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Textlinguistik

Eine Einführung

1027
2025
978-3-3811-4162-3
978-3-3811-4161-6
Gunter Narr Verlag 
Monika Schwarz-Friesel
Manfred Consten
10.24053/9783381141623

Texte spielen eine wichtige Rolle in der Wissenschaft wie im alltäglichen Leben. Wir tauschen durch sie Gedanken aus, etablieren soziale Beziehungen, erfahren Neues über die Welt, tradieren kulturelles Wissen, markieren Machtansprüche, konstruieren Wissen, evaluieren Sachverhalte, beeinflussen massenmedial Meinungen und Einstellungen. Die aktuelle Textlinguistik beschäftigt sich mit Struktur, Funktion und Verarbeitung von satzübergreifenden Phänomenen, der Konstitution von Bedeutung in kognitiven Prozessen sowie anwendungsorientiert mit Phänomenen wie Perspektivierung, Evaluierung und Persuasion. Diese Einführung zeigt die wesentlichen Erkenntnisse, Theorien und Methoden leicht verständlich anhand authentischer Beispiele in diversen Kommunikationsbereichen und Textsorten auf. Übungsaufgaben leiten zur eigenständigen Arbeit und zum Verfassen einer textlinguistischen Seminararbeit an. "Diese Einführung hält überzeugend, was sie verspricht, indem sie nicht nur theoretisches Wissen vermittelt, sondern auch zu praktischem Können verhilft." - Info DaF 2/3 (2016)

9783381141623/9783381141623.pdf
<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-14161-6 Texte spielen eine wichtige Rolle in der Wissenschaft wie im alltäglichen Leben. Wir tauschen durch sie Gedanken aus, etablieren soziale Beziehungen, erfahren Neues über die Welt, tradieren kulturelles Wissen, markieren Machtansprüche, konstruieren Wissen, evaluieren Sachverhalte, beeinflussen massenmedial Meinungen und Einstellungen. Die aktuelle Textlinguistik beschäftigt sich mit Struktur, Funktion und Verarbeitung von satzübergreifenden Phänomenen, der Konstitution von Bedeutung in kognitiven Prozessen sowie anwendungsorientiert mit Phänomenen wie Perspektivierung, Evaluierung und Persuasion. Diese Einführung zeigt die wesentlichen Erkenntnisse, Theorien und Methoden leicht verständlich anhand authentischer Beispiele in diversen Kommunikationsbereichen und Textsorten auf. Übungsaufgaben leiten zur eigenständigen Arbeit und zum Verfassen einer textlinguistischen Seminararbeit an. „Diese Einführung hält überzeugend, was sie verspricht, indem sie nicht nur theoretisches Wissen vermittelt, sondern auch zu praktischem Können verhilft.“ - Info DaF 2/ 3 (2016) Schwarz-Friesel / Consten Textlinguistik Textlinguistik Eine Einführung 2., vollständig überabeitete und erweiterte Auflage Monika Schwarz-Friesel / Manfred Consten <?page no="1"?> Textlinguistik <?page no="2"?> Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel leitet das Fachgebiet Allgemeine Linguistik an der TU Berlin. Dr. Manfred Consten lehrt Germanistische Sprachwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. <?page no="3"?> Monika Schwarz-Friesel / Manfred Consten Textlinguistik Eine Einführung 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="4"?> 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2025 1. Auflage 2014 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381141623 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-381-14161-6 (Print) ISBN 978-3-381-14162-3 (ePDF) ISBN 978-3-381-14163-0 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 1 7 2 15 2.1 15 2.2 21 2.3 26 2.4 29 3 47 3.1 47 3.2 54 4 63 4.1 63 4.2 71 4.3 78 4.3.1 78 4.3.2 85 5 93 5.1 93 5.2 105 5.3 112 5.4 122 5.5 133 5.5.1 133 5.5.2 140 6 161 6.1 161 Inhalt Einleitung: Zur Relevanz von Texten und Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . Textanalyse in der Textlinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist ein Text? Zum Textbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typische Textmerkmale: Kriterien der Textualität . . . . . . . . . . . . . . . . Der funktional-kognitive Ansatz: Texte als Spuren, Texte als Signale Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textsorten und Funktionen von Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Bestimmung von Textsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftlichkeit und Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Text und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Referenz und Textreferenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textwelt-Modelle: Referenzialisierung und Konzeptualisierung . . . . Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration . . . . . Zur Konstruktivität des Rezipienten: Lesen als aktiver Gedächtnisprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle des Weltwissens beim Textverstehen: Schemata, Skripts und Inferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohärenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohäsion und Kohärenz: Prinzipien der Vertextung . . . . . . . . . . . . . . Explizite und implizite Kohärenzrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohärenz als das Ergebnis kognitiver Prozesse: Lokale und globale Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thema und Makrostrukturen: Wovon handelt der Text? . . . . . . . . . . . Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression . Progressionstypen und Themenentfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anaphorik und Kataphorik: Direkte und indirekte Typen . . . . . . . . . . Angewandte Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textlinguistik als sprachkritische Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 6.2 164 6.3 171 6.3.1 171 6.3.2 177 6.4 187 6.5 197 6.5.1 198 6.5.2 205 6.5.3 209 217 217 229 235 241 243 243 246 263 Auf der Suche nach dem Sinn: Lesen, Textsinnerschließung und interpretative Inferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierung und Evaluierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidenz und Schein-Evidenz in populistischen Texten: Perspektivierung und De-Realisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionspotenzial und Evaluierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spuren im Text = Spuren zum Täter? Forensische Linguistik - Ein Anwendungsfeld für die Textlinguistik | Konstanze Marx-Wischnowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Persuasionspotenzial von Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte als wissenskonstituierende und meinungsbildende Strukturen: Narrative als rekurrente Textwelt-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewusstseinslenkung: Spannung als Wissensaufbau im Textwelt-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textsorte Werbung und Persuasion: Semantik der Sinne und multisensorisches Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungen zu Übungen und Denkanregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps für Studienarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notationsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Einleitung: Zur Relevanz von Texten und Textanalysen Texte begleiten und prägen unser gesamtes Leben. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht wenigstens einen Text gelesen oder geschrieben haben. Wir erhalten und versenden E-Mails oder Sprachnachrichten, lesen eine Zeitung oder Artikel im Internet, sehen Werbeplakate, Formulare, Informationszettel, schmökern in Büchern, konzentrieren uns auf wissenschaftliche Aufsätze oder suchen Informationen in Enzyklopädien. Wir zitieren Stellen aus Texten, die wir gelesen haben, erinnern uns an Kinderlieder und rezitieren Gedichte, berichten anderen von Romanen, die wir gerade lesen, verfassen Briefe oder Einkaufszettel, Protokolle oder Rechnungen, Hausarbeiten oder Tagebucheinträge, schreiben Whatsapp-Nachrichten oder posten und lesen Kommentare in den „sozialen Medien“. Texte informieren uns über die Welt, geben Gedanken und Meinungen an andere weiter, legen Gesetze und Normen fest, geben Anleitungen, halten historisches Wissen fest. Manche der vielen Texte, die uns täglich begegnen, schauen wir nur flüchtig an, zum Teil registrieren wir sie kaum, andere dagegen werden sehr sorgfältig studiert und sogar analysiert. Ein Kochrezept wie (1) (1) Zutaten für die Scones Für 16 Stück braucht man: 500 g Mehl, ¾-1 Päckchen Backpulver, 1 TL Salz, 80 g Zucker, 100 g weiche Butter, 1 Ei und etwa 50 ml Milch. Mehl, Zucker und Backpulver gut mischen, die weiche Butter in Flöckchen hineingeben und mit einem Messer oder einer Gabel gut vermischen, bis eine krümelige Konsistenz entsteht. verlangt von uns wenig Fantasie, wir vermuten keinen tieferen Sinn dahinter, sondern benutzen es, um eine alltägliche Handlung nachzuvollziehen. Ein Gedicht wie (2) dagegen versuchen wir zu interpretieren, d. h. einen Sinn darin zu erkennen, es weckt unsere Neugier und verlangt eine geistige Auseinandersetzung mit dem Text. (2) das schwarze geheimnis - ist hier - hier ist - das schwarze geheimnis (Eugen Gomringer, das schwarze geheimnis) Wir finden Texte langweilig oder spannend, informativ oder nichtssagend, schwer oder leicht verständlich, zusammenhängend und gut strukturiert oder konfus und inkohärent. Es gibt Texte, die einen tiefen Eindruck bei uns hinterlassen, die unter Umständen unser gesamtes Leben beeinflussen. Ein Abschieds- oder Trennungsbrief kann Ver‐ <?page no="8"?> Realität kollektives Gedächtnis zweiflung und Kummer auslösen, ein Liebesgedicht Glück und Freude, eine Urkunde be- und festlegen, dass wir eine bestimmte Ausbildung absolviert haben oder dass wir in einer festen Anstellung sind. Ein bestimmter Roman kann eine neue Erlebensdimension in uns aktivieren, uns geistig und emotional stimulieren, ein Sachbuch völlig neue Erkenntnisse vermitteln. Es gehört allgemein zu den Eigenschaften sprachlicher Äußerungen, dass sie einerseits der Informationsvermittlung dienen, andererseits auch der Etablierung und Steuerung von sozialen Beziehungen. Mit Texten fordern wir andere zu etwas auf, entschuldigen wir uns, beleidigen andere, machen glücklich, wiegeln wir auf. Texte können einen neuen gesellschaftlichen Zustand schaffen, z. B. zwischen zwei Menschen das Ja-Wort auf dem Standesamt oder eine Kriegserklärung zwischen zwei Staaten. Texte bilden also nicht nur Realität ab, sie erzeugen auch Realitäten. Nicht nur fiktive Texte erzeugen bestimmte Welten, auch politische, ideologische Texte können die Welt auf eine bestimmte Weise zeigen. Ein Text kann den Blick auf die Welt in bestimmter Weise lenken und Wirklichkeiten oder Bewertungssysteme erzeugen. Ein Text wie (3) vermittelt die fremdenfeindliche Bewertung, man müsse vor Ausländern Angst haben: (3) „Gegen den Willen des deutschen Volkes […] wurden von Großkapital, Regierung und Gewerkschaften Millionen von Ausländern nach Deutschland eingeschleust. Durch massenhafte Einbürgerungen wird das deutsche Staatsbürgerrecht aufge‐ weicht und das Existenzrecht des deutschen Volkes in Frage gestellt“ (Punkt 10 des Parteiprogramms der NPD, www.npd.de, 04.06.2010) Ein Werbetext wie Liebe ist, wenn es Landliebe ist zu Bildern einer glücklichen Familie suggeriert zwischen den Zeilen die Bewertung, dass gute Eltern ihren Kin‐ dern bestimmte Milchprodukte kaufen. Solche implizit vermittelten Informationen, sogenannte Implikaturen, spielen oft eine wichtigere Rolle als die tatsächlich ausge‐ drückten, wörtlich vermittelten Informationen. In Texten spiegelt sich das kulturelle Wissen ganzer Gesellschaften wider, sie sind Teil des kollektiven Gedächtnisses und konservieren Kenntnisse unserer Vergangen‐ heit. Die Thora, die Bibel und der Koran sind die Basis der großen Weltreligionen. Durch Texte werden Normen kodifiziert, Werte tradiert und Kulturinhalte vermittelt. Der Li‐ terat und Philosoph Johann Gottfried Herder hat daher erklärt, dass der Mensch seine Wahrnehmungsmerkmale in „Zeichen“ fasst, mit denen er sich die Welt erklärt und „Merkworte ins Buch seiner Herrschaft“ einträgt (zit. n. Hartmann 2000: 83). Texte legen Gesetzgebungen von Gesellschaften fest, steuern, initiieren und beglei‐ ten politische (Entscheidungs-)Prozesse, massenmediale Texte können Meinungen bilden und manipulieren. Politische Kämpfe sind oft Kämpfe um die Definitionshoheit über Wörter, wie sozial, Freiheit, (Re)migration, Antisemitismus und demokratisch. Ein Satz wie Die Juden sind unser Unglück (Heinrich Gotthardt von Treitschke, 1879: 575; später von den Nationalsozialisten als fett gedruckte Schlagzeile auf jeder Ausgabe des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer) spaltet eine Bevölkerung in 8 1 Einleitung: Zur Relevanz von Texten und Textanalysen <?page no="9"?> Aufgaben der Textlinguistik zwei Gruppen und vermittelt damit zugleich ein Bedrohungspotenzial und Feindbild (das in der realen Welt gar nicht gegeben ist). Die Konsequenzen aus einer Sprache voller Gewalt, Intoleranz und Diskriminierung gegenüber Menschen kennen wir aus der Geschichte. Das Macht-, Manipulations- und Beeinflussungspotenzial toxischer Texte ist also nicht zu unterschätzen. Sprache kann Waffe und Mordinstrument, die Kommunikationssituation ein Tatort sein. Sprache kann aber natürlich auch positiv und aufklärerisch, tröstend und heilend eingesetzt werden (in der Therapie, in der Literatur und Wissenschaft sowie in jeder alltäglichen Kommunikation, in der Menschen mit Sprache anderen Menschen positive Impulse geben). Der Schriftsteller und Philosoph Pascal Mercier schreibt diesbezüglich in seinem Roman Nachtzug nach Lissabon: (4) „Dass Worte etwas bewirkten, dass sie jemanden in Bewegung setzen oder aufhalten, zum Lachen oder Weinen bringen konnten: Schon als Kind hatte er es rätselhaft gefunden, und es hatte nie aufgehört, ihn zu beeindrucken. Wie machten die Worte das? War es nicht wie Magie? “ (Mercier 2006: 59) Was hier poetisch im Roman als Magie bezeichnet wird, nannte Sigmund Freud die „Zauberkraft“ der Worte (Freud 1916/ 1969: 43). Wissenschaftlicher ausgedrückt handelt es sich hierbei um die persuasive Funktion von Sprache, Menschen zum Handeln zu bewegen, sie glücklich oder unglücklich zu machen, sie zu überzeugen oder zu überreden. Dieses persuasive Potenzial von Texten ergibt sich aus der Instrument- und Handlungsfunktion von Sprache, Bewusstseinsinhalte zu aktivieren oder zu verändern, Gefühle zu wecken oder zu intensivieren und Handlungsimpulse auszulösen. Um zu verstehen, wie Texte benutzt werden können, um andere Menschen zu informieren, zu beeinflussen etc., muss man verstehen, was Texte für Gebilde sind, wie sie aufgebaut werden, nach welchen Prinzipien sie funktionieren und wie sie verarbeitet werden. Die Textlinguistik beschäftigt sich als wissenschaftliche Disziplin mit der Struktur, der Funktion und der Verarbeitung von Texten: Sie analysiert, nach welchen Prinzipien Texte gebildet sind und wie wir die komplexen Inhalte anordnen, die wir an andere weitergeben, und mit welchen sprachlichen Mitteln Information vermittelt wird. Sie beschreibt dabei, wie Form und Inhalt eines Textes zusammenhängen. Es geht aber auch um die Frage, inwiefern uns Typen von Texten durch spezifische Wissenskons‐ titutionen und Perspektivierungen oft ganz maßgeblich in unseren Entscheidungen, Meinungen, Stimmungen, Handlungen beeinflussen. Welche evaluierenden Merkmale von Texten sind besonders verantwortlich für dieses Persuasions- und Emotionspoten‐ zial? Und was machen wir eigentlich geistig, wenn wir Texte schreiben oder lesen? Welche mentalen Prozesse laufen in unseren Köpfen ab, wenn wir Textinformationen verarbeiten? Worin genau besteht die Kompetenz zur Textproduktion und -rezeption? Welche Rolle spielen dabei Kontext und Situation, Vor- und Weltwissen der Textbenut‐ zer? Im Zuge der globalen Digitalisierung und der das gesamte gesellschaftliche Leben dominierenden Internetkommunikation sind neue Herausforderungen - auch für die 1 Einleitung: Zur Relevanz von Texten und Textanalysen 9 <?page no="10"?> intuitives Textwissen textuelle Kompetenz Nachbardisziplinen Textlinguistik - entstanden: Multimodalität und KI-generierte Informationen müssen berücksichtigt werden. Die umfassende Bedeutung von Texten für den Alltag von Menschen, ihre kom‐ plexe sprachliche Struktur und schließlich die Interaktion verschiedenster kognitiver Prozesse bei ihrer Verarbeitung verlangen eine intensive Beschäftigung mit allen Aspekten der Textlinguistik. Diese Einführung vermittelt grundlegende Kenntnisse über Annahmen und Methoden der textlinguistischen Untersuchung, also einer wis‐ senschaftlichen Analyse von Texten. Was unterscheidet den alltäglichen Umgang mit Texten von einer wissenschaftlichen Analyse? Im alltäglichen Leben machen wir uns meist nicht bewusst, was wir tun, wenn wir mit Texten umgehen. Die meisten sprachlichen Prozesse laufen automatisch und so selbstverständlich ab, dass wir die dahinterliegenden Kompetenzen und Routinen gar nicht erkennen können. Die berühmte Textstelle von Augustinus über die Zeit lässt sich auch auf die Beschäftigung mit Texten übertragen: „Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand fragt, weiß ichs; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ichs nicht.“ (Confessiones XI, 14, 22 f.) Auch bei Texten sind wir überzeugt, zu wissen, worum es sich handelt. Versuchen wir jedoch, unsere Intuition genauer zu beschreiben und klare Aussagen über Texte, ihre Struktur und Funktion zu machen, geraten wir bald ins Stocken oder wir artiku‐ lieren subjektive, oft nicht nachprüfbare Eindrücke. Viele wichtige Aspekte von Texten fallen uns gar nicht mehr auf; z. B., dass sie oft wörtlich etwas anderes beinhalten als das Gemeinte, so dass wir zusätzliches Wissen aktivieren müssen, um sie zu verstehen: Jeder, der auf die Frage Wissen Sie, wie viel Uhr es ist? als Antwort lediglich ein Ja und sonst keine weitere Auskunft erhält, stößt automatisch auf dieses Phänomen. Jeder, der eine Schlagzeile wie Bus rollt über Bein! liest und dabei automatisch, blitzschnell und ohne zu überlegen aufgrund dieser geringen Information im Verstehensprozess die geistige Repräsentation eines komplexen Sachverhalts konstruiert, aktiviert Weltwis‐ sen aus seinem Langzeitgedächtnis, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die textuelle Kompetenz funktioniert, ohne dass wir dies bemerken und darüber reflektieren. Der Sprachphilosoph Wittgenstein hat dieses Phänomen folgendermaßen beschrie‐ ben: „Wir können es nicht bemerken, weil wir es immer vor Augen haben.“ (zit. n. Mausfeld 2005: 47). Die routinierte Selbstverständlichkeit blockiert so den analytischen Blick auf Texte und verhindert oft ein kritisches Wahrnehmen. Auf die Oberfläche des Textes, d. h. seine grammatischen und lexikalischen Verknüpfungsformen achten wir ohnehin kaum (es sei denn, es gibt Verständnisprobleme), vielmehr konzentrie‐ ren wir uns fast ausschließlich auf den Inhalt von Texten. Texte sind aber immer Form-Inhalt-Kopplungen: Ohne Formen können wir keine Inhalte vermitteln (da wir nicht Gedankenlesen können). Die Art und Weise der Realisierung, der Kodierung von Inhalten spielt oft eine besonders wichtige Rolle; sie entscheidet darüber, ob ein Text als schwer oder leicht verständlich, innovativ oder abgedroschen empfunden wird. Die Textlinguistik blickt auf Texte als sprachliche Gebilde an sich und untersucht alle wesentlichen Charakteristika von Texten als Texte, anders als Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Hermeneutik, Pädagogik oder Rechtswissenschaft, die nur 10 1 Einleitung: Zur Relevanz von Texten und Textanalysen <?page no="11"?> Texte als Spuren jeweils bestimmte Aspekte betrachten (z. B. Ästhetik von Texten, Sinnauslegung). Die Textlinguistik will die Beziehung zwischen Form, Bedeutung und Funktion be‐ schreiben, Implizites explizieren, Unbewusstes bewusst machen und Alltägliches und scheinbar Selbstverständliches kritisch reflektieren. Hierzu benutzt die Textlinguistik, wie andere Wissenschaften auch, ihre eigene Fachterminologie; sie stellt möglichst präzise Beschreibungs- und Erklärungsmodelle auf, um transparent zu machen, was wir als normaler Sprachbenutzer beim Textverstehen vielleicht intuitiv wahrnehmen und fühlen, aber nicht präzise formulieren und erklären können. Dabei gilt für die Textlinguistik, was für alle empirischen Geisteswissenschaften gilt: Ihre Annahmen, Theorien und Modelle sollen nicht nur intersubjektiv nachvollziehbar sein (dazu müssen sie in sich widerspruchsfrei sein und im Einklang mit den Erkenntnissen von Nachbardisziplinen wie Kognitions- und Neuropsychologie stehen), sie sollen auch überprüfbar sein, insbesondere durch systematische Beobachtung und Analyse „echter“ Texte (im Gegensatz zu Beispielen, die eigens dazu erfunden werden, die eigene Theorie zu belegen). Zum einen gibt die Textlinguistik also ein Werkzeug an die Hand bzw. in den Kopf, das ermöglicht, Texte angemessen zu beschreiben und zu erklären: eine Fähigkeit, die nicht nur für Sprach- und Literaturwissenschaftler sowie Lehrer wichtig ist. Denken Sie an die Tätigkeit von Lektoren, Journalistinnen, Medienberatern, PR-Leuten, Werbefachleuten, Redenschreibern und forensisch arbeitenden Kriminalistinnen, von Vorurteilsforschern und Historikern. Alle diese Tätigkeiten erfordern einen geübten Blick auf Texte, ihre Strukturen und ihre Funktionen. Zum anderen aber soll durch die textwissenschaftliche Analyse auch ganz allgemein der Umgang mit Texten reflektier‐ ter und kritischer werden. Die Leser dieses Buches sollen in der Lage sein zu erkennen und zu beschreiben, was an bestimmten Texten besonders, auffällig, interessant und u. U. auch gefährlich ist. Texte vermitteln Wissen über die Welt, aber sie schaffen auch Welten und prägen Wertvorstellungen (und dies nicht nur in der Literatur, sondern auch im politischen, ideologiegeprägten Diskurs und im Werbebereich). Dass wir Texte produzieren und rezipieren können, ist Ausdruck unserer sprachli‐ chen und insbesondere unserer textuellen Kompetenz. Insofern sind Texte als Spuren der geistigen Aktivität von Menschen zu betrachten. Sie verraten uns ganz konkret etwas über ihre Verfasser und geben u. a. Einblick in Situationszusammenhänge oder andere geschichtliche Epochen. Textanalysen decken Argumentationsmuster und manipulative Strategien auf, legen stilistische und ästhetische Dimensionen frei, machen nur Angedeutetes klar und transparent. Textanalysen ermöglichen es aber auch, geistige Prozesse zu rekonstruieren, nämlich was die mentale Basis unserer Textkompetenz ist, geben also Aufschluss über eine entscheidende, zentrale geistige Fähigkeit des Menschen. Konkrete Texte sind Spuren der Kompetenz, die als abstrakte, nicht sofort fassbare Eigenschaft dem sprachlichen Handeln zugrunde liegt. Sie er‐ möglichen also, mentale Fähigkeiten zu rekonstruieren und zeigen uns letztlich, wie die menschliche Kognition hinsichtlich der Sprachverarbeitung funktioniert und auf 1 Einleitung: Zur Relevanz von Texten und Textanalysen 11 <?page no="12"?> kognitiver Ansatz welche Kenntnissysteme und prozedurale Fähigkeiten sie zurückgreift, wenn wir Texte produzieren und rezipieren. In den folgenden Kapiteln werden wir die wesentlichen Fragen, Annahmen und Methoden der Textlinguistik beschreiben und sie anhand vieler authentischer Bespiele diskutieren und anwendungsorientiert erproben. Diese Einführung unterscheidet sich von den bereits vorliegenden Textlinguistikbü‐ chern vor allem dadurch, dass sie erstens nicht primär strukturorientiert ist, sondern alle Komponenten textueller Kompetenz aufeinander bezieht, und sich zweitens auf natürliche Daten stützt. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der prozeduralen Kompo‐ nente, also der Kompetenz zur Produktion und Rezeption von Texten, ohne die z. B. das zentrale Phänomen der Kohärenz, also der inhaltliche Zusammenhang von Texten, gar nicht erklärt werden kann. Dieses Buch richtet sich besonders an alle Studierenden in den philologischen Bachelor-, Master- und Lehramtsstudiengängen, die sich anhand eines komprimierten und gut verständlichen Überblicks über die wesentlichen Fragen und Ergebnisse der aktuellen Textlinguistik informieren wollen und ihre Kenntnisse anhand von Textanalysen und Übungsaufgaben erproben möchten. Prinzipiell aber können alle an Texten und Textuntersuchungen Interessierten diese interdisziplinäre Abhandlung mit Gewinn lesen, da sie viele Aspekte umreißt, die in den üblichen Einführungen und Lehrbüchern nicht oder zu wenig thematisiert werden, und stets die anwendungsorientierte sowie gesellschaftsrelevante Dimension wissenschaftlicher Textanalysen berücksichtigt. Auf formale Darstellungen und die Berücksichtigung formalistischer Ansätze ver‐ zichten wir. Diese suggerieren oft nur ein höheres Maß an Wissenschaftlichkeit durch (pseudo-)mathematische Repräsentationen, bringen tatsächlich aber keinerlei Erkenntnisgewinn über Textproduktion oder -rezeption. Menschliche Kommunikation folgt generell nicht nur formalen, sondern auch mentalen und sozialen Gesetzmäßig‐ keiten. Ein wichtiges Anliegen dieses Buchs ist, zu zeigen, dass die Textlinguistik ein Bindeglied ist zwischen der Beschreibung interner Sprachstrukturen und der Erforschung des menschlichen Sprachgebrauchs in allen seinen Facetten und dass textlinguistische Analysen weit mehr beinhalten als die Aufzählung kohäsiver Mittel und die Beschreibung von Kohärenzrelationen. Sich auf Kohärenztheorie und Textvers‐ tehensmodelle einzulassen, bedeutet immer auch, sich mit dem eigenen Kopf, mit der menschlichen Kognition zu beschäftigen und (selbst-)kritisch dessen Funktionsweise zu reflektieren. Somit ist diese Einführung in einem doppelten Sinn anwendungsori‐ entiert und praktisch ausgerichtet. Sie zeigt einerseits auf der Basis theoretischer Grundlagen und anhand vieler Analysen authentischer Beispiele auf, wie Kenntnisse der Textlinguistik in der alltäglichen wie auch massenmedialen Kommunikation helfen, Texte und ihr Wirkungspotenzial intensiver zu betrachten, besser zu verstehen, kritisch(er) zu beurteilen und präziser zu beschreiben. Andererseits schärft sie aber auch den Blick für die eigenen geistigen Fähigkeiten und Leistungen im Umgang mit Texten. 12 1 Einleitung: Zur Relevanz von Texten und Textanalysen <?page no="13"?> Wir danken Maria Fritzsche, Gerrit Kotzur, Sara Neugebauer, Jonas Nölle und Sabine Reichelt für viele hilfreiche Kommentare zur Verständlichkeit aus studentischer Leserperspektive sowie die Unterstützung beim Korrekturlesen und Formatieren bei der ersten Auflage. Konstanze Marx-Wischnowski gebührt Dank dafür, dass sie unser Kap. 6 durch einen Abschnitt zur forensischen Textanalyse bereichert hat. Bei der zweiten Auflage gaben Maria Fritzsche und Isabel Pinkowski wertvolle Hinweise zur Aktualisierung und zur Verständlichkeit des Textes. 1 Einleitung: Zur Relevanz von Texten und Textanalysen 13 <?page no="15"?> Definition von Text Literatur Gebrauchs‐ texte 2 Textanalyse in der Textlinguistik 2.1 Was ist ein Text? Zum Textbegriff (5) Zwölf Eins Zwei Drei Vier Fünf Fünf Vier Drei Zwei Eins Zwei Drei Vier Fünf Sechs Sechs Fünf Vier Drei Zwei Sieben Sieben Sieben Sieben Sieben Acht Eins Neun Eins Zehn Eins Elf Eins Zehn Neun Acht Sieben Sechs Fünf Vier Drei Zwei Eins (Kurt Schwitters, Zwölf) (6) Heute Gendarmenmarkt 17.00. Konrad kommt. LG Stanzerl (7) Knuspriges Gebäck mit Korinthen, Sonnenblumenkernen und Haselnüssen. Kann Spuren von anderen Schalenfrüchten, Ei und Sellerie enthalten. (Vitalgebäck) Würden Sie die gerade gelesenen Beispiele als Texte bezeichnen? Die meisten Studie‐ renden, die wir in den letzten Jahren in Seminarumfragen gebeten haben, anzugeben, was für sie ein Text ist, nannten mehrheitlich folgende Merkmale: „Ein Text besteht aus mehreren verknüpften Sätzen, ergibt Sinn, ist schriftlich, hat eine bestimmte Funk‐ tion.“ Werfen wir einen Blick auf die Etymologie, also den historischen Ursprung des Wortes Text, erkennen wir dort ein Merkmal, das bei der (proto)typischen Definition von Text wichtig ist. Der Ausdruck kommt nämlich vom Lateinischen textus (texere „weben, flechten“, s. auch altindisch taksati „(ge)zimmert“). Die Wurzel des Wortes hat mit der Bedeutung ‚Gewebtes‘, ‚verflochtenes Gebilde‘ eine Bedeutungskomponente, die auch heute noch Aktualität besitzt, wenn wir Texte, aus sprachlichem Material entstandenes Gewebe, als zusammenhängende Sprachstrukturen verstehen. Im abge‐ leiteten Wort Textilie finden wir diese Bedeutung auch. Wir werden später ausführlich erläutern, inwiefern der Zusammenhang eines Textes von besonderer Relevanz ist. Doch bleiben wir zunächst bei der Frage, wann ein sprachliches Gebilde als Text an‐ gesehen wird. Aufgefordert, konkrete Beispiele für Texte zu nennen, kommen bei unseren Semi‐ narteilnehmern in der Regel vor allem Verweise auf literarische Texte wie Roman, Ge‐ dicht, Kurzgeschichte, Ballade etc.; Texte der Literatur aber sind nur eine kleine Teil‐ menge aller Texte: Text ist der Oberbegriff, Literatur lediglich das Hyponym dazu, dem nur die fiktiven und ästhetischen Texte zuzuordnen sind. Legt man Studierenden un‐ gewöhnliche Texte vor (wie das Gedicht von Kurt Schwitters in (5)) oder Gebrauchs‐ texte (wie die SMS-Nachricht in (6) sowie die Deklaration auf einer Gebäckpackung in <?page no="16"?> Alltagskom‐ munikation (7)), die von dieser Vorstellung stark abweichen, und fragt, ob diese Sprachgebilde denn gar keine Texte seien, schütteln die Befragten den Kopf: Natürlich seien auch diese Äußerungen Texte, aber eben nicht so typische. Diese Ergebnisse zeigen, dass in den Köpfen der Sprachbenutzer eine prototypische Vorstellung von Text abgespeichert ist. Das Konzept text ist kollektiv geprägt durch einen Deutschunterricht, der primär (klassische) literarische Texte betrachtet und analysiert, sowie eine Kultur- und Feuil‐ letonpraxis im massenmedialen Kommunikationsraum, die diesen Eindruck verstärkt. Doch obgleich bei der Beurteilung von Textexemplaren offenkundig stets automatisch die Vorstellung eines typischen, eindeutigen Textes mit einer „guten Gestalt“ (Antos 1997: 54) als Maßstab herangezogen wird: „Ein ernsthafter Dissens über das, was ein Text ist, ergibt sich in Wirklichkeit nur selten“ (Adamzik 2001: 262). In der Alltagskommunikation machen wir uns als Sprachbenutzer nämlich sehr sel‐ ten Gedanken, ob eine sprachliche Äußerung ein (guter bzw. repräsentativer) Text ist. Wir klassifizieren vielmehr automatisch kommunikative Ereignisse funktional, ganz konkret und anwendungsbezogen als Kochrezept, Ankündigungstext in einer TV-Zeit‐ schrift, Kassenzettel, Tabelle, Schmier- oder Einkaufszettel, Gedicht, Kriminalroman, Brief, SMS, Whatsapp-Nachricht oder Thesenpapier. In der Textlinguistik dagegen werden schon seit vielen Jahren terminologische Debatten über einen (einheitlichen) Textbegriff geführt (s. z. B. Klemm 2002, Vater 3 2001). Warum ist es wichtig und sinnvoll, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was ein Text (zumal aus linguistischer Perspektive) eigentlich ist? Zum einen, weil jede Disziplin bemüht ist, ihren Untersuchungsgegenstand möglichst genau zu umreißen und ihn von benachbarten Phänomenen abzugrenzen. Der vage Alltagsbegriff Text soll so präzisiert, der spezifische Forschungsbereich der Textlinguistik konstituiert werden. Zum anderen, weil es bei der Textanalyse hilft, sich klar gemacht zu haben, dass es bei allen Sprachbenutzern eine prototypische Vorstellung von „Text“ gibt, wie diese aussieht und wie sie, bewusst oder unbewusst, die Bewertung konkreter Texte beeinflusst. Was also ist ein Text und wie grenzt man Texte von Nicht-Texten ab? Das erste, scheinbar ganz und gar triviale, selbstverständliche Kriterium gibt an, dass Texte aus Sprache bestehen. Doch bereits diese grundlegende Eigenschaft erweist sich bei näherem Hinsehen und der Einbettung in die kommunikative Praxis als ein Merkmal, das je nach Sprachbenutzer unterschiedlich gesehen und gewichtet wird: (8) 언어로 발화할 때 상이한 표상 층위들이 포함된다 . 즉 , 음이 결합하여 단어가 되고 , 단어가 결합하여 문장이 되며 , 단어와 문장은 의미를 갖는다 . 