Kommunale Fürsorge am Bodensee
Das Konstanzer Jugendamt 1925 bis 2025
0303
2025
978-3-3811-3292-8
978-3-3811-3291-1
UVK Verlag
Jürgen Klöckler
10.24053/9783381132928
Die Stadtverwaltung Konstanz hat eine Besonderheit in ganz Baden-Württemberg aufzuweisen: Als einzige kreisabhängige Stadt verfügt sie seit genau 100 Jahren über ein eigenes Sozial- und Jugendamt. Dessen Geschichte wird hier kritisch aufgearbeitet, insbesondere auch die Zeit des Nationalsozialismus und die Jahre unter französischer Besatzung. 13 Autorinnen und Autoren liefern ein facettenreiches Bild einer städtischen Institution, ohne sich dabei einer trockenen Verwaltungssprache zu bedienen. Es werden durchaus intime Einblicke in die aktuelle Arbeit gegeben, auch zur Kindeswohlgefährdung, die aufgrund spektakulärer Fälle in den letzten Jahren verstärkt in den Medien und der Gesellschaft diskutiert wird.
<?page no="0"?> Jürgen Klöckler (Hg.) Kommunale Fürsorge am Bodensee Das Konstanzer Jugendamt 1925 bis 2025 <?page no="1"?> Kommunale Fürsorge am Bodensee <?page no="3"?> Jürgen Klöckler (Hg.) Kommunale Fürsorge am Bodensee Das Konstanzer Jugendamt 1925 bis 2025 <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381132928 © UVK Verlag 2025 ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 1619-6554 ISBN 978-3-381-13291-1 (Print) ISBN 978-3-381-13292-8 (ePDF) ISBN 978-3-381-13293-5 (ePub) Umschlagabbildung: © Stadtarchiv Konstanz, StAKN Z1.fi.891.2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 13 17 21 49 105 201 235 Inhalt Andreas Osner Grundsätzliche Überlegungen zum Jubiläum des Sozial- und Jugendamts vom Ersten Beigeordneten und Sozialbürgermeister der Stadt Konstanz . . Verena Göppert Ein Lob der kommunalen Selbstverwaltung. 100 Jahre Eigenständigkeit des Konstanzer Jugendamts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Wiesner Das Stadtjugendamt Konstanz feiert Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Singer Der Blick von außen: Interviews mit Vertretern des Städtetags, des Landratsamts Konstanz, der Arbeiterwohlfahrt und der katholischen Verrechnungsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klöckler Von der Gründung des Konstanzer Jugendamts in der Weimarer Republik, seiner Radikalisierung im NS-Staat und der Neuausrichtung nach 1945 oder: Wie setzte eine städtische Kollegialbehörde nach 1933 das „Führerprinzip“ um? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Treude Das Stadtjugendamt Konstanz. Eigenständigkeit und Entwicklung der Jugendhilfe seit den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Singer Der Blick von innen: Interviews mit einem vormaligen Konstanzer Sozialbürgermeister, (ehemaligen) Sozial- und Jugendamtsleitungen und einer Mitarbeiterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günther Wagner Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot. Die sozialpädagogische Entwicklung des Jugendamts Konstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 269 283 305 327 349 363 Barbara Behrensmeier Die Amtsvormundschaft. Rollenverständnis und Aufgabenwahrnehmung im gesellschaftlichen und politischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Luft Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung. Zur Entwicklung der frühkindlichen Betreuung, Erziehung und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . Mandy Krüger Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz . . . . . . . . . . Wolfgang Seibel Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz. Gesetzlicher Auftrag, soziale Wirklichkeit und dilemmatischer Verwaltungsalltag am Beispiel der Kindeswohlgefährung . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Kaufmann Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Grundsätzliche Überlegungen zum Jubiläum des Sozial- und Jugendamts vom Ersten Beigeordneten und Sozialbürgermeister der Stadt Konstanz Andreas Osner Liebes Jugendamt! Herzlichen Glückwunsch zu Deinem hundertsten Geburtstag! Ich bin nicht nur glücklich, dass dieses Jubiläum einer so bedeutenden städti‐ schen Institution ausgerechnet in meine Amtszeit fällt. Sondern als Sozialde‐ zernent, dem die Themen Kinder, Jugend und Familie seit eh und je eine Herzensangelegenheit sind, bin ich auch stolz, dieses ehrwürdige Jugendamt, das nicht nur altersbedingt, sondern auch aus inhaltlichen Gründen landesweit ein ganz besonderes ist, als die Gesellschaft tragende und bildende Institution in meinem Dezernat zu wissen. Warum blicke ich mit Freude, Dankbarkeit und Respekt auf Deinen hun‐ dertsten Geburtstag zurück? Und auch auf nunmehr zwölf Jahre hochproduk‐ tive, kreative und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Dir? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten deines politischen Wegbegleiters. Aus dem Nähkästchen eines langjährigen Ersten Beigeordneten und Sozialdezernenten in Konstanz möchte ich folgendes berichten: Erste Anmerkung Du, liebes Jugendamt, bist ein echtes Unikat im Ländle. Und zwar bist Du das einzige eigene Jugendamt in der Obhut einer kreisangehörigen Stadt in Baden-Württemberg. Für die kommunale Welt im Ländle ist es „üblich“, dass selbst kreisangehörige Großstädte, wie z. B. Reutlingen mit knapp 119.000 Einwohnerinnen und Einwohnern kein eigenes Jugendamt haben, sondern dass sie essenzielle Kernaufgaben ihrer kommunalen Selbstverwaltung wie Kindeswohl, früheste Förderung, Kinderschutz, familiäre Präventionssysteme, Allgemeiner Sozialer Dienst etc. - meines Wissens nicht ganz freiwillig - von ihrem Landkreis mit erledigen lassen. In der hiesigen Amtssprache sagt man: „S’isch, wie’s isch“, echt schwäbisch halt. Kommt ja auch billiger. <?page no="8"?> Gottseidank liegt Konstanz im badischen Landesteil. Aber auch für Städte in Nordrhein-Westfalen wäre dies ein absolutes Unding. Erlauben Sie mir bitte - da ich in Dortmund aufwuchs und lange in Ostwestfalen lebte - einen kleinen verwaltungswissenschaftlichen Exkurs: Die kreisangehörige Stadt Verl in Westfalen mit einer nicht mal 26000 Köpfe zählenden Einwohnerschaft hat sich im Jahr 2010 ihr eigenes Jugendamt vom Kreis Gütersloh „abgetrotzt“. Sicherlich nicht, weil es billiger war, sondern für den Wirtschaftsstandort Verl (Bertelsmann, Miele und ein breit aufgestellter Mittelstand) bildungs- und standortpolitisch die bessere Lösung. Die kreisangehörige Großstadt Paderborn (mit ca. 156.000 Einwohnerinnen und Einwohnern) würde niemals über eine Abgabe von Jugendhilfeplanung, erzieherischen Hilfen und Allgemeinem Sozialen Dienst an den Kreis Paderborn auch nur nachdenken. Ihr eigenes Jugendamt gehört selbstverständlich und mit guten fachlichen Gründen zu den Kernkompetenzen - und auch zur politischen Verantwortung - dieser wirtschaftlich prosperierenden, vielfältigen und sich ständig wandelnden Großstadt. Dafür darf sich - der Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen sei Dank - das vom Volk gewählte Paderborner Stadtoberhaupt nicht Oberbürgermeister nennen, sondern „nur“ Bürgermeister. Ein Frevel für baden-württembergische Rathauschefs, die auch in kreisangehörigen Kommunen als Oberbürgermeister angesprochen werden. Die Westfalen haben es halt nicht so mit den Titeln: Sie gönnen den direkt gewählten kreisangehörigen Stadtoberhäuptern das Wörtchen „Ober“ nicht in deren Bürgermeistertitel, aber dafür wird deren städtische Trägerschaft von Jugendämtern auch nicht in Frage gestellt. Diese launige Erzählung hat einen ernsten Hintergrund. Denn unser städtisches Jugendamt ist in unregelmäßigen Abständen der neueren Konstanzer Verwaltungsgeschichte, das heißt circa alle zehn bis 15 Jahre, immer wieder in seinem Status Quo bedroht gewesen. Insbesondere dann, wenn sich die Haushaltslage dramatisch verschlechtert und die Ver‐ teilungskämpfe zwischen den Bereichen Soziales, Kultur, Bildung, Verkehr, Klimaschutz und Stadtplanung heftiger werden. Aber glücklicherweise konnten aufkeimende Debatten über eine Delegation der Trägerschaft der Jugendhilfe an den Landkreis Konstanz, mit dem Ziel, auf der Ausgabenseite Geld zu sparen, immer wieder mit guten fachlichen Argumenten und Unterstützung unseres Oberbürgermeisters Uli Burchardt im Konsens beendet werden. Die eigene Trägerschaft der Jugend- und Familienpolitik aufzugeben würde die Aufspaltung eines synergetischen, hochwirksamen Jugendamts und dessen ganzheitlicher vorausschauender Präventionsarbeit bedeuten, bei gleichzei‐ tigem Verlust des örtlichen Bezugs. Die Abgabe unserer jugendpolitischen 8 Andreas Osner <?page no="9"?> Kernverantwortung an den Landkreis Konstanz würde das Mark unserer so‐ zialen Infrastruktur treffen und ein unwiederbringliches Loch ins Wurzelwerk der Konstanzer Gesellschaft reißen. Denn jede größere Stadt oder Gemeinde braucht ihr eigenes Jugendamt. Hier werden mit detaillierter Ortskenntnis, großem Identifikationsgefühl und Enga‐ gement die Grundlagen für das gedeihliche und geschützte Aufwachsen von Kindern in ihren Familien geschaffen. Familienrisiken und Gefährdungsfälle werden frühzeitig erkannt, früheste Förderung wird - möglichst präventiv und mit allen Akteuren vernetzt - gewährleistet, es wird kein Kind zurückgelassen. Das eigene Jugendamt - und vor allem unser städtischer Jugendhilfeausschuss - tragen eine hohe Verantwortlichkeit und Eigenmotivation in sich, das Best‐ mögliche für die Teilhabe aller Kinder, deren Schulfähigkeit und Ausbildungs‐ fähigkeit herauszuholen. Für diesen klugen und weitsichtigen Grundkonsens mit der Politik sind wir sehr dankbar. Damit sind Jugendämter schon lange nicht mehr als kostenträchtige ka‐ ritative Wohlfahrtsbehörden für arme Kinder und Familien zu sehen oder als letzte Instanz für konfliktträchtige Interventionen, wenn das Kindeswohl akut gefährdet ist und Kinder in Obhut genommen werden müssen. Eigene kommunale Jugendämter sind nach herrschender Meinung zentrale Säulen unseres Bildungssystems und damit auch entscheidende harte Standortfaktoren, wenn es um die Bewältigung des Fachkräftemangels geht. Es ist unbestritten: Ein Jugendamt unter eigener Regie ist auch für kreisangehörige Städte ein Gewinn und ein tragendes Element der kommunalen sozialen Infrastruktur, aber auch der städtischen Wirtschaftsförderung. Wie kurzsichtig wäre es für den örtlichen Arbeitsmarkt und Standort, wenn eine Stadt dieses Pfund aus rein buchhalterischen Beweggründen an einen anderen Rechtsträger abgäbe! Daher freue ich mich als familienpolitischer Überzeugungstäter, dass der Konstanzer Gemeinderat in regelmäßigen Abständen das politische Bekenntnis zu diesem wichtigen Amt mit seinem engagierten Team erneuert und uns in unserer Verwaltungsarbeit politisch flankiert und unterstützt. Nur gemeinsam können wir immer besser werden, uns den demografischen und sozialen Herausforderungen anpassen und die Organisation weiterentwickeln. Damit bin ich bei meiner zweiten Anmerkung. Gratulationen zum 100-Jährigen Geburtstag sind aufgrund des hohen Alters üblicherweise von großem Respekt geprägt. Aber die Glückwünsche fallen für den Jubilar noch fröhlicher aus, wenn man ihn nicht nur einigermaßen lebendig oder gar gerade noch lebend antrifft, sondern er sich offensichtlich in allerbester Verfassung befindet. Und somit ist der andere Grund, warum ich „meinem“ Sozial- und Jugendamt (SJA) mit Freude und Dankbarkeit zu diesem Jubiläum Grundsätzliche Überlegungen zum Jubiläum des Sozial- und Jugendamts 9 <?page no="10"?> gratuliere, nicht seine schlichte Existenz in herausfordernden Zeiten. Es ist die explizite Wirkungsorientierung, die das gesamte Team des Jugendamts eint, sowie seine hohe Professionalität. Ganz unbescheiden möchte ich bekennen: Das Konstanzer SJA gehört zu den besten Jugendämtern der Bundesrepublik. Unser Jugendamt ist - trotz seines hohen Alters - ein agiles, hoch innovatives, stets an neuen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen orientiertes und den täglichen Frustrationen trotzendes Amt. Bildlich gesprochen: Im Stall der Ämter unserer Stadtverwaltung ist unser SJA Ackergaul und Rennpferd zugleich - und dies mit über 460 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Nicht nur die Amtsleitungen, sondern alle Führungskräfte im SJA, die ich in den letzten zwölf Jahren kennenlernen durfte, waren stets von einer verant‐ wortungsvollen und wertschätzenden Haltung geprägt. Der Amtsleiter, Alfred Kaufmann, und seine Führungskräfte leben Werte vor, die wir Verwaltungs- Ethik nennen: Sie umfassen eine hohe Identifikation, Verantwortungsbereit‐ schaft, das stete Bestreben nach fachlicher Weiterentwicklung und Fortbildung, eine ausgeprägte Offenheit für Neues und eine allen Kindern und Familien zugewandte und respektvolle Haltung. Diese Teamkultur, der permanente Wille zur fachübergreifenden Zusammenarbeit und der hohe Qualitätsanspruch in allem, was im Team des SJA passiert, führt dazu, dass seine Innovationen und die Leistungen nicht nur vom Konstanzer Jugendhilfeausschuss außerordentlich geschätzt werden, sondern auch landes- und bundesweit in der fachlichen Community und in den Medien ein breites Echo erfahren durften. Im Folgenden erfahren Sie - kursorisch und ohne Anspruch auf Vollständig‐ keit - von verschiedenen größeren und kleineren Erfolgen unseres SJA, die es aus meiner Sicht auszeichnen: Das SJA hat als erstes Jugendamt in Baden-Württemberg die digitale Online- Kitavormerkung eingerichtet. Konstanz ist eine von zwölf Modellkommunen beim Städtetag Baden-Württemberg im Thema Fachkräftestrategie in Kinderta‐ gesstätten. Das SJA hat in einer deutsch-spanischen Kooperation zwölf exami‐ nierte spanische Fachkräfte angestellt, ihnen Wohnraum vermittelt, sie betreut und in den Konstanzer Kita-Alltag integriert. Wir sind das erste Jugendamt in Baden-Württemberg, das im Zuge des Ukraine-Krieges nach einer gesetzlichen Flexibilisierungsklausel gleich drei Kita-Einstiegsgruppen mit Anstellung aus‐ gebildeter ukrainischer Erzieherinnen einrichtete. Das Projekt „Lenk-Rat“ (ein flächendeckendes Schnell-Coachingprogramm für verzweifelte Fachkräfte im Umgang mit schwierigen Kindern) geht ins vierte Jahr. Im Jahr 2022 gewann das SJA den Deutschen Kita-Preis (Platz zwei von fünf), nicht etwa für eine einzige tolle Kita, sondern für unser über Jahre aufgebautes allumfassendes „Netzwerk Frühe Hilfen“, ein Akteurs- und fachübergreifendes Präventionsprogramm. Das 10 Andreas Osner <?page no="11"?> SJA erzielte (in enger Zusammenarbeit mit dem Bürgeramt und dem privaten Verein „83 Konstanz integriert“) landesweite und bundesweite Aufmerksamkeit für unsere strategische Kooperation „Raumteiler“, die in den letzten Jahren über 740 Menschen ohne Obdach zu privatem Wohnraum verhalf, davon 467 ukrainische Kriegsflüchtlinge seit Beginn des russischen Überfalls vom Februar 2022. Und das in einer Stadt mit ausgeprägter Wohnungsnot. Dass die Stadt Konstanz bei der Quote der U-3-Betreuung (trotz immer noch schmerzhafter Versorgungslücken) seit Einführung des Rechtsanspruchs landesweit stets vor‐ neweg unter den führenden Kommunen ist, sei der Vollständigkeit halber abschließend erwähnt. Liebe Leserin, lieber Leser, die vorangehenden Zeilen sind nicht als Werbeblock nach dem Motto „Bei uns in Konstanz ist alles toll“ zu verstehen, denn das ist es in so schwierigen Zeiten sicher nicht. Aber verstehen Sie es als klares Bekenntnis zur Notwendigkeit einer solchen Institution in städtischer Verantwortung. Und als aufrichtiges Zeichen des Dankes und des Respekts gegenüber der Amtsleitung, seinen nachgeordneten Führungskräften und jeder Mitarbeiterin, jedem Mitarbeiter in diesem Amt. Sie alle haben einen Riesenanteil am Bestand unserer Werte wie Teilhabe, Lebensqualität und sozialer Zusammenhalt. Und dafür, dass das SJA in der Konstanzer Gesellschaft - namentlich in Politik, Medien und Bürgerschaft - eine so hohe Anerkennung erfährt! Mein Versprechen: Das soll auch so bleiben und ich werde mich stets unermüdlich und mit herzlicher Zuneigung für unser SJA und die ihm anvertrauten Menschen einsetzen. In diesem Sinne, nochmals mein aufrichtiger Dank und ein herzliches Glückauf! Grundsätzliche Überlegungen zum Jubiläum des Sozial- und Jugendamts 11 <?page no="13"?> Ein Lob der kommunalen Selbstverwaltung 100 Jahre Eigenständigkeit des Konstanzer Jugendamts Verena Göppert Ich bekenne: ich bin ein großer Fan der kommunalen Selbstverwaltung! Nicht nur weil ich als ehemalige Sozialdezernentin und später Finanzdezernentin des Deutschen Städtetages über viele Jahre die kommunale Selbstverwaltung beständig gegenüber Bund und Ländern hochhalten und verteidigen musste, sondern auch aus tiefster persönlicher Überzeugung. Die Musik spielt vor Ort. Bundes- und Landespolitik sind natürlich für viele Bereiche zuständig, der Bund beispielsweise für die Konjunktur- und Wirtschaftspolitik oder die Länder für die Bildungspolitik. Aber alles, was die übergeordneten Ebenen beschließen, muss auch umgesetzt werden. Das ist ohne eine funktionierende kommunale Ebene nicht möglich. Zum Teil sind die Städte und Gemeinden explizit dafür zuständig, die Gesetze umzusetzen. Die verschie‐ denen Rechtsansprüche bei der Kinderbetreuung im Kita- oder Grundschulalter sind dafür gute Beispiele. Aber sie haben auch eine weitere, wie ich finde, sehr wichtige Aufgabe. Die kommunalpolitischen Vertreterinnen und Vertreter von Gemeinderat oder Verwaltung müssen politische Entscheidungen der anderen Ebenen erklären können. Sie müssen nicht unbedingt gut finden, was Bund und Länder beschließen, aber sie sollten ihren Bürgerinnen und Bürgern zumindest Auskunft geben können. Schlimm wäre es, wenn ein Oberbürgermeister oder eine Oberbürgermeisterin sagen müsste: Tut mir leid, aber das versteh auch ich nicht mehr, was die da oben beschlossen haben. Das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger wäre beschädigt, Politikverdrossenheit, bestenfalls Desin‐ teresse, schlimmstenfalls Radikalisierung würden befördert. Kommunalpolitik ist gewissermaßen die „Urquelle“ unserer Demokratie, das Fundament für unsere freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung, für unser Gemeinwesen. Zu Recht genießt die kommunale Selbstverwaltung daher in unserem Grundgesetz verfassungsrechtlichen Schutz, der auch gerichtlich durchgesetzt werden kann. <?page no="14"?> Was hat das nun mit dem 100. Geburtstag des eigenständigen Jugendamtes der Stadt Konstanz zu tun? Wir wissen doch, kommunale Selbstverwaltung umfasst nicht nur die Stadt, die Gemeinde, sondern natürlich auch die Kreise. Kommunale Selbstverwaltung gäbe es doch auch, wenn es sich um ein „Kreis‐ jugendamt“ handeln würde. Das ist richtig, aber zum einen genießen die Kreise nach Artikel 28 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz einen geringeren Schutz vor Eingriffen in ihre Selbstverwaltungsrechte als die Städte und Gemeinden. Und zum anderen sind die Rathäuser, die Stadt- oder Gemeindeverwaltung viel näher an den Bürgerinnen und Bürgern als die übergeordnete Ebene der Landratsämter. Die städtischen Interessen stehen im Focus, davon profitieren die Bürgerinnen und Bürger, das ist gut für die Kinder und Jugendlichen in der Stadt Konstanz. Natürlich kann bei der Betrachtung der Eigenständigkeit eines Jugendamtes der finanzielle Aspekt nicht unberücksichtigt bleiben. Die Sozialausgaben der kreisfreien Städte und der Landkreise insgesamt steigen beständig und auch die Ausgaben der Jugendhilfe wachsen dynamisch. Betrugen die Ausgaben für die Hilfen zu Erziehung einschließlich der Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, der Hilfen für junge Volljährige und der Inobhutnahmen im Jahre 2008 bundesweit noch rund 6 Milliarden Euro, so lagen sie 2022 bei rund 15 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum stiegen die Ausgaben für die Kindertagesstätten bundesweit von rund 14 Milliarden Euro auf rund 43 Milliarden Euro. Manch eine Stadt hat angesichts der Steigerungszahlen und der vielen sonstigen städtischen Aufgaben kein Interesse, die Kreisfreiheit oder ein ei‐ genständiges Jugendamt anzustreben. Denn immerhin erfüllt die Kreisumlage mit ihrem Verteilungseffekt auf die kreisangehörigen Städte und Gemeinden eine Ausgleichsfunktion. Auch wenn die Kreise ihrerseits gezwungen sind, Ausgabensteigerungen über höhere Kreisumlagen zu finanzieren, was auch die kreisangehörigen Gemeinden finanziell herausfordert. Das mag mit ein Grund sein, weshalb die Jugendamts-Strukturen in der Praxis unseres föderalen Systems so unterschiedlich sind. Ob eine Stadt kreisfrei ist und damit „automatisch“ ein eigenes Jugendamt hat, oder ob sie kreisangehörig ist und „Sonderregelungen“ braucht, um über ein eigenständiges Jugendamt zu verfügen, lässt sich nur schwer auf einheitliche Kriterien zurückführen. Nahe‐ liegend wäre die Einwohnerzahl als Kriterium, aber da zeigt ein Blick in die Sta‐ tistik, das kann es nicht sein. Baden-Baden mit nicht einmal 60.000 Einwohnern ist kreisfrei, Brandenburg an der Havel mit rund 74.000 Einwohnern ebenso. Viele Städte in Bayern in der gleichen Größenordnung oder sogar darunter sind kreisfrei, so beispielsweise Kempten mit circa 71.000, Landshut mit rund 75.000, 14 Verena Göppert <?page no="15"?> Memmingen mit circa 46.000, Passau mit rund 55.000 oder Schwabach mit circa 42.000 Einwohnern. Und gleichzeitig finden sich kreisangehörige Städte mit deutlich mehr als 100.000 Einwohnern, so Recklinghausen, Neuss oder Paderborn. Letztendlich ist es mit unterschiedlicher Beteiligung der betroffenen Städte eine Entscheidung des Landesgesetzgebers, ob eine Stadt kreisfrei ist und ob die Möglichkeit besteht, auch bei Kreisangehörigkeit zu Trägern der Jugendhilfe bestimmt zu sein und damit über ein eigenständiges Jugendamt zu verfügen. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise kann eine Stadt bereits ab 20.000 Einwohnern auf Antrag zum Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit eigenständigem Jugendamt bestimmt werden. Davon haben dort viele Städte Gebrauch gemacht, in NRW gibt es 186 Jugendämter bei 31 Kreisen und 22 kreisfreien Städten. Die Stadt Konstanz hat als einzige kreisangehörige Stadt in Baden-Württem‐ berg an ihrem eigenständigen Jugendamt festgehalten, und das schon 100 Jahre lang! Weder Verwaltungsstrukturreformen noch fiskalische Zwänge haben die Stadtväter und Stadtmütter bewogen, „ihr“ Jugendamt an den Kreis abzugeben. Selber entscheiden zu können, selber die Strukturen, die Ausgestaltung der Leistungen zu bestimmen, mutig auch neue Wege zu beschreiten und Lösungs‐ muster für Problemlagen zu entwickeln, auch mal Vorreiter und Beispielgeber für andere Städte zu sein, daran hat die Stadt Konstanz all die Jahre selbstbewusst festgehalten. Das heißt aber auch, dass sie bereit war, Verantwortung zu übernehmen, auch für schwierige Entscheidungen. Wie man sieht, mit einer Bilanz, die sich mehr als sehen lassen kann! Darauf kann die Stadt Konstanz sehr stolz sein. Herzlichen Glückwunsch und auf weitere 100 Jahre! Ein Lob der kommunalen Selbstverwaltung 15 <?page no="17"?> Das Stadtjugendamt Konstanz feiert Geburtstag Reinhard Wiesner Seit dem 1. Januar 1925 verfügt die Stadt über ein Selbständiges Jugendamt als „Organ der öffentlichen Jugendhilfe“, wie es in § 2 des Reichsjugendwohl‐ fahrtsgesetzes von 1922 hieß. Zwar hatte der Reichstag mit der Verabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes die Rechtsgrundlage für die Pflicht zur Einrichtung von kommunalen Jugendämtern geschaffen. Noch bevor das Gesetz im April 1924 in Kraft treten konnte, wurde indes diese Verpflichtung wieder aufgehoben. Das damalige Land Baden hat aber nicht tatenlos zugesehen, sondern in seinen Ausführungsbestimmungen zum RJWG die Bezirksfürsorge‐ verbände und damit auch die Stadt Konstanz verpflichtet, Jugendämter zu errichten. Im Laufe dieser 100 Jahre haben sich die gesellschaftspolitischen Rahmenbe‐ dingungen und - abhängig davon - die Rechtsgrundlagen für das Tätigwerden der Jugendämter und das Aufgabenverständnis der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder geändert. Die größte Veränderung trat mit dem Inkrafttreten des SGB VIII am 1. Januar 1991 ein. In der Folge gab es viele weitere Ände‐ rungsgesetze, zuletzt das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz von 2021. Damit verbunden war der Perspektivenwechsel vom Kinder- und Jugendhilferecht als Ordnungs- und Polizeirecht hin zu einem Sozialleistungsrecht mit Rechts‐ ansprüchen für Eltern zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenz und für junge Menschen zur Förderung ihrer Entwicklung. Nach der Eingliederung der Stadt in den Landkreis Konstanz zum 1. Oktober 1953 war zu entscheiden, ob die Stadt weiterhin über ein Jugendamt verfügen würde. Die Grundlage dafür bot das Landesrecht Baden-Württemberg. Die Stadt hat sich für ein eigenständiges Jugendamt entschieden. Jugendämter in kreisangehörigen Gemeinden gibt es auch in anderen Bun‐ desländern, insbesondere in Nordrhein-Westfalen. Aus fachpolitischer Sicht lässt sich die Frage nach den Vorzügen kreisangehöriger Jugendämter nicht abstrakt beantworten. Die zentrale Frage ist, ob ein kreisangehöriges Jugendamt <?page no="18"?> 1 14. Kinder- und Jugendbericht Bundestagsdrucksache 17/ 12200 S.-391. 2 8. Kinder- und Jugendbericht, Bundestagsdrucksache 11/ 6576, S.-87. 3 16. Kinder- und Jugendbericht, Bundestagsdrucksache 19/ 24200, S.-331 m.w.N. in der Lage ist, die ihm bundesrechtlich zugewiesene Gesamtverantwortung für eine gesetzesgerechte Aufgabenerfüllung zu übernehmen. Ein wesentlicher Faktor ist neben der fachlichen und finanziellen Leistungs‐ fähigkeit der geographische Einzugsbereich. Dazu ist im Vierzehnten Kinder- und Jugendbericht zu lesen: Insbesondere in Jugendämtern von Städten und Gemeinden mit sehr geringen Ein‐ wohnerzahlen - wie vielfach etwa in Nordrhein-Westfalen - und dementsprechend geringer Personalausstattung ist es nach Auffassung der Kommission kaum möglich, in hinreichender Differenzierung und ausreichender fachlicher Qualität all die viel‐ fältigen Aufgaben zu erfüllen, die nach dem SGB VIII den Jugendämtern auferlegt sind. 1 Konstanz mit seinen fast 90.000 Einwohnern hat indes eine andere Größen‐ ordnung, sodass hier Bedenken, wie sie auch im Vierzehnten Kinder- und Jugendbericht zum Ausdruck kommen, nicht greifen. Dabei ist vor allem in den Blick zu nehmen, welche Bedeutung die kommunale Jugendhilfe als möglichst ortsnahe Jugendhilfe hat. Die Lebenswelt- oder auch Alltagsorientierung - entwickelt von dem Tübinger Erziehungswissenschaftler Hans Thiersch - wird spätestens seit dem 8. Kinder- und Jugendbericht als zentraler Standard der Kinder- und Jugendhilfe verstanden: Lebensweltorientierte Jugendhilfe will mit ihren Leistungsangeboten nicht nur re‐ gional erreichbar, sondern im Alltag der Kinder/ Heranwachsenden und Familien zugänglich sein. Gegenüber der mit Institutionalisierung und Professionalisierung gegebenen Tendenz zur Distanz zum Alltag versucht lebensweltorientierte Jugend‐ hilfe institutionelle, organisatorische und zeitliche Zugangsbarrieren abzubauen, mit ihren Angeboten im Erfahrungsraum der Adressaten unmittelbar präsent zu sein. 2 In der Weiterentwicklung dieser Maxime wurde in den letzten drei Jahrzehnten das Prinzip der Sozialraumorientierung, also das Bemühen, die Sozialräume und Lebenswelten junger Menschen zu einem zentralen Bezugspunkt des fachlichen Handelns zu machen, in den Mittelpunkt der fachlichen Debatten gestellt. 3 Dazu zählen Konzepte wie Niedrigschwelligkeit, Ressourcenorientie‐ rung, Empowerment, Wohnortnähe, Netzwerkorientierung sowie integrative, flexible und individuelle Angebote und Hilfen aus einer Hand. Auch die vielfach kontrovers diskutierte Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule kann mit sozialräumlichen Ansätzen neue Impulse bekommen: Denn konkret vor Ort 18 Reinhard Wiesner <?page no="19"?> gelingt oft, was im abstrakten Grundsatz nur schwer erreichbar scheint. Diesen Vorgaben wird das eigenständige Jugendamt der Stadt Konstanz - wie von Jürgen Treude in diesem Band dargestellt - in besonderer Weise gerecht. Das Streitthema, welche Folgen die Entscheidung für ein eigenständiges Jugendamt für die Stadt und den Landkreis hat, ist in Konstanz sachgerecht gelöst worden. Damit richtet sich der Blick auf die Frage, welche Entscheidungs‐ spielräume die Stadt für die Gestaltung der Kinder- und Jugendhilfe gewinnt und wie Konstanz diese Spielräume genutzt hat. Aus der Darstellung von Jürgen Treude in diesem Band wird deutlich, dass die Stadt dieses Potential mit ihrem eigenständigen Jugendamt zum Wohl junger Menschen und ihrer Familien nachhaltig genutzt hat. Die Geschichte des eigen‐ ständigen Jugendamtes der Stadt Konstanz ist daher eine Erfolgsgeschichte. So wurden zusammen mit den Trägern der freien Jugendhilfe Angebotsstrukturen aufgebaut, die in der Zeit von 1983 ( JWG) bis 2023 (SGB VIII) zu einem erheb‐ lichen Abbau der familienersetzenden und Familien besonders belastenden Hilfen und einem systematischen Ausbau der familienergänzenden Hilfen und Hilfen in Tagesgruppen geführt haben. Entscheidungen über die Planung von Angeboten oder auch deren Änderungen und Anpassungen an geänderte gesellschaftliche Entwicklungen konnten immer aus einer „Stadtsicht“ und den damit verbundenen örtlichen Kenntnissen getroffen werden. Inzwischen ist Konstanz die einzige kreisangehörige Stadt in Baden-Würt‐ temberg mit einem eigenständigen Jugendamt. Es ist als eigenständige Organi‐ sationseinheit im Sozial- und Jugendamt organisiert - eine Organisationsform, welche die zu erwartende Zuständigkeitsverlagerung für die Eingliederungs‐ hilfe für junge Menschen mit körperlicher geistiger und Sinnesbehinderung aus dem SGB IX in das SGB VIII erheblich erleichtert. Um Jugendpolitik kreativ und familienorientiert umzusetzen, braucht es für das fachliche Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfassende örtliche Kenntnisse aus den verschiedenen Arbeitsfeldern. Eine Auflösung des Jugendamtes würde zu einem Splitting der Aufgabenwahrnehmung führen und damit sowohl die Einheit der Jugendhilfe gefährden als auch den kommunalen Entscheidungsspielraum verringern. Mit dem Glückwunsch für das 100-jährige Jubiläum an das Jugendamt der Stadt Konstanz verbinde ich daher die Hoffnung und Erwartung, dass Konstanz diese Erfolgsgeschichte fortsetzen möge. Hinzukommt mein herzlicher Dank für das fachliche Engagement der Ge‐ nerationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus den verschiedenen Ebenen insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf ein geändertes Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe. Angesichts der zentralen Das Stadtjugendamt Konstanz feiert Geburtstag 19 <?page no="20"?> Bedeutung fachlicher Kompetenzen für die Bewältigung der Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe wünsche ich der Stadt Konstanz, dass es ihr gelingt, auch künftig genügend Fachkräfte für die anspruchsvollen Arbeiten der Kinder- und Jugendhilfe zu gewinnen. 20 Reinhard Wiesner <?page no="21"?> Der Blick von außen: Interviews mit Vertretern des Städtetags, des Landratsamts Konstanz, der Arbeiterwohlfahrt und der katholischen Verrechnungsstelle Rüdiger Singer Die nachfolgenden Fragen wurden an Benjamin Lachat, Dezernent im De‐ zernat III (Familie und Soziales) beim Städtetag Baden-Württemberg in Stutt‐ gart, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugendamtes der Stadt Konstanz gestellt. Zur Orientierung: Benjamin Lachat, geboren 1978 in Esslingen. Studium in Freiburg zum Diplom Sozialarbeiter, anschließend Masterstudiengang in Bildungsmanagement. Von 2002 bis 2013 Schulsozialarbeiter in Ehningen und Gründungs-Vorsitzender des Netzwerks Schulsozialarbeit in Baden-Württem‐ berg. Seit 2013 beim Städtetag Baden-Württemberg, dort seit 2014 Dezernent für Familie und Soziales. © Städtetag Baden-Württemberg <?page no="22"?> Singer: Guten Tag Herr Lachat. Sie sind Leiter des Dezernates III beim Städtetag Baden- Württemberg, also verantwortlich für den Bereich Familie und Soziales und somit auch für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Seit wann sind Sie in dieser Funktion? Lachat: Ich bin seit 2013 beim Städtetag und seit 2014, also seit zehn Jahren, Dezernent für Familie und Soziales, was, verglichen mit der Lebenszeit des Jugendamtes der Stadt Konstanz, sehr wenig ist - mir aber doch schon recht lange vorkommt. Singer: In Ihrer Funktion sind Sie somit städtetagseitig auch für das Stadtjugendamt Konstanz zuständig. Wie gut kennen Sie das Stadtjugendamt Konstanz? Sind wir Ihnen präsent? Lachat: Das Jugendamt der Stadt Konstanz ist mir vor allen Dingen deshalb sehr präsent, weil Sie mittlerweile das einzige Jugendamt im ganzen Land sind, das noch bei einer kreisangehörigen Stadt angesiedelt ist. Was ich persönlich ausgesprochen spannend und für das Handlungsfeld ausgesprochen wertvoll finde. Singer: Es gab bis vor Kurzem mehrere kreisangehörige Städte mit eigenem Jugendamt. Nach und nach haben diese Städte ihre Jugendämter an die Landkreise abge‐ geben. Somit sind wir das letzte Verbliebene. Wie bewertet der Städtetag oder Sie ganz persönlich diese Entwicklung? Lachat: Als Städtetag haben wir grundsätzlich die Auffassung, dass diejenigen, die vor Ort in den Städten und Gemeinden mit konkreten Problemen konfrontiert werden, mit konkreten Herausforderungen umgehen müssen, auch in der Lage sein sollten, konkrete Lösungen zu entwickeln. Vor Ort geht das am besten. Das heißt aber auch, dass es einen guten rechtlichen Rahmen dafür braucht, auch eine gute Finanzierung und eine strukturelle Absicherung. Da geht es um Kinder, um Jugendliche, die einen naturgemäß eingeschränk‐ teren Radius und Handlungsrahmen haben, die voll fokussiert sind in ihrer Entwicklung auf das, was unmittelbar um sie herum passiert. Und deshalb halte ich es für wichtig, dass diese Rahmenbedingungen auch gut vor Ort gestaltet werden können und die Belange von Kindern und Jugendlichen in ihrer Gesamtheit, also ganzheitlich, angegangen werden können. 22 Rüdiger Singer <?page no="23"?> Deshalb bin ich persönlich der Auffassung und hätte sogar die Erwartung, dass wir in Zukunft eher wieder mehr Jugendämter auch bei den kreisangehö‐ rigen Städten bekommen könnten, zumindest dass Aufgaben der Jugendhilfe verstärkt dort wahrgenommen werden. Schlicht deshalb, weil es den Bedarf gibt. Singer: Könnten die Städte das? Eigene Jugendämter einrichten? Lachat: Ja, können sie! Sowohl organisatorisch als auch rechtlich. Es ist Stand heute so: im § 5 Landesjugendhilfegesetz haben wir die Voraussetzung formuliert, dass der Landkreis zustimmen muss, wenn eine kreisangehörige Gemeinde einen Antrag auf Einrichtung eines eigenen Jugendamts stellt. Das ist sicherlich in der Umsetzung der Punkt, wo es am spannendsten werden dürfte, wenn sich da Städte auf den Weg machen, um selbst örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu werden, wie dann die Refinanzierung, die Aufgabenausgestaltung mit dem Landkreis verhandelt wird. Aber wenn eine kreisangehörige Gemeinde das für sich sagt: wir wollen das tun, dann können sie das beantragen. Ich habe es bis jetzt nicht erlebt, auch kenne ich keine Anträge in der Pipeline. Aber ich erwarte, dass es wieder dazu kommen wird, weil die Heraus‐ forderungen im Feld größer werden. Wir haben gleichzeitig die Situation, dass volkswirtschaftlich der finanzielle Spielraum kleiner wird. Da sind Kinder und Jugendliche und deren Familien häufig die Ersten, die von diesen Auswirkungen betroffen sind. Und somit auch die Ersten, die Hilfe brauchen. Dazu verpflichtet uns nicht nur das SGB VIII, sondern auch das Grundgesetz, dass wir Kinder, Jugendliche und Familien in besonderer Weise schützen. Dann ist die Frage: wer kann das machen? Dann landen wir bei der Kinder- und Jugendhilfe und vor Ort im Sozialraum, im Quartier. Hier Lösungen zu entwickeln, das wird echt eine enorme Herausforderung sein. Aber das wird am ehesten ganz konkret vor Ort gelingen. Deshalb bin ich mir nahezu sicher, dass es diese Tendenz in den nächsten, ich sage jetzt mal, zehn Jahren geben wird und dass ich das am Städtetag sicherlich in den nächsten Jahren noch begleiten kann. Singer: Wie schätzen Sie da die Stellung des Jugendhilfeausschusses ein? Anders als ein Kreisjugendhilfeausschuss, der für viele Kommunen, bei uns sind es im Landkreis 24 weitere Kommunen, zuständig ist, haben wir einen eigenen Jugendhilfeausschuss. Der Blick von außen 23 <?page no="24"?> Lachat: Sagen wir es mal so: Ihren Jugendhilfeausschuss kenne ich aus der Innen‐ sicht gar nicht, aber ich würde mal wie bei jedem lokalpolitischen Gremium annehmen, dass auch hier dasselbe gilt, was ich vorher sagte: Je näher die Menschen an den Themen dran sind, desto konkreter, desto praktischer oder pragmatischer werden die Diskussionen um Lösungsfindungen geführt. Dafür haben wir die Hauptorgane, also den Gemeinderat, dafür haben wir die Ausschüsse, auch den Jugendhilfeausschuss, um ganz konkret Lösungen zu entwickeln und den Rahmen für Lösungen zu setzen. Diese Zweigliedrigkeit des Jugendamts halte ich für eine sehr wertvolle, grundsätzliche Einrichtung, weil wir da unterschiedlichste Beteiligte sehr intensiv einbinden können. Dass wir die öffentliche und die freie Jugendhilfe haben, die im Gremium gemeinsam an den Dingen arbeiten, diese miteinander planen und gemeinsam Konzepte und Maßnahmenangebote entwickeln, das halte ich für ausgesprochen wertvoll. Je näher der Jugendhilfeausschuss an den Menschen dran ist, desto besser. Singer: Wo sieht der Städtetag aktuell die größten Herausforderungen für die Jugend‐ hilfe? Lachat: Wir haben seit der Einführung des SGB VIII ein sehr wirksames, breit aufge‐ stelltes System der Hilfe entwickelt. Nach meiner Wahrnehmung von außen ist das auch in Konstanz der Fall. Und jetzt stellen wir fest, dass der Bedarf steigt. Das hat Corona nun mal deutlich befeuert, aber auch davor war das wahrnehmbar. Also wir müssten rein quantitativ ausbauen. Das passiert auch. Aber nehmen wir den Kita-Bereich als Beispiel. Man stellt schnell fest, dass man Gebäude bauen kann, dass man Kon‐ zepte skalieren kann. Aber wenn es darum geht, diese Konzepte umzusetzen, sie zu leben, fehlen die Menschen, die es machen. Ich kenne viele Städte, wo genehmigte Kita-Gruppen nicht eröffnet werden, weil die Erzieherinnen fehlen. Ich erlebe regelmäßig, dass attraktive Stellen nicht nachbesetzt werden können, mangels geeigneter Bewerber. Im Bereich der stationären Hilfen haben wir das auf Landesebene gerade als großes, großes Thema in der Kommission Kinder- und Jugendhilfe. Wir haben Leistungsbereiche oder andere Angebote, wie beispielsweise die Inobhutnahme, die an einigen Stellen im Land nicht mehr gewährleistet ist. Das ist ein staatlicher Schutzauftrag, der dahinter liegt. Wir kriegen ihn nicht mehr ohne Weiteres realisiert. Das ist die Entwicklung. Aber ein „Mehr“, wie wir es in der Vergangenheit erlebt haben, ist nicht möglich. Ein „Weniger“ verbietet sich aus 24 Rüdiger Singer <?page no="25"?> dem Schutzauftrag heraus. Also müssen wir überlegen und Antworten finden auf die Frage: wie können wir es anders machen? Also wirklich innovative Ansätze entwickeln, die beispielsweise nicht exklusiv oder schwerpunktmäßig auf Fachkräfte setzen, die ganz gezielt in den Sozialraum, ins Quartier gehen und schauen, was dort an Ressourcen verfügbar ist. Und auch da gilt: da sind nicht wir auf Landesebene, nicht wir als Verbände die Fachleute, die solche Konzepte passgenau entwickeln können. Sondern das sind Sie, das sind Sie vor Ort in den Jugendämtern, das sind Sie in Konstanz in der Verwaltung, zusammen mit den freien Trägern und den politisch verantwortlichen Akteuren. Unsere Aufgabe als Städtetag sehen wir darin, Sie zum einen bei den Pro‐ zessen zu unterstützen, gemeinsames Lernen mit anderen Städten zu ermögli‐ chen, und die Dinge, wo Sie sagen, das sind Erfolgsfaktoren, auf Landesebene zu heben. Um da eine gute Lösung abzusichern, braucht es eine Veränderung im rechtlichen Rahmen durch das Land oder in der Finanzierung durch das Land. Und dafür setzen wir uns ein und streiten auch das ein oder andere Mal. Singer: Da gab es mit dem Erprobungsparagraf ein erfolgreiches Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit. Lachat: Ja, in der Tat sehen wir das selbst auch so und sagen da ganz selbstbewusst, dass der Erprobungsparagraf, der auf eine Initiative des Städtetags zurückge‐ gangen ist und auch innerhalb des Städtetags - Konstanz war ja auch mit beteiligt - aus der Praxis heraus gedacht, entwickelt, gerahmt worden ist, eine Erfolgsgeschichte ist. Da ist es uns gelungen, den innerhalb kurzer Zeit in das Kindertagesbetreuungsgesetz zu bekommen. Das sehe ich als Bestätigung des eben Gesagten. Ideen werden vor Ort entwickelt und dann mit der Macht von 202 Mitgliedstädten im Hintergrund in die Politik getragen. Aber ein Thema, das es der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder schwer macht, sind die vielen Schnittstellen zu anderen Systemen und die Frage, wie die anderen Systeme funktionieren. Damit meine ich das System schulischer Bil‐ dung in Landesverantwortung, damit meine ich die Kinder- und Jugendpsych‐ iatrie, ein System, das aus dem SGB V heraus finanziert und gesetzlich gerahmt wird. Wir könnten auch über Mobilität und Mobilitätsangebote im ländlichen Raum sprechen. Das sind alles Bezugssysteme, die für junge Menschen und Familien ganz entscheidend sind. Singer: Weshalb wird hier oftmals die Kinder- und Jugendhilfe als Lösungsfinder oder als Ausfallbürge gesehen? Der Blick von außen 25 <?page no="26"?> Lachat: Man wendet sich der Kinder- und Jugendhilfe zu, weil sie es kann! Aber dies trägt manchmal auch zu einer Überforderung bei. Singer: Wir sagen manchmal: „s’Ländle ist groß und Stuttgart ist weit“. Werden wir in unserer Sonderstellung in Stuttgart wahrgenommen? Lachat: Das können Sie für den Städtetag uneingeschränkt annehmen. Ich denke, dass das auch im Sozialministerium wahrgenommen wird. Das Sozialministerium stärkt die Städte, in dem es die Quartiersentwicklung forciert - da ist Konstanz ja auch sehr aktiv. In den Diskussionen in diesem Zusammenhang verweise ich nicht nur ich auf Städte wie Konstanz, mit dieser Nähe zu den jungen Menschen, weil sie ein eigenes Jugendamt haben, sondern das höre ich auch das eine oder andere Mal aus dem Ministerium. Sie sind da schon lange Fahnenträger und Vorreiter, auch weil Sie durchaus Herausforderungen in der Größe Ihrer Struktur haben. Sie haben nicht die gleiche Man-Power wie die Jugendämter der großen Städte wie Stuttgart oder Karlsruhe. Sie leisten in einem überschaubaren regionalen Rahmen das Gleiche wie andere Jugendämter im großen Rahmen und zwar sehr erfolgreich! Singer: Das ist schön zu hören. Wie muss man sich denn das Zusammenspiel zwischen Landkreistag und Städtetag auf übergeordneter Ebene vorstellen? Lachat: Wir haben neun Stadtkreise in Baden-Württemberg plus eine kreisangehörige Stadt, Konstanz, und damit zehn städtische Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Das ist fast ein Viertel aller Jugendämter in Baden-Württemberg. Deshalb nehmen wir selbstbewusst immer in Anspruch, dass wir in Sachen Kinder- und Jugendhilfe die Kreisinteressen genauso vertreten. Jetzt sind die Interessen des Jugendamts der Stadt Konstanz nicht immer identisch mit denen des Landkreises. Aber dort, wo wir mal nicht ganz so eng beieinander sind, finden wir mit den Kollegen des Landkreistags immer gute Wege, das aufzulösen. Da gibt es wenig Dinge, wo wir einen grundsätzlichen Dissens haben. Den Hut in der Kinder- und Jugendhilfe hat aber der Städtetag auf. Was im Ergebnis beispielsweise auch dazu führt, dass der Vorsitz der Kommission Kinder- und Jugendhilfe, also das Gremium, das auf Landesebene den Rahmenvertrag nach § 78 SGB VIII entwickelt, aktuell durch mich wahrge‐ nommen wird. 26 Rüdiger Singer <?page no="27"?> Ich bin stellvertretender Vorsitzender des Landesjugendkuratoriums. Also eines Gremiums, das nach Gesetz die Landesregierung berät. Das sind alles Dinge, die machen wir in Abstimmung mit den Kollegen vom Landkreistag. Das ist eine gute Arbeitsteilung. Singer: Herr Lachat, die 100-Jahr-Feier ist für uns in Konstanz eine große Sache. Interessiert das auch jemanden in Stuttgart? Lachat: Mich interessiert es! Mich interessiert es deshalb, weil es zeigt, dass seit 100 Jahren belegt ist, dass Sie gute Arbeit machen. Der Gemeinderat hätte auch sagen können, „nö, wir lassen das, wir geben das auf “ - so, wie es andere aufgegeben haben. Die Tatsache, dass es Sie seit 100 Jahren gibt, belegt, dass Sie gute Arbeit machen. Und ich fühle mich dadurch darin bestärkt, dass es der richtige Ansatz ist, vor Ort zu agieren. Ich wünsche mir und hoffe dazu beitragen zu können, dass das noch breiter in der Politik wahrgenommen wird. Und wenn ich auf Konstanz verweisen kann und sagen kann: da gibt es ein Jugendamt, welches als städtisches Jugendamt hervorragend arbeitet, dann bin ich mir sicher, da wird der eine oder andere mal in die Sonne an den See kommen und konkret nachfragen. Singer: Gerne begrüßen wir auch Sie mal wieder am See. Sie sind herzlich zu unserer Geburtstagsfeier eingeladen. Haben Sie ein besonderes Erlebnis, das Sie mit dem Stadtjugendamt Konstanz verbinden? Lachat: Ich komme gern. Beim letzten Mal, als wir am See in Konstanz saßen, ist die Idee geboren, dass wir wieder neu über die Kinder- und Jugendhilfe bei städtischen Jugendämtern nachdenken sollten. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, das, was wir damals angedacht haben in der Sonne, in die Tat umzusetzen. Da denke ich immer wieder gerne zurück. Abgesehen von allen anderen Begegnungen, die ich mit Ihnen oder mit Alfred Kaufmann oder auch Bürgermeister Dr. Osner zu dem Thema Kinder- und Jugendhilfe hatte. Singer: Haben Sie noch einen Geburtstagswunsch für uns zum 100. Geburtstag? Lachat: Ich wünsche Ihnen, dass die Verantwortlichen der Stadt Konstanz und die Ver‐ antwortlichen des Städtetags in hundert Jahren wieder zusammenkommen und Der Blick von außen 27 <?page no="28"?> dann über 200 Jahre erfolgreiche Jugendhilfe in Konstanz sprechen und dass es Ihnen gut gelingt, weiterhin auf sehr kreative Weise mit den Herausforderungen umzugehen. Ich würde mich freuen, wenn ich an der ein oder anderen Stelle Teil dieses Prozesses sein darf. *** Die nachfolgenden Fragen wurden an Axel Goßner, Sozialdezernent a. D. beim Landratsamt Konstanz, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugendamtes der Stadt Konstanz gestellt. Zur Orientierung: Axel Goßner, geboren 1955 in Wurmlingen (Landkreis Tuttlingen), Studium in Kehl zum Diplomverwaltungswirt, seit 1979 in Kon‐ stanz, arbeitete 40 Jahre in unterschiedlichen Positionen beim Landkreis Kon‐ stanz. Lebt heute in Trier und genießt dort seinen Ruhestand. © privat Singer: Guten Tag Herr Goßner, schön, dass Sie sich für ein Gespräch zur Verfügung stellen. Goßner: Guten Tag, bevor Sie mit Ihren Fragen beginnen, möchte ich dem Jugendamt zu seinem Hundertjährigen recht herzlich gratulieren. Ich sehe dahinter natürlich die Bedeutung, die die Stadt dem Jugendamt, der Jugendarbeit, der Jugendhilfe beimisst und ich sehe natürlich die unterschiedlichen Blickwinkel. Aus Sicht der Stadt und als ehemaliger Bürger der Stadt Konstanz ganz klasse, aus Sicht des Landkreises habe ich natürlich in manchen Dingen eine andere Ansicht. 28 Rüdiger Singer <?page no="29"?> Singer: Ein interessanter Einstieg, Herr Goßner! Sie waren Sozialdezernent im Land‐ kreis Konstanz. Zur besseren Einordnung. Von wann bis wann war das? Goßner: Ich war 17 Jahre Sozialdezernent des Landkreises Konstanz, von 2002 bis 31. Dezember 2018. Ich war aber auch schon früher mal Mitglied im Jugendhilfeaus‐ schuss der Stadt Konstanz, als Vertreter des Gesamtelternbeirats - aber lassen wir das, das ist schon sehr lange her. Singer: Wer war denn Jugendamtsleiter bei der Stadt zu Ihrer Zeit als Sozialdezernent beim Landkreis? Goßner: Ich hatte drei Jugendamtsleiter während meiner Zeit. Das war damals die „Legende“ Treude, nach Treude kam Frau Seifried, die jetzige Bürgermeisterin in Singen und dann Herr Kaufmann. Singer: Als Sozialdezernent des Landkreises gab es zu Beginn Ihrer Amtszeit drei Jugendämter. Die Stadt Singen gab Anfang der 2000er Jahre ihr Jugendamt ab, aber in der Kreishauptstadt gab es und gibt es bis heute noch ein Jugendamt, dem Sie nicht weisungsbefugt waren. Wie bewerten Sie das aus heutiger Sicht? Goßner: Es ist wohl eine Frage der unterschiedlichen Interessen. Die Zusammenarbeit hängt immer von den handelnden Personen ab und wie diese zu einzelnen Themen stehen. Da hatten das Kreisjugendamt und das Stadtjugendamt schon Bereiche, wo wir nicht so ganz eng beieinander waren und, ja, Bereiche, wo wir vielleicht manchmal zumindest heftig diskutiert haben. Ein Beispiel war unsere psychologische Beratungsstelle, die damals noch in Konstanz war, aber die Beratungsstelle des Landkreises war. Die war aber aufgrund der Zuständigkeit in manchen Punkten dem Stadtjugendamt näher als dem Kreisjugendamt. Ich er‐ innere mich, es gab damals eine Situation zum Puppentheater „Pfoten weg! “, ein Theaterstück der Konstanzer Puppenbühne. Das war ein Präventionsprojekt, das die Konstanzer Polizei mit der Konstanzer Puppenbühne machen wollte und einen Kooperationspartner aus dem Bereich der Jugendhilfe brauchte. Die Stadt Konstanz hat das vehement abgelehnt. Und ich sagte damals: „doch, das machen wir! “ Da gab es Diskussionen, da waren auch Vertreter der psychologischen Beratungsstelle dabei und Mitarbeiter des Landkreises, also der psychologischen Beratungsstelle des Landkreises. Die haben sich voll auf die Seite der Stadt Der Blick von außen 29 <?page no="30"?> 1 Gemeint ist der Bereich der Hilfen zur Erziehung. geschlagen. Da musste ich dann meine Weisungsbefugnis geltend machen. Das Puppenstück hat sich ja dann auch durchgesetzt und es scheint gar nicht so schlecht gewesen zu sein, denn bei der Stadt Konstanz hat es sich dann später auch durchgesetzt. Als Kreisjugendamtsdezernent musste ich eben auch den ganzen Landkreis im Auge behalten. Diese Diskussion war auch geprägt von Erfahrungen, die die Stadt im Bereich sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen bereits erlebt hatte. Daher war die Stadt damals sehr, sehr vorsichtig, aus meiner Sicht etwas zu vorsichtig. Aber ich möchte da niemanden verurteilen. Jeder sieht es aus seiner Sicht und ich bin mir sicher, dass das ein oder andere, was ich vielleicht in meinem Sinne durchgesetzt habe, auch nicht immer ganz optimal war. Das weiß man aber immer erst im Nachhinein. Aber auch wenn wir uns manchmal sehr intensiv gefetzt haben, zum Schluss sind wir immer wieder irgendwie zusammengekommen. Man hat einen gemeinsamen Nenner gefunden und - wie bereits gesagt - die Zusammenarbeit der Jugend‐ ämter wird geprägt von den handelnden Personen. Sowohl ganz an der Spitze, als auch in den Fachämtern selbst. Das Thema, das die Diskussionen maßgeblich bestimmt hat, war oftmals das der Jugendhilfe 1 . Aufgrund der Größe der Stadt Konstanz gab es da oftmals viele gute Angebote, die andere Gemeinden im Landkreis, allein schon aufgrund ihrer Größe, nicht haben konnten. Das Thema war dann: „die Stadt Konstanz hat geholfen und der Landkreis hat bezahlt.“ Singer: Hat es Sie geärgert, dass die Stadt Konstanz dem Landkreis Rechnungen für kostenintensive Hilfen gestellt hat, ohne dass der Landkreis eine Steuerungs‐ möglichkeit hatte? Goßner: Ja sicher, es wurde ja nicht nur in Rechnung gestellt, es wurde direkt durchge‐ bucht. Ich weiß nicht, ob es heute noch so ist, aber dass ein Dritter direkt in den Haushalt des Landkreises bucht ist ein Unikum. Dem stand ich ohnmächtig gegenüber. Die Situation zu Beginn meiner Amtszeit war, dass der Landkreis Konstanz in Baden-Württemberg bei den Ausgaben für die Jugendhilfe ganz an der Spitze stand. Frank Hämmerle, der damalige Landrat, hat eine Zielver‐ einbarung mit mir abgeschlossen: „die Jugendhilfekosten sind zu senken! “ Es war damals die Zeit der Zielvereinbarungen, die als Steuerungsinstrument ein‐ gesetzt wurden. Das war natürlich nicht so ganz einfach und natürlich dadurch nochmals erschwert, weil die Stadt Konstanz sagte: „wir haben unsere Ausgaben 30 Rüdiger Singer <?page no="31"?> und wir haben unseren Haushaltsplan nach dem wir handeln.“ Es konnte also sein, dass im Haushalt der Stadt Konstanz andere Ansätze vorhanden waren als der Landkreis der Stadt zur Verfügung gestellt hat. Das waren schon heiße Kämpfe damals. Aber wir haben es miteinander hinbekommen. Es ist immer schwierig, wenn man in der Jugendhilfe von fiskalischen Dingen spricht, aber es ist einfach so, dass wir auf der einen Seite den Hilfebedarf sehen müssen und auf der anderen Seite auch das finanziell Mögliche und Machbare. Singer: Würden Sie sagen, es gab trotz gelegentlicher Differenzen, die Sie skizziert haben, einen gemeinsamen Wertekanon der Jugendämter? Goßner: Ja, ich denke schon. Wir haben alle gewusst, wo es in der Jugendhilfe lang gehen muss, was machbar ist und was ein „no go“ ist. Insbesondere am Anfang war für uns alle das Thema, dass wir diejenigen, die nur mit dem Sparfinger auf der Bremse waren, überzeugen konnten, dass Jugendhilfe einfach ganz dringend erforderlich ist. Singer: Gab es diese „Sparfinger“ auch in der Politik, dahingehend, dass es Forderungen gab, das Jugendamt der Stadt in das Kreisjugendamt zu integrieren, um Kosten zu sparen? Goßner: Das Thema kam gelegentlich von Seiten des Kreisjugendamtes, da die Kreisräte gesagt haben: „Kreisjugendamt, du musst sparen! “ Dabei haben sie aber oft nicht bedacht, dass ein großer Teil der Kosten von der Stadt direkt durchgebucht wird. Das Kreisjugendamt hat dann darauf hingewiesen, dass bei Sparvorgaben im Verhältnis das Stadtjugendamt den gleichen Anteil sparen muss. Das Kreis‐ jugendamt hatte aber keinen Einfluss darauf, ob die Stadt die Sparvorgaben in ihrem Haushalt übernommen hat. Singer: Als Konstanzer waren Sie als GEB-Mitglied Mitglied im Jugendhilfeausschuss der Stadt Konstanz und können somit gut einen Perspektivwechsel vollziehen. Denken Sie, den Konstanzerinnen und Konstanzern ist es bewusst, dass sie ein „eigenes“ Jugendamt haben? Was denken Sie, wie die Konstanzer dies bewerten? Goßner: Ich weiß nicht, ob den Konstanzern bewusst ist, dass sie ein eigenes Jugendamt haben, denn mit dem Jugendamt setzt sich eigentlich nur der Bevölkerungskreis Der Blick von außen 31 <?page no="32"?> 2 Gemeint ist wiederum der Bereich der Hilfen zur Erziehung. 3 Hier bezieht sich Herr Goßner auf tragische Todesfälle von Kindern in Baden-Würt‐ temberg und Deutschland, in welche auch die Jugendhilfe involviert war. auseinander, der davon unmittelbar betroffen ist. Dem Rest der Bevölkerung ist das wahrscheinlich relativ egal. Das Interesse der meisten liegt wahrscheinlich eher in den Angeboten der Jugendarbeit, also was da vorgehalten wird. Jugend‐ hilfe 2 wird da geleistet, wo entsprechende Notlagen da sind und dies wird oftmals von der Gesamtgesellschaft abgetan als etwas, mit dem sie nichts zu tun haben will. Nach dem Motto: „die sind ja selber schuld“. Dieses Thema ist heute leider immer noch da, obwohl es deutlich besser geworden ist, als zu meiner Zeit. Singer: Nun noch eine etwas persönliche Frage: gab es ein besonders schönes Erlebnis, das Sie mit dem Stadtjugendamt verbinden? Etwas, an das Sie sich besonders gerne erinnern? Goßner: Ja, wir haben ja immer wieder auch gemeinsame Veranstaltungen gemacht, wie zum Beispiel die Pflegeelternfeste in Singen. Meine Frau hatte auch eine Zeit lang Pflegekinder. Da hatten wir natürlich auch mit dem Stadtjugendamt zu tun. Ich habe mich aber, was das anging, immer weitestgehend rausgehalten. Aber es gab viele Dinge, wo wir gut zusammengearbeitet haben. Vor allem wenn die Jugendamtsleiter sich gut verstanden haben, gab es viele Dinge, die man gemeinsam bewegen konnte. Je besser die handelnden Personen miteinander können, desto besser geht es einfach. Singer: Sie haben eingangs schon einiges erwähnt, aber trotzdem noch einmal explizit die Frage: Welche Wünsche haben Sie für das Stadtjugendamt zum hundertsten Geburtstag? Goßner: Ich wünsche dem Stadtjugendamt natürlich alles Gute, dass es immer die richtigen Leute an der richtigen Stelle hat, dass es seine Aufgaben sehr gut erledigt; ich wünsche ihm auch, dass manche Aufgaben, die zum Beispiel Kolleginnen aus anderen Landkreisen hatten, dass diese Aufgaben nie anfallen werden 3 . Natürlich kann man in der Jugendhilfe nie sagen, etwas Schlimmes passiert bei uns nicht. Da kann alles passieren. Ich wünsche dem Jugendamt, dass es immer die richtigen Entscheidungen trifft und auch in schwierigen Situationen Helfer hat, die nicht verurteilen, sondern helfen, Situationen zu klären und Probleme zu lösen. 32 Rüdiger Singer <?page no="33"?> Singer: Vielen Dank für die schönen Glückwünsche, Herr Goßner! Goßner: Sehr gerne. *** Die nachfolgenden Fragen wurden Reinhard Zedler, Geschäftsführer a. D. des Arbeiterwohlfahrtkreisverbandes Konstanz e. V. (AWO), anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugendamtes der Stadt Konstanz gestellt. Zur Orientierung: Reinhard Zedler wurde 1957 geboren, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. 1976 Abitur am Schönborn-Gymnasium Bruchsal, danach Wehrdienst als Sanitätsausbilder in Veitshöchheim. Sieben Semester Studium für Lehramt: Mathematik und Romanistik in Heidelberg, 1983 Studium Sozialwesen in Mannheim zum staatlich anerkannten Sozialarbeiter (FH). Seit 1994 stellvertretender und seit 2013 Geschäftsführer bei der AWO Kreisverband Konstanz e. V.; seit Februar 2023 im Ruhestand. Teilzeitarbeit bei der Tafel. Gemeinderat in Rielasingen-Worblingen. © privat Singer: Herr Zedler, Sie waren lange Jahre Geschäftsführer bei der AWO im Landkreis Konstanz. Wann genau war das? Zedler: Bei der AWO bin ich schon seit 1988. Die letzten 10 Jahre bis Anfang 2023 war ich dann Geschäftsführer, aber seit 1994 war ich schon stellvertretender Der Blick von außen 33 <?page no="34"?> Geschäftsführer und habe insofern einiges mitbekommen. Ich war auch lange Zeit Vorsitzender vom Jugendpflegeausschuss der Stadt Singen. Singer: Das heißt, Sie haben das Stadtjugendamt Singen noch „erlebt“? Zedler: Ja, genau. Singer: Dann haben Sie auch erlebt, wie die Stadt Singen ihr Jugendamt an den Landkreis abgegeben hat. Somit sind wir in der Stadt Konstanz das letzte Jugendamt im Landkreis - mittlerweile sogar in Baden-Württemberg -, das bei einer kreisangehörigen Stadt noch selbständig ist. Wie bewerten Sie aus dieser Erfahrung heraus die Selbstständigkeit des Konstanzer Stadtjugendamtes? Zedler: Ich glaube, dass die Singener sich sehr ärgern, dass sie das damals gemacht haben. Ich sehe viele Vorteile, wenn eine Kommune vor Ort handeln kann. Das hat einen großen Wert. Ich habe auch gesehen, dass die Stadt Konstanz mit ihrer Jugendamtspolitik eigene Zeichen gesetzt hat und wirklich auch eigene Wege gegangen ist, die der Landkreis so nicht gehen konnte, weil er einfach in der Fläche tätig sein muss. Ich glaube, es wäre für die Jugendhilfe klüger gewesen, wenn die Stadt Singen weitergemacht hätte. Klar, es waren finanzielle Gründe, und eine Verschlankung einer Behörde ist natürlich auch immer gut in irgendeiner Form. Aber die Nahbarkeit der Jugendhilfe ist einfach sehr wichtig. Ich meine, wenn die Verwaltung tatsächlich vor Ort ist und auch den Kontakt mit der Politik hat. Ich glaube, das hat man schon immer mal wieder gemerkt, dass zwischen Landkreis und Stadt Konstanz nicht immer die allerbeste Beziehung war, weil der Landkreis manchmal andere Interessen hatte, als die Stadt Konstanz. Aber das heißt nicht, dass es nicht gut ist, dass es so ist! Auch aus der Spannung heraus entwickeln sich ja positive Dinge. Es ist also nichts Negatives, wenn ich sage: Es war nicht immer alles gut. Es gab da einfach auch Spannungen, es gab unterschiedliche Meinungen. Daraus kann man ja nur lernen. Das, was ich an der Stadt Konstanz, an dem Jugendamt, sehr geschätzt habe, ist, dass man oft unterschiedlicher Meinung war, aber wir haben trotzdem eigentlich immer wirklich sehr sachlich diskutiert. Natürlich, ein Wohlfahrtsverband sieht die Welt anders, als ein Amt, als eine Stadt. Jeder denkt aus seiner Sichtweise. Man muss immer versuchen, sich in die Sichtweise des Anderen hineinzuversetzen und zu Kompromissen zu kommen. 34 Rüdiger Singer <?page no="35"?> 4 Jugendgerichtsgesetz. Singer: Das hört sich ein bisschen so an, als ob Sie sich auch manchmal ein bisschen über uns geärgert haben? Zedler: Ich will dazu Folgendes sagen: Wir haben das Projekt „Amadeus“, und das ist ein besonderes Projekt, weil die Stadt Konstanz und der Landkreis sich zusammengetan haben, um zu sagen: „Wir wollen, dass die AWO diesen Bereich der Jugendgerichtshilfe übernimmt und die ambulanten Maßnahmen nach dem JGG 4 ausführt.“ Das war schon sehr schwierig, weil das Konzept sehr starr war. Ich verstehe das, weil natürlich jeder guckt, „wie viele Personen sind aus meiner Stadt? “ Das Verhältnis muss dann immer stimmen. Es ging dann letztendlich manchmal nicht mehr um die Qualität der Maßnahme, sondern nur noch um formale Kriterien. Wobei ich das auch verstehe. Wenn ich mich in die Stadt hineinversetze, weil das Jugendamt ja nicht einfach nur ein paar Mitarbeiter hat, die sich überlegen, wie man was richtig macht, sondern es hat ja auch eine politische Seite. Für den Jugendhilfeausschuss muss man Rechenschaft ablegen und die Mitglieder fragen natürlich auch nach Kriterien, nach Formalien. Also insofern war das eine verzwackte Situation, aber ich glaube, wir haben das ganz gut diskutiert und immer so Schritt für Schritt vorangebracht. Aber so richtig geärgert, wo ich sagen würde: „Wie können die nur! “, will ich jetzt sagen, gabs nie. Eigentlich arbeiten wir alle am gleichen Ziel. Hmmm, wenn ich jetzt mal so drüber nachdenke… Das Thema der Finanzierung der Kindertagesstätten war ein Bereich, der uns viel Sorge gemacht hat, weil da einfach die finanzielle Ausstattung nicht gut ist und es sehr, sehr lange gedauert hat bis zur Erhöhung der Elternbeiträge. Wenn ich jetzt so geschichtlich zurückdenke, war für mich immer die Stadt Konstanz, was die Kindertagesstättenarbeit angeht, die Fort‐ schrittlichste, die Kompetenteste, wo ich gedacht habe: „Boah, die Konstanzer machen alles richtig, die gehen voran.“ Aber irgendwann hat das Finanzielle so eine Übermacht bekommen, dass da nicht mehr viel möglich war. Ich habe das Gefühl, dass die Stadt Singen da wesentlich agiler mit den Problemen umgegangen ist. Und bei der Konkurrenz zwischen Stadt und freien Trägern, was das Personal angeht, könnte man denken, dass das ein größeres Problem ist, aber das habe ich jetzt nie so empfunden, dass man versucht, sich gegenseitig die Mitarbeiter wegzunehmen. Schließlich sind wir ein Träger, der wirklich nicht so viel Geld hat, dass man aus allen Taschen irgendwas heraussuchen kann und sich wirklich Mühe gibt, nach Tarif zu bezahlen. Manchmal hat man das Gefühl gehabt, dass bei den Städten ein bisschen mehr bezahlt wird. Das bekommt man Der Blick von außen 35 <?page no="36"?> jedenfalls von den Mitarbeiterinnen gesagt. In der Zwischenzeit hat sich ja aber ganz viel getan mit den Erzieherinnengehältern, und deswegen würde ich das zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr so sehen. Es ist mittlerweile eher so, dass manchmal die Kommunen sagen: „Wir bezahlen zu schlecht.“ Singer: Gab es in der Kooperation etwas, das Ihnen richtig Freude oder Spaß gemacht hat? Zedler: Gerne erinnere ich mich an die Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe „Kinder und Jugendliche von psychisch oder suchtbelasteten Eltern“ im Rahmen der kommunalen Gesundheitskonferenz. Rüdiger Singer als Vertreter des Jugend‐ amtes der Stadt Konstanz hat sich da mächtig ins Zeug gelegt und die Arbeit ganz wunderbar unterstützt. Ebenso ist in Erinnerung die Betreuung der Kinder während der Sommerferien, also die Stadtranderholungen, die wir bei uns im Treffpunkt Cherisy durchgeführt haben. Das waren immer sehr tolle Ereignisse und das hat sehr viel Spaß gemacht. Singer: Bei den Beispielen in der Kooperation zwischen Jugendamt und AWO würden Sie sagen, das war ein Arbeiten auf Augenhöhe? Gibt es sowas wie einen gemeinsamen Wertekanon? Zedler: Augenhöhe… Das ist so eine Geschichte - das würde bedeuten, zwei gleich starke Partner… Dies ist vielleicht auch ein Idealbild. Ob es das immer so geben kann, wenn der eine das Geld gibt und der andere sozusagen Leistungsnehmer ist? Eigentlich sind wir keine Partner, sondern wir bieten eine Dienstleistung an, die die Stadt bei uns abkauft. Das war bei Amadeus ganz klar: Die Stadt kauft bei uns die Maßnahme nach gewissen Qualitätskriterien ein. Es wurden Leistungsvereinbarungen gefordert, in denen genau drinsteht: „Das kaufen wir bei euch ein, aber nur das und das habt ihr auch dann zu machen.“ Vor dem Hintergrund ist das eigentlich keine Partnerschaft, sondern da gibt es einen Käufer und da gibt es einen Verkäufer. In der Diskussion damals war ich dabei. Es war für mich sehr interessant. Ich habe die Diskussion sehr geliebt, weil ich meine, es ist sehr wichtig in der Sozialen Arbeit zu wissen, welche Leistung eigentlich in dem steckt, was wir machen. Das hat dann dazu geführt, dass diese Leistungsvereinbarungen nicht so schnell gekommen sind. Da hat man gemerkt: Es sind viele Fragen dahinter. Aber es war ein wertschätzender, partnerschaftlicher Umgang: Miteinander diskutieren und die Meinung des 36 Rüdiger Singer <?page no="37"?> anderen anhören. Ich glaube, das ist schon ein Kennzeichen der Jugendhilfe im Landkreis und auch gerade mit dem Stadtjugendamt Konstanz. Singer: Sie haben Gehör gefunden mit Ihren Anliegen? Zedler: Ja, aber man braucht gute Argumente, sonst funktioniert das nicht. Singer: Als langjähriger Kooperationspartner eines Jugendamtes wissen Sie auch, welchen Ruf Jugendämter in der Bevölkerung haben. Oftmals heißt es, die Kinder werden nicht geschützt, oder Kinder werden zu Unrecht aus den Familien genommen. Woher kommt dieses Image der Jugendämter? Zedler: Vielleicht sage ich das aus dieser Perspektive: als Mitglied des Jugendhilfeaus‐ schusses und als Mitglied im Gemeinderat meiner Gemeinde, wo ich natürlich auch mit den Jugendhäusern und mit den Kindertagestätten zu tun habe. Ich glaube, man muss zwei Dinge trennen: Das eine sind die Mitarbeiter an sich. Die sind wirklich nicht in irgendeiner Form zu kritisieren, die geben wirklich ihr Bestes und machen wirklich einen super Job. Das Problem ist, dass, wie in vielen Bereichen, ein Mangel an Personal ist. Das war auch im Jugendhilfeausschuss Thema. Wenn man jetzt zum Beispiel Hilfe für ein Kind beim Jugendamt haben möchte und das Jugendamt dann sagt: „Sorry, wir haben gerade keine Kapazitäten, keine Ressourcen, ihr müsst euch irgendwie selber darum kümmern, es gibt doch Schulsozialarbeit“, dann merkt man erst mal, wie schwierig diese Personalsituation ist. Wir haben auch im Jugendhilfeausschuss Initiativen gehabt und wir fragen immer wieder nach, mit welchen Rezepten ihr versucht, die Personalnot in den Griff zu bekommen. Das hat aber nichts mit den Mitarbeiterinnen an sich zu tun, sondern mit strukturellen Problemen. Das Problem gibt es in allen Bereichen und dort besonders, weil es eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe ist, mit hohem persönlichem Risiko. Ich glaube, dass nicht viele Menschen Kontakt mit dem Jugendamt haben, aber es gibt natürlich auch Filme, in denen dann schwierige Situationen dargestellt werden. Aber eigentlich wage ich jetzt nicht zu unterschreiben, dass das Jugendamt in der Bevölkerung einen schlechten Ruf hat. Ich glaube, dass viele gar nicht wissen, was das Jugendamt macht. Aber die Wahrnehmung von jedem Einzelnen ist sehr selektiert. Viele tragen dann eher ein Vorurteil mit sich herum, das sie seit vielen Jahren im Kopf haben. Der Blick von außen 37 <?page no="38"?> Singer: Damit wir das eben Gesagte zeitlich besser einordnen können: Wer waren die Jugendamtsleiter bei der Stadt während Ihrer aktiven Zeit bei der AWO? Zedler: Am Anfang war Frau Herrmann, dann kam Herr Treude, den ich aber schon aus Singen her kannte. Danach kam Frau Seifried - mit Frau Seifried habe ich übrigens „Amadeus“ weiterentwickeln können - und dann kam Herr Kaufmann. Singer: Der auch heute noch Amtsleiter ist und nun das Stadtjugendamt in sein hundertjähriges Bestehen führt. Zedler: Ja, und die AWO ist 105 Jahre alt! Aber das hängt ja zusammen, weil die AWO Vorkämpfer für viele Gesetze war und auch gegründet wurde, um bei der Gesetzgebung mitzuwirken, als die Jugendhilfe entstanden ist. Da könnte ich jetzt viele Geschichten erzählen. Singer: Sie meinen, die AWO war damals Mitgestalterin der Jugendhilfe? Zedler: Die AWO war eigentlich ein Ausschuss für Arbeiterwohlfahrt und war von Anfang an auch im Gesetzgeberischen tätig und hat Modellprojekte gemacht. Ganz innovativ war der Immenhof, ein Projekt für Mädchen, die ansonsten ins Gefängnis gekommen wären, weil sie „gefallene Mädchen“ waren. Singer: Also ähnlich unserer Wessenbergstiftung? Zedler: Ja, da hat man erstmals nicht in die Strafe geführt, sondern in Ausbildung, soziale Kompetenz vermittelt, Zukunft aufgebaut. Der Immenhof wurde aber dann von den Nazis geschlossen und die Mädchen alle abgeholt. Weitere Modellprojekte, wie die Kinderrepubliken zum Beispiel, also Stadtranderholungen, das waren Dinge, die eigentlich flankierend waren. Aber die Mitarbeit an diesen Gesetzen war den Müttern und Vätern der Arbeiterwohlfahrt sehr, sehr wichtig. Da haben wir eine lange Geschichte und viele historische Dokumente. Singer: Es gibt also eine lange gemeinsame Geschichte der AWO und der Jugendhilfe? 38 Rüdiger Singer <?page no="39"?> Zedler: Ja, ganz genau! 100 Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Wenn man dann bedenkt, wie lange sich der Ruf eines Jugendamtes oder der Ruf einer AWO in dieser Zeit sozusagen fast nicht verändern konnte, weil er so fest in den Köpfen drinnen ist, dann ist das auch ein bisschen das Problem. 100 Jahre heißt erstmal: „Ja, da ist jemand, der ist ja nachhaltig, hat lange Erfahrung, hat sich oft verändern müssen.“ Es gab sehr viele gesetzliche Änderungen und trotzdem - wir hatten vorhin das Thema „wie ist der Ruf des Jugendamtes“ - bleiben viele Dinge einfach noch im Kopf drinnen. Ansonsten, bei 100 Jahren, da denkt man: „Boah, ok, ist noch einer von den Mitarbeitern der ersten Stunde dabei? “ Aber im Ernst: Es ist ein Jugendamt, das sehr viele Geschichten erzählen kann, die wichtig wären zu erzählen, um zu begreifen, was da geschehen ist. Da sind sehr viele spannende, wahrscheinlich auch sehr viele betrübliche Kapitel dabei. Gerade, wie sich die Beziehung zu Menschen mit Behinderungen geändert hat. Weiter spannend ist, wie sich der Blick verändert hat. Wie arbeitet man heutzutage und welchen Anteil hat die Politik dabei? Wichtig ist, dass im Jugendhilfeausschuss nicht nur die Politik, sondern auch Leute drin sind, die fachlich kompetent sind - auch Bürgerinnen und Bürger. Wichtig ist, dass die Jugendhilfe eigentlich doch von Anfang an und immer noch als Gemeinschaftsprojekt der Politik, der Verwaltung und der Bürgerschaft gedacht wird. Singer: Herr Zedler, letzte Frage: Welche Geburtstagswünsche haben Sie für das Ju‐ gendamt? Zedler: Gesundheit, Glück und Wohlergehen! Ja, natürlich, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Zukunft gesund bleiben. Das ist ein persönlicher Wunsch für alle, die dort arbeiten, weil ich hohen Respekt habe für alle und für jeden Einzelnen, der seine Lebenszeit dort gibt. Dass er Erfolg hat in dem Sinn, dass einfach Kindern und Jugendlichen gute Chancen für ihr Leben gegeben werden und dass sie den Rückhalt spüren in der Gesellschaft, in der Politik. Dass sie wissen: Sie machen einen wertvollen Job und dass es auch so gesehen wird. Wenn dies durch so ein Jubiläum nach vorne gebracht werden kann, erkennen die Menschen dies. „Wow, super, dass du beim Jugendamt arbeitetest! Du machst einen echt wichtigen Job! Dankeschön! “ Das habt ihr verdient und das wünsche ich euch! Singer: Vielen Dank für dieses Interview! Der Blick von außen 39 <?page no="40"?> Zedler: Sehr gerne! *** Die nachstehenden Fragen wurden Dieter Gräble, dem Geschäftsführer a. D. der katholischen Verrechnungsstelle Radolfzell, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugendamtes der Stadt Konstanz gestellt. Zur Orientierung: Dieter Gräble, Jahrgang 1956, geboren in Watterdingen, Abitur in Singen, Ausbildung zum gehobenen Verwaltungsdienst bei der Stadt Tengen, 10 Jahre Standesbeamter in Singen, seit 1992 bei der Gesamtkirchenge‐ meinde Konstanz. Genießt seinen Ruhestand in Worblingen. © privat Singer: Herr Gräble, Sie waren lange Jahre Leiter der Verrechnungsstelle in Radolfzell. Wann genau war das? Gräble: Genau genommen war ich das nur ganz kurz von 2015 bis 2022. Ich begann 1992 als Geschäftsführer der Gesamtkirchengemeinde Konstanz. Dort hatte ich eine starke Funktion und habe alle miterlebt. Bürgermeister war damals Herr Dr. Hansen, Leiterin des Sozial- und Jugendamts war Frau Herrmann. Alle Nachfolger habe ich intensiv kennengelernt. Singer: Das heißt: Herrn Treude, Frau Seifried und Herrn Kaufmann. 40 Rüdiger Singer <?page no="41"?> Gräble: Und die Sozialbürgermeister Herrn Maas, Herrn Boldt, Herrn Dr. Osner. Und ich muss sagen, dass die Leitung vom Sozial- und Jugendamt immer sehr gut besetzt war. Es gab Topkräfte bei den Kita-Fachberatern wie Frau Nootz und Frau Mohr. Singer: Wie war die Kooperation mit den Sozialbürgermeistern? Gräble: Dr. Hansen war ein sehr selbstbewusster Mensch. Der hat mich einbestellt und hat mir mitgeteilt, dass wir als katholische Kirche endlich mal aufwachen müssen, weil wir noch Regeleinrichtungen hatten. Er wollte die Kinderhausidee fördern und das Ganztagsangebot mit Essen - und das alles hatten wir damals nicht. Er hat gesagt: „Stellen Sie mal den Antrag, dann gehen die alle durch. Ja jetzt machen Sie mal! “ Bei ihm war ich im Schnitt 10 Minuten. Dann war ein Millionenprojekt durch oder abgelehnt. Singer: Hatten Sie mit der Stadt nur Berührungspunkte mit dem Jugendamt bzgl. Kindergärten? Gräble: Überwiegend ging es um Kindergärten, aber auch zum Beispiel um die Sanie‐ rung der Dreifaltigkeitskirche. Die Kirche hat ja ein breites Spektrum. Singer: Was aber keine Jugendhilfethemen waren. Gräble: Ja, mit den Bürgermeistern waren es immer Kindergartenprojekte. Der Stephans‐ kindergarten war das erste große Projekt. Dr. Hansen sagte: „so eine große Fläche und dann dieser kleine Kindergarten. Den müssten wir unbedingt erweitern. Das bräuchten wir in Konstanz.“ Für die Pfarrgemeinderäte war das ok. Singer: Und heute sind wir froh drum. Wir kämpfen heute in erster Linie mit dem Personalmangel. Können Sie kurz skizzieren, was früher die Herausforderungen der Kindertagesbetreuung waren? Gräble: Der Personalmangel war immer wieder ein Thema. Dies ist nun mindestens die dritte Wellenbewegung. Wir haben schon in den 90er Jahre überlegt, ob Der Blick von außen 41 <?page no="42"?> 5 GT ist die Abkürzung für Ganztagesgruppen mit einer Öffnungszeit von mehr als sieben Stunden täglich. VÖ bedeutet Gruppen mit verlängerten Öffnungszeiten. In der Regel zwischen fünf und sieben Stunden täglich. wir bei Kindergärten immer Wohnungen für die Kindergärtnerinnen - also für die Erzieherinnen - mit bauen, um Personal zu gewinnen. Man hatte immer wieder einmal Mangel und Überschuss. Jetzt haben wir allerdings dramatischen Mangel. Damals war das Top Thema, vor allem auf Betreiben von Frau Herr‐ mann, dass die katholische Kirche ihre Angebotsform an die Bedürfnisse der Familien anpasst. Innerkirchlich war das eine Riesendiskussion. Ich habe dies zu meiner „Spezialaufgabe“ gemacht und bei allen Pfarrgemeinderäten und Stiftungsräten dafür geworben, die Angebotsformen den aktuellen Bedürfnissen anzupassen, die Öffnungszeiten zu ändern und GT- und VÖ 5 -Gruppen einzu‐ richten. Singer: Und dann kam der Krippenausbau, wo bis heute die katholische Kirche die Stadt sehr unterstützt. Beißt sich das nicht mit einem traditionellen katholischen Familienbild? Gräble: Nein, weil die katholische Kirche bunt ist und es da ganz unterschiedliche Strömungen gibt. Es gibt sicherlich immer eine konservative Seite, die sagt: „die Familie sollte das alles machen und wir brauchen das alles gar nicht.“ Aber es gibt natürlich in der katholischen Kirche ganz starke progressive Kräfte, die sagen, wir müssten hier unbedingt ausbauen. Pfarrer Schwörer zum Beispiel war ein Motor. Obwohl es im Bistum noch nicht erlaubt war, hat er das Edith-Stein- Kinderhaus einfach begonnen - zuerst ohne Genehmigung! Er sagte, wenn die katholische Kirche im § 218 „Ja“ zum Kind sagt, denn muss sie alleinerziehende Mütter, die zum Kind stehen, unterstützen und Kinderhausangebote machen. Es war eines von drei ersten Kinderhäusern als Modellprojekt in Konstanz. Singer: Die Stadt Konstanz ist insofern etwas Besonderes in der Kooperation mit vielen freien Trägern, als dass wir ein eigenes Jugendamt haben, anders als andere Städte, mit denen Sie kooperiert haben. War dies in der täglichen Arbeit spürbar? Gräble: Ja, das spielt eine gravierend wichtige Rolle! Denn früher, also, als ich das noch dienstlich gemacht habe, war die Stadt Konstanz Vorreiter und hat wesentlich mehr gemacht und eine bessere Arbeit geleistet als das Landratsamt. Die Abgabe des Singener Jugendamtes damals war qualitativ ein schwerer Verlust für Singen 42 Rüdiger Singer <?page no="43"?> und es ist ein Segen, dass das Konstanzer Jugendamt blieb. Wir freien Träger haben immer die Stadt und das Sozial- und Jugendamt unterstützt und dafür geworben, dass es bleibt. Wir brauchen ein starkes Amt, das klar die Interessen beim Stadtrat auf den Punkt bringt. Zum Beispiel der Bericht! So einen Bericht hatte nach meiner Kenntnis keine andere Kommune! Singer: Sie meinen den Kitabericht? Gräble: Ja genau, den Bericht Tagesbetreuung für Kinder. Singer: Glauben Sie, die Singener bereuen, dass sie das Jugendamt abgegeben haben? Gräble: Aus meiner Sicht ja! Singer: Warum? Gräble: Weil das Landratsamt den Kommunen wenig Vorgaben macht. Und das macht den Standard wesentlich niedriger. Singer: Können Sie dies etwas ausführen? Gräble: Klar! Ein eigenes Amt hat eigenes Fachpersonal! Wenn ich überlege, mit wel‐ chem missionarischen Eifer sich Frau Nootz eingesetzt hat, um ins Bewusstsein zu bringen, dass „Kindertagesstätten nicht nur Aufbewahrungsstätten sind“. Sie sind Bildungsstätten und müssen verstärkt Bildung machen. Das kann man nur mit dem eigenen Amt. Einmal hat die Stadt im Bürgersaal zwei, drei Wochen Werbung für ihr neues Angebot der offenen Arbeit gemacht. Dass man sich von der Gruppenbindung löst. Das hat andere angespornt, sich auf den Weg zu machen und sich weiterzubilden und auch für die gruppenbezogene Arbeit zu werben. Das wäre ohne eigenes Amt nicht möglich gewesen. Singer: Sie waren auch lange Jahre Mitglied im Jugendhilfeausschuss der Stadt. Hat dies Ihre Verbundenheit mit dem Jugendamt gestärkt? Der Blick von außen 43 <?page no="44"?> Gräble Auf jeden Fall! In Konstanz war es immer so, dass alle an einem Strick gezogen haben. Alle freien Träger haben immer den gemeinsamen Nenner gesucht und haben mit der Stadt zusammen ausgelotet, was machbar ist und was nicht. Konstanz war vorbildlich, was den Krippenausbau anging. Das wäre ohne eigenes Amt gar nicht möglich gewesen. Singer: Wie haben Sie die Politik im Jugendhilfeausschuss erlebt. Gräble: Die Politik ist je nach Partei natürlich immer gespalten. Zu meiner Überraschung hat die SPD immer stark die finanzielle Seite betont und war eher auf dem Bremspedal. Aber alle anderen waren insgesamt froh und stolz, dass Konstanz dieses hohe Level erreichen konnte. Es war immer eine Freude, im Jugendhilfe‐ ausschuss teilnehmen zu dürfen. Man hat riesen Ausbauprogramme gemacht und geschaut, was man realisieren kann, um Familien zu unterstützen. Singer: Erzählen Sie noch ein bisschen von dieser Ausbauzeit. Das war ja eine wilde Zeit. Gräble: Ja, diese Zeit war interessant, lebendig und es war eine riesige Herausforderung. Man wusste nicht, ob man das ganze Personal überhaupt gewinnen wird und wer es ausbildet. Es war zu klären, welche Ziele angestrebt werden, welchen Anteil Bildung haben sollte, usw. Der Orientierungsplan war eine riesen Her‐ ausforderung. Singer: Eine kritische Frage: Vor einiger Zeit erhielt ich einen erbosten Brief eines Dettinger Bürgers mit dem Inhalt, dass eine Bekannte von ihm, eine Muslima, sich als Erzieherin in einer katholischen Einrichtung beworben hätte und nicht angestellt worden sei, mit der Begründung, sie sei Muslima. Wie kann das sein bei einer weltoffenen und bunten katholischen Kirche? Gräble: In der Tat geht leider manches auch bei der katholischen Kirche länger, als man sich das wünscht. Tatsächlich war es früher so, dass man keine Muslimin als Mitarbeiterin genommen hat. Allerdings als Anerkennungspraktikantin schon. Das ist aber seit vielen Jahren schon gekippt worden. Eine Muslimin in einem katholischen Kindergarten anzustellen, ist überhaupt kein Problem mehr. 44 Rüdiger Singer <?page no="45"?> Singer: Welche Rolle spielt dann noch der katholische Glaube in den katholischen Kindergärten in Konstanz? Keine mehr? Gräble: Es ist die Frage, wie katholischer Glaube in den Einrichtungen gelebt werden soll. Wir haben Grundsätze, da steht drin: Katholisch bedeutet, jeder Mensch ist etwas ganz Besonderes, ist ein eigenes Geschöpf Gottes und muss gefördert werden, je nachdem, was er für Talente hat. Und jeder ist geliebt und geschätzt und anerkannt. Ich finde, das ist eine wunderbare Grundlage, um zu arbeiten. Und es ist interessanterweise so, dass katholische Einrichtungen bei Muslimen enorm beliebt sind. Singer: Warum? Gräble: Weil Religion für viele Muslime wichtig ist und der Islam ja auch eine abraha‐ mitische Religion ist. Singer: Alle sind Willkommen… Gilt dies auch für Homosexuelle, für queere Menschen? Gräble: Absolut! Das sagt jetzt auch der Papst! Singer: Eine Diskussion, die im Gemeinderat immer mal wieder auftaucht, ist die, dass beispielsweise bei Kita-Neubauten der katholischen Kirche städtische Zuschüsse in Höhe von 80 Prozent zufließen. Der Vorwurf, der immer mal wieder erhoben wird, ist der, dass die Stadt mit Steuermitteln dadurch das Vermögen der katholischen Kirche mehrt. Was war Ihre Antwort auf diesen Vorwurf? Gräble: Diese Diskussion gibt es, allerdings nicht in der vollen Breite der politischen Par‐ teien, sondern eher von Einzelnen. Es ist vollkommen klar, dass die katholische Kirche bisher immer gesagt hat, wir sind bereit, die Bau- und Betriebsträger‐ schaft zu übernehmen und dann 20 Prozent der Investitionskosten zu tragen. Aber das müssen wir nicht! Wir waren auch immer gern bereit, eine reine Be‐ triebsträgerschaft zu übernehmen. Dann wird das Gebäude von der Kommune gebaut und es bleibt im Eigentum der Kommune. Sollte eine Trägerschaft einmal enden, was macht man dann eigentlich mit einem Kindergarten? Ich denke, Der Blick von außen 45 <?page no="46"?> dass die katholische Kirche in meiner Dienstzeit 4 bis 6 Millionen Euro in Kitagebäude investiert hat. Auch der Kämmerei war bewusst, dass die Stadt durch das Engagement der freien Träger sowohl beim Bau als auch beim Betrieb viel Geld spart. Es engagieren sich auch viele Ehrenamtliche. Die katholische Kirche hat zumindest derzeit noch Kirchensteuermittel und will ein klares Signal setzen, dass sie Familien - und zwar Familien in ihrer Form, wie sie heute tatsächlich da sind - unterstützt. Im Bistum wird ein Drittel der Kirchensteuer der Kirchengemeinden für Kindertagesbetreuungsbelange ausgegeben. Singer: Gegen Ende noch eine persönliche Frage: Gibt es eine Sache, die Sie in Bezug auf das Stadtjugendamt als besonders schön in Erinnerung haben? Gräble: Ja! Das Dorothea von Flüe Kinderhaus. Das war mit heißer Nadel gestrickt. Da waren alle der Meinung, auch die damalige Amtsleiterin Frau Seifried - übrigens eine Top-Jugendamtsleiterin! -, die Kiste könnte „platzen“. Das war äußerst problematisch. Wir haben aber gemeinsam alle Klippen überwinden können. Wenn dann die Einweihung ist und man hat alles geschafft und die Kinder sind da und singen ein Lied und freuen sich, dann ist das einfach wunderbar! Eine Besonderheit, die ebenfalls sehr beeindruckend war, war der Maria Hilf Kindergarten. Der wurde aufgrund der hohen Kosten vom Fachamt - also vom Jugendamt - abgelehnt. Dann sind über hundert Eltern beim damaligen Oberbürgermeister Frank aufgelaufen und er hat den Eltern zugesagt: „Ihr bekommt euren Kindergarten! “ So kam es dann auch. Singer: Letzte Frage: Was sind Ihre Wünsche für den 100. Geburtstag des Jugendamtes der Stadt Konstanz? Gräble: Dass weitere 100 Jahre kommen und dass man sich dann wieder freut und feiert und dass es dem Jugendamt gelingt, die Belange von Familien und Kindern wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Singer: Vielen Dank Herr Gräble. Gräble: Bitteschön. 46 Rüdiger Singer <?page no="47"?> Die Wessenberg’sche „Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Mädchen“ an der Schwe‐ denschanz, um 1890 (StadtA Konstanz Z1.altD9-297) <?page no="49"?> 1 RGBl 1922, Teil I, S. 633. Zum Gesetz selbst: J O R D A N , Erwin/ M Ü N D E R , Johannes (Hg.): 65 Jahre Reichsjugendwohlfahrtsgesetz - ein Gesetz auf dem Weg in den Ruhestand. Mit einem Beitrag von Christa Hasenclever, Münster 1987. 2 P E U K E R T , Detlev J.K.: Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deut‐ schen Jugendfürsorge 1878 bis 1932, Köln 1986, S.-137. 3 M Ü L L E R , C. Wolfgang: JugendAmt. Geschichte und Aufgabe einer reformpädagogischen Einrichtung (Berufsfelder Sozialer Arbeit, Bd.-2) Weinheim 1994, S.-24. 4 RGBl 1922, Teil I, S.-634. Von der Gründung des Konstanzer Jugendamts in der Weimarer Republik, seiner Radikalisierung im NS-Staat und der Neuausrichtung nach 1945 oder: Wie setzte eine städtische Kollegialbehörde nach 1933 das „Führerprinzip“ um? Jürgen Klöckler „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“, so lautete der programmatische Grundsatz der Weimarer Jugendpolitik im ersten Paragraphen des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt (RJWG) vom 9. Juli 1922 1 . Es wird in der historischen For‐ schung bisweilen als „Jugendamtsgesetz“ 2 bezeichnet, weil es kein eigentliches Leistungsgesetz, sondern ein Organisationsgesetz gewesen sei. Andere Forscher sprechen in Zusammenhang mit der neueinzurichtenden Institution gar von einem „Fürsorge- und Erziehung-Correktur-Amt für eine spezielle jugendliche Klientel“ 3 . Das RJWG forderte jedenfalls die lückenlose Einrichtung von Jugend‐ ämtern in ganz Deutschland: Jugendämter sind als Einrichtungen von Gemeinden oder Gemeindeverbänden für das Gebiet des Deutschen Reichs zu errichten. Die oberste Landesbehörde bestimmt die Abgrenzung der Bezirke, für welche Jugendämter zuständig sind. 4 Die Einrichtung von Landesjugendämtern wurde in Paragraph 12 des RJWG geregelt und vom Reichstag am 14. Juni 1922 beschlossen. Im Einführungsgesetz <?page no="50"?> 5 Ebd., S.-647. 6 M Ü L L E R (wie Anm. 3) S.-31. Hier auch zu den nächsten vier Punkten. 7 Vgl. dazu weiter: G E R N E T , Wolfgang: Jugendhilfe. Kurze Einführung in die sozialpäd‐ agogische Praxis (UTB, Band-223) München 3. neu bearb. Auflage 1978. 8 Vgl. dazu und zur geschichtlichen Entwicklung insgesamt: S C H E R P N E R , Hans: Geschichte der Jugendfürsorge. Göttingen 2 1979, hier S.-16 ff. 9 J O R D A N , Erwin/ S E N G L I N G , Dieter: Jugendhilfe. Einführung in Geschichte und Hand‐ lungsfelder, Organisationsformen und gesellschaftlichen Problemlagen, Weinheim 2 1992, S.-18. wurde erklärt: „Das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt tritt am 1. April 1924 in Kraft.“ 5 Somit waren die gesetzlichen Grundlagen in der Weimarer Republik gelegt, damit auch in Konstanz ein Jugendamt entstehen konnte. Fünf Punkte zeich‐ neten das neue Gesetz aus: Erstens der kodifizierte Anspruch jedes deutschen Kindes auf „Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüch‐ tigkeit“. 6 Zweitens die Zusammenfassung der Jugendpflege (vorbeugende Hilfe) und der Jugendfürsorge (Erziehung in öffentlicher Verantwortung) unter dem Begriff der Jugendhilfe 7 . Drittens Einführung derselben als dritte Erziehungs‐ macht neben der Familie und der Schule, die zudem in gewisser Konkurrenz zu den Kirchen stand. Viertens die Schaffung von Jugendämtern als Kollegial‐ organe unter Zusammenarbeit von ehrenamtlich Tätigen und Berufsbeamten. Fünftens schließlich die Beteiligung der neuen Jugendämter an einer Reihe von Fürsorgemaßnahmen, die bislang bei anderen Ämtern angesiedelt waren. Die Bürokratisierung der öffentlichen Fürsorge war somit - und zwar nicht mehr rückgängig zu machend - angestoßen. Erst freie Initiative, dann staatliche Förderung Planmäßig organisierte Hilfe für Kinder und Jugendliche ist ein spätmittelalter‐ liches Phänomen. Es betraf „verlassene“, d. h. familien- und sippenlose Kinder einerseits und andererseits arme Kinder und Jugendliche, deren Eltern materiell so schlecht gestellt waren, dass sie der Unterstützung bedurften. 8 Seit dem 13. Jahrhundert wurden durch kirchliche Stiftungen in diversen Städten Findel- und Waisenhäuser errichtet. 9 Auch in der Frühen Neuzeit wurden elternlose oder verlassenen Kinder in Waisen- und Findelhäusern untergebracht. Mit Beginn des 17. Jahrhunderts wurde das Armenwesen reformiert. So gründete etwa August Hermann Francke (1663-1727) in Halle an der Saale 1695 eine pietistische Waisenhausstiftung. Derartige Rettungshäuser breiteten sich im deutschsprachigen Raum aus. Deren Ziel war es, die fehlende Familie so weit 50 Jürgen Klöckler <?page no="51"?> 10 G E R N E T (wie Anm. 7), S.-14. 11 Nachfolgender Abschnitt nach K L Ö C K L E R , Jürgen: Der Politiker Ignaz Heinrich von Wessenberg. Sein Wirken als Abgeordneter in der Ersten Kammer der Badischen Ständeversammlung von 1819 bis 1831, in: Braun, Karl-Heinz/ Stark, Barbara (Hg.): Ignaz Heinrich von Wessenberg 1774-1860. „Etwas Rein-Gutes zu wirken …“. Sechs Vorträge anlässlich des 250. Geburtstags von Ignaz Heinrich von Wessenberg, Konstanz 2024, S.-55-80. 12 Vgl. dazu weiter: S C H W A L L -D Ü R E N , Angelika: Kinder und Jugendfürsorge im Großher‐ zogtum Baden in der Epoche der Industrialisierung. Entwicklung und Zielsetzung der staatlichen, kommunalen und verbandlichen Fürsorge 1850-1914 (Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte, XXX) Freiburg 1980, S.-76-180. 13 Zitiert nach B E C K , Jos[eph]: Freiherr I. Heinrich v[on] Wessenberg: seine Leben und Wirken, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der neuern Zeit. Auf der Grundlage handschriftlicher Aufzeichnungen Wessenbergs, Freiburg 1862, S.-353. 14 Zitiert nach ebd., S.-353 f. wie möglich zu ersetzen. 10 In diesem Zusammenhang sind Namen wie Heinrich Pestalozzi (1746-1827), Johannes Don Bosco (1815-1888) und Friedrich Fröbel (1782-1852) zu nennen. Die Missernten von 1846/ 47 verschärften die Lage; in der Hungersnot verwahrlosten Kinder und Jugendliche. Auch in Konstanz wurde Mitte des 19. Jahrhunderts dieses sich verschärfende soziale Problem erkannt. 11 Im Großherzogtum Baden sprach man von der Zeit der Rettungshausbewegung. 12 Es war insbesondere der letzte Bistumsver‐ weser Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860), der als Parlamentarier der Ersten Kammer der badischen Ständeversammlung ab 1819 immer wieder auf diese Probleme hinwies. Das Schicksal der Kinder, deren Zahl infolge der gesellschaftlichen Umwälzungen enorm gestiegen war, bewegte ihn. Die Geburtenrate in Baden war nach Lockerung von Heiratsbeschränkungen und der umfassenden Allodifizierung der großen Höfe sehr hoch, folglich breitete sich der Pauperismus (nicht zuletzt wegen der vielfach praktizierten Realteilung der Höfe samt Grundbesitz) insbesondere auf dem Land, aber auch in den Städten aus. In dieser Situation schwebten Wessenberg die Gründung von „Ret‐ tungsanstalten für verwahrloste Kinder“ vor, deren „Menge durch die Unbilden der Zeit immer mehr anwuchs“, so Wessenberg. 13 Rettungsanstalten sollten „gegen die zunehmende Ueberschwemmung der Gesellschaft mit Taugenichtsen und Verbrechern“ 14 wirken. Die Konstanzer „Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Mädchen“ Doch Wessenberg, der die Einrichtung von Taubstummen- und Blindenschulen in Baden politisch anstoßen konnte, sollte seine weitergehenden Forderungen Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 51 <?page no="52"?> 15 Zur Gründungsgeschichte vgl. ausführlich: A L A N D , K[urt]: Wessenberg-Studien II. Wessenberg und die Konstanzer Rettungsanstalt. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des badischen Erziehungswesens, in: ZGO 96 (1948) S.-450-567. 16 Vgl. dazu weiter: F O E G E , Lisa: Wessenbergs Herzenskind. Geschichte einer sozialen Fürsorgeinstitution in Konstanz (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz, 17) Konstanz 2014, S.-62 ff. 17 Für den Wortlaut der Ansprache vgl. Aland 1948 (wie Anm. 15), S.-559 f. 18 Ebd., S.-560. 19 F O E G E (wie Anm. 16), S.-101. in Baden parlamentarisch nicht durchsetzen, weshalb ihm nur noch der Weg der privaten Mildtätigkeit offenstand. So gründete er eigenverantwortlich und aus eigenen Mitteln in Konstanz eine „Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Mädchen“. 15 Über Bürgermeister Hüetlin erreichte Wessenberg, dass die Stadt für das Projekt unentgeltlich ein Grundstück an der heutigen Schwedenschanze unmittelbar in Grenzlage zur Schweiz zur Verfügung stellte. 16 Dort konnte im März 1855 auf einem weitläufigen Gelände in einer von Baumeister Hermann Gagg errichteten, zweistöckigen Villa die konfessionell ausgerichtete „Rettungs‐ anstalt“ ihrer Bestimmung übergeben werde. Ignaz Heinrich von Wessenberg hielt die Festansprache 17 : Die Anstalt nun […] verdankt ihr Entstehen der menschenfreundlichen Absicht, diesem größten, bejammerswürdigsten Elend Schranken zu setzen. Solchen Kindern, die in der Welt verlassen stehen, denen ihr Geschick Gelegenheit und Mittel zu einer würdigen Erziehung versagt, soll diese Anstalt eine Zufluchtstätte sein, wo sie ein Mutterherz finden, wo ihr Geist, ihr Gemüth, ihre Fähigkeiten die nöthige Ausbildung erhalten mögen, damit sie in den Stand gesetzt werden, ein Gott wohlgefälliges, ihnen selbst heilbringendes u[nd] der Gesellschaft zuträgliches Leben zu führen. 18 Nach seinem Tod übernahm 1862 die aus dem Barvermögen gespeiste „Wessen‐ berg’sche Vermächtnisstiftung“ die weitere Finanzierung der „Rettungsanstalt“ und sorgte für die Einhaltung des Stifterwillens. Die von Ignaz Heinrich von Wessenberg 1855 ins Leben gerufene Institution sollte zum 31. August 1977 aufgelöst werde. Sie hat somit genau 122 Jahre bestanden. 19 Die Nachfolge trat in gewisser Weise eine städtische Einrichtung an, das bis heute dort in der Schwedenschanze 10 bestehende Sozialzentrum Wessenberg. Doch zurück ans Ende des 19. Jahrhunderts. Betrachten wir die drei Arten öf‐ fentlicher Ersatzerziehung von Einführung des Reichsjugendwohlfahrtgesetzes im Deutschen Reich: Erstens hatte das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 in 52 Jürgen Klöckler <?page no="53"?> 20 Dort heißt es: „Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind ver‐ nachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird. Hat der Vater das Recht des Kindes auf Gewährung des Unterhalts verletzt und ist für die Zukunft eine erhebliche Gefährdung des Unterhalts zu besorgen, so kann dem Vater auch die Vermögensverwaltung sowie die Nutznießung entzogen werden.“ RGBl 1896, S.-480. 21 Dort heißt es: „Das Vormundschaftsgericht kann anordnen, daß der Mündel zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird. Steht dem Vater oder der Mutter die Sorge für die Person des Mündels zu, so ist eine solche Anordnung nur unter den Voraussetzungen des §. 1666 zulässig.“ RGBl 1896, S.-510. 22 Paragraph 56 StGB lautet: „Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntniß ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß. In dem Urtheile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt gebracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Anstalt vorgesezte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste Lebensjahr“; RGBl 1871, S.-137. 23 Artikel 135 des Einführungsgesetzes zum BGB regelte, das landesrechtliche Vor‐ schriften im Rahmen der Fürsorgeerziehung aufrechterhalten blieben. 24 J O R D A N / S E N G L I N G (wie Anm. 9), S.-33. den Paragraphen 1666 20 und 1838 21 als „privatrechtliche Fürsorgeerziehung“ den Eingriff in die elterliche Gewalt durch Anordnung des Vormundschaftsgerichts erlassen. Zweitens war „Zwangserziehung“ nach § 56 des Strafgesetzbuches 22 für bedingt strafmündige Jugendliche vorgesehen und drittens war Fürsorge‐ erziehung im engeren Sinn auf der Grundlage der Landesgesetze 23 im Deutschen Reich und zwar zur „Verhütung des völligen sittlichen Verderbens des Min‐ derjährigen“ möglich. 24 Man kann diese Entwicklung, die sich im gesamten Deutschen Reich vollzog, als gesamtgesellschaftlichen Umwandlungsprozess von der stabilen, traditionsgebundenen Agrargesellschaft zur industriellen und pluralistischen Massengesellschaft interpretieren. Die Krisenjahre des Ersten Weltkriegs und der nachfolgenden Inflation, welche die Kinder- und Jugendnot nochmals deutlich steigerten, verschärften diesen Prozess und drängten Staat, Länder und Kommunen zum Handeln. Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 53 <?page no="54"?> 25 Vgl. dazu weiter: S C H O T T , Dieter: Von der Novemberrevolution bis zum Krisenjahr 1923, in: Lothar Burchardt/ Ders./ Werner Trapp: Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschichte der Stadt Konstanz, 5) Konstanz 1990, S. 67-144 sowie T R A P P , Werner: Konstanz in den Jahren 1924 bis 1933, in: ebd. S.-145-220. 26 Zur Biographie vgl. V O N S A L D E R N , Adelheid: Hermann Dietrich. Ein Staatsmann der Weimarer Republik (Schriften des Bundesarchivs, 13) Boppard 1966 sowie K L Ö C K L E R , Jürgen: Auf Durchgangsstation in Konstanz. Oberbürgermeister Hermann Dietrich, in: Tobias Engelsing (Hg.): Die Grenze im Krieg. Der Erste Weltkrieg am Bodensee (Konstanzer Museumsjournal 2014), Konstanz: Rosgartenmuseum 2014, S.-30 f. 27 Bürgermeister und Erster Beigeordneter von 1919-1927 war der Zentrumspolitiker Ernst Dietrich (1870-1942), ein promovierter Jurist. 