Start-ups und EU-Recht
Was junge Unternehmen im internationalen Geschäft beachten müssen
0331
2025
978-3-3811-3572-1
978-3-3811-3571-4
UVK Verlag
Michael Zerres
Thomas Zerres
10.24053/9783381135721
Das Buch gliedert sich in drei Teile:
Im ersten Teil geht es zunächst darum, einen Überblick darüber zu geben, was EU-Recht überhaupt ist, welche Arten es gibt und welche Akteure auf europäischer Ebene für die Rechtsetzung und die Rechtsprechung zuständig sind.
Im zweiten Teil geht es dann um die zur Schaffung und Aufrechterhaltung eines Binnenmarktes wichtigen "Grundfreiheiten" sowie um die grundsätzliche Sicherung eines freien Wettbewerbs durch die Regelungen des europäischen Wettbewerbsrechts.
Im dritten Teil werden die für Start-ups relevanten und durch EU-Recht harmonisierten Rechtsbereiche vorgestellt. Dabei geht es um den Datenschutz, das Preisrecht und - ganz aktuell - um die neue KI-Verordnung der EU.
Das Buch richtet sich an Studierende der Betriebswirtschaftslehre sowie an Personen, die ein Start-up gründen wollen oder bereits im Gründungsprozess sind.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-1357 1-4 Prof. Dr. Michael Zerres war Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, speziell Marketing, an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Dienstleistungsmarketing, das Marketingcontrolling und das Marketingrecht. Prof. Dr. Thomas Zerres lehrt Zivil- und Wirtschaftsrecht an der Hochschule Konstanz. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind das Bürgerliche Recht, das Marketingrecht sowie das Europäische Wirtschaftsrecht. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil geht es zunächst darum, einen Überblick darüber zu geben, was EU-Recht überhaupt ist, welche Arten es gibt und welche Akteure auf europäischer Ebene für die Rechtsetzung und die Rechtsprechung zuständig sind. Im zweiten Teil geht es dann um die zur Schaffung und Aufrechterhaltung eines Binnenmarktes wichtigen „Grundfreiheiten“ sowie um die grundsätzliche Sicherung eines freien Wettbewerbs durch die Regelungen des europäischen Wettbewerbsrechts. Im dritten Teil werden die für Start-ups relevanten und durch EU-Recht harmonisierten Rechtsbereiche vorgestellt. Dabei geht es um den Datenschutz, das Preisrecht und - ganz aktuell - um die neue KI-Verordnung der EU. Das Buch richtet sich an Studierende der Betriebswirtschaftslehre sowie an Personen, die ein Start-up gründen wollen oder bereits im Gründungsprozess sind. Zerres / Zerres Start-ups und EU-Recht Michael Zerres / Thomas Zerres Start-ups und EU-Recht Was junge Unternehmen im internationalen Geschäft beachten müssen <?page no="1"?> Start-ups und EU-Recht <?page no="2"?> Prof. Dr. Michael Zerres war Professor für Allgemeine Betriebswirt‐ schaftslehre, speziell Marketing, an der Universität Hamburg. Seine For‐ schungsschwerpunkte sind das Dienstleistungsmarketing, das Marketing‐ controlling und das Marketingrecht. Prof. Dr. Thomas Zerres lehrt Zivil- und Wirtschaftsrecht an der Hoch‐ schule Konstanz. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind das Bür‐ gerliche Recht, das Marketingrecht sowie das Europäische Wirtschaftsrecht. In der Lehre immer am Zahn der Zeit zu sein, wird in unserer schnelllebigen Zeit immer mehr zur Herausforderung. Mit unserer neuen fachübergreifenden Reihe nuggets präsentieren wir Ihnen die aktuellen Trends, die Forschung, Lehre und Gesellschaft beschäftigen - wissenschaftlich fundiert und kompakt dargestellt. Ein besonderes Augenmerk legt die Reihe auf den didaktischen Anspruch, denn die Bände sind vor allem konzipiert als kleine Bausteine, die Sie für Ihre Lehrveranstaltung ganz unkompliziert einsetzen können. Mit unseren nuggets bekommen Sie prägnante und kompakt dar‐ gestellte Themen im handlichen Buchformat, verfasst von Expert: innen, die gezielte Information mit fundierter Analyse verbinden und damit aktuelles Wissen vermitteln, ohne den Fokus auf das Wesentliche zu verlieren. Damit sind sie für Lehre und Studium vor allem eines: Gold wert! So gezielt die Themen in den Bänden bearbeitet werden, so breit ist auch das Fachspektrum, das die nuggets abdecken: von den Wirtschaftswissenschaf‐ ten über die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften bis hin zur Sozialwissenschaft - Leser: innen aller Fachbereiche können in dieser Reihe fündig werden. <?page no="3"?> Michael Zerres / Thomas Zerres Start-ups und EU-Recht Was junge Unternehmen im internationalen Geschäft beachten müssen <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381135721 © UVK Verlag 2025 ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 2941-2730 ISBN 978-3-381-13571-4 (Print) ISBN 978-3-381-13572-1 (ePDF) ISBN 978-3-381-13573-8 (ePub) Umschlagabbildung: © asbe iStockphoto Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 Teil I 9 1 11 1.1 11 1.2 13 1.3 15 1.4 17 2 21 2.1 21 2.2 22 3 25 3.1 25 3.2 27 3.3 28 3.4 29 3.5 31 3.6 33 3.7 34 3.8 35 Teil II 37 4 39 4.1 39 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist überhaupt EU-Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie ist EU-Recht entstanden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristische Merkmale der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsetzende Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenständigkeit und Anwendungsvorrang des EU-Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Arten von EU-Recht gibt es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer schafft EU-Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäischer Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rat der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäisches Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäischer Rechnungshof und weitere Einrichtungen Grundfreiheiten und Freiheit des Wettbewerbs als Voraussetzungen für den Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumente für einen funktionierenden Binnenmarkt . . <?page no="6"?> 4.2 44 4.3 53 4.4 57 4.5 63 4.6 65 5 67 5.1 67 5.2 68 5.3 70 5.4 72 Teil III 75 6 77 6.1 77 6.2 78 6.3 106 7 109 7.1 109 7.2 111 7.3 119 8 129 8.1 129 8.2 130 8.3 135 137 139 140 Gemeinsamer Prüfungsrahmen von Grundfreiheiten . . . Warenverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . Wettbewerbsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kartellverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung . . . . . . Fusionskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Start-up-relevantes EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Datenschutz-Grundverordnung . . . . . . . . . . Bereichsspezifischer Datenschutz und Auffangnormen . Preisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wettbewerbsbeeinträchtigende Preisvereinbarungen und missbräuchliches Marktverhalten . . . . . . . . . . . . . . . Preisbezogene Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KI-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereich und wesentlicher Inhalt der KI-VO KI-VO im Kontext anderer europäischer Digitalregulierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. Vorwort Dieses Buch wendet sich an die stark wachsende Anzahl von in deutschen Start-ups Verantwortung Tragenden, die, wie aktuelle Analysen anschaulich zeigen, überlegen, ihre Geschäftstätigkeit zu internationalisieren und dabei zunächst an Europa denken, konkret an die Europäische Union. Diesen soll nahegebracht werden, mit welchen rechtlichen Rahmenbedingungen ihr Handeln dabei konfrontiert werden kann. Im ersten Teil geht es zunächst darum, einen Überblick darüber zu geben, was EU-Recht überhaupt ist, welche Arten es gibt und welche Akteure auf europäischer Ebene für die Rechtsetzung und die Rechtsprechung zuständig sind. Im zweiten Teil geht es dann um die zur Schaffung und Aufrechter‐ haltung eines Binnenmarktes wichtigen „Grundfreiheiten“ sowie um die grundsätzliche Sicherung eines freien Wettbewerbs durch die Regelungen des europäischen Wettbewerbsrechts. Im dritten Teil werden die für Start-ups relevante und durch EU-Recht harmonisierte Rechtsbereiche vorgestellt. Dabei geht es um den Daten‐ schutz, das Preisrecht sowie - ganz aktuell - um die neue KI-Verordnung der EU. 1 Prof. Dr. Thomas Zerres Prof. Dr. Michael Zerres Hochschule Konstanz Universität Hamburg <?page no="9"?> Teil I Was ist überhaupt EU-Recht? In diesem ersten Teil sollen Start-up-Verantwortliche dafür sensibilisiert werden, was EU-Recht überhaupt ist, welche Rechtsquellen es gibt und welche Organe der EU maßgebend an der Rechtsetzung beteiligt sind. Dieser Abschnitt beginnt mit einem kurzen historischen Rückblick bis zur Entstehung der EU in ihrer heutigen Struktur; es folgen Ausführungen zu den Rechtsquellen, einschließlich der Zuständigkeitsbereiche der EU sowie zu den Organen und deren jeweilige Funktion in Bezug auf die Rechtsetzung. <?page no="11"?> 1 Wie ist EU-Recht entstanden? 1.1 Historische Entwicklung Der Beginn der europäischen Integrationsbestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg stand im Zeichen der Sorge um die politische Entwicklung des zweigeteilten Deutschlands während des sich verschärfenden Kalten Krie‐ ges. Mit dem Ziel, die kriegswichtigen Schlüsselindustrien gemeinschaftlich zu kontrollieren, wurde 1951 der Gründungsvertrag der Europäischen Ge‐ meinschaft für Kohle und Stahl (EGKS = Montanunion) zwischen den sechs Gründerstaaten (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande) abgeschlossen. Ziel war in den folgenden Jahren in erster Linie stets ein wirtschaftliches Zusammenwachsen. Im Jahre 1957 kam es zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie zu einer Europäischen Atomgemein‐ schaft (EAG). Die EWG, der von Anfang an weitaus größere Bedeutung zukam, war dabei vornehmlich auf Betreiben der Bundesrepublik Deutsch‐ land geschlossen worden, die in der Schaffung eines solchen gemeinsamen Marktes eine große Chance für ihre wachsende Exportindustrie sah. Die EWG war dabei nicht auf einen bestimmten Wirtschaftssektor be‐ grenzt, sondern hatte die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Mitglied‐ staaten insgesamt zum Gegenstand. Beide Gemeinschaften wurden mit europäischen Institutionen ausgestattet. Hierzu zählten die Kommission, der Ministerrat, das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof. Ziel des EWG-Vertrages war vornehmlich eine schrittweise Angleichung der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten. Dieses sollte durch die Be‐ seitigung von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen beim Import und Export, durch die Schaffung eines gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittländern sowie durch die Verwirklichung von Grundfreiheiten zwischen den sechs Gründerstaaten geschehen. Viele der seinerzeit angestrebten Ziele, das heißt etwa Abbau von Binnenzöllen, gemeinsamer Außenzoll, Binnenmarkt beziehungsweise gemeinsamer Markt, würden verwirklicht. In den 1970er und 1980er Jahren konnte man den Beitritt neuer Mitglied‐ staaten verzeichnen. Im Jahre 1986 kam es dann zu einer wichtigen Vertragsänderung, mit der unter anderem die Rechtsetzung durch die EWG durch die Einführung des Mehrheitsstatt des bisherigen Einstimmigkeitsprinzips vereinfacht <?page no="12"?> wurde. Eine weitere bedeutende Änderung erfolgte durch den Vertrag von Maastricht im Jahre 1992. Mit der Schaffung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) wurden die bis dahin am weitesten gehenden Änderungen des EWG-Vertrages beschlossen. Aus der Europäischen Wirt‐ schaftsgemeinschaft wurde ab diesem Zeitpunkt wegen der erweiterten, über die wirtschaftlichen Tätigkeiten hinausgehenden Zuständigkeiten, die sogenannte Europäische Gemeinschaft (EG). Weitere Modifizierungen erfolgten dann in der Folgezeit durch die Verträge von Amsterdam (1998) und Nizza (2000). Die beiden Verträge führten vor allem zu institutionellen Reformen, insbesondere mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedstaaten (2004). Die Europäische Union besteht aktuell (nach dem Austritt Großbritanniens 2020) aus 27 Mitgliedstaaten. Der Vertrag von Lissabon, der seit 2009 in Kraft ist, stellt aktuell die bislang letzte größere Vertragsänderung dar. Mit diesem Vertrag wurde die EU als Rechtsnachfolgerin der EG mit eigener Rechtspersönlichkeit installiert. Der Vertrag besteht im Prinzip aus zwei Vertragsteilen, • dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und • dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Der EUV stellt dabei eine Art Rahmenvertrag dar, in dem die grundlegenden Bestimmungen enthalten sind, die dann im AEUV im Einzelnen detaillierter ausgestaltet werden. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass der Vertrag von Lissabon die Kompetenzen der EU erweitert hat. Als Bereich der inter‐ gouvernementalen Zusammenarbeit in der EU, in denen eine Beschlussfas‐ sung (nach wie vor) Einstimmigkeit erfordert, verbleibt weitgehend nur die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). In den anderen Bereichen erfolgt die Beschlussfassung nach einem (komplizierten) Mehr‐ heitsprinzip. Der Vertrag über die Errichtung der Europäischen Atomge‐ meinschaft (EAG) ist dagegen nur punktuell geändert worden. Der EUV und der AEUV sowie die nunmehr verbindliche Grundrechte-Charta besitzen den gleichen rechtlichen Stellenwert (Zerres, T., Zerres, M., Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 8 ff.). Abbildung 1 stellt die Struktur der EU nach dem Vertrag von Lissabon dar. 12 1 Wie ist EU-Recht entstanden? <?page no="13"?> Vertrag über die Europäische Union (EUV): Vertrag von Lissabon modifiziert den bisherigen EUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): Vertrag von Lissabon modifiziert den bisherigen EGV und benennt diesen um GASP bleibt intergouvernemental EURATOM EA besteht als eigenes Regelwerk fort EU-Struktur nach dem Vertrag von Lissabon Abbildung 1: EU-Struktur nach dem Vertrag von Lissabon 1.2 Charakteristische Merkmale der EU Die EU besitzt seit dem Vertrag von Lissabon eine eigene Rechtspersönlich‐ keit (Art. 47 EUV). Terminologisch spricht man heute auch von dem Recht der Europäischen Union (EU-Recht) beziehungsweise Unionsrecht. Die EU ist befugt, völkerrechtliche Verträge abzuschließen und verfügt als neues Rechtssubjekt über eigene Organe (Art. 13 EUV), die später vorzustellen sind. Die Mitgliedstaaten bleiben damit weiterhin souveräne Staaten. Sie begründen durch die Verträge (EUV und AEUV) eigene Hoheitsrechte des Völkerrechtssubjekts EU (Art. 47 EUV), aufgrund derer allerdings ihre eigene Souveränität begrenzt wird. Die EU ist also durch die vorgenannten Gründungs- und Folgeverträge mit eigenen, selbstständig wahrzunehmenden Kompetenzen ausgestattet. Nach dem in Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV enthaltenen „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ darf sie im Rahmen der ihr ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzübertragung durch die Mitgliedstaaten tätig werden, insbeson‐ dere Gesetze erlassen, die für die Mitgliedstaaten bindend sind. 1.2 Charakteristische Merkmale der EU 13 <?page no="14"?> Die EU besitzt daher keine Allzuständigkeit. Sie kann den Umfang ihrer Kompetenz nicht selbst regeln, das heißt, dass sie nicht aus eigener Souveränität heraus eigene Kompetenzen begründen kann. Es fehlt ihr - im Gegensatz zu den (souveränen) Staaten - die sogenannte Kompetenz-Kompetenz. Die EU kann daher (nur) diejenigen Zuständigkeiten wahrnehmen, welche ihr in den Verträgen übertragen wurden (BVerfG, NJW 2009, 2271 m. w. N.; Streinz, Rn. 141). In diesen Verträgen muss stets eine Grundlage für das hoheitliche Handeln, etwa die Gesetzgebung, angelegt sein. Die EU ist kein (Bundes-)Staat, jedoch mehr als ein Zusammenschluss von Staaten im Rahmen von völkerrechtlichen Staatsverträgen. Sie ist ein Völkerrechtssubjekt eigener Art, nämlich eine supranationale Institution, die dadurch charakterisiert wird, dass die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Souveränitätsrechte zugunsten einer überstaatlichen Institution aufgegeben haben, so dass die EU insoweit eigenständig supranationales Recht setzen kann. Das deutsche Grundgesetz regelt in Art. 23 GG speziell die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU. Diese muss sich grundsätzlich bei allen ihren Handlungen in diesem Kompetenzrahmen bewegen. Macht die EU von einer Kompetenz Gebrauch, die ihr die Mitgliedstaaten übertragen haben, so sind die gefassten Regelungen beziehungsweise Be‐ schlüsse auch gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten verbindlich und verpflichten deren Bürger unmittelbar. Beschließt etwa die EU im Rahmen ihrer Zuständigkeit ein Gesetz, das in dem dafür vorgesehenen Rechtset‐ zungsverfahren rechtmäßig zustande gekommen ist, dann ist dieses auch für diejenigen Mitgliedstaaten (und damit für deren Bürger) bindend, die im Rechtsetzungsverfahren ursprünglich dagegen gestimmt haben. Soweit hingegen Zuständigkeiten der EU nicht übertragen worden sind, verbleiben diese bei den Mitgliedstaaten, vor allem etwa im Hinblick auf die „nationale Sicherheit“, im Bereich der Außenbeziehungen und (teilweise) auch in Bezug auf die Erhebung von Steuern. 14 1 Wie ist EU-Recht entstanden? <?page no="15"?> 1.3 Rechtsetzende Kompetenzen Die EU leitet ihre Kompetenz zur Rechtsetzung nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung von den Mitgliedstaaten ab. Die Verteilung der Kompetenzen ist in den Art. 2 bis 6 AEUV geregelt. Die dort aufgeführten Kompetenzen unterscheiden zwischen der ausschließlichen und der geteilten Unionskompetenz, die durch ungeschriebene Kompetenzen („implied powers“) ergänzt werden. • Nach Art. 3 Abs. 1 und 2 AEUV verfügt die EU über die ausschließliche Zuständigkeit in Bezug auf die Zollunion, die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes notwendigen Wettbewerbsregeln, die Währungspolitik für die Länder der Eurozone, Fischereipolitik, die gemeinsame Handelspolitik sowie für den Abschluss internationaler Übereinkünfte auf diesen Gebieten. Die Bedeutung dieser Zuständig‐ keitsübertragung wird in Art. 2 Abs. 1 AEUV beschrieben. Danach ist innerhalb eines Sachgebietes ausschließlich die EU zu Rechtsetzungsak‐ ten berechtigt. Die Mitgliedstaaten können dabei lediglich dann tätig werden, wenn sie von der EU hierzu ermächtigt werden oder diese Rechtsakte durchführen müssen. • Die geteilten Zuständigkeiten (auch konkurrierende Unionskompe‐ tenz genannt) umfassen nach Art. 4 Abs. 2 AEUV den Binnenmarkt, die Sozialpolitik, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Umwelt-, Ver‐ kehr- und Verbraucherschutzpolitik wie auch die Energieversorgung. Sie stellt den Regelfall der Unionszuständigkeiten dar und hat zur Folge, dass sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten auf den jeweiligen Sachgebieten Regelungen treffen können (Art. 2 Abs. 2 AEUV). Die EU hat hier den ersten Zugriff auf die Wahrnehmung der Zuständigkeit. Macht die EU von diesem Recht Gebrauch, so verlieren die Mitgliedstaa‐ ten ihre Zuständigkeit (Peremtionsprinzip, Art. 2 Abs. 2 S. 3 AEUV). Die Mitgliedstaaten werden durch das Tätigwerden der EU also kompe‐ tenzrechtlich „gesperrt“ (Sommer, Rn. 255-m. w. N.). • Unterstützende Zuständigkeiten (Art. 2 Abs. 5 AEUV) bedeuten, dass die EU ausschließlich zur Koordinierung oder Ergänzung der Maßnah‐ men der Mitgliedstaaten eingreift und nicht zur Rechtsharmonisierung. Die EU ist in diesen Bereichen auf ein Handeln der Mitgliedstaaten 1.3 Rechtsetzende Kompetenzen 15 <?page no="16"?> angewiesen. Zu den Bereichen der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen (Art. 6 AEUV) zählen Gesundheitsschutz, Industriepolitik, Kultur, Tourismus, Bildung, Jugend, Sport, Berufsaus‐ bildung und Katastrophenschutz. Die EU besitzt ergänzend eine Vertragsabrundungskompetenz, die auch als Flexibilitätsklausel bezeichnet wird (Art. 352 AEUV). Zur Verwirklichung der Unionsziele darf die EU hier in engen Grenzen im Rahmen der festgeleg‐ ten Politikbereiche tätig werden. Es handelt sich hier nicht um eine Durch‐ brechung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung, sondern um eine Vertragslückenschließung; Entscheidungen auf Basis dieser Grundlage erfordern Einstimmigkeit. Ausdrücklich ausgenommen sind hiervon solche Bereiche, für die ein Harmonisierungsverbot gilt sowie der Bereich der GASP (Art. 352 Abs. 3 und 4 AEUV). Die GASP und die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik innerhalb der EU unterliegen einer besonderen Zuständigkeit. Ausnahmsweise hat der EuGH auch eine ungeschriebene, implizit im Vertrag angelegte Handlungskompetenz zum Erlass solcher Maßnahmen angenommen, wenn es zur wirksamen und sinnvollen Ausführung bereits ausdrücklich eingeräumter Befugnisse erforderlich ist, also eine Zuständig‐ keit kraft Sachzusammenhangs (Sommer, Rn. 261 m. w. N. zur „implied powers“-Theorie). Die EU unterliegt bei der Ausübung ihrer Kompetenzen dem in Art. 5 Abs. 3 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzip. Nach diesem Prinzip darf die Union in den Bereichen, in denen sie nicht die ausschließliche Zuständigkeit besitzt, nur dann tätig werden, wenn eine unionsrecht‐ liche Maßnahme effektiver ist als Maßnahmen der einzelnen Mitglied‐ staaten. Die Einhaltung dieses Subsidiaritätsprinzips kann durch nationale Parla‐ mente, die an Gesetzgebungsverfahren auf europäischer Ebene beteiligt sind, mittels einer „Subsidiaritätsrüge“ kontrolliert werden, wenn sie die nationale Zuständigkeit als verletzt ansehen (EuGH, EuZW 2001, 691 (693); Haratsch/ König/ Pechstein, Rn. 160 ff. m. w. N.; Art. 6 des sog. Subsidiaritätsprotokolls). 16 1 Wie ist EU-Recht entstanden? <?page no="17"?> Ist die Regelungszuständigkeit auf Unionsebene gegeben und das Subsi‐ diaritätsprinzip beachtet worden, dann ist weiterhin noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art.-5 Abs.-4 EUV) zu berücksichtigen. Nach diesem Grundsatz, der nach Art. 296 Abs. 1 AEUV ausdrücklich auch für die Auswahl des Rechtsaktes Anwendung findet, darf die EU von ihren Kompetenzen nur insoweit Gebrauch machen, wie es inhaltlich und formal zur Erreichung der Ziele der Verträge notwendig ist. So darf die EU beispielsweise eine Verordnung erst dann erlassen, wenn eine Richtlinie zur Erreichung des angestrebten Ziels nicht ausreichend ist. Zu beachten dabei ist, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, im Gegensatz zum Subsidiaritätsprinzip, auch im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit gilt. Die Maßnahme der EU darf also inhaltlich wie formal nicht über das für die Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgehen. 1.4 Eigenständigkeit und Anwendungsvorrang des EU-Rechts Die Eigenständigkeit und der Vorrang des EU-Rechts ergeben sich nicht aus einer ausdrücklichen Vertragsvorschrift, sondern aufgrund der Rechtspre‐ chung des Europäischen Gerichtshofes. In der Anfangsphase der Europäischen Gemeinschaften ging man in der Rechtslehre von der Selbstständigkeit des Europarechts und des nationalen Rechts aus. Beide Rechtsgebiete bildeten dabei zwei, unabhängig vonein‐ ander bestehende Rechtsordnungen, die sich gegenseitig weder berührten noch beeinflussten (Zweirechtskreislehre). In der Entscheidung „van Gend & Loos“ (EuGH, Urteil v. 5.2.1963, Rs. 26/ 62, Slg. 1963, 1 ff - van Gend & Loos / Administratie der Belastingen) sprach der EuGH erstmals einer Norm des EWG-Vertrages (damals: Art. 12 EWG-Vertrag, heute: Art. 30 AEUV) eine unmittelbare Wirkung zugunsten des Bürgers zu („effet direct“), aus der sich für diesen Rechte ergeben können. Gegenstand der Entscheidung war eine Klage des niederländischen Transportunternehmens van Gend & Loos beim EuGH gegen überhöhte niederländische Importzölle, die nach Auffassung der Klägerin gegen den (damaligen) EWG-Vertrag verstießen. Danach war die nachträgliche Erhöhung von Einfuhrzöllen, die bereits existierten, als der Vertrag in Kraft trat, verboten. Die Niederlande bestritten die unmittelbare Wirkung. Der EuGH begründete seine Entscheidung mit der unmittelbaren Wirkung des europäischen Rechts, das unmittelbar auch 1.4 Eigenständigkeit und Anwendungsvorrang des EU-Rechts 17 <?page no="18"?> individulelle Rechte und Pflichten für Personen begründe, die staatliche Ge‐ richte zu beachten haben. Diese Normen müssten auch möglichst optimale Wirkung entfalten („effet utile“). In einer weiteren grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 1964 hatte der EuGH entschieden, dass die Auffassung, die bis dahin von zwei unab‐ hängig voneinander bestehenden Rechtsordnungen ausging, nicht geeignet erschien, das europäische Recht dauerhaft und wirksam durchzusetzen und damit zu einer Vereinheitlichung der Rechts- und Wirtschaftsbedingungen in Europa beizutragen. In seiner Entscheidung Costa/ ENEL. (EuGH, Urteil v. 15.7.1964, Rs. 6/ 64, Slg. 1964, S. 1251 - Costa/ ENEL; Zerres T., Zerres, M., Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 27ff.) etablierte das Gericht den Grund‐ satz des Vorrangs des Europarechts. Ein Aktionär und Stromkunde der AG Edisonvolta hatte bei einem gerichtlichen Streit über eine Stromrechnung beantragt, die geplante Ver‐ staatlichung der Edisonvolta im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfah‐ rens überprüfen zu lassen. Der EuGH stellte fest, dass die in Italien be‐ schlossene Verstaatlichung der Erzeugung und Verteilung von Strom gegen Art. 31 EWG-Vertrag verstößt, wenn der Strom für die Ein- und Ausfuhr zwischen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von Bedeutung wäre. In dieser Entscheidung sprach der EuGH dem Gemeinschaftsrecht (heute: Unionsrecht) aufgrund der Übertragung von Hoheitsbefugnissen seitens der Mitgliedstaaten im EWG-Vertrag supranationalen Charakter zu und begründete den absoluten Anwendungsvorrang von Unionsrecht gegenüber innerstaatlichem Recht. Der EuGH hob hervor, dass die Mitgliedstaaten auf unbestimmte Zeit den Organen der Gemeinschaft (heute: Union) Teile ihrer Gesetzgebungsbefug‐ nisse übertragen haben. Gegen das Recht des EWG-Vertrages verstoßende nationale Regelungen widersprechen daher der vertraglich eingegangenen Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gründung der EWG (Haratsch/ Koe‐ nig/ Pechstein, Rn. 175 ff. m. w. N.). Das bedeutet, dass wegen der Eigen‐ ständigkeit des Unionsrechts diesem keine, wie auch immer ausgestalteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen (können). Das gesamte Unionsrecht geht also heute grundsätzlich dem jeweiligen nationalen Recht vor. Der sogenannte Anwendungsvorrang ist dabei von einem Geltungsvorrang zu unterscheiden. 18 1 Wie ist EU-Recht entstanden? <?page no="19"?> • Während der Geltungsvorrang zur Nichtigkeit des jeweils nachrangi‐ gen Rechts führt, • bedeutet der Anwendungsvorrang, dass das Unionsrecht vorrangig vor dem in möglicher Kollision stehenden (nationalen) Recht anzuwen‐ den ist. Die somit nicht anwendbare innerstaatliche Norm bleibt aber dennoch wirksam und findet für die Fälle, in denen keine Kollision besteht, also bei rein nationalen Sachverhalten ohne grenzüberschreitenden Bezug sowie auf die betroffenen Inländer, weiterhin Anwendung (Streinz, Rn. 227 ff.). Würde zum Beispiel eine EU-Verordnung vorschreiben, dass in einem Produkt ein bestimmter Schadstoff bis zu einem Wert von 0,05 mg enthalten sein darf, würde ein deutsches Gesetz, das den Schadstoff bis zu 0,08 mg zulässt, hinter die unionsrechtliche Regelung zurücktreten. Der EuGH erweiterte die Rechtsprechung in Costa/ ENEL auf eine Verpflich‐ tung der Mitgliedstaaten, auf diesen Sachgebieten nicht nur entgegenste‐ hendes nationales Recht nicht anzuwenden, sondern auch zukünftig kein neues innerstaatliches Recht mehr zu erlassen, welches dem bestehenden Unionsrecht zuwiderläuft sowie auch in sonstiger Hinsicht alles zu tun, was zur Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts notwendig ist. Unionsrecht ist daher nicht nur vorrangig gegenüber bestehendem natio‐ nalen Recht, sondern es entfaltet darüber hinaus eine Sperrwirkung gegen‐ über später gesetztem Recht. Ein Beispiel hierfür ist eine weitere, ebenso bekannt gewordene Entscheidung des EuGH (EuGH, Urteil v. 9.3.1978, 106/ 77, Slg., 1978, S.-629 - Simmenthal; Streinz, Rn. 223). Gegenstand der Entscheidung war eine italienische Regelung, nach der gebüh‐ renverursachende Gesundheitskontrollen für Rindfleisch auf Grund eines Ge‐ setzes durchzuführen waren. Diese Regelung wurde zeitlich nach einer gemein‐ schaftsrechtlichen Regelung erlassen, die eben solche Kontrollen untersagte. Die Schlachterei Simmenthal klagte daraufhin gegen die Erhebung der Gebühren. Der EuGH betonte hier die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, auch in Zukunft kein neues innerstaatliches Recht mehr zu erlassen, welches dem bestehenden Unionsrecht zuwiderläuft; das italienische Gesetz musste in diesem Fall wieder aufgehoben werden. 1.4 Eigenständigkeit und Anwendungsvorrang des EU-Rechts 19 <?page no="21"?> 2 Welche Arten von EU-Recht gibt es? 2.1 Primärrecht Das materielle Unionsrecht lässt sich unterteilen in das Primärecht und das Sekundärrecht. Das primäre Unionsvertragsrecht (Primärrecht) stellt die Grundlage des Unionsrechts dar und nimmt die höchste Rangstufe ein. Es umfasst • sämtliche Vertragstexte, also heute den EUV und der AEUV, • sämtliche Protokolle und Anhänge zu diesen Verträgen, • Beitrittsverträge neuer Mitgliedstaaten sowie • allgemeine Rechtsgrundsätze. Der EU-Vertrag enthält grundlegende Regelungen zur Funktion und den Strukturen der EU. Der AEUV regelt konkret die Befugnisse und Handlungs‐ weisen der Unionsorgane. Beide Verträge sind rechtlich gleichrangig (Art. 1 Abs. 2 S. 3 EUV). Es handelt sich dabei um völkerrechtliche Vereinbarungen. Die vertragsschließenden Teile sind die bestehenden oder zukünftigen Mitgliedstaaten, die sich damit eine „neue Ordnung“ geben, vergleichbar etwa mit einer innerstaatlichen Verfassung. Die Mitgliedstaaten verpflich‐ ten sich in diesen Verträgen zum einen selbst, zum anderen enthalten sie Handlungsanweisungen an die durch die Verträge geschaffenen Organe sowie an Staatsbürger, mitunter auch an unbeteiligte Dritte. Zum Primärrecht zählt ebenfalls die Charta der Grundrechte (GrCh), die nach Art. 6 Abs. 1 GrCh gleichrangig zu den Verträgen steht. Diese Charta enthält einen Grundrechtskatalog der von der Europäischen Menschen‐ rechtskonvention und den Verfassungen der Mitgliedstaaten inspiriert ist. Damit wird neben den nationalen Grundrechten und den der Europäischen Menschenrechtskonvention auf völkerrechtlicher Ebene auch auf EU-Ebene Grundrechtsschutz gewährt. Zum Primärrecht werden auch die völkerrechtlichen Abkommen gezählt, die die EU mit Drittstaaten und anderen internationalen Organisationen schließt. Es handelt sich dabei um Abkommen auf handels- und sozialpoli‐ tischem, industriellem oder technischem Gebiet. Bekannte internationale Abkommen auf zoll- und handelspolitischem Gebiet sind etwa das „Über‐ einkommen zur Gründung der Welthandelsorganisation“ (World Trade Or‐ <?page no="22"?> ganisation, WTO) und die in dessen Rahmen abgeschlossenen multilateralen Handelsabkommen. Zu den wichtigsten Abkommen zählen hierbei • das „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT), • der „Antidumping- und Subventionskodex“, • das „Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistun‐ gen“ (GATS), • das „Übereinkommen über handelspolitische Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ (TRIPS) sowie • die „Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Strei‐ tigkeiten“. Diese völkerrechtlichen Verträge stehen in der Rangordnung zwischen dem Primär- und dem nachfolgend zu behandelnden Sekundärrecht (Zerres T., Zerres, M., Europäisches Wirtschaftsrecht, S.-73 ff.). 2.2 Sekundärrecht Das Sekundärrecht ist das von den Organen der EU geschaffene Recht. Die Mitgliedstaaten haben bereits in den Gründungsverträgen die Organe ermächtigt, in bestimmten Grenzen zur Regelung spezifischer Einzelpro‐ bleme eigenständig Rechtsakte zu erlassen. So darf nach Art. 13 Abs. 2 EUV jedes Organ nur „nach Maßgabe der ihm in den Verträgen übertragenen Befugnisse“ handeln. Dieses von den Unionsorganen geschaffene Recht nennt man sekundäres Unionsrecht. Es besteht aus Rechtsakten, Durch‐ führungsrechtsakten sowie sonstigen Rechtshandlungen. Die wichtigsten Handlungsformen sind dabei in einem Katalog aufgezählt (Art. 288 Abs. 2, 3 und 4 AEUV): • Verordnungen, • Richtlinien, • Beschlüsse (vormals: Entscheidungen), • Empfehlungen und • Stellungnahmen. Sekundäres Unionsrecht kann in unterschiedlichen Gesetzgebungsverfah‐ ren auf den Weg gebracht werden, entweder in einem ordentlichen oder in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren. Das regelmäßige Verfahren ist das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, das durch das Zusammenwir‐ 22 2 Welche Arten von EU-Recht gibt es? <?page no="23"?> ken von Parlament und Rat geprägt ist; der Ablauf ist in Art 294 AEUV ausführlich beschrieben. In bestimmten Fällen wird ein besonderes Gesetz‐ gebungsverfahren angeordnet (Art. 289 Abs. 2 AEUV), bei dem entweder der Rat oder das Parlament eine führende Rolle übernimmt. Das Sekundärrecht steht in der Normenhierarchie unter dem Primär‐ recht und den völkerrechtlichen Verträgen und ist an diesen zu messen. Das bedeutet, dass es vor allem mit den Unionsgrundrechten und dem Primärrecht übereinstimmen muss. Die Organe der Europäischen Union besitzen nach Art. 296 Abs. 1 AEUV grundsätzlich die Wahlfreiheit hinsicht‐ lich ihrer Handlungsform, soweit keine spezielle Handlungsform in der jeweiligen Kompetenzgrundlage vorgegeben ist und die dort festgelegten Verfahrensregeln und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV) berücksichtigt werden. Verordnungen besitzen nach Art. 288 Abs. 2 S. 1 AEUV allgemeine Geltung. Sie können in einem ordentlichen oder in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren, sofern dies im Vertrag zugelassen worden ist, erlassen werden. Verordnungen sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in den Mitgliedstaaten (Art.-288 Abs.-2 AEUV). Adressaten einer Verordnung sind die EU und ihre Institutionen, die Mitgliedstaaten mit ihren Institutionen aller drei Staatsgewalten sowie die natürlichen und juristischen Personen innerhalb der Mitgliedstaaten. Aufgrund ihrer allgemeinen Geltung sind diese daher mit einem nationalen Gesetz vergleichbar. Verordnungen entfalten somit innerstaatlich Wirkung, ohne dass es einer Transformation oder einer Inkorporation in nationales Recht bedarf. Man nennt dies auch den „effect direct“. Verordnungen mit hoher praktischer Relevanz im Wirtschaftsleben sind vor allem • die Fusionskontrollverordnung im Kartellrecht, • die Verordnung über die Unionsmarke im gewerblichen Rechtsschutz oder auch • die Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) im Datenschutzrecht. Richtlinien sind neben der Verordnung ein weiterer wichtiger Sekun‐ därrechtsakt. Im Unterschied zur Verordnung wird durch eine Richtlinie versucht, eine Verbindung zwischen dem Ziel einer notwendigen Harmo‐ 2.2 Sekundärrecht 23 <?page no="24"?> nisierung des Unionsrechts einerseits und der Wahrung der Vielfalt der nationalen Rechtsordnungen andererseits herzustellen. Primäres Ziel einer Richtlinie ist daher nicht eine Rechtsvereinheitlichung, sondern vielmehr eine Rechtsangleichung. Richtlinien sind, anders als Verordnungen, nicht an die Bürger direkt, sondern ausschließlich an die Mitgliedstaaten gerichtet. Richtlinien sind dabei für diese lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich. Sie überlassen ihnen dagegen die Wahl der Form und der Mittel, um die gemeinschaftlich festgelegten Ziele im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsordnung zu verwirklichen (Art.