문장을 발화함으로써 우리는 특정한 언어 행위를 수행한다 . 곧 특정한 의도를 실현하는 것이다 . (9) Ezeket a mondatokat magyarul írták. Csak akkor érthetők, ha a nyelvhasználó rendelkezik e nyelv ismeretével. 16 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="17"?> Fremdsprachliche Texte wie (8) und (9) werden zwar als sprachliche Äußerungen wahrgenommen, jedoch (wenn die entsprechenden Kenntnisse nicht gegeben sind) nicht verstanden und haben daher als Texte auch keinen kommunikativen Wert. (8) bedeutet „Im Langzeitgedächtnis (LZG) ist unser gesamtes Wissen gespeichert und kann von dort bei Bedarf in das Kurzzeitgedächtnis (KZG) abgerufen werden. Derjenige Teil des LZG, in dem das sprachliche Wissen über Wörter repräsentiert ist, wird mentales Lexikon genannt.“ und (9) lautet in der Übersetzung „Diese Sätze sind in Ungarisch geschrieben. Sie sind nur zu verstehen, wenn der Sprachbenutzer auf Kenntnisse dieser Sprache zurückgreifen kann“. Gänzlich unverständlich und wie ein Fremdsprachentext bleibt auch für viele Leser (10): (10) Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista, Dat ero ni uuas noh ufhimil, … Text (10) ist der Anfang des Wessobrunner Schöpfungsgedichtes, eines der ältesten überlieferten Gedichte auf Althochdeutsch aus dem 9. Jahrhundert (in der Übersetzung: „Das erfuhr ich bei den Menschen als größtes der Wunder, dass es weder die Erde gab noch den Himmel oben“). Auch um die erste Strophe des berühmten Nibelungenliedes aus dem 13. Jahrhundert vollständig verstehen zu können, müssen Sprachkenntnisse des Mittelhochdeutschen im Gedächtnis aktivierbar sein: (11) Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôzer arebeit, von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen. (Nibelungenlied, erste Strophe) So entspricht das mittelhochdeutsche arebeit z. B. nicht dem neuhochdeutschen Arbeit, sondern bedeutet vielmehr Leid, Kummer, hochgeziten ist nicht mit Hochzeit zu verwechseln, sondern meint allgemein Feste, lobebæren bedeutet rühmlich. Zum Teil sind die Zeilen ohne spezifische Kenntnisse des Mittelhochdeutschen gar nicht zu verstehen, etwa der Anfang der Strophe 18 (12) Kriemhilt in ir muote sich minne gar bewac. bedeutet ‚Kriemhild war in einer Stimmung/ Verfassung, dass sie auf höfisches Liebes‐ werben verzichtete‘. Und selbst ein deutscher Text aus dem Jahr 2003 wie (13) Ich hatte das K7S5A und das Shuttle AK 31 Rev 3.1. Mit dem gleichen System und das K7S5A war auch mit DDR Ram ausgestattet hatte ich mit dem AK31 knappe 5600 Punkte und mit dem K7S5A nur etwas über 4000 Punkte. (Forumsbeitrag, www.forum-3dcenter.org, 11.01.2003) 2.1 Was ist ein Text? Zum Textbegriff 17 <?page no="18"?> Relevanz‐ prinzip kann für Muttersprachler des Deutschen unverständlich klingen. Am Ende hängt es immer vom jeweiligen Sprachbenutzer ab, ob er/ sie ein sprachliches Gebilde als Text akzeptiert und versteht. Texte bestehen aus sprachlichen Einheiten, sind aber deshalb nicht automatisch und gleichermaßen bedeutungs- und sinnvoll für alle Sprachbenutzer. Man sollte die Frage nach der Textdefinition daher nicht überbewer‐ ten: Ob ein sprachliches Gebilde als (relevanter) Text gesehen wird, ist letztlich immer von der individuellen Rezeptionssituation abhängig und davon, wie viel Bedeutung Sprachbenutzer diesem Gebilde beimessen. Christian Morgensterns viel zitiertes Gedicht Fisches Nachtgesang, das er selbst „das tiefste deutsche Gedicht“ nannte, (14) - — - - - - ‿ ‿ - - - — — — - - ‿ ‿ ‿ ‿ - - - — — — - - ‿ ‿ ‿ ‿ - - - — — — - - ‿ ‿ ‿ ‿ - - - — — — - - ‿ ‿ ‿ ‿ - - - — — — - - - ‿ ‿ - - - — - - (Christan Morgenstern, Fisches Nachtgesang) zeigt einen Text (aus dem Band Galgenlieder), der lediglich durch den Titel sprachliche Informationen vermittelt, die nachfolgenden Einheiten sind dagegen non-verbal, zei‐ gen Längen- und Kürzezeichen an und symbolisieren wohl einen bestimmten Rhyth‐ mus unter Wasser. Wir sehen hier weder Semantik noch Grammatik, dennoch werden die Leser immer versuchen, einen Textsinn zu erschließen, um zumindest das Kriterium der Intentionalität zu erhalten (zum Textsinn s. Kap. 6.2). Als Sprachbenutzer unter‐ stellen wir nämlich automatisch dem Sprachproduzenten, dass er mit dem Text etwas Relevantes, etwas Sinnvolles vorlegen und damit eine bestimmte Absicht realisieren wollte, sei dieser auch auf den ersten Blick noch so seltsam und ungewöhnlich für uns (s. hierzu die Klassiker Grice 1975 und Sperber/ Wilson 1986). Auf dieses Relevanzprin‐ zip werden wir später noch an mehreren Stellen ausführlicher zu sprechen kommen. 18 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="19"?> Textbegren‐ zungssignal In einer ersten Annäherung (und der Festlegung, dass wir uns hier auf die synchrone Textlinguistik des Deutschen konzentrieren) können wir sagen, dass Texte prinzipiell Informationen übermitteln und dass diese Informationen (wenigstens zu einem Teil) sprachlich repräsentiert werden. Textbegrenzungssignale, die den Textanfang und den Textschluss markieren, zeichnen einen Text zudem als begrenzte Folge von sprachli‐ chen Zeichen mit charakteristischen Struktureigenschaften aus. Der Titel, Begrü‐ ßungs- und Anredefloskeln wie Guten Morgen, Sehr geehrter, aber auch einleitende Sätze wie (15) Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. … (Gebrüder Grimm, Rumpelstilzchen) und den Schluss anzeigende Wörter wie Ende, Schluss für heute und bis morgen oder Sätze wie (16) … und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende. (Gebrüder Grimm, Das tapfere Schneiderlein) sind typische Textbegrenzungssignale (und wir ignorieren hier einfach, dass es durch Computer erzeugte Endlostexte geben kann). Kehren wir zurück zum anfänglich genannten, typischen Kriterium des inneren Zusammenhangs: Was unterscheidet einen Text als zusammenhängendes Gebilde von einer bloß zufälligen Ansammlung von Wörtern oder Buchstaben wie der in (17)? (17) Hnt gratuliert Manifeste tolle qm starrer fechte. Pol tot Gas an spitzten Sog Bus vor leichtfertigerer Tschako Bea Fan Wahnbilds weh Club presto, hub Die hie Sexus Bastion Geo Geo Onkeln hersehend. Dur fachlicherer Tauwerk abzuheben öle, dir Art an ablesbar Ego heulst fleischige qm Ätna Droh. (zufällig generiert durch: www.blindtexte.de) Es handelt sich hier um einen sogenannten Blindtext, den Journalisten als Platzhalter im Layout verwenden, wenn der spätere richtige Text noch nicht produziert ist. Obwohl neben Pseudowörtern auch einige reale Wörter verwendet wurden, bleibt diese Silbenansammlung unverständlich, eine syntaktische Ordnung ist gar nicht erkennbar. Also klar ein Nicht-Text? Auch hier lässt sich jedoch ein authentisches Textbeispiel anführen: (18) gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini (Hugo Ball, Gadji beri bimba, erster und zweiter Vers) Text (18) zeigt die ersten Zeilen eines von Hugo Ball geschriebenen Gedichts, das keine grammatischen Strukturen oder lexikalisch identifizierbare Einheiten aufweist, 2.1 Was ist ein Text? Zum Textbegriff 19 <?page no="20"?> Trägermedium weite Text‐ definition enge Text‐ definition satzüber‐ greifende Phänomene dennoch kein Blindtext, sondern ein intentional verfasster Text ist (wenngleich es schwierig ist, die Intention des Autors exakt anzugeben; mutmaßlich zeigt sich hier, wie bei allen dadaistischen Gedichten der konkreten Lyrik vor allem die Experimen‐ tierfreude, das Spiel mit dem Wortmaterial). Die erste Strophe des Gedichts von Hans Arp in (19) lässt zwar bekannte Wörter und syntaktische Strukturen erkennen, die Bedeutungen der Sätze jedoch scheinen in keiner erkennbaren Relation zu stehen. Dennoch akzeptieren wir diese Informationen als Teil eines modernen Gedichtes. Auch ein semantisch unverständlicher und inkohä‐ renter Text kann also durchaus als kommunikativ bedeutungs- und sinnvoll erachtet werden (ausführlich zur Kohärenz s. Kap. 5). (19) am rande des märchens strickt die nacht sich rosen. der knäuel der störche früchte pharaonen harfen löst sich. der tod trägt seinen klappernden strauß unter der wurzel des leeren. die störche klappern auf den schornsteinen. die nacht ist ein ausgestopftes märchen. (Hans Arp, rosen schreiten auf straßen aus porzellan, erste Strophe) Akzeptieren wir, dass ein Text aus Sprache besteht, stellt sich nun noch die Frage, inwieweit Texte als sprachliche Gebilde von einzelnen Wörtern und Sätzen abzugren‐ zen sind. Auch sprachliche Gebilde, die nicht mehrere Sätze umfassen, sind Texte. Man denke z. B. an eine SMS, in der nur steht: MACH AUF! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! (SMS zitiert nach www.smsvongesternnacht.de), die Werbung von McDonald’s (Ich liebe es), die allein aus einem Satz besteht, und schließlich Werbetexte, die grammatisch nicht einmal einen vollständigen Satz enthalten, wie Brille? Fielmann. Es gibt kurze und lange Texte, und diese Texte können mündlich und/ oder schriftlich realisiert werden (vgl. Bericht im Radio, Vorlesungsskript, Autorenlesung etc.). Es gibt zudem zahlreiche Trägermedien für Texte wie Papier, Pappe, Plastik, Stein oder sogar Haut (bei Tätowierungen). Hinsichtlich der Frage, welche Rolle die Größe bzw. Kom‐ plexität von Texten in der Textlinguistik spielt, gibt es prinzipiell zwei Sichtweisen. Der funktionalen Perspektive liegt eine weite Textdefinition zugrunde: Demnach ist jede sprachliche Äußerung, die einen kommunikativen Zweck erfüllt, ein Text, ganz gleich, ob es sich um eine Einwort- oder Einsatzäußerung handelt oder um ein Gebilde aus Tausenden von Sätzen. Der engen Textdefinition zufolge ist Text dagegen eine sprachlich komplexe Einheit, die schriftlich fixiert ist. Komplex bedeutet hier, dass das sprachliche Gebilde aus mindestens zwei Sätzen besteht. Mit dieser Arbeitsdefinition grenzt sich die Textlinguistik als eigenständige Disziplin zum einen von den Gebieten der wort- und satzorientierten Linguistik ab (und bestimmt als ihren spezifischen Un‐ tersuchungsgegenstand die satzübergreifenden Phänomene), zum anderen durch das Merkmal ‚schriftlich‘ von der Gesprächsanalyse, die sich auch mit komplexen Äuße‐ rungen beschäftigt, aber ihr Hauptaugenmerk auf die mündlich realisierte Kommuni‐ kation legt (s. hierzu auch Schwarz-Friesel 2007a und Deppermann 4 2008). Eine enge 20 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="21"?> Textualitäts‐ kriterien Kohäsion und Kohärenz Intentionali‐ tät Textdefinition zugrunde zu legen, heißt aber keineswegs, dass kurze oder mündliche Äußerungen nicht als Texte gesehen werden. Vielmehr geht es darum, die Disziplin der Textlinguistik mit bestimmten Schwerpunkten zu betreiben. Dies betrifft in erster Linie die wissenschaftliche Praxis und konkrete Forschungsarbeit von Textlinguisten: Das Hauptinteresse besteht bei diesen in der Erklärung von Sprachstrukturen, welche die Satzebene überschreiten. Dementsprechend richten sich die wesentlichen Fragen und Ziele der Textlinguistik auf die satzübergreifenden Phänomene des textuellen Zu‐ sammenhangs, ohne aber die kommunikativ-funktionalen und sozialen Aspekte zu ignorieren. In der Textlinguistik werden also prinzipiell alle (möglichen) Texte berück‐ sichtigt, ihr Hauptaugenmerk aber liegt auf der Beschreibung und Erklärung komple‐ xer schriftlicher Kommunikationsstrukturen. Wie wir bislang gesehen haben, gibt es Texte in den unterschiedlichsten Formen und Variationen mit den verschiedensten Funktionen, und es ist ein Ziel der linguistischen Textanalyse, diese Vielfalt an textuellen Erscheinungsformen mittels präziser linguis‐ tischer Kriterien zu beschreiben und als Textexemplare zu erklären. Dies führt uns zu den Textualitätskriterien. 2.2 Typische Textmerkmale: Kriterien der Textualität Ein Versuch, alle wesentlichen Eigenschaften von Texten präzise zu erfassen, liegt in der Angabe von sogenannten Textualitätskriterien. Als klassisch ist hier die Definition von de Beaugrande/ Dressler (1981) anzuführen, derzufolge ein Text „eine kommuni‐ kative Okkurrenz ist, die 7 Kriterien der Textualität erfüllt“. Mit kommunikativer Ok‐ kurrenz ist schlicht gemeint, dass es sich um eine Äußerung in einer konkreten Situa‐ tion handelt. Diese Kriterien müssen den Autoren zufolge alle gegeben sein, damit wir einem sprachlichen Gebilde die Eigenschaft zusprechen, ein Text zu sein (wobei wir zeigen werden, dass dies so nicht stimmt). Als textzentrierte Kriterien gelten die Kohäsion (also die grammatisch-lexikalischen Verknüpfungen auf der Oberflächenstruktur) und die Kohärenz (den inhaltlichen Zu‐ sammenhang betreffende Relationen) (ausführlich hierzu s. Kap. 5.1). Stichwortartige Aufzählung, experimentelle Prosa, dadaistische Lyrik und Fragmente in Tagebüchern erfüllen z. B. diese Kriterien nicht, sind aber dennoch Texte. Die Tatsache, dass wir bestimmte Textexemplare als grammatisch oder lexikalisch inkorrekt und unzusam‐ menhängend erleben, zeigt, wie wir uns automatisch an einem mentalen Prototyp von TEXT orientieren, einer typischen Konzeptualisierung von „guten, repräsentativen Texten“, denn sonst würden uns die Abweichungen ja gar nicht auffallen. Es werden auch benutzerzentrierte Merkmale angeführt: Intentionalität als produ‐ zentenzentriertes Merkmal bezieht sich darauf, dass jeder Text mit einer bestimmten Absicht für (einen oder mehrere) Rezipienten produziert worden ist. Dies ist auch zu‐ treffend, wenn Texte nur anonym vorliegen oder (wie heute oft üblich in PR-Bereichen) im Kollektiv verfasst wurden. Die Intention oder kommunikative Funktion jedoch lässt sich nicht immer eindeutig bestimmen (s. z. B. (18) und (19) sowie das Kap. 6.2 zum 2.2 Typische Textmerkmale: Kriterien der Textualität 21 <?page no="22"?> Akzeptabili‐ tät Situationali‐ tät Informativi‐ tät Textsinn). Und bei Selbstgesprächen oder Tagebüchern ist auch der Bezug zum Rezi‐ pienten nicht gegeben. Akzeptabilität ist ein rezipientenzentriertes Merkmal und meint, dass jeder Text, wenn er wahrgenommen wird, von Rezipienten mit einer be‐ stimmten Erwartungshaltung gelesen wird. Dieses Kriterium sagt eigentlich, dass Re‐ zipienten die Erfüllung der übrigen Kriterien erwarten. Ob diese Erwartung erfüllt wird und ob der Text Sinn für den Rezipienten macht, ist jedoch situationsabhängig. Die Situationalität betrifft die kontextuelle Einbettung jedes Textes: Texte werden nicht kontextfrei, sondern stets in bestimmten Situationen (also Raum-Zeit-Konstellationen) produziert bzw. rezipiert. (20) Und kleine Tannen sind verstorbene Kinder Uralte Eichen sind die Seelen müder Greise (Emmy Hennings, Gesang zur Dämmerung, ausgewählte Zeilen) Gekritzelt an eine U-Bahn-Wand wird (20) weniger Beachtung finden als abgedruckt in einem Band über moderne Lyrik. Texte sollen auch zur Situation passen: So wird man auf einer Trauerfeier einen anderen Redetext erwarten als für eine Geburtsgratulation. Und die Rezeption eines Textes, der im Mittelalter verfasst wurde, erfordert die Berücksichtigung der historischen Produktionsumstände des Autors. Die Informativität betrifft das Informationspotenzial eines jeden Textes, wobei das Ausmaß der bekannten oder unbekannten Information je nach Text erheblich variieren kann. Ein Text wie (21) Das neue Buch „Toxische Sprache und geistige Gewalt“ wurde am 17. Oktober 2022 in „Andruck, das Magazin für politische Literatur“ im Deutschlandfunk von Sebastian Engelbrecht rezensiert. Der Journalist und Theologe befand, die Studie über verbalen Judenhass „durchleuchte das Thema Antisemitismus in einzigartiger historischer und sprach-analytischer Tiefe.“ vermittelt komprimiert sehr viele neue Informationen. Dagegen hält (22) Die Erde kreist um die Sonne, der Mond kreist um die Erde. Menschen sind Lebe‐ wesen und sterben eines Tages. Wir befinden uns im Klimawandel. Deutschland ist eine Demokratie und in Demokratien gibt es für die Bürger das Wahlrecht. informationell wenig Neues bereit. Zum Teil wird auch (insbesondere in literarischen Texten) bewusst mit der Dimension der Informativität gespielt (s. Bsp. (2) im Einlei‐ tungskapitel sowie Kap. 5.5): 22 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="23"?> Intertextualität (23) schweigen schweigen schweigen - schweigen schweigen schweigen - schweigen - schweigen - schweigen schweigen schweigen - schweigen schweigen schweigen - (Eugen Gomringer, Schweigen) Die Wiederholung des Wortes Schweigen und seine spezifische Anordnung fokussieren in diesem Gedicht der visuellen Lyrik die Semantik der nonverbalen Stille. Die Informativität eines Textes kann maßgeblich durch nicht-spachliche, modaliätsspezi‐ fische, visuelle oder auditive Repräsentationen elaboriert werden. Im iconic turn sind viele Theorien vorgelegt worden, die Bildern einen ähnlichen Sinn- und Informati‐ onsgehalt zuschreiben wie sprachlichen Äußerungen (s. v. a. Sachs-Hombach 2021, der in Anlehnung an die linguistische Terminologie von Bildsyntax und -semantik sowie Bildpragmatik spricht). Die semantische Eindeutigkeit und Präzision jedoch, die sprachliche Informationen geben und dabei Ambiguitäten und multiple Lesarten auflösen, können Bilder nicht vermitteln. Die Semantik eines Satzes wie Sie wäre heute nicht auf diesem Führungsposten in der Wirtschaft, wenn sie nicht Jahre lang mit vollem Einsatz und unermüdlich gearbeitet hätte. kann in keiner anderen Modalität und auch nicht durch eine Abfolge komplexer Bilder so komprimiert, eindeutig und schnell vermittelt werden wie durch die verbale Lexik sowie das grammatische Relationsgefüge. Allerdings können Bilder die Rezeption von Texten beeinflussen, indem sie einen ko‐ gnitiven Rahmen für sie setzen: Wird eine Nachrichtenmeldung zum Thema Migration bebildert mit einem dunkelhäutigen Menschen bei der Arbeit als Krankenpfleger, wird man an Nützlichkeit und Notwendigkeit von Einwanderung denken. Ist der Text be‐ gleitet vom Bild eines Behördenflures, evt. ein Jobcenter, mit dunkelhaarigen Männern oder Frauen mit Kopftüchern, wird man an die „Einwanderung in die Sozialsysteme“ denken. Man spricht hier von Framing, dem Setzen eines Interpretations-Rahmens, siehe auch Abschnitt 6.3.1. Umgekehrt kann auch die Bildwahrnehmung durch begleitenden Text gesteuert werden, etwa wenn unscharfe Aufnahmen von Lichtpunkten am Himmel als „unbe‐ kannte Flugobjekte“ erklärt werden. Das Kriterium der Intertextualität schließlich gibt an, dass sich Texte auf andere Texte beziehen. Man kann dieses Kriterium weit oder eng fassen: In der weiten, typo‐ logischen Definition ist lediglich gemeint, dass jeder Text eine Realisierung einer be‐ stimmten Textsorte ist (s. hierzu Kap. 3), jeder Text steht somit in einem (ziemlich abstrakten) intertextuellen Bezug auf alle anderen Texte derselben Textsorte. 2.2 Typische Textmerkmale: Kriterien der Textualität 23 <?page no="24"?> Textsorten‐ zuordnung (24) Tomaten, Müllbeutel, Kaffeefilter, Butter, Schwarzbrot. (24) als einen Einkaufszettel zu klassifizieren, betrifft die Textsortenzuordnung ebenso, wie Gedichte von Gryphius als Barocksonette zu identifizieren und Erzählungen von Chandler als Kriminalromane einzuordnen. Manche Texte nehmen aber auch Bezug auf andere konkrete Texte; dies ist die enge Definition von Intertextualität, die auch in der Literaturwissenschaft verwendet wird. Intertextualität bezeichnet dann spezifische, intendierte und markierte Formen der Bezugnahme von Texten auf andere Texte und Textmuster. Gegenstand der Übernahme können einzelne Wörter, Phrasen, Sätze und ganze Texte sein. Diese referenzielle Intertextualität steht in der Textlinguistik im Fokus, also die Text-Text-Beziehung, bei der auf das Wissen der Rezipierenden bezüglich eines bestimmten Textes angespielt wird (vgl. Fix 2000: 450, Sandig 2006: 105). Eine einfache, explizite Form der Intertex‐ tualität liegt vor bei Zitaten: Ein Text - der Phänotext - greift eine Stelle eines anderen Textes - des Basis- oder Prätextes - auf und dies wird entsprechend gekennzeichnet. Ebenso explizit - und hier auch textsortenbestimmend - ist die Intertextualität bei einer Buchkritik, dem Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch und Sekundärliteratur zu wissenschaftlichen Texten. Implizite Intertextualität liegt vor bei Anspielungen oder Parodien. (25) Vom Eise befreit sind Berlins Straßen nach 6 langen Monaten nun. (aus einer E-Mail) (26) Die unerträgliche Leichtigkeit des Sehens (Kontaktlinsenwerbung) Bei (25) ist z. B. zu erkennen, dass im Phänotext eine Anspielung auf Goethes Faust (Osterspaziergang; im Original des Prätextes „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“) und bei (26) ein intertextueller Verweis auf Milan Kunderas Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ vorliegt. Solche markanten Ausprägungen von Intertextualität sind natürlich nicht bei allen Texten gegeben, und sie haben auch je nach Textsorte ganz unterschiedliche Funktionen. Während Verfasser wissenschaftlicher Texte dadurch beweisen, dass sie hinreichend Kenntnisse über das Gebiet haben, benutzen z. B. Produzenten von Werbetexten Intertextualität als persuasives Mittel, um die Aufmerk‐ samkeit von Rezipienten zu wecken und das Produkt humorvoll zu bewerben (s. Schwarz-Friesel 2003). Zusammenfassend: Textualitätskriterien anzunehmen, bedeutet also nicht, dass diese tatsächlich immer alle erkennbar in jedem konkreten Text realisiert sein müssen. Es gibt u. a. auch Texte ohne kohäsive Mittel, es gibt inkohärente und (scheinbar) informationsleere Texte (vgl. (22)), Texte ohne erkennbaren intertextuellen Bezug sowie situationsungebundene Texte. Nicht immer werden Texte von ihren Lesern als bedeutungsbzw. sinnvoll akzeptiert, und bei vielen Texten ist die Intention des Produzenten nicht oder nicht klar zu rekonstruieren. Es sind also nicht immer alle 24 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="25"?> Kriterien in erkennbarer, konkreter Ausprägung in einem Text gegeben. Bei den Textualitätskriterien handelt es sich vielmehr um typische Merkmale von Texten. Textualität ist also nicht absolut, sondern prototypisch zu fassen (vgl. ausführlich auch Sandig 2000). Mit einem prototypischen Textbegriff kann man erstens deutlich das Arbeitsfeld der Textlinguistik von anderen linguistischen Disziplinen abgrenzen und die Forschungsschwerpunkte eines textlinguistischen Vorgehens verdeutlichen, zweitens hilft ein solcher Textbegriff auch ganz maßgeblich, Texte in anwendungsori‐ entierten Analysen voneinander abzugrenzen und ihre Spezifika hervorzuheben. So kann man z. B. Textverständlichkeitsprobleme erklären, wenn man die jeweils vorhan‐ dene oder mangelnde Kohäsion/ Kohärenz betrachtet, oder das Persuasionspotenzial von Texten erfassen, wenn man Informativität und Intertextualität beschreibt. Das folgende Schema fasst noch einmal die erörterten Kriterien zusammen und zeigt deren interaktives Verhältnis: Wissen Wissen Sprachliche und konzeptuelle Kompetenz hat Information besteht aus Sätzen (Situation) wird gelesen von verfasst Rezipient Text Produzent bezieht sich auf die Welt ist Exemplar einer Textsorte ergibt Sinn (Situation) Abb. 1: Modell zur Textualität Es ist typisch für einen Text, dass er als Exemplar einer Textsorte mit einer gramma‐ tischen Oberflächenstruktur, einem inhaltlichen Zusammenhang und einem globalen Sinngehalt von jemandem (für jemanden) mit einer bestimmten Intention in einer bestimmten Situation produziert wurde. Sprachproduktion und -rezeption von Texten 2.2 Typische Textmerkmale: Kriterien der Textualität 25 <?page no="26"?> deskriptive und explanative Textlinguistik werden maßgeblich von Sprach- und Weltwissen sowie kontextuellen Faktoren beein‐ flusst. Spätestens seit es ChatGPT gibt, muss allerdings die Bandbreite des Potenzials KI-ge‐ nerierter Texte und multimodaler Informationsstrukturen mitberücksichtigt werden: So stellt sich schon seit längerem die Frage, ob und wie sich artifizielle von natürlichen Texten unterscheiden und mittels welcher Kriterien sowie Methoden dies untersucht werden kann (vgl. hierzu Baron 2023). 2.3 Der funktional-kognitive Ansatz: Texte als Spuren, Texte als Signale Während sich die textlinguistische Forschung in ihren Anfängen vor allem auf texti‐ nterne Eigenschaften und strukturorientierte Analysen zu Kohäsion und Kohärenz konzentrierte, integriert die Textlinguistik heute in der Regel interne, textzentrierte und externe, benutzerzentrierte Faktoren. Innerhalb der Textlinguistik jedoch gibt es auch heute noch gravierende Unterschiede, die sich auch methodisch festmachen las‐ sen: So unterscheidet man eine Textlinguistik, die deskriptiv vorgeht und lediglich Struktureigenschaften (z. B. Wiederholungen, grammatische Verweise und syntak‐ tisch-semantische Verknüpfungsrelationen) beschreibt, und eine explanative Textlin‐ guistik, die neben der Beschreibung solcher textinternen Eigenschaften zugleich er‐ klären will, wie die textuelle Kompetenz von Sprachbenutzern konstituiert ist. Hier stoßen wir auch auf eine prinzipielle Kontroverse in der Linguistik: Man kann Sprache ausschließlich als formales, abstraktes System beschreiben und sie mit den Mitteln der Logik analysieren - dies haben Forscher schon in der Antike getan, und auch einige zeitgenössische Textlinguisten verstehen sich in einer solchen formal-logischen Tradition. Der menschliche Sprachbenutzer ist in solchen Ansät‐ zen jedoch ausgeklammert, „die sprachliche Form geht gleichsam am Kopf vorbei“ (von Stutterheim 1997: 50). Methodisch ist für solch eine Herangehensweise eigenes abstraktes Denken das Wichtigste, mit dem - wie in der Mathematik - in sich stimmige Beschreibungsmodelle entwickelt werden. Andererseits konstituiert sich Sprache durch menschliches Denken und Handeln. Texte sind ein Mittel, mit dem Menschen außersprachliche Zwecke erreichen wollen, sei es überzeugen, gemeinsames Handeln planen, informieren oder unterhalten. Wer mit diesem Gedanken an Texte herangeht, wird den realen Sprachgebrauch von Menschen in ihrem sozialen und/ oder emotionalen Handeln beobachten und datengeleitete (empirische) Erkenntnisse daraus ziehen. Dies ist der Ansatz des vorliegenden Buches; er ist „funktional“, da er Texte in ihrer kommunikativen Funktion fokussiert, und „kognitiv“, da er geistige Fähigkeiten und Denkprozesse als Grundlagen der Sprachproduktion und des Sprachverstehens beschreiben will. Den methodischen Erfordernissen eines solchen Ansatzes wird das Kap. 2.4 Rechnung tragen. Von formalen Ansätzen grenzt sich unsere Textlinguistik ab, indem sie nicht versucht, natürliche Sprache in das künstliche Korsett von Formeln zu 26 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="27"?> Texte sind Spuren und zugleich Signale konstrukti‐ vistische Sicht Kognitions‐ wissen‐ schaft textuelle Kompetenz zwängen, die letztlich nichts erklären, keinerlei heuristischen Wert haben, sondern nur Wissenschaftlichkeit vortäuschen, hinter der sich jedoch nichts Signifikantes verbirgt. Die beiden Grundannahmen des funktional-kognitiven Ansatzes lassen sich wie folgt präzisieren: In der kognitiv-prozeduralen Textlinguistik werden aus Produzentenperspektive Texte als Spuren der kognitiven Aktivität ihrer Verwender betrachtet. Entsprechend ist Sprache „eine Straße in den Geist“ (Schwarz-Friesel 3 2008 und 2 2013). Wir erfahren über die Textstrukturen etwas über die geistige Fähigkeit, die für die Hervorbringung eben solcher Strukturen verantwortlich ist. Zugleich rekonstruieren wir auch die ko‐ gnitive Einstellung des Sprachproduzenten und erhalten unter Umständen Aufschluss über seine Beweggründe, seine Kenntnisse, seinen Stil (was sich als besonders relevant für die forensische Textlinguistik erweist; s. hierzu Kap. 6.4). Aus Rezipientenperspek‐ tive sind Texte Signale, mentale Handlungsimpulse, die aufgrund von Inhalt und Form des Textes im Kopf des Lesers geistige (und emotionale) Prozesse auslösen können. Entsprechend wird Textualität nicht nur als eine Eigenschaft von Texten, als etwas Beobachtbares, etwas Explizites, sondern auch als Leistung von Sprachbenutzern, als etwas konstruktiv zu Erschließendes betrachtet. In dieser konstruktivistischen Sicht wird ein Text nicht nur als Produkt, sondern auch als Prozess bzw. Ergebnis eines Prozesses gesehen. Dabei wird rekonstruiert, wie Texte im Produktionsprozess geplant und formuliert werden und wie sie im Rezeptionsprozess aufgenommen, verstanden (und unter Umständen interpretiert) werden, aber auch welche Wirkung sie auslösen können. Diese kognitive Ausrichtung in der Textlinguistik ist durch die Tatsache mo‐ tiviert, dass sich auch das (textzentrierte) Phänomen der Kohärenz nur konstruktivis‐ tisch erklären lässt, d. h. wenn man die geistigen Prozesse seitens der Sprachbenutzer berücksichtigt, die zur Produktion und zum Verstehen von Texten führen. Die kogni‐ tiv-prozedurale Textlinguistik sieht sich als Teildisziplin der interdisziplinären Kogni‐ tionswissenschaft, die Einblick in die Strukturen und Prozeduren des menschlichen Geistes erhalten will. Da Texte als Mehrebenengebilde viele Dimensionen und Funk‐ tionen haben, ergibt sich auch nahezu zwangsläufig, dass die Textlinguistik profitiert, wenn sie Schnittstellen zu anderen Disziplinen berücksichtigt und sich als Teil einer umfassenden Textwissenschaft sieht, deren Relevanz van Dijk (1980b) vor 30 Jahren bereits betont hat. Sie will vor allem die Bedingungen und Prinzipien der Textkonsti‐ tution erklären und damit Aufschluss über die textuelle Kompetenz von uns Sprach‐ benutzern erhalten. Diese textuelle Kompetenz beinhaltet die Produktion und Rezep‐ tion von grammatisch korrekten, sinnvollen Texten sowie die Fähigkeit, zwischen zusammenhängenden und nicht-zusammenhängenden Texten zu unterscheiden. Zur textuellen Kompetenz gehören mehrere Teilfähigkeiten: Schreib- und Lesetätigkeit, die sich auf die graphemische, grammatische und semantische Dimension beziehen, Ko‐ härenzetablierung, Textsortenerkennung, Themabestimmung. Diese Fähigkeiten sind grundlegend und weitgehend überindividuell zu verstehen, wenngleich es natürlich durchaus sehr individuelle und subjektive Faktoren beim Verfassen und Aufnehmen von Texten geben kann (wie u. a. die viel zitierten Pisa-Studien gezeigt haben). Die in 2.3 Der funktional-kognitive Ansatz: Texte als Spuren, Texte als Signale 27 <?page no="28"?> Texte sind kommunika‐ tive Phänomene didaktischen Prozessen oft erwähnte Textkompetenz als „die individuelle Fähigkeit, Texte lesen, schreiben und zum Lernen nutzen zu können“ (Portmann-Tselikas/ Schmölzer-Eibinger 2008: 5-16) hängt von der allgemeinen Kompetenz ab. Texte entstehen im Kommunikationsprozess, im „Gebrauch“, und mit Texten voll‐ ziehen wir verbale Handlungen. Damit sind Texte auch sozial-kulturelle Phänomene, deren gesellschaftliche Einbettung stets zu beachten ist. Ein Großteil des „kollektiven Gedächtnis“ einer Gesellschaft ist zudem in Texten gespeichert und wird durch diese vermittelt. Dazu Antos (1997: 47): „Ein Großteil unseres Wissens wird nicht nur in Texten repräsentiert und archiviert, sondern konstituiert sich sprachlich überhaupt erst als Text“ (Herv. im Original). Texte sind aber nicht nur Träger von kollektivem Wissen, sondern fungieren auch als explizite oder implizite „Handlungsanleitungen“. Mit Texten greifen wir in die Welt ein, beeinflussen wir Einstellungen und Meinungen, üben Macht und Gewalt aus, machen Freude, bereiten Vergnügen, erzeugen wir neue Gedanken, beglücken oder beleidigen, überreden oder überzeugen andere Menschen. Übungen und Denkanregungen zu 2.1, 2.2 und 2.3 1. Welche Textualitätskriterien erfüllt der folgende Text, welche nicht? (27) 6,5%! (Text eines Streik-Plakates) 2. Würden Sie die Bibel als einen Text oder als Sammlung mehrerer Texte sehen? Gehen Sie auf Textbegrenzungsmerkmale und auf Kohärenz ein! Inwiefern doku‐ mentiert die Bibel kollektives Wissen und ist Teil des kulturellen Gedächtnisses? 