28 Nachfolgendes ist wörtlich entnommen aus: K L Ö C K L E R , Jürgen: Selbstbehauptung durch Selbstgleichschaltung. Die Konstanzer Stadtverwaltung im Nationalsozialismus (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, XLIII) Ostfildern 2012, S.-94 f. 29 B A J O H R , Frank: Vom Honoratiorentum zur Technokratie. Ambivalenzen städtischer Daseinsvorsorge und Leistungsverwaltung im Kaiserreich und in der Weimarer Repu‐ blik, in: Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Hg. von Frank Bajohr, Werner Johe und Uwe Lohalm, Hamburg 1991, S.-70. 30 W I R S C H I N G , Andreas: Zwischen Leistungsexpansion und Finanzkrise. Kommunale Selbstverwaltung in der Weimarer Republik, in: Kommunale Selbstverwaltung. Local Self-Government. Geschichte und Gegenwart im deutsch-britischen Vergleich. Hg. von Adolf M. Birke und Magnus Brechtken (Prinz-Albert-Studien, 13) München 1996, S. 49. 31 Zu dessen Biographie vgl.: E N G E L S I N G , Tobias: Der Rote Arnold. Eine Lebensgeschichte 1883-1950, Konstanz 1996. Die Einrichtung eines Jugendamts in Konstanz Nach Ende des Ersten Weltkriegs hatte sich auch auf dem Konstanzer Rathaus die Weimarer Koalition aus Sozialdemokratie, Zentrum und Demokratischer Partei etabliert: 25 Der Oberbürgermeister, als Nachfolger des zum badischen Au‐ ßenminister ernannten und als Abgeordneter in die Nationalversammlung ent‐ sandten Hermann Dietrich (DDP), 26 entstammte nach einem schwererkämpften Personalkompromiss mit Otto Moericke erneut dem liberalen Lager, der erste Beigeordnete Ernst Dietrich (den 1927 Franz Knapp ablösen sollte) 27 der katho‐ lischen Zentrums-Partei und der technische Bürgermeister Fritz Arnold der Sozialdemokratie. 28 Zwar hatte nach Revolution und demokratischer Reform des Gemeindewahlrechts die Stadtverwaltung ihren „bürgerlichen Festungscha‐ rakter“ 29 verloren, die kommunale Selbstverwaltung erschöpfte sich in der Krise der Inflationsjahre zunehmend in städtischer Sozialfürsorge. 30 Ab Mitte der 1920er Jahre setzte eine von technischem Fortschrittsglaube ausgelöste Expansionspolitik ohnegleichen in der Geschichte der Stadt ein - maßgeblich vom sozialdemokratischen Bürgermeister Fritz Arnold 31 betrieben. Die kommu‐ nale Daseinsfürsorge wurde umfassend erweitert, Fähre- und Omnibusverkehr errichtet und kommunalisiert, die Stadt gleichzeitig in chronische Finanznot 54 Jürgen Klöckler <?page no="55"?> 32 Erinnerungen von Franz Knapp vom Oktober 1962; StadtA Konstanz S II 6284. 33 G E R N E T (wie Anm. 7), S.-16 f. mit ständig steigender Verschuldung auch in der Schweiz geführt. Von den Nationalsozialisten motivierter Protest gegen diese Politik nahm die Verwaltung erst ab Herbst 1930 wahr. Bürgermeister Franz Knapp (Zentrum) erinnerte sich rückblickend an das Verhältnis zwischen Stadtverwaltung und NSDAP in der Endphase der Weimarer Republik: „Das zunehmende Erstarken der NSDAP machte sich im gemeindlichen Bereiche nicht allzusehr fühlbar, aber nach ihrer Machtübernahme änderte sich das gründlich.“ 32 Doch zurück in die Anfangszeit der Weimarer Republik. „breite Schichten verkümmern in ihrem Elend“ Die Jahre nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, insbesondere die Inflations‐ jahre, waren nicht nur im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe Zeiten der Massennotstände, die Weltwirtschaftskrise ab 1929 tat ein Übriges zur Ver‐ schärfung der gesellschaftlichen Lage. Hilfsbedürftigkeit und Verwahrlosung wurden deutschlandweit zu einem Massenphänomen. 33 Ein entsprechendes Netz sozialpolitischer Maßnahmen, darunter wirtschaftliche Unterstützung und Schaffung von Jugendämtern, sollte dem entgegenwirken. Und auch in Konstanz war die Lage sehr schwierig. So gab das Fürsorgeamt im Sommer 1924 folgenden drastischen, internen Überblick über die Fürsorgetätigkeit der Stadt: 5000 Menschen seinen unterstützungsbedürftig. Da die Stadt Konstanz eine Bevölkerung von 30 000 Köpfen hat, ist also 1/ 6 der Bevölkerung in irgend einer Weise zu unterstützen. Diese Zahl kann wohl noch als einigermassen günstig angesehen werden und sie ist es deshalb, weil Konstanz nur zum geringen Teil industriell ist. [..] Arme hat es natürlich zu jeder Zeit gegeben, auch vor dem Kriege. Der Krieg und die Nachkriegszeit hat die Zahl der Armen aber gesteigert. Schätzungsweise ist dauernd noch mindestens das vierfache in Armenfürsorge gegenüber dem Friedenszustand zu zahlen. […] Es kommt weiter dazu, dass durch die Rationierung wichtiger Lebensmittel in der Kriegszeit und die Preisbildung in der Inflationszeit grosse Teile der Bevölkerung unterernährt sind. Das ist mit ein Grund weshalb die Volksseuche, die Lungentuberkulose, neben allerhand Kinderkrankheiten eine ganz unheimlich Ausdehnung angenommen hat. […] Da der Krieg und die Inflationszeit das moralische Niveau der Bevölkerung auf das ungünstigste beeinflusst haben, ist naturgemäss die Zahl der sittlich gefährdeten Kinder eine hohe. […] Allgemein ist noch zu sagen: Alle die Personen, die heute öffentliche Unterstützung geniessen können nur so viel bekommen, dass sie den Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 55 <?page no="56"?> 34 Denkschrift von Dr. Rösch: Überblick über die Fürsorgetätigkeit der Stadt Konstanz, am 4. August 1924 zu den Akten gelegt; StadtA Konstanz S XII Nr.-582. 35 RGBl 1924, Teil I, S. 100-107. Für Konstanz vgl. auch die Akte: Reichsjugendwohlfahrts‐ gesetz. Die Durchführung des R.J.W.G. - hier - „Errichtung eines Jugendamtes“ betr.; StadtA Konstanz S XII Nr.-67. 36 Für den Wortlaut der Satzung vgl. StadtA Konstanz S XII Nr.-385. 37 „2. Das Jugendamt ist eine Abteilung des Fürsorgeamts. […] 4. Zum Vorstand des Ju‐ gendamts wird der Berufsvormund [Konrad Kleiner] als Abteilungsvorstand ernannt“, Beschluss Nr.-905 des Stadtrats vom 27. März 1922; StadtA Konstanz S II Nr.-10737. 38 Schreiben von Bürgermeister Dietrich an das Fürsorgeamt vom 12. Januar 1925; StadtA Konstanz S XII Nr.-439. 39 Die Satzung ist enthalten in: StadtA Konstanz S XII Nr.-439. 40 RGBl 1922, Teil I, S.-633. 41 StadtA Konstanz S XI Nr.-713. aller notdürftigsten Bedürfnissen in Wohnung, Kleidung, Ernährung und nötigenfalls ärztlicher Pflege Rechnung tragen können, also etwa so viel, dass sie gerade noch vor dem Verhungern geschützt sind. […] Die grosse Masse des Volkes muss ihr Lebenshaltungsniveau weit unter der Friedenshöhe halten und breite Schichten verkümmern in ihrem Elend, ungesehen von der Mitwelt. 34 Gründung des Fürsorgeamts und eines Jugendamts Das Konstanzer Fürsorgeamt war auf der Grundlage der Bestimmungen der „Verordnung über die Fürsorgepflicht“ vom 13. Februar 1924 35 gegründet worden. Die offizielle sperrige Bezeichnung lautete gemäß der Satzung: „Be‐ zirksfürsorgeverband Konstanz-Stadt über Fürsorgewesen“ 36 . Der Bürgeraus‐ schuss genehmigte die Satzung am 3. Februar 1925 - das ist somit das Grün‐ dungsdatum des Konstanzer Fürsorgeamt wie auch des Jugendamts, das zuerst freilich als Abteilung des Fürsorgeamts ins Leben gerufen werden sollte. 37 Doch mit Stadtratsbeschluss vom 27. März 1924 war diese organisatorische Maßnahme revidiert und verfügt worden, dass „das Jugendamt als selbständiges städtisches Amt neben dem Fürsorgeamt eingerichtet“ 38 werde. Der Bürgeraus‐ schuss genehmigte somit am 3. Februar 1925 nicht nur die Gründung eines Fürsorgeamts, sondern auch die „Satzung der Stadt Konstanz über Jugendwohl‐ fahrtspflege“ 39 (Faksimile auf S. 111-f. des Beitrags von Jürgen Treude). Somit verfügt die Stadt Konstanz offiziell ab dem 1. Januar 1925 über ein selbständiges Jugendamt, das als „Stadtjugendamt Konstanz“ bezeichnet wurde und als Kollegialbehörde organisiert war. Es war als „Organ der öffentlichen Jugendhilfe“ konzipiert, wie es in Paragraph 2 des RJWG 40 gefordert worden war. Das Jugendamt wurde im Gebäude der ehemaligen Frauenarbeitsschule in der Bruderturmgasse 3 untergebracht. 41 Als Mitglieder des Jugendamtsausschusses, 56 Jürgen Klöckler <?page no="57"?> 42 M Ü L L E R (wie Anm. 3), S.-56. 43 Für den Wortlaut des § 2 der „Satzung der Stadt Konstanz über Jugendwohlfahrtspflege“ vgl. StadtA Konstanz S XII NR. 439. 44 Auszug aus dem Protokoll der Stadtratssitzung vom 17. Juni 1926; StadtA Konstanz S XII Nr.-266. 45 Ebd. 46 Bericht des Stadtrats Kleiner vom 3. Juli 1926 über die Organisation des Fürsorgeamts; StadtA Konstanz S XII Nr.-266. somit der „reformpädagogischen Kollegialbehörde“ 42 , waren neben dem Oberbür‐ germeister vorgesehen: Die Vorstände des Stadtjugend- und des Fürsorgeamts, Geistliche verschiedener Konfessionen und Religionen, der Stadtschulrat, ein Arzt, der Jugendrichter und „15 weitere Mitglieder aus dem Kreise der in der Jugendpflege erfahrenen und bewährten Männer und Frauen der Stadt“ 43 . Das Fürsorgeamt unter dem promovierten Rechtsrat Anton Rösch war für die Allgemeine Fürsorge, die Tuberkulosehilfe und die Gehobene Fürsorge zuständig. Unter letztere fielen Kleinrentner, Sozialrentner, Kriegsbeschädigte und Kriegs‐ hinterbliebene sowie Schwangere und Wöchnerinnen. In der Gehobenen Fürsorge fiel die Unterstützung rund ein Drittel höher aus als in der Allgemeinen Fürsorge. Die Fürsorgeleistungen waren gegenüber den Jahren vor 1914 „ausserordentlich gestiegen“ 44 , durchschnittlich müsse jeder zehnte Einwohner unterstützt werden, so Jugendamtsleiter Konrad Kleiner im Gemeinderat im Juni 1926: Ausserordentlich wichtig ist auch, dass die geleisteten Aufwendungen der Stadt ersetzt werden, wo immer dies nur möglich ist. Bedauerlich ist, dass wir nach dem bestehenden Recht nicht die Macht haben, notorisch Arbeitsscheue, die nur von Un‐ terstützungen leben, zur Arbeit zu zwingen oder für Aufnahme dieser Arbeitsscheuen ins Arbeitshaus sorgen zu können. 45 Somit stellte sich im Juli 1926 die Situation der kommunalen Fürsorge folgen‐ dermaßen dar: In Konstanz sind Fürsorgeamt und Jugendamt getrennt. Jedes Amt, das selbständig arbeitet, hat seine besondere Gemeindesatzung und seinen Vorstand. Beim Fürsorgeamt sind im Innendienst ausser dem Vorstand 7 Beamte hauptamtlich angestellt […]. Beim Jugendamt sind im Innendienst neben dem Vorstand [Konrad Kleiner] ein Sekretär (Alexander) […] und zwei Schreibgehilfinnen [beschäftigt …]. Es sind somit beim Jugendamt 9 Beamte tätig. […] Die Stadt ist zur Ausübung der allgemeinen Fürsorge in 13 Bezirke (einschliesslich [dem 1915 eingemeindeten] Allmannsdorf) eingeteilt. In jedem Bezirk ist ein Bezirksvorsteher tätig. […] Richtlinien über die zu gewährenden Unterstützungen sind bei der allgemeinen Fürsorge nicht aufgestellt. Sowohl das Fürsorgeamt wie auch die Bezirksvorsteher entscheiden hier vollkommen selbständig und unabhängig. 46 Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 57 <?page no="58"?> 47 Stadtjugendamt Konstanz a.B.: Jahres-Bericht vom 1. April 1927 bis 31. März 1928 (15 Seiten); StadtA Konstanz S XI Nr.-713. 48 Stadtjugendamt Konstanz: Jahresbericht vom 1. April 1928 bis 31 März 1929 (13 Seiten); StadtA Konstanz S XI Nr.-713. 49 M Ü L L E R (wie Anm. 3), S.-46. 50 Der Ausschuss bestand aus Bürgermeister Leopold Mager und den NSDAP-Stadträten Eugen Mayer und Paul Giercke; StadtA Konstanz S II Nr.-10984. 51 T R A P P , Werner: Konstanz in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Lothar Bur‐ chardt/ Dieter Schott/ Ders.: Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschichte der Stadt Konstanz, 5) Konstanz 1990, S.-246. 52 Zu Mager vgl. K L Ö C K L E R (wie Anm. 28), S.-115 ff. und S.-380-384. Diese Regelung bleib während der Zeit der Weimarer Republik gültig. Laut Jah‐ resbericht 1927/ 28 betreute das Jugendamt damals 519 Pflegekinder, unter Amts‐ vormundschaft standen 795 Mündel und unter Schutzaufsicht 110 Jugendliche sowie unter Fürsorgeerziehung 144 Jugendliche. 47 An freiwilligen Aufgaben nahm das Jugendamt die Säuglings-, Kleinkinder- und Schulkinderfürsorge wahr sowie die Wochen-, Tuberkulosen-, „Krüppel“- und Geschlechtskranken‐ fürsorge. Zudem führte es eine Kinokontrolle durch und leistete umfangreiche Unterstützung hilfsbedürftiger Minderjähriger. Für diese Leistungen wendete das Jugendamt - und somit die Stadt Konstanz - insgesamt rund 500.000 Reichs‐ mark auf. Die Stadt zählte 1929 32.700 Einwohner, „darunter 24127 Katholiken, 6831 Protestanten, 521 Israeliten und 1221 Anhänger anderer Bekenntnisse.“ 48 Insgesamt waren die Leistungen des Jugendamt in den Jahren 1925 bis 1933 respektabel, was freilich von den Parteien des rechten Spektrums, insbesondere der NSDAP, kritisch gesehen wurde. Im Nationalsozialismus sollte dann aber das Fürsorgeamt mit dem Jugendamt der Stadt Konstanz verschmolzen werden. Das Jugendamt im Nationalsozialismus Mit dem 30. Januar 1933 war die Erfindung eines modernen Jugendamts auch in Konstanz „zunächst einmal mit einem historischen Paukenschlag“ unterbrochen worden. 49 Schon im Juni nahm ein Ausschuss, der ausschließlich mit Nationalso‐ zialisten 50 besetzt war, eine verschärfte „Überprüfung sämtlicher Fürsorgefälle“ vor. Parallel dazu wurde das Prinzip der „Fürsorgepflichtarbeit“ eingeführt, welche das zwangsweise Heranziehen von Fürsorgeempfängern zur Arbeitsleis‐ tung erlaubte. 51 Der neue NSDAP-Bürgermeister Leopold Mager (1895-1966) 52 nutzte die erste kommunalpolitische Kundgebung, eine Art Bürgerversamm‐ lung mit NS-Indoktrination und Rechenschaftsbericht, im mit dreitausend Menschen überfüllten Konzil unter anderem auch zur Generalabrechnung mit dem Jugend- und dem Fürsorgeamt. Er hob die „sehr weitherzige Pflegegeld‐ 58 Jürgen Klöckler <?page no="59"?> 53 Vgl. den Artikel „Die große kommunalpolitische Kundgebung im Konzil“, in: Kon‐ stanzer Zeitung vom 1. August 1933 (zweites Blatt). 54 Vgl. den Artikel „20 Millionen Schulden der Stadt Konstanz“, in: Bodensee-Rundschau vom 31. Juli 1933. 55 Artikel „Die große kommunalpolitische Kundgebung im Konzil“, in: Konstanzer Zei‐ tung vom 1. August 1933 (zweites Blatt). 56 Artikel „20 Millionen Schulden der Stadt Konstanz“, in: Bodensee-Rundschau vom 31. Juli 1933. 57 Nachfolgendes ist wortgleich übernommen aus: K L Ö C K L E R : Selbstbehauptung (wie Anm. 28), S.-41 und 94-146. gewährung“ im Jugendamt hervor und bemängelte die „Lotterwirtschaft“ auf dem Fürsorgeamt. 53 Er wetterte gegen in aller Öffentlichkeit und tags darauf auch in der NSDAP-Parteizeitung Bodensee-Rundschau namentlich genannten „Lumpen“, „Ostgalizier“, „Gutedel“ und „Burschen“. 54 Wörtlich peitschte er die in zwei Sälen Anwesenden mit folgenden Worten auf: Und nun zum Kapitel Jugendamt. Hier war wirklich, mit ehrlichem Gewissen kann es gesagt werden, ein Saustall erster Ordnung. Und wenn man Rückschlüsse ziehen will, sagt man hier: wie der Dienstbetrieb, so der Dienstvorstand. 55 Auch der hier angegriffene, besagte Jugendamtsleiter Konrad Kleiner wurde namentlich in der Presse genannt. In der Bodensee-Rundschau war dieser Teil der Rede unter der Zwischenüberschrift: „Die rechte Hand des Jugendamtsdirektors Kleiner unterschlägt 6438,09 Mark“ für die Leserschaft skandalisiert und sehr auf‐ fällig, geradezu provokativ herausgehoben. 56 Der neue NS-Bürgermeister schloss seine Ausführungen mit dem Aufruf zu „Ordnung, Sparsamkeit, Pflichtgefühl“. Wie hatte es in dieser kurzen Zeit zu einem derartigen sozialpolitischen Schwenk, einer spürbar verschärften Gangart in der Sozialpolitik, kommen können? Die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten erfolgte in Konstanz wie im restlichen Baden durch Einsetzung von NS-Kommissaren. Als Selbstverwal‐ tungskörper durchlief die Stadtverwaltung einen Prozess der Selbstgleichschaltung unter Austausch der Rathausspitze. Mit Vehemenz trieben fanatisierte „alten Kämpfer“ der NSDAP einen totalitär-revolutionären Prozess voran, der im Frühjahr 1933 in einen Kampf um Macht und Stellen zu entgleiten drohte; die lokalen Parteigänger bildeten die dynamische Speerspitze der revolutionären Umwälzung, die nach dem mörderischen Experiment einer totalitären Herrschaft Deutschland im Frühjahr 1945 in den Untergang führen sollte. Zweifellos ist die Geschichte der Partei Adolf Hitlers und ihrer Protagonisten in Konstanz konstitutiv für die Ausbildung des lokalen NS-Herrschaftssystems und die personelle Besetzung von Stellen im Partei-, Verfolgungswie Verwaltungsapparat nach 1933. 57 Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 59 <?page no="60"?> 58 Zur Biographie des korrupten und 1934/ 35 auch als Radolfzeller Bürgermeister restlos gescheiterten Konstanzer NSDAP-Kreisleiters, die im Suizid endete, vgl. K L Ö C K L E R , Jürgen: Speer, Friedrich Eugen, in: Badische Biographien. Hg. von Fred Ludwig Sepaintner, NF, Band VI, Stuttgart 2011, S.-381 ff. 59 Erinnerungen von Franz Knapp vom Oktober 1962; StadtA Konstanz S II 6284. 60 Der Begriff geht zurück auf B R O S Z A T , Martin: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München: dtv 15 2000, S.-108 und S.-258. 61 Der Hauptschriftleiter der NS-Bodensee-Rundschau berichtete rückblickend über die Vorgänge: „Unvergeßlich jener Vormittag des 6. März, als ich die Ehre hatte, mit einem Trupp SA-Männer und dem damaligen Kreisleiter [Speer] dem Herrn Oberbür‐ germeister der Stadt Konstanz mitzuteilen, daß in den Wahlen vom Vortage das deutsche Volk den Willen zum Ausdruck gebracht habe, die Geschicke der Nation dem Nationalsozialismus in die Hand zu geben und daß wir gekommen seien, um auch auf dem Rathaus dieser Stadt erstmals das Symbol des Dritten Reiches, die Hakenkreuzfahne, aufzupflanzen. Die Verblüffung des Würdenträgers war so groß, daß er nur leise einige ‚Bedenken‘ stammelte, indes die SA-Männer bereits damit beschäftigt waren, ihren geschichtlichen Auftrag auszuführen“; vgl. den Artikel „Aus der Gründungszeit“ in: Bodensee-Rundschau vom 3. Februar 1936. 62 Vgl. den kurzen Bericht „Eine Überrumpelung“ in: Deutsche Bodensee-Zeitung vom 7. März 1933 sowie die Entgegnung „Falsche Perspektive“ in: Bodensee-Rundschau vom 9. März 1933. 63 Wie zermürbt und zu keinem Widerstand bereit Otto Moericke im März 1933 war, ma‐ chen die rückblickend verfaßten Memoiren deutlich: „Kurze Zeit nach dem berühmten Die Reibungslosigkeit, mit der sich in Konstanz der Nationalsozialismus in den ersten Wochen und Monaten des Jahres 1933 durchsetzte, lässt sich auch auf Veränderungen in der städtischen Gesellschaft zurückführen; Antriebsmotor war nicht ausschließlich Druck von Karlsruhe und Berlin. Gewaltiger Druck kam „von unten“, von den lokalen NS-Aktivisten unter Führung des gewaltbereiten, intransigenten und cholerischen NSDAP-Kreisleiters Eugen Speer (1887-1936) 58 , dem „unmittelbaren Künder der Änderung“ 59 . Insofern kann in der Tat von einer „Parteirevolution von unten“ 60 gesprochen werden, die sich anschickte, öffentliche Ämter zu usurpieren, die Spitzen der alten Verwaltungseliten zu vertreiben und sich selbst der freigewordenen Posten zu bemächtigen. Doch gerade in den Klein- und Mittelstädten lief die „nationale Revolution“ relativ gemäßigt und unblutig ab; deren Kennzeichen sind Flexibilität und Kontinuität. Am Tag nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933, als die NSDAP zwar stärkste Partei in der Stadt wurde, aber deutlich unter dem Reichs- und Landes‐ durchschnitt lag, erzwang Kreisleiter Speer zusammen mit Hauptschriftleiter Karl Neuscheler 61 auf Anweisung der Karlsruher Gauleitung das Ausbringen der Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus. 62 Obwohl ein gegenteiliger Stadtratsbe‐ schluß vorlag, wagte Oberbürgermeister Moericke, zermürbt von persönlichen Auseinandersetzungen und öffentlicher Diffamierung der letzten Jahre, keinen Widerstand. 63 Legitimiert durch ein Schreiben des Landrats erhielt Speer von 60 Jürgen Klöckler <?page no="61"?> 30. Januar 1933, der das ‚tausendjährige‘ nationalsozialistische Reich einleiten sollte, wurde mir mitgeteilt, daß die SA als Symbol des Sieges für einen halben Tag die Haken‐ kreuzfahne auf dem Rathaus hissen werde. Widerstand war zwecklos. Ich versah den Ratsdiener mit den nötigen Weisungen und blieb dem Rathaus an diesem Nachmittag fern. Ich ging zum Reitstall nach Kreuzlingen. Auf einem stundenlangen Ritt auf meiner geliebten Geisha in den thurgauischen Wäldern suchte ich Ruhe und Gelassenheit in der bösen Zeit, die Unheil ahnen ließ“; vgl. M O E R I C K E , Otto: Erinnerungen. Mit einer Einleitung von Werner Trapp hg. von Helmut Maurer (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, XXX). Sigmaringen 1985, S.-111. Vor dem Stadtrat rechtfertigte Moericke am 9. März 1933 sein Verhalten: „Einer solchen revolutionären Handlung gegenüber kann man zweierlei Standpunkt einnehmen: man kann sich wehren; das hat aber nur dann einen Sinn, wenn man sich einer etwaigen Gewalt gegenüber mit Aussicht auf Erfolg widersetzen kann. Nach dem Schreiben des Herrn Landrats stand fest, daß die Schutzmannschaft hierzu nicht zur Verfügung stand. Oder man hält eine solche revolutionäre Handlung für einen geschichtlich notwendigen Akt und fügt sich. Ich persönlich habe den zweiten Standpunkt für richtig gehalten. […] Es ist am besten, wenn man derartige Handlungen in einer Zeit der Revolution ohne Widerstand über sich ergehen läßt“; Auszug des Ratsprotokolls in: StadtA Konstanz S II 4134; interessanterweise fand dieser Beschluss (Nr. 7890) nicht Eingang in das offizielle Protokoll, vgl. StadtA Konstanz B I 463. 64 Notiz des Ratschreibers Bühl vom 6. März 1933; StadtA Konstanz S II 4134. 65 Bericht des Innenministers in der Kabinettsitzung vom 6. März 1933; GLA Karlsruhe 233 Nr. 24317. Zur Beflaggungsaktion in Baden vgl. R E H B E R G E R , Horst: Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/ 33 (Heidelberger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, NF 19) Heidelberg: Winter 1966, S.-90-97. Moericke die Zustimmung zur Flaggenhissung um 14.45 Uhr. 64 Die Hakenkreuz‐ fahne blieb an jenem 6. März bis 18.00 Uhr am Rathaus hängen, der Anspruch der NSDAP auf politische Macht war sichtbar reklamiert. Offensichtlich hatte nicht nur in Konstanz, sondern im gesamten Land Baden die Staatsvor der Par‐ teigewalt kapituliert. Die zentrale Anweisung zum Aufziehen der Parteifahne kam aus Berlin, die Karlsruher Regierung, insbesondere Innenminister Erwin Umhauer (DVP), verhielt sich unentschlossen und schwach. Auf die von vielen Bürgermeistern noch am selben Tag gestellte Anfrage der Rechtmäßigkeit der Aktion gab er zur Antwort, es stehe ihm keine Entscheidungsbefugnis zu; die Rathäuser unterstünden den Gemeinderäten und in deren Abwesenheit den Bürgermeistern. 65 Lediglich für die staatlichen Dienstgebäude, etwa die Bezirksämter und die Landeskommissariate, erließ er ein Verbot der Beflaggung, das durch Funkspruch übermittelt wurde. Es wurde immer deutlicher, dass es sich um eine zentral gelenkte und in allen Einzelheiten geplante Kraftprobe zwischen der NSDAP und der Karlsruher Regierung handelte, die im Zuge der Absetzung aller nicht nationalsozialistischen Länderregierungen und der Einsetzung Robert Wagners zum Reichskommissar in Baden am 9. März ent‐ schieden war. Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 61 <?page no="62"?> 66 Die Zahl der Amtsbezirke wurden in Baden im Juni 1936 von 40 auf 27 verringert. Mit der Landkreisordnung vom 24. Juni 1939 wurden die bisherigen Kreise aufgehoben und 27 Bezirksämter in Landkreise (einschließlich sieben Stadtkreise, darunter auch Kon‐ stanz) umbenannt. Vgl. ausführlich F I S C H E R , Joachim: Die badische Landkreisordnung vom 24. Juni 1939. Zur Geschichte der Selbstverwaltung in Baden, in: Landkreisnach‐ richten aus Baden-Württemberg 28 (1989), S. 91-94. Für den Wortlaut des „Gesetzes über die Landkreisselbstverwaltung in Baden (Landkreisordnung)“ vgl. Badisches Gesetz- und Verordnungs-Blatt Nr.-11 vom 28. Juni 1939, S.-93-99. 67 B U R K , Richard: Pg. Speer, Bürgermeister von Radolfzell, in: Bodensee-Rundschau vom 10. Februar 1934. 68 Zur Biographie von Alfred Franck (1878-1963) vgl. Die Amtsvorsteher der Oberämter, Bezirksämter und Landratsämter in Baden-Württemberg 1810 bis 1972. Hg. von der Ar‐ beitsgemeinschaft der Kreisarchive beim Landkreistag Baden-Württemberg. Stuttgart 1996, S. 255 (Kurzbiographie von Michael Ruck) sowie G Ö T Z , Franz: Amtsbezirke und Kreise im badischen Bodenseegebiet. Ihre Entwicklung seit 1803 und ihre wichtigsten Organe (Hegau-Bibliothek, 17) Radolfzell 1971, S.-73. 69 Vgl. den Sonderbefehl Nr. 1/ 33 des Sonderkommissars des Obersten SA-Führers für Baden, Gruppenführer Ludin, vom 17. März 1933 mit dem Ziel „auftretende Reibungen sofort und nachdrücklich abzustellen“; StaatsA Freiburg A 96/ 1 Nr.-1614b. Folglich wurde in Konstanz erst an jenem 9. März 1933, also mit drei Tagen Verspätung, auch das Bezirksamt 66 mit der Hakenkreuzfahne „beflaggt“. Kreispropagandaleiter Burk erinnerte sich rund ein Jahr später an die von der Karlsruher Gauleitung initiierte Aktion: Am Sternen in Konstanz erwartete die SA den Befehl zum Abmarsch, und schon war es wieder wie ein Lauffeuer durch Konstanz gegangen: ‚Die Nazis marschieren‘, und Viele [! ] marschierten im Schritt und Tritt mit der SA zum Bezirksamt, keiner wollte die historische Stunde versäumen. Auf dem Lutherplatz, der in wenigen Minuten von einer großen Menschenmenge besetzt war, wartete Alles [! ] voller Spannung der Dinge, die da kommen sollten. Kurze Worte richtete damals von der Treppe des Bezirksamtes der Kreisleiter [Speer] an die Menge, jubelnd wurde die Fahne begrüßt, und das Horst-Wessel-Lied schloß die kurze historische Feier. 67 Bezirksamtsvorstand Alfred Franck 68 , erst seit 1932 im Amt, leistete ebenso wie Moericke keinerlei Widerstand oder wagte gar Widerspruch gegen das Anbringen der Hakenkreuzfahne am Bezirksamt; vielmehr machte er gute Miene zum bösen Spiel und passte sich äußerlich schnellstmöglich den neuen Verhältnissen an: noch im Frühjahr 1933 vollzog er den Parteibeitritt. Mit der Einsetzung des NS-Gauleiters als Reichkommissar Anfang März 1933 überschlugen sich auch in Konstanz die Ereignisse. SA-Standartenführer Neu‐ scheler wurde dem Bezirksamt und der Polizei als NS-Kommissar vorgesetzt. 69 Durch Entsendung von weiteren vier Kommissaren erreichten die Nationalso‐ zialisten die Machtkontrolle auf dem Rathaus; die Initiative ging eindeutig von 62 Jürgen Klöckler <?page no="63"?> 70 Der ihm zugeordnete Kommissar, der nachmalige Bürgermeister Mager, erklärte auf der ersten kommunalpolitischen Kundgebung in aller Öffentlichkeit: „Ich saß am Gründonnerstag als Kommissar abends um halb 6 Uhr in meinem Büro auf dem Rathaus. Da klopfte es, und Herr Moericke kam zu mir herein, und machte ungefähr das unverblümte Angebot, seine beiden Amtskollegen fallen zu lassen, wenn er nur seine Haut retten könne. Er sei bereit, Nationalsozialist zu werden, er sei bereit, alles zu unterschreiben, um nur auf seinem Amtssessel bleiben zu können. Und um seiner Bitte etwas Nachdruck zu verleihen, rollten ihm dann einige dicke Tränentropfen herunter. Ich ließ mich nicht erweichen. Heute ist er ja in Freiburg, und wenn er etwa meine Äußerungen liest und mir Unwahrheit nachweisen will, dann stehe ich ihm vor Gericht zur Verfügung.“ Vgl. den Artikel „Wir bauen auf! “, in: Bodensee-Rundschau vom 1. August 1933. 71 Bürgermeister Knapp notierte am 4. April 1933: „Am 23. März 1933 eröffnete Herr Be‐ zirksleiter Speer (Güttingen), es seien für die Stadtverwaltung Kommissare eingesetzt“; StadtA Konstanz S II 5981. 72 Der vollständige Erlass ist u.-a. abgedruckt in: Karlsruher Zeitung vom 29. März 1933. 73 Schreiben vom 3. Januar 1933 an den in München kurzfristig eingesetzten Wagner; BundesA Berlin NS 25 Nr.-182. der lokalen NSDAP und dem Kreisleiter aus, nicht von Karlsruhe. Unter Tränen bot Oberbürgermeister Moericke den Beitritt zur NSDAP an, um sich im Amt halten zu können. 70 Doch die Würfel waren längst zu seinen Ungunsten gefallen. Die Einsetzung von Kommissaren Eugen Speer scheint auch die treibende Kraft bei der Auswahl des rathäuslichen Aufsichtspersonals gewesen zu sein; der Kreisleiter installierte Kommissare in der Stadtverwaltung, 71 ohne bei Moericke auf Widerstand zu stoßen. Doch die ungeheure lokale Dynamik des Prozesses in ganz Baden missfiel Wagner. Der Gauleiter suchte zu bremsen, ermahnte die Kommissare in einem Erlass und wies darauf hin, sie seien „zu selbständiger Beschlußfassung und zur Vertretung der Gemeinde in keiner Weise befugt“ 72 . Gleichzeitig konnte der Gauleiter den gravierenden Mangel an geeignetem Verwaltungspersonal innerhalb der badischen NSDAP nicht übersehen, eine Tatsache, auf die er eindringlich Anfang Januar 1933 vom Gauamtsleiter für Kommunalpolitik hingewiesen wurde. Rudolf Schindler bemerkte: Wir könnten hier in Baden z.Z. verschiedene wichtige kommunale Stellen besetzen, wissen aber mit dem besten Willen nicht, wo wir die geeigneten Pgg. hernehmen sollen, da in der Hauptsache Leute gebraucht werden, die solide Kenntnisse auf verwaltungsrechtlichem Gebiet besitzen müssen. 73 Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass kooperationswillige Juristen im Frühjahr 1933 in Baden über exzellente Karrierechancen verfügten. Viele Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 63 <?page no="64"?> 74 K L Ö C K L E R , Jürgen: Auslandspropaganda und Holocaust. Kurt Georg Kiesinger im Auswärtigen Amt 1940-1945, in: Kurt Georg Kiesinger 1904-1988. Von Ebingen ins Kanzleramt. Hg. von Günter Buchstab, Phillipp Gassert und Peter Thaddäus Lang, Freiburg 2005, S.-204 ff. 75 Das NSDAP-Parteimitglied Josef Meschenmoser (geb. 1893), nach 1933 Bezirksführer des NS-Rechtswahrerbundes und Leiter des Kreisrechtsamts in der Kreisleitung, war einer von vielen frühen Parteiaktivisten mit „roter Vergangenheit“. Sein Rechtsanwalts‐ kollege Wolfram Kimmig erinnerte sich nach 1945: „Als Herr Meschenmoser vor etwa 2 Jahrzehnten von Sigmaringen nach Konstanz übersiedelte, wurde in Kollegenkreisen erzählt, in Sigmaringen sei ihm der Boden zu heiß geworden, weil er sich dort allzu sehr als Kommunist betätigt habe. Mir ist nicht bekannt, inwieweit dies auf Wahrheit beruhte. Doch erinnere ich mich genau, daß mein verstorbener Kollege Martin Venedey erzählt hat, Meschenmoser habe an der Spitze kommunistisch gesinnter Arbeiter einen Marsch gegen das Sigmaringer Schloss unternommen. Es scheint, dass Herr Meschenmoser, obwohl er einem gut katholischen ländlichen Lebenskreise entstammte, stets eine starke Hinneigung zu extremen ‚Arbeiter’-Parteien empfunden hat“; Bescheinigung vom 14. Mai 1947; StadtA Konstanz NL Josef Meschenmoser. 76 Protokoll der Stadtratssitzung vom 23. März 1933; StadtA Konstanz B I 463. 77 Mitteilung von Oberbürgermeister Moericke an alle städtischen Bediensteten vom 25. März 1933; StadtA Konstanz S II 5981. 78 Vgl. den Artikel „Der neue Kurs in Konstanz“, in: Bodensee-Rundschau vom 29. März 1933 sowie „Kommissare in Konstanz“, in: Konstanzer Zeitung vom 24. März 1933 bzw. „Amtliche Mitteilung über die Einsetzung von Kommissaren bei der Stadtverwaltung“, in: Deutsche Bodensee-Zeitung vom 25. März 1933. junge Rechtsanwälte nutzten die einmalige Aufstiegschance im NS-Staat, andere wie Theopont Diez in Singen, der Sohn des Reichstagsabgeordneten Carl Diez (Zentrum), oder Kurt Georg Kiesinger in Berlin wiederum nicht. 74 Als „Beauftragte des Reichskommissars“ fungierten in Konstanz seit dem 23. März der deutschnationale Stadtrat Ludwig Stump, Rechtsanwalt Josef Me‐ schenmoser 75 , NSDAP-Stadtrat Carl Gruner sowie der „alte Parteigenosse“ und Regierungsbaumeister Leopold Mager. Um die gesamte Verwaltung wirksam kontrollieren zu können, bestand eine Zuordnung jedes Kommissars zu einem bestimmten Aufgabengebiet. Mager kontrollierte den Oberbürgermeister, Me‐ schenmoser Bürgermeister Knapp, Gruner die Technischen Werke mit den Verkehrsbetrieben und Stump den Stadtrat. Die Kommissare waren berechtigt, an den Sitzungen des Stadtrats und der Ausschüsse teilzunehmen 76 und befugt, die Stadtverwaltung zu überwachen. 77 Die ersten Maßnahmen der „ehrenamt‐ lich“ tätigen Kommissare beinhalteten eine deutliche Senkung der Bürgermeis‐ tergehälter, das Unterbinden sämtlicher neuer Aufträge der Stadtverwaltung an „Warenhäuser, Einheitspreisgeschäfte und Konsumvereine“ 78 , die Säuberung der städtischen Lesehalle von „pazifistisch-marxistischer Literatur“ sowie die Ausarbeitung von weitgehenden Sparvorschlägen. Gleichzeitig wurde in popu‐ listischer Manier die Erhöhung der Biersteuer zum 1. April ausgesetzt und die 64 Jürgen Klöckler <?page no="65"?> 79 Weitere Aufgaben im sozialen, finanzwirtschaftlichen, ökonomischen und gesellschaft‐ lichen Bereich folgten: „Kurzbericht über die weitere Tätigkeit der Kommissare der Stadt Konstanz“, in: Bodensee-Rundschau vom 7. April 1933. 80 Handschriftliche Notiz vom 6. April 1933 als Reaktion auf eine Notiz des Oberbürger‐ meisters vom Vortag, ob eine Teilnahme an den Vorbesprechungen generell erwünscht sei; StadtA Konstanz S II 5981. 81 Für den Wortlaut des „Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 1933 vgl. RGBl 1933 I, S.-141. 82 Für den Wortlaut des „Vorläufigen Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März 1933 vgl. RGBl 1933 I, S.-153 f. 83 Vgl. das „Zweite Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 7. April 1933; RGBl I, 1933, S.-173 f, hier S.-174. Pachtpreise für Kleingärten um bis zu 40 Prozent gesenkt. Die vier Kommissare hielten das Heft fest in der Hand 79 , das Gesetz des Handelns war angesichts der „revolutionären Situation“ auf ihrer Seite. An den Vorbesprechungen der Sitzungen des Gemeinderats nahmen sie in der Regel nicht teil, über eine Beiziehung - so Kommissar Mager - werde „von Fall zu Fall entschieden“. 80 In Konstanz behielten örtliche Nationalsozialisten die Initiative und bedrängten die republikanisch gesinnten Gegenspieler; zeitgleich wurde im Reichstag das Ermächtigungsgesetz 81 mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der SPD angenommen. Es hob die Gewaltenteilung auf und gestattete zukünftig der Reichsregierung, Gesetze auch ohne Mitwirkung des Parlaments zu erlassen. Der Diktatur war Tür und Tor geöffnet, nicht nur im Reich, sondern auch in den Ländern, die staatsstreichartig der Berliner Zentralgewalt unterworfen wurden. In Karlsruhe folgte entsprechend eine Neuzusammensetzung des Badischen Landtags auf der Grundlage des ersten Gesetzes „zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ 82 nach dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 5. März und eine Regierungsneubildung unter Ministerpräsident Köhler (NSDAP). Die Landesre‐ gierung konnte ab sofort Gesetze in Abweichung von der badischen Verfassung erlassen. Paragraph 12 des ersten Gleichschaltungsgesetzes regelte die Auflö‐ sung der gemeindlichen Selbstverwaltungskörper und deren Neubildung bis 30. April. Wenige Tage später wurde Reichskommissar Wagner durch das zweite Gleichschaltungsgesetz zum omnipotenten Reichsstatthalter ernannt, mit der Aufgabe, „für die Beobachtung der vom Reichskanzler aufgestellten Richtlinien der Politik zu sorgen“ 83 . Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 65 <?page no="66"?> 84 Auf der Reichstatthalterkonferenz meldete Mutschmann am 28. September 1933 dem „Führer“, er habe in Sachsen 2000 Beamte entlassen; H Ü T T E N B E R G E R , Peter: Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP (Schriftenreihe der Vierteljahrs‐ hefte für Zeitgeschichte, 19) Stuttgart 1969, S.-81 f. 85 Zur Biographie vgl: K L Ö C K L E R , Jürgen: Herrmann, Gustav Adolf Albert, in: Baden- Württembergische Biographien. Hg. von Fred Ludwig Sepaintner, Band V, Stuttgart 2013, S.-159 ff. 86 N O A K E S , Jeremy: Nationalsozialismus in der Provinz: Kleine und mittlere Städte im Dritten Reich 1933-1945, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich. Hg. von Horst Möller, Andreas Wirsching und Walter Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeit‐ geschichte, Sondernummer) München 1996, S.-241. 87 Rückblickend notierte der Karlsruher Oberbürgermeister Friedrich Töpper (SPD) am 1. Dezember 1947 über das persönliche Verhältnis der beiden: „Oberbürgermeister a.D. Albert Herrmann hat sich mit dem früheren Reichsstatthalter Wagner zweifellos sehr gut gestellt. Er war ganz die Persönlichkeit, diesem Manne zu imponieren und sich, auch kurzfristig (will heißen in den kritischen Tagen des Frühjahrs 1933) bei ihm einzuschmeicheln. […] Eine entsprechende politische Überzeugung war dabei kaum im Spiele. Es genügte der Vorteil, den er anstrebte“; StaatsA Freiburg D 180/ 2 Nr.-188728. Der Kommissar Leopold Mager: Auch zuständig für das Jugendamt Unter den Konstanzer Kommissaren hatte Leopold Mager, ein 1932 aus der Stadtverwaltung entlassener, am Fähreprojekt nach Meersburg beteiligter Tief‐ bauingenieur und ein sich auch über die „Machtergreifung“ hinaus fanatisch gebarender „alter Parteigenosse“, große Ambitionen auf den Posten des Ober‐ bürgermeisters. An seinem Führungsanspruch unter den Kommissaren ließ er nicht rütteln. Doch in Karlsruhe entschied Reichskommissar Wagner, der anders als sein sächsisches Pendant Mutschmann nicht im großen Stil Beamte der In‐ nenverwaltung zu entlassen gedachte, 84 zu seinen Ungunsten. Vielmehr betraute der Reichstatthalter den Verwaltungsjuristen und (von der örtlichen NSDAP ge‐ schassten) Durlacher Bürgermeister Albert Herrmann (1892-1977) 85 als „Mann des Ausgleichs“ 86 mit dem Posten des Oberbürgermeisters in Konstanz. 87 In unmittelbarer Grenzlage zur Schweiz konnte und wollte Wagner im Interesse einer geordneten Verwaltungsführung keinen unerfahrenen Scharfmacher an der Stadtspitze einsetzen. Hauptziel war die schnelle und totale Machtsicherung durch die NSDAP bei möglichst geringer Störung des Gemeindelebens. Flexibi‐ lität und schrittweises, oftmals zögerliches Handeln charakterisierte eine in der historischen Forschung in den Klein- und Mittelstädten als schleichende Machtergreifung bezeichnete Machtübertragung an die neue NS-Verwaltungs‐ elite. Die Taktik manifestierte sich in der Einsetzung von bis dato nicht-natio‐ nalsozialistischen Verwaltungsbeamten. Der badische Reichsstatthalter musste 66 Jürgen Klöckler <?page no="67"?> 88 Die Einsetzung wurde mit der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat begründet und durch das Innenministerium verfügt; StadtA Konstanz S II 5981. zudem das wilde Revirement der lokalen NS-Größen im ganzen Gau bremsen, da er auf eine funktionsfähige Innenverwaltung angewiesen war. Am 5. Mai 1933 wurde Oberbürgermeister Moericke und Bürgermeister Knapp beurlaubt, am folgenden Tag Herrmann und Mager kommissarisch eingesetzt. 88 Auf dem Amtssessel des Sozialdemokraten Arnold hatte bereits der Parteigenosse Carl Gruner Platz genommen. Rein formal hatte die NSDAP die drei kommunalen Spitzenämter der Stadt Konstanz mit Vertretern der Partei besetzt. Leopold Mager kam innerhalb des Trios die Rolle des Aufpassers und Scharfmachers zu, ohne in der Folgezeit zum politisch entscheidenden Mann aufzusteigen, einer Art Sonderbevollmächtigter der Partei. Diese Rolle hatte längst der NSDAP- Fraktionsvorsitzenden Eugen Maier an sich gerissen. Bürgermeister Mager (vorne links), Oberbürgermeister Herrmann, NSDAP-Kreisleiter Speer und Städteleiter Schellhorn auf dem Döbele am 1. Mai 1934, im Hintergrund das Schnetztor (KreisA Konstanz Z 9 Bildsammlung NSDAP-Kreisalbum D 10.9) Als kommissarischer Oberbürgermeister trat Herrmann erstmals am 11. Mai vor dem Stadtrat auf und führte in exakter Anwendung der NS-Sprachrege‐ lung aus, er werde sich „ausschließlich leiten lassen von den hohen Ideen und Idealen der Bewegung, der wir die Erneuerung von Volk und Reich Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 67 <?page no="68"?> 89 Vgl. den Artikel „Verpflichtung der Konstanzer Stadträte“, in: Deutsche Bodensee- Zeitung vom 13. Mai 1933. 90 Zur Biographie vgl. M A U R E R , Helmut: Clauß, Josef (1868-1949), in: Bernd Ottnad (Hg.): Badische Biographien, NF, Band I, Stuttgart 1982, 89 f. sowie K L Ö C K L E R , Jürgen: Politische Säuberung im Archiv. Die Konstanzer Stadtarchivare im Nationalsozialismus, in: Archivnachrichten, Sondernummer zum Deutschen Archivtag in Stuttgart im September 2005, S.-5 f. 91 Die vorangegangenen Ausführungen stammen wortgleich aus: K L Ö C K L E R (wie Anm. 28), S.-149 ff. verdanken. Unverbrüchliche Gefolgschaftstreue gegenüber dem Führer des deutschen und dem Führer des badischen Volkes“ sei sein Leitstern. 89 Perfekt hatte der erfahrene Verwaltungsspezialist Herrmann die ihm innerlich fremde NS-Phraseologie erstmals angewandt und es schien in Konstanz in der Tat, als ob Wagner einen „alter Kämpfer“ der Bewegung ausgewählt habe. Nach kurzer Rede verpflichte der neue Oberbürgermeister die anwesenden Stadträte zum „rückhaltlosen Eintreten für den nationalen Staat“, die im Gegenzug einstimmig dem Bürgerausschuss die Wahl von Herrmann und Mager empfahlen. Politische Säuberung an der Spitze des Jugendamts und des Stadtarchivs Wegen der organisatorisch-fachlichen Bedeutung soll zuerst die der Verwal‐ tungsspitze unmittelbar unterstellte Ebene der städtischen Amts- und Behör‐ denleiter einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Welche Rolle spielte dabei das Jugendamt? Ohne das Spezialwissen und das Mitwirken der leitenden Fachbeamten kann keine Verwaltung funktionstüchtig sein. Hat es - so muss die entscheidende Frage lauten - in der Konstanzer Verwaltungs- und Funktions‐ elite einschneidende personelle Veränderungen gegeben? Die Antwort lautet: nein. Von den leitenden Beamten und Angestellten wurden im Frühjahr 1933 nämlich lediglich Jugendamtsleiter Konrad Kleiner (Zentrum) und Stadtarchivar Josef Clauß 90 (ebenfalls Zentrum) entlassen, zwei prononcierte Anhänger der Katholiken-Partei. Die restlichen 13 Amts- und Behördenleitern verblieben auf ihren Posten. Zwei Umbesetzungen bei 15 Funktionsträgern deuten auf den ersten Blick auf keine parasitäre, umfassende Durchdringung der zweiten Führungsebene hin. Aber das Jugendamt war nicht nur auf der Führungsebene, sondern insbesondere eben auch auf der untersten Ebene massiv betroffen, 91 wie noch zu schildern sein wird. 68 Jürgen Klöckler <?page no="69"?> 92 Erklärung von Kleiner vom 11. März 1922; Personalakte Konrad Kleiner StadtA Kon‐ stanz S II Nr.-10737. 93 Vgl. den Artikel „Direktor Konrad Kleiner 70 Jahre“, in: Südwestdeutsche Volkszeitung vom 5. November 1947. 94 Friedrich Konrad Kleiner (1904-1986) wirkte seit 1939 als Pfarrverweser, dann ab 1942 als Pfarrer in Böhringen bei Radolfzell. Auch nach seinem Ruhestand blieb er bis in die 1980er Jahre als Sudsidiar in der Pfarrei. Er wurde anlässlich seines 70. Geburtstags 1974 - noch kurz vor der Eingemeindung nach Radolfzell - zum (letzten) Ehrenbürger von Böhringen ernannt. Vgl. dazu weiter: B R Ü S T L E , Jürgen/ O H L E R , Annemarie/ O H L E R , Norbert/ S C H M I D E R , Christoph: Die „Kriegsberichte“ aus den Pfarreien des Erzbistums Freiburg. Zustände und Entwicklungen am Kriegsende und in den ersten Nachkriegs‐ jahren. (18) Dekanat Konstanz, in: FDA 142 (2022) S. 154-193, hier S. 157, Anm. 1459. Vgl. auch: Necrologium Friburgense, in: FDA 111 (1991) S.-291. 95 Vgl. den Artikel „Altstadtrat Konrad Kleiner 70 Jahre alt“, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 7. November 1947. Jugendamtsleiter Konrad Kleiner und sein Nachfolger Ludwig Eberhard Über das Leben des Jugendamtsleiters Konrad Kleiner (1877-1949) war bislang kaum etwas bekannt. Dem katholischen Milieu von Konstanz entstammend und 1897-99 Soldat im dortigen Infanterieregiment Nr. 114, war er als Zentrumspo‐ litiker über Jahrzehnte in der Stadt tätig. Die eigentliche Heimat des gelernten Kaufmanns war der Stadtteil Paradies, unmittelbar an der Schweizer Grenze gelegen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde er Ortsrichter und Konkurs‐ verwalter, dann 1920 Gemeindewaisenrat, 1922 städtischer Berufsvormund. Zwischen 1914 und 1919 fungierte er als Verwalter des großen Reservelazaretts in der Schule Petershausen. 92 Er wirkte im Stiftungsrat der Katholischen Kir‐ chengemeinde, er war Verwaltungsratsmitglied des Caritasverbandes und des Vinzentiushauses. Anfang der 1920er Jahre trug er als neuer Jugendamtsleiter und Stadtrat (Zentrum) für die Errichtung des Kinderkrankenhauses an der Mainaustraße Verantwortung, das eigene Milchkühe besaß, mit welcher wie‐ derum die Stadt mit „einwandfreier Säuglingsmilch versorgt wurde“. 93 Konrad Kleiner war zudem Pfründeverwalter des Erzbischöflichen Oberstiftungsrats und Dienstvorstand der Katholischen Kirchensteuerkasse Konstanz. Von seinen fünf Kindern wurde ein Sohn Priester (der 45 Jahre in der Pfarrei St. Nikolaus in Böhringen bei Radolfzell wirken sollte) 94 , eine Tochter ging ins Kloster. Der „Südkurier“ schrieb über Kleiner, der nach dem 20. Juli 1944 erneut verhaftet worden war, im November 1947: „Im Jahre 1933 wurde er von örtlichen Machthabern der Hitlerpartei mit Haß, Verfolgung und Freiheitsberaubung bedacht und ihm seine Tätigkeit unmöglich gemacht.“ 95 Was war vorgefallen? Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 69 <?page no="70"?> 96 Die Schadenssumme belief sich über Jahre auf rund 7000 RM; Personalakte Sigmund Alexander StadtA Konstanz S XII Nr.-208. 97 Vgl. den Artikel „Der polnische Jude im Jugendamt“, in: Bodensee-Rundschau vom 19. Mai 1933. 98 Artikel „20 Millionen Schulden der Stadt Konstanz“, in: Bodensee-Rundschau vom 31. Juli 1933. 99 Urteil gegen Sigmund Alexander; Personalakte Sigmund Alexander StadtA Konstanz S XII Nr.-208. 100 Der Fall Alexander entbehrt nicht einer gewissen Brisanz. Als Jude war Alexander, 1897 in Warschau geboren und im NS-Staat in „privilegierter Mischehe“ lebend, nach Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg im Konstanzer Infanterieregiment 114 (der ihm die deutsche Staatsbürgerschaft eintrug) Beamter im Jugendamt der Stadt geworden. Am 3. April 1933 wurde Alexander von einer Abordnung von SA und SS gewaltsam aus dem Amt vertrieben, mit einem „dienstpolizeilichen Verfahren“ überzogen, in Untersuchungshaft genommen und schließlich im November 1933 vom Landgericht Konstanz wegen Unterschlagung von Mündelgeldern in beachtlicher Höhe zu einer Haftstrafe von 18 Monaten und zu fünf Jahren Ehrverlust verurteilt. Mit seiner Frau verzog er im Sommer 1937 nach Baden-Baden, wo er als kaufmännischer Leiter im Kaufhaus Lipsky tätig war, das nach der „Arisierung“ zur Cordes AG wurde. Alexander, 1938 zum Katholizismus konvertiert, verbrachte die gesamte Kriegszeit in Baden-Baden und wurde am 14. April 1945 von der französischen Besatzungsmacht zum Leiter der Sicherheitsabteilung der Polizei („Polizeirat“) ernannt. Als „Polizeichef “ hatte er die Durchführung von Anweisungen der Militärregierung zu kontrollieren. 1946 wurde er zugleich Leiter des Zuzugs- und Räumungsamts der Stadt. Im April 1947 wanderte er zu seinen Söhnen in die USA aus, wahrscheinlich infolge des Bekanntwerdens seiner Verurteilung von 1933. Zur Biographie vgl. R E I M E R , Achim: Stadt zwischen zwei Demokratien. Baden-Baden von 1930 bis 1950 (Forum deutsche Geschichte, 7) München 2005, insbesondere S. 126 und 178. Zudem einschlägig die Akten zum dienstpolizeilichen Verfahren gegen Alexander: StadtA Konstanz S II 10326 und 10327, die Personalakte S XII 208 sowie Hinweise in der Altkartei des Einwohnermeldeamts. Vgl. auch die Artikel „Die Unterschlagungen beim Stadt-Jugendamt Konstanz“, in: Konstanzer Zeitung vom 17. November 1933 sowie „Verwaltungs-Obersekretär Sigmund Alexander zu 1 Jahr, 6 Monaten Gefängnis verurteilt“, in: Deutsche Bodensee-Zeitung vom 15. November 1933. Näheres geht auch aus einem Lebenslauf vom 25. Juni 1946 hervor: „Ich bin also Vollblutjude. […] Meine Leidenszeit begann mit der Machtübernahme durch Hitler. Am 3. April 1933, im Anschluss an den Judenboykott-Tag, wurde ich von einer SS-Abordnung mit anderen jüdischen Beamten von meinem Dienste entfernt, am 18.5.1933 verhaftet und später wegen Unregelmässigkeiten angeklagt. Am 15.11.1933 wurde ich hiewegen zu 1 ½ Jahren Gefängnis verurteilt und am 27.7.1934 mit einem Strafrest auf Bewährung entlassen. […] Am 20.11.1938 war ich mit ein Opfer der Konrad Kleiner war wegen Unterschlagungen im Amt und Untreue 96 eines seiner engsten Mitarbeiter im Jugendamt, dem in der NS-Presse als „polnischer Vollblutjude“ 97 und „Ostgalizier“ 98 diffamierten sowie von der Strafkammer des Landgerichts Konstanz am 15. November 1933 zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis 99 verurteilten Verwaltungsobersekretär Sigmund Alexander 100 ange‐ 70 Jürgen Klöckler <?page no="71"?> Judenverfolgung. Ich wurde mit anderen Juden im Marsch durch die Strassen der Stadt [Baden-Baden] geschleppt, war Zeuge der Verbrennung der hiesigen Synagoge und wurde an demselben Tage nach Dachau ins KZ gebracht, wo ich mit den übrigen Juden bis Mitte Dezember 1938 verbleiben musste. […] Seit 1938 bin ich katholisch getauft, meine [drei] Kinder und meine Frau sind katholisch“; StaatsA Freiburg F 75/ 6 Nr. 3070. 101 T R A P P (wie Anm. 51), S.-246. 102 Vgl. die Notiz im Tagebuch vom 25. Mai 1933: Tagebuchaufzeichnungen von Konrad Kleiner; StadtA Konstanz A I 75. 103 Schreiben des Landgerichts Konstanz an den Oberbürgermeister vom 31. Oktober 1933; StadtA Konstanz S II Nr.-10737. 104 T R A P P (wie Anm. 51), S.-247. 105 Übersicht über die am 10. Januar 1934 beim Fürsorgeamt Angestellten und Arbeiter; StadtA Konstanz S XII, Nr.-265. klagt worden. Man nahm Kleiner am 22. Mai 1933 für 81 Tage in „Schutzhaft“. Zudem wurde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Der Jugendamts‐ leiter hatte - wie gesehen - als wichtiges Scharnier der 1920er Jahre zwischen katholischer Kirche, katholischem Vereinswesen, der Stadtverwaltung und der Kommunalpolitik des Zentrums fungiert. 101 Über die Gründe seiner Verhaftung spekulierte er in seinem Tagebuch: Ich weiß jetzt, warum ich verhaftet wurde, lediglich wegen meiner politischen Zugehörigkeit zum Zentrum, ich werde nicht vernommen, weil eine strafrechtliche Tat gegen mich nicht vorliegt. 102 Die Staatsanwaltschaft Konstanz hatte ein Verfahren gegen in am 31. Oktober 1933 „mangels hinreichenden Beweises“ eingestellt. 103 Doch für die neuen NS-Machthaber war klar: Mit Konrad Kleiner war keine rigide, auf Diszipli‐ nierung, Ausgrenzung und einschneidenden Abbau aufgebaute Sozialpolitik durchsetzbar. 104 Mit wem dann? Erst im April 1934 wurde die Stelle des Jugendamtsdirektors mit dem Ver‐ waltungsfachmann Ludwig Eberhard aus Karlsruhe wiederbesetzt. Bei dieser Gelegenheit wurde auch das 22-köpfige Fürsorge- 105 mit dem Jugendamt verschmolzen. Bei der Personalauswahl spielte eine wesentliche Rolle, dass Oberbürgermeister Herrmann Eberhard als Leiter der Prüfungskommission für Verwaltungsbeamte bereits aus Karlsruhe kannte und sich von dessen fachli‐ cher Qualifikation und seiner Leistungsbereitschaft überzeugt hatte. Eberhard verfügte zweifellos über eine klassische, apolitische Verwaltungsausbildung. Erst auf Druck innerhalb seines Amtes, wohl vor allem seines fanatischen Stellvertreters Eugen Mayer, trat er zur Karrieresicherung der NSDAP bei, wobei Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 71 <?page no="72"?> 106 Entnazifizierungsakte Eberhard; StaatsA Freiburg D 180/ 2 Nr. 206753 sowie BundesA Berlin NSDAP Ortskartei 3200 (ehm. BDC) D 0058. Die NSDAP-Mitgliedsnummer lautete 3599121. 107 Eberhard an den Säuberungsausschuß vom 27. Juni 1947; Staatsarchiv Freiburg D 180/ 2 Nr.-206753. 108 Polizeilicher Erhebungsbogen zu Ludwig Eberhard vom 4. Dezember 1941; StaatsA Freiburg D 81/ 1 Nr.-399. 109 Schreiben des Oberzahlmeisters Eberhard an den Oberstaatsanwalt Konstanz vom 8. Dezember 1941; StaatsA Freiburg D 81/ 1 Nr.-399. 110 Vgl. das Schreiben des Oberzahlmeisters Eberhard an den Oberstaatsanwalt Konstanz vom 8. Dezember 1941; ebd. sein Eintrittsdatum auf den 1. Mai 1933 vordatiert wurde. 106 Zum Parteibeitritt („einer Aufforderung folgend“) erklärte Eberhard rückblickend: Damit brachte ich gleichzeitig die Schreier zum Schweigen, die sich seit meiner Ankunft in Konstanz gegen mich gewandt hatten, weil ich als ‚Nichtparteigenosse‘ eine leitende Stelle in Konstanz inne hatte. Ich möchte mich heute nicht damit rechtfertigen, zu diesem Schritt gezwungen worden zu sein. Dennoch ist der Hinweis am Platze, dass ich mich in meinem Konstanzer Amt auf die Dauer nicht hätte halten können, wenn ich nicht Parteigenosse geworden wäre. Ich hätte auch niemals mich mit gleichem Erfolg gegen Übergriffe von Parteidienststellen dem Amt oder einzelnen Personen gegenüber wehren können. 107 In den Jahren nach 1934 befand sich Eberhard, der seit Juli desselben Jahres auch als Oberführer bei der HJ des Banns 114 engagiert war, 108 in Auseinandersetzung mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), welche die gesamte Jugendpflege an sich zu ziehen suchte. Überhaupt waren die Verhältnisse gerade auch in organisatorischer Hinsicht zu Beginn äußerst schwierig. Eberhard erinnerte sich rückblickend an die unerfreulichen Zustände, die ich bei der Übernahme meines Amtes im Jahre 1934 angetroffen habe. Eine klare Aufgabentrennung war weder zwischen dem an sich selbständigen Fürsorgeamt und dem Jugendamt noch unter den einzelnen Abtei‐ lungen des Fürsorgeamts festgelegt. Meine erste Aufgabe war es, klare Verhältnisse zu schaffen. 109 Mit Entfesselung des Zweiten Weltkriegs ließ sich Eberhard - nachdem es zum „offenen Bruch“ 110 mit seinem Stellvertreter Mayer gekommen war - zur Wehrmacht einziehen, um amtsinterne, auf einer Radikalisierung der Sozialpo‐ litik beruhenden Konflikten zu entgehen. Als Oberzahlmeister diente er an der Ostfront. Seine Amtsführung in Konstanz von vor 1939 war Gegenstand von 72 Jürgen Klöckler <?page no="73"?> 111 Schreiben der staatlichen Kriminalpolizei Konstanz an den Oberstaatsanwalt Konstanz vom 22. November 1941; StaatsA Freiburg D 81/ 1 Nr.-398. 112 Vgl. die Genehmigung der notwendigen Freistellung („ohne Anrechnung auf den Erholungsurlaub und mit Fortzahlung der Gehaltsbezüge“) durch Bürgermeister Mager vom 11. September 1935; StadtA Konstanz S XII Personalakte Ludwig Eberhard. Die Stadt Konstanz bezahlte somit den Besuch von Parteiveranstaltungen, nicht nur im Fall von Ludwig Eberhard. Generell trugen Freistellungen von öffentlich Bediensteten zum Erfolg von Parteiveranstaltungen nicht unwesentlich bei. 113 Vgl. das Schreiben des Oberzahlmeisters Eberhard; StadtA Konstanz S II 13491. kriminalpolizeilichen Untersuchungen, die folgende, wesentliche Ergebnissen zeitigten: 1. Direktor Eberhard hat es nach übereinstimmenden Aussagen der Zeugen und Beschuldigten unterlassen, die der Direktion des Fürsorge- und Jugendamts zugegan‐ gene Verfügung des Herrn Oberbürgermeisters [Herrmann] vom 9.12.1936 über das Verbot der Abgabe von Nachlaßgegenständen an Beamte und Angestellte des Fürsor‐ geamts bekanntzugeben. 2. Die umfangreichen Vernehmungen des Personals des Fürsorgeamts haben ergeben, daß es Direktor Eberhard als Leiter an der nötigen Auf‐ sicht fehlen ließ. […] 10. Fürsorgeakten O[ber]I[nspektor] Mayer: Nach mehrfacher Aussage der vernommenen Zeugen hat OI [Eugen] Mayer seine eignen Fürsorgeakten aus den Jahren vor 1933 in seinem Schreibtisch verwahrt und dadurch die Rücker‐ stattung der Aufwendungen verhindert. Durch die Entziehung der Fürsorgeakten Mayer aus dem ordentlichen Geschäftsgang erlitt die Stadtgemeinde Konstanz einen erheblichen Ausfall, für den Direktor Eberhard mitverantwortlich ist, weil es seine Aufgabe gewesen wäre, für die Rückerstattung der Aufwendungen Sorge zu tragen. 111 Es bleibt festzuhalten: Der geschasste Zentrumsmann Kleiner, dessen Ju‐ gendamt nach der „Machtergreifung“ mit der städtischen Fürsorge zusammen‐ gelegt werden sollte, wurde durch einen im Grunde apolitischen Verwaltungs‐ fachmann ersetzt, der aus letztlich opportunistischen Motiven und auf Drängen seines Stellvertreters Eugen Mayer, einem „alten Kämpfer“, erst der NSDAP beitrat und seine Loyalität noch im selben Jahr durch Teilnahme am Reichspar‐ teitag in Nürnberg unter Beweis stellte, 112 freilich mit dem deutlich älteren, intransigenten und schlecht organisierten Stellvertreter bis Entfesselung des Zweiten Weltkriegs gänzlich brach. Durch eine (zuvor geschilderte) Unterschla‐ gungsaffäre stark unter Druck geraten, teilte Eberhard dem Oberbürgermeister am 12. Februar 1942 mit, dass er „mit aller Wahrscheinlichkeit nach Kriegsende aus dem städtischen Dienste ausscheiden“ werde. 113 Doch es sollte ganz anders kommen, wie ein weiter unten getätigter kurzer Ausblick in die Nachkriegszeit ergeben wird. Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 73 <?page no="74"?> 114 Nachfolgende Ausführungen zur Innenansicht des Konstanzer Jugendamts sind wort‐ gleich entnommen aus: K L Ö C K L E R (wie Anm. 28), S.-180-183. 115 Eine Entnazifizierungsakte ist im Staatsarchiv Freiburg vorhanden, sie beinhaltet freilich nur ein Blatt mit der handschriftlichen Bemerkung „interné“. Mayer ist folg‐ lich nach 1945 von der französischen Besatzungsmacht in einem Internierungslager gefangen gehalten worden. Seine Entnazifizierungsakte müsste sich daher heute im Archiv des französischen Außenministeriums in La Courneuve befinden; StaatsA Freiburg D 180/ 2 Nr.-199172. 116 Zu den bezogenen Fürsorgeleistungen in Form von Miete und Naturalien vgl. StadtA Konstanz S XII 30. 117 Zu seinem Wirken auf der Reichenau vgl: Z A N G , Gert: Leben auf der Reichenau. Von der Klostergeschichte zur Bürgergeschichte 1757-1955, Heidelberg 2024, passim. Das Fürsorge- und Jugendamt: Innenansichten einer städtischen Behörde Für die Konstanzer NSDAP war Fürsorge- und Jugendpolitik ein auf Ausgren‐ zung, Disziplinierung und radikalen Abbau von Sozialleistungen ausgerichtetes Betätigungsfeld. 114 Der schnelle Sturz des im katholisch Milieu gebundenen Jugendamtsleiters Konrad Kleiner, mit dem sich offensichtlich eine radikalere Politik nicht durchsetzen ließ, verdeutlichte den Willen der NS-Machthaber, insbesondere von Bürgermeister Leopold Mager, auf diesem Gebiet der Kom‐ munalpolitik eine „neue Zeit“ mit erheblich reduzierten „Fürsorgelasten“ anbre‐ chen zu lassen. Organisatorischen Ausdruck fanden die NS-Planungen in der Zusammenlegung des Fürsorgemit dem Jugendamt. Sicherlich hat eine restrik‐ tive Sozialpolitik auch mit den vielfältigen Abhängigkeiten und Ressentiments, auch mit dem Selbstmitleid vieler arbeits- und mittelloser „alter Kämpfer“ vom Fürsorgeamt in der Zeit vor 1933 zu tun. Eine kumulative Radikalisierung in der kommunalen Sozialpolitik trat mit der Einsetzung des „alten Kämpfers“ Eugen Mayer (1896-1973) 115 zum kom‐ missarischen Amtsleiter im Frühsommer 1933 ein, selbst ein verbitterter, lang‐ jähriger Empfänger von Arbeitslosenwie Fürsorgeunterstützung 116 und trotz der Namensgleichheit nicht zu verwechseln mit dem NSDAP-Fraktionsvorsit‐ zenden und späteren städtischen Beigeordneten Eugen Maier (1900-1945), der wiederum schon bald Konstanz verlassen sollte, um als Bürgermeister der Reichenau zu fungieren. 117 74 Jürgen Klöckler <?page no="75"?> 118 T R A P P (wie Anm. 51), S.-246. Eugen Maier, später Bürgermeister der Reichenau - Portrait als Ausschnitt aus der „Ehrentafel der alten Pg. Der NSDAP Ortsgruppe Konstanz“, um 1934/ 35) (StadtA Konstanz Z1.1606) Interessant auch das Motiv der Einstellung von Eugen Mayer im Frühsommer 1933: Er sollte an erster Stelle die eingangs erwähnte Überprüfung aller Fürsorgefälle vornehmen. 118 Der Bock war in Form eines „alten Kämpfers“ offensichtlich zum Gärtner gemacht worden. Eugen Mayer - Portrait als Ausschnitt aus der „Ehrentafel der alten Pg. Der NSDAP Ortsgruppe Konstanz“, um 1934/ 35) (StadtA Konstanz Z1.1606) Wie bei Kreisleiter Eugen Speer (herausgehobener Revolutionär in Kiel 1918) und vielen anderen „alten Kämpfern“ im südlichen Baden und speziell auch in Konstanz handelt es sich auch bei Eugen Mayer um einen radikalisierten Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs, der Kindheit und Jugend in Konstanz verbracht hatte und im März 1919 in die Stadt zurückgekehrt war. An der Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 75 <?page no="76"?> 119 Zu den biographischen Angaben vgl. das Vernehmungsprotokoll vom 15. Oktober 1941; StadtA Konstanz S II 13491. 120 Mayer hatte die Schwester von Karl Schäfer geheiratet; vgl. die undatierte Standesliste in der Personalakte StadtA Konstanz S XII 30. 121 Beschluß Nr.-1484 vom 29. Juni 1933; StadtA Konstanz B I 464. Revolution vom November 1918 hatte Mayer als aktives Mitglied der USPD teilgenommen, danach wurde er nach eigenen Angaben automatisch in die Kommunistische Partei überführt. Zur Gewalt als sozialer Praxis neigte er selbstredend, von den Vorbereitungen eines Bombenanschlags auf einen Mili‐ tärtransport auf der Eisenbahnstrecke Radolfzell-Konstanz nahe Hegne hatte er zumindest Kenntnis; denkbar ist auch eine mögliche tiefere Verstrickung. Mit der Ortsgruppe der Kommunisten überwarf sich der (formale) Katholik wegen Teilnahme an einem Regimentstag in Freiburg, die sich „im Gegensatz zur weltanschaulichen Einstellung der KPD“ befand. 119 Vom Kommunismus gelang Mayer spätestens auf dem Höhepunkt von Inflation und Krise der Schwenk nach rechts außen ins völkische Lager. Im Mai 1923 wurde der gelernte Polsterer nach eigenen Angaben Mitglied der Sektion München der NSDAP und trat ihr nach der Wiedergründung im Sommer 1925 (Mitgliedsnummer 9968) erneut bei. Zwischen 1927 und 1933 war der politische Wendehals zumeist arbeitslos. Mayer war im Übrigen mit dem „alten Kämpfer“ und ersten Bezirksleiter des NSDAP, Karl Schäfer, ebenfalls ein politisches Chamäleon, seit Juli 1919 verschwägert, 120 was in einem weiteren Fall den verschworenen Cliquencharakter der frühen NSDAP in Konstanz belegt. Mit Gauleiter Wagner verstand sich Mayer bestens, der ihn anlässlich einer Rede Hitlers in der Stuttgarter Liederhalle dem „Führer“ vorstellte. Ab 1930 schloss er sich der neugebildeten SA-Reserve an und gehörte bald schon als Fürsorge- und Siedlungsreferent zum Stab der SA-Standarte 114. Eugen Mayer darf zu den überzeugtesten und kämpferischsten Nationalsozia‐ listen in Konstanz gerechnet werden - ein „alter Kämpfer“ mit kommunistischer Vergangenheit par excellence. Anlässlich der „Machtergreifung“ wurde der arbeitslose Mayer zuerst mit bescheidener Bezahlung in die Hilfspolizei übernommen, dann in den Stadtrat berufen und schließlich ab 1. Juli 1933 als linke Hand von Bürgermeister Mager zum Sonderbeauftragten und NS-Kommissar im Fürsorgeamt durch Stadtratsbeschluss 121 erhoben. Mit der konsequenten und harten Überprüfung sämtlicher Fürsorgefälle fand er ein neues, aus seiner Sicht reiches Betäti‐ gungsfeld. Der Stadtrat gab dem Fürsorgeamt - und damit Mayer - die 76 Jürgen Klöckler <?page no="77"?> 122 Korrigiert aus: „Kieslau“. Neben dem Arbeitshaus bestand in Kislau auch ein frühes Konzentrationslager, das dem badischen Innenministerium unterstand. Zur Geschichte des Lagers vgl. B O R G S T E D T , Angela: Das nordbadische Kislau: Konzentrationslager, Arbeitshaus und Durchgangslager für Fremdenlegionäre in: Herrschaft und Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933-1939. Hg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel, Berlin 2002, S.-217-229. 123 Beschluß Nr.-1485a vom 29. Juni 1933; StadtA Konstanz B I 464. 124 Undatierter Aktenauszug [um Februar 1942]; StaatsA Freiburg A 96/ 1 Nr.-4575. 125 Schreiben von Eberhard an den Oberstaatsanwalt beim Landgericht und den Oberbür‐ germeister vom 8. Dezember 1941; StadtA Konstanz S II 13491. 126 Vgl. dazu die Akte StadtA Konstanz S II 13491. 127 Vgl. den Artikel „Unsere ‚Alte Garde‘“, in: Bodensee-Rundschau vom 27. September 1933. Weisung, „arbeitsscheue Elemente in das Arbeitshaus Kislau 122 einzuweisen.“ 123 Aus dem arbeitslosen und perspektivlosen Nationalsozialisten war über Nacht ein mächtiger und gefürchteter kommissarischer Amtsleiter geworden, der die Sachgebiete „Wohnungsfürsorge, Siedlungssachen, Allgemeine Fürsorge, Fürsorgeerziehung, Trinkerfürsorge, Ge.-Abteilung und sonstige mit dem Für‐ sorgewesen zusammenhängende Gebiete“ 124 bearbeitete. Doch die Verwaltung unter Oberbürgermeister Herrmann sann auf ein personelles Revirement und auf eine Reprofessionalisierung. Mit der weiter oben beschriebenen Einstellung des Verwaltungsfachmanns Ludwig Eberhard zum neuen Leiter des Fürsorge- und Jugendamts traten ab Frühjahr 1934 sofort Spannungen mit dem eigenmächtig handelnden Mayer auf. Auf Anraten des Oberbürgermeisters nahm der neue Amtsleiter eine Verteilung der Dienstaufgaben vor. Der „alte Kämpfer“ Mayer hatte allerdings schon längst das Fürsorgeamt als seine persönliche Pfründe entdeckt und rechtliche Hinweise seines neuen Vorgesetzten mit der Bemerkung abgetan, „dass er als alter Nationalsozialist sich nicht um verknöcherte Rechtsvorschriften kümmere“ 125 . Zahlreiche Fälle von Korruption, Unterschlagungen und privater Bereiche‐ rung spielten sich im Fürsorge- und Jugendamt bis zur Entfesselung des Weltkrieges und darüber hinaus ab. 126 Das Fürsorge- und Jugendamt wurde durch Einschleusen eines „alten Kämpfers“ als stellvertretender Amtsleiter und weiterer früher NS-Aktivisten auf untergeordneter Ebene ideologisch ausgerichtet, korrumpiert und radikalisiert. Träger der Radikalisierung „von unten“ war die ins Jugendamt bzw. Fürsorgeamt nach 1933 eingeschleuste, arbeitslose „alte Garde“ der Konstanzer NSDAP 127 , nämlich derjenigen Natio‐ nalsozialisten mit Parteibeitritt vor dem 9. November 1923, darunter Gustav Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 77 <?page no="78"?> 128 Der 1894 in Konstanz geborene Ernst Hagenauer, evangelisch, war von 1914 bis 1920 im Krieg bzw. in Gefangenschaft, bis 1922 beim Hauptzollamt beschäftigt, danach in prekären Arbeitsverhältnissen; seit 1933 beim Fürsorge- und Jugendamt tätig, nach Kriegsdienst 1945 aus städtischen Diensten entlassen. Vgl. die Personalakte StadtA Konstanz S XII 39. 129 Karl Schäfer ging zwischen 1923 und 1933 „keiner dauerhaften Beschäftigung“ nach, er übernahm als Nachfolger des Konstanzer NSDAP-Gründers Max Riegger ab März 1927 die Funktion des NSDAP-Bezirksleiters (Parteimitglied seit 1. Oktober 1926 mit der Nr. 45339). Mit dem Fahrrad unternahm er in der Folgezeit den Versuch, die NSDAP im westlichen Bodenseeraum aufzubauen und Propaganda zu betreiben - mit sehr bescheidenem Erfolg. Er wurde von Eugen Speer abgelöst. Zu Schäfer vgl. K L Ö C K L E R (wie Anm. 28), S.-57 f., 58, 61, 77, 79-82, 86 f., 89, 181 f., 393. 130 Auf Erlass des Innenministeriums meldete Bürgermeister Mager am 29. Juli 1940 Mit‐ arbeiter der Stadtverwaltung, neben Karl Schilling auch Eugen Mayer, nach Karlsruhe. Auch Landrat Kauffmann, der von 1913 bis 1919 im höheren Verwaltungsdienst im „Schutzgebiet DSW-Afrika“ eingesetzt gewesen war, warf seinen Hut in den Ring; StaatsA Freiburg A 96/ 1 Nr.-2474. 131 Schreiben des Fürsorge-Obersekretärs Schilling an das Hauptamt vom 29. Dezember 1942; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Karl Schilling. 132 Gesuch von Karl Schilling zur Übernahme in das Beamtenverhältnis vom 8. Juli 1938; ebd. 133 Schreiben an Oberbürgermeister Knapp vom 23. Juni 1948; ebd. Hübster, Ernst Hagenauer 128 und Karl Schäfer, der erste NSDAP-Bezirksleiter, genannt „Schäferkarle“ 129 . Ein besonderer Fall der Verwendung „alter Kämpfer“ im Fürsorgeamt war Karl Schilling (1897-1977), der bereits im September 1929 in die NSDAP eingetreten war und seit Februar 1931 dem SS-Stamm Südwest mit der niedrigen Mitgliedsnummer 8086 schließlich als SS-Sturmbannführer (1935) angehört hatte. Im Sommer 1940 bewarb er sich für einen Posten im zukünftigen Reichskolonialdienst, 130 was aus bekannten Gründen folgenlos bleiben sollte. Er sollte ab 1941 zudem als NSDAP Ortsgruppenleiter Nord und West tätig sein 131 und um 1937 den „Ehrenring des Reichsführers SS“ verliehen bekommen 132 . Die Politische Informationsstelle der Stadt Konstanz urteilte über ihn im Juni 1948: „Seine Agitation für die SS war so gehalten, dass sich auch Leute, die viel lieber nicht beigetreten wären, sich gezwungen fühlten zum Eintritt. Sch[illing] war, dies geht aus allen erhaltenen Auskünften hervor, Aktivist und Nutznießer der Partei.“ 133 Und weiter: „Er ließ allen, mit denen er zu tun hatte seine Macht fühlen, habe manchen Fürsorgeempfänger unanständig und auch parteiisch behandelt.“ Karl Schilling war als Fürsorge-Kontrolleur zum 1. Januar 1934 eingestellt worden und zum Fürsorger-Obersekretär aufgestiegen. 1945 78 Jürgen Klöckler <?page no="79"?> 134 Amtsblatt der Militär-Regierung vom 12. September 1945, S.-2 ff. 135 Nach langwierigen Versuchen gelang Karl Schilling eine Wiedereinstellung bei der Stadt ab Juni 1955 zuerst als Angestellter, ab 1958 als Beamter. Seine Reintegration in den öffentlichen Dienst war damit gelungen. Vgl. StadtA Konstanz S XIX Personalakte Karl Schilling. sollte er entlassen 134 , in Freiburg bis 1948 interniert und als „minderbelastet“ entnazifiziert werden. 135 Karl Schilling - Portrait als Ausschnitt aus der „Ehrentafel der alten Pg. Der NSDAP Ortsgruppe Konstanz“, um 1934/ 35) (StadtA Konstanz Z1.1606) Ernst Hagenauer - Portrait als Ausschnitt aus der „Ehrentafel der alten Pg. Der NSDAP Ortsgruppe Konstanz“, um 1934/ 35) (StadtA Konstanz Z1.1606) Das Fürsorgewie das Jugendamt wurden somit nach 1933 massiv von „unten“ durch überzeugte und langgediente Nationalsozialisten infiltriert und parasitär durchsetzt, von „oben“ freilich durch den stellvertretenden Amtsleiter Eugen Mayer. Diese im Vergleich zur Größe des Amts massive Infiltration mit fa‐ Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 79 <?page no="80"?> 136 Die Zahlenangaben sind entnommen aus der Akte StadtA Konstanz S XII Nr.-3. 137 Schreiben vom 17. September 1934; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Karl Schilling. 138 Vgl. dazu die Akte StadtA Konstanz S XII Nr.-281. natischen Nationalsozialisten zeigte sehr schnell Wirkung. Die Zahlen der nationalsozialistischen Fürsorge- und Jugendpolitik sprechen nämlich für sich: Der Zuschuss der Stadt sank von 1.460.744 RM im Jahr 1933 auf 1.186.572 RM (1935) auf 1.062.000 RM (1938). 136 Über fünf Jahre nach der „Machtergreifung“ hinweg sanken die städtischen Ausgaben im sozialen Bereich um ein knappes Drittel, vor allem auf Kosten der nicht mehr Arbeitslosengeldberechtigten so‐ genannten Wohlfahrtserwerbslosen - den damaligen Sozialhilfebzw. heutigen Bürgergeldempfängern. Hinter den nackten Zahlen verbergen sich nota bene unzählige Einzelschicksale, die in einer Zeit größter wirtschaftlicher Not einer radikalisierten und ideologisierten NS-Kommunalpolitik geschuldet sind. Die Verschärfung der Sozialpolitik führte rasch zu schweren Konflikten, die mitunter auch einen politischen Hintergrund hatten. So berichtete der zuvor erwähnte Karl Schilling, später Abteilungsleiter im Fürsorge- und Jugendamt, an den Oberbürgermeister im September 1934: Es kam in letzter Zeit mehrmals vor, dass ich von Fürsorgeempfängern, bezw. deren Frauen auf die unglaublichste Art und Weise beleidigt wurde. So wurde mir, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, vor einigen Tagen von einer Frau ins Gesicht geworfen, ich sei genau so ein Lumpenhund wie ihr Mann, eine andere Kundin warf mir ins Gesicht, ich sei in der ganzen Stadt bekannt als gemeiner, brutaler Kerl. Da die Ehemänner dieser beiden Damen mir als Kommunisten bekannt sind, kann ich mir sehr leicht denken, welcher Zweck mit dieser Anpöbelung erreicht werden soll. […] Da ich als Standortführer der Schutzstaffel mir eine derartige Behandlung nicht gefallen lassen kann, wäre ich […] sehr dankbar, wenn […] mir ein anderes Tätigkeitsfeld, auf dem ich mit anständigen Menschen zu tun habe, zugewiesen würde. 137 Schilling zog sein Gesuch kurze Zeit später zurück. Das Beispiel macht aber deutlich, was die Infiltration städtischer Dienststellen mit „alten Kämpfer“ in den Ämtern bewirken konnte. Die von Eugen Mayer betriebene organisatorische Umgestaltung, Neubeset‐ zung und Reduzierung der Bezirksvorstände in der Stadt hatte mit zu dem Ergebnis beigetragen. Die von 13 auf neun Bezirke reduzierten Einheiten wurden mehrheitlich mit „alten Kämpfern“ im Angestelltenverhältnis besetzt, welche die verschärfte Sozialpolitik bis in die einzelnen Haushalte trugen. 138 80 Jürgen Klöckler <?page no="81"?> 139 Schreiben des Innenministeriums (Dr. J. Bader) an den Konstanzer Oberbürgermeister vom 20. September 1939; StadtA Konstanz S XII Nr.-385. 140 RGBl 1939, Teil I, S.-109. 141 Für die restlose Zerstörung der seit den Weimarer Jahren ausgehöhlten kommunalen Selbstverwaltung im Deutschen Reich entscheidend erwies sich die Deutsche Gemein‐ deordnung (DGO) vom 30. Januar 1935 (RGBl 1935, Teil I, S. 49-64), ausgehandelt zwischen der Dienststelle des „Stellvertreters des Führers“, dem Reichsinnenministe‐ rium und weiteren Berliner Ministerien. Die DGO war reichsweit die erste einheitliche Rechtsordnung für Kommunen. Das nationalsozialistische „Führerprinzip“ hatte an‐ stelle demokratisch-pluralistischer Willensbildung in ihr kommunale Gesetzesform erlangt. Der Oberbürgermeister führte „die Verwaltung in voller und ausschließlicher Verantwortung“, der als Körperschaft nutzlos gewordene Gemeinderat wurde zum Ratsherrenkollegium degradiert und in rein vermittelnde Bedeutungslosigkeit ent‐ lassen. Die Gemeinschaft, sprich die „Volksgemeinschaft“, wurde durch die DGO vor das Einzelschicksal gestellt, Gemeinnutz vor Eigennutz gesetzt, damit unter der „Führung der Besten des Volkes die wahre Volksgemeinschaft“ geschaffen werden könne, „in der auch der letzte willige Volksgenosse das Gefühl der Zusammengehörigkeit findet“. Die Kommunalaufsicht erfuhr in Paragraph 107 eine Übertragung auf das Reich, zur obersten formellen Aufsichtsbehörde wurde das Reichsministerium des Innern. Neben der Aufsicht durch den NS-Staat waren die Kommunen jetzt auch seiner Führung unterworfen. Durch die DGO erfolgte die rechtliche Entmachtung der Stadträte, die zur kritiklosen Beratung des Stadtoberhaupts gezwungen und zur Vermittlung der von ihm alleinverantwortlich getroffenen Entscheidungen in der Öffentlichkeit verpflichtet wurden. Die Öffentlichkeit nahm schon vor Kriegsbeginn die Zusammenkünfte der Ratsherren kaum noch wahr, die Zahl der Sitzung ging drastisch zurück, die Berichte in der gelenkten Presse schrumpften zusammen, die Protokolle der Sitzungen ebenfalls. Die alleinige kommunalpolitische Entscheidungskompetenz fiel ab 1935 dem Oberbür‐ germeister zu, der den Ratsherren ihre eigene Bedeutungslosigkeit auch schriftlich bescheinigte. Als Teil des NS-Herrschaftssystem wurde Oberbürgermeister Herrmann zum „Führer“ der Stadt, zum gewichtigen Akteur im lokalen NS-Herrschaftssystem; entnommen aus K L Ö C K L E R Selbstbehauptung (wie Anm. 28), S.-142 f. Die Umsetzung des „Führerprinzips“ im Fürsorge- und Jugendamt Über das badische Innenministerium wurde im September 1939 auch in den verbandsfreien Städten das autoritäre „Führerprinzip“ umgesetzt, das sich in einer Verkleinerung der bestehenden Ausschüsse, deren Infiltration mit Vertretern der NSDAP und deren angegliederten Organisationen und in der „Vereinfachung der Verfahren“ ausdrücken sollte. 139 Grundlage war das Gesetz für Jugendwohlfahrt vom 1. Februar 1939. 140 Dort heißt es unter Verankerung des „Führerprinzips“: Die Geschäfte des Jugendamts führt der Bürgermeister nach den Vorschriften der Deutschen Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935 141 […] Zu seiner Beratung werde Beiräte bestellt. Als Beiräte sind auch der zuständige Vormundschaftsrichter, ein Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 81 <?page no="82"?> 142 Schreiben von Nicolai an das Jugendamt; StadtA Konstanz S XII Nr.-385. 143 Alle erwähnten Schreiben befinden sich in: StadtA Konstanz S XII Nr.-385. 144 Vgl. dazu den Artikel „75 Jahre Firma Alfons Brachat“, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 22. Oktober 1955. 145 Gezeichneter Umlauf innerhalb des Fürsorge- und Jugendamts vom 9. Februar 1936; StadtA Konstanz S XII Nr.-490. Lehrer und eine Lehrerin sowie der zuständige Kreisamtsleiter des Amts für Volks‐ wohlfahrt zu bestellen. Als Beirat ist ferner ein Vertreter der Hitler-Jugend und des Bundes Deutscher Mädel zu bestellen. Die kollegiale Leitung bzw. das kollegiale Prinzip wurde zugunsten des „Füh‐ rerprinzips“ aufgegeben. Bereits am 19. Juli 1939 meldete sich das Amt für Volkswohlfahrt der NSDAP- Kreisleitung beim Jugendamt und nannte die zukünftigen Vertreter: Als Erster Beirat sei Kreisamtsleiter Klaus Erich Nicolai zu bestellen, sein Stellvertreter sei Adam Gräft. 142 Die Hitler-Jugend machte den Sozialstellenleiter des Bannes Konstanz/ 114, Stammführer Emil Senger, und die Kreisfrauenschaftsleiterin Luise Abderhalden benannte Ilse N. als Vertreterin der NS-Frauenschaft. Auch die Deutsche Arbeitsfront machte einen Mitarbeiter für den Beirat frei, ebenso wie der Bund Deutscher Mädel. Hier meldete die „Führerin des Untergaus 114“, Gertrud Kempf, die Berufsberaterin Paula S. als deren Vertreterin an. Die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung folgte als Letztes. 143 Zudem wurde der Ratsherr (so die Bezeichnung der Gemeinderäte nach 1935) Alfons Brachat, der 1926 ein Wäscheausstattungsgeschäft 144 im Paradies von den Eltern übernommen hatte, in den Beirat berufen. Oberbürgermeister Herrmann bestellt die Vorgenannten in den Beirat. Dadurch war ein Höchstmaß an Einfluss der NSDAP und deren angegliederten Verbände im Fürsorge- und Jugendamt gewährleistet und dem „Führerprinzip“ genüge getan. Widerstand gegen diese Entscheidung ist in den Akten nirgends verzeichnet. Spätestens mit dem deut‐ schen Überfall auf Polen war das „Führerprinzip“ im Fürsorge- und Jugendamt der Stadt Konstanz fest verankert. Das 42-köpfige Amt bestand damals aus fünf Abteilungen, mit der Zentrale unter Amtsleiter Eberhard und 13 Mitarbeitern, der Allgemeinen Fürsorge mit acht Beschäftigten, der Gehobenen Fürsorge mit fünf Beamten, dem Jugendamt mit sieben Beschäftigten und den acht Fürsorger und Fürsorgerinnen. 145 Mit Entfesselung des Zweiten Weltkriegs sollten die Aufgaben des Fürsorge- und Jugendamts noch deutlich zu-, das Personal hingegen deutlich abnehmen. Das bedeutet erhebliche Mehrarbeit für das Amt, nämlich lange Arbeitstage, auch samstags und bisweilen sonntags. Auf den Kriegsfall hatte sich das Amt bereits im Februar 1939 vorbereitet. Ein Kriegsstellenplan wurde entworfen: 17 82 Jürgen Klöckler <?page no="83"?> 146 Unabkömmlich. 147 Undatierte Dienstanweisung, wohl im Frühjahr 1939 verfasst; StadtA Konstanz S XII Nr.-481. 148 Dienstanweisung „Durchführung der F.U.“ vom 2. Februar 1940; StadtA Konstanz S XII Nr.-481. Beamte, darunter zwei Beamtinnen und 15 Angestellte, darunter 12 weibliche, sollten im Kriegsfall tätig werden. Das war ein Stellenminus von fast 24 Prozent im Vergleich zu 1936, zehn Stellen fehlten zumeist aufgrund von Einberufungen zur Wehrmacht. Alle anderen waren vorerst uk 146 gestellt und wurden nicht zum Militär eingezogen. Familienunterhalt im Krieg Vor allem der bald schon eingeführte Kriegsfamilienunterhalt band drei neuge‐ schaffene Abteilungen. Die Familiennamen wurden dort von A-Ha, He-R und S-Z bearbeitet. 147 Hier hatte der NS-Staat aus den Versäumnissen des Ersten Weltkrieges gelernt; er gewährte einen ausreichenden Familienunterhalt für die zurückgeblieben Frauen und Kinder der zur Wehrmacht eingezogenen Männer. Die finanziellen Leistungen sollte selbstredend zur Systemstabilisierung we‐ sentlich beitragen. Für den eingezogenen Amtsleiter stellte dessen Stellvertreter Mayer in einer Dienstanweisung zu Beginn des Jahres 1940 an seine Mitarbeiter klar: Die Betreuung der F.U. (Familienunterhalt) ist eine schwierige und verantwortungs‐ volle Aufgabe. Sie verlangt einerseits die Kenntnis einer Fülle von gesetzlichen Vorschriften und gewährt andererseits einen großen Spielraum bei den zu treffenden Entscheidungen. Alle Anträge auf F.U. sind mit größter Beschleunigung in freundli‐ cher, entgegenkommender Weise ohne kleinliches und bürokratisches Verfahren zu behandeln. Die gesetzlichen Vorschriften sind wohlwollend und im Zweifel zugunsten der Unterhaltsberechtigten auszulegen. Der Einberufene an der Front muß die Über‐ zeugung haben, daß für seine Angehörigen in ausreichender und gerechter Weise gesorgt ist. 148 Bürgernaher Service war damals in den städtischen Ämtern offensichtlich nicht weit verbreitet, sondern er musste - wie der Fall Familienunterhalt belegt - angeordnet werden. Sämtliche diesbezüglichen Maßnahmen dienten nur einem Zweck: der Systemstabilisierung des NS-Regimes, das sich vor einem zweiten, revolutionären „1918“ fürchtete. Diese Taktik bewährte sich bis in das Frühjahr 1945. Die deutsche Gesellschaft stand bis zuletzt überwiegend loyal zum NS- Regime. Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 83 <?page no="84"?> 149 Undatierter Aktenauszug [um Februar 1942]; StaatsA Freiburg A 96/ 1 Nr.-4575. 150 Abschrift eines Schreibens an den Reichsminister des Innern vom 29. Dezember 1941; StadtA Konstanz S XIX Personalakte Eugen Mayer. 151 In einem Schreiben des Reichsinnenministeriums an das Badische Innenministerium schreibt Dr. Hoffmann am 30 März 1942: „Nach Einsichtnahme in die Akten des Obengenannten muss ich von seiner anderweitigen Verwendung in den besetzten und eingegliederten Ostgebieten absehen“; StaatsA Freiburg A 96/ 1 Nr.-4575. 152 Die französische Besatzungsmacht hat Mayer am 12. September 1945 mit sofortiger Wirkung entlassen. Vgl. StadtA Konstanz S XII Nr.-30. 153 Schreiben des Gaugerichts Baden der NSDAP an die Staatsanwaltschaft Konstanz vom 17. März 1942; StaatsA Freiburg D 81/ 1 Nr.-399. 154 Schreiben von Bürgermeister Mager an Landeskommissär Wöhrle vom 12. September 1942; StaatsA Freiburg A 96/ 1 Nr.-4575. 155 Die kommunistische Mitgliedschaft war Grund für eine abgelehnte Beförderung F.s durch Bürgermeister Mager vom 21. April 1938; Personalakte F.; StadtA Konstanz S XII Nr.-48. Ein städtischer Skandal: Unterschlagungen im Fürsorge- und Jugendamt Unregelmäßigkeiten, Bereicherungen und Unterschlagungen auf dem Fürsorge- und Jugendamt konnten in einer Mittelstadt wie Konstanz nicht geräuschlos von statten gehen. Vermutungen, Anschuldigungen und Gerüchte hielten sich hartnäckig, nicht nur innerhalb der Stadtverwaltung, bis schließlich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde. Anfang 1941 lief das Fass über. Der überführte und erheblich unter Druck gesetzte stellvertretende Amtsleiter Eugen Mayer, der nach Austritt aus der katholischen Kirche sich mittlerweile als „gottgläubig“ 149 bezeichnete, meldete sich in der Reichshauptstadt „freiwillig zur Mitarbeit beim Aufbau in den eingegliederten oder besetzten Ostgebieten“ - eine Verwaltungsstelle in Minsk schien ihm sicher. 150 Doch die angeforderten Untersuchungsakten führten zu einem hinhaltenden Bescheid der Berliner Mi‐ nisterialbürokratie. 151 Schließlich wurde Mayer zum Zollgrenzschutz abberufen und an der deutsch-schweizerischen Grenze eingesetzt. Von der Einleitung eines dienstpolizeilichen Verfahrens wurde bis Kriegsende abgesehen. 152 Doch ein NSDAP-Parteigerichtsverfahren war im März 1942 gegen ihn anhängig, 153 über dessen Ausgang nichts bekannt ist. Nicht „böser Wille, sondern Unerfah‐ renheit“ habe - so Bürgermeister Mager einen verbrecherisch agierenden „alten Kämpfer“ schützend - „sein Handeln und Unterlassen bestimmt“. 154 Die Untersuchungen zogen weite Kreise, das Thema war Stadtgespräch, ins‐ besondere nach dem sich der Fürsorgeamts-Lagerleiter Heinrich F., wie Mayer 1919 bis 1922 Mitglied der USPD, 155 nach einer mehrtägigen Vernehmung durch die Kriminalpolizei im Keller seines Hauses am 14. Oktober 1941 erhängt hatte. In seinem Abschiedsbrief klagte er an: „Ich bin nur das Opfer wie noch Viele des 84 Jürgen Klöckler <?page no="85"?> 156 Der Abschiedsbrief ist zitiert in dem Schreiben des Oberstaatsanwalts Konstanz an den Generalstaatsanwalt Karlsruhe vom 8. November 1941; StaatsA Freiburg D 81/ 1 Nr. 399. 157 Vgl. die Anzeige „Große Versteigerung“, in: Bodensee-Rundschau vom 4. Januar 1941. Weiterführend: K L Ö C K L E R (wie Anm. 28), S.-340 f. 158 Vgl. das Protokoll der Vernehmung des Verwaltungssekretärs Heinrich F. vom 9. Oktober 1941; StadtA Konstanz S II 13491. 159 Vernehmungsprotokoll der Angestellten Rosa W. vom 13. Oktober 1941; StadtA Kon‐ stanz S II 13491. getarnten Ortsgruppenleiters und Leiter des sogenannten Bruchamts, Pg. Mayer Eugen, Sattler, Polsterer und Möbelhändler“. 156 Mit dem Begriff „Möbelhändler“ beschuldigte F. direkt, mit Möbeln aus dem Lager des Fürsorgeamts gehandelt zu haben. Aufgrund der polizeilichen Untersuchungen wurde unter anderem festge‐ stellt, dass im Fürsorge- und Jugendamt im Rahmen der „Evakuierung“, sprich der Deportation, der 108 Konstanzer Jüdinnen und Juden nach Gurs vom 22. Oktober 1940 auch sichergestelltes „Judengut“, das zu Teilen am 6. und 7. Januar 1941 im Konzil versteigert worden war, 157 Gegenstand von Bereicherungen geworden war. In einem einschlägigen Vernehmungsprotokoll heißt es: Es wurden dann von der Polizei dem Fürsorgeamt ebenfalls eine Anzahl Gegenstände aus Judenhaushaltungen geschenkt, die dann nach Veranschlagung an städt[ische] Beamte, Angestellte und Arbeiter des Fürsorgeamts verkauft worden sind. 158 Von den Verkaufserlösen wurden auf Anweisung von Oberinspektor Mayer zuvor noch die Kosten für einen „Kameradschaftsabend“ im Nebenzimmer des Gasthauses „Zur hintere Sonne“ abgezogen, an die sich eine echauffierte Mitarbeiterin erinnerte. 159 Die deportierten Konstanzer Juden finanzierten somit indirekt die Geselligkeit eines städtischen Amtes. Das Fürsorge- und Jugendamt war in die Ausplünderung und Verwertung des Konstanzer „Judenguts“ tiefer involviert als bislang vermutet. Das Fürsorge- und Jugendamt war durch die Versetzung von Mayer und die freiwillige Einberufung von Eberhard seit 1941 ohne Führung. In einem Punkt war das Fürsorge- und Jugendamt nicht repräsentativ für die Kommunal‐ verwaltung, nämlich was den zahlenmäßigen erhöhten Einsatz „alter Kämpfer“ am unteren Ende der Amtshierarchie betrifft, die deutlich höher als in anderen Dienststellen war. Doch diese Kommunalbehörde macht sehr anschaulich, dass der Radikalisierungsprozess der Kommunalpolitik im Nationalsozialismus aus den Ämtern heraus vollzogen wurde, durch handelnde Akteure der Verwaltung, somit von „unten“ und eben nicht zwangsläufig von „oben“. Das Bild einer apolitischen, rein vollziehenden Verwaltung sollte in unseren Köpfen wie eine Seifenblase zerplatzen. Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 85 <?page no="86"?> 160 Vgl. Völkischer Beobachter vom 3. Dezember 1938, S.-1. Die Konstanzer HJ: „und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben“ Auch in Konstanz waren das Deutsche Jungvolk, die Hitlerjugend (HJ) und Bund Deutscher Mädel (BDM) als Jugend-Formationen des NS-Staates präsent. Ein Akteur neben den konfessionellen und parteipolitischen Jugendorganisationen, die verboten wurden, und dem Jugendamt war entstanden. Die Kinder und Jugendlichen wurden ab 1936 zur Teilnahme an der Hitlerjungend verpflichtet. Ziel war die Schaffung der NS-Volksgemeinschaft und zwar unter Inklusion aller als „Arier“ definierten Deutschen bei gleichzeitiger Exklusion aller Min‐ derheiten wie Juden, Homosexuelle, Behinderter und Sinti und Roma. Nach dem Münchner Abkommen und dem deutschen Einmarsch in die die Sudetengebiete hatte Adolf Hitler in seiner Reichenberger Rede (heute: Liberec/ Tschechische Republik) vom 2. Dezember 1938 an „die deutsche Jugend“ diese konsequente NS-Indoktrination der nachwachsenden Generation auf den Punkt gebracht: Die Angehörigen der Hitlerjugend „werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.“ 160 Der Satz steht in folgendem Zusammenhang in der Rede des „Führers“: Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn nun diese Knaben, diese Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisa‐ tionen hineinkommen und dort so oft zum erstenmal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler- Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei und anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen, alle mit einem Symbol: dem deutschen Spaten (Beifall). Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder dort noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre (Beifall), und wenn sie dann nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben (Beifall), und sie sind glücklich dabei.“ Auch in Konstanz war die HJ im Stadtbild omnipräsent. Selbst von auswärts kamen, insbesondere zur Sommerzeit, Hitlerjugend-Verbände an den Bodensee. Anfang August 1938 etwa war die Pforzheimer HJ zusammen mit Mitgliedern 86 Jürgen Klöckler <?page no="87"?> 161 Artikel „Am Wasserwerk herrscht frohe Laune“, in: Bodensee-Rundschau vom 4. August 1938. 162 Ebd. der Auslands-HJ aus der Schweiz in einem einwöchigen, großen Zeltlager am Wasserwerk untergebracht. Die Bodensee-Rundschau berichtete ausführlich über den Tagesablauf: Frühes Wecken, Schulungen im nahegelegenen Loretto- Wald, nachmittags Formalausbildung (militärisches Exerzieren), „der die Jungs zu straffem soldatischem Verhalten in der Gruppe erziehen soll“ 161 . Die „Volks‐ gemeinschaft“ im Kleinen wurde in den Abendstunden gepflegt: Nun beginnt das, was am stärksten zusammenschmiedet, das gemeinsame Abend‐ singen um das hell aufleuchtende Lagerfeuer, dazwischen lauschen alle den Erzäh‐ lungen von deutschen Helden und von deutscher Vergangenheit. 162 Auch Oberbürgermeister Herrmann besuchte das Lager und machte den Hitler‐ jungen seine Aufwartung. Oberbürgermeister Herrmann besucht Anfang August 1938 ein HJ-Zeltlager in Kon‐ stanz-Staad beim Wasserwerk (im Hintergrund) (StadtA Konstanz S XII 64) Wie stand es um die Zusammenarbeit der eigentlich in Konkurrenz stehenden HJ-Führung mit dem städtischen Jugendamt? Im September 1940 schrieb der Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 87 <?page no="88"?> 163 Schreiben vom 21. September 1940; StadtA Konstanz S XII Nr.-64. 164 Zur Biographie von Friedhelm Kemper (1906-1990) vgl: W Ö H R L E , Tobias: Kemper, Friedhelm Traugott Georg, in: Sepaintner, Fred Ludwig (Hg.): Baden-Württembergische Biographien, Band V, Stuttgart 2013, S.-217 ff. 165 Bericht vom 5. Juni 1941; StadtA Konstanz S XII Nr.-64. 166 W Ö H R L E (wie Anm. 163), S.-218. 167 Akte „Förderung der freien Jugendhilfe: Hitler-Jugend-Bewegung“; StadtA Konstanz S XII Nr.-64. stellvertretende Jugendamtsdirektor Mayer an das Landeswohlfahrts- und Ju‐ gendamt nach Karlsruhe: Eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Stadtjugendamt Konstanz, der HJ. und NS- Jugendhilfe ist in allen Dingen gewährleistet. Hauptsachbearbeiter beim Jugendamt (Vormundsachen) ist Stammführer, früher Jugendbannführer, Inspektor Erwin Ko‐ eder. […] In meinem Auftrage und Vertretung vermittelt er die Verbindung zwischen dem Jugendamt und den Dienststellen (insbesondere der HJ.), welche unmittelbar in Jugendfragen mit mir zu tun haben. Wird Koeder wieder einberufen erledige ich alle diesbezüglichen Fragen. Ich bin alter Pg., Ortsgruppenleiter und seit über 10 Jahren in der SA. Mit dem Bann- und Jugendbannführer der HJ. Pg. Herbst, der zugleich Kreisamtsleiter der NSV. ist, arbeite ich sehr gut zusammen. In allen Dingen der Jugendwohlfahrt nehmen wir persönlich Fühlung. Eine tatkräftige Förderung der HJ. und eine Ausschöpfung aller gegebenen Möglichkeiten wird auch schon von Seiten des Herrn Bürgermeister Mager in weitgehender Hinsicht sichergestellt. 163 Da war sie wieder, auch in Konstanz: die Personenverbandsherrschaft der Nationalsozialisten in den Kommunen. Der stellvertretende Leiter des Fürsorge- und Jugendamts nahm am 29. Mai 1941 an einer Tagung der HJ-Sachgebietsleiter der Stadt- und Landkreise in Freiburg teil. Eugen Mayer informierte anschließend den Oberbürgermeister insbesondere über das Referat des badischen HJ-Obergebietsführers Friedhelm Kemper 164 , der „in großen Zügen die Bedeutung der Jugendpflege und Jugend‐ führung im 3. Reich“ geschildert habe. Das Referat gipfelte in der Aussage: „Das nationalsozialistische Erziehungsziel ist die Erziehung zur Volksgemein‐ schaft“. 165 Zur Wirkung dieses Gedankenguts: Bereits im Herbst 1935 gehörten rund 80 Prozent der Jugendlichen in Baden der HJ 166 , der Staatsjugend des „Dritten Reiches“, an. Die Indoktrination geschah somit auch in Konstanz flächendeckend und offensichtlich wirkungsvoll: und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben. Im Fürsorge- und Jugendamt lief die von 1933 bis 1945 gewährte Unterstützung der NS-Staatsjugend unter dem verstörenden Titel „Förderung der freien Jugendhilfe“ 167 . 88 Jürgen Klöckler <?page no="89"?> 168 V O R L Ä N D E R , Herwart: Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialis‐ tischen Organisation (Schriften des Bundesarchivs, 35) Boppard 1988, S.-180. 169 H A N S E N , Eckhard: Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Macht‐ strukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches (Beiträge zur Sozialpolitik- Forschung, Band-6) Augsburg 1991, S.-1. 170 Anerkennung der NSV durch Hitler, in: Verfügungen, Anordnungen, Bekanntgaben, Band II. Hg. von der Partei-Kanzlei, München o.-J., S.-21. 171 S A C H ẞ E , Christoph/ T E N N S T E D T , Florian: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Stuttgart 1992, S.-276. 172 V O R L Ä N D E R (wie Anm. 168), S.-177. 173 Ebd., S.-20. Gegenspieler des Fürsorge- und Jugendamts: Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) oder: „Die Menschenführung ist Aufgabe der Partei“ Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), deren Zielsetzung in „völ‐ kisch-biologistischer Wohlfahrtspflege“ 168 bestand und die als „parteiamtliche Wohlfahrtseinrichtung“ 169 bezeichnet werden kann, wurde vom Reichskanzler und „Führer“ Adolf Hitler am 3. Mai 1933 anerkannt; sie sei „zuständig für alle Fragen der Volkswohlfahrt und der Fürsorge und hat ihren Sitz in Berlin“. 170 Damit war der Anspruch des Nationalsozialismus auf Führung in der freien Wohlfahrtspflege angemeldet und zwar im gesamten Deutschen Reich oder an‐ ders formuliert: die Anwendung sozialdarwinistischer Prinzipien der Jugendpo‐ litik war Tür und Tor geöffnet. Die Fürsorge wurde politisch instrumentalisiert, Ziel war die Schaffung eines „völkischen Wohlfahrtstaates“ 171 . In weiten Teilen der Bevölkerung wurde das prinzipielle Umsteuern auf dem Gebiet der Wohlfahrt begrüßt. Das NS-Volksgemeinschaftsprinzip schien sich gegen die bisherige interessengebundene Aufsplitterung einer überforderten Wohlfahrtspflege durchzusetzen, die katastrophale Folgen gezeitigt hatte. 172 Der Kreis der Wohlfahrtsverbände war bis dato auf sieben beschränkt, die wiederum in der Deutschen Liga für freie Wohlfahrtspflege organisiert waren: der Centralausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, der Deutsche Caritasverband, die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, das Deutsche Rote Kreuz, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, der Hauptausschuß der Arbeiterwohlfahrt, die Christliche Arbeiterhilfe und die kommunistische Internationale Arbeiterhilfe. 173 Die NSV wurde Mitglied in der Liga und ersetzt dann innerhalb weniger Monate die kollegiale Arbeitsweise durch das „Führerprinzip“. Ziel war eine gleichgeschaltete freie Wohlfahrts‐ pflege durch die NSV. Dieses Ziel wurde schnell erreicht, nicht zuletzt, weil das Reichsinnenministerium unverhohlen und wiederholt die Kommunen zur Zusammenarbeit mit der NSV anhielt. Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 89 <?page no="90"?> 174 Ebd., S.-175. 175 Aktennotiz von einer Besprechung von Dr. Saucet und Hans Bernhardt vom 26. Juni 1945; StadtA Konstanz S XII Nr.-459. 176 Tätigkeitsbericht der Fürsorge und Jugendämter vom 29. Juni 1945, abgefasst von Hans Bernhardt; ebd. 177 Bericht Mayers vom 4. Februar 1941; Akte „Heimatbriefe“, StadtA Konstanz S XII Nr.-260. Am 29. Juni 1945 fasste Verwaltungs-Inspektor Hans Bernhardt gegenüber der französischen Besatzungsmacht rückblickend das Verhältnis von Jugendamt zur NSV, einer - aus der Distanz betrachtet - ehemaligen NS-Organisation von „polypenhafte[r] Komplexität“ 174 , folgendermaßen zusammen: Wie ich schon mündlich [in einer Besprechung mit Dr. Saucet beim Militär-Gouver‐ nement JK] 175 berichtete, hat mit der Machtübernahme durch die N.S.D.A.P. die Jugendfürsorge eine grundsätzliche Wandlung erfahren. Mit der These, dass ‚die Partei die Menschenführung habe‘, versuchte die N.S.V. in Baden im allgemeinen und der frühere Kreisamtsleiter im Amt für Volkswohlfahrt in Konstanz, [Walter] Herbst, im besonderen, möglichst alle Gebiete der Jugendfürsorge […] an sich zu reissen, und zwar zum Teil auch entgegen einer reichsrechtlichen Regelung zwischen dem früheren Reichsinnenministerium und der damaligen Parteikanzlei. Bei verschie‐ denen Tagungen der badischen Dezernenten für Fürsorge- und Jugendpflege wurde gegen die Anmassung der badischen Gauamtsleitung der N.S.V. entschieden Stellung genommen, aber nicht immer mit dem gewünschten Erfolg, da die Forderungen der Gauamtsleitung meist durch den früheren Gauleiter Robert Wagner gedeckt wurden. 176 Auch der Stellvertretende Fürsorge- und Jugendamtsleiter Eugen Mayer hatte bereits ähnlich im Februar 1941 an Oberbürgermeister Herrmann über die NSV berichtet: Mein grösstes Augenmerk legte ich auf eine gute Zusammenarbeit mit der NSV. Ich brachte mit Pg. Herbst, Kreisamtsleiter der NSV.[,] eine Vereinbarung zustande, welche eine intensive Zusammenarbeit gewährleistete. Ich kann heute sagen, dass Jugendamt und NSV. alle Fragen der Jugendhilfe im gegenseitigem Einvernehmen zur grössten Zufriedenheit beider Teile regeln. Um allen Handlungen eine national‐ sozialistische, weltanschauliche Ausrichtung zu geben, habe ich die konfessionellen, caritativen Verbände von der Mitarbeit in Jugendsachen ausgeschaltet und arbeite nur noch mit der NSV. zusammen, die ihrerseits die Fälle nach erbbiologischen Gesichtspunkten verteilt. 177 90 Jürgen Klöckler <?page no="91"?> 178 V O R L Ä N D E R (wie Anm. 168), S.-176. 179 Ebd., S.-179. 180 Stand 1942/ 43 hatte die NSV 16225955 Mitglieder, davon in Baden 505435. Dort waren 20,76 Prozent der Bevölkerung in der NSV organisiert; zu den Zahlen: H A D W I G E R , Daniel: Nationale Solidarität und ihre Grenzen. Die deutsche „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ und der französische „Secours national“ im Zweiten Weltkrieg (Schrif‐ tenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees, 18) Stuttgart 2021, S.