränderungen in der Me‐ tropolregion Paris führt und zu einem Verwischen der Grenzziehung in Paris und banlieues führen kann. Unter anderem sollen bis 2024 alle touristischen Sehenswürdigkeiten per Rad zugänglich sein. Ein Datum, welches zufällig ausgesucht wurde? Resümierend lässt sich konstatieren, dass der Tourismus am Kanal eine steigende Bedeutung erfährt und das Potenzial des Gebietes erkannt wurde. Gerade Aktivitäten und Interessen, die unter dem New Urban Tourism subsummiert werden können, treten am Canal de l’Ourcq in Erscheinung. Das Angebot beispielsweise an gastronomischen Betrieben in den Städten am Ourcq-Kanal oder an Schifffahrten mit einem thematischen Schwerpunkt ist gestiegen und zieht die Menschen aus Paris und Umgebung an - eine Entwicklung, die noch vor zehn Jahren so nicht denkbar gewesen wäre und aufzeigt, dass die tradierte Grenzziehung in Paris intra-muros und die banlieues an Bedeutung verliert. Für die Zukunft wird vermutlich der Fahrradtourismus wichtiger werden, auch im Zusammenhang damit, dass der Radweg am Canal de l’Ourcq Teil der EuroVélo-Route EV3 ist, die von Trondheim in Norwegen bis Santiago de Compostela in Spanien (5.100 km) führt. Auch ein Industriekulturtourismus könnte mit Blick auf die Vergangenheit des Gebietes und die teils renovierten Industriegebäude wie beispielsweise die Grands Moulins und die Magasins généraux in Pantin Potenzial haben. Ein Imagewandel des Kanalgebietes ist im Gange, der Ourcq-Kanal und die ihn umgebende Plaine de l’Ourcq werden vermehrt als ein Gebiet der Möglichkeiten konstruiert und diskursiv mit positiven Attributen verknüpft. Nicht nur diskurstheoretisch bleibt es spannend, in welche Richtung sich die Entwicklung fortsetzt und wie sich der Alltag am Canal de l’Ourcq verändert und gestaltet. Förderhinweis | Der Artikel ist im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsvorhabens mit der Projektnummer 460749144 entstanden und Teil des Promotionsvorhabens von Corinna Jürgens. Kontakt Corinna Jürgens, Universität des Saarlandes | corinna.juergens@uni-saarland.de Quellen Albecker, Marie-Fleur (2015): Banlieues françaises/ La banlieue parisienne, périphérie réinvestie? 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Eine Analyse bei Reisen von Menschen mit Behinderung im UNESCO-Biosphärenreservat Bliesgau und dem transnationalen Europäischen Kulturpark „Bliesbrück-Reinheim“ Marcus Bauer, Ina Dupret, Achim Schröder Schlagwörter | barrierefreie touristische Angebote, grenzübergreifendes Reisen, Über‐ gänge in der Customer Journey, touristische Serviceketten, Zertifizierungssysteme zur Barrierefreiheit Abstract | Die Studie zu Übergängen in der Customer Journey und Schnittstellen in touristischen Serviceketten bei Reisen von Menschen mit Behinderung im UNESCO- Biosphärenreservat Bliesgau (Saarland) zeigt, dass in dem an der Grenze zu Frankreich gelegenen Gebiet erste barrierefreie Angebote geschaffen wurden. Diese beschränken sich jedoch auf einige wenige Arten von Behinderung und haben in erster Linie die bauliche Zugänglichkeit und technische Ausstattung einzelner Betriebe oder Freizeitangebote im Blick, ohne dabei die gesamte Servicekette zu betrachten. Handlungsbedarf besteht beim Aufbau eines Feedback- und Wissensmanagementsystems, auf dessen Grundlage Barrieren fortlaufend erfasst und Strategien zu deren Überwindung gesucht werden könnten. Ein weiteres Arbeitsfeld zur Schaffung einer barrierefreien Customer Journey besteht in der grenzübergreifenden Koordination zwischen den Anbietern touristischer Dienstleistungen. Mit dem Ziel, die Barrierefreiheit bei grenzübergreifenden Angeboten, wie z. B. im europäischen Kulturpark Bliesbrück-Reinheim, zu verbessern, wird eine transnationale Harmonisierung der Zertifizierungssysteme empfohlen. In der Abwägung der Vor- und Nachteile der Ansätze beider Länder liegt ein Potenzial, von dem beide Systeme profitieren könnten. 