3. Bewerten Sie den folgenden Text hinsichtlich der Textualitätskriterien Kohäsion, Kohärenz, Informativiät und Akzeptabilität: (28) Derrick: Der Mann ist tot. Harry: Heißt das, der Mann lebt nicht mehr? Derrick: Ja, Harry, so ist es, er ist tot. (angelehnt an authentische, ähnliche Dialoge der Kult-Krimiserie Derrick (1974-1998), die für redundante Dialoge bekannt war) 4. Textualitätskriterien Welche Textualitätskriterien sind in den Texten (29) bis (32) erfüllt, welche nicht? (Ohne Lösungsangabe) (29) Geist ist geil (Titel eines Studentenkalenders, www.studentenkalender.de) (30) Und wenn wir nicht am Leben sind Und wenn wir nicht am Leben sind dann sterben wir noch heute. 28 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="29"?> Die Liebe stirbt, du lebst, mein Kind die Mädchen werden Bräute. Ach, wenn ihr mich gestorben habt lebt ihr mich weiter heute. Gemeinsam wird 1 Land begrabt und einsam sind die Leute. (Thomas Brasch, Und wenn wir nicht am Leben sind) (31) In a Station of the Metro The apparition of these faces in the crowd; Petals on a wet, black bough. (Ezra Pound, In a Station of the Metro) (32) auf leisen Sohlen der Zeitlupenkellner bedient die letzten Gäste und gewinnt die Zuneigung einer Tulpe der Mond trägt eine Augenbinde (Sabina Naef, auf leisen Sohlen) 5. Inwiefern ist der folgende Text sowohl als Spur als auch als Signal zu betrachten? (33) Beschönigung der Polizeieinsätze ist ein Problem der großen Fernsehka‐ näle und vieler Zeitungen. Schlimmer noch ist die systematische Denun‐ ziation der Demonstranten als Randgruppen oder gleich als Terroristen. Der Staatsfunk TRT, aber auch große nicht staatliche Sender übernehmen ungefiltert die Wortwahl der Regierung. Warum sie Erdogan nach dem Mund reden, will kein Chefredakteur der Schleimspur-Sender erklären. „Kein Kommentar“. (Die Zeit, 20.06.2013, Auszug aus einem Artikel über die Proteste in der Türkei 2013) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 2.1, 2.2 und 2.3 De Beaugrande/ Dressler 1981: 1-14, Antos 1997, Klemm 2002, Sandig 200), Vater 3 2001: 31-66, Fix (2008), Adamzik (2016), Janich (2019), Brinker/ Pappert/ Cölfen (2024). Komprimiert erklären Marx und Schwarz-Friesel ( 2 2024) „Was einen Text ausmacht“. In Pappert/ Roth (2023) werden Aspekte von Nicht- oder Dennoch-Texten erörtert, also Texten, die nicht den typischen Kriterien entsprechen und dennoch Textgebilde sind. 2.4 Methoden „Wissenschaftler haben herausgefunden, dass …“ - wie oft liest man solche Sätze, die immer den Eindruck großer Gewissheit erwecken, besonders, wenn hinzugefügt wird „mit modernster Computertechnik“. Je technischer die Methoden, desto größer die Autorität der Forscher, so der Eindruck. Tatsächlich ist aber nur diejenige Methode gut, die zu der Fragestellung oder Hypothese passt, die untersucht werden soll. Und generell 2.4 Methoden 29 <?page no="30"?> Methoden Introspektion Daten gilt, dass jede Methode im Forschungsprozess stets reflektiert und ihre Anwendbarkeit immer wieder aufs Neue kritisch überprüft werden muss. Methoden sind Verfahren, mit denen Erkenntnisse über einen bestimmten Untersu‐ chungsgegenstand gewonnen werden sollen. Jede Wissenschaft hat in der Regel ihre eigene, dem jeweiligen Forschungsgegenstand angepasste Methodik. In der Linguistik (und Textlinguistik) wurde und wird primär die Introspektion (Selbstbeobachtung) be‐ nutzt (s. Willems 2012). Diese rationalistische Denkmethode geht davon aus, dass der menschliche Geist, aufgrund von kognitiven Prozessen, insbesondere aufgrund seiner Intuition, in der Lage ist, Aussagen über Phänomene in der Welt, aber auch über den eigenen Kopf zu machen. In der Textlinguistik (und den meisten anderen geisteswis‐ senschaftlichen Disziplinen) führt dies dazu, dass individuelle Beobachtungen und Überlegungen zu bestimmten sprachlichen Phänomenen (z. B. Kohäsion und Kohärenz, Textsorten) systematisiert in Form von allgemeinen Aussagen zusammengefasst wer‐ den, etwa als „Kohäsion und Kohärenz sind textinterne Textualitätskriterien, die un‐ abhängig voneinander auftreten können“. Seit den 90er Jahren wird die introspektive Vorgehensweise in der (kognitiven) Linguistik zunehmend ergänzt durch empirische Methoden wie Korpusanalysen, Fragebogenstudien und Experimente (s. Kertész et al. 2012a, experimentelle Forschung zum Textverstehen gibt es in der Psycholinguistik schon seit den 1970ern,). Die für die Textlinguistik wichtigsten Verfahren stellen wir im Folgenden kurz vor. Dieser Abschnitt integriert dabei zum einen allgemeine Fragen zur Methodik, die nicht nur, aber auch für die Textlinguistik als datenbasierte und erklärende Wissenschaft interessant sind, zum anderen gibt er auch ganz anwen‐ dungsorientiert Antworten auf Fragen, die sich bei der Konzeption textlinguistischer Seminar- oder Abschlussarbeiten stellen: Welche Methode ist die richtige für mein Thema? Gibt es Methoden empirischer, also beobachtender Forschung, die im einfa‐ chen Rahmen einer Hausarbeit handhabbar sind? Wie verknüpfe ich Theorie und Da‐ ten? Vieles hiervon ist im Prinzip auf alle datenbasierten Studien in der Linguistik anwendbar. Am Ende des Abschnitts werden anspruchsvollere Methoden speziell der Psycho- und Neurolinguistik vorgestellt. Viele Annahmen über die menschliche Text‐ verarbeitung wurden und werden mit derartigen Methoden gestützt und weiter‐ entwickelt (und wir verweisen im Buch auf einige der experimentellen Untersuchun‐ gen). Daher sollte man sie kennen und verstehen, auch wenn man sie mangels technischer Ausrüstung selber nicht immer wird anwenden können. Der Gegenstand der Textlinguistik sind Manifestationen der sprachlichen, genauer der textuellen Kompetenz, wobei diese Kompetenz als kognitives Kenntnis- und Ver‐ arbeitungssystem gesehen wird. Texte sind somit Produkte, Ergebnisse des menschli‐ chen Geistes, die in der alltäglichen Kommunikation wahrnehmbar sind. Textlinguis‐ tische Theorien fußen zunächst einmal auf Beobachtungen, die systematisch und planvoll durchgeführt werden. In der Systematik eines Forschungsprogramms werden solche Beobachtungen zu Daten - seien es Auswertungen aus Textsammlungen (Kor‐ pora) oder Ergebnisse einer Fragebogenstudie oder eines Experiments. Dies kenn‐ zeichnet die Textlinguistik als eine empirische Wissenschaft. Weitere empirische Wis‐ 30 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="31"?> Theorie senschaften sind Psychologie, Sozial- und Naturwissenschaften, im Gegensatz zu den nicht-empirischen Wissenschaften Mathematik, Philosophie, Theologie und auch ge‐ wissen Ausprägungen der formalen Semantik innerhalb der Linguistik - diese letzteren haben das Ziel, ein in sich widerspruchsfreies Begriffsgebäude zu schaffen. So sind d) und e) empirische Aussagen, a), b) und c). aber nicht: a) Parallelen schneiden sich im Unendlichen. b) Böse Menschen kommen in die Hölle. c) Aussagenvariablen sind wahr in der Welt w, wenn die Interpretationsfunktion ihnen in w den Wert „wahr“ zuweist. (www.wikipedia.org) d) Der Gebrauch von Anglizismen in Zeitungstexten hat in den letzten Jahren zuge‐ nommen. e) Bilder erleichtern die Rezeption von Texten. Die Sätze a) und b) haben ausdrücklichen Bezug auf einen transzendenten, hypotheti‐ schen Ort oder Zustand, der für den Menschen weder direkt noch indirekt beobachtbar ist, somit ist ihre ganze Aussage durch empirische Beobachtung weder zu bestätigen noch zu widerlegen. Zumindest a) und c) sind Axiome, Aussagen, die als Grundlage einer Theorie angenommen werden und sozusagen von alleine als wahr gelten und ein widerspruchsfreies Theoriegebäude ermöglichen, ohne selber ableitbar oder weiter begründbar zu sein. d) und e) hingegen sind Behauptungen, die sich durch systemati‐ sche Beobachtung als wahr oder falsch erweisen können. Für eine Überprüfung von d) durch Beobachtung müsste man einfach nachzählen - allerdings braucht man zum Nachzählen (also der quantitativen Erfassung) zunächst eine brauchbare Definition von „Anglizismus“, eine geeignete Stichprobe von Zeitungstexten und natürlich eine genaue Angabe, was denn „in den letzten Jahren“ heißt. Satz d) ist ein typischer Fall für eine Korpusstudie - wir werden später darauf zurückkommen. Auch Satz e) ist im Prinzip durch Beobachtung überprüfbar, jedoch ist hier gar nicht so klar, was eigentlich unter einer „erleichterten Rezeption“ zu verstehen ist und wie man eine solche Erleichterung messen kann - ein Fall für technisierte psycholinguistische Methoden, auf die wir auch noch zu sprechen kommen. Die Sätze a) bis e) sind natürlich eingebettet in ihre jeweiligen Theoriesysteme. So wie z. B. Physiker ein „großes Ganzes“ beschreiben möchten, das einzelne experimen‐ telle Beobachtungen in einem einheitlichen System erklärt, so gehen auch textlinguis‐ tische Theorien über die reine Beobachtung hinaus. Sie beinhalten Annahmen über das kognitive System selbst, das dem beobachtbaren Verhalten von Sprachbenutzern zugrunde liegt (s. Schwarz 3 2008, Kertész et al. 2012b). Eine Theorie erschöpft sich also auch in einer empirischen Wissenschaft nicht in Datensammelei. Sie ist ein System von Hypothesen, die aufeinander bezogen sind oder die zusammen ein übergeordnetes Phänomen erklären. Ein (bewusst triviales) Beispiel: 2.4 Methoden 31 <?page no="32"?> Operationa‐ lisierung Die Hypothesen (1) Der Gärtner hat den Grafen gehasst, (2) Der Gärtner wusste, dass der Graf an jenem Abend spät nach Hause kommen würde, (3) Der Gärtner lauerte dem Grafen nachts hinterm Fliederbusch auf und schlug ihm von hinten die Astschere auf den Schädel, (4) Anschließend versenkte der Gärtner die Astschere im Teich - bilden zusammen die Theorie „Der Gärtner ist der Mörder des Grafen“. Um die Theorie zu beweisen, muss jede Hypothese einzeln erhärtet werden. Sollte sich Hypothese (1) als falsch erweisen und durch keine gleichwertige ersetzt werden können, ist die Theorie mangels Motiv unplausibel; sollte (2) widerlegt werden, fehlt die Gelegenheit zum Mord, usw. Hypothesen sind also noch unbestätigte, aber überprüfbare Annahmen, die im Zusammenhang einer Theorie stehen. Wissenschaftliche Theorien sind nicht wirklich beweisbar (verifizierbar) - es könnten immer noch neue Fakten auftauchen, die sie widerlegen (also falsifizieren) - aber sie sind durch Daten, also systematische Beobachtungen, stützbar und können sich in der Anwendung auf immer neue Daten bewähren. Am Anfang jeder Studie (z. B. einer Seminararbeit) steht eine bestimmte Fragestel‐ lung, die nicht unbedingt für sich alleine eine Theorie bilden muss. Vielleicht geht es nur um eine einzelne Hypothese, dann sollte man sich darüber im Klaren sein, in welche Theorie sich diese einbetten lässt. Jede Fragestellung sollte sich indes als Hypothese(n) formulieren lassen. Hier zwei Fragestellungen als Beispiel (ausführlichere Tipps für die Planung einer Seminararbeit als Exkurs im Anhang): f) Wie funktioniert die Rezeption von Texten? g) Werden bei der Rezeption von Texten zuerst grammatische Informationen und dann konzeptuelles Wissen genutzt oder beides gleichzeitig? Die Frage f) ist natürlich eine zentrale Frage der Textlinguistik, aber zu allgemein gestellt, um empirisch überprüfbar zu sein. Sie lässt sich nicht als wissenschaftlich präzise Hypothese formulieren. Die Frage g) könnte einen Teilaspekt einer Theorie zur Rezeption von Texten abdecken; als Hypothese kann man aus der Oder-Frage entweder das eine oder andere auswählen und - zumindest mit experimentellen Methoden - testen (dazu mehr am Ende dieses Kapitels). Jedoch können auch in empirischen Hypothesen nicht alle Konzepte direkt beob‐ achtet und getestet werden, so wie oben in e) „erleichterte Rezeption“. Zwischen Hy‐ pothese und Test steht daher noch ein wichtiger Schritt, die sog. Operationalisierung. Operationalisierung heißt: Theoretische Konzepte werden beobachtbar gemacht. Neh‐ men wir zwei weitere empirische Hypothesen als Beispiel hinzu: h) Frauen sind sprachlich begabter als Männer. i) Je älter ein Mensch ist, desto größer ist sein Wortschatz. 32 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="33"?> Hypothese Variable Korrelation Vielleicht kann man diese Hypothesen mittels einer Fragebogenstudie bewerten. In h) sind dann die Konzepte Geschlecht und Sprachbegabung involviert, in i) Alter und Wortschatz. Das Geschlecht eines Probanden festzustellen, dürfte in einer Frage‐ bogenstudie kein Forscher als Problem empfinden: Die Definition von Frau und Mann in h) lautet dann nämlich: Frauen sind die, die in der ersten Zeile des Fragebogens „weiblich“ angekreuzt haben, Männer die, die „männlich“ angekreuzt haben. Das ist eine sogenannte Operationaldefinition, und man sieht, wie weit sich so eine Operationaldefinition vom biologischen Geschlechtskonzept - das ja eher mit X- und Y-Chromosomen zu tun haben mag - entfernen kann und welche Fehlerquellen eine Operationalisierung mit sich bringen kann (Probanden könnten sich verschreiben oder lügen). Auch das Konzept Alter wird man wohl in einem Fragebogen durch eine Selbstangabe definieren. Viel schwieriger ist natürlich, sprachliche Begabung messbar zu machen. Was will man darunter genau verstehen? Wie viele Fremdsprachen jemand beherrscht? Und wie kann man so etwas erfragen? Eine bloße Selbstangabe von Fremd‐ sprachkenntnissen mit den Kategorienkästchen „fließend/ mittel/ Grundkenntnisse“ wäre zu subjektiv, vielleicht würden Männer selbstbewusster an die Sache herangehen und sich bei schlechteren Kenntnissen besser einschätzen. Die Hypothese h) würde dann aufgrund der empirischen Befunde zurückgewiesen, obwohl sie stimmt; bloß die Operationalisierung war fehlerhaft. Oder ist Sprachbegabung die Geschwindigkeit, mit der man einen Text lesen kann? Oder nehmen wir die sprachlichen Teile aus Intelligenztests und bilden einen Score? (Dann würden wohl lexikalische Fähigkeiten gemessen, aber keine grammatischen oder textuellen.) Sprachbegabung wäre dann operationalisiert als eine Punktzahl, die ein Proband in einem Fragebogen erzielt. Für das Konzept WO R T S CHATZ lassen sich ähnliche Probleme denken. Je nach Operationali‐ sierung würden wohl ganz verschiedene Ergebnisse herauskommen. Nach der Operationalisierung sollte man sich noch einmal klar machen, wie die getes‐ teten Konzepte sich zueinander verhalten: Hypothesen betreffen den kausalen Zusam‐ menhang zwischen (mindestens) zwei Größen, diese nennt man hier Variablen; man kann das als Wenn-Dann-Beziehung ausdrücken (wie hier in h): Wenn jemand eine Frau ist, dann ist sie sprachbegabter als der Durchschnitt aus allen Menschen, oder e): Wenn ein Text Bilder enthält, ist er leichter zu rezipieren, als der gleiche Text ohne Bilder) - oder als Je-Desto-Beziehung (wie in i): je älter ein Mensch, desto größer der Wortschatz). Die Variable, die die Ursache erfassen soll - hier im Beispiel Geschlecht bzw. Bebilderung bzw. Alter - heißt „unabhängige“ oder „erklärende Variable“. Die Varia‐ ble, die die Wirkung misst, heißt „abhängige Variable“ (Sprachbegabung, Rezeption, Wortschatzgröße). Welche Beziehung zwischen den beiden Variablen müsste sich im Experiment zeigen, wenn die Hypothese stimmt? Dies sollte schon vorher klar sein. Ergebnis eines Experiments oder einer Korpusanalyse ist allerdings keine kausale, sondern eine rein statistische Beziehung, eine sogenannte Korrelation. Von einer Kor‐ relation hofft man nur, dass sie ein Anzeichen für eine Kausalbeziehung ist. Ein Beispiel, das in kaum einer Statistik-Einführung fehlt, ist folgendes (Monka et al. 5 2008): j) Wo es Störche gibt, bekommen die Menschen mehr Kinder. 2.4 Methoden 33 <?page no="34"?> Fragebogen‐ studie Diese Korrelation ist vielerorts nachweisbar, und ein statistikgläubiger Mensch würde sie als Beleg für die Hypothese ansehen, dass der Storch den Menschen die Kinder bringt. Tatsächlich ist aber eine dritte Variable im Spiel, nämlich Urbanität. In länd‐ lichen Gegenden ist die Geburtenrate höher, aus welchen sozialen oder kulturellen Umständen auch immer, und Störche sind natürlich eher auf dem Lande anzutreffen als in der Großstadt. Die vermeintlich unabhängige Variable Storchenaufkommen und die vermeintlich davon abhängige Variable Geburtenrate hängen also beide von derselben Drittvariablen ab und zeigen daher eine statistische Korrelation. Störche und Geburtenrate sind beides abhängige Variablen der unabhängigen Variable Urbanität. Statistik ersetzt also keinen Verstand. Oft wird ein erstes Experiment nicht die gewünschten Ergebnisse bringen: Nach einer Datenrunde wird man eine zweite Theorierunde einlegen, in der die Hypothese verfeinert wird und weitere mögliche Variablen eingeführt werden. So könnte in unserem rein fiktiven Beispiel h) Frauen sind sprachlich begabter als Männer. eine erste Fragebogenstudie eine statistisch nur sehr schwache Korrelation ergeben haben. Vielleicht deutet dies auf eine nur schwache Kausalität hin, die Hypothese taugt dann nicht viel. Vielleicht besteht der vermutete Geschlechterunterschied aber nur bei Menschen bis zu einem gewissen Bildungsgrad und nivelliert sich bei akademischer Ausbildung. Die Hypothese wäre dann zu undifferenziert gewesen - ob dies der Fall ist, sehen wir nur, wenn wir die Variable Bildungsabschluss berücksichtigen. Im ersten Testlauf haben wir die Probanden nach dieser Variable gar nicht gefragt, weil sie nicht Teil der Theorie war. Nun ist also ein zweites Fragebogenexperiment fällig, diesmal mit verfeinerter These. Dabei könnte sich zeigen: Es gibt eine Korrelation zwischen Geschlecht und Sprachbegabung, aber nur bei Probanden ohne Hochschulbildung. Auf diese Weise führen empirische Ergebnisse nur selten zur endgültigen Beantwor‐ tung einer Forschungsfrage; sie laden vielmehr zu immer differenzierteren Theorien ein, die dann ihrerseits wieder empirisch getestet werden - eine Spirale zunehmender Erkenntnis. Forschung wird daher oft als Spiralenmodell dargestellt. Wer an einer Semi‐ nar- oder Abschlussarbeit schreibt oder Teil einer befristet finanzierten Forschergruppe ist, wird aber vermutlich nicht die Zeit für immer wieder neue Experimentzyklen haben. Hier ist eine gründliche theoretische Fundierung gefragt: Welche Aspekte zum untersuchten Phänomen werden in der Forschungsliteratur diskutiert, welche davon wähle ich für mein Experiment aus? Wird vielleicht in der Theorieliteratur schon eine Hypothese vorgestellt, die aber noch nie empirisch überprüft wurde? Hier kann auch eine kleine Studie mit wenig Aufwand einen Mosaikstein zur Forschung beitragen. Fragebogenstudien sind ein Beispiel hierfür. Hierbei werden Bögen mit Fragen zu einem bestimmten Thema verteilt. Diese werden dann individuell beantwortet. Häufiger führt man allerdings bereits vorgegebene Antworten zum Ankreuzen auf, da diese besser für die statistische Auswertung geeignet sind. Die Antwortmöglichkeiten sind bspw.: „ja/ nein/ ich weiß nicht“ oder „ich stimme voll und ganz zu/ …größtenteils zu/ …nicht zu/ ich weiß nicht. Solche Erhebungen sind gut brauchbar, um subjektive Einstellungen von Probanden zu erfassen, z. B. eine Meinung darüber, ob man einen 34 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="35"?> Text mit oder ohne Bilder für informativer oder augenfreundlicher hält. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass solche bewussten, überlegt gefällten Entschei‐ dungen nur wenig sagen über die unbewussten Prozesse, die bei der menschlichen Sprachverwendung normalerweise beteiligt sind. Will man von Probanden z. B. ein Urteil über die Zulässigkeit von weil-Sätzen mit Verb an zweiter Stelle erhalten (wir testen das mal, weil - es ist sehr verbreitet), wird die genaue Fragestellung entscheidend sein für das Ergebnis: Die Frage „Ist das richtiges Deutsch? - ja/ nein“ wird Probanden in normativen Kategorien denken lassen: Man hat in der Schule gelernt, dass das falsch ist, und fürchtet nun, als ungebildet dazustehen, wenn man eine solche Konstruktion als akzeptabel bewertet. Die Ablehnungsquote wird entsprechend hoch sein. Wer daraus schließen wollte, Verbzweit-weil sei keine gängige Erscheinung in mündlichen Textsorten, dürfte falsch liegen. Ein realistischeres Bild erhält man, wenn man die Frage in eine Situation einbettet und dabei eine Textsorte oder Stilebene angibt: „Ein Freund ist abends zu Besuch bei Ihnen und sagt gegen halb elf: ‚Ich werd’ mal gehen, weil, es ist schon spät.’ Finden Sie diese Äußerung von der Grammatik her: völlig o.k ./ nicht perfekt, aber normal/ etwas merkwürdig/ ganz unmöglich? “. Mit einem solchen Fragebogendesign könnte man auch testen, inwieweit sich je nach Textsorte oder sozialem Verhältnis der Kommunikationspartner die Akzeptanz der Konstruktion ändert. Auch hier wird aber direkt nach einem Urteil über die Grammatik gefragt und der Blick der Probanden wohl auf die Wortstellung gelenkt, die ihnen sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wäre. Das Ergebnis hat also nicht viel mit natürlichem Sprachverständnis zu tun. Näher käme man an dieses heran, wenn man in der Frage den Zusatz von der Grammatik her wegließe, auf die Gefahr hin, dass die meisten Probanden die Äußerung inhaltlich beurteilen, also bezüglich der Frage, ob ein Aufbruch um 22.30 Uhr sozial angemessen ist oder nicht. Es wäre dann gar nicht klar, was in dem Fragebogen eigentlich gemessen wurde. Mit einem Fragebogen spontane, unbewusste Aspekte der Sprachverarbeitung zu erfassen, ist schwierig, aber zu ausgewählten Fragestellungen doch möglich. So gibt es eine Kontroverse darüber, ob ‚geschlechtergerechte’ Doppelformen wie StudentInnen oder Student/ innen wirklich notwendig sind - bei Studenten, so das Gegenargument, denkt der Mensch doch nicht bloß an männliche Studierende, sondern auch an Frauen. Würde man Probanden nun in einem Fragebogen direkt danach fragen, ob sie Frauen unter dem Ausdruck Studierende mitverstehen, wären die Antworten wohl vom Be‐ mühen um politische Korrektheit geprägt: Männer würden, durch die Fragestellung auf das Problem gestoßen, wohl zustimmen, Frauen würden vielleicht ablehnen, um ihre Forderung nach Doppelformen zu untermauern. Ziel eines Experimentdesigns muss hier sein, die eigentliche Fragestellung zu verschleiern (d. h. die Befragten dürfen nicht bemerken, worum es tatsächlich in der Studie geht). Die Sozialpsychologinnen Dagmar Stahlberg und Sabine Sczesny gingen so vor: Sie fragten männliche und weibliche Probanden nach ihren Lieblingsmusikern, -malern, -sportlern usw. Die Probanden glaubten also, ihre Vorlieben für Prominente seien gefragt. Die unabhängige Variable war aber die Version des Fragebogens: Eine mit nur maskulinen Bezeichnungen, eine 2.4 Methoden 35 <?page no="36"?> Rating semanti‐ sches Differenzial Korpusanalyse mit kurzen Doppelformen wie LieblingsmusikerIn und eine mit langer Doppelform wie Ihre Lieblingsmusikerin/ Ihr Lieblingsmusiker; außerdem als zweite unabhängige Variable das Geschlecht des jeweiligen Probanden. Die abhängige Variable war die Häufigkeit der Nennung von Frauen. Es zeigte sich, dass in den Versionen mit Doppel‐ form, egal ob kurz oder lang, mehr Frauen genannt wurden als in der nur maskulinen Version, und dies sowohl von Frauen wie von Männern (Stahlberg/ Sczesny 2001). Ein technisch sehr einfaches Fragebogen-Experiment, das auch schon im Rahmen einer Seminararbeit zu bewältigen wäre, konnte so Aufschluss geben über unbewusste Denkprozesse, die beim Textverstehen ablaufen (s. hierzu auch Lesestudien zum Einfluss von Metaphern beim Textverstehen wie von Thibodeau/ Boroditsky 2013). Eine spezifische Fragenbogenuntersuchung ist das Rating (gestufte Beurteilung), bei dem über die Vorgabe von Rating-Skalen vor allem spontane Einschätzungen und Ein‐ stellungen erfasst werden sollen. So kann ein Text vorgelegt werden und die Leser sollen hinterher z. B. ankreuzen, ob sie diesen Text als „schwierig/ mittelschwer/ nicht schwierig“ hinsichtlich des Verständnisses empfunden haben oder ob sie seine Argu‐ mentation „überzeugend/ schwach überzeugend/ gar nicht überzeugend“ fanden. Oft werden bei Ratings auch Adjektivskalen benutzt (der Text ist „langweilig/ spannend/ ansprechend/ affektiv“ etc.). Verwandt mit dem Rating ist das (methodengeschichtlich früher entwickelte) semantische Differenzial (s. Osgood et al. 1957/ 9 1975). Hier werden Einstellungen von Personen (oder die Stärke von Konnotationen) über semantische Beurteilungen erfasst, wobei drei Parameter relevant sind: Valenz (angenehm/ unan‐ genehm), Potenz (stark/ schwach) und Aktivität (erregend/ beruhigend). Ratings, die mit solchen semantischen Dimensionen arbeiten, können z. B. untersuchen, inwieweit sich das in der Textlinguistik beschriebene Emotionspotenzial eines Textes empirisch hin‐ sichtlich der Emotionalisierung des Lesers auswirkt (s. hierzu Kap. 6.3.2). Die ‚natürlichste’ empirische Methode in der Textlinguistik ist die Korpusanalyse, denn ein Korpus macht natürliche Texte einer systematischen Analyse zugänglich: Ein Korpus (das Korpus, Plural die Korpora) ist eine Sammlung von Texten oder Textausschnitten, die zur linguistischen (oder kommunikations- oder medienwissen‐ schaftlichen) Auswertung erstellt wurde. Dies ist etwas anderes als die Verdeutlichung von Theorien mit Beispielen, wie sie auch in diesem Buch vorgenommen wird: Hierbei wird ein Beispiel passend zur Theorie konstruiert oder (was immer besser ist) in natürlichen Texten gesucht. Um diese Beispielsuche von der Korpusanalyse abzugrenzen, kommen wir zur Erläuterung noch einmal zurück zur Hypothese d): Der Gebrauch von Anglizismen in Zeitungstexten hat in den letzten Jahren zugenommen. Man könnte nun eine Zeitung aufschlagen, die man gerade zur Hand hat, und die Anglizismen herausschreiben, die einem dort als erstes auffallen. Wenn die Hypothese gewesen wäre: „Es gibt Zeitungen, in denen Anglizismen stehen“, dann wäre diese Methode - man könnte sie ‚explorativ’ nennen - geeignet. Unsere Hypothese ist aber quantitativ formuliert; es wird eine zunehmende Häufigkeit eines Phänomens behauptet. Diese sollte sich in Zahlen ausdrücken lassen. Also muss die Korpusstudie auch quantitativ sein: Man hat Anglizismen pro Textmenge nachzuzählen. Zunächst 36 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="37"?> einmal sollte man allerdings überlegen, welche Zeitung man untersuchen will (z. B. anspruchsvoll oder Boulevard, links oder konservativ), welche Textsorte innerhalb der Zeitung (z. B. Bericht, Kommentar oder Glosse) und welche Sparte (z. B. Politik, Wirtschaft, Feuilleton) - im Gebrauch von Anglizismen sind diesbezüglich Unter‐ schiede zu erwarten oder zumindest denkbar, und wenn man nicht gerade Jahre Zeit oder ein Dutzend Mitarbeiter hat, sollte man nicht den Anspruch verfolgen, eine Hypothese für Zeitungstexte aller Art zu überprüfen. Die Studie kann sich nur auf eine (Unter-)Textsorte beziehen, von der man Homogenität bezüglich der getesteten Variable erwartet. Nehmen wir Berichte im Politikteil der Frankfurter Rundschau, eine Ausgabe aus dem Jahr 1995 und eine aktuelle. Erklärende Variable in unserer Studie ist also das Alter des Textes - 1995 oder aktuell; abhängige Variable ist die Häufigkeit von Anglizismen. Zur Bestimmung der Variablen wird der Korpustext ‚annotiert’. Annotationen sind Markierungen im Text, die die Ausprägung von Variablen zeigen - in unserem Beispiel ist das einfach eine Entscheidung, ob ein Wort ein Anglizismus ist oder nicht. Die Annotation besteht darin, jeden Anglizismus zu kennzeichnen. Es gibt Korpora, die im Internet - meist kostenlos - zur Verfügung stehen und sogar schon syntaktisch vor-annotiert sind, d. h. Wortarten, Kasus und andere syntaktische Merkmale sind im Korpus bereits gekennzeichnet und können mit spezieller Software schnell angezeigt und aufeinander bezogen werden (z. B. das Stuttgarter TiGer-Kor‐ pus). Mit solchen automatisierten Korpusanalysen können sehr große Textmengen in kurzer Zeit untersucht werden. In der Textlinguistik hat man es jedoch meist mit Variablen zu tun, die ‚Handarbeit’ verlangen. Wir gehen den Text durch und machen für jeden Anglizismus einen Strich. Beim Auszählen der Zeitung von 1995 begegnen uns - in dieser Reihenfolge - folgende Wörter, die als Anglizismus in Frage kommen: Establishment, Selfmademan, Konzern, und hier kommt die Untersuchung schon ins Stocken: Konzern kommt aus dem Englischen, von concern, sagt das etymologische Wörterbuch. Machen wir also einen Strich für Konzern oder nicht? Was fehlt, ist die Operationalisierung des Konzeptes AN G LIZI S MU S . Die Theorie-Literatur bietet uns etliche verschiedene Definitionen an, die uns zu völlig unterschiedlichen Entscheidungen führen würden. Selbst diejenige theoretische Definition, die am besten zu unserer Studie zu passen scheint, wird bei der Annotation vermutlich noch Zweifels- und Grenzfälle offen lassen, z.B.: Laptop und Notebook sind wohl ohne Zweifel Anglizismen, aber ist iPod auch einer, oder ist das ein Eigenname? Eine klare, praktisch umsetzbare Operationalisierung kann zwar willkürlich sein, sorgt aber für vergleichbare Daten. So ausgerüstet kann man nun in ein paar Artikeln die Anglizismen zählen und durch deren Anzahl die Gesamtzahl der Wörter teilen, dann erhält man z. B. das Ergebnis, dass jedes 50. Wort ein Anglizismus ist, also zwei Prozent Anglizismus-Quote. Oder man nimmt sich von vornherein vor, pro Zeitung z. B. aus fünf Artikeln jeweils die ersten 1000 Wörter auszuwerten - dann kann man auch die absoluten Zahlen sofort vergleichen, z.B.: In der alten Zeitung sind unter den 5000 Wörtern 91 Anglizismen, in der neuen 97. Erhärtet dieses Ergebnis die Hypothese? Vermutlich nicht. Die 2.4 Methoden 37 <?page no="38"?> qualitative Korpusanalyse untersuchte Textmenge ist klein und der Unterschied so gering, dass das Ergebnis vermutlich zufällig ist. Die Gefahr, rein zufälligen Beobachtungen Relevanz zuzuschreiben, ist ein Grund‐ problem empirischer Forschung. Hierzu ein einfaches nicht-linguistisches Beispiel: In einer kleinen Seminargruppe sitzen 17 Studierende, nämlich neun Frauen und acht Männer. Eine Brille tragen fünf der Frauen (55,5%), aber nur drei der Männer (37,5%). Kein vernünftiger Mensch würde daraus die Verallgemeinerung ziehen, dass Frauen eher zur Fehlsichtigkeit neigen als Männer. In der nächsten Seminargruppe könnten die Verhältnisse ganz anders sein. Um festzustellen, inwieweit die Zahlen belastbar sind, gibt es statistische Untersuchungsverfahren, sogenannte Signifikanztests. Der Signifikanzwert gibt an, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Ergebnisse auf Zufall beruhen. Weniger als fünf Prozent Zufallswahrscheinlichkeit sind eine häufige Anforderung für Signifikanz, besser sind weniger als ein Prozent oder gar 0,1 Prozent („hochsignifikant“). Quantitative Korpusstudien sollten mit einem Signifikanztest abgesichert werden, wenn sie den Anspruch haben, mehr als nur Tendenzen zu zeigen. Jedoch verlangt nicht jede Fragestellung eine quantitative Korpusstudie. Es gibt neben den quantitativen auch qualitative Korpusanalysen, die nicht nur Vorkommens‐ häufigkeiten erfassen und aufeinander beziehen, sondern Texte inhaltlich betrachten und analysieren. Rein quantitative Korpusanalysen sagen nämlich nichts über die für die Textlinguistik besonders relevanten Aspekte wie z. B. Kohärenz, Informations‐ struktur, Implikaturen, Verständlichkeit und Emotionspotenzial aus. Will ich z. B. untersuchen, welche Rolle Anglizismen für die Überzeugungskraft (Persuasivität) von Texten spielen, nützt es nichts, sie einfach nachzuzählen. Die Hypothese könnte lauten „Anglizismen können Teil verschiedener persuasiver Text‐ strategien sein“. Nun ist eine qualitative Untersuchung angebracht. Die Entscheidung, woraus mein Korpus bestehen soll, muss hier genauso überlegt sein wie bei einer quantitativen Studie: ‚Die deutsche Sprache’ kann nicht Gegenstand einer Korpusstu‐ die sein. Es geht um Textsorten, die so konkret sind, dass sie mit kleinen Stichproben abgebildet werden können. Z. B. könnte man sich Persuasion durch Anglizismen in Presseerklärungen von Unternehmen am Beispiel einer bestimmten Branche ansehen. Wir achten nun nicht auf Mengenverhältnisse, sondern darauf, ob uns persuasive Textstrategien auffallen, die einander ähneln und sich somit kategorisieren und zu Mustern verallgemeinern lassen. Beispiel: (34) Zum 18. Mal veranstaltet der IT-Distributor am 17. April seine FORUM Hausmesse und präsentiert Broadline, Value und Mobility unter einem Dach. In der Münchner Kulturhalle Zenith zeigen Tech Data gemeinsam mit über 100 Herstellern unter dem Motto „12 gute Gründe“ auf, warum Reseller das FORUM nicht verpassen sollten. (35) Trendige Location […] Für eine Verschnaufspause bieten sich gemütliche Chill-Out Lounges sowie ein weitläufiger Bar- und Cateringbereich an (beide: Pressemitteilung des Technologie-Presseservices Pressebox, www.pressebo x.de, 01.04.2008) 38 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="39"?