-348 f. 181 Vgl. dazu weiterführend Kapitel zwei „Kindergärten als Bestandteil der ‚Menschenfüh‐ rung der Partei‘“, in: H A N S E N (wie Anm. 169), S.-220-243. 182 Aktenvermerk vom 16. Februar 1935; StadtA Konstanz S II Nr.-15783. 183 T R A P P (wie Anm. 51), S.-311. Die NSV, die „Alltags-Repräsentanz der Partei“ 178 , war somit auch in Konstanz bis 1945 zu einem bedeutenden Faktor in der Jugend- und Fürsorgearbeit geworden. Sie, und nur sie, war das entscheidende Instrument nationalsozialis‐ tischer Sozialpolitik. 179 Die städtischen Kindergärten werden zu NSV-Kindergärten Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, im Übrigen hinter der „Deutschen Arbeitsfront“ mit rund 16 Millionen Mitgliedern 180 die zweitgrößte NS-Mas‐ senorganisation überhaupt, versuchte über verschiedene Stränge, in die kom‐ munale Sozialpolitik einzudringen. Ein zentrales Einfallstor waren die Kinder‐ gärten, wo der „Menschenführungsanspruch der Partei“ deutlich zum Tragen kommen sollte. 181 Im Auftrag der NS-Volkswohlfahrt beschwerte sich Gretel S. im Februar 1935 bei der Stadtverwaltung, „daß die Kindergärten nicht im nationalsozialistischen Geiste geleitet werden“. 182 Die Kinder würden den Hitler- Gruß nicht erwidern und nur „fromme“ Lieder anstelle von nationalsozialis‐ tischem Liedgut singen. Die NS-Stadtverwaltung zog daraus Konsequenzen. Der Kindergartenausschuss müsse neu besetzt werden, da dort zu viel alte Mitglieder und insbesondere Frauen vertreten seien, die nicht dem Nationalso‐ zialismus nahe stünden. Oberbürgermeister Herrmann stimmte zu. Im Januar 1936 drängte Karl Voß, damals Kreisamtsleiter des Amtes für Volkswohlfahrt der NSV, nicht nur die Kinderhorte und Kindergärten sondern auch die städti‐ sche Volksspeiseanstalt in der Gütlestraße und die Walderholungsstätte beim Wasserwerk „in eigene Regie“ zu übernehmen. 183 Bürgermeister Mager brachte diesen Wunsch in die Ratssitzung vom 19. November 1936 ein. Sein mono‐ logischer Vortrag wurde mit „einmütiger Zustimmung“ von den Ratsherren angenommen, die NSV wurde von ihm ausdrücklich als „Trägerin der sozialen Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 91 <?page no="92"?> 184 Vorlage an den Rat über die „Übergabe der städt. Kinderhorte, Kindergärten und der städt. Volksküche in die Verwaltung der NS.-Volkswohlfahrt“; StadtA Konstanz S II Nr.-15783. 185 Vgl. den Artikel „Stadtkinder aufs Land - Landkinder in die Stadt“, in: Bodensee- Rundschau vom 11. Mai 1935. 186 Schreiben des Kreisamtsleiters Herbst vom 17. März 1943; StadtA Konstanz S XII Nr. 124. 187 Reisegenehmigungen des Hauptvertrauensmannes des Gaus Westfalen-Süd in Kon‐ stanz vom 16. bzw. vom 23. Dezember 1943; StadtA Konstanz S XII Nr.-693. 188 Zu den Schulklassen und den Zahlen siehe B U R C H A R D T , Lothar: Konstanz im Zweiten Weltkrieg, in: Ders./ Dieter Schott/ Werner Trapp: Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschichte der Stadt Konstanz, 5) Konstanz 1990, S.-400-403. Aufgaben“ bezeichnet. 184 Damit hatte die NSV in Konstanz die Betreuung sämt‐ lich in den zwei Horten und vier Kindergärten untergebrachten Kleinkinder an sich gezogen. Kinderlandverschickungen und Evakuierungen Sogenannte Kinderlandverschicken wurden bereits ab Mitte der 1930er Jahren organisiert, etwa die Verschickung von Stadtkindern aufs Land. Dahinter steckte wiederum die NSV und nicht etwa die Jugendämter der Kommunen. So berich‐ tete die Bodensee-Rundschau im Mai 1935, dass der Gau Baden 18000 Kinder über den Sommer aufnehmen werde. 185 Viele dieser Kinder wurden am Bodensee und speziell in Konstanz aufgenommen. Mit Entfesselung des Zweitens Welt‐ kriegs, vor allem mit dem Bombenkrieg, war es notwendig geworden, Kinder und Jugendliche aus „luftkriegsgefährdeten Gebieten“ in ländliche Räume zu verbringen. Die NSV Kreisamtsleitung informierte Bürgermeister Mager über die „erweiterte Kinderlandverschickung“: Für den Kreis Konstanz „kommen nur noch Verschickungen von Müttern mit Kindern und Einzelkindern aus dem Gau Westfalen-Süd in Frage (Bochum, Dortmund, Gelsenkirchen usw.“. 186 Für Konstanz waren 40 Kindern angekündigt. Bald schon sollten ganze Schulklassen folgen. Im Zentrum der Evakuierungen aus dem südlichen Westfalen standen schließlich rund 750 Mittel- und Oberschüler aus Dortmund und 260 Schüler aus Witten. Nicht wenige unter Ihnen, wie etwa der fünfzehnjährige Günter P. und der gleichaltrige Friedrich P. wurden Ende 1943 als Luftwaffenhelfer in ihren westfälischen Heimatstädten herangezogen. 187 Konstanz selbst wuchs in der zweiten Kriegshälfte enorm: von 39000 Ein‐ wohner im Oktober 1943 auf 43500 im Oktober 1944 auf rund 50000 an Weihnachten 1945. 188 Der immense Bevölkerungszuwachs ist insbesondere auf die Evakuierten und die Lazarette zurückzuführen. 92 Jürgen Klöckler <?page no="93"?> 189 Victor Huvalé, 1983, S.-16 f. zitiert nach M Ü L L E R (wie Anm. 3), S.-57. 190 Denkschrift des Jugendamts [vom September 1937]; StadtA Konstanz S XII Nr.-145. Jugendamt und Nationalsozialismus Es bleibt festzuhalten, dass das Jugendamt nach 1933 mit Nationalsozialisten von „oben“ wie „unten“ neu ausgerichtet worden ist. Das Jugendamt war in dieser Hinsicht das einzige Amt der Stadt Konstanz, das so derart mit „alten Kämpfern“ der NSDAP durchsetzt wurde. Somit kann man schon davon sprechen, dass das Jugendamt sich personell dem Nationalsozialismus geöffnet hat oder besser: sich öffnen mußte. Diese Öffnung umfasste auch eine baldige positive Zusammenarbeit mit NSV, HJ und BDM. Victor Huvalé, ein guter Kenner der NS-Jugendpolitik, kam 1983 in diesem Zusammenhang zu folgendem Ergebnis: Überlebt hat das Jugendamt als selbständige Organisationseinheit des Reichsjugend‐ wohlfahrtgesetzes aber wohl nur dank der Tatsache, daß das ‚Tausendjährige Reich‘ schon nach 12 Jahren zugrunde gegangen ist. 189 Charakteristisch hierfür ist die Selbstdefinition der Aufgaben des Konstanzer Ju‐ gendamt vom September 1938. Schwerpunkte der Arbeit seien die Jugendwohl‐ fahrt und die Jugendpflege: „Der nationalsozialistische Staat hat sich gerade dieses Aufgabengebiet besonders vorgenommen, um eine charakterstarke, den Staat bejahende Jugend zu erziehen. Diese Erziehungsaufgabe obliegt der H.J., in der die gesamte deutsche Jugend zusammengefasst ist“ 190 - und eben nicht dem Jugendamt, das hingegen für den Schutz der Pflegekinder, die Mitwirkung im Vormundschaftswesen, für die Unterstützung hilfsbedürftiger Minderjäh‐ riger, den Schutzaufsicht, die Fürsorgeerziehung und die Jugendgerichtshilfe zuständig sei. Der NS-Staat hatte sich tief in die Aufgaben der kommunalen Verwaltung hineingefressen. Das Fürsorge- und Jugendamt unter französischer Besatzung Der Einmarsch von Teilen der Ersten Französischen Armee unter General Jean de Lattre de Tassigny erfolgte am 26. April 1945 kampf- und weitgehend blutlos. Jetzt richtete sich die Besatzungsmacht in Konstanz ein. Die eigentliche Militärregierung folgte den Kampftruppen nach einigen Tagen. Es bestand bis Sommer 1945 ein Dualismus zwischen der Militärverwaltung und der eigentlichen Militärregierung. Erst ab Spätsommer war der Konflikt zugunsten der Militärregierung entschieden. Die Besatzungsmacht griff jetzt verstärkt in Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 93 <?page no="94"?> alle Felder der Kommunalpolitik ein. Insbesondere die Erziehung der Jugend im demokratischen Sinn trieb sie entschieden voran. Französische Kampftruppen am 26. April 1945 auf der Marktstätte (StadtA Konstanz NL Nägele) Bekanntlich haben die siegreichen Alliierten für das besetzte Deutschland vier wesentliche Ziele postuliert: Denazifizierung, Dezentralisierung, Demilitarisie‐ rung und Demokratisierung - die vier „Ds“. Im Bereich der Jugendarbeit kam insbesondere das Ziel der Demokratisierung zum Tragen: demokratische Struk‐ turen sollten installiert, der Nationalsozialismus restlos zerschlagen werden. Dieser demokratische Aufbau konnte nur durch eine aktive Jugendpolitik gewährleistet werden, welche die NS-Erziehung restlos austilgen sollte. Frank‐ reich hatte dazu klare Vorstellungen, welche der Leiter der Jugend- und Sport‐ behörde im besetzten (Süd-)Baden zusammenfasste. Jacques Deshayes hielt nämlich 1948 vor der Pariser Handelshochschule HEC einen entsprechenden Vortrag, der Jahrzehnte später ins Deutsche übersetzt wurde: Die deutsche Jugend umzuerziehen und auf den Weg der Demokratie zu führen, bedeutet im wesentlichen, die Untugenden und Verirrungen der Hitlerjugend zu korrigieren und die Mängel und Fehler zu beheben, die einer Ausbildung durch sie anhafteten. Die Hitlerjugend stellte als Staatsjugend den einzigen totalitären 94 Jürgen Klöckler <?page no="95"?> 191 D E S H A Y E S , Jacques: Zur demokratischen Erneuerung der deutschen Jugendbewegung. Wird die deutsche Jugend zur Demokratie taugen? , in: Jérôme Vaillant (Hg.): Französi‐ sche Kulturpolitik in Deutschland 1945-1949. Berichte und Dokumente, Konstanz 1984, S. 187-195, hier S. 191. Der Vortrag wurde 1948 unter dem Titel „Le problème de la jeunesse allemande“ gehalten. 192 D A R G E L , Eveline: „Die Jugend in ihrem Werden unterstützen“. Geschichte und Ent‐ wicklung der Jugendarbeit in Konstanz während der Nachkriegszeit (1945-1963). Rahmenbedingungen - Verantwortliche - Angebote - Zielgruppen, Konstanz Diss.phil. 2009, S.-340. Zwangsverband dar, dem sich die jungen Deutschen nicht entziehen konnten. Man muß also eine andere Konzeption der Jugendbewegungen unterbreiten. 191 Wie sahen diese Konzepte speziell für Konstanz aus und welche Rolle spielte das Fürsorge- und Jugendamt? Eveline Dargel kommt in ihrer Dissertation zur französischen Jugendpolitik in Konstanz zu dem Schluss: Erstens war das Angebotsspektrum sowohl im Bereich der Jugendverbandsarbeit als auch im kommunalen Bereich außerordentlich reichhaltig. Zweitens entstanden hier die kommunalen Jugendeinrichtungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Landesvergleich äußerst frühzeitig. Drittens bestand in der Frühzeit der Besatzung zwischen 1946 und 1947 eine intensive organisatorische und personelle Verflechtung mit dem Landkreis. Dieser Befund fügt sich einerseits in die überregionalen Verläufe ein, weist aber andererseits im Vergleich zu anderen Regionen einige signifikante lokalspezifische Besonderheiten im Hinblick auf zeitliche Verläufe oder auf die Ge‐ schichte einzelner kommunaler Jugendeinrichtungen auf. Einen Grund für die Vielfalt und den raschen Aufbau der örtlichen Jugendarbeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs bildete die Tatsache, dass hier die Ausgangslage für den Aufbau der Jugendarbeit vergleichsweise günstig war. Befördernd wirkten insbesondere das Vorhandensein einer unzerstörten Bausubstanz und Infrastruktur nach 1945, die Kleinräumlichkeit des Stadtkreises bis 1953. Das Beispiel Konstanz belegt zudem eindrucksvoll, dass theoretische Konzeptionen und strukturbedingte Gegebenheiten für sich betrachtet nicht ausreichten, wenn Jugendeinrichtungen und -projekte in der Praxis Bestand haben sollten. Stets prägten zudem einzelne Personen die örtliche Jugendarbeit maßgeblich. 192 Einer dieser Personen war der Amtsleiter Ludwig Eberhard. Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 95 <?page no="96"?> 193 Vgl. den Artikel: „Fünfzig Jahre im öffentlichen Dienst. Sozialamtsdirektor Ludwig Eberhard feiert ein seltenes Arbeitsjubiläum“, in: Südkurier - Ausgabe K- vom 8. Oktober 1970. Jugendamtsleiter Ludwig Eberhard (zweiter von rechts) mit Oberbürgermeister Bruno Helmle (zweiter von links) im Lager Egg, um 1960 (StadtA Konstanz Z1.623) Trotz seiner während des Zweiten Weltkrieges getätigten Aussage, die Stadtver‐ waltung zu verlassen, sollte Ludwig Eberhard nämlich noch eine lange Karriere in der Konstanzer Verwaltung bevorstehen, darüber mehr im Beitrag von Jürgen Treude in diesem Band. 1970 konnte der Leiter des Sozial- und Jugendamts auf 50 Jahre im öffentlichen Dienst zurückblicken. 193 Bürgermeister Weilhard gratulierte Anfang Oktober 1970 dem Jubilar zu dem sehr seltenen Jubiläum. Der Südkurier berichtete: Weilhard würdigte die auf tieferen Fachkenntnissen beruhende Leistung, mit welcher Direktor Eberhard die Sozial- und Jugendarbeit in Konstanz in vorbildlicher Weise geprägt habe. Dieses Wirken zum Wohle seiner Mitmenschen ist beispielhaft. Da der Jubilar zur Zeit erkrankt ist, verband Bürgermeister Weilhard die Gratulation mit seinen besten Wünschen für eine baldige Genesung. 96 Jürgen Klöckler <?page no="97"?> 194 Todesanzeige im Südkurier - Ausgabe K - vom 9. November 1970. Vgl. zudem seine Personalakte StadtA Konstanz S XII Nr.-900. 195 Schreiben von Knapp an Wöhrle vom 14. November 1945; StaatsA Freiburg A 96/ 1 Nr.-4575. 196 Vgl. das Schreiben von Oberbürgermeister Schneider an die Militärregierung vom 11. Juli 1945; StadtA Konstanz S XII Nr.-301. 197 Schreiben von Oberbürgermeister Schneider an das Stadtrentamt vom 20. Juni 1945; StadtA Konstanz S XII Nr.-302. Kurz darauf - es war der 7. November 1970 - verstarb Ludwig Eberhard 64-jährig. 194 Die Entnazifizierung des Fürsorge- und Jugendamts Im Sommer 1945 wurden insbesondere die 1933 im Fürsorge- und Jugendamt untergebrachten „alten Kämpfer“ der NSDAP entlassen: Ernst Hagenauer, Albert Herre, Eugen Mayer, Karl Schäfer und Karl Schilling. Zudem war die Suspendierung weitere sechs Beamter angedacht. Stadtrechtsrat Knapp gab dem neuen Landeskommissär Marcel Nordmann (1890-1948) im Herbst 1945 die Folgen zu bedenken: Das bedeutet, dass der Betrieb des Fürsorge- und Jugendamts in wichtigen Zweigen stillgelegt werden muß. […] Ich bitte nun, beim Militär-Gouvernement zu erwirken, daß die Wegnahme der erwähnten Beamten und Angestellten nicht sofort erfolgen muß, sondern nach und nach, wie es gelingt, geeignete Ersatzkräfte aus den Reihen der sonstigen städt[ischen] Beamten und Angestellten zu finden. 195 Die belasteten Mitarbeiter wurden somit nach und nach ausgetauscht. Fürsorge für politisch Verfolgte Im Juli 1945 befanden sich 84 ehemalige KZ-Häftlinge in Konstanz. 196 Für deren Betreuung war das Fürsorge- und Jugendamt zuständig. Der „Beschlie‐ ßende Ausschuss“, ein formal von der Besatzungsmacht nach den Stärken der Parten vor 1933 zusammengesetztes stadträtliches Organ, hatte wenige Wochen zuvor entschieden, dass ehemalige KZ-Häftlinge „nach vorheriger Prüfung ihres Antrags unentgeltliche ärztliche Versorgung und Behandlung im Städt. Krankenhaus und eine Zuwendung aus der Stadtkasse von je 500 RM“ erhalten sollten. 197 Zudem wurde diese in der Regel vollkommen mittellosen Menschen mit Wohnraum und Mobiliar versorgt, freilich auf dem in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr niedrigen Niveau. So erhielt etwa der Verfolgte Camill S. Anfang Oktober 1945 vom Fürsorgeamt „1 Küchenschrank, 3 Stühle, 1 Küchentisch, 1 Kleiderschrank und 2 komplette Betten“ unter der Auflage, die Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 97 <?page no="98"?> 198 Fürsorgeamt an den Oberbürgermeister vom 2. Oktober 1945; StadtA Konstanz S XII Nr.-301. 199 Vermerk von Rechtsrat Knapp vom 25. März 1946; StadtA KN S XII Nr.-302. 200 Liste „Zahl der Unterstützten nach Staatsangehörigkeit am 24. Oktober 1945“; StadtA Konstanz S XII Nr.-12. 201 Schreiben von Oberbürgermeister Arnold an Landeskommissär Nordmann vom 13. Dezember 1945; StadtA Konstanz S XII Nr.-12. beiden Betten nach Erhalt von in Stockach bestellten neuen Betten zurückzu‐ geben. 198 Zwischenzeitlich war eine Betreuungsaußenstelle für die Opfer des Nationalsozialismus in der Stadt eingerichtet worden. Deren Vertreter erklärten im März 1946 gegenüber Stadtrechtsrat Knapp: sämtliche KZ.-Fälle würden von der Landesstelle [in Freiburg], also nicht von der Außenstelle, geprüft, und nur diejenigen würden anerkannt werden, die als in Frage kommend und würdig erkannt werden. Den sogen. Paß würden nur diejenigen erhalten, die einwandfrei als politisch Verfolgte gelten können, nämlich Leute, die ausschließlich wegen politischer Delikte mindestens 6 Monate Freiheitsstrafe erlitten hätten; nicht in Frage kämen selbstverständlich die kriminellen KZ.-Insassen, aber auch nicht jene Personen, die wegen Fahnenflucht oder Zersetzung der Wehrmacht eine Strafe erlitten hätten. 199 Des Weiteren war das Amt mit der „Fürsorge für Ausländer und Staatenlose“ beauftragt. So wurden Ende Oktober 1945 386 Polen, 40 Staatenlose, 25 Ru‐ mänen, 23 Jugoslawen, 15 Italiener, 16 Tschechen, 11 Ungarn, vier Argentinier, neun Esten, zwölf Litauer, zwei Schweizer, drei Palästinenser, zwei Spanier, ein Ukrainer, ein Norweger, drei Russen, zwei Chinesen, zwei Afghanen, eine Finnin, ein Däne, zwei Iraner, ein Engländer und zwei Amerikaner unterstützt, 200 zusammen 625 Menschen bei geschätzt 50.000 Einwohnern. Diese Zahl verrin‐ gert sich jedoch sehr schnell auf 555 am 10. November und 396 Personen am 7. Dezember 1945. 201 Der Besatzungsmacht war sehr bemüht, diese Menschen schnellstmöglich zu repatriieren, denn die allgemeine Versorgungslage war schlecht und gestaltete sich bald schon dramatisch. Im Februar 1946 sank die Zahl der zugeteilten Kalorien für die deutsche Bevölkerung auf deutlich unter 1000. Zudem mussten die Besatzungstruppen und die Militärregierung samt Familien aus dem Land ernährt werden. Der Fürsorgebeirat und die Vertriebenen Das Fürsorge- und Jugendamt war auch mit der Integration der ostdeutschen Vertriebenen und Flüchtlinge betraut, von denen viele im ehemaligen Wehrer‐ 98 Jürgen Klöckler <?page no="99"?> 202 Zu den Zahlen: J O R D A N / S E N G L I N G (wie Anm. 9), S.-56. 203 „Böser“ Begleiter des Nikolaus in Schwaben und Franken. 204 Protokoll der Sitzung des Fürsorgebeirats vom 1. Dezember 1959; StadtA Konstanz S XII Nr.-17. 205 Schreiben vom 4. April 1951; StadtA Konstanz S XII Nr.-54. tüchtigungslager Egg auf engstem Raum untergebracht waren. Die Probleme in den drei westlichen Besatzungszonen waren mit Blick auf die Jugend groß: über 2 Millionen Kinder und Jugendliche waren aus der Heimat vertrieben und lebten nun in Lagern. 1,6 Millionen Kinder und Jugendliche hatten Vater oder Mutter oder gar beiden Elternteile verloren. 600000 jugendliche Arbeitslose und nicht versorgte Lehrstellenanwärter wurden gezählt. 202 Diese Verhältnisse auf nationalem Rahmen der späteren Bundesrepublik Deutschland spiegelten sich entsprechend auf der lokalen Ebene, auch in der größten Stadt am Bodensee. Dort fand am 1. Dezember 1950 eine Sitzung des Fürsorgebeirats unter Leitung von Amtsleiter Eberhard, der auch das Protokoll zeichnete. Es wurde eine Weihnachtsfeier für die Vertriebenen im Lager Egg ins Auge gefasst. Folgendes war am 24. Dezember 1950 geplant: Die Feier soll um 4 Uhr beginnen und in ihrem offiziellen Teil etwa 2 Stunden dauern. Im Mittelpunkt soll eine Ansprache von Bürgermeister Schneider stehen, die umrahmt sein soll von Musikvorträgen eines Orchesters der evang. Jugendbewegung und von Chorvorträgen, sowie einem kurzen Krippenspiel der kath. Jugendbewegung. Neben gemeinsamen Liedern sollen auch kleinere Gedichte von Kindern des Flüchtlingsla‐ gers zum Vortrag kommen. Nach dem den Schluss bildenden Krippenspiel soll durch das Lied ‚O du fröhliche‘ in den aufgelockerten Teil der Weihnachtsfeier übergeleitet werden. Es soll dann Nikolaus mit Knecht Rupprecht oder der Pelzmärte 203 kommen und Gaben an die einzelnen Familien verteilen. Die Lagerinsassen können dann noch weiterfeiern und eigene Vorträge zum Besten geben, oder sich in ihre Baracken begeben. 204 Überhaupt war die Flüchtlingsfrage, die durch eine restriktive Politik der fran‐ zösischen Besatzungsmacht zumindest bis 1948 geprägt war, ab 1949 die größte Herausforderung für das Fürsorge- und Jugendamt. So fasste Oberbürgermeister Knapp für das badische Innenministerium die Lage zu Beginn der 1950er Jahren zusammen: Kein Arbeitsbereich des Amtes macht gegenwärtig mehr Schwierigkeiten als gerade das Kreisamt für Umsiedlung. Insbesondere ist die Frage der Unterbringung einkom‐ mender Flüchtlinge und Heimatvertriebener eine der schwierigsten des gesamten Dienstbetriebes. 205 Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 99 <?page no="100"?> 206 Protokoll des Jugendausschusses für den Stadtkreis Konstanz vom 19. September 1946; zitiert nach D A R G E L (wie Anm. 192), S.-130. 207 Vgl. dazu D A R G E L (wie Anm. 192), S.-131 f. 208 Südkurier - Ausgabe K - vom 4. Oktober 1946. Diese Problematik war vielleicht ein Mitgrund, weshalb die Stadt 1953 den Status eines Stadtkreises zugunsten einer Eingliederung in den Landkreis Konstanz aufgab. Der Stadtjugendausschuss 1946-1950 Die Kollegialbehörde Fürsorge- und Jugendamt war nach 1933 - wie gesehen - autoritär nach dem „Führerprinzip“ ausgerichtet worden. Nun, nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Entwicklung wieder rückgängig gemacht und stattdessen Jugendwohlfahrtsausschüsse eingerichtet. Zu den Aufgaben dieses nach dem Zweiten Weltkrieg in Konstanz neueingerichteten Stadtjugen‐ dausschusses erklärte der Jugendbeauftragte Karl Sigrist im September 1946: Der Jugendausschuss betrachtet sich als Organ der Konstanzer Jugend, vorläufig und vorübergehend ist er auch mit Aufgaben des gesamten Landkreises Konstanz beauftragt. Seine Hauptaufgabe wird es sein, über die notwendigen organisatorischen und bürokratischen Zuständigkeitsfragen hinweg, der Jugend unmittelbar gegenüber zu treten und sie von Mensch zu Mensch anzusprechen. 206 Folglich koordinierte der im Herbst 1946 ins Leben gerufene Jugendausschuss sämtliche Jugendaktivitäten. Er war für den Aufbau der behördlichen Jugend‐ pflege, die Förderung der Jugendorganisationen und des Jugendsports zuständig und zwar in enger Kooperation mit Schulen, Sportvereinen, Kirchen und Ju‐ gendämtern. 207 Der Stadtjugendausschuss war bis Herbst 1947 für den gesamten Landkreis zuständig. Das Gremium setze sich im Mai 1947 aus folgenden Personen zusammen: Oberbürgermeister Knapp als Vorsitzender, der kommis‐ sarische Landrat Astfäller als dessen Stellvertreter, der Kreisjugendbeauftragte Karl Sigrist, zugleich Vorsitzender der Freien Jugend, sowie aus Vertretern des Stadtjugendamts, des Gesundheitsamts, der (kirchlichen) Jugendorganisationen und dem Jugendoffizier Marot der Besatzungsmacht. Ziele und Aufgaben des Ausschusses wurden im Rahmen eines „offenen Ausspracheabends“ erläutert, wo jungen Menschen „das freie Wort“ erteilt wurde. 208 Nach zwölf Jahren Diktatur wurde erstmals versucht, mit der Jugend in ein offenes Gespräch zu kommen. Frei und deutlich sollte die Jugend sprechen. Das entsprach dem Wunsch der französischen Besatzungsmacht, die Deutschen zur Demokratie hinzuführen. 100 Jürgen Klöckler <?page no="101"?> 209 Rudolf Kutscha wurde in Duisburg geboren und verbrachte seine Schulzeit in Zürich und Konstanz; 1926 kaufmännische Lehre in Kreuzlingen, 1939 Verlust der schweizeri‐ schen Arbeitsbewilligung, 1940-45 Wehrdienst und sowjetische Kriegsgefangenschaft, Ende 1945 Rückkehr nach Konstanz, AOK Kassenführer, Stadtjugendpfleger in Kon‐ stanz, 1956 Leitung des Jugend- und Volksbildungswerks in Singen; vgl. D A R G E L (wie Anm. 192) S. 140 Anm. 557 sowie den Artikel „Anerkennung für verdienten Jubilar. Rudolf Kutscha opferte seine Freizeit für das Jugend- und Volksbildungswerk“, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 12. April 1972. 210 Vgl. dazu weiter: Dargel (wie Anm. 192), S.-137. 211 S T A R K , Barbara: Die Konstanzer Kunstwochen 1946 - eine Brücke in die Welt, in: Städtische Wesssenberg-Galerie Konstanz (Hg.): Konturen neuer Kunst. Konstanzer Kunstwochen 1946, Konstanz 1996, S.-23-26. 212 Schreiben des Bezirksdelegierten an Oberbürgermeister Arnold vom 29. April 1946; StadtA Konstanz S II Nr.-15146. Der Stadtjugendausschuss bestand von Oktober 1946 bis zu seiner Auflösung Mitte des Jahres 1950; in diesem Zeitraum wurden 20 Sitzungen abgehalten. Laut Tagesordnungen wurden alle relevanten Fragen, welche die freie und behörd‐ liche Jugendarbeit betrafen, beraten. Zu den Dauerthemen zählte der Betrieb des „Heimes der deutschen Jugend“ sowie die Durchführung des Jugendwerks. Wichtig war die Besetzung der Stelle eines Stadtjugendpflegers ab Oktober 1947 mit Rudolf Kutscha 209 . Im französisch besetzen (Süd-)Baden war eine klare Tendenz auszumachen. Die Jugendausschüsse, welche bislang ausschließlich die lokale Jugendarbeit tragen sollten, wurde zugunsten kommunaler Stellen, sprich dem Jugendamt, verdrängt und schließlich aufgelöst. In den Ämtern sollte zukünftig die Jugend‐ pflege verankert sein. 210 Kommunale Einrichtungen der Jugendpflege: „Haus der deutschen Jugend“ Die erste Jugendeinrichtung unter kommunaler Aufsicht in der Nachkriegszeit war das Jugendhaus. Zuerst war es in dem an den Rheintorturm angebauten Gebäude untergebracht, wo es als „Haus der deutschen Jugend“ firmierte. Seine Eröffnung erfolgte an Pfingsten 1946 im Rahmen der „Konstanzer Kunst‐ wochen“ 211 . Die Initiative war vom Bezirksdelegierten Marcel Degliame ausge‐ gangen, der darin einen Beitrag zur Erziehung der Jugend zur Demokratie sah. Auf ihn ging auch die Anweisung zurück, am Rheintorturm auf der gesamten Breite ein 1,5 Meter hohes Schild mit der Aufschrift „Heim der deutschen Jugend“ anbringen zu lassen. 212 Zwischenzeitlich war auch eine entsprechende Regelung wurde durch die badische Regierung in Freiburg verfügt worden: „Die Gründung und Unterhal‐ Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 101 <?page no="102"?> 213 Amtsblatt der Landesverwaltung Nr.-20 vom 24. Mai 1947. 214 Diese städtische Dienststelle lieferte im Februar 1947 zwei große Tische, sieben kleine Rundtische, 40 Stühle, zwei Bücherregale, ein verschließbarer Schrank, drei eiserne Garderobenständer und zwei Öfen mit Rohren; Schreiben der Zentral-Requisitionsstelle an Oberbürgermeister Knapp vom 17. Februar 1947; StadtA Konstanz S II Nr.-15146. 215 D A R G E L (wie Anm. 192), S.-149. tung der Einrichtungen für die Jugendbildung (‚Häuser der Jugend‘) ist, soweit ein Bedürfnis besteht, Pflichtaufgabe der Gemeinde und Kreise, denen die dadurch erwachsenden Kosten zur Last fallen.“ 213 Das Konstanzer Jugendhaus entwickelte sich - nach anfänglichen Problemen und ausgestattet mit Mobiliar der Zentral-Requisitionsstelle 214 - bald „zum Zentrum der örtlichen Jugendbe‐ wegung und Jugendpflege“ 215 . Ein Bedeutungszuwachs erfuhr da Haus durch die im Herbst 1947 erfolgte Gründung des Stadtjugendbildungswerks. Zwei Zielgruppen nutzten das Haus. Einmal Mitglieder organisierter Jugendgruppen, zum anderen junge Menschen, die nicht organsiert waren. Der Rheintorturm mit Anbau, in dem 1945 das „Haus der Jugend eingerichtet wurde, Zustand um 1930 (StadtA Konstanz Z1 wolf H5-7757) 102 Jürgen Klöckler <?page no="103"?> Der große Saal im Anbau des Rheintorturms, 1945 als Haus der Jugend genutzt (StadtA Konstanz Z1 wolf H5-7758) Die Räumlichkeiten beim Rheintorturm waren sehr beengt und bescheiden. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach der Währungsreform sah die Stadt Konstanz daher die Möglichkeit, das Jugendhaus zu verlegen. Es fand ab 1949 eine Bleibe im ehemaligen Gasthaus „Rheinperle“ am Beginn der Mainaustraße. Dies war möglich, weil die statische Abteilung der Militärregierung aufgelöst worden war und das Gebäude freigemacht hatte. Da sich das Gebäude in Privatbesitz befand und der Mietvertrag lediglich bis 1954 lief, war es freilich keine Dauerlösung für das Jugendhaus. Neue Perspektiven ergaben sich dann ab Mitte der 1950er Jahren mit dem Bau des Jugendhauses Raiteberg. Dessen Geschichte kann in dem Beitrag von Mandy Krüger in diesem Band nachgelesen werden. Weimarer Republik, NS-Staat und Neuausrichtung nach 1945 103 <?page no="104"?> Neubau des Kinderheims Haus Nazareth in der Säntisstraße 4, um 1965 (StadtA Konstanz Z1.pk.15-0620) <?page no="105"?> 1 Für die jeweiligen Bundesgesetze werden im Folgenden die Bezeichnungen RJWG, JWG, SGB VIII verwendet. 2 Für die Landesausführungsgesetze werden im Folgenden die Bezeichnungen LJWG und LKJHG verwendet. 3 1990 hatten neben Konstanz noch die Städte Offenburg, Lahr, Rastatt, Villingen- Schwenningen, Singen und Weinheim eigenständige Jugendämter. Siehe Gesetzent‐ Das Stadtjugendamt Konstanz Eigenständigkeit und Entwicklung der Jugendhilfe seit den 1950er Jahren Jürgen Treude Die 100-jährige Geschichte des Stadtjugendamtes Konstanz ist nicht nur eine Geschichte der Jugendhilfe-politischen, fachlichen und organisatorischen Ent‐ wicklung seit 1925, sondern auch die Geschichte der Auseinandersetzung um die Eigenständigkeit als städtische Institution und örtlicher Träger der Jugendhilfe und die damit verbundenen Kostenzuständigkeiten. Mit der Aufarbeitung und Betrachtung der besonderen baden-württember‐ gischen Konstruktion des Stadtjugendamtes soll das Auseinanderfallen von Ausgabenentscheidung und Kostentragung eingeordnet werden. Sämtliche Fassungen der jeweiligen Bundesgesetze (Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, Ju‐ gendwohlfahrtsgesetz, SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe) 1 und Landesausfüh‐ rungsgesetze (Landesjugendwohlfahrtsgesetz, Kinder- und Jugendhilfegesetz für Baden-Württemberg) 2 verfolgen konsequent das Prinzip der Alleinzustän‐ digkeit des örtlichen Trägers der Jugendhilfe in fachlichen und organisatori‐ schen Fragen und den daraus resultierenden Ausgaben, unabhängig davon, in welchen Haushalten (Stadt Konstanz bzw. Landratsamt Konstanz) veranschlagt wird. Die heutige Gesetzeslage wird sich vermutlich nicht mehr grundlegend ändern, zumal die Stadt Konstanz mittlerweile die einzige Stadt in Baden- Württemberg ist, die als kreisangehörige Stadt über ein eigenes Jugendamt verfügt. 3 Grundlage der Kooperation zwischen Stadtjugendamt und Landkreis‐ <?page no="106"?> wurf der Landesregierung zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, Landtag von Baden-Württemberg 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 4221 vom 24. Ok‐ tober 1990, S.-21. 4 Satzung über die Durchführung der Sozialhilfe im Landkreis Konstanz vom 1. Januar 1964, StadtA Konstanz S XII/ 1504. 5 Gesetzentwurf der Landesregierung zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfege‐ setzes, Landtag von Baden-Württemberg 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 4221 vom 24. Oktober 1990, S.-21. 6 J O R D A N , Erwin/ M Ü N D E R , Johannes (Hg.): 65 Jahre (Reichs) Jugendwohlfahrtsgesetz -Ausgangssituationen und Entwicklungen in: 65 Jahre Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, Münster 1987, S.-19. verwaltung sollte also bleiben, bei der Auseinandersetzung um die Ausgaben der Jugendhilfe die Entwicklung der jeweiligen besonderen Strukturen der Stadt und des Landkreises zu berücksichtigen. Zwar war bis auf wenige Unterbrechungen die Leitung des Stadtjugendamtes immer auch in Personalunion Leitung des Sozialamtes, die unterschiedlichen rechtlichen Konstruktionen legen es aber nahe, die Geschichte des Stadtju‐ gendamtes unabhängig von der des Sozialamtes aufzuarbeiten. Das städtische Sozialamt ist bis heute kein örtlicher Träger der Sozialhilfe, es handelt sich vielmehr um eine sogenannte Aufgabenübertragung des Landkreises mit der Befugnis der Erteilung von Weisungen allgemeiner Art und im Einzelfall. 4 Das Stadtjugendamt Konstanz ist demgegenüber örtlicher Träger der öffent‐ lichen Jugendhilfe mit allen dazu gehörenden Rechten und Pflichten, weder gibt es eine Weisungsbefugnis des Landkreises noch eine Restzuständigkeit, die beim Landkreis verbliebe. 5 Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und die Errichtung des Stadtjugendamtes Konstanz Das RJWG vom 9. Juli 1922 stellte nach Erwin Jordan 6 einen ersten Ansatz zu einer umfassenden Jugendhilfegesetzgebung dar, dessen entscheidende Aus‐ gangspunkte der Anspruch eines jeden Kindes auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit, die Zusammenfassung von Ju‐ gendpflege und Jugendfürsorge unter dem Oberbegriff Jugendhilfe, die Konzen‐ tration der öffentlichen Jugendhilfe im örtlichen Jugendamt, das von sämtlichen Stadt- und Landkreisen eingerichtet werden sollte und die Regelung des Ver‐ hältnisses öffentlicher und freier Jugendhilfe waren. Blieben die Bestimmungen zur Jugendpflege noch relativ unbestimmt, wurden die jugendfürsorgerischen Bereiche sehr detailliert geregelt. 106 Jürgen Treude <?page no="107"?> 7 W I E S N E R , Reinhard: Vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) zum Kinder- und Ju‐ gendstärkungsgesetz (KJSG): Rechtsgeschichte unter dem Paradigma der Partizipation, in: 100 Jahre Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und Reichsjugendgerichtsgesetz. Hg. von Hilmar Hofmann und Eva Matthes, Göttingen 2024, S.-17. 8 Ebd., S.-14 ff. 9 M Ü N D E R , Johannes: 65 Jahre und kein bisschen weiter? in: Jordan/ Münder (wie Anm. 6), S.-7. 10 S A C Hẞ E , Christoph: Die Erziehung und ihre Recht - Vergesellschaftung und Verrecht‐ lichung von Erziehung in Deutschland 1870 - 1990, Weinheim/ Basel 1918, S.-56. 11 Vorlage Nr. 53/ 1924 an den Bürgerausschuss am 3. Februar 1925, StadtA Konstanz S XII 439. Zwar hatte das RJWG in § 1 das Recht des Kindes auf Erziehung vorange‐ stellt, „konnte aber seine Herkunft aus dem Polizei- und Ordnungsrecht nicht verleugnen“ 7 und war inhaltlich noch als Gesetz zur Abwehr von Gefahren, die von jungen Menschen oder ihren Eltern ausgehen, konzipiert, also die kompensatorische staatliche Erziehung von Kindern und Jugendlichen anstelle der Erziehung durch die Eltern, und konzentrierte sich im Übrigen auf die Einrichtung von Jugendämtern, eine Verpflichtung, die alsbald wieder außer Kraft gesetzt worden ist. 8 Diese Sichtweise wird auch in der Formulierung der gesetzlichen Aufgaben deutlich: Schutz der Pflegekinder, Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung. Das RJWG, einerseits als „Jahrhundertwerk“ und „Kind der reformpädago‐ gischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, andererseits als „Kompromiss widerstreitender Mächte“, sollte zum 1. April 1924 in Kraft treten, wurde aber durch die „Verordnung über das Inkrafttreten des RJWG“ im Kontext der Wirtschaftskrise faktisch in großen Teilen außer Kraft gesetzt. Jugendämter mussten nicht zwingend errichtet werden, zur Durchführung der Jugendpflegeaufgaben gem. §-4 RJWG bestand keine Verpflichtung. 9 Christoph Sachße formuliert in seinem Buch „Die Erziehung und ihr Recht“, dass das RJWG trotz aller Defizite eine bedeutende Pionierleistung bleibe. Mit dem Erlass des RJWG fand eine erste Phase der Vergesellschaftung von Erziehung in Deutschland, eine Phase der Institutionalisierung und Verrechtlichung öffentlicher Erziehung ihren Abschluss. 10 Vor diesem Hintergrund ist zu betrachten, dass das Land Baden „unterm 31. März 1924 Ausführungsbestimmungen zum RJWG erlassen hat“ 11 , die die Be‐ zirksfürsorgeverbände, also auch die Stadt Konstanz, verpflichten, Jugendämter zu errichten. Dem kommt die Stadt Konstanz durch seinen damaligen Oberbür‐ germeister Dr. Otto Moericke (Oberbürgermeister von 1919 bis 1933, von den Das Stadtjugendamt Konstanz 107 <?page no="108"?> Nationalsozialisten abgesetzt), mit Stadtratsbeschluss vom 11. Dezember 1924 im Bürgerausschuss am 3. Februar 1925 nach und beschließt neben der „Satzung des Bezirksfürsorgeverbandes Konstanz-Stadt über Fürsorgewesen“ auch die „Satzung der Stadt Konstanz über Jugendwohlfahrtspflege“. Somit verfügt die Stadt Konstanz ab dem 1. Januar 1925 über ein selbständiges Jugendamt als „Organ der öffentlichen Jugendhilfe“ (§ 2 RJWG). Einladung von Oberbürgermeister Moericke zur Sitzung des Bürgerausschusses am 3. Februar 1925 zur Verabschiedung der „Satzung der Stadt Konstanz über Jugendwohl‐ fahrtspflege“ (StadtA Konstanz S XII 439) 108 Jürgen Treude <?page no="109"?> Das Stadtjugendamt Konstanz 109 <?page no="110"?> 110 Jürgen Treude <?page no="111"?> Satzung der Stadt Konstanz über Jugendwohlfahrtpflege vom 1. Januar 1925 (StadtA Konstanz S XII 439.) Das Stadtjugendamt Konstanz 111 <?page no="112"?> Die Satzung regelt u. a., dass zukünftig die Aufgaben des § 3 RJWG zwingend und die Aufgaben des § 4 RJWG insoweit zu übernehmen sind, „als ihm hierzu das nö‐ 112 Jürgen Treude <?page no="113"?> 12 Ebd. 13 Ebd. tige Personal zur Verfügung steht“. 12 Darüber hinaus übernimmt das Jugendamt gem. § 1 der Satzung die Verwaltung über das städtische Säuglingsheim und die Aufsicht über die von ihm in Kinderheime eingewiesenen Kinder, zu diesem Zeitpunkt die Heime Nazareth und Freudental. Letztlich werden dem Jugendamt auch die Aufgaben der Fürsorge für hilfebedürftige Minderjährige übertragen, um so zu verhindern, dass sich zwei Stellen, nämlich der Fürsorgeausschuss und das Jugendamt, „mit den Angelegenheiten der gleichen Personen befassen und die einheitliche Behandlung gefährden.“ 13 Gebäude des Fürsorge- und Jugendamtes in der Bruderturmgasse 3 um 1926/ 27 (StadtA Konstanz Z1.wolfH 12/ 771) Das Stadtjugendamt Konstanz 113 <?page no="114"?> 14 Ebd. Fresco des Heiligen St. Martin beim Teilen seines Mantels am Gebäude des Fürsorge- und Jugendamtes (StadtA Konstanz Z1.wolfH 33/ 3300) Nach der badischen Ausführungsverordnung zur Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht vom 29. März 1924 wird die Kostenverteilung neu geregelt. Die Armenfürsorge bleibt wie bisher bei den Bezirksfürsorgeverbänden, also den Städten, die Fürsorgelast aus den anderen Fürsorgeaufgaben, wie z. B. aus der Fürsorge für hilfsbedürftige Minderjährige, geht zu zwei Dritteln der Kosten auf die Städte über, ein Drittel trägt das Land Baden. Den gesamten Verwaltungs‐ aufwand, also die Personal- und Sachkosten, trägt die Stadt Konstanz. 14 Da die Entwicklung des Stadtjugendamtes Konstanz im Rahmen des RJWG sowohl in der Weimarer Republik als auch im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit bis zur ersten Nachkriegsnovelle vom 28. August 1953 von Jürgen Klöckler in diesem Band ausführlich behandelt wird, konzentriere ich mich im Folgenden auf die weitere Entwicklung ab diesem Zeitpunkt. 114 Jürgen Treude <?page no="115"?> 15 Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, Bundesgesetzblatt Teil I vom 29. August 1953, S.-1035 f. 16 M Ü N D E R , Johannes: Das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922, „in Kraft getreten“ 1953, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 1990, 38 (1), zitiert nach W I E S N E R (wie Anm. 7), S . -19. 17 Diese Besonderheit hat bis zum heutigen Tag Gültigkeit, siehe die aktuelle Satzung des Stadtjugendamtes Konstanz vom 21. Dezember 2022, veröffentlicht am 22. Dezember 2022 auf der Homepage der Stadt Konstanz (Ortsrecht). 18 Insgesamt gab es 1971 in der Bundesrepublik Deutschland 643 örtliche Jugendämter, davon in kreisangehörigen Städten 101. In Baden-Württemberg gab es 81 örtliche Jugendämter, davon in kreisangehörigen Städten 9. Siehe Dritter Jugendbericht 1972, Drucksache VI/ 3170 vom 23.Februar 1972, Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode, S.-38. 19 Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt, 3. Landtag von Baden-Württemberg, Verzeichnis der Drucksachen, Beilage 2501 vom 24. Oktober 1962, S.-4769. Die Änderungen des RJWG vom 28. August 1953 15 und seine Auswirkungen auf das Stadtjugendamt Konstanz Die entscheidende Änderung gegenüber der ursprünglichen Fassung des RJWG vom 9. Juli 1922 in der Fassung der Änderung des Reichsgesetzes für Jugendwohl‐ fahrt vom 1. Februar 1939 war, dass die Einschränkungen der Notverordnung vom 14. Februar 1924 (teilweise) wieder aufgehoben wurden. Damit wurde die ursprüngliche Intention des RJWG, Jugendfürsorge und Jugendpflege als gleich‐ wertige Aufgaben des Jugendamtes zu konzipieren, wiederhergestellt, sodass „zum Teil von einem Inkrafttreten des RJWG von 1922 im Jahr 1953 gesprochen wurde“. 16 Das Jugendamt besteht nun aus der Verwaltung des Jugendamtes und dem Jugendwohlfahrtsausschuss, dessen Zusammensetzung neu geregelt wird. Der Ju‐ gendwohlfahrtsausschuss ist gem. § 9 b Änderungsgesetz zum RJWG beschließender Ausschuss im Rahmen der von der Vertretungskörperschaft bereitgestellten Mittel. 17 Neu geregelt wird in § 8 die Frage, ob zukünftig auch kreisangehörige Gemeinden Jugendämter errichten können. 18 Bisher war eine solche Regelung nicht erforderlich, da §-8 RJWG festgelegt hatte, dass „Jugendämter als Einrichtungen von Gemeinden oder Gemeindeverbänden für das Gebiet des Deutschen Reichs zu errichten sind“. Diese Änderung ist insofern für die Stadt Konstanz von Bedeutung, da nun die oberste Landesbehörde entscheiden kann, ob und in welchen kreisangehörigen Gemeinden Jugendämter zugelassen werden können. Das dazu erforderliche Lan‐ desgesetz zur Regelung der Organisation der Jugendämter und deren Kostenzu‐ ständigkeiten wurde allerdings bis 1963 „zurückgestellt, weil nach dem Beschluss des Landtages (26. Januar 1956) im Zuge der für das ganze Land angestrebten Verwaltungsreform auch die Fragen der Jugendwohlfahrt neu durchdacht und einheitlich geregelt werden sollten“ 19 , so z. B. auch die nicht unwesentliche Frage der Bildung von zwei Landeswohlfahrtsverbänden. Das Stadtjugendamt Konstanz 115 <?page no="116"?> 20 Schreiben der Kreisverwaltung Konstanz vom 17. Juni 1950 an den Oberbürgermeister Knapp der Stadt Konstanz, StadtA Konstanz S IIa 6680. 21 Vermerk der Stadt Konstanz für Oberbürgermeister Knapp vom 10. Oktober 1949, StadtA Konstanz S IIa 6680. 22 Schreiben der Kreisverwaltung Konstanz vom 17. Juni 1950 an den Oberbürgermeister Knapp der Stadt Konstanz, StadtA Konstanz S IIa 6680. 23 Schreiben des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 17. April 1953 an die Bürger‐ meister der Städte Freiburg, Konstanz und Baden-Baden, StadtA Konstanz S IIa 60. Die Übergangszeit von 1953 bis zur Verabschiedung des JWG im Jahr 1961 und LJWG im Jahr 1963 und seine Konsequenzen für die Stadt Konstanz In den Jahren 1949 und 1950 tauchte im Zusammenhang mit der Haushaltssat‐ zung des Landkreises Konstanz zum erstem Mal die Frage auf, wie die Verord‐ nung des Hohen französischen Kommissars in Deutschland vom 11. September 1949 Nr. 232 über Aufhebung verschiedener Vorschriften 20 für die Frage auszulegen ist, ob die Zugehörigkeit des Stadtkreises Konstanz zum Landkreis Konstanz in dem von der Landkreisselbstverwaltung und vom Ministerium des Innern vertretenen finanziellen Umfang bestehen bleibt oder ob die Auffassung der Stadtkreise Südbadens über die völlige Trennung der Stadt- und Landkreise mit Ausnahme der Kosten für die Kreisversammlung zu verwirklichen ist. 21 Während der Kreisausschuss der Meinung war, dass der Haushaltsplan ohne die Einbeziehung der Stadt Konstanz nur für den Landkreis aufzustellen sei, vertrat das Badische Ministerium des Innern die Auffassung, die Stadt Konstanz sei in die Haushaltsplanung einzubeziehen, „bis das Land Baden eine neue gesetzliche Regelung getroffen habe“. 22 Der entsprechende „Gesetzentwurf eines Gesetzes zur Ergänzung der badi‐ schen Landkreisordnung“ wurde vom Innenministerium Baden-Württemberg mit Schreiben vom 17. April 1953 versandt und änderte das Gesetz über die Landkreisverwaltung in Baden (Landkreisordnung) vom 24. Juni 1939 in § 3 so, dass nur noch die Stadt Freiburg Stadtkreis bleibt. Die Städte Konstanz und Baden-Baden sollten kreisangehörig werden. 23 Diskussionen in verschiedenen Gremien des Landes Baden-Württemberg führten dann zu einem geänderten „Gesetz zur vorläufigen Angleichung des Kommunalrechts vom 13. Juli 1953“, das nun in „Kapitel III - Ergänzung der Badischen Landkreisordnung“ den § 3 so fasste, dass sowohl die Stadt Freiburg als auch die Städte Konstanz und Baden-Baden Stadtkreise blieben: § 3 Abs. 1 Stadtkreise sind die Städte Freiburg, Konstanz und Baden-Baden. 116 Jürgen Treude <?page no="117"?> Bestimmung der Stadt Konstanz zum Stadtkreis durch die Ergänzung der Badischen Landkreisordnung (StadtA Konstanz S IIa 60) Das Stadtjugendamt Konstanz 117 <?page no="118"?> 24 Gesetzblatt für Baden-Württemberg vom 24. Juli 1953, S. 101, StadtA Konstanz S IIa 60. 25 Verordnung der vorläufigen Regierung Baden-Württemberg vom 12.Oktober 1953 über die Aufnahme der Stadt Konstanz in den Landkreis Konstanz, StadtA Konstanz S IIa 6680. In § 3 Abs. 3 wurde geregelt, dass die beiden Städte Konstanz und Baden- Baden bis zum 31. August 1953 einen Antrag stellen können, in ihren jeweiligen Landkreis aufgenommen zu werden. 24 Beide Städte hatten also eine gesetzlich garantierte echte Wahlmöglichkeit. Während Baden-Baden kreisfreie Stadt blieb, trat die Stadt Konstanz dem Landkreis zum 1. Oktober 1953 bei. 25 Der Beitritt der Stadt Konstanz zum Landkreis Konstanz In öffentlicher Stadtratssitzung vom 26. Juni 1953 ließ Oberbürgermeister Franz Knapp darüber abstimmen, ob die Stadt Konstanz kreisfrei bleiben oder zukünftig kreisangehörige Stadt des Landkreises Konstanz sein solle. OB Franz Knapp 1957 in seinem Dienstzimmer (StadtA Konstanz Z1.altA5161i -1) 118 Jürgen Treude <?page no="119"?> 26 Hermann Schneider, geb. am 7. Dezember 1896 in Konstanz, Soldat in beiden Welt‐ kriegen, trat 1945 in den Verwaltungsdienst der Stadt Konstanz ein und war von 1946 bis 1962 Bürgermeister der Stadt Konstanz, zunächst als Ehrenamtlicher I. Bei‐ geordneter und seit 1948 als hauptamtlicher Bürgermeister. Aus tiefer christlicher Verwurzelung (Mitglied der Ev. Bekennenden Kirche in Konstanz) hatte er das NS- Regime abgelehnt. Von 1946 bis 1947 war Hermann Schneider Mitglied der Beratenden Landesversammlung des Landes Baden, von 1947 bis 1952 Abgeordneter des Badischen Landtages (BCSV/ CDU) und von 1952 bis 1960 Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung (CDU) (1952 bis 1953) sowie von 1953 bis 1960 Abgeordneter des baden-württembergischen Landtages. 1957 unterlag er bei der Wahl zum Oberbürger‐ meister der Stadt Konstanz Bruno Helmle deutlich. 1949 und 1959 war er Mitglied der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählte; vgl. dazu: Kitzing, Michael: Schneider, Georg Hermann, in: Baden-Württembergische Biographien. Hg. von Fred Ludwig Sepaintner, Band VI, Stuttgart 2016, S.-440-443. 27 Niederschrift über die öffentliche Stadtratssitzung von 26. Juni 1953, StadtA Konstanz B I Gemeinderatsprotokolle 1953. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Schreiben vom 22. Juni 1953 von Bürgermeister Schneider an Oberbürgermeister Knapp, StadtA Konstanz S IIa 60. Bürgermeister Hermann Schneider 26 berichtete insbesondere über ein ausführ‐ liches Gespräch mit Ministerialrat Mayer-König vom Innenministerium Baden- Württemberg, in dem er sich „Aufschluss über die Stellung der kreisunmittel‐ baren Stadt in der künftigen Verfassung von Baden-Württemberg erbat.“ 27 Er habe erfahren, dass Konstanz kreisfrei bleiben könne, wolle dies aber aus folgenden Gründen nicht empfehlen: Bleibe die Stadt kreisfrei, spare sie künftig den Beitrag von 200.000 DM an den Landkreis. Demgegenüber hätten die kreis‐ unmittelbaren Städte aber voraussichtlich in der künftigen Verfassung weitaus mehr Zuständigkeiten als die bisherigen Stadtkreise und darüber hinaus sollten eine ganze Reihe Zuständigkeiten des Landratsamtes den kreisunmittelbaren Städten übertragen werden. Auch würden für die 52 übertragenen Aufgaben die anfallenden Gebühren ersetzt, beim Landratsamt verblieben noch 19 Aufgaben. 28 Der Stadtrat beschloss auf Vorschlag des Oberbürgermeisters Franz Knapp, „künftig auf den Stadtkreis zu verzichten und sich mit den im Regierungsent‐ wurf enthaltenen Vorschlägen, kreisunmittelbar zu werden, einverstanden zu erklären.“ 29 Zur Vorbereitung der Stadtratssitzung verfasste Bürgermeister Schneider einen ausführlichen Vermerk an Oberbürgermeister Knapp über sein Gespräch mit Ministerialrat Mayer-König. 30 In diesem Gespräch spielte auch die Frage eine Rolle, ob im Falle der Entscheidung für eine kreisfreie Stadt der Sitz des Landratsamtes dennoch in Konstanz verbleiben könne. Mayer-König vertrat die Auffassung, dass dies wohl nicht zu halten sei, zumal die Stadt Singen Das Stadtjugendamt Konstanz 119 <?page no="120"?> 31 Ebd. 32 Ebd. schon mehrfach Vorstellungen erhoben habe, das Landratsamt nach Singen zu verlagern. „Wenn aber Konstanz selbst sich außerhalb des Kreises stelle, könne der Anspruch Singens wohl nicht mehr abgewehrt werden.“ 31 Er empfehle, „nicht den echten Stadtkreis zu erstreben, sondern sich für die Kreisunmittel‐ barkeit zu entscheiden.“ 32 Ob das Argument des Sitzes des Landratsamtes in der Stadtratssitzung vom 26. Juni 1953 eine Rolle gespielt hat, ist im Protokoll nicht verzeichnet. Es ist aber anzunehmen, dass ein für die Stadt Konstanz so wichtiger Standortfaktor zumindest nichtöffentlich in die Entscheidung eingeflossen ist. Bürgermeister Hermann Schneider (links) 1955 im Gespräch mit dem aus den USA angereisten Ehrenbürger William Graf (StadtA Konstanz Z1.423) In der öffentlichen Stadtratssitzung am 20. August 1953 wurde über die neue Gesetzeslage und die damit vorhandene Wahlmöglichkeit informiert und fol‐ gender Beschluss gefasst: Nachdem sich der Stadtrat schon in der Sitzung vom 26. Juni 1953 für den Verzicht auf die Eigenschaft als Stadtkreis und die Einreihung in den Landkreis als kreisunmittel‐ bare Stadt ausgesprochen hat, beschließt der Stadtrat ohne weitere Aussprache, dass 120 Jürgen Treude <?page no="121"?> 33 Niederschrift über die öffentliche Stadtratssitzung von 20. August 1953, StadtA Kon‐ stanz B I Gemeinderatsprotokolle 1953. 34 Verordnung der vorläufigen Regierung Baden-Württemberg vom 12. Oktober 1953 über die Aufnahme der Stadt Konstanz in den Landkreis Konstanz, StadtA Konstanz S IIa 6680. 35 Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, Bundes‐ gesetzblatt Teil I vom 29. August 1953, S.-1035. bei der Landesregierung ein Antrag auf Aufnahme in den Landkreis Konstanz gestellt wird, vorbehaltlich bestimmter Verwaltungsbehörden-Rechte. 33 Da der Antrag bis zum 31. August 1953 gestellt sein musste, übermittelte Oberbür‐ germeister Knapp den Stadtratsbeschluss am 29. August 1953 dem Innenministe‐ rium, die entsprechende Verordnung trat zum 1. Oktober 1953 in Kraft. 34 Für die Entscheidung hat offensichtlich keine Rolle gespielt, welche Auswir‐ kungen der Status „kreisfreie Stadt“ für das Stadtjugendamt Konstanz hätte. Dies vermutlich deshalb, weil das Landesausführungsgesetz zum RJWG - wie oben beschrieben - zurückgestellt wurde und noch nicht absehbar war, welche rechtlichen, strukturellen, organisatorischen und finanziellen Vorbzw. Nachteile für die eine oder andere Konstruktion zu erwarten waren. Zu diesem Zeitpunkt offensichtlich unklar war auch, welche tatsächlichen Unterschiede sich in den Zuständigkeiten zwischen der „alten“ und „neuen“ Kreisfreiheit gesetzlich durchsetzen würden. Die Diskussionen um den Erhalt der Eigenständigkeit der kreisangehörigen Jugendämter nach Verabschiedung der RJWG Novelle von 1953 Zwar hatte das „Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohl‐ fahrtsgesetzes“ vom 28. August 1953 in § 8 geregelt, dass auch kreisangehörige Gemeinden selbständige Jugendämter errichten können, dies aber in die Ent‐ scheidungsgewalt der obersten Landesbehörden gelegt. 35 Konstanz war davon insofern betroffen, als die Stadt zum 1. Oktober 1953 dem Landkreis beigetreten war und nun nicht mehr - bundesgesetzlich geregelt - auch für die Zukunft über ein Jugendamt verfügen würde. Zusätzlich zu örtlichen Aktivitäten wurde vor allem in zwei Gremien, einer‐ seits dem Wohlfahrtsausschuss der südbadischen Städte Freiburg, Konstanz, Baden-Baden, Singen (Hohentwiel), Offenburg, Villingen, Rastatt, Lahr, Lörrach, andererseits dem Städteverband Baden-Württemberg, wiederholt darüber dis‐ kutiert, dass unbedingt gewährleistet werden müsse, die bisherigen kreisange‐ hörigen Städte mit eigenem Jugendamt auch zukünftig als örtliche Träger der Jugendhilfe zu erhalten. Das Stadtjugendamt Konstanz 121 <?page no="122"?> Südwestdeutsche Rundschau vom 14. April 1955 zum Thema „Fürsorge ist ursprünglichste kommunale Verpflichtung“ 122 Jürgen Treude <?page no="123"?> 36 Schreiben des Wohlfahrtsausschusses der südbadischen Städte vom 2. Juli 1955 an das Regierungspräsidium Freiburg, StadtA Konstanz S XII 1050. Die örtlichen Aktivitäten gingen überwiegend von den Städten Konstanz und Singen aus, insbesondere von den Konstanzer Oberbürgermeistern Franz Knapp (Oberbürgermeister von 1946 bis 1957) und dessen Nachfolger Bruno Helmle (Oberbürgermeister von 1959 bis 1980) und dem Singener Oberbürgermeister Theopont Diez (Oberbürgermeister der Stadt Singen von 1946 bis 1969 und Landtagsabgeordneter des Landtages Baden-Württemberg von 1952 bis 1972). Einer der aktivsten und engagiertesten Akteure der kreisangehörigen Städte war der Leiter des Stadtjugendamtes Konstanz Ludwig Eberhard, von 1934 bis 1970 bei der Stadt Konstanz beschäftigt (zu dessen Biografie vgl. den Beitrag von Jürgen Klöckler in diesem Band). Am 17. Mai 1955 befasste sich der Wohl‐ fahrtsausschuss der südbadischen Städte umfassend mit der rechtlichen Stellung der Jugendämter der sog. verbandsfreien Städte und bat in einem Schreiben an das Regierungspräsidium Freiburg um den Erhalt der Jugendämter der südbadischen Städte Freiburg, Konstanz, Baden-Baden, Singen (Hohentwiel), Offenburg, Villingen, Rastatt, Lahr und Lörrach. 36 In der Begründung wird vor allem auf die geschichtliche Entwicklung, die Unterschiede von städtischen und ländlichen Strukturen, die Notwendigkeit ehrenamtlichen Engagements, das Ineinandergreifen von Jugendfürsorge und Jugendpflege und nicht zuletzt die finanziellen Auswirkungen eingegangen. In einem Artikel der „Südwestdeutschen Rundschau“ vom 15. Juli 1955 (siehe nachfolgende Seite) setzt sich die Zeitung mit der Frage der Eigenständigkeit von Jugendämtern kreisangehöriger Städte als „außerordentlich bedeutsame Frage“ auseinander und kommt zum Ergebnis, dass aufgrund der unterschiedlichen städtischen und ländlichen Strukturen „gerade am Bodensee“ in den bisherigen Aufbau der Jugendämter nicht eingegriffen werden sollte. „Es wäre geradezu absurd, wenn der Kreisrat, der überwiegend aus den Bürgermeistern der kleinen Gemeinden besteht, über derartige, vom städtischen Leben beeinflusste Pro‐ bleme, entscheiden würde.“ Das Stadtjugendamt Konstanz 123 <?page no="124"?> Südwestdeutsche Rundschau vom 15. Juli 1955 zum Thema „Eigenständigkeit der kreis‐ angehörigen Jugendämter“ Geschichtliche Entwicklung Wie bereits beschrieben, hatte das Land Baden in Ausführungsbestimmungen zum RJWG vom 31. März 1924 geregelt, dass die Bezirksfürsorgeverbände verpflichtet sind, Jugendämter zu errichten. Da die Stadt Konstanz selbständiger Fürsorgeverband war, hatte sie ein Jugendamt zu errichten. Gleichzeitig wurde 124 Jürgen Treude <?page no="125"?> 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, Bundes‐ gesetzblatt Teil I vom 29. August 1953, S.-1035. 41 Schreiben des Wohlfahrtsausschusses der südbadischen Städte vom 2. Juli 1955 an das Regierungspräsidium Freiburg, StadtA Konstanz S XII 1050. bestimmt, dass auch in allen übrigen Städten bereits gebildete Jugendämter bestehen bleiben. 37 Trotz der engen Zusammenarbeit mit den Bezirksfürsorgeverbänden und einer Personalunion des Leiters des Fürsorgeamtes und des Jugendamtes in einige Städten „brachte es schon die völlig andersartige Tätigkeit der Jugend‐ ämter mit sich, dass sie ihre eigene Selbständigkeit behielten.“ 38 Aufgrund dieser Entwicklung war aus Sicht des Wohlfahrtsausschusses die Novelle vom 28. August 1953 zum RJWG so zu interpretieren, dass die bisherigen Strukturen möglichst beibehalten werden sollten. Es wäre daher der Jugendsache wenig gedient, wenn nunmehr in diesen organischen Aufbau künstlich eingegriffen und die Jugendämter in das Gefüge des Landkreises eingebaut würden. 39 Da eine solche Entwicklung der Sichtweise des Gesetzgebers entsprochen habe, solle das Land von der Möglichkeit in § 8 des „Änderungsgesetzes von Vorschriften des RJWG“ vom 28. August 1953 40 Gebrauch machen, selbständige Jugendämter auch in den kreisangehörigen Städten zu errichten „und den derzeitigen Zustand in Baden unverändert beibehalten.“ 41 Strukturelle Unterschiede Die Unterschiedes zwischen ländlichen und städtischen Strukturen dürften nicht außer Acht gelassen werden, so z. B., dass Aktivitäten in ländlichen Strukturen erforderlich seien, die in den Städten entbehrlich seien, weil hier an‐ dere Einrichtungen eingeschaltet werden könnten. Was andererseits in Städten sinnvoll sei, müsse nicht unbedingt auch auf kleinere Gemeinden zutreffen. Es dürfe auch nicht verkannt werden, dass viele Städte auf dem Gebiet der Jugendhilfe auf eine zwei bis drei Jahrhunderte andauernde Tradition von Wohlfahrtspflege zurückblicken könnten, aus der heraus sich z. B. Stiftungen und Einrichtungen entwickelt hätten, die sich zum Wohl der Einwohnerinnen und Einwohner der Städte betätigt hätten. So verfüge die Stadt Konstanz z. B. Das Stadtjugendamt Konstanz 125 <?page no="126"?> 42 Siehe auch: F O E G E , Lisa: Von der Rettungsanstalt für Mädchen zum Sozialzentrum Schwedenschanze: Die Wessenberg’sche Vermächtnisstiftung“. Festschrift anlässlich des 150. Todestages von Ignaz Heinrich von Wessenberg, Konstanz 2010. 43 Schreiben des Wohlfahrtsausschusses der südbadischen Städte vom 2. Juli 1955 an das Regierungspräsidium Freiburg, StadtA Konstanz S XII 1050. 44 Ebd. 45 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohlfahrts‐ gesetzes, Deutscher Bundestag 1. Wahlperiode 1949, Drucksache Nr. 3641 vom 22. Juli 1952, Anlage 1, S.-5. StadtA Konstanz S XII 1465. 46 Schreiben des Wohlfahrtsausschusses der südbadischen Städte vom 2. Juli 1955 an das Regierungspräsidium Freiburg, StadtA Konstanz S XII 1050. über die „Spitalstiftung“ und die „Wessenberg’sche Erziehungsanstalt“ 42 ; bereits „um die Mitte des 16. Jahrhunderts seien die Betreuung von Waisenkindern und Armen urkundlich nachgewiesen, 1830 sei der erste Kindergarten ent‐ standen.“ 43 Resümierend sei festzuhalten, dass eine Lähmung solcher Initiativen zu befürchten sei, „wollte man das vielfältige Leben, die vielen wertvollen Sondereinrichtungen nun eingliedern in eine Kreiseinheit.“ 44 Ehrenamtliches Engagement Da das Jugendamt aus der Verwaltung und dem Jugendwohlfahrtsausschuss bestehe, könne diese Konstruktion eine gute Grundlage sein, möglichst viel ehrenamtliche Arbeit um das Jugendamt herum organisieren zu können. Im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohl‐ fahrtsgesetzes vom 22. Juli 1952 heißt es dazu, es gehe darum, gerade im Jugendamt eine echte Demokratie zu verwirklichen, und den Bürgern, die durch freie Mitarbeit am Gemeinwohl Gemeinsinn bewiesen haben, Mitverant‐ wortung zu übertragen. Dadurch wird am besten vermieden, dass sich nur eine repräsentative Demokratie entwickelt. 45 Diesen Grundgedanken greift die Stellungnahme der südbadischen Städte auf und verweist auf das Ziel, ein lebendiges Jugendamt zu errichten, dessen Kräfte nicht allein die Bediensteten des Amtes sind, sondern es seien die vielen freiwilligen Helfer und Helferinnen, die Beiräte in dem Jugendwohlfahrts‐ ausschuss usw. wie sie besonders in den Städten aus der Verantwortung dieser Menschen zur Gemeinschaft heraus, zu allen Zeiten zur Verfügung standen. 46 Im Ergebnis besteht also die Einschätzung, dass nur eine möglichst große Nähe zur Gemeinde die Potentiale ehrenamtlichen Engagements voll ausschöpfen könne. 126 Jürgen Treude <?page no="127"?> 47 Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, Bundes‐ gesetzblatt Teil I vom 29. August 1953, S.-1035 f. 48 Schreiben des Wohlfahrtsausschusses der südbadischen Städte vom 2. Juli 1955 an das Regierungspräsidium Freiburg, StadtA Konstanz S XII 1050. 49 Ebd. Das Ineinandergreifen von Jugendfürsorge und Jugendpflege Wie bereits ausgeführt, war die entscheidende Änderung des RJWG vom 28. August 1953, dass die Einschränkungen der Notverordnung vom 14. Februar 1924 wieder aufgehoben wurden. 47 Damit wurde die ursprüngliche Intention des RJWG, Jugendfürsorge und Jugendpflege als gleichwertige Aufgaben des Jugendamtes zu konzipieren, wiederhergestellt. Sollte die Selbständigkeit städtischer Jugendämter aufgegeben werden, würden die beiden Bereiche „Jugendfürsorge“ und „Jugendpflege“ wieder aus‐ einanderfallen und die eher präventiven, jugendpflegerischen Aufgaben mehr oder weniger ausschließlich von den kreisangehörigen Gemeinden ausgeführt. Die notwenige Kooperation zwischen beiden Aufgabenbereichen würde zwi‐ schen zwei unterschiedlichen Behörden erfolgen, nicht aber innerhalb eines Jugendamtes bzw. einer Gemeinde. 48 Finanzielle Auswirkungen Zu den finanziellen Auswirkungen äußern sich die südbadischen Städte nur sehr allgemein und gehen davon aus, dass durch die Eingliederung der Jugendämter in die Kreisverwaltung wohl keine Ersparnisse zu erzielen seien. „Wenn aber keine verwaltungsmäßigen Einsparungen erzielt werden können und auch keine Erleichterung für das Publikum, sei nicht einzusehen, warum man be‐ währte Systeme so wesentlich ändern soll.“ 49 Mit der Bitte um Unterstützung der Position der südbadischen Städte wurde die Stellungnahme auch an die Landtagsabgeordneten Bürgermeister Schneider (Konstanz), Oberbürgermeister Diez (Singen/ Hohentwiel) und Ober‐ bürgermeister Braye (Lörrach) versandt. Die Diskussion um den Erhalt der Eigenständigkeit der kreisangehörigen Jugendämter im Vorfeld der Verabschiedung eines Landesjugendwohlfahrtsgesetzes Nachdem der Städteverband Baden-Württemberg bereits mit Schreiben vom 17. Januar 1962 an das Innenministerium darauf hingewiesen hatte, dass aus Das Stadtjugendamt Konstanz 127 <?page no="128"?> 50 Schreiben vom 17. Januar 1962 des Städteverbandes Baden-Württemberg an das Innenministerium Baden-Württemberg, StadtA Konstanz S XII 2366. 51 Schreiben vom 2. Mai 1962 des Städteverbandes Baden-Württemberg an das Innenmi‐ nisterium Baden-Württemberg, StadtA Konstanz S XII 1465. 52 Ebd. 53 Schreiben des Regierungspräsidiums Südbaden vom 17. Oktober 1962 an Oberbürger‐ meister Helmle, StadtA Konstanz S XII 2366. 54 Schreiben vom 2. Mai 1962 des Städteverbandes Baden-Württemberg an das Innenmi‐ nisterium Baden-Württemberg, StadtA Konstanz S XII 1465. 55 Niederschrift über die Sitzung des Jugendwohlfahrtsausschusses vom 8. Juni 1962, StadtA Konstanz S XII 2366. seiner Sicht der gegenwärtige Rechtszustand der Jugendämter der kreisange‐ hörigen Städte auch ohne erneute Entscheidung der obersten Landesbehörde beibehalten werden könne und nur eine Klarstellung in der Gesetzesbegründung sinnvoll sei 50 , wies der Städteverband in einem weiteren Schreiben auf eine spezielle Problematik des geplanten „Entwurfs eines Landesgesetzes zur Aus‐ führung des Gesetzes zur Jugendwohlfahrt“ hin, die nur die kreisangehörigen Gemeinden betreffe und unbedingt gesetzlich gelöst werden müsse. 51 Da die kreisangehörigen Städte zwar örtlicher Träger der öffentlichen Ju‐ gendhilfe seien, nicht aber auch gleichzeitig Sozialhilfeträger wie die Stadtkreise und Landkreise, müssten ihnen die „Aufwendungen für die sog. Minderjähri‐ genfürsorge, insbesondere aber die Aufwendungen für die Gewährung des notwendigen Lebensunterhalts“ von den Landkreisen ersetzt werden, so wie es vor Inkrafttreten des JWG und des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) schon der Fall war. 52 Demgegenüber vertrat das Innenministerium zwar auch die Auffassung, dass den kreisangehörigen Jugendämtern „der entstehende Aufwand vom Landkreis in angemessenem Umfang ausgeglichen werden solle“ 53 , dies könne aber, wie schon in früheren Besprechungen vertreten, auch durch örtliche Vereinbarungen zwischen der jeweiligen Stadt und dem Landkreis geregelt werden, eine gesetzliche Vorschrift werde für entbehrlich gehalten. Der Städte‐ verband widersprach dieser Auffassung mit der Begründung, dass es sich „bei der vorliegenden Frage um ein für die badischen Großen Kreisstädte äußerst wichtiges finanzielles Problem handle, von dessen Lösung die Beibehaltung der bei ihnen eingerichteten Jugendämter abhängig ist.“ 54 Nachdem sich der Konstanzer Jugendwohlfahrtsausschuss am 8. Juni 1962 mit dieser Problematik befasst und beschlossen hatte, den Gemeinderat um Unter‐ stützung zu bitten 55 , wandte sich der Oberbürgermeister Helmle mit Schreiben vom 7. August 1962 an die Landtagsabgeordneten Viellieber (Konstanz), Vogt (Pfullendorf) und Lorenz (Maulburg, Kreis Lörrach), den Regierungspräsidenten 128 Jürgen Treude <?page no="129"?> 56 Schreiben des Oberbürgermeisters Helmle vom 7. August 1962, StadtA Konstanz S XII 2366. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd. Anton Dichtel in Freiburg und den Landtagspräsidenten Gurk und erläuterte die seit Errichtung des Stadtjugendamtes Konstanz zum 1. Januar 1925 geänderte Rechtslage und spezielle Situation der kreisangehörigen Städte und bat um Unterstützung bei der Verabschiedung des Landesausführungsgesetzes zum Erhalt ihrer eigenständigen Jugendämter. 56 Er teile die Auffassung des Städteverbandes, durch landesgesetzliche Bestimmungen festzulegen, dass die Landkreise den großen Kreisstädten die Aufwendungen zu ersetzen haben, die diesen aus der Erfüllung der Aufgaben nach dem JWG entstehen und zwar in dem Umfange, wie der Landkreis für die übrigen kreisangehörigen Gemeinden diese Aufgaben wahrnimmt. 57 Dies sei erforderlich, da die großen Kreisstädte über die Kreisumlage auch an den Jugendhilfekosten des Landkreises beteiligt seien, also durch ihre eigenen Aufwendungen und die des Landkreises „doppelt belastet.“ 58 Vom Stadtjugendamt Konstanz müssten beispielsweise für den Verwaltungs‐ aufwand, allgemeine Jugendhilfemaßnahmen (ohne städtische Einrichtungen) und den Aufwand für die Erziehungshilfen insgesamt 426.500 DM aufgebracht werden. Hinzugerechnet werden müsste noch der Drittel-Anteil an der Kreis‐ umlage für die entsprechenden Aufwendungen des Landkreises in Höhe von 138.650 DM. Insgesamt hätte also die Stadt Konstanz jährlich 565.150 DM aufzubringen, für eine Stadt mit 55.000 Einwohnern eine hohe Summe. 59 Es stelle sich also die Frage, ob eine Zusammenlegung von Stadtjugendamt und Kreisjugendamt sinnvoll wäre und zu Kosteneinsparungen führen könne. Selbst wenn aber Einsparungen möglich wären, müsste gegen eine Zusammen‐ legung ins Feld geführt werden, dass die Aufgaben der Jugendhilfe in Stadt und Landkreis verschieden sind, insbesondere bei den jugendpflegerischen Aufgaben. Es gilt aber auch für die unmittelbare Betreuungsarbeit im Bereich der Erziehungshilfen und der Vormundschaftsaufgaben des Jugendamtes. 60 Solange nicht die möglichen finanziellen Mehrbelastungen gesetzlich verhin‐ dert würden, sei zu befürchten, Das Stadtjugendamt Konstanz 129 <?page no="130"?> 61 Ebd. 62 Schreiben des Regierungspräsidiums Freiburg vom 27. August 1962 an das Innenminis‐ terium, StadtA Konstanz S XII 2366. 63 Schreiben des Landtagspräsidenten von Baden-Württemberg Gurk an Oberbürger‐ meister Helmle vom 7. September 1962, StadtA Konstanz S XII 2366. 64 Schreiben des Staatsministeriums an Oberbürgermeister Helmle vom 21. September 1962, StadtA Konstanz S XII 2366. 65 Schreiben der Landtagsfraktion der CDU an Oberbürgermeister Helmle vom 2. Oktober 1962, StadtA Konstanz S XII 2366. 66 Schreiben des Innenministeriums vom 2. Oktober 1962 an Oberbürgermeister Helmle, StadtA Konstanz S XII 2366. 67 Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt, Verzeichnis der Drucksachen, 3. Landtag von Baden-Württemberg, Beilage 2501 vom 24. Oktober 1962, S.-4763-4777. 68 Städteverband Baden-Württemberg vom 6. November 1962, StadtA Konstanz S XII 2366. 69 Ebd. dass die verantwortlichen Gremien der Städte zur Vermeidung der untragbaren finanziellen Doppelbelastung von sich aus zu einer Auflösung der nunmehr seit 40 Jahren bestehenden Jugendämter kommen. An einem solchen Ergebnis kann aber eine jugendfreundliche Landesregierung kein Interesse haben. 61 Unterstützt wird diese Auffassung ausdrücklich vom Regierungspräsidium Freiburg 62 und im Grundsatz vom Präsidenten des Landtags von Baden-Würt‐ temberg 63 , dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg 64 und der Frak‐ tion der CDU im Landtag von Baden-Württemberg 65 . Allerdings plädierte das Innenministerium nach wie vor ausdrücklich gegen eine gesetzliche Änderung und für eine Empfehlung von Landkreis- und Städtetag. Solche Empfehlungen könnten „in geeigneter Weise den unterschiedlichen Verhältnissen Rechnung tragen“ 66 , was eine gesetzliche Regelung nicht könne. Mit Schreiben vom 6. November 1962 informierte der Städteverband Baden- Württemberg über den mittlerweile vorliegenden Gesetzentwurf zur Ausfüh‐ rung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (Landesjugendwohlfahrtsgesetz) 67 und konnte den kreisangehörigen Gemeinden, also auch der Stadt Konstanz, mit‐ teilen, dass „die Jugendämter bei den Großen Kreisstädten ihre Arbeit auch unter dem neuen Gesetz fortführen könnten.“ 68 Darüber hinaus sei in dem Regierungs‐ entwurf sichergestellt, „dass die Jugendämter zwar den Verwaltungsaufwand für ihre Arbeit (wie schon bisher) zu tragen haben, dass sie aber darüber hinaus nicht noch mit Aufwendungen für die Hilfen in Einzelfällen belastet werden.“ 69 Die oben beschriebenen Aktivitäten hatten also zu einem wichtigen Teilerfolg geführt: erstattet werden sämtliche Kosten für Hilfen in Einzelfällen und vor allem gibt es gegenüber der bisherigen Situation keine Schlechterstellung. 130 Jürgen Treude <?page no="131"?> 70 Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt, Verzeichnis der Drucksachen 3. Landtag von Baden-Württemberg, Beilage 2501 vom 24. Oktober 1962, S.-4763-4777. 71 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Reichsjugendwohlfahrtsge‐ setzes, Deutscher Bundestag 3. Wahlperiode, Drucksache 2226 vom 14. November 1960, S.-13. 72 Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), Deutscher Bundestag Drucksache 11/ 5948 vom 1. Dezember 1989, S.-41. 73 W I E S N E R (wie Anm. 7) S.-20 f. Das Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) vom 11. August 1961 und der Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt 1962 (Landesjugendwohlfahrtsgesetz) 70 Mit dem JWG sollte der „Umfang der Verpflichtung der staatlichen Gemein‐ schaft, der Jugend und den Eltern im Rahmen des sozialen Neuaufbaus die notwendigen Hilfen zu gewähren, gesetzlich neu festgelegt werden.“ 71 Aller‐ dings blieb das JWG immer noch den eher polizei- und ordnungsrechtlichen Sichtweisen des RJWG verhaftet 72 und sah u. a. folgende Schwerpunkte 73 vor: Die Jugendämter sollten verpflichtet werden, Hilfen zur Erziehung dem jeweiligen Bedarf entsprechend rechtzeitig und ausreichend zu gewähren. Mit der Einführung der Freiwilligen Erziehungshilfe sollte die Fürsorgeer‐ ziehung um eine leistungsrechtliche Variante ergänzt werden. Gleichzeitig entstand damit aber die Schwierigkeit, Hilfen auf der örtlichen Ebene von denen auf der überörtlichen Ebene abzugrenzen. Weitere Schwerpunkte waren die Einführung der Heimaufsicht und die Einführung einer regelmäßigen Jugendberichterstattung. Das JWG lässt den örtlichen Jugendämtern aber einen relativ großen Spielraum bei der Entwick‐ lung neuer Hilfen gemäß §§ 5,6 JWG auch über die Hilfeformen der Fürsorge‐ erziehung in einem Heim oder einer geeigneten Familie gemäß § 64 JWG, der freiwillige Erziehungshilfe in einem Heim oder einer geeigneten Familie gemäß § 62 JWG, der Hilfe zur Erziehung in einer Familie außerhalb des Elternhauses, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung gemäß §§ 5,6 JWG, der Hilfe zur Erziehung außerhalb des Elternhauses in Familienpflege gemäß §§ 5,6 JWG in Verbindung mit § 27 JWG für Kinder unter 16 Jahren und der Erziehungsbeistandschaft gemäß §§ 55 ff. JWG hinaus. Das Stadtjugendamt Konstanz 131 <?page no="132"?> 74 Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt, Verzeichnis der Drucksachen 3. Landtag von Baden-Württemberg, Beilage 2501 vom 24. Oktober 1962, S.-4775. 75 Ebd., S.-4770. Der Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt 1962 Vor diesem Hintergrund sah der „Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt“ vom 24. Oktober 1962 in § 26 nun vor, dass Jugendämtern kreisangehöriger Gemeinden der Aufwand ersetzt wird, der durch Leistungen für einzelne Minderjährige nach § 6 Abs. 2 JWG entsteht. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: Durch die Vorschrift soll vermieden werden, dass kreisangehörigen Gemeinden mit eigenen Jugendämtern durch die Neuregelung der Kostentragung bei Hilfen zur Erziehung für einzelne Minderjährige (§ 6 JWG) gegenüber bisher zusätzlich belastet werden. 74 Im Ergebnis wurde zwar der weitergehende Vorschlag des Städteverbandes Baden-Württemberg nicht übernommen, den gesamten Aufwand zu ersetzen, also auch den Personalaufwand, geregelt war nun aber gesetzlich, dass sämt‐ liche Einzelfallhilfen ersetzt werden müssen. Die Kosten der Freiwilligen Erzie‐ hungshilfe und der Fürsorgeerziehung werden nach § 28 LJWG vom Landes‐ jugendamt getragen. Eine solche Regelung den kreisangehörigen Gemeinden und den jeweiligen Landkreisen zu überlassen, hätte bedeuten können, dass unterschiedliche Erstattungsvereinbarungen getroffen worden wären, je nach Entscheidungsfindung der betroffenen Kreistage. Das LJWG wurde schließlich vom Landtag am 26. Juni 1963 verabschiedet und am 18. Juli 1963 im Gesetzblatt von Baden-Württemberg veröffentlicht. Das Gesetz trat mit Ausnahme der §§ 31-33, die bereits zum 1. Januar 1963 in Kraft traten, zum 1. Januar 1964 mit der redaktionellen Änderung in Kraft, dass der Ausgleich der Kosten nicht mehr in § 26 geregelt wurde, sondern in § 28. Gesetzlich festgelegt ist nun auch, dass die Jugendämter der kreisangehörigen Städte weiter bestehen, ohne dass es einer neuen Zulassung bedarf. 75 Der Subsidiaritätsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht Bereits vor Inkrafttreten des JWG hatten 1962 die Länder Hessen, Nieder‐ sachsen, Hamburg und Bremen Verfassungsbeschwerde und die Städte Dort‐ mund, Darmstadt, Frankfurt am Main und Herne Normenkontrollklage gegen 132 Jürgen Treude <?page no="133"?> 76 W I E S N E R (wie Anm. 7), S.-21. 77 Bericht der Bundesregierung über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Dritter Jugendbericht 1972, Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode Drucksache VI/ 3170, S.-29. 78 Ebd., S.-29. 79 W I E S N E R (wie Anm. 7), S.-22. Vorschriften des Jugendwohlfahrtsgesetzes mit der Begründung eingereicht, die Vorrang- und Förderbestimmungen des neu gefassten § 5 JWG seien ein Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung. 76 Das JWG hatte in § 5 geregelt, dass das Jugendamt von eigenen Einrichtungen und Veranstaltungen abzusehen habe, wenn geeignete Einrichtungen und Veranstaltungen der Träger der freien Jugendhilfe vorhanden seien, erweitert oder geschaffen werden könnten. Es ging also in erster Linie um die Frage, ob die Neufassung des § 5 die öffentliche Jugendhilfe durch einen verfassungswidrigen Vorrang der freien Jugendhilfe bei der Entfaltung eigener Aktivitäten behindere. 77 Das Bundesver‐ fassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 18. Juli 1967 entschieden, dass die Jugendhilfe zwar eine Aufgabe des Staates sei, von ihm aber weder organisa‐ torisch noch finanziell allein geleistet werden könne. Die gemeinsamen Bemühungen von Staat und freien Jugendorganisationen seien durch Jahrzehnte bewährt und sollten u. a. durch die neue Fassung des § 5 gefördert und gefestigt werden. Die Ge‐ samtverantwortung zur Erreichung des Gesetzeszieles trage jedoch das Jugendamt. 78 An der Entwicklung der Jugendhilfestruktur der Stadt Konstanz lässt sich ablesen, wie eine gemeinsame Verantwortung von öffentlicher und freier Jugendhilfe aussehen kann, insbesondere durch die vertrauensvolle Koopera‐ tion mit den Wohlfahrtsverbänden Arbeiterwohlfahrt Kreisverband Konstanz, Caritasverband Konstanz e. V., Diakonisches Werk Konstanz und Paritätischer Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg - Kreisverband Konstanz. Letztlich spiegelt sich diese Entwicklung auch in der Zusammensetzung des Konstanzer Jugendwohlfahrtsbzw. Jugendhilfeausschusses wider. Reinhard Wiesner bezeichnet das Urteil als salomonische Schlichtung, ohne dass das Subsidiaritätsprinzip überhaupt erwähnt werde und kommt zum Ergebnis, dass mit dieser Entscheidung die Rechte und Interessen der Leistungsadressaten gegenüber den kommunalen Gebietskörperschaften und deren Behörde Jugendamt bei der Wahrnehmung der Ge‐ samtverantwortung für ein leistungsgerechtes Angebot in den Vordergrund rückten. Damit wurde ein Perspektivenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe eingeleitet. 79 Das Stadtjugendamt Konstanz 133 <?page no="134"?> 80 Schreiben des Oberbürgermeisters Helmle vom 12. September 1960 an die Stadt Herten/ Westfalen, StadtA Konstanz S IIa 6683. 81 Ebd. 82 Schreiben des Hauptamtes der Stadt Konstanz vom 28. April 1966 an das städtische Rechtsamt, StadtA Konstanz S IIa 6683. Exkurs: Gutachterliche Stellungnahmen zur Frage einer möglichen Auskreisung der Stadt Konstanz Dieser Frage im Rahmen dieses Bandes nachzugehen ist insofern interessant, als eine Auskreisung für das Stadtjugendamt komplett neue Finanzierungsstruk‐ turen ermöglicht und veränderte Kooperationsstrukturen eröffnet hätte. So wären beispielsweise sowohl die Kosten der Jugendhilfe als auch der Sozialhilfe in einem (städtischen) Haushalt veranschlagt worden, eine Verrechnung mit dem Landkreis hätte sich erübrigt. Bereits in einem ersten Gutachten 1960 des städtischen Rechtsamtes, von Oberbürgermeister Helmle an die Stadt Herten/ Westfalen verschickt, wurde der Rechtsstatus eines Stadtkreises mit dem Status einer kreisangehörigen Stadt sowohl geschichtlich als auch finanziell und politisch verglichen. Hintergrund des Schreibens war eine Anfrage der Stadt Herten/ Westfalen zur Stellung der kreisangehörigen Städte in Baden-Württemberg. Im Ergebnis wird festgestellt, dass für die Stadt Konstanz der Typ der großen Kreisstadt nicht geeignet ist und sie im überwiegenden öffentlichen Interesse wieder Stadtkreis werden solle. Auch der Landkreis Konstanz könnte damit zufrieden sein, weil er nach Ansicht der Kreisverwaltung von der Kreiszugehörigkeit der Stadt Konstanz keine überwiegenden finanziellen Vorteile hat und weil er am Dekorum eines künftigen Stadtkreises Konstanz teilnimmt, solange er den Sitz der Kreisverwaltung in Konstanz beibehält. 80 Diese Ansicht werde auch in Regierungskreisen geteilt, ob sich allerdings eine Mehrheit dafür finde, stehe dahin. 81 In den Jahren 1966 und 1967 wurde das Thema dann wieder aufgegriffen und in einem Schreiben vom 28. April 1966 an das städtische Rechtsamt wird dieses gebeten, den Prüfauftrag des Oberbürgermeisters zu übernehmen, „die Frage der Auskreisung zu prüfen“. Da diese rechtliche Problematik schon vor einigen Jahren eingehend vom Rechtsamt erörtert worden sei, solle es diese Aufgabe übernehmen. „Wichtig wäre vor allem zu klären, welche Schritte unternommen werden müssten, damit die Stadt Konstanz aus der Kreiszugehörigkeit gelöst und wieder Stadtkreis wird.“ 82 Warum die Frage einer Auskreisung erst wieder nach sechs Jahren aufgegriffen wird, lässt sich den Akten nicht entnehmen. 134 Jürgen Treude <?page no="135"?> 83 Schreiben des Direktors des Jugendamtes Ludwig Eberhard vom 17. Februar 1966 an das Dezernat II zur Frage der eigenen Sozial- und Jugendämter in den Großen Kreisstädten, StadtA Konstanz S XII 1225, S.-7-11. 84 Ebd., S.-7. Stellungnahme des Jugendamtsdirektors Ludwig Eberhard zu den Vor- und Nachteilen eines eigenen Jugendamtes In einer Stellungnahme des damaligen Direktors des Jugendamtes Ludwig Eberhard vom 17. Februar 1966 werden in Vorbereitung der Stellungnahme durch das Rechtsamt die Vorteile eigener Sozial- und Jugendämter ausführlich erörtert. Da die Stadt Konstanz seit 1953 nicht mehr Stadtkreis war und damit nicht mehr - durch Bundesgesetz geregelt - über ein eigenständiges Sozial- und Ju‐ gendamt verfügte, sprachen umso mehr folgende Gründe für ein eigenständiges Jugendamt: 83 Die Übergabe an den Kreis wäre ein Faktum für alle Zeiten. Bereits beim Beitritt in den Landkreis zum 1. Oktober 1953 hätte sich die Annahme, dass sich die Befugnisse als kreisangehörige Stadt auf verschiedenen Verwaltungsgebieten erweitern würden, als nicht richtig erwiesen. Der Beschluss habe sich dann aber nicht mehr rückgängig machen lassen. Die Übergabe an den Kreis würde zu einer weiteren Aushöhlung des Aufgabenbereichs der Stadt führen. Die Sozial- und Jugendhilfe gehöre zu den wichtigsten sozialpolitischen Auf‐ gaben einer Stadt. Es sei für die Bevölkerung einer Stadt nicht gleichgültig, ob sie sich mit ihren Sorgen und Nöten an den Gemeinderat wenden könne oder den Landkreis als eine „fremde Behörde“. Das geflügelte Wort: Geht Dir Rat aus, geh aufs Rathaus, hat sicher seine innere Berechtigung und deutet auf die enge Verbindung hin, die zwischen Bürger und seiner Gemeinde zu allen Zeiten bestand. 84 Die Erhaltung der sozialen Ämter sei ein Politikum für die Stadt. Bei der Vielzahl der Aufgaben des Sozial- und Jugendamtes könne ohne Überheblichkeit festgestellt werden, dass etwa jeder zehnte Bürger in irgendeiner Hinsicht mit Sozialbehörden zu tun habe. Verweise die Stadt ihre Bürger an den Landkreis, verzichte sie auf einem wesentlichen Gebiet auf ihr Entscheidungsrecht, bleibe aber gegenüber dem einzelnen Bürger trotzdem in voller Verantwortung. Zudem sei die Wohlfahrtsarbeit des Landkreises anders als die der Stadt. Die Betreuungsarbeit könne in einem großräumigen Kreisgebiet nicht in derselben Intensität wahrgenommen werden wie in einem städtischen Ballungsraum. Das Stadtjugendamt Konstanz 135 <?page no="136"?> 85 Ebd., S.-10. 86 Ebd., S.-6. 87 Ebd., S.-10 f. Aus Gerechtigkeitsgründen den anderen Kreisgemeinden gegenüber könne der Landkreis die Sozialarbeit auch nicht mit einem größeren personellen Aufwand in den Städten betreiben, die Qualität der Arbeit würde also absinken. Die Grenzlage erfordere besondere Vorsichtsmaßnahmen der Stadt. Als attraktive Grenzstadt müsse sich die Stadt mit nicht „nur erfreulichen und ‚renommierten‘ Gästen“ 85 auseinandersetzen und sei in dieser Hinsicht in besonderem Maße von Belastungen betroffen, sowohl in finanzieller als auch fürsorgerischer und moralischer Hinsicht. Die Verpflichtung der Stadt zur Amtshilfe lege der Stadt zwar Verantwortung auf, umschließe aber kein Entscheidungsrecht. Dies den Konstanzer Bürgern z. B. bei ablehnenden Bescheiden nachvollziehbar zu vermitteln, sei sicher nicht einfach und könne dazu führen, Verantwortlichkeiten zu verwässern. Eine durchaus mögliche finanzielle Einsparung könne nicht beziffert werden, da zu viele Unbekannte eine Rolle spielten. 86 In der Stellungnahme wird weiter dargestellt, welche führende Stellung die Stadt Konstanz auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege im Verband der badischen Städte habe, die auch Anerkennung in den Regierungsstellen gefunden habe: 87 Seit 1952 habe Konstanz das Amt des Obmanns der Wohlfahrts- und Ju‐ gendamtsleiter der südbadischen A- und B-Städte wahrgenommen. Nach der Zusammenlegung mit den nordbadischen Städten habe die Stadt Karlsruhe den Vorsitz übernommen, Konstanz den zweiten Vorsitz. Unter der Führung des Stadtjugendamtes Konstanz sei 1955 eine „Arbeitsgemeinschaft der Jugend‐ ämter im Landgerichtsbezirk Konstanz“ gebildet worden, die sich der Aufgabe gestellt hätte, mit Vertretern der Gerichte, Polizei und Schulen gemeinsame Probleme zu erörtern. Seit 1953 gehöre der Jugendamtsleiter als Vertreter der südbadischen Städte dem beim Regierungspräsidium gebildeten „Beirat des Landesfürsorge‐ verbandes“ an und nach der Neubildung des Landeswohlfahrtsverbandes mit Sitz und Stimme der Landesversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes. Durch deren Beschluss wurde Konstanz als einzige kreisgebundene Stadt in der Verbandsausschuss gewählt. Seit vielen Jahren sei Konstanz als einziger Städtevertreter Mitglied des Beirates der Hauptfürsorgestelle gewesen, zunächst für das Land Baden-Württemberg, heute für den Landesteil Baden. Als einziger Vertreter der südbadischen Städte seien Vertreter von Konstanz in der „Spruch‐ stelle für Sozialhilfestreitsachen“ sowie im „Ausschuss für die Schaffung von Sozialhilferichtlinien“ tätig. 136 Jürgen Treude <?page no="137"?> 88 Siehe Zwischenbericht des städtischen Rechtsamtes vom 27. September 1966, StadtA Konstanz S IIa 6683. 89 Ebd. In die „Bundesprüfstelle von jugendgefährdenden Schriften“ sei als Kom‐ munalvertreter ebenfalls ein Konstanzer Vertreter berufen worden. Ebenso seien Konstanzer Vertreter in die Ausschüsse zur Verteilung der Landesjugend‐ planmittel berufen worden. Alle diese Tätigkeiten hätten zwar eine große Arbeitsbelastung mit sich gebracht, diese stehe aber in keinem Verhältnis zu den damit verbundenen Vorteilen für die Stadt, deren Wohlfahrtseinrichtungen und Bürger. Das Für und Wider einer Auskreisung aus Sicht des Rechtsamtes In einem Zwischenbericht vom 27. September 1966 erörtert das Rechtsamt der Stadt Konstanz das Für und Wider einer Kreisangehörigkeit unter grundsätzli‐ chen Erwägungen. Für eine Auskreisung, also einen Austritt aus dem Landkreis Konstanz, sprä‐ chen folgende Grundsätze 88 : Der Grundsatz der Einheit der Verwaltung ermög‐ liche, zahlreiche Aufgaben aus verschiedenen Verwaltungsgebieten gleichzeitig erfüllen zu können, der Grundsatz der Einräumigkeit ermögliche, Verwaltungs‐ aufgaben möglichst in deckungsgleichen Räumen durchführen zu können. Der Grundsatz der Einheit von Planung, Durchführung und Finanzierung ermögliche, Verwaltungsleistungen am wirksamsten erbringen zu können, der Grundsatz der Einheit von Verwaltungsraum, Siedlungsraum, Wirtschaftsraum, Naturraum und historischem Raum könne innerhalb einer städtischen Gemar‐ kung besser verwirklicht werden als auf dem Gebiet eines Landkreises. Der Grundsatz der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Grundsatz, Verwaltungsaufgaben so ortsnah wie möglich wahrzunehmen, verfolge das Ziel, die Selbstverantwortlichkeit örtlicher Gemeinschaften zu stärken und könne in einer überschaubaren Stadtgemeinde besser umgesetzt werden. Im Ergebnis erfordere die städtische Selbstverwaltung eine möglichst um‐ fassende Betätigungsmöglichkeit der städtischen Organe. In einem Kreisver‐ band würden aber die Selbstverwaltungsangelegenheiten nicht alleine von der Stadt erfüllt, sondern zwischen ihr und dem Landkreis aufgeteilt. Dies sei als Hemmnis kommunalpolitischer und kommunalwirtschaftlicher Entwicklungen anzusehen. Gegen eine Auskreisung und für eine Kreisangehörigkeit sprächen folgende Grundsätze 89 : Das Gemeinwohl erfordere einen weitgehenden Ausgleich der Das Stadtjugendamt Konstanz 137 <?page no="138"?> 90 Gutachten des Rechtsamtes der Stadt Konstanz vom 29. Dezember 1966, StadtA Konstanz S IIa 6683. 91 Ebd. 92 Ebd. Finanz- und Wirtschaftskraft der Städte mit den finanzschwächeren Landge‐ meinden. Dieser Ausgleich könne nur im Landkreis erfolgen, durch ihn allein ist die Möglichkeit gegeben, dass die Selbstverwaltung auf dem Land existieren könne. Die einseitige Berücksichtigung städtischer Interessen trage dem Ge‐ samtinteresse nicht genügend Rechnung. Erst ab einer Größenordnung von 100.000 Einwohnern sei die Bildung eines Stadtkreises sinnvoll. Ergebnis des Gutachtens vom 29. Dezember 1966 Im Gutachten vom 29. Dezember 1966 kommt das Rechtsamt vor dem Hinter‐ grund der oben aufgeführten Grundsätze dann zu folgendem Ergebnis. 90 Der Landesgesetzgeber sei verfassungsrechtlich nicht an einer Auskreisung der Stadt Konstanz gehindert. Zuständig für die nach § 7 Abs. 2 Satz 2 Landkreis‐ ordnung erforderliche Stellungnahme des Landkreises sei der Kreistag. Die Stadt Konstanz habe alle historischen, kommunalen, verwaltungsmäßigen und soziologischen Voraussetzungen, um einen eigenen Stadtkreis zu bilden. Die geografische Randlage ermögliche eine Verkleinerung des Landkreises, ohne seine Gestalt wesentlich zu ändern. Die Stadt Konstanz benötige ihre Finanz‐ kraft ungeschmälert, um ihren wachsenden Finanz- und Investitionsbedarf zu decken und sei wirtschaftlich und kommunalpolitisch nicht auf den Landkreis angewiesen. Der Landkreis bleibe auch ohne die Stadt Konstanz lebensfähig und finanzkräftig. Nach einem möglichen Ausscheiden der Stadt aus dem Landkreis könne dieser nicht selber über den Sitz des Landratsamtes bestimmen, dieser werde durch Landesgesetz bestimmt. Nach Auffassung des Rechtsamtes ist es aber „zum Nachweis der wirtschaft‐ lichen und finanziellen Ungefährlichkeit einer Auskreisung für den Landkreis Konstanz dringend erforderlich, Ermittlungen über die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Auskreisung anzustellen.“ 91 Man wisse nicht, „wie sich das evt. Ausscheiden der Stadt Konstanz aus dem Landkreis Konstanz bebzw. entlastend auf die Stadt einerseits, den Landkreis andererseits auswirken wird.“ 92 Sowohl die Stellungnahme des Jugendamtsdirektors Ludwig Eberhard als auch des städtischen Rechtsamtes kommen letztlich zum gleichen Ergebnis. Aus der Sicht des Sozial- und Jugendamtes ist insbesondere nach der Aufgabe des Stadtkreises 1953 ein eigenständiges, vom Landkreis unabhängiges Stadtju‐ gendamt sozialpolitisch unverzichtbar, aus Sicht des Rechtsamtes eine Auskrei‐ 138 Jürgen Treude <?page no="139"?> 93 Schreiben des Hauptamtes an Oberbürgermeister Helmle vom 8. März 1967, StadtA Konstanz S IIa 6683. 94 Siehe Vermerk des Hauptamtes vom 1. Dezember 1967, StadtA Konstanz S IIa 6683. sung aus rechtlichen, historischen, verwaltungsmäßigen und soziologischen Erwägungen möglich. Beide Stellungnahmen weisen aber darauf hin, dass die finanziellen Auswirkungen noch genauer geprüft werden müssten. Mit Schreiben vom 8. März 1967 93 bat das Hauptamt Oberbürgermeister Helmle um Entscheidung, ob der Landtagsabgeordnete Viellieber angefragt werden solle, welche Aussicht bestehe, eine Gesetzesänderung herbeizuführen, die Auskreisung der Stadt Konstanz zu ermöglichen. OB Helmle (stehend) und MdL (CDU) Hermann Viellieber 1964, links Finanzminister Hermann Müller (StadtA Konstanz Z1.1002) Am 1. Dezember 1967 vermerkt das Hauptamt, dass nach Rücksprache mit dem Oberbürgermeister „die Angelegenheit auf sich beruhen bleiben soll.“ 94 Erläuterungen, warum eine Auskreisung nicht weiterverfolgt werden soll, sind den Akten nicht zu entnehmen. Das Stadtjugendamt Konstanz 139 <?page no="140"?> 95 Gesetzentwurf der Landesregierung zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, Landtag von Baden-Württemberg 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 4221 vom 24. Oktober 1990, S.-1-26. 96 W I E S N E R (wie Anm. 7), S.-27 f. 97 Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 5948 vom 01.12.1989, S.-43. Das Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) vom 26. Juni 1990 und der Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 24. Oktober 1990 - Landesjugendhilfegesetz (LJHG) 95 Die nach rund 20jährigen Bemühungen um eine Neuordnung des Jugendhil‐ ferechtes erfolgreiche Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) vom 26. Juni 1990, in Kraft getreten zum 1. Januar 1991, machte eine Anpassung des Landesjugendwohlfahrtsgesetzes vom 9. Juli 1963 an die neue Rechtslage erforderlich. Dem neuen SGB VIII (Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe) als einem Leistungsgesetz liegt ein neues Verständnis von Jugendhilfe zugrunde: Nicht mehr die (reaktive) Aufrecht‐ erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Ausgrenzung verwahrloster Jugendlicher durch geschlossene Unterbringung und Arbeitserziehung oder die Rettung von Kindern vor dem gefährdenden Einfluss ihrer Eltern sind jetzt der zentrale Auftrag der Jugendhilfe, sondern die Förderung der Entwicklung junger Menschen und ihre Integration in die Gesellschaft. Damit sollte der präventive, Fehlentwicklungen vorbeugende, familienunterstützende Ansatz, wie er bereits in der Entwicklung der Sozialarbeit sichtbar geworden ist, gesetzlich fundiert werden. 96 Schwerpunkte der Neuordnung sind u.a.: 97 die Verstärkung der allgemeinen Angebote zur Förderung der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit, eine Verbesserung der allgemeinen Angebote zur Förderung der Erziehung in der Familie, die Verbesserung der Hilfen für Familien in besonderen Lebenslagen, insbesondere für alleinerziehende Elternteile, eine Verbesserung der Angebote der Tagesbetreuung von Kindern, eine gesetzliche Verankerung ambulanter und teilstationärer erzieherischer Hilfen neben den klassischen Formen der Pflegefamilie und der Heimerziehung, eine Verbesserung der Hilfen für junge Volljährige, die Zusammenfassung aller Erziehungshilfen auf der Ebene des ört‐ lichen Jugendamts, eine Neuordnung der Heimaufsicht, eine bundeseinheitliche Regelung der Inobhutnahme sowie eine Neuregelung der örtlichen Zuständig‐ keit des Jugendamts. Dem neuen Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe 140 Jürgen Treude <?page no="141"?> 98 W I E S N E R (wie Anm. 7), S.-28. 99 Ebd. 100 Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 5948 vom 01.12.1989, S.-66. 101 Gesetzentwurf der Landesregierung zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfege‐ setzes, Landtag von Baden-Württemberg 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 4221 vom 24. Oktober 1990, S.-1-26. 102 Ebd., S.-16. 103 Ebd., S.-16 f. 104 Ebd., S.-17. entsprach es, „Kinder, Jugendliche und ihre Eltern nicht mehr als Objekte öf‐ fentlicher Fürsorge zu begreifen, sondern als Subjekte mit Ansprüchen und Be‐ teiligungsrechten.“ 98 Leistungen der Jugendhilfe wurden „als Dienstleistungen ausgestaltet, deren Inanspruchnahme durch die Leistungsberechtigten erfolgt und mit dem Wunsch- und Wahlrecht verbunden ist.“ Es erfolgen keine einsei‐ tigen Entscheidungen des Jugendamtes mehr, „sondern partizipative Klärungs- Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse.“ 99 Vor allem die nun durch Bundesrecht geregelte Konzentration aller erziehe‐ rischen Hilfen auf der örtlichen Ebene durch die Abschaffung des zweispurigen Hilfesystems - Hilfe zur Erziehung durch das örtliche Jugendamt und Freiwillige Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung durch das Landesjugendamt - haben auf die Praxis der Jugendämter erhebliche Auswirkungen, sowohl in fachlicher Hinsicht als auch finanziell durch eine Verlagerung bisheriger Kosten des Landesjugendamtes auf die örtlichen Jugendämter. 100 Zweck einer nun notwendig gewordenen landesrechtlichen Neuregelung ist nach Auffassung der Landesregierung Baden-Württemberg „die Anpassung des jugendhilferechtlichen Instrumentariums an veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die für die Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen von Bedeutung sind.“ 101 Vor diesem Hintergrund sind die Schwerpunkte des landesrechtlichen Re‐ gelungsbedarfs 102 die Organisation der Jugendhilfebehörden, Zuständigkeits‐ fragen, Übergangsregelungen und die Anpassung des Landesrechts an das neue Bundesrecht. Gegenüber dem bisherigen Landesrecht würden den Stadtkreisen, Landkreisen und kreisangehörigen Gemeinden mit eigenem Jugendamt und den Landeswohlfahrtsverbänden keine neuen Aufgaben übertragen. 103 Der Übergang der bisherigen Einzelfallzuständigkeit (Freiwillige Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung) von den Landeswohlfahrtsverbänden auf die örtlichen Jugendämter werde in finanzieller Hinsicht als interkommunaler Vorgang bei der Bemessung der Landeswohlfahrtsumlage berücksichtigt. 104 Das Stadtjugendamt Konstanz 141 <?page no="142"?> 105 Ebd., S.-21. 106 Ebd. 107 Gesetzentwurf der Landesregierung zur Änderung des Landesjugendhilfegesetzes und des Jugendbildungsgesetzes, Landtag von Baden-Württemberg 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 6730 vom 15. November 1995, S.-1-32. 108 Ebd., S.-24. Für die Stadt Konstanz und die anderen kreisangehörigen Städte mit eigenem Jugendamt (Lahr, Offenburg, Rastatt, Singen, Villingen-Schwenningen und Weinheim) ist § 5 Landesjugendhilfegesetz (LJHG) in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: einerseits sind nach § 5 Abs. 3 kreisangehörige Gemeinden, die am 31. Dezember 1990 ein eigenes Jugendamt errichtet haben, mit Wirkung vom 1. Januar 1991 örtlicher Träger der Jugendhilfe mit allen Rechten und Pflichten, ohne dass eine Restzuständigkeit beim Landkreis verbleibt 105 , andererseits ent‐ spricht § 5 Abs. 2 im Wesentlichen der bisherigen Rechtslage, berücksichtigt die Ausweitung des Leistungskatalogs der Jugendhilfe durch das neue Bundesrecht und regelt, dass sämtliche anfallenden Einzelfallkosten erstattet werden. Personal- und Sachkosten würden, wie bisher schon, nicht ersetzt, allerdings sei nichts dagegen einzuwenden, wenn durch örtliche Vereinbarungen derartige Kosten vom Landkreis ersetzt würden. 106 Im Ergebnis stärkt das neue LJHG also die rechtliche Position des Jugendamtes der Stadt Konstanz als örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe und stellt es in dieser Hinsicht letztlich den Stadtkreisen und Landkreisen gleich. Gesetz zur Änderung des Landesjugendhilfegesetzes und des Jugendbildungsgesetzes vom 12. Februar 1996 Bei der Verabschiedung des LKJHG vom 4. Juni 1991 wurden inhaltliche Forde‐ rungen der Kommunalen Spitzenverbände und der Praxis nach vorrangigen Zielen zunächst zurückgestellt. Dem sollte nun Rechnung getragen werden. Für das Jugendamt der Stadt Konstanz war vor allem die Verbesserung der Kostenerstattung durch den Landkreis Konstanz bedeutsam. 107 Die bisherige Kostenerstattung durch den Landkreis war auf den Ersatz der Einzelfallhilfen begrenzt, Personalkosten wurde nicht erstattet. Die Neu‐ regelung des § 5 LKJHG vom 15. November 1995, in Kraft getreten am 19. Juli 1996, war nach Auffassung der Landesregierung erforderlich, „um Gemeinden, die die Aufgaben des örtlichen Trägers übernommen haben oder übernehmen, einen gerechteren Ausgleich für ihren Mehraufwand zu bieten.“ 108 Diese Mehrkosten werden dem Stadtjugendamt Konstanz zukünftig „durch Ersatz von zwei Dritteln der Personalkosten erstattet, die ihr für die Erfüllung 142 Jürgen Treude <?page no="143"?> 109 Ebd. 110 Ebd., S.-23. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Kinder- und Jugendhilfegesetz für Baden-Württemberg, Gesetzblatt für Baden-Würt‐ temberg Nr.-17 vom 19. Juli 1996, S.-461 ff. ihrer Aufgaben als örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe erwachsen.“ 109 Diese zusätzliche Kostenerstattung an kreisangehörige Gemeinden mit eigenem Jugendamt wurde vom Landkreistag „entschieden abgelehnt“ 110 , Städtetag und Gemeindetag begrüßten die neue Regelung als „fairen und angemessenen Kostenausgleich, der Städtetag strebt außerdem für einzelne Kostenarten die volle Kostenerstattung an.