1 Hintergrund Barrierefreiheit ist ein umzusetzendes Menschenrecht, das auch den Bereich Reisen umfasst. Neben dem Aspekt der Nachhaltigkeit, ist Barrierefreiheit ein wichtiger Bestandteil touris‐ tischer Destinationsentwicklung. Angesichts des demographischen Wandels liegt in der Teilhabe Aller am Tourismus ein großes Potenzial (Kempf & Corinth 2023; Höglinger 2010). <?page no="146"?> Im UNESCO-Biosphärenreservat Bliesgau (BSRB), das gerade den ersten Preis im Bun‐ deswettbewerb Nachhaltige Tourismusdestinationen (2022/ 2023) gewonnen hat, wurden erste barrierefreie Angebote entwickelt. Angesichts der EU-weiten Vorgaben zur umfas‐ senden Gewährleistung der Barrierefreiheit, besteht im Untersuchungsgebiet allerdings noch Optimierungsbedarf. Aufgrund der Lage des Untersuchungsgebietes ergibt sich zudem die Herausforderung, ein grenzübergreifendes barrierefreies Reisen zu ermöglichen. Die Lage des Bliesgaus an der Grenze zu Frankreich gilt als eine der Attraktionen dieser Destination. Insbesondere stellt der grenzübergreifende Europäische Kulturpark Bliesbrück-Reinheim einen Publi‐ kumsmagnet dar. Obwohl sich der Park auf beide Seiten der Grenze erstreckt, wurde die Barrierefreiheit bislang nur auf der deutschen Seite zertifiziert. Darüber hinaus passieren Reisende (mit und ohne Behinderung) spontan und unbemerkt die Grenze, wenn etwa eine der Brücken über die Blies überquert wird, die an vielen Stellen die Landesgrenze markiert. Im Sinne einer barrierefreien Customer Journey bzw. Servicekette ist es wichtig, Barrierefreiheit auch für grenzüberschreitende Reisen zu gewährleisten. 2 Fragestellungen Eine von April 2023 bis Januar 2024 an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (htw saar) durchgeführte Studie widmet sich der Customer Journey bei Reisen von Menschen mit Behinderung im Biosphärenreservat Bliesgau. Dabei wird das touristische Angebot - angefangen bei den Phasen der Inspiration und Information vor der Reise, über die Buchung und den Aufenthalt vor Ort, bis hin zur Reflexion und Bewertung im Anschluss an die Reise - aus Perspektive der Kunden betrachtet. In der Studie berücksichtigt werden bauliche Barrieren, gleichermaßen wie Angebots- und Kommunikationshindernisse, differenziert nach Art der Beeinträchtigung. Erfreulicherweise sind in einzelnen Betrieben des Untersuchungsgebietes barrierefreie Angebote inzwischen gut ausgearbeitet und dokumentiert. Allerdings gibt es Hinweise auf Schwierigkeiten bei den Schnittstellen, an denen die einzelbetrieblichen Leistungen ineinandergreifen. Voraussetzung für Teilhabe ist aber, dass die gesamte Customer Journey - d. h. alle Kontaktpunkte der Reisenden, mit den touristischen Akteuren vor, während und nach der Reise - barrierefrei gestaltet ist. Entsprechend sollen explizit die Übergänge zwischen den einzelnen Gliedern der touristischen Servicekette untersucht werden. Er‐ gänzend wird der Frage nachgegangen, inwiefern barrierefreie Übergänge für Menschen mit Behinderungen im Untersuchungsgebiet grenzübergreifend gewährleistet sind. Dieser Aspekt wird anhand des Beispiels des grenzübergreifenden Europäischen Kulturparks Bliesbrück-Reinheim vertieft. 3 Methodische Vorgehensweise Mittels Desk Research wurden zunächst Ansätze des Qualitätsmanagements verglichen und auf ihre Eignung zur Analyse von Brüchen in den Serviceketten bei Reisen von Menschen mit Behinderung überprüft. Angesichts der Grenzlage des Untersuchungsgebietes wurden im Kontext der Dokumentenanalyse die Möglichkeiten einer grenzübergreifenden Zertifizierung 146 Marcus Bauer, Ina Dupret, Achim Schröder <?page no="147"?> 1 Siehe hierzu Deutsche UNESCO-Kommission e.-V. (2024). barrierefreier Angebote ausgelotet und das deutsche Zertifizierungssystem „Reisen für Alle“ mit dem französischen System „Destination pour tous“ verglichen. Durch eine Angebotsana‐ lyse im Untersuchungsgebiet wurden quantitative Marktdaten gewonnen. Auf der Grundlage leitfadengestützter Interviews (n = 6) mit Leistungsträgern aus der Tourismuswirtschaft, Destinationsmanagementorganisationen (DMO) und Reiseveranstaltern wurde ermittelt, wie diese Akteure barrierefreiem Tourismus gegenüberstehen und welcher Optimierungsbedarf diesbezüglich gesehen wird. Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte schrittweise anhand des theoretischen Samplings, das Interviewmaterial wurde computergestützt (F4) in Anleh‐ nung an die Grounded Theory ausgewertet (Strauss & Corbin 1996). Mit Hilfe von Mystery Checks sollen im weiteren Studienverlauf verschiedene Fälle konkreter Reisevorhaben von Menschen mit Behinderung definiert und touristische Serviceketten vor Ort exemplarisch auf der Grundlage der teilnehmenden Beobachtung (Thomas 2019) untersucht werden. Daraus sollen praxisorientierte Handlungsempfehlungen zur Weiterentwicklung der Barrierefreiheit abgeleitet werden, die sich an die relevanten Akteure richten. Als Endprodukt ist eine mehrstufige Checkliste geplant, die Wege zur barrierefreien Gestaltung der Customer Journey für verschiedene Beeinträchtigungsgruppen aufzeigt. Im Folgenden werden erste Ergebnisse der Dokumentenanalyse, der Angebotsanalysen und der leitfadengestützten Interviews dargestellt. 4 Ergebnisse 4.1 Administrative Struktur des UNESCO Biosphärenreservats Bliegau Als Untersuchungsgebiet wurde das 2009 von der UNESCO ausgezeichnete Biosphärenre‐ servat 1 Bliesgau (BSRB) gewählt. Dieses weist einige geographische und administrative Besonderheiten auf: Geographisch bezeichnet der Bliesgau die hügelige Landschaft rechts und links des Flusses Blies, der teilweise die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich bildet (→ Abbildung 1). Das BSRB umfasst den deutschen Teil dieser Landschaft. Die Biosphärengemeinden sind Teil der Landkreise Saarpfalz-Kreis sowie des Regionalverbands Saarbrücken, die wiederum Teil des Bundeslandes Saarland sind. Entsprechend sind auch die Verwaltung und die touristische Vermarktung des BSRB subsidiär organisiert. Auf lokaler Ebene ist der öffentlich-rechtliche Zweckverband Saarpfalz-Touristik zuständig, in dessen Gebiet der größte Teil des BSRB liegt. Dieser arbeitet eng mit dem Biosphären‐ zweckverband Bliesgau zusammen, der für die Verwaltung des BSRB zuständig ist. Beim übergeordneten Bundesland Saarland ist die touristische Vermarktung und Entwicklung in der Tourismus Zentrale Saarland gebündelt. Zusätzlich gehört das Gebiet des BSRB zu den transnationalen Verbünden Eurodistrict Saar-Moselle sowie zur sog. Großregion. Auf der französischen Seite grenzt das BSRG an die administrativen Einheiten der Stadt Saargemünd und die Verbandsgemeinden Pays de Bitche und Sarreguemines Confluences sowie an die übergeordneten Verwaltungseinheiten Departement Moselle und die Region Grand Est. Die touristische Vermarktung des auf der französischen Seite der Blies gelegenen Übergänge grenzübergreifend barrierefrei gestalten 147 <?page no="148"?> Gebietes läuft nach wie vor unter der ehemaligen Verwaltungseinheit Lothringen, die administrativ 2016 in der Region Grand Est aufgegangen ist. Abbildung 1: Die Lage des Biosphärenreservats Bliesgau | Quelle: Saarpfalz-Touristik 2024 4.2 Rechtlicher Rahmen Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) „konkretisiert und spezifiziert die universellen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behin‐ derungen vor dem Hintergrund ihrer Lebenslagen“ (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen 2023). Sie ist seit 2009 geltendes Recht in Deutschland, welches von allen staatlichen Stellen umgesetzt werden muss und klare Maßnahmen fordert. Diese verlangen den „gleichberechtigten Zugang zur physischen Um‐ welt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten“ (UN-BRK, Art. 9 2013). Explizit auf den touristischen Kontext geht Artikel 30 ein, der sich der Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport widmet und fordert, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen sowohl Zugang zu Sport-, Erholungs- und Tourismusstätten, als auch zu Dienstleistungen der Organisatoren von Erholungs-, Tourismus-, Freizeit- und Sportaktivitäten haben (vgl. UN-BRK, Art. 30, Abs. 5c und e 2013). Analog gelten die Vorgaben der UN-Konvention durch die Adaptierung in nationales Recht zu Ende 2009 auch für Frankreich. Ende Juni 2022 lief zudem die Frist für die EU- Mitgliedstaaten ab, den Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit in nationales Recht 148 Marcus Bauer, Ina Dupret, Achim Schröder <?page no="149"?