> freie Repro‐ duktion Online- Experiment Lesezeit‐ messung Wir können vermuten, dass im ersten Ausschnitt fachsprachliche Anglizismen ver‐ wendet werden, um dem angesprochenen Fachpublikum entsprechende Kompetenz zu zeigen. Im zweiten Ausschnitt desselben Textes sind die Anglizismen anderer Art; erkennbar daran, dass auch Nicht-Fachleute sie verstehen. Hier verbreiten sie wohl die Atmosphäre eines modernen, ‚trendigen’ Lebensgefühls. Dies sind schon einmal zwei Beobachtungen zur persuasiven Funktion von Anglizismen. Mit weiterem Korpusstu‐ dium wird man einen Katalog solcher Funktionen erstellen und die Hypothese nicht nur erhärtet finden, sondern auch angeben können, wie solche persuasiven Textstrategien funktionieren. Anschließen könnte sich eine quantitative Studie mit der Hypothese, bestimmte Muster seien in Pressemitteilungen bestimmter Branchen häufiger (z.B.: Waschmaschinen-Werbung - Technikkompetenz; Kosmetikbranche -Lebensgefühl). Auch im politischen Bereich liefern qualitative Korpusanalysen Hinweise zum Persuasions- und Emotionspotenzial von Texten (s. z. B. die Analysen einer DFG-For‐ schergruppe, die anhand eines Korpus von über 100.000 Pressetexten die gängigsten und wichtigsten metaphorischen Referenzialisierungen von Terrorismus nach 9/ 11 im massenmedialen Kommunikationsraum untersucht hat; Schwarz-Friesel 2013). Zum Schluss dieses Abschnitts seien experimentelle Verfahren vorgestellt, die für die Textlinguistik von Bedeutung sind, deren Ausführung aber oft eine fachliche Spe‐ zialisierung als Psychobzw. Neurolinguist und eine gewisse technische Ausrüstung voraussetzt. Die Experimente werden durchgeführt, um den kognitiven Prozess des Textverstehens zu rekonstruieren. Diese Erkenntnisse helfen, bestimmte Dimensionen der Textualität (v. a. die Kohärenz) zu verstehen. Es gibt Online-Verfahren (online: „während des laufenden Prozesses“; simultan zur Textverarbeitung) und Offline-Me‐ thoden (nach dem Prozess, also wenn der Text zu Ende gelesen/ gehört wurde) (s. Schwarz 3 2008: 33). Eine für die Textlinguistik wichtige Offline-Methode ist die der freien Reproduktion: Dabei werden die Probanden aufgefordert, einen Text so genau wie möglich zu repro‐ duzieren. Die Reproduktionen des Textes werden dann mit dem Originaltext vergli‐ chen. Wurden Informationen ausgelassen, hinzugefügt, modifiziert? Die Veränderun‐ gen in dem reproduzierten Text (insbesondere die Elaborationen) werden als Resultate kognitiver Prozesse (sogenannter Inferenzen) gesehen (s. hierzu Kap. 4.3). Bei den Online-Experimenten wird nicht ein Text als fertiges Produkt untersucht wie bei einer Korpusanalyse und auch keine Reaktion eines Probanden nach erfolgter Textrezeption gemessen wie bei Fragebogenstudien. Online-Verfahren haben vielmehr den Anspruch, mentale Vorgänge während der laufenden Textrezeption (seltener -produktion) sichtbar zu machen. Unsere anfängliche Hypothese e): Bilder erleichtern die Rezeption von Texten. ist ein Kandidat für ein solches Verfahren. Ein psycholinguistischer Klassiker ist die Lesezeitmessung während der Rezeption (die durch Computertechnik ermöglicht, Unterschiede von Millisekunden zu erfassen). Die Annahme ist dabei, dass die gemessene Zeit auch tatsächlich der kognitiven Ver‐ arbeitungszeit entspricht. So kann man u. a. untersuchen, ob bestimmte kontextuelle Informationen oder spezifische Lexeme, syntaktische Besonderheiten oder semanti‐ 2.4 Methoden 39 <?page no="40"?> sche Deviationen (Abweichungen) die Textverarbeitung erleichtern und beschleunigen oder erschweren und verlangsamen können. Man könnte z. B. zu Hypothese e) die Lesezeiten für Textvarianten mit und ohne Bilder messen. Mit Lesezeitmessung werden aber insbesondere Hypothesen getestet, die eine erschwerte Textrezeption oder einen höheren Verarbeitungsaufwand als abhängige Variable beinhalten. Unabhängige Variablen könnten sein: (36) Kohärenzgrad - a) … anschließend putzte sie das Waschbecken mit einem Schwamm. - b) … anschließend putzte sie das Waschbecken mit einem Kamm. Die Erwartung ist, dass der inkohärente (36)b-Satz schwerer zu verarbeiten ist als der (36)a-Satz, da sich in der (36)b-Version das letzte Wort nicht glatt in das bestehende Textwelt-Modell integrieren lässt. (37) Mehrdeutigkeit von Anaphern - a) Die Müllers sahen die Zugvögel, als sie nach Süden flogen. - b) Die Müllers sahen die Alpen, als sie nach Süden flogen. Grammatisch betrachtet ist in diesem viel zitierten Beispiel (u. a. in Schwarz 1992: 93) das Pronomen sie in beiden Versionen mehrdeutig: Die Müllers, die Zugvögel und die Alpen sind Ausdrücke der 3. Person Plural und kommen gleichermaßen als Bezugsaus‐ druck für sie in Frage. Die Variable Mehrdeutigkeit muss hier differenziert werden: Ist rein grammatische Mehrdeutigkeit entscheidend für den Verarbeitungsaufwand, oder spielt konzeptuelles Wissen (hier: dass die Alpen nicht fliegen können) sofort eine Rolle? Damit sind wir wieder bei einer Beispiel-Frage vom Anfang g): Werden bei der Rezeption von Texten zuerst grammatische Informationen und dann konzeptuelles Wissen genutzt oder beides gleichzeitig? Wenn die Hypothese stimmen sollte, dass der Leser erst die grammatischen Infor‐ mationen verarbeitet und dann erst konzeptuelles Wissen nutzt, sollte die Rezeption beider Sätze a und b erschwert sein im Vergleich zu den grammatisch eindeutigen Sätzen (38) a) Frau Müller sah die Zugvögel, als sie nach Süden flog. - b) Die Müllers sahen den Mont Blanc, als sie nach Süden flogen. Die grammatische Mehrdeutigkeit von a und b würde, der Hypothese nach, nicht sofort durch das konzeptuelle Wissen, dass die Alpen nicht fliegen können, ausgeräumt, sondern erst nach einem vergeblichen Auflösungsversuch auf grammatischer Ebene. 40 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="41"?> neurolinguistische Methoden Stimmt dagegen die Hypothese, dass konzeptuelles Wissen sofort den Rezeptions‐ prozess beeinflusst, wäre nur die Rezeption von a entscheidend erschwert, weil hier die Mehrdeutigkeit auch durch konzeptuelles Wissen nicht aufgelöst werden kann. Nun gehört „erschwerte Verarbeitung“ zu den Konzepten, deren Operationalisierung keine Selbstverständlichkeit ist. In der Psycholinguistik herrscht dennoch weitgehende Einigkeit: Eine längere Verarbeitungszeit ist Resultat eines größeren kognitiven Auf‐ wandes. Praktisch umgesetzt wird dies z. B. in einer „self-paced reading task“, auf Deutsch etwa „Leseaufgabe, deren Tempo man selbst bestimmt“. Probanden sehen den Text auf einem Bildschirm wortweise oder in kleinen Abschnitten und drücken einen Knopf, um das nächste Stück Text zu sehen. Die Zeit zwischen zwei Knopfdrücken ist die, die der Proband zum Lesen des jeweiligen Wortes oder Abschnitts gebraucht hat. Zwar ist die meiste Zeit davon gar nicht der kognitiven Aufgabe des Textverstehens geschul‐ det, sondern der mechanischen Handlung des Knopfdrückens, und natürlich haben Probanden unterschiedliche Reaktionszeiten. Das ist aber unerheblich, denn es kommt nur auf die Differenzen an, hier im Beispiel zwischen den a- und b-Sätzen. Wichtig ist nur, dass gleich lange und gleich geläufige Ausdrücke miteinander verglichen werden, und natürlich erhält ein Proband nicht zwei Versionen desselben Textes (wie hier (37)a und b), sondern die Variablen werden in immer neue Sätze eingebaut. So würden (39)a und (39)b dieselbe Funktion erfüllen wie oben (37)a und (37)b: (39) a) Die Schüler bemerkten die Fußballfans, als sie nach Hause gingen. - b) Die Schüler bemerkten die Wolken, als sie nach Hause gingen. Die benötigte Lesezeit hängt von der Länge des angezeigten Ausdrucks ab; die erwartbaren Unterschiede liegen in der Größenordnung von 50 Millisekunden. Solche Differenzen nimmt kein Leser bewusst wahr, und man kann sie nur mit spezieller Software registrieren. Sollte ein erwarteter Lesezeit-Effekt nicht auftreten, muss das nicht bedeuten, dass die Hypothese falsch ist: Vielleicht werden zwei Textversionen zwar in der gleichen Zeit verarbeitet, aber für die schwierigere Version werden mehr Hirnareale aktiviert - so wie man Sandhaufen von einer Tonne und von zwei Tonnen Gewicht in der gleichen Zeit auf einen Lkw schippen kann, wenn man für den doppelt so großen Haufen auch doppelt so viele Leute hat. Die derzeit beliebteste Methode ist daher eine Kombination von Lesezeitmessung und neurolinguistischen Methoden, also unmittelbaren Messun‐ gen von Hirnaktivität. Die wichtigste davon ist die Messung ereigniskorrelierter Po‐ tenziale, EKP, oder englisch event-related potentials, ERP. Das Ereignis ist wiederum eine Leseaufgabe, sie wird per Software mit der Messung von elektrischer Gehirnak‐ tivität anhand von EEG-Messungen synchronisiert. Dabei muss das relevante Signal durch komplizierte Rechenoperationen aus dem EEG isoliert werden, weil ereignis‐ korrelierte Hirnpotenziale eine geringere Amplitudenausprägung aufweisen als das 2.4 Methoden 41 <?page no="42"?> Priming Spontan-EEG. Solche Messungen sind z. B. bei Lügendetektoren schon lange bekannt. Folgende Operationalisierung liegt der Methode zugrunde: Bestimmte, charakteristi‐ sche Veränderungen der elektrischen Hirnaktivität sind Resultat bestimmter Abwei‐ chungen vom gewöhnlichen, ungestörten Rezeptionsprozess. Generell werden Effekte ab 100 Millisekunden nach dem Ereignis - also der Präsentation des entscheidenden Ausdrucks - den kognitiven Hirnfunktionen zugerechnet, alles davor sind Stamm‐ hirnfunktionen, die nichts mit Denken zu tun haben. Ereigniskorrelierte Potenziale werden anhand von Komponenten (wie z. B. N400, P600) beschrieben, sie fassen die Eigenschaften der Kurve zusammen. Eine N400 beschreibt eine Negativierung (N) 400ms nach einem kritischen Stimulus, eine P600 beschreibt eine Positivierung (P) 600ms nach einem kritischen Stimulus. Diese Komponenten werden u. a. bei Sprach‐ verarbeitungsprozessen beobachtet. ERP-Messungen sind relative Messungen, d. h. dass eine kritische Bedingung immer in Relation zu einer Kontrollbedingung gewertet werden muss (s. u. a. Marx 2011: 162) Es ist z. B. zu erwarten, dass die Kurve für einen Satz wie Die Amsel debattiert im Vergleich zur Kurve für den Satz Die Amsel singt einen deutlichen N400-Effekt hervorruft. Das bedeutet, dass diese Kurve 400 ms nach dem kritischen Stimulus debattiert einen stärkeren negativen Ausschlag zeigt als die Kurve für den Vergleichssatz 400ms nach dem kritischen Stimulus singt. Textlinguisten wer‐ den daher nach einer N 400 suchen. Dieser gilt als Indikator für Inkohärenz; ein ent‐ sprechendes Ergebnis wäre für (36)b (Waschbecken - Kamm) zu erwarten (vgl. Kutas/ Federmeier 2010). Übrigens wird auch die Rezeption von Witzen mit EKP-Studien er‐ forscht. Auf diese Weise wird überprüft, inwieweit Humor-Effekte von Witzen Effekte der Inkohärenz sind (Rozengurt 2011; s. hierzu auch Kap. 5.3). Der N400-Effekt liegt in der Größenordnung von 1 Mikrovolt (einem Millionstel Volt) und ist nicht direkt erfassbar, sondern muss durch Herausrechnen aus anderen Effekten, die nichts mit der sprachlichen Aufgabe zu tun haben, sichtbar gemacht werden. Auch bildgebende Verfahren gehören zum Arsenal der Neurolinguistik, insbeson‐ dere f-MRT - hier wird der Sauerstoffgehalt des Blutes im Gehirn gemessen unter den Operationalisierungen: 1) Hirnaktivität: Wo viel Sauerstoff im Blut ist, ist das Hirn gerade besonders aktiv. 2) Sprachliche Prozesse: Lösen diese Hirnaktivität in unterschiedlichen Hirnbereichen aus, so sind sie unterschiedlich (z. B. Verarbeitung regelmäßiger vs. unregelmäßiger Verben). Für textlinguistische Aufgaben ist dieses Verfahren nicht unmittelbar relevant, wohl aber für die Analyse von Textverstehen‐ sprozessen (s. u. a. Bohrn et al. 2012). Mit der Priming-Methode untersucht man den Einfluss der im Gedächtnis gespei‐ cherten Wissensstrukturen auf die Verarbeitung sprachlicher Einheiten. Den Versuchs‐ personen wird ein Wort (z. B. Krankenhaus) als Prime vorgegeben; anschließend wird ein Zielwort (z. B. Chefärztin) genannt. Die Versuchspersonen sind vorher instruiert worden, so schnell wie möglich anzugeben, ob es sich bei dem Zielreiz um ein sinnvolles Wort oder lediglich um eine sinnlose Silbenfolge handelt. Die Beurteilungszeit ist kürzer, wenn das jeweilige Zielwort in einer engen semantischen Relation zu dem 42 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="43"?> Augenbewegung vorher präsentierten Prime-Wort steht (als wenn z. B. ein Wort wie Studentin oder Fahr‐ radfahrerin nach Krankenhaus kommt). Dies spricht dafür, dass bei der Verarbeitung eines Wortes eine Art Aktivierungsausbreitung (spreading activation) im mentalen Lexikon stattfindet, wobei semantisch verwandte Wörter auch zusammen aktiviert werden bzw. zumindest eine Vor-Aktivierung der Wörter geschieht. Dieser Prozess spielt beim Textverstehen und insbesondere bei der Kohärenzetablierung eine sehr wichtige Rolle (s. hierzu Kap. 4.3.1). Bei der Verarbeitung schriftlicher Sprache benutzt man häufig Eyetracking-Studien. Hier wird gemessen, welchen Punkt im Text ein Proband beim Lesen mit den Augen fixiert. Die Augenbewegungsanalyse untersucht, wie lange die Augen beim Lesen auf bestimmten Textteilen bleiben und wann Blicksprünge (sogenannte regressive Sakkaden) auf bereits gelesene Textstellen vorkommen. Normalerweise beträgt die Fixationsdauer pro Wort ca. 250 Millisekunden. Bei Verständnisschwierigkeiten kann die Fixation bis zu einer Sekunde länger dauern. Rückwärtssakkaden sind vor allem bei der Rezeption mehrdeutiger oder ähnlich problematischen Textstellen beobachtet worden (s. hierzu auch Gaskell 2007, zur Diagnose von Dyslexie durch Eye tracking s. Kim/ Lombardino 2016). Verbunden mit speziellen Monitoren können Eyetracker Leseprozesse sichtbar machen. Ein Beispiel für eine entsprechende Operationalisierung des Konzepts ‚er‐ schwerte Textrezeption’: Blicksprünge zurück im Text sind ein Indiz hierfür; etwa in (37)a vom mehrdeutigen Pronomen sie zurück auf die beiden möglichen Bezugsausd‐ rücke Die Müllers und die Zugvögel. Mittlerweile sind Eyetracker handliche Geräte, die die Probanden wie eine Brille tragen können (die Daten werden per Funk auf einen Rechner übertragen). Dadurch ist es möglich, nicht nur Leseaufgaben zu erfassen, sondern auch das (Blick-)Verhalten von Menschen im natürlichen Diskurs. Eine Eyetracking-Fragestellung ist z.B.: „Wie lenken Sprecher die Aufmerksamkeit anderer Menschen durch sprachliche Mittel auf bestimmte Objekte? “ Mit der Lückentest-Methode (cloze procedure) kann man untersuchen, wie leicht oder schwer verständlich ein Text ist. Es werden hier in der Regel Texte von mindestens 250 Wörtern vorgegeben, bei denen jedes fünfte Wort ausgelassen wurde und die Probanden diese Lücken nun füllen müssen (s. Christmann 2002: 85 f.). Man kann aber auch variieren und nur Inhaltswörter entfernen. Die Anzahl der jeweils korrekt eingesetzten Wörter gilt dann als ein Maßstab für das Textverständnis (s. Übung 8 am Ende des Abschnitts). Zusammenfassung von 2 Die Textlinguistik arbeitet sowohl mit der klassischen, geisteswissenschaftlichen Methode der Introspektion (in Verbindung mit Texten als Daten, die systematisch beschrieben werden) als auch mit empirischen Korpussowie Fragebogenstudien und experimentellen, psycho- und neurolinguistischen Methoden. Fragestellung und Methode müssen präzise aufeinander bezogen sein und im Forschungsprozess fort‐ 2.4 Methoden 43 <?page no="44"?> während kritisch reflektiert werden. Alle herangezogenen Methoden haben das Ziel, Aufschluss über die textuelle Kompetenz der Sprachbenutzer zu erhalten und die Prinzipien der Textkonstitution sowie -rezeption zu verstehen. Korpusbasierte Studien wollen über bestimmte textuelle Phänomene nachprüfbare und präzise Aussagen machen. Übungen und Denkanregungen zu 2.4 6. Die Fragestellung für Ihre Arbeit lautet: „Mit welchen sprachlichen Mitteln wird in Kriminalromanen Spannung aufgebaut? “ Mit welcher Untersuchungsmethode gehen Sie vor? 7. Was versteht man unter einer lexikalischen Entscheidungsaufgabe (lexical decision task)? 8. In (40) und (41) wird die Cloze-Technik benutzt. Was fällt Ihnen beim Ausfüllen der Lücken in den Texten auf ? (40) Es war einmal ein kleiner Junge, der _ Häwelmann. Des Nachts schlief _ in einem Rollenbett und auch des Nachmittags, wenn _ müde war; wenn er aber nicht _ war, so mußte seine Mutter ihn darin in _ Stube umherfahren, und _ konnte er nicht genug bekommen. Nun lag der _ Häwelmann eines Nachts in seinem Rollenbett und _ nicht einschlafen; die Mutter aber schlief schon lange neben _ in ihrem großen Himmelbett. (Theodor Storm, Der kleine Häwelmann) (41) Bald trat eine _ gegen Licht und Töne hervor, beunruhigender als die bisherige Verstimmung. _ schien das Geräusch in den Hof einfahrender Wagen, den Stimmklang der Leute als _ zu empfinden. „Sprecht leise! “ bat er und flüsterte selbst, wie um ein Beispiel zu geben. _ einmal die zierliche klimpernde _ wollte er hören, sprach rasch sein gequältes „’habt, ’habt“, _ ei‐ genhändig das Werk und weinte dann bitterlich. So floh er den Sonnenschein jener _ in Hof und Garten, _ das Zimmer, saß dort gebückt und rieb sich die Augen. Schwer war es zu sehen, wie_ , sein Heil suchend, von_ , der ihn liebte, zum anderen ging und ihn umhalste, um bald wieder _ von jedem abzulassen. (Thomas Mann, Dr. Faustus) 9. Beantworten Sie nach dem Lesen von (42) so schnell wie möglich und ohne nachzudenken die darin gestellte Frage, indem Sie die Nummer in das Kästchen darunter schreiben! (42) Wie viele Tiere jeder Art nahm Moses mit auf seine Arche? - - 10. Sie möchten wissen, ob Text x oder Text y aufgrund der unterschiedlichen evaluativen Anaphern (s. Kap. 5.5) stärker auf Rezipienten wirkt, ob also Text x ein höheres Emotionsbzw. Persuasionspotenzial als y hat. Wie testen Sie dies? 44 2 Textanalyse in der Textlinguistik <?page no="45"?> 11. Welche Methode schlagen Sie für folgende Fragestellung vor? „Verbessert das Vorkommen von Metaphern die stilistische Akzeptabilität eines Textes? “ Weiterführende und vertiefende Literatur zu 2.4 Allgemeine Überblicksdarstellungen zur Methodik finden sich in Wode (1988: 107-117), Müller/ Weiss (2002), Garrod ( 2 2006) und kognitionslinguistisch ausgerichtet in Schwarz ( 3 2008: 31-37). Christmann (2002) stellt die wichtigsten Methoden hinsichtlich Sprach‐ verstehen und Verständlichkeit von Texten vor. Eine ausführliche Abhandlung zu den experimentellen Verfahren findet sich in Rickheit et al. (2003). Albert (2007) beschreibt komprimiert die empirischen Methoden der Linguistik. Scherer (2006) und Bubenhofer (2009) geben Einführungen in die Korpuslinguistik; in Gries/ Stefanowitsch (2007) werden korpusbasierte Ansätze der kognitiven Linguistik vorgestellt. Marx (2011) zeigt, wie textlinguistische Fragestellung (zur Anaphorik) und empirische Methodik (ERP-Studien) zusammengeführt werden können. Kertész et al. (2012a, b) erörtern die Relevanz externer Daten und Korpusstudien für die kognitionslinguistische Theo‐ riebildung. Coopmans und Nieuwland (2020) haben die Verarbeitung anaphorischer Textreferenten neurowissenschaftlich mittels EEG und ERP-Methode untersucht. 2.4 Methoden 45 <?page no="47"?> 3 Textsorten und Funktionen von Texten 3.1 Zur Bestimmung von Textsorten (43) Unter dem intensiven Neptun-Einfluss sind Sie den Ereignissen gedanklich weit voraus, Visionen haben jetzt eine besondere Magie. Lassen Sie sich nicht verun‐ sichern, auch nicht von alten, verinnerlichten Botschaften. Stehen Sie zu Ihrer Besonderheit: Intuition und feine Antennen! Der Transit birgt auch die Gefahr, dass Sie Ihr Licht unter den Scheffel stellen. Genau das sollten Sie nicht tun. Denn der Kosmos fordert Sie jetzt zu selbstbewussten Neuanfängen auf. (Horoskop, www.brigitte.de) Jeder konkrete Text ist eine Realisierung einer bestimmten Textsorte, und wahrschein‐ lich haben Sie (43) sofort als Horoskop identifiziert, vielleicht ohne sich bewusst darüber zu sein, welche Merkmale eines Horoskops in unserem Gedächtnis - genauer: als Teil unserer Textkompetenz - gespeichert sind und zu dieser Kategorisierung ge‐ führt haben. Vermutlich sind es nicht nur Schlüsselwörter (wie hier ein Planetenname und Kosmos), die auf eine Textsorte schließen lassen. Sehen Sie sich dazu einmal die folgenden Texte an: (44) Es war einmal ein xxx, der lebte in einem großen, dunklen xxx. (45) Liebe xxx, aus dem xxx senden wir dir herzliche xxx. Das xxx war in den letzten Tagen nicht so gut, aber es gibt hier viel zu entdecken, und abends gönnen wir uns xxx. (46) Man nehme 1000 g xxx und verrühre es in einer Schüssel mit 100 g xxx und einer Prise xxx. (47) Zwei xxx bei xxx Darmstadt (ap) - Bei einem schweren xxx sind gestern in der Darmstädter Innen‐ stadt zwei xxx verletzt worden. Nach Angaben der xxx hatte ein xxx eine xxx missachtet und war mit xxx kollidiert. (48) Diese xxx in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Juni 2004 (BGBl. I S. 1108, 2625), zuletzt geändert durch xxx 5 xxx 8 des xxx vom 24. Februar 2012 (BGBl. I S. 212), bestimmt die Anforderungen, die bei der Erteilung einer Erlaubnis für das xxx aus den in den Anhängen bestimmten xxx mindestens festzusetzen sind. (49) xxx (von xxx) Der x ist aufgegangen xxx prangen xxx klar xxxx wunderbar. (50) Er, 44 Jahre, 1,76 gross, schlank, grosszügig, sucht xxx , für alles was zu zweit mehr Spass macht … (Kontaktanzeige, www.kleinanzeigen.abendblatt.de) <?page no="48"?> literarische Textsorten Textsorte Witz Obwohl die inhaltlich wichtigsten Wörter unkenntlich gemacht wurden, ist nicht schwer zu erraten, welche Textsorten hier vorliegen: ein Märchenanfang, der Text einer Urlaubspostkarte, ein Kochrezept, eine Zeitungsmeldung über einen Verkehrsunfall, ein Gesetzestext (genauer: eine Abwasserverordnung), ein Gedicht (nämlich die erste Strophe des Gedichts Abendlied von Matthias Claudius, s. Abschnitt 5.1) und eine Kontaktanzeige. Beim Lesen dieser Texte werden sprachliche Muster erkannt, die in unserem Lang‐ zeitgedächtnis (LZG) mit ihren typischen Eigenschaften gespeichert sind. Textsorten sind nichts anderes als solche Muster. Sie haben sich im Laufe der Zeit als kulturelle, kommunikative Traditionen herausgebildet und ermöglichen uns die Identifikation von konkreten Texten als Exemplare einer bestimmten Textsorte. Texte derselben Textsorte haben bestimmte Gemeinsamkeiten, z. B. im formalen Aufbau, in der Länge, im Inhalt, der Funktion, im Medium, das einen Text transportiert, oder der typischen Situation, in der ein Text geäußert wird. Eine wichtige Unterscheidung bezüglich der Funktion ist die zwischen Gebrauchs‐ texten und literarischen Texten. Literatur besteht natürlich aus Texten, aber nicht jeder Text ist Literatur. Von den Beispielen oben würde man nur (44) und (49) als literarische Texte bezeichnen, (47) als journalistischen Text, die übrigen als Gebrauchstexte. Die Literaturwissenschaft kennt für literarische Texte ziemlich genaue, scheinbar klare Abgrenzungen zwischen Gattungen: Prosa (Epik), Drama, Lyrik. In diesen Gattungen werden Subtypen wie Tragödie und Komödie oder Novelle und Roman oder Ballade und Sonett unterschieden. Die Einteilung richtet sich nach der Form (z. B. Versmaß) und inhaltlichen Aspekten (z. B. hat eine Novelle ein außergewöhnliches Ereignis zum Thema). Diese Einteilungen sind aber eher idealtypisch; nicht jeder Text weist alle Merkmale seiner Gattung auf - bekanntlich reimt sich nicht jedes Gedicht, manche Gedichte haben auch kein festes Versmaß; und ein Roman wie Helene Hegemanns Axolotl Roadkill ist, als Montage von E-Mails, SMS, Blogs und tagebuchartiger Erzählung, in formaler Hinsicht sicherlich kein typischer Roman. Die Frage, wie man literarische von nicht-literarischen Texten abgrenzt, ist noch schwieriger. Als Abgrenzungskriterium würde man ästhetischen Anspruch und eine nicht gebrauchsgebundene Funktion nennen. Literarische Texte sind fiktiv - heißt das, dass sie sich nicht auf die reale Welt beziehen? Auch Werbetexte konstruieren oft fiktive Welten. Umgekehrt gibt es Reiseliteratur, die sich auf reale Erfahrungen bezieht, aber über den journalistischen Anspruch einer Reportage hinausgeht. Ist also ästhetischer Anspruch ein Kriterium? Eine ästhetische Komponente ist bei manchen literarischen Werken nur schwer oder gar nicht zu erkennen, nämlich bei der sogenannten Trivial‐ literatur, während manche nicht-literarischen Texte einen kunstvollen Umgang mit stilbildenden sprachlichen Elementen aufweisen. Die schwierige Abgrenzung von Textsorten zeigt sich deutlich z. B. bei der Textsorte Witz. Witze sind eindeutig fiktional. Sind Witze daher eine Gattungsform der Literatur? Diese Frage wird heterogen diskutiert. Einerseits lässt sich in der traditionellen Gattungstheorie keine literarische Gattung Witz finden, andererseits fällt es schwer, 48 3 Textsorten und Funktionen von Texten <?page no="49"?> Schlüssel‐ wörter Witze als Gebrauchstexte einzustufen: Ein Gebrauchswert (wie bei einem Rezept oder einer Bauanleitung) ist nicht erkennbar, auch kein Informationsgewinn wie durch einen Zeitungsbericht. Witze dienen, wie literarische Texte, der Unterhaltung oder geistigen Anregung. Jedoch können Witze sehr unterschiedliche Funktionen haben; ein politischer Witz kann auf subversive Weise politische Überzeugungen vermitteln; ein Blondinenwitz oder Ostfriesenwitz stiftet vielleicht nur Gemeinsamkeit in einer Gruppe, die sich dadurch von den angeblich dümmeren Blondinen bzw. Ostfriesen abgrenzt. Witze haben in diesem Sinne auch eine kontaktetablierende Funktion. Es zeigt sich an diesem Beispiel, dass formale und inhaltliche Kriterien nicht ausrei‐ chen, um Textsorten zu erfassen. Entscheidend sind oft die funktionalen Kriterien, am Beispiel Witz etwa seine Funktion als „expressiver Sprechakt” - das sind Äußerungen, mit denen Sprecher ihre, auch emotionale, Einstellung zu einem Thema oder auch zu ihren Gesprächspartnern ausdrücken. Ein Witz als expressiver Sprechakt kann vermitteln, dass ein Sprecher in der gegebenen Situation mit anderen Menschen auf einer freundlichen, aber nicht zu tief gehenden Ebene verkehren möchte. Dies ist nicht ganz unabhängig von den formalen Merkmalen, über die die Textsorte Witz meist definiert wird: Diese weisen den Witz nämlich klar erkennbar als solchen aus, z. B. der charakteristische, grammatisch merkwürdige Satzanfang mit dem finiten Verb an erster Stelle, der jedem Zuhörer signalisiert, dass jetzt ein Witz folgt: (51) Kommt ein Skelett zum Zahnarzt. Sagt der Zahnarzt: Zähne ok, aber das Zahnfleisch …! Sollte ein Sprecher hiervon abweichen, z. B. mit (52), läuft er Gefahr, dass er missver‐ standen wird: (52) Gestern suchte ein Skelett einen Zahnarzt auf … Zuhörer könnten hier zunächst denken, dass der Sprecher ein Erlebnis oder eine Anekdote erzählen will, und wären verwirrt über den offensichtlich fragwürdigen Wahrheitsgehalt. Die expressive Funktion wäre gefährdet, wenn der Sprecher erst ‚zugeben‘ müsste, dass der Gehalt seiner Erzählung unwahr ist, weil es sich um einen Witz handelte. Halten wir also fest, dass inhaltliche, formal-strukturelle und funktional-situative Aspekte bei der Textsortenbestimmung ineinandergreifen müssen. In der Textlingu‐ istik werden, je nach Ansatz, alle drei Kriterien berücksichtigt, um Textsorten zu identifizieren und voneinander abzugrenzen. Zunächst einmal wird man - über die Bedeutung bestimmter Schlüsselwörter (also Wörter, die eine zentrale Bedeutung und Relevanz für einen bestimmten Text bzw. eine Textsorte haben) - einen Eindruck vom Inhalt des Textes erhalten. Dann wird man sich einer Textanalyse über strukturelle Merkmale nähern. Diese betreffen den Aufbau (also etwa die Abfolge von verschiedenen Textteilen), die Organisation (z. B. die 3.1 Zur Bestimmung von Textsorten 49 <?page no="50"?> Textsorte Kochrezept Fortführung oder Neueinführung von Themen im Text), grammatische Eigenschaften und die äußere, formale Gestaltung des Textes. Zum anderen werden funktionale Merkmale berücksichtigt, die den Zweck von Texten und ihre Einbettung in eine Kommunikationssituation beschreiben: Was will ein Sprecher oder Autor mit seinem Text erreichen, was erwartet der Rezipient von einem Text, in welcher Weise wird eine Situation durch den Text verändert oder neu strukturiert? Nehmen wir als Beispiel noch einmal die Textsorte Kochrezept. (53) Zutaten: 1 Dose Thunfisch in Wasser, 1 große Zwiebel(n), gewürfelt, 1 Knoblauch zehe(n), gepresst, 4 EL Tomate(n) (Pizzatomaten), bis ca. 1 Dose, oder frische Tom atenwürfel, 4 EL Schmelzkäse (light 10 %), 2 EL saure Sahne, etwas Gemüsebrühe, instant (Pulver), viel Basilikum, frisch oder TK, 200 g Nudeln, Salz und Pfeffer, 1 EL Tomatenmark, etwas Zucker, 1 TL Öl. Zubereitung: Die Nudeln bissfest kochen. Die Zwiebeln in Öl glasig anbraten, Tomatenmark dazugeben und kurz mitrösten, etwas Zucker dazugeben, dann Knoblauch und die gehackten Tomaten (keine passierten, es sollen Stückchen sein). Etwas Gemüsebrühe angießen, einen Deckel auflegen und die Sauce kurz köcheln lassen. Den Thunfisch dazugeben, gerne auch mit dem Wasser, in der Sauce erhitzen. Schmelzkäse, saure Sahne und Basilikum in die Sauce rühren und mit schwarzem Pfeffer abschmecken, bei Bedarf auch etwas salzen. Die Nudeln mit der Sauce vermengen und schlemmen. (Rezept für Nudeln mit Thunfischsauce, www.chefkoch.de) Inhaltlich wird man bemerken, dass Nahrungsmittel und im zweiten Teil auch kü‐ chentypische Tätigkeiten genannt werden. Die strukturorientierte Analyse ergibt das folgende Ergebnis: Der Text ist zweigeteilt; er besteht aus einer Auflistung, die Mengenangaben und Produktbezeichnungen enthält. Der zweite Teil ist ein kurzer Prosatext mit drei Abschnitten in logischer Abfolge: 1) Nudeln zubereiten, 2) Sauce zubereiten, 3) Nudeln und Sauce vereinen. Die Kommunikationsrichtung ist monolo‐ gisch, d. h. es gibt keine Sprecherwechsel, aber auch keine 1. oder 2. Person. Die Grammatik des Textes ist geprägt von Infinitiven ohne Subjekt. Die in der Tabelle genannten Produkte werden hier wieder aufgegriffen und zum Objekt der Tätigkeits‐ angaben. Es gibt keine Wiederholungen, Redundanzen oder Ausschmückungen, und der Text hält ein Nacheinander, also eine lineare zeitliche Abfolge der beschriebenen Handlungen ein. Thematisch werden keine Nebenstrukturen eingeschoben, wie etwa ein Diskurs über die Unterschiede zwischen schwarzem und grünem Pfeffer. Die Wortwahl ist - außer dem letzten Verb schlemmen - sachlich, nicht emotionalisierend; stellenweise wird Fachvokabular verwendet (glasig anbraten). Die funktionale Analyse ergibt, dass es um sachorientierte Informationsvermittlung geht: Der Leser erhält eine Handlungsanleitung, die auf eine eng begrenzte Situation ausgerichtet ist, nämlich die Zubereitung einer Mahlzeit (etwa im Gegensatz zu einer allgemeinen Lebensberatung). Die grammatischen Infinitiv-Konstruktionen werden pragmatisch als Anweisungen von Autor an Leser gedeutet. Das Kochrezept ist eine schriftliche Textsorte, bei der Produktion und Rezeption des Textes zeitlich sehr weit auseinanderliegen können. Ein Rückmeldekanal ist nicht vorgesehen, so dass der Text alles so spezifizieren sollte, dass 50 3 Textsorten und Funktionen von Texten <?page no="51"?