-288 Abs.-3 AEUV). Richtlinien wurden bislang in unterschiedlichen Bereichen des Wirt‐ schaftsrechts erlassen, zum Beispiel im Gesellschafts-, Arbeits- oder auch im Verbraucherrecht. Zuständig für den Erlass von Richtlinien sind in den meisten Fällen der Rat, gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, im Rahmen eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Art.-289 AEUV). Eine dritte Kategorie von Rechtsakten im Rechtsetzungssystem der EU bilden Beschlüsse (Art.-288 Abs.-4 AEUV). Ein Beschluss ist eine verbindliche Regelung im Einzelfall. Er kann sowohl an die Mitgliedstaaten als auch an Private gerichtet sein. An Adressaten gerichtete Beschlüsse sind im deutschen Recht mit einem Verwaltungsakt (§ 35 Verwaltungsverfahrensgesetz) vergleichbar. Sie haben unmittelbare Wirkung; ein typisches Beispiel sind etwa die von der Kom‐ mission verhängten Bußgelder an Unternehmen bei Verstössen gegen das Kartellrecht. Im Gegensatz zu den an Adressaten gerichteten Beschlüssen binden sogenannte adressatenlose Beschlüsse die EU und ihre Einrichtun‐ gen; dies unterscheidet sie von den Verordnungen. 24 2 Welche Arten von EU-Recht gibt es? <?page no="25"?> 3 Wer schafft EU-Recht? 3.1 Überblick Die EU als eigene Rechtsperson muss in der Lage sein, ihren Willen auch nach außen hin zu manifestieren. Ebenso wie etwa eine GmbH oder eine AG einen Geschäftsführer beziehungsweise einen Vorstand benötigen, der für diese juristischen Personen handelt, so verfügt auch die EU über Organe, die in ihrem Namen auftreten und handeln. Die EU hat gegenwärtig sieben Organe, die auch als „Institutionen“ bezeichnet werden (Art. 13 EUV). Die nachstehende Abbildung gibt diese Organe im Überblick wieder. Abbildung 2: Organe der EU Der Europäische Rat ist das politische Leitentscheidungsorgan. Der Rat der EU ist, zusammen mit dem Europäischen Parlament, das Rechtsetzungsor‐ gan, in dem die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten Ausdruck finden. Die Europäische Kommission ist das Organ, das das Unionsinteresse ver‐ körpert. Sie gilt durch ihr Gesetzesinitiativrecht als „Motor der Integration“. <?page no="26"?> Ebenso ist sie „Hüterin der Verträge“, da sie im Falle von Verstößen gegen die europäischen Verträge rechtliche Maßnahmen gegen Mitgliedstaaten oder auch Einzelpersonen veranlassen kann. Die Interessen der Unionsbürger werden im Europäischen Parlament vertreten, das zusammen mit dem Rat die Gesetzgebungsbefugnis innehat. Der Europäische Gerichtshof prüft die Rechtsakte auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht und das Verhalten der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Einhaltung des Gemeinschaftsbezie‐ hungsweise Unionsrechts. Organqualität weisen weiterhin der Europäische Rechnungshof und die Europäische Zentralbank auf. Neben den Hauptor‐ ganen existieren noch zwei Nebenorgane, die ebenfalls zum institutionellen System der EU gehören. Nach Art. 13 Abs. 4 EUV werden das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Kommission von einem Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie einem Ausschuss der Regionen unterstützt, die dabei allerdings nur eine beratende Funktion ausüben. Sie sind daher auch keine Organe und nicht vor der europäischen Gerichtsbarkeit klagebefugt (Art. 263, 265 AEUV). Beide haben ihren Sitz in Brüssel. Nicht mehr ausdrücklich erwähnt wird die Europäische Investitionsbank. Der Sitz der jeweiligen Institution ist einvernehmlich zwischen den Mitgliedstaaten im EUV-Protokoll bestimmt worden. So hat das Europäische Parlament seinen Sitz grundsätzlich in Straßburg, die Kommission, der Rat und der Europäische Rat ihren Sitz in Brüssel, der Europäische Gerichtshof und der Europäische Rechnungshof in Luxemburg und die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main. Obwohl die EU keine Staatsqualität besitzt und eine Gemeinschaft von Einzelstaaten ist, weist ihre Organstruktur doch teilweise staatliche Prinzi‐ pien auf. So sind ansatzweise Züge einer parlamentarischen Demokratie erkennbar. Die EU folgt rechts- und sozialstaatlichen Grundsätzen und ver‐ sucht durch Kompetenzzuweisungen, den Grundsatz der Gewaltenteilung zu verwirklichen. Allerdings sind auf der Ebene der Europäischen Union, im Unterschied zu den Mitgliedstaaten, die Machtverhältnisse nicht ganz nach den klassischen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative getrennt. So ist die Europäische Kommission einerseits Verwaltungsbehörde, zum Beispiel im Kartellrecht, andererseits verfügt sie über das Initiativmonopol bei der Rechtsetzung. Vergleichbar ist es beim Rat. Dieser verfügt als Hauptrechtsetzungsorgan auch über Exekutivkompetenzen. Es besteht al‐ lerdings keine klassische Gewaltenteilung, sondern es gibt ein sogenanntes institutionelles Gleichgewicht, bei dem jedem Organ bestimmte Aufgaben 26 3 Wer schafft EU-Recht? <?page no="27"?> zur selbstständigen Wahrnehmung zugewiesen sind, und kein Organ in die Befugnis eines anderen eingreifen darf („checks and balances“, „Insti‐ tutionelles Gleichgewicht“, EuGHE 1970, 1161, 1171; EuGH, Rs. 138/ 79, ECLI: EU: C: 1980: 249). Im Folgenden werden nun die einzelnen Organe noch einmal näher betrachtet. 3.2 Europäischer Rat Der Europäische Rat (Art. 15 EUV) besteht aus den Staats- und Regie‐ rungschefs der Mitgliedstaaten, dem Präsidenten sowie dem Präsidenten der Europäischen Kommission. Der Präsident des Europäischen Rates wird von diesem mit qualifizierter Mehrheit für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren ernannt. Eine Wieder‐ wahl ist einmal möglich. Der Präsident darf gleichzeitig kein innerstaatli‐ ches Amt innehaben (Art. 15 Abs. 5, 6 EUV). Seine Aufgaben ergeben sich aus Art.-15 Abs.-6 EUV. Er hat den Vorsitz im Europäischen Rat und nimmt die Außenvertretung der EU im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wahr. Der Europäische Rat gibt die für ihre Weiterentwicklung der EU not‐ wendigen Impulse und legt die hierfür nötigen allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest. Der Europäische Rat tritt grundsätz‐ lich mindestens zweimal im Halbjahr zusammen (Art. 15 Abs. 3 S. 1 EUV; „EU-Gipfel“). Er wird allerdings selbst nicht gesetzgeberisch tätig. Vielmehr werden die von ihm gesetzten Impulse regelmäßig durch die Kommission in Ge‐ setzgebungsvorschlägen aufgegriffen. Der Europäische Rat fasst Beschlüsse grundsätzlich im Konsens beziehungsweise einstimmig (Art. 15 Abs. 4 EUV). Neben seiner wichtigsten Aufgabe, der politischen Gesamtleitung, hat der Europäische Rat weitere Aufgaben: • Er kann etwa im Zusammenwirken mit dem Europäischen Parlament Änderungen der Verträge in einem vereinfachten Verfahren beschließen (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV); dabei kommt ihm allerdings ausdrücklich keine Legislativfunktion zu, sondern lediglich die Befugnis, Beschlüsse zu fassen. • Der Europäische Rat trifft zudem wichtige personalpolitische Entschei‐ dungen, zum Beispiel die Nominierung des Kommissionspräsidenten 3.2 Europäischer Rat 27 <?page no="28"?> (Art. 17 Abs. 7 EUV), die Ernennung der Mitglieder des Direktoriums der EZB (Art. 283 Abs. 2 AEUV) sowie die Ernennung des Hohen Vertreters der Außen- und Sicherheitspolitik (Art.-18 Abs.-1 EUV). 3.3 Rat der Europäischen Union Der Rat der Europäischen Union besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene. Rechtsgrundlagen dazu finden sich in den Art. 16 EUV; Art. 237 bis 243 AEUV. Er ist zu unterscheiden von dem „Europäischen Rat“ und dem politisch bedeutsamen 1949 gegründeten „Eu‐ roparat“ mit Sitz in Straßburg. Bei dem Europarat handelt es sich um einen - nicht mit dem Europäischen Rat und dem Rat der EU zu verwechselnden - völkerrechtlichen Zusammenschluss von derzeit 47 europäischen Staaten. Sein Ziel ist es, einen politischen Konsens über Fragen der Grundrechte und der Menschenrechte der Bürger zu finden, gemeinsame Grundsätze und Ideale zu fördern und zu sichern und damit eine enge Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten herzustellen. Die bekannteste und wichtigste Konvention ist die Europäische Menschenrechts‐ konvention von 1950 (EMRK). Die EMRK hat innerstaatlich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (Art. 52 GG), ist aber von großer Bedeutung für die Bildung eines europäischen Grundrechtsstandards. Der Rat der EU hat seinen Sitz grundsätzlich in Brüssel, tagt aber drei Monate im Jahr auch in Luxemburg. Jedes der 27 Mitgliedstaaten entsendet nach Art. 16 Abs. 2 EUV ein (weisungsabhängiges) Regierungsmitglied auf Ministerebene (daher auch die häufige Bezeichnung „Ministerrat“). Der Rat tagt in, nach Ressorts eingeteilten Zusammensetzungen. Welche Regierungsvertreter bei den Ratssitzungen anwesend sind, richtet sich dabei nach dem jeweils zu behandelnden Sachgebiet (zum Beispiel Finanz-, Agrar-, Verkehr oder für Allgemeine Angelegenheiten). Der Vorsitz im Rat wechselt nach einem System der gleichberechtigten Rotation (Art.-16 Abs.-9 EUV). Die wichtigste Aufgabe des Rates ist die Rechtsetzung, die er im Rahmen eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, zusammen mit dem Europäi‐ schen Parlament, wahrnimmt (Art. 16 Abs. 1 EUV). Dabei handelt es sich um Rechtsakte, die auf Vorschlag der Kommission auf Grundlage der (Gründungs-)Verträge erlassen werden („Sekundärrecht“). Gleiches gilt für die Ausübung der Haushaltsbefugnisse. Der Rat legt gemeinsam mit dem 28 3 Wer schafft EU-Recht? <?page no="29"?> Europäischen Parlament den Jahreshaushaltsplan der EU im Rahmen eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens fest (Art. 314 AEUV). Auf seine Emp‐ fehlung hin erteilt das Europäische Parlament der Kommission Entlastung zu dessen Ausführung (Art.-319 AEUV). Die Beschlussfassung im Rat erfolgt nach Art. 16 Abs. 3 EUV mit qualifi‐ zierter Mehrheit („qualified majority voting“), das heißt mit Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rates (also der mitgliedstaatlichen Minister), gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, welche zugleich mindes‐ tens 65 Prozent der Bevölkerung der EU repräsentieren (Art. 16 Abs. 4 EUV; Art.-238 ff. AEUV). Gleichwohl besteht noch das Einstimmigkeitsprinzip in zentralen Bereichen, etwa in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo‐ litik (GASP), der Steuerpolitik sowie beim Beitritt neuer Mitglieder zur EU. 3.4 Europäische Kommission Die Europäische Kommission (Art. 17 EUV; Art. 244 bis 250 AEUV) mit Sitz in Brüssel vertritt das Unionsinteresse. Sie setzt sich aus, von den Mitgliedstaaten unabhängigen Persönlichkeiten zusammen, die nur dem europäischen Gemeinwohl verpflichtet sind (Art. 17 Abs. 3 EUV). Die Europäische Kommission besteht, einschließlich ihres Präsidenten und des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der einer der Vizepräsidenten der Kommission ist, aus je einem Staatsangehörigen jedes Mitgliedstaates (Art.-17 Abs.-4 EUV), das heißt zurzeit also 27 Mitgliedern. Die Amtszeit der Kommission beträgt fünf Jahre (Art. 17 Abs. 3 EUV). Die Ernennung der Kommissionsmitglieder erfolgt nach Art. 17 Abs. 7 EUV auf der Grundlage von Vorschlägen der Mitgliedstaaten. Die Kommission bedarf als Kollegium, einschließlich des Präsidenten und des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik, eines Zustimmungsvotums durch das Europäische Parlament. Der Kommissionspräsident wird auf Vorschlag des Europäischen Rates dem Parlament vorgeschlagen, das diesen ernennt (Art. 17 Abs. 7 S. 1 EUV). Dort braucht der Kandidat die Mehrheit der Mitglieder für seine Wahl (Art. 17 Abs. 7 S. 2 EUV). Seine Aufgaben ergeben sich aus Art. 17 Abs. 6 EUV. Er legt danach die „Leitlinien fest, nach denen die Kommission ihre Aufgaben ausübt“ (Art. 17 Abs. 6 lit. a EUV). Aufgrund seiner Position ist er auch Mitglied des Europäischen Rates (Art.-15 EUV). 3.4 Europäische Kommission 29 <?page no="30"?> Die einzelnen Kommissionsmitglieder werden von den Regierungen vor‐ geschlagen und im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten vom Parlament ernannt. Nach Art. 248 AEUV gehören zu den Aufgaben des Kom‐ missionspräsidenten auch die Festlegung und gegebenenfalls Änderung der Zuständigkeiten (Ressortprinzip). Die Kommission ist nach verschiedenen Aufgabenbereichen aufgeteilt, entsprechend der Zuständigkeit der Kommis‐ sare, zum Beispiel in die Bereiche Wettbewerb, Landwirtschaft, Fischerei, Binnenmarkt, Außenbeziehungen, Haushalt, Umwelt sowie Erweiterung. Die Aufgaben der Europäischen Kommission sind vielfältig. Die wich‐ tigste Aufgabe ist es, dass sie für den überwiegenden Teil der Rechtsakte der EU das Initiativmonopol besitzt, das heißt, dass sie Vorschläge für eine Unionsregelung vorbereiten beziehungsweise machen soll. Soweit nichts anderes festgelegt ist, darf ein Gesetzgebungsakt nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden (Art.-17 Abs.-2 S.-1 EUV). Sie stellt damit also den „Motor einer Integration“ dar. Wesentlich umfangreicher als diese „originären“ Rechtsetzungsbefug‐ nisse sind die, der Kommission vom Rat und vom Europäischen Parlament zur Durchführung der von diesen getroffenen Maßnahmen übertragenen Rechtsetzungsbefugnisse in Form von sogenannten delegierten Rechtsakten nach Art. 290 AEUV. Typisches Beispiel ist hier etwa die Agrarpolitk, für die der Rat der EU, zusammen mit dem Europäischen Parlament, die Grundverordnung vorgibt und die Kommission dann auf dieser Grundlage eine Vielzahl an Ausführungsverordnungen erlässt. Im deutschen Recht sind diese Regelungen etwa mit den durch die Exekutive erlassenen Rechtsverordnungen (Art. 80 GG) vergleichbar; dieses Recht wird auch als „tertiäres Unionsrecht“ bezeichnet. Die Kommission gilt weiterhin als „Hüterin des Unionsrechts“. Sie kontrol‐ liert diesbezüglich die Anwendung und Durchführung des primären und des sekundären Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten. Verletzungen des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten werden von ihr im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 258 AEUV) verfolgt und erforderlichen‐ falls vor den EuGH gebracht. Gegen Unionsbürger können bei Verstößen, zum Beispiel gegen das Wettbewerbs- und Kartellrecht, Geldbußen und Zwangsgelder festgesetzt werden, soweit dies zur Durchsetzung des Unio‐ nsrechts erforderlich erscheint. Der Unionsvertrag spricht in Art. 17 Abs. 1 S. 5 EUV sehr allgemein davon, dass die Kommission, nach Maßgabe der Verträge, Koordinierungs-, 30 3 Wer schafft EU-Recht? <?page no="31"?> Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen ausübt, wie etwa im Kartellrecht. Sie prüft Sachverhalte, erteilt Genehmigungen oder Verbote und trifft gegebenenfalls auch Sanktionsentscheidungen, etwa durch die Verhängung von Bußgeldern gegen natürliche und juristische Personen bei Verstößen gegen das Unionsrecht. Die Kommission ist weiterhin verantwortlich für die Ausführung des Haushaltsplans (Art. 317 Abs. 1 AEUV). Sie hat dazu einen Gesamtbericht über das Tätigwerden der EU nach Art. 249 Abs. 2 AEUV zu erstellen. Als genuines Unionsorgan obliegt ihr, soweit die Verträge nichts anderes vorsehen, auch die Vertretung der EU nach außen (Art. 218 AEUV). Sie vertritt die EU vor den mitgliedstaatlichen Gerichten und vor dem EuGH (Art. 17 EUV). Schließlich muss sie ihre Politik mit dem Hohen Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik abstimmen. Die Kommission fasst Beschlüsse mit der Mehrheit ihrer Mitglieder. Beschlussfähigkeit wird dabei in der Geschäftsordnung der Kommission festgelegt (Art. 250 AEUV; abrufbar auf der Website der Kommission). In zahlreichen Fällen werden die Beschlüsse in einer gemeinsamen Sitzung, die einmal wöchentlich stattfindet, mündlich gefasst; bei einfach gelagerten Sachverhalten kann von einem Mitglied auch ein schriftlicher Vorschlag mit Fristsetzung zur Stellungnahme gemacht werden; erfolgt daraufhin keine Reaktion, so gilt der betreffende Vorschlag als angenommen. 3.5 Europäisches Parlament Das Europäische Parlament mit Sitz in Straßburg ist die Vertretung der Unionsbürger. Die Rechtsgrundlagen sind in den Art. 14 EUV und Art. 223 bis 234 AEUV enthalten. Nach Art. 14 Abs. 2 EUV ist die Anzahl an Sitzen auf 751 (einschließlich des Präsidenten) begrenzt. Das Parlament tritt als Plenum einmal im Monat für vier Tage in Straßburg zusammen. Ausschüsse und Fraktionen tagen allerdings in Brüssel, wo zudem sechsmal im Jahr kürzere Plenarsitzungen stattfinden. Die Verwaltungsstellen („Generalsekretariat“), insbesondere der Übersetzungsdienst, sind in Luxemburg angesiedelt; etwas abfällig wird hier teilweise auch von einem „Wanderzirkus“ gesprochen. Nach Art. 22 EUV stehen jedem Unionsbürger das aktive und das passive Wahlrecht an seinem Wohnsitz zu. Die Mitglieder des Europäischen Parla‐ ments werden direkt in allgemeinen, unmittelbaren, freien und geheimen 3.5 Europäisches Parlament 31 <?page no="32"?> Wahlen gewählt (Art. 14 Abs. 2 und 3 EUV; Art. 2 S. 1 EUV und Art. 10 EUV; Einzelheiten ergeben sich aus Art.-223 ff. AEUV). Die Sitzordnung im Plenum richtet sich nicht nach der jeweiligen Natio‐ nalität der Mitglieder des Europäischen Parlaments (MEP), sondern nach der Zugehörigkeit der Abgeordneten zu den sieben multinationalen Fraktionen, die von den politischen Parteien auf europäischer Ebene gebildet werden. Es handelt sich dabei also nicht um nationale Gruppierungen, sondern um parteipolitische Fraktionen, die sich auf Unionsebene zusammengefunden haben (Art. 10 Abs. 4 EUV). Die sieben „multinationalen Fraktionen“ vertre‐ ten dabei heute das gesamte Meinungsspektrum zur europäischen Einigung, von starken Befürwortern bis hin zu offenen Euro-Gegnern. Soweit die Verträge nichts anderes bestimmen, werden Beschlüsse des Parlaments nach Art.-231 Abs.-1 AEUV mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst. Das Europäische Parlament ist ein zentraler Entscheidungsträger, ins‐ besondere bei Gesetzgebungsverfahren. Das „ordentliche Gesetzgebungs‐ verfahren“ nach Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV, bei dem das Europäische Parlament gleichberechtigt neben dem Rat steht, kommt heute in etwa 95 % der Fälle zur Anwendung. Das Europäische Parlament ist eine Art „Mitgesetzgeber“. Nur in ausdrücklich geregelten Fällen kann ein besonde‐ res Gesetzgebungsverfahren, bei dem das Europäische Parlament nur ein geringeres Beteiligungsrecht besitzt, zur Anwendung gelangen (Art. 289 Abs.-2 AEUV). Das Europäische Parlament hat grundsätzlich kein eigenes Initiativrecht. Das Initiativmonopol für Gesetzesvorschläge liegt bei der Kommission. Es kann allerdings die Kommission zu Initiativen auffordern und so damit den Erlass von Rechtsakten anstoßen (Art.-225 AEUV). Neben der Gesetzgebung hat das Europäische Parlament weitere Aufga‐ ben, die in Art. 14 EUV überblicksartig aufgeführt sind. Zunächst hat es die Aufgabe, gemeinsam mit dem Rat, über den Haushalt zu entscheiden (Art.-314 AEUV). Das Europäische Parlament besitzt ein Zustimmungsrecht zu allen wich‐ tigen internationalen Abkommen, die einen Bereich betreffen, welcher der Mitentscheidung unterliegt, sowie zu den Beitrittsverträgen, die mit neuen Mitgliedstaaten geschlossen werden und die die Bedingungen des betreffenden Beitritts festlegen. 32 3 Wer schafft EU-Recht? <?page no="33"?> Eine weitere Aufgabe besteht darin, den Präsidenten der Kommission zu wählen (Art. 17 Abs. 7 EUV). Auf die Kommission bezogen bezieht sich die Zuständigkeit ansonsten auf eine Kontrollfunktion. Das Parlament übt dabei eine demokratische Kontrolle aus, indem es durch einen Misstrauensantrag die gesamte Kommission zum Rücktritt zwingen kann (Art. 234 AEUV). Die Ernennung der Kommission als Kollegium bedarf nach Art. 17 Abs. 7 EUV der vorherigen Zustimmung des Parlaments. Zudem erteilt dieses nach Art. 319 Abs. 1 AEUV der Kommission die Entlastung zur Ausführung des Haushaltsplans. 3.6 Gerichtshof der Europäischen Union Jede Rechtsordnung hat nur dann Bestand, wenn ihre Vorschriften auch von einer unabhängigen Institution überwacht werden; zudem besteht bei einer Union von souveränen Staaten stets die Gefahr, dass die gemeinsamen Regeln, wenn sie lediglich einer Kontrolle der einzelnen nationalen Gerichte überlassen blieben, diese von Staat zu Staat unterschiedlich ausgelegt und angewendet würden. Eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten würde auf diese Weise in Frage gestellt werden. Aus diesem Grunde ist eine unabhängige europäische Gerichtsbarkeit erforder‐ lich. Der Gerichtshof der EU ist das Rechtsprechungsorgan der Union. (Art.-19 EUV). Dieser unterteilt sich in • den Europäischen Gerichtshof (EuGH, Art.-253 AEUV) und • das Gericht (EuG). Der EuGH ist das oberste Gericht und besteht jeweils aus einem Richter je Mitgliedstaat, derzeit also 27; das EuG besteht seit 2019 aus zwei Richtern pro Mitgliedstaat, das heißt also aus 54 Richtern. Die sachliche Zuständigkeit für Verfahren liegen grundsätzlich beim EuGH, falls sich nicht nach Art. 256 Abs.-1 AEUV eine Zuständigkeit des EuG ergibt. Der EuGH mit Sitz in Luxemburg kontrolliert als Rechtsprechungsorgan der EU die Unionsmäßigkeit der Rechtsakte der anderen Organe und das diesbezügliche Verhalten der Mitgliedstaaten. Diese allgemeine Aufgaben‐ umschreibung umfasst damit drei grundlegende Bereiche: Kontrolle der Anwendung des Unionsrechts sowohl durch die Organe der EU als auch durch die Mitgliedstaaten, die Auslegung sowie die Weiterentwicklung 3.6 Gerichtshof der Europäischen Union 33 <?page no="34"?> des Unionsrechts. Rechtsgrundlagen finden sich in Art. 19 EUV und in den Art. 251 bis 281 AEUV. Der EuGH ist vor allem für die Auslegung der Verträge zuständig und sichert so die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (Art. 19 Abs. 1 EUV); er nimmt damit Aufgaben wahr, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten jeweils auf unterschiedliche Gerichtsarten verteilt sind. Der EuGH ist vor allem zuständig für Vertragsverletzungsverfahren (Art. 256 AEUV) und Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV). Er wird in seiner Arbeit durch acht Generalanwälte unterstützt (Art.-252 AEUV). Nach Art. 256 AEUV ist das EuG im ersten Rechtszug zuständig für Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen (Art. 263, 265 AEUV), für Schadenser‐ satzklagen natürlicher und juristischer Personen gegen ein Unionsorgan (Art. 268 AEUV), für dienstrechtliche Streitigkeiten (Art. 270 AEUV) oder für Streitigkeiten aufgrund einer Schiedsklausel (Art. 272 AEUV), soweit nicht nach Art. 51 der Satzung des Gerichtshofes die Zuständigkeit diesem vorbehalten ist. Insbesondere das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV), mit dem die nationalen Gerichte um die Auslegung der Verträge und über die Prüfung der Auslegung von Unionshandeln (etwa Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse) ersuchen können, verbindet den EuGH und die nationalen Ge‐ richte funktional zu einem Rechtsprechungsverbund. Es handelt sich hierbei um eine Art Zwischenverfahren im Rahmen eines vor einem nationalen Gericht geführten Verfahrens, das solange ruht, bis der EuGH die gestellten Rechtsfragen beantwortet hat. 3.7 Europäische Zentralbank Die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main gilt wohl als wichtigstes Gremium einer Wirtschafts- und Währungsunion; ihre Bedeutung hatte sich während der Staatsschuldenkrise erhöht. Ent‐ sprechende Rechtsgrundlagen finden sich dazu in den Art. 282 bis 284 AEUV. Die EZB bildet zusammen mit den nationalen Zentralbanken (zum Beispiel Deutsche Bundesbank) das Europäische System der Zentralbanken. Hauptorgan der EZB ist der Europäische Zentralbankrat, der sich aus den Präsidenten der Zentralbanken der an der Währungsunion teilnehmenden Staaten und den Mitgliedern des Direktoriums zusammensetzt. Das Direk‐ 34 3 Wer schafft EU-Recht? <?page no="35"?> torium, das aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und vier weiteren Mitgliedern besteht, stellt die Geschäftsführung der EZB dar. Vorrangiges Ziel der EZB ist die Gewährleistung einer Preisstabilität im Euroraum. In diesem Sinne betreibt sie Währungspolitik vor allem dadurch, dass sie die Ausgabe von Euro-Banknoten genehmigt (Art. 282 Abs. 3 S. 2 AEUV). Sie kann in ihrem Bereich rechtsetzend tätig werden, insbesondere kann sie Verordnungen und Entscheidungen erlassen und unter Umständen auch Buß- und Zwangsgelder gegen Unternehmen verhängen (Art.-132 AEUV). Damit die EZB diese Aufgabe auch wahrzunehmen vermag, wird ihr ihre Unabhängigkeit durch zahlreiche Bestimmungen garantiert. Weder sie noch die Zentralbank eines Mitgliedstaates dürfen bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse Weisungen von Unionsorganen, etwa von Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen, entgegennehmen. Institutionen der EU und Regierungen der Mitgliedstaaten haben sich so auch jeden Versuchs einer derartigen Einflussnahme zu enthalten (Art.-130 AEUV). 3.8 Europäischer Rechnungshof und weitere Einrichtungen Der Europäische Rechnungshof (EuRH; Art. 285 bis 286 AEUV) besteht seit 1977 und hat seinen Sitz in Luxemburg. Er ist als externes Organ der Finanzkontrolle geschaffen worden (Art. 13 EUV) und besteht, entsprechend der gegenwärtigen Anzahl an Mitgliedstaaten, aus 27 Mitgliedern. Der Europäische Rechnungshof hat vornehmlich die Aufgabe, die Rechtmäßig‐ keit und die Ordnungsgemäßheit der Einnahmen und Ausgaben der EU zu prüfen; außerdem überzeugt er sich von der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung (Art.-287 AEUV). Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA), geregelt in Art. 13 Abs. 4 EUV, Art. 300 bis 304 AEUV, sorgt als beratendes Gremium dafür, dass die verschiedenen Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, insbesondere Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Landwirte, Verkehrsunter‐ nehmer, Kaufleute, Handwerker, freie Berufe und Geschäftsführer von kleinen und mittleren Unternehmen, institutionell in der EU vertreten 3.8 Europäischer Rechnungshof und weitere Einrichtungen 35 <?page no="36"?> sind. Auch Verbrauchern, Umweltschützern und Verbandsvertretern wird durch den Ausschuss Geltung verschafft. Er besteht aus höchstens 350 Mitgliedern (Beratern). Die Aufgabe des WSA besteht darin, in den Fällen, in denen seine Beteiligung an Gesetzgebungsmaßnahmen vorgesehen ist, eine Stellungnahme abzugeben, welche die Auffassungen der verschiedenen Gesellschafts- und Wirtschaftsgruppen widerspiegeln soll. Der Ausschuss der Regionen (Art. 13 Abs. 4 EUV; Art. 300, 305 bis 307 AEUV) stellt, wie der WSA, ein beratendes Gremium dar. Er besteht ebenfalls aus höchstens 350 Mitgliedern. Dabei handelt es sich um Vertreter aus regionalen Gremien der Mitgliedstaaten, die ein, aus Wahlen hervorgegan‐ genes Mandat ihrer Gebietskörperschaft innehaben oder gegenüber einer gewählten Versammlung politisch verantwortlich sein müssen, zum Beispiel Bürgermeister, Landesminister oder Ministerpräsidenten. Die Beteiligung am Rechtsetzungsverfahren ist weniger umfassend als beim WSA. Seine Anhörung durch Rat oder Kommission ist (nur) dann verbindlich vorge‐ schrieben („obligatorische Anhörung“), wenn Regionalinteressen betroffen sind, zum Beispiel bei Durchführungsbeschlüssen bezüglich Struktur- und Regionalfonds (Art. 175 bis 178 AEUV) oder bei Strukturfragen transeuro‐ päischer Netze nach Art.-172 AEUV. Die Europäische Investitionsbank (EIB) fördert durch Kredite und Bürgschaften in allen Wirtschaftszweigen die Finanzierung von Vorha‐ ben, die für die Union von Bedeutung sind, etwa die Erschließung von strukturschwachen Gebieten oder die Modernisierung beziehungsweise Umstrukturierung von Unternehmen. Sie ist ebenfalls kein Organ, kann allerdings unter bestimmten Voraussetzungen vor dem EuGH als eigene Rechtspersönlichkeit auftreten (Art.-308 und 309 AEUV). 36 3 Wer schafft EU-Recht? <?page no="37"?> Teil II Grundfreiheiten und Freiheit des Wettbewerbs als Voraussetzungen für den Binnenmarkt <?page no="39"?> 4 Grundfreiheiten 4.1 Instrumente für einen funktionierenden Binnenmarkt Überblick Die Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarktes gehört nach Art. 3 Abs. 3 EUV zu den grundlegenden Zielen der EU. Nach der gesetzlichen Definition in Art. 26 Abs. 2 AEUV umfasst dieser einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen des Vertrages gewährleistet ist. Ziel ist es, auf den Märkten der EU-Mitgliedstaaten für alle Wirtschaftsgüter, unabhängig von ihrer Herkunft, eine faire Wettbewerbslage für sämtliche Wirtschaftsgüter zu schaffen (Liberalisierung der Märkte). Diese setzt dabei zunächst voraus, dass Produkte eines EU-Mitgliedstaates ungehinderten Zugang zu den Märkten der übrigen EU-Staaten aufweisen, damit überhaupt eine Wettbe‐ werbssituation entstehen kann (Freiheit des Marktzugangs). Ist der Markt‐ zugang gesichert, so kommt es darauf an, zwischen den EU-ausländischen und -inländischen Wirtschaftsgütern gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Die Grundfreiheiten sind das wesentliche Instrument, einen solchen Binnenmarkt zu verwirklichen beziehungsweise dessen Funktionieren zu gewährleisten (Art. 26 Abs. 1, 2 AEUV). Es geht primär also darum, Handels‐ hemmnisse im Wirtschaftsverkehr (durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten) innerhalb der Union abzubauen und letztlich ganz zu beseitigen. Zu den im AEUV normierten Grundfreiheiten zählen: • Warenverkehrsfreiheit, • Personenverkehrsfreiheit, • Dienstleistungsfreiheit sowie die • Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Abb. 3). Die folgende Abbildung zeigt diese noch einmal graphisch. <?page no="40"?> Grundfreiheiten Freiheit des Warenverkehrs Freiheit des Personenverkehrs Freiheit der Dienstleistung Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs Abbildung 3: Grundfreiheiten im Binnenmarkt • Die Warenverkehrsfreiheit ist in den Art. 28 bis 37 AEUV geregelt. Sie umfasst eine Zollunion, das Verbot von Abgaben gleicher Wirkung, wie etwa Zölle (Art. 30 AEUV), das Verbot von Maßnahmen mengenmäßi‐ ger Beschränkungen und aller Maßnahmen gleicher Wirkung (Art. 34 AEUV). • Die Freiheit des Personenverkehrs lässt sich in die Arbeitnehmerf‐ reizügigkeit (Art. 45 bis 48 AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 bis 55 AEUV) unterteilen. Während erstere hauptsächlich die Freizügig‐ keit der unselbständig Tätigen beinhaltet, regelt letztere das Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen und eine selbstständige Tätigkeit aufzunehmen. Erfasst ist auch die Möglichkeit, Unternehmen „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine Angehörigen“ zu gründen. • Die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art. 56 bis 62 AEUV) gewährt sowohl das Recht, grenzüberschreitende Dienstleistungen zu erbringen als auch solche zu empfangen. Man spricht insoweit von aktiver und passiver Dienstleistungsfreiheit. Nach Art. 57 AEUV ist die Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich subsidiär zu den anderen Frei‐ heiten. Es ist also stets zu prüfen, ob nicht eine andere Grundfreiheit einschlägig ist, bevor auf die Art. 56 bis 62 AEUV zurückgegriffen werden kann. • Die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art. 63 bis 66 AEUV) gewähren die grenzüberschreitende Übertragung von Geld und anderen Vermögenswerten sowie alle Zahlungen im grenzüberschrei‐ tenden Verkehr. 40 4 Grundfreiheiten <?page no="41"?> Als Auffangtatbestand kommt subsidiär ein allgemeines Diskriminie‐ rungsverbot (Art. 18 AEUV) hinzu. Danach dürfen die Mitgliedstaaten niemand aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminieren. Art. 18 AEUV kommt allerdings nur zur Anwendung, soweit sich die Pflicht zur Gleich‐ behandlung eines EU-Bürgers mit einem Inländer nicht schon aus den Grundfreiheiten ergibt. Die Grundfreiheiten sind unmittelbar anwendbares Recht. Sie richten sich primär an die Mitgliedstaaten. Damit sind alle Träger staatlicher Gewalt, also sowohl der Gesetzgeber als auch Behörden und Gerichte gemeint. Für den Einzelnen enthalten sie subjektive Rechte, sich gegenüber den ver‐ pflichteten Rechtssubjekten auf die entsprechende Umsetzung des Inhalts berufen zu können. Der nationale Gesetzgeber darf im Anwendungsbereich der Verträge grundsätzlich keine Normen erlassen, die mit den Grundfrei‐ heiten nicht vereinbar sind. Dies ergibt sich aus dem durch die EuGH-Recht‐ sprechung entwickelten Grundsatz vom Vorrang des Unionsrechts. Dane‐ ben müssen auch Behörden und Gerichte die Grundfreiheiten beachten und dürfen eventuell entgegenstehendes nationales Recht infolge des, ebenfalls vom EuGH entwickelten Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht anwenden. Auch die EU-Organe müssen, etwa bei der Schaffung von Sekundärrecht‐ sakten, die Grundfreiheiten beachten. Private Unternehmen sind grundsätz‐ lich nicht an diese Verbote gebunden. Der EuGH hat ausnahmsweise eine Bindung für private Arbeitgeber, beschränkt auf das Diskriminierungsver‐ bot, anerkannt (EuGH, Urteil vom 6.8.2000, Rs. C-281/ 98 - Angonese); bereits zuvor hatte das Gericht eine Bindung angenommen, wenn staatliches Recht durch privatrechtliche Regelungswerke (hier: Satzung des europäi‐ schen Fußballverbandes) ersetzt wurden. Grundgedanke dieser Regelungen ist, jegliches national-protektionistisches Ver‐ halten der Mitgliedstaaten zu unterbinden und so den gemeinsamen Binnenmarkt zu ermöglichen beziehungsweise weiter zu entwickeln und darüber hinaus auch zu schützen. Danach sind alle Diskriminierungen, die ausdrücklich an eine Staats‐ bürgerschaft oder ein Herkunftsland anknüpfen, also offene Diskriminierungen, verboten. Solche Normen kommen in der Praxis heute auch nur noch selten vor. 4.1 Instrumente für einen funktionierenden Binnenmarkt 41 <?page no="42"?> Es stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass auch Maßnahmen, die unterschiedslos auf Inländer als auch auf Ausländer angewandt werden, Handelshemmnisse für den gemeinsamen Markt darstellen können. Diese unterschiedslos geltenden Hemmnisse werden als Beschränkungen bezeich‐ net. Neben den reinen Beschränkungen, deren Auswirkungen in- und ausländische Bürger oder Waren in gleicher Weise betreffen, kann es auch solche Beschränkungen geben, die zwar unterschiedslos auf in- und ausländische Bürger oder Waren anwendbar sind, deren Auswirkungen in der Praxis ausländische Bürger oder Waren aber rechtlich oder auch nur tatsächlich schlechter stellen. Letztere bezeichnet man als versteckte beziehungsweise mittelbare Diskriminie‐ rungen, die ebenfalls verboten sind und etwa an andere Merkmale, zum Beispiel Wohnsitz oder regelmäßigen Aufenthaltsort, anknüpfen und dadurch mittelbar zu einer Benachteiligung führen. Eine Abgrenzung zwischen einer versteckten beziehungsweise mittelbaren Diskriminierung und einer allgemeinen Beschrän‐ kung ist allerdings schwierig. Vor diesem Hintergrund hat der EuGH die Grundfreiheiten mittlerweile nicht nur als Diskriminierungs-, sondern auch als Beschränkungsverbot ausgelegt; auf die Entwicklung in der Rechtsprechung wird im Rahmen der Prüfung der Grundfreiheiten näher einzugehen sein. Die Grundbeziehungsweise Marktfreiheiten sind damit ein wesentli‐ ches Element für das Bestehen eines freien Binnenmarktes. Diese sind allerdings zur Erhaltung eines funktionierenden Binnenmarktes nicht ausreichend. Es bedarf daher noch weiterer Instrumentarien. Weitere wichtige Instrumente sind • die Rechtsangleichung, • das Beihilferecht, • die Währungsunion sowie • das Wettbewerbsrecht. Durch staatliche Beihilfen ist es den Mitgliedsstaaten möglich, einen freien Wettbewerb im Binnenmarkt zugunsten ihrer nationalen Unternehmen zu verzerren. Demgegenüber sind es bei Kartellen und dem Missbrauch markt‐ beherrschender Stellungen die Unternehmen selbst, die der Versuchung 42 4 Grundfreiheiten <?page no="43"?