> umzusetzen. Die Unternehmen haben seitdem drei Jahre Zeit, um ihre Dienstleistungen und Produkte an die gemeinsamen EU-Anforderungen an die Barrierefreiheit anzupassen (Euro‐ päische Kommission 2022). Der Europäische Rechtsakt zur Barrierefreiheit ist eine Richtlinie, die das Funktionieren des Binnenmarktes für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen durch die Abschaffung unterschiedlicher Vorschriften in den Mitgliedstaaten verbessern soll. Sie betrifft Produkte und Dienstleistungen‚ die für Menschen mit Behinderungen als besonders wichtig eingestuft wurden und für die am wahrscheinlichsten unterschiedliche Anforderungen an die Barrierefreiheit in den einzelnen EU-Ländern gelten. Für den Tourismus sind vor allem die Dienstleistungen im Bereich Flug-, Bus-, Bahn- und Schiffsverkehr relevant (Europäische Kommission 2019). Zum 22. Juli 2022 wurde die Richtlinie in Deutschland durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in nationales Recht überführt und gilt somit für Produkte, die nach dem 28. Juni 2025 in den Verkehr gebracht werden (BMAS 2021). 4.3 Barrierefreie Angebote im Biosphärenreservat Bliesgau An dieser Stelle wird ein Überblick über die adressierten Kundengruppen und die be‐ stehenden barrierefreien Angebote im Untersuchungsgebiet gegeben, differenziert nach verschiedenen Behinderungsarten. Anhand der Ergebnisse der Internetrecherche und der Experteninterviews wird erläutert, welche Möglichkeiten es für Kunden gibt, sich zu barrierefreiem Reisen im Bliesgau zu informieren. Darüber hinaus wird auf die Aspekte der barrierefreien An- und Abreise und der Möglichkeit zum Feedback im Anschluss einer Reise eingegangen. Somit werden die wesentlichen Phasen der Customer Journey berücksichtigt. Angesprochen auf Möglichkeiten zur Information vor der Reise weisen die im Kontext der vorliegenden Studie interviewten Vertreter der Destinationsmanagementorganisati‐ onen auf die Schwierigkeit hin, umfassende und aktuelle Daten zur Barrierefreiheit zur Verfügung zu stellen. Gleichwohl wird auf der Webseite der Saarpfalz-Touristik (vgl. Saarpfalz-Touristik 2023) über Angebote informiert, die anhand des Zertifizierungssystems „Reisen für Alle“ bewertet wurden und deren Prüfergebnisse abgerufen werden können. Bezüglich der barrierefreien An- und Abreisemöglichkeiten wird in den Experteninter‐ views von den Befragten eher wenig Handlungsbedarf gesehen. Demzufolge ist die Bar‐ rierefreiheit im Zuge der Umsetzung des aktuellen Nahverkehrsplans deutlich verbessert worden, z. B. durch den Umbau zahlreicher Bushaltestellen. Allerdings wird eingeräumt, dass eine barrierefreie An- und Abreise ins Bliesgau per ÖPNV nicht immer garantiert werden könne, da es in der Verantwortlichkeit der Verkehrsunternehmen liege, barriere‐ freie Fahrzeuge zuverlässig bereitzustellen. Bezüglich Beherbergung und Gastronomie sind nach Angabe der Saarpfalz-Touristik zum Erhebungszeitpunkt 39 Hotels und 186 Ferienwohnungen gemeldet (Stichtag 17.05.2023). Die Meldung erfolgt durch die jeweiligen Gemeinden. Für vier der Unterkünfte stehen die Prüfdaten des Systems „Reisen für Alle“ bereit. Darüber hinaus sind auf der Web‐ seite der Saarpfalz-Touristik vier weitere Unterkünfte genannt, die teilweise barrierefrei bzw. behindertenfreundlich sind (Saarpfalz-Touristik 2023). Weitere Angaben zur Barrie‐ refreiheit liegen nicht vor, ebenso wenig gibt es - so die Interviews - ein zentrales System zur Kategorisierung und Speicherung derartiger Informationen. Auf Online-Beherbergung‐ sportalen ergibt sich für den Saarpfalz-Kreis jedoch ein anderes Bild: auf Booking.com Übergänge grenzübergreifend barrierefrei gestalten 149 <?page no="150"?