> Textsorten-Klas‐ sifikation keine Nachfragen notwendig sind. Die Kommunikationssituation ist asymmetrisch: Der Autor weiß etwas, das der Leser erst erfahren will (im Gegensatz zu einer Diskussion ‚auf Augenhöhe‘). Die Klassifikation von Textsorten ist so alt wie die Textlinguistik, in der frühen Textlinguistik wurde sie als besonders wichtig angesehen (vgl. Isenberg 1983). Dabei gibt es eine Reihe von Versuchen, Typologien von Texten zu erstellen. Bei Sandig (1972) findet sich bereits eine Kombination aus strukturellen („textinternen“) und funktionalen, situationsbezogenen („textexternen“) Merkmalen. Brinker ( 7 2010) sieht die Textfunktion als Basiskriterium für eine Textsorteneinteilung an. Er knüpft an die Sprechakttheorie der linguistischen Pragmatik an (Searle 1975, 1982), die Sprache als soziales Handeln auffasst, und unterscheidet in Anlehnung an Searles Typen von Sprechakten fünf Textfunktionen (nach Brinker 7 2010: 98 ff.): die Informationsfunktion (informieren, darstellen, zeigen), die Appellfunktion (empfehlen, anweisen, überzeu‐ gen), die Obligationsfunktion (versprechen, verpflichten, schwören, garantieren), die Kontaktfunktion (freuen, bedauern, beglückwünschen, bemitleiden, gratulieren) und die Deklarationsfunktion (neue Realität schaffen; ernennen, bevollmächtigen, bescheinigen). Die Anwendung dieser fünf Funktionen auf die Menge aller Texte führt entsprechend zur Unterscheidung von fünf Text-Klassen: ● Informationstexte (wie Sachbuch, Bericht, Rezension), ● Appelltexte (wie Werbeanzeige, Gesetz, Antrag), ● Obligationstexte (wie Vertrag, Garantieschein, Gelöbnis), ● Kontakttexte (wie Danksagung, Ansichtskarte) sowie ● Deklarationstexte (wie Testament, Ernennungsurkunde). Damit steht Brinker in der Tradition funktionaler Ansätze, deren Grundgedanke von Oomen (1971) formuliert wurde: Texte sind nicht bloß eine grammatische Struktur, die über die Satzgrenze hinweg erweitert wird. Textmerkmale sind vielmehr Resultat eines kommunikativen Prozesses und müssen immer im Zusammenhang mit der Kommunikationssituation untersucht werden (vgl. Gansel 2008: 8). Bei Hoffmann (2007) basiert die Klassifikation auf gesellschaftlichen Kommunika‐ tionsbereichen und damit ebenfalls auf Tätigkeiten, die mit einem Text vollzogen werden: ● Alltag (jede Form von Alltagskommunikation), ● Bürokratie (Behördenkommunikation, Vermitteln amtlicher Entscheidungen), ● Wissenschaft (Vermitteln von Erkenntnissen), ● Journalismus (öffentliches Informieren und Beeinflussen der öffentlichen Mei‐ nung), ● Kunst (literarische Kommunikation). Die Analysekriterien sind dann aber eher stilistischer Natur, wie z. B. „künstlerisch geformt“, „bürokratisch formalisiert“ usw. Diese Verknüpfung von Analyse textueller 3.1 Zur Bestimmung von Textsorten 51 <?page no="52"?> Texttyp Funktionen und Stilmerkmalen nennt man Funktionalstilistik; anstelle der Textsorten tritt hier der Begriff Funktionalstil oder funktionale Varietät. Eine weitere terminologische Differenzierung betrifft Textsorte versus Texttyp (vgl. Heinemann/ Viehweger 1991: 170). Die Textsorte ist - wie oben definiert - eine kulturell gewachsene Erfahrungskategorie, die jeder Sprachbenutzer erkennen und nachvollziehen kann. Texttyp ist eine abstraktere, eher theoretische Kategorie. So ist Wetterbericht eine Textsorte, die zum Texttyp Prognose gehört. Welche Klassifikation man auch verwendet, man wird feststellen, dass die Vielfalt von Texten, denen wir im alltäglichen Leben begegnen, sich nicht so leicht in starre Kategorien einteilen lassen. Textsorten-Klassifikationen sind daher immer nur Annä‐ herungen. Texte stellen eher ein Kontinuum dar, aus dem nur bestimmte Exemplare als idealtypische Vertreter einer Textsorte herausragen. Bei vielen Texten kommt es zu Überlappungen von Funktionen und strukturellen Merkmalen. Eine Einladung zu einer Hochzeitsfeier z. B. ist nicht nur ein Kontakttext, sondern auch zugleich ein Informations- und Appelltext (der Text informiert über die Hochzeit und Datum und Ort der Feier; gleichzeitig fordert er den Adressaten auf zu kommen). Und Werbeanzeigen können ausführlich über das beworbene Produkt informieren. Sie sind damit nicht nur als Appelltexte persuasiv (d. h. zielen darauf ab, den Adressaten zu beeinflussen), sondern realisieren auch eine Informationsfunktion. Sie können stilistische Merkmale aufweisen, die typisch für literarische Texte sind - z. B. können sie die Form eines Gedichtes haben: (54) Ein Jüngling fährt zum Rendezvous da stürzt ein Schutzmann auf ihn zu: verängstigt stoppt der junge Mann. der Schutzmann aber lacht ihn an: „Ahaa - auch Uhu-Line! Ihr Oberhemd ist faltenlos und glatt wie meins. es sitzt famos. das heißt. auf Uhu-Line-Art Auf Wiedersehen. gute Fahrt! “ Ahaa - auch Uhu-Line! (Anzeigenwerbung für Wäschestärke, 1956, zit. n. Schindelbeck 1990, Schreibung im Orig.) Derartige Verschmelzungen von Textsorten können als außergewöhnliche Realisie‐ rungsform den gewollten Effekt haben, besondere Aufmerksamkeit zu erregen, daher ist Werbung stets um solche Abweichungen vom Erwartbaren bemüht. Manchmal entstehen daraus aber auch neue Textsorten: (55) Zur Zeit koennte ich fast jeden Tag Fisch essen und so wie ich es kenne, gibt es dazu entweder Reis oder Kartoffeln. Jedoch sollte es schnell gehen und so kochte ich einfach mal Nudeln dazu, denn die Raffinesse kam eigentlich mit der Sosse. Wie gesagt es sollte schnell gehen und so nahm ich ein Glas Tomatensosse mit Knoblauch und Basilikum, verteilte sie jedoch auf zwei Toepfe. Den einen Teil der Sosse erwaermte ich nur waehrend in den anderen Teil der Sosse noch Kirschtomaten, 52 3 Textsorten und Funktionen von Texten <?page no="53"?> Textsorte Brief historischer Wandel Oliven und Kapern reinkamen (jedoch nicht zerkocht wurden). Den Seelachs habe ich in etwas Butter angebraten und mit Knoblauchpfeffer gewuerzt. Zum Schluss kamen die Nudeln auf den Teller, darauf die einfache Sosse, danach der Seelachs welcher die Tomaten-Oliven-Kapern-Sosse bekam. Danach noch etwas Zitronensaft drueber und Petersilie. Es waren glaub ich nur 20min Koch- und Schnippelzeit, doch geschmeckt hat es nach viel mehr 😀 (www.meine-rezepte.blog.de) Auf funktionaler Ebene ist der Text genauso instruktiv wie das klassische Kochrezept oben (53). Formal fällt aber die Verwendung der 1. Person auf. Grammatisch liegen keine Handlungsanweisungen vor, sondern ein Bericht des Verfassers über seine eigene Kochtätigkeit; die Sprache wirkt informeller. Damit bietet der Text das persönliche Mit‐ erleben eines Internetblogs - tatsächlich heißt diese Zwitter-Textsorte „Rezeptblog“. Textsorten unterliegen dem Wandel der Zeit, sie sind abhängig von Normen und sie verändern sich so, wie Gesellschaften und Kulturen sich verändern. Man vergleiche etwa Liebesgedichte des Barock mit modernen Liebesgedichten, oder Briefe von vor 200 Jahren mit aktuellen Briefen (vgl. Keßler 2011). (56) Euer Hochwohlgebohrn! hier meinen Entschluß auf ihr geehrtes Schreiben - Woraus sie gewiß meine Bereitwilligkeit ihnen so viel als möglich entgegen zu kommen sehen werden […] mit Hochachtung ihr ergebenster [Unterschrift] (Aus einem Brief Beethovens an seinen Verleger Härtel) (57) Hallo Frau Schwarz-Friesel, Haben Sie den Text von Burger evtl. bei sich im Zimmer? Gute Nacht und liebe sonnige grüße (E-Mail einer Studentin an eine Professorin) Erkennbar ist eine Grundform, die bei aller Unterschiedlichkeit beiden Briefen erhalten geblieben ist: Die Abfolge von Anredeformel, Haupttext (mit Anliegen oder Bezug auf vorherige Schreiben) und Schlussformel. Distanzwahrende Elemente, die über Jahr‐ hunderte hinweg typisch für asymmetrische Kommunikation waren, sind aber in (57), abgesehen von der Sie-Anrede, nicht mehr erkennbar. Die Textsortenmerkmale ändern sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Textsorten sind folglich als historisch wandelbar zu betrachten. Manchmal kommen auch neue Textsorten hinzu: Dies war in der Vergangenheit z. B. der Fall, als es erstmals öffentliche Produktwerbung gab (erste Werbetafeln sollen in den Überresten des antiken Pompeji gefunden worden sein). Jede neue Kommunikationstechnik bringt neue Textsorten hervor: Das Telefon trennte die Merkmale zeitliche Distanz und räumliche Distanz voneinander ab, es er‐ möglichte Dialoge (definiert durch zeitlich unmittelbare Abfolge von mündlichen Bei‐ trägen verschiedener Sprecher) trotz räumlicher Distanz der Kommunikationspartner. 3.1 Zur Bestimmung von Textsorten 53 <?page no="54"?> mediale Mündlich‐ keit konzeptio‐ nelle Münd‐ lichkeit 3.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit Im Zeitalter der elektronischen Datenübertragung sind weitere Merkmale der Text‐ sortenklassifikation neu kombinierbar geworden; insbesondere schließen sich schrift‐ liches Medium und Dialoghaftigkeit nicht mehr aus - was eigentlich unter „schriftlich” und mündlich” zu verstehen ist, muss noch einmal neu überdacht werden (s. u. a. hierzu Marx/ Weidacher 2013). Sehen wir uns dies näher an: „Schriftlich“ im Gegensatz zu „mündlich“ schien das fundamentalste und deutlichste Kriterium zur Unterscheidung von Textsorten überhaupt zu sein. Manche Textlingu‐ isten konzentrieren sich überhaupt nur auf geschriebene Sprache und sprechen dann von Texten im Gegensatz zu Gesprächen; daraus resultieren Fachbezeichnungen wie Textlinguistik im Gegensatz zu Gesprächslinguistik oder Konversationsanalyse (vgl. Schwarz 2007a, Deppermann 4 2008), andere fassen unter Diskurslinguistik sowohl Texte als Gespräche (vgl. Warnke/ Spitzmüller 2008 und 2011). Man kann „schriftlich“ und „mündlich“ sehr einfach über das Medium unterscheiden: Sprache, die man hören kann, ist mündlich; Sprache, die man sehen (also lesen) kann, ist schriftlich. Nun kann man aber jeden geschriebenen Text vorlesen, und manche Textsorten werden ja zu dem Zweck aufgeschrieben, gesprochen zu werden - z. B. Dramen- und Filmtexte, die natürlich bezüglich mündlicher und schriftlicher Merkmale sehr unterschiedlich gestaltet sind, von den fünfhebigen Jamben der grie‐ chischen Tragödie, die wohl kein Aktant spontan produzieren könnte, bis zu den Dialogen in Filmen und TV-Serien, die (gelungen oder nicht) natürliches sprachliches Alltagsverhalten imitieren. Weitere Beispiele für geschriebene Texte zum mündlichen Vortrag sind Reden, z. B. Begrüßungsansprachen und Parlamentsreden; des Weiteren Moderationstexte fürs Fernsehen, die oft vom Teleprompter statt vom Blatt abgelesen werden und so einen spontanen mündlichen Vortrag suggerieren. Sie sind einerseits ‚geschliffener‘ als spontane mündliche Rede, d. h. sie weisen nicht die typischen Fehler spontaner Sprachproduktion wie Pausen, Silbenwiederholungen und Abbrüche der grammatischen Konstruktion auf. Von daher sind es typisch schriftliche Texte. Andererseits sind sie in ihrer grammatischen und inhaltlichen Komplexität auf münd‐ liche Rezeption zugeschnitten - der Hörer kann nicht zurückblättern und noch mal anfangen, wenn ein Satz allzu lang oder verschachtelt war. Solche Textsorten stellen Grenzfälle zwischen medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit dar. Eine ganz andere Definition von „mündlich“ und „schriftlich“ ist auf funktionaler, konzeptioneller Ebene möglich. Denn schriftliche Texte können Merkmale aufweisen, die sonst nur in der mündlichen Sprache anzutreffen sind. Die Idee hierzu stammt schon aus dem Jahr 1985, und doch scheint sie wie geschaffen für die Beschreibung neuer Textsorten des Internet- und E-Mail-Zeitalters (Koch/ Oesterreicher 1985, Beißwen‐ ger/ Pappert 2019 sowie Androutsopoulos/ Vogel 2024). Konzeptionelle Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit bilden ein Kontinuum mit graduellen Abstufungen, d. h. Texte sind mehr oder weniger - und je nach Textsorte - stärker vom schriftlichen oder mündlichen Modus geprägt. 54 3 Textsorten und Funktionen von Texten <?page no="55"?> Internet-Chats heißen nicht zufällig so (chat engl. „Plauderei“, „Unterhaltung“) - hier ein zufällig gewählter Ausschnitt eines Chats aus dem Jahr 2005, den man als typisch für diese Zeit webseitenbasierter Chats am PC betrachten kann (Smartphone gab es noch nicht, und Social Media-Plattformen wurden gerade erst populär). (58) 1. niceWilly: teuer 2. incident: ja, eben 3. MarcAurel: ach … ich nerve Euch 4. MarcAurel: welche Sorgen denn, fee? 5. incident: falls es dir hilft 6. incident: mich nervst du nicht, kaiser 7. MarcAurel: aber die fee nerv ich 8. Nautilon: Guten Abend 9. MarcAurel: dengel stups drückz @ fee 10. niceWilly: incident am besten du gehst gleich morgen zu den anonyem alkis 11. incident: hallo, Nautilon 12. MarcAurel: hi 13. incident: hm. Nee. In nem monat dann, niceWilly 14. Feensand: schreib morgen ne wichtige arbeit … 15. Nautilon: reHi 16. MarcAurel: oh … 17. niceWilly: damit is net zu spaßen 18. Feensand: nervst mich nicht …. 19. MarcAurel: welches Fach? 20. Feensand: gg latein 21. incident: ich weiß (Auszug aus www.chatcity.de, 15.03.2005, Nummerierung im Original nicht vorhan‐ den) Zunächst fällt eine Orthografie auf, die eine flüchtige mündliche Aussprache nachzu‐ ahmen scheint (z. B. nem statt einem). Interessanter ist aber, durch welche thematische Struktur (wer redet mit wem über was? ) und welche situativen Bedingungen diese Flüchtigkeit zustande kommt. Es ist wie eine größere Kneipenrunde, in der einige besonders aktive Teilnehmer (hier Incident) mehrere Gesprächsfäden gleichzeitig führen (in der Kneipe vielleicht mit dem Sitznachbarn zur Linken und jemandem rechts gegenüber). Jeder kann zuhören (hier: mitlesen), aber nicht jeder nimmt an jedem Gesprächsfaden teil. Wer neu in die Runde kommt, hat es schwer, sich in ein laufendes Gespräch einzuschalten oder einen ‚freien‘ Gesprächspartner zu finden wie hier Nautilon ab 8. Feensand bemerkt nicht sofort, dass Marc Aurel sie etwas gefragt hat (Antwort auf 4. in 14. und auf 7. in 18.). Interessant ist Marc Aurels Reaktion in 9.: Er schreibt, was man im realen Gespräch nicht sagen, sondern tun würde: Jemanden, der im Kneipen- oder Partylärm etwas überhört hat, mal auf die Schulter tippen, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Internet-Chat des Jahres 2005 imitiert nicht nur mündliche Sprache, er kompensiert auch mit eigenen Formeln das Fehlen physischer Unmittelbarkeit. Es liegt also eine Situation vor, die - bis auf das schriftliche Medium - typische Merkmale von Mündlichkeit aufweist. Unter anderem wird schnelles Reagieren erwartet; das Gespräch ist flüchtig (so wie ein Kneipengespräch nicht aufgezeichnet wird, wird im Internet-Chat niemand eine - 3.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit 55 <?page no="56"?> technisch mögliche - Rückschau auf Beiträge von vor Viertelstunden bemühen, ehe er etwas sagt); die Beiträge sind kurz und weder grammatisch noch thematisch besonders komplex. Man stelle sich vor, ein Chat-Teilnehmer würde einen Beitrag anfangen mit „Liebe Chatter“, dann einige lange Sätze zu verschiedenen Themen schreiben und mit der Formel „mit freundlichen Grüßen euer …“ enden - er hätte klar die Textsorte verfehlt und sich in einer konzeptionell mündlichen Textsorte schriftlich verhalten - ein gesellschaftlicher Normenverstoß. Den umgekehrten Fehler würde jemand machen, der in einem Internetforum nur „Hi alle! “ postet und sich wundert, nicht innerhalb von Sekunden zurückgegrüßt zu werden. Internetforen sind konzeptionell näher an der Schriftlichkeit: (59) Kann mein Leben nicht mehr realisieren? Hey liebe Community, seit 1 ½ Jahren hab ich angst vor einer bestimmten Sache. Jetzt hab ich das Gefühl, als ob ich meine Familie nicht mehr kenne und das Leben irgendwie komisch ist. Ich fühle jetzt gar nichts nehr um Leben. Ich realisiere neun Leben nicht mehr znd alles andere auch nicht mehr. Alles kommt mir so komisch vo, als ob ich nicht mehr lebe und als ob ich meine Familie nicht mehr kenne. Kann mir jemand helfen? Ich werd gleich verrückt! ! Gibt es Gebete im Islam dafür? ? Vielen Dank 😊 https: / / www.gutefrage.net/ frage/ kann-mein-leben-nicht-mehr-realisieren-islam-h ilfe, abgerufen 3/ 2025 Auch hier finden sich orthografische Anklänge an gesprochene Sprache (hab statt habe) und eine scheinbar ungeplante, spontane Sprache, zahlreiche Schreib- und Wortfehler (neun statt mein) lassen eine relativ schnelle Produktion ohne Korrekturlesen vermu‐ ten; doppelte Satzzeichen (? ? , ! ! ) sind ein einfacher, wahrscheinlich spontaner ortho‐ grafischer Ausdruck großer Emotion. Jedoch weist das Posting auch Strukturelemente eines Briefes auf, nämlich Begrüßungformel und Dank als eine Art Schlussformel, Vorbringen eines Anliegens mit Bitte um Hilfe und eine Konkretisierung durch die letzte Frage. Wir haben es also mit einem Textsortenzwitter zu tun, der konzeptionell mündliche und schriftliche Elemente enthält. Neben einer Einordnung auf einer Skala konzeptioneller Schriftlichkeit/ Mündlich‐ keit ist heutige Social Media- und Internetkommunikation auch beschreibbar durch ihre komplexe, hierarchische Struktur, die gekennzeichnet ist durch sich verzweigende Threads (Nachrichtenfolgen zu einem Thema) und verschachtelte Bezugnahmen. So sind auch die Beiträge in (60) gekennzeichnet durch extreme Kürze („fast*“ ist ein kompletter Beitrag), wie sie in einem schnellen, spontanen Gespräch mit vielen Teilnehmenden zu erwarten wäre, andererseits zieht sich auch dieser Thread über viele Tage hin (was gegen konzeptionelle Mündlichkeit spricht) und weist eine verschachtelte Kommentarstruktur auf. Die Möglichkeit des ‚Likens‘ per Klick stellt eine sekundenschnelle und sehr rudimentäre Möglichkeit der Interaktion dar, die man kaum dialogisch nennen kann und die ein spezifisches Merkmal der Social Media-Kommunikation ist, ebenso die schnelle quantitative Evaluierung durch die 56 3 Textsorten und Funktionen von Texten <?page no="57"?> Angabe, wieviele „Likes“ ein Beitrag erhalten hat, die möglicherweise eine inhaltliche Diskussion und Bewertung ersetzt. (60) https: / / www.threads.net/ @hauptstadt.memes/ post/ DDzln3nsqzn? hl=de Thread begonnen am 20.12.2024 Wiederum ist erkennbar: Eine Textsorte ist eine soziale Vereinbarung zwischen Kommunikationsteilnehmern. Hier nimmt niemand Anstoß daran, dass Beiträge nur aus einzelnen Wörtern bestehen, andererseits gibt es nicht die Erwartung sofortiger Antwort und Dialoghaftigkeit wie bei einem Chat. Konzeptionelle Mündlichkeit ist also nur in einigen Aspekten gegeben. 3.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit 57 <?page no="58"?> multimodale Texte, Memes Derartige Verhaltensregeln der Textproduktion sind für längst etablierte Textsorten fest gefügt und unterliegen nur einem langsamen, historischen Wandel. Elektronische Medien wie Internet, E-Mail und Social Media-Posts gestatten durch ihre technischen Möglichkeiten die Herausbildung neuer Textsorten, deren typischen Merkmale sich erst etablieren. Viele solcher Textsortenmerkmale ergeben sich daraus, ob man die Textsorte als konzeptionell schriftlich oder mündlich (oder etwas dazwischen) auffasst: Wer auf eine WhatsApp-Nachrich (quasi der Nachfolger der SMS, dessen Ende nun aber auch bevorsteht) eine sofortige Antwort erwartet, geht von Mündlichkeit aus und verzichtet daher vielleicht auf Anrede- und Grußformeln. Wer WhatsApp als Medium sieht, einen Brief zu übermitteln, erwartet dagegen solche formalen Merkmale, jedoch keine sofortige Antwort. Prinzipiell gilt, dass man mit textlinguistischen Methoden auch mündliche Sprache in ihren diversen Manifestationen und Kontexten untersuchen kann (s. z. B. die text‐ linguistische Analyse von True-Crime-Podcasts von Mahnke 2024 oder Bonifazi/ Ioan‐ nidou 2024 zu Anaphern in Filmen). Dies trifft auch auf die im Internet oft anzutref‐ fenden bimodalen und multimodalen Texte zu. So verbinden Memes, die mittlerweile integraler Teil der online Kommunikation und Netzkultur sind, visuelle, also bildhafte und sprachliche Informationen, indem sie verbale Informationen mit einem als bekannt angenommenen Bild kombinieren. Um damit einen humoristisch-erheiternden oder erhellenden (gesellschaftskritischen) Eindruck zu erzielen, spielt die De- und Re-Kon‐ textualisierung des ausgewählten Bildes eine wichtige Rolle. Aus dem ursprünglichen Kontext in einen anderen gesetzt und mit einer komprimierten Sprachinformation versehen, gibt das Meme eine neue Lesart durch die Interaktion bimodaler Informa‐ tionen. Memes bestehen also immer aus zwei Teilen, einem Bild und einem Text, der nachvollziehbare Situationen auf humorvolle Art und Weise wiedergibt. Das folgende Meme wurde im Rahmen eines Seminars zur Kognitiven Medienlinguistik an der TU Berlin von Studierenden erstellt und verbindet das Bild einer weinenden Frau mit Textinformationen aus der Werbung mit dem textlinguistischen Terminus der Spezi‐ fikationsanapher und der Lesart: ‚Spezifikationsanaphern können einen in Verzwei‐ fung und Kaufrausch setzen.‘ 58 3 Textsorten und Funktionen von Texten <?page no="59"?> (61) Memes werden allerdings auch häufig im rechtsextremistischen und antisemitischen Internet-Diskurs mit rassistischen und diskriminierenden Lesarten verbreitet (s. etwa das international online benutzte Happy Merchant-Meme oder Pepe, the Frog-Meme mit antisemitischen Lesarten; Schwarz-Friesel 2023). Zusammenfassung von 3 Textsortenkenntnisse strukturieren unseren kommunikativen Alltag; Textsortenwis‐ sen ist nicht nur sprachliches, sondern auch soziales Wissen. Die meisten Texte können wir intuitiv einer Textsorte zuweisen. In der Textlinguistik gab es schon viele Vorschläge, wie man Textsorten klassifizieren könnte. Dabei spielen eine Rolle: ● Formale Merkmale, die auf grammatischer Ebene oder grafischer Ebene beschrie‐ ben werden (z. B. die Dominanz von Infinitiven oder Imperativen in Kochrezepten oder anderen Anleitungen; der Abdruck in Versform als grafisches Kennzeichen eines Gedichtes). ● Inhaltlich-semantische Merkmale - aus welchen Bedeutungsfeldern kommt der Wortschatz? Eine Software-Dokumentation wird ein anderes Vokabular aufweisen als ein Liebesbrief. ● Vor allem: Funktional-situative Merkmale - welche Handlungsabsichten verfolgt ein Sprecher mit einem Text? Hier berührt die Textsortenklassifikation die Sprech‐ akttheorie. Ist der Text monologisch oder dialogisch, und falls Letzteres: Ist die Kommunikation symmetrisch (auf Augenhöhe) oder asymmetrisch, d. h. der Sprecher weiß mehr als der Hörer (wie bei einer Anleitung), oder ist der Hörer in einer höheren Machtposition (wie bei einem Antrag oder Gesuch)? Sind Sprecher 3.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit 59 <?page no="60"?> und Hörer räumlich voneinander getrennt, ist dem Hörer eine zeitnahe Reaktion möglich? Neue Medien geben hier Raum für neue Kombinationen von Textsortenmerkmalen, so sind Telefongespräche gekennzeichnet durch räumliche Trennung der Gesprächs‐ partner bei gleichzeitiger Dialogizität, also schnellem Sprecherwechsel. Chats sind dialogisch trotz Schriftform, die Textsorte ist medial schriftlich, aber konzeptionell mündlich. Viele online kommunizierte Botschaften sind bi- oder multimodal, verbinden also unterschiedliche Repräsentationsmodi miteinander. Übungen und Denkanregungen zu 3 1. Googeln Sie Anleitungen zur Lösung des Magic Rubik’s Cube (z. B. https: / / r ubiks-cube-solver.com/ de/ ), vergleichen Sie sie untereinander und nennen Sie strukturelle und funktionale Merkmale. Gehen Sie auch auf Text-Bild-Relationen ein! 2. Vergleichen Sie die Anleitungen zum Zauberwürfel mit Bedienungsanleitungen zu elektronischen Geräten, z. B. einer Digitalkamera. 3. Diskutieren Sie, ob WhatsApp-Nachricht und E-Mails Textsorten sind! 4. Besprechen Sie die Textsortenmerkmale von Text (62). Inwiefern stützen diese seine Funktion als Werbetext? Diskutieren Sie auch, inwieweit Sie diese Werbe‐ strategie für legitim halten. (Ohne Lösungsangabe) (62) Lieber Fußballgott, dein Ball komme, dein Spiel geschehe. Unsere Tore gib uns heute. Und vergib uns unsere Fouls, wie auch wir vergeben den Schiedsrichtern. Führe uns nicht ins Abseits, sondern bewahre uns vor Kontern. Denn dein ist das Spiel, und der Sieg, und die Champions League, in Ewigkeit. Auf geht’s! (TV-Werbung des Senders SAT1 für eine Fußballübertragung, www.pro -medienmagazin.de) 5. Text (63) ist ein terroristisches Bekennerschreiben. Diskutieren Sie dazu die Text‐ sortenmerkmale. Stellen Sie Elemente eines Informationstextes, eines Appelltextes und eines Deklarationstextes heraus. Achten Sie auch auf formale Stilmerkmale. (Ohne Lösungsangabe) (63) DIE ZENTREN, DIE BASEN UND DIE STRATEGEN DER AMERIKANI‐ SCHEN MILITÄR-MASCHINERIE ANGREIFEN GEGEN DEN IMPERIA‐ LISTISCHEN KRIEG IM INTERNATIONALEN KLASSENKRIEG KÄMP‐ FEN heute haben wir mit dem KOMMANDO GUDRUN ENSSLIN den ober‐ kommandierenden der us-army und des nato-abschnitts europa mitte, general kroesen angegriffen. Er ist einer der us-generäle, die die impe‐ rialistische politik in westeuropa bis zum golf real in der hand haben, weil er über den einsatz und die mittel in der konfrontation entscheidet. Er bestimmt über die konventionelle verwüstung und legt fest, wann und 60 3 Textsorten und Funktionen von Texten <?page no="61"?> wo neutronensprengköpfe abgefeuert werden. Er befiehlt den us-inter‐ ventionstruppen, die hier zum einsatz bis hin zum golf stehen. Er ist neben rogers der stratege, der von der front europa ins pentagon gerufen wird, wie zum beispiel bei der entscheidung für eine intervention im iran. […] der kampf in der metropole kann den globalen imperialistischen apparat von hier aus soweit in schach halten, dass mit den revolutionären in der 3. Welt ein neuer durchbruch erkämpft werden kann - der kampf in der metropole jetzt sind die realen schritte der revolution im zentrum selbst, die hier nur eine permanente umwälzung im prozess der entwicklung des revolutionären widerstands sein kann. widerstand heißt angriff gegen den konterrevolutionären angriff. Wider‐ stand heißt die eigene praxis in den zusammenhang der guerilla stellen. Guerilla, der kampf der gefangenen aus der guerilla, der kampf der antiimperialistischen militanten sind die linien, die als eine einheit die revolutionäre front in westeuropa bilden - oder bilden werden. ALLE KÄMPFE FÜR LEBENSBEDINGUNGEN IN ALLEN BEREICHEN ALS ANTIIMPERIALISTISCHEN KAMPF FÜHREN, ALSO ZUR FRONT BRINGEN. DEN KAMPF DER GEFANGENEN ALS ZENTRALEN BESTANDTEIL DES REVOLUTIONÄREN KAMPFS ZUR EIGENEN SACHE MACHEN. UNTERSTÜTZT DIE GEFANGENEN HIER, IN IRLAND, IN DER TÜR‐ KEI, ITALIEN, SPANIEN. DIE WESTEUROPÄISCHE GUERILLA ERSCHÜTTERT DIESES ZEN‐ TRUM KÄMPFT MIT UNS rote armee fraktion 15.9.1981 (Bekennerschreiben der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) nach einem An‐ schlag auf den US-General Kroesen 1981 in Deutschland, www.labourhi story.net) 6. Woher stammt der Begriff Meme? Sind Memes neue bimodale online-Textsorten? (ohne Lösungsangabe) 7. Sind Memes die neue online-Form des Cartoons oder etwas anderes? (ohne Lösungsangabe) 8. Überlegen Sie, ob der Shitstorm im Internet mehr Aspekte der mündlichen oder der schriftlichen Sprache aufweist! (ohne Lösungsangabe) 9. Welche hybriden Kommunikationsformen gibt es? Was zeichnet sie aus? (ohne Lösungsangabe) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 3 Einen Überblicksartikel zu Textsorten liefert Heinemann (2000), Adamzik (2008) gibt einen kurzen Überblick zur Textsortenproblematik, Koch/ Oesterreicher (2008) erörtern die Kriterien Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, einen komprimierten Überblick dazu findet man bei Ulrich (2019). Feilke/ Henning (2016) besprechen, wie sich die Konzepte Mündlichkeit und Schrift‐ lichkeit in der Linguistik entwickelt haben. Linke (2010) beschreibt Textsorten als kulturell geprägte kommunikative Muster, Keßler (2011) erläutert am Beispiel Brief den Wandel von Textsorten. Zur linguistischen Multimodalitätsforschung finden sich Beiträge in Deppermann/ Streeck (Hg.) (2018); zur Bildlinguistik s. Stöckl (2004) und 3.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit 61 <?page no="62"?> Fix/ Wellmann (2000). Beißwenger und Pappert (2019, 2024) erläutern kommunikative Aspekte von Emoticons und Emojis. In Hausendorf et al. (2023) wird - exemplarisch für bimodale Textsorten - die Ansichtskarte besprochen. Schreiber (2024) erörtert Bild‐ wissen und deepfakes. Androutsopoulos/ Vogel (2024) behandeln neuere Aspekte der Online-Kommunikation; Schlobinski (2020) wirft einen auch kapitalismus-kritischen Blick darauf. 62 3 Textsorten und Funktionen von Texten <?page no="63"?> Definition Referenz Textreferent 4 Text und Welt 4.1 Referenz und Textreferenten Wenn wir Sprache benutzen, verweisen wir damit auf Personen, Dinge, Geschehnisse, Handlungen und Prozesse, also außersprachliche Sachverhalte. Referenz wird in der Linguistik der Bezug mittels sprachlicher Ausdrücke auf die außersprachliche Welt genannt. (64) Der Dalai Lama gibt ein Interview mit Überraschungen. (Die Zeit, 13.06.2013, 1) (65) Harry staunte mit offenem Mund. ( Joanne K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen, 136) Jeder Text bezieht sich somit auf eine bestimmte Welt. Dies kann die reale Welt sein (wie z. B. in (64) oder wenn wir in der Tageszeitung etwas über einen U-Bahn-Überfall in Berlin lesen) oder eine fiktive Welt (wie in (65) oder wenn wir Franz Kafkas Der Prozess oder Heinrich Manns Der Untertan oder einen Roman von Stephen King lesen). Die Referenten fiktiver Textwelten erhalten ihre Existenz erst durch die sprachliche Kreierung. Wir können zudem auch auf individuelle geistige Welten (Träume, Wün‐ sche, Vorstellungen), auf vergangene (gestern, das Mittelalter, die 60er Jahre) und zu‐ künftige Realitäten (in drei Tagen, in 7 Jahren) Bezug nehmen. Es gibt konkrete Refe‐ renten (Menschen, Tiere, Gegenstände), die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und auf die wir im Singular oder Plural referieren können (der Student, die Studierenden). Mittels dieser Personen- und Gegenstandsreferenz verweisen wir in Texten auf Lebe‐ wesen und Objekte: mit Eigennamen, Titeln/ Funktionsbezeichnungen wie in (64) und (65), mit Appellativa wie eine Frau oder das Kind, mit Pronomina wie er und dieser, jener. Ist ein Objekt (im weitesten Sinne) einmal sprachlich eingeführt, spricht man von Textreferenten. Diese Textreferenten sind in unserem Kopf als geistige Einheiten repräsentiert und stehen symbolisch für die außersprachlichen Objekte, die Referenten (s. hierzu auch Abb. 7 in Kap. 5.5.2). So haben wir beim Lesen von (64) das mentale Bild des Dalai Lama aktiviert (zu dem tatsächlich eine Person in der realen Welt existiert) und zu (65) die geistige Vorstellung von Harry Potter (der eine fiktive Figur aus einer Romanwelt ist). Warum ist es wichtig und sinnvoll, auch bei nicht-fiktiven Texten zwischen Textreferenten und Referenten zu unterscheiden? Erstens kann jeder Refe‐ rent je nach Perspektive als sprachlich manifester Textreferent ganz unterschiedlich dargestellt werden: Z. B. kann einer unserer persönlichen Freunde wechselweise po‐ sitiv bewertet als freundlicher Mensch, zuverlässiger Freund oder negativ als arroganter Schnösel, Geizkragen etc. gekennzeichnet werden (zur Perspektivierung s. Kap. 6.3.1). Zweitens lesen wir sehr oft über außersprachliche Referenten in Texten etwas, ohne diese je persönlich getroffen oder auch nur nähere Kenntnisse über diese zu haben. <?page no="64"?