> unterliegen, durch Absprachen, Marktaufteilung und sonstige Verhaltens‐ weisen eigennützig den Wettbewerb zu verfälschen. In beiden Fällen ist es die Aufgabe des europäischen Wettbewerbsrechts, einen freien und fairen Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt zu sichern. Wegen ihrer hohen Praxisrelevanz ist die Wettbewerbsfreiheit Gegenstand eines eige‐ nen Kapitels, in dem die grundsätzlichen Prinzipien vorgestellt werden. Gegenstand des folgenden Abschnitts sind die anderen oben genannten binnenmarktbezogenen Instrumentarien, und zwar die Rechtsangleichung, das Beihilfeverbot und die gemeinsame Währung. Rechtsangleichung Die Rechtsangleichung durch Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers (Sekundärrecht) ist ein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung eines funktionierenden Binnenmarktes. Die Grundfreiheiten alleine reichen hier‐ für nicht aus. So führt ein Verstoß gegen eine Grundfreiheit lediglich dazu, dass eine innerstaatliche Regelung im grenzüberschreitenden Verkehr nicht angewendet werden darf, um den freien Markt nicht zu gefährden. Die nationalen Bestimmungen werden durch das Europarecht damit nur insoweit überlagert, als sie mit den Grundfreiheiten als Rahmenordnung kollidieren. Die materiellen Bestimmungen des nationalen Rechts werden aber dadurch nicht vereinheitlicht. Die EU ist daher zum Erlass von sekundä‐ rem Unionsrecht, insbesondere durch eine Verordnung oder eine Richtlinie, zur Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitglied‐ staaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken, ermächtigt (Art.-114, 115 AEUV). So wurden in der Vergangenheit vor allem auf Grundlage von Art. 114 AEUV zahlreiche Richtlinien und Verordnungen geschaffen, die die Rechtslage in dem jeweiligen Mitgliedstaat modifizieren und damit die wirtschaftliche Betätigung unmittelbar beeinflussen. Die Rechtsangleichung beziehungsweise Rechtsharmonisierung führt damit zu einer materiellen Harmonisierung der in den Mitgliedstaaten bestehen‐ den Bestimmungen. Eine solche Rechtsharmonisierung betrifft bislang vor allem viele Bereiche des Wirtschaftsrechts, etwa das Arbeits- und Sozial‐ recht, das Handels- und Gesellschaftsrecht, das Versicherungsrecht, den gewerblichen Rechtsschutz oder auch das Verbraucher- und Zivilrecht. 4.1 Instrumente für einen funktionierenden Binnenmarkt 43 <?page no="44"?> Beihilfeverbot und gemeinsame Währung Neben den Grundfreiheiten und den Maßnahmen zur Rechtsangleichung enthalten die Verträge Regelungen zur Verhinderung von Wettbewerbs‐ verzerrungen durch staatliche Beihilfen an Unternehmen (Art. 107 bis 109 AEUV). Grundgedanke ist dabei, dass der angestrebte Wettbewerb inner‐ halb des Wirtschaftsraums der EU gefährdet wäre, wenn jeder Mitgliedstaat nach freier Entscheidung seine Wirtschaft subventionieren könnte. Staat‐ liche Vergünstigungen, die einzelne Mitgliedstaaten einem Unternehmen gewähren wollen, sind daher nach dem Beihilfeverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV grundsätzlich unzulässig und nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Das Binnenmarktkonzept wird weiterhin ergänzt durch die gemeinsame Währung, den Euro. Die rechtlichen Grundlagen zur Währungsunion sind in den Art. 127 bis 144 AEUV (i. V. m. Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV) enthalten. Wichtigstes Gremium ist die Europäische Zentralbank mit Sitz in Frankfurt (Art.-282 ff. AEUV). 4.2 Gemeinsamer Prüfungsrahmen von Grundfreiheiten Anwendbarkeit und Schutzbereich Ob eine bestimmte Maßnahme gegen eine Grundfreiheit verstößt, wird vom EuGH üblicherweise in drei Schritten geprüft, um die einschlägigen Rechts‐ fragen voneinander trennen zu können. Dieses Schema ist vergleichbar mit der Prüfung des Vorliegens von Grundrechtsverletzungen im deutschen Recht: • Anwendungsbereich der Grundfreiheit, • Vorliegen einer Beeinträchtigung und • Rechtfertigung der Beeinträchtigung. Zunächst geht es um die Feststellung, dass die Grundfreiheit unmittelbar im nationalen Recht anwendbar ist. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob die EU in diesem betreffenden Bereich bereits sogenanntes Sekundärrecht mit dem Ziel einer Rechtsangleichung unter Bezugnahme auf die Kompetenz‐ grundlage nach Art. 114 AEUV geschaffen hat. Existiert eine solche Norm, 44 4 Grundfreiheiten <?page no="45"?> zum Beispiel eine Verordnung oder eine Richtlinie, dann ist diese Regelung vorrangig zu beachten. Soweit dies nicht der Fall ist, geht es um die Frage, ob der Schutzbeziehungsweise der Anwendungsbereich der Grundfreiheit betroffen sind. Dabei dient der sachliche Anwendungsbereich der Abgrenzung der Grund‐ freiheiten untereinander. Zu ermitteln ist der Tatbestand der jeweiligen Grundfreiheit, das heißt also, ob es sich um Waren, Dienstleistungen, Niederlassung usw. handelt. Dabei kommt es auf den wirtschaftlichen Kern der Grundfreiheiten an. Rein karitative Tätigkeiten sind vom Schutzbereich aller Grundfreiheiten ausgenommen. Dagegen schließt ein nichtwirtschaft‐ licher Bezug einer Tätigkeit, wie zum Beispiel Sport oder Bildung, den Anwendungsbereich nicht aus. Zu beachten ist, dass bestimmte Bereiche vom Anwendungsbereich einer Grundfreiheit ausgenommen sein können. So gilt etwa die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht für bestimmte Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung (Art. 51 AEUV), sofern deren Tätigkeit unmittelbar mit der Ausübung von öffentlicher beziehungsweise hoheitlicher Gewalt verbun‐ den ist. Dieses Merkmal wird vom EuGH allerdings restriktiv ausgelegt, so dass im Prinzip nur Tätigkeiten, wie zum Beispiel Polizei, Streitkräfte, Rechtspflege oder Steuerverwaltung, darunter fallen, während staatliche Einrichtungen, die mit der Verwaltung und der Erbringung von Dienstleistungen betraut sind, nicht zur Ausübung öffentlicher Gewalt zählen. Bei den Personenverkehrsfreiheiten ist in diesem Zusammenhang auch der persönliche Anwendungsbereich zu prüfen. Grundsätzlich sind Träger der Grundfreiheiten alle Unionsbürger (Art. 45 Abs. 2, 49, 56 AEUV). Die Niederlassungsfreiheit erstreckt sich nach Art. 54 AEUV (für die Dienstleis‐ tungsfreiheit vgl. Art. 62 AEUV) auch auf Gesellschaften, die nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates gegründet wurden und ihren satzungs‐ mäßigen Sitz oder ihre Hauptverwaltung in der EU haben. Zudem muss der Sachverhalt grenzüberschreitend sein, das heißt, reine Inlandsachverhalte unterliegen nicht den Grundfreiheiten. So müssen zum Beispiel Waren, Personen oder Dienstleistungen eine Landesgrenze inner‐ halb der EU überschreiten; zumindest muss eine derartige Grenzüberschrei‐ tung geplant sein. 4.2 Gemeinsamer Prüfungsrahmen von Grundfreiheiten 45 <?page no="46"?> Vorliegen einer Beeinträchtigung Zweitens geht es um die Feststellung, ob eine Beeinträchtigung durch Adressaten der Grundfreiheiten vorliegt. Adressaten der Grundfreiheiten sind die Mitgliedstaaten und die Organe der EU. Ausnahmsweise können auch private Akteure den Binnenmarkt beeinträchtigen, wenn deren Han‐ deln dem Mitgliedstaat funktional zuzurechnen ist. So hat der EuGH eine Beeinträchtigung darin gesehen, dass eine GmbH, die vom Staat mit hoheit‐ lichen Aufgaben (hier: Lebensmittelkontrolle) beauftragt worden ist, das deutsche CMA-Gütesiegel vergibt (EuGH, C-325/ 00, in NJW 2002, 3609). Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit hatte der EuGH ausnahmsweise die Schutzwirkung auch gegenüber Eingriffen durch einen privaten Arbeitge‐ ber anerkannt, wobei diese Drittwirkung auf das Diskriminierungsverbot beschränkt worden ist (EuGH, Rs. 281/ 98, Urteil vom 6.6.2000, Slg. 2000, I-4139, EuZW 2000, 468 - Angonese); ebenso wurde eine Bindungswirkung anerkannt, wenn staatliches Recht durch private Regelungen ersetzt wurde, wie etwa die Satzung eines Fußballverbandes (EuGH, Urteil v. 15.12.1995, RS C-415/ 93, Slg. 1995, I-4921, in NJW 1996, 505 ff. - Bosman). Damit sollte gerade im Bereich des Arbeitsrechts verhindert werden, dass verbotene staatliche Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf dem Umweg über privatrechtliche Vereinbarungen ermöglicht werden. In der „Bosman-Entscheidung“ ging es vor allem um die Transferregelungen im Profi-Fußball. Nach den Statuten der europäischen Berufs-Fußballverbände durften damals bei Meisterschaftsspielen nicht mehr als drei Ausländer gleich‐ zeitig eingesetzt werden. Bei einem Vereinswechsel eines Spielers war auch nach Ablauf des Vertrages durch den neuen Verein an den bisherigen Verein eine Ablösesumme zu zahlen (die nicht selten Beträge von mehreren Millionen Euro erreichte). Der Kläger Bosman, der bei einem belgischen Fußballverein unter Vertrag stand, wollte keine weitere Vertragsverlängerung zu geringeren Bezügen und wurde auf die Transferliste gesetzt. Ein Transfer mit einem französischen Fußballverein (aus der zweiten Liga) scheiterte, weil dieser nicht bereit war, die verlangte Ablösesumme zu zahlen und der belgische Verein des Klägers daher keine Freigabe durch den Verband beantragte. Bosman klagte daraufhin gegen diese Beschränkung vor einem belgischen Gericht. Das Gericht legte im Rahmen dieses Verfahrens die Frage der Konformität dieser Statuten mit den Grundfreiheiten dem EuGH zur Prüfung vor. Art. 45 AEUV gilt auch bei privaten Rechtsverhältnissen; Berufssport zählt dabei als wirtschaftliche Tätigkeit. Der EuGH sah sowohl in der Transferregelung als auch in der den Einsatz von 46 4 Grundfreiheiten <?page no="47"?> Ausländern bei Meisterschaftsspielen beschränkenden Klauseln einen Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV), da es sich hier um eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit handelte. Eine Rechtfertigung, zum Beispiel wegen sportlicher Gründe beziehungsweise berech‐ tigten Interessen der auszubildenden Vereine, hat der EuGH in diesem Fall nicht anerkannt. Damit soll gerade im Bereich des Arbeitsrechts verhindert werden, dass verbotene staatliche Beschränkungen der Freiheit auf dem Umweg über privatrechtliche Vereinbarungen aufgehoben werden und damit der Zugang zum (ausländischen) Arbeitsmarkt versperrt würde. Zudem ist der überwie‐ gende Teil der Arbeitsverhältnisse privatrechtlicher Natur, so dass eine Beschränkung auf staatliche Arbeitsverhältnisse die Arbeitnehmerfreizü‐ gigkeit faktisch wirkungslos machen würde. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist als eine Beeinträchtigung jede Maßnahme anzusehen, die Auslandssachverhalte schlechter behandelt als inländische. So dürfen ausländische Unionsbürger oder rechtmäßig herge‐ stellte beziehungsweise in die EU importierte Waren aus anderen EU-Staa‐ ten nicht schlechter behandelt werden als inländische Staatsbürger oder inländische Waren. Diese Grundfreiheiten zielen damit quasi auf offene Diskriminierungen ab. Ebenso verboten sind aber auch versteckte Diskri‐ minierungen, denen ausländische Produkte oder Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten typischerweise begegnen; dies gilt zum Beispiel für Wohnsitzer‐ fordernisse oder Transportwege. Eine Beeinträchtigung wäre zum Beispiel eine Regelung, nach der in Deutschland Frischfleisch nur zugelassen wird, wenn die Dauer des Transports von der Schlachtung bis zum Verkaufsort eine Stunde nicht überschreitet. Es handelt sich damit im Endeffekt um eine Ausgestaltung des allgemeinen Diskriminierungs‐ verbots, das auf eine Inländergleichbehandlung abzielt. Der EuGH erweiterte im Rahmen von mehreren Entscheidungen, insbe‐ sondere zunächst zur Warenverkehrsfreiheit, den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten, in dem er eine Beeinträchtigung bereits dann annahm, wenn nationale Maßnahmen die Ausübung der Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können. Eine Beeinträchtigung liegt danach nicht nur bei Diskriminierungen vor, sondern auch bei (diskriminierungsfreien) Beschränkungen, das heißt, dass auch vollständig diskriminierungsfreie Maßnahmen einen Eingriff in die Grundfreiheit darstellen können. Zum 4.2 Gemeinsamer Prüfungsrahmen von Grundfreiheiten 47 <?page no="48"?> besseren Verständnis dieser nicht einfach nachzuvollziehenden Rechtspre‐ chung des EuGH sollen daher die grundlegenden Entscheidungen zur Warenverkehrsfreiheit im Folgenden kurz dargestellt werden. Zum Schutz des freien Warenverkehrs sind nach Art. 34 und 35 AEUV mengenmäßige Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen von Waren und „Maßnahmen glei‐ cher Wirkung“ verboten. In seiner Entscheidung (EuGH, Urteil v. 11.07.1974, C-8/ 74; Slg., 1974, S. 837 ff. - Dassonville) definierte der EuGH den Begriff „Maßnahme gleicher Wirkung“ (Art. 34 AEUV) als „jede Handelsregelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“. In der Entscheidung ging es darum, dass gegen einen belgischen Händler auf‐ grund eines fehlenden - nach belgischem Recht notwendigen - Ursprungsnach‐ weises für aus Frankreich eingeführten Whisky ein Strafverfahren eingeleitet wurde; diese Ursprungsbescheinigung der französischen Behörden konnte der Händler nicht vorlegen. Im Rahmen dieses Verfahrens legte das belgische Gericht dem EuGH die Frage vor, ob in der belgischen Regelung eine „Maßnahme gleicher Wirkung“ zu sehen sei. Nach dieser weiten Interpretation können auch Vorschriften, die keine pro‐ tektionistische Absicht beinhalten, einen freien Warenverkehr behindern, so etwa Regelungen des Ein- und Ausfuhrverfahrens oder Regelungen, die die Herstellung, Zusammensetzung oder Vermarktung eines Produktes zum Gegenstand haben. Zudem reichte bereits die Eignung zu einer Beeinträchti‐ gung, so dass es nicht darauf ankam, ob eine Beeinträchtigung bereits vorlag. Damit konnten in der Folgezeit auch diskriminierungsfreie Maßnahmen als Beeinträchtigung angesehen werden. Konsequenz dieser Rechtsprechung ist im Rahmen des Anwendungsbe‐ reichs eine faktische Umkehr der Beweislast. Während bis dahin die Kom‐ mission oder der Bürger eine Diskriminierung nachweisen mussten, um sich auf die Grundfreiheit berufen zu können und einen Rechtfertigungsgrund auszulösen, stellt nunmehr jede staatliche Maßnahme in irgendeiner Form eine Behinderung und damit einen Eingriff in die Grundfreiheit dar. Der Staat muss danach nachweisen, dass die Beschränkung ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Diese weite Definition hatte der EuGH in der Folgezeit auch auf andere Grundfreiheiten übertragen und diese - trotz des unter‐ schiedlichen Wortlauts - von einem Diskriminierungsverbot zu einem Beschränkungsverbot weiterentwickelt. 48 4 Grundfreiheiten <?page no="49"?> In der Folgezeit grenzte der EuGH den Begriff „Maßnahmen gleicher Wirkung“ in seiner Entscheidung „Keck und Mithouard“ allerdings wieder ein, da sich nach dieser Entscheidung die Unternehmer jede nationale Vorschrift, die für sie nachteilig war, mit Bezugnahme auf eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit angriffen, obwohl es offensichtlich nicht um eine Beschränkung des Marktzugangs ging (EuGH, Urteil v. 24.11.1993, C-267/ 91 und C-268/ 91, Slg. S.I-6097---„Keck und Mithouard“). In dieser Entscheidung ging es um zwei französische Supermarktleiter, die gegen das französische Verbot, Waren unter Einstandspreis zu verkaufen, verstoßen hat‐ ten. Im daraufhin eingeleiteten Strafverfahren machten sie die Unvereinbarkeit dieses Verbots mit den Grundfreiheiten, insbesondere der Warenverkehrsfreiheit, geltend. Das Strafgericht legte diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor, der im Ergebnis die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Europarecht be‐ jahte. Der EuGH entschied hier allerdings, dass nicht diskriminierende Verkaufs‐ beschränkungen, die gar nicht auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr einwirken sollen, nicht als „Maßnahme gleicher Wirkung“ im Sinne von Art. 34 AEUV anzusehen sind. Voraussetzung für die Bereichsausnahme ist allerdings, dass diese Regelungen „für alle betroffenen Wirtschaftsakteure gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben und, sofern sie den Absatz der inländischen Erzeug‐ nisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“, das heißt, dass also nicht der Marktzugang betroffen ist (EuGH---„Keck und Mithouard“, NJW 1994, 121). Nach dieser Entscheidung sind also Verkaufsmodalitäten, die die Vermark‐ tung und den Vertrieb des Produkts betreffen und die Frage regeln, von wem, wo, wann und wie die Ware gehandelt werden darf (zum Beispiel Laden‐ öffnungszeiten, Werbevorschriften oder Verkaufsbeschränkungen) von den Verboten der Warenverkehrsfreiheiten ausgenommen, wenn inländische und ausländische Waren gleichermaßen betroffen sind (sogenannte diskri‐ minierungsfreie Verkaufsmodalitäten). Dagegen stellen produktbezogene Regelungen, die also die Ware selbst betreffen, wie zum Beispiel Zustand, Größe, Gewicht, Form, Farbe, Qualitätsmerkmale, Inhaltsstoffe, Bezeich‐ nungen oder die Verpackung nach wie vor (rechtfertigungsbedürftige) Be‐ schränkungen dar, wenn sie den Import ausländischer Waren betreffen und inländische und ausländische Waren rechtlich und faktisch unterschiedlich von der einschränkenden Norm betroffen sind. Der EuGH hat entschieden, dass eine Maßnahme auch dann Auswirkungen auf den Marktzugang hat, wenn deren Wirkung ungewiss, indirekt oder mittelbar ist (EuGH, Rs. 4.2 Gemeinsamer Prüfungsrahmen von Grundfreiheiten 49 <?page no="50"?> C-69/ 88, ECLI: EU: C: 1990: 97 - Krantz; Ruffert/ Grischek/ Schramm, JuS 2021, 407 (409) mit einem Hinweis, dass diese Abgrenzung oft nicht immer eindeutig vorzunehmen ist). Diese vornehmlich für die Warenverkehrsfreiheit entwickelten Grund‐ sätze hatte der EuGH in späteren Entscheidungen im Prinzip auch auf die anderen Grundfreiheiten übertragen. Danach sind Regelungen, die nicht den Marktzugang betreffen, sondern lediglich die Ausübung der Grundfreihei‐ ten betreffen, von vorherein keine verbotenen Maßnahmen. In einigen späteren Entscheidungen entwickelte der EuGH mit dem „3-Stufen-Test“ einen anderen dogmatischen Ansatz, den er neben oder anstatt der „Keck-Rechtsprechung“ anwendet (und im Ergebnis keinen Unterschied macht). Danach handelt es sich um eine „Maßnahme gleicher Wirkung“ nach Art.-34 AEUV, wenn die nationale Maßnahme • bezweckt oder bewirkt, dass aus anderen EU-Staaten eingeführte Waren weniger günstig als inländische Waren behandelt werden (offene oder versteckte Diskriminierung) oder • bestimmte Anforderungen an die Produktbeschaffenheit stellt, die zwar unterschiedslos für alle Waren gelten, jedoch der inländischen Verkehrs‐ fähigkeit einer im Herkunftsstaat rechtmäßig in den Verkehr gebrachten Ware entgegenstehen oder auch • in sonstiger Weise den Marktzugang einer Ware aus einem anderen Mit‐ gliedstaat behindert (zum Drei-Stufen-Test EuGH, Urteil vom 26.4.2012, C-456/ 10 - Anett, ECLI: EU: C: 2012: 241 = EuZW 2012, 508); EuGH, C-333/ 14 - Scotch Whisky, ECLI: EU: C: 2015: 8451 = NJW 2016, 621). Rechtfertigung der Maßnahme In einem dritten Schritt ist schließlich noch zu prüfen, ob eine Rechtferti‐ gung vorliegt. Ein Eingriff in den Schutzbereich einer Grundfreiheit durch einen der genannten Adressaten führt noch nicht zwangsläufig zur Unzu‐ lässigkeit der nationalen Maßnahme. Ein mitgliedstaatlicher Eingriff in den Schutzbereich einer Grundfreiheit kann aus sachlichen Gründen gerecht‐ fertigt sein. Die geschriebenen Rechtsfertigungsgründe werden explizit im AEUV genannt, und zwar in Art. 36 AEUV für die Warenverkehrsfreiheit, in Art. 45 Abs. 3 AEUV für die Arbeitnehmerfreizügigkeit, in Art. 52 AEUV für die Niederlassungsfreiheit und i. V. m. Art. 62 AEUV für die 50 4 Grundfreiheiten <?page no="51"?> Dienstleistungsfreiheit sowie in Art. 65 AEUV für den freien Kapital- und Zahlungsverkehr. Bei der Warenverkehrsfreiheit werden in Art. 36 AEUV zum Beispiel die Schutzgüter der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, aber auch die Gesundheit und das Leben von Menschen, Tieren oder Pflanzen, der Schutz nationalen Kulturguts oder der Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums aufgezählt. Bei der Prüfung der Rechtfertigung ist zu beachten, dass die Grundfreiheiten als Regelfälle weit auszulegen sind, während die geschriebenen Rechtfertigungsgründe (als Begrenzung einer unionsrechtlich garantierten Freiheit) stets eng auszulegen sind. Die Beweislast für das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes tragen die Mitgliedstaaten. Mit Art. 36 AEUV können (unmittelbar und mittelbar) diskriminierende, also auch diskriminierungsfreie staatliche Maßnahmen, das heißt also solche, die nicht nach der Warenherkunft unterscheiden, gerechtfertigt werden (Ruffert/ Grischek/ Schramm, JuS, 2021, 407 (410) m. w. N.; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Rn. 847 ff. m. w. N.). Um dem weiten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten gerecht zu wer‐ den, hat der EuGH in der Entscheidung „Cassis de Dijon“ (EuGH - C-120/ 78, Slg. S. 649 - „Cassis de Dijon“ - Rewe/ Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Urteil v. 20.02.1979) weitere (ungeschriebene) Rechtfertigungs‐ gründe, mit denen Mitgliedstaaten mögliche Eingriffe rechtfertigen können, entwickelt, und zwar die „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls“. Grundlage der Entscheidung war, dass die REWE AG den Likör „Cassis de Dijon“ aus Frankreich nach Deutschland importieren und dort verkaufen wollte. Dies wurde ihr durch die deutsche Verwaltung verboten, da der Alkoholgehalt für Likör nach dem damaligen deutschen Branntweinmonopolgesetz zu niedrig war. REWE sah in dieser nationalen Regelung eine Maßnahme, die einer mengenmä‐ ßigen Beschränkung in der Wirkung gleichstehe und damit gegen Art. 34 AEUV verstoße. Das angerufene Finanzgericht legte beim EuGH diese Frage zur Vorabent‐ scheidung vor. Dieser sah in der deutschen Regelung eine „Maßnahme gleicher Wirkung“. Nach Ansicht des EuGH kommen danach als ungeschrie‐ bene Rechtfertigungsgründe auch „zwingende Erfordernisse des Allgemein‐ wohls“ in Betracht. Der EuGH hat etwa bei der Warenverkehrsfreiheit den Schutz der Umwelt und der Verbraucher, den Schutz der öffentlichen Gesundheit, die wirksame steuerliche Kontrolle oder die Lauterkeit des Handelsverkehrs als Rechtfertigungsgründe anerkannt; bei den anderen 4.2 Gemeinsamer Prüfungsrahmen von Grundfreiheiten 51 <?page no="52"?> Grundfreiheiten wurden noch der Jugendschutz oder die Erhaltung der Medienvielfalt genannt; die Aufzählung ist nicht abschließend. Den Mit‐ gliedstaaten wird hier eine Einschätzungsprärogative zugestanden (Ha‐ ratsch/ Koenig/ Pechstein, Rn. 857 ff. m. w. N.). Der Anwendungsbereich dieser Rechtfertigungsgründe ist im Einzelnen umstritten. Es steht allerdings fest, dass der EuGH eine Rechtfertigung mit den „zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls“ nur dann zulässt, wenn es sich um diskriminierungsfreie Beschränkungen handelt, das heißt um Regelungen, die unterschiedslos auf inländische und eingeführte aus‐ ländische Waren anwendbar sind. Das bedeutet, dass unmittelbare Diskri‐ minierungen, zum Beispiel wegen Warenherkunft oder Staatsangehörigkeit etc, nur durch die geschriebenen Rechtfertigungsgründe und nicht durch die vom EuGH entwickelten „zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls“ gerechtfertigt werden können (Ruffert/ Grischek/ Schramm, JuS, 2021, 407 (410) m. w. N.). Kann sich also ein Mitgliedstaat zur Rechtfertigung seiner diskriminieren‐ den oder beschränkenden Maßnahme auf einen sachlichen Grund berufen, muss dieser die Maßnahme weiterhin verhältnismäßig anwenden und nach Art. 6 AEUV die Grundrechte der EU beachten; es geht also um die Be‐ schränkungen, denen die beeinträchtigende Maßnahme ihrerseits unterliegt („Schranken-Schranken“, die die Grenze der Rechtfertigung bilden). Der EuGH prüft hierbei, ob die Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des Ziels zu gewährleisten und dabei nicht über das Maß hinausgeht, was für die Zielerreichung erforderlich ist (EuGH, C-110/ 05, in EuZW 2009, 173 - Kradanhänger). Der Schwerpunkt der Prüfung liegt regelmäßig auf der Prüfung der Erforderlichkeit. Es erfolgt hier eine Güterabwägung, das heißt, ob es sich um das „mildeste Mittel“ zur Erreichung des Ziels gehandelt hat, was in zahlreichen Entscheidungen des EuGH häufig nicht der Fall war. Stellt sich etwa heraus, dass zum Beispiel eine bestimmte staatliche Regelung im grenzüberschreitenden Verkehr nicht angewendet werden darf, etwa eine Regelung, die spezielle inländische Produktanforderungen vorsieht, dann bleibt sie im nationalen Recht nach wie vor gültig. Das kann dazu führen, dass Inländer aufgrund des europäischen Rechts diskriminiert, beziehungsweise benachteiligt werden. Diese sogenannte umgekehrte Dis‐ kriminierung (Inländerdiskriminierung) ist hinzunehmen. So verstößt zum Beispiel eine Regelung, die strengere Produktanforderungen für inländische, aber nicht für ausländische Waren vorsieht, nicht gegen die Grundfreiheiten. Zudem besteht wegen des Verstoßes gegen eine Unionsregelung auch eine 52 4 Grundfreiheiten <?page no="53"?> Schadensersatzverpflichtung des Staates (Art. 268, 340 AEUV). Im Folgenden soll nun auf die einzelnen Grundfreiheiten noch näher eingegangen werden. 4.3 Warenverkehrsfreiheit In Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit gelten als Waren alle körperli‐ chen Gegenstände, die über eine Grenze verbracht werden und Gegenstand von Handelsgeschäften sein können, zum Beispiel Kunstgegenstände, Ab‐ fälle, Software (auf einem Datenträger, in ausschließlich digitaler Form eher eine Dienstleistung), Gas, Wasser und Strom (trotz fehlender Verkörperung wird dieser jedoch, wie auch Gas und Wasser, in Leitungen transportiert und weist einen Handelswert auf (Sommer, Rn. 462 ff. m. w. N. zum Begriff „Ware“). Ein persönlicher Anwendungsbereich existiert im Rahmen der Warenver‐ kehrsfreiheit nicht. Es geht hier - im Gegensatz zur Personenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit - nicht um den Schutz persönlicher Freiheiten von Unionsbürgern, sondern vornehmlich um den Schutz des freien Warenhan‐ dels zwischen den Mitgliedstaaten. Damit kommt es nicht auf die persönlichen Eigenschaften des Eigentür‐ mers oder Händlers an, so dass sich auf die Warenverkehrsfreiheit sowohl Unionsbürger als auch Nichtunionsbürger wie auch juristische Personen beziehen können. In Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH eine horizontale Wirkung strikt abgelehnt, jedoch gleichfalls festgestellt, dass das Handeln Privater dem Staat dann zugerechnet wird, wenn deren Handeln auf staatlicher Initiative beruht oder mit staatlicher Billigung erfolgt (EuGH, Urteil vom 24.11.1982, C-249/ 81, Slg. 1982, 4005 - „Buy Irish“). In diesem Verfahren ging es um eine von der irischen Regierung personell und finanziell unterstützte privatrechtliche Organisation, die mit einer Werbekampa‐ gne den Konsum speziell heimischer Produkte fördern sollte. Das bedeutet, dass die Waren entweder • aus einem Mitgliedstaat stammen, • sich gemäß Art. 28 AEUV in freiem Verkehr eines Mitgliedstaates befin‐ den, das heißt also, dass sie aus Drittstaaten in die EU ordnungsgemäß eingeführt worden sein müssen (Art.-29 AEUV) oder • die Grenze eines Mitgliedstaates überquert haben müssen. 4.3 Warenverkehrsfreiheit 53 <?page no="54"?> Unproblematisch ist es, wenn eine Ware ausschließlich in einem Land er‐ zeugt oder hergestellt wurde. Waren, an deren Herstellung mehrere Länder beteiligt sind, haben danach ihren Ursprung grundsätzlich in dem Land, in dem die letzte wesentliche Bearbeitung stattgefunden hat und nicht nur ihre bloße „Zusammensetzung“ (EuGH, Slg. 1989-I, 4253 - Videorecorder). Ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit kann zunächst durch Ein- und Ausführzölle und Abgaben zollgleicher Wirkung erfolgen. Diese sind nach Art.-30 AEUV verboten und können auch nicht gerechtfertigt werden (Art. 28, 30 ff. AEUV). Eine Zollunion ist im gewerblichen Bereich bereits seit Ende der 1960er Jahre erreicht worden. Die Warenverkehrsfreiheit verbietet vor allem mengenmäßige Beschrän‐ kungen der Warenein- und -ausfuhr, zum Beispiel durch staatlich angeord‐ nete Ein- und Ausfuhrkontingente oder vollständige Ein- und Ausfuhrver‐ bote (Art.-34, 35 AEUV), die heute allerdings auch kaum noch vorkommen. Häufiger anzutreffen sind die sogenannten versteckten Diskriminierungen, die zwar formal in- und ausländische Produkte gleichermaßen betreffen, aber ausländische Waren in tatsächlicher Hinsicht benachteiligen. So war das Merkmal „Maßnahmen gleicher Wirkung“ und deren Rechtferti‐ gung, wie im vorherigen Abschnitt aufgezeigt, vielfach Gegenstand von EuGH-Entscheidungen gewesen. Der Binnenhandel kann nicht nur durch eine staatliche Maßnahme, sondern auch durch ein (pflichtwidriges) Nichthandeln von Seiten eines Mit‐ gliedstaates beeinträchtigt werden. Der EuGH leitet dazu aus Art. 34 AEUV i. V. m. Art. 4 Abs. 3 EUV die Pflicht der Mitgliedstaaten ab, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Hoheitsgebiet eine Beachtung der Grundfreiheiten zu gewährleisten. In dem vom EuGH erstmals zu entscheidenden Fall hatte es Frankreich unterlassen, geeignete Schutzmaßnahmen für Lebensmitteltransporte aus anderen Mitgliedstaaten gegen die demonstrierenden französischen Bauern, die Einfuhrblockaden errichtet hatten, zu ergreifen (EuGH, Urteil v. 9.12.1997, Rs. C 265/ 95, Slg. 1997, I-6959, NJW 1998, 1931 - Kommission/ Frankreich). Diese Schutzpflicht wurde durch ein (jahrelanges) Unterlassen einer effektiven Abwehr der Beschränkung durch die französischen Behörden verletzt (Sommer, Rn. 451-m. w. N.). Die nachfolgende Abbildung gibt eine Übersicht über verschiedene ein‐ greifende Massnahmen. 54 4 Grundfreiheiten <?page no="55"?> Eingreifende (meist staatliche) Maßnahmen Unterschiedlich anwendbar (Anknüpfung an Staatsangehörigkeit / Herkunft der Ware) = Offene Diskriminierung Wenn (allerdings) die allgemeine Beschränkung rechtlich und tatsächlich für Ausländer nachteiliger ist als für Inländer = Versteckte Diskriminierung Unterschiedslos anwendbar auf Inländer und Ausländer = Allgemeine Beschränkung Tatbestandsmäßig liegt nach der „Keck- Entscheidung“ bereits kein Eingriff vor, wenn lediglich eine Verkaufsmodalität betroffen ist, die für alle gleich ist (und nicht der Marktzugang betroffen ist). Abbildung 4: Eingreifende (meist staatliche) Maßnahmen Die Grundfreiten unterliegen Schranken, das heißt eine Beeinträchtigung kann gerechtfertigt sein. So kann ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 36 AEUV mit dem Schutz der Gesundheit von Personen oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt werden. Diese dort genannten Gründe werden allerdings vom EuGH sehr restriktiv interpre‐ tiert. Offene und auch versteckte (mittelbare) Diskriminierungen können nur mit diesen Gründen nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden. Diskri‐ minierungsfreie Beschränkungen können dagegen sowohl mit Art. 36 AEUV als auch mit den „zwingenden Gründe des Allgemeinwohls“ gerechtfertigt werden. Allerdings unterliegen diese Beschränkungen ihrerseits ebenfalls Schranken, das heißt, dass die jeweilige Beschränkung verhältnismäßig sein muss. In seinen Entscheidungen kam der EuGH hier häufig zu dem Ergebnis, dass eine Maßnahme, die faktisch ein „Importverbot“ für den betreffenden Importeur bedeutete, nicht das „mildeste Mittel“ zur Zielerreichung gewesen war. Zur weiteren Veranschaulichung soll nachfolgend die Entscheidung des EuGH zum deutschen „Reinheitsgebot für Bier“ vorgestellt werden, der folgender Sachverhalt zugrunde lag. Nach dem deutschen Biersteuergesetz dürfen zur Herstellung von Bier nur die dort genannten Zutaten (Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser) verwendet werden. Enthält ein ausländisches Bier andere Stoffe, zum Beispiel Geschmacksmanipulatoren oder Konservierungsmittel, darf dieses nicht unter der Bezeichnung „Bier“ in Deutschland in den Verkehr gebracht werden. Dieses Reinheitsgebot stellte damit faktisch ein Verkaufsverbot für ausländische 4.3 Warenverkehrsfreiheit 55 <?page no="56"?> Bierproduzenten dar. Die Kommission leitete daraufhin gegen die Bundesrepu‐ blik Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen eines Verstoßes gegen Art. 34 AEUV („Maßnahme gleicher Wirkung“) ein. In diesem Verfahren berief sich die beklagte Bundesrepublik Deutschland als Rechtfertigung auf den Schutz der Verbraucher vor Irreführung sowie auf den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung. Nach Ansicht des EuGH dient diese Regelung dem Schutz der Ver‐ braucher vor Irreführung. Ein deutscher Verbraucher verbindet mit dem Begriff „Bier“ ein Getränk, das nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut ist. Enthält es andere Inhaltsstoffe, so wird ein Verbraucher insoweit über die Beschaffenheit des Getränks getäuscht. Im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung kommt es auch auf die Verhältnismäßigkeit an. In diesem Fall wäre nach Auffassung des EuGH eine erweiterte Etikettierung ausreichend gewesen, um eine Irreführung der Verbraucher zu vermeiden („Labelling-Doktrin“). Auch in anderen Entschei‐ dungen hob der EuGH hervor, dass eine hinreichende Etikettierung der Produkte hinsichtlich ihrer Zusammensetzung regelmäßig das mildere Mittel zu einem „faktischen Importverbot“ darstellt. Aus dem Grund wurde ein Verkehrsverbot für Bier mit Zusatzstoffen vom EuGH als unverhältnismäßig angesehen. Im Hinblick auf die Gesundheitsgefährdung durch Zusatzstoffe könnte zwar Art. 36 AEUV in Betracht kommen, wenn man in der Regelung eine (unmittelbare oder mittelbare) Diskriminierung sieht. Ein solches pauschales Vorbringen reichte dem EuGH allerdings nicht aus. Es wurde von Deutschland nicht dargelegt, dass die einzelnen Zusatzstoffe im konkreten Fall gesundheitsschädlich sind; im vorliegenden Fall kam hinzu, dass in Deutschland viele der verwendeten Zusatzstoffe in anderen Lebensmitteln legal verwendet werden dürfen. Den Brauereien blieb es danach überlassen, einen solchen Hinweis zu geben. Die deutschen Regelungen zum Reinheitsgebot durften im grenzüberschreitenden Verkehr nicht mehr angewendet werden, so dass auch ausländische Biere, die nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut worden waren, zugelassen werden mussten. Für inländische Brauereien blieb die Regelung gültig. Eine damit verbundene umgekehrte Diskriminierung beziehungsweise Inländerdiskriminie‐ rung ist hinzunehmen, da nur grenzüberschreitende Sachverhalte erfasst werden, die gemeinschaftsrechtlich verboten sind. Eine Sonderstellung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit nehmen auf‐ grund der natürlichen und strukturellen Besonderheiten der Agrarmarkt und die Fischerei ein. So ist die Agrarproduktion in besonderer Weise witterungsabhängig. Zudem sind Boden- und Klimaverhältnisse der Mit‐ gliedstaaten äußerst unterschiedlich; zahlreiche Betriebe sind zudem als 56 4 Grundfreiheiten <?page no="57"?> Familienbetrieb organisiert. In den vergangenen Jahren sind auch Gesichts‐ punkte des Umweltschutzes, der Raumordnung und der Landschaftspflege zu berücksichtigen. Hier sind vor allem die Sonderregeln der Art. 38 bis 44 AEUV zu beachten. 