> sind weitaus mehr, nämlich 337 Unterkünfte gelistet, auf Airbnb 130 Unterkünfte (Stichtag: 07.06.2023). Hier ist jedoch festzuhalten, dass eine genaue geographische Eingrenzung nicht gewährleistet ist und auch Angebote aus angrenzenden Gebieten eingerechnet sein können. Gleichwohl bieten beide Plattformen diverse Filtermöglichkeiten zur Barrierefreiheit der Unterkünfte an, die eine Bandbreite von „gesamte Unterkunft rollstuhlgerecht“ bis „visuelle Hilfe: fühlbare Zeichen“ umfassen. Inwieweit diese Angaben verlässlich sind, bleibt für den potenziellen Gast unklar, da sie auf Eigenbewertung der Inserenten beruhen. Festzuhalten bleibt, dass Erfassungsoptionen für barrierefreie Angebote teils auf externen Plattformen verfügbar sind, es aber Diskrepanzen zwischen tatsächlichem und erfasstem Angebot geben kann. In Bezug auf die Bereitstellung von Informationen zu barrierefreien Angeboten im Bereich der Gastronomie wird von Seiten der Interviewten Handlungsbedarf gesehen. Die Schaffung barrierefreier touristischer Freizeitangebote im Untersuchungsgebiet ging zunächst vom „Netzwerk Hören“ aus, das sich im Umfeld der Cochlea-Implantat- Versorgung, mit Unterstützung vom Saarländischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Verkehr, gründete. Dank dieser Initiative wurden im gesamten Saarland schon früh touristische Angebote für gehörlose und hörbeeinträchtigte Menschen bereitgestellt. Im Bliesgau wurden u.-a. acht Lauschtouren in Gebärdensprache produziert, auch werden induktive Höranlagen oder Gebärdendolmetscher bei Gästeführungen angeboten. In der Kreisstadt Homburg ist die Tourist-Info speziell für Hörgeschädigte ausgestattet. Den leitfadengestützten Interviews zufolge wurden in den vergangenen Jahren die touristischen Angebote im BSRB zunehmend auf die Bedarfe von Menschen mit Mobilitäts‐ beeinträchtigung ausgerichtet. Angesichts der alternden Gesellschaft gehen die Befragten von einem wachsenden Markt für diese Bevölkerungsgruppe aus. Beispielsweise ist geplant, die Erlebnislandtafeln in der Biosphäre tiefer zu setzen, damit Rollstuhlfahrer sie lesen können. Als eine bleibende Herausforderung wird die flächendeckende Bereitstellung barrierefreier Toiletten für diese Zielgruppe thematisiert. Ein großes Entwicklungspotenzial liegt - so die Ergebnisse der Interviews - allgemein im Bereich „Naturerlebnis“ für Menschen mit Behinderungen. Auch wenn ein erster barrierefreier Wanderweg gestaltet wurde, wird im Interview die Gewährleistung der Übergänge in den Serviceketten bei der Nutzung dieses Angebotes angezweifelt. Beispielsweise gilt als proble‐ matisch, dass sich in der Nähe des Wanderwegs keine barrierefreien Unterkünfte befinden. Ein noch wenig erschlossenes Potenzial liegt - den Interviews zufolge - in touristischen Angeboten für Blinde und Menschen mit Sehbeeinträchtigung. Für diese Kundengruppe wurden bisher nur wenige spezifische Angebote entwickelt, wie z. B. eine Gästeführung mit Tastmodell in der Stadt Sankt Ingbert. Was die Angebote für Menschen mit kognitiven Einschränkungen betrifft, wird u. a. auf einen Erlebnisweg in leichter Sprache und auch auf spezifische Gästeführungen verwiesen. Abgesehen von persönlichen Notizen oder Ablagesystemen gibt es bei den zuständigen Tourismusinstitutionen kein systematisches Wissensmanagement- oder Feedbacksystem, in dem Informationen zu Barrieren bzw. Barrierefreiheit gespeichert werden. Zwar gibt es gelegentlich Kundenanfragen, die Informationen zu Barrierefreiheit betreffen. Die Bereit‐ stellung von Information zu den Angeboten basiert dann jedoch auf ad hoc Recherchen und persönlichen Kontakten. 150 Marcus Bauer, Ina Dupret, Achim Schröder <?page no="151"?