“ 111 Die Landesregierung folgte der Auffassung des Landkreistages nicht, allerdings auch nicht der noch weitergehenden Forde‐ rung des Städtetages und hielt die vorgesehene Regelung „auch insofern für sachgerecht, als die kreisangehörige Gemeinde den vorgesehenen Eigenanteil tragen muss. Die Gemeinde verdeutlicht damit ihre Leistungsfähigkeit und ihren Leistungswillen.“ 112 Auf die inhaltlichen Neuregelungen im Einzelnen einzugehen, würde den Rahmen dieses Beitrags übersteigen. Als Leistungen der Jugendhilfe werden im vierten Abschnitt des LKJHG in § 12 die vorrangigen Ziele der Jugendhilfe, in § 13 die Vernetzung und der Gemeinwesenbezug von Diensten und Einrich‐ tungen, in § 14 die Jugendarbeit, in § 15 die Jugendsozialarbeit, in § 16 der Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz und in § 17 die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen definiert. 113 Für die kreisangehörigen Gemeinden mit eigenem Jugendamt brachte das neue Landesgesetz also eine erhebliche finanzielle Verbesserung und eine fachpolitische Stärkung mit sich. Die rechtliche Gleichstellung als örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit den Stadt- und Landkreisen wird noch einmal untermauert. Die Umsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (LKJHG) für Baden-Württemberg vom 15. November 1995 in der Stadt Konstanz Um die zukünftige Personalkostenerstattung umsetzen zu können, mussten vom Kreistag des Landkreises Konstanz und dem Gemeinderat der Stadt Konstanz eine Satzung verabschiedet werden, die der Intention des LKJHG gerecht werden und von beiden Behörden einvernehmlich verabschiedet werden konnte. Die unterschiedlichen Interessenlagen führten zu langwierigen, zum Teil auch Das Stadtjugendamt Konstanz 143 <?page no="144"?> 114 StadtA Konstanz S XII 2440. 115 Gesetzentwurf der Landesregierung zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfege‐ setzes, Landtag von Baden-Württemberg 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 4221 vom 24. Oktober 1990, S.-21. 116 Satzung über die Durchführung des § 5 Abs. 2 Nr. 2 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes für Baden-Württemberg (LKJHG) i. d .F. vom 19. April 1996, StadtA Konstanz S XII 2440. 117 Siehe StadtA Konstanz, S XII 2440. kontroversen Diskussionen, die endgültige Fassung konnte erst 1998 erfolgen. Die Stadt Konstanz vertrat - ebenso wie der Städtetag Baden-Württemberg - die Auffassung, dass sie als eigenständiger örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur ihren eigenen Gremien gegenüber rechenschaftspflichtig sei. 114 So sei auch die Gesetzesbegründung zu § 5 des „Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes“ zu verstehen, dass bei der Bestimmung kreisangehöriger Gemeinden zu örtlichen Trägern die Zustän‐ digkeit in vollem Umfang vom Landkreis auf die kreisangehörige Gemeinde verlagert wird und keine irgendwie geartete Restzuständigkeit beim Landkreis verbleibt. 115 Die endgültige Satzung berücksichtigte die Rechtsauffassung der Stadt Kon‐ stanz und konnte einvernehmlich verabschiedet werden. Unstrittig waren von vornherein die Arbeitsfelder der Personalkostenerstattung zu zwei Drit‐ teln der Arbeitgeberaufwendungen: Wirtschaftliche Jugendhilfe, Amtsvor‐ mundschaften/ Beistandschaften, Unterhaltsvorschussleistungen, Allgemeiner Sozialer Dienst einschließlich Pflegekinderdienst und Jugendgerichtshilfe sowie die Jugendhilfeplanung. Für die Querschnittsleistungen (Personalamt, Käm‐ merei, Rechtsamt) wurden 7,5% der Personalkosten der aufgeführten Arbeits‐ felder vereinbart. Für die Erziehungsberatungsstelle des Landkreises, die Psy‐ chologische Beratungsstelle der Evangelischen Kirche und der Beratungs- und Vertrauensstelle bei Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauch wurde gesonderte Vereinbarungen getroffen. Nach Zustimmung des Gemeinderates der Stadt Konstanz und des Kreistages des Landkreises Konstanz wurde die „Satzung über die Durchführung des § 5 Abs. 2 Nr. 2 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes für Baden-Württemberg (LKJHG) i. d .F. vom 19. April 1996“ verabschiedet und trat rückwirkend zum 1. Januar 1998 in Kraft. 116 Die Kostenerstattung 1998 betrug bei Personalkosten für die Jugendhilfe von insgesamt ca. 1,41 Mio. Euro ca. 0,94 Mio. Euro 117 . Für die Zeit vom Inkrafttreten des Gesetzes im Juli 1996 bis zum 31. Dezember 1997 wurden pauschale Kosten‐ erstattungen vereinbart. Die Satzung blieb im Kern bis heute erhalten und wurde nur aufgrund eher technischer und gesetzlicher Änderungen entsprechend 144 Jürgen Treude <?page no="145"?> 118 Da sämtliche Diskussionen im Rahmen der Haushaltsstrukturkommission nichtöffent‐ lich waren, kann auf die Details nicht näher eingegangen werden. 119 Siehe Anlage 1 vom 10. November 2005 zur öffentlichen Gemeinderatsvorlage 2005-183. angepasst, letztmalig zum 1. Januar 2011. Ebenfalls angepasst wurde die Satzung durch die Eingliederung der Erziehungsberatungsstelle des Landkreises in das städtische Jugendamt 2007. Prüfauftrag des Gemeindesrates zu Einsparpotenzialen bei Aufhebung der Rechtsstellung der Stadt Konstanz als „Örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe“ Die schlechte allgemeine wirtschaftliche Lage der Jahre 2003 und 2004 zwang auch die Kommunen, in ihren Haushalten Einsparungen vorzunehmen. Von Mitgliedern des Gemeinderates wurde die Verwaltung aufgefordert, mögliche Einsparpotenziale von allen Ämtern erarbeiten zu lassen, beim Sozial- und Jugendamt auch durch eine mögliche Abgabe von Teilen des Amtes an den Landkreis Konstanz. Hintergrund dieses Prüfauftrages war auch, dass es nach der Änderung des LKJHG 1995 und den damit verbundenen Mehrausgaben des Landkreises für die Personalkosten des Jugendamtes der Stadt Konstanz zwischen dem Jugendamt der Stadt Konstanz und der Landkreisverwaltung zu unterschiedlichen Auffassungen über die Ursachen der gestiegenen Ausgaben der Einzelfallhilfen kam. Da eine solche Entscheidung mit einschneidenden und grundlegenden Ände‐ rungen der sozialen Infrastruktur der Stadt Konstanz verbunden gewesen wäre, erstellte die Amtsleitung des Sozial- und Jugendamtes für die Haushaltsstruk‐ turkommission am 21. Juni 2005 eine umfassende Vorlage mit den fachlichen, organisatorischen und finanziellen Argumenten, die für die Entscheidung von zentraler Bedeutung waren. 118 Der Gemeinderat folgte dem Beschlussvorschlag der Verwaltung und sicherte das Weiterbestehen sowohl des eigenständigen Ju‐ gendamtes als auch des delegierten Sozialamtes. Beschlossen wurde stattdessen im Einvernehmen mit dem Sozial- und Jugendamt, dass zur Haushaltskonso‐ lidierung durch die Einsparung von 10,25 Stellen in den nächsten 5 Jahren beigetragen werden müsse. 119 Zur Weiterführung des Jugendhilfeausschusses als beschließender oder beratender Ausschuss Der heutige Jugendhilfeausschuss, nach dem RJWG von 1922 Jugendamtsaus‐ schuss, nach dem Gesetz zur Änderung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes Das Stadtjugendamt Konstanz 145 <?page no="146"?> 120 Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 5948 vom 01.12.1989, S.-95. 121 Siehe Beschlussvorlagen JHA 2009-007 vom 12. Mai 2009 und GR 2009-133 vom 25. Juni 2009, StadtA Konstanz S XII 2777. 122 StadtA Konstanz S XII 2777. 123 Ebd. von 1953 Jugendwohlfahrtsausschuss, seit Inkrafttreten des SGB VIII Jugend‐ hilfeausschuss, hatte immer zwei Besonderheiten: das Beschlussrecht des Aus‐ schusses im Rahmen der von der Vertretungskörperschaft bereitgestellten Mittel, der von ihr erlassenen Satzung und der von ihr gefassten Beschlüsse sowie die Zusammensetzung des Ausschusses mit zwei Fünfteln nicht dem Gemeinderat angehörender Mitglieder. Auch wenn diese Konstruktion nicht immer unumstritten war, setzte sie sich auch bei der Verabschiedung des SGB VIII 1990 durch. 120 Sämtliche Satzungen der Stadt Konstanz seit 1925 enthalten ein Beschluss‐ recht des jeweiligen Ausschusses. Im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwick‐ lung der Verwaltungsstrukturreform wurde durch Artikel 41 auch das LKJHG Baden-Württemberg zum 1. Januar 2009 geändert. Hintergrund der Änderung waren die Ergebnisse der Föderalismusreform, in dessen Folge auch das SGB VIII geändert und Regelungskompetenzen auf die Landesebene verlagert wurden. Die gesetzliche Neuregelung von § 2 Abs. 1 LKJHG erforderte eine Entschei‐ dung des Gemeinderates darüber, ob der Jugendhilfeausschuss künftig als bera‐ tender Ausschuss eingerichtet oder als beschließender Ausschuss weitergeführt werden soll. 121 Da die Vorstellungen von der Verwaltungsspitze und der Leitung des Sozial- und Jugendamtes in dieser Grundsatzfrage unterschiedlich waren, gestand Oberbürgermeister Horst Frank fairerweise dem Fachamt zu, offen seine Auf‐ fassung in den städtischen Gremien vertreten zu können und in dieser Entschei‐ dung nicht an das Prinzip der Einheit der Verwaltung gebunden zu sein. Die entsprechende Vorlage wurde konsequenterweise auch vom Hauptamt erstellt und nicht vom zuständigen Fachamt. Die Vorberatung im Jugendhilfeausschuss am 12. Mai 2009 ergab bei 14 Stimmberechtigten ein eindeutiges Votum für die Beibehaltung des Beschlussrechtes mit 14 Ja-Stimmen. 122 Die Abstimmung im Gemeinderat am 25. Juni 2009 ergab bei 30 Stimmberechtigten ein ebenso eindeutiges Ergebnis mit 29 Ja-Stimmen und einer Gegenstimme. 123 Dass die Entscheidung der Verwaltungsspitze, eine abweichende Auffassung des Fachamtes nicht nur zu respektieren, sondern sie im Jugendhilfeausschuss und Gemeinderat auch offen kommunizieren zu lassen, alles andere als selbst‐ 146 Jürgen Treude <?page no="147"?> 124 Bericht der Bundesregierung über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Dritter Jugendbericht 1972, Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode Drucksache VI/ 3170, S.-28. 125 Ebd. 126 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohlfahrts‐ gesetzes, Deutscher Bundestag 1. Wahlperiode 1949, Drucksache Nr. 3641 vom 22. Juli 1952, Anlage 1, S.-5. StadtA Konstanz S XII 1465. verständlich ist, sollte auch aus heutiger Sicht noch einmal hervorgehoben werden, zeigt es doch die besondere Bedeutung des Jugendhilfeausschusses als institutionalisierte Form der Zusammenarbeit von freier und öffentlicher Jugendhilfe in seiner 100jährigen Geschichte. Zur Zusammensetzung des Jugendamtsausschusses, des Jugendwohlfahrtsausschusses und des Jugendhilfeausschusses Bei der durch das RJWG von 1922 begründeten Institution Jugendamt sind zwei Kennzeichen besonders hervorzuheben: Das Jugendamt sollte Erziehungs‐ behörde sein und die „verschiedenen Aktivitäten der Jugendhilfe, die vorher von anderen Behörden nebenbei wahrgenommen wurden, unter dem Leitgedanken der Erziehung zusammenfassen.“ 124 Weiteres Kennzeichen war die demokrati‐ sche Konstruktion, die dieses Amt mit lokalen Initiativen und bestehenden Einrichtungen verknüpfen sollte und ihm die Form einer ‚kollegialen Behörde‘ gab, in der die hauptberuflich leitenden Beamten und gewählte Vertreter der Öffentlichkeit ein gemeinsames Ent‐ scheidungsgremium bildeten. 125 Die freien Vereinigungen für Jugendwohlfahrt und erfahrene Männer und Frauen aus allen Bevölkerungskreisen sollten zwei Fünftel der Zahl der nicht‐ beamteten Mitglieder ausmachen. Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Jugendwohlfahrtsgesetzes vom 28. August 1953 brachte eine Neuregelung des bisherigen Kollegialprinzips und regelte in § 9, dass das Jugendamt aus dem Jugendwohlfahrtsausschuss und der Verwaltung des Jugendamtes besteht. Die Verantwortung für die Erziehung der Jugend müssten „alle im Jugendamt vertretenen Bürger der Gemeinden im Rahmen der bestehenden Gesetze, der Satzung des Jugendamtes und der Beschlüsse der politischen Vertretungskörperschaft tragen.“ 126 Mit der Zusammensetzung des Jugendwohlfahrtsausschusses wollte der Gesetzgeber vor allem zweierlei erreichen. Das Stadtjugendamt Konstanz 147 <?page no="148"?> 127 Bericht der Bundesregierung über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Dritter Jugendbericht 1972, Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode Drucksache VI/ 3170, S.-56. 128 Gesetz zur Ausführung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (Landesjugendwohlfahrtsge‐ setz), Gesetzblatt für Baden-Württemberg vom 18. Juli 1963, S.-100. 129 Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), Deutscher Bundestag Drucksache 11/ 5948 vom 1. Dezember 1989, S.-96. Einerseits sollte die Verwaltung der Jugendämter, im Vergleich zum früheren Rechts‐ zustand, ein stärkeres Gewicht und eigene Kompetenzen erhalten; gegenüber an‐ deren Ämtern sollte der Charakter einer Fachbehörde betont werden. Andererseits sollte die Hineinnahme des Jugendwohlfahrtsausschusses in das Jugendamt einer rein verwaltungsmäßigen Geschäftserledigung vorbeugen und das sog. ‚lebendige Jugendamt‘ schaffen. Durch diese Einbeziehung sollte das Element der bürgerlichen Mitverantwortung für die Aufgabe der Jugendhilfe gestärkt und die freie Jugendhilfe in die Verantwortung für die kommunale Jugendarbeit einbezogen werden. 127 Die Mindestanforderungen an die Zusammensetzung des Jugendwohlfahrtsaus‐ schusses wurden bewusst sehr eng gehalten und bundesrechtlich in § 9a des „Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes“ vom 28. August 1953 nur vorgeschrieben, dass außer den Mitgliedern der Ver‐ tretungskörperschaft (stimmberechtigt), den Personen auf Vorschlag der freien Wohlfahrtspflege (stimmberechtigt), dem Leiter der Verwaltung (beratend) und dem Leiter des Jugendamtes (beratend) als weitere beratende Mitglieder ein Arzt des Gesundheitsamtes, Vertreter der Kirchen und der jüdischen Kultusgemeinde und ein Vormundschaft- oder Jugendrichter dem Ausschuss angehören müssen. Landesrecht und örtliche Satzungen sollten regeln, welche Männer und Frauen der Jugendverbände und freien Vereinigungen der Jugendwohlfahrt zu zwei Fünfteln dem Jugendwohlfahrtsausschuss als stimmberechtigte Mitglieder angehören. Das LJWG vom 9. Juli 1963 bestimmte als weiteres beratendes Mitglied nur eine Vertretung der Schulen. 128 Weitere Mitglieder könnten durch die jeweiligen Jugendamtssatzungen bestimmt werden. Das SGB VIII vom 26. Juni 1990 verzichtet auf eine Bestimmung der be‐ ratenden Mitglieder ganz und überlässt dies „wegen der unterschiedlichen Interessenlagen in den einzelnen Ländern“ vollständig dem Landesrecht. 129 Zwingend vorgeschrieben wird aber in § 71 SGB VIII der Anteil von zwei Fünfteln der stimmberechtigten Mitglieder für die anerkannten freien Träger der Jugendhilfe. Das LKJHG vom 16. Mai 1991 überlässt die Zusammensetzung des Jugendhilfeausschusses den Satzungen der örtlichen Jugendämter, benennt in § 1 Abs. 2 aber insbesondere als beratende Mitglieder „Vertreter der Kirchen 148 Jürgen Treude <?page no="149"?> 130 Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 4. Juni 1991 - GBl. 1991, S.-299. 131 Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG vom 3. Juni 2021, Bundesgesetzblatt 2021 Teil I Nr.-29 vom 9. Juni 2021, S.-1444 -1456. 132 Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG), Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode - Drucksache 19/ 26107 vom 25. Januar 2021, S.-72. 133 Satzung der Stadt Konstanz über Jugendwohlfahrtspflege vom 1. Januar 1925, StadtA Konstanz S XII 439. und jüdischen Kultusgemeinde sowie der Schule; Arzt des Gesundheitsamtes; Vormundschafts- Familien- oder Jugendrichter.“ 130 Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) vom 3. Juni 2021 weicht al‐ lerdings von diesem Grundsatz wieder ab und bestimmt im neuen § 4a SGB VIII, dass die öffentliche Jugendhilfe selbstorganisierte Zusammenschlüsse fördern soll. Entsprechend wird in § 71 geregelt, dass dem Jugendhilfeausschuss als beratende Mitglieder selbstorganisierte Zusammenschlüsse angehören sollen. 131 Damit werde einer gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen, die stärker als bisher Betroffene in Entscheidungsprozesse einbeziehen soll,“ nach dem Leitgedanken ‚Nichts über uns ohne uns‘“. Die Tätigkeit nicht-staatlicher Organisationen und Initiativen in Form von selbstorganisierten Zusammen‐ schlüssen werde „vor Ort als besonders wirksam empfunden, insbesondere weil sie unmittelbar auf die Interessen Betroffener reagiert und nicht als von Fremdinteressen beeinflusst wahrgenommen wird.“ Es müsse sich allerdings um Zusammenschlüsse handeln, „die sich nicht nur vorübergehend zusammenge‐ funden haben.“ 132 Die Zusammensetzung des Jugendamtsausschusses, des Jugendwohlfahrts‐ ausschusses und des Jugendhilfeausschusses der Stadt Konstanz in den Jahren von 1925 133 bis 2022 zeigt, dass dieser gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen wurde. Von Beginn an immer vertreten waren die anerkannten kirch‐ lichen oder religiösen Gemeinschaften, der Schulbereich, das Gesundheitsamt bzw. ein Arzt und ein Jugend- oder Vormundschaftsrichter. Die nachfolgenden Institutionen kamen als beratende Mitglieder nach 1925 hinzu: Datum Institution Quelle im Stadtarchiv 8. November 1954 Arbeitsamt und Gesamt‐ elternbeirat der Schulen S XII 2776 8. Februar 1985 Zu den Vertretungen der katholischen und evange‐ S XII 2776 Das Stadtjugendamt Konstanz 149 <?page no="150"?> lischen Kirchengemeinden kam die Jüdische Kultusgemeinde hinzu 22. September 1994 Polizeidirektion Kon‐ stanz, Kindergartenprojekt‐ gruppe und Offene Kinder- und Jugendarbeit S XII 2776 26. Januar 1995 Sachkundige/ r ausländi‐ sche/ r Einwohnerin/ Ein‐ wohner S XII 2777 28. Januar 1999 Gesamtelternbeirat der Kinderbetreuungsein‐ richtungen S XII 2777 4. April 2001 „Arbeitsgemeinschaft Mäd‐ chenarbeit im Landkreis Konstanz“, mit Beschluss des Gemeinderates vom 22. März 2018 umbenannt in „Arbeitsgemeinschaft Mäd‐ chenarbeit Konstanz“ S XII 2777 30. November 2009 Anstelle der bisherigen Jü‐ dischen Kultusgemeinde er‐ hielten sowohl die israe‐ litischen Kultusgemeinde Konstanz als auch die Jüdi‐ schen Gemeinde Konstanz i. Gr. einen Sitz im Jugend‐ hilfeausschuss S XII 2777 10. Mai 2011 Zwei Vertreterinnen/ Ver‐ treter des Konstanzer Schü‐ lerparlaments S XII 2777 21. Dezember 2022 In Absprache mit dem Kon‐ stanzer Schülerparlament wurden die bisherigen zwei Sitze des Schülerparlaments zugunsten der Konstanzer Jugendvertretung auf einen Sitz reduziert Homepage der Stadt Kon‐ stanz (Ortsrecht) am 22. De‐ zember 2022 21. Dezember 2022 Für die bisherigen jüdi‐ schen Vertretungen wurden die Synagogengemeinde Konstanz K.d.ö.R. und die Jüdische Gemeinde Kon‐ stanz e. V. Mitglieder im Ju‐ gendhilfeausschuss Homepage der Stadt Kon‐ stanz (Ortsrecht) am 22. De‐ zember 2022 150 Jürgen Treude <?page no="151"?> Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass vor allem die Anzahl der beratenden Mitglieder angestiegen ist und eine gesellschaftliche Entwicklung widerspiegelt, die möglichst viele Interessengruppen an Entscheidungen beteiligen will. Dem Jugendhilfeausschuss gehören als stimmberechtigte Mitglieder - bun‐ desgesetzlich vorgegeben - immer zu zwei Fünfteln die Jugendverbände und die Verbände der freien Wohlfahrtspflege an. An Bedeutung gewonnen haben insbesondere die Arbeitsfelder Polizei, die Vertretung ausländischer Einwoh‐ nerinnen und Einwohner, die Gesamtelternbeiräte von Schulen und Kinderta‐ gesstätten, die offene Kinder- und Jugendarbeit, die Mädchenarbeit und die Jugendvertretungen der Schulen im Jugendhilfeausschuss und Gemeinderat. Die Größe des Ausschusses hat sich in 100 Jahren von 23 auf 34 Mitglieder vergrößert und damit eine Größenordnung erreicht, die eine Herausforderung für die Beibehaltung der Arbeitsfähigkeit darstellt. Entwicklung der Hilfestrukturen des Stadtjugendamtes Konstanz Erst mit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 26. Juni 1990 wurden sämtliche Einzelhilfen auf die örtliche Ebene verlagert. Alleinige Entscheidungsinstanz ist seitdem das örtliche Jugendamt, für die Stadt Konstanz also das Stadtjugendamt. Für die Darstellung der Hilfestrukturen wurden die Jahre ausgewählt, die über genügend differenziertes Zahlenmaterial verfügen und insofern mit anderen Jahren vergleichbar sind. Zu beachten ist dabei aber, dass eine Entwicklung und der Ausbau der unterschiedlichen Hilfeformen durch die gesetzlichen Vorgaben begrenzt werden: das RJWG z.-B. kannte noch keine ambulanten Hilfen und das JWG eröffnete zwar mehr Möglichkeiten, deren Nutzung hing aber von der Initiative, der finanziellen Situation vor Ort und der Kreativität der örtlichen Jugendämter ab. Die Zweigleisigkeit des Hilfesystems in Finanzierungszuständigkeiten - einerseits örtliches Jugendamt, andererseits Landesjugendamt - führte zwangs‐ läufig dazu, Hilfen auch oder überwiegend unter Kostenaspekten zu gewähren. Die Dominanz der Heimhilfen hatte also auch finanzielle Gründe. Dazu mussten aus der Interessenlage der Heimträger heraus vorhandene Heimplätze besetzt werden, einer Auswahl nach ausschließlich fachlichen Kriterien waren Grenzen gesetzt. Zunehmend entwickelten die Jugendämter auch sogenannte regionale Hilfeverbünde, um ihre Kooperationsstrukturen zu verbessern und Heimhilfen möglichst wohnortnah anbieten zu können. Diese Problematik greift auch der Gesetzentwurf zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG) auf Das Stadtjugendamt Konstanz 151 <?page no="152"?> 134 Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 5948 vom 01.12.1989, S.-66. 135 Ebd. 136 Expertise der Universität Koblenz im Auftrag des Bundesverbandes für Erziehungshilfe e. V. (AFET) zur Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre, AFET Sonderveröf‐ fentlichung November 2010, S.-57. 137 Ebd. und spricht sich für eine grundlegende Neuordnung und die Abschaffung des zweispurigen Hilfesystems aus. Mangels rechtlicher und allgemein anerkannter pädagogischer Kriterien zur Abgren‐ zung beider Hilfesysteme voneinander wird die Entscheidung, welche Maßnahme im Einzelfall gewährt werden soll, heute vornehmlich unter den Gesichtspunkte der Kostenbelastung getroffen, da im einen Fall die örtlichen Jugendämter, im anderen Fall die Landesjugendämter die Kosten zu tragen haben. 134 Wenn auch die Absolutheit der Aussage nicht auf alle Jugendämter zutreffen dürfte, weist sie doch auf einen entscheidenden Konflikt von Entscheidungs‐ strukturen hin, zwischen fachlichen und finanziellen Aspekten abzuwägen. Hintergrund der Neuordnung des Jugendhilferechts mit der Konzentration aller erzieherischer Hilfen auf der örtlichen Ebene ist auch, dass „seit der Einfügung der Einzelfallhilfe in § 6 JWG im Rahmen der Novelle von 1961 die öffentliche Erziehung (Freiwillige Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung) in der Praxis der Jugendhilfe zunehmend an Bedeutung verloren haben“. 135 Eine kritische Betrachtung der Heimerziehung mit der notwendigen Diffe‐ renziertheit ist im Rahmen dieser Aufarbeitung nicht möglich, zumal bis in die 1960er Jahre das Thema Heimerziehung bzw. Fürsorgeerziehung sowohl in Konstanz als auch in der Berichterstattung der überregionalen Medien nur eine untergeordnete Rolle spielte. Erst Ende der Sechziger Jahre setzten sich vermehrt Journalisten und Rundfunkbeiträge mit dem „in der Fürsorge enthaltenen Prinzip der Ausgrenzung, Disziplinierung und Unterdrückung, d. h. dem in den Heimen vielerorts praktizierten autoritären und repressiven Erziehungsstil auseinander.“ 136 Die Heimerziehung wurde „als veraltet und nicht mehr zeitgemäß bewertet.“ 137 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich das Stadtjugendamt Konstanz bereits 1960 mit dieser Thematik befasste. In einem Artikel „Das verlassene Kind“ , veröffentlicht 1960 im „Südkurier“, schilderte der Konstanzer Jugendamtsleiter Ludwig Eberhard seine persönlichen Eindrücke über die Heimerziehung insbesondere für kleinere Kinder und verband diese mit 152 Jürgen Treude <?page no="153"?> 138 Artikel „Das verlassenen Kind“ von Ludwig Eberhard, veröffentlicht im Südkurier - Ausgabe K - vom 16. April 1960, StadtA Konstanz S XII 2935. Zur Person Ludwig Eberhard, geb. am 11. Februar 1906, verstorben am 7. November 1970, siehe die Aufarbeitung von Jürgen Klöckler in diesem Buch. 139 Stellvertretender Jugendamtsleiter war zu diesem Zeitpunkt Walter Baur, geb. am 11. August 1912 in Gaienhofen. Nach seiner Tätigkeit als Sachbearbeiter bei der Stadt Singen (Hohentwiel) vom Mai 1932 bis zum 30. September 1938 war Walter Baur vom 1. Oktober 1938 bis zum 31. März 1976 bei der Stadt Konstanz in der Sozial- und Jugendhilfe beschäftigt. Im Anschluss an seine Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg trat er nach Durchlaufen eines Entnazifizierungsverfahren den Dienst zum 1. März 1947 im Jugendamt wieder an. Nachdem am 7. November 1970 der Leiter des Sozial- und Jugendamtes Ludwig Eberhard verstorben war, wurden die beiden bisher immer in Personalunion geleiteten Teile Jugendamt und Sozialamt organisatorisch getrennt und Walter Baur bis zu seinem vorzeitigen Ausscheiden aus gesundheitlichen Gründen zum 31. März 1976 in der Sitzung des Jugendwohlfahrtsausschusses am 15. November 1970 von Bürgermeister Weilhard per Handschlag zum Leiter des Jugendamtes bestellt. Vgl. dazu weiter: StadtA Konstanz S XII 894, 1473 und 1474. 140 Ebd. 141 Expertise (wie Anm. 136), S.-64. einer (vorsichtigen) Kritik an der Institution Erziehungsheim. 138 Kinderheime müssten in baulicher, personeller und pädagogischer Hinsicht umgestellt werden. Notwendig sind Heime, die einen familienähnlichen Aufbau haben, d. h. Heime, die keinen ausgesprochenen Durchgangscharakter haben (auch wenn sie für manche Kinder Durchgangsstation sein müssen), sondern die die Kinder in allen Altersstufen behalten können, Heime, die aufgegliedert sind in kleinere Gruppen, die - wie die Familie - das Kleinkind wie den 13jährigen Jungen wie das 10jährige Mädchen umschließen. 139 Die Heimträger müssten erkennen, dass die Zukunft kleinen familiengerechten Einrichtungen oder solchen mit Familiengruppen gehöre. Diese Erkenntnisse seien nicht neu, „würden aber bisher nur in bescheidenem Umfang in die Praxis umgesetzt.“ 140 Da die Heimträger die erforderlichen Änderungen nicht alleine bewältigen könnten, müssten gemeinsame Anstrengungen von Heimträgern, Behörden, Psychologen und Pädagogen unternommen werden, um der Verant‐ wortung für die Kinder gerecht werden zu können. Aber erst die Jahre 1968/ 69 stellten mit der sog. „Heimkampagne“ eine „histo‐ rische Zäsur nicht nur für die Heimerziehung dar, in der die Lebensbedingungen der Heimzöglinge skandalisiert wurden“. 141 Eine solche massive Kritik konnte von den öffentlichen Jugendhilfeträgern nicht mehr ignoriert werden und es bestand die Chance, an grundlegenden Veränderungen zu arbeiten und „die Das Stadtjugendamt Konstanz 153 <?page no="154"?> 142 Ebd., S.-66. 143 Jugendhilfe und Familie - die Entwicklung familienunterstützender Leistungen und ihre Perspektiven - Siebter Jugendbericht - Deutscher Bundestag 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 6730 vom 10. Dezember 1986, S.-48. 144 Ebd., S.-49. 145 Ebd., S.-53 f. 146 Bericht über die Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Achter Jugendbericht - Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 6576 vom 6. März 1990, S. 131. 147 Ebd., S.-139. Rahmenbedingungen der Heimerziehung und Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen grundlegend zu reformieren.“ 142 Vor diesem Hintergrund setzten sich sowohl der Siebte Jugendbericht von 1986 mit dem Thema „Jugendhilfe und Familie - die Entwicklung familienun‐ terstützender Leistungen der Jugendhilfe und ihre Perspektiven“ als auch der Achte Jugendbericht von 1990 im „Kapitel III - Tätigkeitsfelder der Jugendhilfe“ ausführlich mit der Entwicklung der Hilfen zur Erziehung auseinander und kamen beide zum Ergebnis, das bestehende Jugendhilfesystem durch ambulante Hilfen zu erweitern. So konnte der Siebte Jugendbericht aufgrund bisheriger Erfahrungen zeigen, dass die sozialpädagogische Familienhilfe „geeignet ist, bei Familien, in denen die Entwicklung mehrerer Kinder gefährdet erschien, innerhalb von einem bis zu drei Jahren wesentliche Veränderungen zu bewirken.“ 143 Der Bericht vertritt aber auch die Auffassung, dass einer solchen Familienhilfe auch Grenzen gesetzt sind und sie deshalb nicht „grundsätzlich an die Stelle einer Unterbringung von Kindern außerhalb der eigenen Familie treten kann.“ 144 Diese Hilfeform müsse fester Bestandteil der Jugendhilfe werden, aufgrund der bisherigen Erfahrungen ausgebaut und in das JWG aufgenommen werden. 145 Der Achte Jugendbericht kam ebenfalls zum Ergebnis, dass „im Zeichen der zunehmenden Lebensweltorientierung die offenen, begleitenden, ambulanten Hilfen gewichtiger, ausgebaut, intensiviert und differenziert werden.“ 146 Die Sozialpädagogische Familienhilfe sei vor allem in akuten Einzelkrisen, beim Tod eines Partners, bei Trennung und besonderen Schwierigkeiten mit Kindern geeignet. Sie biete Familien in schwierigen Lebenslagen eine lebensweltorien‐ tierte, komplexe Hilfe aus einer Hand. 147 Vor diesem Hintergrund ist zu bewerten, dass das Stadtjugendamt Konstanz bereits frühzeitig auf präventive Hilfeangebote setzte, so bereits seit 1973 auf die Pädagogischen Lernhilfen als besonders niedrigschwellige Hilfe, im SGB VIII von 1990 als „allgemeine Hilfe der Erziehung in der Familie“ in § 16 ermöglicht, seit 1981 auf die Sozialpädagogische Familienhilfe, im SGB VIII dann als „Sozialpädagogische Familienhilfe“ in § 31 festgeschrieben und seit 1982 auf 154 Jürgen Treude <?page no="155"?> die teilstationäre Hilfe in Tagesgruppen, im SGB VIII dann als „Erziehung in einer Tagesgruppe“ in §-32 festgeschrieben. Südkurier - Ausgabe K - vom 31. März 1984 mit einem Bericht über die Entwicklung der ambulanten Erziehungshilfen, insbesondere der teilstationären Hilfen. Das Stadtjugendamt Konstanz 155 <?page no="156"?> 148 Ebd. 149 Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 5948 vom 01.12.1989, S.-70 f. 150 Siehe auch dazu: Jugendhilfe und Familie - die Entwicklung familienunterstützender Leistungen und ihre Perspektiven - Siebter Jugendbericht - Deutscher Bundestag 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 6730 vom 10. Dezember 1986, S.-41. 151 F O E G E , Lisa: Von der Rettungsanstalt für Mädchen zum Sozialzentrum Schweden‐ schanze: Die von Wessenberg’sche Vermächtnisstiftung (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz, 17) Konstanz 2010, S.-41 f. Sowohl die Familienhilfe als auch die Tagesgruppen wurden aber nicht nur in Konstanz frühzeitig entwickelt, Modellprojekte der Familienhilfe gab es verein‐ zelt bereits seit 1970 148 , Modellprojekte der teilstationären Hilfe in Tagesgruppen seit 1980. 149 Pädagogische Lernhilfen werden auch im Siebten Jugendbericht als sinnvolle Leistung angesehen, da ab dem sechsten Lebensjahr die Schule bestimmend für die Lebenssituation von Kindern sei und sehr stark in den Alltag der Kinder und damit auch deren Familien eingreife. 150 Das Stadtjugendamt Konstanz gehörte also zu den Jugendämtern, die ihren rechtlichen und organisatorischen Spielraum, den die generalklauselartige Formulierung des § 6 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 ihnen ermöglicht hatte, auch tatsächlich im Sinne des Ausbaus einer differenzierten Hilfestruktur genutzt haben. So wurde z. B. zum 31. August 1977 das seit 122 Jahren bestehende Mädchenheim der öffentlich-rechtlichen von Wessenberg’schen Vermächtnis‐ stiftung an der Schwedenschanze in Konstanz aufgelöst und umstrukturiert. Die ersten Tagesgruppenplätze wurden 1982 auf Initiative und in Absprache mit dem Stadtjugendamt in Betrieb genommen. 151 Der Darstellung der Hilfestrukturen in Konstanz vorangestellt wird eine Synopse einiger rechtlicher Grundlagen von RJWG, JWG und SGB VIII, um die Änderungen seit 1922 fachpolitisch besser einordnen zu können. Zur schnelleren Orientierung sind entscheidende Passagen kursiv markiert. Die Synopse enthält nicht die Änderungen des SGB VIII durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) vom 3. Juni 2021, da sich diese Änderungen nicht auf die in der Synopse dargestellten Paragrafen beziehen. 156 Jürgen Treude <?page no="157"?> Synopse Rechtsgrundlagen RJWG - JWG - SGB VIII RJWG 1922 JWG 1961 SGB VIII 1990 Allgemeines § 1 RJWG Allgemeines § 1 JWG Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Ju‐ gendhilfe (§ 1 SGB VIII) Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtig‐ keit. Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtig‐ keit. (1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbe‐ stimmten, eigenverantwort‐ lichen und gemeinschaftsfä‐ higen Persönlichkeit. Das Recht und die Pflicht der Eltern zur Erziehung werden durch dieses Ge‐ setz nicht berührt. Gegen den Willen des Erziehungs‐ berechtigten ist ein Ein‐ greifen nur zulässig, wenn ein Gesetz es erlaubt. Das Recht und die Pflicht der Eltern zur Erziehung werden durch dieses Ge‐ setz nicht berührt. Gegen den Willen des Erziehungs‐ berechtigten ist ein Ein‐ greifen nur zulässig, wenn ein Gesetz es erlaubt. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natür‐ liche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen oblie‐ gende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staat‐ liche Gemeinschaft. Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, tritt, unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tä‐ tigkeit, öffentliche Jugend‐ hilfe ein. Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, tritt, unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tä‐ tigkeit, öffentliche Jugend‐ hilfe ein. (3) Jugendhilfe soll zur Ver‐ wirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere 1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachtei‐ ligungen zu vermeiden oder abzubauen, 2. jungen Menschen ermög‐ lichen oder erleichtern, ent‐ sprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähig‐ keiten in allen sie betref‐ fenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu inter‐ agieren und damit gleich‐ berechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können, 3. Eltern und andere Erzie‐ hungsberechtigte bei der Erziehung beraten und un‐ terstützen, Das Stadtjugendamt Konstanz 157 <?page no="158"?> 4. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, 5. dazu beitragen, posi‐ tive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familien‐ freundliche Umwelt zu er‐ halten oder zu schaffen. Schutzaufsicht §§ 56-59 RJWG Erziehungsbeistandschaft §§ 55-61 JWG Erziehungsbeistand, Be‐ treuungshelfer § 30 SGB VIII (§ 56) Ein Minderjähriger ist unter Schutzaufsicht zu stellen, wenn sie zur Ver‐ hütung seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Ver‐ wahrlosung geboten und ausreichend erscheint. (§ 55) Für einen Minder‐ jährigen, dessen leibliche, geistige oder seelische Ent‐ wicklung gefährdet oder geschädigt ist, ist ein Er‐ ziehungsbeistand zu be‐ stellen, wenn diese Maß‐ nahmen zur Abwendung der Gefahr oder zur Beseiti‐ gung des Schadens geboten und ausreichend erscheint. Der Erziehungsbeistand und der Betreuungshelfer sollen das Kind oder den Jugendlichen bei der Bewäl‐ tigung von Entwicklungs‐ problemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds unterstützen und unter Erhaltung des Le‐ bensbezugs zur Familie seine Verselbständigung fördern. (§57) Das Vormundschafts‐ gericht ordnet die Schutz‐ aufsicht von Amts wegen oder auf Antrag an. An‐ tragsberechtigt sind die El‐ tern, der gesetzliche Ver‐ treter und das Jugendamt. (§ 56) Das Jugendamt be‐ stellt den Erziehungsbei‐ stand auf Antrag des Per‐ sonensorgeberechtigten. - (§58) Die Schutzaufsicht be‐ steht in dem Schutz und der Überwachung des Min‐ derjährigen. Derjenige, der die Schutzaufsicht ausübt (Helfer) hat den Erziehungs‐ berechtigten bei der Sorge für die Person des Minderjäh‐ rigen zu unterstützen und zu überwachen. (§ 57 Abs 1) Liegen die Voraussetzungen des § 55 vor, wird aber ein Erzie‐ hungsbeistand nicht nach § 56 bestellt, so ordnet das Vormundschaftsgericht die Bestellung an. Der Erzie‐ hungsbeistand ist sodann vom Jugendamt zu be‐ stellen. - (§ 59) Die Schutzaufsicht erlischt mit der Volljährig‐ keit des Minderjährigen oder durch die rechtskräf‐ tige Anordnung der Für‐ sorgeerziehung. (§ 57 Abs. 2) Das Vormund‐ schaftsgericht entscheidet von Amts wegen oder auf Antrag. Antragsberechtigt ist jeder Personensorge‐ berechtigte und das Ju‐ gendamt. - 158 Jürgen Treude <?page no="159"?> (§ 58) Der Erziehungsbei‐ stand unterstützt die Per‐ sonensorgeberechtigten bei der Erziehung. Er steht dem Minderjährigen mit Rat und Hilfe zur Seite und berät ihn auch bei der Verwendung des Arbeitsverdienstes. - (§ 60) Das Jugendamt hat den Erziehungsbeistand zu beraten und bei seiner Tä‐ tigkeit zu unterstützen. - - (§ 61) Die Erziehungsbeis‐ tandschaft endet mit der Volljährigkeit. - Fürsorgeerziehung §§ 62-65 RJWG Fürsorgeerziehung §§ 64, 65 JWG - (§ 62) Die Fürsorgeerzie‐ hung dient der Verhütung oder Beseitigung der Ver‐ wahrlosung und wird in einer geeigneten Familie oder Erziehungsanstalt (§ 64) Das Vormund‐ schaftsgericht ordnet für einen Minderjährigen, der das 20./ 17. (ab 1975) Lebensjahr noch nicht vollendet hat, Fürsorgeer‐ ziehung an, wenn sie erfor‐ derlich ist, weil der Minder‐ jährige zu verwahrlosen - unter öffentlicher Aufsicht und auf öffentliche Kosten durchgeführt. droht oder verwahrlost ist. Fürsorgeerziehung darf nur angeordnet werden, wenn keine ausreichende andere Maßnahme ge‐ währt werden kann. - (§ 63) Ein Minderjähriger, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist durch Beschluss des Vor‐ mundschaftsgerichts der Fürsorgeerziehung zu über‐ weisen, - - 1. wenn die Vorausset‐ zungen des § 1666 oder 1838 des BGB vorliegen und die Ent‐ fernung des Minder‐ jährigen aus seiner bisherigen Umgebung zur Verhütung der Verwahrlosung erfor‐ (§ 65) Das Vormundschafts‐ gericht entscheidet von Amts wegen oder auf An‐ trag. Antragsberechtigt sind das Jugendamt, das Landes‐ jugendamt und jeder Per‐ sonensorgeberechtigte. Der Kreis der Antragsberech‐ - Das Stadtjugendamt Konstanz 159 <?page no="160"?> derlich ist, eine nach dem Ermessen des Vormundschafts‐ gerichts geeignete Unterbringung aber anderweitig nicht er‐ folgen kann; 2. wenn die Fürsorge‐ erziehung zur Be‐ seitigung der Ver‐ wahrlosung wegen Unzulänglichkeit der Erziehung erforder‐ lich ist. tigten kann durch Landes‐ recht erweitert werden. - Das Vormundschaftsgericht beschließt von Amts wegen oder auf Antrag. Antragsbe‐ rechtigt ist das nach § 7 zuständige Jugendamt. Das Antragsrecht kann landesge‐ setzlich ausgedehnt werden. - - - Freiwillige Erziehungshilfe §§ 62,63 JWG Hilfe zur Erziehung § 27 SGB VIII - (§ 62) Einem Minderjäh‐ rigen, der das 17. Lebens‐ jahr noch nicht vollendet hat und dessen leibliche, geistige oder seelische Ent‐ wicklung gefährdet oder geschädigt ist, ist Freiwil‐ lige Erziehungshilfe zu ge‐ währen, wenn diese Maß‐ nahme zur Abwendung der Gefahr oder zur Beseitigung des Schadens geboten ist und die Personensorgebe‐ rechtigten bereit sind, die Durchführung der Freiwil‐ ligen Erziehungshilfe zu fördern. -(§ 63) Das Landesju‐ gendamt gewährt Frei‐ willige Erziehungshilfe auf schriftlichen Antrag der Personensorgeberech‐ tigten. Der Antrag ist bei dem Jugendamt zu (1) Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entspre‐ chende Erziehung nicht ge‐ währleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung ge‐ eignet und notwendig ist. -(2) Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt. Art und Um‐ fang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Um‐ feld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden. Unterschiedliche Hilfearten können mitein‐ ander kombiniert werden, sofern dies 160 Jürgen Treude <?page no="161"?> stellen. Das Jugendamt nimmt zu dem Antrag Stel‐ lung. dem erzieherischen Bedarf des Kindes oder Jugend‐ lichen im Einzelfall ent‐ spricht. - - (2a) Ist eine Erziehung des Kindes oder Jugendli‐ chen außerhalb des Eltern‐ hauses erforderlich, so ent‐ fällt der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht da‐ durch, dass eine andere un‐ terhaltspflichtige Person bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen; die Gewäh‐ rung von Hilfe zur Erzie‐ hung setzt in diesem Fall voraus, dass diese Person bereit und geeignet ist, den Hilfebedarf in Zusam‐ menarbeit mit dem Träger der öffentlichen Jugend‐ hilfe nach Maßgabe der §§ 36 und 37 zu decken. -(3) Hilfe zur Erziehung umfasst insbesondere die Gewährung pädago‐ gischer und damit ver‐ bundener therapeutischer Leistungen. Bei Bedarf soll sie Ausbildungs- und Be‐ schäftigungsmaßnahmen im Sinne des § 13 Absatz 2 einschließen und kann mit anderen Leistungen nach diesem Buch kombi‐ niert werden. Die in der Schule oder Hochschule wegen des erzieherischen Bedarfs erforderliche An‐ leitung und Begleitung können als Gruppenange‐ bote an Kinder oder Ju‐ gendliche gemeinsam er‐ bracht werden, soweit dies dem Bedarf des Kindes oder Jugendlichen im Ein‐ zelfall entspricht. -(4) Wird ein Kind oder eine Jugendliche während ihres Aufenthalts in einer Ein‐ richtung oder einer Pfle‐ Das Stadtjugendamt Konstanz 161 <?page no="162"?> gefamilie selbst Mutter eines Kindes, so umfasst die Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung bei der Pflege und Erziehung dieses Kindes. Schutz der Pflegekinder (§§ 19-28 RJWG) Schutz der Pflegekinder (§§ 4, 5, 6, 27-36 JWG) Hilfe zur Erziehung in Voll‐ zeitpflege, Erlaubnis zur Vollzeitpflege §§ 27, 33, 44 SGB VIII) (§ 19) Pflegekinder sind Kinder unter 14 Jahren, die sich dauernd oder nur für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig, in fremder Pflege befinden. (§ 27) Pflegekinder sind Kinder unter 16 Jahren, die sich dauernd oder nur für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig, außer‐ halb des Elternhauses in Fa‐ milienpflege befinden. (§ 33) Hilfe zur Erzie‐ hung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendli‐ chen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Mög‐ lichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erzie‐ hungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders ent‐ wicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen. (§ 20) Wer ein Pflegekind aufnimmt, bedarf dazu der vorherigen Erlaubnis des Jugendamtes. -(§ 24) Pflegekinder unter‐ stehen der Aufsicht des Jugendamtes. Das gleiche gilt für uneheliche Kinder, die sich bei der Mutter be‐ finden. (§ 28) Wer ein Pflegekind aufnimmt (Pflegeperson), bedarf dazu der vorhe‐ rigen Erlaubnis des Ju‐ gendamtes. -(§ 29) Die Erlaubnis darf nur erteilt werden, wenn in der Pflegestelle das leib‐ liche, geistige und seelische Wohl des Pflegekindes ge‐ währleistet ist. (§ 44 Abs. 1) Wer ein Kind oder einen Jugend‐ lichen über Tag und Nacht in seinem Haus‐ halt aufnehmen will (Pfle‐ geperson), bedarf der Er‐ laubnis. Einer Erlaubnis bedarf nicht, wer ein Kind oder einen Jugendlichen Die Aufsichtsbefugnisse, insbesondere soweit sie für das gesundheitliche und sittliche Gedeihen des Kindes erforderlich sind, werden nach § 15 oder (§ 31) Pflegekinder unter‐ stehen der Aufsicht des Ju‐ gendamtes. Die Aufsicht er‐ streckt sich darauf, dass das leibliche, geistige und seeli‐ sche Wohl des Pflegekindes gewährleistet ist. 1. im Rahmen von Hilfe zur Erziehung oder von Ein‐ gliederungshilfe für see‐ lisch behinderte Kinder und Jugendliche auf Grund einer Vermittlung durch das Jugendamt, 162 Jürgen Treude <?page no="163"?> durch die Landesjugend‐ ämter geregelt. -Das Jugendamt hat die Pfle‐ geperson zu beraten und bei ihrer Tätigkeit zu unter‐ stützen. 2. als Vormund oder Pfleger im Rahmen seines Wirkungskreises, 3. als Verwandter oder Verschwägerter bis zum dritten Grad, 4. bis zur Dauer von acht Wochen, 5. im Rahmen eines Schüler- oder Jugendaus‐ tausches, 6. in Adoptionspflege (§ 1744 des Bürgerlichen Ge‐ setzbuchs) über Tag und Nacht aufnimmt. -(§ 44 Abs. 2) Die Erlaubnis ist zu versagen, wenn das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen in der Pflege‐ stelle nicht gewährleistet ist. § 72a Absatz 1 und 5 gilt entsprechend. -(§ 44 Abs. 3) Das Jugendamt soll den Erfordernissen des Einzelfalls entsprechend an Ort und Stelle überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Erteilung der Erlaubnis weiter bestehen. Ist das Wohl des Kindes oder des Ju‐ gendlichen in der Pflegestelle gefährdet und ist die Pflege‐ person nicht bereit oder in der Lage, die Gefährdung abzuwenden, so ist die Erlaubnis zurückzu‐ nehmen oder zu wider‐ rufen. (§ 44 Abs. 4) Wer ein Kind oder einen Jugend‐ lichen in erlaubnispflich‐ tige Familienpflege aufge‐ nommen hat, hat das Jugendamt über wichtige Ereignisse zu unterrichten, die das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen be‐ treffen. Das Stadtjugendamt Konstanz 163 <?page no="164"?> 152 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt, Reichsgesetzblatt Teil 1, 29. Juli 1922, S.-633-648. 153 Ebd. 154 Ebd. 155 Jahresbericht über die Tätigkeit des Stadtjugendamtes Konstanz in der Zeit vom 1. April 1929 bis 31. März 1930, StadtA Konstanz S XII 157, S.-15. Die Hilfestruktur in Konstanz im Rahmen des RJWG Das RJWG von 1922 152 unterscheidet grundsätzlich die Hilfeformen Schutzauf‐ sicht gemäß § 56 RJWG, Fürsorgeerziehung in Erziehungsanstalten oder einer geeigneten Familie unter öffentlicher Aufsicht und auf öffentliche Kosten gemäß § 62 RJWG und Pflegekinder unter 14 Jahren in einer fremden Familie gemäß § 19 RJWG. Die Schutzaufsicht und die Fürsorgeerziehung werden vom Vormundschaftsgericht entweder von Amts wegen oder auf Antrag des örtlichen Jugendamtes angeordnet. Die Fürsorgeerziehung gem. § 62 RJWG „dient der Verhütung oder Beseiti‐ gung der Verwahrlosung und wird in einer geeigneten Familie oder Erziehungs‐ anstalt unter öffentlicher Aufsicht und auf öffentliche Kosten durchgeführt“. Sie ist insbesondere vom Vormundschaftsgericht zu beschließen, wenn gemäß § 1666 BGB das geistige oder leibliche Wohl des Kindes durch die missbräuchliche elterliche Sorge oder Vernachlässigung gefährdet ist oder die Eltern sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig gemacht haben „und die Entfer‐ nung des Minderjährigen aus seiner bisherigen Umgebung zur Verhütung der Verwahrlosung erforderlich ist.“ 153 Bei der Schutzaufsicht können auch die Eltern oder der gesetzliche Vertreter den Antrag stellen. Gemäß §§ 56 ff. RJWG „ist ein Minderjähriger unter Schutz‐ aufsicht zu stellen, wenn sie zur Verhütung seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Verwahrlosung geboten und ausreichend ist.“ 154 Die (präventive) Schutzaufsicht zur Beaufsichtigung der Lebensführung kann vom Vormund‐ schaftsgericht einer Vereinigung für Jugendhilfe oder einer einzelnen Person als Helfer übertragen werden. Das Jugendamt kann die Schutzaufsicht aber auch ohne gerichtliche Anordnung ausüben, wenn die Erziehungsberechtigten damit einverstanden sind. Der Jahresbericht 1929/ 30 des Stadtjugendamtes Konstanz erläutert dazu, dass die Durchführung der Schutzaufsicht teilweise durch beamtete Organe des Jugendamts (Fürsorgeschwestern, Kontrolleure), größtenteils aber durch ehrenamtliche Helfer und Helferinnen erfolgte. 155 Im Geschäftsbericht über die Tätigkeiten des Jugendamtes im Jahr 1953 wird an der Praxis der Schutzaufsicht dargelegt, dass sie nicht das erfüllt habe, „was sich die Schöpfer des RJWG von ihr versprachen“. Einerseits habe es an geeigneten Persönlichkeiten gefehlt, die sich der jungen Menschen annehmen 164 Jürgen Treude <?page no="165"?> 156 Geschäftsbericht über die Tätigkeit des Jugendamtes im Jahr 1953 S. 13, StadtA Konstanz S XII 2781. 157 Jahresbericht 1957 des Jugendamtes Konstanz, S.-26 f., StadtA Konstanz S XII 2781. 158 F R I E D E B E R G , Edmund/ P O L L I G K E I T , Wilhelm/ G I E S E , Dieter: Das Gesetz für Jugendwohl‐ fahrt - Kommentar. Dritte völlig neubearbeitete Auflage von Dr. jur. Dieter Geese, Köln 1972, S.-101. 159 Jahresbericht über die Tätigkeit des Stadtjugendamtes Konstanz in der Zeit vom 1. April 1929 bis 31. März 1930, StadtA Konstanz S XII 157 S.-5. konnten, andererseits müsse sich die Schutzaufsicht aber, wenn sie einen Sinn haben solle, „von der Aufsicht zur Hilfe hinentwickeln. Es genügt nicht, dass der Helfer sich gelegentlich nach dem Betragen des Jugendlichen erkundigt und danach seinen ‚Bericht‘ an das Jugendamt sendet.“ 156 Diese Einschätzung findet sich auch im Jahresbericht 1957 des Jugendamtes wieder, vor allem fehle es an geeigneten Helfern. 157 Der Schutz der Pflegekinder gemäß §§ 19 - 31 RJWG „dient dazu, die Minderjährigen, die außerhalb ihrer Familie bei fremden Personen unterge‐ bracht sind und die der Gesetzgeber als schutzbedürftig ansieht, unter einen besonderen Schutz der Jugendwohlfahrtsbehörde zu stellen.“ 158 Pflegekinder sind Kinder unter 14 Jahren, die sich dauernd oder nur für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig, in fremder Pflege befinden. Sie unterstehen der Aufsicht des Jugendamtes, die aufnehmende Familie bedarf der vorherigen Erlaubnis des Jugendamtes. Unter der Aufsicht des Jugendamtes stehen auch uneheliche Kinder, die sich bei der Mutter befinden. Die Aufsichtsbefugnisse umfassen das gesundheitliche und sittliche Gedeihen des Kindes, das in der leiblichen Familie nicht mehr gewährleistet war. Überwacht werden in der Stadt Konstanz die Pflegeeltern durch die Fürsorgeschwestern des Jugendamtes in Verbindung mit den Organisationen der freien Jugendhilfe. Für das Jahr 1930 wird dabei u. a. aber auch festgestellt, dass es viele Antragsteller gibt, denen es weniger um das Wohl des Kindes gehe und mehr darum, über eine verlässliche Einnahmequelle zu verfügen. 159 Auffällig nicht nur für die Haltung des Stadtjugendamtes Konstanz, sondern auch anderer Jugendämter im Umkreis ist, dass bereits frühzeitig, vermutlich vor allem aus Kostengründen, die Ausschließlichkeit der Anstaltserziehung in Frage gestellt wurde. In einem Schreiben von 1930 an den Oberbürgermeister der Stadt Konstanz, in dem sowohl die Entwicklung der Fallzahlen seit 1926 als auch die Kostenentwicklung dargestellt wird, heißt es, dass die Anstaltserziehung nur dann angeordnet wird, wenn dies unumgänglich notwendig ist. Abgesehen von den finanziell günstigeren Hilfen in Familien „haben wir aber die Wahrnehmung gemacht, dass wir mit der Familienerziehung weit größere Erfolge erzielt haben als bei Zöglingen in den Anstalten, insbesondere wenn es sich um männliche Das Stadtjugendamt Konstanz 165 <?page no="166"?> 160 Schreiben des Stadtjugendamtes Konstanz vom 4. Dezember 1930 an den Oberbürger‐ meister Moericke, StadtA Konstanz S XII 2939. 161 Die Fallzahlen (Stichtagszahlen) siehe Jahresberichte und Statistische Berichte StadtA Konstanz S XII 157, 586, 1053 und Digitale Akte des Sozial- und Jugendamts - Az. 451.54. 162 1934 erfolgte die Eingemeindung von Wollmatingen. 163 Auch das Jugendamt Konstanz führte diese Form der sog. Überörtlichen Freiwilligen Erziehungshilfe (FEH) bereits seit 1950 durch, wie Unterlagen des Stadtarchivs Kon‐ stanz belegen. Siehe dazu auch das Kapitel „Die Hilfestrukturen in Konstanz im Rahmen des JWG“. 164 Bei den Zahlen für 1929/ 30 und 1939 handelt es sich um die Anzahl der Pflegestellen. Fürsorgezöglinge handelte.“ 160 Offensichtlich gab es neben den finanziellen Aspekten aber doch auch noch im weitesten Sinne pädagogische Argumente, die Berücksichtigung fanden. Während also bei der Fürsorgeerziehung und der Schutzaufsicht die Überwa‐ chung und Kontrolle im Vordergrund stehen, ist bei den Pflegekindern neben der Überwachung auch das gesunde Aufwachsen im Blick des Jugendamtes. In der Zeit von 1929/ 30 bis 1959 waren im Rahmen des RJWG folgende Fallzahlen zu verzeichnen: Entwicklung der Hilfestruktur in Konstanz Anzahl der Kinder und Jugendli‐ chen 161 - - - - - - - 1929/ 30 1939 1950 1953 1955 1959 Einwohnerzahlen Konstanz 162 33.000 37.700 43.000 47.700 49.500 52.000 - - - - - - - RJWG vom 9. Juli 1922 - - - - - - §§ 62 ff. Fürsorgeerziehung (FE) in Anstalten 26 75 21 10 5 17 §§ 62 ff. Fürsorgeerziehung (FE) in Familien 62 21 9 17 6 4 §§ 62 ff. Überörtliche Freiwillige Er‐ ziehungshilfe 163 - - 13 46 38 46 §§ 56 ff. Schutzaufsicht 75 46 21 13 10 12 §§ 19 ff. Pflegekinder unter 14 in fremder Pflege 164 236 148 89 99 99 106 Ohne Pflegekinder stellt sich das Bild so dar: 166 Jürgen Treude <?page no="167"?> 165 Gesetz für Jugendwohlfahrt ( JWG), Bundesgesetzblatt Jahrgang 1961, Teil I vom 16. August 1961, S.-1205-1219. 1929/ 30 1939 1950 1953 1955 1959 88 96 30 27 11 21 0 0 13 46 38 46 75 46 21 13 10 12 Hilfefälle in Konstanz 1929 - 1959 (RJWG ohne Pflegekinder) §§ 62 ff. FE in Anstalten und Familien §§ 62 ff. Überörtliche FEH §§ 56 ff. Schutzaufsicht Die Hilfestruktur in Konstanz im Rahmen des JWG Das JWG von 1961 165 lässt den örtlichen Jugendämtern - wie bereits beschrieben - einen relativ großen Spielraum bei der Entwicklung von neuen Hilfen gemäß §§ 5,6 JWG auch über folgende Hilfeformen hinaus: Fürsorgeerziehung in einem Heim oder einer geeigneten Familie gemäß § 64 JWG; freiwillige Erziehungshilfe in einem Heim oder einer geeigneten Familie gemäß § 62 JWG; Hilfe zur Erziehung in einer Familie außerhalb des Elternhauses, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung gemäß §§ 5,6 JWG; Hilfe zur Erziehung außerhalb des Elternhauses in Familienpflege gemäß § 27 JWG für Kinder unter 16 Jahren und der Erziehungsbeistandschaft gemäß §§ 55 ff. JWG. Über die Fürsorgeerziehung als der immer noch schärfsten Form staatlichen Eingriffs wird vom Vormundschaftsgereicht von Amts wegen oder auf Antrag des Landesjugendamtes, des örtlichen Jugendamtes oder des Personensorge‐ berechtigten entschieden. Sie wird gemäß § 64 JWG angeordnet, wenn „sie erforderlich ist, weil der Minderjährige zu verwahrlosen droht oder verwahrlost ist. Fürsorgeerziehung darf nur angeordnet werden, wenn keine andere ausrei‐ chende Erziehungsmaßnahme gewährt werden kann.“ Demgegenüber entscheidet über die neu eingeführte Freiwillige Erziehungs‐ hilfe gem. § 62 JWG - ebenso wie die Fürsorgeerziehung gegenüber anderen erzieherischen Hilfen nachrangig - auf Antrag der Personensorgeberechtigten das Landesjugendamt. Das örtliche Jugendamt nimmt nur Stellung. Die Freiwil‐ lige Erziehungshilfe ist einem Minderjährigen zu gewähren, Das Stadtjugendamt Konstanz 167 <?page no="168"?> 166 M Ü N D E R , Johannes (Mitarb.): Frankfurter Kommentar zum Gesetz für Jugendwohlfahrt, Weinheim/ Basel 1978, S.-280. 167 Siehe Geschäftsbericht des Jugendamtes 1953, StadtA Konstanz S XII 1225, S XII 2781 und Jahresstatistik der öffentlichen Jugendhilfe 1955---StadtA Konstanz S XII 1053. 168 S A C Hẞ E , Christoph: Die Erziehung und ihre Recht - Vergesellschaftung und Verrecht‐ lichung von Erziehung in Deutschland 1870-1990, Weinheim/ Basel 1918, S.-95 f. 169 F R I E D E B E R G / P O L L I G K E I T / G I E S E (wie Anm. 158), S.-148. dessen leibliche, geistige oder seelische Entwicklung gefährdet oder geschädigt ist, wenn diese Maßnahme zur Abwendung der Gefahr oder zur Beseitigung des Schadens geboten ist und die Personensorgeberechtigten bereit sind, die Durchführung der Freiwilligen Erziehungshilfe zu fördern. Die Aufnahme der Freiwilligen Erziehungshilfe in das JWG erfolgte, „nachdem einige Landesjugendämter diese Form der Erziehungshilfe über längere Zeit mit Erfolg praktiziert hatten.“ 166 Auch das Jugendamt Konstanz führte diese Form der „Überörtlichen Freiwilligen Erziehungshilfe“, in der Statistik der öffentlichen Jugendhilfe des Landes Südbaden 1950 noch als „Minderjährige in Ersatzerziehung“ bezeichnet, bereits seit 1950 im Rahmen des RJWG durch, wie Unterlagen des Stadtarchivs Konstanz belegen. 167 Hintergrund dieser Form der Erziehungshilfe war, dass ein Erlass des Reichs‐ ministeriums des Innern vom 25. August 1943 die Freiwillige Erziehungshilfe reichsweit eingeführt hatte und vom Kontrollrat 1945 nicht aufgehoben worden war. Damit diente der Erlass nach der Gründung der Bunderepublik in mehreren Bundesländern auch weiter als Rechtsgrundlage der Freiwilligen Erziehungs‐ hilfe; einer Praxis, die in den Ländern Hamburg, Bremen und Sachsen bereits in der Weimarer Republik praktiziert wurde. 168 Die Erziehungsbeistandschaft ersetzt die Schutzaufsicht nach § 56 RJWG und wird vom Jugendamt entweder auf Antrag des Personensorgeberechtigten oder auf Anordnung des Vormundschaftsgerichtes bestellt. Während die Schutz‐ aufsicht des RJWG nur durch das Vormundschaftsgericht angeordnet und die Ausübung auf das Jugendamt, einen Verein oder eine natürliche Person übertragen werden konnte, ist die Erziehungsbeistandschaft stärker als freiwil‐ lige Erziehungshilfe ausgestaltet; bestellt werden können nur noch natürliche Personen und keine Organisationen. Dadurch hat sich auch der Schwerpunkt ihrer Aufgabe von der Überwachung des Minderjährigen auf die Unterstützung der Personensorgeberechtigten verlagert. Von den Erziehungsmaßnahmen des Abschnitte VI Erziehungsbeistandschaft - Freiwillige Erziehungshilfe-Fürsorgeerziehung - stellt sie die mildeste Form dar. 169 168 Jürgen Treude <?page no="169"?> 170 M Ü N D E R (wie Anm. 166), S.-261. 171 Richtlinien des Landeswohlfahrtsverbandes Baden für die Bewilligung von Zuschüssen für die Personal- und Sachkosten hauptamtlicher Erziehungsbeistände und Erziehungs‐ helfer vom 23. April 1970, StadtA Konstanz S XII 1621. 172 Schreiben vom 10. Mai 1972 an den Konstanzer Bürgermeister Weilhard, StadtA Konstanz S XII 1621. Auch für Münder ist „Hauptvorteil dieser Neuregelung die Abkehr von einer Schutz- und Überwachungsfunktion zu einer mehr erzieherischen Hilfe für Eltern und Kinder. 170 Um diese Form der Erziehungshilfe gezielter entwickeln zu können, erließ der Landeswohlfahrtsverband 1970 „Richtlinien für die Bewilligung von Zu‐ schüssen für die Personal- und Sachkosten hauptamtlicher Erziehungsbeistände und Erziehungshelfer“. Zielsetzung und Zweck der Förderung war, durch vor‐ beugende Hilfe vermeidbare Heimeinweisungen zu verhindern, Heimaufent‐ halte nicht wegen fehlender intensiver Betreuung unnötig auszudehnen und Minderjährigen, die aus besonderen Gründen nicht in einem für sie geeigneten Heim untergebracht werden können, auf diese Weise eine angemessene Hilfe zukommen zu lassen. Die Betreuungen durch hauptamtliche Kräfte sollen sich im Unterschied zu ehrenamtlichen Personen schwerpunktmäßig auf Minder‐ jährige mit einem besonderen Erziehungsbedarf konzentrieren. 171 In einem Schreiben vom 10. Mai 1972 an den Konstanzer Bürgermeister Weilhard wirbt der damalige Abteilungsleiter des Jugendamtes Walter Baur für die Beteiligung des Jugendamtes an dieser Fördermaßnahme und plädiert dafür, hauptamtliche Erziehungsbeistände bei einem freien Träger anzustellen, z. B. dem Caritasverband und/ oder der Arbeiterwohlfahrt. Die Finanzierung erfolge zu je einem Drittel aus Mitteln des Landesjugendamtes, des Stadtjugendamtes im Rahmen der Einzelhilfen und des jeweiligen freien Trägers. Gleichzeitig bringt er aber auch seine Skepsis dieser Hilfeform gegenüber mit der Begründung zum Ausdruck, dass für solche Maßnahmen nur schwer hauptamtliche Fachkräfte zu bekommen seien und andere Jugendämter deshalb auch nur sehr zögerlich von den Richtlinien Gebrauch machten. 172 Der Dritte Jugendbericht von 1972, der sich mit der Hilfeform „Erziehungs‐ beistandschaft“ kritisch auseinandersetzt, stützt diese Skepsis und weist nach, dass in den vergangenen sieben Jahren in dieser Hilfeform ein Rückgang von über 50 Prozent zu verzeichnen war. Einerseits sei es schwerer geworden, wegen der schwieriger gewordenen Aufgaben geeignete ehrenamtliche Erziehungsbei‐ stände zu finden, andererseits hätte die Jugendämter es aber auch versäumt, hauptamtliche Erziehungsbeistände selber anzustellen. Das sei aber auch Das Stadtjugendamt Konstanz 169 <?page no="170"?> 173 Bericht der Bundesregierung über die Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Jugendbericht - Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode, Drucksache VI/ 3170 vom 23. Februar 1972, S.-63. 174 Ebd., S 66. 175 M Ü N D E R (wie Anm. 166), S.-263. 176 W I E S N E R , Reinhard: SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, München 1995, § 33 Rn. 2, S. 347. auf finanzielle Überlegungen zurückzuführen. Während die Kosten für die Erzie‐ hungsbeistandschaft vom örtlichen Jugendamt zu tragen sind, werden fast überall die Heimkosten innerhalb der Freiwilligen Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung von dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe (dem Landesjugendamt) übernommen. 173 Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass auch in Konstanz trotz des Förderprogramms des Landeswohlfahrtsverbandes solche Überlegungen angestellt wurden und die Anzahl der Erziehungsbeistände erst wieder mit Inkrafttreten des SGB VIII 1991 anstieg. Einzelhilfen zur Erziehung konnten auch noch als „formlose Betreuung“ von Fachkräften des Jugendamtes oder freier Träger der Jugendhilfe ausgeführt werden. Typisch für diese Hilfeform ist die Freiwilligkeit und das Zusammen‐ wirken mit den Erziehungsberechtigten. 174 1969 wurden 136 Kinder und Jugendliche betreut, 1986 waren es 162 Kinder und Jugendliche und 1990 insgesamt 224 Kinder und Jugendliche. Diese Stei‐ gerung entspricht einem bundesweiten Trend des Rückgangs von Erziehungs‐ beistandschaften zugunsten der „formlosen Betreuung“. In der Praxis habe sich gezeigt, dass die Erziehungsbeistandschaften nur als freiwillige Hilfe sinnvoll angewandt werden kann, da eine vormundschaftlich angeordnete Erziehungsbeistandschaft die Zusammenarbeit zwischen dem Minderjährigen und dem Personensorgeberechtigten einerseits und dem Erziehungsbeistand andererseits erschwert, wenn nicht gar un‐ möglich macht. 175 Neben der Heimerziehung ist das Pflegekinderwesen eine der traditionellen Formen der Fremderziehung eines Kindes außerhalb des Elternhauses und soll die familiäre Erziehung durch die Eltern ersetzen. Das eingriffsrechtlich strukturierte JWG befasste sich mit der Pflegekindschaft im Wesentlichen unter dem Gesichtspunkt der Pflegekinderaufsicht (§§ 27-36 JWG). Die Hilfe zur Erziehung trat demgegenüber in den Hintergrund. 176 Pflegekinder sind Kinder unter 16 Jahren, die sich dauernd oder nur für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig, außerhalb des Elternhauses in Familienpflege befinden. Sie unterstehen der Aufsicht des Jugendamtes, die aufnehmende 170 Jürgen Treude <?page no="171"?> 177 Ebd. vor § 27 Rdnr. 12, S.-270. 178 Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Fünfter Jugendbericht - Deutscher Bundestag 8. Wahlperiode, Drucksache 8/ 3685 vom 20. Februar 1980, S. 174. Familie bedarf der vorherigen Erlaubnis des Jugendamtes. Im Unterschied zum RJWG stehen „uneheliche Kinder, die sich bei der Mutter befinden“ (§ 24 RJWG), nicht mehr unter der Aufsicht des Jugendamtes. Die Aufsicht des Jugendamtes erstreckt sich darauf, das leibliche, geistige und seelische Wohl des Pflegekindes zu gewährleisten. Das Jugendamt hat die Pflegeperson zu beraten und bei ihrer Tätigkeit zu unterstützen. Das örtliche Jugendamt gewährt Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 5/ 6 JWG dem jeweiligen erzieherischen Bedarf entsprechend rechtzeitig und ausreichend in einer Familie außerhalb des Elternhauses, in einem Heim oder in einer sonstigen Einrichtung und verantwortet die entstehenden Kosten. Anders verhält es sich bei der Fürsorgeerziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe, die vom Landesjugendamt - unter Beteiligung des örtlichen Jugendamtes - sowohl ausgeführt wird als auch die gesamten Kosten getragen werden. Die Entwicklung der Einzelhilfen nach Verabschiedung des JWG von 1961 war zunächst dadurch geprägt, dass sowohl die Anzahl der vom Vormund‐ schaftsgericht angeordneten Fürsorgeerziehungsfälle als auch die vom Landes‐ jugendamt durchgeführten Freiwilligen Erziehungshilfen zurückgingen. Schon vor Inkrafttreten des KJHG wurden etwa 75 % aller Heimunterbringungen auf der Grundlage der §§ 5,6 JWG von den örtlichen Jugendämtern entschieden und finanziert. 177 Waren Anfang 1969 in Konstanz noch 28 Fürsorgeerziehungsfälle und 92 Fälle der Freiwilligen Erziehungshilfe zu verzeichnen, ging diese Zahl bis 1983 auf nur noch 16 Fälle der Freiwilligen Erziehungshilfe zurück, Fürsorgeerziehungsfälle wurden seit 1980 nicht mehr durchgeführt. Stattdessen wurden die Schwer‐ punkte der Bewilligungen auf die Hilfen zur Erziehung im Heim bzw. einer Familie außerhalb des Elternhauses gemäß §§ 5/ 6 JWG gelegt (1983: 156 Hilfen), die in alleiniger Verantwortung des Stadtjugendamtes Konstanz geplant und im Konsens mit den Personensorgeberechtigten durchgeführt wurden. Der Anteil der Fälle der Fürsorgeerziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe zusammen lag 1969 in Konstanz bereits erheblich unter dem Bundesdurchschnitt, siehe dazu auch Fünfter Jugendbericht von 1980, S.-174. 178 Die Hilfeform der Sozialpädagogischen Familienhilfe wurde in Konstanz erstmals 1981 begonnen. 1983 wurden 14 Familien betreut, im Zeitraum von April 1989 bis April 1991 waren es bereits 104 Familien mit insgesamt 230 Das Stadtjugendamt Konstanz 171 <?page no="172"?> 179 Bericht über die Sozialpädagogische Familienhilfe im Jugendhilfeausschuss der Stadt Konstanz am 12. Februar 1992, StadtA Konstanz S XII 1731. 180 Ebd. 181 Richtlinien für die Förderung von Erziehungs- und Familienhelfern durch den Landes‐ wohlfahrtsverband Baden vom 7. Dezember 1984, S.-1, StadtA Konstanz S XII 1740. 182 Bericht über die Sozialpädagogische Familienhilfe im Jugendhilfeausschuss der Stadt Konstanz am 12. Februar 1992, StadtA Konstanz S XII 1731. Kindern. 179 Mit dem am 12. August 1986 gegründeten Verein „Familienhilfe e. V. - Verein für Familien- und Erziehungshilfe“ wurde in enger Zusammenarbeit die Sozialpädagogische Familienhilfe ausgebaut und konzeptionell weiterent‐ wickelt. Zielgruppen der Familienhilfe in Konstanz sind Familien in besonderen Krisen- und Konfliktsituationen wie z. B. nach einer Trennung der Eltern, akuten Erkrankungen, Suchtverhalten, psychiatrischen Auffälligkeiten oder chronischen Beziehungskonflikten, Familien, in denen Verwahrlosung oder Vernachlässigung der Kinder droht oder eine gravierende Schulproblematik vorliegt und Familien mit Kindern nach einem Heimaufenthalt. 180 Auch das Landesjugendamt Baden sah in dieser Hilfeform erhebliche Vorteile und entwi‐ ckelte 1984 Förderrichtlinien, um sie landesweit ausbauen zu können. Damit erhielt das Stadtjugendamt Konstanz die Möglichkeit, Zuschüsse für den Ausbau zu erhalten und die eigene Hilfestruktur weiterzuentwickeln. Voraussetzung für die Gewährung einer Familienhilfe nach diesen Richtlinien ist, dass ein junger Mensch oder eine Familie die erzieherischen, persönlichen oder sozialen Schwierigkeiten von sich aus nicht bewältigt, die ambulanten Hilfen der sozialen Dienste und der Beratungsstellen nicht ausreichen und Erziehungshilfe in der Pfleg‐ familie oder im Heim nicht oder nicht mehr erforderlich ist. 181 In einer Dokumentation des „Vereins für Familien- und Erziehungshilfe“, vor‐ getragen im Jugendhilfeausschuss der Stadt Konstanz am 12. Februar 1992, wird als Hauptziel der Intervention definiert, die Erziehungsfähigkeit der Eltern zu stärken, alleinerziehende Elternteile beim ihrer Erziehungsaufgabe zu unterstützen und der Familie bei einer Neuorientierung und Umstrukturierung von Rollen und Interaktionsformen zu helfen, sodass Symptome überflüssig werden oder die Herausnahme von Kindern in Heimerziehung vermieden wird. 182 Mit den Sozialpädagogische Tagesgruppen wird seit 1982 als stadtteilbezogenes teilstationäres Angebot Konstanzer Familien ein Betreuungsangebot an fünf Tagen in der Woche gemacht, das präventiv und möglichst frühzeitig familien‐ 172 Jürgen Treude <?page no="173"?> 183 Siehe Broschüre 1994: Sozialpädagogische Tagesgruppen - ein Jugendhilfeangebot der Stadt Konstanz, StadtA Konstanz S XII 1732. 184 Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilfer‐ echts, Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 5948 vom 1. Dezember 1989, S.-71. 185 Ebd. orientierte Unterstützung und Hilfe gewährleisten soll, um auf diese Weise einschneidenderen Maßnahmen wie einer Heimunterbringung vorzubeugen. Dabei sollen sowohl Vorschulals auch Schulkinder in einer umfassenden Tagestruktur im emotionalen und kognitiven Bereich sowie im Leistungsbereich intensiv gefördert werden. Hauptkooperationspartner neben den Eltern und der Schule sind die Kindertagesstätten. Die Tagesgruppe soll als Angebot der Hilfe zur Erziehung zwischen bera‐ tenden Hilfen einerseits und Fremdunterbringung andererseits im Vorfeld von Problemverfestigungen ganz wesentlich dazu beitragen, dass Familien gestärkt, Kinder in ihrer Entwicklung ausreichend gefördert und damit eine Unterbringung außerhalb der Familie verhindert werden kann. Konzeptionell wesentlich ist sowohl die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Kindern und ihren Eltern als auch die Einbindung in den sozialen Nahraum, später als Stadtteilorientierung bezeichnet. 183 Nachdem 1983 die ersten Erfahrungen mit den zunächst 25 Plätzen, davon 13 Plätze für Vorschul- und Schulkinder im Kinderhaus am See (ehemalige Freiluftschule beim Konstanzer Wasserwerk und Außenstelle des Sozialzen‐ trums Stockacker) und zwölf Plätze ebenfalls für Vorschul- und Schulkinder im Sozialzentrum von Wessenberg, gemacht worden waren und die Ergebnisse als sehr positiv bewertet werden konnten, erfolgte noch im Rahmen des JWG ein Ausbau auf 47 Plätze 1990 und nach in Krafttreten des SGB VIII auf 116 Plätze im Jahr 2011. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts vom 1. Dezember 1989 wird dazu ausgeführt, dass sich diese Hilfeform in den letzten 10 Jahren bewährt habe. Als Angebot „an der Schnittstelle zwischen ambulanten und stationären Hilfen angesiedelt, überwindet es zugleich starre Grenzen zwischen den einzelnen Hilfeformen.“ 184 Die bisherigen Erfahrungen „mit dieser Art der Erziehungshilfe lassen es geboten erscheinen, sie als neuen Hilfetypus gesetzlich zu verankern.“ 185 Das Stadtjugendamt Konstanz 173 <?page no="174"?> Südkurier - Ausgabe K - vom 23. August 1991 über den Besuch von Bundesministerin für Familie und Jugend Angela Merkel im Sozialzentrum von Wessenberg in der Schwedenschanze. 174 Jürgen Treude <?page no="175"?> 186 Vgl. dazu den Bericht des Sozial- und Jugendamtes 1985, StadtA Konstanz S XII 815 und Tätigkeitsbericht der Abt. Jugendhilfe des Sozial- und Jugendamtes 1983, S XII 1729. 187 Jugendhilfe und Familie - die Entwicklung familienunterstützender Leistungen und ihre Perspektiven - Siebter Jugendbericht - Deutscher Bundestag 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 6730 vom 10. Dezember 1986, S.-41. 188 Ebd. Bei den Pädagogische Lernhilfen handelt es sich um ein besonders niedrigschwel‐ liges Angebot. Nicht nur intensive Hausaufgabenbetreuung, sondern auch gezielt Spiel- und andere pädagogische Angebote werden gemacht, um Kinder aus sozial benachteiligten Familien dabei zu unterstützen, durch die Verbesse‐ rung ihrer schulischen Leistungen mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln und dadurch einen Besuch der Sonderschule zu vermeiden. Zielsetzung ist, den Kindern über schwierige Klippen ihres persönlichen und schuli‐ schen Werdegangs, vor allem über Schulunlust hinwegzuhelfen, die fehlende Unter‐ stützung der Eltern auszugleichen, um so die Chancen für eine positive Bewältigung der Schul- und anschließenden Ausbildungsjahre zu erhöhen. 186 Der Siebte Jugendbericht von 1986 setzt sich im Kapitel „Sozialpädagogische Hilfen für Familien mit Schulkindern“ u. a. auch mit den schulischen Anforde‐ rungen und deren Bewältigungsproblemen auseinander. Bei Lernhilfen oder Hausaufgabenhilfen gehe es nicht nur um die Förderung der schulischen Leistungsfähigkeit, sondern auch um die Bearbeitung sozialer und emotionaler Probleme der Schülerinnen und Schüler, die vielfach die eigentlichen Ursachen für Leistungsschwäche und Versagen bei Hausaufgaben sind. 187 Die Jugendhilfe habe eine Reihe von Angebotsformen entwickelt, die durchaus in der Lage seien, durch Schule entstehende Probleme lösen zu helfen und „ergänzende Lebens- und Erfahrungsräume für Gleichaltrigengruppen bereit‐ stellen.“ 188 Seit 1983 sind die Pädagogischen Lernhilfen Bestandteil des Hilfe‐ spektrums des Stadtjugendamtes Konstanz. In der Zeit von 1963 bis 1990 waren im Rahmen des JWG folgende Fallzahlen zu verzeichnen: Das Stadtjugendamt Konstanz 175 <?page no="176"?> 189 Die Fallzahlen (Stichtagszahlen) siehe StadtA Konstanz S XII 1475, 1476, 1477, 1478, 1729 und 815. Die Fallzahlen der Jahre 1986 und 1990 sind bei der Sozialpädagogischen Familienhilfe und den Pädagogischen Lernhilfen geschätzt, da hierzu kein genaues statistisches Material vorlag. 190 1971 erfolgte die Eingemeindung von Litzelstetten, 1975 von Dingelsdorf und Det‐ tingen. Entwicklung der Hilfestruktur in Konstanz 189 - - - - - - - 1963 1969 1974 1983 1986 1990 Einwohnerzahlen Konstanz 190 57.000 62.000 69.000 68.000 69.000 72.000 - - - - - - - JWG vom 11. August 1961 - - - - - - §§ 62 ff. Fürsorgeerziehung (FE) 37 28 2 0 0 0 §§ 62 ff. Freiwillige Erziehungshilfe (FEH) 68 92 84 16 18 21 §§ 55 ff. Erziehungsbeistandschaft 9 7 2 0 0 0 §§ 5/ 6 Formlose erzieherische Be‐ treuung 94 136 73 164 162 224 §§ 5/ 6 Unterbringung im Heim 0 95 104 78 58 64 §§ 5/ 6 Unterbringung in einer Familie außerhalb des Elternhauses 0 56 91 78 71 68 § 27 Pflegekinder in Familienpflege außerhalb des Elternhauses 168 171 160 95 113 137 §§ 5/ 6 Teilstationäre Hilfen in Tages‐ gruppen 0 0 0 25 39 47 §§ 5/ 6 Sozialpädagogische Familien‐ hilfe 0 0 0 14 30 52 §§ 5/ 6 Päd. Hausaufgabenbe‐ treuung/ Lernhilfen 0 0 0 70 50 50 Wie bereits oben ausgeführt, wurde der Spielraum, den das JWG den örtlichen Jugendämtern gelassen hatte, offensiv und kreativ genutzt und das bisherige Hilfespektrum vor allem um die Familienhilfe und teilstationären Hilfen erwei‐ tert, die Fürsorgeerziehung seit 1980 nicht mehr verfolgt. Im Ergebnis kann für die Zeit des JWG festgehalten werden, dass es gelungen ist, eine Balance zwischen niedrigschwelligen ambulanten, die Familien unterstützenden Hilfen, 176 Jürgen Treude <?page no="177"?> 191 Da das RJWG keine familienergänzenden Hilfen kannte, kann diese Zeit auch nicht in einen solchen Vergleich einbezogen werden. weniger einschneidenden teilstationären Hilfen und Fremdplatzierungen au‐ ßerhalb der Familie in Heimen und Pflegefamilien zu erreichen. Für eine Beurteilung der Entwicklung der Hilfeformen ist es sinnvoll, zwi‐ schen familienersetzenden, familienergänzenden und teilstationären Hilfen (Tagesgruppen) zu unterscheiden. 191 Nicht berücksichtigt wird dabei die „form‐ lose erzieherische Betreuung“, da diese Hilfeform in der statistischen Erfassung durch die Jugendämter sehr unterschiedlich gehandhabt wurde und von der jeweiligen personellen Stärke eines Jugendamtes abhing. Die nachfolgende Übersicht zeigt den Rückgang des Anteils der familiener‐ setzenden Hilfen (§§ 62 ff. JWG Fürsorgeerziehung und Freiwillige Erziehungs‐ hilfe, §§ 5/ 6 JWG Unterbringung im Heim oder einer Familie außerhalb des Elternhauses, § 27 JWG Familienpflege außerhalb des Elternhauses) seit 1963 und den Anstieg der familienergänzenden (§§ 5/ 6 JWG Pädagogische Familien‐ hilfe und Pädagogische Lernhilfe, §§ 55 ff. JWG Erziehungsbeistandschaft) sowie den Anstieg der Teilstationären Hilfen in Tagesgruppen seit 1983. 1963 1969 1974 1983 1986 1990 96,81% 98,44% 99,55% 71,01% 68,60% 66,06% 3,19% 1,56% 0,45% 22,34% 21,11% 23,23% 0,00% 0,00% 0,00% 6,65% 10,29% 10,71% Hilfestruktur in Konstanz 1963 - 1990 (JWG) Anteil familienersetzender Hilfen Anteil familienergänzender Hilfen Anteil Tagesgruppen Im Ergebnis lässt sich für die Zeit des JWG festhalten, dass sich die Hilfestruktur in Konstanz seit 1963 erheblich zugunsten von familienergänzenden Hilfen geändert hat. Der Anteil der familienersetzenden und Familien besonders be‐ lastenden Hilfen konnte von 1963 bis 1990 von 96,81 auf 66,06 Prozent reduziert, Das Stadtjugendamt Konstanz 177 <?page no="178"?> 192 Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfe‐ gesetz - KJHG, Bundesgesetzblatt Nr.-30 vom 28. Juni 1990, S.-1163-1195. 193 Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 5948 vom 01.12.1989, S.-42. der Anteil der familienergänzenden Hilfen und Hilfen in Tagesgruppen) von 3,19 auf 33,94 Prozent gesteigert werden. Die Hilfestruktur in Konstanz nach Inkrafttreten des SGB VIII Durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) vom 26. Juni 1990 192 werden die örtlichen Jugendämter in die Lage versetzt, rechtzeitig und auf jeden Einzelfall zugeschnitten die sachgerechte erzieherische Hilfe zu gewähren, auf die ein Rechtsanspruch besteht, insbesondere auf: Erziehungsberatung gemäß § 28 SGB VIII, Soziale Gruppenarbeit gemäß § 29 SGB VIII, Erziehungsbeistand, Betreu‐ ungshelfer gemäß § 30 SGB VIII, Sozialpädagogische Familienhilfe gemäß § 31 SGB VIII, Erziehung in einer Tagesgruppe gemäß § 32 SGB VIII, Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII, Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform gemäß § 34 SGB VIII sowie intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung gemäß §-35 SGB VIII. Ambulante und teilstationäre Hilfen sind nunmehr stationären Hilfen in einer Einrichtung und einer Pflegefamilie rechtlich gleichgestellt. Um weiteren gesell‐ schaftlichen Entwicklungen gerecht werden zu können, ist der Leistungskatalog nicht als abschließend zu betrachten, sondern kann - je nach erforderlicher neuen Hilfeform - weiterentwickelt werden. Erstmals in der Geschichte der Jugendhilfe sind die örtlichen Jugendämter für sämtliche Hilfen zuständig und damit nicht mehr in der Situation, eine Hilfegewährung zwischen finanziellen und fachlichen Gründen abwägen zu können, um die Hilfekosten in die Zuständigkeit des überörtlichen Trägers zu verlagern. In der Begründung zur Neuordnung der Jugendhilfe heißt es dazu: Der Gesetzentwurf baut die Dominanz der Hilfen zur Erziehung und dort der Formen der Hilfen zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie ab zugunsten eines weit gefächerten Leistungsspektrums, das die Bereiche der Jugend- und Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Förderung der Erziehung in der Familie sowie der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege umfasst. 193 178 Jürgen Treude <?page no="179"?> 194 Ebd. 195 W I E S N E R , Reinhard/ W A P L E R , Friederike (Hg.): SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe - Kommentar, München 6 2022, § 8a Rn. 2, S.-121, Verlag C.H. Beck Das eingriffs- und ordnungsrechtliche Instrumentarium des JWG werde durch eine stärkere Betonung der Beratungs- und Kooperationspflichten des Ju‐ gendamtes mit den Beteiligten abgebaut, die Autonomie der Familie geachtet und die Selbstverantwortung und Mitarbeit der jungen Menschen und ihrer Familien gestärkt. 194 Aber auch ein präventiv und familienunterstützend angelegtes Kinder- und Jugendhilfegesetz muss sicherstellen, dass die Jugendhilfe ihrem aus dem staatlichen Wächteramt resultierenden Auftrag gerecht wird, Kinder und Ju‐ gendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (Grundgesetz Artikel 6 Abs. 2 und SGB VIII § 1 Abs. 2). In akuten Konfliktfällen kann es also auch durch die Einschaltung des Familiengerichts zu einem Eingriff in die elterliche Erziehungsverantwortung kommen. Durch den 2005 neu eingefügten § 8a SGB VIII ist das Jugendamt von Amts wegen und je nach Einschätzung der Gefährdung auch ohne Zustimmung der Eltern verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen zu ergreifen oder zu initiieren. In Kauf genommen werden muss dabei, dass ein solches Handeln aus der Perspektive der Eltern als Entlastung, aber auch als Eingriff und Kontrolle empfunden werden kann. Durch diese strukturelle Ambivalenz, die die Kinder- und Jugendhilfe kennzeichnet, unterscheidet sie sich von allen anderen Sozialleistungs‐ trägern. 195 Die folgende Übersicht zeigt die Entwicklung der Fallzahlen in Konstanz seit Inkrafttreten des SGB VIII. Wegen der besonderen Situation der Aufnahme von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen ab 2014 werden der besseren Vergleichbarkeit wegen die Fallzahlen 2018 und 2023 ohne diese Gruppe ausge‐ wiesen. Das Stadtjugendamt Konstanz 179 <?page no="180"?> 196 Die Fallzahlen (Stichtagszahlen) sind den Geschäftsberichten und internen Statistiken des Sozial- und Jugendamtes für das jeweilige Jahr entnommen. 197 Diese Hilfeform umfasst neben den Lernhilfen seit 2008 auch eine Unterstützung der Familie bei der Haushaltsorganisation, seit 2012 auch eine Beratung durch Familienhe‐ bammen bzw. Kinderkrankenschwestern. Entwicklung der Hilfestruktur in Kon‐ stanz 196 - - - - - - 1999 2004 2011 2018 2023 Einwohnerzahlen Konstanz 73.500 76.000 80.000 86.200 87.360 SGB VIII vom 26. Juni 1990 - - - - - § 16 Allg. Familienförderung, Pädagogische Lernhilfen 197 54 54 46 51 26 § 29 Soziale Gruppenarbeit 0 3 0 32 34 § 30 Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer 15 31 44 49 82 § 31 Sozialpädagogische Familienhilfe 32 46 51 103 96 § 32 Erziehung in einer Tagesgruppe 111 140 116 102 94 § 33 Vollzeitpflege 51 66 42 49 51 § 34 Heimerziehung, sonstige betreute Wohn‐ form 56 36 39 28 28 § 34 Betreutes Jugendwohnen 15 15 15 3 4 § 35a Seelische Behinderung stationär 2 10 8 10 7 § 35a Seelische Behinderung ambulant 1 1 4 24 46 § 41 Hilfen für junge Volljährige stationär 2 0 0 12 9 § 41 Hilfen für junge Volljährige ambulant 2 0 0 0 10 Die Übersicht zeigt, dass der Ausbau der ambulanten Hilfen und hier vor allem der Erziehungsbeistandschaft, der Sozialpädagogischen Familienhilfe und der Erziehung in einer Tagesgruppe fortgesetzt, die Anzahl der Kinder in Vollzeitpflege seit 1999 ungefähr gleichbleibend ist und die Heimerziehung weiter reduziert werden konnte. Wie sich der Anteil der familienersetzenden Hilfen reduziert und der famili‐ energänzenden Hilfen und der Hilfen in Tagesgruppen zwischen 1999 und 2023 verändert hat, zeigt die folgende Übersicht: 180 Jürgen Treude <?page no="181"?> 198 Siehe „Bericht Entwicklung der Hilfen zur Erziehung 2009“ des Sozial- und Jugend‐ amtes, S.-16 f. 1999 2004 2011 2018 2023 36,95% 31,59% 28,49% 22,03% 20,33% 30,50% 33,58% 39,73% 55,94% 60,37% 32,55% 34,83% 31,78% 22,03% 19,30% Hilfestukturen in Konstanz 1999 - 2023 (SGB VIII) Anteil familienersetzender Hilfen Anteil familienergänzender Hilfen Anteil Tagesgruppen Bezieht man das Jahr 1983 in den Vergleich mit ein, ergibt sich folgendes Bild: 1983 2023 71,01% 20,33% 22,34% 60,37% 6,65% 19,30% Hilfestukturen in Konstanz 1983 (JWG) und 2023 (SGB VIII) Anteil familienersetzender Hilfen Anteil familienergänzender Hilfen Anteil Tagesgruppen Als Besonderheiten der Konstanzer Hilfestruktur, bereits vor Inkrafttreten des SGB VIII begonnen, sind die Sozialpädagogische Familienhilfe (als Teil der familienergänzenden Hilfen), vor allem aber die teilstationären Hilfen in stadtteilorientierten Tagesgruppen anzusehen. Eine Analyse der gewährten Hilfen zur Erziehung im Jahr 2009 198 zeigt, dass bei den zweibis zehnjährigen Das Stadtjugendamt Konstanz 181 <?page no="182"?> 199 Ebd., S.-17. 200 Ebd., S.-9. Kindern in der Regel die Erziehung in einer Tagesgruppe initiiert wird, den 12-15jährigen vorwiegend Hilfen in Form von Pädagogischer Lernhilfe, Erzie‐ hungsbeistandschaft und Sozialpädagogischer Familienhilfe gewährt werden und bei den älteren Kindern und Jugendlichen, deren Auffälligkeiten vor allem im Zusammenhang mit der Pubertät und beginnenden Adoleszent stehen, auch Hilfen im Heim oder einer sonstigen Wohnform favorisiert werden. Die Hilfe in Form der Erziehungsbeistandschaft unterscheidet sich von der Sozialpädago‐ gischen Familienhilfe dadurch, dass der Schwerpunkt der Hilfe bei der Erzie‐ hungsbeistandschaft auf der Unterstützung des Jugendlichen liegt und bei der Familienhilfe auf der Unterstützung der Familie. Das hohe Durchschnittsalter zu Beginn der familienersetzenden Heimhilfen nach § 34 SGB VIII ist „als Folge des gut ausgebauten Angebotes an Hilfen für jüngere Kinder und dem präventiven Charakter der familienergänzenden Hilfen zu interpretieren.“ 199 Die Zunahme an Ganztagsschulplätzen und der Ausbau von Plätzen in Tageseinrichtungen für Kinder hatte auch in Konstanz zu einem Abbau an Tagesgruppenplätzen geführt, so z. B. 2009 am Standtort Schwedenschanze von der von Wessenberg’schen Vermächtnisstiftung, an dem 12 Tagesgruppenplätze in Krippenplätze für unter dreijährige Kinder umgewandelt wurden. Um die vorhandenen Plätze effektiver nutzen zu können, sah die Weiterent‐ wicklung des Konzeptes seit 2005 vor, die vorhandenen Plätze sowohl durch Platz-Sharing zu erweitern als auch mit spezifischen Angeboten wie z. B. gezielte Anleitung der Eltern zur Erziehung über die normale Elternarbeit hinaus nutzbar zu machen. Für die älteren Kinder wurde das Angebot zeitlich begrenzt, die wöchentliche Betreuungszeit also im Einzelfall reduziert, sodass die vorhandenen Tagesgruppenplätze mit mehreren Kindern belegt werden konnten. 200 Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich die Hilfestruktur in Konstanz seit 1983 grundlegend zugunsten von familienergänzenden Hilfen und Hilfen in Tagesgruppen geändert hat. Der Anteil der familienersetzenden und Familien besonders belastenden Hilfen konnte von 1983 bis 2023 von 71,01 auf 20,33 Prozent reduziert, der Anteil der familienergänzenden Hilfen und Hilfen in Tagesgruppen von 28,99 auf 79,67 Prozent gesteigert werden. 182 Jürgen Treude <?page no="183"?> Zum Zusammenhang von Eigenständigkeit, Kooperation, Bürgernähe und optimaler Hilfe In der Rückschau auf die Geschichte des Stadtjugendamtes ist festzustellen, dass die Argumente für ein eigenes städtisches Jugendamt sich im Grundsatz nicht verändert haben. Sowohl in den ersten Nachkriegsjahren als auch in der Zeit von 1953 (Beitritt zum Landkreis) bis zum LKJHG 1995 wird u. a. immer wieder betont, welche zentrale Rolle örtliche Kenntnisse und örtlich gewachsene Strukturen bei der Umsetzung der Jugendhilfe haben. Da möglicherweise auch zukünftig eine Auflösung des Stadtjugendamtes nicht grundsätzlich auszuschließen ist, werden aus Anlass des 100-jährigen Be‐ stehens des Stadtjugendamtes noch einmal die fachlichen und organisatorischen Begründungen dargestellt, die auch aus heutiger Sicht für ein eigenständiges städtisches Jugendamt sprechen. Auf diese 100-jährige Tradition zu verzichten, hätte automatisch die Existenz und das Nebeneinander zweier Ämter zur Folge: das Kreisjugendamt als das für den gesamten Landkreis Konstanz allein zuständige Jugendamt und ein „Amt für Jugend“ der Stadt Konstanz, zuständig nur noch für den Teil der Jugendhilfe, der von § 5 LKJHG (Kreisangehörige Gemeinden als örtliche Träger der Jugendhilfe) rechtlich nicht erfasst ist: die Abteilung Tageseinrichtungen für Kinder mit ihren städtischen Einrichtungen, die Abteilung Kinder- und Jugendarbeit mit ihren städtischen Kinder- und Jugendeinrichtungen, der Treffpunkt Petershausen, der Fachdienst Schulsozial‐ arbeit und die Von Wessenberg’sche Vermächtnisstiftung mit sämtlichen Ein‐ richtungen. Zuständig bleibt die Stadt Konstanz auch bei einem Nebeneinander von zwei Ämtern im Landkreis für die Zuschüsse an Einrichtungen der Träger der freien Jugendhilfe für die Bereiche Kindertagesstätten, Schulsozialarbeit und Kinder- und Jugendarbeit. In den folgenden Ausführungen werden die Konsequenzen der Existenz zweier Ämter nur für die Jugendhilfe betrachtet, nicht auch für das „delegierte“ Sozialamt mit seinen Fachdiensten und dem Seniorenzentrum für Bildung und Kultur. Rechtliche Konstruktion Dabei ist zu beachten, dass es unterschiedliche rechtliche Konstruktionen für die Aufgabenfelder der Jugendhilfe und der Sozialhilfe gibt. Während das städtische Sozialamt vom Landkreis an die Stadt delegierte Aufgaben wahrnimmt, die durch eine Entscheidung des Gemeinderates und des Kreistages auch wieder zurückgenommen werden können, verhält es sich bei der Jugendhilfe anders. Das Stadtjugendamt Konstanz 183 <?page no="184"?> 201 Kinder- und Jugendhilfegesetz für Baden-Württemberg, Gesetzblatt für Baden-Würt‐ temberg Nr.-17 vom 19. Juli 1996, S.-459. Der in den Diskussionen häufig verwendeten Begriff „Rückdelegation“ des Jugendamtes ist irreführend. Tatsächlich wird oft fälschlich davon ausgegangen, dass der Gemeinderat der Stadt Konstanz - wie in der Sozialhilfe nach dem SGB XII - eine Rückdelegation an den Landkreis beschließen könne. Aus gutem Grund ist dies aber nicht möglich, die letzte Entscheidung liegt beim Land Baden-Württemberg. Dieses hat über einen möglichen Antrag der Stadt Konstanz zu entscheiden, durch „Rechtsverordnung die Rechtsstellung der Stadt Konstanz als örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe aufzuheben“ (§ 5 Abs. 4 LKJHG). Einem solchen Antrag ist nach Prüfung des Landes (Sozialministerium im Einvernehmen mit Innen- und Kultusministerium) zu entsprechen, soweit dem nicht schwerwie‐ gende Gründe entgegenstehen. 201 Das Gesetz geht zunächst also einmal davon aus, dass es Gründe geben kann, den Antrag einer Stadt abzulehnen. Diese sind allerdings nicht näher definiert, einen verfahrensmäßigen Automatismus sieht das Gesetz nicht vor. Schwerwie‐ gende Gründe könnten z. B. sein, dass für eine Stadt der Größenordnung von heute rund 87.000 Einwohnern die Vorteile eines eigenständigen Jugendamtes als größer angesehen werden als die Nachteile, eine über Jahrzehnte gewach‐ sene Organisationsstruktur mit ihren städtisch geprägten Besonderheiten auf‐ zugeben. Es ist also von Gemeinderat und Sozialministerium des Landes Baden-Würt‐ temberg abzuwägen, wie eine möglichst bürgernahe Versorgung zu gewähr‐ leisten ist und welche Rolle dabei die unmittelbaren, über Jahrzehnte gewach‐ senen Kenntnisse über städtische Strukturen, Versorgungsnetze und familiäre Verhältnisse als Voraussetzung einer effektiven Sozial- und Jugendpolitik und letztlich auch einer zielgerichteten Hilfegewährung spielen. Der städtische Konstanzer Blickwinkel Jugendpolitik kreativ und familienorientiert umzusetzen, erfordert umfassende örtliche Kenntnisse. Nicht über ein eigenes Amt zu verfügen, bedeute auf wichtige Erkenntnisse zu verzichten, die für die Weiterentwicklung von Hilfe‐ strukturen benötigt werden. Eine Auflösung des Jugendamtes hätte zur Konsequenz, dass über einen Teil der Jugendhilfe vom Landratsamt entschieden würde und damit einer Dynamik unterliegt, die städtische Strukturen zunehmend weniger berücksichtigen kann. 184 Jürgen Treude <?page no="185"?> Letztlich würde es zu einer entscheidenden Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung kommen. Aus der Sicht des Landkreises ist nach einer Zuständigkeitsverlagerung des Jugendamtes die Stadt Konstanz eine von vielen kreisangehörigen Gemeinden, so wie die Gemeinden Stockach, Singen, Bodman-Ludwigshafen oder Hilzingen. Der Landkreis ist im Interesse des gesamten Landkreises verpflichtet, für eine organisatorische Gleichbehandlung Sorge zu tragen und die Personalstruktur so weiter zu entwickeln, dass es gleiche Bedingungen im gesamten Landkreis gibt. Einen „städtischen Konstanzer Blickwinkel“ kann es dann nicht mehr geben. Vor dem Hintergrund einer sozialräumlichen Sichtweise würde es aus Sicht des Landkreises im Gegenteil Sinn machen, eine Konstanzer Außenstelle zu schaffen, von der aus z. B. auch die Gemeinden Reichenau und Allensbach mitversorgt werden. Mit einer Aufgabe der „Stadtsicht“ könnten im Laufe der Jahre die erforder‐ lichen detaillierten Ortskenntnisse verlorengehen. Entwickelte Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen würden auf einen weiteren Partner treffen, dessen Handeln (berechtigterweise) nicht mehr von originär städtischen Interessen geleitet ist. Es geht nicht darum, städtische Interessenlagen gegen Kreisinte‐ ressenlagen auszuspielen oder städtische Interessen fachlich höher zu stellen. Längerfristige Handlungsstrategien zur Sicherung des Kindeswohls können aber erfolgreicher sein, wenn das Hilfesystem so aufeinander abgestimmt ist, dass möglichst wenig Reibungsverlust gegeben ist und ständige (systematische) Weiterentwicklungen „aus einer Hand“ ermöglicht werden. Arbeitsfelder und Kooperationen Die wichtigsten Arbeitsfelder für funktionierende Kooperationsstrukturen sind die Hilfen zur Erziehung in allen Hilfeformen, die Schulsozialarbeit/ Jugendsozi‐ alarbeit an Schulen, die Tageseinrichtungen für Kinder, die Sozialpädagogischen Tagesgruppen, das Arbeitsfeld Kindeswohlgefährdung, Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch, die Kinder- und Jugendarbeit, die Offene und Mobile Jugendarbeit, das Arbeitsfeld Jugendkriminalität/ Jugendhilfe im Strafverfahren und die sozialräumlich orientierten Stadtteilkonferenzen. Arbeitsfeld Hilfen zur Erziehung Die Gewährung erzieherischer Hilfen und deren gezielter Einsatz setzt voraus, dass möglichst umfassende Kenntnisse über das familiäre Umfeld vorliegen und andere Institutionen in die Hilfeplanung einbezogen werden können. Es hat Das Stadtjugendamt Konstanz 185 <?page no="186"?> sich im Laufe der Jahre als sinnvoll erwiesen, je nach Alter der Kinder und Jugendlichen insbesondere die Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit und Tageseinrichtungen für Kinder frühzeitig in Planungen einzubeziehen. Dies vor dem Hintergrund einer Interessenlage, Hilfen einerseits möglichst im sozialen Umfeld anzusiedeln, andererseits aber nur dann zu gewähren, wenn eigene familiäre Ressourcen oder Ressourcen im Umfeld nicht oder nicht ausreichend vorhanden sind. Bezogen auf einzelne schwierige Fälle finden auf kurzem Weg Absprachen zwischen verschiedenen Sachgebieten statt und fließen differenzierte Kennt‐ nisse in die Hilfeplanung ein. An solchen Absprachen können z. B. beteiligt sein: Allgemeiner Sozialer Dienst, Fachdienst Pflegekinder, Fachdienst Jugendhilfe im Strafverfahren, Offene und Mobile Jugendarbeit, Sozialhilfe, Kindertages‐ stätten sowie Tagesgruppen. In besonders schwierigen Fällen werden auch (an runden Tischen) die jeweiligen Abteilungsleitungen hinzugezogen. Bei einer Abgabe von Teilen der Jugendhilfe an den Landkreis würden diese über Jahre aufeinander abgestimmten Strukturen zweigeteilt und Entscheidungen „aus einer Hand“ wären nicht mehr möglich. Allgemeiner Sozialer Dienst, Fachdienst Pflegekinder und Fachdienst Jugendhilfe im Strafverfahren wären beim Land‐ kreis, Offene und Mobile Jugendarbeit, Tageseinrichtungen für Kinder und Tagesgruppen bei der Stadt. Arbeitsfeld Schulsoziarbeit/ Jugendsozialarbeit an Schulen Aus den regelmäßigen Erfahrungsberichten der Jugendsozialarbeit an Schulen geht die enge Verbindung sowohl zu den Hilfen zur Erziehung als auch zur Kinder- und Jugendarbeit hervor. Zielsetzung der Arbeit an den Schulen ist u. a., möglichst frühzeitig familiäre Defizite zu erkennen und mit niedrigschwelligen Hilfen dazu beizutragen, spätere intensivere und damit auch kostenintensivere Hilfen zu verhindern. Nachdem in mehreren Ausbauschritten an allen Grund-, Haupt-, Real- und Förderschulen entsprechende Fachstellen geschaffen worden waren, wurden zum Schuljahr 2013/ 14 auch alle Gymnasien mit Schulsozial‐ arbeiter-Stellen ausgestattet. Circa 50 Prozent der Stellen sind direkt dem Jugendamt zugeordnet, die anderen 50 Prozent bei Trägern der freien Jugend‐ hilfe angebunden. Die Arbeitsplätze befinden sich in der Schule, die Dienst- und Fachaufsicht liegt beim Jugendamt bzw. dem jeweiligen Träger der freien Jugendhilfe. Dadurch wird eine enge Einbindung sowohl in das Schulsystem als auch die Jugendhilfe gewährleistet und die Idee der „Brückenfunktion“ zwischen zwei unterschiedlichen Institutionen umgesetzt. 186 Jürgen Treude <?page no="187"?> Läge die Zuständigkeit für die Gewährung erzieherischer Hilfen durch den Allgemeinen Sozialdienst beim Landkreis, entfielen die oben genannten kurzen Wege und die mühsam entwickelten Kooperationsstrukturen zwischen Schule, Allgemeinem Sozialdienst, Jugendsozialarbeit an Schulen und Kinder- und Jugendarbeit würden komplizierter, der Reibungsverlust größer. Arbeitsfeld Tageseinrichtungen für Kinder und Sozialpädagogische Tagesgruppen Das stadtteilorientierte Tagesgruppenkonzept bezieht seine Stärke u. a. aus einer Einheit von Hilfegewährung und Weiterentwicklung der Angebotsstruktur in einem städtischen Amt. Hauptkooperationspartner der Tagesgruppen sind die Kindertagesstätten, Schulen und Eltern. Die zentrale Steuerungsinstanz ist der Allgemeine Sozialdienst, der für die Hilfeplanung sowohl im Einzelfall als auch in struktureller Hinsicht verantwortlich ist. Die Finanzierung der Tagesgruppen erfolgt als Maßnahme der Hilfe zur Erziehung über Entgelt (Pflegesätze), das nach Landesrecht vom Landkreis erstattet wird. Das Konstanzer Tagesgruppenkonzept hat sich seit 1983 bewährt und Ko‐ operationsstrukturen geschaffen, die ein sinnvolles Miteinander von Tagesein‐ richtungen für Kinder (städtische Finanzierung) und betreuungsintensiven Ta‐ gesgruppen (entgeltfinanziert) ermöglicht haben. Dieses Miteinander setzt eine Grundhaltung voraus, die das Tagesgruppenkonzept als wichtige Ergänzung der Tageseinrichtungen für Kinder nach dem Kindertagesbetreuungsgesetz Baden- Württemberg ansieht und gemeinsame Weiterentwicklungen in diesem Rahmen anstrebt. Hilfreich hierfür hat sich z. B. die 1973 vorgenommene Einbindung einer Außenstelle des Allgemeinen Sozialdienstes in das Sozialzentrum Stock‐ acker erwiesen (siehe dazu auch die Ausführungen zu den Sozialpädagogischen Tagesgruppen). Überlegungen, besonders belasteten Familien bessere Zugangsmöglichkeiten zu präventiven Hilfen zu ermöglichen, haben 2015 bei der von Wessenberg’schen Vermächtnisstiftung durch die Kooperation mit Fachkräften des städtischen Ju‐ gendamtes und Kindertageseinrichtungen zu einem neu gegründeten „Fachdienst flexible ambulante Hilfen/ Inklusion in Kindertageseinrichtungen“ geführt. Kin‐ dertageseinrichtungen können dabei unterstützt werden, sowohl den Verbleib der Kinder in der vertrauten Einrichtung zu sichern als auch Kindern mit besonders hohem Förderbedarf durch flexible, auf den Einzelfall bezogene ambulante erzie‐ herische Hilfen bestmögliche Entwicklungschancen zu bieten. Der Hilfebedarf wird gemeinsam von Fachkräften der Regeleinrichtung, des Fachdienstes der von Das Stadtjugendamt Konstanz 187 <?page no="188"?> 202 Siehe auch Geschäftsbericht des Sozial- und Jugendamtes 2017/ 18, S.