4.4 Personenverkehrsfreiheit In einem gemeinsamen Markt sollen, wie ihn sich seine Gründungsmitglie‐ der vorgestellt haben, auch die einzelnen Menschen von der Öffnung der Grenzen profitieren können. Der freie Personenverkehr findet dazu seine Ausprägung in den Vorschriften zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 bis 48 AEUV) und zur Niederlassungsfreiheit (Art. 49 bis 55 AEUV), wo‐ bei letztere auch juristische Personen schützt. Damit umfasst der freie Personenverkehr grundsätzlich den gesamten Bereich der Erwerbstätigkeit. Prinzipiell geht es darum, dass Personen ohne Behinderungen oder zahlrei‐ che Formalitäten ihre Tätigkeit auf Dauer oder vorübergehend in anderen Ländern ausüben können. Das gemeinsame Ziel dieser Grundfreiheit besteht damit allgemein in der weitgehenden Gleichstellung aller Unionsbürger. Arbeitnehmerfreizügigkeit Von der Arbeitnehmerfreizügigkeit werden nur die Staatangehörigen der jeweiligen Mitgliedstaaten erfasst. Arbeitnehmer im Sinne von Art. 45 AEUV ist derjenige, der unselbständig, das heißt weisungsgebunden, für einen anderen eine wirtschaftlich verwertbare Tätigkeit verrichtet, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält; auch Auszubildende sind davon erfasst. Nach Art. 45 Abs. 2 AEUV sind nicht nur die offenen Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten, sondern auch verdeckte Diskriminierungen, die durch Anknüpfungen an andere Voraussetzungen als an die Staatsangehörigkeit, wie zum Beispiel • Herkunftsort, • Wohnsitz, • Abschluss der Ausbildung oder Sprachfähigkeit, • Nichtanerkennung von Vordienstzeiten für die Gehaltseinstufung im öffentlichen Dienst 4.4 Personenverkehrsfreiheit 57 <?page no="58"?> zum gleichen Ergebnis führen (EuGH, C-703/ 17, ECLI: EU: C: C: 2019: 850 = NZA 2019, 1704). Ein Nachweis für die tatsächliche Benachteiligung ist nicht erforderlich, das heißt, es reicht aus, dass eine Regelung potenziell geeignet ist, auf ausländische Arbeitnehmer stärkere Auswirkungen zu haben als auf Inländer. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt nicht für bestimmte Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung (Art. 45 Abs. 4, 51 AEUV), sofern deren Tätigkeit unmittelbar mit der Ausübung von öffentlicher beziehungsweise hoheitli‐ cher Gewalt verbunden ist. Dieses Merkmal wird vom EuGH allerdings restriktiv ausgelegt, so dass im Prinzip nur Tätigkeiten, wie zum Beispiel Polizei, Streitkräfte, Rechtspflege oder Steuerverwaltung, darunterfallen, während staatliche Einrichtungen, die mit der Verwaltung und der Erbrin‐ gung von Dienstleistungen betraut sind, nicht zur Ausübung öffentlicher Gewalt zählen. Die in Art. 45 Abs. 1 und 2 AEUV den Arbeitnehmern gewährleisteten Rechte werden in Art. 45 Abs. 3 AEUV konkretisiert. Im Einzelnen hat ein Arbeitnehmer das Recht, sich um eine tatsächlich angebotene Stelle zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen zu dürfen, sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten und dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Ver‐ waltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben und nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates verbleiben zu dürfen. Nach Art. 45 Abs. 3 AEUV können Diskriminierungen (zum Beispiel we‐ gen der Staatsangehörigkeit) gerechtfertigt werden, wenn sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erfolgen. Sonstige Beschränkungen können auch mit den „zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt werden. So kann zum Beispiel eine Ein‐ stellung eines Bewerbers grundsätzlich auch von sachlichen Erwägungen abhängig gemacht werden, vor allem von der fachlichen Eignung; darüber hinaus aber auch etwa von der Beherrschung der jeweiligen Landessprache. Allerdings muss auch hier jede Beschränkung des Freizügigkeitsrechts verhältnismäßig sein. Das bedeutet, dass, wie bei der Warenverkehrsfrei‐ heit, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu prüfen ist, ob die Maßnahme zur Zweckerreichung zunächst zur Zielerreichung geeignet ist und nicht das gleiche Ergebnis mit einer weniger gravierenden Maßnahme erreicht werden kann, zum Beispiel durch die Verpflichtung zur Belegung eines Sprachkurses. 58 4 Grundfreiheiten <?page no="59"?> Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird auf Basis des in den Art. 46 bis 48 AEUV erlassenem vorrangigen Sekundärrecht konkret geregelt. Zu nennen sind etwa die VO 492/ 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU. Sie wird durch die Richtlinie 2004/ 38/ EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten und die RL 2014/ 54 über Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitneh‐ mern im Rahmen der Freizügigkeit zustehen, ergänzt. So besteht der Zweck der, im Freizügigkeitsgesetz umgesetzten Richtlinie 2004/ 38/ EG darin, das Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen zu vereinheitlichen. Dabei soll die Unionsbürgerschaft selbst unmittelbarer Anknüpfungs‐ punkt sein. Diese Richtlinie kodifiziert weitgehend die Rechtsprechung des EuGH. Sie regelt insbesondere für Unionsbürger das Recht auf Ein- und Ausreise, das Aufenthaltsrecht für erwerbstätige Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen inklusive der entsprechenden Verwaltungsformalitä‐ ten und der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts im Falle der Änderung bestimmter Umstände, das Recht auf Daueraufenthalt und das Recht auf Arbeitsaufnahme (Hobe/ Fremuth, § 16, 29 ff.; Streinz, Rn. 943-m. w. N.). Zu erwähnen ist weiterhin die VO 883/ 2004 aus dem Jahre 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Sie garantiert den Beschäftigten, Arbeitneh‐ mern sowie Selbstständigen, einschließlich deren Familienangehörigen, Gleich‐ behandlung in den sozialen Sicherungssystemen. Dabei wird kein einheitliches europäisches System geschaffen, sondern die nationalen Systeme lediglich koor‐ diniert. Diese Verordnung schreibt die Kumulierung der Leistungsansprüche aus mehreren Dienstverhältnissen vor, unabhängig von dem jeweiligen Mitgliedstaat, in dem die Ansprüche beziehungsweise Anwartschaften erworben worden sind. Mit der Anerkennung von Studien,- Ausbildungs-, Schul- und Berufsab‐ schlüssen befasst sich schließlich die RL 2005/ 36/ EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Sofern keine Regelung zur Anerkennung besteht, ist es Sache der Staaten, die Voraussetzungen für den Zugang zu bestimmten Berufen zu regeln. Diese Regelungen müssen unter Beachtung der Wahrung der Freizügigkeit getroffen werden, das heißt, sie dürfen diese also nicht beschränken (Hobe/ Fremuth, § 16, Rn. 40). 4.4 Personenverkehrsfreiheit 59 <?page no="60"?> Niederlassungsfreiheit Die Niederlassungsfreiheit ist in den Art. 49 bis 55 AEUV geregelt. Sie räumt Unionsbürgern und juristischen Personen das Recht ein, sich in einem anderen Mitgliedstaat dauerhaft niederzulassen und einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen; es kann sich dabei um eine freiberufliche Tätigkeit oder um eine gewerbliche Tätigkeit handeln (Art. 49 Abs. 2 AEUV). Diese begründet, neben dem Recht auf freien Marktzugang, auch das Recht auf Gleichbehandlung. Dabei sind die Qualifikationsanforderungen an die Berufsausübung zu erfüllen, die im Staat der Niederlassung gelten. In sachlicher Hinsicht ist die Niederlassung in Abgrenzung zur Dienstleistung auf eine kontinuierliche Teilnahme am Wirtschaftsleben in einem anderen Mitgliedstaat gerichtet. Handelt es sich dabei nur um eine vorübergehende Tätigkeit, dann ist der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit (Art.-57 AEUV) betroffen. Die Niederlassungsfreiheit verbietet grundsätzlich jegliche Beschränkun‐ gen der Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates im Hoheits-gebiet eines anderen Mitgliedstaates (Art. 49 bis Art. 55 AEUV). Sie beinhaltet damit, neben einem Aufenthaltsrecht, ein Verbot der offenen oder auch versteckten Ungleichbehandlung von EU-Ausländern. Die Niederlas‐ sungsfreiheit beinhaltet darüber hinaus - ebenfalls wie die vorgenannten Grundfreiheiten - auch ein umfassendes Beschränkungsverbot. Das bedeu‐ tet, dass eine Beschränkung auch bei mitgliedstaatlichen Regelungen oder Maßnahmen, die weder offen noch versteckt diskriminierend, sondern unterschiedslos sind, vorliegen kann. Die Niederlassungsfreiheit erfasst dabei jede Maßnahme, die geeignet ist, die Wahrnehmung dieser Freiheit zu unterbinden oder weniger attraktiv zu machen („Gebhard-Formel“; EuGH, Slg. 1995, I-4165 - Gebhard). Vor allem das Erfordernis, bestimmte Ausbil‐ dungs- und Befähigungsnachweise zu erbringen, obwohl entsprechende Qualifikationen bereits im Heimatstaat erfüllt worden sind, kann eine solche mittelbare Diskriminierung darstellen; oftmals sind von der Person in diesen Fällen Ausbildungen und Prüfungen im Zuzugsstaat zu wiederholen. In der Entscheidung „Gebhard“ ging es um einen deutschen Rechtsanwalt, der viele Jahre anwaltlich beratend in Italien in einer Kanzlei gearbeitet hatte und der sich nach der Trennung von seinen Kollegen als selbstständig tätiger italienischer „Rechtsanwalt“ in Italien („avvocato“) niederlassen wollte (obwohl er keinen juristischen Studienabschluss in Italien hatte). Als Beschränkungen nach der Gebhard-Formel zählen danach Beschränkungen beim Führen eines 60 4 Grundfreiheiten <?page no="61"?> akademischen Grades, das Verlangen von Berufserfahrung, Qualifikations- und Spracherfordernisse oder eine Ungleichbehandlung bei Besteuerungen (Sommer, Rn. 570-m. w. N.). Die Niederlassungsfreiheit unterliegt, ebenso wie die Arbeitnehmerfrei‐ zügigkeit, grundsätzlich Einschränkungen, etwa dann, wenn es sich um Tätigkeiten in Ausübung öffentlicher Gewalt handelt (Art. 51 AEUV) oder um Störungen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung (Art. 52 AEUV). Hinzu kommt eine Rechtfertigung nach der „Cassis de Dijon“-Formel aufgrund von „zwingenden Erfordernissen“, zum Beispiel Umwelt-, Verbraucher- und Gläubigerschutz sowie eine wirksame steuerliche Kontrolle, soweit es sich um nicht diskriminierende Beschrän‐ kungen handelt. Zu beachten ist im Rahmen der Rechtfertigung dabei stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Niederlassungsfreiheit wird in mehrfacher Hinsicht durch vorrangi‐ ges Sekundärrecht ausgestaltet. Dies gilt zunächst im Hinblick auf eine gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen. Hierzu existieren ebenfalls eine Vielzahl an Richtlinien, die sich auf die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweisen (Hobe/ Fremuth, § 17, Rn. 20 ff.) beziehen sowie auf deren Koordinierung mit dem Ziel, die Niederlassungsfreiheit so weit als möglich zu verwirklichen, zum Beispiel die Richtlinie 2005/ 36/ EG über die Anerkennung von Berufs‐ qualifikationen (ABl 2005, L 255, S.-22). Seit Ende der 1980er Jahre gibt es darüber hinaus auch eine Richtlinie 89/ 48/ EWG über die Anerkennung von Hochschuldiplomen. Sie betrifft allgemein Berufe, die ein mindestens dreijähriges Hochschulstudium voraussetzen. Die Mitgliedstaa‐ ten sollen hier in weitgehenden „gegenseitigem Vertrauen“ eine Anerkennung vornehmen. Bei besonderen (beruflichen) Zulassungsvoraussetzungen, die nicht in allen Mitgliedstaaten identisch sind, kommt es auch auf die Verhältnismä‐ ßigkeit an. Die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit hängt davon ab, inwieweit die Mitgliedstaaten bereit sind, ihre jeweiligen Abschlüsse gegenseitig anzuerkennen. Für den Rechtsanwaltsberuf schafft etwa die Richtlinie 98/ 5/ EG zusätzliche Erleichterungen für die ständige Ausübung des Berufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben worden ist. Die Niederlassungsfreiheit gilt grundsätzlich auch für Gesellschaften. Für diese stellt sich im Rahmen des Beschränkungsverbots das Problem, ob für sie eine identitäts- und rechtsformwahrende Verlegung des Verwaltungs‐ 4.4 Personenverkehrsfreiheit 61 <?page no="62"?> sitzes in der EU garantiert ist. Es geht konkret um die Frage, ob eine Gesellschaft fortbestehen kann, ohne dass sie sich im Wegzugsstaat auflösen und im Zuzugsstaat neu gründen muss. Die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft hängt davon ab, ob in dem Zuzugs‐ staat die Gründungstheorie oder die Sitztheorie vertreten wird. • Nach der Gründungstheorie ist und bleibt für eine Gesellschaft die Rechtsordnung desjenigen Staates maßgeblich, in dem diese gegründet wurde. • Nach der Sitztheorie, die im Grundsatz auch von der Rechtsprechung in Deutschland vertreten wird, ist das Gesellschaftsrecht desjenigen Staates maßgeblich, in dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Ver‐ waltungssitz hat. Das bedeutet, dass sich nach dieser Theorie eine Gesellschaft, die beabsichtigt, sich in einem anderen Mitgliedstaat nie‐ derzulassen, nach dem dort geltenden Gesellschaftsrecht neu gründen muss. Die Niederlassungsfreiheit erfasst dabei nicht die Frage des Wegzugs aus ei‐ nem Mitgliedstaat. So kann ein Staat ein Unternehmen, das seinen Sitz voll‐ ständig in einen anderen Staat verlegen möchte, mit negativen Rechtsfolgen belegen; es muss zumindest ein rechtlicher „Anker“ im Gründungsstaat bleiben. Dies hat der EuGH erstmals in seiner Entscheidung „Daily Mail“ entschieden (EuGH, Rs. 81/ 87 - Daily Mail; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Rn. 926). Die britische Gesellschaft „Daily Mail“ plante aus steuerlichen Gründen eine Sitzverlegung der Geschäftsleitung in die Niederlande. Eine Aufrechterhaltung der Rechtsform hätte den Abschluss einer Steuerverrechnung und einer Zustim‐ mung des britischen Finanzministeriums bedurft. Der EuGH entschied, dass diese Sitzverlegung, also der Wegzug, nicht von der Niederlassungsfreiheit erfasst wird. Im Ergebnis musste die Gesellschaft vor dem Wegzug sämtliche fälligen Steuern bezahlen (EuGH, Rs C-210/ 06, Slg 2008, S-I 9641 - Cartesio“). Von der Niederlassungsfreiheit wird allerdings der Zuzug einer Gesellschaft in einen anderen Staat erfasst. Die Kernaussagen des EuGH in den drei grundlegenden Entscheidungen (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. 212/ 97, NJW 1999, 2027 - Centros; EuGH, Urteil v. 5. 11. 2002 Rs. C-208/ 00 - Überseering; EuGH, Urteil v. 30.9.2003, C-167/ 01, Slg. S. I-10155 - Inspire Art) ist, dass Gesellschaften das Recht besitzen, ihre Tätigkeit in einem anderen Mitglied‐ staat auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger Sitz oder ihre Hauptverwaltung 62 4 Grundfreiheiten <?page no="63"?> in der EU sein muss. Die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit setzt danach zwingend die Anerkennung dieser Gesellschaften durch alle Mit‐ gliedstaaten voraus, in denen sie sich niederlassen wollen. Gesellschaften dürfen daher grundsätzlich, ohne zur Auflösung im Herkunftsstaat und zur Neugründung im Bestimmungsland gezwungen zu sein, ihren Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung (unter Wahrung ihrer Rechtsform), insbesondere etwa unter Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit, verlegen. Ein Zuzug von Gesellschaften darf demnach grundsätzlich nicht beschränkt werden. Der europäische Gesetzgeber hat inzwischen entsprechende Sekundär‐ rechtsakte erlassen, um die Mobilität von Gesellschaften in Europa zu erhöhen. Mit der Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE) und der Europäischen Genossenschaft (Societas Cooperativa Europaea, SCE) stehen Gesellschaften so zwei Rechtsformen zur Verfügung, um ihren Sitz (auch Satzungssitz) ohne Formwechsel in jeden Mitgliedstaat verlegen können (Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Rn. 933 ff.). 4.5 Dienstleistungsfreiheit Die Dienstleistungsfreiheit, geregelt in den Art. 56 bis 62 AEUV, befasst sich mit den grenzüberschreitenden Dienstleistungen. Dienstleistungen sind Leistungen, die gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht an‐ deren Grundfreiheiten unterfallen. Dienstleistungsfreiheit beinhaltet das Recht, ungehindert von einem Mitgliedstaat aus einzelne Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen, ohne dort eine ständige Niederlassung zu unterhalten. Sie ist im Prinzip das Korrelat zur Niederlas‐ sungsfreiheit bei vorübergehender Erwerbstätigkeit auf dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaates. Die Dienstleistungsfreiheit hat aufgrund des außergewöhnlichen Wachs‐ tums des Dienstleistungssektors und seinem Anteil an der Bruttowertschöp‐ fung in der EU eine selbstständige Bedeutung im Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten erlangt. Früher spielte sie zum Beispiel nur dann eine Rolle, wenn Angehörige freier Berufe Mandanten in oder aus anderen Mitgliedstaaten berieten oder wenn sich etwa Touristen in anderen Mitgliedsländern ärztlich behandeln ließen. Heute stehen eher Fälle der Telekommunikation, des Rundfunks, des Fernsehens, des 4.5 Dienstleistungsfreiheit 63 <?page no="64"?> Internets und sonstiger neuer Medien sowie das grenzüberschreitende Bank- und Versicherungswesen im Mittelpunkt des Interesses. Unter Dienstleistungen versteht man nach der in Art. 57 Abs. 2 AEUV enthaltenen (nicht abschließenden) Aufzählung insbesondere • selbstständige gewerbliche (zum Beispiel Baugewerbe), • kaufmännische (zum Beispiel Versicherungen), • handwerkliche (zum Beispiel Friseure) oder • freiberufliche (zum Beispiel Rechtsanwälte) Tätigkeiten. Geschützt wird zum einen die aktive Dienstleistungsfreiheit, das heißt, wenn die Dienstleistung in einem anderen Staat erbracht wird, zum Beispiel wenn ein Bauunternehmer für einen Bauherrn aus einem anderen Mitgliedstaat ein Haus errichtet. Zum anderen wird aber auch die Inanspruchnahme von Diensten (passive Dienstleistungsfreiheit) geschützt, zum Beispiel wenn ein Kunde aus Italien einen Dienstleistungsanbieter in England aufsucht (EuGH, Rs. 286/ 82, Slg. 1984, 37 - Luisi/ Carbone). Geschützt werden darüber hinaus Korrespondenzdienstleistungen, das heißt, wenn nur die Dienstleis‐ tung die Grenze überschreitet. Anbieter und Empfänger der Dienstleistung halten sich also in unterschiedlichen Mitgliedstaaten auf, zum Beispiel bei Onlinediensten, Ausstrahlung von Rundfunksendungen oder bei Bank- und Versicherungsdiensten. Grundsätzlich sind offene oder versteckte Beschränkungen des Dienst‐ leistungsverkehrs innerhalb der EU verboten. Es gilt also das Verbot der offenen und versteckten Diskriminierung des Dienstleistungserbringers beziehungsweise des Dienstleistungsempfängers aufgrund seiner Staatsan‐ gehörigkeit oder aufgrund seines Wohn- oder Firmensitzes. Es soll grund‐ sätzlich das Recht gewährleistet werden, in einem anderen Mitgliedstaat eine Dienstleistung zu erbringen, ohne dort eine ständige Niederlassung unterhalten zu müssen. In Bezug auf mögliche Rechtfertigungen verweist Art. 62 AEUV auf die Art. 51 ff. AEUV, zum Beispiel für Fälle der Ausübung hoheitlicher Gewalt (Art. 51 AEUV), aber aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 52 AEUV). Daneben können Beschränkungen auch mit den vom EuGH entwickelten „zwingenden Erfordernissen des Allgemeininter‐ esses“ gerechtfertigt werden. Hierzu zählen zum Beispiel 64 4 Grundfreiheiten <?page no="65"?> • die Berufs- und Standesregeln, • die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, • das Anliegen der Sozialpolitik und der Betrugsbekämpfung, zum Bei‐ spiel bei der Veranstaltung von Glücksspielen und Lotterien, • die Lauterkeit des Handelsverkehrs und • der Verbraucherschutz. Stets zu beachten ist, dass ein Eingriff dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss, das heißt, dass der Eingriff in der Art und Weise geeignet, erforderlich und angemessen sein muss, das verfolgte Ziel zu erreichen. Als vorrangiges Sekundärrecht ist hier vor allem die Dienstleistungsricht‐ linie (RL 2006/ 123/ EG, ABl.2006, L 376, S. 36 ff.) von Bedeutung. Diese Richt‐ linie zielt darauf ab, Hindernisse für eine grenzüberschreitende Dienstleis‐ tungserbringung beziehungsweise für den Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen. Maßgebend für das Angebot sind daher nun die Arbeits- und Sozialbestimmungen des Ziellandes (Hobe/ Fremuth, § 18, Rn. 31 ff.). Ebenfalls von Bedeutung ist die Richtlinie (RL 1996/ 71/ EG, ABl 1997, L 18, 1) über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (Arbeitnehmerentsende-RL). Diese gilt für Arbeitnehmer, die im Namen und unter der Leitung eines Unternehmens eines Mitgliedstaates Dienstleistungen (zum Beispiel Bauleistungen, War‐ tungsarbeiten…) für einen entsprechenden Empfänger in einem anderen Mitgliedstaat erbringen oder für Arbeitnehmer, die in die Niederlassungen in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden sowie für Leiharbeitnehmer (Art. 1 dieser RL). Von Bedeutung ist im Rahmen der Personenverkehrsfrei‐ heit auch die bereits erwähnte RL 2005/ 36/ EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, die sich auf die Anerkennung von Studien,- Ausbil‐ dungs-, Schul- und Berufsabschlüssen bezieht. Zu erwähnen ist schließlich noch die Richtline über audiovisuelle Mediendienste 2010/ 13/ EU (Hobe/ Fremuth, § 18, Rn. 35 ff, 40 ff. mit Hinweisen zum Telekommunikationsmarkt und den Regelungen für Banken und Versicherungen). 4.6 Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit Ebenso wie Waren oder Personen sollen in einem Binnenmarkt auch Kapi‐ tal- und Zahlungsströme ungehindert über die Grenzen „fließen“ können. 4.6 Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit 65 <?page no="66"?> • Während der freie Kapitalverkehr die einseitige Wertübertragung in Form von Sachkapital (zum Beispiel Immobilien, Unternehmensbe‐ teiligungen) oder von Geldkapital (zum Beispiel Wertpapiere, Kredite) betrifft, • bezieht sich der freie Zahlungsverkehr auf die grenzüberschreitende Übertragung von Zahlungsmitteln als Vergütung für erbrachte Leistun‐ gen. Der freie Zahlungsverkehr ist damit eine unerlässliche Ergänzung der Vorschriften über die anderen Grundfreiheiten. Beide Grundfreiheiten (Art. 63 AEUV) knüpfen an den Sitz des Kapitals und nicht an die Staatsangehörigkeit des Inhabers an. So kann sich jeder auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen, dessen Kapital in der EU „ansässig“ ist, unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Eigentümers beziehungsweise Inhabers. Die Vorschriften der Art. 63 bis 66 AEUV sehen vor, dass alle Beschrän‐ kungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind, unabhängig davon, ob sie diskriminierend sind oder unter‐ schiedslos angewendet werden. Beschränkungen können aus, in Art. 65 AEUV genannten Gründen (zum Beispiel eine steuerliche Ungleichbehand‐ lung) oder aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses (zum Beispiel zur Bekämpfung der Geldwäsche) gerechtfertigt sein. Die EU kann nach Art. 75 AEUV im Wege des Erlasses von Verordnungen Maßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel das Einfrieren von Vermögen von Privatperso‐ nen. Zu dieser Grundfreiheit existieren zahlreichen Verordnungen und Richt‐ linien, zum Beispiel die Richtlinie über Zahlungsdienste 2007/ 64/ EG und die Finanzmarktrichtlinie 2014/ 64/ EU. 66 4 Grundfreiheiten <?page no="67"?> 5 Wettbewerbsfreiheit 5.1 Überblick Um eine EU-weite Wettbewerbsfreiheit zu gewährleisten, soll durch das eu‐ ropäische Wettbewerbsrecht, geregelt in den Art. 101 ff. AEUV, dafür Sorge getragen werden, dass das Konzept der freien und sozialen Marktwirtschaft nicht durch die Marktteilnehmer selbst gefährdet wird. Es bedarf eines staatlichen Rahmens, um den Wettbewerb dauerhaft zu ermöglichen. Die Regelungen des Wettbewerbsrechts richten sich daher primär an die priva‐ ten Marktteilnehmer, die als Unternehmer bezeichnet werden. Sie ergänzen dadurch die vor allem an die Mitgliedstaaten adressierten Grundfreihei‐ ten, indem sie zu verhindern versuchen, dass die beseitigten staatlichen Barrieren durch private Vereinbarungen wieder errichtet werden. Die we‐ sentlichen Elemente des Wettbewerbsrechts sind das Kartellverbot (Art. 101 AEUV), das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherr‐ schenden Stellung (Art. 102 AEUV) sowie die Fusionskontrolle (Art. 103 i. V. m. Fusionskontrollverordnung (Zerres, T., Zerres, M., Europäisches Wirtschaftsrechtsrecht, S.-91 ff., vgl. Abb. 5). Wettbewerbs- und Kartellrecht Kartellverbot Sicherung des freien Wettbewerbs in der EU Fusionskontrolle Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung Abbildung 5: Wettbewerbsordnung der Europäischen Union <?page no="68"?> 5.2 Kartellverbot Das in Art. 101 Abs. 1 AEUV enthaltene Kartellverbot untersagt Ver‐ einbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltenswei‐ sen zwischen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, welche geeignet sind, den Handel mit Waren und Dienstleistungen zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und die den Wettbe‐ werb innerhalb des gemeinsamen Marktes verhindern, einschränken oder verfälschen, da sie mit einem Binnenmarkt unvereinbar sind. Das Merkmal „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ ist ein Auffang‐ tatbestand und nach dem Kriterium der Intention vom faktischen (bewuss‐ ten) Parallelverhalten abzugrenzen, was in der Praxis oftmals Schwierig‐ keiten bereitet, etwa bei der sogenannten Preisführerschaft, zum Beispiel bei Benzinpreisen, bei der sich andere Unternehmen „selbstständig“ den Preiserhöhungen der Konkurrenten anschließen (Streinz, Rn. 1080 m. w. N.). Adressaten des Kartellverbots sind Unternehmen. Als Unternehmen gilt dabei jede Organisation, die wirtschaftlich tätig ist, unabhängig davon, welche Rechtsform sie besitzt; Gewinnerzielungsabsicht ist nicht erforder‐ lich (Streinz, Rn. 1081 m. w. N.). Diese Maßnahme muss geeignet sein, den Handel (und auch Dienstleistungen) zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen (Zwischenstaatlichkeitsklausel). Da der EuGH und die Kommission den Begriff der Zwischenstaatlichkeit sehr weit verstehen, fallen heute zahlreiche wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen von gewissem Gewicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und nicht mehr in den des jeweiligen nationalen Kartellrechts. Eine Verletzung des Art. 101 AEUV liegt allerdings nur dann vor, wenn der zwischenstaatliche Handel „spürbar“ beeinträchtigt ist. Es geht hier‐ bei darum, Bagatellfälle auszuschließen. Dies ist anhand der Marktanteile und des Umsatzes festzustellen. Die Kommission hat in ihrer Bagatell-Be‐ kanntmachung („de-minimis-Regel“ vom 25.6.2014) für die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkungen eigene Leitlinien veröffentlicht, in der sie durchgehend auf quantitative Faktoren, das heißt insbesondere die Marktlage und den Marktanteil, abstellt (Streinz, Rn. 1084 m. w. N.; Ha‐ ratsch/ Koenig/ Pechstein, Rn. 1098). 68 5 Wettbewerbsfreiheit <?page no="69"?> Dieses Verbot bezieht sich sowohl auf horizontale als auch auf verti‐ kale Vereinbarungen. Zu den sogenannten typischen horizontalen wettbe‐ werbsbeschränkenden Absprachen (und abgestimmte Verhaltensweisen) zwischen konkurrierenden Unternehmen zählen dabei insbesondere Preis-, Kunden-, Mengen- und Gebietsabsprachen. So unterliegt etwa die Vereinbarung aufeinander abgestimmter Neuwagenpreise zwischen zwei Automobilherstellern als ein klassisches Preiskartell stets dem Verbot nach Art. 101 AEUV. Demgegenüber sind vertikale Wettbewerbsbeschrän‐ kungen Absprachen zwischen Unternehmen innerhalb eines Absatzsystems. Zu den klassischen vertikalen wettbewerbsbeschränkenden Absprachen gehören die Preis- und Konditionenbindungen von Vertragspartnern nachgeordneter Handelsstufen und die sogenannten Ausschließlichkeitsbindungen. Bestimmte Verhaltensweisen können allerdings vom Kartellverbot ausge‐ nommen werden. Ausnahmen vom grundsätzlichen Kartellverbot sind so, allgemein formuliert, in Art. 101 Abs. 3 AEUV enthalten. Danach sind ein‐ zelne Vereinbarungen oder Typen von Vereinbarungen vom Kartellverbot „ex lege“ ausgenommen, wenn die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Es geht dabei um Maßnahmen, die insbesondere zur Verbesserung der Warenerzeugung oder Warenverteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, das heißt, wenn diese an sich wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen auch oder sogar überwiegend positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und für die Verbraucher haben und für einen wesentlichen Teil der betroffenen Waren der Wettbewerb nicht ausgeschaltet werden kann. Nach Art. 103 AEUV besteht daher die Möglichkeit, die Bestimmun‐ gen des Art. 101 AEUV auf einzelne unternehmerische Verhaltensweisen nicht anzuwenden. Nach der Kartellverfahrens-VO 1/ 2003 (Kartell-VO) sind solche Verhaltensweisen ohne weiteres vom Kartellverbot ausgenommen (Art. 1 Abs. 2 VO 1/ 2003/ EG; Prinzip der Legalausnahme). Es bedarf demnach keiner vorherigen Anmeldung und Prüfung durch die Kommission. Das bedeutet allerdings, dass die Unternehmen selbst prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für eine Freistellung gegeben sind. Sie tragen somit das Risiko, dass eine von ihnen für zulässig gehaltene Vereinbarung später von den Kartellbehörden und den Gerichten als ein Kartellrechtsverstoß angesehen werden könnte. Da Einzelfreistellungen nach der Kartell-VO 1/ 2003/ EG nicht (mehr) erteilt werden (in bestimmten Fällen können Unter‐ nehmen die Kommission um ein informelles Beratungsschreiben bitten), 5.2 Kartellverbot 69 <?page no="70"?> sind demzufolge die Gruppenfreistellungsverordnungen von großer Bedeu‐ tung, die ebenfalls unmittelbar anwendbar sind. Der Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 3 AEUV wird also durch eine Reihe an speziellen Grup‐ penfreistellungsverordnungen (GVO) konkretisiert. Praktisch bedeutsam ist hier insbesondere die Vertikal-GVO Nr. 330/ 2010, die sich auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltenswei‐ sen bezieht. Kartellrechtliche Verstöße können gravierende Rechtsfolgen nach sich ziehen. Die wichtigste zivilrechtliche Rechtsfolge ist die Nichtigkeit der betreffenden Vereinbarung. Öffentlich-rechtlich kann das Verbot zu ver‐ waltungsrechtlichen Sanktionen seitens der Kommission führen. Einzelhei‐ ten regelt die Kartell-VO 1/ 2003/ EG (zum Beispiel Abstellungsanordnung, Zwangsgeld, Bußgeld, Art. 7, 23, 24 VO 1/ 2003). Nach deutschem Recht können auch Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. Art. 101 AEUV sowie aus § 1004 BGB) begründet sein (Streinz, Rn. 1090 ff. m. w. N.). 5.3 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Eine Gefahr für die Aufrechterhaltung wettbewerblicher Konkurrenzsitua‐ tionen kann aber nicht nur von Unternehmensvereinbarungen, sondern auch von dem Verhalten einzelner, am Wirtschaftsleben Beteiligter ausge‐ hen. Haben diese eine überragende Stellung, können sie Preise und Markt‐ bedingungen diktieren, andere Mitbewerber im Preiskampf unterbieten oder vom Markt drängen. Deshalb verbietet Art. 102 AEUV die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unterneh‐ men, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen den Mitglied‐ staaten zu beeinträchtigen. Mit anderen Worten sollen Wettbewerbsverzer‐ rungen durch marktbeherrschende Unternehmen, also durch solche, die in der Lage sind, auf die Preisgestaltung beziehungsweise Angebots- und Nachfragesteuerung zu ihren eigenen Gunsten einzuwirken, im Wege der Missbrauchsaufsicht verhindert werden. Ebenso wie das Kartellverbot ist dieses ergänzende Missbrauchsverbot unmittelbar und direkt anwendbar. Es besteht allerdings in diesen Fällen keine Möglichkeit einer Freistellung oder Genehmigung. 70 5 Wettbewerbsfreiheit <?page no="71"?> Maßgeblich für das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung sind die Marktanteile, die ein oder mehrere Unternehmen (Oligopole) besitzen. Zur Feststellung dieser Marktanteile muss zunächst der in geographischer und produktbezogener Hinsicht „relevante Markt“ ermittelt werden, bevor der Marktanteil des betreffenden Unternehmens auf diesem Markt festge‐ stellt werden kann. Der EuGH nimmt eine marktbeherrschende Stellung in der Regel bei einem Marktanteil von deutlich über 40 % an (Streinz, Rn. 1099-m. w. N.). Ein Missbrauch liegt dann vor, wenn der Wettbewerb auf einem bestimmten Markt durch die Verwendung von Mitteln behindert wird, die von denen eines normalen Wettbewerbs deutlich abweichen (EuGH, NJW 1990, 1410 - Alsatel/ Novasam). Nach den Regelbeispielen in Art. 102 Abs. 2 AEUV kann ein Missbrauch bestehen bei der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unange‐ messenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedin‐ gungen, bei der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher, bei der diskriminie‐ renden Behandlung einzelner Handelspartner sowie bei der Vereinbarung zusätzlicher Verpflichtungen des Vertragspartners, die mit dem eigentlichen Vertragsgegenstand nichts zu tun haben. Diese Verhaltensweisen beschreiben den sogenannten Ausbeutungs‐ missbrauch („exploitative abuse“). Eine andere Form ist der Behinde‐ rungsmissbrauch („exclusionary abuse“), zum Beispiel in Form einer Kampfpreisunterbietung oder einer willkürlichen Geschäftsverweigerung, etwa einer Lieferverweigerung von Ersatzteilen an unabhängige Werkstät‐ ten. Erforderlich ist weiterhin ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der marktbeherrschenden Stellung und dem missbräuchlichen Verhalten (EuGH Slg. 1996 I, 6007 ff.). Zuständig für die Einhaltung der kartellrechtlichen Regeln in Art. 102 AEUV ist auch hier die Kommission. Sie kann die betreffenden Unternehmen verpflichten, die festgestellte Zuwiderhandlung abzustellen. Bei vorsätzli‐ chen oder fahrlässigen Verstößen kann sie zudem Geldbußen verhängen. Die 5.3 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung 71 <?page no="72"?> von den Verstößen gegen die Art. 101, 102 AEUV betroffenen Unternehmen können zivilrechtlich von den handelnden Unternehmen Unterlassung und Schadensersatz verlangen. 5.4 Fusionskontrolle Da das Bestehen eines unverfälschten Wettbewerbs nicht nur durch Kar‐ tellbildung und Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, sondern auch durch Zusammenschlüsse vorher miteinander konkurrierender Un‐ ternehmen gefährdet werden kann, stellt die Fusionskontrolle (Zusam‐ menschlusskontrolle) ein wichtiges Instrument der Wettbewerbssicherung dar. Die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen mit unionswei‐ ter Bedeutung obliegt allein der Europäischen Kommission. Wesentliche Rechtsgrundlage ist die (Europäische) Fusionskontrollverordnung (FK-VO 139/ 2004, ABl L 24). Diese findet Anwendung auf alle Unternehmemszu‐ sammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung (Kriterium: Umsätze der beteiligten Unternehmen, Art. 1 i. V. m. Art. 5 FK-VO). Danach bedürfen alle Unternehmenszusammenschlüsse, auf die die dort genannten Kriterien zutreffen, der Genehmigung durch die Kommission, sofern sie den Wettbe‐ werb beeinträchtigen. Die Einzelheiten des erforderlichen Verfahrens, das mit der Anmeldung des Zusammenschlusses bei der Kommission beginnt, regelt die FK-VO. Wegen der relativ hohen Umsatzschwellen dürfte der Erwerb von mittel‐ ständischen Unternehmen (und natürlich auch Start-ups) durch Großunter‐ nehmen weiter nach der nationalen Fusionskontrolle zu beurteilen sein (Streinz, Rn. 1104 ff.). Die Kommission untersagt den Zusammenschluss, wenn durch ihn ein wirksamer Wettbewerb im Binnenmarkt erheblich beeinträchtigt wird. In der Praxis sind Untersagungsverfügungen bisher allerdings eher selten gewesen. 72 5 Wettbewerbsfreiheit <?page no="75"?> Teil III Start-up-relevantes EU-Recht In diesem dritten Teil werden nun ausgewählte, von der EU harmonisierte, rechtliche Bereiche dargestellt, mit denen Start-up-Verantwortliche in der Regel am häufigsten konfrontiert werden, wenn sie internationalisieren wollen. Dies sind vor allem das Datenschutzrecht und das Preisrecht. Ab‐ schließend wird noch ein Blick auf das aktuelle KI-Recht der EU geworfen. <?page no="77"?