> In Bezug auf die potenziellen Kundengruppen für barrierefreie Angebote im BSRB geht aus den Interviews hervor, dass der Mehrwert weniger in der Bereitstellung exklusiver Angebote liegt, sondern in der Attraktivität der Destination für inklusive Gruppen, an die sich auch die Vermarktungsstrategien primär richten. Reisen von Menschen mit Behinderung in das BSRB finden demzufolge vor allem in inklusiven Gruppen statt, wobei es sich z. B. um Familien-, Schul-, Betriebs- oder Vereinsausflüge handeln kann. Von diesen Kunden werden gezielt Destinationen ausgewählt, die für alle zugänglich und auch für Menschen mit Behinderung attraktiv sind. Zugleich wird im Interview angemerkt, dass spezifische Angebote, die Menschen mit einer bestimmten Behinderungsart adressieren, nur bedingt angenommen werden. „Die Behinde‐ rung ist kein Reiseanlass. (…). Das heißt, Barrierefreiheit muss was ganz Selbstverständliches sein“ (Interview Nr. 3, Minute 10: 43-10: 50). Auch wenn gelegentlich spezifische Angebote, wie etwa Führungen für Blinde oder Veranstaltungen mit Gebärdendolmetscher nachgefragt würden, liege der Schwerpunkt auf inklusiven Veranstaltungen. Entsprechend sei es wichtig, die Zugänglichkeit in der Fläche zu ermöglichen und besondere Hilfsmittel, wie etwa FM- Anlagen oder Rollstuhl-Adapterräder für den Bedarfsfall vorzuhalten. Aufgrund der hohen Kosten könnten einzelne Bedarfe, wie z. B. Veranstaltungen mit Gebärdendolmetschern, oder Führungen für Blinde, allerdings nur auf explizite Nachfrage organisiert werden. Die Befragten sind sich einig, dass zahlreiche Anpassungen zur Gewährleistung der Barrierefrei‐ heit auch für Reisende ohne Behinderung vorteilhaft sind. Als Beispiele werden Maßnahmen zur Reduktion von Reizen, bzw. Besichtigungen in gemütlichem Tempo oder Informationen in übersichtlicher, leicht verständlicher Sprache angeführt. 4.4 Grenzübergreifendes barrierefreies Reisen In Anbetracht der Tatsache, dass die Grenzlage zur touristischen Attraktivität des BSRB beiträgt, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, inwiefern im Bliesgau ein grenzüber‐ greifendes barrierefreies Reisen ermöglicht wird. In den Interviews mit Vertretern der DMOs wird angeführt, dass es hierzu noch kein grenzübergreifendes Konzept gibt. Als eine grundsätzliche Hürde für die transnationale Zusammenarbeit im Bereich des Tourismus wird in diesem Kontext die Tatsache genannt, dass politische Vertreter unterschiedlicher Hierarchieebenen eingeschaltet werden müssten und die Zuständigkeiten dabei nicht immer klar seien. Erschwerend käme hinzu, dass in Frankreich viele Entscheidungen auf der Ebene der Departements, d. h. in der entfernt liegenden Stadt Metz getroffen würden. Gute Erfahrungen gebe es allerdings im direkten grenzübergreifenden Kontakt zwischen benachbarten Bürgermeistern oder auch unter den Mitarbeitenden der Parkverwaltung des europäischen Kulturparks Bliesbrück-Reinheim. Verbesserungen zeichnen sich demzufolge auch dank des Prozesses der Dezentralisierung der französischen Verwaltung ab, die seit der Gründung der Gemeindezweckverbände in Frankreich vollzogen würde. Der Stellenwert einer grenzübergreifenden Koordination zur Gewährleistung barriere‐ freien Reisens soll im Folgenden anhand des Europäischen Kulturparks „Bliesbrück-Rein‐ heim“ verdeutlicht werden. Der an der Blies gelegene Archäologiepark erstreckt sich auf beiden Seiten der Grenze und umfasst Attraktionen wie eine römische Palastvilla, ein Fürstinnengrab und eine römische Kleinstadt mit Thermen. Mit dem Ziel, die transnationale Übergänge grenzübergreifend barrierefrei gestalten 151 <?page no="152"?> Zusammenarbeit im europäischen Kulturpark zu erleichtern, wurde im Jahr 2022 der trans‐ nationale Verein „Vita Futura“ gegründet, an dem die unterschiedlichen Verwaltungsebenen beteiligt sind. Durch die Vereinsgründung sollen laut Interview Abstimmungswege verkürzt und Beschlüsse direkter umgesetzt werden. Angedacht sind ein gemeinsames Budget, eine gemeinsame Vermarktung, eine einheitliche Webseite und Bezeichnung des Parks. Obwohl Touristen gewöhnlich sowohl den deutschen als auch den französischen Teil besuchen und die Landesgrenze im Inneren des Parks bewusst nicht markiert ist, beschränkt sich die Zertifizierung der Barrierefreiheit nach „Reisen für Alle“ ausschließlich auf den deutschen Bereich. Um eine gemeinsame Zertifizierung des Parks in Hinblick auf Barrie‐ refreiheit zu ermöglichen, müssten zunächst die unterschiedlichen Zertifizierungssysteme beider Länder in Einklang gebracht werden, bzw. es müsste entschieden werden, nach welchem System sich die Zertifizierung richtet oder ob der Park eventuell