-83. Wessenberg’schen Vermächtnisstiftung und des Allgemeinen Sozialdienstes des Stadtjugendamtes zusammen mit der Familie beraten. 202 Wäre der Allgemeine Sozialdienst nicht eine Dienststelle des Stadtjugend‐ amtes Konstanz, würden sowohl die Hilfeplanung im Einzelfall als auch Über‐ legungen zu neuen konzeptionellen Ansätzen nicht mehr in städtischer Ver‐ antwortung verfolgt und die notwendigen Kooperationen von zwei Behörden wahrgenommen. Arbeitsfeld Jugendkriminalität - Jugendgerichtshilfe Bestandteil der Arbeit des Fachdienstes „Jugendhilfe im Strafverfahren“ ( Ju‐ gendgerichtshilfe) ist insbesondere die Organisation von Maßnahmen zur Umsetzung gerichtlicher Auflagen und Weisungen. Hierzu ist eine enge Ko‐ operation mit Einrichtungen der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit an Schulen, anderen städtischen Dienststellen, Dienststellen von Trägern der freien Jugend‐ hilfe oder auch den städtischen Technischen Betrieben (TBK) erforderlich; kurze Dienstwege haben sich als sehr hilfreich erwiesen. Gerade in diesem sensiblen Bereich verhindert der kollegiale Umgang zu schnelles Aufgeben von Arbeitsstellen und stellt sicher, dass sich alle Beteiligten einen möglichst langen Atem zulegen. Komplizierter würde auch die Arbeit der Projektgruppe „Straffällige Kinder und Jugendliche“, in dem sich Vertreter des Jugendamtes, der Polizei und der Justiz regelmäßig informieren, um bei neuen Handlungs- und Interventionsformen über eine möglichst gemeinsame Wissensgrundlage zu verfügen. Vom Jugendamt wird Wert daraufgelegt, dass die Einzelfallarbeit der Mitar‐ beiter des Fachdienstes durch die vorher genannten eher strukturellen Tätig‐ keiten ergänzt wird und die städtischen Einrichtungen hierzu ihren Beitrag leisten. Diesen Balanceakt weiterhin aufrechtzuerhalten, wenn die Zuständig‐ keit dieses Fachdienstes beim Landkreis liegt, würde erschwert. Arbeitsfeld Kindeswohlgefährdung, Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch Zielsetzung des 1990 vom Jugendamt für die Stadt Konstanz initiierten und auf den gesamten Landkreis ausgeweiteten Projektgruppe Kindesmisshandlung/ Se‐ xueller Missbrauch und des Fachbeirates ist es, über die Zusammenführung sämtlicher Institutionen (einschließlich Polizei und Justiz), die in der Stadt 188 Jürgen Treude <?page no="189"?> Konstanz und im Landkreis Konstanz mit der Problematik Kindesmisshandlung befasst sind, eine optimale Vorgehensweise in einzelnen Fällen zu gewährleisten und die verschiedenen Institutionen auf einheitliche Standards und Regeln in diesem schwierigen Arbeitsfeld zu verpflichten. So wurden beispielsweise „Richtlinien für die fachliche Kooperation bei Kindesmisshandlung/ sexuellem Missbrauch im Landkreis Konstanz“ erarbeitet, die landesweit Beachtung ge‐ funden haben. Hinweise über mögliche Gefährdungen, denen das Jugendamt bei „gewich‐ tigen Anhaltspunkten“ (§ 8a SGB VIII) nachzugehen hat, erhält das Jugendamt auf unterschiedlichen Wegen: im Rahmen seiner bereits bestehenden Kontakte zu Kindern, Jugendlichen und Familien durch laufende Hilfen, im Rahmen von Kooperationskontakten zu Einrichtungen der Jugendhilfe, Schulen, Kinderta‐ gestätten oder Polizei und durch gezielte telefonische oder schriftliche bzw. elektronische Information des Jugendamtes. Verantwortlich für dieses Arbeitsfeld sind insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Soziale Dienste, die gleichzeitig wiederum ge‐ währleisten, dass andere städtische Dienststellen wie die Kinder- und Jugendar‐ beit, die Abteilung Tageseinrichtungen und die Fachkräfte der Schulsozialarbeit sowohl in aktuelle Problemlösungsstrategien als auch längerfristige Präventi‐ onsmaßnahmen (als Multiplikatoren) rechtzeitig einbezogen werden. Dieses gut funktionierende Hilfesystem würde erheblich komplizierter und aufwän‐ diger, lägen die entscheidenden Zuständigkeiten nicht mehr beim städtischen Jugendamt. Arbeitsfeld Kinder- und Jugendarbeit, Offene und Mobile Jugendarbeit Das LKJHG Baden-Württemberg bezeichnet die Kinder- und Jugendarbeit als gleichrangigen Bildungs- und Erziehungsbereich in der Jugendhilfe und neben Familie, Schule und Beruf als eigenständiges Sozialisationsfeld. Als Teil der Jugendhilfe soll auch die Kinder- und Jugendarbeit mit ihren Angeboten und Einrichtungen auf eine Vernetzung im Gemeinwesen hinarbeiten und so dazu beitragen, „durch Stärkung des differenzierten außerstationären Hilfeangebots, wie Erziehungsberatung, sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppen, Voll‐ zeitpflege und Maßnahmen der Suchtprophylaxe, stationäre Unterbringung auf das fachlich erforderliche zu begrenzen.“ Dadurch könnten „Hemmschwellen Das Stadtjugendamt Konstanz 189 <?page no="190"?> 203 Kinder- und Jugendhilfegesetz für Baden-Württemberg, Gesetzblatt für Baden-Würt‐ temberg Nr.-17 vom 19. Juli 1996, S.-461 f. abgebaut werden, die der Inanspruchnahme der Leistungen durch Kinder und Jugendliche sowie ihrer Familien entgegenstehen.“ 203 Gerade die Stadtteilkonferenzen, in denen sämtliche Einrichtungen des Stadt‐ teils vertreten sind, haben sich als ein Instrument entwickelt, diese gesetzlichen Vorgaben umzusetzen. Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit nehmen ihre Verantwortung wahr, indem sie z. B. in Einzelfällen erzieherischer Hilfen diese Kinder und Jugendlichen bei der Gestaltung ihres Alltags, Konflikten mit Gleichaltrigen oder bei schulischen Problemen unterstützen und so auch dazu beitragen, dass Hilfen von den Familien besser akzeptiert und frühzeitiger angenommen werden. Für besonders gefährdete Jugendliche sieht es z. B. die Projektgruppe „Straf‐ fällige Kinder und Jugendliche“ als ihre Aufgabe an, die unterschiedlichen Angebote der Jugendhilfe und hier besonders die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit aufeinander abzustimmen, um straffällig gewordene Jugendliche dabei zu unterstützen, bei ihrem Weg aus der Kriminalität nicht wieder rück‐ fällig zu werden (siehe dazu auch die Ausführungen zum Arbeitsfeld Jugend‐ kriminalität---Jugendgerichtshilfe). Wären der „Allgemeine Sozialdienst“ und der „Fachdienst Jugendhilfe im Strafverfahren ( Jugendgerichtshilfe)“ nicht mehr dem städtischen Jugendamt zugeordnet, würde die Kooperation mit der Kinder- und Jugendarbeit auf zwei Behörden verlagert und könnte damit in ihrer Effektivität erschwert werden. Arbeitsfeld Stadtteilkonferenzen und Sozialraumorientierung Vor allem die Jugendämter sind seit in Kraft treten des SGB VIII dazu über‐ gegangen, sozialräumlich und stadtteilorientiert zu arbeiten. Zielsetzung ist dabei, durch die Einbeziehung der örtlichen Strukturen den Ressourceneinsatz effektiver gestalten und Hilfeplanungen besser aufeinander abzustimmen. Bei der Entwicklung von „Sozialraumorientierung“ geht es nicht um die Optimie‐ rung von Regionen oder die Neugestaltung von Bezirken, das wäre zu kurz gegriffen. Richtig geschnittene Regionen sind vielmehr erst die Voraussetzung für die Verbesserung einer fachlichen Ausrichtung, die die Sozialarbeit mehr als bisher als aktivierende, Selbsthilfekräfte freisetzende Arbeit versteht. Es geht darum, soziale Räume sowohl als Ausgangswie als Bezugspunkt von Hilfe- 190 Jürgen Treude <?page no="191"?> und Organisationsstrukturen zu nutzen und durch unmittelbare Ortskenntnisse neue (bisher nicht berücksichtigte) Hilfepotenziale zu erschließen. Stadtteilkonferenzen sind dabei wichtige Umsetzungsebenen einer sozialräum‐ lichen Orientierung. Eine Stadtteilkonferenz umfasst alle Einrichtungen und Institutionen, die im Rahmen ihres beruflichen Auftrages mit den Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Familien in diesem Stadtteil konfrontiert sind. Dies sind im Wesentlichen alle sozialen und kulturellen Einrichtungen eines Stadtteils wie z.-B. Sozialer Dienst, Schulen, Einrichtungen/ Angebote für Kinder und Jugendliche, Kindertagesstätten, Kirchengemeinden, Beratungsstellen usw. Die Mitglieder einer Stadtteilkonferenz verständigen sich über Problembereiche, entwickeln Lösungsstrategien und versuchen über die kontinuierliche Vernet‐ zung der unterschiedlichen Institutionen ergänzende oder fehlende Angebote im Stadtteil zu schaffen bzw. sich für die Gestaltung derselben einzusetzen, ohne dabei auf zusätzliche finanzielle Mittel angewiesen zu sein. Kontinuierlich stattfindende Stadtteilkonferenzen gibt es seit 1994 in Peters‐ hausen und Berchen/ Öhmdwiesen, im Stadtteil Altstadt/ Paradies seit 2004. Ver‐ netzungen und Kooperationsformen wie die in Konstanz entwickelten Stadtteil‐ konferenzen funktionieren nur, wenn eine hohe Bereitschaft und Identifikation mit einer gemeinsamen Zielsetzung vorhanden ist und diese nicht nur darin gesehen wird, sich mit anderen Institutionen regelmäßig auszutauschen. Zielset‐ zung von Vernetzungen muss gerade in Zeiten knapper öffentlicher Mittel der konzentrierte Mitteleinsatz sein, um sowohl die fachlich orientierten als auch die finanziellen Interessen der Stadt optimal miteinander verbinden zu können. Die Arbeitsweise des Jugendamtes zeichnet sich besonders dadurch aus, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gefordert sind, arbeitsfeld- und zuständig‐ keitsübergreifend zu denken und immer auch die übergeordneten Interessen der Stadt im Auge zu behalten. Nur so können für Konflikte Lösungen gefunden werden, die die städtischen Interessen auch tatsächlich berücksichtigen. Dies setzt aber voraus, dass die jeweils agierenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen „städtischen Blickwinkel“ haben und daraus einen auch für sie selber interessengeleiteten Auftrag ableiten. Rechte der Stadt Konstanz als örtlicher Träger der Jugendhilfe Letztlich darf auch nicht außer Acht gelassen werden, welche Konsequenzen der Verlust der Rechtsstellung als „Träger der öffentlichen Jugendhilfe“ für die Stadt Konstanz hat. Der Jugendhilfeausschuss als beschließender Ausschuss in seiner jetzigen besonderen Konstruktion ist an die Stellung der Stadt Kon‐ Das Stadtjugendamt Konstanz 191 <?page no="192"?> stanz als örtlicher Träger der Jugendhilfe gebunden. Die starke Stellung der Freien Träger ist sozialpolitisch gewollt, da diese in der Angebotsstruktur der Jugendhilfe eine bedeutende Rolle spielen. Eine förmliche Anerkennung von Konstanzer Vereinen oder Initiativen als Träger der freien Jugendhilfe würde nicht mehr vom städtischen Jugendhilfeausschuss entschieden, sondern vom Jugendhilfeausschuss des Landkreises. Eine Stadt der Größenordnung von Konstanz ist einerseits überschaubar, erfordert andererseits aber dennoch eine Gesamtplanung „aus einer Hand“. Nur so ist auf Dauer gewährleistet, dass letztlich der Gemeinderat zu entscheiden hat, welche Schwerpunktsetzungen in der Stadt verfolgt werden sollen. Diese Planungshoheit und Steuerungsfunktion ginge verloren, wenn nicht mehr die Stadt in originärer Verantwortung für wesentliche Teile der Jugendhilfe zuständig wäre. Die Übernahme von Kostenbeiträgen in den Konstanzer Tageseinrichtungen für Kinder wird vom gleichen Träger entschieden, der auch für die Förderung der freien Träger zuständig und für die Höhe der Elternbeiträge verantwortlich ist. Wäre die Stadt nicht mehr örtlicher Träger, entscheidet über die Übernahme von Elternbeiträgen bei geringen Einkommen nicht mehr ein städtisches Amt, sondern der Landkreis. Einzelförderungen und strukturelle Förderungen fielen auseinander. Der Verlust des Status „Örtlicher Träger der öffentlichen Jugend‐ hilfe“ würde in der Jugendhilfe die Stadt Konstanz Gemeinden wie Bodman- Ludwigshafen, Hilzingen, Radolfzell, Reichenau oder Stockach rechtlich gleich‐ stellen. SGB VIII (Bundesgesetz) und LKJHG (Ausführungsgesetz Baden-Württem‐ berg) lassen bewusst Spielräume zur örtlichen Ausgestaltung von gesetzlichen Vorgaben. Empfehlungen der kommunalen Spitzenverbände und des Kommu‐ nalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) können jeweils an die örtlichen Gegebenheiten angepasst, Spielräume kreativ genutzt werden. Die örtliche Ausgestaltung würde nicht mehr von der Stadt Konstanz wahrgenommen werden können. Schlussfolgerungen und Resümee Das Stadtjugendamt Konstanz war seit seiner Gründung 1925 immer eigenstän‐ diger örtlicher Träger der Jugendhilfe, bis September 1953 als Jugendamt des Stadtkreises Konstanz, seit 1. Oktober 1953 als Jugendamt der kreisangehörigen Stadt Konstanz. Die dargestellte Entwicklung soll einen Eindruck vermitteln, welche Rolle ein eigenständiges Jugendamt in der städtischen Jugendpolitik einnehmen kann und welche Konsequenzen eine Aufteilung der Aufgaben der Jugendhilfe nach 100 Jahren auf zwei Behörden haben könnte. 192 Jürgen Treude <?page no="193"?> 204 Franz Knapp: 1927-1933 Bürgermeister. 1933-1945 als Stadtrechtsrat beschäftigt, nachdem er zunächst als Bürgermeister in den Ruhestand geschickt worden war. Danach von 1646-1957 Oberbürgermeister 205 Ludwig Eberhard: 1934-1939 Leiter des Stadtjugendamtes, 1939 zur Wehrmacht einge‐ zogen. Danach wieder von 1950-1970 Leiter des Stadtjugendamtes. 206 Albert Herrmann: Oberbürgermeister, 1939 zur Wehrmacht eingezogen. Leopold Mager führt die OB-Geschäfte während des Zweiten Weltkrieges. 207 Walter Baur: 1932-1938 Sachbearbeiter im Jugendamt Singen (Hohentwiel), 1938-1940 Sachbearbeiter im Jugendamt Konstanz. 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Danach 1947-1960 Sachbearbeiter und seit 1960 Abt. Leiter des Jugendamtes. Von 1971-1976 durch Teilung des Amtes in Jugend- und Sozialamt Leiter des Jugendamtes. Leitung Jugendamt Zeitraum Bürger‐ meister Soziales Zeitraum Oberbür‐ germeister Zeitraum - - - - - - Weimarer Republik Weimarer Republik Weimarer Republik Wei‐ marer Republik Weimarer Republik Weimarer Republik Konrad Kleiner 1925 - 1933 Franz Knapp 1927 - 1933 204 Dr. Otto Moericke 1919 - 1933 - - - - - - Nationalso‐ zialismus National‐ sozia‐ lismus National‐ sozia‐ lismus National‐ sozia‐ lismus National‐ sozia‐ lismus National‐ sozia‐ lismus Ludwig Eber‐ hard 1934 - 1939 205 Leopold Mager 1933 - 1945 Albert Herr‐ mann 1933 - 1939 206 Walter Baur - Sachbear‐ beiter Ju‐ gendamt 1938 - 1940 207 - - - - - - - - - - - Bundesre‐ publik Deutsch‐ land Bundesre‐ publik Deutsch‐ land Bundesre‐ publik Deutsch‐ land Bundes‐ republik Deutsch‐ land Bundesre‐ publik Deutsch‐ land Bundesre‐ publik Deutsch‐ land Ludwig Eber‐ hard 1950 - 1970 Hermann Schneider 1946 - 1962 Franz Knapp 1946 - 1957 - - Willy Weil‐ hard 1964 - 1970 Dr. Bruno Helmle 1959 - 1970 Das Stadtjugendamt Konstanz 193 <?page no="194"?> 208 Josef Kleiber: 1971-1976 durch Teilung des Amtes in Jugend- und Sozialamt Leiter des Sozialamtes. Beginn seiner Tätigkeit in Konstanz nach dem Gymnasium 1940-1944, in dieser Zeit 1943-1944 Luftwaffenhelfer bei der Heimatflak. Wehrdienst, amerikani‐ sche Gefangenschaft bis September 1946, Gymnasium in Konstanz, seit August 1948 Inspektoren-Laufbahn im Sozialamt und Jugendamt. Walter Baur - Abt. Leiter Ju‐ gendamt 1947 - 1970 Walter Baur 1971 - 1976 Willy Weil‐ hard 1970 - 1976 Dr. Bruno Helmle 1970 - 1976 - - - - - - Josef Kleiber 1976 - 1989 208 Willy Weil‐ hard 1976 - 1980 Dr. Bruno Helmle 1976 - 1980 - - Wilhelm Hansen 1981 - 1988 Dr. Horst Eickmeyer 1980 - 1988 - - - - - - Christa Herr‐ mann 1989 - 1997 Seit 1975 im Jugendamt Wilhelm Hansen 1988 - 1997 Dr. Horst Eickmeyer 1988 - 1996 - - - - Horst Frank 1996 - 1997 - - - - - - Jürgen Treude 1998 - 2011 Horst Maas 1997 - 2005 Horst Frank 1997 - 2011 - - Claus Boldt 2005 - 2011 - - - - - - - - Ute Seifried 2011 - 2015 Claus Boldt 2011 - 2013 Horst Frank 2011 -2012 - - Dr. Andreas Osner 2013 - 2015 Uli Bur‐ chardt 2012 - 2015 - - - - - - Alfred Kauf‐ mann 2015 - 2025 Dr. Andreas Osner 2015 - 2025 Uli Bur‐ chardt 2015 - 2025 Übersicht der Amtszeiten der Oberbürgermeister, Bürgermeister und Leitungen des Jugendamtes von 1925 bis 2025 194 Jürgen Treude <?page no="195"?> Im Kapitel „Änderung der Hilfestrukturen des Stadtjugendamtes Konstanz“ wird beschrieben, wie grundlegend sich die Hilfeformen in 100 Jahren verändert haben und vor welchem gesetzlichen Hintergrund (RJWG, JWG, SGB VIII, LJWG, LKJHG) das Stadtjugendamt Konstanz jeweils handeln musste. Zwar stellte das RJWG von 1922 noch einen ersten Ansatz zu einer umfas‐ senden Jugendhilfegesetzgebung dar, konnte aber - wie beschrieben - seine Herkunft aus dem Polizei- und Ordnungsrecht nicht verleugnen und war inhaltlich noch als Gesetz zur Abwehr von Gefahren, die von jungen Menschen oder ihren Eltern ausgehen, konzipiert. Es ging also um die kompensatorische staatliche Erziehung von Kindern und Jugendlichen anstelle der Erziehung durch die Eltern. Dennoch wird dem RJWG auch bescheinigt, trotz aller Defizite eine bedeutende Pionierleistung gewesen zu sein. Mit dem Erlass des RJWG habe eine erste Phase der Vergesellschaftung von Erziehung in Deutschland, eine Phase der Institutionalisierung und Verrechtlichung öffentlicher Erziehung ihren Abschluss gefunden. Entsprechend eingeschränkt waren die Hilfeformen und konzentrierten sich überwiegend auf Unterbringungen im Rahmen der Fürsorgeerziehung, vielfach in geschlossenen Anstalten. Mit dem JWG von 1961 wurde der Umfang der Verpflichtung der staatlichen Gemeinschaft, Kindern, Jugendlichen und Eltern im Rahmen des sozialen Neuaufbaus die notwendigen Hilfen zu gewähren, gesetzlich neu festgelegt. Zwar blieb das JWG immer noch den eher polizei- und ordnungsrechtlichen Sichtweisen des RJWG verhaftet, ließ den örtlichen Jugendämtern aber einen Spielraum bei der Entwicklung neuer Hilfen. Durch die Einführung der Frei‐ willigen Erziehungshilfe wurde die Fürsorgeerziehung um eine leistungsrecht‐ liche Variante ergänzt, das Jugendamt verpflichtet, Hilfen zur Erziehung dem jeweiligen Bedarf entsprechend rechtzeitig und ausreichend zu gewähren. Nicht zuletzt wurde die Heimaufsicht eingeführt. Im Laufe der Jahre traten in der Praxis die eher ordnungsrechtlichen Sichtweisen zugunsten fachlicher Argumente immer mehr zurück. Erst durch das SGB VIII von 1990 wurden die örtlichen Jugendämter in die Lage versetzt, rechtzeitig und auf jeden Einzelfall zugeschnitten die sachge‐ rechte erzieherische Hilfe zu gewähren, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Ambulante und teilstationäre Hilfen wurden stationären Hilfen in einer Einrich‐ tung und einer Pflegefamilie rechtlich gleichgestellt. Erstmals in der Geschichte der Jugendhilfe sind die örtlichen Jugendämter durch die Abschaffung des zweispurigen Hilfesystems für sämtliche Hilfen zuständig und damit nicht mehr in der Situation, eine Hilfegewährung zwischen fachlichen und finanziellen Gründen abwägen zu müssen. Das SGB VIII baut die Dominanz der Hilfen zur Erziehung und dort der Formen der Hilfen außerhalb der eigenen Familie ab Das Stadtjugendamt Konstanz 195 <?page no="196"?> 209 Jugendhilfe und Familie - die Entwicklung familienunterstützender Leistungen und ihre Perspektiven - Siebter Jugendbericht - Deutscher Bundestag 10. Wahlperiode, Drucksache 10/ 6730 vom 10. Dezember 1986, S.-58. 210 Ebd., S.-53. zugunsten eines weit gefächerten Leistungsspektrums, das die Bereiche der Kinder- und Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit, des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Förderung der Erziehung in der Familie sowie der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege umfasst. Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Entwicklung muss die Diskussion um die Eigenständigkeit des Stadtjugendamtes eingeordnet werden, wobei die Eigenständigkeit nicht immer als selbstverständlich angesehen wurde. Durch die Aufarbeitung der 100jährigen Geschichte des Stadtjugendamtes soll nachvollziehbar werden, dass nur durch das Privileg, örtlicher Träger der öf‐ fentlichen Jugendhilfe zu sein, Entscheidungen über die Planung von Angeboten oder auch deren Änderungen und Anpassungen an geänderte gesellschaftliche Entwicklungen aus einer „Stadtsicht“ und den damit verbundenen örtlichen Kenntnissen getroffen werden konnten. So wurden zusammen mit den Trägern der freien Jugendhilfe Angebotsstrukturen aufgebaut, die in der Zeit von 1983 ( JWG) bis 2023 (SGB VIII) zu einem Abbau der familienersetzenden und Familien besonders belastenden Hilfen von 71,01 auf 20,33 Prozent und einem Ausbau der familienergänzenden Hilfen und Hilfen in Tagesgruppen von 28,99 auf 79,67 Prozent geführt haben. Begleitet wird die Entwicklung der Jugendhilfe seit 1965 von den regelmäßigen „Jugendberichten der Bundesregierung“, verfasst von unabhängigen Sachverständigenkommissionen aus Wissenschaftlern und Praktikern, versehen mit Empfehlungen und kommentiert von der jeweiligen Bundesregierung. So plädiert der siebte Jugendbericht von 1986 in seinem Kapitel „Schluss‐ folgerungen“ z. B. dafür, dass in der Jugendhilfe die präventive Arbeit ein eigenständiger Bereich sein müsse und gesetzlich nicht nur auf bestimmte individuelle Fälle bezogen werden dürfe. Prävention müsse individuell und generell vom Gesetz getragen werden. „Die Jugendhilfeträger müssen mit präventiven Maßnahmen so früh und umfangreich einsetzen können, dass fürsorgerische Arbeit nicht aufkommen muss.“ 209 An anderer Stelle empfiehlt der Bericht, dass Jugendarbeit auch unter dem Gesichtspunkt der Ergänzung zur familialen Erziehung gefördert werden müsse und „vielfältige Hilfen zur Lösung bzw. Milderung von Familien- und Partnerproblemen anbietet und damit generell zu einer Entschärfung von Konflikten im Ablösungsprozess vom Elternhaus beiträgt.“ 210 196 Jürgen Treude <?page no="197"?> 211 Ebd., S. XII. 212 Bericht über die Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Achter Jugendbericht - Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 6576 vom 6. März 1990, S.-86. In der Stellungnahme der Bundesregierung auf die Empfehlungen des Siebten Jugendberichtes werden die Forderungen der Kommission unterstützt und auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen einer verbesserten Jugendhilfeinfra‐ struktur hingewiesen. Dass eine rechtzeitig ansetzende Jugendhilfe nicht nur die Familie weniger stark belastet als familientrennende Maßnahmen, sondern dadurch auch andernfalls anfal‐ lende Folgekosten etwa im Bereich der Sozialhilfe oder des ( Jugend)- Strafvollzugs vermieden oder doch begrenzt werden können, dringt nicht ins allgemeine Bewusst‐ sein. 211 Während sich der Siebte Jugendbericht mit dem Zusammenhang von Prävention und Fürsorge beschäftigt, führt der Achte Jugendbericht von 1990 im Kapitel Dezentralisierung/ Regionalisierung aus, dass nicht zuletzt die kommunale Ge‐ meindereform in den 1970er Jahren mit einer Zentralisierung von Angeboten vielerorts zu einer Erschwerung der Zugangsmöglichkeiten zu den Leistungen der Jugendhilfe geführt hat und gleichzeitig Kenntnisse über die Ressourcen des sozialen Raumes und die Ressourcen zur Selbsthilfe in den Lebenswelten der Adressaten verloren gingen. Eine solche Zentralisierung fand auch im Landkreis Konstanz statt, dem vor der Kreisreform 1973 insgesamt 66 Gemeinden ange‐ hörten. Heute sind es noch 25 Städte und Gemeinden. Sozusagen als Korrektur seien Ansätze zur Dezentralisierung und Ansätze z. B. zur Neuordnung der sozialen Dienste entwickelt worden. Das Konzept der Dezentralisierung fülle „sich inhaltlich aber erst in dem der Regionalisierung“. Diese meine die Einbindung sozialer Arbeit in die gewachsenen, lokalen und regionalen Strukturen wie sie in den Lebenswelt- und Alltagstraditionen und in den sozialen Versorgungsangeboten gegeben seien. Lebensweltorientierte Jugendhilfe zu betreiben, „bedeutet Dezentralisierung und Regionalisierung der Leistungsangebote“. 212 Damit plädiert der Achte Jugendbericht letztlich auch für eine möglichst dezentrale, sozialräumliche Versorgungsstruktur der Jugendhilfe, die auf differenzierte lokale Kenntnisse und Ressourcen zurück‐ greifen kann, organisiert vom örtlichen Jugendamt, verantwortlich den lokalen Gremien. Es gibt zwar keine objektiven Maßstäbe für eine ausgewogene Balance präventiver, familienergänzender und familienersetzender Hilfeformen. Beur‐ teilt werden kann aber, ob Empfehlungen der Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung (seit dem dritten Jugendbericht 1972 von einer unab‐ Das Stadtjugendamt Konstanz 197 <?page no="198"?> hängigen Sachverständigenkommission erarbeitet), Anregungen wissenschaft‐ licher Untersuchungen sowie Empfehlungen von Fachverbänden, Städtetag und Landesjugendamt aufgegriffen und in den Ausbau örtlicher Hilfestrukturen eingeflossen sind. Dies kann für das Stadtjugendamt Konstanz - wie in dieser Aufarbeitung der 100jährigen Geschichte dargestellt - bestätigt werden. Wie umfassend und differenziert die Versorgungsstruktur der Jugendhilfe sich in Konstanz darstellt, lässt sich den regelmäßig erscheinenden Tätigkeits- und Geschäftsberichten des Sozial- und Jugendamtes entnehmen. 198 Jürgen Treude <?page no="199"?> Unbekannte Konstanzer Mutter mit drei Töchtern, Beginn des 20. Jahrhunderts (StadtA Konstanz Z1.1612) <?page no="200"?> Der Jugend- und Wohlfahrtsausschuss tagt im Speiseraum der Jugendherberge, hinten links Josef Kleiber (stellvertretender Leiter des Sozial- und Jugendamts), rechts neben Bürgermeister Willy Weilhard der Leiter des Sozial- und Jugendamts Ludwig Eberhard, um 1965. (StadtA Konstanz Z1.1059) <?page no="201"?> Der Blick von innen: Interviews mit einem vormaligen Konstanzer Sozialbürgermeister, (ehemaligen) Sozial- und Jugendamtsleitungen und einer Mitarbeiterin Rüdiger Singer Die nachfolgenden Fragen wurden an Claus Boldt, Sozialbürgermeister der Stadt Konstanz a. D. anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugendamtes der Stadt Konstanz gestellt. Zu Orientierung: Claus Boldt, Jahrgang 1960, war in den Jahren 2005 bis 2013 Sozialbürgermeister der Stadt Konstanz. Davor war er 13 Jahre Sozialde‐ zernent des Landkreises Schwäbisch Hall. Heute arbeitet er als kaufmännischer Vorstand der evangelischen Diakonissenanstalt Augsburg und ist zugleich Geschäftsführer der Stadtklinik. © privat <?page no="202"?> Singer: Herr Boldt, Sie waren Sozialbürgermeister bei der Stadt Konstanz, wann genau war das? Boldt: Das war von 2005 bis 2013. Singer: Dann war Ihr Amtskollege beim Landkreis Herr Goßner? Boldt: Ja genau. Singer: Zur besseren Einordnung: wer war damals Jugendamtsleiter bei der Stadt Konstanz? Boldt: Bis 2011 Herr Treude und danach war es Frau Seifried. Singer: Und nun wird „Ihr“ Jugendamt, „unser“ Jugendamt 100 Jahre alt. Welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf ? Boldt: Vor allem, wie sich die Jugendhilfe verändert hat. Vom Jugendwohlfahrtsgesetz zum KJHG, bzw. SGB VIII und wie damit eine andere Sichtweise Einzug gehalten hat. Ab 1991 war ja dann die Sichtweise eher das Interesse und der Schutz des Kindes im Vordergrund. Vorher war dies die elterliche Gewalt. Jedenfalls stand nicht das Kind im absoluten Mittelpunkt, wie es heute ist. Singer: Und damit der Wechsel vom Fürsorgegedanke hin zum präventiven Ansatz. Boldt: Ja genau, richtig! Singer: Welche Wünsche haben Sie nun für das Jugendamt der Stadt Konstanz? Boldt: Dass das SGB VIII möglichst lange gültig bleibt, weil ich glaube, das hat sich schon bewährt die letzten gut 30 Jahre. Und bezogen auf das Stadtjugendamt, dass sich letztlich nichts ändert an dem, was jetzt ist, weil es keinen Grund gibt, dass sich da was ändern sollte, soweit ich das noch auf die Entfernung beurteilen kann. 202 Rüdiger Singer <?page no="203"?> 1 Kinderkulturzentrum. Singer: Wenn Sie heute auf Ihre Zeit mit dem Konstanzer Jugendamt zurückblicken, gibt es einen Moment an den Sie sich besonders gerne erinnern? Boldt: Zum einen an die Angebote des KiKuZ 1 und zwar deshalb, weil meine Töchter ja dort teilgenommen haben. Das ist schon mal ganz positiv, was ich da in Erinnerung habe. Das war wirklich super. Damals noch unter der Leitung von Peter Straub, der leider vor 2 Jahren verstorben ist. Ich erinnere mich aber auch an eine der Leitungsgruppensitzungen zu Anfang meiner Dienstzeit und war sehr angenehm überrascht über das Höchstmaß an Kompetenz auf der zweiten Führungsebene im Amt. Das fand ich schon wirklich hochprofessionell, was ich da mitgekriegt habe. Ich konnte das ein bisschen vergleichen, weil ich ja vorher über zehn Jahre Sozialdezernent im Landkreis Schwäbisch Hall war. Singer: Welchen Stellenwert hatte zu Ihrer Zeit das Jugendamt innerhalb der Stadtver‐ waltung in Konstanz? War es ein viel diskutiertes Thema, dass das Jugendamt die Stadt viel kostet? Boldt: Nein, überhaupt nicht. Ich denke, das liegt einfach an der Hochprofessionalität und der einfach anerkannt guten Arbeit. Das war wirklich nie ein Thema und das kannte ich ehrlich gesagt auch aus früherer Tätigkeit im Landkreis anders. Normalerweise ist der Kreistag natürlich immer hinterher: „Uh, die Jugendhilfeausgaben, das geht gar nicht, die müssen runter“. Das habe ich in Konstanz nie erlebt. Singer: Nicht nur Ihre Bürgermeisterkollegen, sondern auch der Gemeinderat stand hinter der Eigenständigkeit des Jugendamtes? Boldt: Ja, absolut! Zu Anfang meiner Dienstzeit gab es einen Prüftauftrag von Ober‐ bürgermeister Frank, der das zumindest mal infrage gestellt hat, ob wir uns das weiter leisten wollen. Das Ergebnis war in allen Fraktionen dann so klar, dass der Gemeinderat gesagt hat, man wolle daran nichts ändern. Das ist letztlich auch ein Reflex darauf, wie gut die Arbeit ist. Wenn es Qualitätsprobleme gegeben hätte, dann wäre die Situation sicherlich anders gewesen. Aber die sind offensichtlich bis heute nicht da - im Gegenteil! Der Blick von innen 203 <?page no="204"?> Singer: Die Kooperation im und mit dem Jugendhilfeausschuss, der ja eine andere Rechtsstellung als andere Ausschüsse hat, wie haben Sie die erlebt? Boldt: Komplett konfliktfrei! Ich habe diese in Erinnerung als sehr sachliche Aus‐ schusssitzungen, wirklich ohne große Konflikte über alle Fraktionsgrenzen hinweg. Letztendlich ging es immer um die Kinder und Jugendlichen. Da gab es keine großen Konflikte! Auch die Arbeit mit den freien Trägern war vielleicht nicht immer harmonisch, denn manchmal ging es natürlich ums Geld; aber es war immer sehr sachorientiert und es gab immer eine gute Lösung. Die Sitzungen habe ich als angenehm in Erinnerung. Singer: Hatten Sie die Möglichkeit, Ihre persönlichen Werte und Ihre Haltung in die Arbeit des Jugendamtes mit einzubringen? Boldt: Ich glaube, das wäre zu viel gesagt. Natürlich wurde alles grundsätzlich abge‐ sprochen, und die Arbeit war gekennzeichnet vom gegenseitigen Vertrauen, aber wenn es um Initiativen oder Ähnliches ging, waren es eher die Mitarbei‐ tenden des Jugendamtes, die Initiativen gebracht haben. Das finde ich auch voll in Ordnung. Das entspricht auch meinem Verständnis. Ein Vorgesetzter, der neu in ein Amt kommt, sollte nie versuchen, das Rad neu zu erfinden. Das ist und war immer meine Auffassung. Wenn etwas gut läuft - und es lief ja super - dann macht es überhaupt keinen Sinn, dass man da Unruhe reinbringt. Das wäre nur Aktionismus. Davon halte ich nichts. Einer meiner ersten Dienstvorgesetzten im Landratsamt damals in Schwäbisch Hall, hat mir gesagt: „denken Sie daran, eine der wichtigsten Funktionen des Dienstvorgesetzten ist: ‚bringen Sie keinen Sand ins Getriebe‘. Wenn die zweite Ebene gut funktioniert, lassen Sie die arbeiten.“ Das ist bis heute meine Überzeugung. Singer: Stichwort: „keinen Sand ins Getriebe streuen“: Haben Sie das vonseiten des Landkreises erlebt? Boldt: Nein, das habe ich nicht erlebt. Ich war selbst Mitglied im Kreistag und ich habe das überhaupt nicht erlebt. Singer: War die Kooperation mit dem Landkreis eine gute? 204 Rüdiger Singer <?page no="205"?> Boldt: Auf jeden Fall! Singer: Kommen wir zum heiklen Thema Kinderschutz. Die Angst eines Sozialarbei‐ tenden im Allgemeinen Sozialen Dienst ist, dass einem Kind was Schlimmes passieren könnte. Hatten Sie auch diese Sorge? Boldt: Die Sorge muss man immer haben. Aber letztlich muss man ja den Mitarbei‐ tenden, die entsprechend ausgebildet sind, vertrauen. Aber Fakt ist, es gibt immer ein Risiko, dass man irgendetwas übersieht oder falsch einschätzt. Entscheidend ist, dass man das Risiko minimieren kann, indem man genügend Mitarbeitende hat, die sich intensiv um die Familien kümmern können. Insofern Risiko ja, aber beherrschbar durch eine ausreichende Personalausstattung. Singer: Sie hatten keine schlaflosen Nächte, weil als Sozialbürgermeister wären Sie zumindest politisch in der Verantwortung gewesen? Boldt: Das ist richtig. Ich erinnere mich an bestimmte Gerichtsverfahren, die gegen die politische Leitung, aber auch gegen die Sozialarbeitenden entsprechend gelaufen sind. Damit muss man leben. Man kann in der Arbeit eben immer mal etwas übersehen. Wobei, als ich die Urteile gesehen habe, habe ich gedacht, es lässt sich leicht im Nachhinein feststellen, dass man anders hätte reagieren können. Ich halte es für ein bisschen anmaßend, das im Nachhinein beurteilen zu wollen. Singer: Ein Grundsatz des Stadtjugendamtes bis heute ist „ambulant vor stationär“. Auch dafür braucht es genügend Personal, das sich intensiv um die Familien kümmern kann. Boldt: Richtig! Das entspricht nach wie vor voll meiner Auffassung. Im Endeffekt wird es dann auch nicht teurer, sondern eher günstiger, weil wir vielleicht sehr teure vollstationäre Unterbringungen sparen können. Singer: Nun sind Sie ja heute ein erfahrener Streiter fürs Soziale, Sie haben Lebensweis‐ heit, auch eine gewisse Stellung. Was würden Sie einem jungen Menschen mit auf den Weg geben wollen, der Ihnen anvertraut, er wolle Soziale Arbeit studieren und bei einem Jugendamt arbeiten? Der Blick von innen 205 <?page no="206"?> 2 Kinder- und Jugendhilfegesetz. Boldt: Es gibt drei Dinge, die ich im Blick habe: erstens: bin ich teamfähig? Denn Sozialarbeit ohne Team funktioniert nicht. Das macht die Gesundheit kaputt. Ich muss immer im Team bestimmte Dinge besprechen können. Zweitens: Ich muss bereit sein, mich ständig fortzubilden, weil ja ständig irgendwas Neues kommt. Ich weiß gar nicht, wie viele verschiedene Reformen wir im KJHG 2 schon hatten seit 1991. Ich muss daher bereit sein, mich immer wieder auf neue Dinge einzustellen. Und das Dritte ist: ich muss bereit sein, das Thema „Recht“ nicht nur als nebensächlich zu betrachten. Wichtig ist, dass ich weiß, wie mein Handeln rechtlich zu beurteilen ist. Ich muss möglicherweise das Gericht einschalten, wenn es um irgendwelche Fremdunterbringungen geht oder um Entzug von Befugnissen bei Familien oder ähnliches. Diese drei Dinge muss ich bedenken. Und natürlich brauche ich Empathie und muss mit Menschen in Krisensituationen arbeiten wollen. Aber das erstgenannte Thema „Team“ ist mir besonders wichtig. Singer: Haben Sie denn selbst Ihre Arbeit damals beim Stadtjugendamt als Teamarbeit erlebt? Boldt: Ja absolut, das habe ich so erlebt. Innerhalb des Jugendamtes gab es eine enge Abstimmung. Da wurde immer alles Wichtige im Team besprochen. Da war ich immer, sage ich vorsichtig, absolut begeistert von der Arbeit. Ich weiß gar nicht, ob der Gemeinderat weiß, wie viele hervorragende Leute es da gibt. Manchmal gewöhnt man sich ja an Selbstverständliches. Aber mit Blick von außen: ein hervorragendes Team ist dort gewesen! Singer: Herzlichen Dank, das wird die Akteure von damals und von heute sehr freuen, dass Sie das noch immer so sehen. Nun haben wir 100 Jahre hervorragende Arbeit hinter uns. Schauen wir noch in die Zukunft: Was wünschen sie dem Konstanzer Jugendamt für die nächsten 100 Jahre? Boldt: Wie schon gesagt: Dass sich die rechtliche Grundlage nicht verändert. Man weiß ja nie wie Politik sich entwickelt, aber ich glaube wirklich, dass sich das so bewährt hat und dass das Konstanzer Jugendamt möglichst lange so weiterarbeiten kann wie bisher. Und dass das Jugendamt genügend Mittel hat, um das Thema Migration vernünftig abzubilden. Von der Logik her müsste 206 Rüdiger Singer <?page no="207"?> eigentlich der Etat in diesem Bereich in den letzten Jahren gestiegen sein - wenn ich den Bedarf berücksichtige. Das ist eine besondere Herausforderung, gerade auch im Bereich Jugendarbeit. Das erfordert Mittel, das erfordert Personen. Singer: Herr Boldt, ich bedanke mich sehr herzlich für dieses Gespräch. Boldt: Sehr gerne. *** Die nachstehenden Fragen wurden an Christa Herrmann, Leiterin des Sozial- und Jugendamtes a. D., anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugend‐ amtes der Stadt Konstanz gestellt. Zur Orientierung: Christa Herrmann, geb. 1933 in Schlesien. Studium zur Sozialarbeiterin in Freiburg, Studium der Erziehungswissenschaft in Konstanz. 1962 bis 1970 Leitung eines Kinder- und Jugendheims in Gelsenkirchen, seit 1975 in verschiedenen Funktionen im Jugendamt der Stadt Konstanz tätig. 1989 bis 1997 Leiterin des Sozial- und Jugendamtes der Stadt Konstanz. © privat Singer: Frau Herrmann, schön, dass Sie da sind. Sie waren Leiterin des Jugendamtes der Stadt Konstanz. Wann genau war das? Der Blick von innen 207 <?page no="208"?> Herrmann: Hier war ich seit 1975. Da hatte ich zunächst die Aufgabe, den Sozialdienst aufzubauen und zu gründen. Den gab es damals noch nicht. Und dann bin ich, als Herr Kleiber wegging, das war … Singer: Herr Kleiber war Ihr Vorgänger? Herrmann: Ja, erst war Herr Bauer da, aber da war das Sozial- und Jugendamt noch getrennt. Herr Kleiber war für das Sozialamt zuständig, Herr Bauer für das Jugendamt. Als Herr Bauer wegging, wurde es zusammengeführt. Die Leitung von beiden Ämtern lag dann in einer Hand. Dann wurde Herr Kleiber 1988 krank und Anfang 1989 habe ich das Amt offiziell übernommen. Bis ich 1997 in Ruhestand gegangen bin. Singer: Als Sie das Jugendamt übernommen haben, war ich noch in der Schule. Wer war Sozialbürgermeister zu Ihrer Zeit? Herrmann: Das war Herr Dr. Hansen. Und dann das letzte Jahr, Herr Maas. Singer: Wie muss man sich das Jugendamt damals vorstellen? Herrmann: Es war mit Sicherheit deutlich kleiner als heute. Und es hatte auch noch nicht diese selbstständige Bedeutung. Ich kann mich vor allen Dingen, weil ich 1975 zum Aufbau des Sozialen Dienstes eingesetzt wurde, an die sogenannten Fürsorgerinnen erinnern. Die waren aber absolut nur die Ausführenden der Verwaltung der Jugendhilfe. Die machten nichts selber, sondern sie kriegten am Morgen die Aufträge von den Verwaltungsstellen der Jugendhilfe. Sie sollen da und da hingehen, das erforschen, da fragen und so weiter. Und dann gingen sie los und brachten ihre Ergebnisse wieder zurück. Das war eine Jugendhilfe, die eigentlich nicht so war, wie ich sie auch damals gelernt hatte. Und dann kam der Auftrag von Herrn Kleiber, dem Amtsleiter, dass wir versuchen sollten, einen wirklichen sozialen Dienst für die Stadt Konstanz aufzubauen, der nicht nur Meldungen nachging, sondern wirklich versucht hat, die soziale Situation der Stadt zu erkennen, zu erfassen und darauf zu antworten. Das war eine sehr schöne, aber auch sehr schwierige Aufgabe, weil es durchaus auch damals Fürsorgerinnen gab, die das nicht wollten. 208 Rüdiger Singer <?page no="209"?> 3 Helga Brunner war bis ins Jahr 2024 in verschiedenen Abteilungen als Sozialpädagogin im Stadtjugendamt Konstanz tätig. Singer: Bis heute gibt es in der Jugendhilfe immer Menschen, die Veränderungen grundsätzlich ablehnen. Herrmann: Das war dann schon eine gewisse Herausforderung. Aber die Jungen, die nachkamen, wie zum Beispiel Frau Brunner, die als Praktikantin zu uns kam, die hat das genauso mitgetragen 3 . Und dann haben wir Schritt für Schritt den Sozialen Dienst mit einem selbstständigen Aufgabenprofil aufgebaut. Singer: Das war die Zeit, in der das Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft trat? 1991? Herrmann: Nein, das war viel früher. Das, was ich gerade geschildert habe, war schon in den Jahren 1975 bis 1978. Singer: Demnach waren Sie damals Vorreiter der Jugendhilfe? Herrmann: Auf jeden Fall war das unser Ziel, ja. Singer: Haben Sie noch Fallzahlen von damals im Gedächtnis? Herrmann: Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, wo ich mal berichtet habe. Da steht, was wir in Konstanz für Zahlen hatten. Singer: Sie haben einen Bericht von damals mitgebracht? Herrmann: Ja, man musste ja öfter mal dem Gemeinderat berichten. Zum Beispiel über Ganztagskinderbetreuungsplätze. Das hier habe ich für Dr. Hansen zusammen‐ gestellt. Das war 1997. Da gab es in Konstanz zwölf Kindertagesstätten und sechs Kinderhäuser. Die Kinderhäuser waren eine ganz wichtige Neuerung, die wir gemacht haben. Wir hatten damals 1029 Plätze in der Kindertagesbetreuung. 310 Ganztagsplätze. Der Blick von innen 209 <?page no="210"?> Singer: War das viel für damalige Verhältnisse? Hermann: Ja, ich denke schon. Es hat sich enorm entwickelt. Zusätzlich hatten wir die sozialpädagogischen Tagesgruppen. Da waren 114 Plätze zusätzlich. Das Kinderhaus am See und beim Wessenberg, das waren die sozialpädagogischen Tagesgruppen. Die haben Sie, glaube ich, immer noch. Singer; Ja, die gibt es immer noch. Herrmann: Ein Grund für diese Angebote war, dass wir uns viele Sorgen gemacht haben wegen der vielen Heimunterbringungen. Wir haben deswegen dann besonders die sozialpädagogische Familienhilfe aufgebaut und auch die sozialpädagogi‐ schen Sondertagesgruppen eingerichtet. Vor allem die sozialpädagogische Fami‐ lienhilfe war ein ganz wichtiger Versuch, um Heimunterbringungen zu verrin‐ gern. Das haben wir im Sozialzentrum draußen im Stockacker-Gebiet begonnen. Das war damals ein schwieriges Gebiet. Die sozialpädagogische Familienhilfe haben wir dann auf die ganze Stadt ausgebreitet. Und das war wirklich sehr gut. Die Familienhelfer gingen wirklich tagelang in die Familien, haben dort den Eltern beigestanden und haben gemerkt, dass vieles nicht einfach nur bösartig war, sondern, dass vieles einfach „nicht Wissen“, „nicht Können“ war und dass die Familien Unterstützung brauchten. Und die sozialpädagogischen Tagesgruppen. Das war auch ein wichtiges Mittel, dass die Kinder grundsätzlich zu Hause bleiben konnten, aber tagsüber betreut wurden. Singer: Würden Sie sagen, es war damals die größte Herausforderung, ein der Heimer‐ ziehung vorgeschaltetes System aufzubauen? Herrmann: Ja, das war eine ganz große Herausforderung. Bevor ich hierher zum Studium gekommen bin, war ich Sozialarbeiterin im Ruhrgebiet. Da habe ich zehn Jahre ein Heim für aufgegriffene Jugendliche geleitet. Das war furchtbar! Was man da so erlebt hat! Und da war bei mir ein ganz starkes Bedürfnis, diesen Kindern eine menschenwürdige Hilfe anzubieten und nicht einfach nur dieses wirklich doch oft sehr harte Herausnehmen und im Heim unterbringen. 210 Rüdiger Singer <?page no="211"?> Singer: Menschenwürdige Hilfen… War das Ihre grundsätzliche Haltung in Ihrer Zeit als Amtsleitung? Herrmann: Ja, ich muss dazu sagen: Aus christlichem Geist heraus, war das für mich ein ganz wichtiges Anliegen, die Menschen in ihrer Würde ernst zu nehmen und diese zu fördern. Singer: Wenn Sie heute auf diese Zeit zurückschauen, gibt es einen Moment, an den Sie besonders gerne denken? Herrmann: Da fällt mir ehrlich gesagt nichts Spezielles ein. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich die ganze Zeit sehr gerne beim Jugendamt gearbeitet habe. Das war eigentlich keine Arbeit. Es war ein Bedürfnis. Ich konnte das ausleben, was ich wollte. Singer: Demnach hatten Sie eine gute Zeit beim Sozial- und Jugendamt? Herrmann: Es war alles wirklich sehr gut! Vor allem der Kindergartenbereich. Auch das war für mich ein ganz wichtiger Bereich, wo ich am stärksten gemerkt habe, dass Jugendhilfe nicht einfach routinemäßig weitergehen kann, sondern dass die gesellschaftlichen Entwicklungen wichtig sind, dass man die im Auge behalten und entsprechend reagieren muss. Das war gerade im Kindergartenbereich sehr deutlich, weil im Laufe der Jahre immer mehr Frauen berufstätig wurden und dann Unterstützung für die kleineren Kindergartenkinder brauchten. Und die Schulkinder, die mussten auch noch versorgt werden. Außerdem gab es immer mehr Einzelkinder und die brauchten auch mehr Kontakt zu anderen Kindern. Da gab es wirklich so viele Entwicklungen, die uns gesagt haben, dass der normale Kindergarten, so wie er damals üblich war, einfach nicht mehr reicht. Ich habe damals viel darüber nachgedacht, dass man den Kindern so viel Wechsel zumutete. Das war der Grund, warum wir dann als eine der ersten Städte Kinderhäuser gebaut haben. Kinderhäuser, wo wir gesagt haben, da sollen die Kinder bleiben können vom Vorschulalter - wenn die Eltern es brauchen, schon mit einem Jahr oder noch früher - bis sie aus der Grundschule kommen. Und zwar in gemischten Gruppen. Das war unser Ziel. Ich weiß gar nicht, ob die Kinderhäuser heute noch so sind. Der Blick von innen 211 <?page no="212"?> Singer: Die sind tatsächlich heute noch so. Sie werden aber gerade in Bezug auf die Schulkinder hinterfragt, weil der Rechtsanspruch auf Schulkindbetreuung kommt und da gerade ein ganz neues Betreuungssystem aufgebaut wird. Herrmann: Ja, so muss man einfach auf die gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren. Nachdem wir damals die Idee entwickelt hatten, wollten wir das in Petershausen in einem Kinderhaus verwirklichen. Und da hat der Pfarrer Schwörer darauf bestanden, dass es ein kirchliches Kinderhaus wird. Ich war sehr traurig, weil ich gedacht habe, das ist unsere Idee und wir wollen es auch umsetzen und damit Zeichen geben. Aber dann haben wir das Kinderhaus am Rhein aufgemacht, damit wir auch sofort ein Kinderhaus haben. Singer: Frau Herrmann, wir haben im Vorgespräch kurz darüber gesprochen, dass die Stadt Singen das Jugendamt abgegeben hat und andere kreisangehörige Städte in Baden-Württemberg auch. Und Sie sagten spontan: „Gott sei Dank hat Konstanz das nicht gemacht! “. Wo sehen Sie die Vorteile darin, dass Konstanz ein eigenes Jugendamt hat? Herrmann: Es ist einfach so, dass jede Stadt auf die aufkommenden und vorhandenen Probleme reagieren muss. Da kann man sich nicht in ein großes Gebilde vom Landkreis einordnen. Der Landkreis hat andere Schwerpunkte und will es nach Möglichkeit überall gleich haben. Das geht nicht. Es war so gut und ist so gut, dass man hier bei uns direkten Zugang zu den Gemeinderäten hat. Es gab immer wieder gute Gespräche mit den Gemeinderäten. Wenn etwas Neues kommen sollte, haben die nachgefragt und wollten Gründe haben. Da konnte man wirklich überzeugen. Beim Landkreis wäre das ein viel größeres Problem. Mit Sicherheit würde die Stadt oft hintenanstehen und könnte vieles, was wichtig wäre, nicht so verwirklichen. Für mich ist es so wichtig, dass eine so große Stadt wie Konstanz ihre eigenen Ideen und auch Hilfemöglichkeiten, gerade im Bereich von Jugend und Familie, auch für alte Menschen entwickeln kann. Das ist für mich sehr wichtig. Singer: Gab es damals auch schon Diskussionen, dass die Stadt das Jugendamt an den Landkreis abgeben solle? 212 Rüdiger Singer <?page no="213"?> 4 Allgemeiner Sozialer Dienst. Herrmann: Das habe ich nicht erlebt. Da gab es noch einige andere Städte, die auch kreisangehörig waren, aber ihr Jugendamt hatten. Wir hatten regelmäßig unsere Treffen. Diese Tendenz, dem Landkreis unseres anzugliedern, war nicht da. Es gab ja noch Singen hier im Landkreis. Dann war Villingen-Schwenningen, die waren so wichtig. Wir haben wirklich viel miteinander gemacht. Und Rastatt gab es noch. Singer: Glauben Sie, das ist den Konstanzern bewusst, dass sie ein eigenes Jugendamt haben? Herrmann: Ja, dass es ein eigenes Jugendamt ist, das ist ihnen völlig klar. Aber dass es auch anders sein könnte, das wohl eher nicht. Oftmals kennen sie nicht die Zusammenhänge. Die Mitarbeiter hoffentlich schon. Singer: Ja, mit Sicherheit! Was ist das ganz Besondere am Stadtjugendamt Konstanz? Herrmann: Ja, ich glaube, dass wir in vielen Bereichen wirklich auch auf die spezielle Situation in Konstanz reagiert haben. Zum Beispiel auch in der Jugendarbeit. Das KiKuZ haben wir schon lange. Das Jugendzentrum kam später dazu, weil man gemerkt hat, dass sich die Angebote für die Jugendlichen sehr von den Angeboten für die Jüngeren abheben. Und wichtig wurde dann, dass wir die mobile Jugendarbeit aufgebaut haben. Das war sehr wichtig, dass unsere Mitarbeiter in der Stadt präsent waren und die Jugendlichen angesprochen haben und dadurch ja sehr viel auffangen konnten. Ich glaube, wenn die Stadt Konstanz kein eigenes Jugendamt hätte, dann wäre das Interesse, solche Jugendliche aufzufangen, nicht so groß. Wenn man ein eigenes Jugendamt hat, beobachtet man, was in der Stadt so im Einzelnen passiert. Wenn man kein eigenes Jugendamt hat, sieht man das mehr im großen Raum, aber nicht speziell auf Konstanz bezogen. Es gibt so viele Hilfen, die durch Beobachtung hier entstanden sind und die eine wirkliche Entlastung für die Stadt insgesamt sind, weil sie verhindern, dass Chaos ausbricht. Singer: Im ASD 4 ist heute der Kinderschutz das herausragende Thema. Wie war das zu Ihrer Zeit? Der Blick von innen 213 <?page no="214"?> Herrmann: Der Kinderschutz hat immer eine Rolle gespielt, aber wahrscheinlich war damals die polizeiliche Kontrolle noch stärker, wichtiger als die Vorbeugung. Die Vorbeugung hat sich erst allmählich entwickelt. Alle diese Sachen, die wir damals entwickelt haben, galten dem Kinderschutz und zwar insofern, als wir nicht wollten, dass die einzige Reaktion das Auseinanderreißen der Familien ist. Wir wollten die Hilfe in der Familie leisten. Wir haben die Übergriffe auf Kinder nicht nur als in den Menschen bösartige Veranlagung gesehen, sondern als Hilflosigkeit. Da haben wir als Jugendhilfe unsere Verantwortung gesehen, Hilfestellung zu geben, um Beziehungen zu erhalten. Singer: Es ist ja zum Glück in all den Jahren, soweit ich zumindest weiß, in Konstanz nie etwas wirklich Schlimmes passiert. Herrmann: Ja, und vielleicht ist das auch das Ergebnis einer guten Arbeit der Jugendhilfe. Singer: Und jetzt werden wir 100 Jahre alt, und Sie waren lange Jahre Teil davon. Was empfinden Sie dabei? Herrmann: Ich finde das sehr, sehr schön und bin auch dankbar, dass ich da immerhin fast 30 Jahre mitwirken konnte. Ich finde das wunderschön, was sich entwickelt und weiterentwickelt hat. Es ist nicht einfach nur ein Amt, sondern es hat wirklich Spuren in der ganzen Stadt hinterlassen. Wichtig waren mir auch - und ich hoffe, es gibt sie noch - die Stadtteilkonferenzen. Singer: Ja, die gibt es noch! Herrmann: Das ist gut, dass es sie noch gibt. Die haben wir gegründet, weil ich wollte, dass auch die freien Verbände mit einbezogen werden, dass alles gut zusammenar‐ beitet, dass wir nicht konkurrieren, sondern dass wir für die Stadtteile wirklich etwas Gutes tun. Singer: Frau Herrmann, letzte Frage: Haben Sie irgendeinen besonderen Wunsch zum 100-jährigen Geburtstag für das Stadtjugendamt? 214 Rüdiger Singer <?page no="215"?> Herrmann: Der größte Wunsch ist, dass es weiter ein Stadtjugendamt bleibt. Das ist mein allergrößter Wunsch. Und dass man den Verantwortlichen die Gelegenheit gibt, auf die Entwicklungen der Gesellschaft und der Zeit entsprechend zu reagieren, auch wenn es mal Geld kostet. Singer: Herzlichen Dank! Herrmann: Bitteschön. *** Die nachstehenden Fragen wurden Jürgen Treude, ehemals Sozial- und Jugend‐ amtsleiter, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugendamtes der Stadt Konstanz gestellt. Zur Orientierung: Jürgen Treude, Jahrgang 1946 hat in den Jahren 1998 bis 2011 das Sozial- und Jugendamt der Stadt Konstanz geleitet. Davor war er im Amt für Jugend des Stadtstaates Hamburg von 1993 bis Ende 1997 als Abteilungsleiter tätig. Seine Stationen vor Hamburg waren von 1977 bis 1985 Abteilungsleiter im städtischen Sozialamt Tübingen und danach von 1985 bis 1993 Amtsleiter des Sozial- und Jugendamtes der Stadt Singen am Hohentwiel. Seine erste Stelle nach dem Studium der Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie in Tübingen hatte er von 1975 bis 1977 im Jugendhaus eines sozialen Brennpunktes der Stadt Stuttgart inne. © privat Der Blick von innen 215 <?page no="216"?> Singer: Guten Tag Herr Treude. Sie haben in den Jahren 1998 bis 2011 das Jugendamt der Stadt Konstanz geleitet. Nun geht das Jugendamt im Jahr 2025 in sein hundertjähriges Jubiläum. Was geht dabei in Ihnen vor? Treude: Da ich mich für dieses Buch selber mit der Geschichte des Jugendamtes seit 1925, insbesondere nach 1950, intensiv befasst habe, freue ich mich darüber, Teil einer vielschichtigen Entwicklung gewesen zu sein und mit dazu beigetragen zu haben, das Jugendamt als städtisches Amt zu erhalten. Singer: Welche Wünsche haben Sie für das Stadtjugendamt zu diesem Jubiläum? Treude: Das ist leicht zu beantworten: ich wünsche mir noch weitere Jubiläen, als nächstes das 125jährige. Singer: Wenn Sie auf Ihre Zeit als Amtsleiter zurück blicken… Gibt es einen Moment, an den Sie sich besonders gerne erinnern? Treude: Als in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 2010 das katholische Kinderhaus Edith- Stein fast komplett ausbrannte, fiel noch am selben Vormittag die Entscheidung, sämtliche Kinder bereits ab Montag in den Räumen des städtischen KinderKul‐ turZentrums unterzubringen. Deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter davon zu überzeugen, in der nächsten Zeit ihre eigene Arbeit nur noch eingeschränkt weiterführen zu können, war nicht schwer. Und die Kreativität des gesamten Teams, aus dieser für sie nicht gerade leichten Situation nicht nur das Beste zu machen, sondern neue, attraktive Angebote zu entwickeln, war unglaublich. Singer: Was empfinden Sie dabei? Treude: An diese spontane und ehrliche Solidarität von vielen Beteiligten denke ich gerne zurück und bin ein wenig stolz darauf, dass uns dies so schnell gelingen konnte. 216 Rüdiger Singer <?page no="217"?> Singer: Hand aufs Herz: Gibt es auch ein Ereignis, das Sie am liebsten aus dem Gedächtnis streichen würden, oder auch etwas, das Sie - aus heutiger Sicht - gerne anders gemacht hätten? Treude: Ich finde, solche Fragen sind eigentlich nicht wirklich zu beantworten. Es wird immer Ereignisse geben, die im Nachhinein anders bewertet werden können. Die Entscheidungen müssen aber in einer Realität getroffen werden, die sie aktuell vorfinden und ihr nicht ausweichen können. Eine konkrete Entscheidung, die ich aus heutiger Sicht gerne rückgängig machen würde, fällt mir tatsächlich nicht ein. Das heißt aber nicht, dass ich in 13 Jahren immer alles richtig gemacht hätte. Singer: Was würden Sie sagen, hat Ihre Arbeit als Leiter des Jugendamtes Konstanz geprägt? Treude: Was meine Arbeit geprägt hat, müssen andere beurteilen. Ich kann sagen, welche Entwicklungen ich im Bereich der Jugendhilfe mit vorangebracht habe. Durch den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz 1996 für Kinder ab 3 Jahren zunächst nach Bedarf und ab 1999 uneingeschränkt sowie den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz unter 3 Jahren und im schulpflichtigen Alter nach Bedarf 2005 mit einer Übergangsregelung bis 2010 konnte ich eine Entwick‐ lung voranbringen, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist. In meine Zeit fielen die Neubauten Kindertagesstätte Urisberg, Kinderhaus am Rhein, Kinderhaus Rappelkiste (Salzberg), Kindertagesstätte der Firma Seitenbau, Kinderhaus Montessori, Waldkindergarten und die ersten Planungsschritte der Kindertagesstätte Petrus- und Pauluspfarrei. 2001 begann der Ausbau der Schulsozialarbeit mit der ersten Stelle, aufgeteilt auf die Gebhard- und Berchenschule, 2011 waren es bereits 6,5 Stellen, verteilt auf insgesamt 11 Schulen. Die Kinder- und Jugendarbeit wurde 2005 im Rahmen des Sozialen Konzeptes Berchen/ Öhmdwiesen um den Jugendtreff Berchen erweitert. 2006 konnte die Psychologische Beratungsstelle des Landkreises in das Jugendamt integriert und damit die Arbeit vor allem des Allgemeinen Sozialdienstes sinnvoll ergänzt werden. Und nicht zuletzt habe ich gleich zu Beginn meiner Konstanzer Tätigkeit die jährlichen Geschäftsberichte mit einer umfangrei‐ chen Datensammlung eingeführt und damit die komplexe Arbeit für den Gemeinderat und die Öffentlichkeit transparenter gemacht. Der Blick von innen 217 <?page no="218"?> Singer: Welche persönlichen Werte oder Überzeugungen lagen dem zu Grunde? Konnten Sie diese Werte in Ihrer Arbeit umsetzen? Treude: In meiner 35jährigen Arbeit in verschiedenen Jugendhilfe-Verwaltungen war ich immer überzeugt, dass sich pädagogisches Arbeiten in einer Verwaltung mit deren bürokratischen Abläufen dann am besten vereinbaren lässt, wenn die Regeln von Verwaltungsabläufen nicht als hinderlich, sondern als zwar herausfordernd, aber auch durchaus mit pädagogischen Prozessen vereinbar gesehen werden. Nur so lässt sich erreichen, dass Kinder, Jugendliche und deren Familien als handelnde Subjekte wahrgenommen werden und nicht als Objekte öffentlicher Fürsorge. Dass dem Jugendamt von Oberbürgermeister Horst Frank und den Bürgermeistern Horst Maas und Claus Boldt sowie den städtischen Gremien der notwendige pädagogische Freiraum und die damit verbundenen fachlichen und finanziellen Konsequenzen jederzeit zugestanden wurde, habe ich auch als Bestätigung dieses Herangehens gewertet. Singer: Gehen wir ein Stück weg von Ihrer Person… Die Darstellung der Jugendämter in den Medien ist oftmals sehr problematisch. Jugendämter nehmen Kinder zu Unrecht weg oder kommen immer zu spät, um Kinder zu schützen. Sie selbst haben sich mit dem Thema der Jugendämter im Spiegel der Medien auseinandergesetzt. Was denken Sie, woher kommt dieses Bild der Jugendämter in den Medien? Treude: Ich habe bereits in meinem Artikel in diesem Buch darauf hingewiesen, dass auch ein präventiv und familienunterstützend angelegtes Kinder- und Jugend‐ hilfegesetz sicherstellen muss, dass die Jugendhilfe ihrem Auftrag gerecht wird, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. In akuten Konfliktfällen kann es also durch die Einschaltung des Familiengerichts auch zu einem Eingriff in die elterliche Erziehungsverantwortung kommen. In Kauf genommen werden muss dabei, dass ein solches Handeln aus der Perspektive der Eltern nicht so sehr als Entlastung, sondern eher als Eingriff und Kontrolle empfunden werden kann. Diese strukturelle Ambivalenz oder das sogenannte doppelte Mandat ist ein besonderes Kennzeichen der Kinder- und Jugendhilfe. Deshalb glaube ich nicht, dass das Bild des Jugendamtes auch in der Zukunft grundsätzlich anders oder nur positiv gesehen werden kann. Ich finde auch, das sollte nicht zu sehr in den Vordergrund gestellt oder beklagt werden. Mit dieser Balance zwischen Hilfe und Kontrolle muss das Jugendamt möglichst ehrlich 218 Rüdiger Singer <?page no="219"?> und offensiv umgehen. In den Medien wird immer ein negatives Ereignis eher zum Anlass genommen, die Jugendhilfe zu kritisieren als ein positives, sie zu loben. Diese Dynamik gibt es aber nicht nur in der Jugendhilfe. Singer: Wie, glauben Sie, blickten die Konstanzer Familien während Ihrer Amtszeit auf das Konstanzer Jugendamt? Treude: Ich hoffe, dass vor allem der Platzausbau der Kindertagesstätten, der Ausbau der Schulsozialarbeit, der Kinder- und Jugendarbeit und der ambulanten erzieherischen Hilfen überwiegend positiv in Erinnerung bleiben wird, auch wenn in diesen Bereichen noch nicht alles erreicht ist. Und ich hoffe, dass die Familien, die das Jugendamt als „eingriffsorientiert“ erlebt haben, im Nachhinein dafür Verständnis aufgebracht und auch die längerfristig entlastenden Aspekte gesehen haben. Singer: Wie hat sich das Bild des Stadtjugendamtes Konstanz in der Bevölkerung Ihrer Meinung nach im Laufe der Zeit gewandelt? Treude: Die Antwort auf diese Frage habe ich zum Teil schon mit der Antwort auf die vorherige Frage gegeben. Was heißt im Laufe der Zeit, welchen Zeitraum nehme ich für meine Beurteilung? In meinem Artikel für diese Festschrift habe ich mich mit den gesamten 100 Jahren des Stadtjugendamtes Konstanz beschäftigt. In der heutigen Zeit wird das Jugendamt sicher nicht mehr als eine Behörde wahrgenommen, die Kinder und Jugendliche zur Gefahrenabwehr möglichst schnell in Erziehungsheimen außerhalb von Konstanz unterbringen will, wie das bis ca. 1980 noch überwiegend der Fall gewesen ist. Dieses Bild hat sich gewandelt. Der Blick auf die Jugendämter ist wesentlich differenzierter geworden, die Jugendämter werden auch in ihrer unterstützenden Funktion stärker wahrgenommen. Nehme ich aber den Zeitraum von 2011 an, also seit dem Ende meiner Tätigkeit im Stadtjugendamt Konstanz bis heute zum Erscheinen dieser Festschrift, glaube ich nicht, dass sich dieses Bild noch einmal spürbar weiter verändert hat. Auch in der Zukunft werden Hilfe und Kontrolle als Bestandteil der Jugendhilfe das Bild des Jugendamtes prägen. Singer: Was würden Sie als ehemaliger Amtsleiter, als erfahrenerer Streiter für die Jugendhilfe, jungen Fachkräften raten, die heute im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe oder speziell im Jugendamt der Stadt Konstanz arbeiten? Der Blick von innen 219 <?page no="220"?> Treude: Mein Rat wäre, sich mit einer positiven Grundhaltung auf ein komplexes, nicht einfaches, aber spannendes Arbeitsfeld einzulassen, das ihnen vieles abfordert, aber auch viel selbständiges Arbeiten, unterstützt durch Supervision und Teamarbeit, ermöglicht. Und zwar unabhängig von dem Arbeitsfeld, für das die Entscheidung gefallen ist. Singer: Was war und ist aus Ihrer Sicht das Besondere am Stadtjugendamt Konstanz? Treude: Das Besondere ist zweifellos, dass das Stadtjugendamt Konstanz in Baden- Württemberg mittlerweile das einzige Jugendamt einer kreisangehörigen Stadt ist, siehe dazu auch meinen Artikel in dieser Festschrift. In ihrer Arbeitsweise ist es damit einer kreisfreien Stadt bzw. einem Landkreis im Prinzip gleichgestellt und kann mit dieser Eigenständigkeit die Konstanzer Familien am besten unter‐ stützen. Eine Umsetzung örtlicher Kenntnisse in differenzierte Hilfestrukturen ist dann am erfolgreichsten, wenn die dazu erforderlichen Planungen und Entscheidungen in einem Amt zusammenlaufen und getroffen werden können. Singer: Was wünschen Sie dem Konstanzer Jugendamt für die nächsten 100 Jahre? Treude: Für die nächsten 100 Jahre etwas zu wünschen, wäre zu langfristig voraus‐ gedacht. Neben dem Erhalt der Eigenständigkeit wünsche ich dem Stadtju‐ gendamt, dass sich immer und zu jeder Zeit genügend motivierte Fachkräfte finden lassen, die sich auf ein spannendes Arbeitsfeld in der öffentlichen Ver‐ waltung einlassen. Und dass die städtischen Gremien dem Jugendamt weiterhin den notwendigen Freiraum lassen, den eine solches Amt unbedingt braucht. *** Die nachstehenden Fragen wurden Alfred Kaufmann, dem Sozial- und Jugend‐ amtsleiter, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugendamtes der Stadt Konstanz gestellt. Zur Orientierung: Alfred Kaufmann (geb. 1960) hat am Martin-Heidegger- Gymnasium in Messkirch 1981 sein Abitur abgelegt und danach Wehrdienst abgeleistet. Es folgte ein Studium der Psychologie in Konstanz. 1990 bis 1993 studierte er Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Villingen-Schwennigen. Seit 1994 arbeitet der Diplom Sozialpädagoge im Sozial- und Jugendamt (SJA) 220 Rüdiger Singer <?page no="221"?> der Stadt Konstanz in den Bereichen Sozialer Dienst und Jugendhilfeplanung; seit 2015 leitet er das SJA. © Kirsten Astor/ SÜDKURIER Singer: Herr Kaufmann, Sie sind der aktuelle Leiter des Jugendamtes Konstanz, aber Sie arbeiten ja schon sehr lange im Jugendamt. Kaufmann: Ja, ich habe 1994 angefangen, war bis 2006 im Allgemeinen Sozialen Dienst, dann in der Jugendhilfeplanung und seit 2015 in der Funktion von heute als Amtsleiter. Singer: Damit sind Sie jetzt der Amtsleiter, der das Stadtjugendamt in das hundertjäh‐ rige Jubiläum führt. Was geht dabei in Ihnen vor? Kaufmann: Das ist für mich eine ganz besondere Ehre und ich freue mich darüber, weil in der Stadt Konstanz die Identifikation von Verwaltung und Politik und der Bür‐ gerschaft mit dem eigenen Jugendamt sehr hoch ist und das die Stadtgesellschaft Konstanz sehr stark prägt. Singer: Was wünschen Sie dem Jugendamt zu diesem Jubiläum? Kaufmann: Eine richtig tolle Geburtstagsfeier. Wir werden dies auch mit einem gewissen fachlichen Anspruch verbinden, aber es trotzdem eben auch feiern. Ich hoffe, Der Blick von innen 221 <?page no="222"?> dass wir die positive Identifikation resetten vor dem Hintergrund, dass wir uns einfach die Historie noch mal bewusst machen und wir dann für die kommenden 100 Jahre als eigenständiges Jugendamt gut aufgestellt sind. Singer: Das heißt, ein Blick nach vorne, aber natürlich zuerst auch mal einen Blick zurück. Wenn Sie jetzt persönlich auf Ihre Zeit als Amtsleiter zurückblicken: gibt es da einen Moment, an den Sie sich besonders gerne erinnern? Kaufmann: Ja, das sind im Grunde zwei Momente: einmal, als wir im Sozialen Dienst eine neue Hilfeart aus dem SGB VIII erschlossen haben: den Erziehungsbeistand. Das war eine kleine Lösung für uns hier in Konstanz, um das Angebotsspektrum zu erweitern. Aber der zentrale Meilenstein in der Hilfelandschaft der Jugendhilfe, das war die Einführung der Schulsozialarbeit. Singer: Aber in Ihrer Zeit als Amtsleiter: Was würden Sie da sagen, war der prägendste Moment, vielleicht etwas, auf das Sie stolz sind? Kaufmann: Ja, ich bin sehr stolz darauf, wie wir die Flüchtlingskrise 2015 gemanagt haben, sehr stolz darauf, wie das ganze SJA die Pandemie angegangen ist, gestemmt und überstanden hat. Gemeinsam mit unseren freien Trägern. Wir haben von Anfang an die Haltung vertreten: Wir müssen die Familien trotzdem irgendwie erreichen! Da hatte sich eine unheimliche Kreativität entwickelt auf allen Ebenen. Singer: Und jetzt Hand aufs Herz: Gibt es auch etwas, an das Sie sich ungern erinnern? Kaufmann: Na ja, ich bin auf der einen Seite stolz, dass wir in beiden Fällen und man kann auch den Ukraine Krieg jetzt als dritte Krisensituation noch mit dazu nehmen. Aber ehrlich gesagt, als ich mich damals für dieses Amt entschieden habe, hätte ich mir viel mehr Gestaltungsspielräume in der Weiterentwicklung der sozialen Infrastruktur gewünscht. Dazu sind wir gar nicht gekommen. Die finanziellen Belastungen aus diesen Krisen werden eine kreative Weiterentwicklung in der Jugendhilfe auch weiterhin zumindest einschränken. Singer: Sie haben das Stichwort Finanzen ins Spiel gebracht, und berichtet, dass Sie bei der Bewältigung der Aufgaben der Pandemie nicht vorrangig die Finanzen im Blick 222 Rüdiger Singer <?page no="223"?> hatten, sondern Ihre Arbeit geprägt war von einer Haltung, Familien zu helfen. Würden Sie sagen, das ist auch das, was Ihre Zeit als Amtsleiter geprägt hat? Kaufmann: Ich komme aus der Sozialarbeit, aus dem Sozialen Dienst, aus der Arbeit mit den Familien. Mein Fokus liegt eindeutig auf dem Aspekt bedarfsgerechte Hilfs‐ angebote für Familien, Bürgerfreundlichkeit, niedrigschwellige Erreichbarkeit. Und das ist eine Leitlinie, bei der ich mich in der Vergangenheit immer von der Verwaltungsspitze und insbesondere auch vom Jugendhilfeausschuss und vom Gemeinderat sehr stark getragen fühlen konnte. Singer: Gehen wir weg von Ihrer Person, Herr Kaufmann, und schauen ein bisschen in die Gesellschaft, vor allem auch in die mediale Gesellschaft, zur Darstellung von Jugendämtern in den Medien. Das Jugendamt wird oft dargestellt als eine Behörde, die Kinder entweder zu Unrecht von Familien wegnimmt oder andersrum, Kinder leiden in Familien und das Jugendamt kommt immer zu spät. Woher kommt dieses Bild in den Medien? Kaufmann: Ich habe gerade im Kontext der Aufarbeitung der Historie unseres Amtes wiedererkannt, dass die Jugendhilfe auf den gesetzlichen Grundlagen des Ordnungsrechts entwickelt wurde. Wir werden zum hundertjährigen Jubiläum dieses Buch veröffentlichen. Es gibt hier eine tolle Beschreibung von Fallver‐ läufen und da ist es sehr gut nachvollziehbar, dass im Grunde bis zur Einführung des SGB VIII 1991 die Jugendämter nur das Instrument der Unterbringung, der Fürsorgeerziehung hatten. Man kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen, aus welchen Gründen das vollzogen wurde. Darin liegt für mich die Ursache dafür, dass das Jugendamt noch so einseitig wahrgenommen wird. Das ist wahrscheinlich im gesellschaftlichen Gedächtnis tief verankert, zumal es ja nach wie vor auch Herausnahmen gibt. Schwierig ist, dass das, was in den Medien über einen Fall häufig verkürzt dargestellt wird, nicht wirklich das ist, was unser Handeln begründet. Aus Datenschutzgründen können wir das auch nicht wirklich offenlegen. Persönlich, in Bezug auf das Jugendamt der Stadt Konstanz, habe ich das seit 1994 hier immer anders erlebt. Singer: Das heißt, Sie denken, dass die Konstanzer Familien auf ihr Jugendamt anders blicken. Nämlich wie? Der Blick von innen 223 <?page no="224"?> Kaufmann: Mit einem offeneren Blick. Den Konstanzer Familien ist sicher bewusst, dass es nicht nur eine einzige, sondern viele Hilfearten gibt, die den Familien tatsächlich helfen. Dies wird zum einen transportiert durch unsere sozialen Einrichtungen, die die Eltern entsprechend informieren. Konstanz ist nicht so groß und viele Familien kennen sich. Es geht viel Mund zu Mund. Wir erleben es so, dass die meisten Familien aus eigenem Antrieb oder auf Empfehlung den Weg zu uns finden. Und selbst in den Fällen, wo wir von Amts wegen auf die Familien zugehen, erfahren wir die nötige Offenheit und einen gewissen Vertrauensvorschuss. Also: ich bin stolz darauf, in Konstanz im Jugendamt tätig zu sein, das sich von seinem Ruf und von seinem Renommee deutlich von dem klassischen Begriff des Jugendamtes abhebt. Singer: Themawechsel: Was würden Sie denn jungen Fachkräften ans Herz legen, die sich dafür interessieren, im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe oder vielleicht sogar in Ihrem Jugendamt zu arbeiten? Kaufmann: Also, zunächst hat sich die Belastung für die Kolleginnen und Kollegen, die mit den Familien arbeiten, kolossal verändert. Sie sind immens gestiegen. Die Familien haben heute ganz andere Lebensumstände und viel größere Heraus‐ forderungen im Erziehungsalltag. Dies gilt in allen unseren Aufgabenfeldern, in der Kindertagesbetreuung, den Frühen Hilfen, in der Kinder- und Jugendarbeit, in den Sozialen Diensten und in der Folge auch in den Verwaltungsdiensten. Ich würde den Kolleginnen und Kollegen empfehlen, sich immer darauf zu besinnen, dass sie bei uns einen sehr großen kollegialen Rückhalt haben. In der kollegialen Fallbesprechung, in der Sachgebietsleitung, in der Abteilungsleitung und auch meine Handynummer ist im Bereitschaftsdienst hinterlegt. Es sollte sich keine Kollegin und kein Kollege dem Druck ausgesetzt fühlen, eine Entscheidung allein treffen und verantworten zu müssen. Das prägt unser Jugendamt wirklich schon seit Jahrzehnten: der kollegiale Zusammenhalt, der Hierarchien in den Hintergrund stellt. Singer: Sie haben angesprochen, dass sich Anforderungen verändert haben, Stichwort Kindeswohlgefährdung. Was denken Sie, was sind die größten Herausforde‐ rungen, denen sich das Jugendamt der Stadt Konstanz in naher Zukunft stellen muss? 224 Rüdiger Singer <?page no="225"?> Kaufmann: Die Aufarbeitung der Folgen der Pandemie, die die Familien erleben mussten und deren Folgen die Kinder noch länger in ihrem persönlichen Rucksack tragen werden. Der mittlerweile nahezu völlige Abbruch der Bezüge in die Großfamilie, ich nenne es oft „die Einsamkeit im Erziehungsalltag“. Singer: Gibt es schon einen Masterplan, um diese Herausforderung zu bewältigen? Kaufmann: Je früher wir Unterstützungsmöglichkeiten anbieten, je präventiver und indivi‐ dueller, umso mehr verhindern wir negative Ausprägungen von gesellschaftli‐ chen, familiären und entwicklungsbedingten Herausforderungen von Familien und jeder Euro, den wir in die frühe Kindheit investieren, bleibt uns dann in der Jugend, wenn die Pubertät kommt und die Eltern schwierig werden, dann tatsächlich erspart. Da sind wir in Konstanz schon gut aufgestellt. Allerdings wissen wir auch, dass wir vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels nur sehr beschränkte Möglichkeiten haben werden. Auch die finanziellen Mittel, die dafür nötig sind, werden knapper. Singer: Sie haben den finanziellen Druck angesprochen. Ist Ihrer Meinung nach Geld in der Jugendhilfe gut investiertes Geld? Kaufmann: Das ist für einen Amtsleiter eines Jugendamtes die falsche Frage, weil hier kann man nur mit „Ja“ antworten… Singer: Warum? Kaufmann: Man kann mit Sozialarbeit viel erreichen und mit mehr Sozialarbeit auch immer mehr. Aber dann kostet es in der Regel auch die entsprechenden Summen. Dabei ist für mich im Moment nicht klar, wie wir das sowohl in Konstanz, wie auch auf Landes- und Bundesebene bewerkstelligen sollen. Da ist für mich die Politik im Moment noch zu vage in Bezug auf die inhaltliche und finanzielle Schwerpunktsetzung. Singer: Ein eindeutiges Plädoyer für eine Investition in die Kinder- und Jugendhilfe der Stadt Konstanz. Noch eine letzte Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort: was wünschen Sie dem Konstanzer Jugendamt für die nächsten 100 Jahre? Der Blick von innen 225 <?page no="226"?> Kaufmann: Dass die Attraktivität unserer Rahmenbedingungen, bei uns zu arbeiten, sichtbar bleibt und wir immer genügend Personal finden und natürlich auch die entsprechenden finanziellen Ressourcen zur Verfügung haben, um die Arbeit mit unseren Kooperationspartnern nicht nur erhalten, sondern auch weiterent‐ wickeln zu können. Nur so bleiben wir ein wichtiger und niederschwelliger Ansprechpartner für die Konstanzer Familien. Singer: Vielen Dank für dieses Interview. *** Die nachstehenden Fragen wurden Monika Nootz, einer langjährigen Mitarbei‐ terin des Sozial- und Jugendamts, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Jugendamtes der Stadt Konstanz gestellt. Zur Orientierung: Monika Nootz, Jahrgang 1945, zwei Kinder, gelernte „Kindergärtnerin und Hortnerin“, Studium zur Diplomsozialpädagogin. Von 1980 bis 1994 Mitarbeiterin beim SJA Konstanz. Seit 1990 auch mit Werksvertrag im Seniorenzentrum der Stadt als Tanzleiterin tätig. © privat Singer: Frau Nootz, herzlich willkommen. Wann haben Sie beim Jugendamt der Stadt Konstanz gearbeitet? Welches waren Ihre Stationen im Jugendamt? Nootz: Es war eine besondere Geschichte, wie ich überhaupt mit dem Jugendamt in Kontakt kam. Ich habe zwei Kinder und mir vorgenommen, wenn der Jüngste 226 Rüdiger Singer <?page no="227"?> zur Schule kommt, möchte ich wieder eine Arbeitsstelle annehmen. Damals gab es keine freien Kindergartenplätze in Dettingen. Mit einer weiteren, in Dettingen neu zugezogenen Frau, kamen wir auf die Idee, bei uns im Haus in einer Dachgeschosswohnung eine private Spielgruppe zu gründen. In kurzer Zeit fanden wir weitere interessierte Mütter. Wir haben zehn Kinder in diese Gruppe aufgenommen. Jeweils zwei Mütter übernahmen sehr engagiert vormit‐ tags die Betreuung der Kinder. Eines Tages saßen in unserem Wohnzimmer zwei Damen vom Jugendamt. Sie hätten gehört, wir würden hier im Haus eine private Spielgruppe betreiben und das wäre genehmigungspflichtig, erzählte mir mein Mann, als ich mit den Kindern voller Dreck aus dem Kabisland gerade nach Hause kam. Ich kannte die beiden Damen nicht. Sie haben sich vorgestellt: Frau Herrmann als Abteilungsleiterin des Sozialen Dienstes und Frau Eichen als Bezirksfürsorgerin. Beiden zeigte ich die Räumlichkeiten und stellte dabei unser pädagogisches und organisatorisches Konzept vor. Sie waren beeindruckt. Das Einzige, was sie beanstandet haben, waren die freistehenden Heizkörper. Väter erledigten diese Aufgabe und montierten ein Holzbrett davor. Singer: Wann war das? Nootz: Das war 1975. Frau Herrmann merkte damals noch an, wenn wir eine offizielle Genehmigung hätten, würden wir von der Stadt Gelder bekommen. Wir hatten alles in Eigenarbeit eingerichtet, brauchten nichts mehr und stellten keinen Antrag. Das war die erste Episode. Ich wollte dann 1980 wieder anfangen zu arbeiten. Beim Arbeitsamt hieß es damals: Sozialpädagogin und das halbtags, da sieht es schlecht aus! Zweite Episode. In den Sommerferien 1980 las ich im Südkurier eine Stellenanzeige des Sozial- und Jugendamtes der Stadt Konstanz: „Halbtagsstelle bei der Adoptionsvermittlung und im Pflegekinderwesen zu besetzen! “ Sofort fiel mir Frau Herrmann wieder ein, die ich fünf Jahre zuvor kennengelernt hatte. Ich habe sie angerufen und sie gefragt, was das für eine Stelle sei. Sie war erfreut, dass ich mich interessiere und berichtete mir, dass Kreativität gewünscht wäre. Man könnte z. B. Pflegeelternfeste feiern, Wochen‐ enden mit Pflegeeltern und Kindern gestalten, Pflegeelternabende halten … Dann ging alles sehr schnell. Wir vereinbarten einen persönlichen Termin im Amt zusammen mit einem Mitglied des Personalrats. Einen weiteren Termin hatte ich beim Chef des Personalamts zu bestehen. Ein sehr ehrfürchtiger älterer Herr meinte: „Ich hätte doch zwei Kinder. Er mache sich Gedanken, wo die blieben, wenn ich arbeite? “ Zu der Zeit, war ich ziemlich frauenbewegt, aber ich wollte nicht gleich „aufmupfen“. Ich antwortete, das sei überhaupt kein Problem, Der Blick von innen 227 <?page no="228"?> mein Mann sei Lehrer. Wir würden in der Lage sein, unsere Arbeitszeiten abzusprechen. Damit war er zufrieden und ich bekam diese Stelle. So fing ich nach der Einschulung meines jüngsten Sohnes im Oktober 1980 bei der Stadt an zu arbeiten. Singer: Das war damals im ASD, oder gab es den Fachdienst Pflege- und Adoptivkinder schon? Nootz: Der Fachdienst hat zum ASD gehört, nur waren unsere Räume nicht im Haus an der Laube. Wir hatten zwei Räume im Sozialzentrum von Wessenberg. Herr Kleiber war damals Amtsleiter und Frau Herrmann war die Leiterin des ASD. Beide hatten ihre Büros an der Laube, im damaligen Sozial- und Jugendamt. Singer: Welches waren dann Ihre weiteren Stationen im Jugendamt? Nootz: Der gesamte ASD und der Adoptiv- und Pflegekinderbereich mussten nach ca. zwei Jahren in angemietete Räume in die Schützenstraße umziehen, da das Konzept des Sozialzentrums von Wessenberg ausgebaut wurde und man weitere Räume benötigte. Nach dem Umzug konnten wir feststellen, was es bewirkt, wenn das Haus nicht den unpersönlichen Amtscharakter ausstrahlt. Gerade Adoptivfamilien waren öfter skeptisch gegenüber dem Jugendamt. Singer: Gab es Ängste vor dem Jugendamt? Nootz: Die waren spürbar! Singer: Glauben Sie, das hat sich im Laufe der Zeit verändert? Nootz: Das kann ich nicht mehr beurteilen, aber ich denke, für Menschen, die in ausgesprochen schwierigen Verhältnissen leben, ist es nach wie vor so. Ja, und nach einer weiteren Zeitspanne bezog das gesamte Sozial- und Jugendamt seine umgebaute neue Bleibe im Torkelgebäude am Benediktinerplatz. Singer: Sie waren dann weiterhin auch in dieser Abteilung? 228 Rüdiger Singer <?page no="229"?> Nootz: Ja und Nein, unser Fachdienst hatte zu dieser Zeit mit dem ASD gemeinsame Dienstbesprechungen. Dabei wurde mir nach einigen Jahren deutlich, dass ich gerne in einem anderen Bereich Erfahrungen sammeln möchte. Frau Herrmann war in der Zwischenzeit Amtsleiterin und Herr Wagner Abteilungsleiter des ASD. So wechselte ich in den ASD und übernahm den Bezirk „Paradies“. Zu den Hausbesuchen konnte ich damals für zehn Pfennig mit einem Fähreschiffchen über den Rhein fahren. Manchmal war ich der einzige Fahrgast - einfach „paradiesisch“. Gleichzeitig wurde ich Stellvertreterin von Herrn Wagner. Singer: Diese Fähre kenne ich nur aus Erzählungen. Nootz: Ja, die war super! Die ASD-Arbeit hat meinen Blickwinkel auf Familien, ihre Strukturen und unsere Gesellschaft nochmals sehr erweitert. Damals war es noch so, dass die Kindergärten vom Leiter des ASD mit betreut wurden. Wir hatten wenige Kindergärten in städtischer Trägerschaft. Singer: Wie viele waren das damals? Nootz: Boah, da müsste ich zusammenzählen. Auf jeden Fall habe ich angefangen mit 25 Erzieherinnen. 1994 arbeitete ich laut der Stellenbeschreibung mit je 25 Prozent weiterhin im ASD und übernahm die Fachberatung für Kitas. Für mich war dies eine einmalige Chance. Hatte ich doch meinen beruflichen Anfang von 1964 bis 1980 im Vorschulbereich in sehr unterschiedlichen Einrichtungen verbracht. Besonders in der Pädagogik gab es damals zahlreiche einschneidende neue Erkenntnisse, Bewegungen und Veränderungen. Über den gesetzlichen Rechtsanspruch auf einen Kita Platz mussten neue Kindertageseinrichtungen gebaut werden. Die Stadt fing an weitere Kitas in eigener Trägerschaft zu bauen. Eine interessante Zeit begann: Raumkonzepte entwickeln, Visionen in Räumen zu gestalten in Zusammenarbeit mit dem städtischen Hochbauamt. 1995, meine Kinder waren erwachsen und aus dem Haus, erweiterte ich meine halbe Stelle in eine dreiviertel Stelle. Frau Herrmann ging in Rente, Herr Treude wurde Amtsleiter. Unter seiner Amtsleitung wurde 1999 die Abteilung Tageseinrichtungen für Kinder geschaffen. In dieser Abteilung haben wir im Laufe der folgenden Jahre das Konzept der offenen Arbeit entwickelt. Die städtischen neuen Kitas wurden nach dem Konzept gebaut. Der Blick von innen 229 <?page no="230"?> Singer: Das offene Konzept war damals etwas völlig Neues? Nootz: Ja, klar. Singer: Sie haben es in die Stadt eingeführt, kann man das so sagen? Nootz: Ja, aber nicht allein! Dies war ein „Gemeinschaftswerk“ mit allen Kita-Lei‐ tungen und ihren Stellvertreterinnen, sowie allen Erzieherinnen, die, wie wir es nannten, zu „Fachfrauen in ihrem Bereich“ wurden. Wichtig war uns, ein, auf das Konzept bezogenes Fortbildungsprogramm zu entwickeln. Singer: Gab es da Vorbehalte? Nootz: Ja, viele. Anfänglich von anderen Kindergärten, auch von Eltern. Wir sind den Vorbehalten mit massiver Eltern- und Öffentlichkeitsarbeit begegnet. Spürbar war eine gemeinsame engagierte Aufbruchstimmung, die uns alle beflügelt hat. Selbst den damaligen Oberbürgermeister und den Sozialdezernent haben wir mit den Leiterinnen in unser neues Kinderhaus im Paradies eingeladen und ihnen das Konzept vorgestellt. Singer: Ja, diesen Enthusiasmus merkt man Ihnen noch an. Nootz: Es war eine intensive Zeit für mich. Ich habe viel und sehr gerne gearbeitet. Leider wurde ich von der Stadt nicht so bezahlt wie Fachberaterinnen der anderen Städte oder des Landesjugendamtes. Eingaben über den Personalrat auf Höhergruppierung waren erfolglos. Langsam reifte in mir der Gedanke in den Vorruhestand zu gehen. Hinzu kam, dass es für jüngere Berufskolleginnen und -kollegen zu der Zeit wenig freie Stellen gab. In meine Familie wurde das erste Enkelkind geboren. Innerhalb unserer Abteilung waren wir immer noch dabei, unsere Öffentlichkeitsarbeit zu erweitern und versuchten, die freien Träger ins Boot zu holen. Es gab einen fortlaufenden Arbeitskreis mit allen Kinderhäusern der freien Träger. Im letzten Jahr meiner Tätigkeit kamen wir auf die Idee, über unsere Konzeption und Arbeitsweise eine Ausstellung für alle interessierten Menschen im Bürgersaal zu veranstalten. Mit viel Aufwand, mit zahlreichen Kinderarbeiten, mit Beispielen und Werken aus den Einrichtungen, einem selbst 230 Rüdiger Singer <?page no="231"?> angefertigten Film wurde die Ausstellung zu einem Erfolg. Es kamen Eltern, Großeltern, die Lehrerschaft der Ausbildungsstätten mit ihren Schülern, mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Einrichtungen. Singer: Das war ein besonders bewegender Moment Ihrer Arbeit? Nootz: Ja, das war die Präsentation einer wunderbaren Entwicklung und Zusammen‐ fassung unserer Arbeit. Singer: Wie kam das bei den Eltern an? Nootz: Am Anfang nicht so gut, weil die Kinder nicht mehr vorgefertigte Sachen mit nach Hause brachten. Eines Tages kam ein Professor von der Uni Konstanz auf mich zu, er wollte wissen, wie wir überhaupt auf den Weg zu unserer offenen Arbeit gekommen seien? Durch das Gespräch konnte er nachvollziehen, dass wir von einem bestimmten Menschenbild ausgehen. Hilfreich für unsere Argu‐ mente waren damals auch aktuelle Ergebnisse der Gehirnforschung. Ebenso Montessoris prägnanter Satz: „Hilf mir, es selbst zu tun“! Z. B. auch ein interessantes Buch: „Forschergeist in Windeln. Wie ihr Kind die Welt begreift.“ Fantastisch! Singer: Uns wird auch heute manchmal vorgeworfen, die Kinder wären mit dem offenen Konzept überfordert, weil es zu wenig Struktur geben würde. Nootz: Meine Erfahrungen bestätigen dies nicht. Am Tag der Eröffnung unserer Ausstellung erschien im Südkurier ein Artikel gegen das Konzept der Offenen Arbeit. (Herr Treude rief mich frühmorgens an, um mich darauf vorzubereiten.) Wir hatten zur Eröffnung der Ausstellung Professor Wieland der Uni Bielefeld eingeladen. Bereits vorher war dieser zu mehreren Fortbildungen unseres gesamten Teams nach Konstanz gereist. In seinem einführenden Vortrag zum Offenen Konzept, war er in der Lage, die Aussagen der Redakteurin völlig zu widerlegen. Herr Treude verständigte im weiteren Verlauf Oberbürgermeister Frank über den Zeitungsartikel. So erschien einige Tage später eine Gegen‐ darstellung von Oberbürgermeister Frank im Südkurier. Ebenso gab es zahl‐ reiche Pro- und Contra-Leserbriefe. Eine etwas andere Öffentlichkeitsarbeit zur Meinungsbildung! ? Ich habe mich in einem Gespräch mit der Redakteurin Der Blick von innen 231 <?page no="232"?> auseinandergesetzt. Offensichtlich wurde ihr die Angelegenheit peinlich. Sie schrieb über etwas, was sie nie selbst gesehen und erlebt hatte. Singer: Das Jugendamt der Stadt wird jetzt 100. Sind Sie noch emotional mit dem Stadtjugendamt verbunden? Nootz: Ja, natürlich. Ich hatte immer intensiv mit den Menschen zu tun. Deshalb werde ich mich in meinem „Erinnerungsschatzkästchen“ auch in Zukunft immer mit vielem verbunden fühlen. Singer: Was wünschen Sie dem Jugendamt zum Geburtstag? Nootz: Ich würde ihm weiterhin das wünschen, was ich erlebt habe, nämlich Amtslei‐ tungen, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbstständig arbeiten lassen. Frau Herrmann, die mich von der privaten Spielgruppeninitiative kannte, bevor ich beim Jugendamt gearbeitet habe, hat mich von Anfang an all das, was ich einbringen wollte, tun lassen und mich dabei unterstützt. Herr Treude ebenso. Er legte allerdings Wert darauf, dass er von mir über das Vorgehen innerhalb unserer Abteilung Informationen erhält. Weiter wünsche ich dem Jugendamt, dass vor allem Kreativität in die Arbeit einfließen darf, und dass alle Menschen als individuelle Persönlichkeiten angesehen und erkannt werden. Singer: Noch eine letzte Frage: Was raten Sie einem jungen Menschen, der sich für Soziale Arbeit interessiert? Haben Sie aus Ihrer Biografie einen Tipp, den Sie gerne mitgeben wollen? Nootz: Ich würde empfehlen, sich immer wieder mit dem eigenen Menschenbild zu befassen und danach zu handeln. Über das Menschenbild haben wir mit den Leitungen und den Erzieherinnen oft diskutiert. Immer hatte ich es während meiner Berufstätigkeit mit Menschen zu tun und konnte durch ihr „So sein“ meinen eigenen Blickwinkel erweitern, Neues kennen lernen und meinen Standpunkt überprüfen. Soziale Arbeit ist für mich immer auch ein „Geschenk“ gewesen. Soziale Arbeit gibt des Weiteren die Möglichkeit in zahlreichen sehr unterschiedlichen Fachgebieten Erfahrungen machen zu können. Zusammen‐ fassend bin ich sehr dankbar für mein berufliches Leben und alle Möglichkeiten, die es mir geboten hat. Es gab „Berg und Tal“ - doch genau das heißt leben. 232 Rüdiger Singer <?page no="233"?> Singer: Sie blicken mit Dankbarkeit auf Ihr Arbeitsleben zurück? Nootz: Ja! Als ich angefangen habe zu arbeiten, habe ich mir einen neu gebauten Kindergarten in Hessen ausgesucht. Sozusagen durfte ich diesen eröffnen und nach meinen Vorstellungen leiten. 25 Kinder im dörflichen Raum - ohne eine weitere Kollegin. Neben dem Kindergarten stand ein neu gebautes Schulhaus mit einem Telefon. Im Kindergarten gab es kein Telefon. Für mich war diese erste eigenständige Arbeitserfahrung super und prägend! Singer: Frau Nootz, vielen herzlichen Dank für das Gespräch. Nootz: Bitteschön! Der Blick von innen 233 <?page no="234"?> Umbau des Torkelgebäudes auf dem Areal der ehemaligen Klosterkaserne als neuer Standort des Sozial- und Jugendamts, Anfang der 1980er Jahre (StadtA Konstanz Z1.2911) <?page no="235"?> 1 Gliederung dieses Beitrags: 1. Vorbemerkung 2. Vorgeschichte 3. Warum kommt ein Kind ins Heim? Fallgeschichte aus den Jahren 1925-1930 3.1 Rechtslage 3.2 Fachlichkeit und Handlungsstruktur 3.3 Hilfespektrum 4. Zwischenzeiten 5. Vielfältige Hilfen für unterschiedliche Problemlagen! Fallgeschichte aus den Jahren 2020-2024 5.1 Rechtslage 5.2 Fachlichkeit und Handlungsstruktur 5.3 Hilfespektrum 6. Konzeptionelle Profilelemente 6.1 Sozialzentren und Tagesgruppen 6.2 Sozialpädagogische Familienhilfe 6.3 Missbrauchs- und Misshandlungskonzeption: Das Zwiebelmodell 6.4 Trennungs- und Scheidungsberatung: Die „Konstanzer Praxis“ 7. Schlussbemerkung. 2 Es ist allerdings kein typischer Fall, dass Kinder von ihren Eltern aus dem Erziehungs‐ heim entführt werden. Gleichwohl weist dieser Fall auf die damals verzweifelte und „rechtlose“ Situation der Eltern hin, findet aber entsprechend im fiktiven Fall aus der heutigen Zeit keine Berücksichtigung, da dies heute unvorstellbar und unnötig ist (siehe andere Rechtslage, andere Struktur der Heimerziehung, andere Kooperation zwischen Eltern und Einrichtung; ausführlich beschrieben im Abschnitt 5.). Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot Die sozialpädagogische Entwicklung des Jugendamts Konstanz 1 Günther Wagner 1. Vorbemerkung In diesem Beitrag geht es darum, die grundlegende Veränderung der Jugendhilfe in den letzten 100 Jahren auch für einen fachfremden Personenkreis am Beispiel des Jugendamtes Konstanz nachvollziehbar und sichtbar zu machen. Dabei soll ein Fall aus den 1920er Jahren des letzten Jahrhunderts (unter Beiziehung von Originaltexten aus den Akten des Stadtarchivs Konstanz) dargestellt werden 2 . Eine ähnliche Fallkonstruktion wird dann fiktiv für die heutige Zeit beschrieben. Beim Vergleich dieser Fälle geht es weniger um kontinuierliche Beschreibung und Analyse rechtlicher Veränderungen wie Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 bzw. 1924, Jugendwohlfahrtsgesetz ( JWG) von 1961, Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) von 1991, Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) von 2012 und Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) von 2021 (dies wird an anderer Stelle in diesem Buch ausführlich dargestellt, siehe Jürgen Treude, <?page no="236"?> 3 Vgl. statt anderer K U C Z Y N S K I / H O P P E : Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland 1750- 1939, Berlin 1958. S. 105 ff. ) sondern um den dramatischen Gestaltwandel in den Dimensionen Rechtstellung, Fachlichkeit und Handlungsrahmen der handelnden Personen sowie der vorhandenen Hilfs- und Unterstützungsangebote in der Alltagspraxis des Jugendamtes. Denn in vielen Köpfen existiert nach wie vor die Vorstellung des Jugendamtes als „Kinderwegholbehörde“, wobei dies der Struktur, der Handlungsweise und dem Selbstverständnis des heutigen Jugendamtes absolut nicht mehr entspricht. Durch den Vergleich von zwei nahezu 100 Jahren ausein‐ anderliegenden „Aggregatzuständen“ der fallbezogenen Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche, der Beschreibung entscheidender Entwicklungen dazwischen sowie besonderer „sozialpädagogischer“ Profilelemente soll die grundlegende Veränderung der Arbeit des Jugendamtes Konstanz konkret sichtbar und damit auch nachvollziehbar werden. 2. Vorgeschichte Die sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts im deutschen Raum durchsetzende In‐ dustrialisierung bewirkte einen Funktionsverlust der traditionellen Erziehungs- und Sozialisationsinstanz Familie und produzierte insbesondere für Kinder und Jugendliche katastrophale Lebens- und Ausbeutungsverhältnisse. 3 Zur Eindämmung dieser Missstände wurden staatlicherseits Kontroll- und Schutzre‐ gelungen erlassen (z.-B. Einschränkung und Verbot gewerblicher Kinderarbeit) und im Bereich schulischer und beruflicher Sozialisation erste allgemein ver‐ bindliche Normierungen eingeführt (Schulpflicht, Lehrlingsausbildung). Hin‐ tergrund dieser staatlichen Interventionen war vor allem auch das Interesse an der Kontrolle und Reduzierung „sittlicher Verwahrlosung“. Parallel zu dieser Entwicklung schälten sich im engeren Bereich der sog. Kinder- und Jugendfürsorge rechtliche Grenzziehungen in den Feldern des Pflegekinderschutzes, des Vormundschaftswesens und der Fürsorgeerziehung heraus. Die extensive Ausbeutung der sog. „Zieh-, Halte- und Kostkinder“, die sich in hohen Sterberaten niederschlug, bewirkte in Preußen 1840 eine „Königliche Zirkularverfügung zur Aufnahme von Haltekindern“, die für alle Pflegeverhältnisse gegen Entgelt (betreffend die Kinder unter 4 Jahren) erstmals eine polizeiliche Erlaubnis vorschreibt. Die rechtliche Normierung der Zwangs‐ erziehung für Kinder und Jugendliche (Fürsorgeerziehung) nahm mit dem preußischen Zwangserziehungsgesetz von 1878 ihren Anfang. Erweitert und spezifiziert wurde diese Regelung mit dem „Gesetz über die Fürsorgeerziehung 236 Günther Wagner <?page no="237"?> 4 Stadtarchiv Konstanz: Akte SXII/ 778. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. Minderjähriger“ (1900). Schließlich wurde im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1924 festgeschrieben, die Fürsorgeerziehung dient „der Verhütung oder Beseitigung der Verwahrlosung und wird in einer geeigneten Familie oder Erziehungsanstalt unter öffentlicher Aufsicht und auf öffentliche Kosten durch‐ geführt“ (§ 62 RJWG). Neben dem Tätigwerden des Staates in diesem Kinder- und Jugendbereich entstehen in dieser Zeit (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) als „Reaktion“ auf örtliche Notstände viele private, insbesondere auch religiös motivierte institutionelle Hilfsangebote („Organisationen der freien Liebestä‐ tigkeit“). So auch die von Wessenberg’sche Erziehungsanstalt für Mädchen in Konstanz im Jahre 1853. (Siehe dazu den Beitrag von Jürgen Klöckler S.-51-ff.) 3. Wie kommt ein Kind ins Heim? Fallgeschichte aus den Jahren 1925-1930 Familie M. lebt seit Juli 1922 mit 5 Kindern in einer vom städt. Wohnungsamt zugewiesenen Wohnung in der „Baracke 4 bestehend aus 2 Zimmern und einer Küche“ 4 . Der Ehemann ist im April 1924 infolge eines Selbstmordes gestorben 5 . Seit die hier wohnhaft sind kamen fortgesetzt Beschwerden von der Schule, dass die Kinder den Unterricht unentschuldigt versäumen. Außerdem wurde gemeldet, dass die Kinder der Witwe M[…] sehr verwahrlost seien und des öfteren beim Betteln angetroffen würden. Wir haben die Verhältnisse prüfen lassen und haben festgestellt, dass hier sofort eingeschritten werden müsse, wenn nicht sämtliche Kinder körperlich und sittlich zu Grunde gehen sollen. Wir haben im August 1924 Antrag auf Fürsorgeerziehung für alle Kinder gestellt. Das Vormundschaftsgericht hat das Jugendamt mit dem Vollzug desselben betraut. 6 In der Folge kamen die beiden Söhne ( Johann 14 Jahre, Walter 12 Jahre) in das Knabenheim Hüfingen, 2 Töchter (7 und 9 Jahre alt) in das Waisenhaus Nazareth in Sigmaringen. Ein fünftes Kind kam zur Behandlung in das städtische Krankenhaus Konstanz. Dieses Kind stirbt und entsprechend der Akte des Jugendamtes sei „die Ursache des Todes nicht zuletzt in der Verwahrlosung durch die Mutter zu suchen“ 7 . Soweit aus den Fallakten ersichtlich, wird der Tod dieses Kindes aber weder polizeilich noch strafrechtlich weiterverfolgt. Somit wurden im Herbst 1924 alle vier Kinder im Rahmen der vom Vormund‐ schaftsgericht angeordneten Fürsorgeerziehung in entsprechenden „Anstalten“ Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 237 <?page no="238"?> 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. untergebracht. Über einen Kontakt der Mutter zu diesen Kindern finden sich keine Anhaltspunkte. Im Jahr 1925 heiratet Frau M. wieder. Die „neue Familie“ wird vom Fürsorgeamt der Stadt Konstanz finanziell unterstützt. In den fol‐ genden Monaten versucht Frau M. mit ihrem neuen Ehepartner (zukünftig hier als Eltern bezeichnet, obwohl es sich hier seitens des Mannes um ein Stiefelternverhältnis handelt) die Kinder aus den Fürsorgeheimen herauszuholen, „Seit dem die Kinder in Fürsorgeerziehung sich befinden, habe sowohl der M [Stiefvater] wie auch seine Ehefrau es immer wieder versucht, diesselben herauszubekommen“ 8 . Dies gelingt schließlich bei den beiden Buben. Daraufhin wird ein Haftbefehl gegen die Eltern erlassen. Die Kinder werden aufgegriffen und in die Fürsorgeanstalt zurückgebracht. Die Eltern werden wegen Entführung der Kinder nach § 76 RJWG angeklagt und schließlich zu 2 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Zugleich wird ihnen jeglicher Kontakt zu den Kindern verboten. Die zwei Söhne werden nach ihrer Schulentlassung seitens der Fürsorgeeinrichtung zu Landwirten als Arbeitskraft vermittelt. Ebenso wird eine Tochter von der Fürsorgeeinrichtung in eine Familienpflegestelle vermittelt. Dazu wird zwischen Fürsorgeeinrichtung und Familienpflegestelle ein sog. „Dienst-Vertrag“ geschlossen, in dem es bei dem Mädchen dann in §1 heißt: Der Dienstherr [in diesem Fall der Pflegevater] ist verpflichtet, den Zögling in seinen Familienkreis aufzunehmen, dessen Erziehung in religiös-sittlichem Sinne zu fördern unter strenger aber liebevoller und gerechter Aufsicht und Zucht, ihn zur Reinlichkeit, Ordnung und Arbeitsamkeit, auch zum Besuch des Sonntagsgottesdienstes anzu‐ halten, ihm eine gute Unterkunft mit besonderem Bett, den Verhältnissen angemessen reinliche Kleidung, in Krankheitsfällen Pflege und ärztliche Hilfe zu gewähren. Eine übermässige Ausnützung der Arbeitskraft des Zöglings und gesundheitsschädigende Verwendung ist verboten. 9 Weiter wird in §3 geregelt: Der Zögling ist verpflichtet, die ihm übertragenen Arbeiten zur vollsten Zufriedenheit des Dienstherren auszuführen, sich in allem dessen Anordnungen zu fügen und […] besonders ohne Genehmigung des Direktors [der Fürsorgeanstalt] die Stelle nicht zu verlassen. 10 Vermutlich verbleiben alle vier Kinder bis zur Volljährigkeit in den Arbeitsbzw. Familienpflegestellen. Darüber gibt es in den Akten leider keinerlei Aufzeich‐ nungen. 238 Günther Wagner <?page no="239"?> 11 Auch heute wird über einen Widerspruch in der Sozial- und Jugendhilfe immer in der jeweiligen Institution entschieden, die den Erstbescheid erstellt hat. Erst die Klage gegen die Ablehnung des Widerspruchs erfolgt dann vor dem jeweils zuständigen Verwaltungsgericht. 