> 6 Datenschutzrecht 6.1 Einleitung Das Thema Datenschutz ist vor allem mit Inkrafttreten der Verordnung (EU) 2016/ 679 (Europäische Datenschutz-Grundverordnung, DS-GVO) am 25.05.2018, die unter anderem das bis dahin in Deutschland geltende Bun‐ desdatenschutzgesetz (BDSG) ersetzt hat, von hoher praktischer Relevanz. Zwar hat es zahlreiche der in der DS-GVO enthaltenen datenschutzrechtli‐ chen Bestimmungen und Prinzipien schon vorher gegeben, jedoch wurden in einigen Punkten die Anforderungen der Verantwortlichen, das heißt derjenigen natürlichen und juristischen Personen, Behörden, Einrichtungen oder anderen Stellen, die über die Datenverarbeitung entscheiden (Art. 4 Nr. 7 DS-GVO) und vor allem die Sanktionen bei Verstößen (besonders der Bußgeldkatalog) im Falle von Datenschutzverletzungen erheblich ver‐ schärft. Die Mehrzahl der Unternehmen hat spätestens ab diesem Zeitpunkt erkannt, dass die Einhaltung von datenschutzrechtlichen Regelungen nicht nur aus „Prestige‐ gründen“ erfolgen sollte. Beim Datenschutz geht es um den Schutz des Bürgers vor Beeinträchtigun‐ gen seiner Privatsphäre durch Erhebung, Speicherung oder Weitergabe von Daten, die seine Person betreffen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) muss jedermann als Ausdruck seiner Würde (BVerfGE 27, 1 (6 ff.) = NJW 1969, 1707 - Mikrozensus) als frei denkendes und handelndes Individuum selbst entscheiden können, welche persönlichen Daten wem, wann und wie zugänglich sein sollen (Volkszäh‐ lungsurteil, BVerfGE 65, 1 (41 ff.) = NJW 1984, S. 419; Lewinski/ Rüpke/ Eckhardt, § 2, Rn. 64 ff.). Das Bundesverfassungsgericht leitet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem allgemeinen Persönlichkeits‐ recht des Einzelnen nach Art.-1 Abs.-1, 2 Abs.-1 GG ab. Der Einzelne soll gegen jede Verwendung seiner persönlichen Daten grundsätzlich geschützt werden. Anknüpfungspunkt des BVerfG ist dabei nicht das Recht des Einzelnen auf Achtung seines Privatlebens, sondern auf seine Datenhoheit als Bestandteil seiner individuellen Entfaltung. In der Folgezeit hat sich das BVerfG in zahlreichen weiteren Entscheidungen mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung befasst und dieses <?page no="78"?> Grundrecht konkretisiert und fortentwickelt (BVerfG v. 02.03.2010, BVerfGE 125, 260 - „Vorratsdatenspeicherung“; Lewinski/ Rüpke/ Eckhardt, § 2, Rn. 90 ff.). Das Datenschutzrecht ist ein komplexes Rechtsgebiet, das aus einer Vielzahl an unterschiedlichen Regelungen auf unterschiedlichen Rege‐ lungsebenen besteht. Mit den nationalen verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Datenschutz und dem Primärrecht der EU, vor allem mit der EU-Grundrechte-Charta (Art. 8 GRCh) und der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates (Art. 8 EMRK), wird ein international grundrechtliches Schutzniveau ge‐ währleistet. Die wesentliche Rechtsgrundlage für den Datenschutz in der EU bildet heute die Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO), die als Verordnung (Art. 288 AEUV) unmittelbar anwendbar und allgemein gültig ist und einen einheitlichen Datenschutzstandard in sämtlichen EU-Mitgliedstaaten schaf‐ fen soll. Sie enthält allerdings eine Reihe an Regelungen, den sogenannten Öffnungsklauseln, die die Mitgliedstaaten weiter ergänzen oder konkreti‐ sieren müssen. Die konkreten nationalen Regelungen müssen sich dabei im Rahmen der in der DS-GVO enthaltenen (allgemeineren) Bestimmungen bewegen. In Deutschland wurde mit dem BDSG-neu ein derartiges Regel‐ werk mit Ergänzungen und Ausnahmeregelungen zur DS-GVO geschaffen. Die DS-GVO mit ihrem Anwendungsvorrang bildet dabei stets den Ausgangspunkt für eine datenschutzrechtliche Prüfung. Zu beachten ist, dass der Gegenstand der DS-GVO (und der anderen Bestimmungen im Datenschutz) trotz des missverständlichen Begriffs „Datenschutz“ nicht der Schutz von Daten ist, sondern der Schutz der Personen, selbst entscheiden zu können, was mit ihren Daten geschieht. 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung Anwendungsbereich Die vorrangige Frage im Falle der Verarbeitung von Daten ist zunächst die der Anwendbarkeit der DS-GVO. In sachlicher Hinsicht stehen perso‐ nenbezogene Daten im Mittelpunkt. Bei Daten handelt es sich dabei um 78 6 Datenschutzrecht <?page no="79"?> sämtliche Informationen (Wörter, Zahlen etc.), die dem Zweck einer Daten‐ verarbeitung dienen. Ein Personenbezug ist nach der Definition des Art. 4 Nr. 1 DS-GVO gegeben, wenn sich die Informationen „auf eine identifizierte Person oder auf eine identifizierbare (natürliche) Person“ beziehen. Eine Person ist immer dann identifiziert, wenn sich ihre Identität direkt aus den vorhandenen Daten selbst ergibt. Die Information muss im konkreten Fall jedenfalls so beschaffen sein, dass sich unmittelbar aus ihr selbst die Identität der betroffenen Person ableiten lässt. Regelmäßig handelt es sich hier um den Namen, die Anschrift oder um das Geburtsdatum (EuGH, v. 19.10.2016 = DuD 2017, 42 (43) - Breyer). Identifi‐ zierbar ist eine Person dagegen dann, wenn grundsätzlich die Möglichkeit besteht, ihre Identität festzustellen. Mögliche Identifizierungsmerkmale können wiederum der Name sein, aber auch alle anderen Arten von Daten, wie etwa Telefon- oder Personalausweisnummer. Auch eine Kombination verschiedener Kriterien, wie zum Beispiel Alter, Beruf und Wohnort oder die IP-Adresse, können zur Identifizierung einer Person führen, wenn sie im konkreten Fall ihre Wiedererkennung ermöglichen (Tinnefeld/ Buchner et al., S.-99). Art. 4 Nr. 2 DS-GVO definiert den Begriff „Verarbeitung“ als jeden, mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgehensreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten und nennt dabei beispielhaft verschiedene Formen der Verarbeitung, wie etwa das Erheben, das Erfassen, das Speichern und das Verwenden von Daten. Unter Erheben versteht man das Beschaffen von Daten über einen Betroffenen, so dass diese in den Verfügungsbereich des Verantwortlichen gelangen; eine tatsächliche Kenntnisnahme vom Inhalt der Daten ist dafür nicht erforderlich. Ein Erfassen bedeutet das kontinuierliche Aufzeichnen eines Datenstroms. Ein Speichern liegt dann vor, wenn der Informationsge‐ halt der Daten auf einem Datenträger in einer Weise verkörpert wird, dass er später wieder verarbeitet oder genutzt werden kann. Unter Verwenden fallen schließlich alle sonstigen in Art. 4 Nr. 2 DS-GVO genannten Hand‐ lungsformen. Der Verarbeitungsbegriff ist technikneutral, so dass auch das Lesen eines Papierdokuments oder das manuelle Notieren personenbezoge‐ ner Daten ein Verarbeiten im Sinne der DS-GVO darstellt. Dabei ist die DS-GVO dann anzuwenden, wenn eine ganz oder teilweise automatisierte 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 79 <?page no="80"?> Verarbeitung von personenbezogenen Daten sowie auch eine nichtautoma‐ tisierte Verarbeitung erfolgen, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. Im Einzelnen zählen hierzu: • Erheben und Erfassen, • Organisation und Ordnen, • Speicherung, • Anpassung und Veränderung, • Auslesen und Abfragen, • Verwendung, • Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung und sonstige Bereitstel‐ lung, • Abgleich und Verknüpfung, • Einschränkung sowie • das Löschen und Vernichtung (der personenbezogenen Daten). Dieser Beispielkatalog zeigt deutlich, dass im Prinzip jegliches Tun mit per‐ sonenbezogenen Daten eine Verarbeitung im Sinne der DS-GVO darstellen kann (Tinnefeld/ Buchner et al., S.-107 ff.). Art. 2 Abs. 2 DS-GVO sieht eine Reihe von Ausnahmen vor, in denen die DS-GVO keine Anwendung findet. Zu beachten ist vor allem die Regelung in Art. 2 Abs. 2 lit. c DS-GVO, nach der bei der Verarbeitung von Daten durch natürliche Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten die datenschutzrechtlichen Regelungen nicht zu be‐ achten sind. Eine besondere Kategorie an personenbezogenen Daten sind Gesundheitsdaten und solche zur sexuellen Orientierung. Da diese Daten als besonders sensibel eingestuft werden, gelten für die Zulässigkeit ihrer Verarbeitung besondere Anforderungen (Art.-9 DS-GVO). Neben dem eben vorgestellten sachlichen Anwendungsbereich ist auch der persönliche Anwendungsbereich weit gefasst. Dieser ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1, 4 Nr. 1 DS-GVO. Erfasst werden alle Träger von Persönlich‐ keitsrechten, allerdings nicht juristische Personen, bei denen es naturgemäß keine Privatsphäre gibt. Für die Feststellung, wen die Rechte und Pflichten der DS-GVO treffen, muss die Person des „Verantwortlichen“ bestimmt werden. Der Begriff „Verantwortlicher“ wird in Art. 4 Nr. 7 DS-GVO legal definiert. Er umfasst jede natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere 80 6 Datenschutzrecht <?page no="81"?> Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet. Maßgebend ist letztlich noch der räumliche Anwendungsbereich der DS-GVO, der sich nach zwei Prinzipien bestimmt, zum einen nach dem Niederlassungsprinzip (Art. 3 Abs. 1 DS-GVO) und zum anderen nach dem Marktortprinzip (Art.-3 Abs.-2 DS-GVO). Das Niederlassungsprinzip stellt darauf ab, dass die verantwortliche Stelle oder der Auftragsverarbeiter einen Sitz oder eine Niederlassung in der EU hat. Unter einer Niederlassung versteht die DS-GVO einen Ort, an welchem eine effektive und tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit durch eine feste Einrichtung in der EU erfolgt. Ob es sich hierbei um eine Tochtergesellschaft oder nur um eine Zweigstelle handelt, spielt dabei keine Rolle. Innerhalb dieser Niederlassung muss die Verarbeitung der personenbezogenen Daten im Rahmen der Tätigkeit der in der EU angesiedelten Niederlassung erfol‐ gen. Ob die Daten tastsächlich innerhalb dieser Niederlassung verarbeitet werden, ist unerheblich. Die DS-GVO findet auch dann Anwendung, wenn die Verarbeitungsvorgänge zwar außerhalb der EU, jedoch im Rahmen der Tätigkeit einer Niederlassung in der EU stattfinden. Eine Anwendung der DS-GVO kann sich für Verantwortliche und Auftragsverarbeiter, aber auch dann ergeben, wenn sie keinen Sitz oder keine Niederlassung in der EU haben, jedoch Waren oder Dienstleistungen in der EU ansässigen Personen anbieten oder das Verhalten von Personen innerhalb der EU beobachten. Durch dieses sogenannte Marktortprinzip wird die Geltung der DSGVO somit auch auf nicht in der EU ansässige Unternehmen ausgeweitert (Le‐ winski/ Rüpke/ Eckhardt, § 9, Rn. 4 ff.; Zerres/ Hirtz, S.-128 ff.). Regelungsprinzipien Bereits vor der Einführung der DS-GVO war das deutsche Datenschutzrecht von einer ganzen Reihe an Regelungsgrundsätzen durchzogen und geprägt, die aber nur teilweise einen Niederschlag in den einzelnen Vorschriften des BDSG fanden, im Übrigen aber in Auslegungsfragen als Richtschnur zum Tragen kamen. Ihren Ursprung haben sie in völkerrechtlichen Quellen, in europarechtlichen Quellen, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs‐ 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 81 <?page no="82"?> gerichts zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, insbesondere zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sowie auch in der bundesdeutschen Gesetzgebung. Mit der Einführung der DS-GVO haben nun zahlreiche der tragenden Grundsätze durch Art. 5 DS-GVO unmittelbare Geltung in Deutschland erlangt. Diesen Regelungsprinzipien sind gemeinsam der besondere Schutz und die Gewährleistung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in einer Umgebung des stetig wachsenden Datenaufkom‐ mens und Datenverkehrs und der zunehmenden Entwicklung hin zur allge‐ meinen Datenverarbeitung und Datenvernetzung gemein. Dieses Anliegen wird unterstützt durch schärfere Sanktionen in der DS-GVO im Falle von Datenschutzverletzungen. So können nach Art. 83 Abs. 5 DS-GVO Verstöße gegen die Regelungsgrundsätze aus Art. 5 DS-GVO mit Geldbußen bis zu 20 Mio. Euro beziehungsweise bei Un‐ ternehmen alternativ mit 4 % des jährlichen weltweiten Jahresumsatzes geahndet werden. Art. 6 Abs. 1 DS-GVO geht im Zusammenhang mit Art 8 Abs. 1 Satz 1 GRCh im Umgang mit personenbezogenen Daten von einem „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“ aus. Danach ist jede Datenverarbeitung grundsätzlich (erst einmal) verboten, soweit nicht der Betroffene einwilligt oder eine explizite Rechtsgrundlage diese erlaubt. Ein anschauliches Beispiel für einen solchen Erlaubnistatbestand ist etwa Art. 6 Abs. 1 lit. b DS-GVO. Danach darf der Betreiber eines Onlineshops den Vor- und Zunamen eines Kunden sowie dessen Adresse verwenden, um die bestellte Ware zu übersenden, denn diese Datenverarbeitung war „für die Erfüllung des Vertrages erforderlich“. Neben diesen Legitimationsgrundlagen zur Verarbeitung von personenbe‐ zogenen Daten existieren eine ganze Reihe an weiteren Grundprinzipien, welche neben allen anderen datenschutzrechtlichen Vorschriften stets An‐ wendung finden und bei jeder Entscheidung und Verarbeitung von Daten zu berücksichtigen sind. Diese Regelungsprinzipien werden aufgrund ihrer besonderen Bedeutung im Folgenden vorgestellt. Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit, der Verarbeitung nach Treu und Glauben und Transparenz (Art. 5 Abs. 1 lit. a DS-GVO) besagt, dass perso‐ nenbezogene Daten „auf rechtmäßige Weise nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person transparenten Weise“ verarbeitet werden müssen. Mit dem Gebot der Rechtmäßigkeit wird im Prinzip wiederholt, dass 82 6 Datenschutzrecht <?page no="83"?> jede Datenverarbeitung entweder auf einer Einwilligung der betroffenen Person oder aber auf einer bestimmten anderweitigen Rechtsgrundlage beruhen muss (Art. 6 Abs. 1 DS-GVO). Die Vorgabe einer Datenverarbeitung nach Treu und Glauben ist als ein Auffangtatbestand zu verstehen, der dann zum Tragen kommt, wenn eine Verarbeitung personenbezogener Daten trotz Einhaltung für die betroffene Person eine unzumutbare Härte bedeuten würde. Das Gebot der Transparenz zielt zum einen auf einen Ausschluss heimlicher Datenverarbeitung und zum anderen auf eine umfassende Infor‐ mation der betroffenen Personen über die Verarbeitung der sie betreffenden Daten ab. Nach dem Grundsatz der Zweckbindung (Art.-5 Abs.-1 lit. b DS-GVO) dürfen personenbezogene Daten nur im Rahmen eines festgelegten, eindeu‐ tigen und legitimen Zwecks erhoben und verarbeitet werden. Darüber hin‐ aus dürfen diese nicht in einer, mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden. Damit scheidet eine Verarbeitung für noch unbekannte Zwecke „auf Vorrat“ aus; eine Zweckänderung ist nur in den Grenzen des Art. 6 Abs. 4 DS-GVO oder mit Einwilligung des Betroffenen zulässig (Tinnefeld/ Buchner et al., S.-114 ff.). Nach dem Grundsatz der Datenminimierung (Art. 5 Abs. 1 lit. c DS-GVO) soll die Verarbeitung personenbezogener Daten dem Zweck an‐ gemessen und nur auf das für die jeweiligen Zwecke notwendige Maß beschränkt sein. Danach sind personenbezogene Daten nur dann zu verar‐ beiten, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise auch durch andere Mittel erreicht werden könnte. Nach dem Grundsatz der Richtigkeit (Art. 5 Abs. 1 lit. d DS-GVO) müssen personenbezogene Daten sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein. Der Verantwortliche muss nach dieser Rege‐ lung alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, damit neben überflüssigen auch unrichtig verarbeitete personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden. Nach dem Grundsatz der Speicherbegrenzung (Art. 5 Abs. 1 lit. e DS-GVO), einer speziellen Ausprägung des Grundsatzes der Datenminimie‐ rung in zeitlicher Hinsicht, müssen personenbezogene Daten in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Person nur so lange ermöglicht, wie es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist. Der Grundsatz der Datensicherheit (Integrität und Vertraulichkeit) nach Art. 5 Abs. 1 lit. f DS-GVO besagt, dass personenbezogene Daten in 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 83 <?page no="84"?> einer Weise verarbeitet werden, die eine angemessene Sicherheit dieser Daten gewährleistet. Durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen soll so sichergestellt werden, dass der Schutz vor unbefugter oder unrechtmäßiger Verarbeitung, vor unbeabsichtigtem Verlust, unbeab‐ sichtigter Zerstörung oder unbeabsichtigter Schädigung gewährleistet wird. Nach Art. 5 Abs. 2 DS-GVO ist der Verantwortliche für die Einhaltung der oben aufgeführten Grundsätze verantwortlich und muss deren Einhaltung nachweisen können (Zerres/ Hirtz, S.-130-ff.). Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten Einführung Aus dem in Art. 5 Abs. 1 lit. a DS-GVO enthaltenen Grundprinzip folgt, dass personenbezogene Daten nur auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden dürfen. Art. 6 Abs. 1 lit. a bis f DS-GVO nennt sechs Bedingungen für eine solche Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten und begründet damit ein Verbot mit Zulässigkeitstatbeständen. Zwischen den in Art. 6 Abs. 1 DS-GVO genannten Regelungen existiert keine Rangfolge. Neben diesen in Art. 6 Abs. 1 DS-GVO normierten Bedingungen kennt das Datenschutzrecht weitere Ausnahmen, nach denen die Verarbeitung personenbezogener Daten erlaubt ist. In diesem Zusammenhang sei hier auf die sogenannte Auftragsverarbeitung (Art. 28 DS-GVO) hingewiesen, bei der es um die Auslagerung von Datenverar‐ beitungsprozessen auf externe Dienstleister geht, zum Beispiel die Beauftragung eines Personalberatungsunternehmens, das im Auftrag eines Unternehmens (Verantwortlicher) eine Vorauswahl an geeigneten Kandidaten für eine, in diesem Unternehmen zu besetzende Stelle vornehmen soll. Es gibt viele weitere typische Fälle, in denen die Beauftragung von externen Auftragnehmern eine Auftrags‐ datenverarbeitung darstellt, insbesondere Dienstleister, die Lohn- und Gehalts‐ abrechnungen durchführen, Call-Center, die beispielsweise Zufriedenheitsabfra‐ gen oder Kontaktdatenerhebungen vornehmen oder Marketing-Agenturen, die Newsletter oder Webmails erstellen und versenden. Für die Rechtmäßigkeit einer solchen Auftragsverarbeitung ist zu beachten, dass zwischen dem Verant‐ wortlichen und dem Dienstleister als Auftragsverarbeiter ein Vertrag (Art. 28 Abs. 3 DS-GVO) abgeschlossen wird. Die weiteren Voraussetzungen ergeben sich aus Art. 28 DS-GVO. So ist der Aufragnehmer vom jeweils Verantwortlichen sorgfältig auszuwählen und dieser muss sich auch davon überzeugen, dass dieser 84 6 Datenschutzrecht <?page no="85"?> die entsprechenden technischen und organisatorischen Maßnahmen (Art. 32 DS-GVO) zum Schutz personenbezogener Daten eingerichtet hat und diese entsprechend einhält (Tinnefeld/ Buchner et al., S.-148 ff.). Handelt es sich um eine Verarbeitung besonderer Kategorien personenbe‐ zogener Daten, zum Beispiel Gesundheitsdaten, dann gilt Art. 9 DS-GVO als lex specialis im Verhältnis zu Art.-6 DS-GVO. In der zentralen Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 DS-GVO soll nun auf vier praxisrelevante Bedingungen, nach denen eine Verarbeitung personenbezo‐ gener Daten zulässig ist, näher eingegangen werden. Einwilligung (Art.-6 Abs.-1 lit. a DS-GVO) Art. 6 Abs. 1 lit. a DS-GVO nennt zunächst als Rechtfertigungsgrund die Einwilligung des Betroffenen in die Datenverarbeitung. Eine solche Einwil‐ ligung wird in der Praxis oftmals fälschlicherweise als ein „Allheilmittel“ angesehen, um, wie es mitunter in der täglichen Praxis zu beobachten ist, die „absurdesten“ Datenverarbeitungen rechtfertigen zu können. Hierbei wird häufig nicht beachtet, dass eine Einwilligung in diesem Sinne zu ihrer Wirksamkeit zahlreichen formalen Anforderungen gerecht werden muss. Die bisherigen Erfahrungen aus der Praxis lassen vermuten, dass zahlreiche der derzeit kursierenden Einwilligungsformulierungen im Internet sowie auch „in der analogen Welt“ vermutlich einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten. Nach der Legaldefinition in Art. 4 Nr. 11 DSGVO stellt eine Einwilligung „jede freiwillige, für den bestimmten Fall, in informierter Weise und un‐ missverständlich abgegebene Willensbekundung in Form einer Erklärung oder einer sonstigen eindeutigen bestätigenden Handlung“ dar, „mit der die betroffene Person zu verstehen gibt, dass sie mit der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten einverstanden ist“. Diese Legaldefinition bedarf wegen der Verwendung bestimmter Begriff‐ lichkeiten einer näheren Erläuterung, um im konkreten Fall den Anfor‐ derungen an eine wirksame Einwilligung Rechnung tragen zu können. Erwägungsgrund 42 zur DS-GVO enthält hierzu nähere Anhaltspunkte. Es muss sich dabei um eine freiwillige Entscheidung handeln, das heißt, dass die betroffene Person eine echte oder freie Wahl hat und somit in der Lage ist, die Einwilligung zu verweigern oder zurückzuziehen, ohne Nachteile zu erleiden. So darf beispielsweise ein Kreditinstitut nicht die Einwilligung für 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 85 <?page no="86"?> die Zusendung eines Newsletters an die Vergabe eines Kredites knüpfen, da diese dann nicht mehr als freiwillig angesehen werden könnte (Art. 7 DS-GVO zum Kopplungsverbot). Voraussetzung für das Tatbestandsmerkmal „in informierter Weise“ ist, dass die betroffene Person zumindest weiß, wer die verantwortliche Stelle überhaupt ist und für welchen Zweck die Daten verarbeitet werden sollen. Die betroffene Person muss in die Lage versetzt werden zu wissen, dass und in welchem Umfang der Datenverarbeitung sie ihre Einwilligung erteilt. Eine wirksame Einwilligung kann weiterhin nur zur Verarbeitung personenbezogener Daten für einen oder mehrere bestimme Zwecke erteilt werden; hier zeigt sich deutlich der vorher erwähnte Grundsatz der Zweckbindung nach Art.-5 Abs.-1 lit. b DSGVO. Die Einwilligung muss sich zudem auf eine bestimmte Verarbeitung von Daten beziehen. Eine pauschale Einwilligung, welche beispielsweise die Datenverarbeitung ganz allgemein zu jeglichen Zwecken erlauben soll, ist unwirksam. Letztlich erfordert eine wirksame Einwilligung auch, dass diese unmissverständlich durch die betroffene Person zum Ausdruck gebracht wird. Dies kann durch eine ausdrückliche Erklärung oder durch eine kon‐ kludente, das heißt eine sonstige eindeutig bestätigende Handlung erfolgen. So ist zum Beispiel die Übergabe einer Visitenkarte als eine konkludente Einwilligung für den anderen zu verstehen, die Daten speichern und die auf der Karte abgedruckten Kontaktdaten zu Geschäftsanbahnungszwecken nutzen zu dürfen. Nicht von dieser Einwilligung umfasst ist dabei jedoch die Nutzung dieser Daten zu Werbezwecken. Aus den genannten Voraus‐ setzungen ergibt sich, dass die Abgabe einer Einwilligung ein sogenanntes Opt-in, also ein aktives Tun der betroffenen Person voraussetzt. Mündliche Erklärungen reichen zwar grundsätzlich aus, jedoch hat ein Verantwortli‐ cher deren Vorliegen nach Art. 7 Abs. 1 DS-GVO gegenüber nachzuweisen. Mündliche Einwilligungen sind damit faktisch als nicht existent anzusehen. Ein Stillschweigen oder eine Untätigkeit stellen keine Einwilligung dar. So reicht beispielsweise ein vorangekreuztes Kästchen nicht für eine wirksame Einwilligung aus. Aus dem Grund dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit zahlrei‐ che „Einwilligungen“ in der Praxis nicht rechtmäßig sein, was zur Unzulässigkeit der Datenverarbeitung führt und damit einen Datenschutzverstoß des Verant‐ 86 6 Datenschutzrecht <?page no="87"?> wortlichen bedeutet, sofern sich dieser nicht auf einen anderen Rechtfertigungs‐ grund berufen kann (Tinnefeld/ Buchner et. al., S.-290 ff.; Zerres/ Hirtz, S.-133 f.). Die Wirksamkeit einer Einwilligung, wie hier etwa für das „Verarbeiten“ von Marketingdaten, erfordert neben Art. 6 DS-GVO zudem die Berücksich‐ tigung der Bedingungen in Art. 7 DS-GVO. Hier ist insbesondere auf das Recht des Betroffenen nach Art. 7 Abs. 3 DS-GVO hinzuweisen. So hat jede betroffene Person, wie oben erwähnt, das Recht, die Einwilligung jederzeit mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen; hierüber ist diese auch vom Verantwortlichen vorab zu informieren; von geringerer Relevanz ist Art. 8 DS-GVO, der speziell für die Einwilligung eines Kindes gilt. In Anbetracht der nicht unerheblichen Anforderungen ist also eine Einwilli‐ gung - entgegen eines in der Praxis häufig festzustellenden „Irrglaubens“ - nicht grundsätzlich die beste und einfachste Rechtsgrundlage, so dass es für verantwortliche Stellen von Vorteil ist, wenn sie sich (noch) auf eine andere Bedingung in Art. 6 Abs. 1 DS-GVO beziehen können. Hinzu kommt, dass sich bei neuen und komplexen technologischen Entwicklungen, bei denen die Verantwortlichen selbst noch nicht einmal wissen, wofür sie die erhobenen Daten verwenden (Stichwort „Big Data“), die erforderliche Infor‐ miertheit des Betroffenen für eine wirksame Einwilligung als problematisch erweisen kann. Mit Widerruf der Einwilligung ist jede weitere Verarbeitung der Daten rechtswidrig. Danach dürften von dieser Person keine weiteren Daten, etwa zu Marke‐ ting-Zwecken, mehr genutzt werden. Das kann sich in der Praxis allerdings oftmals schwierig gestalten, da im Rahmen einer Datenverarbeitung häufig ein ganzer Pool an Daten entstehen kann und es dann nicht immer einfach ist, die Daten dieser speziellen Person „herauszufiltern“. Für solche Fälle empfiehlt es sich, eine „Blacklist“ zu erstellen, auf welcher alle Personen, E-Mail-Adressen, Anschriften, Telefonnummern etc. aufgeführt werden, welche unter keinen Umständen mehr zu Zwecken des Marketing „getrackt“ oder kontaktiert werden dürfen. Derartige Handlungen stellen bei einem Widerruf der Einwilligung einen Verstoß gegen die DS-GVO dar und ziehen entsprechende Sanktionen nach sich (Tinnefeld/ Buchner et. al., S.-313 ff.). 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 87 <?page no="88"?> Erfüllung eines Vertrages (Art.-6 Abs.-1 lit. b DS-GVO) Nach Art. 6 Abs. 1 lit. b DS-GVO kann die Datenverarbeitung auch auf die „Erfüllung eines Vertrages“ gestützt werden. Danach ist die Verarbeitung dann rechtmäßig, wenn sie für die Erfüllung eines Vertrages, dessen Ver‐ tragspartei die betroffene Person ist oder zur Durchführung vorvertraglicher Maßnahmen erforderlich ist, sofern diese Maßnahmen auf Anfrage der betroffenen Person erfolgen. Diese Rechtsgrundlage ist für die verantwort‐ liche Stelle grundsätzlich am sichersten, da keine Widerrufs- oder Wider‐ spruchsmöglichkeiten bestehen sowie auch keine Interessensabwägung vorgenommen werden muss. Unter einem Vertrag im Sinne dieser Regelung ist jedes vertragliche Schuldverhältnis zu verstehen. Da es sich bei der DS-GVO um eine supranationale und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat der EU geltende Regelung handelt, sind die hier verwendeten Begriffe „Vertrag“ und „Erfüllung“ autonom und nicht im Sinne des deutschen BGB zu inter‐ pretieren, sondern in einem weiteren Sinne auszulegen. So sind unter dem Begriff des Vertrages auch vertragsähnliche Formen, etwa vorvert‐ ragliche Schuldverhältnisse, Gefälligkeitsverträge, einseitige Rechtsge‐ schäfte (zum Beispiel Auslobung, Gewinnzusagen) zu verstehen; nicht erfasst sind Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen. Im vorvertraglichen Bereich ist jede Maßnahme zu erfassen, die auf Nach‐ frage einer betroffenen Person erfolgt und bei welcher die betroffene Person in erkennbarer Weise den Abschluss eines Vertrages und die hierfür erforderliche Datenübermittlung zumindest für möglich halten sollte. Der Begriff der Erfüllung erfasst dabei nicht nur die Vertragserfüllung im engeren Sinne, also die Erfüllung der jeweiligen Hauptleistungs‐ pflichten, sondern auch die gesamten Nebenleistungen. Zur Frage, wann eine Datenverarbeitung zur Vertragserfüllung „erforder‐ lich“ ist, kommt es darauf an, ob es als ausreichend anzusehen ist, wenn es unter Berücksichtigung aller Beteiligten keine zumutbaren und gleicherma‐ 88 6 Datenschutzrecht <?page no="89"?> ßen geeigneten Alternativen gibt, den Vertragszweck, ohne oder jedenfalls mit einem Weniger an Datenverarbeitung zu realisieren. Dies ist anhand objektiver Kriterien zu ermitteln und lässt einen großen Interpretationsspielraum zu; nicht ausreichend für eine Vertragserfüllung in diesem Sinne ist jedenfalls die bloße Zweckdienlichkeit oder Nützlichkeit (Tinnefeld/ Buchner et. al., S. 324 ff.). Der Europäische Datenschutzausschuss (EDSA) hat im Oktober 2019 Leitlinien zur Auslegung vorgelegt. Hierbei geht es um die Frage, welche Verarbeitungen personenbezogener Daten für die Durchführung eines Vertrages erforderlich sein können und wie diese Erforderlichkeit zu bestimmen ist, damit Art. 6 Abs. 1 lit. b DS-GVO Anwendung findet. Der EDSA verfolgt in seinem Vorschlag, dem sich die Autoren anschließen, einen zweistufigen Ansatz, welcher subjektive und objektive Merkmale miteinander vereinen soll. Auf der ersten Stufe ist der vereinbarte Vertrag als Grundlage der Bestimmung der Verarbeitun‐ gen, die für die Vertragsdurchführung erforderlich ist, maßgebend. Aus objektiver Sicht sind die Zwecke des konkreten Vertrages zu ermitteln und der Leistungsgegenstand zu bestimmen. Im Anschluss erfolgt auf der zweiten Stufe eine Konkretisierung der Erforderlichkeit. Es ist die Frage zu stellen, was genau für die Durchführung zur Erfüllung der geschuldeten Leistung zwingend notwendig ist. Hierbei reicht es nicht aus, dass eine Verarbeitung personenbezogener Daten vertraglich vorgesehen ist. Es muss eine inhaltliche Beziehung zum Vertragszweck hinzukommen, welche für den Zweck der Verarbeitung einen integralen Bestandteil darstellt. Als Test, ob die Verarbeitung nun durch Art. 6 Abs. 1 lit. b DS-GVO gerechtfertigt ist, lässt sich die folgende Frage stellen: Kann der Vertrag nicht erfüllt werden, wenn die Verarbeitung nicht stattfindet? Nach den vorstehenden Ausführungen kann jedenfalls festgestellt wer‐ den, dass auch dieser Rechtfertigungstatbestand der Vertragserfüllung „nicht einfach mal so nebenbei“ zu befürworten ist und der Begriff der Erforderlichkeit eng ausgelegt werden sollte. Trotz dessen ist einer verant‐ wortlichen Stelle zu empfehlen, soweit möglich, diese Rechtsgrundlage zu prüfen und sich vorzugsweise darauf zu stützen (Zerres/ Hirtz, S.-134 ff.). Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung (Art.-6 Abs.-1 lit. c DS-GVO) Es gibt Situationen, in denen auf der einen Seite das Verbot mit Erlaub‐ nisvorbehalt im Sinne des Datenschutzes und auf der anderen Seite eine 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 89 <?page no="90"?> gesetzliche Verpflichtung zur Verarbeitung von Daten besteht, etwa dann, wenn der eigentliche Zweck der ursprünglichen Erhebung und Verarbeitung der personenbezogenen Daten entfällt und beispielsweise steuer-, handels- oder gewerberechtliche Bestimmungen der verantwortlichen Stelle die Pflicht auferlegen, die Daten für eine bestimmte Zeit aufzubewahren und gegebenenfalls auszuhändigen. Soweit also eine gesetzliche Verpflichtung zur Verarbeitung von Daten besteht, greift die Rechtsgrundlage des Art. 6 Abs.-1 lit. c DS-GVO. Nach dem Erwägungsgrund 45 zur DS-GVO bedarf es allerdings nicht für jede einzelne Verarbeitung eines spezifischen Gesetzes. So kann ein Gesetz auch als Grundlage für mehrere Verarbeitungsvorgänge dienen, wenn die Verarbeitung aufgrund einer, der verantwortlichen Stelle obliegenden recht‐ lichen Verpflichtung erfolgt oder wenn die Verarbeitung zur Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erforderlich ist. Es muss im EU-Recht oder im nationalen Recht geregelt sein, zu welchen Zwecken diese Daten verarbeitet werden dürfen. Neben der rechtlichen Verpflichtung bedarf es zur Anwendung dieser Rechtsgrundlage ebenfalls der Erforderlichkeit. Demnach muss sich aus den jeweiligen nationalen Regelungen ergeben, welche Datenverarbeitungen tatsächlich notwendig sind; regelmäßig werden dort die Datenkategorien ausdrücklich genannt (Zerres/ Hirtz, S.-136). Wahrung berechtigter Interessen (Art.-6 Abs.-1 lit. f. DS-GVO) Abschließend ist noch die Rechtsgrundlage zur „Wahrung des berechtigten Interesses“ (Art. 6 Abs. 1 lit. f DS-GVO) von Relevanz. Dieses Tatbestands‐ merkmal ermöglicht eine Datenverarbeitung aufgrund einer Interessenab‐ wägung. Adressaten sind ausschließlich private Verantwortliche; Hoheits‐ träger können sich hierauf nicht berufen. Mit dieser Regelung wird das Ziel verfolgt, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Verbraucher und der Wirtschaft herzustellen. Dieser Regelung kommt in der Praxis große Bedeutung zu, insbesondere vor dem Hintergrund, weil der Katalog des Art. 6 Abs. 1 DS-GVO abschließend ist und daher in vielen Fällen das Bedürfnis besteht, die von Art. 6 Abs. 1 lit. a bis e DS-GVO nicht erfassten Sachverhalte datenschutzrechtlich hinreichend damit „einfangen“ zu können. Der Vorteil dieser Regelung besteht auf der einen Seite in ihrer hohen Flexibilität, auf der anderen Seite geht diese Flexibilität mit einer gewissen 90 6 Datenschutzrecht <?page no="91"?> Rechtsunsicherheit einher. So kann sich ein Verantwortlicher nicht sicher sein, dass eine Interessenabwägung zu seinen Gunsten oder zu seinem Nachteil ausfällt. Es ist vorab festzuhalten, dass sich Unternehmen nicht „salopp“ auf diesen Rechtfertigungstatbestand mit der Begründung berufen können („es dient der Wahrung meiner Interessen“). Wie im Folgenden noch zu zeigen ist, bedarf es hier einer strengen Interessenabwägung zwischen den Unternehmensinteressen an eine Datenverarbeitung auf der einen Seite und den Grundrechten der betroffenen Person auf der anderen Seite. Diese Rechtsgrundlage enthält nun drei Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit die Verarbeitung zulässig ist. Voraussetzung für eine Anwendung dieser Vorschrift ist zunächst das „Vorliegen eines berechtigten Interesses“. Der Begriff ist weit gefasst und das Interesse wird lediglich durch den Begriff „berechtigt“ eingeschränkt. Somit ist jedes Interesse einer verantwortlichen Stelle oder eines Dritten berechtigt, sofern es nicht gegen eine Rechtsordnung verstößt. In den Erwägungsgründen 47 bis 49 der DS-GVO sind nicht abschließend Beispiele genannt, wann ein solches berechtigtes Interesse anzunehmen ist. Danach kann ein berechtigtes Interesse etwa dann vorliegen, wenn eine maßgeb‐ liche und angemessene Beziehung zwischen der betroffenen Person und dem Verantwortlichen besteht, zum Beispiel wenn die betroffene Person ein Kunde des Verantwortlichen ist oder in dessen Diensten steht. Auch Sicherheitsinteressen des Verantwortlichen können ein berechtig‐ tes Interesse begründen, zum Beispiel eine Videoüberwachung an einer Tankstelle. Ein berechtigtes Interesse in diesem Sinne kann auch dann angenommen werden, wenn Verantwortliche, die Teil einer Unternehmens‐ gruppe oder einer Gruppe von Einrichtungen sind, die einer zentralen Stelle zugeordnet werden können, personenbezogene Daten innerhalb dieser Unternehmensgruppe für interne Verwaltungszwecke, einschließlich der Verarbeitung personenbezogener Daten von Kunden und Beschäftigten übermitteln. So ist es beispielsweise auf Grundlage des berechtigten Interesses rechtmäßig, wenn Daten des Marketing über spezielle Kunden an eine andere Konzerngesell‐ schaft übermittelt werden, sofern die Daten für Verwaltungszwecke benötigt werden. Das klassische Beispiel hierfür ist auch die Personalabteilung, die mög‐ licherweise nicht bei der Konzernmutter direkt, sondern bei einer Konzerntochter angesiedelt ist. 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 91 <?page no="92"?