> temporale, lokale und komparative Referenz Erst die sprachliche Erwähnung gibt ihnen dann eine Existenz im Bewusstsein des Rezipienten. So ist sicher kaum einem Leser dieses Buches schon der Dalai Lama per‐ sönlich begegnet, sondern wir wissen von seiner Existenz allein aufgrund medialer Berichte (und Filme). Auch Bankräuber, Politiker, Literaturnobelpreisträger, Schau‐ spieler, Künstler etc., über die wir täglich in der Presse oder im Internet etwas lesen oder hören, sind uns mehrheitlich nicht persönlich bekannt. Wir kennen sie oft ledig‐ lich als sprachlich vermittelte Textreferenten. Textreferenten können unter Umständen konzeptuelle Eigenschaften erhalten, die gar nichts mit dem realen, ontologisch exis‐ tierenden oder fiktiven Referenten gemeinsam haben: Etwa könnte der Dalai Lama als virulenter Unruhestifter, Harry Potter könnte in einem Text als ein dicker, blonder und blöder Riese dargestellt werden, Charakterisierungen, die mit der realen und der fiktiven Welt offensichtlich nicht übereinstimmen. Ein Großteil dessen, was wir über die Welt (außerhalb unseres kleinen Erfahrungshorizonts) wissen, wissen wir über (massenme‐ diale) Texte. Und Texte schaffen ihre „eigenen Welten“, wie wir im nächsten Abschnitt noch genauer zeigen werden. Es gibt nun auch nicht sinnlich beobachtbare oder vorstellbare, ganz unanschauliche Textreferenten wie Gefühle und Gedanken sowie abstrakte Objekte im weitesten Sinne (Demokratien, die Finanzkrise, Theorien, die Idee der Unendlichkeit des Univer‐ sums). Oft referieren wir zudem metasprachlich auf Teile des Textes selbst, z. B. [im] vorherigen Abschnitt, der nächste Satz, der Anfang des Kapitels. Solche textinternen Verweise auf sprachliche Einheiten und Strukturen spielen eine wichtige Rolle bei der Organisation eines Textes und helfen dem Leser, sich in langen Texten zu orientieren (s. Textanaphorik in Kap. 5.5). Die temporale Referenz (z. B. ausgedrückt durch Adverbien wie später, vorher, danach) und Präpositionalphrasen (vor dem Essen, in einer früheren Lebensphase) geben die zeitlichen Relationen an, in denen sich die beschriebenen Textreferenten befinden. Die lokale Referenz stellt Referenten in örtliche Konstellationen (dort, hier, auf dem Berg, unter dem Tisch, in Berlin, im Hörsaal), während die komparative Referenz Identitäts-, Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen vermittelt (dieselbe Münze, die gleiche Münze, auf diese Weise, genau so, so ähnlich, eine solche Metapher, eine ganz andere Speise). Die Referenz in Texten setzt Sprache und Welt zueinander in Beziehung. Referenz ist aber nichts Statisches, keine durch die Wortsemantik festgelegte Relation, die sich automatisch und gleichermaßen auf Sprecher-/ Schreiber- und Hörer-/ Leser-Seite ergibt, sondern das Resultat eines Prozesses in einer kommunikativen Situation. Ob Referenz erfolgreich ist, d. h., ob der Hörer/ Leser den sprachlichen Bezug so versteht wie vom Sprecher/ Schreiber intendiert, hängt von kognitiven und situativen Faktoren ab. Daher hat Searle (1969) Referenz als eine kommunikative Handlung charakterisiert, die gelingen oder missglücken kann. Dies kann man sich an folgendem Bsp. klarmachen: 64 4 Text und Welt <?page no="65"?> Referenzpotenzial Referenziali‐ sierung (66) Er ging Die Zeitungen meldeten keinen Verlust (Reiner Kunze, Er ging) In diesem kurzen Gedicht von Kunze ist für einen Leser ohne spezifische Kenntnisse zur Entstehungsgeschichte des Gedichts nicht erkenntlich, auf wen sich das Pronomen er bezieht. Auch das Referenzobjekt der Nominalphrase (NP) die Zeitungen bleibt vage (Zeitungen in Deutschland oder im Ausland, seriöse Presse oder Boulevard? ). Erst wenn der Leser erfährt, dass sich Kunze in diesem Text auf auf die Ausreise des Schriftstellers Peter Huchel aus der DDR bezieht, kann er konkrete Referenten für er und die Zeitungen (der DDR) etablieren und das Gedicht mit seiner politischen Aussage verstehen. Es gehört zu den ganz elementaren und wichtigen Prozessen unserer Kommunikation, Referenten zu identifizieren. Dabei helfen die Äußerung, der Kontext und sehr oft das Weltwissen der Rezipienten: In (64) wird niemand rätseln, wer wohl der Dalai Lama ist, da dieser einen großen Bekanntheitsgrad als Einzelperson hat, und in (65) wird die Kenntnis, dass der Satz aus dem Roman Harry Potter und der Stein der Weisen stammt, das mentale Bild der bekannten fiktiven Figur von Harry Potter entstehen lassen. Man unterscheidet aufgrund der Variabilität und Kontextabhängigkeit von Referen‐ zetablierungen zwischen dem Referenzpotenzial, als der prinzipiellen Möglichkeit, mittels bestimmter Wörter Bezug nehmen zu können, und der (situationsabhängigen) Referenz (also der konkreten sprachlichen Bezugnahme auf Gegenstände der Welt), die das Resultat eines kommunikativen Prozesses ist, der Referenzialisierung. Referenzia‐ lisierung betrifft die spezifische sprachliche Informationsauswahl bei der Textreferenz. So kann in der Textproduktion ein und dasselbe Objekt z. B. je nach Konzeptualisierung aus Produzentenperspektive als wunderbarer Liebesroman, als üble Schundschnulze oder als klischeetriefendes Kitschwerk bezeichnet werden. Hier sehen wir, wie stark die je‐ weilige Referenzialisierung Bewertungen vermitteln kann (s. Kap. 6.3.2). In der Text‐ rezeption ist Referenzialisierung die Aktivierung einer Vorstellung, die von den jewei‐ ligen Formulierungen ausgelöst wird. Dass wir überhaupt referieren können, liegt einerseits an der semantischen Kompe‐ tenz, insbesondere der Fähigkeit, die Bedeutung von Wörtern im Lexikon abzurufen, anderseits aber auch an der pragmatischen Kompetenz, Wörter situations- und kon‐ textabhängig zu benutzen und zu verstehen. Ein und dasselbe Wort kann je nach Kontext für ganz verschiedene Personen oder Dinge benutzt werden: Das Pronomen sie in Sie hat viel Macht kann sich in einer Kommunikationssituation z. B. auf Ursula von der Leyen, in einer anderen auf Christine Lagarde beziehen. In einem historischen Roman kann diese Äußerung aber auch auf Katharina die Große oder in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1979 auf Margaret Thatcher Bezug nehmen. Eine NP wie Der Kanzler referiert entsprechend wechselweise je nach Kontext und Zeitangabe auf Adenauer, Brandt, Kohl oder Schröder. In (67) und 4.1 Referenz und Textreferenten 65 <?page no="66"?> individuelle und generische Referenz referenziel‐ ler Ausdruck Determinanz (68) wird die gleiche NP einmal für unspezifische, einmal für spezifische, individuelle Referenz benutzt: (67) Ich will unbedingt einen Hasen haben. Er sollte schön wuschelig mit einer Zitternase und braunem Fell sein. Ich will ihn Wuschel nennen. (68) Ich will unbedingt einen Hasen haben. Ich habe ihn schon im Tierladen gesehen. Er heißt Wuschel und ist hellbraun mit weißen Flecken. Bei der spezifischen Referenz in (68) bezieht sich der Sprachproduzent auf einen ganz bestimmten existierenden Referenten, hier auf einen individuellen Hasen, bei der un‐ spezifischen Referenz dagegen auf die Vorstellung eines Referenten, also einen mögli‐ chen Gegenstand wie in (67), der nur einem bestimmten Typ entspricht (und daher nicht gewährleistet ist, ob es ihn tatsächlich geben wird, s. auch Bsp. (82)). Anders verhält es sich bei individueller und generischer Referenz: (69) Der Hund knurrte bedrohlich. (70) Der Hund ist ein Haustier, obgleich er ein Artgenosse des Wolfes ist. (69) bezieht sich auf ein individuelles Exemplar eines Hundes, (70) dagegen allumfas‐ send auf die Klasse/ Menge aller Hunde. Wir referieren keineswegs nur mit NPs auf Objekte der Welt (so wie es die klassische Referenzsemantik lange annahm), sondern mit allen Ausdrücken, die Bedeutung haben, mit Adjektiven auf sinnliche oder mentale Eigenschaften, mit Präpositionen auf Raum- und Zeitverhältnisse, mit Verben auf Zustände (stehen, warten), Prozesse (regnen, blitzen), Handlungen (reden, schlagen) und mit Sätzen (Sie lief mit ihrem Handy um das Gebäude und suchte ihn) auf komplexe Sachverhalte (s. Schwarz/ Chur 5 2007: 87 ff.). Wichtig für die Etablierung von Referenz ist die Verwendung bestimmter Artikel‐ formen (nach Vater 1963 ein Obergriff für Funktionswörter, die vor einem Nomen ste‐ hen und es in Bezug auf Referenzeigenschaften näher kennzeichnen). Darunter sind die sogenannten Determinantien (auch „Determinierer“, Singular das Determinans oder der Determinierer), eine Klasse von Ausdrücken, die vor ein Nomen gesetzt dieses als „näher bestimmt“ (determiniert) kennzeichnen (vgl. Vater 1984). Determinantien sind v. a. der bestimmte Artikel (der, die, das, s. Bsp. (69) und (70)), ferner demonstrative Artikel (dieser, diese, dieses). Grammatisch wird ein nominaler Ausdruck durch sein Determinans definit. Der bestimmte Artikel ist also nicht nur Träger grammatischer Information wie Genus, Kasus und Numerus. Viel wesentlicher ist seine Funktion im kommunikativen Zusammenspiel von Sprecher und Hörer: (71) Ich hätte gerne das Auto. 66 4 Text und Welt <?page no="67"?> Definitheit und Identifi‐ zierbarkeit Kooperati‐ onsprinzip common ground (72) Ich hätte gerne ein Auto. Im ersten Fall geht der Sprecher davon aus, dass der Hörer weiß, welches Auto gemeint ist - der Referent für den Ausdruck das Auto ist also identifizierbar. Man spricht hier von definiter Referenz. Als definit gelten nominale Ausdrücke mit bestimmtem Artikel, Personalpronomina (er, sie, es), Demonstrativa (dies, dieses Auto) und auch Eigennamen. Welche Rolle Determinantien bei der Etablierung von Referenz und der erfolgreichen Identifizierung von Referenten spielen, wird seit über 100 Jahren diskutiert. In der Sprachphilosophie (Frege 1892, Russell 1905) stand der logische Status definiter Aus‐ drücke im Vordergrund: Wenn ein Nomen mit dem bestimmten Artikel versehen ist, muss der benannte Gegenstand wirklich existieren; ein Satz wie Den Weihnachtsmann gibt es nicht war ein logisches Problem: Das Prädikat gibt es nicht scheint im Wider‐ spruch zu der Existenzbehauptung zu stehen, die mit dem definiten Nominalausdruck Den Weihnachtsmann einhergeht. Später mit Strawson (1950) und dann insbesondere im Rahmen der Sprechakttheorie (Searle 1969) kam dann die Interaktion zwischen Sprecher und Hörer ausdrücklich ins Spiel: Der Sprecher kennzeichnet durch Sprache einen Gegenstand für den Hörer, wobei er das Wissen und die Möglichkeiten des Hörers berücksichtigt (Schwarz 1992). Dabei sind Faktoren wie Unikalität, Identifizierbarkeit, Erreichbarkeit und Aktivierung eines Referenten im Textwelt-Modell erörtert worden; wir kommen unten im Text auf einige davon zurück. Grundlegend geht es darum, wie Sprachrezipienten aufgrund der sprachlichen Information in Texten die referenziellen Verweise verstehen und geistig repräsentieren. Dabei gilt ein Kooperationsprinzip zwischen Sprecher und Hörer (eine Annahme, die von Grice 1980 formuliert wurde und besagt, dass Kommunizierende einander ein rationales, d. h. zweckorientiertes Verhalten unterstellen). Der Hörer oder Leser verlässt sich darauf, dass der Sprecher oder Schreiber nur dann definite Referenz verwendet, wenn er annimmt, dass der Hörer oder Leser den Referenten auch wirklich identifizieren kann. Die Referenten definiter Ausdrücke sollen nämlich eindeutig aus der Menge aller anderen Objekte heraus identifizierbar sein. In (71) könnte der Hörer wissen, dass der Sprecher an ein bestimmtes Auto denkt, z. B. das seiner Eltern, das er gerne leihen möchte. Damit diese Art von Referenz funktioniert, müssen Sprecher und Hörer ein bestimmtes Erfahrungswissen teilen und voneinander wissen, dass sie es teilen. Solches geteilte Wissen wird auch als common ground bezeichnet (Terminus von Clark/ Marshall 1981). Dieses Wissen kann sehr individuell sein, also nur zwischen Leuten bestehen, die sich gut kennen wie im Auto-Beispiel (71), es kann aber auch ganz allgemein sein: (73) Gestern war der Papst im Fernsehen. (74) 1870 verkündete der Papst das Dogma der Unfehlbarkeit. 4.1 Referenz und Textreferenten 67 <?page no="68"?> indefinite Referenz Deixis Hier ist der Referent identifizierbar mit dem Wissen, dass es immer nur einen einzigen amtierenden Papst gibt. Dabei kommt es auf die sogenannte Referenzdomäne an: Diese ist in (73) - aus dem Satzzusammenhang klar ersichtlich - die Gegenwart; der Referent ist also der gegenwärtige Papst. In (74) ist die Referenzdomäne die Zeit um 1870, und der Referent für denselben Ausdruck ist Papst Pius IX. Durch die Jahrhunderte hindurch kämen etliche Päpste in Frage wie in: (75) EIN Papst war sogar verheiratet (= ein nicht näher bestimmter von allen bisherigen Päpsten). Diese Unbestimmtheit wird mit dem unbestimmten Artikel ein vermittelt. So scheint es auch in (72) um irgendein Auto zu gehen. Hier liegt indefinite Referenz vor. Vielleicht weiß der Sprecher hierüber schon Genaueres, er nimmt aber an, dass der Hörer dieses Wissen noch nicht teilt. Der Sprecher könnte fortfahren: (76) Ich hätte gerne ein Auto. Es steht im Schaufenster des Audi-Händlers, und ich habe auch schon über den Preis verhandelt. Der zunächst nicht identifizierbare Referent wird also näher beschrieben und ins Textwelt-Modell eingeführt; im Fortgang der Referenzkette werden dann definite Ausdrücke verwendet. Als dritte Art der definiten Referenz ist folgendes denkbar: Sprecher und Hörer ge‐ hen am Schaufenster des Autohauses vorbei, und der Sprecher sagt mit Blick oder Zeigegeste auf eines der Autos den Satz (71). Hier liegt deiktischer Gebrauch vor, ge‐ nauer gesagt physische Deixis, d. h. ein räumliches Zeigen in einer konkreten Wahr‐ nehmungssituation. Zusammenfassend lässt sich sagen: Definite Referenz gibt an, dass der Referent für den Hörer identifizierbar ist, und zwar entweder, ● weil Sprecher und Hörer entsprechendes Wissen über den Referenten teilen, allgemeines Weltwissen oder auch sehr individuelles Wissen übereinander. ● weil der Referent im selben Text oder derselben Äußerung schon vorerwähnt war. Der Referent ist sozusagen im Text auffindbar. Diese Art der Referenz heißt Anaphorik, siehe Kap. 5.5. ● weil der Referent in der unmittelbaren, physischen Situation für Sprecher und Hörer wahrnehmbar ist. Der Sprecher lenkt mit sprachlichen Mitteln die Aufmerk‐ samkeit auf ihn. Diese Gedanken sind in der Forschung nicht ganz neu. Schon Adelung (1782) bemerkte, dass der bestimmte Artikel nicht bloß grammatische Funktionen hat, sondern einen bestimmten Referenten aus der Menge aller Dinge heraushebt. Hier wird die Unter‐ scheidung zwischen Referenz und Bedeutung wichtig, wie sie grundlegend von Frege (1892) gemacht wurde (allerdings mit anderen Termini): Das Wort Auto trifft von seiner 68 4 Text und Welt <?page no="69"?> situativer Gebrauch Bedeutung her auf einige hundert Millionen Objekte zu, nämlich alle Autos auf der Welt. Im Satz (71) Ich hätte gerne das Auto referiert der Ausdruck aber auf ein ganz bestimmtes Exemplar, das durch Wahl des bestimmten Artikels aus der Menge aller Autos herausgegriffen wird. Die Rolle gemeinsamen Wissens von Sprecher und Hörer bzw. Schreiber und Leser wird bei Christophersen (1939) als Familiarität (familiarity) erwähnt, also die Vertraut‐ heit eines Referenzobjektes für alle Kommunikationspartner, die sich entweder aus allgemeinem Wissen (Weltwissen) oder speziellem Situationswissen ergeben kann. Hawkins (1978) nennt neben der anaphorischen Referenz die „unmittelbar situative“ („immediate situation use“, (vgl. (77)); den „assoziativ-anaphorischen“ Gebrauch (78) und den „larger situation use“ (79). (77) [Fahrgast in einem Zug, der viel zu langsam fährt: ] Der Lokführer ist wohl eingeschlafen. Die unmittelbare Situation, in einem Zug zu sein, macht den Referenten von der Lokführer identifizierbar; es ist der Lokführer genau dieses Zuges gemeint. Wäre der Lokführer während des Sprechaktes für Sprecher und Hörer zu sehen, wäre deiktische Referenz gegeben (bei Hawkins „visible situation use“ als Spezialfall des „immediate situation use“). Würde dagegen der Fahrgast später, außerhalb des Zuges, von der Situation erzählen, wäre kein unmittelbarer Situationsbezug mehr gegeben; er müsste diesen textuell herstellen: (78) Gestern auf der Fahrt nach Hause fuhr der Zug nur im Schneckentempo. Der Lokführer war wohl eingeschlafen. Hier liegt assoziativ-anaphorischer Gebrauch vor: Die Erwähnung eines Zuges lässt den Hörer oder Leser schon an einen Lokführer denken. Wir kommen auf solche Fälle unter dem moderneren Terminus „indirekte Anaphorik“ zurück (s. Kap. 5.5). Der „larger situation use“, bei Vater (1984) übersetzt mit „abstrakt-situativer Ge‐ brauch“ stützt sich auf Wissen, das die Kommunikationspartner teilen. Dieses Wissen sieht Hawkins als Teil der Sprechsituation an. Der Terminus entspricht etwa der Bezeichnung „Familiaritäts“- und „Common-ground“-Gebrauch. (79) Schlechte Nachrichten: Die Lokführer wollen streiken. Hier ist sowohl allgemeines (abstraktes) Weltwissen im Spiel, nämlich dass es eine Berufsgruppe der Lokführer gibt, als auch situatives Wissen: Wird der Satz in Deutsch‐ land geäußert, sind wohl die Lokführer der Deutschen Bahn gemeint; mit speziellerem Wissen wird die Referenz vielleicht auch enger verstanden, z. B. „die Lokführer der Berliner S-Bahn“. 4.1 Referenz und Textreferenten 69 <?page no="70"?> spezifische und unspezifische Referenz Zusammengefasst: Determinantien drücken aus, dass der Referent identifizierbar ist; diese Identifizierbarkeit kann durch den Text oder verschiedene Merkmale der Situation gegeben sein. In der Praxis verhält sich die Sprache aber nicht immer so klar und logisch, wie die Theorie es beschreibt: Zum einen gibt es etwas rätselhafte Verwendungen wie (80) Philipp hat sich den Knöchel verstaucht. Der Theorie nach wäre dieser Satz dann akzeptabel, wenn Philipp bloß einen Fuß hat. Nur dann wäre der Referent zu den Knöchel unzweideutig bestimmbar. So ist aber nicht klar, ob der Knöchel des linken oder des rechten Fußes gemeint ist. Dennoch wird man den bestimmten Artikel vor Knöchel nicht als störend empfinden - vielleicht deshalb, weil die Information „links oder rechts“ ziemlich unwichtig ist. Umgekehrt: (81) Ein gut aufgelegter Philipp Schneider bringt Veitsaurach auf die Siegerstraße! (www.djkveitsaurach.de) Durch den Eigennamen wird ein Referent eindeutig identifiziert, dennoch wird der Name hier mit dem unbestimmten Artikel versehen. Der Fußballspieler Schneider wird hierdurch gedanklich in mehrere Persönlichkeiten aufgegliedert - gut oder schlecht aufgelegte, und von allen Philipp Schneiders ist hier der gut aufgelegte gemeint. Nicht immer verweist der bestimmte Artikel auf einen konkreten, identifizierbaren Referenten: (82) Der Letzte macht das Licht aus. Der Satz hat eine spezifische Lesart (82’) und eine unspezifische, auch attributive Lesart genannt (82’’) (82’) Der Letzte macht das Licht aus. Philipp, du bist der letzte, also machst du das Licht aus. (82’’) Der Letzte macht das Licht aus, wer auch immer der Letzte sein wird. Dasselbe Phänomen ist auch mit unbestimmtem Artikel möglich - in (83) wird der Referent indefinit eingeführt, aber dann näher bestimmt, in (84) ist er nicht weiter bestimmbar, weil hypothetisch: (83) Gülcan hat einen Millionär geheiratet, nämlich Sebastian Kamps. (84) Sie [die Braut] hatte ein schickes Kleid an - wenn ich mal heirate (am liebsten einen Millionär - kennt Ihr einen? ), dann will ich auch so ein Kleid tragen. (www.hochz eit-premium.de, 08.08.2013) 70 4 Text und Welt <?page no="71"?> Textwelt- Modell (TWM) Definitheit oder Indefinitheit ist eine grammatische Erscheinung, die noch nichts darüber sagt, ob und in welcher Weise ein Referent identifiziert wird. Die prototypische Lesart indefiniter Ausdrücke ist, dass sie sich auf neue, noch un‐ bekannte Referenten beziehen, die für den Hörer oder Leser nicht identifizierbar sind. Definite Ausdrücke beziehen sich meist auf schon bekannte Referenten, die der Hörer oder Leser identifizieren kann. Ob die spezifische oder die nicht-spezifische Lesart gemeint ist, hat jedoch nicht mit der grammatischen Eigenschaft Definitheit zu tun, sondern mit der Art des gemeinten Referenten. Die Referenten in den unspezifischen Lesarten (82’’) und (84) sind hypothetisch; sie sind abstrakte Konstrukte. Die Referenten in den spezifischen Beispielen (82’) und (83) sind dagegen konkrete Menschen. Wie die Beispiele zeigen, lässt sich nur anhand des Gebrauchs im sprachlichen oder situativen Zusammenhang entscheiden, ob eine spezifische oder unspezifische Lesart gemeint ist. Der bestimmte Artikel in (82’’) erklärt sich logisch: Da immer nur einer der Letzte, Erste, Beste usw. sein kann, ist der Referent logisch gesehen eindeutig bestimmbar; der Leser weiß aber trotzdem nicht, wer es ist oder wer es sein wird. Referenz-Ebene: Indefinit Definit Grammatischsemantische Ebene: Spezifisch Nicht- Spezifisch Spezifisch Nicht- Spezifisch Abb. 2: Veranschaulichung der Beziehung zwischen sprachlicher und referenzieller Ebene Die semantisch-logische Bedeutung von Determinanten spielt also letztendlich eine weniger wichtige Rolle als deren pragmatische Funktion in einer konkreten Situation: Erfolgreiche Referenz ist das Resultat eines kontextabhängigen Prozesses, bei dem Wortbedeutungen, sprachliche und situative Einbettung sowie das Weltwissen der Sprachbenutzer zusammenwirken (s. hierzu Kap. 5.5.2). 4.2 Textwelt-Modelle: Referenzialisierung und Konzeptualisierung Mittels textueller Einheiten und Strukturen vollziehen wir Referenz auf unterschied‐ liche außersprachliche Sachverhalte. Die jeweiligen Sachverhalte werden mittels sprachlicher Textstrukturen auf eine spezifische Weise referenzialisiert. Durch die Re‐ ferenzialisierung bauen wir geistig eine bestimmte Vorstellung von den Sachverhalten, eine Konzeptualisierung, auf. Diese interne, durch die sprachlichen Informationen ver‐ mittelte Sachverhaltsrepräsentation ist das Textwelt-Modell (TWM) eines Textes. Die Textwelt-Modell-Theorie wurde von Schwarz-Friesel entwickelt, um die referenziellen 4.2 Textwelt-Modelle: Referenzialisierung und Konzeptualisierung 71 <?page no="72"?> Strukturen und Prozesse bei der kognitiven und emotionalen Verarbeitung von Texten verstehen und erklären zu können (s. Schwarz 2000, 3 2008, 2011, 2 2013, 2022). Dabei sind Produktions- und Rezeptionsprozess folgendermaßen zu unterscheiden: Konzeptualisierungen gehen im Sprachproduktionsprozess den Verbalisierungen vor‐ aus; der Verfasser eines Textes setzt seine Ideen und Vorstellungen mittels bestimmter Formulierungen um. So wird der Inhalt eines Buches von Margot Käßmann, einer bekannten Theologin, die einige Jahre Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche Deutschlands war, vom Sprachproduzenten in (85) wenig schmeichelhaft mittels der Komposita-Metapher Toastbrot-Theologie negativ als weich und irrelevant bewertet: (85) Die Toastbrot-Theologie der Margot Käßmann (www.welt.de, 22.05.2013) Die zu berücksichtigenden Faktoren im Sprachproduktionsprozess sind: Konzeptualisierung: Am Anfang steht die mentale Repräsentation eines Ob‐ jektes, einer Person oder Sachverhaltes; z. B. Corona als E P ID E MI E , als P LAG E , als F E IND , als K R I S E oder K ATA S T R O P H E , als E R F INDUN G (z. B. im verschwörungsphan‐ tastischen Denken von Corona-Leugnern). Referenzialisierung: Dann erfolgt die spezifische Darstellung des konzeptua‐ lisierten Sachverhalts mittels Sprache (vgl. Objektreferenz, lokale und temporale Referenz), z. B. als Die Pandemie in New York hat Ende März 2020 hohe Todeszah‐ len./ oder Die Seuche tobt in New York Anfang Frühling./ oder Das chinesische Virus aus Wuhan tötet besonders viele New Yorker./ oder Die angebliche Seuche soll in New York wüten. Perspektivierung: Der Sprecher/ Schreiber lässt dabei eine bestimmte Perspektive in die Sachverhaltsrepräsentation einfließen, er stellt Sachverhalte aus einem individuellen Blickwinkel dar. (86) Chinesische Restaurants in den USA stecken in der Krise. Grund dafür ist ausgerechnet die Ausbreitung des Coronavirus. […] Viele Gerüchte, die dem Geschäft schaden, verbreiten sich auch über die sozialen Netzwerke. Da sich das Virus aber in China ausgebreitet hat, leiden Chinesen weltweit. Die Unsicherheit, die viele Menschen gerade spüren, ist ein Nährboden für Ausgrenzung und Rassismus. (https: / / www.stern.de/ genuss/ essen/ coronavirus—so-leiden-chinesische-rest aurants-in-den-usa-unter-dem-virus-9131406.html 12.2.2020) 72 4 Text und Welt <?page no="73"?> Konzeptuali‐ sierung Im Gegensatz zu dieser Perspektivierung auf chinesische Gastronomen in den USA nimmt der Stern einen Monat später die Perspektive der New Yorker ein, die lieber auf Restaurantbesuche verzichten: (87) Die New Yorker sind vorsichtig: Mittlerweile sind über 200 Fälle bestätigt, die an Covid-19 erkrankt sind, die Pandemie ist auch in den USA zum Greifen nahe. (https: / / www.stern.de/ genuss/ essen/ gastronomie—wie-sich-die-new-yorker -gegen-das-coronavirus-wappnen-9180598.html, 13.3.2020) Evaluierung: Eine bestimmte Bewertung wird (implizit oder explizit) sprach‐ lich angezeigt, und zwar oft mittels Attribuierung, d. h. es werden z. B. den Referenten bestimmte Eigenschaften zugesprochen (s. hierzu u. a. pejorative und meliorative Lexeme mit Konnotationen) wie in Die elende Seuche/ das tod‐ bringende entsetzliche Virus/ angsterrregender Verlauf. Im Rezeptionsprozess führen die Formulierungen dann zu spezifischen Konzeptuali‐ sierungen, die auch den kommunikativen Sinn, die Handlungsfunktion des Textes aus Produzentensicht nahelegen (wobei diese jedoch nicht immer deckungsgleich mit denen des Sprachproduzenten sein müssen, da Lesen ein konstruktiver Prozess ist, der viel vom Vorwissen des Rezipienten einfließen lässt; s. Kap. 4.3). Der Leser von (85) erkennt die Kritik an dem Buch, muss diese aber nicht teilen (wenn er das Buch z. B. vorher selbst gelesen hat und es positiv bewertet hat). Wir konzentrieren uns im Folgenden auf den Rezipienten und seine kognitive Aktivi‐ tät beim Aufbau des mentalen Modells. Das TWM baut sich beim Lesen umfangreicher Texte im Kopf des Lesers sukzessiv auf und integriert textinterne und textexterne Informationen. (88) In einer Wohnung in Oberschöneweide ist am Dienstagmorgen ein toter Mann gefunden worden. Ein Mitarbeiter eines Pflegedienstes entdeckte den 62-jährigen Mieter gegen 7.15 Uhr leblos in seiner Wohnung an der Siemensstraße. Die Leiche soll mehrere Messerstiche aufgewiesen haben. Die Mordkommission ermittelt. (Berliner Morgenpost, 18./ 19.05.2013) Bei der Rezeption von (88) erstellen wir zunächst mental die vage Repräsentation eines toten Mannes in einer Berliner Wohnung. Diese Repräsentation wird durch die nachfolgenden Satzinformationen etwas präziser, die Informationseinheit des Textreferenten beinhaltet dann: MANN , 62- JÄH R IG , MI E T E R , T OT , O F F E N S ICHTLICH E R MO R D E T , KÖR P E R MIT ME S S E R S TICH E N . Würde der Text noch Informationen enthalten wie 1,80, 4.2 Textwelt-Modelle: Referenzialisierung und Konzeptualisierung 73 <?page no="74"?> TWM- Aufbau Ebenen von Texten aschgraues Haar, dünn, würde die Repräsentation des Textreferenten im mentalen Modell entsprechend anschaulicher. Lesen wir einen umfangreichen Roman, wie z. B. Die Buddenbrooks von Thomas Mann, baut sich ein sehr komplexes konzeptuelles Netz von Textreferenten in diversen Situationen auf. Zum Schluss ist in unserem Gedächtnis ein TWM zu der Romanwelt aufgebaut, in dem die Mitglieder der Lübecker Kaufmannsfamilie mit ihren spezifi‐ schen Eigenschaften, Erfahrungen und Handlungen repräsentiert sind. Hanno Buddenbrook z. B. wird zunächst im Roman als Textreferent S OHN VO N THOMA S UND G E R DA B UDD E N B R O OK etabliert und dann als konzeptuelle Informationseinheit spezifischer repräsentiert durch Eigenschaften und Aktivitäten wie G O LD B R AUN E A U G E N , H E LL B R AUN E L O C K E N , ZA R T E S K IND , VI E L K R ANK , WE INT O F T , WI R D VO N I DA J UN GMANN B E T R E UT , I S T S E N S IB E L , LI E B T M U S IK , HAT P R O B L E ME MIT V AT E R , I S T L E TZT E R E R B E D E R B UDD E N B R O OK S , L E ID E T UNT E R S T R E N G E M L EH R E R , F R E UND E T S ICH MIT M IT S CHÜL E R K AI G R A F M ÖLLN AN , E R L E B T AL S 15- JÄH R I G E R D E N T OD D E S V AT E R S , L E ID E T AM L E B E N , S TI R B T J UN G AN T Y P HU S . Das TWM stellt eine rein geistige Zwischenebene im Arbeitsgedächtnis (während oder kurz nach der Rezeption) bzw. im Langzeitgedächtnis (auch nach der Rezeption) dar, die durch die Informationseinheiten des Textes aufgebaut wird und Referenten als mentale Einheiten mit ihren Relationen und Aktivitäten sowie ihrer raumzeitlichen Verankerung speichert. Paraphrasieren wir den Terminus TWM aus der Leserper‐ spektive, wird der Zusammenhang der involvierten Komponenten deutlich: Auf der Basis eines bestimmten Textes baut der Leser ein (geistiges) Modell von der im Text beschriebenen Welt auf (s. Schwarz 2000b und 2001. Der Aufbau eines TWM ist daher immer ein integraler Bestandteil jedes Leseprozesses (s. 4.3). Da jeder Leser sein eigenes Vorwissen in den Rezeptionsprozess einfließen lässt und Lesen ein konstruktiver, sogar oft sehr kreativer Prozess ist, kann sein TWM (insbesondere eines literarischen Werkes) anders gestaltet sein als das anderer Leser. So erklärt sich z. B. der Enttäuschungseffekt bei Literaturverfilmungen, den jeder schon erlebt hat: Nach der Lektüre eines Romans, der begeistert hat, freut man sich auf die Verfilmung und ist dann unter Umständen enttäuscht, weil die visualisierte Umsetzung stark abweicht von der eigenen Konzeptualisierung. Um den Aufbau von TWM noch etwas besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf die verschiedenen Ebenen von Texten. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, sind Texte vielschichtige Konstruktionen, die mehrere Ebenen von Informationen beinhal‐ ten, es handelt sich also um komplexe semiotische Gebilde. Das Modell in Abb. 3 zeigt die Strukturierung nach syntaktischen, semantischen und referenziellen Ebenen: 74 4 Text und Welt <?page no="75"?> Proposition reale Welt Text 1 S1 S2 S3 S4 Sätze (Grammatische Textstruktur) P1 P2 P3 P4 Propositionen (Textsemantik) RS1 RS2 RS3 RS4 Textreferenzielle Sachverhalte (TMW) R1 R2 R3 R4 Außersprachliche Welt: Referenten Abb. 3: Veranschaulichung der Verknüpfung von Text und außersprachlicher Welt Jeder Text stellt eine Abfolge von Sätzen (S1, S2 etc.) dar, denen bestimmte semantische Repräsentationen zugeordnet werden, die als semantische Strukturen, in der Linguistik Propositionen (P1, P2 etc.) genannt, beschrieben werden können. Eine Proposition be‐ steht aus einem Prädikat und einem oder mehreren Argumenten: Der Satz Hanno stirbt an Typhus beinhaltet die Proposition (Sterben (Hanno, Typhus)), wobei Hanno seman‐ tisch die Patiens-Rolle und Typhus die Verursacher-Rolle besetzt (s. hierzu Schwarz/ Chur 6 2014: Kap. 2.4). Dabei kann ein Satz (s. S4 im Modell) mehrere Propositionen enthalten: (89) Die Wirtschaftskrise hält die Nation [Großbritannien] trotz zaghafter Aufwärtsten‐ denzen im Griff (P1) und lässt sie bewundernd über den Kanal blicken (P2) - nach Deutschland, das die frühere Besatzungsmacht in vielen Disziplinen abgehängt hat (P3), vor allem aber weiter östlich, in die früheren Kolonien, die ihrem Platz an der Sonne entgegeneilen (P4). (www.faz.net, 08.07.2013) Propositionen, die in ihrer Gesamtheit das textsemantische Potenzial bilden, beziehen sich auf referenzielle Sachverhalte (RS1 etc.) und liefern die Informationen zum Aufbau einer konzeptuellen Referenzialisierungsstruktur, des TWM. Das Textwelt-Modell ist als mentales Konstrukt immer zu unterscheiden von der tatsächlichen, ontologisch realen Weltebene (s. 4.1 zur Unterscheidung von Referenz und Textreferenz). Kritisch zu bedenken ist, ob und inwieweit wir überhaupt etwas objektiv über die „reale Welt“ aussagen können. Der (radikale) Konstruktivismus geht z. B. ganz in der Tradition von Immanuel Kant prinzipiell von der subjektiven Kon‐ struiertheit und Wahrnehmung „der Welt“ aus. Dennoch vermögen wir natürlich im Alltagsleben sehr wohl zwischen Realität, Fiktion und Vorstellung zu unterscheiden: 4.2 Textwelt-Modelle: Referenzialisierung und Konzeptualisierung 75 <?page no="76"?