3.1 Rechtslage In dem dargestellten Fall haben die Eltern grundsätzlich die „elterliche Gewalt“, d. h. „das Kind steht, solange es minderjährig ist unter elterlicher Gewalt“ (§ 1626 BGB). Allerdings hat nur der leibliche Vater „kraft der elterlichen Gewalt das Recht und die Pflicht für die Person und das Vermögen des Kindes zu sorgen“ (§ 1627 BGB). Nur wenn er verstorben ist, kann die Mutter dafür eingesetzt werden, was in unserem Fall passiert. Über das Vormundschaftsgericht kann seitens der Stadt Konstanz (bzw. von 1925 an seitens des dann eingerichteten Jugendamtes) Fürsorgeerziehung beantragt werden, wenn Kinder misshandelt oder vernachlässigt werden. Wird dem vom Vormundschaftsgericht stattge‐ geben, verlieren die Eltern alle Einfluss- und Mitwirkungsmöglichkeiten. Damit wird den Eltern zugleich die gesamte „elterliche Gewalt“ entzogen, d. h. sie haben zwar formal die Möglichkeit gegen die Entscheidung des Vormund‐ schaftsgerichtes Einspruch einzulegen (§ 72 RJWG), da dieser aber wiederum von denselben Institutionen bearbeitet wird, die über die Notwendigkeit der Fürsorgeerziehung entschieden haben, ergibt sich im Ergebnis keine neutrale Überprüfung der Entscheidung des Vormundschaftsgerichtes und spielt inso‐ fern in der Praxis kaum eine Rolle 11 . Eine anwaltliche Beratung oder Vertretung können sich die Eltern zudem nur ganz selten leisten. Wenn Eltern nun wie in unserem Fall in ihrer Not versuchen, Kinder aus Fürsorgeeinrichtungen herauszuholen, werden sie sogar mit Gefängnis bestraft. Mit dem Beschluss des Vormundschaftsgerichtes und die Aufnahme in eine Fürsorgeanstalt gehen alle Rechte in der alltäglichen Ausübung der „elterlichen Gewalt“ auf die Fürsorgeeinrichtung über. Zwar wird i. d. R. für die Kinder ein Vormund bestellt. Dieser gibt sich aber in der Regel mit einem halbjährigen Bericht der Anstalt zufrieden, den diese natürlich im Eigeninteresse immer so verfasst, dass die Fürsorgeerziehung weiterhin notwendig ist. Erst mit der JWG-Novelle 1961 wurde für die Fürsorgeerziehung eine Heimaufsicht geregelt und eingeführt. Auch in den Familienpflegestellen, die häufig an Einrichtungen „angehängt“ waren (siehe Dienstvertrag in unserem Fall) wird die alltägliche Handhabung der Erziehungspraxis nicht kontrolliert. Insofern waren die Kinder und Jugendlichen in der Fürsorgeerziehung (und den „angehängten“ Pflege‐ stellen) den dort tätigen Erwachsenen mehr oder weniger recht- und schutzlos ausgeliefert. Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 239 <?page no="240"?> 12 Erst ab Mitte der 1920-iger Jahre gibt es in Deutschland vermehrt Ausbildungsstätten für Fürsorgerinnen und Wohlfahrtspfleger, siehe auch Verzeichnis der Fachschulen für Sozialarbeit, Stand 1961 in StadtA Konstanz S XII/ 1080. 13 Außerhalb der Fremdplazierung in Anstalten und deren angegliederten Pflegefamilien konnte das Jugendamt auch Kinder in örtlichen, selbst rekrutierten Pflegefamilien unterbringen. Dies betraf aber vor allem uneheliche Kinder und Kinder, die von den Eltern nicht ausreichend versorgt werden konnten. Zudem gab es die Möglichkeit der Schutzaufsicht. Diese hatte dabei dem „Schutze und der Überwachung des Minderjäh‐ 3.2 Fachlichkeit und Handlungsstruktur Im geschilderten Fall übernahmen Beamte der Stadt Konstanz, die zu dieser Zeit vorwiegend eine verwaltungsbezogene Ausbildung haben 12 , die Überprüfung und Feststellung der Notwendigkeit für die Beantragung der Fürsorgeerziehung. Als Berufsbezeichnung finden wir hier in den Akten z. B. Fürsorgekontrolleur, Wohl‐ fahrtspfleger, Vormünder, Beamter eines Amtes. Diese Personen haben wenig bis keinerlei pädagogischen Hintergrund. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die „Zusammenarbeit“ mit den Eltern schnell zu einem Machtkampf um die Entscheidungshoheit für die Belange der Kinder entwickelt, bei dem die Eltern aufgrund der rechtlichen und institutionellen Gegebenheiten („obrigkeits‐ staatliche Eingriffsbehörde“) nahezu immer auf der Verliererstraße sind. Neben der kaum vorhandenen pädagogischen Vorbildung bei den Beamten des Jugendamtes gibt es auch für die Fürsorgeerzieher in den Anstalten wie auch die Pflegeeltern in der Familienpflege keinerlei fachliche Voraussetzungen, sondern diese werden vorwiegend aus dem kirchlichen bzw. karitativen Bereich und aus handwerklichen Berufen rekrutiert (Fürsorgeschwestern, Fürsorger, Pflegeväter usw.). Insofern existieren in der Zeit unseres Falles weder auf der Seite der öffent‐ lichen Verwaltung (Jugendamt) wie auch auf der Seite der Leistungserbringer (Fürsorgeeinrichtungen, Pflegefamilien) grundlegende pädagogische Kenntnisse im Umgang mit „verwahrlosten“ Kindern und Jugendlichen. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Angebote sowohl von den Betroffenen als auch von der Öffentlichkeit vor allem als knastähnliche „Verwahranstalten“ und nicht als Erziehungseinrichtungen wahrgenommen werden. 3.3 Hilfespektrum Ende der 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts gibt es für die Jugendämter bezüglich der Hilfe für misshandelte und verwahrloste Kinder und Jugendliche nur die Möglichkeit der vollstationären Unterbringung außerhalb der Familie in Familienpflege bzw. in einer Fürsorgeeinrichtung oder aber die Alternative gar nichts tun zu können. 13 Jugendämter müssen somit immer warten, bis 240 Günther Wagner <?page no="241"?> rigen“ zu dienen (§ 58 RJWG), war also vor allem Kontrollinstrument des Jugendamtes im Hinblick auf die Eltern. 14 Siehe Akte StadtA Konstanz S XII/ 320. 15 Daneben gab es als „ambulante“ Regelung vor Ort nur noch die sog. Schutzaufsicht und die Familienpflege ohne Beteiligung von Anstalten, siehe auch Anm. 13. beim Kind genug Schaden angerichtet ist, um dann eine in der Regel vor‐ mundschaftsgerichtlich abgesicherte Fremdunterbringung zu veranlassen und durchzuführen. Aus dieser Zeit stammt auch der damals berechtigte Vorwurf an die Jugendämter, dass diese erste handeln, „wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist“. Entsprechend gab es 1930 im gesamten Reichsgebiet als Angebot für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen eine Vielzahl an Fürsorgeer‐ ziehungseinrichtungen und Familienpflegestellen (die wiederum i. d. R. von den Anstalten aus gefunden und von diesen belegt wurden; siehe dazu die Auszüge aus einem Dienstvertrag zwischen Anstalt und Pflegefamilie in der Fallbeschreibung). Um einen Eindruck von der Dimension dieses Bereiches in Baden zu geben, sind hier die Zahlen für 1930 aufgelistet 14 : • zwei staatliche Anstalten mit 235 Plätzen • neun nichtstaatliche Anstalten (z. B. Stiftungen, städt. Einrichtungen, dar‐ unter auch die von Wessenberg’sche Erziehungsanstalt für Mädchen in Konstanz mit 36 Plätzen) mit 424 Plätzen • 18 katholische Anstalten mit 1148 Plätzen • 17 evangelische Anstalten mit 207 Plätzen Zusammen 46 Anstalten mit 2014 Plätzen Die „Belegungssituation“ seitens der Stadt Konstanz sah im Jahre 1929 so aus: • 88 Jugendliche in Fürsorgeerziehung (davon neun männliche und 17 weib‐ liche in Fürsorgeanstalten und 43 männliche und 19 weibliche in Familien‐ erziehung) 15 • Gesamtkosten pro Monat waren für die Anstaltserziehung 1820 Reichsmark • für die Familienerziehung 50 Reichsmark In diesen Zahlen wird deutlich, dass es sich damals bei der Fürsorgeerziehung nicht nur um eine „pädagogische“ Fragestellung handelt, sondern dies durchaus auch ökonomische und finanzielle Aspekte sowohl für die örtlichen Träger als auch für die Anstalten beinhaltet. Immer wieder wird in dieser Zeit auch Kritik an der Fürsorgeerziehung öffentlich gemacht. Beispielsweise im Konstanzer Volksblatt vom 23. August Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 241 <?page no="242"?> 16 Siehe Akte StadtA Konstanz S XII/ 320. 1929, wo ein Artikel mit „Die Schrecken der Fürsorgeerziehung“ 16 überschrieben ist. Ausgangspunkt des dargestellten Falles ist, dass ein Dienstmädchen nach dem Entweichen wieder in die Fürsorgeanstalt zurückgebracht werden sollte, dann aber lieber aus dem Fenster zehn Meter hinuntersprang und sich dabei sehr schwer verletzte. Zurecht fragt die sozialdemokratische Zeitung: Ja, was mag das Mädchen bewogen haben, den unter Umständen todbringenden Sprung zu unternehmen, nur um nicht in der Anstalt bleiben zu müssen. Lieber tot als…! Es ist furchtbar daran zu denken, dass ein junges Menschenkind sein Leben dafür in die Schanze schlägt, dass es von der „Fürsorge“-Erziehung verschont bleibt. Ist die Erziehung in jenen Anstalten immer eine „fürsorgende“? Weiter wird geschildert: Da wird bis zum Überdruß der Pfleglinge gebetet, obwohl sie dies zum Teil nur mit Widerwillen tun, es aber tun, um ihre Ruhe zu haben. Systematisch werden Heuchler erzogen. Dann aber wird auch geprügelt und zwar in einer Weise, dass man sich fragen muß, ob dadurch nicht die Erziehungsgewalt überschritten wird. Zudem wird noch auf den Aspekt der auskömmlichen Belegung hingewiesen. Das Fürsorge- und Erziehungswesen ist überspannt; wir sind nicht allein mit unserer Auffassung, dass die Zwangserziehung in Anstalten, die gleichbedeutend ist mit einem Auslöschen der eigenen Persönlichkeit, zu rasch bei der Hand ist, gerade als ob gewisse Jugendämter und Vormundschaftsgerichte Angst hätten, sie könnten die vielen vorhandenen Anstalten nicht vollbesetzt bekommen. Die Anstalt ‚rentiert‘ nur, wenn sie besetzt ist und auch die ‚Erzieher‘ können ihre Stellung nur halten, wenn die Erziehungsobjekte nicht fehlen. Trotz dieser sehr eindrücklichen Beschreibung der negativen und problema‐ tischen Seiten der Struktur der Fürsorgeerziehung im Jahre 1929 dauert es noch über 30 weitere Jahre bis zur Veränderung bzw. Verbesserung dieses Handlungsfeldes ( JWG 1961: Einführung der Freiwilligen Erziehungshilfe (FEH) sowie der Heimaufsicht) und über 60 Jahre bis zur endgültigen Abschaffung des Begriffs „Fürsorgeerziehung“ (Kinder- und Jugendhilfegesetz 1991). 4. Zwischenzeiten In diesem Abschnitt soll die Zeit zwischen den Fallbeispielen (1925 bis heute) im Hinblick auf die Entwicklung der Fachlichkeit und der strukturellen Orga‐ 242 Günther Wagner <?page no="243"?> 17 Ausführlich dazu: W A G N E R , Günther: Jugendamt in: Handbuch Sozialarbeit/ Sozial‐ pädagogik, S. 521-537; Hanns Eyferth/ Hans-Uwe Otto/ Hans Thiersch (Hg.), Darm‐ stadt/ Neuwied 1984. 18 Dies lässt sich aus verschiedenen Einzelakten aus dieser Zeit, die im Stadtarchiv Konstanz lagern, ableiten. 19 3. Jugendbericht, 1972, S.-29. 20 Gliederung des Stadtjugendamtes Konstanz in: Stadtarchiv Konstanz Akte S XII / 1474. 21 Dies ist insofern bemerkenswert als nur 29,4% aller Jugendämter überhaupt einen eigenen fürsorgerischen Aussendienst haben, bei über einem Drittel ist dieser beim Gesundheitsamt angestellt (3. Jugendbericht, 1972, S IX). nisation des Jugendamtes beschrieben werden. 17 Nachdem das Jugendamt im Jahre 1925 begründet wurde, lag der Schwerpunkt bei den Vormundschaften und rechtlichen Vertretungen von Kindern und Jugendlichen. Zudem führte es auf dem Hintergrund zunehmender finanzpolitischer Engpässe und korre‐ spondierender Notverordnungen dazu, dass neben der Reduzierung der Jugend‐ amtsarbeit „auf die verwaltungsmäßigen Pflichtaufgaben der Jugendfürsorge“ (3. Jugendbericht, 1972) sich auch eine völlig heterogene Organisierung der Tätigkeiten innerhalb des kommunalen Behördenapparates entwickelte. Für das Jugendamt Konstanz finden sich für diese Zeit keine dezidierten „amtlichen“ Stellen- oder Zuordnungsbeschreibungen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass neben den Kern der verwaltungsausgebildeten Beamten eine bestimmte Anzahl an Fürsorgeschwestern und Wohlfahrtspflegern (z. B. als Fürsorgein‐ spektoren) für das Amt tätig war. 18 In der Zeit des Nationalsozialismus wird die ursprüngliche Idee des Jugendamtes als einer autonomen Erziehungsbehörde (siehe RJWG) weiter „ausgeblutet“, indem alle Aufgaben der Jugendpflege 1934 von der Hitlerjugend übernommen („gleichgeschaltet“) sowie ab 1937 viele Jugendfürsorgeaufgaben nach § 11 RJWG (Möglichkeit der Aufgabendelegation) der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) übertragen werden. Damit verstärkt sich „auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit die Einschränkung des Jugendamtes auf die Aufgaben einer reinen Eingriffsbehörde“ 19 , womit sich zugleich das Negativ-Image des Jugendamtes als einer „Jugendverfolgungsbe‐ hörde“ verfestigt. Für das Jahr 1973 findet sich eine Aufstellung über die Personalausstattung des Jugendamtes Konstanz. 20 Demnach gab es im Jugendamt neben dem Ju‐ gendamtsdirektor einen Innendienst (einschließlich Vormundschaftsbereich) mit sechs Fachkräften, fünf Fürsorgerinnen (die auch den Außendienst für das Sozialamt abdeckten) 21 , zwei Außendienstbeschäftigte (für Geldeintreibungen, Ermittlungen u.ä.), sieben Kanzleiangestellte (für Sekretariats- und Schreibar‐ beiten), vier Angestellte im Jugendhaus Raiteberg und einen Angestellten für die Jugendherberge. Von den sechs Fachkräften im Innendienst war eine Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 243 <?page no="244"?> 22 Siehe Statistiken dazu im 3. Jugendbericht, 1972. 23 Die erste soziale Frauenschule wurde 1908 von Alice Salomon in Berlin gegründet. 24 Siehe Verzeichnis der Fachschulen für Sozialarbeit, Stand 1961 in Akte StadtA Konstanz S XII/ 1080. Person mit der Bearbeitung von Fürsorgefällen (FEH, FE) beschäftigt und eine andere mit der Jugendgerichtshilfe und der Zuständigkeit für aufgegriffene Kinder und Jugendliche. Diese beiden Personen hatten eine sozialarbeiterische Grundausbildung, was für Beschäftigte im Innendienst damals durchaus nicht üblich war 22 . Für unser Thema sind bei der Betrachtung dieser Zeitläufte besonders zwei Aspekte wichtig. Zum einen war diese Zeit der Beginn einer Ausweitung und Professionalisierung der sozialarbeiterischen Bereiche des Jugendamtes, zum anderen war die Struktur des Jugendamtes in der Bundesrepublik noch durchgängig durch die Aufteilung in einen Außen- und Innendienst geprägt. Im Bereich der Familienfürsorge (unter diesem Begriff versammelten sich bis in die 1960er Jahre vielfältige Tätigkeiten in den unterschiedlichsten organisa‐ torischen Anbindungen - von diversen Ämtern bis zu freien und kirchlichen Trägern), die i. d. R. auch für den Außendienst des Jugendamtes zuständig war, finden sich vorrangig Frauen, die ab den 1920er Jahren in sog. Wohlfahrts- und Sozialen Frauenschulen 23 nach zweijähriger Ausbildung als staatlich geprüfte Fürsorgerinnen tätig werden konnten. Später wurden diese Ausbildungsstätten durch „Höhere Fachschulen für Sozialpädagogik“ 24 und ab 1971 durch Fachhoch‐ schulen, Berufsakademien und universitäre Ausbildungsgänge ersetzt. In der Bundesrepublik Deutschland wird ab den 1960er Jahren auch die bis dahin übliche Berufsbezeichnung Fürsorgerin in Sozialarbeiterin/ -pädagogin verän‐ dert. Damit standen auf dem Arbeitsmarkt erstmals ausreichend qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung und dadurch wird der „sozialpädagogische“ Bereich des Jugendamtes in den Folgejahren sowohl qualitativ als auch quantitativ auf‐ gerüstet. Ganz entscheidend für die sozialpädagogische Wende im Jugendamt war aber die Zusammenlegung von Außen- und Innendienst. Die Trennung von Außen- und Innendienst, die auch im Jugendamt Konstanz im Jahre 1973 noch bestand, beinhaltete, dass die Fürsorgerinnen im Rahmen ihres Außendienstes (vor allem Hausbesuche) zwar die Problemlagen von Kindern, Jugendlichen und Familien erkunden und beschreiben durften, die Entscheidung über ein Tätig‐ werden des Jugendamtes bzw. die Bewilligung einer Hilfe erfolgte dann aber immer über den Innendienst (ohne dass dieser persönlichen Kontakt mit den Betroffenen hatte). Für die Kommission des dritten Jugendberichtes von 1972 „ergibt sich als generelle Forderung, dass im Mittelpunkt [der Jugendamtsarbeit 244 Günther Wagner <?page no="245"?> 25 3. Jugendbericht, 1972, S.-123. 26 Ebd., S.-126. 27 Ebd., S.-108. 28 Dies wurde zu diesem Zeitpunkt auch deshalb möglich, da der Leiter des Jugendamtes (Herr Bauer) krankheitsbedingt in den vorzeitigen Ruhestand ging und dem Leiter des Sozialamtes (Herr Kleiber) dann beide Leitungen übertragen wurden. Gleichwohl gab es bis auf den Zeitrahmen von 1971 bis 1976 immer eine gemeinsame Leitung von Jugendamt und Fürsorgebzw. Sozialamt. …] die sozialpädagogisch ausgebildete Fachkraft zu stehen hat.“ 25 Zudem fordert die Kommission als eindeutige Empfehlung grundsätzlich eine Organisationsform der sozialpädagogischen Arbeit [im Ju‐ gendamt], die die herkömmliche Trennung in Vorgänge der Ermittlung und Diagnose einerseits und der Entscheidung [und Bewilligung] anderseits überwindet. 26 Denn der strukturelle Konflikt zwischen Fach- und Verwaltungsautorität verliert seine Schärfe da, wo die Sachentscheidungen auf die fachkundige Basis verlagert werden. […] Kommunikationswege werden reduziert und Informationsverluste bei der Entschei‐ dungsfindung verringert. 27 Da der Außendienst wesentlich darüber entscheidet, wie und warum jemand zum „Fall“ wird und er den direktesten Kontakt zur Klientel pflegt, bestimmt er in besonderem Maße die sozialpädagogische Qualität eines Jugendamtes. Entsprechend sind seine organisatorische Gestaltung, personelle und fachliche Ausstattung sowie institutionelle Anbindung für die „sozialpädagogische Di‐ mension“ eines Jugendamtes von zentraler Bedeutung. Insofern war es für die Entwicklung des Jugendamtes Konstanz ein entscheidender und einschnei‐ dender Schritt, als zum April 1976 die erneute Zusammenlegung von Jugend- und Sozialamt erfolgte 28 und damit die organisatorische Aufteilung in vier (Haupt-)Abteilungen begründet wurde und zwar der Sozialhilfe, der „klassi‐ schen“ Jugendhilfe (mit Vormundschaft und wirtschaftlicher Jugendhilfe), der Jugendpflege- und -förderung (mit Jugendhaus Raiteberg und Jugendherberge) und der Abteilung Soziale Dienste. Gewichtigster Bestandteil (neben Sozialzen‐ trum, Jugendgerichtshilfe, Kindergartenbereich usw.) in der neu geschaffenen Abteilung Soziale Dienste war die Schaffung einer eigenen Organisationseinheit Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), der sich im Wesentlichen aus dem bisherigen „Außendienst“ (Fürsorgerinnen) zusammensetzte. Damit zusammenhängend wurde die Trennung von Außen- und Innendienst aufgehoben, d. h. ab nun sind die Fachkräfte des ASD sowohl für die Bedarfsklärung, die Hilfeentschei‐ dung als auch die Hilfedurchführung selbstverantwortlich zuständig. Diese Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 245 <?page no="246"?> 29 Frau Christa Herrmann wurde dann 1990 Amtsleiterin und blieb dies bis zu ihrem altersgemäßen Ausscheiden im Jahre 1997. organisatorische Veränderung war für das Jugendamt Konstanz ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer „sozialpädagogischen Fachbehörde“. Die Leitung der neugeschaffenen Abteilung Soziale Dienste wurde mit einer Erziehungswis‐ senschaftlerin (Frau Christa Herrmann 29 ) besetzt, was für die damalige Zeit völlig ungewöhnlich war, aber gleichzeitig darauf hinweist, dass es in der Stadt Konstanz schon immer eine große Bereitschaft gab, sich auf neue Wege und Handlungsperspektiven einzulassen. 5. Vielfältige Hilfen für unterschiedliche Problemlagen! Fallgeschichte aus den Jahren 2020-2024 Frau M. (38 Jahre) lebt mit vier Kindern (Sohn 15 Jahre, Sohn 13 Jahre, Tochter zehn Jahre, Tochter vier Jahre) in einer städtischen Sozialwohnung mit vier Zimmern. Der Vater (42 Jahre) hat die Familie vor drei Jahren verlassen. Schei‐ dungsverfahren läuft noch. Mutter will alleiniges Sorgerecht für die Kinder, der Vater die gemeinsame elterliche Sorge. Seit einem Jahr ist die Mutter mit einem neuen Mann liiert, der auch phasenweise bei dieser wohnt und lebt. Die Mutter hat eine Ausbildung als Verkäuferin, ist aber seit 15 Jahren nicht mehr berufstätig gewesen. Familie lebt von Unterhaltszahlungen des Vaters und öffentlichen Hilfen (Bürgergeld). Dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamtes wird von verschiedenen Seiten (Vater, Schule, Kindertagesstätte) mitgeteilt, dass die Mutter mit der Erziehung der Kinder heillos überfordert ist, aber auf keinen Fall etwas mit dem Jugendamt zu tun haben will. In weiteren Meldungen an den ASD werden folgende Auffälligkeiten geschildert: ältester Sohn (15) schwänzt häufig die Schule, ist aggressiv gegenüber Mitschülern und Mutter und „macht was er will“. Der jüngere Sohn (13) wurde mehrfach beim Klauen in Kaufhäusern und Sportgeschäften erwischt, da noch nicht strafmündig ist, erfolgten keine weiteren Schritte. Die älteste Tochter (10) hat sich aus dem Alltagsleben der Familie völlig zurückgezogen, lebt in der Welt der Influenzerinnen (social media), hat keine Freundinnen und nahezu keine persönlichen Außenkontakte (außer Schule). Mutter und Vater machen sich deswegen große Sorgen. Die behandelnde Kinderärztin rät zu einer Abklärung bei Fachärztin oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die jüngste Tochter (4) fällt im Kindergarten durch Beißen anderer Kinder, stinkende und nicht jah‐ reszeitstimmige Kleidung (z. B. nur leichte Bekleidung bei Minustemperaturen) sowie durch unregelmäßigen, meistens unentschuldigten Besuch auf. Alle 246 Günther Wagner <?page no="247"?> Mitteilungen und Meldungen legen der ASD-Mitarbeiterin nahe und bedrängen dies sogar, endlich etwas zu tun und den Kindern zu helfen (schließlich sei das ja die Aufgabe des Jugendamtes! ). Als ersten Schritt versucht die zuständige ASD-Mitarbeiterin bzw. Bezirks‐ sozialarbeiterin einen Zugang zur Mutter zu finden. Da diese auf Anschreiben und schriftliche Einladungen nicht reagiert, bittet sie die Schulsozialarbeiterin in der Schule des ältesten Sohnes, die ihrer eigenen Aussage nach sowohl einen guten Kontakt zum Sohn als auch einen sporadischen Kontakt zur Mutter hat, um Unterstützung beim „Zugang“ zur Mutter. Diese ist bereit mit der Mutter zu sprechen und auszuloten, ob diese zu einem gemeinsamen Gespräch mit der Sozialarbeiterin in der Schule bereit ist. Nach mehreren Wochen, in denen die Schulsozialarbeiterin mehrere Anläufe bei der Mutter unternimmt, ist diese schließlich zu einem gemeinsamen Gespräch in der Schule bereit. In diesem Gespräch äußert die Mutter ihre großen Ängste bezüglich der Einschaltung des Jugendamtes (Werden mir die Kinder eventuell weggenommen? Was denken andere, wenn ich mit dem Jugendamt zu tun habe? Habe ich dadurch Nachteile im strittigen Scheidungsverfahren und und …). Daraufhin erläutert und erklärt ihr die Sozialarbeiterin, dass es vorrangig um Unterstützung von Eltern in schwierigen Erziehungssituationen geht, welche Hilfs- und Entlastungsmög‐ lichkeiten denkbar sind und vor allem, dass dies in diesem Fall immer auf der Grundlage einer guten Arbeitsbeziehung zur Mutter und nicht ohne Mitwirkung und Einverständnis derselben stattfinden wird. Die Mutter ist beruhigt und nun zur weiteren Zusammenarbeit bereit. Um einen Eindruck von den häuslichen Verhältnissen zu bekommen, vereinbart die Sozialarbeiterin einen Hausbesuch, bei dem sie auch die Kinder kennenlernen kann. Bei diesem Hausbesuch wird schnell deutlich, dass die Mutter neben der Erziehung der Kinder auch mit der Organisation der gesamten Lebenssituation (Auseinandersetzung mit Vater wegen Scheidung, Beziehung zum neuen Le‐ benspartner, Geldnot, gesundheitliche Probleme) stark gefordert, wenn nicht sogar überfordert ist. In den folgenden Wochen wird im Rahmen intensiver Gespräche mit Mutter und Kindern (auch ohne Mutter) folgender Hilfebedarf erkennbar und festgestellt: Mutter braucht Unterstützung in ihrer Erziehungsrolle (Erziehungskonse‐ quenz, Regeln, Grenzen setzen) und bei der Strukturierung des Familiensystems insgesamt. Entsprechend wird eine sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) im Umfang von 14 Wochenstunden eingesetzt. Im gemeinsamen Hilfeplangespräch nach drei Monaten meldet diese zurück, dass das jüngste Kind (4) unverzüglich in eine Kindergartengruppe des Sozialzentrums von Wessenberg aufgenommen werden sollte, da dessen umfangreicher Förderbedarf im Regelkindergarten Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 247 <?page no="248"?> nicht abgedeckt werden kann. Auch für die zehnjährige Tochter wird eine Tagesgruppe für Schulkinder in einem Sozialzentrum empfohlen. Bezüglich des dreizehnjährigen Sohnes wird eine Erziehungsbeistandschaft (Umfang acht Stunden pro Woche) eingerichtet, mit dem Ziel einen verlässlichen männlichen Ansprechpartner zu haben und um mit dessen Hilfe in Sportvereinen und/ oder Angeboten der offenen Kinder- und Jugendarbeit (z. B. Kinderkulturzentrum - KiKuZ - und Jugendzentrum - JuZe - der Stadt Konstanz) integriert zu werden. Beim ältesten Sohn (15) eskalieren die Auseinandersetzungen mit der Mutter und insbesondere mit dem neuen Lebenspartner so, dass es zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt, in deren Folge die Mutter mehrmals die Polizei zu Hilfe rufen muss. Nach einer weiteren heftigen und blutigen Auseinander‐ setzung mitten in der Nacht wird der Bereitschaftsdienst des ASD hinzugerufen. Dieser nimmt den Jugendlichen in Obhut und bringt ihn in einer nahegelegenen Jugendhilfeeinrichtung unter, die für diese Fälle sogenannte Inobhutnahme‐ plätze bereithält. Da die Mutter und der Vater (beide haben noch das Sorgerecht, da es bislang noch keine familiengerichtliche Entscheidung dazu gibt) der Inob‐ hutnahme zustimmen, wird das Familiengericht nicht eingeschaltet. Während der Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung finden viele Gespräche mit dem Jugendlichen, den Eltern, der Sozialarbeiterin und den Bezugserziehern der Einrichtung statt. Im Ergebnis sind alle damit einverstanden, dass der Ju‐ gendliche für einige Zeit in eine Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen werden soll. Seitens der Sozialarbeiterin werden nun mit der Einrichtung, den Eltern und insbesondere mit dem Jugendlichen selbst die Zielperspektiven für die Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung erarbeitet, Schließlich stehen zwei Einrichtungen zur Auswahl, die sich nach schriftlicher Voranfrage die Aufnahme vorstellen könnten. Gemeinsam mit den Eltern und dem Jugendli‐ chen besucht die Sozialarbeiterin beide Einrichtungen. Danach entscheiden sich die Eltern und der Jugendliche für eine in der Nähe. In einem Hilfeplange‐ spräch werden die Ziele für den Jugendlichen (Schulbesuch, Besuchsregelungen, therapeutische und freizeitpädagogische Teilnahme) sowie die Leistungen der Einrichtung detailliert festgelegt. In der Folge findet mindestens alle sechs Monate ein weiteres Hilfeplangespräch sowie die Fortschreibung des Hilfeplans statt. Den Eltern, die sich über die gemeinsame Verantwortung für ihren Sohn und die vielen Gespräche wegen dessen Perspektive wieder etwas angenähert haben (können besser und fairer miteinander kommunizieren) wird empfohlen eine Beratung bei der Städtischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle anzu‐ gehen, um auch die weiterhin ungeklärten Themen (Sorgerecht, Umgangsrecht, 248 Günther Wagner <?page no="249"?> Besuchsregelungen) im Interesse der betroffenen Kinder zufriedenstellend zu regeln. Die Eltern nehmen dieses Angebot gerne wahr und finden innerhalb der nächsten sechs Monate gute und tragfähige Lösungen, die dann familienge‐ richtlich bestätigt werden. 5.1 Rechtslage In der Sorgerechtsreform von 1980 (SorgeRNG) wurde der bis dahin im BGB verwendete Begriff der „elterlichen Gewalt“ in „elterliche Sorge“ umbenannt. Zugleich wurden erst zu diesem Zeitpunkt beiden Elternteilen die gleichen Rechte zugestanden: „Der Vater und die Mutter haben das Recht und die Pflicht für das minderjährige Kind zu sorgen“ („elterliche Sorge“ § 1626 BGB). Zugleich wird noch festgestellt, dass die elterliche Sorge sowohl die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) als auch für dessen Vermögen (Vermögensorge) umfasst. Zudem wird die Personensorge konkretisiert, wenn neu in das Gesetz aufgenommen wird: „Die Personensorge umfasst insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen“ (§ 1631 BGB). Dabei wird angenommen und den Eltern unterstellt, dass diese die „elterliche Sorge“ verantwortlich und im Inter‐ esse des Wohls des Kindes ausüben. Dies ist auch im Grundgesetz festgelegt, wo es in Artikel 6, Absatz 2 heißt: „Pflege und Erziehung des Kindes sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“. Zugleich ist hiermit die gegenwärtige Grundnorm für die Eingriffsrechte des Jugendamtes benannt („Wächteramt“). Dieses ist zum Tätigwerden veranlasst, wenn das Kindeswohl gefährdet ist und wenn für Kinder „eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit Sicherheit voraussagen lässt“ (BGH 1956 und 2008) gegeben und festgestellt wird. Als weitere entscheidende Voraussetzung gilt nach § 1666 BGB aber, dass „die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden“. Damit gilt, wenn Eltern Hilfen annehmen (und diese erfolgversprechend sind und zur Abwendung der Gefährdung ausreichen) dies immer vorrangig vor familiengerichtlichen Maßnahmen (Einschränkung oder Entzug der elterlichen Sorge) zu erfolgen hat! D.h. ein Eingriff ins Elternrecht ist immer nur letztes Mittel zu Gefahrenabwendung. Damit hat sich die Rechtslage im Verhältnis zur Situation 1930 diametral verschoben. Damals war Eingriff ins Elternrecht über die Vormundschaftsgerichte erstes und nahezu einziges Mittel, um Kinder vor Verwahrlosung und Misshandlung zu schützen. Für das Jugendamt heute bleibt somit von der früheren „hoheitlichen“ Eingriffsver‐ Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 249 <?page no="250"?> 30 So auch in Konstanz im Jahre 1976, siehe ausführlich in 4. in diesem Beitrag. 31 Aus: Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe-AGJ: „ASD - mehr als Kinderschutz! Ziele, Aufgaben, Methoden, Werte und Orientierung im Hinblick auf die Kinder- und Jugendhilfe“, Berlin, 28.10.2010. waltung nur ein Bereich übrig, in dem es gegen den Willen der Eltern tätig werden darf, nämlich dann, wenn akute Kindeswohlgefährdung stattfindet oder droht und diese nur durch Inobhutnahme des Kindes oder des Jugendlichen abgewendet werden kann (§ 42 SGB VIII). Es ist sogar möglich, dass Kinder und insbesondere Jugendliche selbst um Inobhutnahme beim Jugendamt bitten. Allerdings hat das Jugendamt bei Nichteinverständnis der Eltern „unverzüglich“ das Familiengericht einzuschalten und dieses entscheidet dann letztendlich über die Rechtmäßigkeit der Herausnahme. In unserem Fall steht ein Eingriff ins Elternrecht nicht an, da die Eltern bei der Abklärung des Hilfebedarfs und bei deren Umsetzung mitwirken. Auch bei der notwendigen Inobhutnahme des ältesten Sohnes ist die Einschaltung des Familiengerichts nicht notwendig, da die Eltern mit dieser Maßnahme einverstanden sind. 5.2 Fachlichkeit und Handlungsstruktur Ab Mitte der 1960er Jahre ließen verschiedene Entwicklungen die ordnungs‐ verwaltungsgemäße Bearbeitungsstruktur zunehmend obsolet werden. Es ent‐ stehen bundesweit vielzählige Fachhochschulen für Sozialarbeit und erste universitäre Studiengänge für Sozialpädagogik. Damit stehen auf dem Arbeits‐ markt erstmals viele qualifizierte sozialpädagogische Fachkräfte zur Verfügung. In dieser Zeit aktuell aufbrechende Probleme und gesellschaftliche Themen (Drogenwelle, Jugendarbeitslosigkeit, massive Kritik an der Fürsorgeerziehung - „Heimkampagne“ -, Studentenbewegung) sowie gesetzliche Reformen (Ad‐ optionsrecht 1977, Scheidungsrecht 1977, Neuregelung der elterlichen Sorge 1980) forderten und verstärkten den sozialpädagogischen Schwerpunkt des Jugendamtes. Strukturell führte dies ab den 1970er Jahren zur Schaffung und Herausbildung des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) als eigene Organisa‐ tionseinheit mit hoher Fachlichkeit 30 . Das Qualifikationsprofil der Fachkräfte streut innerhalb des ASD deutlich weniger als in anderen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe. So sind fast 92 % der Beschäftigten an einer Fachhochschule oder Universität ausgebildete Sozialarbeiter und Sozialpädagogen. 31 250 Günther Wagner <?page no="251"?> 32 So werden ab diesem Zeitpunkt die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) und teilstationäre Hilfen (Tagesgruppen) verpflichtende und vor Ort vorzuhaltende Hilfs- und Unterstützungsangebote des Jugendamtes. Damit zusammenhängend wurde die Trennung von Außen- und Innendienst aufgehoben. Die zentrale fachliche Bedeutung des ASD für das Jugendamt wird durch sozialwissenschaftliche Forschung und entsprechende Veröffentli‐ chungen (z. B. Jugendbericht 1972, „Mehr Chancen für die Jugend“ BMFG 1974) weiter beschrieben und befördert. Insbesondere das im Jahre 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) stärkt die Rolle des ASD als sozialpädagogische „Herzkammer“ des Jugendamtes, indem verbindliche Verfahrensregeln eingeführt (z. B. Hilfeplan) und die Vorhaltung differenzierter Hilfs- und Unterstützungsangebote festgelegt wird. 32 Auch die Position der Eltern wird gestärkt (individueller Rechtsanspruch auf Hilfen), wodurch die Kommunikations- und Aushandlungskompetenz des ASD noch wichtiger wird. Der ASD ist somit der Bereich mit den umfangreichsten Aufgabenstellungen, den unterschiedlichsten Rechtsgrundlagen, den meisten Kooperationspartnern, der vielfältigsten Klientelstruktur, dem breitesten Methodenspektrum und nicht zuletzt der größten Verantwortung, weil hier im Rahmen der Garantenstellung des Jugendamtes die notwendigen Entscheidungen bei Kindeswohlgefährdung erarbeitet, getroffen und ausgehalten werden müssen. Deshalb arbeiten heute im ASD der Stadt Konstanz nur sozialpädagogische Fachkräfte mit Hochschul- oder Universitätsabschluss. Im Grunde muss eine Fachkraft im ASD heute vier zentrale Rollen beherr‐ schen, austarieren und umsetzen: a. Beratungsrolle, hier entscheidet der Klient ob, über was und wie lange er beraten werden will b. Unterstützungsrolle, hier entwickelt die Fachkraft mit den Klienten not‐ wendige Hilfen und steuert diese mit den Klienten über Gespräche und den verbindlichen Hilfeplan c. „Wächterrolle“, hier wird die Fachkraft tätig, um das Kindeswohl zu schützen, ggfs. auch ohne Zustimmung/ Mitarbeit der Sorgeberechtigten. Diese „Garantenstellung“ ist mit hoher Verantwortung belegt und zugleich ein Alleinstellungsmerkmal des ASD d. Kooperationsrolle (sozialräumliches Arbeiten), hier geht es um fallbezo‐ gene und fallübergreifende Zusammenarbeit mit allen Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Zugleich ist der ASD hier wichtiger „Sensor“ der Kommunalverwaltung für die soziale Situation und bestehende Problemlagen im Gemeinwesen. Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 251 <?page no="252"?> 33 „Das verlassene Kind“ in: Südkurier vom 1.4.1960. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Aus „Das Sozialwesen im Landkreis“ zusammengestellt und bearbeitet von Verwal‐ tungsrat Ludwig Eberhard,1968, in StadtA Konstanz S XII/ 1255, nach Seite 20 und nach Seite-22. Bezogen auf unser Fallbeispiel zeigt sich die Beratungsrolle in den Gesprächen mit Mutter, Vater und den Kindern, die Unterstützungsrolle in der Klärung und In‐ stallierung der verschiedenen Hilfen und die Wächterrolle bei der Inobhutnahme des ältesten Sohnes. Die Kooperationsrolle (Kenntnis der Personen und Institu‐ tionen und deren Einbeziehung bei Hilfs- und Unterstützungsangeboten) ist als strukturelles, sozialräumliches „Unterfutter“ für die Einzelfallarbeit unerlässlich. In unserem Fall etwa die Einbeziehung der Schulsozialarbeiterin beim „Zugang“ zur Mutter und die Vermittlung der Eltern an die Erziehungsberatungsstelle. Schon in der Aufzählung dieser Rollenvielfalt und des Rollenspektrums wird deutlich, wie anspruchs- und verantwortungsvoll die Tätigkeiten der ASD- Mitarbeiter heute sind und wie fundamental sich dies von der Situation des Jugendamtes im Jahre 1925 unterscheidet. 5.3 Hilfespektrum Bis in die 1960er Jahre wurde das Angebot für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen kaum weiterentwickelt. So beklagt der Leiter des Stadtjugend‐ amtes Konstanz, Ludwig Eberhard, im Jahre 1960 in einem ausführlichen Artikel im Südkurier 33 , „dass die Kinder in ihrem kleinen Leben mindestens viermal ihre Umgebung und ihre Pflegeperson wechseln müssen, jedesmal also aus ihrer Geborgenheit herausgerissen wurden“ 34 , da die Heimlandschaft altersspezifisch ausgerichtet war. Vom Säuglingsheim (0-6 Monate) über das Kleinkindheim (0,5 bis 3 Jahre) ins Kinderheim (3 bis 14 Jahre). Danach Lehrlings-/ Mädchenheim bzw. ggfs. Fürsorgeeinrichtung. Er fordert „Heime, die einen familienähnlichen Aufbau haben“, denn dann „müssten Kindesmütter und Jugendämter nicht hin und wieder ein Kind in einer Pflegestelle belassen, die weder in erzieherischer noch sittlicher Hinsicht ganz einwandfrei ist.“ 35 Um einen Eindruck von der zahlenmäßigen Dimension zu bekommen, hier die Situation im Jahre 1963 in der Stadt Konstanz 36 : • 168 Pflegekinder (davon 154 unehelich), • 1253 Amtsmündel und Amtspflegschaften, • 15 Adoptionen, • 37 in Fürsorgeerziehung (20 männlich, 17 weiblich) 252 Günther Wagner <?page no="253"?> 37 Ausführlich dargestellt unter Punkt 6.1. 38 Ausführlich dargestellt unter Punkt 6.2. 39 Beruhend auf einer Mitteilung des Sozial- und Jugendamtes zu den neuesten Zahlen vom Juni 2024. • 68 in Freiwilliger Erziehungshilfe (39 männlich, 29 weiblich) Zudem gab es in Konstanz 190 Plätze für männliche Jugendliche und Lehrlinge, 84 Plätze für weibliche Jugendliche und acht Plätze für aufgegriffene Kinder und Jugendliche. Insgesamt bedeutete Jugendhilfe in dieser Zeit vor allem Hilfe außerhalb und ohne Mitwirkung der Familie. Aber im Zuge der „Vergesellschaftung von Erziehung“ entstanden ab Mitte des letzten Jahrhunderts für das Jugendamt neue und erweiterte Handlungsbereiche wie z.-B. Kindergartenwesen, Erziehungsberatungsstellen, offene und ambulante Hilfen sowie gemeinwesenorientierte Projekte. Dabei hatte sich das Jugendamt zumeist mit veränderten Problemen und „Wirklichkeiten“ auseinanderzusetzen bevor adäquate gesetzliche („Verrechtlichung“) oder konzeptions- und verwal‐ tungsbezogene Handlungsgrundlagen geschaffen wurden. Dies kann am Beispiel der Entwicklung der teilstationären Hilfen für die Stadt Konstanz nachgezeichnet und illustriert werden 37 . Im Jahre 1973 begann mit dem Sozialzentrum Stockacker die gemeinwesenbezogene Arbeit, bei der auch ein Schwerpunkt in der intensiven Betreuung von Schulkindern lag, für die es keine passenden Unterstützungsange‐ bote gab. Es entwickelten sich schließlich feststehende Gruppen als teilstationäre Tagesgruppen. Im Jahre 1977 wurde die von Wessenberg’sche Erziehungsanstalt für Mädchen aufgelöst und mit der intensiven Nachhilfe für Schüler begonnen, was dann ebenfalls zu teilstationären Tagesgruppen führte. Über viele Jahre musste diese Hilfeform innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen rechtlich und finanziell umgesetzt werden, da die fachliche Begründung unzweifelhaft gegeben war. Erst mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz des Jahres 1991 wurde dieses Hilfsangebot zum „regulären“ und rechtlich abgesicherten Angebot der Jugendhilfe. Ähnlich verhielt sich dies mit der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) 38 . Auch diese wurde in den 1980er Jahren in Konstanz bereits erprobt und fachlich umgesetzt (wie auch in anderen vor allem (groß)städtischen Jugendäm‐ tern) aber erst mit dem KJHG 1991 rechtlich verankert. Heute gibt es eine Viel‐ zahl an familienunterstützenden, familienergänzenden und familienersetzenden Angeboten, so dass fast für jede Problemlage eine passgenaue Hilfe vor Ort oder in der näheren Umgebung (auch bei Fremdplatzierung) gefunden werden kann. Als Überblick hier die Verteilung der ambulanten, teilstationären und vollstationären Fälle im Jugendamt Konstanz zum 1. Juli 2023 39 (im Vergleich zur „Belegungssituation“ 1930): Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 253 <?page no="254"?> Familienergänzende (ambulante) Hilfen: • Tagesgruppen (§ 32 SGB VIII): 94 Fälle • Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) (§ 31 SGB VIII): 96 Fälle • Erziehungsbeistandschaft (§30 SGB VIII): 82 Fälle • Allgemeine Familienförderung/ Päd.Lernhilfe (§ 16 SGB VIII): 26 Fälle • Schulbegleitung bei seelischer Behinderung (§35a SGB VIII): 46 Fälle • Soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII): 34 Fälle • Hilfe für Junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) ambulant: 10 Fälle Zusammen 388 Fälle Familienersetzende Hilfen (Fremdplatzierung): • Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII): 51 Fälle • Heimerziehung (§ 34 SGB VIII): 28 Fälle • Stationäre Unterbringung bei seelischer Behinderung (§ 35a SGB VIII): 7 Fälle • Betreutes Jugendwohnen (§ 34 und § 41 SGB VIII): 4 Fälle • Fremdplatzierung Junge Volljährige (über 18 Jahre, §41 SGB VIII): 9 Fälle Zusammen 99 Fälle Hier zeigt sich, dass den 99 Fällen bei familienersetzenden Hilfen nun 388 Fälle von ambulanten, familienergänzenden Hilfen gegenüberstehen, womit die in den letzten 100 Jahren stattgefundene Schwerpunktverschiebung nachdrücklich dokumentiert wird, denn nur noch ca. 20 Prozent aller Hilfen sind heute mit einer Fremdplatzierung der Kinder und Jugendlichen verbunden. Auf unser Fallbeispiel bezogen kann durch dieses differenzierte und vielfäl‐ tige Angebot sehr individuell und passgenau auf die unterschiedlichen Problem‐ lagen der Eltern und Kinder reagiert werden, dies auch unter dem Aspekt möglichst viel an Elternbeziehung, Geschwisterbeziehung und an sozialem Um‐ feld zu erhalten. Auch im Bereich des Hilfespektrums und der Hilfeerbringung wird somit ein diametraler Gegensatz zur Situation des Jugendamtes im Jahre 1925 (und auch noch bis in 1970er Jahre) sichtbar. 6. Konzeptionelle Profilelemente In diesem Abschnitt geht es um Entwicklungen im Jugendamt Konstanz, mit denen fachliche und rechtliche Impulse und Diskussionen frühzeitig aufge‐ griffen und in eigenständige, für die Stadt Konstanz passende Konzeptionen und Angebotsstrukturen umgesetzt wurden. Sie stehen exemplarisch für die Offenheit und die Bereitschaft, sich neuen fachlichen Herausforderungen zu 254 Günther Wagner <?page no="255"?> 40 Siehe statt anderer M Ü L L E R , C. Wolfgang : Wie Helfen zum Beruf wurde - Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit 1883-1945, Band 1 und „Wie Helfen … 1945-1985“ Band-2, Weinheim und Basel 1988. stellen und neue Handlungswege zu explorieren. Dabei war und ist es das angestrebte Ziel des Jugendamtes Konstanz, dass fortlaufend gesellschaftliche Veränderungen wahrgenommen, analysiert und reflektiert werden um dann darauf bezogen und vorausschauend bestehende Handlungskonzepte zu über‐ prüfen, zu modifizieren und ggfs. durch neue Gestaltungsansätze zu ergänzen. 6.1 Sozialzentren und Tagesgruppen Nachdem in Deutschland seit den 1960er Jahren mehr und mehr neue sozial‐ arbeiterische Ansätze aus den USA in Fachkreisen diskutiert und rezipiert wurden 40 , die neben der klassischen Methode der Sozialarbeit (Einzelfallhilfe) zwei neue Methoden - nämlich Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit - propagierten, entstanden in Deutschland an verschiedenen Orten (vor allem im großstädtischen Bereich wie z. B. Frankfurt am Main) entsprechende Modellpro‐ jekte. So wurde auch in der Stadt Konstanz im Jahre 1973 mit dem Sozialzentrum Stockacker als Modellversuch begonnen. Ausgangspunkt war im Jahre 1972 eine Untersuchung des Stadtteils Stockacker („Notstandsgebiet mit Schlichtwohnungen“), die u. a. aufgezeigt hat, dass dort die Zahl der Kinder, die eine Sonderschule besuchen mussten, bei 40-Prozent lag. Durch eine wohngebietsbezogene Sozialarbeit sollte den Bewohnern intensive persönliche Beratung und Hilfe angeboten, allgemeine Problemstellungen im Gemeinwesen wie etwa Wohnsituation (Wohnraumenge, Beschaffenheit der Wohnungen) aufgegriffen und insbesondere sollten die Kinder und Jugendlichen mit sozialpädagogischen Hilfen unterstützt werden. Zielperspektive bei den Kindern und Jugendlichen war die Verringerung sozialer Benachteiligung, die frühzeitige Bearbeitung von Entwicklungsdefiziten, die Reduzierung von Fremd‐ unterbringungen und der hohen Quote an Sonderschülern. Räumlich begann das Sozialzentrum in einem kleinen Haus am Rande der Schlichtbausiedlung mit vier Räumen und ausgebautem Kellerraum. Dadurch erhielt die für diesen Bezirk zu‐ ständige Sozialarbeiterin die Möglichkeit, ihren Arbeitsplatz in den Bezirk hinein zu verlegen. Personalmäßig begann das Sozialzentrum mit einer Sozialarbeiterin und einer Berufspraktikantin. Daneben arbeiteten ca. 30 ehrenamtliche Kräfte an den Angeboten mit. Diese umfassten in der Anfangsphase: 1. Umfassende Sozial- und Familienberatung Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 255 <?page no="256"?> 41 W A R M U S / H E R R M A N N : Das neue Sozialzentrum der Stadt Konstanz, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, Nr.-10, Oktober 1974, S.-264-f. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. Im Unterschied zur traditionellen Familienfürsorge muss darauf hingewiesen werden, dass Beratungskontakte nur zu einem ganz geringen Teil durch sogenannte Amtsauf‐ träge initiiert werden, dass vielmehr der Anstoß zu solchen Kontakten und Gesprächen von den Klienten ausgeht und dass dabei Fragen im Vordergrund stehen, die ein Tätigwerden von Amts wegen in der Regel nicht erforderlich würden. 41 2. Organisation und Koordination von Aktivitäten wie insbesondere a. Schulaufgabenhilfe 48 Kinder erhalten wöchentlich zweimal je 1,5 Stunden Schulaufgabenhilfe, die von 25 Oberschülern und Studenten erteilt wird. Je Helfer sind 2 Kinder zugeteilt, mit denen er nach einem von dem betreffenden Lehrer für jedes Kind individuell erarbeiteten Arbeitsplan vorgeht. 42 b. Vorschulgruppe Die Kinder die von der Einschulung zurückgestellt wurden und altersgemäß nicht mehr in den Kindergarten passen, werden regelmäßig vormittags in einer Vorschulgruppe zusammengefasst. 43 c. Sprachheilgruppe Eine größere Gruppe sprachgestörter Kinder erhält bei einer Sprachthera‐ peutin Sprachunterricht. Da man weiß, wie sehr Sprachbehinderung den Lernerfolg beeinträchtigen kann, gehen die Bemühungen dahin, die Kinder mit Sprachbehinderung möglichst früh zu erfassen. 44 d. Malgruppe Eine Werklehrerin bietet 2 Kindergruppen einmal wöchentlich Mal- und Werkstunden an. Dieses Angebot ist besonders für motorisch unruhige und für stark gehemmte Kinder gedacht. 45 e. Elterngruppen Neben diesen Angeboten für die Kinder, gleichsam zur Stützung der Arbeit mit den Kindern, arbeitet eine Erziehungswissenschaftlerin mit Elterngruppen. 256 Günther Wagner <?page no="257"?> 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Siehe § 5 der Satzung der von Wessenberg’schen Vermächtnisstiftung vom 1.7.1977. Thematisch orientiert sich die Gruppenarbeit an Erziehungsfragen und Erzie‐ hungsproblemen, die von den Eltern in die Gruppe eingebracht werden. 46 Neben diesen zielgruppenbezogenen Angeboten verfolgen die Initiatorinnen des Sozialzentrums Stockacker aber auch einen gesamtstädtischen Ansatz. Letztlich bewirkt die Einbeziehung ehrenamtlicher Helfer in das Programm des Sozialzentrums, dass die Entfremdung zwischen den sogenannten sozialschwachen Familien und den übrigen Bürgern der Stadt Konstanz verringert wird. Für die sozialschwachen Familien zeichnet sich so ein Weg zu befriedigenderer Integration ab, für die Bevölkerung der Stadt Konstanz aber erwächst daraus die Möglichkeit und die Chance sozialer Sensibilisierung. 47 In den folgenden Jahren erfolgte neben der sozialräumlichen Entwicklung wie im Sozialzentrum Stockacker die Ausweitung des ambulanten Jugendhilfeange‐ botes der Stadt Konstanz durch den Auf- und Ausbau von Tagesgruppen. Dabei war die Auflösung des Mädchenheims von Wessenberg im Jahre 1977 ein wich‐ tiger Ausgangspunkt für die „Geburt“ und Implementierung der Tagesgruppen. Denn durch die Einstellung des Betriebes des Mädchenheims Ende Juli 1977 stellte sich die Frage nach der weiteren Nutzung der Einrichtung, die aufgrund der Satzung der Wessenberg’schen Vermächtnisstiftung die Aufgabe hat besonders erziehungsbedürftige Kinder und Jugendliche im Rahmen familienorien‐ tierter Erziehungshilfe zu lebenstüchtigen Menschen im christlichen Sinne heranzu‐ bilden. 48 Aufgrund guter Erfahrungen mit der Konzeption des Sozialzentrums Stockacker wurde ab September 1977 so das „Sozialzentrum für familienorientierte offene Hilfe“ mit einer „Sonderkindergartengruppe für besonders förderungsbedürf‐ tige Kinder“ mit zwölf Kindern (vor allem für Ausländerkinder, die bisher noch keinen Kindergarten besucht haben und Kinder sozialer Randgruppen) und entsprechendem Fachpersonal eröffnet. Daneben gab es von Anfang an ein vielfältiges Angebot an Hausaufgabenhilfen und Lerngruppen, die von externen Honorarkräften gestaltet wurden. In den folgenden Jahren zeigte sich ein steigender Bedarf an intensiverer Betreuung von Kindern mit großem erzieherischem Bedarf, der von den beste‐ henden Regeleinrichtungen nicht abgedeckt werden konnte. Dies führte 1982 zur Errichtung einer ersten und kurze Zeit später einer zweiten teilstationären Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 257 <?page no="258"?> 49 Sitzungsvorlage Jugendwohlfahrtsauschuss am 5.11.1986, S.-3. 50 Ebd., S.-8. Gruppe im Sozialzentrum von Wessenberg. Zudem wurde im Jahre 1983 im Zuge der Umwandlung der Freiluftschule, die nicht mehr benötigt wurde, eine Tagesgruppe für Schulkinder des Sozialzentrums Stockacker (15 Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren) eröffnet. Das „Kinderhaus am See“ benannte Angebot war zwar „exterritorial“ angesiedelt (außerhalb des Stadtteils) aber für die intensive Arbeit mit Schulkindern deshalb geeignet, da so die Ablenkungen durch und das „Abtauchen“ ins soziale Umfeld für die Kinder, die bislang hauptsächlich als „Straßenkinder“ unterwegs waren, minimiert werden. Alleiniges und ausschlaggebendes Kriterium für die Aufnahme eines Kindes in eine Tagesgruppe ist immer der erzieherische Bedarf, der durch die zustän‐ digen Fachkräfte des ASD festgestellt wird. Wichtig ist ferner, dass Sozialarbeiter, von denen die Aufnahme in eine teilstationäre Gruppe vorgeschlagen wird, zur Auffassung gelangen, dass parallel zur Arbeit mit dem Kind ein förderlicher Kontakt zu den Eltern aufgebaut und durchgehalten werden kann, dass die Eltern selber eine Veränderung des kindlichen Verhaltens wünschen, dass sie die Tagesunterbringung nicht nur dulden, sondern dahinterstehen und sie bejahen. 49 Wenn also eine ausreichend veränderungsfähiges und mitwirkungswilliges Elternhaus da ist und wenn weniger umfassende ambulante Hilfen nicht ausreichen, ist die teilstationäre Gruppe wegen der Verzahnung von Sozialarbeit und pädagogi‐ scher Arbeit wegen der Zentrierung auf das Wohngebiet, wegen der Einbeziehung der vorhandenen sozialen Beziehungen und Strukturen eine effektive, eine familien‐ stärkende und sozial integrierende Form der Jugendhilfe. 50 Folgerichtig entwickelte sich die Tagesgruppenstruktur in der Stadt Konstanz zu einer tragenden Säule des ambulanten Jugendhilfeangebotes. Nachdem im Rahmen der Jugendhilfeplanung im Jahre 1994 deutlich wurde, dass ca. 15 Prozent aller in Heimerziehung befindlichen Kinder nur deswegen außerhalb von Konstanz vollstationär untergebracht werden mussten, weil es in der Stadt Konstanz keine Beschulungsmöglichkeit durch eine „Schule für Erziehungshilfe“ (E-Schule) gab. Zugleich wurde erkennbar, dass die meisten dieser Kinder bei Vorliegen einer entsprechenden Beschulungsmöglichkeit vor Ort durchaus durch das qualitativ und quantitativ gut ausgebaute Tagesgrup‐ penangebot hätten ambulant betreut werden können. 258 Günther Wagner <?page no="259"?> 51 Bericht der Erziehungsberatungsstelle vom 12.6.1981, siehe StadtA Konstanz S XIII/ 1731. Vor diesem Hintergrund entschloss sich die Wessenberg’sche Vermächtnis‐ stiftung die Trägerschaft für eine solche E-Schule zu übernehmen und diese als Halbtagsschule mit einem verpflichtenden Tagesgruppenangebot zu konzi‐ pieren. Im Jahre 1997 wurde in den Räumlichkeiten des „Hauses Nazareth“ (Träger: Sozialdienst Katholischer Frauen, SKF) in der Säntisstrasse damit begonnen. Aufgrund verschiedener Entwicklungen (Rückgang stationärer Un‐ terbringung auch im Haus Nazareth, Notwendigkeit einer räumlichen Verbin‐ dung von E-Schule und korrespondierendem Tagesgruppenangebot) wurde die Trägerschaft für die E-Schule sowie den „zugeordneten“ Tagesgruppenplätzen im Herbst 1999 an den SKF abgegeben. Im Jahre 2013 wurden das Sozialzentrum von Wessenberg (mit den Außen‐ standorten Petershausen und Königsbau) sowie das Familienzentrum Stock‐ acker (früher Sozialzentrum Stockacker) mit der Außenstelle „Kinderhaus am See“ unter dem Dach der von Wessenberg’schen Vermächtnisstiftung zusam‐ mengeführt. Damit werden von dieser heute 70 Kinder an vier Standorten in Tagesgruppen betreut. Mit den 32 Tagesgruppenplätzen des SKF (in Verbindung mit der dortigen E-Schule) gibt es in der Stadt Konstanz insgesamt 102 Plätze, womit Konstanz landesweit (bezogen auf die Einwohnerzahl) weitaus das größte Angebot in diesem Bereich hat. Diese Größenordnung hat sich in den letzten Jahren eingependelt, ist dem Bedarf angemessen (über neunzigprozen‐ tige Auslastung) und führt dazu, dass die Fremdunterbringung von Kindern auf das absolut notwendige Maß reduziert werden kann. 6.2 Sozialpädagogische Familienhilfe Ausgangspunkt für den Beginn der Sozialpädagogischen Familienhilfe in Kon‐ stanz war u. a. eine fallbezogene Stellungnahme der Erziehungsberatungsstelle im Jahre 1981 51 , in der dargelegt wurde, dass bei einer Familie mit drei Kindern, diese fremduntergebracht werden müssen, wenn es keine „lokale“ Unterstützungsmöglichkeit für die Familie gibt, was von Seiten der Erziehungs‐ beratungsstelle durchaus vorstellbar und angemessen erschien. Daraufhin be‐ gannen im Jugendamt verschiedene Entwicklungen, um einen solchen Bedarf fachlich abdecken zu können. Eine Psychologin wurde für anderthalb Jahre als Familienhelferin eingesetzt. Für ein Jahr (1982/ 83) wurde eine ABM-Stelle im „sozialpädagogischen Bereich“ geschaffen und besetzt. Entsprechend stiegen die Zahl der betreuten Familien in diesem Bereich von 1981 bis 1984 von fünf auf Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 259 <?page no="260"?> 52 Herrmann: Tätigkeitsbericht des Sozial- und Jugendamtes 1985, S.-13. 53 Dies bezüglich der rechtlichen Zuordnung und damit auch der Finanzierung, die über den Landkreis erfolgte. 54 Richtlinien des LWV Baden für die Förderung von Erziehungs- und Familienhelfern vom 7.12.1984. 55 „Familienhilfe e.-V. - Verein für Familien- und Erziehungshilfe“ gegründet 12.8.1986. 56 Vereinbarung der Stadt Konstanz und dem Gemeinnützigen Verein „Familienhilfe e.V.“ über den Einsatz von Erziehungs- und Familienhelfern vom 9.2.1989. 30 Fälle. Zentraler fachlicher Gesichtspunkt für dieses Angebot waren folgende Grundüberlegungen: Das auffällige oder Fehlverhalten eines Kindes oder Jugendlichen ist in der Regel kein isoliertes Verhalten sondern ist Symptom oder Reaktion auf familiäre Störungen, Defizite usw. Demzufolge lässt sich dieses Verhalten auch nicht isoliert, ohne Verän‐ derungen der familiären Bedingungen beheben. 52 Die pädagogische Fachkraft arbeitet mit und in der Familie, um Beziehungsge‐ flechte innerhalb der Familie als auch zwischen Familie und Umwelt zu klären und zu verändern. Sie arbeitet mehrere Stunden in der Woche mit allen Betei‐ ligten innerhalb der häuslichen Struktur, nimmt somit phasenweise am Famili‐ engeschehen teil, erlebt Ursache und Ablauf von Konflikten hautnah mit und ist durch die Art und Weise, wie sie solche Konfliktsituationen moderiert durchaus ein Modell für alternative und konstruktive Umgangsweisen. Wichtige Voraus‐ setzung für das Gelingen dieses Ansatzes ist die sorgfältige Abklärung durch den Sozialen Dienst, die Motivierung aller Familienmitglieder und vor allem auch die fachliche Kompetenz der Familienhelfer. Hier kam nun in Konstanz der glückliche Umstand dazu, dass an der psychologischen Fakultät der Universität viele Psychologen ausgebildet wurden und einige davon nach abgeschlossener Ausbildung gerne in Konstanz bleiben wollten. Dadurch konnte das Jugendamt beim Einsatz der Familienhelfer von Anfang an auf ein Reservoir an bestens ausgebildeten Psychologen zurückgreifen. Nachdem es zu Beginn Unklarheiten bezüglich der Finanzierung gab 53 , löste sich dies Anfang des Jahres 1985 durch ein Förderprogramm des Landeswohlfahrtsverbandes Baden 54 . In der Folge nahm die sozialpädagogische Familienhilfe zahlenmäßig stark zu (von fünf im Jahre 1983 auf 52 im Jahre 1990 und sogar 103 im Jahre 2018). Gleichzeitig wurde von den als Familienhelfern tätigen Psychologen in enger Absprache mit dem Jugendamt im Jahre 1986 ein gemeinnütziger Verein gegründet 55 , mit dem eine verlässliche Kooperation aufgebaut wurde 56 . Mit der Umsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ab 1991 wurde die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) ein rechtlich und finanziell abgesichertes Hilfsangebot (§31 KJWG). In den folgenden Jahren erweiterte und qualifizierte sich dieser 260 Günther Wagner <?page no="261"?> 57 Z.B. Südkurier vom 16.6.1961: „Müssen Kinder geprügelt werden? “; Südkurier vom 20.12.1962: „Ich kann mit meinem Kind machen was ich will“; Südkurier vom 5.1.1963: „Das Mädchen wurde barbarisch geschlagen“. 58 Siehe u.-a. Erlass des Innenministeriums Baden-Württemberg zum „Schutz der Kinder vor Misshandlungen“ vom 26.6.1962. 59 Landtag von Baden-Württemberg. Drucksache 9/ 2746 vom 26.6.1986. 60 Siehe Einladung für den 7.11.1989; StadtA Konstanz S XII/ 1739. Bereich, in dem ab 1999 durch den Verein zusätzlich das Angebot aufgenommen wurde, auch den Bedarf an Erziehungshelfern, Betreuungshelfern nach § 30 KJHG für das Jugendamt abzudecken, wozu entsprechendes Personal eingestellt und fortlaufend fachlich unterstützt wurde. Aufgrund der hohen fachlichen Kompetenz der Familienhelfer (i. d. R. Psychologen mit familientherapeutischer Zusatzqualifikation) ist und war es dem Jugendamt immer möglich, diese auch in Einzelfällen einzusetzen, die den klassischen Bereich der Familienhilfe weit übersteigen (diagnostische Abklärung, testpsychologische Untersuchungen, interventionistische Intensiveinsätze). Diese flexible Nutzung der Familienhilfe ist ein besonderer Aspekt der SPFH in Konstanz und nur auf dem Hintergrund langjähriger, personenstabiler und vertrauensvoller Zusammenarbeit möglich. 6.3 Missbrauchs- und Misshandlungskonzeption: Das Zwiebelmodell Nach vielfältigen Berichten über spektakuläre Fälle von Kindesmisshandlungen in Konstanz und deren juristische Aufarbeitung 57 seit den 1960er Jahren sowie Aktivitäten auf der staatlichen Ebene 58 erfolgten auf der politischen Ebene Ansätze, um den Schutz von Kindern vor Misshandlungen strukturell zu ver‐ bessern. So forderte ein Antrag im Landtag von Baden-Württemberg, dieser wolle beschließen regionale Arbeitskreise aller mit der Problemsituation misshandelter Kinder befasster Institutionen […] zur besseren Zusammenarbeit bei der Lösung von Einzelfällen, zur Erarbeitung und Durchführung genereller Maßnahmen und zur gemeinsamen Weiterbildung im Zusammenhang mit Gewalt gegen Kinder anzuregen. 59 In der Stadt Konstanz nahm dies 1989 das Jugendamt zum Anlass, im Anschluss an eine kreisweite Zusammenkunft zum Thema „Kindesmisshandlung“ eine örtliche Gesprächsrunde zu installieren. 60 Folgende Institutionen wurden einge‐ laden: Kreisjugendamt, Psychologische Beratungsstellen, Kinderärzte, Kinder‐ klinik, Staatliches Gesundheitsamt, Staatliches Schulamt, Amtsgericht, Verein Familienhilfe und Kinderschutzbund. Im Verlaufe mehrerer Sitzungen dieses Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 261 <?page no="262"?> Arbeitskreises wurde - insbesondere auf Druck und Wunsch der Kinderärzte und der Kinderklinik - herausgearbeitet, dass eine Beratungs- und Anlaufstelle notwendig ist, um besser und frühzeitiger als bisher Kindern, die körperliche und sexuelle Gewalt erfahren, helfen zu können. Neben dem Aspekt, dass eine solche Stelle einen direkten Zugang für mittelbar und unmittelbar Betroffene und den entsprechenden Institutionen eröffnen sollte, war von Anfang an allen beteiligten Fachleuten wichtig, dass eine solche Stelle von qualifizierten Fach‐ leuten besetzt, räumlich von Jugendamt und Beratungsstellen getrennt und vor allem interdisziplinär begleitet werden sollte. Eine kleine Arbeitsgruppe unter Federführung des Sozialen Dienstes des Jugendamtes Konstanz konzipierte in den folgenden Monaten die strukturelle Einbettung der Beratungs- und Vertrauensstelle als sog. „Zwiebelmodell“, das sich so darstellt: Projektgruppe: Gewalt gegen Kinder/ Sex. Missbrauch Fachbeirat Beratungs- und Vertrauensstelle Großer Gesprächskreis: Fachöffentlichkeit Der Kern der Zwiebel ist die Beratungs- und Vertrauensstelle. Sie ist eine Anlaufmöglichkeit für direkt und indirekt Betroffene sowie von Mitarbeitern aller mit Kindern und Jugendlichen befassten Institutionen (Erzieher, Lehrer, Ärzte). In/ mit der Beratungs- und Vertrauensstelle findet nach einem prob‐ lemabklärenden Erstgespräch die gezielte Weitervermittlung bzw. eine fallge‐ mäße, multiprofessionelle Helferkonferenz statt, in der neben der weiteren Abklärung auch die Weiterbetreuung/ -begleitung, die jeweilige (institutionelle) Verantwortlichkeit sowie die kurz- und mittelfristigen Perspektiven geklärt werden. Neben dieser fallbezogenen Arbeit besteht ein weiterer Schwerpunkt in gezielter und umfänglicher Öffentlichkeits- und Multiplikatorenarbeit. Die nächste Schale bildet der Fachbeirat. Er besteht aus einem kleinen, konstanten Kreis an Fachleuten verschiedener Professionen (Vertreter der Jugendämter, Beratungsstellen, Kinderärzte, Juristen), der die Erfahrungen der Beratungs- und Vertrauensstelle begleitet (Konzeptionsfortschreibung) sowie bei komplexen Problemlagen gegebenenfalls eine fachliche Mitverantwortung 262 Günther Wagner <?page no="263"?> 61 Die Stadt Singen ist der Finanzierung der Beratungs- und Vertrauensstelle zum 1.1.1993 beigetreten, womit der gesamte Kreis Konstanz abgedeckt werden konnte. 62 „Kooperationsrichtlinien für den Bereich Kindesmisshandlung und sexuellen Miss‐ brauch“ erarbeitet vom Fachbeirat der Beratungs- und Vertrauensstelle für Kindesmiss‐ übernimmt. Um einen offenen und vertrauensvollen Austausch zu gewähr‐ leisten, ist es aus datenschutzrechtlicher Sicht notwendig, dass alle Mitglieder des Fachbeirates professionell (z. B. als Sozialarbeiter, Psychologe, Mediziner) und institutionell (mit der besonderen Pflicht zur Verschwiegenheit, bereichs‐ spezifischer Datenschutz) abgesichert sein müssen. Die weitere Schale ist die Projektgruppe. Sie ist eine multiprofessionelle Arbeitsgruppe, in der auch der Fachbeirat und die Beratungs- und Vertrauens‐ stelle mit allen Personen vertreten sind. Hier geht es um die gemeinsame Reflektion und Diskussion thematischer und praktischer Ansätze und vor allem die Entwicklung von Prophylaxe- und Kooperationskonzepten für die örtlichen Gegebenheiten. Der große Gesprächskreis umfasst die weitere Fachöffentlichkeit in Stadt und Landkreis. Er soll in größeren Zeitabständen eingeladen werden, um möglichst viele Institutionen und Professionen über Erfahrungen, Entwicklungen und Er‐ gebnisse im Bereich Kindesmisshandlung/ Sexueller Missbrauch zu informieren. Im Januar 1991 wurde (finanziert von der Stadt Konstanz und dem Land‐ kreis) 61 unter der Trägerschaft des evangelischen Kirchenbezirks (fachlich abgebunden an deren Psychologische Beratungsstelle) mit der Arbeit in der Beratungs- und Vertrauensstelle begonnen. Nachdem in einer ersten Phase als Schwerpunkt des Fachbeirates die „Aufbau-Arbeit“ der Beratungs- und Vertrauensstelle fachlich begleitet und reflektiert wurde, rückten danach Fragen der fachlichen Zusammenarbeit zwi‐ schen Institutionen, die mit Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch befasst sind, in den Vordergrund. Sehr schnell wurde dabei offenkundig, dass unterschiedliche Haltungen und Handlungskonzepte gravierende Kooperati‐ onsprobleme erzeugten und damit viele gutgemeinten Lösungsbemühungen der einzelnen Institutionen sich störten oder gar kontraproduktiv waren. Die Vielfalt der Helfersysteme, die Unterschiedlichkeit der Handlungsansätze oder gar das unverbundene Tätigwerden führten häufig neben hohem Abstimmungs‐ aufwand zu vielen zusätzlichen Belastungen und Irritationen für die betroffenen Kinder und Familien. Die Komplexität der Probleme führt dazu, dass Helfer und Helferinnen aus unter‐ schiedlichen Fachbereichen, mit unterschiedlichem Wissenstand und Ausbildung, aber auch unterschiedlicher Betroffenheit, zusammenarbeiten müssen. 62 Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 263 <?page no="264"?> handlung und sexuellen Missbrauch unter Federführung des Sozial- und Jugendamtes der Stadt Konstanz, Stand: 1.1.1996, S.-3. 63 „Kooperationsrichtlinien für den Bereich Kindesmisshandlung und sexuellen Miss‐ brauch“, Stand: 1.1.1996 und aktuelle, überarbeitete Fassung von 2014, herausgegeben von: Diakonisches Werk im Evangelischen Kirchenbezirk Konstanz/ Beratungs- und Vertrauensstelle bei Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch. 64 Ebd., S.-3. Auf diesem Erfahrungshintergrund entwickelte der Fachbeirat in zweijähriger, intensiver Arbeit und in stetiger Rückkoppelung mit der Projektgruppe umfang‐ reiche Kooperationsrichtlinien für den Landkreis Konstanz. 63 Die Leitlinien sollen für alle Beteiligten (HelferInnen und Betroffene) eine Verbindlichkeit haben, in der Form, dass die geleistete Hilfe berechenbar, nachvollziehbar, transparent und kontrollierbar wird. 64 Insgesamt ist es mit diesem Ansatz (Zwiebelmodell und Kooperationsgrund‐ lagen) vorbildlich gelungen, fachliche Ressourcen zu verbinden und zu bündeln (Synergie-Effekt) sowie allen beteiligten Fachkräften der unterschiedlichen Institutionen im Landkreis Konstanz ( Jugendämter, Beratungsstellen, Kinder‐ ärzte, Jugendhilfeeinrichtungen und -angebote, Schulen, Polizei, Gerichte, Staatsanwaltschaft) qualifizierte Anlaufstellen und einen Orientierungsrahmen für eine kalkulierbare, verlässliche und vertrauensvolle Kooperation an die Hand zu geben. Im Ergebnis kann somit für die betroffenen Kinder und Familien schneller die richtige und geeignete Unterstützung und Hilfe gefunden und durchgeführt werden. 6.4 Trennungs- und Scheidungsberatung: Die „Konstanzer Praxis“ Ausgehend von dem sog. „Cochemer Modell“, das im Jahr 1992 vom Familien‐ richter Jürgen Rudolph im Amtsgericht Cochem initiiert wurde, begann das Jugendamt Konstanz sich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie bei strittigen familiengerichtlichen Verfahren um das Sorgebzw. Umgangsrecht bessere Lösungen zum Wohl der betroffenen Kinder erreicht werden könnten. Denn die alltägliche Erfahrung zeigte, dass sich viele dieser Verfahren lange hinzogen, den Kindern wechselnde Entscheidungen zugemutet wurden (z. B. wechselnder Lebensmittelpunkt) und dies immer auf Kosten der Kinder ging. Dramatischer ausgedrückt, stellte sich die Frage: Sind diese Verfahren nicht auch eine „Misshandlung“ der Kinder, für die die beteiligten Institutionen und Profes‐ sionen eine Mitschuld tragen? Vor diesem Hintergrund sollte die interdiszipli‐ näre Zusammenarbeit der verschiedenen am gerichtlichen Verfahren beteiligten 264 Günther Wagner <?page no="265"?> 65 Dies wurde ab November 2006 als sog. „Konstanzer Praxis“ umgesetzt. Personen und Institutionen (Richter, Anwälte, Jugendamt, Beratungsstellen) sowohl grundsätzlich (über Arbeitskreise, Selbstverpflichtung u.ä.) als auch in der konkreten Zusammenarbeit im Verfahren immer primär an den Interessen der Kinder ausgerichtet werden. Dies wurde ab 1992 in Cochem erstmals erprobt und publiziert, erlangte überregionale Bedeutung und fand Eingang in die Familienrechtsreform 2009 (beispielsweise als verpflichtende frühzeitige Termi‐ nierung (§ 157 FamFG) sowie der Einführung von Verfahren außergerichtlicher Konfliktbeilegung wie Mediation (§155 FamFG)). In Konstanz wurde dieser Ansatz aufgegriffen und unter der Federführung des Sozialen Dienstes im Jahre 2000 ein Arbeitskreis Trennungs- und Schei‐ dungsberatung begründet, der zur Grundlage für eine Verbesserung der inter‐ disziplinären Zusammenarbeit wurde. Er umfasste alle Beteiligten wie Richter, Anwälte, Jugendamt, Psychologische Beratungsstellen, Sachverständige, Me‐ diatoren und traf sich drei bis fünfmal pro Jahr. Nach dem gegenseitigen Kennenlernen und dem Ausdiskutieren divergierender Selbstverständnisse und Handlungsansätze wurde schließlich als gemeinsames Positionspapier eine Zielvereinbarung erarbeitet, die folgendes beinhaltete 65 : • Im Interesse des Kindeswohls muss der elterliche Konflikt zu einer Schlich‐ tung führen und eine konsensuale Lösung gefunden werden • Die Herstellung der Kommunikation der Eltern ist die Grundlage zur Übernahme gemeinsamer Verantwortung • Bei Kindschaftssachen (Sorge/ Umgang) werden von den beteiligten Profes‐ sionen keine Konfliktstrategien benutzt • Die Kindsperspektive steht im Mittelpunkt des familiengerichtlichen Ver‐ fahrens • Die Konflikte werden von den Kindern genommen und die Eltern mit der Lösung bzw. Schlichtung der Konflikte beauftragt (ggfs. mit professioneller Unterstützung) • Alle beteiligten Professionen unterstützen diesen Schlichtungsprozess • Die frühzeitige Intervention ist der Schritt zu einer konfliktreduzierten Lösung. Als organisatorische Konsequenz wurde innerhalb des ASD ein Schwerpunkt‐ team gebildet, das ausschließlich die gerichtliche Mitwirkung bei Regelungen der elterlichen Sorge und des Umgangs übernimmt. Die außergerichtliche Beratung wird weiterhin vom Gesamtteam des ASD wahrgenommen, um eine fachliche „Abkopplung“ innerhalb des ASD zu vermeiden und bei Bedarf neue Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 265 <?page no="266"?> Mitglieder für das Schwerpunktteam nachziehen zu können. Das Schwerpunkt‐ team • setzt sich aus vier berufserfahrenen Sozialarbeiterinnen und -arbeitern zusammen, • Elterngespräche werden grundsätzlich gemischtgeschlechtlich besetzt durchgeführt, • die Teilnahme am Arbeitskreis wird vom gesamten Schwerpunktteam wahrgenommen, • berät sich regelmäßig einmal pro Woche über laufende und neu eingehende Fälle, • wird in der sonstigen Fallarbeit des ASD entsprechend entlastet. Die fachliche Intention des Schwerpunkteams sind • Erarbeitung und Konsolidierung einer einheitlichen Haltung und Vorge‐ hensweise für die Eltern und die Kooperationspartner (Richter, Anwälte, Beratungsstellen) • Aufrechterhaltung eines hohen fachlichen Standards • Vermeidung/ Verminderung von Misserfolg und Überforderung. Im Ergebnis konnten durch das verbindliche Beratungs- und Vermittlungsan‐ gebot Versuche der Eltern (und deren Anwälte), sich Verbündete zu suchen bzw. Versuche, das Jugendamt zu instrumentalisieren weitgehend verhindert und minimiert werden. Neben den Hausbesuchen, den Elterngesprächen und der richterlichen Anhörung gibt es keine Anrufe von Eltern/ Anwälten bzw. keinen (zusätzlichen) Schriftverkehr. Die Elternteile bzw. deren anwaltliche Vertretung stellen den Antrag auf Umgangs- oder Sorgerechtsregelung bei Gericht ohne Begründung (damit wird verhindert, dass durch ausführliche Darlegungen immer wieder zusätzliche „schmutzige Wäsche gewaschen“ bzw. die Auseinandersetzungen immer weiter munitioniert und angeheizt werden). Die Kooperation und Koordination mit dem Familiengericht hat sich in organi‐ satorischer Hinsicht optimiert (z. B. halten sich sowohl das Schwerpunktteam als auch die Familienrichter einen bestimmten halben Tag in der Woche von Terminen frei, um unkompliziert und flexibel kurzfristige Anhörungstermine zu arrangieren). Insgesamt hat sich die einheitliche und strukturierte Vorgehensweise des Schwerpunktteams auf dem Hintergrund der für alle Professionen handlungs‐ leitenden Zielvereinbarung als konfliktmindernde und vor allem kindgerechte Verfahrensweise bewährt, auch wenn durch Fluktuation der beteiligten Akteure der Grundkonsens und die aufeinander abgestimmten Abläufe immer wieder 266 Günther Wagner <?page no="267"?> 66 Dies zeigte sich auch beim sog. Cochemer Modell. Dieses endete in Cochem mit der Pensionierung des Richters Jürgen Rudolph im Jahre 2008, was zugleich auch daraus hinweist, wie sehr solche Ansätze von engagierten Personen vor Ort abhängen. erneut reflektiert und abgesichert werden müssen. Deswegen ist die fortwäh‐ rende und regelmäßige Begleitung dieses gemeinsamen Handlungsansatzes im Rahmen des Arbeitskreises Trennungs- und Scheidungsberatung sowie das konsequente, zeitnahe und umfassende „briefing“ bei neu einsteigenden Personen in den beteiligten Institutionen unabdingbar 66 . 7. Schlussbemerkung In diesem Beitrag geht es um den fundamentalen Wandel, den das Jugendamt der Stadt Konstanz in den letzten 100 Jahren erfahren und durchlaufen hat. Und zwar von einer obrigkeitsstaatlichen Eingriffsbehörde zu einer sozialpädagogi‐ schen Leistungsverwaltung und von reiner Kontrolle zu umfänglicher Beratung, Hilfe und Unterstützung. Mit den zwei Fallschilderungen als „historischen Blitzlichtern“ (1925 und 2020) in die Alltagsrealität des jugendamtlichen Handelns und des institutio‐ nellen Selbstverständnisses sollte diese Entwicklung vorstellbarer und nach‐ vollziehbarer werden. Gleichwohl konnten viele Themen hier nur angerissen werden, weswegen es sich lohnt, zur Komplettierung der Entwicklungsge‐ schichte des Jugendamtes der Stadt Konstanz die weiteren Beiträge in diesem Sammelband zu lesen. Wenn alles zusammen dazu beiträgt, sich beim Begriff „Jugendamt“ von der Vorstellung der „Kinderwegholbehörde“ zu lösen und das gegenwärtige Jugendamt als das zu erkennen, was es heute ist und wie es zum gegenwärtigen Zustand gekommen ist, wäre viel gewonnen. Gleich‐ wohl befindet sich das Jugendamt auch weiterhin in einem dynamischen Entwicklungsprozess, dessen nächste Herausforderungen schon absehbar sind. So werden (neben gesamtgesellschaftlichen Problemen wie Fachkräftemangel, Personalfluktuation, finanziellen Unsicherheiten) mit der flächendeckenden Einführung der Ganztagsgrundschule zum Jahre 2026 (mit Auswirkungen auf das Tagesgruppenangebot) sowie der Integration der geistig und körperlich behinderten Kinder und Jugendlichen im Jahre 2028 (siehe Kinder und Jugendli‐ chen Stärkungsgesetz (KJSG) von 2021) neue fachliche und personelle Lösungen gefunden werden müssen. Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot 267 <?page no="269"?> 1 Reichsgesetzblatt (RGBl) Teil I, Nr.-54 vom 29. Juli 1922. 2 O B E R L O S K A M P , Helga: Vormundschaft, Pflegschaft und Beistandschaft für Minderjäh‐ rige. München 3 2010, S.-4. Die Amtsvormundschaft Rollenverständnis und Aufgabenwahrnehmung im gesellschaftlichen und politischen Wandel Barbara Behrensmeier Heutzutage wird mit Amtsvormundschaft die gesetzliche Vertretung für einen Minderjährigen durch das zuständige Jugendamt bezeichnet. Hierbei wird zwi‐ schen zwei Formen der Amtsvormundschaft unterschieden, die der bestellten Amtsvormundschaft und die der gesetzlichen Amtsvormundschaft. Im Fall der bestellten Amtsvormundschaft wird das Jugendamt, durch Beschluss des Familiengerichtes, Amtsvormund, wenn keine andere als Vormund geeignete Person vorhanden ist (§ 1774 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB). Die gesetzliche Amtsvormundschaft tritt überwiegend bei nichtehelichen Kindern ein, solange die Kindesmutter noch minderjährig ist (§ 1786 BGB), ohne der Mutter das Sorgerecht zu entziehen. Da Minderjährige gesetzlich gesehen nur beschränkt geschäftsfähig sind (§ 106 BGB), kann eine minderjährige unverheiratete Mutter ihr Kind rechtlich nicht selbst vertreten. Daher erhalten nichteheliche Kinder von minderjährigen Müttern einen Vormund vom Jugendamt, der die rechtliche Vertretung des Kindes übernimmt. Diese Amtsvormundschaft endet automa‐ tisch mit dem 18. Geburtstag der Mutter. Das dies nicht immer so war, zeigt sich mit dem Inkrafttreten des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) zum 1. April 1924 durch Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt 1 . Die aufgrund dieses Ge‐ setzes verpflichtend einzurichtenden Jugendämter in den einzelnen Gemeinden oder Gemeindeverbänden des Deutschen Reiches (§ 8 RJWG) wurden automa‐ tisch, ohne besondere Bestellung Amtsvormund für alle in deren Bezirken geboren unehelichen Kinder (§ 35 RJWG) 2 , unabhängig davon, ob die Mutter des Kindes minderjährig oder volljährig war. Diese gesetzliche Vorschrift zielte <?page no="270"?> 3 Bundesgesetzblatt (BGBl) Teil 1, Nr.-64 vom 16. August 1961. 4 H A S E N C L E V E R , Christa: Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900. Göttingen 1978, S.-85. 5 Akte Generalia - Einführung einer städtischen Berufsvormundschaft und der Vollzug des RJWG 1922-1925; StadtA Konstanz S XII Nr.-303. demnach ausschließlich auf den Geburtsstatus eines Kindes ab, nämlich den der Nichtehelichkeit. Das RJWG regelte noch bis 1961 die Jugendwohlfahrt in Westdeutschland und wurde mit Bekanntmachung vom 11. August 1961 in das „Gesetz für Jugendwohlfahrt“, auch Jugendwohlfahrtsgesetz ( JWG) umbenannt und am 16. August 1961 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht 3 . Erst 1991 wurde dieses Gesetz vom Kinder- und Jugendhilfegesetz im Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) abgelöst. Die Aufgaben, der mit dem RJWG geschaffenen Jugendämter ab 1924 lagen schwerpunktmäßig im Bereich des Pflegekinder- und Vormundschaftswesen, in der Fürsorge hilfsbedürftiger Minderjähriger und der Fürsorgeerziehung (§3 RJWG). Die Maßnahmen, die sich aus den rechtlichen Vorgaben des RJWG ergaben, beschränkten sich primär auf eingreifende Maß‐ nahmen für die beiden Hauptzielgruppen, nämlich die der unehelichen Kinder und die der Erziehungsgefährdeten 4 . In der nunmehr 100jährigen Geschichte der städtischen Jugendämter waren der Zweck und die Aufgaben immer auch gesellschaftlich geprägt und sehr oft politisch bestimmt, von den Anfängen in der Weimarer Republik über die NS-Zeit und der Wiederaufbaujahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu den Aufgabenänderungen aufgrund des Inkrafttretens des SGB VIII zum 1. Januar 1991. Der nachfolgende Beitrag möchte diesen Wandel anhand des Berufsbildes der Amtsvormünder, auch belegt mit einigen Beispielen aus der Arbeit der städtischen Amtsvormundschaft in Konstanz, aufzeigen. Abschließend wird es noch einen kurzen Ausblick auf die grundsätzlichen Änderungen im Vormundschaftsrecht, aufgrund der Vormundschaftsreform zum 1. Januar 2023 geben. Das Vormundschaftswesen in der Weimarer Republik Bereits zum 1. Oktober 1922 wurde - durch Gemeinderatsbeschluss vom 4. September 1922 initiiert - in der Stadt Konstanz die Berufsvormundschaft eingeführt. Die Tätigkeit des Berufsvormundes bestand zunächst darin, die Vormundschaft über sämtliche uneheliche Kinder, deren Mütter ihren Wohnsitz in Konstanz hatten, zu übernehmen und deren Erziehung und Ausbildung zu überwachen 5 . Diese Aufgaben der Berufsvormünder wurden, mit Einführung des RJWG zum 1. April 1924, auf die städtischen Jugendämter, die nun jede Gemeinde eigenständig zu errichten hatte, übertragen. Das Stadtjugendamt 270 Barbara Behrensmeier <?page no="271"?> 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Akte Tätigkeitsberichte Stadtjugendamt 1922-1929; StadtA Konstanz S XII Nr.-396. 10 Ebd. Konstanz hatte bereits, vorbehaltlich der Zustimmung des Bürgerausschusses und dem Erlass einer Gemeindesatzung nach den Bestimmungen des RJWG, zum 1. Mai 2024 als Verwaltungsstelle seine Tätigkeit aufgenommen und über‐ nahm von der städtischen Berufsvormundschaft 480 Vormundschaften. 6 Die entsprechende Gemeindesatzung, in der die Einrichtung eines Fürsorgeamtes und eines Stadtjugendamtes festgeschrieben wurde, trat am 1. Januar 1925 in Kraft. 7 Bei Aufnahme der Tätigkeit des Stadtjugendamtes Konstanz zum 3. Mai 1924 waren zwei Beamte dort hauptberuflich beschäftigt, einmal der Vorstand des Stadtjugendamtes, dem auch gleichzeitig die Aufgaben nach § 32 RJWG (Amts‐ vormundschaften) übertragen wurden und ein Sekretär, der für alle Bereiche und Aufgaben des gesamten Jugendamtes zuständig war. Neben diesen zwei Hauptbeamten waren noch ein Kontrolleur, der gleichzeitig dem Fürsorgeamt unterstand, und eine Schreibkraft beschäftigt, sowie acht ehrenamtliche Hilfs‐ kräfte, die die Außenfürsorge für Mündel durchführten. 8 Diese Außenfürsorge bestand darin, die sich bei den Kindesmüttern oder Pflegestellen befindlichen Mündel zu beaufsichtigen, entsprechend zu besuchen um sich über deren Unterbringung, deren Gesundheitszustand, deren Erziehung und Behandlung sowie deren Verpflegung zu erkundigen und daraus folgend Berichte an die Berufsvormünder (später Amtsvormünder) zu erbringen. 9 Im Zeitraum vom 1. Oktober 1922 bis 1. April 1923 standen in der Stadt Konstanz insgesamt 881 Kinder unter Vormundschaft des Badischen Amtsgerichts, davon 95 ehe‐ lich (Vollwaisen) und 786 nichteheliche Kinder. Von diesen Kindern standen wiederum unter Vormundschaft des städtischen Berufsvormundes insgesamt 234 (19 eheliche und 215 uneheliche). Die Unterbringung der Kinder erfolgte unterschiedlich, so z. B. bei der Kindesmutter oder deren Verwandten, in Privatpflege- und Dienststellen, im städtischen Säuglingsheim, im städtischen Armenhaus oder in den Anstalten des katholischen Fürsorgevereins. 10 Da das Jugendamt mit der Geburt jedes unehelichen Kindes kraft Gesetzes Vormund (Amtsvormundschaft) wurde, konnten die Aufgaben der Außenfürsorge nicht mehr allein durch den Einsatz der ehrenamtlichen Hilfskräfte ausgeführt werden. Mit Vorlage Nr. 53 (1924) an den Bürgerausschuss der Stadt Konstanz sollten daher zusätzlich zwei ausgebildete Fürsorgerinnen, und zwar nach Genehmigung der Gemeindesatzung zum 1. Januar 1925, hauptamtlich beim Die Amtsvormundschaft 271 <?page no="272"?> 11 Akte Generalia - Einführung einer städtischen Berufsvormundschaft und der Vollzug des RJWG 1922-1925 (wie Anm.-5). 12 Akte Tätigkeitsberichte Stadtjugendamt 1922-1929 (wie Anm.-9). 13 Tätigkeitsbericht der Fürsorgeschwestern beim Stadtjugendamt Konstanz über das Jahr 1925, ebd. 14 Ebd. 15 Jahresbericht des Stadtjugendamtes vom 1. April 1926 bis 31. März 1927; ebd. 16 Verwaltungssachen 13. Gemeindewaisenrat. Normalia D. - F., 1. April 1929; StadtA Konstanz S XII Nr. 765. 17 Akte: Sammelakten Sti. - Stz.; StadtA Konstanz S XII Nr.-775. Stadtjugendamt Konstanz angestellt werden. 11 Diese nahmen am 1. Mai 1925 als Fürsorgeschwestern ihren Dienst auf. 12 Ab dem Zeitpunkt der Anstellung erstreckte sich die Arbeit der beiden Fürsorgeschwestern im Jahr 1925 auf die Beaufsichtigung von 346 Mündeln und Pflegekindern in Konstanzer Familien. Diese Beaufsichtigung erfolgte durch insgesamt 2025 Hausbesuche, bei denen die persönlichen Verhältnisse festgestellt oder geprüft wurden, Eltern, Pflege‐ eltern oder Arbeitgeber beraten und weitere Fürsorgemaßnahmen veranlasst wurden. 13 Allerdings zeichnete es sich bereits im Verlauf des Jahres 1926 ab, dass die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben des RJWG nicht mehr nur mit zwei hauptamtlichen Beamten (Vorstand des Jugendamtes und Sekretär) im Innendienst, sowie den beiden Fürsorgeschwestern und einem Kontrolleur im Außendienst und zwei Schreibkräften wahrgenommen werden konnten. Daher wurde im Jahresbericht des Stadtjugendamtes vom 1. April 1925 bis 31. März 1926 an den Stadtrat Konstanz das Erfordernis angetragen, entsprechend notwendige Beamte anzustellen, um die Pflichtaufgaben erfüllen zu können. 14 Da die Anzahl der unehelichen Geburten und Fürsorgeerziehungsfälle weiter anstiegen, wurde daher zum 15. April 1926 eine weitere Fürsorgeschwester für den Außendienst angestellt und zum 1. Januar 1927 ein Kanzleigehilfe vom städtischen Grundbuchamt ins Jugendamt versetzt. 15 Aus verschiedenen Einzelberichten der Fürsorgeschwestern an das Stadtjugendamt Konstanz aus den Jahren von 1929 bis 1930 16 bestand die Außenfürsorge für die Mündel, und die daraus empfohlenen fürsorgerechtlichen Maßnahmen, vorwiegend aus der Überprüfung und Überwachung der persönlichen Verhältnisse der Kindesmütter oder Dienstherren, insbesondere in Bezug auf Unterbringung, Verhalten und Verpflegung. So beispielsweise nachzulesen im Bericht einer Fürsorgeschwester vom 21. Mai 1926, in dem diese feststellt, dass „vormund‐ schaftsrechtliche Maßnahmen halte ich in persönlicher Hinsicht augenblicklich nicht für nötig, da nur der zwölfjährige F. den Haushalt der Mutter teilt […] und Frau S. außerdem einen guten, zuverlässigen Eindruck macht“ 17 . In einem anderen Bericht vom 10. Oktober 1929, bei dem Mündel und Dienstherrin beim 272 Barbara Behrensmeier <?page no="273"?> 18 Verwaltungssachen (wie Anm. 16). 19 H A S E N C L E V E R (wie Anm.-4), S.-127. 20 Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt vom 29. Mai 1934, Dritte Verordnung des Staatsministeriums über Änderung der Ausführungsverordnung zum Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt, Land Baden (Karlsruhe) Nr.-32, S.-185. 21 Akte: Übernahme und Abgabe von Amtsvormundschaften. Generalia 1927-1970; StadtA Konstanz S XII Nr.-1598. 22 Dritte Verordnung (wie Anm. 20), S 186. Stadtjugendamt vorgeladen waren, wurde „dem Mädchen in ernster Weise das Unrichtige seiner Handlungsweise vor Augen geführt und ihr insbesondere erklärt, dass, wenn ihr Verhalten, ihre Führung und ihre Leistung in Zukunft sich nicht bedeutend bessert und wenn wir wieder Klagen über nächtliches Ausbleiben usw. hören, Fürsorgeerziehung (Anstaltserziehung) Platz greifen müsse“ und „dass das Mädchen einer starken Führung bedarf, um auf ordentli‐ chem Wege zu bleiben“ 18 . Vormundschaftsrechtliche Maßnahmen eines Amtsvormundes in dieser Zeit waren damit durch diese reinen Kontrollfunktionen auf ein Minimum redu‐ ziert, was größtenteils auch an der hohen Anzahl der Mündel lag, die es zu betreuen galt. Dadurch waren allumfassende Einzelhilfen oder pädagogische Maßnahmen für die Kinder kaum zu erbringen. Die Rolle der Amtsvormundschaft während des Nationalsozialismus Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wurden alle Behörden und Verbände gleichgeschaltet und in ihrer organisatorischen Struktur auf das Führerprinzip umgestellt 19 (vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Klöckler in diesem Band). Dies galt insbesondere auch für die Bezirksfürsor‐ geämter als Jugendamt. Die Leitung und Geschäftsführung der Jugendämter wurde durch § 2 der Änderungsverordnung zum RJWG vom 28. Mai 1934 in alleiniger Verantwortung auf den Landrat und, in verbandsfreien Städten, auf den (Ober-)Bürgermeister übertragen. 20 Auch das Stadtjugendamt Konstanz wurde mit Schreiben des Badischen Landesjugendamtes Karlsruhe vom 12. Juni 1934 auf diese Änderung in der Aufgabenübertragung, hier explizit auf die Übertragung der vormundschaftlichen Obliegenheiten nach § 32 RJWG, hingewiesen. 21 Mit dieser Änderungsverordnung zum RJWG wurde auch der § 9 RJWG einschneidend neu gefasst. Als stimmberechtigte Mitglieder neben den bisherigen leitenden Beamten in der Jugendwohlfahrt gehörten dem Jugendamt fortan auch ein Vertreter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und ein Vertreter der Hitlerjugend an. 22 Auch in Konstanz beantragte der Die Amtsvormundschaft 273 <?page no="274"?> 23 Akte: Verwaltung des Jugendamtes. Allgemein Jahr 1925 - 31.12.73; StadtA Konstanz S XII 1473. 24 Ebd. 25 J O R D A N , Erwin/ M A Y K U S , Stephan/ S T U C K S T Ä T T E , Eva Christina: Kinder- und Jugendhilfe. Einführung in Geschichte und Handlungsfelder, Organisationsformen und gesellschaft‐ liche Problemlagen. Weinheim und Basel 4 2015, S.-63. 26 Akte: Übernahme und Abgabe von Amtsvormundschaften. Generalia 1927-1970; StadtA Konstanz S XII Nr.-1598. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. Bannsozialreferent der Hitlerjugend, Bann 114, am 5. Oktober 1933 einen Sitz und Stimme im Ausschuss des Stadtjugendamtes. 23 Diesem Antrag hatte das Stadtjugendamt Konstanz aber bereits, durch die Berufung eines Vertreters der hiesigen Hitlerjugend, mit Stadtratsbeschluss vom 13. Juli 1933 vorgegriffen. 24 Grundsätzliche Fragen der Jugendhilfe und Jugendfürsorge konnten offiziell über den § 11 RJWG an die NSV übertragen werden, da diese bereits kurz nach Gründung im April 1933 von der NSDAP als Verband anerkannt und auf‐ genommen wurde. 25 Durch die Einflussnahme der Nationalsozialisten, wurde auch die Jugendhilfe durch entsprechende Runderlasse immer politischer und auch die Vorgaben für die zu übernehmenden Amtsvormundschaften restrik‐ tiver. Der § 35 RJWG wurde durch Runderlass des Reichsministerium des Inneren vom 5. Dezember 1938 dahingehend erweitert, dass „unter die Amtsvor‐ mundschaft des Jugendamtes mit der Geburt nur uneheliche Kinder deutscher Staatsangehörigkeit treten“ 26 . Diese Gesetzesänderung bildete die Grundlage für weitergehende Eingriffe in die Aufgaben der Amtsvormundschaften. Der Runderlass des Reichsministeriums vom 22. Januar 1940 schrieb vor, dass „Amts‐ vormundschaftsakten bei Mündeln mit jüdischem oder sonstigem artfremden Bluteinschlag“ besonders zu kennzeichnen sind, um diese „später leichter erfassen und auswerten zu können.“ 27 Diese Anweisung wurde, bezüglich der „arischen“ Abstammung eines Kindes, durch den Runderlass des Reichsminis‐ ters des Inneren vom 7. Oktober 1941 dahingehend ausgeweitet, dass nun „alle unehelich geborenen Kinder, deren Väter oder Mütter fremden Volkstums und nicht deutsche Staatsangehörige, d. h. entweder fremde Staatsangehörige oder Schutzangehörige oder Staatenlose sind“ durch die Amtsvormundschaften erfasst werden mussten. 28 Noch am 27. September 1944 wies der Reichsminister des Inneren die Jugendämter an, „uneheliche Kinder protektoratsangehöriger Frauen zu übernehmen und die Feststellung der Vaterschaft beschleunigt zu betreiben“ und „sobald die Vaterschaft festgestellt ist, das Kind dem zuständigen SS- und Polizeiführer unter Bezug auf diesen Runderlass zu melden.“ 29 Damit 274 Barbara Behrensmeier <?page no="275"?> 30 H A S E N C L E V E R (wie Anm. 4), S.-156. 31 Akte: Übernahme und Abgabe von Amtsvormundschaften. Generalia 1927-1970; StadtA Konstanz S XII Nr.-1598. 32 Akte: Verwaltung des Jugendamtes. Allgemein Jahr 1925 - 31.12.73; StadtA Konstanz S XII 1473. 33 Ebd. reduzierten sich die Aufgaben der Amtsvormundschaft im „Dritten Reich“ auf politische Kontrolle und Abstammung der Kinder. Die grundsätzlichen Aufgaben der Gewährleistung und Überprüfung von Unterbringung, Gesund‐ heitszustand, Erziehung und Behandlung der Mündel, wurde auf die die NSV- Jugendhilfe übertragen, um Kinder im Sinne der nationalsozialistischen Ideo‐ logie zu erziehen. Die Wiederaufbauzeit nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das RJWG wieder in seiner ursprüng‐ lichen Form von den westlichen Besatzungsmächten für anwendbar erklärt in Kraft gesetzt 30 und bis zur Novellierung des RJWG 1953 dem Innenministerium unterstellt. Das Badische Ministerium des Innern - Landeswohlfahrts- und Jugendamt - verfügte mit Rundschreiben vom 12. Dezember 1949 an die Jugendämter des Landes, dass „aufgrund der Reorganisation der Jugendämter die beschließenden Jugendamtsausschüsse eingerichtet sind“ und diese „bei der Übertragung der Ausübung der vormundschaftlichen Obliegenheiten an einen Beamten oder Angestellten des Jugendamtes der Jugendamtsausschuss mitzu‐ wirken“ hat. 31 Laut einem handschriftlichen Vermerk auf diesem Rundschreiben, wurde im Stadtjugendamt Konstanz bereits seit dem 1. Januar 1948 so verfahren. Dass das Stadtjugendamt Konstanz bereits 1948 einen Jugendamtsausschuss gegründet hatte, beruhte auf einem anderen Rundschreiben des Badischen Mi‐ nisteriums des Innern an die Jugendämter der Französischen Besatzungsgebiete, wonach die französische Militärregierung auf rasche Bildung der Jugendamts‐ ausschüsse Wert lege. 32 Vormundschaftsrechtliche Maßnahmen wurden nun wieder vom Jugendamt (Verwaltung des Jugendamtes und Jugendhilfeausschuss) beschlossen. Sie ba‐ sierten dabei überwiegend aus den Beschlüssen der Vormundschaftsgerichte und aus Berichten der Amtsvormünder und der Außenfürsorge. Auszüge aus der Niederschrift der Sitzung des Konstanzer Jugendamtsausschusses vom 20. August 1947 33 belegen aber auch, dass die so vorgenommenen Maßnahmen weiterhin eher eingreifenden als fördernden Charakter hatten. Die Amtsvormundschaft 275 <?page no="276"?> 34 Ebd. 35 Bundesgesetzblatt (BGBl) Teil I, Nr. 64: Bekanntmachung der Neufassung des Reichs‐ gesetzes für Jugendwohlfahrt vom 16. August 1961. 36 H A S E N C L E V E R (wie Anm. 4), S.-202. Beispielsweise die Herausnahme eines Kindes aus dem mütterlichen Haushalt wegen „andauernder ungerechtfertigter Schulversäumnisse“ und Unterbrin‐ gung im Waisenhaus Nazareth in Sigmaringen oder die „Wegnahme beider Kinder der Frau R. wegen fortgesetzter sittlicher Gefährdung“ und Unterbrin‐ gung ebenfalls im Waisenhaus. An anderer Stelle in diesem Bericht wird „die Rückgabe der Kinder in den elterlichen Haushalt abgelehnt, da die Kindesmutter keine Gewähr für eine einwandfreie Erziehung ihrer Kinder bietet und die Kinder bei ihr sittlich gefährdet sind.“ Des Weiteren wird „der Antrag der Frau S. auf Entlassung der Kinder aus dem Kinderheim St. Gebhard in Oberkirch in den elterlichen Haushalt, […] im wohlverstandenen Interesse der Kinder abgelehnt“ und „aus gesundheitlichen und erzieherischen Gründen sind auch alsbald die (beiden anderen) Kinder in das Heim Oberkirch zu verbringen“. Individuelle, am Wohl des Kindes ori‐ entierte, familienunterstützende oder sozialpädagogische Hilfestellungen bzw. Maßnahmen wurden mit solchen vormundschaftsrechtlichen Entscheidungen nicht umfasst. Auch im Jahresbericht von 1957 des Stadtjugendamtes Konstanz 34 be‐ schränkte sich der Tenor der vormundschaftlichen Maßnahmen noch auf die Vorgabe: „Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, dass der Vater oder die Mutter das Recht der Sorge für die Person des Kindes missbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwen‐ dung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsge‐ richt kann insbesondere anordnen, dass das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder einer Erziehungsanstalt untergebracht wird“. Am 11. August 1961 wurde das RJWG dann in Jugendwohlfahrtsgesetz ( JWG) umbenannt und im Bundesgesetzblatt vom 16. August 1961 veröffentlicht. 35 Die Einführung des JWG brachte aber auch nicht die erhoffte Umwandlung in ein Leistungsgesetz, und somit in ein neues Jugendhilfegesetz, mit sich, sondern behielt im Wesentlichen seinen eingreifenden Charakter. 36 Nur mit Einführung des neuen § 3 JWG wurde die öffentliche Jugendhilfe nun dazu verpflichtet, „die in der Familie begonnene Erziehung zu unterstützen und zu ergänzen und die von der Personensorgeberechtigten bestimmte Grundrichtung der Erziehung bei allen Maßnahmen der öffentlichen Jugendhilfe zu beachten, sofern das Wohl des Kindes nicht gefährdet wird“, sowie „den Wünschen 276 Barbara Behrensmeier <?page no="277"?> 37 Bundesgesetzblatt (wie Anm. 3), S.-1243. 38 O B E R L O S K A M P (wie Anm. 2), S.-5. 39 J O R D A N / M A Y K U S / S T U C K S T Ä T T E (wie Anm. 25), S 82. der Personensorgeberechtigten, die sich auf die Gestaltung der öffentlichen Jugendhilfe im Einzelfall richten, zu entsprechen, soweit sie angemessen sind“. Die Rechtsstellung eines Kindes blieb aber unverändert und so wurde das Jugendamt des Geburtsortes weiterhin gesetzlicher Amtsvormund bei Geburt eines unehelichen Kindes (§ 40 Abs. 1 JWG). Erst mit dem „Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder“ vom 9. August 1969 37 (in Kraft getreten am 1. Juli 1970) wurde der Verfassungs‐ auftrag des Art. 6 GG erfüllt, wonach „den unehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Erzie‐ hung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen sind wie den ehelichen Kindern“. Mit diesem „Nichtehelichengesetz“ wurde auch die obligatorische Amtsvormundschaft für nichteheliche Kinder zum 1. Juli 1970 abgeschafft und verlangte die Vormundschaftsführung durch eine (ehrenamtliche) Einzel‐ person. 38 Anschließende Reformdiskussionen führten 1991 zur Verabschiedung eines neuern „Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts“ (KJHG). Die Jugendhilferechtsreform vom 1. Januar 1991 zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (KJHG) - Inkrafttreten des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) Die andauernde politische und fachliche Kritik an der Kontroll- und Eingriffs‐ funktion des bisherigen Jugendwohlfahrtsgesetzes ( JWG) war bestimmend für die die Einführung des SGB VIII, das den Anforderungen an eine leistungsorien‐ tierte Jugendhilfe gerecht wurde. 39 Damit wurde ein Leistungsrecht geschaffen, das von Rechtsansprüchen junger Menschen und deren Familien ausging: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemein‐ schaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. SGB VIII). Die Jugendhilfe sollte nun „dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (§ 1 Abs. 3 Nr. 5 SGB VIII). Damit verzichtete das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz auf negative oder diskriminierende Verhaltensbeschrei‐ bungen von Kindern und Familien und damit auch auf die bislang hieraus ergriffenen, repressiven Eingriffsmaßnahmen wie die der Fürsorgeerziehung. Die Jugendhilfe konzentrierte sich jetzt vielmehr auf das soziale und familiäre Die Amtsvormundschaft 277 <?page no="278"?> 40 J O R D A N / M A Y K U S / S T U C K S T Ä T T E (wie Anm. 25), S. 83 f. 41 O B E R L O S K A M P (wie Anm. 2), S.-461. 