> Auch für die Übermittlung und Verarbeitung der Beschäftigtendaten durch andere Gesellschaften innerhalb des Konzerns oder der Unternehmens‐ gruppe, kann nach Erwägungsgrund 48 der DS-GVO ein berechtigtes Inter‐ esse angenommen werden; man spricht hier auch vom sogenannten kleinen Konzernprivileg, da kein echtes Konzernprivileg existiert. Darüber hinaus ist nach Erwägungsgrund 49 DS-GVO ein berechtigtes Interesse auch bei Verarbeitungen anzunehmen, die für die Gewährleistung der Netz- und Informationssicherheit unbedingt notwendig und verhältnismäßig sind. Die alleinige Tatsache, dass die verantwortliche Stelle ein berechtigtes Interesse begründen kann, sei es durch das Vorliegen einer der Beispiele aus den Erwägungsgründen oder aufgrund anderer legitimer Interessen, führt aber (noch) nicht dazu, dass die jeweilige Datenverarbeitung automatisch auch zulässig ist. Eine weitere Voraussetzung des Art. 6 Abs. 1 lit. f DS-GVO sind die Erforderlichkeit der Datenverarbeitung zur Wahrung dieser berechtigten Interessen und die Vornahme einer detaillierten Interessensabwägung im Einzelfall. Demnach muss die Datenverarbeitung zwingend erforderlich sein, um die von der verantwortlichen Stelle aufgeführten berechtigten Interessen zu wahren. Es darf also kein „milderes“ Mittel geben, um zu dem gleichen Ergebnis zu gelangen. Wichtiger als die Erforderlichkeit ist jedoch die Interessensabwägung, die in jedem Einzelfall getätigt und idealerweise auch dokumentiert werden sollte. Da die Anforderungen an das berechtigte Interesse nicht allzu hoch eingestuft werden, ist bei der Interessensabwägung besondere Sorgfalt geboten. Die Interessen, Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffe‐ nen Person dürfen für eine zulässige Datenverarbeitung das berechtigte Interesse des Verantwortlichen nicht überwiegen. Regelmäßig wird es dabei um Grundrechte gehen, jedoch kommen aber auch alle sonstigen Interessen der betroffenen Personen in Betracht. Nach Erwägungsgrund 47 der DS-GVO sind im Rahmen dieser Interessenabwägung die „vernünf‐ tigen Erwartungen“ der betroffenen Person, die auf ihrer Beziehung zu dem Verantwortlichen beruhen, und dass eine Verarbeitung für diesen speziellen Zweck erfolgen soll, zu berücksichtigen. Kann eine betroffene Person vernünftigerweise hingegen nicht mit einer weiteren Verarbeitung rechnen, könnten die Interessen und Grundrechte der betroffenen Person das Interesse der verantwortlichen Stelle überwiegen. Welche Kriterien dieser Abwägung zu Grunde zu legen sind, kann aus der DS-GVO nicht entnommen werden. Von Bedeutung sind dabei auch 92 6 Datenschutzrecht <?page no="93"?> • die Art der Daten, • die Menge der Daten, • die Quelle der Daten, • die Sicherheit der Verarbeitung, • die Dauer der Verarbeitung wie auch • die Art der Verarbeitung. Es liegt auf der Hand, dass der Verantwortliche seine Interessen in aller Regel als wichtiger beziehungsweise höherrangig einstufen wird als die der Betroffenen. Aus Sicht des Verantwortlichen gilt es zu vermeiden, subjektive Gefühle und Meinungen in die Interessensabwägung einfließen zu lassen. Eine objektive Interessensabwägung erfordert zunächst die Benennung der Interessen der verantwortlichen Stelle oder des Dritten und in einem zweiten Schritt die entsprechende Gewichtung. Lässt sich etwa die Verarbeitung auf ein oder mehrere Grundrechte stützen, dann kann in der Regel von einer relativ hohen Gewichtung ausgegangen werden. Handelt es sich um unrichtige Daten, wird die In‐ teressenabwägung regelmäßig zu Lasten des Verantwortlichen ausfallen. Besonderes Augenmerk kommt auch dem Zweck der Verarbeitung zu. Besteht dieser in der Erstellung eines Persönlichkeits- oder Kundenprofils, dann ist regelmäßig von einem Überwiegen der Interessen des Betroffenen auszugehen. Auch ein Missbrauchsrisiko kann die Abwägung beeinflussen. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, wenn es sich bei der betroffe‐ nen Person um ein Kind handelt, bei dem ein höheres Schutzbedürfnis besteht und dieser Umstand die Interessenabwägung entsprechend beein‐ flusst. Ergibt die Interessenabwägung, dass die Interessen des Betroffenen überwiegen, dann darf die Datenverarbeitung nicht vorgenommen oder muss auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt werden. Allerdings hat der Verantwortliche die Möglichkeit, die „Waagschale“ zu seinen Gunsten zu be‐ einflussen, indem dieser Maßnahmen trifft, die weniger intensiv die Rechte der betroffenen Person berühren, wie beispielsweise die Pseudonymisierung oder Anonymisierung der Daten, aber auch die Erhöhung der Sicherheit der Verarbeitung (Tinnefeld/ Buchner et. al., S. 330 ff.). Wird die Datenver‐ arbeitung auf Art. 6 Abs. 1 lit. f DS-GVO gestützt, muss der Verantwortliche die betroffene Person über die dabei verfolgten berechtigten Interessen informieren (Art.-13 Abs.-1 lit. d DS-GVO; Zerres/ Hirtz, S.-136 ff.). 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 93 <?page no="94"?> Rechte des Betroffenen und Pflichten des Verantwortlichen Überblick Damit der Betroffene seine Rechte ausüben kann, muss er transparent über die Datenverarbeitung informiert werden, um auf dieser Grundlage die Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten überprüfen und gegebe‐ nenfalls korrigieren oder unterbinden zu können. Diesem Umstand trägt die DS-GVO Rechnung, indem sie der betroffenen Person eine Reihe von Rechten und Pflichten an die Hand gibt, die mit entsprechenden Pflichten des Verantwortlichen korrespondieren und deren Verletzung mit einem Bußgeld geahndet werden kann. In bestimmten Situationen kann dies auch Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung haben. Die einzelnen Rechte der betroffenen Person sind in den Art. 13 bis 23 DS-GVO geregelt, darunter etwa das Recht • auf Information (Art.-13 und 14 DS-GVO), • auf Auskunft (Art.-15 DS-GVO), • auf Berichtigung (Art.-16 DS-GVO) oder • auf Löschung (Art.-17 DS-GVO). Letzteres entspricht dabei zum Teil einer Kodifizierung der Rechtsprechung des EuGH zum sogenannten Recht auf Vergessenwerden (EuGH, C-131/ 12, ECLI: EU: C2014: 317 = NJW 2014 2257; Lewinski/ Rüpke/ Eckhardt, § 15, Rn. 39). Zu nennen sind schließlich noch das Recht auf Einschränkung (Sper‐ rung) der Verarbeitung (Art. 18 DS-GVO) und das Recht auf Datenübertrag‐ barkeit (Art. 20 DS-GVO). Die sogenannten Betroffenenrechte, die während und nach der Verarbeitung der personenbezogenen Daten bestehen, fanden sich in ähnlicher Form bereits im alten Bundesdatenschutzgesetz, wurden aber durch die DS-GVO nochmals erheblich verschärft. Neben den umfassenden Informationspflichten des Verantwortlichen, besteht noch eine Dokumentationspflicht gegenüber den Aufsichtsbe‐ hörden. Danach sind alle Entscheidungen, Vorgehensweisen und Verar‐ beitungsgrundlagen zu dokumentieren. Diesbezüglich stellt die DS-GVO erheblich höhere Anforderungen an die Verantwortlichen als etwa das alte Datenschutzrecht, was für diese auch zu einem nicht unerheblichen bürokratischen Mehraufwand geführt hat. Die DS-GVO sieht in Art. 30 DS-GVO eine Pflicht zu dem Führen eines Verzeichnisses von Verarbei‐ tungstätigkeiten („Verarbeitungsverzeichnis“) für die Unternehmen, die von 94 6 Datenschutzrecht <?page no="95"?> der Regelung erfasst werden, vor. Inhalt und Anforderungen an ein solches Verzeichnis ergeben sich im Einzelnen aus den Art.-30 ff. DS-GVO. Das Verzeichnis muss die wesentlichen Angaben zur Datenverarbeitung enthalten, wie zum Beispiel welche Daten vom Betroffenen zu welchem Zweck erhoben werden, wie lange diese gespeichert werden und aufgrund welcher Rechtsgrundlagen dies erfolgt. Ein Verstoß gegen diese Pflicht, das heißt, wenn kein oder nur ein unvollständiges Verarbeitungsverzeichnis geführt wird, kann mit einem Bußgeld geahndet werden. Recht des Betroffenen auf Information (Art.-13, 14 DS-GVO) Zu den wichtigsten Rechten zählt das Informationsrecht des Betroffenen. Die betroffene Person ist nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 DS-GVO über sämtliche der dargestellten Rechte in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache zu informieren. Fachbegriffe und Schachtelsätze, wie sie häufig in AGB zu finden sind, genügen regelmäßig diesen Anforderungen nicht. Die Übermittlung der Informationen hat nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 DS-GVO schriftlich oder in anderer Form, gegebenenfalls auch elektronisch, zu erfolgen. In der Praxis empfiehlt es sich, wenn ein Verantwortlicher für die Übermittlung dieser Informationen das gleiche Medium verwendet, das er auch für die Kom‐ munikation mit der betroffenen Person nutzt. Falls der Betroffene es verlangt, kann die Information nach Art. 12 Abs. 1 Satz 3 DS-GVO auch mündlich erteilt werden, wenn die Identität der betroffenen Person in anderer Form nachgewiesen wurde. Auch bei schriftlicher beziehungsweise elektronischer Form ist es wichtig, dass die Identität des Anfragenden zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Die Zusendung einer Ausweiskopie ist dafür nicht erforderlich. In vielen Fällen genügt es, wenn sich die betroffene Person in einem etwaigen Portal oder Ähnlichem einloggen oder die Identität anhand spezieller Angaben überprüfen kann. Nach Art. 12 Abs. 2 DS-GVO darf sich der Verantwortliche der Erfüllung seiner Pflichten nur dann verweigern, wenn er glaubhaft macht, nicht in der Lage zu sein, die betroffene Person zu identifizieren. Die angeforderten Maßnahmen sind von dem Verantwortlichen nach Art. 12 Abs. 3 Satz 1 DS-GVO unverzüglich durchzuführen, spätestens jedoch innerhalb eines Monats nach Eingang des Antrags. Idealerweise sollte daher der betroffenen 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 95 <?page no="96"?> Person eine Art Eingangsbestätigung übermittelt werden, sodass diese über die Bearbeitung ihres Ersuchens informiert ist. Nach dem Grundsatz der Transparenz nach Art. 5 Abs. 1 lit. a DSGVO hat die betroffene Person nach Art. 13 DS-GVO das Recht, bei Erhebung ihrer Daten gewisse Informationen durch die verantwortliche Stelle zu erhalten, was mit ihren Daten geschieht und welche Rechte die betroffene Person gegenüber dem Verantwortlichen hat. Im Einzelnen ist die betroffene Person über Folgendes zu informieren: • Den Namen und die Kontaktdaten des Verantwortlichen sowie gegebe‐ nenfalls seines Vertreters, • die Kontaktdaten des Datenschutzbeauftragten (falls vorhanden), • die Zwecke, für die die personenbezogenen Daten verarbeitet werden sollen sowie die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung, • die „berechtigten Interessen“, die von dem Verantwortlichen oder dem Dritten verfolgt werden, wenn die Verarbeitung auf der Grundlage des berechtigten Interesses nach Art.-6 Abs.-1 lit. f DS-GVO beruht, • die Empfänger oder Kategorien von Empfängern der personenbezoge‐ nen Daten (falls vorhanden), • die Übermittlung in ein Drittland oder an eine internationale Organisa‐ tion, • die Dauer der Datenspeicherung, • das Bestehen eines Rechts auf Auskunft, Berichtigung, Löschung, Ein‐ schränkung, Widerspruch und auf Datenübertragbarkeit, • das Bestehen eines Rechts auf Widerspruch der Einwilligung, • das Bestehen eines Beschwerderechts bei der Aufsichtsbehörde, • Informationen darüber, ob die Bereitstellung der Daten gesetzlich oder vertraglich vorgeschrieben oder für einen Vertragsabschluss erforder‐ lich ist und mögliche Folgen der Nichtbereitstellung, • das Vorhandensein einer automatischen Entscheidungsfindung inklu‐ sive Profiling sowie • Informationen über eine mögliche Zweckänderung der Datenverarbei‐ tung und die Bereitstellung weiterer Informationen zu dem neuen Zweck. Aufgrund dieser Vorschriften muss jede Website eine entsprechende Daten‐ schutzerklärung vorsehen, sodass der Besucher der Seite umgehend, das heißt, dass der Link zu der Datenschutzerklärung von jeder der Website aus erreichbar sein muss, bei Erhebung der Daten durch die Website auf 96 6 Datenschutzrecht <?page no="97"?> die entsprechenden Informationen (Art 13 DS-GVO) zugreifen kann. Sollten gewisse Verarbeitungen der Daten eine Einwilligung erfordern, bedarf es zwingend eines sogenannten Cookie-Banners. Auch in den sozialen Medien müssen die betroffenen Personen über die dort getätigte Verarbeitung ihrer Daten informiert werden. Hierfür ist nicht nur die Plattform selbst, sondern auch das Unternehmen, wel‐ ches eine Unternehmensseite betreibt, verantwortlich. Dabei ist aus Sicht des verantwortlichen Unternehmens zu beachten, dass die normale Daten‐ schutzerklärung der Website nicht ausreicht und es einer speziell auf die sozialen Medien abgestimmten Datenschutzerklärung bedarf. Die Informati‐ onspflichten sind selbstverständlich auch „außerhalb“ des Internets genauso zu erfüllen, auch wenn es sich hier oftmals etwas umständlicher gestaltet. Im Hinblick auf die Informationspflichten ist zu differenzieren, • ob die Daten direkt bei der betroffenen Person (Art.-13 DS-GVO) oder • aus anderen Quellen (Art.-14 DS-GVO) erhoben werden. Werden personenbezogene Date direkt bei der betroffenen Person erhoben, dann hat der Verantwortliche die in Art. 13 DS-GVO aufgezählten Informa‐ tionen zu geben (zum Beispiel Name und Kontaktdaten des Verantwortli‐ chen, Kontaktdaten des Datenschutzbeauftragten, Verarbeitungszweck und Rechtsgrundlage der Datennutzung, das berechtigte Interesse des Verant‐ wortlichen, Name des Empfängers, die Widerrufbarkeit der Einwilligung oder das Beschwerderecht des Betroffenen bei der Aufsichtsbehörde). Die Informationen sind im Zeitpunkt der Erhebung der Daten dem Betroffenen zu übermitteln. Da sich dies in der Praxis häufig als schwierig gestaltet, ist es ausreichend, wenn die Informationen im zeitlichen Zusammenhang mit der Erhebung der Daten erfolgen. Im Falle des Bestehens einer „Telefonhotline“ wird beispielsweise häufig die Option eingeräumt, durch das Drücken einer Taste die Datenschutzin‐ formationen anhören zu können, bevor man überhaupt an einen Mitarbeiter durchgestellt wird. Bei Online-Shops werden üblicherweise die ersten Informationen durch die Website gegeben, wobei diese häufig zunächst nur die Datenverarbeitungen auf der Website selbst und nicht die Verarbeitungen innerhalb des Bestellungs- und Auslieferungsprozesses betreffen. Daher senden viele dieser Online-Händler mit der Bestellbestätigung erneut Betroffeneninformationen per E-Mail mit, sei als PDF oder auch als Link innerhalb der Nachricht. 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 97 <?page no="98"?> Bei Ärzten reicht es beispielsweise aus, wenn diese die Betroffeneninformationen aushängen, so dass jedem Patienten bei Eintritt in die Praxis Einsicht gewährt wird. Diese Vorgehensweise lässt sich auch auf Messen übertragen, wenn wäh‐ rend dieser personenbezogene Daten von potenziellen Kunden und Interessenten erhoben werden. Dann muss nicht jedem potenziellen Kunden eine separate Information in Papierform zur Verfügung gestellt werden; ein entsprechender Aushang ist dann ausreichend. In der Praxis kann der Fall auftreten, dass es nicht möglich ist, sämtliche der vorgenannten zahlreichen Informationen zur gleichen Zeit der betroffenen Person zukommen zu lassen. In diesen Fällen kann eine Link-Lösung zum Einsatz kommen. Danach kann der Verantwortliche alle Informationen per Link oder QR-Code zur Verfügung stellen. So kann beispielsweise den Mitarbeitern eines Unternehmens ein Link in der Signatur mit dem Titel „Datenschutzhinweise“ oder Ähnliches eingerichtet werden, hinter welchem sich dann alle Informationen verbergen. Bei einer automatisierten Verarbeitung von personenbezogenen Da‐ ten, einschließlich bei, auf Profiling basierenden Maßnahmen, ist der Betroffene über die Tragweite und die besonderen Auswirkungen solcher Verfahren zu informieren. Art. 14 DS-GVO regelt die entsprechenden Informationspflichten für den Fall, dass die Daten nicht vom Verantwortlichen selbst, sondern von Dritten erhoben werden. In diesen Fällen bekommt der Betroffene nicht mit, dass Daten von ihm erhoben werden. Daher muss der Verantwortliche, der die Daten des Betroffenen bei einem Dritten erhebt, den Betroffenen über die Verarbeitung informieren. Im Falle der Beauftragung eines Inkassounter‐ nehmens sind diesem vom Verantwortlichen die wesentlichen Kundendaten zu übermitteln, insbesondere deren Name, Anschrift und Bankdaten. Das Inkassounternehmen, das diese Daten in seinem Datensystem erfasst und speichert, hat dann die Daten nicht direkt von den Kunden des Verantwort‐ lichen erhalten, sondern indirekt von dem sie beauftragenden Unternehmen. Der Kunde erfährt davon in der Regel nichts. Daher muss nun auch das Inkassounternehmen (als Verantwortlicher) die Kunden über die konkrete Datenverarbeitung nach Art. 13 DS-GVO informieren. Hinzu kommt aller‐ dings die Pflicht, mitzuteilen, welche Kategorien personenbezogener Daten (zum Beispiel Unternehmensstammdaten, Vertragsdaten, Bankdaten) verar‐ beitet werden sowie aus welcher Quelle, aus der die Informationen stammen, mitzuteilen. Anders als bei Art. 13 DS-GVO müssen die Informationen nicht sofort übermittelt werden, sondern diese der betroffenen Person 98 6 Datenschutzrecht <?page no="99"?> innerhalb einer Frist von maximal einem Monat nach der Datenverarbeitung zukommen. Neben den Informationsrechten sieht die DS-GVO noch eine Reihe wei‐ terer Rechte des Betroffenen vor, welche im Zusammenhang mit den von ihm verarbeiteten Daten stehen, auf die im Folgenden ebenfalls eigegangen werden soll (Zerres/ Hirtz, S.-139 ff.). Recht auf Auskunft (Art.-15 DS-GVO) Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob und welche der sie betreffenden personenbezogenen Daten verarbeitet werden. Sollte ein Unternehmen entsprechende Daten verarbeiten, dann hat der Betroffene aufgrund des in Art. 5 Abs. 1 lit. a DS-GVO verankerten Transparenzprinzips ein Recht auf Auskunft über die im Katalog des Art. 15 Abs. 1 lit. a DS-GVO aufgeführten Details der Verarbeitung, zum Beispiel über • die Verarbeitungszwecke, • die Kategorien personenbezogener Daten, • die Empfänger der Daten, • die Speicherdauer, • die Herkunft der Daten und vieles mehr. Auch wenn keine Daten über die anfragende Person gespeichert wurden, ist diese Tatsache der betroffenen Person mitzuteilen. Sollten die Daten nicht rechtmäßig verarbeitet beziehungsweise erhoben worden sein, dann kann diese Tatsache durch ein solches Auskunftsersuchen „aufgedeckt“ werden. Als Verantwortlicher ist darauf zu achten, den Vorschriften der DS-GVO von Beginn einer (möglichen) Verarbeitung an Folge zu leisten, um später im Falle eines solchen Ersuchens eines Betroffenen nicht „in Panik zu geraten“, einen möglichen Datenschutzpflichtverstoß nicht mehr verhindern zu kön‐ nen. Der Verantwortliche hat eine Kopie mit den personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung zu stellen. Er ist nicht erforderlich, der betroffenen Person sämtliche vorhandenen Dokumente offenzulegen. Es reicht hierfür eine Zusammenfassung auf (beispielsweise) einigen Seiten. Die Kopie ist für den Betroffenen kostenlos, es sei denn, dieser beantragt weitere Kopien. Wird der Antrag elektronisch gestellt, kann der Verantwortliche die Daten ebenfalls in diesem Format bereithalten. 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 99 <?page no="100"?> Recht auf Berichtigung (Art.-16 DS-GVO) Die betroffene Person kann vom Verantwortlichen unverzüglich die Berich‐ tigung sie betreffender unrichtiger personenbezogener Daten verlangen. Unter Berücksichtigung der Zwecke der Verarbeitung kann die betroffene Person auch die Vervollständigung unvollständiger personenbezogener Daten---auch mittels einer ergänzenden Erklärung---verlangen. Recht auf Löschung („Recht auf Vergessenwerden“, Art.-17 DS-GVO) Auch wenn die Datenverarbeitung auf eine der Rechtfertigungsgründe in Art. 6 Abs. 1 DS-GVO gestützt werden kann, so bedeutet das noch nicht, dass diese Daten auch zeitlich unbegrenzt aufbewahrt beziehungsweise gespeichert werden dürfen. Die Verarbeitung ist nach Art. 5 DS-GVO nur so lange zulässig, wie es für den vorher festgelegten, eindeutigen sowie legitimen Zweck erforderlich und angemessen ist. Der Verantwortliche ist danach zur unverzüglichen Löschung verpflich‐ tet, wenn der Zweck, auf Grundlage dessen die Daten ursprünglich erho‐ ben oder auf sonstige Weise verarbeitet wurden, nicht mehr besteht. Die Daten müssen darüber hinaus auch dann gelöscht werden, wenn diese unrechtmäßig, also ohne legitime Rechtsgrundlage (Art. 6 und 9 DS-GVO) verarbeitet worden sind. Personenbezogene Daten sind weiterhin dann zu löschen, wenn die betroffene Person ihre Einwilligung in die Verarbeitung widerruft und keine anderen Rechtsgrundlagen i. S. v. Art. 6 DS-GVO, etwa „berechtigte Interessen“, bestehen oder diese Person einen Widerspruch gegen die Verarbeitung (Art. 21 DS-GVO) erklärt hat. Wurden die Daten mit Einwilligung weitergeleitet, so kann der Betroffene verlangen, dass die Daten auch von dem Dritten gelöscht werden und die Löschungsanweisung entsprechend an diese weitergeleitet wird. Bei im Internet verbreiteten Daten wird sich faktisch das Problem ergeben, dass sich kaum sämtliche Daten löschen lassen; umgangssprachlich wird hier auch vom „Elefanten‐ gedächtnis“ des Internets gesprochen. Eine Ausnahme von der Pflicht der verantwortlichen Stelle zur Löschung der Daten besteht dann, wenn die Verarbeitung zur Erfüllung einer rechtli‐ chen Verpflichtung, die die Verarbeitung nach EU-Recht oder nationalem Recht, dem der Verantwortliche unterliegt oder zur Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher 100 6 Datenschutzrecht <?page no="101"?> Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, erforderlich ist. Darüber hinaus bedarf es einer Löschung auch dann nicht, wenn die Verarbeitung zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information, aus Gründen des öffentlichen Interesses im Bereich der öffent‐ lichen Gesundheit oder für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gem. Art. 89 Abs. 1 DS-GVO erforderlich ist. Der „Klassiker“ unter den Ausnahmen stellen die so-genannten Aufbewahrungs- oder Dokumen‐ tationspflichten nach handels-, steuer oder gewerberechtlichen Bestimmun‐ gen und anderen Rechtsvorschriften dar; diese können eine rechtliche Verpflichtung nach Art. 17 Abs. 3 lit. b DSGVO begründen. Danach dürfen diese Daten, auch nach Wegfall des Zwecks, solange aufbewahrt werden, solange eine spezialgesetzliche Aufbewahrungspflicht besteht. Sobald diese jedoch entfällt, besteht eine unverzügliche Pflicht zur Datenlöschung. In den Regelungen der DS-GVO wird zwar angeordnet, wann personen‐ bezogene Daten zu löschen sind, nicht jedoch, auf welche Weise dies zu erfolgen hat. Da die DS-GVO diesbezüglich auch keine Vorgaben enthält beziehungsweise kein bestimmtes Vorgehen empfiehlt, muss faktisch jeder Verantwortliche für sich ein eigenes geeignetes Löschkonzept entwickeln, um allen gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden und die entspre‐ chenden Daten auch immer zeitgerecht zu löschen. So besteht beispielsweise bei Datenträgern die Möglichkeit, diese komplett zu zerstören; alternativ kann auch das mehrfache Überschreiben elektronischer Daten als hinreichend sicher in Betracht kommen. Weiterhin kann auch eine Anonymisierung von Datensätzen erfolgen. Sofern sich die Daten technisch kei‐ ner bestimmten Person mehr zuordnen lassen, sind sie jedenfalls für statistische Zwecke weiter nutzbar. Eine verantwortliche Stelle im Sinne des Datenschutz‐ rechts hat diesbezüglich auch darauf zu achten, dass sämtliche Kopien der Daten zu vernichten sind, welche beispielsweise durch Backup- oder Sicherheitsmecha‐ nismen der eingesetzten Software entstanden sind. Das Löschkonzept muss die Gesamtheit der Lösch- und Aufbewahrungspflichten berücksichtigen und auch umsetzen. Festzuhalten bleibt, dass es sich bei einem derartigen Löschkonzept um eine komplexe Angelegenheit handelt, um die sich, sofern nicht intern fachlich geeignetes Personal vorhanden ist, externe Experten kümmern sollten, damit die rechtlichen Vorgaben auch tatsächlich eingehalten werden können. Eine spezielle antragsabhängige Informationspflicht besteht nach Art. 17 Abs. 2 DS-GVO. Danach treffen den zur Löschung Verantwortlichen, der 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 101 <?page no="102"?> personenbezogene Daten öffentlich gemacht hat, das heißt, der Allgemein‐ heit zur Verfügung gestellt hat, besondere Informationspflichten gegenüber anderen Verantwortlichen, die diese Daten verarbeiten. Die amtliche Über‐ schrift in Art. 17 DS-GVO und Erwägungsgrund 66 der DS-GVO sprechen diesbezüglich von einem „Recht auf Vergessenwerden“. Inhaltlich ver‐ langt dieses Recht, dass der Verantwortliche angemessene (technische) Maß‐ nahmen zu treffen hat, die ihm unter Berücksichtigung der ihm verfügbaren Technologien möglich sind. Der für die Datenverarbeitung Verantwortliche hat alle diejenigen (nicht nur die Empfänger der Daten), die die personen‐ bezogenen Daten verarbeiten, darüber zu informieren, dass eine betroffene Person von ihnen die Löschung aller Links zu diesen personenbezogenen Daten oder von Kopien oder Replikationen dieser personenbezogenen Daten verlangt hat (Tinnefeld/ Buchner et. al., S.-180 ff.). Eine Ausnahme von der Löschpflicht besteht für den Verantwortlichen nur dann, wenn die Verarbeitung zur Ausübung des Rechts auf freie Mei‐ nungsäußerung oder Information, zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflich‐ tung, aus Gründen des öffentlichen Interesses im Bereich der öffentlichen Gesundheit oder für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke, zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsan‐ sprüchen erforderlich ist (Art. 12 Abs. 2 5, Satz 2, 17 Abs. 3 DS-GVO, § 35 BDSG). Die verantwortliche Stelle muss gegenüber der betroffenen Person nicht im Detail nachweisen, wie und auf welche Art und Weise die Daten gelöscht wurden. Es reicht eine Mitteilung über die Tatsache der Löschung aus. Allerdings hat der Verantwortliche gegenüber der Aufsichtsbehörde im Zweifel den detaillierten Nachweis zu erbringen, dass die Daten „DS-GVO konform“ gelöscht wurden (Zerres/ Hirtz, S.-143 ff.). Recht auf Einschränkung (Sperrung) der Verarbeitung (Art.-18 DS-GVO) Die betroffene Person kann von dem Verantwortlichen unter bestimmten Voraussetzungen nach Art. 18 DS-GVO die Einschränkung der Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten verlangen. Damit ist das bereits im alten Bundesdatenschutzgesetz bekannte „Sperren“ gemeint. Dieser Begriff wird in Art. 4 Nr. 3 DS-GVO als Markierung gespeicherter Daten beschrieben mit dem Ziel, ihre künftige Verarbeitung einzuschränken. Der Verantwortliche muss die Verarbeitung dann einer Einschränkung 102 6 Datenschutzrecht <?page no="103"?> unterziehen, wenn die Richtigkeit der Daten von der betroffenen Person bestritten wird (Art. 18 Abs. 1 lit. a DS-GVO), wenn die Verarbeitung unrechtmäßig ist und die betroffene Person die Löschung ablehnt und stattdessen die Einschränkung der Nutzung der Daten verlangt (Art. 18 Abs. 1 lit. b DS-GVO), wenn der Verantwortliche die personenbezogenen Daten für die Zwecke der Verarbeitung nicht länger benötigt, die betroffene Person sie jedoch zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen benötigt (Art. 18 Abs. 1 lit. c DS-GVO) oder die betroffene Person Widerspruch gegen die Verarbeitung nach Art. 21 DSGVO eingelegt hat, solange noch nicht feststeht, ob die berechtigten Gründe des Verant‐ wortlichen gegenüber denen der betroffenen Person überwiegen (Art. 18 Abs.-1 lit. d DS-GVO). Liegen die Voraussetzungen für eine Einschränkung vor, dann dürfen die personenbezogenen Daten - von der Speicherung abgesehen - nur mit Einwilligung der betroffenen Person oder zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen, zum Schutz der Rechte anderer natürlicher oder juristischer Personen oder aus Gründen eines wichtigen öffentlichen Interesses verarbeitet werden. Recht auf Datenübertragbarkeit (Art.-20 DS-GVO) Die betroffene Person kann vom Verantwortlichen verlangen, die ihm zur Verfügung gestellten personenbezogenen Daten in einem strukturierten, gängigen und maschinenlesbaren Format zu erhalten. Darüber hinaus hat sie das Recht, diese Daten einem anderen Verantwortlichen ohne Behinderung durch den Verantwortlichen, dem die personenbezogenen Daten bereitge‐ stellt wurden, zu übermitteln, sofern die Verarbeitung auf einer Einwilligung oder einem Vertrag beruht und die Verarbeitung mithilfe automatisierter Verfahren erfolgt. Dieses, in der DS-GVO neu geschaffene Recht soll der betroffenen Person, ebenso wie auch das Recht auf Auskunft, eine bessere Kontrolle über die sie betreffenden Daten verschaffen (Erwägungsgrund 68 DS-GVO) und einen unkomplizierten Wechsel zu einem anderen Verant‐ wortlichen ermöglichen. So soll dieser beispielsweise einfacher zwischen Anbietern von sozialen Netzwerken, E-Mail- oder Cloud-Diensten wechseln können (Tinnefeld/ Buchner et. al., S.-183 ff.). 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 103 <?page no="104"?> Recht auf Widerspruch (Art.-21 DS-GVO) Die betroffene Person hat in bestimmten Konstellationen das Recht, ei‐ ner Verarbeitung, die etwa auf Grundlage eines berechtigten Interesses gestützt wird, nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 DS-GVO zu widersprechen. Die verantwortliche Stelle darf diese Daten mit dem Zeitpunkt des Eingangs des Widerspruchs nicht mehr auf Grundlage des berechtigten Interesses verarbeiten, es sei denn, diese kann zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen, nach denen die Interessen, Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen oder dass die Verarbeitung der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen dient. Die betroffene Person muss zudem nach Art. 21 Abs. 4 DS-GVO auf dieses Widerspruchsrecht spätestens bei der ersten Kommunikation ausdrücklich hingewiesen werden. Dieser Hinweis muss in einer verständ‐ lichen und von anderen Informationen getrennten Form erfolgen. Aus diesem Grund ist es aus Unternehmenssicht wichtig, auf der Website in der Datenschutzerklärung auf dieses Recht hinzuweisen, sofern man Daten auf Grundlage des berechtigten Interesses verarbeiten möchte. Auch bei Marketing-Maßnahmen per Post muss bei erstmaligem Versand auf dieses Widerspruchsrecht hingewiesen werden; aus Beweisgründen ist es allerdings zweckmäßig, in jeder postalischen Werbung auf dieses Recht hinzuweisen (Zerres/ Hirtz, S.-146). Kontrollen und Sanktionen Die Kontrolle des rechtmäßigen Umgangs mit personenbezogenen Daten kann sowohl in Form einer internen als auch in Form einer externen Kon‐ trolle stattfinden. Im ersten Fall obliegt diese Aufgabe einem behördlichen beziehungsweise betrieblichen Datenschutzbeauftragten, im zweiten Fall den selbstständigen und unabhängigen Datenschutzbehörden. So sieht Art.-37 DS-GVO die Pflicht zur Bestellung eines Datenschutzbe‐ auftragten für alle Behörden und öffentlichen Stellen mit Ausnahme von Gerichten vor, soweit sie im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit handeln (Art. 37 Abs. 1 lit. a DS-GVO). Nicht öffentliche Stellen haben einen Datenschutzbeauftragten dann zu benennen, wenn die Kerntätigkeit des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters in der Durchführung von Verarbeitungstätigkeiten besteht, welche aufgrund ihrer Art, ihres Umfangs und/ oder ihrer Zwecke eine umfangreiche regelmäßige und systematische 104 6 Datenschutzrecht <?page no="105"?> Überwachung von betroffenen Personen erforderlich machen oder in der umfangreichen Verarbeitung besonderen Kategorien von Daten (Art. 9 DS-GVO) oder von personenbezogenen Daten über strafrechtliche Verurtei‐ lungen und Straftaten (Art. 10 DS-GVO) besteht (Art. 37 Abs. 1 lit, b und c DS-GVO). Die Aufgaben eines Datenschutzbeauftragten ergeben sich aus Art. 38 DS-GVO. Es sind vor allem beratende und informierende Aufgaben, also vor allem das Management unterstützende Tätigkeiten. So sind beispielsweise Unternehmen verpflichtet, einen (internen oder externen) Datenschutzbeauftragten der zuständigen Aufsichtsbehörde zu benennen, wenn mindestens zwanzig Personen ständig mit der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten beschäftigt sind; dabei sind auch Mitarbeiter, die nur gelegentlich Daten verarbeiten, wie etwa Einkaufsmitarbeiter, die Zugriff auf Lieferantendatenbanken haben, zu berücksichtigen. Unabhängig davon kann es aber auch für kleinere Unternehmen sinnvoll sein, sich der Unterstützung durch einen Datenschutzbeauftragten als Experten zu bedienen, um die umfassenden und vielfältigen Aufgaben im Datenschutz besser bewältigen zu können. Das wesentliche, bereits zu Anfang angesprochene Ziel der DS-GVO ist es, eine tatsächliche Beachtung ihrer materiell-rechtlichen Vorgaben sicher‐ zustellen. Sie versucht dies, durch weitreichende Sanktionsmaßnahmen zu erreichen (Art. 77 ff. DS-GVO). Ein wesentliches Element ist hier die massive Erhöhung des Bußgeldrahmens für Datenschutzverstöße (Art. 83 DS-GVO), die von den zuständigen Aufsichtsbehörden (Art. 58 Abs. 2 DS-GVO) gegenüber den Verantwortlichen und den Auftragsverarbeitern verhängt werden können. Verantwortlicher und Auftragsverarbeiter sind darüber hinaus auch zivilrechtlich verantwortlich und haften unter den Voraussetzungen des Art. 82 DS-GVO auf Schadensersatz gegenüber der betroffenen Person, der ein entsprechender Schaden entstanden ist. Art. 84 DS-GVO enthält eine Öffnungsklausel in Form eines Regelungs‐ auftrages an die Mitgliedstaaten. Diese sind verpflichtet, insbesondere Strafvorschriften zu schaffen, die die Missachtung der Normen der DS-GVO sanktionieren (Zerres/ Hirtz, S.-146 f.). 6.2 Europäische Datenschutz-Grundverordnung 105 <?page no="106"?> 6.3 Bereichsspezifischer Datenschutz und Auffangnormen Das Datenschutzrecht ist grundsätzlich geprägt durch ein Nebeneinander von allgemeinen und bereichsspezifischen Bestimmungen. Grundsätzlich verfolgt die DS-GVO einen umfassenden datenschutzrechtlichen Regelungs‐ anspruch. Als europäische Verordnung (Art. 288 Abs. 2 AEUV) gilt sie auch unmittelbar in den Mitgliedstaaten und lässt innerhalb ihres Anwendungs‐ bereiches keinen Raum mehr für zusätzliche mitgliedstaatliche Regelungen. Die Harmonisierung des Datenschutzrechts durch die DS-GVO ist allerdings begrenzt, was an den zahlreichen Öffnungsklauseln liegt, aufgrund deren die Mitgliedstaaten verpflichtet beziehungsweise ermächtigt sind, ergänzende und/ oder konkretisierende Bestimmungen zu schaffen. Im BDSG findet sich eine Reihe an Regelungen, die spezifische Problem‐ konstellationen, das heißt, die besondere Datenverarbeitungssituationen betreffen, etwa die Videoüberwachung im Arbeitsbereich (Tinnefeld/ Buch‐ ner et. al., S.-135 ff.). Bereichsspezifische Datenschutznormen und -gesetze finden sich im Üb‐ rigen in ganz unterschiedlichen Gesetzen und in unterschiedlichen Formen. Teilweise haben sie einen umfassenden Regelungscharakter und führen einen Bereich einer mehr oder weniger abschließenden Regelung zu, so etwa die §§ 91 ff. Telekommunikationsgesetz (TKG) für den Bereich der Telekommunikation. Oftmals handelt es sich bei bereichsspezifischen Da‐ tenschutzregelungen aber auch nur um punktuelle Regelungen, die für eine ganz bestimmte Konstellation eine begrenzte Datenverarbeitungsbefugnis vorsehen und für eine bestimmte Stelle normieren. Zu nennen sind zum Beispiel, neben den erwähnten §§ 91 ff. TKG, die §§ 100a ff. StPO (für Telekommunikationsüberwachung, Online-Durchsuchung), §§ 67 ff. SGB X (betreffend den Sozialdatenschutz) oder die §§ 284 ff SGB V (betreffend die Datenverarbeitung in der Gesetzlichen Krankenversicherung). Die Zahl dieser Datenschutzbestimmungen ist fast unüberschaubar und so auch ein Grund dafür, dass das Datenschutzrecht den Ruf einer undurchsichtigen Spezialmaterie hat (Zerres/ Hirtz, S.