> (Re-)Aktivie‐ rung von Textreferenten Die Realität ist immerhin für unser Verhalten maßgeblich, setzt Orientierungspunkte, regelt gesetzlich den Umgang in der sozialen Interaktion, ist Maßstab all unserer Ent‐ scheidungen. Entsprechend haben wir alle in unserem Langzeitgedächtnis ein Modell der realen Welt abgespeichert, als Resultat unserer Sozialisierung und Teil unseres kollektiven Wissens, das unsere Handlungen und Gedanken bestimmt, unsere Erwar‐ tungen lenkt. Dieses Realitätsmodell steuert auch maßgeblich den Textverstehenspro‐ zess, da wir die Sachverhalte in Texten als Leser stets mit diesem vergleichen und auf seiner Basis Hypothesen über den Fortgang von Ereignissen bilden. Je nach Text weicht die Realität des TWM u. U. sehr stark von unserem Reale-Welt-Modell ab. So werden wir beim Lesen eines Märchens mit Referenten (Hexen, Gnome, Elfen, sprechende Tiere) und deren Handlungen (Fliegen mit Besen, Zaubermantel benutzen etc.) konfrontiert, die nicht dem Normalfall unserer Erfahrung und nicht unserem Wissen von der Welt entsprechen. (90) Dann begann der Spitzhut zu wackeln. Ein Riss nahe der Krempe tat sich auf, so weit wie ein Mund, und der Spitzhut begann zu singen[.] ( Joanne K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen, 130) Den Aufbau des TWM können wir vor dem Hintergrund des Modells in Abb. 3 nun noch etwas genauer beschreiben: Ein wesentlicher Prozess ist die sich kontinuierlich verändernde Repräsentation der Textreferenten. Für die Textlinguistik ist es daher ein wichtiges Anliegen, die sprachliche Einführung und Weiterführung von Textreferenten zu erfassen. In kognitiven Ansätzen werden hierzu die Prozesse von Aktivierung, Re-Aktivierung und De-Aktivierung als Erklärung hinzugezogen (s. Givón 1995 und Schwarz 2000a, b). Wird ein Textreferent erstmalig mittels einer grammatischen Einheit benannt, kommt es zu einer Aktivierung der mentalen Einheit für diesen. (91) Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. ( Joseph Roth, Hiob, 7) Ein bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwähnter Textreferent wird eingeführt und erhält einen Informationsknoten im konzeptuellen Netz des sich aufbauenden Textwelt-Modells. Auf diesen kann fortan erneut Bezug genommen werden, er ist für den Rezipienten nun bekannt bzw. in seinem Arbeitsgedächtnis erreichbar. In Text (91) korreliert die Art der Referenzialisierung mit der Semantik des unbestimmten Artikels (wie wir sie oben beschrieben haben): Indefinite NPs werden benutzt, um neue Referenten in das TWM einzubringen. Entsprechend bezeichnen definite NPs zumeist re-aktiv Textreferenten, die vorher bereits aktiviert wurden: Auf Mendel Singer wird im Folgetext mit definiten Ausdrücken wie er, seinem Haus, der Mann etc. Bezug genommen, dadurch kommt es zu einer Re-Aktivierung. 76 4 Text und Welt <?page no="77"?> (92) Er war fromm, gottesfürchtig gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude. Er übte den schlichten Beruf eines Lehrers aus. In seinem Haus, das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er den Kindern die Kenntnis der Bibel. ( Joseph Roth, Hiob, 7) Die konzeptuelle Einheit von Mendel Singer wird erneut aktiviert, der Textreferent bleibt damit im Fokus der Aufmerksamkeit (s. zu Referenzketten mit Wiederaufnahmen von Textreferenten ausführlich Kap. 5.5). Eine (u. U. temporäre) De-Aktivierung tritt ein, wenn ein anderer Textreferent, z. B. durch den Kindern oder später der älteste Sohn Jonas erwähnt wird. Durch die Aktivierung eines anderen Informationsknotens verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf einen anderen Textreferenten. Der vorher aktivierte Textreferent wird de-aktiviert. Er ist nicht mehr im Fokus, hat aber nun eine kognitive Adresse im Textwelt-Modell und kann jederzeit erneut aktiviert werden. Im Textwelt-Modell hat er daher den Status E R R E ICHBA R . Auch wenn viele Seiten lang über andere Personen geschrieben wird, kann der Leser an diese TWM-Einheit anknüpfen. Die Verteilung von Informationen, der Wechsel von bekannter und unbekannter Referenz spielt eine wichtige Rolle bei der Strukturierung von Texten. Wir werden in Kap. 5.5 noch einmal genauer darauf eingehen. Die folgenden Beispiele zeigen anhand von Textanfängen literarischer Werke, wie vielfältig Figuren der Romanwelten sprachlich auch mittels definiter Ausdrücke eingeführt werden können: (93) Die Klavierlehrerin Erika Kohut stürzt wie ein Wirbelwind in die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt. (Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin, 7) Die Einführung des Textreferenten in (93) erfolgt durch definite NP und Eigennamen, in (94) durch die Nennung des Vornamens: (94) Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen. (Uwe Johnson, Mutmassungen über Jakob, 7) In (93) und (95) erfährt der Rezipient erstmals durch eine definite NP, in (96) durch ein Personalpronomen vom jeweiligen Textreferenten. (95) Die Wahnsinnige kauerte, wie das so ihre Art war, oben auf dem Schranke und lachte. (Klaus Mann, Maskenscherz, 63) (96) Er stand vom Schreibtisch auf, von seiner kleinen, gebrechlichen Schreibkommode, stand auf wie ein Verzweifelter […] (Thomas Mann, Schwere Stunde, 364) 4.2 Textwelt-Modelle: Referenzialisierung und Konzeptualisierung 77 <?page no="78"?> Kotext automatischer Prozess Diese Einführungen versetzen den Leser unvermittelt in die Romanwelten und die Verfasser dieser Texte setzen offensichtlich voraus, dass diese Initial-Referenzialisie‐ rungen akzeptiert werden, zumal sie die Spannung erhöhen. Die Repräsentationen eingeführter Textreferenten, aber auch referenzieller Sach‐ verhalte, können sich durch weiterfolgende Informationen verändern, d. h. präziser werden. (97) Sie arbeitete schwer. Auf der Bühne verausgabte sie sich und gab alles. Die 36-jährige Opernsängerin sah ihren Beruf als Berufung. (98) Sie arbeitete schwer. Die Büroböden waren nicht leicht zu reinigen. Die 64-jährige Putzfrau säuberte die Parkettböden. (99) Sie arbeitete schwer. Das Buchmanuskript nahm langsam Gestalt an. Die Professo‐ rin saß jeden Tag bis zu acht Stunden am PC. In (97), (98) und (99) sehen wir am Anfang des Textes ein und denselben Satz mit der Proposition (Arbeiten (Sie (schwer))). Die Satzsemantik vermittelt zunächst nur eine relativ vage mentale Sachverhaltsrepräsentation, die man als lexikalische Bedeutung ‚eine weibliche Person vollzieht eine anstrengende Tätigkeit‘ paraphrasieren kann. Die aktuelle Bedeutung aber verändert sich nach der Rezeption der weiteren Sätze jeweils maßgeblich durch den Kotext, d. h. die sprachliche Umgebung: In (97) wird sie im TWM als DI E 36- JÄH R I G E O P E R N SÄN G E R IN S IN G T …, in (98) als DI E 64- JÄH R I G E P UTZ F R AU SÄU B E R T E … und in (99) als DI E P R O F E S S O R IN S A S S S CH R E IB E ND … repräsentiert. Referenzielle Lesarten in Texten entstehen nicht durch bloße Aktivierung lexikali‐ scher Bedeutungen oder Analyse von Propositionen, sondern durch einen vom Ko- und Kontext gesteuerten Prozess, bei dem relevante semantische Merkmale ausgewählt und Repräsentationen spezifiziert werden. Der Rezipient präzisiert aber nicht nur, wenn er Texte liest, er füllt auch Lücken, verbindet Informationen miteinander und erweitert das TWM maßgeblich durch die Konstruktion von Wissenseinheiten, wie wir im folgenden Kapitel zur Auflösung von Unterspezifikation zeigen werden. 4.3 Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration 4.3.1 Zur Konstruktivität des Rezipienten: Lesen als aktiver Gedächtnisprozess Textverstehen ist keineswegs durchweg ein kontrollierter Prozess, d. h. ein bewusster, von uns steuerbarer Vorgang, sondern zu einem großen Teil auch ein automatischer kognitiver Prozess, der sich der willentlichen Beeinflussung entzieht. Testen wir das kurz: Konzentrieren Sie sich jetzt bitte einmal darauf, das nächste Textbeispiel nicht zu verstehen, also verstehen Sie jetzt NICHT, was Sie nun lesen: 78 4 Text und Welt <?page no="79"?> Bottom-up- und Top-down- Prozess Wortverstehen (100) Textverstehen läuft wie ein Reflex ab. Wenn wir über die entsprechende Lesekom‐ petenz verfügen, ordnen wir sprachlichen Einheiten und Strukturen automatisch Bedeutung zu. Verhindern können wir dies nicht (es sei denn, wir machen die Augen zu), wie wir gerade an diesem Beispiel erleben. Sprachrezeption verläuft so schnell, weil ein Großteil der involvierten Prozesse auto‐ matisch abläuft. Worterkennung dauert ca. eine Fünftelsekunde, und in ca. 15 Sekunden überfliegen wir einen Text von neun Sätzen. Es gibt mittlerweile viele theoretische und empirische Untersuchungen zum Verstehensprozess (s. zu einem Überblick z. B. Müller 2013). Wir konzentrieren uns in diesem Kapitelabschnitt auf die textlinguistisch relevante Dimension des satzübergreifenden Lesens, müssen aber auch auf den Aspekt der Wortverstehens eingehen, da dieser das satzübergreifende Verstehen determiniert. Lesen beinhaltet stets die Aufnahme und Verarbeitung vieler unterschiedlicher Informationen. Das Modell in Abb. 3 hat bereits drei Ebenen gezeigt. Wir lesen Bündel von Buchstaben als Wörter, erkennen deren Bedeutung und ihren Zusammenhang in Phrasen und Sätzen, dies ist die textgrammatische Ebene. Den Sät‐ zen ordnen wir auf textsemantischer Ebene Bedeutung in Form von Propositionen zu, woraus auf textreferenzieller Ebene Repräsentationen von Objekten und Sachverhalten im TWM entstehen. Aber all diese datengeleiteten sog. Bottom-up-Prozesse („von unten nach oben“, quasi vom Papier in den Kopf) werden immer zugleich durch wissensgeleitete Top-down-Prozesse mitbestimmt, also durch Prozesse, die (Welt-)Wissen aus unserem Langzeitgedächtnis aktivieren und in den Verstehensprozess einbringen („von oben nach unten“, vom Kopf aufs Papier, sozusagen). (101) Gmäeß eneir Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät, ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wrot snid, das ezniigte was wcthiig ist, ist dass der estre und der leztte Bsstabchue an der ritihcegn Pstoiion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sien, tedztorm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, wiel wir nciht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als gseatems. Die in (101) angesprochenen Studie hat es nicht gegeben (und Rayner et al. 2006 haben anhand einer tatsächlich stattgefunden (Blickbewegungs-)Analyse gezeigt, dass solche formalen Veränderungen zu Verzögerungen im Lesefluss führen (können), aber wir haben im Selbsttest gesehen, wie schnell wir den Text trotz der vertauschten Silben lesen konnten. Dass wir Wörter als Einheiten wahrnehmen und nicht Buchstabe für Buchstabe lesen, wird von der Fähigkeit bestimmt, in unserem mentalen Lexikon Wor‐ teinträge als Lexeme (d. h. als Form-Bedeutungs-Einheiten) aktivieren zu können. Worterkennung und Wortverstehen hängen aber nicht nur von der Aktivierung der Lexeme im LZG ab, sondern wird auch maßgeblich von anderen Variablen beeinflusst: z. B. spielt die Frequenzialität (d. h. die Auftretenshäufigkeit und Gebräuchlichkeit) des jeweiligen Wortes eine Rolle (so wird z. B. ein frequentes Wort wie Haus einige Milli‐ sekunden schneller erkannt als ein kaum benutztes Wort wie Hydrant). Der Kotext und 4.3 Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration 79 <?page no="80"?> konzeptuel‐ ler Skopus kognitive Domäne Priming inhaltlich orientiertes Textdie Vorhersagbarkeit von Wörtern sind wichtig: Vgl. Der leckere Ku. Hier haben Sie mit Sicherheit das Lexem Kuchen aktiviert und nicht etwa Kuh, Kunst oder Kult. Bei einer Phrase das laut bellende Tier haben Sie Tier automatisch als HUND repräsentiert, also eine Spezifizierung vorgenommen. Die Bildhaftigkeit eines Wortes kann das Verstehen beeinflussen: Ein Konkretum wie Blumenwiese wird anders repräsentiert als ein un‐ anschauliches Abstraktum wie Wirtschaftskonsolidierung. Für das satzübergreifende Lesen ist zudem auch der kognitionsinhärente Kontext von Lexemen relevant: Jedes Lexem hat einen konzeptuellen Skopus, ein Umfeld von semantisch ähnlichen Wörtern im Lexikon. Das Lexem und die daran angeknüpften Lexikoneinträge sowie Konzepte bilden eine kognitive Domäne (s. Schwarz 3 2008: 38 f.). Das Lexem Universität (mit der Kernbedeutung ‚ist eine Lehr- und Lerninstitution‘) ist im Langzeitgedächtnis (LZG) nicht isoliert abgespeichert, sondern verbunden mit Lexemen wie Hörsäle, Vorlesun‐ gen, Studierende, Lehrende, Präsident, Mensa, Prüfungen etc. Wenn das Wort Universität gelesen wird, werden diese Einheiten latent mitaktiviert. Diese Aktivierung läuft in der Regel unbewusst ab, doch sowohl Lesezeitexperimente als auch Priming-Experimente mit lexikalischen Entscheidungsaufgaben sowie EKP-Untersuchungen belegen den Einfluss solcher Aktivierungsausbreitungen (spreading activation) auf die Textverar‐ beitung (s. hierzu das Kap. 2.4 über Methoden): Das vorherige Lesen des Prime-Wortes Kankenschwester z.B. verringert die Lesezeit von Arzt und beschleunigt die Beantwor‐ tung der Frage, ob Arzt ein Wort des Deutschen ist. Diese Effekte sind bei einem Prime-Wort wie Brot oder Zirkus in Bezug auf Arzt nicht zu beobachten (sehr wohl aber entsprechend in Bezug auf semantisch verwandte Wörter wie Butter bzw. Clown). Auch ohne solche Experimente sehen wir im alltäglichen Leseprozess, wie unser satzüber‐ greifendes Textverstehen durch Bedeutungsvoraktivierungen beeinflusst wird, wie unsere Erwartungen hinsichtlich des Fortgangs in Texten gesteuert werden. (102) Weil es einem Mathematik-Professor an der Uni Rostock bequem erschien, filmte er seine Studenten während einer Prüfung und projizierte die Bilder auf die Leinwand des Hörsaals. (www.spiegel.de, 20.02.2012) - (103) ? ? Weil es einem Bäckermeister an der Uni Rostock bequem erschien, filmte er seine Fahrgäste während eines Konzerts und projizierte die Bilder auf die Grabsteine des Wasserwerks. (102) entspricht der Erwartungshaltung, die durch Professor und Uni ausgelöst wird, (103) dagegen erscheint uns als seltsam (und wird daher mittels der Fragezeichen als ungewöhnlicher, nicht akzeptabler Text ausgezeichnet). Wir werden im Kapitel über Kohärenz und Anaphorik auf die Relevanz kognitiver Domänen noch einmal näher eingehen. Bedeutungsaktivierung und Aktivierungsausbreitung im Langzeitgedächtnis ist nicht die einzige Dimension des Textverstehens, wenngleich die wichtigste, denn Lesen ist normalerweise inhaltsorientiert: Versuchen Sie, sich zu erinnern und zu beschreiben, was Sie im letzten Textabschnitt gelesen haben! Können Sie sich an den genauen Wort‐ 80 4 Text und Welt <?page no="81"?> verstehen Gedächtnis‐ modell Arbeitsgedächtnis laut erinnern und die exakte grammatische Struktur rekonstruieren? Sicher nicht, denn die Kapazitätsspanne des Kurzzeitgedächtnis, Speicher für sprachliche Repräsentatio‐ nen, ist sehr begrenzt: Nur die letzten beiden Sätze sind für wenige Sekunden auch der Form nach abrufbar (s. Schwarz 3 2008: 188 f.). Die sprachlichen Informationen gehen bereits nach einer relativ kurzen Zeitspanne (von ca. 20 Sekunden) in das Arbeitsge‐ dächtnis über, wo sie nur noch dem Inhalt nach mental repräsentiert sind. Normaler‐ weise ist Textverstehen also tiefenorientiert, d. h. semantisch ausgerichtet, aber es kann auch oberflächlich verlaufen, z. B. beim Korrekturlesen. Alle Sprachverarbeitungspro‐ zesse sind von der Funktionsweise des Gedächtnisses abhängig. Das Gedächtnis wird in der Forschung meist als Mehr-Speicher-System in Form von Kästenmodellen dar‐ gestellt (s. hierzu auch Baddeley et al. 2009): Informationen Sensorisches Gedächtnis (UKZG) Kurzzeitgedächtnis (KZG) Arbeitsgedächtnis (AG) Langzeitgedächtnis (LZG) Abb. 4: Mehr-Speicher-Modell des Gedächtnisses Die durch den Rezipienten aufgenommenen Informationen gelangen zunächst in das sensorische Gedächtnis oder Ultrakurzzeitgedächtnis (UKZG), das viele Einheiten für sehr kurze Zeit aufnehmen kann. Wird die Bewusstseinsschwelle überschritten (je nach akustischem oder visuellem Reiz sind hierfür wenige Millisekunden Wahrneh‐ mung nötig, s. Pöppel 1985), werden die Informationen in das Kurzzeitgedächtnis überführt, dem Speicher für bewusste und kontrollierte kognitive Verarbeitung. Das KZG ist in seiner Kapazität begrenzt und kann nur ca. sieben Einheiten (z. B. sieben Wörter, sieben Bilder; s. Miller 1956) fassen: Eingegangene Informationen werden, sollte die Speicherkapazität ausgeschöpft sein, bereits nach ein paar Sekunden durch neue Informationen verdrängt und an die nächste Gedächtnisebene weitergeleitet (vgl. Baddeley et al. 2009: 9). Während die meisten Gedächtnismodelle drei Verarbeitungs‐ ebenen, UKZG, KZG und LZG, unterscheiden, nehmen wir noch eine vierte Ebene an, das Arbeitsgedächtnis (AG), als „[…] memory system, that underpins our capacity to ‘keep things in mind’ when performing complex tasks.“ Baddely et al. (2009: 9). Das Arbeitsgedächtnis ist semantisch ausgerichtet und fungiert als eine Art Vermittler zwi‐ schen KZG und LZG (vgl. Schwarz 3 2008: 104). Das AG repräsentiert Wahrgenommenes einige Stunden oder Tage in einem (inhaltsorientierten) Interimsspeicher, bevor die Informationen entweder in das LZG (den Speicher für dauerhafte Repräsentationen) überführt oder vergessen werden. Stellen wir uns dies ganz konkret vor: Lesen wir einen Roman, so liegt unsere Aufmerksamkeit, unsere bewusst kontrollierbare kogni‐ tive Aktivität jeweils auf den gerade online rezipierten Sätzen, die im KZG präsent sind. Diese werden im Leseprozess sukzessive immer wieder durch neue Sätze verdrängt. Die bereits gelesenen Sätze verschwinden jedoch nicht sofort wieder kognitiv, sondern werden im AG nach ihrem semantischen Gehalt gespeichert und konzeptuell plausibel aufeinander bezogen. Für den Aufbau von Textwelt-Modellen ist das AG daher von 4.3 Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration 81 <?page no="82"?> referenzielle Unterspezi‐ fikation herausragender Bedeutung, denn es koordiniert die Aufnahme und Integration von referenziellen Informationen (s. hierzu auch Kap. 5.5). Haben wir den Roman zu Ende gelesen, gehen bestimmte, besonders relevante Informationen des TWM in das LZG über, andere werden vergessen. Wenn wir Texte lesen und ein TWM aufbauen, nehmen wir keineswegs einfach nur die Informationen auf und analysieren sie, sondern wir sind geistig sehr aktiv, ohne dass uns dies immer bewusst wird. Diese kognitive Aktivität ist erforderlich, da die meisten Texte referenziell unterspezifiziert sind, d. h. die grammatische Oberfläche des Textes nicht immer alle Einheiten und Relationen informationell abbildet, die zur Er‐ stellung des Sachverhalts notwendig sind. Beispielsweise werden Textreferenten nicht explizit erwähnt oder nur vage referen‐ zialisiert: (104) Uschi Rattmann (65) rührt gedankenverloren in ihrem Tee. (www.nordbayern.de, 24.02.2013) Wenn wir (104) lesen, stellen wir uns automatisch und unbewusst vor, dass zum Rühren ein Teelöffel benutzt wurde, das TWM wird also um die Instrument-Rolle elaboriert (lat. „ausgearbeitet“), also erweitert. Dies entspricht auch unseren Erwartungen an die Gültigkeit des Kooperationsprinzips: Alltägliche, gewöhnliche Sachverhalte, die wir aus eigenem Weltwissen rekonstruieren können, müssen im Text nicht extra erwähnt werden. Wenn, andererseits, ein außergewöhnlicher Sachverhalt vorläge - Frau Rattmann rührt mit ihren Fingern oder einer Papierschere im Tee -, würden wir erwarten, dass der Verfasser uns diesen nicht verschweigt. Da hier zum Vorgang des Rührens nichts weiter erwähnt ist, gehen wir davon aus, dass der Normalfall vorlag, den wir aus Erfahrung kennen. (105) Zahlreiche Unfälle auf spiegelglatten Straßen Solingen (RP). Der erneute Wintereinbruch hat ab Montagnachmittag für teilweise chaotische Verhältnisse auf den Solinger Straßen gesorgt. Zwischen 16.50 und 22.30 Uhr registrierte die Polizei 21 Unfälle. „Wir sind seit 17 Uhr fast durchgehen[d] im Einsatz“, sagt Alexander Herpich als zuständiger Bereichsleiter bei den Technischen Betrieben Solingen. Glücklicherweise blieb es bei den Unfällen bei Blechschäden, die Polizei bezifferte den Sachschaden auf 48.050 Euro. (www.rp-online.de, 12.03.2013) Zu dem Text von (105) entsteht im Kopf des Lesers ein TWM, in dem chaotische Verkehrsverhältnisse auf winterlichen Straßen repräsentiert sind. Nicht genannt sind in (105) jedoch die Referenten, die die Unfälle verursacht haben, nämlich Menschen und ihre Autos, Busse, Motorräder etc. Natürlich werden diese aber (als F AH R E R und F AH R Z E U G E ) - ebenfalls automatisch und unbewusst - in das TWM eingesetzt. Zugleich werden zahlreiche nicht verbalisierte Beziehungen aufgebaut und Spezifizierungen vorgenommen: Spiegelglatt sind die Straßen aufgrund von Eis und Schnee (und nicht 82 4 Text und Welt <?page no="83"?> Kapitälchen Instanziie‐ rung aufgrund von ausgelaufenem Motoröl), Blechschaden entstand an den Fahrzeugen (und nicht etwa an der Straße selbst). Ähnlich ist es bei (106): (106) Mann sollte Verkehrsstrafe zahlen - Er stand im Stau und ließ seinen Sohn aussteigen (www.shortnews.de, 08.07.2011) Beim Aufbau des TWM von (106) (re-)konstruieren wir im Leseprozess automatisch die grammatisch nicht ausgedrückten Informationen: Entsprechend repräsentiert das mentale Sachverhaltsmodell in unserem Arbeitsgedächtnis den Mann als S A S S AU F S ITZ IM AUT O AU F E IN E R S T R A S S E MIT VI E L E N AND E R E N F AH R Z E U G E N , OHN E DA S S B EWE G UN G S TATT ‐ F AND UND LI E S S MITT E N AU F F AH R BAHN S E IN E N S OHN AU S D EM AUTO AU S S T E IG E N . Wir etablieren auch eine kausale Relation zwischen den Sachverhalten des ersten und des zweiten Satzes: WE IL DI E S E S AU S S T E I G E NLA S S E N V E R K EH R S WID R I G I S T . Man zeigt in der textlinguisti‐ schen Analyse die referenzielle Unterspezifikation an, indem in Klammern die kon‐ zeptuell mitzudenkende Information in Kapitälchen aufgeführt wird. (106‘) Mann sollte Verkehrsstrafe zahlen ( F Ü R E I N V E R K E H R S D E L I K T ) - Er ( D E R V O R E R WÄH N T E M A N N ) stand im ( V E R K E H R S )Stau ( MI T S E I N E M A U T O ) und ließ seinen Sohn ( D E R M I T D E M V A T E R I M A U T O W A R ) aussteigen ( U N D Z W A R MI T T E N A U F D E R S T R A S S E ). Lesen Sie nun (107) und überlegen sie, inwiefern Überschrift und Text unterspezifiziert sind und welche Elaboration Sie unter Nutzung Ihres Weltwissens vollziehen. Inwie‐ weit werden Ihre Elaborationen durch den jeweils nachfolgenden Text bestätigt? (107) Bellender Hund: Kinder flüchten auf Baum WEINGARTEN/ sz Drei Kinder sind am Donnerstagabend in der Hähnlehofstraße in Weingarten auf der Flucht vor einem Hund auf einen Baum geklettert. Um 19 Uhr meldete sich ein zehnjähriger Junge über Handy bei der Polizei. Er teilte mit, dass er und seine zwei Freunde vor einem großen schwarzen Hund auf einen Baum geflohen seien. Sie würden sich nicht mehr herunter trauen, da der Hund unter dem Baum sitze und sie anbelle. Als die Polizisten kurze Zeit später vor Ort eintrafen und sich dem schwarzen Schäferhundmischling näherten, bellte er die Polizisten ebenfalls an. Zu diesem Zeitpunkt kam der Besitzer des Tieres hinzu. Er rief den Hund sofort zu sich. Den Kindern war nichts passiert und sie konnten den Baum wieder verlassen. Den Halter des Hundes erwartet nun eine Anzeige, da er seinen Hund hatte unbeaufsichtigt laufen lassen. (www.schwaebische.de, 07.05.2010) Wahrscheinlich haben Sie schon beim Lesen der Überschrift eine sogenannte Instan‐ ziierung vorgenommen, d. h. Sie haben für den relativ unspezifischen Ausdruck bel‐ lender Hund einen konkreteren Textreferenten eingesetzt. Diese Instanziierung bildet eine Grundlage für den folgenden Aufbau des TWM: Der Hund ist sicher kein Zwerg‐ pudel, sondern ein großes Exemplar einer möglicher Weise gefährlichen Rasse (also auch kein Bernhardiner), denn Sie haben auch inferenziell elaboriert, dass die Kinder 4.3 Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration 83 <?page no="84"?> Auflösung von Unter‐ spezifikation aus Furcht vor dem Hund auf einen Baum geklettert sind. Diese kausale Relation wurde nicht explizit genannt. Im nachfolgenden Text werden diese Lese-Hypothesen bestä‐ tigt: Zunächst ist von einem großen schwarzen Hund die Rede, drei Zeilen später wird dieser Hund genauer als schwarzer Schäferhundmischling spezifiziert. Diese weiterge‐ hende Spezifikation wird durch einen Perspektivenwechsel ermöglicht: Der Hund wird nicht mehr aus der Perspektive der Kinder beschrieben, sondern aus der der Polizei. Dass die Flucht aus Furcht geschah und nicht etwa im Rahmen eines Räuber-und-Gen‐ darm-Spiels, wird durch die Textstelle nicht mehr herunter trauen bestätigt. Die Repräsentation des TWM ist somit oft weit komplexer als die im Text gegebene Information, da nicht immer grammatisch und lexikalisch ausgedrückt wird, wer bei Sachverhalten involviert ist, wovon ein Gegenstand ein Teil ist, wann, wo und warum eine Handlung ausgeführt wird usw. Diese nicht erwähnten Referenzobjekte und -rela‐ tionen „denken wir mit“. Dadurch ergänzen wir die semantische Textrepräsentation um konzeptuelle Einheiten. Wir füllen Lücken, etablieren Relationen, lösen Ambiguitäten auf. Die Befähigung zu dieser konzeptuellen Elaboration ist Teil unserer Text- und Lesekompetenz. Fassen wir nun die an den Beispielen erörterten Phänomene zusammen: In einem Text T1 besteht referenzielle Unterspezifikation, wenn zwischen den Propositionen P1 und P2 etc. der Sätze S1 und S2 etc. keine explizit im Text verbalisierte Relation besteht und/ oder die grammatisch ausgedrückte Bedeutungsrepräsentation nicht alle referen‐ ziellen Werte enthält, die zur (vollständigen) Sachverhaltsrepräsentation des TWM ge‐ hören. Die wesentlichen kognitiven Strategien, die benutzt werden, um referenzielle Unterspezifikation in Texten aufzulösen, lassen sich wie folgt kategorisieren: ● Spezifizierung: Es handelt sich um Instanziierungen, die spezifische Lesarten durch kontextuell bestimmte Kategorisierungen der Art ( X I S T E IN Y ) erzeugen. So werden Vagheiten aufgelöst und Präzisierungen von nicht näher charakterisierten Referenten vorgenommen. Je nach Text wird z. B. die Bedeutung des Lexems Vogel einmal durch die Instanz AM S E L (Der Vogel vor meinem Fenster singt so schön), ein anderes Mal durch AA S G E I E R (Die Vögel kreisten über den Verdurstenden) besetzt, s. auch (107). ● Hinzufügung: Dies sind referentenkonstituierende Prozesse der Art ( B E S E TZ E DI E R O LL E X MIT R E F E R E NT R ), die zur Aktivierung/ Konstruktion von nicht genannten Referenten und deren Repräsentation im TWM führen; s. (104) und (105). ● Verbindung: Konnexivitätsoperationen (der Art ( V E R BIND E R 1 UND R 2 DU R CH DI E R E LATION X )) setzen referenzielle Objekte und/ oder Sachverhalte in eine sinnvolle (d. h. im jeweiligen Textwelt-Modell plausible) Beziehung zueinander; s. (106). Das folgende Modell zeigt noch einmal anschaulich die Interaktion von Bottom-up- und Top-down-Prozessen bei der Elaboration: 84 4 Text und Welt <?page no="85"?> Inferenz Inferenz vs. semanti‐ scher Prozess KONZEPTUELLES WISSEN UND KOGNITIVE STRATEGIEN Werden angewandt zur Elaboration Top-down-Prozess TEXTWELTMODELL Hat semantisches und referenzielles Potential Bottom-up-Prozess TEXTOBERFLÄCHE Abb. 5: Ebenen in der Textwelt-Modell-Theorie Im Leseprozess verarbeiten wir bottom-up die grammatisch-lexikalischen Informatio‐ nen des Textes, aktivieren aber zugleich auch von Anfang an top-down konzeptuelles Wissen aus dem LZG. Diese Top-down-Prozesse spezifizieren vage Bedeutungen, verbinden Propositionen miteinander und füllen referenzielle Lücken, elaborieren also maßgeblich die textsemantische Basis des Textes. Die Interaktion von text- und wissensgeleiteten Prozessen führt zum Aufbau eines spezifischen Textwelt-Modells. 4.3.2 Die Rolle des Weltwissens beim Textverstehen: Schemata, Skripts und Inferenzen Prozesse, die nicht im Text verbalisierte Bezüge durch Weltwissensaktivierung her‐ stellen, werden in der Forschung generell Inferenzen (oder Brückenprozesse) genannt. Nicht alle Elaborationen sind jedoch Inferenzen. Inferenzen sind ein bestimmter Typ von Elaborationsprozessen: Der Terminus kommt von lat. inferre „hineintragen“: Welt‐ wissen wird in den Text hineingetragen. Inferenzen sind Schlussfolgerungen, die beim Lesen top-down gezogen werden und neue Informationen schaffen; sie erzeugen also Repräsentationen für das TWM, die sich nicht aus der Textsemantik ergeben, sondern aus der Aktivierung von außersprachlichem Wissen im LZG. Im Gegensatz dazu sind die in 4.3.1 erörterten Präzisierungen und das Einsetzen nicht erwähnter Referenten durch Rollenaktivierungen semantische Prozesse: Sie basieren auf unserer lexikali‐ schen Kompetenz, denn hier werden verbsemantische Rollen durch Aktivierung der Lexikoneinträge gefüllt (rühren enthält die Rolle ‚Instrument‘) und (text)semantische Klassifikationen vorgenommen. Dies sind vorhersagbare Informationen, die sofort re‐ konstruierbar sind: (108) Im Mittelpunkt [des Werbespots] steht ein Bäcker, der einen Teig rühren will. Doch mittendrin geht ihm der Mixer kaputt. (www.wuv.de, 07.12.2012) 4.3 Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration 85 <?page no="86"?> Rückwärts- Inferenz Vorwärts- Inferenz Den Unterschied zwischen Inferenzprozessen und semantischen Prozessen kann man sich an den folgenden Beispielen klar machen: (109) Die Millionärin lag drei Tage lang tot in ihrer Wohnung. Der Mörder hatte sie mit einem riesigen Plastikbeutel umschnürt. Die Proposition des ersten Satzes gibt keine Auskunft über die Todesursache der Mil‐ lionärin. Im zweiten Satz erfährt der Leser dann, dass die Frau umgebracht wurde. Diese Information bringt eine nicht antizipierbare Information in das TWM. Der Leser muss die rückwärts gerichtete Inferenz DI E MILLIO NÄR IN WU R D E UMG E B R ACHT ziehen. (109‘) Die Millionärin wurde in ihrer Wohnung ermordet. Der Mörder hatte sie mit einem riesigen Plastikbeutel umschnürt. Bei (109‘) wird bereits durch das Verb ermordet auf die Art des Todes hingewiesen. Die NP der Mörder bringt keine neue Information in das TWM, obgleich der Textreferent als solcher noch nicht explizit erwähnt wurde (s. hierzu die indirekten Anaphern in 5.5), denn die verbsemantische Struktur von ermorden enthält eine Agens-Rolle. Bei einer Schlagzeile wie (110) Frau springt aus 23. Stock. (www.bild.de, 25.01.2011) entsteht im Kopf des Lesers sofort die inferenzgesteuerte Hypothese, dass die Frau dieses Ereignis nicht überlebt haben wird. Dieses Wissen ergibt sich nicht aus der Textinformation, sondern einer Schlussfolgerung mit Rekurs auf das im LZG gespei‐ cherte Erfahrungswissen mit der vorwärts gerichteten Inferenz: S I E S CHLU G AU F D EM B OD E N AU F UND V E R L E TZT E S ICH AU F G R UND D E R E NO R ME N HÖH E TÖDLICH . Der Leser antizipiert mit einer solchen Inferenz den weiteren Verlauf des Textes (wird jedoch bei (111) wi‐ derlegt): (111) Sie stürzte in ein Taxi, überlebte: Das Wunder von Buenos Aires. (www.bild.de, 25.01.2011) Inferenzen können automatisch aktiviert werden, aber auch kontrolliert und strate‐ gisch eingesetzt werden (z. B. bei Verständnisschwierigkeiten oder beim Interpretieren von Texten; s. hierzu Kap. 6.2). Ob und wie viele Inferenzen online beim Textverstehen gezogen werden (oder viele von ihnen erst offline, d. h. nach dem Lesen), wird in der Forschung kontrovers diskutiert (ein minimalistischer Ansatz ist von McKoon/ Ratcliff 1992, für die Gegenposition s. Singer et al. 1994). Unumstritten ist, dass Inferenzen sich nicht ohne Bezug auf konzeptuelles, enzy‐ klopädisches Weltwissen ziehen lassen. In der Text- und Kognitionswissenschaft 86 4 Text und Welt <?page no="87"?