42 Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF): Zur Umsetzung des Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 14. Oktober 2011. Umfeld eines Kindes und bezog dieses in die jeweilige Problemanalyse und die daraus resultierenden, notwendigen Hilfsangebote mit ein. 40 Zielsetzung ist nun nicht mehr die staatliche Kontrolle, sondern die Förderung des Kindes durch Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrags (§ 1 SGB VIII). Trotz dieser Rechtsreform bestellten die Familiengerichte regelmäßig die Amtsvormünder der Jugendämter zum Vormund nach § 1774 Abs. 1 Nr. 4 BGB, wenn nach § 53 Abs. 2. Nr. 2 SGB VIII „eine Person, die geeignet und bereit ist, die Vormundschaft ehrenamtlich zu führen, nicht gefunden werden konnte“. Neben der bestellten Amtsvormundschaft wird den Amtsvormündern weiterhin auch die gesetzliche Amtsvormundschaft übertragen für ein nicht‐ eheliches Kind einer minderjährigen Mutter oder einer volljährigen Mutter, die nicht geschäftsfähig ist (§ 1786 i.V.m. § 106 BGB) 41 . Am 5. Juli 2012 trat eine Neuregelung (Kleine Reform…) des Vormundschafts- und Betreuungsrechts in Kraft. Die rechtlichen Regelungen sahen nun regelmäßige Kontakte und eine Fallzahlbegrenzung von maximal 50 Vormundschaften für Amtsvormünder vor. Die Häufigkeit der Kontakte wurde dabei gesetzlich mit „in der Regel einmal im Monat“ definiert (§ 1793 Abs. 1a BGB). Diese Formulierung ließ aber auch zu, die Häufigkeit der Kontakte im Einzelfall den Erfordernissen und der Situation der Mündel anzupassen. Die Reform diente dazu, die Pflege und Erziehung eines Mündels persönlich zu fördern und die Qualität der Betreuung zu verbessern. 42 Mit dieser Reform des Vormundschaftsrechts wurden auch die Anforderungen an die Amtsvormünder konkretisiert. Art. 6 Abs. 2 GG und § 1 Abs. 2 SGB VIII bestimmen, dass „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst Ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“. Die Amtsvormundschaft tritt ein, wenn das Kind nicht mehr unter elterlicher Sorge steht oder die Eltern nicht berechtigt sind das Kind oder die, das Vermögen des Kindes betreffenden Angelegenheiten zu vertreten (§ 1773 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB). Mit der Bestellung eines Vormundes wird so sichergestellt, dass jemand die Interessen des Kindes rechtlich wahrnimmt. Auch die Amtsvormünder des städtischen Jugendamtes Konstanz führen ihre Vormundschaften ausschließlich als Interessenvertretung des Kindes, eigenverantwortlich und zum Wohl des Mündels. Daher liegen ihre Hauptaufgaben in der persönlichen Beratung, Unterstützung, Betreuung und gesetzlichen Vertretung des Kindes, in Ergänzung oder anstelle eines oder beider 278 Barbara Behrensmeier <?page no="279"?> 43 Bundesgesetzblatt (BGBl) Teil I, Ausgabe 21/ 2021 vom 12. Mai 2021. 44 F R I T S C H E , Marion: Jugendamt und ehrenamtliche Vormundschaft - Förderung und Kooperation. Eine Orientierungshilfe für die Praxis. Heidelberg 2022, S.-5. Elternteile. Aber auch in dieser Rolle als Elternersatz üben unsere Amtsvor‐ münder nicht nur die gesamte gesetzliche Personen- und Vermögenssorge aus, sondern sie müssen auch immer wieder Akutkonfliktsituationen bewältigen, die nur mit einer persönlichen Beziehung zum Mündel zu lösen sind. Grundsätze der Vormundschaftsreform zum 1. Januar 2023 Obwohl bereits mit der Kleinen Reform des Vormundschafts- und Betreuungs‐ rechts vom 5. Juli 2012 der Vorrang der ehrenamtlichen Vormundschaft geför‐ dert wurde, konnte das Jugendamt weiterhin zum Vormund bestellt werden, wenn „eine als ehrenamtlicher Einzelvormund geeignete Person nicht vor‐ handen ist“ (§ 1791 BGB a. F.). Bei der Einzelvormundschaft handelt es sich um eine unabhängige, langfristige und individuelle Vertretung der Interessen eines Kindes oder Jugendlichen, die nur mit erzieherischem Verständnis und der Fähigkeit, mit Menschen in persönlich schwierigen Lebenssituationen umgehen zu können, wahrgenommen werden kann. Daher erwies es sich in den meisten Fällen als schwierig, geeignete Personen für eine Einzelvormundschaft zu finden. So wurde auch weiterhin regelmäßig das Jugendamt zum Vormund bestellt und übertrug die Aufgabenwahrnehmung auf ihre Amtsvormünder. Anhaltende Reformdiskussionen mündeten 2021 in die „Große Vormund‐ schaftsreform“. Am 12. Mai 2021 wurde das Gesetz zur Reform des Vormund‐ schafts- und Betreuungsrechts im Bundesgesetzblatt veröffentlicht 43 und am 1. Januar 2023 in Kraft gesetzt. Ein zentrales Ziel dieser Reform ist, neben der Stärkung der rechtlichen Position von Kindern und Jugendlichen in Vormund‐ schaften, der Grundsatz der Förderung ehrenamtlicher Vormundschaften. 44 Durch diese Gesetzesänderung soll der Automatismus, Vormundschaften grundsätzlich auf Amtsvormünder zu übertragen, unterbrochen werden. Kern‐ punkte des neuen Vormundschaftsrechts sind die Stärkung der ehrenamtlich geführten Einzelvormundschaften, die Verpflichtung der Jugendämter, Maß‐ nahmen zu ergreifen, um für jedes Mündel den am besten geeigneten (ehren‐ amtlichen) Vormund zu akquirieren, zu qualifizieren, zu begleiten und zu unterstützen. Die ehrenamtliche Vormundschaft wird damit in den Fokus gestellt und ein ehrenamtlicher Vormund, bei gleicher Eignung, den Amtsvor‐ mündern vorgezogen. Niederschlag finden diese Änderungen vorwiegend in den Mitwirkungs- und Mitteilungspflichten nach den §§ 53 und 57 SGB VIII neue Fassung (n.F.). Eine weitere Neuerung ist aber auch die Vorschrift, diese Die Amtsvormundschaft 279 <?page no="280"?> Aufgaben zwingend funktionell, organisatorisch und personell von den übrigen Aufgaben des Jugendamtes zu trennen (§ 55 Abs. 5 SGB VIII n.F.). Aufgrund der Einführung dieser Vorschrift, war es nun nicht mehr möglich, einer Fachkraft, welche die Aufgaben des Jugendamtes als Vormund wahrnimmt, gleichzeitig mit den Aufgaben der Mitwirkungspflichten zu betrauen. Das machte es auch für das Stadtjugendamt Konstanz notwendig, eine gesonderte „Koordinationsstelle Vormundschaften und Pflegschaften“ zu schaffen, als Schnittstelle zwischen Jugendamt und Familiengericht. Diese Schnittstelle wurde nahm am 1. Januar 2024 ihre Arbeit auf. Für das Gelingen der Arbeit der Koordinationsstelle ist aber auch eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Amtsvormündern, dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) und dem Pflegekinderdienst (PKD) des Stadtjugendamtes Konstanz unabdingbar. Zur Festlegung neuer Arbeitsabläufe, Grenzsetzung und Aufgabenzuordnung werden eigene Kooperationsvereinba‐ rungen erarbeitet, die ein Zusammenspiel aller Beteiligten gewährleistet und ein hohes Maß an Qualitätssicherung in der Arbeit mit den Mündeln garantiert. 280 Barbara Behrensmeier <?page no="281"?> Arbeitsbesprechung des Stadtrats mit Ministerpräsident Filbinger (Bildmitte) im Insel- Hotel, rechts daneben: Oberbürgermeister Bruno Helmle, Bürgermeister Willy Weilhard und Stadträtin Klara Leonhard, 1972 (StadtA Konstanz Z1.839) <?page no="282"?> Bundesinnenminister Werner Maihofer, ein gebürtiger Konstanzer, (links) besucht einen Kindergarten seiner Heimatstadt, um 1978 (StadtA Konstanz Z1.438) <?page no="283"?> 1 B E R G E R , Manfred: Geschichte des Kindergartens. Von den ersten vorschulischen Ein‐ richtungen des 18. Jahrhunderts bis zur Tagesstätte im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2016, S.-7. 2 Ebd., S.-8. Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung Zur Entwicklung der frühkindlichen Betreuung, Erziehung und Bildung Clemens Luft Die Geschichte der Kinderbetreuung in Konstanz zeigt über viele Jahrzehnte hinweg eine kontinuierliche Entwicklung und Anpassung an die sich wan‐ delnden gesellschaftlichen Bedürfnisse und Verhältnisse. Von den ersten Ein‐ richtungen vor hundert Jahren bis zu den modernen Kindertagesstätten von heute spielt die durch das Sozial- und Jugendamt verantwortete Kinderbe‐ treuung in Konstanz eine zentrale Rolle in der Unterstützung von Familien und bei der Bildung der jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft. 1. Der „Kindergarten“: Anfänge der Kindertagesbetreuung Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich verstärkt nebenfamiliäre Betreu‐ ungs- und Erziehungseinrichtungen. Durch die kulturellen, politischen und ökonomischen Veränderungen, „die das traditionelle Gesellschaftsgefüge er‐ schütterten und zu einer Neuordnung vieler Lebensbereiche führten, entstanden unterschiedliche vorschulische Einrichtungen, um die Betreuungsnotstände in Familien sowie die Vernachlässigung der Jüngsten aufzufangen.“ 1 Waren die ersten Einrichtungen für Kinder zunächst noch eher Verwahranstalten oder Kleinkinderschulen 2 so änderte sich dies mit der „Stiftung“ und der Gründung des ersten „Kindergartens“ im Jahr 1840 durch Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782-1852). Fröbel entwickelte die Idee eines „Kindergarten“ als jenen Ort, an <?page no="284"?> 3 E R N I N G , Günter/ N E U M A N N , Karl/ R E Y E R , Jürgen (Hg): Geschichte des Kindergartens. Band 1: Entstehung und Entwicklung der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, Freiburg i.Br. 1987, S.-37. 4 A D E N -G R O S S M A N N , Wilma: Der Kindergarten. Geschichte - Entwicklung - Konzepte, Weinheim 2011, S.-42. 5 Ebd., S.-46. 6 F R I E D E B E R G , E[dmund]/ P O L L I G K E I T , W[ilhelm]: Das Reichsgesetz der Jugendwohlfahrt. Berlin, Köln 1955, S.-59. 7 E R N I N G (wie Anm. 3), S.-72. 8 F R I E D E B E R G (wie Anm. 6), S.-2. 9 A D E N - G R O S S M A N N (wie Anm. 4), S.-47. dem Kinder durch Spielen und geführte Aktivitäten lernen konnten. „Im ‚Spiel des Kindes‘ sah Fröbel das Fundament einer bildenden Auseinandersetzung mit der Welt und dem eigenen Ich.“ 3 Durch die wachsende Erwerbstätigkeit der Frauen während des Ersten Weltkrieges stieg auch die Nachfrage nach Kinderkrippen, Kindergärten und Horten, die bei weitem nicht befriedigt werden konnte. 4 Nach dem Ersten Weltkrieg war „die Notlage der Kinder […] so offensichtlich“, dass eine gesetzliche Regelung der Kinder- und Jugendfürsorge unumgänglich war. So wurde - wie schon von der Reichsschulkonferenz 1920 empfohlen - der Kindergarten nun als Teil der Jugendhilfe im Reichsjugendwohlfahrtsge‐ setz (RJWG) von 1922 verankert. 5 Damit wurde die Verantwortlichkeit des Staates hinsichtlich der Erziehung der Kinder betont, dennoch sollten staatliche Stellen nur dann „fallweise“ eingreifen, wenn eine Verletzung der elterlichen Erziehungsrechte und -pflichten vorlag 6 , d. h. erst wenn der Anspruch der Erziehung von der Familie nicht erfüllt werden konnte, sollten subsidiär - also nachrangig - Einrichtungen und Maßnahmen der öffentlichen Jugendhilfe aktiv werden. 7 Weiterhin wurde im Paragraph 4 des RJWG das Primat der bestehenden Wohlfahrtsverbände und freien Träger bestätigt: „Aufgabe des Jugendamtes ist es ferner, Einrichtungen und Veranstaltungen anzuregen, zu fördern und gegebenenfalls zu schaffen.“ 8 Durch das RJWG waren so die Weichen für die gesellschaftliche Kleinkinderziehung für einen langen Zeitraum gestellt und konnte auf dieser Basis in Konstanz 1924 das Stadtjugendamt gegründet werden. 9 284 Clemens Luft <?page no="285"?> 10 E R N I N G (wie Anm. 3), S.-68. 11 R O N D H O L Z , Laura: „Bericht über die Horttätigkeit im Winter 1925/ 26“ in: StadtA Konstanz S XII 405: Örtliche Erholungsfürsorge 1925: Errichtung eines Kinderhortes, Konstanz 1926, S.-1. 12 R O N D H O L Z , Laura: „Bericht über die Horttätigkeit im Winter 1926/ 27“ in: StadtA Konstanz S XII 405: Örtliche Erholungsfürsorge, 1925: Errichtung eines Kinderhortes, Konstanz 1927, S.-1. 13 Ebd., S.-2. 2. Die ersten Betreuungseinrichtungen in Konstanz seit 1925 In den folgenden Jahren der „Weimarer Republik“ (1918-1933) wurde der Kindergarten verstärkt als Teil der öffentlichen Bildung anerkannt und wei‐ terentwickelt. Es wurde die Kindergartenpädagogik durch neue didaktischmethodische Konzeptionen (u. a. Maria Montessori, Rudolf Steiner) erweitert und organisatorisch-strukturell reformiert. 10 Primär blieb jedoch die Aufgabe des Kindergartens als „Nothilfeeinrichtung“ insbesondere für jene Familien, die ihrem Erziehungsauftrag nicht nachkommen konnten, ein entsprechendes Be‐ treuungsangebot bereitzustellen. Durch Horte für Kinder, die tagsüber geöffnet waren, sollte dieses Unterstützung und Hilfe vorrangig realisiert werden. Unter der Begleitung des Jugendamtes Konstanz entstanden in dieser Zeit in Konstanz die ersten Einrichtungen der Kindertagesbetreuung. Am 15. Oktober 1925 wurde in den Räumlichkeiten der Jugendherberge in der Unteren Laube 26 erstmals ein Hort mit zwei Aufenthaltsräumen täglich jeweils von 14 bis 19 Uhr eröffnet. Täglich kamen 60 bis 70 Kinder an diesem Ort zusammen. Schwester Laura Rondholz beschreibt in ihrem Bericht vom 6. Mai 1926 die damalige Situation: Der Hort war zunächst für jene Schulkinder, deren Eltern „im Erwerbsleben standen, doch ergaben sich oftmals die Verhältnisse, dass auch die kleineren Geschwister, die sich sonst selbst überlassen gewesen wären, Aufnahme fanden.“ 11 Im darauffolgenden Jahr (9. April 1927) schreibt Sr. Laura Rondholz in ihrem „Bericht über die Horttätigkeit im Winter 1926/ 27“: „Im Gegensatz zum vergangenen Winter standen diesmal […] ein weiterer Spielsaal zur Verfügung, was bei der großen Zahl der Kinder unbedingt notwendig war.“ 12 Betreut wurden die Kinder von fünf Personen: „Die Leiterin, 2 Helferinnen, 1 Junglehrer und 1 Helferin für die Kleinkinder […].“ Es waren insgesamt 160 Kinder angemeldet „von denen täglich 130-140 anwesend waren.“ Wenn es das Wetter zuließ, ging man zum Spielen ins Freie und in den Hof. Ansonsten wurde „in der Hauptsache vorgelesen, gruppenweise gesungen, gebaut, gezeichnet, geknetet, gebastelt. Auch wurden Gemeinschaftsspiele gemacht [und] Beschäf‐ tigung nach Fröbel’schen Muster.“ 13 Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 285 <?page no="286"?> Kindergarten Konstanz erste Hälfte des 20.-Jahrhunderts; StadtA Konstanz Z1.fi.891.1 Kindergarten Konstanz erste Hälfte des 20.-Jahrhunderts; StadtA Konstanz Z1.fi.891.2 286 Clemens Luft <?page no="287"?> 14 R O N D H O L Z (vgl Anm. 12), S.-2-f. 15 Ebd., S.-3. 16 E R N I N G (wie Anm. 3), S.-77. 17 E R N I N G , Günter: Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung - von der Bewahr‐ anstalt zur Bildungsanstalt, in: Max Liedtke (Hg.): Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens. Vierter Band, Bad Heilbrunn 1997, S. 734. 18 E R N I N G (wie Anm. 3), S.-79-80. Einmal pro Woche („Mittwochs“) gingen die Kinder des Hortes spazieren. „Wir hatten in diesem Winter Erlaubnis zum Grenzübertritt bekommen und konnten schöne Spaziergänge am Rhein und den nahen Höhen unternehmen.“ Mit den jüngeren Kindern wurde fast täglich einer der näheren Kinderspielplätze auf‐ gesucht - „am liebsten den beim Emmishofer Zoll […] Um 6 [18] Uhr bekamen die Kinder ein warmes Vesper, bestehend aus Kakao und Brot, Haferflockenbrei, Gries- und Reisbrei [und] Milchsuppe.“ 14 . Ihren Bericht schließt Schwester Laura Rondholz wie folgt: Ich möchte befürworten, den Hort auch weiterhin zu erhalten. Wenngleich die Unterbringung noch keineswegs ideal genannt werden darf und deshalb noch nicht eindringlich genug auf die Kinder eingewirkt werden kann, so sind diese doch wenigstens während der kalten Jahreszeit im Warmen, können ihre Aufgaben machen, stehen unter Aufsicht und bleiben vor den Gefahren der Strasse bewahrt. Hoffentlich findet sich mit der Zeit eine andere Unterbringungsmöglichkeit für den Hort zum erzieherischen Vorteil für die Kinder und zur Erleichterung der mit der Aufsicht betrauten Helferinnen und Helfer. 15 1933 ergaben sich mit der Machtergreifung der NSDAP und die damit begin‐ nenden 12 Jahre der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland gravie‐ rende Veränderungen für die öffentliche Kleinkinderziehung: Im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik wurden die Trägerstrukturen umgestaltet und die nationalsozialistische Erziehungsideologie drang in die Kindergärten ein. 16 Zentrales Ziel der neu gegründeten Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) war, Schritt für Schritt alle Kindertagesstätten - vor allem auch der konfessionellen Träger - zu übernehmen und neue sogenannte „Kinderpflegeeinrichtungen“ zu gründen. Durch den energischen Einspruch der Trägerverbände und manchen elterlichen Widerstand konnte eine umfassende Übernahme oftmals vermieden werden. 17 Dennoch hatte durch den Nationalso‐ zialismus der inhaltliche und strukturelle Umbau des Kindergartenwesens, wie auch durch die personelle Infiltration der Praxis und Ausbildungsstätten mit Parteimitgliedern der NSDAP eine Dimension erreicht, dass nach Kriegsende ein weitgehend zerstörtes Kindergartenwesen zurückblieb. 18 (Zu den NSV- Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 287 <?page no="288"?> 19 R E Y E R , Jürgen: Wenn die Mütter arbeiten gingen. Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland im 19. Jahrhundert in Deutschland, Köln 2 1985, S.-85. 20 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland „I. Die Grundrechte“ Art. 6, Bonn 1949. 21 E R N I N G (wie Anm. 3), S.-86. 22 Ebd., S.-90. Kindergärten in Konstanz siehe auch den Beitrag von Jürgen Klöckler in diesem Band). 3. Aufbau und Ausbau der Kindergärten und Horte in Konstanz nach 1945 In den Jahren nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ übernahmen die Einrichtungen der öffentlichen Kleinkindererziehung wieder ihre ursprüngliche Aufgabe: Hilfen für elternlose-, vernachlässigte und oder von Verwahrlosung bedrohte Kinder - insbesondere, wenn die Mütter arbeiten mussten. 19 Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland legte — wie schon die Weimarer Reichsverfassung (Artikel 119-120) - diesmal jedoch als geltendes Grundrecht in den Ausführungen des Artikels 6 des Grundgesetzes fest, dass die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und zu allererst ihnen obliegende Pflicht sind. 20 Der Rahmen der grundgesetzlichen Verfassung weist also dem Kindergarten in jedem Falle den Charakter eines die Familie ergänzenden und von ihr freiwillig anzunehmenden Erziehungs- und Bildungsangebotes der Jugendhilfe zu. Anders als bei der Schulpflicht (gemäß Artikel 7 GG) besteht für den Besuch des Kindergartens keine Kindergartenpflicht. 21 Die öffentliche Kleinkinderziehung blieb somit weiterhin in der Tradition als familienfürsorgerische Einrichtungsform erhalten. In den ersten Jahren nach 1945 ging es primär darum, den Mangel optimal zu verwalten, in provisorischen Räumen, mit improvisierten Mitteln und kaum vorhandenem Personal die pädagogische Arbeit wieder aufzunehmen. Hierbei war der Rückgriff auf die Organisationsform der öffentlichen Kleinkinder‐ erziehung zur Zeit der Weimarer Republik ein großer Vorteil, „weil sich die verbandlichen Strukturen und Einrichtungen der freien Wohlfahrt und Jugend‐ hilfe nach dem Zusammenbruch als erstaunlich dauerhaft und lebensfähig erwiesen.“ 22 288 Clemens Luft <?page no="289"?> 23 Vgl. die Akte Kindertagestätten - „Allgemeines“, Konstanz 1951-1961; StadtA Konstanz S X 1149. 24 Ebd. 25 E R N I N G (wie Anm. 3), S.-91. Die Dienstaufsicht über die Kindergärten wurde im Land Baden durch einen ministeriellen Runderlass vom 3. Juni 1949 den Jugendämtern übertragen. 23 Darin wurden Richtlinien und Regeln (wie z. B. die Altersgrenzen für Krippe, Kindergarten und Schülerhort) für die Errichtung und den Betrieb von Kinder‐ tagesstätten erlassen. Es wurde u. a. festgelegt, dass die „Kindertagestätten die Aufgaben (haben), das Elternhaus zu unterstützen, nicht zu ersetzen. Sie sollen die Kinder nicht nur bewahren, sondern in ihren körperlichen, charakterlichen und geistigen Entwicklungen fördern.“ Neben den erzieherischen Zielen, den notwendigen Aufgaben und der pädagogischen Ausrichtung wurden auch erfor‐ derliche Details wie Fenstergröße, Toiletten, Möbel u. a. sowie auch räumliche Voraussetzungen präzise beschrieben - wie z.B.: „Die Kindertagesstätte darf nicht in Wirtshäuser und soll nicht in Rat- und Schulhäusern eingerichtet werden.“ Im Personalschlüssel wurde hier festgelegt, dass für 30 Kinder eine „Kindergärtnerin, Hortnerin oder Jugendleiter“ verantwortlich sind. Bei 60 Kindern soll diese durch eine weitere Kinderpflegerin oder Helferin unterstützt werden. 24 In den ersten Nachkriegsjahren wurden die bestehenden Kindertagesstätten- Räume leihweise durch die Besatzungstruppen beschlagnahmt - so u. a. in Konstanz-Peterhausen durch das französische Militär. In der Petershausener Schule wurde für einige Zeit ein deutsch-französischer Kindergarten einge‐ richtet, den sowohl deutsche wie auch französische Kinder besuchten. Über Jahre hinaus blieb das Platzangebot in den Kindergärten unzureichend. Die Versorgungsdichte war zwar regional sehr unterschiedlich, im Durchschnitt konnte aber laut Statistischem Bundesamt etwa 1974 nur ca. ein Drittel aller dreibis sechsjährigen Kinder aufgenommen werden. 25 4. Von der Betreuung zur Bildung: Frühe Kindheit und Elementarpädagogik Mit dem Jugendwohlfahrtsgesetz ( JWG) im Jahre 1953 (Novellierungen 1961 und 1970) hatte das Jugendamt Konstanz wieder die Aufsicht über die öffentliche Kleinkinderziehung erhalten. Neben dem grundsätzlich garantierten Vorrang des Elternrechts wurde auch dauerhaft die Vorrangigkeit der freien Trägerschaft gegenüber staatlichen Einrichtungen in der Jugendhilfe festgelegt (§-5 JWG): Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 289 <?page no="290"?> 26 E R N I N G , Günter (Hg.): Quellen zur Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung. Von den ersten Bewahranstalten bis zur vorschulischen Erziehung der Gegenwart, Saarbrücken 1976, S.-192 f. 27 E R N I N G (wie Anm. 3), S.-97. 28 Ebd., S.-98 f. Das Jugendamt hat unter Berücksichtigung der verschiedenen Grundrichtungen der Erziehung darauf hinzuwirken, daß die für die Wohlfahrt der Jugend erforderli‐ chen Einrichtungen und Veranstaltungen ausreichend zur Verfügung stehen. Soweit geeignete Einrichtungen und Veranstaltungen der Träger der freien Jugendhilfe vorhanden sind, erweitert oder geschaffen werden, ist von eigenen Einrichtungen und Veranstaltungen des Jugendamtes abzusehen. Wenn Personensorgeberechtigte unter Berufung auf ihre Rechte nach § 3 die vorhandenen Träger der freien Jugendhilfe nicht in Anspruch nehmen wollen, hat das Jugendamt dafür zu sorgen, daß die insoweit erforderlichen Einrichtungen geschaffen werden. 26 Die Sozial- und Jugendämter sind damit für die Einrichtung und Förderung der erforderlichen Institutionen wie Krippen, Kindergärten und Horte zuständig, aber stets nach dem Subsidiaritätsprinzip, d. h. die Sozial- und Jugendämter werden erst nachrangig aktiv. 27 So sind bei der Einrichtung von Kindertages‐ stätten zunächst die Träger der freien Jugendhilfe zu berücksichtigen, also die Vereinigungen der Jugendwohlfahrt, d. h. die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege wie Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, Diakoni‐ sches Werk, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Rotes Kreuz, aber auch Jugendverbände und Jugendgemeinschaften sowie juristische Personen und natürlich auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften öffentlichen Rechts. Erst wenn sich unter diesen keiner zur Trägerschaft bereitfindet, übernehmen die Sozial- und Jugendämter der Kommunen und Landkreise die Einrichtung und den Betrieb von Kindergärten. Die Sozial- und Jugendämter haben daher die Aufgabe, den Bedarf an Plätzen für Krippen, Kindergärten und Horte festzustellen und mit Hilfe von freien, bei Bedarf auch öffentlichen Trägern, entsprechende Einrichtungen zu schaffen. In die Zuständigkeit der Träger fallen die Planung und der Betrieb von Einrichtungen, die Anstellung des Personals, die Festlegung der Erziehungsrichtlinien und die Rechtsvertretung der Kindergärten. 28 Nach der Volkszählung vom Jahr 1961 hatte die Stadt Konstanz 52.651 Einwohner. Hiervon waren 796 Kinder unter einem Jahr, 769 Kinder unter zwei Jahren, 2583 Kinder zwischen 3 und 6 Jahren - im vorschulpflichten Alter lebten also insgesamt 4148 Kinder in Konstanz. Weitere 2254 Kinder der Stadt waren im Alter von sechs bis neun Jahren. Insgesamt wohnten 8789 290 Clemens Luft <?page no="291"?> 29 Schreiben des Sozial- und Jugendamts an das Baudezernat vom 2. April 1965; StadtA Konstanz S X 1227. 30 Ebd., S.-4. Kinder unter 14 Jahren in Konstanz - dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von 16,6 Prozent. 29 Das Sozial- und Jugendamt analysiert in seinem Schreiben an Bürgermeister Weilhard und das Baudezernat u. a. den zu erwartenden Bedarf an Kinderspielplätzen, Kinderkrippen, Kindergärten und -Horte sowie Kinderheimen. Da es bis 1965 noch keine Kinderkrippe in Konstanz gab, hielt das Sozial- und Jugendamt den Aufbau einer Kinderkrippe in Konstanz für erforderlich: Man wird also eine Kinderkrippe vor allen Dingen in industriellen Wohngegenden miteinplanen müssen, wobei sich eine Anlehnung an einen vorhandenen oder neu zu schaffenden Kindergarten ohne weiteres als zweckmäßig erweisen könnte. 30 Kindergarten Zoffingen 1961/ 62; Regina Graf-Martin (Privatbesitz) Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 291 <?page no="292"?> 31 Südwestdeutsche Rundschau vom 4. März 1957. 32 S O Z I A L - U N D J U G E N D A M T K O N S T A N Z (vgl. Anm. 29), S.-4 f. 33 Ebd., S.-5. 34 B L O C H M A N N , E[lisabeth]: Pädagogik des Kindergartens (1928), in: Bittner, G[ün‐ ther]/ Schmid-Cords, E[dda] (Hg.): Erziehung in früher Kindheit, München 1970, S. 329. Gab es in Konstanz im Jahr 1957 zwölf Kindergärten für insgesamt 805 Kinder 31 so waren es 1965 weiterhin zwölf Kindergärten (elf Regelkindergärten und ein Betriebskindergarten (Firma Stromeyer) doch nun mit insgesamt 1050 Plätzen. Das Sozial- und Jugendamt ermittelte auch hier den zu erwartenden Bedarf an weiteren Kindergärten: In Relation zur entsprechenden Gesamtzahl der Kinder in Konstanz in diesem Alter ergibt sich, dass für jedes 3. Kind etwa 1 Kindergartenplatz zur Verfügung steht. […] Es ist aber nicht zu verkennen, dass die jetzt vorhandenen Plätze nicht ganz ausreichen. Mangel an Kindergartenplätzen besteht zunächst noch im Altstadtgebiet, dann aber besonders in Allmannsdorf, sowie im Stadtteil Petershausen. Bei der heutigen Bevöl‐ kerungszahl hielten wir einen Bedarf von ca. 1.300 bis 1.400 Kindergartenplätze als gegeben. Bei einem Wachstum der Stadt bis zu einer Einwohnerzahl von 90.000 müsste man unter Zugrundelegung einer Höchstbelegung von 120 Kindern pro Kindergarten insgesamt 20 Kindergärten zur Verfügung haben, also 8-9 Kindergärten mehr als im Augenblick errichtet sind. Diese Kindergärten müssten auf die Neubaugebiete und die Gebiete, in denen jetzt schon ein zusätzlicher Bedarf vorhanden ist, aufgeteilt werden. 32 Auch die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus der Schülerhorte sowohl im Altstadtgebiet wie auch in den neueren Siedlungsgebieten wurde aufgezeigt. 33 Die Kindergartenpädagogik der beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte war noch durch die reformpädagogische Variante der Fröbel’schen Bildungstheorie geprägt, in deren Zentrum die „Pflege des kindlichen Tätigkeitstriebes“ und die auf eine spontane Entwicklung des Kindes in einer kindgemäß gestalteten Umgebung des Kindergartens vertraute: Die Arbeit im Kindergarten […] ist durch zwei Momente formaler Art gekennzeichnet. Das erste ist die Atmosphäre von Behaglichkeit und Wärme, Heiterkeit und Frische, die dort herrscht und jeden, der zum ersten Mal als Besucher hinkommt, bezaubern wird. […] Das zweite ist der Rhythmus des Lebens, das heißt der natürliche Wechsel zwischen Bewegung und Ruhe, Anspannung und Entspannung, Aufnehmen und Schaffen, der die Tagesordnung durchzieht. Für beides zu sorgen ist die Hauptaufgabe der Kindergärtnerin. 34 292 Clemens Luft <?page no="293"?> 35 A D E N - G R O S S M A N N (wie Anm. 4), S.-86 ff. 36 B A R R E S , E[gon]: Faktische Erziehungsarbeit in vorschulischen Institutionen. Ergeb‐ nisse empirischer Bestandsaufnahmen. in: Dollase, R[ainer] (Hg.): Handbuch der Früh- und Vorschulpädagogik, Bd.-1, Düsseldorf 1978, S.-247 ff. 37 A D E N - G R O S S M A N N (wie Anm. 4), S.-92. 38 Ebd., S.-93. Allerdings entsprach diese Idylle eher einer „heilen Welt“ im Kindergarten und selten der gesellschaftlichen Realität. Die Tagesabläufe waren oftmals stark geregelt und die Einteilung der Zeiten erinnerten an die Tradition der früheren Bewahranstalten: 35 Der Vormittag begann in der Regel mit einer Freispielphase im Gruppenraum. Nach dem Aufräumen, dem sich zumeist ein gemeinsamer Gang in den Waschraum bzw. auf die Toilette anschloss, folgte in der Regel das gemeinsame Frühstück, eingeleitet durch Liedersingen oder Gebet. Anschließend wurde eine etwa einstündige gelenkte Spielphase angeboten. Diese gelenkten Spielphasen - sogenannte „Beschäftigungen“ - dominierten Sing-, Kreis- und Fingerspiele, Liedersingen und Liederlernen. Es wurden darüber hinaus gezielt durchgeführte Sprach- und Denkübungen, Rollenspiele, rhythmische Bewegungs- und verkehrserzieherische Übungen durchgeführt. In der sozialen Erziehung wurden erhebliche Anpassungsvorleistungen an die Verhal‐ tensnormen des späteren Schulalltags erbracht im Sinne traditioneller erzieherischer Wertorientierungen: Bravsein, Ruhigsein, Gehorsam, gute Manieren und die Fähigkeit des Sich-Einfügens in eine fremdbestimmte Ordnung. 36 In der Bundesrepublik standen in den sechziger Jahren nur für etwa ein Drittel aller Kinder zwischen drei und sechs Jahren Plätze in Kindergärten zur Verfügung. Eine Erhöhung hielt man nicht für wünschenswert, denn noch galt der Kindergarten als eine sozialfürsorgerische Einrichtung ohne Bildungsauftrag. Entsprechend dem geringen Ansehen war auch der Ausbildungsstand der Mitarbeiterinnen niedrig. Es bestand ein eklatanter Mangel an fachlich qualifiziertem Personal. Nur etwa 45 % der Mitarbeiterinnen hatte eine abgeschlossene Ausbildung als Erzieherin oder (seltener) als Sozialpädagogin. Neben Kinderpflegerinnen, Kinderkrankenschwestern und Praktikantinnen gab es eine große Zahl von Kräften, die überhaupt keine pädagogische Ausbildung hatten. 37 Drei Aspekte verhinderten, dass sich der Kindergarten aus sich heraus refor‐ mieren konnte: Erstens: „Er galt als eine sozialfürsorgerische Einrichtung, nicht aber als eine pädagogische Institution mit einem eigenen Bildungs- und Erziehungsauf‐ trag“. 38 Zweitens: „Eine konservative Sozial- und Bildungspolitik verhinderte die Vermehrung der Kindergartenplätze, um den Trend zur Berufstätigkeit Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 293 <?page no="294"?> 39 K A S Ü S C H K E , Dagmar/ F R Ö H L I C H -G I L D H O F F , Klaus: Frühpädagogik. Herausforderungen an Disziplin und Profession, Köln 2008, S.-38. 40 A D E N - G R O S S M A N N (wie Anm. 4), S.-94. 41 Ebd. 42 E R N I N G (wie Anm. 3), S.-106 f. der verheirateten Frauen mit Kindern nicht indirekt zu unterstützen, sondern ihm entgegenzuwirken. Drittens: Die Ausbildung der Erzieher oblag nicht wis‐ senschaftlichen Hochschulen, sondern Fachschulen. Zulassungsvoraussetzung für die Ausbildung war in der Regel die Mittlere Reife. Der Schwerpunkt der Ausbildung lag auf musisch-praktischen Fächern, denen gegenüber die theoretische Ausbildung in den Hintergrund trat. 39 In den Nachwirkungen aus dem sogenannten „Sputnik-Schock“ (1957) und dem daraus ausgerufenen Bildungsnotstand verstärkte sich Ende der 1960er Jahre die Kritik am „klassischen Kindergarten“ und die traditionelle weit‐ gehende Gestaltungsunabhängigkeit der öffentlichen Kleinkindererziehung wurde grundsätzlich in Frage gestellt. Im „Strukturplan“ des Deutschen Bil‐ dungsrates von 1970 wurden die Reformvorschläge der ausgehenden 1960er Jahre für eine „frühkindliche Bildung“ vorläufig zusammengefasst: Der Kin‐ dergarten wurde nun erstmals als „Elementarbereich“ dem künftigen Bil‐ dungssystem zugeordnet. Neben die bisherige sozialpolitische Aufgabe der Versorgung oder Bewahrung von tagsüber unversorgten Kindern trat jetzt als vorrangige Aufgabe die allgemeine pädagogische Förderung möglichst aller Kinder. Der Elementarbereich „soll daher so ausgebaut werden, daß möglichst vielen Drei- und Vierjährigen Gelegenheit geboten wird, regelmäßig einen Kindergarten zu besuchen“ 40 Die Kindergartenpädagogik sollte reformiert, neu strukturiert und geeignete Curricula und Programme entwickelt werden. „Jede Kindergartengruppe soll von einer pädagogischen Fachkraft, auf lange Sicht möglichst mit der Qualifikation eines Sozialpädagogen ausgestattet, betreut werden und eine Größe von 12 bis 15 Kindern aufweisen“ (Deutscher Bil‐ dungsrat 1970). 41 Der Bildungsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 1970 nahm die vorgeschlagenen Reformmaßnahmen in sein Programm auf und erklärte die „Elementarerziehung zum ersten und wichtigsten Schritt in der Schulreform“ (Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 1970). 42 Der Kindergarten, der über Jahrzehnte hinweg ausschließlich ein Gegenstand der Sozialpolitik war, wurde nun mit den Anforderungen und Erwartungen von Bildungs‐ politikern konfrontiert. Durch eine frühzeitige Förderung sollten soziale Benachteili‐ gungen ausgeglichen werden, durch ihn sollten Kinder gezielt auf die Anforderungen der Schule vorbereitet werden. Die durch die Bildungspolitik in Gang gesetzte Reform 294 Clemens Luft <?page no="295"?> 43 A D E N - G R O S S M A N N (wie Anm. 4), S.-94. 44 Ebd., S.-159. 45 Bericht zum Kindergartenwesen in der Stadt Konstanz 1976-1978 (Stand: Herbst 1977), S.-2; StadtA Konstanz S XII 1153. 46 Ebd. 47 Schwarzwälder Bote vom 23. Juni 1976 oder auch das Schreiben des evangelischen Gemeindedienstes an das Kreisjugendamt Konstanz vom 2. Juli 1976. 48 Bericht (vgl. Anm. 45), S.-4. hat in dem darauf folgenden Jahrzehnt die Institution Kindergarten grundlegend verändert. 43 Für den Kindergarten bedeuteten die vom Deutschen Bildungsrat formulierten Bildungspläne (s. o.) eine entscheidende Wende - wurde dem Ausbau des Elementarbereiches jetzt oberste Priorität eingeräumt. So sollten die Zahl der Plätze in Vorschuleinrichtungen innerhalb von zehn Jahren verdoppelt und die durchschnittliche Gruppenstärke auf ein pädagogisch vertretbares Maß gesenkt werden. Ebenso sollten nun Bildungspläne entwickelt werden, die vor allem auf die Förderung der kognitiven Fähigkeiten des Kindes zielen, und die Ausstattung der Kindergärten mit Material verbessert werden. Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule sollte so gestaltet werden, dass die „Kontinuität der Erziehungs- und Bildungsprozesse gewahrt bleibt.“ 44 In Konstanz hat sich daher die Zahl der Kindergärten in den 1970er Jahren deutlich erhöht. So gibt es nun 18 Kindergärten, die vorwiegend in katholischer und evangelischer Trägerschaft sind. 45 Hinzukommen weitere Einrichtungen in der Schwedenschanze, an der Universität, ein Privatkindergarten im Alp‐ steinweg, eine Kindergartengruppe im Schülerhort an der Blarerstraße sowie zwei Betriebskindergärten (Mainau und Fa. Stromeyer), so dass nun insgesamt 25 Kindertagesstätten in Konstanz zur Verfügung stehen. Die Versorgung der Kinder der Stadt Konstanz ist in dieser Zeit insgesamt gut und auch besser als im Landesdurchschnitt, so das Statistische Landesamt Baden-Württemberg vom 14. August 1973 - obgleich es deutliche Unterschiede zwischen den Stadtteilen gibt: So müssen in Allmannsdorf und Peterhausen Kinder abgewiesen werden, hingegen haben die Kindergärten in Dettingen und Wallhausen und alle links‐ rheinischen Kindergärten noch freie Plätze. 46 Durch die sich verringernden Geburtenzahlen in den 1970er Jahren erwarten einige Konstanzer Kindergärten jedoch auch nicht belegte Kindergartenplätze. 47 „Wenn die rückläufige Tendenz […] anhält, kann sich für den einen oder anderen Kindergarten in den nächsten Jahren die Existenzfrage stellen“ 48 . Diese schwierige wirtschaftliche Situation einiger Kindergärten beschreibt auch Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 295 <?page no="296"?> 49 Konradsblatt Nr.-30 vom 25.-31. Juli 1976. 50 Vgl. den Artikel „Wir werden betteln gehen“. Kindergärten in Finanznot - Sorge um die Kleinen in Konstanz, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 27. Juli 1976. 51 Vgl. den Artikel „In den Kindergärten am Stadtrand drängeln sich die Kleinen“, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 17. August 1977. 52 Bericht (wie Anm. 45), S.-5. Dekan Emanuel Frey in seinem Artikel „Die Sorge der Kleinen bleibt unsere Sorge“ 49 : Meines Erachtens liegen die Gründe für das nachlassende Interesse unserer Gesell‐ schaft an den Kindergärten auf der Hand: Die Kinderzahlen nehmen ab, wir treffen immer mehr arbeitsuchende Erzieherinnen an, die Berufspraktikantinnen tun sich schwer, eine Stelle zu finden, die sie so notwendig für einen Berufsabschluß brauchen. Die Defizite der Kindergartenträger erhöhen sich. 50 Sowohl die vom Deutschen Bildungsrat neu gesetzten Prioritäten für den Ele‐ mentarbereich (s. o.) als auch das erste Kindergartengesetz in Baden-Württem‐ berg (1975) und die dadurch geänderten Landesvorschriften für die Kindergärten wirken sich auch auf die Konstanzer Kindergärten aus: So verringerte sich die Gruppengröße von 30 Kindern im Jahr 1977 auf 25 Kinder im Jahr 1982. Durch freie Plätze und Schichtbetrieb in einigen Kindergärten liegt die durch‐ schnittliche Gruppenstärke in Konstanz im Jahr 1977 bei 23,7 Kindern und damit deutlich unter der zulässigen Obergrenze - obwohl in einigen Kindergärten wie in St. Georg oder im Kreuzkindergarten Allmannsdorf die Höchstgrenze von 30 Kindern pro Gruppe überschritten wird. 51 Auch die Personalausstattung muss den neuen Vorgaben entsprechen: Nach den Landesrichtlinien muß jede Gruppe mindestens eine Kindergärtnerin oder eine für die Gruppenleitung gleichgestellte Kraft haben. Für je 2 Gruppen muß zusätzlich eine Mitarbeiterin (Kinderpflegerin, Praktikantin) zur Verfügung stehen. 52 Der Bericht stellt abschließend fest: Durch den starken Geburtenrückgang, verbunden mit sogenannten Wanderungsver‐ lusten, ist im Kindergartenbereich eine beachtliche Veränderung eingetreten. Bei einer leichten Unterversorgung für Allmannsdorf, Petershausen und teilweisem Schicht‐ betrieb, sowie einer Überkapazität vor allem für den linksrheinischen Bereich, ist insgesamt eine gute Versorgung mit Kindergartenplätzen gegeben. Von der deutschen Bevölkerung wird der Kindergarten zur Zeit fast zu 100 % in Anspruch genommen. Bei den Ausländerfamilien sind es rund 50 %. […] Durch den weiteren Rückgang der Jahrgangsstärken wird auch der teilweise noch vorhandene Schichtbetrieb nach und nach an Bedeutung verlieren. Eine Kapazitätserweiterung ist aus heutiger Sicht nicht 296 Clemens Luft <?page no="297"?> 53 Ebd., S.-9. 54 A R B E I T S G R U P P E V O R S C H U L E R Z I E H U N G : Arbeitsgruppe III: Didaktische Einheiten im Kin‐ dergarten München 1976, S.-15. 55 A D E N - G R O S S M A N N (wie Anm. 4), S.-179. 56 Vgl. K O R C Z A K , Janusz: „Wie man ein Kind lieben soll“ und UN-Kinderrechtskonvention von 1989; S C H Ä F E R , Gerd E.: Was ist frühkindliche Bildung? Kindlicher Anfängergeist in einer Kultur des Lernens, Weinheim 2011, S.-58 ff. und S.-94 f. zu empfehlen. […] Verbunden mit einer, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, ausreichenden Personalausstattung sind damit gute äußere Bedingungen für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit gegeben. 53 5. Konzeptionelle Entwicklung der Kindheitspädagogik in Konstanz: Kindertagesstätten, Kinderhäuser, Familienzentren, Bildungshäuser In den folgenden Jahren ist die Kindergartenpädagogik von zahlreichen struk‐ turellen und konzeptionellen Veränderungen geprägt. So wurde in zahlreichen Kindergärten in Konstanz in den späten 1970er und 1980er Jahren nach dem so‐ genannten „Situationsansatz“ gearbeitet. Im Mittelpunkt des Situationsansatzes stand die Entwicklung des „Sozialen Lernens“, das von der Arbeitsgruppe „Vorschulerziehung“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München entwickelt wurde. Die pädagogische Arbeit hatte das Ziel, „Kinder verschiedener sozialer Herkunft und mit unterschiedlicher Lerngeschichte zu befähigen, in Situationen ihres gegenwärtigen und künftigen Lebens möglichst autonom und kompetent denken und handeln zu können.“ 54 Lernen wurde damit „als gemeinsamer Erfahrungs- und Kommunikationsprozess gesehen, in dem alle Beteiligten Lehrende und Lernende sein können, in dem Erzieher nicht mehr die allein sachverständige Rolle innehaben.“ 55 Insbesondere sollten dabei unterschiedliche Kompetenzen des Kindes entwickelt und unterstützt werden: Ich-Kompetenz, soziale Kompetenz, Sachkompetenz und lernmethodische Kompetenz. Der Ausbau des Elementarbereichs in den folgenden Jahren brachte weitere pädagogische Konzeptionen hervor, die alle durch ein verändertes „Bild vom Kind“ geprägt sind: Das Kind wird jetzt vermehrt als „Akteur seiner Entwick‐ lung“ gesehen und das eigen- und selbstständige forschende Lernen wird in den Mittelpunkt gerückt. Ebenso sollen Kinder - wie auch Eltern - vermehrt an Entscheidungen beteiligt werden (Partizipation) und die „Rechte der Kinder“ werden bewusster wahrgenommen 56 . Der Anspruch auf den Besuch eines Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 297 <?page no="298"?> 57 Es folgten 1999 „Rechtsanspruch auf Besuch eines Kindergartens“ (§ 24 Abs 3 SGB VIII) und seit 2013 ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten vollendeten Lebensjahr (§ 24 Abs 2 SGB VIII und Kinderförderungsgesetz (KiFöG)). 58 § 22 SGB VIII. 59 Sozial- und Jugendamt Konstanz: Kindergartenbedarfsplanung in: Kindertagesstätten, Konstanz 1973-1990; StadtA Konstanz S XII Band-1746. Kindergartens vom vollendeten 3. Lebensjahr an (seit dem 1.1.1996) war letztlich eine Folge dieser veränderten Perspektive und Haltung. (§ 24 Abs. 1, SGB VIII) 57 Am 1. Januar 1991 trat das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) in Kraft, das „Bildung, Betreuung und Erziehung“ als gesellschaftliche Gesamtauf‐ gabe definiert 58 . Auf dieser Grundlage fand Anfang der 1990er Jahre in den Konstanzer Tageseinrichtungen auch eine verstärkte Differenzierung der päd‐ agogischen Konzepte und eine Auseinandersetzung bzgl. gelingender frühpäda‐ gogischer Ansätze statt. In Konstanz entstanden neue Einrichtungen u. a. nach den Leitgedanken („Hilf mir, es selbst zu tun“) der Montessoripädagogik (Mon‐ tessori-Kinderhaus) und der Waldorf-Pädagogik nach Rudolf Steiner (Freier Waldorfkindergarten Konstanz). Es wurden Waldkindergärten (Wurzelkinder Waldkindergarten Urisberg) gegründet, Bewegungskindergärten eingerichtet (Seezeit Kinderhaus) und Kindertagesstätten aufgebaut, die nach dem Konzept der Reggio-Pädagogik (u. a. „Raum als dritter Erzieher“) arbeiten (Städtisches Kinderhaus am Rhein). Parallel mussten die Kindergartenplätze auch immer wieder an den jewei‐ ligen Bedarf der Bevölkerung angepasst werden. So stieg der Bedarf für weitere Kindergartenplätze in den 1990er Jahren deutlich an, so dass beispielsweise im Kindergarten in Dettingen eine dritte Gruppe notwendig wurde: „Der Dettinger Kindergarten ist längst zu klein […] kein Wunder, daß sich das Thema ‚Kindergärten‘ zu einem Dauerbrenner im Ortschaftsrat entwickelt.“ (Südkurier vom 17. Mai 1990: „Doppelte Kindergarten-Sorgen - Dritter Gruppenraum wird gebaut.“ Bürgermeister Hansen schrieb am 5. März 1990: „durch die Zuzüge vieler junger Familien […] spitzt sich die Kindergartensituation in Konstanz immer stärker zu“. 59 Parallel zum Ausbau der Kindergartenplätze wurden nun auch Einrichtungen für Kinder mit einem besonderen „Auftrag“ aufgebaut: Die Integrative Kinder‐ tagesstätte „Die Arche“ mit dem Konzept „gemeinsam Leben, Erziehen und Bilden von Kindern mit und ohne Behinderung“ (Caritasverband Konstanz) und unter der „Trägerschaft“ der „von Wessenbergsche Vermächtnisstiftung“ zum „Schutz des Kindeswohls und der Kinderrechte“ das Sozialzentrum Wessenberg, das Sozialzentrum Stockacker und eine erste sozialpädagogische Tagesgruppe 298 Clemens Luft <?page no="299"?> 60 M A A S , Horst: Grußwort zum 25. Jubiläum des Sozialzentrums Stockacker vom 19. September 1998; StadtA Konstanz S XII 2654 61 S O Z I A L - und J U G E N D A M T : Gesamtkonzeption der städt. Tageseinrichtungen für Kinder, Konstanz 3 2022, S.-5. 62 A N D R E S , Beate/ L A E W E N , Hans-Joachim: Das infans-Konzept der Frühpädagogik. Bildung und Erziehung in Kindertagesstätten, Berlin 2011, S.-16. 63 M I N I S T E R I U M F Ü R K U L T U S , J U G E N D U N D S P O R T (Baden-Württemberg): Orientierungsplan für Bildung und Erziehung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren Kindertageseinrichtungen, Fassung vom 15. März 2011, Freiburg i.Br. 2011. im Kinderhaus am See, die später noch ausgebaut und um zusätzliche ambulante Hilfen erweitert wurde. 60 Alle Kindertagesstätten in Konstanz haben sich in den Folgejahren gezielt der Inklusion und der Diversität angenommen und verstärkt darauf geachtet, dass alle Kinder - unabhängig von Herkunft, sozialem Status oder individuellen Bedürfnissen - gleiche Bildungs- und Entwicklungschancen erhalten. Unterstützende Beratungsmöglichkeiten wie z. B. durch die „Fachstelle LenkRat“ ergänzen das Angebot. 1996 haben die städtischen Kitas das Konstanzer Modell der „Offenen Arbeit“ nach dem neuen pädagogischen Ansatz des „Offenen Kindergartens“ nach Axel Wieland entwickelt. Nach dem Konzept der „Offenen Arbeit“ sollen Kinder zu Akteuren und Gestaltern ihrer Entwicklung werden. Das Kind wird hierbei als grundsätzlich aktiv, kompetent und interessiert gesehen und die erziehenden Kräfte verstehen sich als Begleiter, Lernpartner und Moderator. Ab dem Jahr 2002 wurde das infans-Konzept („Institut für angewandte Sozialforschung Berlin“) in einigen Pilot-Einrichtungen in Konstanz erprobt und ab 2005 ver‐ bindlich für alle städtischen Einrichtungen übernommen. 61 Das infans-Konzept stellt für die frühpädagogische Arbeit ein […] Handlungsmodell zur Verfügung, das nachhaltiges Lernen der Kinder ermöglichen soll, indem es an die Themen und Interessen der Kinder anknüpft und Bildungsprozesse der Kinder […] herausfordert. 62 Im Jahr 2005 begann in allen Konstanzer Kindertageseinrichtungen die Imple‐ mentierung des „Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die badenwürttembergischen Kindergärten“ 63 Durch das Inkrafttreten des neuen Kinder‐ gartengesetzes vom 19. März 2009 wird auch der Orientierungsplan - zwar nicht verbindlich - aber dennoch zur Grundlage der frühkindlichen Bildung und Erziehung für alle Kindertageseinrichtungen in Baden-Württemberg. Mit der Endfassung des Orientierungsplans (15. März 2011) lag für Baden-Württemberg damit erstmals ein standardisiertes Gesamtkonzept für alle Tageseinrichtungen für Kinder vor. Der Orientierungsplan - der einem Erziehungs- und Bildungs‐ plan entspricht - betrachtet frühkindliche Bildungsprozesse aus verschiedenen Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 299 <?page no="300"?> 64 Der Orientierungsplan wird durch das „Forum Frühkindliche Bildung Baden-Württem‐ berg“ kontinuierlich weiterentwickelt. 65 Siehe hierzu auch die gesetzlichen Vorgaben im SGB VIII, § 22a Abs. 1 und Abs. 5. 66 S O Z I A L - U N D J U G E N D A M T : Informationsvorlage 2024-4229 (öffentl.) Zukunft des Pro‐ gramms „Sprachkita“ - Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist vom 5. Juni 2024, S.-2. Blickwinkeln: Er berücksichtigt die grundlegenden Motivationen von Kindern (Anerkennung, Wohlbefinden usw.) und fokussiert sechs maßgebliche Bildungs- und Entwicklungsfelder: Körper, Sinne, Sprache, Denken, Gefühl und Mitgefühl sowie Sinn, Werte und Religion. 64 Der Orientierungsplan bietet neben pädagogischen Aspekten auch zu wei‐ teren inhaltlichen Themen wie Beobachtung, Kooperation mit Schulen, Eltern‐ zusammenarbeit und Qualitätsmanagement konkrete Anregungen, Vorgaben und Hilfen an. In vielen Konstanzer Einrichtungen findet daher mit Hilfe unterschiedlicher Instrumente des Qualitätsmanagements (u. a. „Quintessenz“ des Diözesan-Caritasverbandes) eine systematische und standardisierte Quali‐ tätskontrolle und -sicherung statt. 65 Auch die jeweiligen Fachberatungen der unterschiedlichen Träger begleiten individuell und differenziert die Mitarbei‐ tenden und Teams und geben fachliche Unterstützung. Treffen auf Leitungs‐ ebene innerhalb einer Trägerschaft („Leitungskonferenz“) sowie die Vernetzung der unterschiedlichen Träger in der „Projektgruppe“ dienen dem Dialog, der Unterstützung und der Qualitätssicherung. Ebenso wurde die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern an die neuen Herausforderungen angepasst und deutlich erweitert (u. a. „Praxis integrierte Ausbildung (PIA), Bachelor „Frühe Kindheit“, Studiengang „Frühpädagogik“) sowie durch zahlreiche Fortbildungen gestärkt (z. B. Fachwirt für Organisation und Führung (FOF), „BFQ für Kinder Unter Drei“, Fortbildung „Praxisanleiter/ in und vieles mehr). Viele dieser Ver‐ änderungen mussten sowohl seitens der Einrichtungsträger wie auch vom Sozial- und Jugendamt Konstanz aufgegriffen und konzeptionell im Alltag der Kindertagesstätten verankert werden. 6. Vielfalt und Eigenständigkeit in der Kindertagesbetreuung In den folgenden Jahren intensivierte sich der Blick auf die frühkindliche Bildung und Erziehung: Programme zur Sprachförderung („SprachKita“), natur‐ wissenschaftlichen Bildung („Haus der kleinen Forscher“), Medienerziehung und „Inklusive Pädagogik“ wurden weiter entwickelt und in den Kindertages‐ stätten integriert. Im Jahr 2024 gibt es in Konstanz zehn Sprachkitas - vier in freier und sechs in kommunaler Trägerschaft. 66 Neben der gezielt „alltagsin‐ 300 Clemens Luft <?page no="301"?> 67 Vgl. Sprachförderpaket für den frühkindlichen Bereich „SprachFit“ des Landes Baden- Württemberg ab 2024/ 25. 68 K O N R A D , Franz-Michael: Der Kindergarten - Seine Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart. Freiburg 2 2012, S.-266. 69 Zweites Gesetz zur Ausführung des 8. Buches des Sozialgesetzbuches - Kinder- und Jugendhilfe-- (Kindertagesstättengesetz---KitaG). 70 Vgl. Gesprächsprotokolle vom 8. und 9.-Juli 2024. tegrierten Sprachbildung und -förderung“ wurde das Konzept der Sprachkita inzwischen durch weitere Inhalte wie Inklusive Pädagogik, Zusammenarbeit mit Familien und der Umgang mit Digitalen Medien ergänzt. 67 Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends haben sich die Lebenslagen und -entwürfe vieler Eltern stark verändert: Die Erwerbstätigkeit der Mütter und flexible Arbeitszeiten wurden nun immer mehr zu einem Erfordernis des Ar‐ beitsmarktes. 68 Die Nachfrage nach Ganztagsbetreuung stieg damit deutlich an, was eine Erweiterung bzw. Verlängerung der Öffnungszeiten und der Angebote in den Kindergärten notwendig machte. 2009 trat das neue Kinderbetreuungsgesetz (KiTaG) in Baden-Württemberg in Kraft, das die Rechte der Kinder auf Betreuung, Erziehung und Bildung gesetzlich verankerte und den Ausbau von Betreuungsplätzen förderte. Im KiTaG werden darüber hinaus Formen der Beteiligung, Öffnungszeiten, Perso‐ nalausstattung, Planung und Unterhalt des Kinderbetreuungsangebots und die Kindertagespflege geregelt. 69 Der öffentlichen Jugendhilfe kommt hierbei die besondere Aufgabe zu, die Kindertagesbetreuung zu gewährleisten. Hierzu wurde kontinuierlich ein immer wieder aktualisierter Bedarfsplan für die Kindertagesbetreuung erstellt. Auch der Ausbau der Kindergartenbetreuung der unter Dreijährigen wurde in Folge des Tagesbetreuungsgesetzes (TAG 2005) deutlich verstärkt. Dies bewirkte erhebliche Veränderungen in den Kindertagesstätten in Konstanz: Sukzessive wurden die Kindertagesstätten um Krippenplätze erweitert oder es entstanden eigens Krippen für Kinder unter Drei. In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelten sich so in Konstanz unterschied‐ liche Kindertagesstätten, die von Vielfalt, dem Pluralismus der Träger, einer hohen Eigenständigkeit der Einrichtungen und einem vielfältigen und differenzierten in‐ haltlichen und konzeptionellen Angebot geprägt sind. Regina Graf-Martin (Leitung Münsterkindergarten 1980-2023) und Renate Hipp (Leitung Montessori Kinderhaus 1990-2019) bestätigten stellvertretend diese gravierende und nachhaltige Verände‐ rung für ihre Einrichtungen, das Personal und die Organisation. 70 Im Jahr 2018 hat das Sozial- und Jugendamt der Stadt Konstanz damit begonnen, einige Kindertageseinrichtungen verschiedener Träger durch Ange‐ Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 301 <?page no="302"?> 71 S O Z I A L - U N D J U G E N D A M T : Richtlinien zur Förderung der Personal- und Investitionskosten von Tageseinrichtungen für Kinder, Konstanz 2012, S.-1 f. 72 www.startpunktleben.de (Zugriff am 16. August 2024). 73 Siehe hierzu auch das sogenannte „Gute-KiTa-Gesetz“ (KiQuTG) aus dem Jahre 2019 des Landes Baden-Württemberg und das KiTa-Qualitätsgesetz von 2023/ 24 des Bundesmi‐ nisteriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. 74 § 8a und §-72a SGB VIII. 75 S O Z I A L - U N D J U G E N D A M T K O N S T A N Z : Richtlinien zur Förderung der Personal- und Inves‐ titionskosten von Tageseinrichtungen für Kinder vom 1. September 2012, Konstanz 2021. bote der Familienunterstützung, -beratung und -bildung zu ergänzen und zu „Konstanzer Kinder- und Familienzentren“ ausbzw. aufzubauen - so z. B. das Kinder-Familienzentrum im Musikerviertel, das Kinderhaus am Salzberg oder die KiTa ChériDu. Insbesondere die kirchlichen Träger hatten schon frühzeitig ihr familienorientiertes Arbeiten intensiviert und einige Ihrer Einrichtungen zu Familienzentren entwickelt, wie z. B. das Edith-Stein-Haus, das Albert- Schweizer-Haus, der Kindergarten Bruder Klaus oder das Ami Melly Haus. Die Unterstützung der Kinder, Eltern und Familien ging in den folgenden Jahren über die Kindertagestätten hinaus: Die Kindertagespflege wurde über viele Jahren hinweg stetig erweitert und 2018 durch das „Konstanzer Förderkonzept für die Kin‐ dertagespflege“ (KTP) 71 gestärkt. Mit der Initiative „StartPunktLeben“ 72 des Sozial- und Jugendamtes wurden außerdem in verschiedenen Stadtteilen von Konstanz Anlaufstellen geschaffen, die dem gelingenden Beginn einer neuen Lebensphase --ob als Schwangere, Eltern oder Neugeborenen-- dienen sollen. Die Entwicklung des Kindergartens spiegelt den gesellschaftlichen Wandel und die wachsende Anerkennung der Bedeutung der frühkindlichen Bildung wider. Kindergärten haben sich von einfachen Bewahr- und Betreuungsein‐ richtungen zu wichtigen Bildungsinstitutionen entwickelt, die einen entschei‐ denden Beitrag zur frühkindlichen Entwicklung und zur Chancengleichheit leisten. Die Entwicklung der Kinderbetreuung in Konstanz zeigt, wie sich das Verständnis von frühkindlicher Bildung und Betreuung gewandelt hat und welche Maßnahmen über viele Jahrzehnte hinweg ergriffen wurden, um einer‐ seits eine qualitativ hochwertige Erziehung und Bildung für alle Kinder sicher‐ zustellen und andererseits die Eigenständigkeit der jeweiligen Einrichtungen zu bewahren. 73 Hierfür wurden in den „Richtlinien zur Förderung der Personal- und Investitionskosten von Tageseinrichtungen für Kinder“ neben allgemeinen Fördergrundsätzen auch die Personalkostenzuschüssen, Platzvergabekriterien, Öffnungs- und Schließzeiten, Freistellungen von Leiterinnen und Leitern der Tageseinrichtungen, QM-Maßnahmen, Umsetzungen des Schutzauftrages, 74 zu‐ künftige Investitionen und vieles mehr verbindlich geregelt. 75 302 Clemens Luft <?page no="303"?> 76 Vgl. Gesprächsprotokolle vom 8. und 9. Juli 2024. 77 S O Z I A L - U N D J U G E N D A M T K O N S T A N Z : Informationsvorlage 2024-4227 (öffentl.): Ergeb‐ nisse des trägerübergreifenden ‚Zukunftstag Konstanzer Kitas‘ und weiteres Vorgehen. Konstanz 5. Juni 2024 78 S O Z I A L - U N D J U G E N D A M T K O N S T A N Z : Tagesbetreuung für Kinder. Bedarfsplanung 2024, Konstanz 2024, S.-3. Das Sozial- und Jugendamt Konstanz hat die Entwicklung der Kinderbe‐ treuung in Konstanz gefördert und neben den städtischen Einrichtungen auch die verschiedenen Einrichtungsträger in der Angebotsbreite und Vielfalt der Kinderbetreuung in Konstanz unterstützt. Dies bestätigte in einem persönlichen Gespräch Regina Graf-Martin: „Dank der unterstützenden Kräfte im Sozial- und Jugendamt gab es stets Wertschätzung für unsere Arbeit und wurde uns viel Gestaltungsfreiraum gelassen“. Auch Renate Hipp hob dies hervor: Die Unterstützung war immer großartig, man konnte kurzfristig anrufen (auch die anderen Ämter in der Stadt) und hat Antworten bekommen, die verbindlich und verlässlich waren […] so konnten wir unsere Pädagogik verwirklichen und sind dabei stets wohlwollend unterstützt worden. 76 Die Kinderbetreuung wird ihre familienunterstützende Funktion hinsichtlich Betreuung, Bildung und Erziehung der jüngsten Generation beibehalten. Das Spannungsverhältnis zwischen Betreuung einerseits und Bildung andererseits wird auch in Zukunft bestehen bleiben - insbesondere mit Blick auf den existierenden Fachkräftemangel im Bereich von Erziehung und Bildung. Die öffentliche Kleinkinderpädagogik muss die fundamentalen Lernprozesse und Lebenserfahrungen sichern sowie sich den rasanten technologischen, gesell‐ schaftlichen, ökonomischen, kulturellen und ideellen Veränderungen der Zeit stellen. Der „Zukunftstag Konstanzer Kitas“ im März 2024 nahm diese Fragen zu den bestehenden und zukünftigen Herausforderungen - insbesondere im Kon‐ text fehlender Betreuungsplätze und der damit einhergehenden Qualität-Quan‐ tität-Diskrepanz - in den Fokus und suchte mit allen an diesem Erziehungs- und Bildungsprozess Beteiligten nach Antworten und möglichen Lösungswegen. 77 Aus den anfänglich wenigen Bewahr- und Betreuungseinrichtungen für eine geringe Anzahl von Kindern hat sich in den letzten 100 Jahren in Konstanz eine vielfältige und differenzierte Erziehungs- und Bildungslandschaft für ca. 3500 Kinder in mehr als 50 pädagogischen Einrichtungen und der Tagespflege im Aufgabenbereich des Sozial- und Jugendamtes Konstanz entwickelt. 78 Einblicke in die Entwicklung der Kindertagesbetreuung 303 <?page no="304"?> Die badische Großherzogin Louise besucht am 29. September 1899 einen Konstanzer Kindergarten (StadtA Konstanz Z1.altD9-160) <?page no="305"?> 1 H A F E N E G E R , Benno: Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit seit 1945, in: Deinet, Ulrich et al. (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit 2001, S.-95. Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz Mandy Krüger Die Wurzeln der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in der Bundesrepublik reichen bis Beginn des 20.-Jahrhunderts zurück. Als Einrichtung der öffentlichen und freien (verbandlichen) Jugendpflege kam sie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik in Form von „städtischen Jugendheimen“ und „Jugendclubs“ oder dann auch „offenen Jugendhäusern“ vor. Im Unterschied zur Offenen Arbeit kennzeichnet die verbandliche Arbeit, dass diese überwiegend in Gruppen, und oft mit relativ klarer inhaltlicher Ausrichtung stattfand. Die staatliche Jugendpflege und die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, getragen durch Kirchen und Vereine, zielten damals mit ihren Angeboten vor allem auf männliche Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten ab, die als unangepasst, dissozial, kriminell oder allgemein „sozial auffällig“ und „verwahrlost“ galten. Mit den German Youth Activities der US-amerikanischen Besatzungsbehörden nimmt dann die historische Entwicklung der eigentlichen Offenen Kinder- und Jugendarbeit ihren Anfang. Die pädagogische Leitidee hinter den Angeboten entwickelte sich von da an von einer sogenannten „Reeducation“ der durch den Nationalsozialismus fehlgeleiteten Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg, über „sinnvoller Freizeitbe‐ schäftigung“, „Mitbestimmung“ und „Selbstverwaltung“ hin zu „Aneignung“ durch die Jugend. 1 Diese bundesweiten Entwicklungen vollzogen sich analog auch in Konstanz: Hier gehen die Anfänge der Offenen Kinder- und Jugendarbeit auf die Gründung des eigenen Stadtjugendamtes auf Grundlage des Reichsjugendwohlfahrtsge‐ setzes im Jahr 1924 zurück. Dank der in diesem Fall französischen Besatzung und dem großen Engagement einzelner Personen entwickelte Konstanz in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle - in einer Zeit, in der andernorts noch nicht einmal an irgendeine Form der Jugendarbeit gedacht wurde. Der nachfolgende Text <?page no="306"?> 2 T R A P P , Werner: Konstanz in den Jahren von 1924 bis 1933, in: Burchard, Lothar/ Schott, Dieter/ Trapp, Werner: Geschichte der Stadt Konstanz. Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschichte der Stadt Konstanz, 5) Konstanz 1990, S.-155. 3 E B E R H A R D , Ludwig: Konstanz - Haus der Jugendbewegung 25 Jahre Allmannshöhe - Das neue ‚Haus der Jugend‘ am Raiteberg, in: Almanach 1956, S.-87-91. 4 T R A P P (wie Anm. 2), S.-245-f. 5 Ebd., S.-308-ff. schildert zunächst die historischen Entwicklungen überwiegend chronologisch - lediglich die Entstehung des Jugendhaus Raiteberg bzw. das spätere KiKuZ wurde aufgrund der inhaltlichen Zusammenhänge vor den Geschehnissen rund um das Juze erzählt, auch wenn diese tatsächlich früher stattfanden. Der Fokus liegt im Folgenden auf den historischen Anfängen und auf dem Jugendzen‐ trum Juze, das sich in den 1990ern zu einem Politikum entwickelte. Neben dem Rückgriff auf historische Textquellen und Entscheidungsvorlagen der Aus‐ schüsse, konnten auch Gespräche mit Zeitzeugen geführt werden. Wichtigste Gesprächspartnerin war hierbei Irene Jun. Sie studierte Erziehungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, ist seit 1986 Diplom-Pädagogin und kam im November 1990 zum Sozial- und Jugendamt der Stadt Konstanz zunächst als Leiterin des Jugendhauses Raiteberg. Im November 1993 übernahm die Leitung der damaligen Abteilung Kinder- und Jugendarbeit, der heutigen Abteilung Kinder-, Jugend-, Senioren- und Stadtteilarbeit. Die Anfänge der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Kurz nach dem Ersten Weltkrieg und vor dem Hintergrund einer großen Wohnungsnot in Konstanz, war an Jugendarbeit, wie man sie heute kennt, noch nicht zu denken. Durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz wurde jedem deutschen Kind zunächst ein „Recht auf Erziehung“ zugesprochen und dadurch die öffentliche Jugendhilfe deutlich ausgeweitet. In Konstanz stand damals vor allem die Betreuung der rund 1800 verwaisten, unehelichen, verlassenen oder misshandelten Kinder im Vordergrund. 2 Mit der Eröffnung der Jugendher‐ berge in Allmannsdorf 1931 wurde der „gefährdete[n] und manchmal sogar vagabundierende[n] Jugend“ 3 ein erster Anlaufpunkt geboten. In der Zeit des Nationalsozialismus löste die Hitlerjugend die kirchlichen und freien Jugend‐ verbände ab - so auch in Konstanz. Die verschiedenen Jugendvereine wurden aufgelöst, der städtische Jugendamtsdirektor 1933 seines Amtes enthoben und in Schutzhaft verbracht. 4 Das führte dazu, dass „Jugendarbeit“ praktisch nur noch in der Hitlerjugend stattfinden konnte. 5 306 Mandy Krüger <?page no="307"?> 6 B U R C H A R D T , Lothar: Konstanz im Zweiten Weltkrieg, in: Burchard, Lothar/ Schott, Dieter/ Trapp, Werner: Geschichte der Stadt Konstanz. Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschichte der Stadt Konstanz, 5) Konstanz 1990, S.-390-393. 7 B U R C H A R D T , Lothar: Konstanz zwischen Kriegsende und Universitätsgründung. Hun‐ gerjahre. „Wirtschaftswunder“. Strukturwandel (Geschichte der Stadt Konstanz, 6) Konstanz 1996, S.-95. 8 Ebd., S.-95-f. 9 Ebd., S.-95-f. Zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 war die Lage der Jugend dem‐ entsprechend schwierig: Der Schulbetrieb hatte insbesondere in der zweiten Kriegshälfte massiv gelitten. Die Schulhäuser waren militärisch vereinnahmt oder als Lazarette genutzt worden. 1945 fand in keinem der Konstanzer Schul‐ häuser Schulunterricht statt und die Wochenschulzeit hatte sich um mehr als die Hälfte reduziert. Außerdem fehlte es an Lern- und Lehrmittel sowie an Heiz‐ material. Das Konstanzer Schulsystem war faktisch zusammengebrochen. Die Schülerinnen und Schüler wurden stattdessen für das Sammeln von Kleidung, Heilkräuter, Altmaterial aller Art und für andere Einsätze eingespannt. 6 Es herrschten aber nicht nur Versorgungsengpässe, sondern auch eine große Ratlosigkeit in der Jugend selbst. Viele der Jugendlichen hatten sich bis zuletzt mit dem nationalsozialistischen Staat identifiziert. Die Hitlerjugend und der Bund Deutscher Mädchen waren in dieser Zeit für die Jugendlichen selbstver‐ ständlicher Teil ihres Alltags. Mit dem Einmarsch der Alliierten wurde plötzlich jedoch alles in Frage gestellt. Viele vermissten die scheinbar heile Welt der beiden Gruppierungen mit dem klaren Denken in Schwarz-Weiß und die damit einhergehende deutliche Unterscheidung von richtig und falsch. Gegenüber den Erwachsenen - die offensichtlich versagt hatten - herrschte Misstrauen, wodurch „eine gewisse Verwilderung der Jugend“ 7 eintrat. 8 All dieser Probleme war sich die französische Besatzung bewusst, allerdings hielten sie eine eigene, städtische Jugendarbeit für keine adäquate Lösung. Stattdessen setzten sie auf die Kirchen und verpflichteten diese wieder in der Jugendarbeit aktiv zu werden. Später wurde auch die Gründung weltlicher Jugendorganisationen genehmigt, sofern deren Arbeit auf Grundlage demokratischer Prinzipien basierte. Die französische Besatzung gab die Jugendarbeit dennoch nicht völlig aus der Hand. Vieles, wie Veranstaltungen, Lager, das Tragen von Abzeichen oder von Fahnen, musste vorher genehmigt werden. 9 Haus der Jugend Marcel Degliame, französischer Bezirksgouverneur in Konstanz, versprach sich zu dieser Zeit viel von einem offenen Ansatz in der Jugendarbeit. Degliame folgte Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 307 <?page no="308"?> 10 K L Ö C K L E R , Jürgen: Französische Besatzungspolitik in Konstanz zwischen 1945 und 1949, Magisterarbeit, Universität Konstanz 1992, S.-33-ff. 11 B U R C H A R D T (wie Anm. 7), S.-95-f. 12 E B E R H A R D , Ludwig: Konstanz - Haus der Jugendbewegung 25 Jahre Allmannshöhe - Das neue ‚Haus der Jugend‘ am Raiteberg, in: Almanach 1956, S.-89. 13 B U R C H A R D T (wie Anm. 7), S.-426-ff. 1945 auf François Hubert Gaetan de Ripert D’Alauzier, war Kommunist 10 und ließ 1946 im Anbau des Rheintorturms durch die Stadt ein „Heim der deutschen Jugend“ einrichten. Hier sollten künftig Vierzehnbis Achtzehnjährige lesen, Theater spielen, diskutieren und basteln können. Dabei ging es zunächst weniger um die Erziehung zur Demokratie als vielmehr um ein Angebot und eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung für eine Altersgruppe, für die sonst sehr wenig geboten war. Das „Haus der Jugend“ wurde dabei nicht nur gegen große Widerstände eingerichtet, sondern auch zu einer Zeit, zu der woanders bisher kaum an eine Einrichtung dieser Art gedacht wurde. So war das „Haus der Jugend“ schon längst in Betrieb als das badische Innenministerium 1946 daran ging, erste Richtlinien für die Schaffung und den Ausbau des Jugendbildungswerkes zu formulieren. 11 Jugendhaus Raiteberg Schon während der Bauzeit der Turmherberge Allmannshöhe 1931 sprach man davon, ein Jugendheim zu bauen, um den Organisationen der Verbandlichen- und Vereins-Jugendarbeit „die Möglichkeit zu geben, ihre Mitglieder in zweckmäßigen Räumen versammeln zu können“ 12 . Dies geschah nun Dank Degliame und der französischen Besatzung mit dem „Haus der Jugend“, das schnell zum Mittelpunkt der Bemühungen um die Konstanzer Jugend wurde - bis die „Stadt den ebenso ungewöhnlichen wie vorbildlichen Plan fasste, am Raiteberg ein neues, größeres Jugendhaus zu bauen.“ 13 Denn die Nachfrage durch die jugendlichen Wanderer hatte derart zugenommen, dass die Jugendherberge die vielen Jugendlichen schlicht nicht mehr aufnehmen konnte. Die Stadt stand also damals vor der Frage, die alte Herberge zu erweitern oder eine neue zweite Jugendherberge zu bauen. Die bautechnischen, geländemäßigen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sprachen für die zweiten Variante und so nutzte man die Chance. Das Haus sollte aber nicht nur Jugendherberge, sondern auch Heimstätte für die Konstanzer Jugend werden. Es sollte eine „offene Türe“ für alle jungen Menschen in Konstanz werden sowie Räume für die Arbeit des Jugendbildungswerkes und für einen Schülerhort bieten. Dank der Aufgeschlossenheit des Stadtrates und mit Hilfe der Zuschüsse aus Bundes- und Landesjugendplan konnten die Bauarbeiten für das neue Haus im Sommer 1954 begonnen und das neue Jugendhaus Raiteberg am 25. Juni 1955 308 Mandy Krüger <?page no="309"?> 14 E B E R H A R D , Ludwig: Konstanz - Haus der Jugendbewegung 25 Jahre Allmannshöhe - Das neue ‚Haus der Jugend‘ am Raiteberg, in: Almanach 1956, S.-87-91. 15 B U R C H A R D T (wie Anm. 7), S.-426-ff. 16 Bericht Sanierung des Kinderkulturzentrums (KIKUZ) im Rahmen des Zukunftsinvestiti‐ onsprogramms „Sanierung kommunaler Einrichtungen in den Bereichen-, Sport, Jugend- und Kultur“. 2016 bis 2018. 2019. 17 W E R N E R , Dora: Das Jugendhaus Raiteberg, in: Almanach 1971, S.-74. 18 Ebd., S.-71-75. 19 Stadt Konstanz, Abt. Jugendpflege, Abt. Jugend- und Volksbildung, 1948 StadtA Kon‐ stanz, S XII Band/ Fasc. 1984. eröffnet werden. 14 Zu diesem Zeitpunkt standen viele Kommunen immer noch erst am Anfang der freien Jugendarbeit. 15 Der östliche Teil des Gebäudes wurde damals als Wohnheim für weibliche Lehrlinge errichtet und später dann als Jugendherberge für Schulklassen und Gruppen verwendet. Im westlichen Teil waren Werkstätten, Spiel- und Veranstal‐ tungsräumen untergebracht. 16 Die Räumlichkeiten des Jugendhaus Raiteberg war besonders stark im Winter und Frühjahr ausgelastet: Die insgesamt zehn Gruppen‐ räume waren ständig belegt und die drei Werkräume bis an die Kapazitätsgrenzen ausgelastet. Die Jugendbücherei veranstaltete Vorlesewettbewerbe sowie in „un‐ regelmäßigen Abständen Aktionen gegen Schundliteratur und Gespräche über gute Jugendbücher [fanden] ebenso einen erfreulichen Widerhall“ 17 . Schon damals gehörte ein Filmabend regelmäßig zum Programm und es gab ein Fotolabor mit Dunkelkammer. 18 Das Jugendhaus Raiteberg bildete damit die Basis der städtischen Jugendarbeit unter Rudolf Kutscher und Franziskus Dannenmeyer. Rudolf Kutscha, 1911 geboren, wurde 1947 Kreisbeauftragter für Jugendbil‐ dung und Jugendbewegung der Stadt Konstanz und leistete wichtige Aufbauar‐ beit des Jugendbildungswerkes als dessen Leiter. Zu den Zielen des Jugendbil‐ dungswerkes gehörten damals vor dem Hintergrund enger Wohnverhältnisse und des Schulraummangels, der Jugend ohne Unterschied ein Heim zu bieten. Es war ihm ein Anliegen, Jugendliche freie Weiterbildung und Selbstverantwor‐ tung zu ermöglichen. 19 Franziskus Dannenmeyer war 1952 Kreisjugendpfleger in Stockach und übernahm 1955 zur Eröffnung des Jugendhauses am Raiteberg das Amt des Stadtjugendpflegers im Alter von 30 Jahren. Er gehörte zu der Generation, der entscheidende Jahre durch den Krieg verloren ging. Nach dem Krieg kam er als Praktikant zum städtischen Jugendamt, studierte anschließend am Sozialpädagogischen Seminar in Freiburg und kam nach dem Staatsexamen zum Nachschulpraktikum wieder zum Konstanzer Jugendamt. Gunter Lange kam 1983 in das Team Dannenmeyer, damals war der offizielle Betrieb als Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 309 <?page no="310"?> 20 S C H E R R E R , Aurelia: Kreativ auf Drachenflügeln. In 50 Jahren vom Jugendhaus Raiteberg zum Kinder-Kulturzentrum, in: Konstanzer Almanach 2005, S.-67-f. 21 B U R C H A R D T (wie Anm. 7), S.-426-ff. 22 Ebd., S.-545. 23 S C H E R R E R , Aurelia: Kreativ auf Drachenflügeln. In 50 Jahren vom Jugendhaus Raiteberg zum Kinder-Kulturzentrum, in: Konstanzer Almanach 2005, S.-67-f. Jugendherberge schon seit 1975 aufgegeben worden 20 , und erinnert sich an die durchaus auch streitbare Person Dannenmeyer: Er hatte einen sehr patriarchischen und hierarchischen Führungsstil. Aber es war andererseits auch ein total kreativer Mensch und wusste unheimlich gut über die Konstanzer und Reichenauer Historie Bescheid. Und das hat besonders den Wande‐ rinnen und Wanderern imponiert, die immer zwischen April und September von der Jugendherberge runtergeschickt worden sind, wenn die zu voll war. Franziskus Dannenmayer saß abends mit seinem Spinnrad im Kreise der Wanderinnen und Wanderer, sponn Wolle mit der Handspindel und erzählte seinen Gästen interessante Geschichten. Organisierte und nicht organisierte Kinder und Jugendliche konnten nun die Angebote des Jugendhauses nutzen, in den Sommerferien wurde es teilweise zu einer zweiten Jugendherberge und es tagten dort zahlreiche Arbeitsgruppen des Jugendbildungswerkes. 21 Auch in den 1960er-Jahren blieb das Jugendhaus Raiteberg das Zentrum der städtischen Jugendarbeit, die Aktivitäten bewegten sich im bewährten Rahmen, der sich nur sehr langsam wandelte: es wurde gebastelt, gesungen, diskutiert und Tischtennis oder Theater gespielt. Hin und wieder gab es auch alkoholfreie Tanzveranstaltungen, die sogenannten „Sprudel-Bälle“, die sehr beliebt waren und auf denen sich auch so manche Ehe angebahnt haben soll. 22 Unter Dannenmeyer wurde bereits der Vorläufer des heutigen Ferienpro‐ gramms, ein sogenannter „Ferienpass“, und 1985 das „Spielmobil“, das auf den Konstanzer Spielplätzen Aktionen veranstaltet, eingeführt. 23 Das war eine Idee von Herrn Kleiber, dem damaligen Sozial- und Jugendamtsleiter. Er hatte das in Friedrichshafen gesehen. In Absprache mit Herrn Kleiber und Herrn Dannenmeyer wurde ich mit Tischtennis- und Federballschlägern und ein bisschen Spielmaterial auf den Berchenspielplatz geschickt, um die Situation zu erkunden. Dort wurde ich Ansprechpartner für Kinder, Seniorinnen und Senioren, Leute mit Hunden, Jugendliche - es gab damals große Streitthemen. Damals kam es immer wieder zu Vandalismus auf dem Berchenspielplatz und Konflikte zwischen den Nutzergruppen: 310 Mandy Krüger <?page no="311"?> 24 Ebd. 25 Ebd. Die älteren Leute beschwerten sich über die ramponierten Bänke, auf denen sie ausruhen wollten und über die „bösen Kinder und Jugendlichen“ - die wiederum beschwerten die sich über die Seniorinnen und Senioren. Mir war wichtig, ein Ohr für die Menschen zu haben, die sich auf dem Gelände aufhielten, um ins Gespräch zu kommen. Einmal besuchten mich Konstanzer Gemeinderatsmitglieder und ließen sich von mir die Situation erklären. Auch sie stimmten mit mir überein, dass auf dem Spielgelände unbedingt Veränderungen passieren mussten. Und das kam dann Gott sei Dank auch so. 1988 endete die Ära Dannenmeyer. 24 Mit Weggang Dannenmeyers wurde die Abteilungsleitung und die Jugendhausleitung in zwei Personalstellen gesplittet - eine davon besetzte Irene Jun als Leiterin des KiKuZ. Das Haus wurde kindgerechter gestaltet und das Freizeit- und Aktionsprogramm ausgebaut. Die Sanierung und Wiedereröffnung des Jugendzentrums „Juze“ ermöglichte es dem Jugendhaus am Raiteberg sich dann ganz auf die Altersgruppe der Sechsbis 14-Jährigen zu konzentrieren: Aus dem Jugendhaus am Raiteberg wurde das Kinderkulturzentrum „KiKuZ“ 25 das heute schon die vierte Generation Konstanzer Kinder begleitet. Der Eingangsbereich des KiKuZ vor dem Umbau und der Sanierung zur Raiteburg, © Stadt Konstanz Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 311 <?page no="312"?> 26 Ebd. 27 Bericht Sanierung des Kinderkulturzentrums (KIKUZ) im Rahmen des Zukunftsinves‐ titionsprogramms „Sanierung kommunaler Einrichtungen in den Bereichen-, Sport, Jugend- und Kultur“. 2016 bis 2018. 2019. Kinderkulturzentrum der Stadt Konstanz - KiKuZ 1992 wurde das Jugendhaus Raiteberg im Rahmen eines Umbaus in das Kinder‐ kulturzentrum „KiKuZ“ umgewandelt und auf die Bedürfnisse einer jüngeren Zielgruppe zwischen sechs und 14 Jahren ausgerichtet. Auch dort gab es weiterhin offene Angebote wie Basteln, Werken, Spiel- und Beschäftigungsan‐ gebote, aber auch Bildungsangebote wie Kochen und Backen, zum Umgang mit Computern sowie viele Veranstaltungen und Ausflüge - alles jedoch ganz auf die Bedürfnisse dieser speziellen Altersgruppe zugeschnitten. 26 Aus dem ehemaligen Speiseraum wurde das Kinderkino „Drachenhöhle“, die Großküche wurde eine Kinderküche. Die Spielräume wurde vergrößert und mit neuen Spielmöglichkeiten ausgestattet. Es wurde eine Kletterwand angelegt und eine Boulderraum eingerichtet. Außerdem wurden eine Druckwerkstatt, die Lese‐ raum, ein Schmink- und Verkleidungsraum und eine Kreativwerkstatt einge‐ richtet. Aus einem Teil der Jugendherbergsräumen entstand eine Unterkunft für Zivildienstleistende, Auszubildende und Praktikantinnen und Praktikanten. 27 Das Gebäude des KiKuZ - die Raiteburg - nach dem Umbau von 2017 bis 2019, © Stadt Konstanz 312 Mandy Krüger <?page no="313"?> 28 Ebd. 29 S C H E R R E R , Aurelia: Kreativ auf Drachenflügeln. In 50 Jahren vom Jugendhaus Raiteberg zum Kinder-Kulturzentrum, in: Konstanzer Almanach 2005, S.-67-68. Das Team des KiKuZ im Jahr 2020: Damals in der Leitungsfunktion Peter Straub, Claudia Kienzler mit dem KiKuZ-Drachen, die 2023 die Leitung des Hauses übernahm, Gunter Lange, seit 2023 im Ruhestand, und Petra Asal, zuständig für den Werkbereich, sowie für Spiel- und Zirkuspädagogik, © Stadt Konstanz Das KiKuZ liegt heute an der Schnittstelle der bevölkerungsreichsten Stadtteilen Petershausen, Königsbau, Fürstenberg und Wollmatingen, hier leben etwas mehr als die Hälfte der Konstanzer Kinder zwischen sechs bis 14 Jahren. 28 Das KiKuZ ist für die unmittelbar angrenzenden Stadtteile wie auch in der gesamten Stadt der zentrale Ort für Begegnung, Freizeit, themenbegreifenden Lernen und interkultureller Sozialisation für Kinder in diesem Alterssegment. Schon damals spielte die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund eine wichtige Rolle. 29 Weiterer wichtiger Bestandteil sind die Angebote für Schulkassen in Form von kulturellen Veranstaltungen, erlebnis- oder kulturpädagogischen Aktionen mit Schwerpunkt auf eine bedarfsgerechte außerschulische Bildungs-, Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 313 <?page no="314"?> 30 Bericht Sanierung des Kinderkulturzentrums (KIKUZ) im Rahmen des Zukunftsinves‐ titionsprogramms „Sanierung kommunaler Einrichtungen in den Bereichen-, Sport, Jugend- und Kultur“. 2016 bis 2018. 2019. 31 Ebd. 32 Laut eines Zeitungsartikels soll die Besetzung eines leerstehenden Hauses im Rosen‐ lächnerweg 1973 durch Jugendliche die Anfänge des späteren Jugendzentrums „Juze“ gebildet haben und 1978 soll das Jugendzentrum zunächst in die Klosterkaserne gezogen sein. Vgl. B R U M M , Benjamin: Bewegte Zeiten, gestern wie heute: Ein Blick in die Geschichte von 40 Jahren Jugendzentrum Konstanz, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 20. Juli 2018. 33 W I L D E R M U T H , Lena: Diplomarbeit Juze statt Plastik. Eine Untersuchung zu Freizeitwün‐ schen und. -bedürfnissen von Jugendlichen und Konsequenzen für die Umsetzung eines Konzepts der Offenen Jugendarbeit in einem Konstanzer Stadtteil, Berufsakademie Stuttgart, Staatliche Studienakademie - Ausbildungsbereich Sozialwesen - (Erschei‐ nungsjahr unbekannt), S.-7-ff. 34 Ebd. 35 B E R G E R , Anja: Jugendzentrumsbewegung heute. Analyse der Aktivitäten der Initiative „unser Juze“ in der Stadt Konstanz, Diplomarbeit im Fachbereich Sozialpädagogik der Berufsakademie Stuttgart, Sommersemester 1994, S.-20-25. Kultur- und Freizeitarbeit. 30 Der erhöhte Betreuungsbedarf in den Schulferien durch u. a. die gestiegene Erwerbstätigkeit der Eltern führte dazu, dass die Ferienangebote ausgebaut wurden und die „Verlässliche Ferienbetreuung“ über die Jahre immer mehr an Bedeutung gewann. 31 Jugendzentrum „Juze“ 1984 eröffnete das Jugendzentrum Juze an der Jägerkaserne (da bin ich mir nicht sicher … Ich glaube, es existierte bereits) 32 , wo es bis heute zu finden ist. 33 Allerdings wurde es bereits 1990 wieder geschlossen, offiziell hieß es aufgrund einer notwendigen Sanierung. Der eigentliche Grund war aber wohl ein anderer: Man findet unterschiedliche Aussagen hierzu. Eine Quelle besagt, dass die dor‐ tigen Sozialarbeiter nicht mehr mit den Jugendlichen zurechtgekommen seien. 34 Eine spricht von einer Sackgasse, in der sich die dortige Sozialarbeit befand, woraufhin die damals vier Mitarbeiter vor Ort beschlossen, den offenen Betrieb einzustellen. Es sollten neue Rahmenbedingungen erarbeitet werden, darunter unter anderem welches Publikum von der Sozialarbeit künftig angesprochen werden sollte. 35 Gunter Lange erinnert sich an die Zeit ebenfalls: Es gab dort eben diesen Barbetrieb, wo auch Alkohol ausgeschenkt wurde und eine sehr intensive Punk-Szene, die sich dort getroffen hat. Die haben zum Teil auch ziemlich viel Alkohol getrunken und waren damals sehr politisch aktiv. Das war nicht unbedingt gern gesehen. Insofern wollte man diesen Konzeptwandel. 314 Mandy Krüger <?page no="315"?> 36 B E R G E R , Anja: Jugendzentrumsbewegung heute. Analyse der Aktivitäten der Initiative „unser Juze“ in der Stadt Konstanz, Diplomarbeit im Fachbereich Sozialpädagogik der Berufsakademie Stuttgart, Sommersemester 1994, S.-4. 37 Ebd., S.-4-f. 38 Ebd., S.-7-12. 39 Ebd., S.-10. Das damals angestrebte Konzept ähnelte dem heutigen Ansatz der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, die Bar wurde geschlossen und das Juze völlig umstrukturiert. Im selben Jahr besetzten die Jugendlichen das Jugendzentrum mit der Forde‐ rung nach Räumen für ein autonomes selbstverwaltetes Jugendzentrum. Im Februar 1991 gründeten sie den Verein „Juze statt Plastik“, der rückblickend als Ableger der Jugendzentrumsbewegung betrachtet werden kann: Die Fünf‐ zigerjahre hatten bei den Jugendlichen eine kritische Haltung gegenüber dem Staat hinterlassen, aus der sich 1968 die Studentenbewegung formierte. 36 Der damals herrschende Anspruch auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung fiel u. a. besonders bei Jugendlichen kleinstädtischer und ländlicher Gebiete auf fruchtbaren Boden: Die Studenten kämpften gegen die Feudalstruktur der Universitäten, die Schüler gegen die autoritären Strukturen der Schulen und die Lehrlinge gegen die Profil‐ struktur der Berufsausbildung. In der Jugendzentrumsbewegung kritisierten die Jugendlichen die unbefriedigende Freizeitsituation und kämpften für die Einrichtung von selbstverwalteten Jugendzentren. 37 Seit 1971 schlossen sich daher immer mehr Jugendliche zu Initiativen zu‐ sammen, deren Ziel die Durchsetzung von autonom verwalteten Jugendzentren war. Das mangelnde Freizeitangebot und die fehlende Möglichkeit sich zwangs‐ frei - also außerhalb der elterlichen Kontrolle und abseits eines Konsumzwanges - treffen zu können, betraf Jugendliche aus allen sozialen Schichten und Klassen. Die Initiativen wollten Räume, in denen sie selbstverwaltet tätig werden konnten, die jederzeit zugänglich waren, in denen sie nicht mehr von Erwachsenen bevormundet wurden und in denen sie ihre eigene Kultur in Form von Kneipen, Konzerten, Discos und Info-Abenden ausleben können. 38 Diese Emanzipation versuchte die Bewegung mit verschiedenen Aktionen zu erreichen, wie u. a. Demonstrationen und Hausbesetzungen. Solche Aktionen verbreitete Euphorie und sie erhielten großen Zuspruch. 39 Gerade die Hausbe‐ setzungen führten zu einer hohen Identifikation mit den Räumlichkeiten, die oft als „unser Haus“ vereinnahmt wurden. Gleichzeitig übten Hausbesetzungen einen hohen Druck auf die Öffentlichkeit und die Behörden durch die ständige Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 315 <?page no="316"?> 40 Ebd., S.-11. 41 Ebd., S.-20-25. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd. Präsenz der Jugendlichen aus. In vielen Fällen führten diese schließlich auch zum Erfolg. 40 Ähnlich verlief auch die Entwicklung in Konstanz: Gruppen wie Punks, An‐ tifa, Motorradclubs frequentierten damals überwiegend das Juze. Die Gruppen solidarisierten sich untereinander und wehrten sich gemeinsam gegen die Schließung. 41 Die Idee eines autonomen Juzes entstand auf einem Treffen des „Südbadischer Frühlings“ Ende Januar 1991 in Freiburg. Hier trafen sich Gruppen anderer bereits autonomer Jugendzentren und welche, die noch um ihre Autonomie kämpften. Nach diesem Treffen wollte man die Idee des auto‐ nomen Jugendzentrums auch in Konstanz verwirklichen. Es sollten mit der Stadt Nutzungsverträge geschlossen werden, was aber nur mit juristischen Personen möglich war. Daraufhin gründetet sich der bereits erwähnte Verein „Juze statt Plastik“. 42 Die Wünsche und Forderungen glichen denen der Bewegung der selbstverwalteten Jugendzentren der 1970er-Jahre. Die Kneipe wollten die Jugendlichen völlig selbstverwaltet führen und auch die Einnahmen wollten sie eigenständig für die Gestaltung eines eigenen Programms verwenden können. Auch die Renovierung der Räume wollten die Vereinsmitglieder selbst über‐ nehmen und nach eigenen Wünschen und Vorstellungen umsetzen. Es wurden mit der Stadt Übergangsnutzungsverträge für drei Monate abgeschlossen, welche die Nutzung der Kneipe, des Saales für Musikveranstaltungen und der Proberäume für die Bands beinhalteten. 43 Der Verein war mit seinen Tätigkeiten dabei so erfolgreich, dass sich durch die immer größeren BesucherInnen-Zahlen bald eine Eigendynamik entwickelte: Im offenen Betrieb waren regelmäßig 30 bis 50 Personen anwesend, bei Konzerten 300 bis 400. Die Forderung nach einer langfristigen Nutzung als autonomes Jugendzentrum wurde immer lauter. 44 Bert Binnig, damals in der 10. Klasse, gehörte zu den Besuchern des Juzes: Das Juze hat ja wahnsinnig gut funktioniert in der Selbstverwaltung - diese Konzerte mit den vielen Zuschauern. Konstanz hatte damals eine lebendige Bandszene. Es gab da Bands aus Konstanz, die sind auf Tour gegangen und haben Schallplatten rausgebracht. Im Juze waren halt auch Leute, die was draufhaben, also nicht nur Leute, die zum Saufen dorthin gegangen sind. Auch das Zeitungsprojekt ‚Tacheles‘, da muss ja schon irgendwie koordiniert sein, dass das gedruckt wurde. 316 Mandy Krüger <?page no="317"?> 45 Ebd. Der hohe Andrang an Besucherinnen und Besuchern brachte aber auch immer mehr Probleme mit sich. Es gab Auseinandersetzungen in Zusammenhang mit Alkohol und Drogen, und die Organisatoren sahen sich immer mehr in eine Sozialarbeiterrolle gedrängt. Die Stadtverwaltung wiederum blieb bei dem Standpunkt, dass das Jugendzentrum spätesten im Sommer für Renovierung und Umbau geschlossen werden sollte. Außerdem sollten Asylbewerber in die Räumlichkeiten einquartiert werden. Daher sollte der Verein spätestens bis 24. Juni 1991 das Haus verlassen. Dieser Aufforderung kam der Verein jedoch nicht nach und ab diesem Zeitpunkt wurde das Haus faktisch besetzt. Es gab Demonstrationen, Flugblätter und auch die Presse berichtet darüber. Der Stadtverwaltung wurde vorgeworfen, dass sie die Forderungen des Vereins gegen die Unterbringungen von Asyl-Bewerberinnen und -bewerbern auszu‐ spielen versuche. Was die Besetzer des Jugendzentrums davon hielten, zeigte eindrücklich eine Parole auf einer Wand des Juzes; „Ausländer bleiben - Hansen vertreiben.“ 45 Bert Binnig erinnert sich auch daran: Ich würde auch sagen, dass da einiges an Absicht dahinter steckte. Das glaube ich auch heute noch. Dass man ausgerechnet dann Flüchtlinge da einquartiert, wobei man genau weiß, dass die Leute dort wirklich nichts gegen diese Menschen haben und beides so gegeneinander ausspielt. Auch er sieht es ähnlich, wie Gunter Lange: Ich glaube auch, dass sie eigentlich diese politischen Köpfe und diese Punk-Szene nicht mehr haben wollten. Ich glaube, das war das Problem, dass das Programm zu erfolgreich war und auch ein von der Politik nicht so gewolltes Publikum angezogen hat. Das kann natürlich schon passieren, wenn du eine Band wie zum Beispiel The Exploited auftreten lässt. Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 317 <?page no="318"?> 46 Ebd., S.-20-25. Im Tacheles berichteten die Jugendlichen selbst über die Räumung des ehemaligen Juzes, © Tacheles. Die Zeitung für Jugend und Subkultur Trotz aller Bemühungen wurde das Jugendzentrum am Morgen des 4. Juli polizeilich geräumt. Die Forderungen jedoch blieben: Es wurden Ersatzräume, Mitsprache beim Umbau und Einsicht in das geplante inhaltliche Konzept für die Sozialarbeit gewünscht. Während dieser ganzen Zeit blieb der Verein auch ohne Dach über dem Kopf aktiv: Jede Woche wurde die Montagskneipe am Lenk-Brunnen fortgesetzt, Fußball, Volleyball und Frühstück gab es auf der Marktstätte. Im Stadtgarten wurde ein Sommerzelt aus Planen gebaut und es gab Einzelaktionen wie die Besetzung des Rathausinnenhofes. Der Winter beendete die Aktionen, die leider keine Alternative zum Jugendzentrum bewirkten. Das führte zu Frustration im Verein, sodass sich dieser schließlich auflöste. 46 318 Mandy Krüger <?page no="319"?> Flugblatt zur Gründung der Initiative „Unser Juze“ aus der Zeitschrift „Tacheles. Die Zeitung für Jugend und Subkultur“ 1993. Diese wurde von Jugendlichen in Eigenregie herausgegeben, © Tacheles. Die Zeitung für Jugend und Subkultur Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 319 <?page no="320"?> 47 W I L D E R M U T H (wie Anm.-33), S.-7-ff. 48 Ebd. 49 B E R G E R (wie Anm. 36), S.-27. Im Februar 1993 gründeten jüngere Mitglieder des ehemaligen Vereins „Juze statt Plastik“ die Initiative „Unser Juze“. Im Juze waren die meisten Umbaumaß‐ nahmen abgeschlossen und die Neueröffnung war für den Sommer geplant. Die Initiative wollte so viel wie möglich konstruktiv bei der Entstehung des neuen Jugendzentrums mitwirken, was von ihr kontinuierlich bei Jugendhil‐ feausschüssen, Diskussionsrunden und Podiumssitzungen eingefordert wurde. Allerdings fühlten sich die Jugendlichen aus ihrer Sicht von der Stadt weiterhin bei der Gestaltung des Jugendzentrums ausgeschlossen und nach ihrem Emp‐ finden kam die Verwaltung der Idee der Selbstverwaltung nicht nach. Die Initiative betrachtete den Umbau als „Edelsanierung“ und fühlte sich vor den Kopf gestoßen und bestätigt, dass Eigeninitiative zu nichts führte. Sie sahen ihre Wünsche in keinster Weise berücksichtigt und die Entscheidungen als über ihre Köpfe hinweg getroffen an. 47 Die Initiative beschloss daher das neue Juze und die Feierlichkeiten zu Eröffnung am 24. September 1993 zu boykottieren. Zu Beginn des Festaktes marschierten etwa 50 Jugendliche mit Trillerpfeifen unter lauter Musik in den Saal und machten ihren Unmut deutlich. Die für den offiziellen Festakt eingeladenen Bands liefen zum Gegenkonzert der Initiative über. Die erneute Forderung nach autonomen Räumen verfestige sich. 48 Rückblicken sieht Irene Jun das damalige Problem in der unterschiedlichen Erwartungshaltung: Die Herausforderung ist es auch heute noch, das Verwaltungshandeln und dessen Ergebnisoffenheit transparent zu vermitteln, ohne dass es zu Frust bei den Jugendli‐ chen führt. Demokratische Prozesse sind manchmal nicht so einfach. Als damals neu eingesetzte Stadtjugendpflegerin setzte sie sich mit den Jugend‐ lichen auseinander und erarbeitete mit der Initiative „Unser Juze“gemeinsam das Projekt „Panama“, benannt nach der gleichnamigen Erzählung von Janosch. 49 Die Sitzungsvorlage wurde von den Jugendlichen eigenhändig geschrieben und sie trugen ihre Anliegen selbst in den Ausschüssen vor. Wichtigster Punkt war auch hier die Forderung, selbst die Verantwortung für die Freizeitgestaltung übernehmen zu können. Die Jugendlichen waren offen für Alternativen was die Räumlichkeiten anging: Vorstellbar war für sie ein Bauwagen wie von Peter Lustig, eine Fähre, Bahnwaggons, oder ausgediente Busse. Dass sie es ernst meinten, bewies die Projektbeschreibung, die sie inklusive konkret 320 Mandy Krüger <?page no="321"?> 50 Bericht über die Initiative „Unser Juze“, Vorlage Jugendhilfeausschuss JHA 2/ 94, 23.03.1994. 51 Südkurier - Ausgabe K - vom 24. März 1994, zitiert in: B E R G E R (wie Anm.-36), S.-27. recherchierter Kosten zu den jeweiligen Vorschlägen der Vorlage beilegten. 50 Auch Bert Binnig arbeitete an dem Projekt mit: Wir haben dann wirklich Fahrzeuge gesucht und gemacht und getan, um das ver‐ nünftig zu beschreiben und sind damit auch in den Gemeinderat. Aber es ging zu langsam. Als Panama dann wirklich real wurde, da war ich schon Azubi - da lag echt Zeit dazwischen. Am 23. März 1994 „beschloß der Jugendhilfeausschuss einstimmig der Initiative ‚Unser Juze‘ mit Geld und Beratung bei der Suche nach einem geeigneten Domizil unter die Arme zu greifen.“ 51 Am Ende wurden es die Bauwägen, die auf dem Gelände des heutigen Sea Life aufgestellt wurden und dort für rund vier Jahre stehen blieben. In dieser Zeit vollzog sich der notwendige Generationenwechsel. Das haben dann ganz andere Kids angenommen. Aber ich glaube auch nicht, dass wir gemeint waren mit dem neuen Jugendzentrum. Wir konnten es nicht annehmen. Das Juze, das wir wollten, war auf diese Konzerte ausgerichtet und eben mit einer Kneipe. Das hat das neue ja alles nicht. Es war eher ein Multifunktionsraum, okay, aber es war halt komplett anders, als man es eigentlich haben wollte, so Bert Binnig. Heute hat er sich jedoch längst mit dem neuen Juze angefreundet und dort selbst schon sehr viele Workshops im Rahmen des Programms dort gegeben. Und mittlerweile besuchen seine eigenen Kinder das KiKuZ. Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 321 <?page no="322"?> Der Eingang des heutigen Juzes, © Stadt Konstanz Jugendtreff Berchen Die Ereignisse rund um das Juze blieben nicht ohne Folgen und das Bewusstsein seitens der Stadt änderte sich im Rahmen der Konzeption für den Jugendtreff Berchen: Die Bedarfe und Wünsche der Jugendlichen wurden stärker bei der Entwicklung berücksichtigt, was der bundesweiten Entwicklung entsprach und heute ein Kernelement der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ist. In der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gab es die Diskussion, ob wir für oder nicht vielmehr mit den Jugendlichen planen müssen. Das Einbinden von Zielgruppen ist ja nicht nur in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ein Thema, auch in der Bürgerbeteiligung hat sie einen ganz anderen Stellenwert bekommen. So haben wir heute eine eigene Fachstelle für Kinder- und Jugendbeteiligung in Konstanz, so Irene Jun. Zum Neubau zusätzlich zu den bereits bestehenden Einrichtungen KiKuZ und Juze kam es, da es durch die rasante Entwicklung des Quartiers in Wollmatingen und des neuen Wohngebietes Öhmdwiesen immer wieder zu Problemen mit den 322 Mandy Krüger <?page no="323"?> 52 S C H E R R E R , Aurelia: Ein Haus für die Jugend. Vom Brennpunkt zum Treffpunkt in einem lebenswerten Wohnquartier, in: Konstanzer Almanach 2006, S.-30-f. 53 W I L D E R M U T H (wie Anm. 33), S.-78. 54 Beschlussvorlage ö - JHA 2009-127. 55 Ebd. dortigen Jugendlichen gekommen war. Es zeigte sich, dass Jugendliche meist in ihren Wohngebieten bleiben. Auch lag der Schwerpunkt des städtischen Amtes verstärkt auf einer Stadtteilorientierten Jugendarbeit. Angeschlossen an die bereits bestehende Skateanlage, bot der Jugendtreff einen zusätzlichen Reiz und einen Standortvorteil. Auch die Mobile Jugendarbeit wurde hier untergebracht. 52 Die 1996 gegründete Mobile Jugendarbeit war damals schon in der Leipzigerstraße ansässig. Es machte Sinn, die Mobile Jugendarbeit im neuen Jugendtreff als Standort zu etablieren, um frühzeitig präventiv einen Fuß in das Quartier zu bekommen, erzählt Jun. Der Neubau begann schließlich im Herbst 2004 und die Eröffnung folgte 2005. 53 Insgesamt wurden in den Neubau 511.000 Euro im Rahmen eines Gesamtkonzept, zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur für das Wohngebiet investiert. Die unterschiedlichen Arbeitsansätze des Jugendtreffs und der Mobilen Jugendarbeit führten jedoch immer wieder zu Konflikten zwischen den unter‐ schiedlichen Zielgruppen, zwischen Jugendlichen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und letztlich auch zu Interessenkonflikten in der Belegschaft selbst. 54 Dadurch und durch die hohen Besucherzahlen wurde schon 2009 eine Umstrukturierung des Jugendtreff Berchen und der Mobilen Jugendarbeit an‐ gestrebt. Durch die gute Frequentierung des Jugendtreffs und der dazugehörigen Außenanlagen, reichten auch bald die räumlichen Gegebenheiten nicht mehr aus. Man überlegte daher, die Mobile Jugendarbeit umzuziehen und neue Räume zu suchen. Der neue zentrale Standort, an dem die Mobile Jugendarbeit bis heute untergebracht ist, wurde am Zähringerplatz gefunden. 55 Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 323 <?page no="324"?> 56 B U R C H A R D T (wie Anm. 7), S.-570. 57 JHA 2007-052 Bericht über die Offene Jugendarbeit im Treffpunkt Berchen. Der Jugendtreff Berchen im Jahr 2016: Mit seinem Außenbereich und der Skateanlage liegt er nah an einem bevölkerungsreichen Wohngebiet in Wollmatingen, © Jugendtreff Berchen Offene Kinder- und Jugendarbeit heute In Konstanz beeinflusste die französische Besatzung die Jugendarbeit und deren Entwicklung in den folgenden Jahren nachhaltig. Sie legten den Grundstein für die heutige Offene Kinder- und Jugendarbeit und bot der Jugend Möglich‐ keiten, die so in anderen Städten zu dieser Zeit kaum existierten. 56 Diese frühe Bereitstellung an Räumlichkeiten in Kombination mit den Ereignissen rund um das Juze, führte in Konstanz zu der glücklichen Situation, dass heute mit dem KiKuZ ein eigenes, auf die speziellen Bedarfe einer jüngeren Altersgruppe zu‐ geschnittenes Programm angeboten werden kann. Heute hat die Offene Kinder- und Jugendarbeit vor allem familienergänzende Funktion und wird als Feld sozialen Lernens verstanden, das jungen Menschen die eigenverantwortliche Entwicklung ihrer Persönlichkeit und das Hineinwachsen in die Gesellschaft erleichtert. 57 324 Mandy Krüger <?page no="325"?> Eröffnungsfeier der Raiteburg im Jahr 2019, © Stadt Konstanz Diese Zielsetzungen haben sich die städtischen Einrichtungen und auch die Freien Träger in Konstanz verschrieben. Zentraler Aspekt ist die Freiwilligkeit: Einrichtungen wie das KiKuZ und Juze leben davon die Jugendlichen zu erreichen und so anzusprechen, damit die Lust haben zu kommen, so Irene Jun. Ein weiterer wesentlicher Fokus der heutigen Offenen und Kinder- und Jugendarbeit liegt auch immer stärker auf der Beteiligung der Jugendlichen: Das zeigt sich auch in der organisatorischen Entwicklung der Abteilung, in deren Verantwortung die Offene Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz liegt: So heißt die Abteilung heute „Kinder-, Jugend-, Senioren- und Stadtteilarbeit“ mit einer eigenen Fachstelle für Kinder- und Jugendbeteiligung. Die Abteilung unterstützt und berät u.-a. die freie Jugendarbeit, Jugendverbände, Jugendiniti‐ ativen sowie den Stadtjugendring und begleitet Beteiligungsmodelle für Kinder und Jugendliche. Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Konstanz 325 <?page no="327"?> 1 S T A T I S T I S C H E S B U N D E S A M T : Zahl der Kindeswohlgefährdungen im Jahr 2023 auf neuem Höchststand. Pressemitteilung 338 vom 6. September 2024. Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz Gesetzlicher Auftrag, soziale Wirklichkeit und dilemmatischer Verwaltungsalltag am Beispiel der Kindeswohlgefährung Wolfgang Seibel Am 6. September 2024 veröffentlichte das Statistische Bundesamt den Bericht über die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland für das Jahr 2023. 1 Die Jugendämter in Deutschland, so die betreffende Pressemitteilung, hatten bei mindestens 63.700 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt festge‐ stellt. Dies seien etwa 1400 Fälle oder 2 % mehr als im Jahr 2022 gewesen. Da aber einige Jugendämter für das Jahr 2023, wie es in der Pressemitteilung ebenfalls hieß, keine Daten melden konnten, sei es sicher, dass der tatsächliche Anstieg der Zahl von Kindeswohlgefährdungen noch deutlich höher ausgefallen sei. Wenn man für die fehlenden Meldungen für das Jahr 2023 die Ergebnisse für das Jahr 2022 zugrunde lege, habe der Anstieg der Kindeswohlgefährdungen 2023 gegenüber 2022 schätzungsweise bei 4700 Fällen oder 7,6 % gelegen. Wenn man zusätzlich die Generaltendenz des Anstiegs berücksichtige, erhöhe sich die Zunahme sogar auf rund 5000 Fälle oder 8-%. Kindeswohlgefährdung in der Bundesrepublik Deutschland Auf bedrückende Weise erhellend sind auch die weiteren Aufschlüsselungen im Bericht des Statistischen Bundesamts vom September 2024. Das Durchschnitts‐ alter der betroffenen Kinder habe im Jahr 2023 bei Feststellung von Kindeswohl‐ gefährdung 8,2 Jahre betragen. Bis zum Alter von 12 Jahren seien etwas häufiger Jungen von Kindeswohlgefährdung betroffen gewesen, ab dem 13. Lebensjahr <?page no="328"?> überwiegend Mädchen. Die meisten betroffenen Minderjährigen, nämlich 39 % der Betroffenen, wuchsen bei alleinerziehenden Elternteilen, 38 % bei beiden Eltern gemeinsam auf. 13 % lebten bei einem Elternteil in neuer Partnerschaft und 10 % in einem Heim, bei Verwandten oder, wie es in der Mitteilung des Bundesamtes hieß, „in einer anderen Konstellation“. Bei 31 % der betroffenen Minderjährigen seien ein oder beide Elternteile ausländischer Herkunft und die vorrangig gesprochene Familiensprache nicht Deutsch. In 45 % aller Fälle nahmen die Jungen oder Mädchen zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- oder Jugendhilfe in Anspruch, sie standen also, so der Wortlaut der Pressemitteilung, „schon in Kontakt zum Hilfesystem“. Dabei sei in etwa jedem vierten Fall (27 %) innerhalb des zurückliegenden Jahres „schon einmal eine Meldung zu dem Kind eingegangen“. Schließlich teilte das Statistische Bundesamt mit, dass „in den meisten Fällen von Kindeswohlgefährdung […] die Behörden Anzeichen von Vernachlässigung festgestellt“ hatten, nämlich in 58 % der Fälle. In 36 % der Fälle habe es Hinweise auf psychische Misshandlungen gegeben, in 27-% der Fälle Indizien für körper‐ liche Misshandlungen und in 6 % der Fälle für sexuelle Gewalt. In fast jedem vierten Fall von Kindeswohlgefährdung (23 %) hatten die betroffenen Kinder mehrere Gefährdungsarten - Vernachlässigungen, psychische Misshandlungen, körperliche Misshandlungen, sexuelle Gewalt - gleichzeitig erlebt. Ein klares Bild habe man auch darüber, so das Statistische Bundesamt, von wem die Gefährdung des Kindes jeweils ausging: In 73 % aller Fälle sei dies die eigene Mutter oder der eigene Vater gewesen. Diese einfachen und doch bestürzenden Tatsachen sollte zur Kenntnis nehmen, wer versucht, sich ein angemessenes Bild von den Aufgaben eines Jugendamtes und seines Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) und den damit verbundenen Herausforderungen zu machen. Hinter der Zahl von 63.700 Kin‐ deswohlgefährdungen verbirgt sich in jedem Einzelfall schweres Leid und Elend der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Jugendamtes und hier speziell des ASD sind tagtäglich mit diesem Elend und diesem Leid konfrontiert, sie leiden buchstäblich mit und müssen doch und gerade deshalb ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen, über Wohl und Wehe gefährdeter Kinder und Jugendlicher zu wachen. Bezeich‐ nend und beunruhigend zugleich ist daher die Mitteilung des Statistischen Bundesamtes zu teilweise fehlenden Meldungen der Jugendämter für das Jahr 2023. Neben Fehlern bei der Datenerfassung und einem Cyberangriff auf einen IT-Dienstleister werde von den zuständigen Stellen „auch die Überlastung des Personals im Jugendamt“ genannt. Was als bloße Nebenbemerkung erscheinen mochte, verwies in Wirklichkeit auf eine gravierende Problemlage, nämlich 328 Wolfgang Seibel <?page no="329"?> das Zusammentreffen stark gestiegener Anforderungen an die Jugendämter namentlich im besonders sensiblen Bereich der Kindeswohlgefährdungen, wo es um Wohl und Wehe besonders schutzbedürftiger junger Menschen geht, mit demografisch und belastungsbedingtem Personalmangel. Der nachfolgende Beitrag versucht, von diesen Herausforderungen am Bei‐ spiel des Jugendamtes der Stadt Konstanz und seines Allgemeinen Sozialen Dienstes eine gewisse Vorstellung zu vermitteln. Dies wäre ohne die Unterstüt‐ zung der Amtsleitung und der Leitung des ASD insbesondere bei der Durch‐ führung einer halbstandardisierten Befragung der Fachkräfte nicht möglich gewesen. Hierfür gilt Alfred Kaufmann und Markus Schubert der herzliche Dank des Verfassers. Extensiver und intensiver Kinder- und Jugendschutz Die Aufgaben eines Jugendamtes und seines Allgemeinen Sozialen Dienstes gehen zurück auf Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes mit dem Wortlaut „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Hieraus hat sich in der Sprache der Fachleute der Begriff des staatlichen „Wächteramtes“ entwickelt. Als unausgewiesenes wörtliches Zitat wurde Art. 6 Abs. 2 GG aufgenommen in das Achte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII, dort § 1 Abs. 2). Das „Wächteramt“ übt in der kommunalen Verwal‐ tung der Allgemeine Dienst im Jugendamt (ASD) aus. Der Kinder- und Jugendschutz ist auf dieser Grundlage in Deutschland durch den Gesetzgeber umfassend ausgestaltet worden. Das gilt nicht nur für die normativen Gebote im Hinblick auf die Unterstützung der Eltern bei der Wahr‐ nehmung ihres „natürlichen Rechts“ der Pflege und Erziehung der Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die Regelung der dabei durch die Jugendämter anzuwendenden Verfahren im Außenverhältnis, also gegenüber den Eltern oder einem Elternteil, und im Innenverhältnis, was verwaltungsinterne Abläufe und die Zusammenarbeit mit allen anderen, auch nicht-staatlichen Trägern des Kinder- und Jugendschutzes betrifft. Dies bezieht sich wiederum sowohl auf die Prävention und damit Maßnahmen, die einer Gefährdung des Kindeswohl entgegenwirken, als auch auf die Intervention, also den Eingriff notfalls auch in das Elternrecht, bei einer Gefährdung des Kindeswohls bis hin zur sogenannten Inobhutnahme eines Kindes durch Unterbringung in einem Heim oder einer Pflegefamilie. Die grundlegenden verbindlichen Gesetzeswerke sind hier das Achte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) und das Bundeskinderschutzge‐ setz (BKiSchG), ein Artikelgesetz, das seinerseits das Gesetz zur Kooperation Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 329 <?page no="330"?> und Information im Kinderschutz (KKG) enthält (Art. 1 BKiSchG [= §§ 1-4 KKG]) sowie Änderungen und Ergänzungen des SGB VIII (Art. 2 BKiSchG). Der extensive und intensive Charakter der gesetzlichen Regelung zum Kin‐ derschutz hat zwei wesentliche Quellen. Die eine besteht in der unvermeidlichen Konkurrenz zweier Rechtsgüter mit Verfassungsrang, eben des „natürlichen Rechts“ der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder einerseits und des Grundrechts der Kinder auf körperliche und seelische Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) andererseits. Die andere Quelle der umfangreichen und bis ins Einzelne gehenden rechtlichen Bestimmungen ist der komplexe Aufbau jener „staatlichen Gemeinschaft“, von der in Art. 6 GG als ‚Wächter‘ über die „Betätigung“ des Elternrechts die Rede ist. Nicht nur, dass in der deutschen Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis die primäre Gesetzgebungsinstanz, nämlich die des Bundes, von der primären vollziehende Gewalt, nämlich den Verwaltungen der Länder und der Kommunen, getrennt ist. Vielmehr sind auf der lokalen Ebene, auf der die Jugendämter tätig sind, mehrere staatliche und kommunale Instanzen und verschiedene Träger der Jugendhilfe tätig, für die das Jugendamt die zentrale Koordinationsstelle bildet. Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) als Teil des Bundeskinderschutzgesetzes von 2011 hat daher den Ländern und ihren Kommunalverwaltungen die Bildung „flächendeckend verbindliche[r] Struk‐ turen der Zusammenarbeit der zuständigen Leistungsträger und Institutionen in Kinderschutz“ auferlegt (§ 3 Abs. 1 KKG). Deren Aufgabe ist nach dem Willen des Bundesgesetzgebers, „sich gegenseitig über das jeweilige Angebot und Aufgabenspektrum zu informieren, strukturelle Fragen der Angebotsgestaltung und -entwicklung zu klären sowie Verfahren im Kinderschutz aufeinander abzustimmen“ (ebd.). Die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Ämter, Ein‐ richtungsträger, Gesundheitseinrichtungen und beratenden Instanzen muss nach diesen Bestimmungen in einem Netzwerk der Zusammenarbeit integriert werden (§ 3 Abs. 2 KKG). Das betrifft Gesundheitsämter, Sozialämter, Schulen, Polizei, Ordnungsämter, die Agenturen für Arbeit, Krankenhäuser, sozialpädi‐ atrische Zentren, Frühförderstelle, Beratungsstellen für soziale Problemlagen, Beratungsstellen nach den Regelungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, Einrichtungen und Dienste zu Müttergenesung und zum Schutz gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen, Familienbildungsstätten, Familiengerichte und Angehörige der Heilberufe (Aufzählung im Wortlaut des § 3 Abs. 2 KKG). Die Dualität von Differenzierung im Rahmen eines interorganisatorischen Netzwerks einerseits und Rückbindung durch die koordinierende Rolle der Jugendämter andererseits ist in struktureller Hinsicht das wesentliche Merkmal des Kinder- und Jugendschutzes. Dabei kann die Koordination offensichtlich 330 Wolfgang Seibel <?page no="331"?> 2 Vgl. Geschäftsordnung der Planungskonferenz Frühe Hilfen Konstanz vom 3. Juli 2019. nicht auf hierarchischem Wege erfolgen. Das Jugendamt ist auf die unterstüt‐ zende Mitwirkung der im Gesetz genannten Instanzen angewiesen, die es nicht durch eigene Weisung erzwingen kann. Es gehört zu den bemerkens‐ werten Leistungen der Zusammenarbeit staatlicher und kommunaler Stellen mit zahlreichen Akteuren eines unterstützenden Umfeldes, dass diese Aufgabe in der Regel erfolgreich bewältigt wird. Das geschieht einerseits Tag für Tag im Rahmen eingespielter Kooperationsbeziehungen, andererseits durch institutionalisierte Planungen und Abstimmungen. Um den Anforderungen des Bundeskinderschutzgesetzes und des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz Rechnung zu tragen, hat das Jugendamt der Stadt Konstanz etwa die „Planungskonferenz Frühe Hilfen/ Startpunkt Leben“ eingerichtet. 2 Wie die gesetzlichen Regelungen selbst, folgt diese Initiative der Erkenntnis, dass frühe Hilfen für Schwangere und Eltern von Kleinkindern negativen Pfadabhängigkeiten entgegenwirken, die in prekäre Familienverhältnisse und letztlich Kindeswohlgefährdungen münden können. In einem buchstäblichen Sinne hilfreich ist dieser Ansatz nicht zuletzt dadurch, dass er Hilfen für alle Interessierten koordiniert, die Zielzone also nicht von vornherein auf soziale Problemlagen verengt. Unabhängig von der Intervention bei Anzeichen von Kindeswohlgefährdung können auf diese Weise Integration der Hilfsangebote und soziale Integration ineinandergreifen. Bei Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung greift der Schutzauftrag des Jugendamtes nach § 8a SGB VIII. Die einzelnen Bestimmungen dieses gesetzlichen Schutzauftrags spiegeln die erforderliche Sorgfalt bei der Gefähr‐ dungseinschätzung und der Grundrechtsabwägung ebenso wider wie die Not‐ wendigkeit eines koordinierten Zusammenwirkens mehrerer Instanzen und ihrer jeweiligen Fachkräfte. § 8a SGB VIII verpflichtet das Jugendamt, sich „einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen“ (§ 8a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII). Das allerdings mit der Einschränkung, „sofern dies [die Verschaffung eines unmittelbaren Eindrucks] nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist“. Das Jugendamt ist ferner verpflichtet, die Kooperationspartner im Kinderschutz „in geeigneter Weise an der Gefährdungseinschätzung zu beteiligen“. Weiter heißt es: „Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des [Familien-]Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.“ Zu den Sorgfaltspflichten des Jugendamtes in diesem Zusammenhang gehört auch der Abschluss von Vereinbarungen mit Trägern von Einrichtungen und Diensten über „Kriterien für die Qualifikation Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 331 <?page no="332"?> 3 Bericht der B U N D E S R E G I E R U N G . Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes. Bundesmi‐ nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2016, hier S.-69. der beratend hinzuzuziehenden [und] insoweit erfahrenen Fachkraft“. Bei all dem gilt: „Die Erziehungsberechtigten sowie das Kind sind in die Gefährdungs‐ einschätzung einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes nicht in Frage gestellt wird.“ (§ 8a Abs. 4 Nr.-3 SGB VIII) Schon der Wortlaut des Gesetzestextes lässt erkennen, welche komplexen und für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter auch belas‐ tenden Fallkonstellationen zu berücksichtigen waren. Eine akute Gefährdung des Kindeswohls gilt es in jedem Fall abzuwenden. Notfalls muss dafür man‐ gelnder Mitwirkungswille der Eltern eines Kindes überwunden werden, die aber gleichzeitig in die Einschätzung der tatsächlichen Gefährdung ihres eigenen Kindes einzubeziehen sind. Nicht von ungefähr arbeitet das Gesetz hier mit Generalklauseln, unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensgewährungen, um den Jugendämtern und ihren Allgemeinen Sozialen Diensten angemessene Beurteilungs- und Handlungsspielräume zu eröffnen. Schon die Inaugenschein‐ nahme der persönlichen Umgebung des Kindes ist an die Voraussetzung einer entsprechenden fachlichen Einschätzung gebunden. Auf eine Beteiligung der Eltern an der Gefährdungseinschätzung kann verzichtet werden, wenn durch diese Beteiligung der wirksame Schutz des Kindes in Frage gestellt würde. Das setzt angemessene Urteilsfähigkeit der fallbearbeitenden Fachkraft des Jugend‐ amtes voraus. Die damit verbundenen ethischen Anforderungen beziehen sich nicht allein auf den unbedingten Schutz des Kindeswohls, sondern auch auf die Einhaltung der durch das Gesetz vorgegebenen professionellen Standards, ohne den sprichwörtlichen Weg des geringeren Widerstandes zu gehen. Ent‐ sprechende Versuchungen können etwa aus vorhersehbaren Konflikten mit Erziehungsberechtigten oder schlicht aus Zeit- und Personalmangel entstehen. Im Verwaltungsalltag begegnen die Jugendämter, wie der Evaluationsbericht der Bundesregierung zum Bundeskinderschutzgesetz von 2016 dokumentiert hat, überwiegend mit Dienstanweisungen, also internen Regelungen für Standard‐ situationen bei Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung. 3 Dies mildert das Problem möglicher Entscheidungsunsicherheit, nicht aber die physische und psychische Belastung der Fachkräfte in den Jugendämtern. Der schwerwiegendste Eingriff in das Elternrecht, wenn es um den Schutz des Kindeswohls geht, wird im Gesetzesdeutsch mit dem etwas schwerfälligen Begriff der Inobhutname bezeichnet. Sie ist in § 42 SGB VIII grundsätzlich und in §§ 42a-42f speziell für „ausländische Kinder und Jugendliche nach unbegleiteter Einreise“ geregelt. Das Jugendamt ist danach „berechtigt und 332 Wolfgang Seibel <?page no="333"?> verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn (1) das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder (2) eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und (2a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder (2b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder (3) ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorgenoch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten" (§ 42 Abs. 1 SGB VIII). Außer bei „dringender Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen“ erfolgt also die Inobhutnahme durch das Jugendamt bei unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen (im informellen Fachjargon „umA“ [unbegleitete minderjährige Ausländer]) a priori. Hier besteht folglich zum einen ein un‐ mittelbarer quantitativer Zusammenhang mit Migrationsbewegungen, zum anderen aber keine Möglichkeit kontinuierlicher oder struktureller Prävention im Rahmen des Netzwerks von Jugendamt/ ASD und unterstützenden Diensten und Einrichtungen. In der Praxis bedeutet die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII die vorläufige Unterbringung eines Kindes oder eines Jugendlichen „bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform“ (§ 42 Abs. 1 SGB VIII). An die Inobhutnahme knüpft sich die Pflicht des Jugendamtes, konkret also des ASD, „unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen umfassend und in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form über diese Maßnahme aufzuklären, die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen“ (§ 42 Abs. 2 SGB VIII). Außerdem ist dem Kind oder dem Jugendlichen „unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen“ (ebd.). Im Zuge der Inobhutnahme und aller damit verbundenen Rechtshandlungen, „die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind … [ist] der mutmaßliche Wille der Personensorge- oder des Erziehungsberechtigten … angemessen zu berücksichtigen“ (ebd.). Bei unbegleiteten Kindern und Jugendlichen aus dem Ausland gehört zu den Pflichten des Jugendamtes, „insbesondere die unverzügliche Stellung eines Asylantrags für das Kind oder den Jugendlichen in Fällen, in denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass das Kind oder der Jugendliche internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer-2 des Asylgesetzes benötigt“ (ebd.). Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 333 <?page no="334"?> 4 Vgl. E C A R I U S , Jutta (Hg.): Handbuch Familienhilfe. Wiesbaden 2007; N I K L E S , Bruno W./ R O L L , Sigmar/ U M B A C H , Klaus: Kinder- und Jugendschutz. Eine Einführung in Ziele, Aufgaben und Regelungen. Opladen u.-a. 2013. 5 S T A D T K O N S T A N Z , Sozial- und Jugendamt: Situation Allgemeiner Sozialer Dienst - Rahmenbedingungen zur Gewährleistung des Kinderschutzes. Beschlussvorlage ö 2023-3291, Jugendhilfeausschuss, 28.06.2023. ASD in der Krise oder in den Krisen? Die einschlägigen Gesetze und selbst noch der detaillierte Evaluationsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2016 (s. Fußnote 3), der seinerseits auf einer Befragung von Mitarbeitenden der Jugendämter und von Experten beruhte, lassen Spannungslagen zwischen Anspruch und Wirklichkeit bereits erahnen. Die Jugendämter stehen einerseits vor der Herausforderung, jegliche Art von Kindeswohlgefährdung rechtzeitig zu erkennen und diese sowohl situativ als auch strukturell einzudämmen und nach Möglichkeit vollkommen zu unter‐ binden. Andererseits müssen dabei Gebote der Sorgfalt und der Verhältnismä‐ ßigkeit möglicher Eingriffe in das „natürliche Recht“ der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder beachtet werden. Die damit verbundenen Abwägungs‐ prozesse erfordern selbstverständlich genaue Kenntnisse der Rechtslage, aber das ist noch eine vergleichsweise harmlose Herausforderung. Im praktischen Umgang mit möglichen oder tatsächlichen Kindeswohlgefährdungen kommt es auf Erfahrung, Urteilsvermögen und Entschlusskraft an. Und dies schon unter normalen Umständen, von außergewöhnlichen Belastungen quantitativer oder qualitativer Art noch abgesehen. Solche besonderen Belastungen spielen in der Praxis des Kinder- und Ju‐ gendschutzes aber eine erhebliche Rolle, und dies nicht nur in der jüngeren Vergangenheit. Kriegs- und Nachkriegszeiten bieten ebenfalls reichhaltige und drastische Beispiele. 4 Generell, also auch unabhängig von Krisenlagen, enthält diese Konstellation das Risiko eines negativen Zirkels aus zunehmender Belas‐ tung, gestiegenen Professionalitätserwartungen und -geboten einerseits und Belastungsreaktionen, Erschöpfung (burnout), Personalfluktuation und latenter Entprofessionalisierung andererseits. Dass dies in der Arbeit eines Jugendamtes und seines Allgemein Sozialen Dienstes (ASD) zu einer krisenartigen Belastung führen kann, macht ein Schlüsseldokument des Jugendhilfeausschusses des Konstanzer Gemeinderats vom Juni 2023 deutlich. 5 In der betreffenden Beschlussvorlage des Jugendhilfeausschusses vom 28. Juni 2023 war von der „aktuell kritischen Situation im Allgemeinen Sozialen Dienst“ des Jugendamtes die Rede. Nach einem Resümee der Aufgabenstellung des ASD wurde Bezug genommen auf die „aus Sicht der Abteilungsleitung Soziale Dienste […] kritische, nun über einen längeren Zeitraum manifeste, 334 Wolfgang Seibel <?page no="335"?> instabile Entwicklung im ASD“, so dass man „kurzbis mittelfristig auch die Gewährleistung eines fachlich vertretbaren Kinderschutzes nicht mehr sicher‐ stellen“ könne. Ausdrücklich nahm die Vorlage Bezug auf „gesellschaftliche Krisen und Veränderungen“ mit „unmittelbare[n] Auswirkung[en] auf den ASD“ (a.-a.-O., S.-3). Als besondere Belastungen des ASD wurden genannt: • Umsetzung des Bundeskinderschutzgesetzes und der SGB-VIII-Reform, welche seit ca. 2014/ 15 einen kontinuierlichen Anstieg von Meldungen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach sich zieht. Die höhere Sensibilität durch Ein‐ richtungen und Bürger*innen ist gewünschter und notwendiger Effekt des Ge‐ setzgebers, um den Kinderschutz in Deutschland zu verbessern; dies löst aber kontinuierlich höhere Arbeitsbelastung im ASD aus. • Flüchtlingskrise 2015/ 16: Notversorgung und Weiterleitung von ca. 600 unbeglei‐ teten minderjährigen Flüchtlingen (UMA), da Konstanz seinerzeit als Grenzstadt Einreiseroute war. • Integration von ca. 60 zugewiesenen UMA in der Stadt Konstanz. Hilfen zur Erziehung für hilfebedürftige Flüchtlings-Familien, welche der Stadt Konstanz zugewiesen wurden. • Corona-Pandemie mit entsprechenden Einschränkungen für die Mitarbeitenden im ASD bei gleichzeitig hohem gesellschaftlichen Anspruch, gerade in dieser Zeit, den Kinderschutz und Hilfeangebote für Kinder und Familien aufrecht zu erhalten. • Seit 2022 Ukraine-Krise mit entsprechenden unmittelbaren Auswirkungen im Bereich Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung auch für Flüchtlingsfamilien. (a.-a.-O., S.-3) Zusätzlich, so hieß es in der Vorlage weiter, sei der ASD durch eine hohe Personalfluktuation belastet, die im Jahr 2023 „eine kaum noch handhabbare Dimension“ angenommen habe. Seit 2018, also in einem Zeitraum von fünf Jahren, habe es einen Personalaustausch von zwei Dritteln der Teammitglieder gegeben. Die Personalveränderungen seien „durchweg im Einzelfall nachvoll‐ ziehbar“, führten aber „in der Summe dazu, dass aktuell nur noch ein Notbetrieb aufrechterhalten werden kann“. (ebd.) Was dies in der Praxis bedeutete, machte die Vorlage des ASG an den Jugendhilfeausschuss ebenfalls deutlich: Meldungen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung steigen in Konstanz, wie bun‐ desweit in anderen Jugendämtern auch, stark an und pendeln sich aktuell auf einem hohen Niveau von 2 bis 3 Meldungen pro Woche ein. Im Jahr 2020 sind 183, im Jahr 2021 176 Hinweise sowie nach aktueller Auswertung im Jahr 2022 erneut 184 Kindeswohlgefährdungen beim Jugendamt eingegangen (107 Meldungen beim Amt Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 335 <?page no="336"?> 6 ICD-10 = International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation (WHO), 10. Auflage von 2019. direkt und 70 Anrufe auf dem Notruftelefon). Zum Vergleich war vor 10-15 Jahren nur mit 10-20 Meldungen im Jahr zu rechnen. (a.-a.-O., S.-4) Auch im Hinblick auf die erwähnten Krisensymptome blieb die Vorlage nicht bei Allgemeinheiten stehen. Verwiesen wurde auf die „in den letzten Jahren […] zunehmende Komplexität in den Familiensystemen“. Diese sei „u.a. verursacht durch eine steigende Zahl psychisch erkrankter Eltern/ Kinder/ Jugendlicher und veränderte gesellschaftliche Lebensbedingungen“ (ebd., S.-5). In der Dokumen‐ tation durch die jeweils zuständigen Fachkräfte sei die Einstufung „psychische Erkrankung mindestens eines Elternteils“ kontinuierlich angestiegen. Auch bei Kindern komme es „immer öfter“ zu „Störungsbildern im Kindesalter nach ICD-10 6 “ (ebd.). Charakteristisch sei eine Kumulation von Belastungen des Familiensystems, sogenannte „Multiproblem Konstellationen“. Was bedeute, „dass innerhalb eines Familiensystems nicht eine isolierte Kernproblematik vorliegt wie z. B. eine Suchterkrankung eines Elternteils, sondern mehrere Belastungsfaktoren hinzukommen, welche die Dynamik der Problemlagen verstärken können, wie z. B. beengte Wohnverhältnisse, Überforderung in der Erziehung, Arbeitsplatzverlust und Armut/ Geldsorgen“. Dabei komme der ASD „mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten immer häufiger an die Grenzen des Machbaren“ (ebd.). Unterstrichen wurde diese Einschätzung durch den drastischen Anstieg der Anzahl von Inobhutnahmen. Die Vorlage des ASD für den Jugendhilfeausschuss vom Juni 2023 weist eine Zunahme von 16 Inobhutnahme im Jahr 2014 auf zu‐ nächst 35 im Jahr 2015 aus und von diesem Niveau (mit einer leichten Abnahme auf 31 Inobhutnahmen 2017) auf 48 im Jahr 2020 und 51 Inobhutnahmen im Jahr 2022. Und zwar, wie in der Vorlage hervorgehoben wurde, „ohne UMA“, also die obligatorische Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Ausländer (ebd.). Das bedeute in der Praxis, so hieß es in der Vorlage, dass „mindestens 5-6 Inobhutnahmen gleichzeitig“ durch den ASD zu betreuen seien. Wobei man, wie betont wurde, berücksichtigen müsse, dass eine einzelne Inobhutnahme in der Regel mehrere Mitarbeitende des ASD binde, bedingt durch Doppelbesetzung der Vertretung des ASD bei „Konfrontationsgesprächen mit Eltern“ und auch bei der Überführung eines Kindes in eine Einrichtung oder Pflegefamilie (ebd.). Zusammenfassend hieß es dann in der Vorlage: ASD-Mitarbeitende können eingehende Kindeswohlgefährdungen und Inobhut‐ nahmen koordiniert und ‚nacheinander‘ gut abarbeiten; sofern aber in einem lau‐ 336 Wolfgang Seibel <?page no="337"?> fenden Prozess weitere neue Meldungen kommen, wird dies als besonders belastend wahrgenommen. Die Kolleg*innen äußern in diesem Zusammenhang das Gefühl hohen psychischen Drucks und Ängste ‚nicht mehr hinterher zu kommen‘ sowie in diesen Situationen Fehler zu machen, für die sie im Sinne der ‚Garantenstellung‘ persönlich haften können, sofern z.-B. ein Kind zu Schaden kommt. (a.-a.-O., S.-5-6) Es liegt in der Natur der Sache, dass der Allgemein Soziale Dienst im Rahmen von Prävention und Intervention auch in außergerichtliche und gerichtliche Verfahren zur Klärung von Sorgerecht und Umgangsrecht involviert ist. Von diesen hieß es in der Vorlage des ASD für den Jugendhilfeausschuss des Gemeinderats vom Juni 2023, sie nähmen nicht nur quantitativ zu, vielmehr sei auch „eine steigende Zahl hochstrittiger Verfahren“ festzustellen, auch solche, die erst in zweiter Instanz beim Oberlandesgericht Freiburg entschieden würden. Belastend für die Mitarbeitenden des ASD sei insbesondere die „in diesen Verfahren […] teilweise vorhandene Verfahrenstaktik von Elternteilen und/ oder deren anwaltlicher Vertretung“, die auch fachliche Diskreditierung von Mitarbeitenden des ASD und Beschwerden über die zuständige Fachkraft einschließen könne, nur um die jeweils eigenen Verfahrensziele zu erreichen (a.-a.-O., S.-6). Bestätigt wurde in der Vorlage ein negativer Zirkel von hoher Belastung und Personalfluktuation. Letztere wirke sich „sehr negativ bzw. verstärkend“ aus. Man gehe im ASD von einer „gesunden Mischung“ von mindestens ¾ Personal‐ anteil erfahrener Mitarbeitenden und ¼ jüngeren Kolleginnen und Kollegen aus, um die Herausforderungen meistern zu können. Zum Berichtszeitpunkt arbeiteten im ASD der Stadt Konstanz 17 Mitarbeitende auf 15,55 Stellen, von denen 11 Mitarbeitende „weniger als 3 Jahre ASD-Erfahrung“ hätten. Die durchschnittliche Berufserfahrung aller Mitarbeitenden im ASD betrage 3,49 Jahre. Rechne man die verbliebenen erfahrenen Mitarbeitenden heraus, liege die durchschnittliche Berufserfahrung im Team des ASD zum Berichtszeitpunkt bei lediglich 14,11 Monaten. Aus dem in dieser Entwicklung liegenden Entprofessionalisierungsrisiko machte die Vorlage des ASD für den Jugendhilfeausschuss des Konstanzer Gemeinderats ebenfalls kein Geheimnis. Tatsache sei nämlich, dass die berufs‐ erfahrenen Mitarbeitenden im ASD in den besonders komplexen und fachlich anspruchsvollen Schwerpunkten eingesetzt werden müssten. Genannt wurden die Beispiele „UMA-Notversorgung“ und Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung nach § 35a SGB VIII in Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (präventive Maßnahmen zur Abwehr einer chronischen Erkrankung oder Behinderung). Die besonders erfahrenen ASD-Mitarbeitenden seien „demnach in die reguläre Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 337 <?page no="338"?> Bezirkssozialarbeit nicht eingebunden“ (a. a. O., S. 6). Das war die zurückhal‐ tende Umschreibung eines für Aufgabe und Selbstverständnis des ASD beson‐ ders prekären Zustands: Ausgerechnet das ‚Kerngeschäft‘ mit den sensiblen Schwerpunkten Kindeswohlgefährdung und Inobhutnahme muss den weniger qualifizierten, noch anzulernenden Fachkräften überantwortet werden. Bei denen würden, so die Feststellung in der Vorlage, „eingehende Meldungen von Kindeswohlgefährdungen entsprechende Überforderung und Überlastung“ auslösen (ebd.). Die Vorlage des ASD für den Jugendhilfeausschuss schilderte den daraus resultierenden Teufelskreis: Vor dem Hintergrund des aktuellen Fachkräftemangels können Stellen nach Fluktua‐ tion von erfahrenen Mitarbeitenden in der Regel nur mit Berufsanfängern wiederbe‐ setzt werden. Offensichtlich mangelt es an Anreizen, aus anderen Bereichen der Jugendhilfe in den ASD zu wechseln. Das Arbeitsfeld schreckt mit hoher Arbeits‐ belastung, hoher Verantwortung bei vergleichsweise geringer Vergütung potentiell geeignete Bewerber*innen aus anderen Feldern der Jugendhilfe ab. (ebd., S.-7) Die aktuelle Personalsituation im ASD Konstanz, so die Schlussbemerkung der Vorlage, sei „kein örtliches Phänomen, sondern landes- und bundesweit wahrnehmbar“ (ebd.). Innenansichten Die oben referierte Vorlage des Allgemeinen Sozialen Dienstes für den Jugend‐ ausschuss des Konstanzer Gemeinderats vom Juni 2023 kann einerseits als Hilferuf verstanden werden, andererseits ist es ein Dokument bemerkenswerter verwaltungsinterner Transparenz. Tatsächlich muss ein Jugendhilfeausschuss so präzise wie möglich über die tatsächliche Situation des Kinder- und Jugend‐ schutzes in seinem Verantwortungsbereich informiert sein, er muss entspre‐ chende Informationen gegebenenfalls auch selbst anfordern oder erheben. Insofern war es ein glücklicher Umstand, dass die Leitung des ASD die drän‐ gendsten Probleme bei der Erfüllung des gesetzlichen Auftrags dem verant‐ wortlichen kommunalen Beschlussgremium in aktenkundiger Form schilderte. Dabei wurden die hohen Anforderungen, die der Gesetzgeber an die Ausge‐ staltung und Verfahrensformen des Kinder-und Jugendschutzes stellt, in der Vorlage noch nicht einmal deutlich, sie wurden wahrscheinlich, ob berechtigt oder nicht, als bekannt vorausgesetzt. Und es folgte vermutlich auch der formalen Logik interner Berichterstattung, dass diese sich auf die Belange der zuständigen kommunalen Dienststelle im engeren Sinne konzentrierte und von den negativen Folgen der krisenhaften Bedingungen in der Arbeit des ASD für 338 Wolfgang Seibel <?page no="339"?> die Hauptbetroffenen, nämlich die zu schützenden Kinder und Jugendlichen, nur am Rande die Rede war. Es blieb wohl nicht mehr als die Hoffnung, dass die Mitglieder des kommunalen Jugendhilfeausschusses über ausreichendes Vorstellungsvermögen verfügten. Wieviel Leid und Elend sich hinter einem abstrakten Indikator wie der Anzahl von 51 Inobhutnahmen verbirgt, konnte jedenfalls in einer Ausschussvorlage bestenfalls angedeutet werden. An diesem blinden Fleck ändert naturgemäß auch die Umfrage unter den Fachkräften des ASD wenig, die der Verfasser mit Unterstützung der Leitung von Jugendamt und ASD im Sommer 2024 durchführen konnte. Angesprochen wurden die zu diesem Zeitpunkt 17 fallbearbeitenden Fachkräfte des ASD. Der vom Verfasser in Absprache mit den Leitern von Jugendamt und ASD entwickelte Fragebogen wurde von 12 Fachkräften des ASD ausgefüllt und anonym zurückgegeben. Für die Auswertung wurden die zurückgegebenen Fragebögen mit römischen Ziffern (also I bis XII) durchnummeriert. Die Fragen (im Umfragejargon „offene“ Fragen, die Raum für individuelle Antworten und Schilderungen ließen) bezogen sich (F1) auf die, nach Einschätzung der Antwor‐ tenden, mutmaßlichen Gründe für das gestiegene und anhaltend hohe Niveau der Meldungen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung und Inobhutnahmen, (F2) damit verbundene typische Belastungssituationen, (F3) Bürokratieeffekte und Regelungen, die an der Realität der Fälle und der Fallbearbeitung vorbei‐ gehen und (F4) auf die Ausgestaltung der vom Gesetzgeber formulierten an‐ spruchsvollen Kooperationsanforderungen mit einer Vielzahl lokaler Instanzen, Einrichtungsträgern, und gemeinnützigen Vereinen oder Akteuren. Diese Erhe‐ bung kann offensichtlich nicht den Anspruch auf eine umfassende empirische Abbildung der Arbeitswirklichkeit der Fachkräfte im ASD erheben, aber sie wirft ein Schlaglicht auf typische Tätigkeitsfelder und Problemzonen. Eine Begrenzung standardisierter oder, wie hier, halbstandardisierter Umfragen ist die fehlende Möglichkeit zu Nachfragen, schon wegen der anonymisierten Durchführung der Erhebung. Auch wurde aus Gründen der Anonymisierung auf neutrale Angaben zu Geschlecht, Alter, Vorbildung und zeitlichen Dauer der Berufserfahrung verzichtet, die grundsätzlich für die Interpretation mancher Erhebungsergebnisse hilfreich gewesen wären. Gründe des Anstiegs von Kindeswohlgefährdung und Inobhutnahmen Die erste Frage (F1) war im Fragebogen mit mehreren Antwortmöglichkeiten versehen. Gefragt wurde im Einzelnen, ob das anhaltend hohe Niveau der Meldungen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung und Inobhutnahmen zu‐ Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 339 <?page no="340"?> 7 Zur Zitierweise: Römische Ziffer = Nummer des zurückgegebenen Fragebogens, F mit arabischer Ziffer = Nummer der beantworteten Frage. rückzuführen sei (A) auf verschärfte gesellschaftliche Lebenslagen mit der Folge zunehmender Komplexität in den Familiensystemen, (B) auf höhere gesell‐ schaftliche Sensibilität für Kindeswohlgefährdung, zum Beispiel bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch, (C) auf konkretere gesetzliche Regelungen, zum Beispiel das zum 1. Januar 2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz oder (D) auf alle drei der bis hierher genannten Faktoren gleichermaßen, wenn auch unter Umständen mit einer gewissen Schwerpunktbildung. Bei der Beantwortung zeigte sich eine signifikante Betonung der unter A und B genannten Ursachen. Neun der zwölf ASD-Fachkräfte, die den Fragebogen zurückgegeben hatten, nannten verschärfte gesellschaftliche Lebenslagen und zunehmende Komplexität in den Familiensystemen als Hauptursache für die stark gestiegene Zahl gemeldeter Kindeswohlgefährdung und Inobhutnahmen. An zweiter Stelle, aber mit deutlichem Abstand (drei Nennungen), wurde eine höhere gesellschaftliche Sensibilität für Kindeswohlgefährdung, zum Beispiel bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch, genannt. In den Kommentaren, mit denen die Antworten zu Frage 1 mitunter versehen wurde, wurde aber auch auf eine bessere Schulung und Ausbildung der Fach‐ kräfte in ASD verwiesen, was eine höhere Sensibilität erzeuge, die ihrerseits eine gesteigerte Aufmerksamkeit in der Gesellschaft für Kindeswohlgefährdung widerspiegele (I F1). In einer Antwort fand sich der bemerkenswerte Hinweis, dass höhere formale Qualifikation in Verbindung mit geringer Berufserfahrung auch Risikoscheu erzeugen könne. Aus der Befürchtung heraus, folgenschweren Fehler zu begehen in der Beurteilung der häuslichen Situation und der tatsäch‐ lichen Gefährdung eines Kindes, könne auch eine Entscheidung zur Inobhut‐ nahme eines Kindes folgen, die bei längerer Berufserfahrung unter Umständen durch eine mildere Form der Intervention hätte vermieden werden können (XI F1). 7 Typischen Belastungssituationen in der Fallbearbeitung In den Antworten auf die Frage nach typischen Belastungssituationen in der Fallbearbeitung (F2) wurde wiederholt die Plötzlichkeit hochkritischer Situationen in Familien genannt, bei denen es auf hochkonzentriertes und entschlossenes Handeln bei Intervention durch den ASD ankomme (II F2, V F2, X F2). Die Herausforderung bestehe darin, gleichwohl empathisch zu bleiben und vor allem intensive Kommunikation mit Eltern und mit weiteren 340 Wolfgang Seibel <?page no="341"?> helfenden Akteuren zu betreiben. Man müsse dann so schnell wie möglich „Ruhe hereinbringen“ (X F2). Ferner müsse man in der unvermeidlichen Hektik immer auch die Dokumentationspflichten und -notwendigkeiten beachten (X F2). Einräumen müsse man, dass bei nächtlicher Rufbereitschaft „Entscheidungen oft aus dem Tiefschlaf “ heraus zu treffen seien (II F2). Gerade bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung sei das Aufeinandertreffen von Sorgfalt und „Ruhe herein bringen“ einerseits und hohem Abstimmungs- und Dokumentationsauf‐ wand andererseits besonders belastend (X F2). Zu den psychischen Belastungen wurde in den Antworten auch die Un‐ ausweichlichkeit genannt, „auszuhalten, unter welchen Umständen Kinder aufwachsen müssen, ohne dass es die Möglichkeit gibt, dies zu ändern (keine Mitwirkung der Eltern, nicht förderliche Entwicklungsbedingungen unterhalb einer Kindeswohlgefährdung)“ (XI F2). Hinzu kämen durchaus auch Selbst‐ zweifel („Eine schlaflose Nacht, weil man sich entschieden hat, ein Kind nicht aus der Familie zu nehmen und man sich unsicher ist, ob dies die richtige Entscheidung war.“ - XI F2). Schwierig und belastend sei das „Aushalten des Ungewissen“ (I F2). Dabei stelle psychische Gewalt eine spezifische Belastungs‐ situation für die Fachkräfte im ASD dar, „da man diese nicht nachweisen kann“. Dies erschwere „die Begründung einer Gefährdung, da Eltern meistens diese Aspekte verleugnen“ (VIII F2). Bei UMA-Fällen trete das Problem erforderlicher Dolmetscher hinzu (III F2). Dabei gehe es auch hier um hochsensible Entscheidungen, vor allem bei Abschiebungen: „Bei der Alterseinschätzung, wenn deutlich wird, dass es sich nicht mehr um einen unter 18-Jährigen handelt und dieser wieder in sein Her‐ kunftsland und in die gefährdenden bzw. prekären Verhältnisse zurück muss, besonders wenn dieser [Abzuschiebende] schwer traumatisiert und psychisch belastet ist.“ (V F2). Dann addierten sich zu objektiven Unklarheiten mitunter unterschiedliche Einschätzungen der beteiligten Fachkräfte und anderer Stellen (VI F2, ähnlich VII F2). Sehr belastend sei ferner die Konfrontation mit einer Instrumentalisierung der Kinder bei einem Konflikt zwischen den Eltern („Spagat zwischen Eltern‐ verantwortung und Respekt sowie Akzeptanz durch Fallzuständige und der Frage, was die für die Kinder geeignete, erforderliche und am wenigsten traumatisierende Maßnahme ist.“ - XII F2, ähnlich VI F2). Genannt wurde der „Umgang mit hochstrittigen Eltern“ (VII F2), „wenn Eltern beim Kampf gegen den/ die ehemalige/ n Partner_In die Kinder völlig aus dem Blick verlieren“ und „wenn Kinder instrumentalisiert werden [und] dazu gebracht werden, einen Elternteil ablehnen zu müssen“ (XII F2). Ein bitteres Resümee lautete: „Die Wahrheit kennen wir nicht, doch die Kinder leiden.“ (VIII F2) Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 341 <?page no="342"?> Bürokratisierungseffekte Bemerkenswert heterogen fielen die Antworten auf die Frage nach Bürokrati‐ sierungseffekten in der Arbeit des ASD aus (F3). Während einige der Fachkräfte, die den Fragebogen zurückgegeben hatten, Bürokratie und ein Übermaß von Regelungen oder schlicht „zu viel Papier“ (I F3) als „das größte Problem“ (ebd.) bezeichneten, hielten andere das Bürokratieproblem eher für eine Neben‐ erscheinung. Eine Antwort lautete: „Aus meiner Sicht halten sich in unserem Amt die bürokratischen Regelungen in Grenzen.“ (XI F3) Weiter hieß es in derselben Antwort: Auch gesetzlich sind die Regelungen aus meiner Sicht recht alltagstauglich. Prozesse im ASD werden bei Bedarf angepasst, um sie alltagstauglich zu halten. Die größte Hürde in vielen Fällen ist sicherlich der Datenschutz, der Kooperation und Hilfe erschweren kann. (ebd.) Auch wurde darauf hingewiesen, dass es zwar „sehr viel Bürokratie“ gebe, „jedoch“, so eine Fachkraft in ihrer Antwort, „sichert diese [die Bürokratie] uns selbst vor allem im Kinderschutz auch ab und ist daher sehr aufwändig, aber sinnvoll, zum eigenen Schutz“ (II F3). Eine weitere Fachkraft betonte ebenfalls, der Dokumentationsaufwand habe „zugenommen, [ist] jedoch nach meiner Einschätzung unverzichtbar“ (XII F3). Dies sei eben auch „im Sinne der Transparenz erforderlich“ (ebd.). Als „äußerst wünschenswert“ wurde von derselben Fachkraft hingegen mehr Flexibilität „in der Zusammenarbeit mit anderen Ämtern“ bezeichnet, vor allem mit dem Personalamt. Dies vor allem, um „eine Steigerung der Flexibilität“ und damit auch eine Verringerung der Personalfluktuation zu erreichen (ebd). Diesen eher neutralen oder sogar wohlwollenden Einschätzungen von Büro‐ kratisierungseffekten in der Arbeit des ASD stehen dezidiert kritische Urteile gegenüber. Die Falldokumentation, so hieß es in einer der Antworten, „benötigt Unmengen an Zeit“ (VII F3). Eine andere Fachkraft schrieb: Aufgrund der Fallzahlen, der Komplexität der Fälle und Kindeswohlgefährdungsmel‐ dungen ist es schwierig, mit der Dokumentation hinterherzukommen. Meistens häufen sich Informationen und Hilfepläne, so dass man schnell den Überblick verliert. Dies verursacht Stress und Druck, da man selbst möchte, dass die Hilfen auf dem aktuellsten Stand sind und weiter gewährt werden. (VIII F3) Eine Fachkraft stellte in ihrer Antwort schlicht fest, dass eine gründliche Dokumentation (die in Papierform erfolgen muss), gerade bei Kindeswohlge‐ fährdungen „aufgrund der hohen Belastung nicht möglich“ sei (III F3). Als realitätsfern wurde in den Antworten einiger Fachkräfte das Erfordernis ein‐ 342 Wolfgang Seibel <?page no="343"?> gestuft, eine „neutrale Person“ als Vertretung unbegleiteter minderjähriger Ausländer (UMA) bereitzustellen. „Dies ist kaum zu bewerkstelligen“, lautete hier der Kommentar (III F3). Ebenfalls als unrealistisch wurde in einer Antwort das Erfordernis einer vorherigen Entscheidung des Familiengerichts bei einer Inobhutnahme bezeichnet. Diese müssten nämlich, „um zu gelingen, in der Regel geheim erfolgen“ (VI F3). Oft wurde in den Antworten der geringe Stand der Digitalisierung bei der büromäßigen Fallbearbeitung als besonders belastend hervorgehoben. Zwar seien, so hieß es in einer der Antworten, grundsätzlich die Regelungen und Vorgaben sinnvoll. Allerdings werden diese massiv durch eine mangelnde Digitalisierung erschwert. Ein analoges Arbeiten geht an der heutigen Arbeitsrealität vorbei. Viele Abläufe könnten durch eine digitale Arbeitsweise und digitale Ressourcen deutlich vereinfacht werden. Dies würde auch bedeuten, dass Arbeitszeit gespart und dadurch Belastung reduziert wird. Es gibt viele technische Möglichkeiten, welche bisher nicht genutzt werden. (IV F3). Eine andere Antwort enthielt den Hinweis, die unzureichende Digitalisierung sei überhaupt „das größte Problem“. Sie verursache „zu viel Papier“, die Fach‐ kräfte frustriere dies, es werde „der workflow massiv beeinträchtigt“ (I F3). Eine andere Fachkraft verwies auf die Notwendigkeit, „im Alltagsstress […] ein gewisses Maß an Großzügigkeit, Flexibilität, Kreativität und damit Gestal‐ tungsspielraum“ sicherzustellen. Recht drastisch hieß es dann in dieser Antwort: Wenn i. d. R. vieles/ alles nach Dienstanweisung abzulaufen hat (mit Berücksichtigung der Sicherheit für insbes. jüngere MA oder Quereinsteiger), die Anweisungen mit sich bringen können und Hilfsmittel, sowie Bürokratie noch vor der eigentlichen ‚Sozialen Arbeit‘ stehen, dann können diese Menschen, die in diesen Systemen arbeiten, ‚eingehen wie eine Primel‘, und dieser Zustand kann zu der bereits ohnehin zu hohen Fluktuation beitragen. (X F3) Bemerkenswert ist auch der Hinweis derselben Fachkraft, dass „eine zu umfas‐ sende, regelmäßige kollegiale Fallbesprechung, die einen gesamten Vormittag in Anspruch nimmt“, auch kontraproduktive Auswirkungen haben könne (X F3). In solchen Zusammenhängen gehe mitunter die Kontrolle und damit auch die strikte Einhaltung der Vorschriften zu Lasten von Flexibilität und Kreativität „weit weniger von den Vorgesetzten […] als vielmehr von Kollegen untereinander“ aus (ebd.). Vorgeschlagen wurde in diesem Zusammenhang als Alternative die Bildung besonderer Teams, die ausschließlich für Inobhut‐ nahmen zuständig sein sollten, so wie dies in Berlin realisiert worden sei („ausschließliches Kinderschutzteam“ - ebd.). Eine andere Fachkraft verwies Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 343 <?page no="344"?> ebenfalls auf kontraproduktive kollegiale Fallbesprechungen, denn diese, so hieß es in der betreffenden Antwort, „ziehen sich über Wochen, weil die notwendigen Personen im Amt nicht da sind“ (IX F3). Kooperationsbeziehungen in der Praxis In der Beantwortung der Frage nach der tatsächlichen Ausgestaltung der Kooperationsbeziehungen in der Praxis (F4) wurde deutlich, dass die starke Ar‐ beitsteilung in Verbindung mit der im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) geforderten Zusammenarbeit der „örtlichen Träger der Jugendhilfe“ mit einer Vielzahl an staatlichen und kommunalen, öffentlichen und privaten Akteurinnen und Akteuren in der Einschätzung der Fachkräfte im ASD ambivalente Folgen hat. Gefragt wurde im Einzelnen, welche Koopera‐ tionskontakte des ASD besonders häufig, für eine angemessene Fallbeurteilung besonders wichtig, welche mehr und welche weniger standardisiert und, nicht zuletzt, welche eher konfliktträchtig seien. Wenig überraschend ist, dass sich die Antworten auf die Fragen nach besonders häufigen und besonders wichtigen Kooperationskontakten wenig unterschieden. Genannt wurden durchweg Schulen, Kindertagesstätten Ärztinnen und Ärzte, Krankenhaus, Psychiatrie, Polizei, Gerichte, das örtliche Frauenhaus, Sozialar‐ beiter, das Jugendamt des Landkreises, Dolmetscher (bei unbegleiteten minderjäh‐ rigen Ausländern, UMA), Einrichtungen der Wessenbergstiftung, die stationäre Einrichtung Linzgau, der örtliche Verein FlexFlow. Insgesamt wird man hier von einer angemessenen Umsetzung der Kooperationserfordernisse nach den bundesgesetzlichen Bestimmungen sprechen können. Gerade hier, in der engen örtlichen Vernetzung, dürfte der Vorteil eines ansonsten in Baden-Württemberg nicht mehr anzutreffenden städtischen Jugendamtes einer kreisangehörigen Stadt liegen. Gleichwohl spielt nach Einschätzung von Fachkräften im städtischen ASD auch das Jugendamt des Landkreises, hier insbesondere die Eingliederungshilfe, eine wichtige Rolle bei Gefährdungseinschätzungen und namentlich bei der obligatorischen Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Ausländern. Genannt wurden ferner „Personen, die in der Lebenswelt [von Kindern] eine wichtige Rolle spielen“ (V F4), sowohl Einzelpersonen als auch Lehrerinnen und Lehrer und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Wichtig seien hier Fach‐ lichkeit, Austausch und Transparenz (XII F4). Besonders betont wird von einer Fachkraft die Bedeutung des Austauschs mit erfahreneren Kolleginnen und Kollegen und der Austausch mit der Amtsleitung (VI F4). Die Kommunikation unter den lokalen Kooperationspartnern im Kinder- und Jugendschutz erfolgt offenbar im Wesentlichen formlos und nicht standardisiert 344 Wolfgang Seibel <?page no="345"?> („alles wenig standardisiert, außer Anfrage bei Trägern“, lautete eine Antwort - VI F4). Eher konfliktträchtig, so eine Fachkraft, seien Beratungen im Rahmen der Schulhilfekonferenzen. Hier bestehe oft keine Schweigepflichtentbindung des ASD durch die Eltern. Wenn dann von Seiten der Schule oder auch der Kindertagesstätte der ASD als „Druckmittel oder Feuerwehr“ zugeladen werde, diene das de facto einer Umgehung der Schweigepflicht (X F4), wodurch offenbar Konfliktpotenzial zwischen ASD und Eltern verursacht oder gesteigert wird. Überhaupt könnte durch weniger zeitlichen und personellen Aufwand bei Fallbe‐ sprechungen nach Einschätzung dieser Fachkraft ohne Qualitätsverlust effektiver und professioneller gearbeitet werden, weil „auch ohne Ablaufregelungen, Dienst‐ anweisungen und Formalitäten eine gute ‚Soziale Arbeit‘ möglich ist“ (ebd.). Eine andere Fachkraft nannte als konfliktträchtig die Kooperationsbeziehung mit Psychologen, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Beratungsstellen (XI F4). Generell, so die Bemerkung einer weiteren Fachkraft, sei die „Zusammenarbeit mit dem medizinischen Bereich schwierig“ (XII F4, ähnlich IV F4, XI F4). Worin diese Schwierigkeiten im Einzelnen bestehen, konnte nicht nacherhoben werden. Als konfliktträchtig wurden in einer Antwort auch die Beziehungen zu „manche[n] Familienrichter[n] oder Verfahrensbeistände[n]“ genannt (VI F4, ähnlich VII F4, VIII F4). Ähnliches gelte für die Kooperation mit einigen stationären Einrichtungen bei Inobhutnahmen, dies vor allem bei knappen Heimplätzen und wenn die Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen nur für eine Nacht möglich gemacht werden könne (ebd.). Resümee Die Aufgaben der örtlichen Träger der Jugendhilfe sind durch den Bundesge‐ setzgeber im Achten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) oder auf dessen Grundlage dicht geregelt. Die Arbeitsteilung der Gesetzgebung und Verwaltung nach der Ordnung des Grundgesetzes bringt es mit sich, dass unter fachkundiger Beratung die Instanzen des Bundesgesetzgebers, konkret also die Ministerialver‐ waltung und die Fachausschüsse des Bundestages, mit Sorgfalt und Genauigkeit Regelungen erlassen werden, für deren Umsetzung nicht die Bundesebene, sondern die Länder und ihre Kommunen zuständig sind. Diese Konstellation wird heute in den politischen und medialen Diskussionen, vor allem mit den Stichworten Bürokratie und Bürokratieabbau, eher kritisch eingeschätzt, weil die Bundesebene für die verwaltungspraktischen Folgen ihrer eigenen Gesetzge‐ bung nicht selbst einstehen muss. Doch hat diese Arbeitsteilung im Rahmen der föderativen Ordnung gerade in grundrechtsrelevanten Tätigkeitsfeldern der öf‐ fentlichen Verwaltung auch ihre Vorteile. Der Bundesgesetzgeber ist eben nicht Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 345 <?page no="346"?> 8 K Ü H L , Stefan: Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt/ New York 2020. der Versuchung ausgesetzt, sich mit Blick auf institutionellen Aufwand und Kosten mit präzisen Vorgaben für den Schutz junger Menschen zurückzuhalten. Auch aus diesem Grund hat der gesetzliche Standard des Kinder- und Jugend‐ schutzes in Deutschland ein hohes Niveau. Die regelmäßigen Evaluierungen der Umsetzung dieser Regelungen wie die Berichterstattung der Bundesregierung zur Umsetzung des Bundeskinderschutzgesetzes und auch die in diesem Beitrag mit Blick auf die lokale Ebene wiedergegebene empirische Erhebung lassen keine Zweifel aufkommen, dass die damit verbundenen Verpflichtungen von den Jugendämtern und Allgemeinen Sozialen Diensten mit wachem Sinn für die damit verbundene Verantwortung für das Wohl und Wehe von Kindern und Jugendlichen erfüllt werden. Zu der professionellen und deshalb a priori empathischen Grundhaltung und Vorgehensweise von Jugendämtern und Allgemeinen Sozialen Diensten gehört, wie die hier diskutierte Erhebung ebenfalls deutlich macht, ein nüch‐ terner Blick für die mit der Aufgabenerfüllung verbundenen Dilemmata. Kaum wahrzunehmen ist das ansonsten in der politischen und medialen Öffentlichkeit verbreitete Lamento über die Bürokratie. Die hier ausgewertete Befragung von Fachkräften des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Konstanzer Jugendamts fördert stattdessen zu Tage, dass die tagtäglich mit dem Schutz ansonsten schutzloser Kinder und Jugendlicher befassten Fachkräfte komplexe und rigide Regelungen des Gesetzgebers offen ansprechen, deren grundsätzliche Berech‐ tigung im Interesse von Verfahrenssicherheit, Transparenz und Respekt vor den Grundrechten der Kinder aber anerkennen. Hin und wieder ist nicht nur der Wunsch, sondern auch die Praxis kontrollierter Regelabweichung oder, wie es in der Literatur heißt, „brauchbarer Illegalität“ 8 zu erkennen, dies aber im Interesse sach- und fachgerechter Lösungen zum effektiven Schutz von Kindern und Jugendlichen. In der Zusammenschau von Gesetzgebung, der Berichterstattung des Allge‐ meinen Sozialen Dienstes an den Jugendhilfeausschuss der Stadt Konstanz vom Juni 2023 und der hier referierten Ergebnisse der Befragung von Fach‐ kräften des ASD vom Sommer 2024 lässt sich allerdings eine elementare und nicht befriedigend stabilisierte Spannungslinie erkennen. Auf der einen Seite erzeugen makropolitische und gesellschaftliche Problemlagen, zu denen soziale Ungleichheit und Migrationsbewegungen gehören, ganz neue, zum Teil drama‐ tische Herausforderungen für die Jugendämter, die auch mit dem durch den Bundesgesetzgeber zur Verfügung gestellten umfangreichen Regelungswerk, 346 Wolfgang Seibel <?page no="347"?> Vernetzungsgeboten und Kooperationspflichten nicht zu bewältigen sind. Erst recht nicht mit einem Personalbestand, der sich im Umbruch befindet, einer‐ seits durch demographisch bedingten Personalaustausch, andererseits durch einen negativen Zirkel aus physisch und psychisch belastender Aufgabenbe‐ wältigung, Fluktuation und zusätzlich gesteigertem Stress mit der Folge von Personalabwanderung. Es braucht wie in anderen Feldern der öffentlichen Verwaltung auch, hier aber in besonderem Maße, verstärkte Anreize für die Personalrekrutierung. Dazu gehört eine angemessene Vergütungsstruktur, die den tatsächlichen und nicht nur den formalen Qualifikationsanforderungen sowie der realen Arbeitsbelastung gerecht wird. Es geht aber auch um reali‐ tätsnahe Beschreibungen der historischen Herausbildung und heutigen Praxis des Kinder- und Jugendschutzes als elementarem Grundrechtsschutz und der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Abhandlungen in dem vorliegenden Band leisten dazu, so ist zu wünschen, einen gewissen Beitrag. Jugendamt und Allgemeiner Sozialer Dienst der Stadt Konstanz 347 <?page no="349"?> 1 Ursprung nicht eindeutig bekannt. Das Sprichwort macht freilich deutlich, dass Erzie‐ hung und Bildung keine Aufgaben sind, die nur von Eltern oder der Schule zu leisten sind. 2 RGBl 1922, Teil I, S.-634. Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts Alfred Kaufmann „Um ein Kind zur erziehen, braucht es ein ganzes Dorf “, so ist ein bekanntes und häufig zitiertes, afrikanisches Sprichwort überliefert. 1 Es verweist primär auf die Bedeutung der Gemeinschaft und der sozialen Unterstützung für Familien. Über alle gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen hinweg, betont es auf eindrückliche Weise die Verantwortung der Gesellschaft für die Erziehung und Entwicklung von Kindern. Sicherlich waren die Parlamentarier und Gesetzes‐ väter und -mütter des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt (RJWG) in den frühen 1920er Jahren vielmehr von der Wahrnehmung der damals schwierigen existen‐ ziellen und sozialen Notlagen vieler Kinder und Jugendlichen geprägt, als von der Botschaft dieses Sprichwortes, als sie diese gesellschaftliche Verantwortung per Gesetz zu einer staatlichen Aufgabe definierten und den staatlichen Organen entsprechende Pflichten auferlegten: „Jugendämter sind als Einrichtungen von Gemeinden oder Gemeindeverbänden für das Gebiet des Deutschen Reiches zu errichten“. 2 Damit war der Grundstein dafür gelegt, dass 1924 das RJWG in Kraft treten und der Stadtrat von Konstanz zum 1. Januar 1925 die Einrichtung eines Jugendamtes beschließen konnte. Heute ist dies Anlass, auf die 100-jährige Geschichte und Entwicklung des Jugendamtes Konstanz zurückzublicken und dieses Jubiläum zu feiern. In der historischen Betrachtung der Jugendämter bündeln sich die Entwick‐ lungen der rechtlichen Grundlagen, der Organisation Jugendamt und des Spek‐ trums der Hilfeleistungen, mit denen sich die Jugendämter bzw. als Überbegriff die Kinder- und Jugendhilfe auf die sich wandelnden gesellschaftlichen Rah‐ menbedingungen einstellen konnte und musste. <?page no="350"?> 3 Siehe den Beitrag von Jürgen K L Ö C K L E R in diesem Band, S.-50 f. Die Beiträge dieses Buches zur Geschichte des Jugendamtes Konstanz be‐ leuchten entsprechend einerseits Meilensteine der organisatorischen Entwick‐ lung, aber andererseits auch eindrücklich die Veränderungen in der rechtlichen Grundhaltung, der kontinuierlich erweiterten Ausgestaltungen der Hilfeleis‐ tungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe in Konstanz. Daraus sind auch die stetig angepassten Wirkungen für die Konstanzer Familien, Jugendli‐ chen und Kinder ableitbar. Größeren Raum nimmt auch die Auseinandersetzung mit dem Thema kom‐ munale Selbstverwaltung ein. Dieses Thema hat für das Jugendamt Konstanz eine zentrale Bedeutung, weil es in Baden-Württemberg das im Moment einzige Jugendamt einer kreisangehörigen Gemeinde ist. Wie es dazu kam, warum es so ist, wird eindrücklich dargestellt und von den Autoren aus verschiedenen Blickwinkeln positiv bewertet. Dieses anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Jugendamtes Konstanz verfasste Buch bündelt und vermittelt wesentliche und wichtige Informationen zur Besonderheit des Jugendamtes Konstanz für die Bürgerinnen und Bürger, die Kommunalpolitik, die Verantwortlichen in der Verwaltung und die Mitar‐ beiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes, und zwar über den Moment des Jubiläums hinaus. 1. Das historische und rechtliche Fundament Bereits im späten Mittelalter entstanden Einrichtungen mit dem Fokus auf verwaiste und arme, unterstützungsbedürftige Kinder und Jugendliche, die entsprechende Hilfeangebote vorhielten. Im Zuge einer sich weiter entwi‐ ckelnden Hilfestruktur engagierte sich der als Generalvikar in Konstanz tätige Bistumsverweser Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) zunächst im Großherzogtum Baden. Aus eigenen, privaten Mitteln und auf dem von der Stadt über Bürgermeister Huetlin unentgeltlich übertragenen Grundstücks an der Schwedenschanze eröffnete er 1855 dort eine „Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Mädchen“ 3 . Damit leistete die Stadt Konstanz noch vor der Gründung des Jugendamtes bereits einen umfangreichen Beitrag zur Ju‐ gendwohlfahrt, den man auch in heutigen Begriffen als „freiwillige Leistung“ bezeichnet. Die „Wessenberg’sche Vermächtnisstiftung“, welche die Einrichtung lange Zeit weitergeführt hatte, konnte sich bis heute zu einem für die Konstanzer unverzichtbaren Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe entwickeln. 350 Alfred Kaufmann <?page no="351"?> 4 S C H N E I D E R , Armin/ B E C K M A N N , Kathinka/ R O T H , Daniela: Jugendhilfe: Ausschuss? Ein Gremium zwischen uneingelösten Versprechen und abgebremsten Möglichkeiten, Leverkusen 2011. 5 Siehe den Beitrag von Jürgen K L Ö C K L E R in diesem Band, S.-101 ff. 6 Siehe den Beitrag von Jürgen T R E U D E in diesem Band, S.-123-133. Zur Umsetzung des Paragraph 2 des RJWG wurde zum 1. Januar 1925 auch in Konstanz, wie in den anderen deutschen Gemeinden oder Gemeinde‐ verbänden ein Jugendamt geschaffen. Das Gesetz bestimmte die Einführung von Jugendämtern als Kollegialbehörden. Es wurde also einerseits ein Vorstand (eine Verwaltung) organisiert und ein Beirat, bestehend aus stimmberechtigten Mitgliedern aus Jugend- und Wohlfahrtsverbänden. 4 Die Grundstruktur der Jugendämter in dieser zweigliedrigen Form, bestehend aus Verwaltung und Beirat bzw. Ausschuss wurde über alle Gesetzesänderungen vom Reichsjugend‐ wohlfahrtsgesetz (1922) bis zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (2021) un‐ verändert beibehalten. Allerdings war während des Nationalsozialismus auch in Konstanz das Jugendamt nicht als Kollegialbehörde, sondern autoritär nach dem Führerprinzip geführt worden. Neu eingerichtet nahm der Jugendausschuss 1946 die Arbeit wieder auf und war bis Herbst 1947 für den ganzen Landkreis Konstanz zuständig 5 . Soweit sich die Geschichte des Jugendamtes Konstanz bis in die frühen 1960er Jahre nicht unbedingt von den anderen Jugendämtern in Deutschland unter‐ schied, musste oder konnte sich 1953 die Stadt Konstanz erstmals mit einer be‐ sonderen Fragestellung auseinandersetzen, die ganz zentral auch die ihre Rolle für die Jugendwohlfahrt und deren Steuerung und Gestaltung betraf. Zur Dis‐ kussion und zum Beschluss stand die Entscheidung über den Beitritt der Stadt Konstanz zum Landkreis Konstanz. Mit diesem Beitritt im Oktober 1953 wäre nach bundesgesetzlichen Regelungen das Jugendamt in Form von Verwaltung und Jugendausschuss an das Landratsamt abgegeben worden. In den Städten Konstanz und Singen, aber auch in weiteren Städten Baden-Württembergs, gab es Bestrebungen, unabhängig von der Kreisangehörigkeit die Eigenstän‐ digkeit der jeweiligen Jugendämter beizubehalten. Unterstützt wurden diese Bestrebungen durch den Wohlfahrtsausschuss der Südbadischen Städte und den Städteverband Baden-Württemberg. Gemeinsam wurde darauf gedrängt, dass das Land Baden-Württemberg den rechtlichen Spielraum nutzen solle, „selbständige Jugendämter auch in den kreisangehörigen Städten zu errichten und den derzeitigen Zustand in Baden unverändert beizubehalten“. 6 Mit der Verabschiedung des Landesjugendwohlfahrtsgesetzes für Baden-Württemberg 1963 waren diese Ziele erreicht. Auch kreisangehörige Gemeinden konnten ihre Jugendämter weiterführen und somit örtlicher Träger Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts 351 <?page no="352"?> 7 https: / / www.jugendaemter.com/ jugendaemter-in-deutschland/ 8 Siehe den Beitrag von Jürgen K L Ö C K L E R in diesem Band, S.-57 f. der Jugendhilfe bleiben. Nicht zuletzt durch eine klare Haltung des Gemeinde‐ rates der Stadt Konstanz, ein großes Engagement der Verwaltungsspitze und der Jugendamtsleiter blieb das Jugendamt eigenständig und die Gestaltung und Steuerung der Kinder- und Jugendhilfe für die Konstanzer Bürgerinnen und Bürger bei der Stadtverwaltung und dem Gemeinderat der Stadt Konstanz. Viele Bundesländer ermöglichen in ihren Ausführungsgesetzen zum Sozi‐ algesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - kreisangehörigen Ge‐ meinden die Wahrung und/ oder die Schaffung eigener Jugendämter. In der Praxis unterscheiden sich die Bundesländer aber zum Teil erheblich. Während in Baden-Württemberg die Stadt Konstanz mittlerweile das eigene Jugendamt als Alleinstellungsmerkmal kennzeichnet, sind es z. B. in Hessen sieben Gemeinden. Eine grundsätzlich andere Jugendhilfestruktur gibt es in Nordrhein-Westfalen, wo gegenüber 22 kreisfreien Städten und 31 Landkreisen insgesamt 166 Ju‐ gendämter eingerichtet sind. 7 Ungeachtet einer fachlichen Bewertung, ob und warum ein Jugendamt auch bei kreisangehörigen Gemeinden angesiedelt sein soll, bleibt festzustellen, dass es unter dem alleinigen Kriterium „Größe der Gemeinde“ eine vielfältige Struktur der örtlichen Träger der Jugendhilfe in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Die bis hierhin im Wesentlichen aus den Kapiteln von Jürgen Klöckler und Jürgen Treude zusammengefasste Entwicklung beleuchtet das historische und rechtliche Fundament des Jugendamts Konstanz. In zwei Sätzen komprimiert lässt sich feststellen: Seit es in Deutschland Jugendämter gibt, gibt es auch das Jugendamt Konstanz und die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung haben diese Eigenständigkeit bewahrt. Der Gemeinderat der Stadt Konstanz gestaltet im eigenen Jugendhilfeaus‐ schuss die pädagogischen, organisatorischen und finanziellen Rahmenbedin‐ gungen für das Aufwachsen, die Bildung der Konstanzer Kinder und Jugendli‐ chen sowie die bedarfsgerechte Unterstützung der Konstanzer Familien. 2. Die organisatorische Entwicklung Einer aus dem Jahr 1926 vorliegenden Statistik zufolge waren zu diesem Zeitpunkt im Jugendamt neun Beamte beschäftigt. Das Fürsorgeamt war noch getrennt, dort waren acht Beamte angestellt. 8 Um einen bildlichen Vergleich zur Größe und Struktur des Sozial- und Jugendamtes 2024 vornehmen zu können, sind neben den genannten 17 Beamten im Fürsorgeamt und im Jugendamt eine 352 Alfred Kaufmann <?page no="353"?> 9 Ebd. 10 Stadt Konstanz, Amt für Digitalisierung und IT - Datenmanagement und Statistik; Konstanz in Zahlen 2024 S.-6. 11 Anlage: Organigramm Sozialu. Jugendamt vom 1. August 2024 [am Ende des Beitrags abgedruckt]. 12 Monitor Hilfen zur Erziehung 2014; Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (akjstat)/ Uni Dortmund (Hrsg.), Autor(inn)en: Sandra F E N D R I C H , Jens P O T H M A N N , Agathe T A B E L . nicht näher beschriebene Zahl von Mitarbeitenden in den zwei Horten, vier Kindergärten, der Volksspeiseanstalt und der Walderholungsstätte in damals städtischer Trägerschaft hinzurechnen. So kann man davon ausgehen, dass in der Summe genähert zwischen 40 und 50 Personen in diesen städtischen Ämtern und Einrichtungen beschäftigt waren. Die Stadt Konstanz zählte damals (1929) 32.700 Einwohner. 9 Für das Jahr 2023 wurde die Zahl von 87.360 Einwohnern festgestellt 10 . Zum 1. August 2024 zählte das Sozial- und Jugendamt insgesamt 463 Mitarbeitende auf 303 Vollzeitäquivalenten. Es ist gegliedert in eine Stabstelle und sieben Abteilungen mit insgesamt 30 aufgabenbezogenen Sachgebieten. Als städtische Einrichtungen sind zugeordnet: zwölf Kitas, das Kinderkulturzentrum, zwei Jugendzentren, die Mobile Jugendarbeit-Konstanz, das Stadtteilzentrum Treff‐ punkt Peterhausen und das Seniorenzentrum Bildung + Kultur. 11 Diese organisatorische und personelle Expansion ist allerdings nur zu einem kleineren Teil auf das Bevölkerungswachstum in der Stadt Konstanz zurück‐ zuführen. Zur bedarfsgerechten Versorgung von mehr Familien mit mehr Kindern braucht es zwar logischerweise ein größeres Angebot zur Kinderta‐ gesbetreuung, ein erweitertes Angebot in der Kinder- und Jugendarbeit und höheren Fallzahlen in der Sozialen Arbeit der Einzelfallhilfe mit der jeweils notwendigen Personalausstattung. Die primären Gründe für die Erweiterung des Jugendamtes liegen aber in der Vervielfältigung der dem Jugendamt erwach‐ senen Aufgaben aus der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Jugendhilfe. „Die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist eine Expansionsgeschichte“, fassen Sandra Fendrich, Jens Pothmann und Agathe Tabel die Ergebnisse ihrer Forschungen zusammen, indem sie auf der Basis damals aktueller Ergebnisse der Kinder- und Jugendhilfestatistik feststellen: „dass nicht nur die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt, sondern auch die Arbeitsfelder sich weiter ausdehnen“. 12 Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts 353 <?page no="354"?> 13 Siehe den Beitrag von Günther W A G N E R in diesem Band. 14 Ebd., S.-237 f. 15 § 62 RJWG. 3. Von der Intervention zur Prävention Günther Wagner 13 beleuchtet diesen Expansionsprozess im Kapitel „Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot“ auf der Basis von zwei Fallgeschichten aus den Jahren 1925 bis 1930 und von 2020 bis 2024 als „dramatischen Gestaltwandel in den Dimensionen Rechtsstellung, Fachlichkeit der handelnden Personen sowie der vorhandenen Hilfs- und Unterstützungsangeboten in der Alltagspraxis des Jugendamtes“. 14 Mit diesem Gestaltwandel verbunden sind neben der Fülle neuer Aufgaben auch die stetig gewachsenen Anforderungen an die qualitative Ausgestaltung aller Aufgaben. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1924 bestimmte für die damalige Fürsorgeerziehung die Zielsetzung „Verhütung oder Beseitigung der Verwahr‐ losung“ und gab zur Intervention im Einzelfall eine „geeignete Familie oder Erziehungsanstalt unter öffentlicher Aufsicht“ vor. 15 Aus dieser Zeit hat sich wohl die Vorstellung des Jugendamtes als „Eingriffsbehörde“ überliefert. War doch die Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus ihrer Herkunftsfa‐ milie das zentrale Hilfeinstrument für das damalige Jugendamt. Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991 (SGB VIII) vervielfältigten sich die Handlungsoptionen und Hilfe-Instrumente für das Jugendamt. Der Eingriff in die Herkunftsfamilie konnte in den Hintergrund treten zugunsten einer Vielzahl von Hilfeleistungen, um die Herkunftsfamilie bedarfsgerecht zu unterstützen und die Kinder und Jugendlichen im familiären Umfeld zu fördern. Die Zielsetzung der Jugendhilfe als Nachfolgerin der Fürsorgeerziehung stellt seither Prävention vor Intervention. Die Statistik zu den Hilfen zur Erziehung des Jugendamtes Konstanz weist zum 1. November 2024 insgesamt 836 laufende und beendete Hilfefälle für Konstanzer Kinder und Jugendliche bis zum 21. Lebensjahr aus. Davon sind 139 (16,6 Prozent) Hilfen, die außerhalb der Herkunftsfamilie erbracht werden und 39 Hilfen (4,7 Prozent) die in Form von Vorläufigen Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen oder Vorläufige Inobhutnahme. In aller Regel erfolgen auch diese Hilfen im Einverständnis mit den sorgeberechtigten Eltern. 658 Hilfefälle (78,7 Prozent) verteilen sich auf 16 verschiedene und zum Teil auf den Einzelfall zugeschnittene Angebote zur Unterstützung von Eltern und zur Förderung der Erziehung in der Familie. 354 Alfred Kaufmann <?page no="355"?> Ergänzend zu den Hilfen zur Erziehung betreibt oder fördert das Jugendamt Konstanz: • Sechs Startpunkte als Anlaufstellen für Schwangere und Eltern mit Neuge‐ borenen • Familien- und sozialraumorientiertes Arbeiten in Kindertagesstätten • Projekt LenkRat und inklusive Hilfen der von Wessenberg’schen Vermächt‐ nisstiftung • Schulsozialarbeit an allen Schulen in Konstanz • Erziehungsberatungsstellen und Psychologische Beratungsstellen • Mobile Jugendarbeit Das Jugendamt Konstanz wird damit der Zielsetzung des Kinder- und Jugend‐ hilfegesetzes, Prävention vor die Intervention, in höchstem Maß gerecht. In diesem Buch beschreiben die Kapitel von Günther Wagner, Barbara Beh‐ rensmeier, Clemens Luft und Mandy Krüger die Entwicklung der einzelnen Auf‐ gabenbereiche Soziale Dienste, Amtsvormundschaften, Kindertagesbetreuung und Kinder- und Jugendarbeit. Es wird dabei jeweils die Entwicklung der Aufgabenbereiche in den letzten 100 Jahren dargestellt und letztlich immer ein Vergleich „damals und heute“ abgebildet. Der Leser wird in diesem Buch also immer wieder auf die Zeitreise von 1925 bis 2024 mitgenommen. Dies spiegelt sich auch in der folgenden Zusammenfassung wider, ist aber für die Einblicke und das Verständnis in die Entwicklung der Aufgabenbereiche von Vorteil. 4. Aufgabenbereiche des Jugendamtes im Wandel der Zeit Beginnen wir mit den Einzelfallhilfen. Verwaltungsbeamte geben ihr Mög‐ lichstes, um Verwahrlosung zu verhindern und abzuwenden. Zentrale Aufgabe ist die Klärung der Notwendigkeit zur Fremdunterbringung bei Pflegefamilien und Fürsorgeeinrichtungen. Eine Zuarbeit für den Entzug der elterlichen Sorge durch das Vormundschaftsgericht ist gegeben. Das aus heutiger Sicht erkenn‐ bare Interventionsmuster besteht darin, das Wohl und die Sorge um betroffene Kinder und Jugendliche dem Versagen der Eltern voranzustellen. Vielmehr soll ein Gegeneinander als ein Miteinander vorherrschen, wie es in der zweiten Fallgeschichte von Günther Wagner aus jüngster Zeit erläutert wird. Ausgangspunkt ist der Beginn der Begleitung der Familie nach Kontaktauf‐ nahme durch interprofessionelle Vermittlung. Es folgt eine ausführliche Ana‐ mnese, indem die Ängste ( Jugendamt ist Eingriffsbehörde) ernst und die Sorgen der Eltern aufgenommen werden. Es werden einzelne Problemstellungen analy‐ siert und die passgenauen Hilfsangebote vorgeschlagen und in einem Hilfeplan Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts 355 <?page no="356"?> mit den Eltern vereinbart. Selbst eine unvermeidbare Fremdunterbringung wird von den Eltern mitgetragen und konstruktiv begleitet. Das Sorgerecht bleibt bei den Eltern und es werden gute und tragfähige Lösungen gefunden. Diese Fallgeschichte verdeutlicht, wie in einem Einzelfall unterschiedliche Rollen zum Tragen kommen, die das Jugendamt umsetzen muss: Beratungs‐ rolle, Unterstützungsrolle, Wächteramt und Kooperationsrolle. Zudem bestätigt dieser Einzelfall die oben bereits durch die Statistik erkennbare Vorgehensweise des Jugendamtes Konstanz. Fahren wir mit der Amtsvormundschaft fort. Das Vormundschaftswesen - heute Amtsvormundschaft - wurde bereits in der Weimarer Republik gesetzlich eingeführt und 1922 in Konstanz umgesetzt. In diesen mehr als 100 Jahren unterlag es in besonderer Weise politischen wie gesellschaftlichen Einflüssen und gesetzlichen Änderungen. Insbesondere die beiden Formen der Formen der Vormundschaft - ehrenamtlich und von Amts wegen - wurden je nach Umständen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen priorisiert. Bis 1969 waren unehelich geborenen Kinder grundsätzlich unter Vormund‐ schaft gestellt. Vormundschaften wurden zudem für alle Kinder und Jugendli‐ chen eingerichtet, für durch Beschluss des Vormundschaftsgerichts in einer Pflegefamilie oder einer Fürsorgeeinrichtung untergebracht wurden. Allein aufgrund der hohen Zahl von Mündeln war die Tätigkeit der Vormunder auf die Kontrolle und Bewertung in Bezug auf die persönlichen Verhältnisse der Kindesmütter sowie auf die Unterbringung und Verpflegung der Mündel und deren Verhalten reduziert. Während des Nationalsozialismus waren die Vormünder gezwungen, in der Aktenführung zu unterscheiden zwischen Kindern „arischer“, jüdischer und fremder Staatsangehörigkeit. Dies sollte dem Ziel dienen, diese später leichter erfassen und auswerten zu können. Die Reformen des Vormundschaftswesens nach 1945 orientierten sich am eingreifenden Charakter der Vormundschaft. Erst das 1961 beschlossene Jugendwohlfahrtsgesetz verpflichtete das Vormund‐ schaftswesen darauf, die in der Familie begonnene Erziehung zu unterstützen und zu ergänzen. Erstmals vorgegeben wurde auch, sich an den Wünschen der Eltern zu orientieren. 1969 wurde die obligatorische Vormundschaft für uneheliche Kinder abge‐ schafft, die Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1991 stellte zusätz‐ lich die Rechte der sorgeberechtigten Eltern auch im Vormundschaftswesen in den Vordergrund. Mit der Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts 2012 wurde eine Fallzahlbegrenzung der Vormünder (1: 50), womit die Qualität der Betreuung der Mündel gesteigert werden konnte. 356 Alfred Kaufmann <?page no="357"?> 16 Tagesbetreuung für Kinder Bedarfsplanung 2024, Stadt Konstanz Sozial- und Ju‐ gendamt, 2024. Die jüngste Vormundschaftsreform zum 1. Januar 2023 stärkt wieder die ehrenamtliche Vormundschaft und verpflichtet die Jugendämter die Akquise, Aus- und Fortbildung sowie die Begleitung zu gewährleisten. Im Jugendamt Konstanz ist seit 2024 eine Koordinationsstelle Vormundschaften und Pfleg‐ schaften eingerichtet und erfolgreich tätig. Kommen wir zur Kindertagesbetreuung. Auch der „Kindergarten“ als Teil der Jugendhilfe wurde 1922 im Reichsjugendwohlfahrtgesetz in die Verantwortung des Staates hinsichtlich der Erziehung von Kindern gelegt. Die Entwicklung der Kindertagesbetreuung in Konstanz unter der Regie des Jugendamtes Konstanz lässt sich in drei Dimensionen zusammenfassen: Die quantitative Entwicklung, die qualitativ-fachliche Entwicklung und die Kooperation mit freien Trägern der Kindertagesbetreuung. Wie verlief die quantitative Entwicklung? 1925 gab es einen Hort, in dem täglich bis zu 70 Kinder betreut wurden. 1927 waren in diesem Hort 160 Kinder angemeldet und täglich 130 bis 140 Kinder anwesend. 1957 wurden 805 Plätze in 12 Kindergärten vorgehalten, 1965 gab es in diesen 12 Kindergärten 1050 Plätze; 1977 wurden im Bericht zum Kindergartenwesen 25 Kindergärten aufgeführt. Der aktuelle Bericht zur Kita-Bedarfsplanung 2024 16 weist 3781 genehmigte Plätze in 62 Einrichtungen aus. Zusätzlich werden 253 Kinder von Tagespflegepersonen betreut. Die zentrale Kita-Vormerkung der Stadt Konstanz verzeichnet rund 1000 unversorgte Kinder und das Ausbauprogramm beinhaltet bis 2030 weitere 822 Plätze. Hinzukommen sollen bis 2035 in der Stadtentwicklungsmaßnahme Hafner 400 neue Plätze. Wie steht es um die qualitativ-fachliche Entwicklung? Basis der qualitativen Ausgestaltung der Kindertagesbetreuung sind die Betreuungsschlüssel und die Gruppengröße. Von dem oben benannten einzigen Hort in Konstanz im Jahr 1927 ist überliefert, dass diese 140 Kinder von fünf Personen betreut wurden. 1977 wurde die Gruppengröße durch Landesvorschriften auf 30 Kinder und 1982 auf 25 Kinder begrenzt. In Konstanz waren es 1977 durchschnittlich 23,7 Kinder. Der Personalschlüssel wird seit 1977 ebenfalls durch Landesvorschriften vorgegeben: Bei Inkrafttreten waren für eine Gruppe mindestens eine Kinder‐ gärtnerin oder eine für die Gruppenleitung gleichgestellte Kraft und für je zwei Gruppen eine zusätzliche Mitarbeiterin. Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts 357 <?page no="358"?> 17 Ausführungshinweise des Landesjugendamtes zur Kindertagesstättenverordnung (Ki‐ TaVO) vom 25. November 2010, geändert am 19. November 2019, in Kraft getreten am 2. Januar 2020. Aktuell regelt das Betriebserlaubnisverfahren des Landesjugendamtes so‐ wohl die Gruppengrößen wie auch die personelle Ausstattung. 17 So werden in Krippengruppen zehn Kinder, in Ganztages- und Hortgruppen 20 Kinder und den Nicht-Ganztagesgruppen 22 Kinder betreut. Für eine Ganztagesgruppe mit z. B. 45 Stunden Öffnungszeit pro Woche ist ein Personalschlüssel von 2,83 Fachkräften für 20 Kinder vorgeschrieben. Entsprechend dieser kontinuierlich verbesserten Rahmenbedingungen ent‐ wickelten sich die Kindertagesstätten von ehemals als „Verwahranstalten“ oder „Kinderschulen“ zu bezeichnenden Orten zu qualifizierten Bildungsein‐ richtungen. Die Kindertagesstätten in städtischer Trägerschaft arbeiten seit 1996 nach dem pädagogischen Ansatz der „Offenen Arbeit“ von Axel Wieland. 2005 wurde das infans-Konzept (Institut für angewandte Sozialforschung Berlin) übernommen. Wie steht es um die Kooperation mit freien Trägern der Kindertagesbe‐ treuung? Von den oben genannten 62 Kindertagesstätten sind 12 in städtischer und 50 in freier Trägerschaft. In Konstanz hat das bereits im Jugendwohlfahrts‐ gesetz verankerte Subsidiaritätsprinzip, wonach die Jugendämter nachrangig tätig sein sollen, eine fast 100jährige Tradition. Damit ist sowohl eine Träger‐ vielfalt wie auch eine Vielfalt der pädagogischen Konzepte gewährleistet. Für die Belange der Kindertagesbetreuung ist vom Gemeinderat eigens eine Projektgruppe Kita eigerichtet worden. In ihr sind Trägervertreter und Kita-Leitungen vertreten, um gemeinsam die Weiterentwicklung und die aktu‐ ellen Belange zu fokussieren, analysieren und Lösungen zu entwickeln. Die Projektgruppe Kita hat einen Sitz im Jugendhilfeausschuss der Stadt Konstanz. In der Umsetzung der Richtlinien der Stadt Konstanz zur Förderung der Kin‐ dertagesstätten freier Träger gewährleistet das Jugendamt die finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen aller Kindertagesstätten in Konstanz. Wie funktioniert die Offene Kinder- und Jugendarbeit? Auch der Aufgaben‐ bereich der offenen Jugendarbeit hat seine Wurzeln in den bereits vielfach dargestellten gesetzlichen Grundlagen und deren Reformen und Neufassungen. Die tatsächliche Ausgestaltung hat sich aber wie in kein anderes Aufgabenbe‐ reich des Jugendamtes Konstanz innerhalb der 100-jährigen Geschichte an den ganz konkreten Umständen des Aufwachsens der Konstanzer Jugend und deren Bedarfen in den jeweiligen zeitgeschichtlichen Phasen ausgerichtet. Räumliche Gegebenheiten, weitsichtige Politiker und Verantwortliche, kom‐ petente Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und nicht zuletzt engagierte und 358 Alfred Kaufmann <?page no="359"?> demonstrierende Jugendliche und junge Heranwachsende selbst, prägen die Meilensteine in der Geschichte der offenen Jugendarbeit in Konstanz. Die Angebote der offenen Kinderarbeit wurden erst in einer relativ späten Phase mitentwickelt. Die erste Einrichtung, die Jugendlichen zusätzlich zu den kirchlichen Ange‐ boten einen offenen Raum der Begegnung bot, war die Jugendherberge in Allmannsdorf, die 1931 eröffnet wurde. Während des Nationalsozialismus fand jegliche Jugendarbeit in der Hitlerjugend statt und entsprechend schwierig war es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Strukturen für die Jugendarbeit zu „re“-konstruieren. Die französische Besatzungsmacht erkannte die Probleme der Jugend. Sie verpflichtete zunächst die Kirchen, für die Jugend aktiv zu werden und lies dann auch weltliche Jugendorganisationen zu, die sie allerdings auch stark kontrollierte. Der französische Bezirksgouverneur Marcel Degliame richtete 1946 im Anbau des Rheintorturms ein „Haus der deutschen Jugend“ ein. Mit seinem Ziel, für Vierzehnbis Achtzehnjährige sinnvolle Freizeitbeschäfti‐ gungen anzubieten, kam er einem Konzept der offenen Jugendarbeit sehr nahe. Der Bau des Jugendhauses Raiteberg resultierte einerseits aus dem Jugend‐ haus im Rheintorturm, wurde aber andererseits durch die Vielzahl von jugend‐ lichen Wanderern auch als Erweiterung der Jugendherberge konzipiert. Bei der Eröffnung 1955 war die Stadt Konstanz mit diesem Jugendhaus wie schon mit dem Jugendhaus im Rheintorturm anderen Kommunen weit voraus. Das Jugendhaus Raiteberg wurde von zwei Persönlichkeiten entscheidend und nachhaltig geprägt: Von Rudolf Kutscha, der ab 1947 das Jugendbildungswerk leitete und maßgeblich entwickelt hat. Und von Franziskus Dannenmeyer, der von 1955 bis 1988 als Stadtjugendpfleger die Angebote im Jugendhaus Raiteberg - den Erinnerungen und Erzählungen nach - engagiert und kreativ gestaltete und auf besondere Weise verstand, die Jugendlichen einzubinden. Er entwickelte eine Ferienprogramm und das Spielmobil, mit dem auf den Konstanzer Spielplätzen Spieleangebote durchgeführt wurden. Anlässlich der Neuausrichtung und Wiedereröffnung des Jugendzentrums Juze und dem Abschluss von Umbaumaßnahmen im Jugendhaus Raiteberg ergab sich die Gelegenheit, eine zielgruppenspezifische Einrichtung für die 6bis 14-jährigen im Gebäude unterhalb des Bismarckturms zu entwickeln. Mit dem Kinderkulturzentrum KiKuZ wurde die Offene Kinderarbeit in die Neuzeit „überführt“. Um die Betriebsform und das Angebotsspektrum im Jugendzentrum wurde in den Jahren 1990 bis 1994 zwischen der Stadtverwaltung und den organi‐ sierten Jugendlichen heftig gerungen. Der Anspruch der Jugendlichen auf ein autonomes und selbstorganisiertes Jugendzentrum fand bei der Stadt seinerzeit Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts 359 <?page no="360"?> 18 B Ö L L E R T , Karin (Hg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe, Wiesbaden 2018, S.-3. 19 Ebd, S.-4. keine Unterstützung. Erst 1994 beschloss der Jugendhilfeausschuss finanzielle Mittel für die Standortberatung und den Betrieb des selbstverwalteten Projekts „Panama“. Diese Erfahrungen nahmen Einfluss auf den Bau und die Eröffnung des Jugendtreffs Berchen im Jahr 2005, bei dem die Jugendlichen strukturell von Beginn an in die Entwicklung und Gestaltung eingebunden waren. 5. Zusammenfassung Die in diesem Buch enthaltenen Kapitel beschreiben die gesetzlichen, organisa‐ torischen und fachlichen Entwicklungen, die ihre Wurzeln in der Gründung des Jugendamtes Konstanz zum 1. Januar 1925 haben. In weiten Teilen ist dies auch die historische Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt. In ihren zentralen Strukturen, Organisationen, Aufgaben und Zuständigkeiten spiegelt sie die Entwicklung des bundesrepublikanischen Sozialstaates wider. „Die Kinder- und Jugendhilfe repräsentiert von daher immer auch die gesellschaftlich anerkannten Vorstellungen davon, wie Kinder und Jugendliche aufwachsen und erzogen werden sollen, und welche gerechten Lebensverhältnisse dafür zu gewährleisten sind“. 18 In gleicher Weise hat im Gegenzug die historische Entwicklung des Jugendamtes Konstanz die Rahmenbedingungen für das Auf‐ wachsen von Kindern und Jugendlichen wesentlich mitgestaltet. Die Kinder- und Jugendhilfe stellt die soziale Infrastruktur des Aufwachsens junger Men‐ schen und der Unterstützung ihrer Familien dar. Sie beinhaltet sozialstaatlich regulierte Angebote der Betreuung, Erziehung und Bildung sowie des Schutzes, der Förderung und Beteiligung. 19 Dabei definiert die Kinder- und Jugendhilfe Ansprüche für die Kinder, Jugendliche und Familien sowie die zentralen Instrumente zur Erfüllung dieser. Die Umsetzung, Planung und Ausgestaltung, das Ob und Wie, die professionelle Grundhaltung der Sozialen Dienste und ihrer Mitarbeitenden, liegen in der Verantwortung des zweigliedrigen Jugendamtes - Jugendhilfeausschuss und Verwaltung des Jugendamtes. Im Jugendhilfeausschuss ist die Kooperation mit freien Trägern der Jugendhilfe institutionalisiert. Für die Stadt Konstanz liegt die Besonderheit hinsichtlich der Jugendhilfe darin, dass sie als Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Verantwortung und zentrale Steuerung der sozialen Infrastruktur die Konstanzer Kinder, Jugendli‐ 360 Alfred Kaufmann <?page no="361"?> chen und Familien gemeinsam vom Gemeinderat, der Stadtverwaltung und dem Jugendamt getragen werden kann und wird. Sozial- und Jugendamt Amtsleitung Assistenz Abteilung Jugendhilfe Abteilung Soziale Dienste Abteilung Kinder-, Jugend-, Senioren- und Stadtteilarbeit Abteilung Tagesbetreuung für Kinder Stabsstelle Rechnungswesen und Zentrale Dienste Organigramm Sozial- und Jugendamt Stand 01.08.2024 Fachdienst Jugendhilfe im Strafverfahren Fachdienst Jugendsozialarbeit an Schulen / Schulsozialarbeit Fachdienst Verhinderung von Obdachlosigkeit / Betreuung von Obdachlosen und Menschen in „Einfachstwohnungen“; Projekt Wohnraum-Akquise von Wessenberg´sche Vermächtnis-Stiftung: Sozialzentrum von Wessenberg Tagesgruppe Schwedenschanze Tagesgruppe Petershausen Tagesgruppe Buchenberg Krippengruppen Schwedenschanze Familienzentrum Stockacker Kinderhaus am See Allgemeiner Sozialer Dienst mit Fachdienst Pflegekinder Psychologische Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern / Fachstelle Frühe Hilfen Abteilung Jugendhilfeplanung Netzwerkkoordination Frühe Hilfen Förderung von Kindertageseinrichtun gen Elternberatung und zentrale Vormerkung zur Kindertagesbetreuung Förderung von Trägern der freien Jugendhilfe Jugendhilfeplanung Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) Beistandschaften Beratungen Beurkundung Wirtschaftliche Jugendhilfe Arbeitsgruppe I Übernahme von Kita- Beiträgen Kindertagespflege Zuschuss zu Ferienfreizeiten Wirtschaftliche Jugendhilfe Arbeitsgruppe II Hilfe zur Erziehung in voll-, teilstationärer und ambulanter Form, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen Inobhutnahme Hilfe für junge Volljährige Ambulante Leistungen Ferienprogramm Förderung offener und verbandlicher Kinder- Jugendarbeit Förderung von Initiativen Kinder- und Jugendschutz Spiel- und Freiraumplanung Verlässliche Ferienbetreuung Mobile Jugendarbeit KinderKulturZentrum mit Spielmobil Jugendtreff Berchen Jugendzentrum Seniorenzentrum Bildung und Kultur Treffpunkt Petershausen Fachstelle Kinder- und Jugendbeteiligung Abteilung Sozialhilfe und sonstige Soziale Leistungen Hilfe zum Lebensunterhalt Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Hilfen zur Gesundheit Hilfe zur Pflege Menschen Hilfen in anderen Lebenslagen Annahme von Rentenanträgen Wohngeld Wohnberechtigungsbeschei nigungen Konstanzer Sozialpass Pflegefamilienpass Fachbereich Kindertagespflege Kindertagesstätte Weiherhof Kinderhaus am Salzberg Kindertagesstätte Villa Kunterbunt Kinderhaus am Rhein Kindertagesstätte Gustav-Schwab Kindertagesstätte Rebberg Kindertagesstätte Urisberg Kinderhaus Paradies Kindertagesstätte im Grün (Litzelstetten) Kindergarten Wallhausen Altenhilfeplanung HP-Pflege Pflege-WG Einzelfallhilfe - Pflegestützpunkt - Altenhilfe-Beratung Netzwerkarbeit Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft Altenhilfe Konstanz Einsatzleitung „Zeitinsel“ Zentrale Heimplatzanmeldung Abteilung Altenhilfe Koordinationsstelle für unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA) Amtsvormundschaften und Amtspflegschaften Das Organigramm des Konstanzer Sozial- und Jugendamts im Jahr 2024 Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts 361 <?page no="362"?> Das Team des Sozial- und Jugendamts der Stadt Konstanz im Sommer 2024 vor dem Dienstsitz, dem Torkelgebäude am Benediktinerplatz (Bilder: Oli Hanser) 362 Alfred Kaufmann <?page no="363"?> Verzeichnis der Autorinnen und Autoren B E H R E N S M E I E R , Barbara (geb. 1962) Studium der Verwaltungswissenschaften an der Universität Konstanz; 1990 Diplom; 1991-2005 Sachbearbeiterin im Sozial- und Jugendamt der Stadt Konstanz; 2005-09 Sachgebietsleitung im Jobcenter Landkreis Konstanz; 2009-21 Abteilungsleitung Friedhof bei den Technischen Betrieben der Stadt Konstanz; seit 2021 Abteilungsleitung Jugendhilfe im Sozial- und Jugendamt der Stadt Konstanz G ÖP P E R T , Verena (geb. 1961) Studium der Rechtswissenschaften an der Albert- Ludwigs Universität Freiburg; 1990-93 Leiterin des Rechts-, Sicherheits- und Ordnungsamt in Singen; 2000-06 Büroleiterin des Hauptgeschäftsführers des Deutschen Städtetags in Berlin; von 2016 bis Mai 2024 Ständige Stellvertreterin des Hauptgeschäftsführers und Finanzbeigeordnete des Deutschen Städtetages in Köln und Berlin K A U F MAN N , Alfred (geb. 1960) Abitur am Martin-Heidegger-Gymnasium in Messkirch, Wehrdienst; Studium der Psychologie in Konstanz; 1990-93 Studium der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen (Dipl. Sozialpädagoge); seit 2004 Mitarbeiter im Sozial- und Jugendamt der Stadt Konstanz (Sozialer Dienst, Jugendhilfeplanung) tätig; dort seit 2015 Amtsleiter K LÖC K L E R , Jürgen (geb. 1965) 1984-86 Reserveoffiziersanwärter; 1988-93 Stu‐ dium der Geschichtswissenschaften, Philosophie und Italianistik in Mainz und Konstanz; 1995 Promotion; 1996-98 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Politi‐ schen Archiv des Auswärtigen Amts in Bonn; danach Assistent am Lehrstuhl für Innenpolitik und öffentliche Verwaltung an der Universität Konstanz; seit 2001 Leiter des Stadtarchivs Konstanz; 2011 Habilitation; 2014 Ernennung zum apl. Professor an der Universität Konstanz K RÜG E R , Mandy (geb. 1987) geisteswissenschaftliches Studium an der Univer‐ sität Jena, HfM Franz Liszt Weimar und Universität Konstanz; seit 2016 in der Stadtverwaltung Konstanz tätig, zunächst in der Presse- und Öffentlichkeitsar‐ beit, seit 2024 im Kulturamt, außerdem immer wieder als freischaffende Texterin und Autorin tätig L U F T , Clemens (geb. 1960) erziehungswissenschaftliches Studium an der PH Freiburg, Studienschwerpunkt Dozent in der Erwachsenenbildung mit Musik, <?page no="364"?> Kunst und Deutsch; Abschluss Diplom-Pädagoge; 1994-2023 Lehrkraft am Marianum (Fachschule für Sozialpädagogik und Sozialwissenschaftliches Gym‐ nasium); 2004-18 Leiter der Fort- und Weiterbildung am Marianum (Hegne); 2007-09 Lehrbeauftragter Fachhochschule Freiburg i.Br.; 2016-23 Honorardo‐ zent an der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz O S N E R , Andreas (geb. 1968) Studium der Volkswirtschaft in Dortmund, Dublin und Würzburg; 1995-97 Referent der Kämmerin in der Stadt Detmold; 1997- 2000 wissenschaftliccher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Finanzwissenschaft in Würzburg; 2000 verwaltungswissenschaftliche Promotion; 2000-11 Projektma‐ nager Bertelsmann Stiftung, 2011-13 Gründer und Co-Geschäftsführer der gemeinnützigen Kommunalberatung Familiengerechte Kommune e. V.; seit 2013 (Wiederwahl 2021) Erster Beigeordneter und Bürgermeister für Soziales und Kultur der Stadt Konstanz S E I B E L , Wolfgang (geb. 1953) Studium der Politikwissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaft in Marburg und der Verwaltungswissenschaft in Speyer; 1982 Promotion und 1988 Habilitation in Kassel; 1990-2022 Lehrstuhlinhaber für Innenpolitik und Öffentliche Verwaltung am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft in Konstanz; 2022 Emeritierung, seither Senior Fellow der Hertie School in Berlin S IN G E R , Rüdiger (geb. 1969) geisteswissenschaftliches Studium an der Philipps- Universität Marburg; Leitung des Kreisjugendbildungswerkes Gießen, Kreisju‐ gendreferent und Jugendhilfeplaner im Landkreis Konstanz; seit 2016 Leiter der Abteilung Jugendhilfeplanung der Stadt Konstanz T R E U D E , Jürgen (geb. 1946) Studium der Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie an der Universität Tübingen; von 1977 bis 1985 Abteilungsleiter im städtischen Sozialamt Tübingen; von 1985 bis 1993 Leiter des Sozial- und Jugendamtes der Stadt Singen am Hohentwiel; von 1993 bis 1997 in der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung des Stadtstaates Hamburg Abteilungs‐ leiter im Amt für Jugend für die Bereiche Hilfen zur Erziehung, Jugendstraf‐ fälligenhilfe, Kinder- und Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Kinder- und Jugendnotdienste; von 1998 bis 2011 als Leiter des Sozial- und Jugendamtes der Stadt Konstanz W A G N E R , Günther (geb. 1951) Studium der Soziologie und Erziehungswissen‐ schaft, Schwerpunkt Sozialpädagogik, an der Universität Tübingen, Abschluss Diplom-Pädagoge 1979; 1990 bis 2011 Leiter der Abteilung Sozialer Dienst der Stadt Konstanz, ab 1997 stellvertretender Leiter des Sozial- und Jugendamtes der Stadt Konstanz 364 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren <?page no="365"?> W I E S N E R , Reinhard (geb. 1945) Studium der Rechtswissenschaften in München und Regensburg; 1972 Promotion; ab 1974 Referent im Bonner Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit; 1985-2010 Leiter des Referats Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; 2001 Dr. h.-c. in Tübingen; 2003 Honorarprofessor an der FU Berlin Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 365 <?page no="366"?> Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz herausgegeben von Jürgen Klöckler Bisher sind erschienen: Band 3 Jürgen Klöckler (Hg.) Konstanz in beiden Weltkriegen Festschrift für Lothar Burchardt 2004, 160 Seiten ISBN 978-3-89669-695-3 Band 7 Tatiana Sfedu Ein Konstanzer Bürgerwerk Das Rosgartenmuseum seit Ludwig Leiner 2007, 180 Seiten ISBN 978-3-89669-640-3 Band 8 Walter Rügert, Andy Theler (Hg.) Vom Grenzzaun zur Kunstgrenze Zur Geschichte eines außergewöhnlichen Projekts 2007, 100 Seiten ISBN 978-3-89669-642-7 Band 10 Lothar Burchardt (Hg.) Aufregende Tage und Wochen Das Tagebuch des Konstanzer Lehrers Herbert Holzer aus den Jahren 1945-1948 2010, 246 Seiten ISBN 978-3-86764-251-4 Band 11 Daniela Frey, Claus-Dieter Hirt Französische Spuren in Konstanz Ein Streifzug durch die Jahrhunderte 2011, 186 Seiten ISBN 978-3-86764-322-1 Band 13 Heike Kempe (Hg.) Die »andere« Provinz Kulturelle Auf- und Ausbrüche in der Bodensee-Region seit den 1960er Jahren 2013, 200 Seiten ISBN 978-3-86764-363-4 Band 14 David Bruder Soziale Stimme - streitbarer Sachverstand Geschichte des Mieterbundes in Konstanz seit 1912 2012, 154 Seiten ISBN 978-3-86764-381-8 Band 15 Manfred Bosch, Siegmund Kopitzki (Hg.) Wettlauf mit dem Schatten Der Fall (des) Wilhelm von Scholz 2013, 288 Seiten ISBN 978-3-86764-384-9 Band 16 Arnulf Moser Vom Königlichen Garnisons-Lazarett zur Arbeiterwohlfahrt Die wechselvolle Geschichte des Gebäudekomplexes Friedrichstraße 21 in Konstanz von 1882 bis heute 2013, 102 Seiten ISBN 978-3-86764-429-7 Band 17 Lisa Foege Wessenbergs Herzenskind Geschichte einer sozialen Fürsorgeinstitution in Konstanz 2013, 200 Seiten ISBN 978-3-86764-452-5 Band 18 Klaus Oettinger Aufrecht und tapfer Ignaz Heinrich von Wessenberg - ein katholischer Aufklärer Essays, Vorträge, Analekten 2016, 208 Seiten ISBN 978-3-86764-723-6 <?page no="367"?> Band 19 Marita Sennekamp Grün in der Stadt Eine historische Spurensuche in Konstanz 2018, 154 Seiten ISBN 978-3-86764-848-6 Band 20 Manfred Bosch Konstanz literarisch Versuch einer Topografie 2019, 352 Seiten ISBN 978-3-86764-890-5 Band 21 Jürgen Klöckler (Hg.) Konstanzer Bäder und Badeanstalten Ein Beitrag zur Geschichte des Badewesens am Bodensee 2020, 324 Seiten ISBN 978-3-7398-3073-5 Band 22 Dorothea Cremer-Schacht, Siegmund Kopitzki (Hg.) Lotte Eckener Tochter, Fotografin und Verlegerin 2021, 236 Seiten ISBN 978-3-7398-3108-4 Band 23 Jürgen Klöckler (Hg.) Konstanz und Italien Transalpine Beziehungen durch die Jahrhunderte 2023, 427 Seiten ISBN 978-3-7398-3232-6 Band 24 Jürgen Klöckler (Hg.) Kommunale Fürsorge am Bodensee Das Konstanzer Jugendamt 1925 bis 2025 2025, 365 Seiten ISBN 978-3-381-13291-1 <?page no="368"?> Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz 24 Die Stadtverwaltung Konstanz hat eine Besonderheit in ganz Baden- Württemberg aufzuweisen: Als einzige kreisabhängige Stadt verfügt sie seit genau 100 Jahren über ein eigenes Sozial- und Jugendamt. Dessen Geschichte wird hier kritisch aufgearbeitet, insbesondere auch die Zeit des Nationalsozialismus und die Jahre unter französischer Besatzung. 13 Autorinnen und Autoren liefern ein facettenreiches Bild einer städtischen Institution, ohne sich dabei einer trockenen Verwaltungssprache zu bedienen. Es werden durchaus intime Einblicke in die aktuelle Arbeit gegeben, auch zur Kindeswohlgefährdung, die aufgrund spektakulärer Fälle in den letzten Jahren verstärkt in den Medien und der Gesellschaft diskutiert wird. ISBN 978-3-381-13291-1 www.uvk.de