-147 f.). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den überwiegenden Fallgestaltungen für die Rechtmäßigkeit einer Datenerhebung bezie‐ hungsweise -sammlung eine Einwilligung, ein Vertrag oder ein so‐ genanntes berechtigtes Interesse als Rechtsgrundlage erforderlich 106 6 Datenschutzrecht <?page no="107"?> sind. Unabhängig davon, auf welchen Rechtfertigungsgrund sich ein Verantwortlicher berufen möchte, gilt es stets, den Grundsatz der Transparenz zu beachten. Das bedeutet, dass die Datenverarbeitung transparent und unter Beachtung der Informationspflichten und nie „heimlich“ zu erfolgen hat. 6.3 Bereichsspezifischer Datenschutz und Auffangnormen 107 <?page no="109"?> 7 Preisrecht 7.1 Überblick Preispolitik beinhaltet Entscheidungstatbestände, die sich auf die Festlegung, Umsetzung und Änderung von Preisen beziehen. Das preispolitische Aktionsfeld eines Unternehmens wird in unterschiedli‐ cher Weise und Intensität durch rechtliche Rahmenbedingungen bestimmt. In der Europäischen Union (EU) besteht ein Binnenmarkt, dessen Verwirk‐ lichung nach Art. 3 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) eines der Hauptziele der EU darstellt. Ein Binnenmarkt umfasst nach der Legaldefinition in Art. 26 Abs. 2 des Vertrages zur Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen des Vertrages gewährleistet ist. Diese Grundbeziehungsweise Marktfreiheiten bilden damit ein wesentliches Element des freien Binnenmarktkonzepts. Der Abbau von Handelshemmnissen im Binnenmarkt erfordert, entspre‐ chend dem Postulat in Art. 26 Abs. 1 AEUV, grundsätzlich ein Mindest‐ maß an ähnlichen Rechtsvorschriften. Das bedeutet, dass es zur Schaffung und Aufrechterhaltung eines Binnenmarktes notwendig ist, dass in jedem Mitgliedstaat annähernd gleiche rechtliche Rahmenbedingungen gelten. Grundgedanke ist dabei, dass die Rahmenbedingungen umso günstiger sind, je weniger Wettbewerbsbeschränkungen existieren. Zu diesen Wett‐ bewerbsbeschränkungen zählen Vereinbarungen oder Verhaltensweisen von Marktbeteiligten, welche die Bildung optimaler Marktverhältnisse be‐ einträchtigen. Stimmen sich beispielsweise Unternehmen einer Branche dahingehend ab, für welche Produkte und für welchen Zeitraum die Preise erhöht werden sollen, dann wird hierdurch die freie Preisbildung beeinflusst und nicht dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage überlassen. Aus diesem Grund wurden der EU von den Mitgliedstaaten in den, bis heute mehrfach modifizierten und erweiterten Verträgen Gesetzgebungs‐ kompetenzen für die Erreichung dieser Ziele übertragen. Die EU handelt hier im Rahmen der ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Kompetenzen. <?page no="110"?> Auf wirtschaftsrechtlichem Gebiet ist diese Kompetenz sehr weitereichend, so dass diese Kompetenz sich auch zu einem großen Teil auf für die Aspekte bezieht, die eine unternehmerische Preispolitik betreffen. Aus rechtlicher Sicht sind zwei große Bereiche zu unterscheiden. • Der erste Bereich betrifft das sogenannte Kartellrecht, dessen Ziel der Schutz der Freiheit des Wettbewerbs vor Verfälschungen ist. Der freie Wettbewerb kann dabei durch wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen beziehungsweise Verhaltensabstimmungen zwischen Unternehmen, insbesondere durch Preisabsprachen, beeinflusst werden. • Beeinträchtigungen des Wettbewerbs können weiterhin auch durch missbräuchliches Verhalten marktbeherrschender Unternehmen er‐ folgen, wenn diese, etwa durch Kampfpreisstrategien, Konkurrenten vom Markt zu drängen versuchen. Letztlich kann der freie Wettbewerb auch durch Unternehmenszusammenschlüsse (Fusionen) beeinträchtig werden. Das Kartellrecht ist in der EU weitgehend vollständig und einheitlich gere‐ gelt. Die in den Artikeln 101 und 102 AEUV enthaltenen kartellrechtlichen Regeln beziehen sich auf horizontale und vertikale Wettbewerbsbeschrän‐ kungen sowie auf den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Diese grundlegenden Regelungen werden durch mehrere Verordnungen und Richtlinien (Art. 103 AEUV) präzisiert und ergänzt. Unter Verordnungen und Richtlinien sind dabei - wie oben schon ausgeführt - europäische Gesetze zu verstehen. Während eine Verordnung als „europäisches Gesetz“ unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, bedarf es bei einer Richtlinie zu ihrer Geltung noch einer Umsetzung in nationales Recht. Die Vorgaben dieses „Rahmengesetzes“ sind zwar für die einzelnen Staaten in Bezug auf die Erreichung des Ziels verbindlich, jedoch ist den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel der Um‐ setzung überlassen (Art. 288 AEUV). Im Kartellrecht ist die Verordnung von größerer Bedeutung. Zu den praktisch bedeutsamsten Verordnungen zählen die Kartellverfahrensverordnung 1/ 2003/ EG, mehrere Gruppenfreis‐ tellungsverordnungen sowie die Fusionskontrollverordnung (FKVO), die das Verfahren und die materiellen Maßstäbe der Marktstrukturkontrolle bei Unternehmenszusammenschlüssen regelt. Daneben bestehen noch die kartellrechtlichen Vorschriften in den einzel‐ nen Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel in Deutschland das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Diese nationalen Kartellgesetze sind 110 7 Preisrecht <?page no="111"?> heute weitgehend an die europäischen Regelungen angepasst worden. Sie sind (noch) anwendbar, wenn keine Relevanz für den Binnenmarkt vorliegt; in gewissem Umfang dürfen sie aber auch Modifikationen beziehungsweise Erweiterungen zum EU-Recht vorsehen; ein Beispiel ist das in § 20 GWB enthaltene Boykottverbot. Die nationalen Regelungen dürfen aber in keinem Fall den EU-Gesetzen widersprechen. Der zweite Rechtsbereich bezieht sich auf das Verhalten der Marktteil‐ nehmer. Es geht dabei um die Sicherung eines fairen Wettbewerbs durch eine „Marktverhaltenskontrolle“, etwa durch ein Verbot bestimmter Werbe‐ methoden. Dieses „Lauterkeitsrecht“ ist allerdings auf europäischer Ebene nicht in gleicher Weise wie das Kartellrecht vereinheitlicht, sondern wird überwiegend durch spezielle Gesetze in den Mitgliedstaaten geregelt; so ist beispielsweise in Deutschland das „Lauterkeitsrecht“ im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) und in der Preisangabenverordnung (PAngV) geregelt. Das Ziel dieser Gesetze ist der Schutz der Kunden (insbesondere Ver‐ braucher), der Wettbewerber und der Allgemeinheit vor unlauteren („un‐ fairen“) Verhaltensweisen einzelner Marktteilnehmer im Geschäftsverkehr, zum Beispiel durch intransparente oder irreführende Preisangaben sowie unsachliche vergleichende Preiswerbung. Das Lauterkeitsrecht, das in der EU von den, im AEUV geregelten Grundfreiheiten erfasst wird, ist heute allerdings vor allem durch die Recht‐ sprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und durch zahlreiche Richtlinien der EU harmonisiert worden. Im Folgenden werden zunächst die maßgebenden Regelungen des europäischen Kartellrechts vorgestellt. 7.2 Wettbewerbsbeeinträchtigende Preisvereinbarungen und missbräuchliches Marktverhalten Wettbewerbsbeeinträchtigende Preisvereinbarungen Voraussetzungen und Freistellungen Nach Art. 101 Abs. 1 AEUV sind alle Vereinbarungen zwischen Unterneh‐ men, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abge‐ stimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder 7.2 Preisvereinbarungen und Marktverhalten 111 <?page no="112"?> Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, verboten. Der Begriff „Vereinbarung“ wird zum Schutz des freien Wettbewerbs dabei weit ausgelegt. So werden alle Formen einer Willensübereinstimmung zwischen Unternehmen und/ oder Unternehmensvereinigungen über ihr gemeinsames Auftreten am Markt erfasst, das heißt also nicht nur konkrete Verträge, sondern auch ein „gentlemen’s agreement“, durch die auch eine bloße moralische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Bindung begründet werden soll. Mit dem abgestimmten Verhalten soll weiterhin jede Form der bewussten Koordination des Verhaltens von Unternehmen erfasst wer‐ den. Die Koordination geschieht meist durch die vorherige gegenseitige Information der beteiligten Unternehmen über ihr zukünftiges Verhalten am Markt, etwa durch den Austausch von Preislisten oder Verkaufsmengen (Egger/ Vieweg, Teil 5, § 7, Rn. 81 ff.). So unterliegt zum Beispiel die Vereinbarung aufeinander abgestimmter Neuwa‐ genpreise zwischen zwei Automobilherstellern als klassisches Preiskartell stets dem Verbot nach Art. 101 AEUV. Nicht verboten ist allerdings, wenn ein Unter‐ nehmen einseitig und unabhängig den Markt beobachtet, um dementsprechend auf die Preise von Konkurrenten reagieren zu können. Das sogenannte Nachahmen ist kein abgestimmtes Verhalten, sondern eine Reaktion eines Unternehmens auf das Verhalten eines anderen. In der Praxis ist der Nachweis eines abgestimmten Verhaltens schwierig und nur anhand von Indizien zu führen. Ein Beispiel ist der Tankstellenmarkt. Hier ist zwar ein oftmals gleichförmiges Verhalten der führenden Mineralölgesellschaften festzustellen, zum Beispiel die einheitliche Preiserhöhung vor Feiertagen. Der Nachweis eines abgestimmten Verhaltens ist aber schwer zu führen. Ein Indiz wäre ein vorheriger Informati‐ onsaustausch. Meistens liegt aber nur eine Nachahmung vor, das heißt, eine Tankstellenkette erhöht die Preise und die anderen ziehen nach; man spricht auch von einem erlaubten (selbstständigen) Parallelverhalten. Als Oligopole unterliegen sie allerdings einer Missbrauchskontrolle nach Art.-102 AEUV. Erforderlich für den Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV ist weiterhin eine „Binnenmarktrelevanz“, das heißt, dass der Handel zwischen den Mitgliedstaaten dadurch beeinträchtigt werden kann. In der Praxis wird von einer Anwendbarkeit des europäischen Kartell‐ rechts grundsätzlich ausgegangen, es sei denn, dass es sich um Bagatellfälle 112 7 Preisrecht <?page no="113"?> handelt. In diesem Fall ist nicht Art. 101 AEUV, sondern das nationale Kartellrecht anzuwenden. Die Kriterien zur Feststellung einer Binnenmarkt‐ relevanz sind in der „de-minimis-Bekanntmachung“ der Kommission aus dem Jahre 2014 enthalten (Bekanntmachung der Kommission über Ver‐ einbarungen von geringer Bedeutung, Abl. C-291 vom 30.8.2014, S. 1, Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Rn. 1098). Danach wird eine „Spürbarkeit“ bei horizontalen Abreden nur bis zu einem kumulativen Marktanteil von 10 % verneint, während bei vertikalen Vereinba‐ rungen eine „Bagatellvereinbarung“ auch noch vorliegen kann, wenn keines der Unternehmen mehr als 15 % Marktanteil auf dem relevanten Markt besitzt (Kilian/ Wendt, § 7, Rn. 35). Als Folge der unzulässigen Unternehmensabsprache muss zudem noch der Wettbewerb verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden. Bei jedem Kartellverfahren müssen zur Feststellung der Auswirkungen von Abspra‐ chen die Marktanteile der betroffenen Unternehmen ermittelt werden. Es ist damit in ökonomischer wie auch juristischer Hinsicht ein schwieriges Verfahren (Kilian/ Wendt, § 7, Rn. 36 ff.). Liegt eine, den Binnenmarkt beein‐ trächtigende Vereinbarung nach Art. 101 AEUV vor, können nach Art. 101 Abs. 3 AEUV wettbewerbsbeschränkende Absprachen vom Kartellverbot freigestellt werden, wenn sich durch diese auch oder sogar überwiegend positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und für die Verbraucher erge‐ ben können und der Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der betroffenen Waren nicht ausgeschaltet werden kann. Konkretisiert wird der Anwendungsbereich nach Art. 101 Abs. 3 AEUV durch eine Reihe an speziellen Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO). Das Bestehen von etwa zwei Dutzend solcher Gruppenfreistellungsverord‐ nungen und einer Vielzahl an Einzelfreistellungen zeigt hier eine großzügige Handhabung durch die Europäische Kommission. Für den Vertrieb ist vor allem die Vertikal-GVO Nr.-330/ 2010 von Bedeu‐ tung, die sich auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bezieht. Sie wurde 2022 durch die gleich‐ namige Regelung mit dem Ziel ersetzt, diese an die technische Entwicklung, insbesondere die zunehmende Digitalisierung des Vertriebs (zum Beispiel mit der Erfassung von Plattformen, Preisvergleichsmaschinen, „dual pri‐ cing“ für Off- und Onlinekäufe oder Online-Plattformen) anzupassen. Die Kartell-VO (EG) Nr. 1 / 2003 mit ihrem Konzept, den Art. 101 Abs. 3 AEUV als Legalausnahme zu verstehen, macht besondere Freistellungsakte durch 7.2 Preisvereinbarungen und Marktverhalten 113 <?page no="114"?> die Kommission entbehrlich. Die Unternehmen tragen damit die Beweislast für die Voraussetzungen einer Freistellung; es besteht allerdings die Mög‐ lichkeit, in unklaren Fällen die Kommission um ein Beratungsschreiben zu bitten. Rechtsfolgen kartellwidriger Absprachen Handelt es sich um spürbare wettbewerbsbeschränkende Absprachen nach Art. 101 Abs. 1 AEUV, die nicht nach Art. 103 AEUV unter eine Gruppen‐ freistellungsverordnung fallen oder nach einer Selbsteinschätzung entspre‐ chend der Kartellverfahrensverordnung 1/ 2003/ EG als freigestellt eingestuft werden können, dann sind diese nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. Die Nichtigkeit dieser Absprache besteht von Anfang an, ohne dass es noch einer Entscheidung der Europäischen Kommission bedarf. Die Europäische Kommission als zuständige Kartellbehörde in der EU kann ebenfalls bei Verstößen gegen die Artikel 101, 102 AEUV die betreffenden Unternehmen im Wege einer Abstellverfügung dazu auffordern, die festgestellte Zuwider‐ handlung abzustellen (Art. 7 Kartell-VO 1/ 2003/ EG) und bei vorsätzlichen oder fahrlässigen Verstößen (umsatzabhängige) Zwangs- oder Geldbußen verhängen (Art.-23 Kartell-VO 1/ 2003/ EG). Beispiele horizontaler und vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen Art. 101 Ab. 1 AEUV nennt in der lit. a zunächst als Beispiele für verbotene wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen „die unmittelbare oder mittel‐ bare Festsetzung der An- und Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbe‐ dingungen“. Zu den typischen horizontalen wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen zählen insbesondere • die Fixierung von Festpreisen, • die Vereinbarung von Mindestpreisen, • Absprachen über Preisbestandteile und Preisnachlässe, • Höchst- oder Fixpreise, zum Beispiel wenn Hersteller A und B den Preis ihrer Produkte einheitlich auf einen bestimmten Mindestpreis festsetzen. Erfasst werden zudem Vereinbarungen über 114 7 Preisrecht <?page no="115"?> • Preisintervalle, • Margen, • Rabatte sowie über • Kunden-, Mengen- und Absatzgebiete. Angenommen, Hersteller A und Hersteller B sind die beiden einzigen Hersteller eines Produkts und beide einigen sich dahingehend, dass A Frankreich und B Spanien beliefern soll, dann hat das zur Konsequenz, dass beide für ihr Territorium eine Monopolstellung haben und daher höhere Preise verlangen können als bei einem Wettbewerb zwischen A und B. Nach Ansicht der EU-Kommission zählen derartige Eingriffe in die Preisbil‐ dungsfreiheit der Unternehmen zu den stets verbotenen „Kernbeschränkun‐ gen“ (hardcore restrictions). Die Einordnung als Kernbeschränkung hat zur Folge, dass derartige Absprachen nicht von einer Gruppenfreistellungsver‐ ordnung erfasst werden und auch eine Einzelfreistellung nicht in Betracht kommt. Verboten sind grundsätzlich auch Absprachen über preisbegleitende Maßnahmen, wie zum Beispiel über Zahlungsbedingungen, Kreditziele, Verzugszinsen oder den Umfang von Garantien. Das Kartellverbot erfasst ebenso jede Form einer vertikalen Preisbin‐ dung, unabhängig davon, ob sie sich auf die Endpreise oder auf Preisbe‐ standteile bezieht. Die Preisbildung bestimmt sich grundsätzlich auf der Basis von Angebot und Nachfrage. Die „Preisbindung der zweiten Hand“ ist eine Kernbeschränkung und daher, bis auf spezielle Legalausnahmen, verboten, so zum Beispiel das deutsche „Buchpreisbindungsgesetz“ zum Schutz des Kulturgutes „Buch“. Danach darf ein Lieferant seinem Händler nicht die Preise vorschreiben, die dieser seinen weiteren Abnehmern berechnet. Der Händler muss selbst dar‐ über entscheiden können, welche Preise er von seinen Kunden fordert. Keine Bedenken bestehen bei den zuständigen EU-Organen gegen die Festsetzung von Höchstverkaufspreisen, da diese (angeblich) für den Verbraucher güns‐ tig ist. Zulässig sind unverbindliche Preisempfehlungen. Diese beruhen auch nicht auf einer Verhaltenskoordination, sondern werden einseitig aus‐ gesprochen. Sie dürfen sich aber nicht als Fest- oder Mindestverkaufspreis auswirken, indem zu ihrer Einhaltung Druck ausgeübt wird oder Anreize gewährt werden (Art.-4 lit. a „Vertikal-GVO“). Als Ausnahmen von diesem Verbot können allenfalls kurzfristige Wer‐ beaktionen zwecks Markteinführung neuer Produkte oder koordinierte kurzfristige Sonderangebotskampagnen von zwei bis sechs Wochen in Be‐ 7.2 Preisvereinbarungen und Marktverhalten 115 <?page no="116"?> tracht kommen. Erfasst werden ebenfalls Preisabsprachen bei öffentlichen Ausschreibungen. Der Grund besteht darin, dass auch hier eine besondere Gefahr für den Wettbewerb besteht. Durch eine solche Absprache wird nach außen der Eindruck erweckt, dass es sich um unabhängig voneinander abgegebene Angebote handelt. Allerdings haben sich deren Teilnehmer vorher dahingehend abgesprochen, welches Unternehmen den Zuschlag erhalten soll, so dass die anderen beteiligten Unternehmen höhere Angebote abgeben. So wurden von der EU-Kommission in mehreren Verfahren gegen die Beteiligten eines solchen Preiskartells hohe Geldbußen unter anderem wegen eines „cover pricing“ ausgesprochen. Unzulässig können weiterhin Preisabsprachen sein, die den Import von Gütern in die EU betreffen, nicht dagegen solche Preisabsprachen, die den Export aus der EU betreffen. Missbräuchliches Marktverhalten Marktbeherrschende Position Art. 102 AEUV ergänzt das Verbot wettbewerbsbeschränkender Absprachen nach Art. 101 AEUV, indem auf den Missbrauch einer vorhandenen Mono‐ pol- oder Oligopolstellung abgestellt wird. Diese Vorschrift verbietet eine missbräuchliche Ausnutzung einer markt‐ beherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten beeinträchtigen kann. Anders als bei Art. 101 AEUV, der stets eine Verhaltensabstimmung zwischen mindestens zwei Unternehmen voraussetzt, kann Art. 102 AEUV auch ein‐ seitiges Verhalten eines einzelnen Unternehmens erfassen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) definiert eine marktbeherrschende Stellung als die wirtschaftliche Macht eines Unternehmens, die dieses in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Ab-nehmern und letztlich den Verbrauchern gegen‐ über in einem nennenswerten Umfang unabhängig zu verhalten (EuGH, Urt. v. 14.2.1978, Rs. 27/ 76---United Brands). Zur konkreten Feststellung der Marktbeherrschung wird dabei regel‐ mäßig an den Marktanteilen angesetzt. 116 7 Preisrecht <?page no="117"?> Um diese Marktanteile bestimmen zu können, muss zunächst der relevante Markt in sachlicher und räumlicher Hinsicht abgegrenzt werden. Die EU-Kommission hat 1997 für die Definition des relevanten Marktes Leitli‐ nien veröffentlicht, an denen sich auch die nationalen Gerichte orientieren (Wagner-von-Papp § 10, Rn. 81 ff. m. w. N.). Ist der relevante Markt definiert, sind sodann die Anbieter auf diesem Markt zu identifizieren und ihre jeweiligen Anteile auf dem relevanten Markt zu bestimmen. Diese so ermittelten Marktanteile bieten einen ersten Anhaltspunkt. In der Praxis gilt die Regel, dass ein Marktanteil über 75 % ein sicheres Indiz für eine Marktbeherrschung ist. Bei einem Marktanteil zwischen 50-75% ist es ein regelmäßiges Indiz und bei unter 40 % Marktanteil bedarf es noch zusätzli‐ cher Umstände (zum Beispiel wesentlich geringere Marktanteile des nächsten Wettbewerbers) zur Feststellung einer Marktbeherrschung. Der EuGH hat in einer Entscheidung sogar angenommen, dass ein Marktanteil von 50 %, „von außergewöhnlichen Umständen abgesehen“, ohne weiteres den Beweis für ein Vorliegen einer beherrschenden Stellung sein kann (EuGH, Urt. v. 3.7.1991, Rs. C-62/ 86---AKZO/ Kommission). Verbotene Verhaltensweisen Eine marktbeherrschende Stellung ist für sich genommen nicht verboten. Grundsätzlich dürfen marktbeherrschende Unternehmen wie andere Unter‐ nehmen am Wettbewerb teilnehmen, was die Verteidigung der eigenen Marktstellung miteinschließt. Allerdings legt der EuGH diesen Unterneh‐ men eine „besondere Verantwortung“ dafür auf, den noch bestehenden „Restwettbewerb“ auf dem relevanten Markt aufrechtzuerhalten (EuGH, Urt. v. 9.3.1983, Rs. 322/ 81 - Michelin I). Der EuGH sieht ein Verhalten dann als missbräuchlich an, wenn es die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindert, welche von den Mitteln eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweicht (EuGH, Urt. v. 13.2.1979, Rs. 85/ 76, Slg. 1979, 461 - Hofmann-La-Roche). In Art. 102 S. 2 lit. a bis d AEUV sind nicht abschließend Beispiele für missbräuchliches Verhalten genannt. Grundsätzlich lässt sich eine Ka‐ tegorisierung in einen Ausbeutungs- und einen Behinderungsmissbrauch 7.2 Preisvereinbarungen und Marktverhalten 117 <?page no="118"?> vornehmen; Satz 2 lit. a erfasst den Ausbeutungsmissbrauch und lit. b bis d beide Formen. Der Ausbeutungsmissbrauch setzt voraus, dass ein markt‐ beherrschendes Unternehmen seine Marktmacht dazu missbraucht, seinen Abnehmern Produkte zu überhöhten Preisen zu verkaufen oder unangemes‐ sene Einkaufs- oder Verkaufspreise sowie sonstige Geschäftsbedingungen aufzuzwingen, durch die Handelspartner und/ oder Verbraucher geschädigt werden (Preis- und Konditionenmissbrauch). Erforderlich ist weiterhin ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der marktbe-herrschenden Stellung und dem missbräuchlichen Verhalten (EuG, Urt. 6.10.1994, T-83/ 91 - Tetra Pak; EuGH, Urt. v. 17.2.2011, C-52/ 09 - TeliaSonera). Die Feststellung eines Ausbeutungsmissbrauchs ist in der Praxis problematisch, wenn es darum geht, den „richtigen“ Preis beziehungsweise die „angemessenen Bedingungen“ zu finden. Abgestellt wird diesbezüglich auf das Vergleichs‐ marktkonzept, jedoch kommt eine Preishöhenkontrolle praktisch nur in seltenen Fällen in Betracht (Egger/ Vieweg, Teil 5, § 8, Rn. 148 ff.). Während es beim Ausbeutungsmissbrauch um den Schutz der Marktge‐ genseite und der Verbraucher vor Missbrauch geht, betreffen die Fälle des Behinderungsmissbrauchs das horizontale Verhältnis. Geschützt werden soll der Restwettbewerb vor einer (weiteren) Marktmachtausdehnung. Verboten sind daher Verhaltensweisen, durch die ein marktbeherrschen‐ des Unternehmen Wettbewerber auf dem beherrschten oder nachgelagerten Markt behindert. Nach Auffassung der EU-Kommission sind der preisbezo‐ gene Behinderungsmissbrauch und die Marktverschließung die beiden Fall‐ gruppen mit der größten Praxisrelevanz (Prioritätsmitteilung der EU-Kom‐ mission, ABl. 2009, C 45, 7, Rn. 19 ff.). Entscheidend für die Bewertung als missbräuchlich ist eine Interessenabwägung unter Einbeziehung des Schutz‐ zwecks des Art. 102 AEUV. So sind Preisunterbietungen zwar grundsätzlich zulässig und stellen ein wesentliches Element des freien Wettbewerbs dar. Das gilt sogar bei einer erheblichen Unterschreitung des üblichen Marktpreises unter Selbstkosten. Ein preisbezogener Behinderungsmissbrauch kann aber dann vorliegen, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen durch besonders niedrige Preise versucht, Wettbewerber vom Markt zu drängen (Kampfpreisunter‐ bietung = „predatory pricing“) oder den Markteintritt des Wettbewerbers zu verhindern versucht, zum Beispiel durch Dumpingpreise an Stammkunden des Wettbewerbers (EuGH, Urt. v. 3.7.1991, Rs. C 62/ 86 - AKZO/ Kommis‐ sion, Slg. 1991, I 3359). Weitere Fallgestaltungen eines Behinderungsmiss‐ brauchs sind Ausschließlichkeitsbindungen im Vertrieb oder bestimmte 118 7 Preisrecht <?page no="119"?> Rabattgestaltungen (EuGH, Urt. v. 15.3.2007, C-95/ 04, Slg., 2007 I-2331 - British Airways), zum Beispiel Treueprämien und Rabatte an inländische Großhändler, um ausländische Konkurrenten fernzuhalten (Kilian/ Wendt, § 7, Rn. 69 m. w. N.). In mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen können derartige Strategien auch als unlauteres Verhalten verboten sein. 7.3 Preisbezogene Werbung Rechtlicher Hintergrund Das Lauterkeitsrecht wird im Vertrag zur Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) von den Grundfreiheiten miterfasst. Der Einfluss auf das mitgliedstaatliche Lauterkeitsrecht zeigte sich zunächst durch Entscheidun‐ gen des EuGH zur Freiheit des Warenverkehrs (Art.-34 ff. AEUV). In diesen Entscheidungen ging es grundsätzlich darum, ob durch eine nationale Vorschrift, zum Beispiel ein Werbeverbot, oder eine andere Maßnahme der Markteintritt eines Anbieters aus einem anderen Mitgliedstaat ungerechtfertigt verhindert oder erschwert wird; ein bekanntes, oben schon geschildertes Beispiel ist hier das deutsche „Reinheitsgebot“, das andere Brauereien in der EU daran gehindert hatte, ihr „Getränk“, das weitere (nach dem Reinheitsgebot zwar nicht zulässige, aber gesundheitlich vollkommen unschädliche) Zutaten enthielt, unter der Bezeichnung „Bier“ in Deutschland zu verkaufen beziehungsweise zu vermarkten. In seinen Entscheidungen legte der EuGH als Maßstab ein Verbrau‐ cherleitbild zugrunde, und zwar dasjenige eines „normal informierten und ange‐ messen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“ (EuGH, Urt. v. 12.5.2011, Rs. C-122/ 10 - Konsumentombudsmannen; Wagner-von-Papp, § 10, Rn. 132 ff. m. w. N.). Noch in den 1970er bis 1990er Jahren legten die Gerichte einiger Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Deutschland, zur Beurteilung der Unlauterkeit einer Werbemaßnahme das Leitbild eines „flüchtigen und unkri‐ tischen Verbrauchers“ zugrunde, so dass etwa eine unlautere Irreführung bereits dann angenommen wurde, wenn eine Irreführungsgefahr bei ca. 10-15% der Adressaten bestanden hätte. Mittlerweile haben sich Gerichte und Gesetzgeber in den Mitgliedstaaten der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen mit der Folge, dass erst dann, wenn bei 25-30% der Zielgruppe die Gefahr einer Irreführung besteht, eine Unlauterkeit angenommen wird (Vieweg/ Egger, Teil 6, § 3, Rn. 50 ff.). Die EU hat zudem zur Harmonisierung zahlreiche Richtlinien mit dem Ziel verabschiedet, die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes zu verbessern und 7.3 Preisbezogene Werbung 119 <?page no="120"?> dabei ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten (Kilian/ Wendt, § 7, Rn. 98 ff.; Wagner-von-Papp, § 10, Rn. 123 ff.); diese Richtlinien wenden sich grundsätzlich auch an die EWR-Staaten Norwegen, Island und Liech‐ tenstein. Aus rechtstechnischer Sicht ist zu beachten, dass die Richtlinien nicht unmittelbar gelten, sondern grundsätzlich erst dann Wirkung entfal‐ ten, wenn diese von den Mitgliedstaaten in nationales Recht, regelmäßig innerhalb einer Frist von zwei bis drei Jahren, umgesetzt worden sind. Zur Vermeidung unterschiedlicher Umsetzungen ist die EU dazu übergegangen, bei ihrer Richtliniensetzung eine Vollstatt eine Mindestharmonisierung anzuordnen, das heißt, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Umsetzung keinen Spielraum mehr haben. Zu den Richtlinien, die (auch) das Lauterkeitsrecht betreffen, zählen insbesondere: • Richtlinie 98/ 6/ EG über den Schutz der Verbraucher bei der Angabe des Preises der ihnen angebotenen Erzeugnisse („Preisangaben-richtli‐ nie“) mit der Änderungsrichtline 2019/ 2161/ EU vom 27.11.2019 („Omni‐ bus-Richtlinie“), • Richtlinie 2000/ 31/ EG über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Ge‐ schäftsverkehrs, im Binnenmarkt („E-Commerce-Richtlinie“), • Richtlinie 2005/ 29/ EG über unlautere Geschäftspraktiken im binnen‐ marktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrau‐ chern (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), • Richtlinie über irrführende und vergleichende Werbung 2006/ 114/ EG • Diese Richtlinie soll Gewerbetreibende vor irreführender Werbung und deren unlauteren Auswirkungen schützen sowie die Bedingungen für eine zulässige vergleichende Werbung festlegen. Danach ist eine verglei‐ chende Werbung, also der Vergleich von Waren und Dienstleistungen mit denen von Mitbewerbern, grundsätzlich unter bestimmten Voraus‐ setzungen zulässig. So ist ein Preisvergleich zulässig, wenn er sachlich korrekt und transparent, das heißt nicht unwahr oder irreführend ist. • Richtlinie 2011/ 83/ EU über die Rechte der Verbraucher („Verbraucher‐ rechterichtlinie“), • Richtlinie 2019/ 771/ EU über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs („Warenkaufrichtlinie“), 120 7 Preisrecht <?page no="121"?> • Richtlinie 2019/ 770/ EU über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen („Digi‐ tale-Inhalte-Richtlinie“), • Richtlinie (EU) 2024/ 825 des Rates und des Europäischen Parlamen‐ tes vom 28. Februar 2024 zur Änderung der Richtlinien 2005/ 29/ EG und 2011/ 83/ EU hinsichtlich der Stärkung der Verbraucher für den ökologischen Wandel durch besseren Schutz gegen unlautere Praktiken und durch bessere Informationen (engl: Empowering consumers for the green transition, kurz: „EmpCo- Richtlinie“) sowie • Richtlinie über die Begründung ausdrücklicher Umweltaussagen und die diesbezügliche Kommunikation vom 22.03.2023, COM(2023) 166 final („Green Claim-Richtlinie“). Diese Aufzählung zeigt, dass das Lauterkeitsrecht in den Mitgliedstaaten heute weitgehend harmonisiert ist, vor allem der Geschäftsverkehr zwi‐ schen Unternehmer und Verbraucher. In den meisten Richtlinien wird ein Verbraucher als eine natürliche Person definiert, die zu Zwecken handelt, die außerhalb ihrer gewerblichen, geschäftlichen oder beruflichen Tätigkeit liegen. Unternehmen, die gegen die Vorschriften im Lauterkeitsrecht in ihrem Staat verstoßen, etwa durch irreführende beziehungsweise intran‐ sparente Preisangaben, können nach den jeweiligen mitgliedstaatlichen Vorschriften durch kostenpflichtige Abmahnungen, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche oder Bußgelder sanktioniert werden. Die nationalen Gerichte haben die Gesetze dabei im Sinne der Zielrich‐ tung der Richtlinie auszulegen beziehungsweise zu interpretieren. Bei Zwei‐ feln sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den EuGH im Wege eines speziellen Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) um eine Antwort zu bitten, damit in der EU ein einheitliches Verständnis gesichert ist. Im Folgenden sollen die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die Preisangabenrichtlinie näher vorgestellt werden. Verbot unlauterer Geschäftspraktiken Eine große Wirkung auf das Lauterkeitsrecht in den Mitgliedstaaten hat die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-Richtlinie). Ihr Ziel ist eine Verbesserung des Verbraucherschutzes; sie bezieht sich auf Werbe- und Marketingmaßnahmen von Unternehmen, die sich an Verbraucher richten (B2C - business to consumer). Es soll sichergestellt werden, dass der 7.3 Preisbezogene Werbung 121 <?page no="122"?> Verbraucher eine informierte und von äußeren und inneren Zwängen freie Kaufentscheidung für ein Produkt (Ware oder Dienstleistung) trifft. Nach der UGP-Richtlinie sind unlautere Geschäftspraktiken verboten (Art. 5 Abs. 1 UGP-Richtlinie). Diese enthält zunächst eine „schwarze Liste“ („blacklist“) von Geschäftspraktiken, die stets verboten sind. Hierzu zählen • unwahre Angaben zu zeitlich begrenzten Verkaufsaktionen, zum Bei‐ spiel wegen angeblicher Geschäftsschließung, • Lockvogelangebote, • betriebliche Herkunftstäuschungen, • Verwendung von (nicht vorhandenen) Gütezeichen und Auszeichnun‐ gen, • Werbung mit Selbstverständlichkeiten oder • eine Werbung gegenüber Kindern. Fällt eine Werbemaßnahme nicht unter diesen Katalog, dann ist zu prüfen, ob es sich um verbotene irreführende oder aggressive Geschäftspraktiken han‐ delt. Mit dem Verbot irreführender Geschäftspraktiken soll erreicht werden, dass der Verbraucher eine informierte Entscheidung für eine Ware oder eine Dienstleitung treffen kann. Eine irreführende Geschäftspraxis kann dabei sowohl in einem aktiven Handeln, zum Beispiel eine falsche Angabe in Bezug auf das Produkt oder den Preis, als auch in einem Unterlassen (Art. 6, Art. 7 UGP-RL) gesehen werden. Eine Irreführung durch Unterlassen besteht im Wesentlichen in dem Vorenthalten und Verheimlichen von wesentlichen produkt- oder dienstleistungsbezogenen Informationen, zum Beispiel in Bezug auf die Vollständigkeit und Transparenz von Preisangaben. Auch die Nichtbeachtung der, in anderen Richtlinien enthaltenen Infor‐ mationspflichten auf Anbieterseite, zum Beispiel die Vollständigkeit der Preisangaben beim Onlinehandel, kann eine irreführende Geschäftspraxis im Sinne dieser Richtlinie sein, da sie von dem Begriff „wesentliche Infor‐ mationen“ erfasst werden. Das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken soll bewirken, dass der Verbraucher eine, von äußeren und inneren Zwängen, zum Beispiel durch Belästigung, Nötigung oder Drohungen, freie Entschei‐ dung treffen kann. Stellt eine Werbemaßnahme oder eine Verkaufsaktion keinen Fall der „black list“ dar und enthält sie auch keine irreführenden oder aggressiven Geschäftspraktiken, dann kann sie doch von der Generalklausel erfasst werden, nach der unlautere Geschäftspraktiken verboten sind (Art. 5 122 7 Preisrecht <?page no="123"?> Abs. 1 UGP-Richtlinie). Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn sie den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht widerspricht und sie in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durch‐ schnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern wendet, wesentlich beeinflusst oder dazu geeignet ist, es wesentlich zu beeinflussen. Die Bestimmungen dieser Richtlinie sind, wenn sie mit spe‐ zielleren Vorschriften anderer Richtlinien kollidieren, nachrangig (Art. 3 Abs. 4 UGP-Richtlinie), etwa in Bezug auf die Preisan-gabenrichtlinie, die sich auf die Transparenz von Preisangaben bezieht. Transparenz und Vollständigkeit von Preisangaben Von großer Praxisrelevanz für die Preispolitik ist die Richtlinie 98/ 6/ EG über den Schutz der Verbraucher bei der Angabe des Preises der ihnen angebotenen Erzeugnisse (Preisangabenrichtlinie). Diese Richtlinie soll es den Verbrauchern ermöglichen, den Preis von Produkten auf der Grundlage einheitlicher und transparenter Informationen leicht zu bewerten und zu vergleichen, so dass sie in der Lage sind, besser fundierte Entscheidungen zu treffen. Mit dieser Richtlinie sollen Händler gezwungen werden, im Rechtsverkehr mit Verbrauchern transparente und korrekte Verkaufspreise anzugeben. So müssen Verkaufspreis und der Preis je Maßeinheit unmissverständlich und transparent angegeben werden. Unter Verkaufspreis ist dabei der „Endpreis“ für eine Produkteinheit oder eine bestimmte Erzeugnismenge zu verstehen, der die Mehrwertsteuer und alle sonstigen Steuern einschließt. Es soll dadurch verhindert werden, dass der Verbraucher selbst den zu zahlenden Preis ermitteln muss; unzulässig ist daher etwa die Angabe von „ca.“- Preisen. Durch die Änderungsrichtline 2019/ 2161/ EU v. 27.11.2019, ABl. L 328 S. 7 - „Omnibus-Richtlinie“) sind nun einige Regelungen in bereits existierenden Richtlinien, so unter anderem auch in der Richtline 98/ 6/ EG, teilweise geändert worden. Es geht diesbezüglich um eine Spezifizierung in Bezug auf angekündigte Preisermäßigungen. Mit dieser klarstellenden Ergänzung soll sichergestellt sein, dass es sich um echte Ermäßigungen handelt. Es soll verhindert werden, dass Händler den Referenzpreis künstlich aufblähen und/ oder die Verbraucher über die Höhe des Preisnachlasses irreführen. Nach Art. 6a der Richtlinie 7.3 Preisbezogene Werbung 123 <?page no="124"?