in Gänze von beiden Systemen zertifiziert werden könnte. Die Dokumentenanalyse ergab, dass in beiden Ländern Systeme entwickelt wurden, die sich grundlegend voneinander unterschieden (→ Tabelle 1). Gegenstand der Zertifizierung ist im französischen System „Destination pour tous“ ein zusammenhängendes, touristisch wertvolles Territorium (vgl. DGE 2015). Dagegen können in Deutschland auch kleinere Einheiten wie einzelne Betriebe, Wander- oder Radwege nach „Reisen für Alle“ zertifiziert werden (vgl. DSFT e. V. 2021). Bei „Reisen für Alle“ werden als Prüfkriterien bauliche Krite‐ rien zugrunde gelegt, ergänzt mit Vorschriften zur erforderlichen technischen Ausstattung. Im französischen System werden bei einer Zertifizierung umfassendere Kriterien zugrunde gelegt, wie z. B. eine barrierefreie autonome Anreise, die finanzielle Zugänglichkeit und ein Mindestmaß an privaten und öffentlichen Dienstleistungen, wie etwa der Zugang zu Internet, Gesundheitsversorgung und zu Dienstleistungen des alltäglichen Lebens. Eine deutsch-französische Zertifizierung im Europäischen Kulturpark könnte sich insofern nicht - wie bei „Reisen für Alle“ - auf den Park beschränken. Sie müsste ein deutlich größeres Gebiet einbinden. Auch wäre die Zertifizierung in Frankreich mit dem Aufbau institutioneller Strukturen zur Steuerung, Umsetzung, Monitoring und Evaluation des barrierefreien Reisens gekoppelt. Die Gegensätzlichkeit beider Systeme legt eine Anwen‐ dung beider Ansätze im Europäischen Kulturpark Bliesbrück-Reinheim nahe, mit dem Ziel die Vorzüge der jeweiligen Zertifizierungssysteme gezielt miteinander zu kombinieren: Vorteil des französischen Modells ist die barrierefreie Gestaltung von Serviceketten über die Angebote einzelner Anbieter hinaus. Zwar können bei Reisen für Alle auch Orte, Regionen oder Angebotsbündel zertifiziert werden, ein großes Potenzial im französischen System liegt jedoch in der Tatsache, dass die organisatorischen Strukturen (z. B. Projektleitung, Betroffenenbeteiligung, Kommunikationsstrategie Monitoring und Evaluation) für das Management des barrierefreien Territoriums prinzipiell mitgeschaffen werden. Die Vor‐ züge im Zertifizierungssystem von Reisen für Alle liegen dagegen darin, dass detaillierte, bauliche Vorgaben zugrunde gelegt werden. Dadurch können Reisende und Anbieter vorab konkret einschätzen, ob ein Angebot barrierefrei zugänglich ist. Hier ist jedoch einzuräumen, dass diese Informationen für Reisende keine Garantie der Zugänglichkeit darstellen, solange es Barrieren in den Übergängen zwischen den Serviceketten gibt, die im Zertifizierungssystem nicht beachtet wurden. Auch beziehen sich die Prüfkriterien nahezu ausschließlich auf baulich-technische Aspekte und nicht etwa auf Verhaltensweisen im 152 Marcus Bauer, Ina Dupret, Achim Schröder <?page no="153"?> Service. Das französische System enthält dagegen Maßnahmen zur Sensibilisierung und kann insofern auch „Barrieren in den Köpfen“ adressieren. - Reisen für Alle (Deutschland) Destination pour tous (Frankreich) Behinderungs‐ arten Sieben Kategorien: Menschen mit Gehbehinderung, Rollstuhlfahrer, Menschen mit Hörbehinderung, Gehörlose Menschen, Menschen mit Sehbehinderung, Blinde, Men‐ schen mit kognitiven Beeinträchti‐ gungen Mindestens zwei von vier Kategorien: Hörbehinderung, Sehbehinderung, ko‐ gnitive Beeinträchtigung oder Beein‐ trächtigung der Mobilität Dauer Drei Jahre mit Option zur Rezerti‐ fizierung Label für drei Jahre, danach schrittweise Ausweitung auf weitere Behinderungs‐ arten und Verbesserung der Barrierefrei‐ heit erforderlich Gegenstand Betriebe, Wander- und Radwege, ganze Orte, Regionen als Touris‐ musregion oder Angebotsbündel Zusammenhängendes, touristisch wert‐ volles Territorium Zertifizierungs‐ verfahren Geschulte Prüfer, keine Selbstein‐ schätzung durch Dienstleister, li‐ zensierte Partner in den Bundes‐ ländern, Zertifizierung durch die Prüfstelle Bewerbung bei Association Tourisme & Handicaps; Vorauswahl durch natio‐ nale Kommission (CN) mit Beteiligung diverser Akteure, Einsetzung Experten‐ kommitée, Audit, Beschluss durch CN Kriterien Prüfkriterien für Barrierefreiheit für jede Kategorie, fast ausschließ‐ lich bauliche Kriterien und Aus‐ stattung, keine Vorschriften zu Verhaltensweisen Touristische Attraktivität; barrierefreie autonome Anreise; barrierefreie Kom‐ munikation; finanzielle Zugänglichkeit; muss Auswahl an touristischen Ange‐ boten enthalten; Service des alltägli‐ chen Lebens; Verfügbarkeit privater und öffentlicher Dienstleistungen; Internet; Gesundheitsversorgung, Verkehrsanbin‐ dung; ganzjährige Angebote; Möglich‐ keiten der Fortbewegung am Ort etc. Umsetzung Bereitstellung Qualitätssiegel und Urkunde; detaillierte Informa‐ tionen zur Zugänglichkeit für ein‐ zelne Personengruppen auf Web‐ seite; Schulung mindestens eines Mitarbeiters; Kennzeichnung Bar‐ rierefreiheit geprüft, wenn teil‐ weise oder vollständig erfüllt Einrichtung Projektleitung, Steuerungs‐ komitee, Vorsitz durch lokale Auto‐ rität; Betroffenenbeteiligung, Informati‐ onskampagne bei lokalen Fachkräften zu besonderen Bedarfen (Zielgruppe: Fachkräfte, Dienstleister, Anbieter), Kommunikationsstrategie; regelmäßige Fortschrittsberichte, Einrichtung eines Feedbacksystems für Kunden; Audit mit Mystery Checks Tabelle 1: Vergleich der Zertifizierungssysteme | Quelle: Eigene Zusammenstellung in Anlehnung an DSFT e.-V. 2021 und DGE 2015 Übergänge grenzübergreifend barrierefrei gestalten 153 <?page no="154"?> 5 Fazit Die vorläufigen Ergebnisse der Studie illustrieren, dass im UNESCO-Biosphärenreservat Bliesgau erste Schritte zur Bereitstellung barrierefreier Angebote unternommen wurden. Um touristische Destinationen flächendeckend für Menschen mit unterschiedlicher Beein‐ trächtigung zugänglich zu machen, müssten diese Initiativen erweitert werden. Insbeson‐ dere müssten die Schnittstellen zwischen den Serviceketten einzelner Leistungsträger berücksichtigt werden und zentrale Aspekte der Customer Journey, wie die Information vor Beginn der Reise, die Buchung, An- und Abreise oder Transport vor Ort, noch stärker in den Blick genommen werden. Mit dem Ziel, diese Übergänge zu erleichtern, wäre der Aufbau eines Feedback- und Wissensmanagementsystems zu den bestehenden Barrieren und zu barrierefreien Angeboten hilfreich. Um den Reisenden darüber hinaus grenzübergreifende barrierefreie Reisen zur ermög‐ lichen, wäre eine institutionelle Abstimmung mit französischen Akteuren geboten. Die Erfahrungen im Untersuchungsgebiet weisen darauf hin, dass die transnationale Koopera‐ tion auf der Ebene dezentraler Strukturen teilweise gut funktioniert. Zur Abstimmung der Verfahren, wie z. B. der Zertifizierungssysteme, müssten allerdings auch die zen‐ tralen Entscheidungsinstanzen eingebunden werden. Angesichts der unterschiedlichen Ausrichtung beider Zertifizierungssysteme könnte eine Kombination beider Ansätze im Europäischen Kulturpark Bliesbrück-Reinheim gewinnbringend sein. Das französische Zertifizierungssystem bietet den Vorteil, dass es mit seinem territorialen Ansatz, die gesamte Servicekette, inklusive der einzelbetrieblichen Übergänge in den Blick nehmen kann. Im deutschen System sind dagegen sehr detaillierte bauliche Vorschriften enthalten, die in eine Zertifizierung nach dem französischen System einfließen könnten. Kontakt Marcus Bauer, htw saar | marcus.bauer@htwsaar.de Ina Dupret, htw saar | ina.dupret@htwsaar.de Achim Schröder, htw saar | achim.schroeder@htwsaar.de Quellen Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen: UN Behinder‐ tenrechtskonvention. 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Beelitz, Frauke Boltz, Lena Braitmayer, Anja Brittner-Widmann, Sarah Dornheim, Ina Dupret, Bernd Eisenstein, Jasmin Guerra, Kerstin Heuwinkel, Corinna Jürgens, Alexander Koch, Anne Köchling, Manon Krüger, Acácia Malhado, Ralf Rockenbauch, Knut Scherhag, Bettina Schmalfeld, Achim Schröder, Sabrina Seeler und Jessica Zenner Der Tagungsband richtet sich an Forschende und Studierende der Tourismus-, Sozial- und Geowissenschaften. Er ist zudem für die Tourismuspraxis und -politik eine aufschlussreiche Lektüre.