> ist danach bei jeder Bekanntgabe einer Preisermäßigung der vorherige Preis anzugeben, den der Händler vor der Preisermäßigung über einen bestimmten Zeitraum angewandt hat. Der vorherige Preis ist der niedrigste Preis, den der Händler innerhalb eines Zeitraums von mindestens 30 Tagen vor der Anwendung der Preisermäßigung verlangt hat. Die Mitgliedstaaten können für schnell verderbliche Waren oder Waren mit kurzer Haltbarkeit abweichende Regelungen treffen. Ist das Erzeugnis seit weniger als 30 Tagen auf dem Markt, können die Mitgliedstaaten auch einen kürzeren als den in Absatz 2 genannten Zeitraum festlegen. Damit werden zukünftig „Mondpreise“ verhindert, also Preise, die be‐ wusst hoch angesetzt (und niemals ernsthaft gefordert wurden), um dann nach kurzer Zeit von diesem Preis einen Rabatt zu gewähren; entsprechen‐ des gilt, wenn ein niemals geforderter Preis durchgestrichen wird, um von diesem scheinbar Rabatt zu geben. Nicht darunter fallen Preisschwankungen oder Preissenkungen, die nicht mit einer „Bekanntgabe“ verbunden sind und daher keinen Einschränkungen unterliegen. Nicht erfasst werden ebenfalls allgemeine Werbeaussagen, die das Angebot des Verkäufers im Vergleich zu Angeboten anderer Verkäufer als vorteilhaft erscheinen lassen, ohne den Eindruck einer Preisermäßigung zu erwecken, zum Beispiel „Bestpreis“ oder „niedriger Preis“; derartige Aussagen unterliegen allerdings dem An‐ wendungsbereich der Richtlinie über unfaire Geschäftspraktiken. Ausgewählte preisrechtlich relevante Fallgestaltungen Nach den vorgenannten erwähnten Richtlinien sind die Anbieter von Waren oder Dienstleistungen verpflichtet, die Verbraucher vor Vertragsabschluss eindeutig über den Gesamtpreis, das heißt einschließlich aller Steuern und Gebühren, zu informieren. Nicht zulässig ist es, wenn sich zum Beispiel der Preis nach Buchung eines Fluges auf einer Internetseite einer Fluggesellschaft aufgrund von Zuschlägen erhöht, die während des gesamten Buchungsvorgangs an keiner Stelle angegeben waren. Zudem müssen sämtliche Produkte nicht nur mit dem Packungspreis, sondern auch mit dem Preis je Maßeinheit, zum Beispiel pro 1 Kilo, pro Liter oder pro Stück, ausgezeichnet sein, um den Verbrauchern die Vergleichsmöglichkeit von Preisen zu erleichtern. Die Richtlinien sind auch für Onlinehändler von Bedeutung, die ihren Sitz nicht in der EU haben, aber ihre Angebote an Verbraucher in der EU 124 7 Preisrecht <?page no="125"?> ausrichten. Die Regelung im Internationalen Privatrecht der EU (Art. 6 ROM-II-Verordnung) sieht vor, dass im Lauterkeitsrecht das Recht des Staates anzuwenden ist, in dessen Gebiet die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind oder aber wahrscheinlich beeinträchtigt werden. Eine abweichende Vereinbarung ist unzulässig, das heißt, diese Regelungen sind zwingendes, nicht abänderbares Recht. So besteht für Onlinehändler im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern die Pflicht, den Buchungsvorgang so zu gestalten, dass der Verbraucher mit seiner Bestellung ausdrücklich bestätigt, dass er sich zu einer Zahlung verpflichtet. Die entsprechende Schaltfläche darf zur Vermeidung einer Irreführung mit nichts anderem als mit den Worten „Jetzt kostenpflichtig bestellen“ oder einer ähnlichen Formulierung beschriftet sein. Nicht zulässig in der EU ist eine Preisdiskriminierung, das heißt, dass von EU-Bürgern bei dem Erwerb von Waren oder dem Bezug von Dienst‐ leistungen kein höherer Preis wegen ihrer Staatsangehörigkeit abverlangt werden darf. Bei Onlinekäufen in der EU können aber Preisunterschiede zwischen Ländern oder verschiedenen derselben Website auftreten, zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher Lieferkosten. Bucht beispielsweise ein Kunde aus Dänemark für einen Urlaub in Spanien auf der Website einer spanischen Autovermietung ein Fahrzeug, dann darf der Preis bei Angabe des Wohnsitzlandes Dänemark nicht deshalb höher ausfallen. Auch dürfen bei der Verwendung von Kreditkarten keine Zusatzentgelte berechnet wer‐ den. Händler können die Präferenzen beim Online-Surfen nachverfolgen und ihre Preisgestaltung danach mit dem Ziel ausrichten, den Verbrauchern Produkte zu Preisen anzubieten, die diese bereit wären zu zahlen. Solche personalisierten Preise sind grundsätzlich zulässig. Verbraucher haben al‐ lerdings einen Anspruch auf vollständige Preistransparenz, das heißt, dass die Händler verpflichtet sind, darüber zu informieren, wenn der Preis auf Grundlage einer automatisierten Entscheidungsfindung und Profiler‐ stellung auf Kundenseite personalisiert worden ist. Ebenso grundsätzlich zulässig sind individuelle Preisnachlässe gegenüber be‐ stimmten Kunden, etwa nach Preisverhandlungen, für eine spezielle Gruppe (zum Beispiel Kundenkarteninhaber, Vereinsmitglieder, Schüler, Senioren, Mitar‐ beitern des betreffenden Unternehmens); grundsätzlich zulässig sind auch (ge‐ staffelte) Mengenrabatte, Coupons, Rabattgutscheine sowie pauschale Preisher‐ 7.3 Preisbezogene Werbung 125 <?page no="126"?> absetzungen eines ganzen Sortiments. Im Dienstleistungsbereich, insbesondere in der Gastronomie, ist die „Happy Hour“ eine beliebte und zulässige Maßnahme. Derartige Werbeaktionen sind ebenfalls grundsätzlich zulässig. Diese aufgezählten Werbe- und Verkaufsförderungsmaßnahmen werden vom Anwendungsbereich der Richtlinie über unfaire Geschäftspraktiken erfasst; ausnahmsweise kann eine Unzulässigkeit wegen Irreführung oder einem übertriebenen Anlocken in Betracht kommen. Rabatte, das heißt betragsmäßige oder prozentual festgelegte Ab‐ schläge vom angekündigten oder allgemein geforderten Preis (Grund‐ preis), zum Beispiel als Barzahlungsrabatt, Gutschein sowie anderer Ver‐ kaufsförderungs-maßnahmen, wie zum Beispiel Kopplungsangebote, sind vor dem Hintergrund des unionsrechtlichen Verbraucherleitbildes eines durchschnittlich informierten, situationsadäquat aufmerksamen und ver‐ ständigen Durchschnittsverbrauchers, grundsätzlich zulässig (EuGH, Urt. v. 16.7.1998, Rs. C 210/ 96, Slg. 1998, I-4657 - Gut Springenheide und Tusky). Diese werden entweder von der Preisangabenrichtlinie oder von der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken erfasst. Eine Unlauterkeit könnte dann vorliegen, wenn mit der Preisnachlassgewährung eine Irreführung verbunden ist, zum Beispiel wenn sie unzutreffende Aussagen über Höhe, Dauer, Ausmaß und Gründe der Preisnachlassgewährung enthält; wirbt zum Beispiel ein Möbelhaus deutlich sichtbar mit „15 % auf alles - ohne Ausnahme“, liegt dann eine unlautere Irreführung vor, wenn von dieser Reduzierung in aktuellen Prospekten die beworbene Ware ganz oder teilweise ausgenommen wird. Unlauter sind schließlich ebenso unzutreffende Preisvergleiche. Sowohl bei Eigenpreisvergleichen als auch bei Preisvergleichen mit Konkurrenz‐ produkten gilt das Prinzip der Preiswahrheit und Preisklarheit. Die Frage, wann genau eine Irreführung in diesem Sinne anzunehmen ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Maßstab ist der durchschnittlich informierte, situationsadäquat aufmerksame und verständige Durchschnittsverbraucher. Grundsätzlich soll es für das Vorliegen einer unlauteren Irreführung aus‐ reichen, wenn die Gefahr besteht, dass ein Anteil von 25 bis 30 % der betreffenden Zielgruppe in die Irre geführt werden könnte. 126 7 Preisrecht <?page no="127"?> Zusammenfassung Die Ausführungen haben gezeigt, dass es auf der Ebene der Euro‐ päischen Union eine Vielzahl an Regelungen existieren, die eine unternehmerische Preispolitik zu beachten hat. Dabei sind zum einen die wettbewerbsbezogenen Regelungen im AEUV zu nennen. Von großer Bedeutung ist zunächst Art. 101 AEUV mit seinem grund‐ sätzlichen Verbot horizontaler Preisabsprachen und vertikaler Preis- und Konditionenbindungen. Ergänzend ist das Missbrauchsverbot für marktbeherrschende Unternehmen zu nennen (Art. 102 AEUV), wobei hierbei in der Praxis häufiger das Problem besteht, einen Ausbeu‐ tungsmissbrauch oder einen Behinderungsmissbrauch festzu-stellen. Die Regelungen, die sich auf das faire Verhalten der Marktteilnehmer beziehen, insbesondere in der Werbung und bei Verkaufsförderungs‐ maß-nahmen, sind im Lauterkeitsrecht der Mitgliedstaaten enthalten. Allerdings sind diese Vorschriften, vor allem durch Richtlinien der EU, soweit es den Geschäftsverkehr von Unternehmen mit Verbrauchern betrifft, mittlerweile weitgehend harmonisiert. 7.3 Preisbezogene Werbung 127 <?page no="129"?> 8 KI-Recht Im Rahmen der Betrachtung des einschlägigen Rechtsrahmens von interna‐ tionalisierenden Start-ups soll sich nun abschliessend noch dem diesbezügli‐ chen aktuellen europäischen KI-Recht zugewandt werden. Gerade Start-ups mit ihrer „Einfach mal ausprobieren“-Mentalität sind für KI-Anwendungen unterschiedlichster Art prädestiniert, sei es in der Vorbereitung ihrer Leis‐ tungsangebote, seien es die Leistungsangebote selbst. Start-up-Verantwort‐ liche stehen dabei als Unternehmensleitungen in der Verantwortung, nicht nur die technischen, sondern insbesondere auch die regulatorischen Voraus‐ setzungen zu schaffen und ihre Mitarbeiter auf die Veränderungsprozesse, vorallem auch in rechtlicher Hinsicht, vorzubereiten und permanent aktiv begleitend zu unterstützen. 8.1 Einführung Die Digitalisierung berührt nahezu jeden Lebensbereich. Diese Entwicklung wird vor allem auf europäischer Ebene auch in rechtlicher Hinsicht nach‐ vollzogen. Die EU hat hierzu in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Regelungen erlassen. Hierzu zählt die vor kurzem verabschiedete „Verord‐ nung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz“ (KI-VO). Die EU hat mit dieser Verordnung, die zeitlich abgestufte Umset‐ zungsfristen (von 6, 12, 24 und 36 Monaten, Art. 113 KI-VO) vorsieht, einen weltweit ersten Regulierungsversuch zu KI unternommen. Die große Bedeutung des Gesetzes besteht darin, dass es in naher Zukunft wohl kaum eine Branche geben wird, die nicht von KI betroffen sein wird. KI kommt zum Beispiel bei der Analyse des Nutzerverhaltens auf Social Media, der Gesichtserkennung, zum Entsperren von Smartphones oder bei personalisierten Produktvorschlägen beim Onlineshopping zum Einsatz. KI kann komplexe Verkehrssituationen erkennen, beurteilen und Kollisionswahrscheinlichkeiten reduzieren. In der Industrie steuert KI Produktionsprozesse, lenkt Warenströme und sagt einen drohenden Maschinenausfall voraus. Auch die medizinische Dia‐ gnostik arbeitet mit KI. So können Maschine-Learning-Algorithmen Tumore oder Schlaganfälle auf der Basis CT-Scans erkennen oder Hautveränderun‐ gen klassifizieren. Die Anwendungsmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt. <?page no="130"?> Überall dort, wo große Datenmengen verarbeitet werden, kann KI zum Einsatz kommen und einen großen Nutzen bringen. Bekannte KI-Systeme sind hier etwa ChatGPT und Google Gemini (zur Text- und Bilderstellung) oder das Übersetzungstool DeepL. Diese umfassenden Einsatzmöglichkeiten von KI bergen aber auch Risi‐ ken. Durch eine algorithmengestützte Bilderkennung etwa in der Medizin dringt der Einsatz von KI in höchstpersönliche Lebensbereiche ein. In Form von Datenanalysesystemen in der Polizei und Justiz hält KI Einzug in grundrechtlich sensible und rechtstaatlich bedeutsame Entscheidungs‐ verfahren. Im Bereich des autonomen Fahrens wird KI in Alltagsprozesse mit menschlichem Verletzungsrisiko involviert. Ihre menschenähnlichen kognitiven und bisweilen kreativen Leistungen werfen schließlich die Frage nach dem Selbstverstand und der Einzigartigkeit der menschlichen Spezies auf. Der Umgang mit KI wird daher nicht nur als eine Herausforderung für den deutschen und europäischen Wirtschaftsstandort, sondern ebenso für rechtliche und ethische Standards verstanden. Die europäische KI-VO reiht sich ein in ein mittlerweile dichtes Netz an Regelungen der EU auf dem Gebiet des Datenrechts. Im Folgenden sollen in einem Überblick die wesentlichen Regelungen der KI-VO aufgezeigt und diese anschliessend in den Kontext zu den anderen europäischen Gesetzen zur Digital- und Datenregulierung gestellt werden. 8.2 Anwendungsbereich und wesentlicher Inhalt der KI-VO Zweck der KI-VO ist nach Art. 1 Abs. 1 KI-VO die Stärkung des gesamtge‐ sellschaftlichen Vertrauens in KI. Zu diesem Zweck werden Compliance- Anforderungen an KI-Systeme gestellt, die umso strenger sind, je stärker Grundrechtseingriffe drohen. Mit diesem risikobasierten Ansatz stellt die KI-VO aus Sicht des europäischen Gesetzgebers eine angemessene Reaktion auf zukünftige technische Entwicklungen dar. Für Unternehmen stellt sich dabei vor allem die Frage, welche Anforderungen sie erfüllen müssen, wenn sie diesbezüglich eigene oder fremdentwickelte Systeme einsetzen wollen. Das zentrale Merkmal der KI-VO ist die in Art. 3 Nr. KI-VO enthaltene Definition von KI. 130 8 KI-Recht <?page no="131"?> Ein „KI-System ist ein maschinengestütztes System, das für einen in unterschiedlichem Grade autonomen Betrieb ausgelegt ist und das nach seiner Betriebsaufnahme anpassungsfähig sein kann und das aus den erhaltenen Eingaben für explizite und implizite Zwecke ableitet, wie Ausgaben wie etwa Vorhersagen, Inhalte Empfehlungen oder Ent‐ scheidungen erstellt werden, die physische oder virtuelle Umgebungen beeinflussen können“. Diese Definition wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens angepasst und konkretisiert, da die ursprüngliche Definition der Kommission, unter anderem mit der Verwendung des Begriffs „Software“ zu weitgehend war und auch herkömmliche Software erfasst hätte. Mit einer Klarstellung in Erwägungsgrund (12) wurde dieser Kritik begegnet und der Begriff nun konkreter beziehungsweise differenzierter gefasst. Eine KI ist danach zwar auch unter dem Begriff der „Software“ zu fassen. So wird der Begriff Software verwendet, um eine Sammlung von Daten oder Anweisungen zu beschreiben, die ein Computersystem anweisen, bestimmte Aufgaben auszuführen. Ein anschauliches Beispiel ist das Textverarbeitungsprogramm Word von Micro‐ soft. Hier ist es möglich, mit dem Einsatz dieses Softwareprogramms unter anderem Texte schreiben, löschen und kopieren zu können. Das kann auch eine KI, jedoch kann diese noch mehr. Künstliche Intelligenz bezieht sich, neben der reinen Ausführung auf Basis bestehender Daten, auch auf die Fähigkeit, Aufgaben zu erledigen, für die normalerweise menschliche Intelligenz erforderlich wäre und kann so dynamisch auf neue Daten reagieren und ihre Lernbasis erweitern; dazu gehören Tätigkeiten, wie Lernen, Schlussfolgern, Problemlösen und Verstehen. KI-Systeme werden in der Regel auf der Basis maschinellen Lernens realisiert. Das bedeutet, dass das KI-System auf einer Maschine läuft (also maschinengestützt ist), die in der Lage ist, sich ständig zu optimieren. Das bedeutet, dass diese in schnellerer und in besserer Qualität Schlussfolgerungen und Problemlösungen zu generieren vermag. Deswegen ist es präziser, die KI als „maschinengestütztes System “ (= maschine-based system) zu bezeichnen, statt den sehr weit gefassten Begriff der „Software“ zu verwenden, wie sie noch im ursprünglichen Entwurf der Kommission aus dem Jahre 2021 enthalten war, der begrifflich sehr viel mehr Systeme umfasst 8.2 Anwendungsbereich und wesentlicher Inhalt der KI-VO 131 <?page no="132"?> (Chibanguza/ Steege, NJW 2024, 1769). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Software der Oberbegriff und Künstliche Intelligenz eine komplexe Art einer Software ist. Zu beachten ist, dass diese beiden Begriffe nicht immer synonym verwendet werden können, da jede KI zwar eine Software ist, aber nicht jede Software eine KI ist. Eine KI ist also - wie erwähnt - ein maschinengestütztes System, dass unter dem Oberbegriff der Software steht. Der Anwendungsbereich der KI-VO betrifft die zeitliche, persönliche und räumliche Komponente. Aufgrund der digitalen Natur von KI-Systemen und der Möglichkeit der fortwährenden Weiterentwicklung während des Betrie‐ bes ist ein Ziehen von eindeutigen Grenzen hinsichtlich der Anwendbarkeit mitunter schwierig. In zeitlicher Hinsicht ist es das Ziel der KI-VO, die KI während ihres gesamten Lebenszyklus zu regulieren. Sie stellt damit nicht nur Anforderun‐ gen an die Entwicklung von KI auf, sondern auch zahlreiche Pflichten nach deren Inverkehrbringen, zum Beispiel Überwachungspflichten. Derartige Anforderungen an den Marktzutritt und nach dem Inverkehrbringen sind etwa auch aus dem Produktsicherheits- und Produkthaftungsrecht bekannt. Der persönliche Anwendungsbereich erfasst Anbieter („Provider“) und Betreiber („Deployer“). Nach Art. 3 Nr. 3 KI-VO ist ein Anbieter „eine na‐ türliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder sonstige Stelle, die ein KI-System oder ein KI-Modell mit allgemeinem Verwendungszweck entwickelt oder entwickeln lässt und es unter ihrem eigenen Namen oder ihrer Handelsmarke in Verkehr bringt oder das KI-System unter ihrem eigenen Namen oder ihrer Handelsmarke in Betrieb nimmt, sei es entgeltlich oder unentgeltlich“. Umfasst werden daher nicht nur die Entwickler oder Hersteller von KI, sondern auch jene Akteure, die eine KI anfertigen lassen und diese dann unter ihrem eigenen Namen auf den Markt bringen. Diese Anbieter sind die Hauptadressaten der KI-VO. Nach Art. 3 Nr. 4 KI-VO ist ein Betreiber „eine natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder sonstige Stelle, die ein KI-System in eigener Verantwortung verwendet, es sei denn, das KI-System wird im Rahmen einer persönlichen und nicht beruflichen Tätigkeit verwendet. Vom Anwendungsbereich ausgenommen ist der private, das heißt nicht berufsmäßige Gebrauch von KI-Systemen, so etwa die private Nutzung von Tools, wie ChatGPT (Chibanguza/ Steege, NJW 2024, 1770-m. w. N.). Der räumliche Anwendungsbereich umfasst nach Art. 2 Abs. 1 lit. a KI-VO Anbieter, die in der Union ein KI-System oder ein KI-System mit allgemeinem Verwendungszweck in Verkehr bringen oder es dort in Betrieb 132 8 KI-Recht <?page no="133"?> nehmen. Außerdem erfasst es Betreiber, die in der Union ihren Sitz haben. Neben dem Niederlassungsprinzip gilt auch das Marktortprinzip. Die KI-VO adressiert also auch Anbieter und Betreiber, die ihren Sitz zwar in einem Drittstaat haben, deren KI-System aber in der Union wirkt. Damit soll verhindert werden, dass Unternehmen in Drittstaaten die Anforderungen der KI-VO nicht beachten müssen. Die KI-VO sieht einen risikobasierten Ansatz vor, das heißt, sie knüpft an erhöhte Risiken entsprechend höhere Anforderungen. Das bedeutet, dass der Umfang der Regulierung von der Intensität der vom KI-System ausge‐ henden Risiken abhängt. Anhand verschiedener Kriterien, die ausschlagge‐ bend für die jeweilige Risikoklassifizierung sind, werden KI-Systeme vom Gesetzgeber in verbotene KI-Praktiken (Art. 5 KI-VO, zum Beispiel ein Sys‐ tem automatisierter Gesichtserkennung zur effektiveren Strafverfolgung), in Hochrisiko-KI-Systeme, welche sensible, personenbezogen Daten verar‐ beiten und somit Auswirkungen auf die Privatsphäre haben (Art. 6 KI-VO, zum Beispiel solche, die mit einem „gefährlichem Produkt“ verwendet wer‐ den), KI-Systeme mit begrenztem Risiko (Art. 50 KI-VO, zum Beispiel ein von einer Behörde implementiertes und auf KI basierendes Computerprogramm für die Interaktion mit Personen, etwa beim Stellen von Anträgen) und in KI-Systeme mit minimalem Risiko unterteilt (Art. 95 KI-VO, zum Beispiel KI-gestützte Empfehlungssysteme oder Spamfilter; hier wird lediglich die Erstellung von Verhaltenskodizes gefordert). Daneben stehen KI-Systeme mit allgemeinem Verwendungszweck, wie etwa ChatGPT. Diese können eine breite Palette von Funktionen in ver‐ schiedenen Kontexten ausführen (Art. 51 ff. KI-VO). Mit der Aufnahme dieser anwendungsunabhängigen Kategorie soll sichergestellt sein, dass sogenannte Allzweck-KI-Tools nicht durch das Raster der KI-VO fallen. Für Anbieter solcher KI-Tools mit allgemeinem Verwendungszweck gelten unter anderem Informations- und Dokumentationspflichten (Art.-53 Abs.-1 KI-VO). Ein weiterer Pflichtenkreis (Art. 55 Abs. 1 KI-VO) gilt für Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck mit systematischem Risiko i. S. v. Art.-51 Abs.-1 KI-VO. Unternehmen müssen daher zunächst prüfen, ob ein KI-System vorliegt und sodann, um welche Art von KI-System es sich handelt, um zu wissen, welche Anforderungen sie einhalten müssen. Die KI stellt risikoklassenüber‐ greifend generelle Pflichten auf, die im Umgang mit ihr gelten. So müssen Anbieter und Betreiber Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass ihre Mitarbeiter oder sonstige Personen, die in ihrem Auftrag ein KI-System 8.2 Anwendungsbereich und wesentlicher Inhalt der KI-VO 133 <?page no="134"?> nutzen, über einen hinreichenden Grad an Verständnis in Bezug auf jenes System verfügen, um ein Bewusstsein für die Risiken und Potenziale zu ent‐ wickeln und so informierte Entscheidungen zu treffen (Chibanguza/ Steege, NJW 2024, 1771 ff. m. w. N.). Eine Marktüberwachung von KI ist auf zwei Ebenen vorgesehen. So sollen zum einen auf Ebene der EU zahlreiche Stellen eingerichtet werden, die diesen Zweck zentralisiert erfüllen. Zum anderen sollen die Mitglied‐ staaten auf nationaler Ebene entsprechende Aufsichtsbehörden einrichten, die eine Marktüberwachung auf nationaler Ebene durchführen und als Ansprechpartner für die europäische Behörde dienen (Art. 28 KI-VO). Die Entscheidung zu einer deutschen Überwachungsbehörde steht noch aus. Die KI-VO sieht jedenfalls an verschiedenen Stellen vor, dass Anbieter und Betreiber bei den (noch einzurichtenden) Marktüberwachungsbehörden Meldungen einzureichen haben oder diesen bestimmten Informationen zukommen lassen müssen. Verstöße gegen diese Anforderungen oder das Unterlassen dieser Mitteilungen sowie die Abgabe von falschen, unvollständigen oder irreführenden Informatio‐ nen sind mit Bußgeldern von bis zu 7,5 Mio. Euro oder (bei Unternehmen) mit 1 % des weltweiten Jahresumsatzes bewehrt, je nachdem welcher Betrag höher ist (Art.-99 KI-VO). Die KI-VO setzt damit einen Rahmen für Anbieter und Betreiber von KI. Das bedeutet allerdings nicht, dass die KI-VO nur diesem Rechtsrahmen unterliegt. Neben der KI-VO sind bei der Nutzung von KI sämtliche Gesetze auf nationaler Ebene zu beachten. Dabei geht es vor allem um den Schutz der personenbezogenen Daten nach der DS-GVO, das Urheberrecht oder auch das Persönlichkeitsrecht. So ist zum Beispiel bei der Nutzung von CharGPT zu beachten, dass der Output (mangels einer persönlichen geistigen Schöpfung i. S. v. § 2 UrhG) grundsätzlich nicht urheberrechtlich geschützt ist. Etwas anderes kann dann gelten, wenn dieser Output entsprechend bearbeitet worden ist; auch bestimmte Prompts (Anfrage des Nutzers) können urheberrechtsschutzfähig sein, wenn sich aus ihnen eine „persönliche geistige Schöpfung“ i. S. d. Urhebergesetzes ableiten lässt. Unabhängig davon können sich haftungsrechtlichen Probleme stellen, wenn etwa die KI fehlerhafte Ergebnisse liefert, die bei Dritten Schäden verursachen; schliesslich können sich in bestimmten Fällen auch Fragen nach dem Schutz des Persönlichkeitsrechts stellen. 134 8 KI-Recht <?page no="135"?> 8.3 KI-VO im Kontext anderer europäischer Digitalregulierungen Die EU hat, neben der KI-VO, zahlreiche Rechtsakte erlassen, die im weiteren Sinne die Digitalisierung und Datenregulierung betreffen; dabei geht es zum Beispiel um den Zugang zu Daten, deren Erhebung, Nutzung, Verwendung oder auch Weitergabe, unabhängig davon, ob diese personen- oder nicht personenbezogene Daten sind. Diese Regelungen stehen dabei nicht über‐ schneidungsfrei neben der KI-VO, das heißt, es können beide Regelungen betroffen sein. Zu nennen sind neben der KI-VO das Gesetz über digitale Dienste (Digital Service Act, DSA) und das Gesetz über den digitalen Markt (Digital Market Act, DMA). • Der DSA verfolgt vor allem inhaltsbezogene Steuerungsanliegen. Hier‐ für erstreckt sich das Gesetz auf Anbieter von Vermittlungsdiensten. Das Gesetz sieht Regelungen über die Haftung und den Umgang mit im digitalen Raum veröffentlichten Inhalten vor. • Der DMA verfolgt vornehmlich wettbewerbsrechtliche Zielsetzungen. Das Gesetz soll dazu beitragen, die Marktstellung von besonders mäch‐ tigen Betreibern digitaler Plattformen (sogenannte digitale Torwächter) beim Betrieb zentraler Plattformdienste zu begrenzen. Der DMA ist dementsprechend anwendbar beim Betrieb eines zentralen Plattform‐ dienstes, der durch einen Betreiber von spezifischer Größe bereitgestellt wird; das betrifft etwa das Unternehmen Google, soweit es einen Plattformdienst in Form einer Onlinesuchmaschine anbietet Die KI-VO reagiert demgegenüber auf die Chancen und Risiken von KI-Tech‐ nologie und trifft im Rahmen ihres örtlichen Anwendungsbereichs zunächst alle Anbieter, Bereitsteller, Betreiber, Importeure, Vertreiber und Produk‐ thersteller von KI-Systemen beziehungsweise KI-Modellen, unabhängig von deren Größe und Marktmacht. Zudem erfasst die KI-VO grundsätzlich alle KI-Systeme ungeachtet ihrer Funktion. Die Funktion des jeweiligen KI-Systems wirkt sich regelmäßig erst auf seine Einordnung in eine der Risikogruppen aus, die den Umfang des jeweiligen Pflichtenprogramms bestimmen (Honer/ Schöbel, JuS 2924, 649). KI-Systeme beziehungsweise KI-Modelle werden teilweise auch durch weitere Rechtsakte der EU tangiert. Zu nennen sind hier etwa die Daten‐ 8.3 KI-VO im Kontext anderer europäischer Digitalregulierungen 135 <?page no="136"?> schutzgrundverordnung (DS-GVO), der Data-Governance-Act (DGA) sowie die Datenverordnung (Data Act, DA). Die DS-GVO bezweckt den Schutz natürlicher Personen bei der Verar‐ beitung personenbezogener Daten (Art. 1 DS-GVO). Dementsprechend ist sie sachlich grundsätzlich bei der automatisierten oder in Datensystemen zu speichernden Verarbeitung personenbezogener Daten innerhalb der EU anwendbar. Schützt die DS-GVO mit personenbezogenen Daten ein konkretes Schutzgut vor bestimmten Eingriffen, erfasst dagegen die KI-VO mit KI-Systemen nur eine spezielle Technik aufgrund technologiebedingter Risiken. Der Regulierungsansatz der DS-GVO ist also rechtsgut- und ver‐ haltensbezogen, die der KI-VO technikbezogen. Aus diesem Grund können KI-Systeme ebenso den Bestimmungen der DS-GVO unterliegen. Mit dem von Art.-22 DS-GVO normierten grundsätzlichen Verbot ausschließlich au‐ tomatisierter Einzelentscheidungen gegenüber Menschen trifft die DS-GVO auch eine Regelung, die zukünftig maßgeblich für KI-Systeme Bedeutung besitzen kann. Der europäische Gesetzgeber hat hier die automatisierte Ablehnung eines Kreditantrags vor Augen (Honer/ Schöbel, JUS 2024, 650 m. w. N.). KI-Systeme können potenziell auch vom Daten-Governance-Act (DGA) oder dem Data Act (DA) betroffen sein. Der DGA zielt darauf ab, die Weitergabe und gemeinsame Nutzung von Daten zu fördern. Hierfür schafft er einen harmonisierten Rahmen für den Datenaustausch und normiert grundlegende Anforderungen an die Daten-Governance. Vom Tatbestand her knüpft der DGA vor allem an die Weiterverwendung von im öffentlichen Besitz befindlichen personen- oder nicht personenbezogenen Daten (Art. 3 DGA) oder die Erbringung von Datenvermittlungsdiensten (Art. 2 DGA) an. Wegen des technologieneutralen Ansatzes sind hiervon theoretisch auch KI-Systeme erfasst. Für die Datenverordnung, die die technologieabhängige Bereitstellung und Weitergabe von Daten reguliert, gilt vergleichbares (Art.-1 DA; Honer/ Schöbel, JuS 2924, 650). 136 8 KI-Recht <?page no="137"?> Schlussbemerkung In immer mehr Start-ups werden sich zurzeit intensiv Gedanken gemacht, das Tätigwerden zu internationalisieren, zunächst wohl Europabezie‐ hungsweise EU-weit. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Ratgeber die betreffenden Start-up-Verantwortlichen für die hierbei auf‐ tretenden rechtlichen Herausforderungen ihres Handelns sensibilisieren. Zumeist wird dabei ein zusätzliches Einholen professionellen Rates wohl unumgänglich sein. In diesen Fällen soll der Ratgeber die Verantwortlichen zumindest dazu befähigen, die notwendige Kommunikation stets als kom‐ petente Gesprächspartner führen zu können. <?page no="139"?> Literatur Chibanguza, K., Steege, H., Die KI-Verordnung - Überblick über den neuen Rechts‐ rahmen NJW 2024, 1769-1775 Egger, S., Vieweg, K., Kartellrecht, in Vieweg, K., Fischer, M., Wirtschaftsrecht-- -Grundlagen, 2. Auflage, Baden-Baden 2023, (Teil 5), S.-201-244 Haratsch, A., Koenig, C., Pechstein, M., Europarecht, 13 Auflage, Tübingen 2023 Hobe, S., Fremuth, M., Europarecht, 11. Aufl., Köln 2023 Honer, M.,/ Schöbel, P, Das Gesetz über Künstliche Intelligenz im System der europäischen Digitalregulierung, JuS 2024, 648-653 Kilian, W., Wendt, D.-H., Europäisches Wirtschaftsrecht, 9. Auflage, Baden-Baden 2023 Lewinski, K. v , Rüpke, G., Eckhardt, J., Datenschutzrecht - Grundlagen und europarechtliche Neugestaltung, 2. Auflage, München 2022 Ruffert, M., Grischek, F., Schramm, M., Europarecht im Examen - Die Grundfreihei‐ ten, JuS 2021, 407-412 Sommer, C., Europarecht, 14. Auflage, Münster 2021 Streinz, R., Europarecht, 12. Auflage, Heidelberg 2023 Tinnefeld, M.-T., Buchner, B., Petri, T., Hansen, M., Einführung in das Datenschutz‐ recht - Datenschutz und Informationsfreiheit in europäischer Sicht, , 8. Aufl., Berlin 2024 Vieweg, K., Egger, S., Wettbewerbsrecht, in Vieweg, K., Fischer, M., Wirtschafts‐ recht---Grundlagen, 2. Auflage, Baden-Baden 2023; Teil 6, S.-245-272 Wagner-von-Papp, F., Wettbewerbsrecht, in Langenbucher, K. (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, 5. Auflage, Baden-Baden 2022, S.-575-661 Zerres, T., Zerres, M., Europäisches Wirtschaftsrecht, München, Mering 2015 Zerres T., Hirtz, A., Rechtsrahmen eines Marketing-Controllings - ein Überblick mit Fokus auf den Datenschutz, in Zerres, C (Hrsg.), Handbuch Marketing-Control‐ ling - Grundlagen - Methoden - Umsetzung, 5. Auflage, Heidelberg, Wiesbaden 2021, S.-125-149 <?page no="140"?> Register Anwendungsvorrang-19 Arbeitnehmerfreizügigkeit-57 Ausbeutungsmissbrauch-117 Ausschuss der Regionen-36 Behinderungsmissbrauch-118 Beschluss-24 Binnenmarkt-39 Charta der Grundrechte-21 Datenschutz-77 Datenschutzbeauftragter-104 Datenschutz-Grundverordnung-77 Datenschutzrecht-78 Dienstleistungsfreiheit-63 Digitalisierung-129 Diskriminierungsverbot-41 Europäische Investitionsbank-36 Europäische Kommission-29 Europäischer Rat-27 Europäischer Rechnungshof-35 Europäisches Parlament-31 Europäische Zentralbank-34 Freiheit des Dienstleistungsverkehrs 40 Freiheit des Personenverkehrs-40 Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs-40 Fusionskontrolle-72 Geltungsvorrang-19 Gerichtshof der EU-33 Harmonisierungsverbot-16 Kapitalverkehr-66 Kartellrecht-112 Kartellverbot-68 Künstliche Intelligenz-129 Löschpflicht-102 Missbrauchsverbot-116 Niederlassungsfreiheit-60 Niederlassungsprinzip-81 Preisangabenrichtlinie-123 Preisdiskriminierung-125 Preispolitik-109 Preisunterbietung-118 Primärrecht-21 Rat der Europäischen Union-28 Rechtsangleichung-43 Richtlinien-24 Sekundärrecht-22 Subsidiaritätsprinzip-16 Verhältnismäßigkeit-17 Verkaufsförderungsmaßnahmen-126 Verordnungen-23 Vertrag-110 Warenverkehrsfreiheit-40, 53 Wettbewerbsfreiheit-67 <?page no="141"?> Wettbewerbsrecht-126 Wirtschafts- und Sozialausschuss-35 Zahlungsverkehr-66 Zweirechtskreislehre-17 Register 141 <?page no="142"?> Bisher sind erschienen: Ulrich Sailer Digitalisierung im Controlling Transformation der Unternehmenssteuerung durch die Digitalisierung 2023, 104 Seiten €[D] 17,90 ISBN 978-3-381-10301-0 Michael von Hauff Wald und Klima Aus der Perspektive nachhaltiger Entwicklung 2023, 85 Seiten €[D] 17,90 ISBN 978-3-381-10311-9 Ralf Hafner Unternehmensbewertung 2024, 133 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11351-4 Irene E. Rath / Wilhelm Schmeisser Internationale Unternehmenstätigkeit Grundlagen, Führung, Organisation 2024, 175 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11231-9 Reinhard Hünerberg / Matthias Hartmann Technologische Innovationen Steuerung und Vermarktung 2024, 152 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11291-3 Ulrich Sailer Klimaneutrale Unternehmen Management, Steuerung, Technologien 2024, 130 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11341-5 Oˇ guz Alaku¸ s Basiswissen Kryptowährungen 2024, 79 Seiten €[D] 17,90 ISBN 978-3-381-11381-1 Uta Kirschten Personalmanagement: Gezielte Maßnahmen zur langfristigen Personalbindung 2024, 159 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-12151-9 nuggets Die Reihe nuggets behandelt anspruchsvolle Themen und Trends, die nicht nur Studierende beschäftigen. Expert: innen erklären und vertiefen kompakt und gleichzeitig tiefgehend Zusammenhänge und Wissenswertes zu brandneuen und speziellen Themen. 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Sowohl der Narr-Verlag als auch expert- und UVK-Autor: innen bereichern nuggets. <?page no="143"?> Kariem Soliman Leitfaden Onlineumfragen Zielsetzung, Fragenauswahl, Auswertung und Dissemination der Ergebnisse 2024, 102 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11961-5 Oˇ guz Alaku¸ s Das Prinzip von Kryptowährungen und Blockchain 2024, 131 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-12211-0 Eckart Koch Interkulturelles Management Managementkompetenzen für multikulturelle Herausforderungen 2024, 118 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11801-4 Margareta Kulessa Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Ziele, Prinzipien und Herausforderungen 2024, 113 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11411-5 Jörg Brüggenkamp / Peter Preuss / Tobias Renk Schätzen in agilen Projekten 2024, 75 Seiten €[D] 17,90 ISBN 978-3-381-12511-1 Michael von Hauff Nachhaltigkeit - Paradigma und Pflicht der Völkergemeinschaft 2024, 119 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11281-4 Dirk Linowski Deutsch-chinesische Beziehungen Wirtschaft, Politik, Gesellschaft 2024, 136 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11731-4 Sven Seidenstricker / Jens Pöppelbuß / Thomas B. 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Seine Forschungsschwerpunkte sind das Dienstleistungsmarketing, das Marketingcontrolling und das Marketingrecht. Prof. Dr. Thomas Zerres lehrt Zivil- und Wirtschaftsrecht an der Hochschule Konstanz. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind das Bürgerliche Recht, das Marketingrecht sowie das Europäische Wirtschaftsrecht. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil geht es zunächst darum, einen Überblick darüber zu geben, was EU-Recht überhaupt ist, welche Arten es gibt und welche Akteure auf europäischer Ebene für die Rechtsetzung und die Rechtsprechung zuständig sind. Im zweiten Teil geht es dann um die zur Schaffung und Aufrechterhaltung eines Binnenmarktes wichtigen „Grundfreiheiten“ sowie um die grundsätzliche Sicherung eines freien Wettbewerbs durch die Regelungen des europäischen Wettbewerbsrechts. Im dritten Teil werden die für Start-ups relevanten und durch EU-Recht harmonisierten Rechtsbereiche vorgestellt. Dabei geht es um den Datenschutz, das Preisrecht und - ganz aktuell - um die neue KI-Verordnung der EU. Das Buch richtet sich an Studierende der Betriebswirtschaftslehre sowie an Personen, die ein Start-up gründen wollen oder bereits im Gründungsprozess sind. Zerres / Zerres Start-ups und EU-Recht Michael Zerres / Thomas Zerres Start-ups und EU-Recht Was junge Unternehmen im internationalen Geschäft beachten müssen