> Schema Defaults Frame und Sktipt beschäftigt man sich daher seit Jahrzehnten mit der Frage, wie Weltwissen im LZG repräsentiert ist und auf welche Weise es von dort im Verstehensprozess abgerufen wird. Die diversen Ansätze, die es mittlerweile hierzu gibt, haben alle gemeinsam, dass sie die Konstruktivität des Rezipienten und die Relevanz des Weltwissens betonen, wenngleich sie zum Teil andere Fachtermini benutzen (vgl. u. a. Schema-Theorie, Alba/ Hasher 1983; Skript-Ansatz, Schank/ Abelson 1977; Strategie-Theorie, van Dijk/ Kintsch 1983; Strukturaufbau-Modell, Gernsbacher 1995; Scenario-Theorie; Sanford/ Garrod 1981). Eine grundlegende Annahme ist, dass unser Weltwissen langfristig in Form von komplexen konzeptuellen Organisationseinheiten gespeichert ist, sogenannten men‐ talen Schemata (s. zu einem Überblick Schwarz 3 2008: 3.3.2.2). Schemata repräsentieren Standardsituationen oder -handlungen aus der Erfahrungswelt in Form von Konzepten und Konzeptverknüpfungen. Z. B. enthält das Schema zu K R ANK E NHAU S Konzepte wie P ATI E NT E N , ÄR ZTIN / A R ZT , K R ANK E N S CHWE S T E R N , M E DIZIN , O P E R ATION , die miteinander durch spezifische Relationen verbunden sind, z.B. ÄR ZTINN E N / ÄR ZT E FÜH R E N O P E R ATIO N E N AN P ATI E NT E N AU S . Die einzelnen Bestandteile der Schemata sind im LZG gespeichert als Variablen oder „Slots“ und gefüllt mit Standardwerten, sogenannten Defaults, die so‐ zusagen den Normalfall darstellen, also typische Charakteristika einer Situation. Im Verstehensprozess werden diese Variablen mit konkreten Werten (engl. „fillers“, Füll‐ werte) besetzt. (112) Das Essen im Restaurant war gut […]. Der Gast bittet um die Rechnung. Doch die lässt länger auf sich warten als die Mahlzeit dauerte. (www.berlin.de) Zwei verschiedene Arten von Schemata sind grundlegend zu unterscheiden: Es gibt statische (deklarative) Schemata (engl. Frames, also Rahmen; s. hierzu auch Konerding 1993) und dynamische, prozedurale Handlungsschemata (Skripts, die auch Handlungs‐ abläufe repräsentieren). So beruht die Vorstellung eines Universitäts-Campus mit sei‐ nen Gebäuden auf einem Frame; sie umfasst keine Handlungselemente. Im Gegensatz dazu ist ein Vorlesungsbesuch oder eine Prüfung als Script repräsentiert, denn hier geht es um Veränderungen in Raum und Zeit, also um Handlungen. Scripts speichern also wie Drehbücher bestimmte Handlungsabfolgen. Ein Skript VO R L E S UN G S B E S U CH setzt sich aus Teil-Skripts zusammen, aus einzelnen Szenen wie ÜB E R D E N CAM P U S G E HE N , E IN E N P LATZ IM HÖR S AAL S U CHE N , MIT S CH R E IB E N . Diese Szenen enthalten statische Schemata wie CAM P U S , HÖR S AAL G E BÄUD E , HÖR S AAL , KLA P P TI S CH ebenso wie P R O F E S S O R / IN , MIT S TUD E NT / IN ; diese dienen als Rollen und Requisiten in der jeweiligen Szene. Der Titel eines Romans kann bereits ein bestimmtes Schema und damit eine Erwartungshaltung aktivieren wie Der Campus (von Dietrich Schwanitz), in dem es um die Abenteuer eines Professors geht. Die Informationen des Textes werden so gelesen, dass sie zu dem jeweils im Text aktivierten Schema passen, die Textreferenten erhalten entsprechend Standard-Rollen zugeordnet. 4.3 Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration 87 <?page no="88"?> (113) Heute in der Uni: Konstanze (Rolle: Studentin) hält bei Manfred Consten (Rolle: Dozent) ein Referat (Requisite: Leistung) im Seminarraum 102 (Requisite: Lokalität). Gibt ein Text explizit ein spezifisches Skript vor, werden Referenten also so konzeptu‐ alisiert, dass sie zu den Standard-Werten des Skripts passen: Wenn im Zusammenhang eines Vorlesungsbesuches in der Geisteswissenschaft von einem Professor die Rede ist, wird man sich darunter eine andere Rolle (Professor spricht über wissenschaftliches Thema) vorstellen als im Krankenhaus-Kontext ( P R O F E S S O R O P E R I E R T UND B E HAND E LT PATI E NT E N ). Ist kein Schema explizit erwähnt, wählt der Rezipient ein passendes aus: (114) Die Schaffnerin kontrolliert die Fahrkarten. Ein Jugendlicher mit iPod-Stöpseln im Ohr beginnt, während sie vor ihm steht, in aller Ruhe alle seine Taschen nach der Fahrkarte abzusuchen, bis er sie schließlich findet und ihr hinhält. (www.blog.zeit.de, 20.06.2013) In (114) wird ein BAHN -Schema aktiviert, obwohl nur einzelne und nicht besonders zentrale Bestandteile davon im Text erwähnt sind. Unter der Annahme, dass die Szene in einem Zug spielt, sind alle eingeführten Textreferenten kohärent in das entstehende TWM zu integrieren. Schemata steuern Hypothesen, die der Leser während des Lese‐ prozesses über den Fortgang der Sachverhalte bildet, die im Text dargestellt werden. So verwundert es uns auch nicht, dass bei (114) die nicht vorerwähnte Fahrkarte definit eingeführt wird (s. hierzu 5.5). Würde an derselben Stelle im Text die Suche nach einer Banane, einem Revolver oder einem Löffel thematisiert, könnten wir diese Textreferenz nicht (ohne zusätzliche kognitive Anstrengung) in das bestehende TWM integrieren. Je nach Text können anstelle der erwartbaren Defaults im Verstehensprozess auch andere Werte eingesetzt werden: (115) Vor einiger Zeit hat ein Arzt die Gewebeproben von Frauen mit Brustknoten manipuliert, worauf diesen Frauen die Brust entfernt wurde, nachweislich nur wegen seines Profites, dieser Arzt sitzt im Gefängnis. (www.implantate.com) Der Textreferent Arzt wird hier durch die Rolle K R IMIN E LL E R spezifiziert. (116) Von außen sah die Klinik aus wie alle staatlichen Gebäude. Die Fensterscheiben waren zerbrochen und der Putz war abgeblättert. Schon vorn am Eingang herrschte ein chaotisches Gedränge. Frauen in der traditionellem schwarzen Mileya gekleidet hockten mit ihren kleinen Kindern und Säuglingen am Boden und warteten scheinbar auf die Aufnahme. Als wir hineingingen, kam in einem schmuddelig aussehenden vormals weißen Kittel eine Schwester auf uns zu […]. Der Professor kam zur Visite. Er meinte alles würde gut verlaufen und kümmerte sich nicht weiter um mein Problem. Er rauchte während seines Aufenthalts bei mir im Zimmer eine dicke Zigarre und Said hielt ihm den Aschenbecher. (www.lattnerursula.npage.de) 88 4 Text und Welt <?page no="89"?> In (116) geht es um den Erfahrungsbericht einer europäischen Patientin in Kairo, in dem insbesondere die Abweichungen zwischen Defaults in Bezug auf die Einrichtung Krankenhaus sowie das Verhalten von Ärzten und den tatsächlichen Zuständen thematisiert werden. Dies zeigt auch, wie maßgeblich Schemata kulturell geprägt sind. Zusammenfassung von 4 Mit Texten wird auf Objekte und Sachverhalte der außersprachlichen Welt referiert. Die Art der Referenz hängt u. a. von den spezifischen Ausdrücken und ihrer Determination ab. Während des Textverstehens bauen Leser ein mentales Textwelt-Modell (TWM) auf. Ein TWM entsteht dadurch, dass zu jeder sprachlichen Äußerung ein passendes mentales Sachverhaltsmodell aktiviert oder konstruiert wird. Textwelt-Modelle stellen kognitive Strukturen dar, die referenzielle Sachverhalte, also Konstellationen von Textreferenten und Relationen zwischen diesen repräsentieren. Der Sprachverstehens‐ prozess ist dadurch charakterisiert, dass Rezipienten (automatisch und unbewusst) solche mentalen Modelle konstruieren. Sprachlich kodierte Information lässt oft ge‐ wisse Aspekte der Referenz offen, d. h. wir stoßen auf referenzielle Unterspezifikation in dem Sinne, dass nicht alle Informationen grammatisch und lexikalisch genannt sind, die erforderlich sind, um eine vollständige Repräsentation der im Text genannten Sach‐ verhalte aufzubauen. Textverstehen umfasst aber eine Reihe von zumeist unbewusst ablaufenden Prozessen, die diese Unterspezifikation auflösen. Kontextuelle Präzisie‐ rung und konzeptuelle Elaboration sowie Inferenzziehung sind wichtige Bestandteile beim Lesen eines Textes und basieren auf dem im LZG gespeicherten Weltwissen, das in Schemata (Rahmen und Skripts) repräsentiert ist. Übungen und Denkanregungen zu 4 1. Geben Sie an, in welchen der folgenden Sätze das Pronomen es ein referenzieller Ausdruck ist, d. h. zur Referenz benutzt wird! (117) Das Kätzchen schnurrt, weil es sich wohl fühlt. (118) Es hat den ganzen Tag geregnet. (119) Es ist kaum zu glauben, dass du das nicht weißt. (120) Es irrt der Mensch, solang er strebt. ( Johann Wolfang von Goethe, Faust I, Prolog im Himmel) 2. Erklären Sie, wie sich die Referenz der unterstrichenen Ausdrücke in Version (121)a von der in Version (121)b unterscheidet! (121) Meine Tochter soll einmal einen Linguisten heiraten … - a) … nämlich Noam Chomsky, denn sie mag ältere Intellektuelle. 4.3 Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration 89 <?page no="90"?> b) … wenn ich mal eine bekommen sollte und wenn es dann über‐ haupt noch Linguisten gibt. 3. Sind die unterstrichenen Ausdrücke koreferent? Welche Schwierigkeit ergibt sich? (122) [Ein Politiker äußert sich empört über das Niveau der Universitäten: ] Universitäten sind ja längst keine Universitäten mehr! 4. Geben Sie an, wo die Texte (123) und (124) referenziell unterspezifiziert sind und welche konzeptuellen Elaborationen im Leseprozess durchgeführt werden müssen, um ein Textwelt-Modell zu erstellen. (123) Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitest Du, Herr? “ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“ „Du kennst also Dein Ziel? “ fragte er. „Ja“, antwortete ich, „ich sagte es doch, ‚Weg-von-hier‘, das ist mein Ziel.“ „Du hast keinen Essvorrat mit“, sagte er. „Ich brauche keinen“, sagte ich, „die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheuere Reise.“ (Franz Kafka, Der Aufbruch) (124) [Überschrift: ] Entführt und getötet. Vor zehn Jahren starb Jakob von Metzler (www.hr-online.de, 27.09.2012) 5. Welche Inferenzen muss der Leser hier ziehen? (125) Dreiste Diebe [Dachzeile] Schild abgesägt, Rad futsch [Schlagzeile] (www.express.de, 21.05.2013) (126) Immer Vorsicht, die Kanten sind scharf, Strom ist da, Wasser auch! Handschuhe anziehen, wenn das nicht zu sehr behindert! (Aus einem Tipp zur Reparatur einer Waschmaschine, www.wer-weiss -was.de, 13.10.2010) 6. Verhält sich ein Sprecher unkooperativ, wenn er in seinem Text nicht alle Informa‐ tionen verbalisiert, also referenzielle Unterspezifikation in Kauf nimmt? Verletzt er damit die Maxime der Informativität? Wie würden Texte aussehen, wenn alle Informationen immer ausbuchstabiert wären? 90 4 Text und Welt <?page no="91"?> 7. Textwelt-Modelle Erklären Sie, inwiefern in den folgenden Texten die Informationen der Textoberflä‐ che elaboriert werden müssen und welches konzeptuelle Wissen dabei angewandt wird! (Ohne Lösungsangabe) (127) [Quizmaster zu Kandidatin: ] Wen hast du mitgebracht? [Kandidatin: ] Heute wieder niemand, der muss zuhause am Architektur‐ tisch sitzen und arbeiten. (Risiko, ZDF, 04.08.1998) (128) [Eine Mieterin will sich über häufigen nächtlichen Lärm beschweren und klebt ihrem Wohnungsnachbarn einen Zettel mit folgendem Text an die Tür: ] Gestern war es wieder halb drei! (Beleg nach Max Goldt) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 4 Die Textwelt-Modell-Theorie ist in Schwarz (2000a, Kap. 2.5-2.6) grundlegend entwi‐ ckelt und in weiteren Arbeiten elaboriert und benutzt worden (z. B. Schwarz-Friesel 2011, 2018, 2022). Zu einem komprimierten Überblick s. Fritzsche (2025). Es gibt noch andere Konzepte und Termini für mentale Textrepräsentationen: John‐ son-Laird (1983) unterscheidet zwischen einer propositionalen Repräsentation, die nah an der Textstruktur ist, und dem konzeptuell angereicherten „mentalen Modell“. De Be‐ augrande/ Dressler (1981) und Strohner (1990) sprechen von „Textwelt“, und van Dijk/ Kintsch (1983) vom „Situationsmodell“. In der formalen Semantik ist die Dirskursreprä‐ sentations-Theorie (Kamp 1981, Asher 1993) viel beachtet. Die Diskursrepräsentation wird eng aus der grammatisch-semantischen Struktur des Textes abgeleitet, aber Ver‐ suche, Elaborationen durch Welt- oder Situationswissen zu berücksichtigen, haben nur wenig zu einer besseren Anwendbarkeit auf reale Texte oder größeren psychologischen Plausibilität beigetragen. Einen Überblick zu wissensbasierten Textverstehensansätzen vermitteln Brown/ Yule (1983) sowie Schnotz (2006); die wichtigsten Annahmen und Ergebnisse der kognitionslinguistischen Textverstehenstheorie werden in Schwarz ( 3 2008, Kap. 5) diskutiert. Mit dem Konzept des Textwelt-Modells arbeiten Frank (2019), der umfangreich kognitionslinguistische Anaphern-Relationen erörtert, und Simon (2023), der sich anhand der Pestizid-Debatte mit wissenskonstituierenden Prozessen beschäftigt. Fritzsche (2024) erklärt kognitionslinguistisch die persuasiven Strategien von ISIS anhand der Texstorte Propagandamagazin. Referenzialisierung als diskursbasierten, argumentativen Prozess beschreibt Consten (2023). 4.3 Referenzielle Unterspezifikation und konzeptuelle Elaboration 91 <?page no="93"?> Kohäsion und Kohärenz 5 Kohärenztheorie 5.1 Kohäsion und Kohärenz: Prinzipien der Vertextung Eines der wesentlichen Anliegen der Textlinguistik ist zu erklären, was einen Text zusammenhängend, also kohärent macht, was den inhaltlichen Zusammenhang einer komplexen sprachlichen Äußerung ausmacht und nach welchen Vertextungsprinzi‐ pien dieser zustande kommt. Kohärenz ist ein Begriff in der Textlinguistik, mit dem die verschiedenen Dimensionen des textuellen Zusammenhangs bezeichnet werden. Dabei ist zu beachten, dass manche Textlinguisten den Terminus Kohärenz in einem sehr weiten und umfassenden Sinn als die Menge aller expliziten und impliziten Relationen benutzen (u. a. Brinker 7 2010), während andere terminologisch zwischen den gram‐ matischen Verbindungen (der Kohäsion) und den inhaltlichen Verbindungen (der Ko‐ härenz) unterscheiden (vgl. de Beaugrande/ Dressler 1981). Wir differenzieren in dieser Einführung ebenfalls zwischen den grammatisch-lexikalischen Verweis- und Verbin‐ dungsmitteln auf der Textoberfläche (also der Kohäsion) und der inhaltlichen Konti‐ nuität, der Kohärenz, die maßgeblich durch das Kriterium der konzeptuellen Plausibi‐ lität bestimmt wird (ausführlich hierzu Kap. 5.3). Nicht jeder natürliche Text wird immer ohne weiteres auch als kohärenter Text akzeptiert. Werfen wir einen Blick auf das folgende Gedicht: (129) I.I.I-I.I.4 Tisch aufgeblühte Rose in Strudeln, wie Büffel. Singen, tönern ist es gut, Pfoten-Mond lebender Blitze. Pfiff ich, ein Taufhuhn Kälte Schichlick zu Schlimmern. Ziernab-Laschen, zwerchs, verschränkt hinkend, kein Wirt ist kein Gast. (Oswald Egger, I.I.I-I.I.4) Obgleich (129) als modernes Gedicht identifiziert und akzeptiert wird, erscheint der Text seltsam und inkohärent, weil die Zeilen mit ihren elliptischen und teilweise in‐ haltlich inkompatiblen Informationen in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen. Es gibt keine semantischen Verbindungen oder referenziellen Relationen, und es fällt <?page no="94"?> Textgrammatik schwer, ein TWM aufzubauen, da auch der Titel keine kontinuitäts- oder sinnstiftende Funktion erkennen lässt. Wir fällen Kohärenzurteile zu Texten relativ schnell und weitgehend intuitiv, da es zu unserer textuellen Kompetenz gehört, das Fehlen eines inhaltlichen Zusammenhangs in Texten zu erkennen. Es fällt uns entsprechend auch leicht, zwischen kohärenten und nicht-kohärenten Texten zu unterscheiden: (130) - - a) Wenn Sie das mitgelieferte Headset an Ihr Gerät anschließen, können Sie Anrufe über dieses annehmen und steuern. (Benutzerhandbuch von Galaxy S, www.handy-deutschland.de) - b) Wenn Sie das mitgelieferte Brot an Ihr Lachen anschließen, können Sie Haselnüsse über dieses annehmen und steuern. (131) - - a) Eigentlich sollten wir nicht mehr von Mutter Erde sprechen, sondern von Mutter Plastik. Heute ist alles aus Plastik. Plastik ist schön (künstliche Blumen), Plastik ist cool (Handy), Plastik ist überlebenswichtig (Trinkwas‐ ser-Flaschen). Doch Plastik ist noch viel mehr - und in erster Linie stark gesundheitsgefährdend. (www.zeitenschrift.com) - b) Mutter Plastik beschützt ihre Kinder. Aus Plastik sprießen kleine Wasserfon‐ tänen. Überlebenswichtige Plastikreserven sind keine Handys. Die a-Varianten der Beispieltexte werden ohne große Überlegungen als inhaltlich zusammenhängend, als kohärent beurteilt, weil die Inhalte der Sätze semantisch-kon‐ zeptuell aufeinander bezogen werden können und in einer referenziellen Kontinuität stehen (während dies in der b-Variante nicht der Fall ist). Aufgabe der textlinguistischen Kohärenztheorie ist es zu erklären, warum wir Texte wie in den a-Varianten als kohärent und in den b-Varianten als nicht-kohärent beurteilen, d. h. es geht darum, zum einen textinterne Kohärenzfaktoren zu erfassen, zum anderen aber auch, die geistige Basis unserer textuellen Kompetenz zu erklären, die es uns ermöglicht, Texte als kohärent oder nicht-kohärent zu erkennen. Wann ist also ein Text kohärent? Bei den b-Varianten kommt man zunächst auch ohne Vorkenntnisse einfach zu dem Schluss, dass die Sätze des Textes in keinerlei für uns nachvollziehbarem, plausiblem Zusammenhang stehen. Der inhaltliche Zu‐ sammenhang zwischen den Sätzen muss also für den Leser erkennbar sein, damit er den Text als kohärent beurteilt. Wodurch, d. h. durch welche sprachlichen Mittel und welche Informationen wird dieser Zusammenhang nun aber hergestellt? Wie in Abb. 3 in Kap. 4.2 gezeigt wurde, sind Texte mehrdimensionale Gebilde, die syntaktische, semantische und referenzielle Ebenen beinhalten. Werfen wir zunächst einen Blick auf die mittels spezifischer Verweis- und Verknüpfungsausdrücke explizit ausgedrückten Relationen zwischen Sätzen, betrachten wir also die Textgrammatik. Die Satz-für-Satz-Analyse, die linear vorgeht und die formale, die strukturelle Konne‐ 94 5 Kohärenztheorie <?page no="95"?> Kohäsions‐ mittel Rekurrenz xität eines Textes erfasst, stand in der frühen Textlinguistik im Mittelpunkt. Analysiert wird dabei die Textoberfläche, das Sprachmaterial eines Textes. Die Gesamtheit der expliziten formalen Textverknüpfungsmittel auf der grammatischen Oberfläche eines Textes bildet die Kohäsion, die zumindest ansatzweise auch ohne spezifische Sprach‐ kenntnisse zu erkennen ist: (132) Foruten at Björk ga ut Björk i 1977, ga hun i 1990 ut albumet Gling-Gló. Det var likevel først i 1993 at hun fikk sitt definitive gjennombrudd som soloartist. Sammen med produsent Nellee Hooper lagde hun albumet Debut som ble meget godt mottatt i hele verden. Blant annet kåret NME det til årets album. Björk sin musikalske stil var nå forandret fra pop/ rock-preget fra tiden i band, til mer eksperimentell elektronisk musikk, dominert av hennes karakteristiske stemme. I årene som fulgte fikk Björk stadig mer internasjonal anseelse. (www.no.wikipedia.org) Wer nicht gerade norwegisch versteht, wird nicht den Inhalt des Textes erfassen kön‐ nen. Einige Beobachtungen kann man jedoch anstellen: Das Wort Björk - was immer es heißen mag - kommt viermal in dem Text vor; es liegt Rekurrenz vor, d. h. die Wiederholung derselben sprachlichen Form, eine Wiederaufnahme auf rein materiel‐ ler, textgrammatischer Ebene. Da das Wort groß geschrieben ist, ist es wahrscheinlich kein Funktionswort wie ga oder i, das vielleicht aus grammatischen Gründen öfter auftaucht. Björk dürfte also den oder einen Hauptgegenstand des Textes bezeichnen. Auch fällt eine Reihung von Zahlen auf - 1977, 1990, 1993 -, in aufsteigender Folge. Wenn dies Jahreszahlen sind, sagt der Text etwas über Björk in chronologischer Ord‐ nung, wie eine Biografie. Rekurrenz, formale Anordnung - dies sind Kohäsions‐ merkmale, die selbst bei einem unverständlichen Text erkennbar sind, wie (133) zeigt: (133) Psychiatrie-Patient (Diagnose: Manie), gefragt, ob Geisteskrankheiten in seiner Familie aufgetreten seien: „Erbtanten habe ich nicht, Inzucht liegt bei mir auch nicht vor, nicht einmal Unzucht, dafür stamme ich aber von Karl dem Großen, folglich auch von Karl Martell, dem Hammer. Im Hammerverlag sind seinerzeit bedeutende politische Schriften erschienen. Der ‚Hexenhammer‘ allerdings nicht, der ist mindestens fünfhundert Jahre Älter. Meine Alte fällt auch drunter, die hätt‘ man damals glatt verbrannt. Heirate oder heirate nicht, bereuen wirst du beides, sagt Kierkegaard. Die Axt im Haus erspart den Scheidungsrichter, sag ich! Ich bin aber nicht gemeingefährlich, ich bin nur Gemeinen gefährlich! Ach, da kommt ja schon wieder die Straßenbahn mit ihrem saudummen Geklingel.“ (Kloos 1944, zit. n. Navratil 1966: 45) Wenn auch dieser Text nicht bei einem Thema bleibt - und schon gar nicht auf die gestellte Frage antwortet -, so ist doch eine Art von Zusammenhang zu sehen. Die Frage lässt den Patienten ganz zutreffend an Erbkrankheiten denken, er antwortet mit Erbtanten, kommt von Inzucht auf Unzucht, von Karl dem Großen auf dessen Großvater, einen anderen Karl, von dessen Beinamen Hammer auf andere Wörter mit Hammer, usw. Bis auf ein sehr vages Oberthema A B S TAMMUN G sind die Zusammenhänge in diesem Abschnitt also formaler Natur, es sind (partielle) Rekurrenzen (teilweise Wiederholung 5.1 Kohäsion und Kohärenz: Prinzipien der Vertextung 95 <?page no="96"?> Junktor Kohäsions‐ mittel derselben sprachlichen Form), wie sie auch dem Wortspiel gemeingefährlich - Gemei‐ nen gefährlich zugrunde liegen. Formal geordnet wirkt der Text auch durch verbin‐ dende Wörter wie dafür, aber, folglich, sog. Junktoren (auch: Konnektoren), die über ihre wörtliche Bedeutung Teile eines Textes miteinander verbinden. Die hier disku‐ tierten Verbindungen sind oberflächlicher Natur, also Fälle von Kohäsion in einem Text, der ansonsten allenfalls einen schwachen inhaltlichen Zusammenhang zwischen ein‐ zelnen Sätzen, keinen Gesamtzusammenhang aufweist (s. den Unterschied zwischen lokaler und globaler Kohärenz in 5.3). Welche kohäsiven Mittel gibt es also, um Sätze in einem Text formal zusammenhän‐ gend erscheinen zu lassen? In der Textlinguistik hat man Wiederaufnahme- und Ver‐ bindungsformen als die wichtigsten Kohäsionsmittel identifiziert. Textgrammatische Wiederaufnahmen erfolgen, wie wir bereits in (132) und (133) gesehen haben, durch Rekurrenz und Teilrekurrenz. Verbindungen zwischen Sätzen, die lokale, temporale, komparative oder kausale Relationen anzeigen, werden durch Junktoren ausgedrückt (s. Kap. 5.2). Viele Textlinguisten sehen auch Pronomina als Kohäsionsmittel unter der Vor‐ stellung, dass durch Pronomina auf textgrammatischer Ebene auf bereits erwähnte Textelemente Bezug genommen wird bzw. diese lediglich substituiert werden. Die Wiederaufnahme von Referenten, wie sie oft mittels Pronomina geschieht, ist aller‐ dings auf Kohärenzebene anzusiedeln, denn sie geht über rein formale, oberflächliche Texteigenschaften hinaus. Ob ein Pronomen überhaupt anaphorisch ist, wird erst im Rezeptionsprozess auf TWM-Ebene entschieden (s. Kap. 5.5). Schauen wir uns Kohäsionsmittel an dem folgenden Beispieltext an: (134) Träumerle Traumfee ist zum ersten Mal auf einem Fest. Das Orchester spielt wundervolle Musik. Und alle Wiesenbewohner tanzen dazu - jeder auf seine eigene Art: Der Tausendfüßler steppt mit seinen tausend Füßen, die Ameisen veranstalten eine Parade und die Seidenraupe schwingt sich an ihrem seidenen Faden hin und her. Doch unvergleichlich schön anzusehen ist der der Tanz der Feen. So losgelöst und leicht wie die Musik selber. Nie zuvor hat Träumerle etwas so Bezauberndes gesehen. Sie kann ihren Blick kaum abwenden vor Begeisterung. „Ach“, seufzt sie sehnsuchtsvoll. „Wie gerne würde ich selbst tanzen können. Doch leider bin ich nur eine Traumfee. Und keine Tanzfee.“ Da springt Herr Frosch herbei. „Mach es doch so wie ich“, quakt er hilfreich und hüpft im Takt der Musik herum. „Das ist ganz einfach.“ Träumerle sieht dem Frosch zu und fasst ein wenig Mut. „Wenn ich nicht tanzen kann wie eine Fee, kann ich zumindest springen wie ein Frosch“, hofft sie. „Einverstanden“ nickt sie daher. „Ich will es versuchen.“ (Kyra Pfeifer, Mitternachtsfest auf der Feenwiese, www.schmoekerkinder.de) Der Name der Protagonistin, Träumerle Traumfee, enthält eine partielle Rekurrenz, indem der Wortstamm Traumzweimal vorkommt. Jeder Namensteil für sich wird dann weiter unten noch einbzw. zweimal wiederholt; Feen und später Fee sind partielle Rekurrenzen zu Traumfee. Vollständige Rekurrenz finden wir bei Musik und Frosch; Rekurrenz von Wortstämmen bei Tausendfüßler und tausend Füßen, Seidenraupe und seidenen, tanzen (dreimal) und Tanz. Man sieht an diesen Beispielen, dass es hier 96 5 Kohärenztheorie <?page no="97"?> Definition Kohäsion Konnexität semanti‐ sche Relationen wirklich nur auf eine Wiederholung der materiellen Wortgestalt ankommt, nicht auf Bedeutung oder Referenz, die in Komposita wie Tausendfüßler und Seidenraupe ja nur in Bezug auf das ganze Wort bestimmt werden könnten. Das Wort ich kommt gleich fünfmal vor mit zwei verschiedenen Referenzbezügen (zweimal Traumfee, zweimal Frosch, dann wieder Traumfee). Satzeinleitende Junktoren sind doch (mit zwei verschiedenen Bedeutungen; nur das zweite doch markiert einen Widerspruch oder eine Einschränkung zum vorherigen Satz, während das erste doch eine Intensivierung ausdrückt wie durch besonders) und ein temporales da, das Gleichzeitigkeit mit dem Geschehen im vorherigen Satz ausdrückt. Daher, hier nachgestellt, verweist auf eine kausale Beziehung zum vorherigen Satz. Der Text (134) weist also ein hohes Maß an Kohäsion auf. Abstrakt lässt sich Kohä‐ sion so definieren: Ein Text T1 ist (durchgehend) kohäsiv, wenn jeweils die beiden aufeinanderfolgenden Sätze S1 und S2, S2 und S3, S3 und S4 etc. durch mindestens einen Oberflächenausdruck explizit miteinander verbunden sind oder aufeinander ver‐ weisen. Kohäsive Mittel erzeugen somit (den Eindruck von) Konnexität (Verbindung) in Texten. Das Vorhandensein kohäsiver Mittel ist jedoch als alleiniges Kriterium für die Kohärenz eines Textes keineswegs ausreichend, und die formalen Verknüpfungs- und Anknüpfungsmittel sind nicht die Hauptfaktoren des Textzusammenhangs, wie wir in (132) und (133) gesehen haben. Wie wichtig neben der Textgrammatik die inhaltliche Plausibilität für Kohärenz ist, zeigt auch folgendes Beispiel: (135) a) Konstanze kann nicht ins Colloquium kommen. Sie hat keinen Babysitter für Konrad bekommen/ hat die Grippe/ muss zum Arbeitsamt. - b) Konstanze kann nicht ins Colloquium kommen. Denn sie ? ? hat keinen Orden/ ? ? ist freundlich/ ? ? ist eine gute Köchin. Der zweite Satz der a- Variante liefert jeweils die (für uns plausible) Begründung für das Nicht-ins-Colloquium-Kommen. Diese Kohärenzrelation ist nicht explizit (z. B. durch denn) ausgedrückt, aber die Anwendung unseres Weltwissens füllt diese Lücke und verknüpft die beiden Sätze sinnvoll miteinander. Bei der b-Variante dagegen finden sich keine plausiblen Gründe in den Folgesätzen (und die Fragezeichen zeigen, dass hier eine nicht akzeptable Textsequenz vorliegt). Man braucht sehr viel Fantasie, um hier eine Kohärenzrelation zu etablieren, obgleich pronominale Wiederaufnahme und der Kausalitätskonnektor denn dies explizit signalisieren. Somit stößt eine rein textgrammatisch orientierte Beschreibung des textuellen Zusammenhangs schnell an ihre Grenzen. Gehen wir also zur textsemantischen Ebene: Eine wichtige Rolle beim Erkennen von inhaltlichen Beziehungen zwischen Sätzen spielen die semantischen Relationen zwischen Lexemen, die wir als Teil unserer sprachlichen Kompetenz im mentalen 5.1 Kohäsion und Kohärenz: Prinzipien der Vertextung 97 <?page no="98"?> semanti‐ sches Feld Lexikon gespeichert haben. Semantisch basierte Kohärenzrelationen lassen sich mittels der folgenden Kategorien beschreiben. Hyperonymie (Überordnung) und Hyponymie (Unterordnung): Blume ist das Hyperonym zu Rose, Tier das Hyperonym zu Amsel; umgekehrt sind Rose und Amsel jeweils Hyponyme zu Blume und Tier. Rose und Tulpe sind Kohyponyme. Meronymie (Teil-Ganzes-Beziehung): Ein Meronym bezeichnet einen Teil des‐ sen, was ein anderes Wort bezeichnet, so ist Nase ein Meronym von Gesicht, Gesicht von Kopf. Synonymie (Bedeutungsgleichheit): Orange und Apfelsine, Lift und Aufzug sind Synonyme, also bedeutungsgleich. Antonymie (Gegensatz): groß und klein, heiß und kalt sind Antonyme, die jedoch Zwischenstufen und Graduierungen erlauben (sehr groß, mittelgroß etc.). Kontradiktion (Widerspruch): tot und lebendig stehen ebenfalls im Gegensatz zueinander, sie schließen sich jedoch strikt aus. Kohyponymie: Ananas, Banane, Mango etc. sind Kohyponyme, haben als ge‐ meinsames Hyperonym Südfrüchte und sind als gleichwertige Hyponyme dieses Hyperonyms auf der selben Ebene im übergeordneten Feld Früchte angesiedelt (s. hierzu und zu weiteren Relationen Schwarz/ Chur 5 2007, Kap. 2.3.1). Diese Relationen erlauben Zuordnung von Lexemen zu gemeinsamen semantischen Feldern (Bedeutungsfeldern), d. h. globalen Organisationseinheiten, die eine Menge von Lexemen mit gemeinsamen semantischen Merkmalen unter einem gemeinsamen Oberbegriff/ Hyperonym repräsentieren. Unser semantisches Wissen im LZG ist in Feldern/ Netzen gespeichert. Im folgenden Beispiel besteht die Relation der Hyponymie zwischen Landschildkröte und Tiere sowie die Relation der Meronymie einerseits spezifisch zwischen Landschild‐ kröte und Panzer sowie Höcker sowie allgemein die Relation ‚Eigenschaft von‘ zwischen 98 5 Kohärenztheorie <?page no="99"?> Isotopie Tiere und Gewicht. Insgesamt lassen sich die Sätze aufgrund der in ihnen enthaltenen Lexeme dem semantischen Feld von Tier zuordnen. (136) Die Griechische Landschildkröte wächst in den ersten sechs Jahren ziemlich linear. Sie legt in der Panzerlänge etwa einen Zentimeter pro Jahr zu. Allerdings lässt das Wachstum nach sechs Jahren etwas nach. Die Tiere wachsen dann noch ungefähr 30 % pro Jahr im Vergleich zu vorher. Also nur noch 60 bis 70 mm. Ab dem 10. bis 12. Jahr legen die Tiere noch ungefähr 5 bis 15 % an Wachstum und Gewicht zu. Je älter die Tiere werden desto weniger Wachstum in der Größe ist feststellbar. Auch das Gewicht nimmt fast nicht mehr zu. Bei zu starker Fütterung kann ein Tier auch wesentlich schneller wachsen. Dies kann jedoch zur Verfettung und zu Organschäden führen. Außerdem wird der Panzer dann sehr stark mit Höckern ausgebildet. (www.schildkroete.net) Dass die Sätze eines Textes in einem semantischen Zusammenhang stehen müssen, wurde bereits in früheren Ansätzen als sogenannte Isotopie beschrieben (s. Greimas 1974). Demzufolge entsteht der Eindruck von Kohärenz durch Lexeme mit identischen oder ähnlichen semantischen Merkmalen, die einem Bedeutungsfeld angehören. Da‐ durch kommt es zu Isotopie-Ketten wie in (137), wo der textuelle Zusammenhang maßgeblich durch das semantisch dominierende Feld ‚Ananas-Frucht‘ bestimmt wird (und Sie selbst jetzt beim Lesen identifizieren können, welche Relationen mittels wel‐ cher Lexeme konkret verbalisiert sind): (137) Exotische Früchte Die Ananas gehört zu den Bromeliengewächsen. Sie besteht aus einer großen Blattrosette mit bis zu 90 cm langen und 6 cm breiten Blättern, welche an ihrer Spitze scharf sind. Mitunter können auch Randstacheln an den Blättern vorhanden sein. Aus der Blattrosette der Ananas treibt nach 15 bis 22 Monaten eine Blüte. Diese entwickelt sich zu einer fleischigen Schein- und Sammelfrucht, mit einem Gewicht bis zu 4 kg. Die Ananas sieht warzig und schuppig aus. Diese Schale ist nicht essbar. Je deutlicher die Schuppen ausgeprägt sind, desto wohlschmeckender und aromatischer ist die Frucht. Das Fleisch der Ananas ist von gelber bis rötlicher Farbe und sehr saftig. Der Duft ist köstlich aromatisch. (www.issgesund.de) Aber auch die Existenz äquivalenter oder ähnlicher semantischer Merkmale oder semantischer Relationen reicht allein nicht aus, um Kohärenz zu erklären. Machen wir uns dies an einem (konstruierten) Beispiel wie (138) klar: (138) Natur und Ananas mag ich. Auch Pflanzen sind Lebewesen. Der Früchtebaum ist reif und saftig. Exotische Früchte essen wir, Säugetiere und Mangos leben in der Natur. Trotz des Vorkommens von Lexemen mit gemeinsamen semantischen Merkmalen ist der Text nicht kohärent, da die Propositionen der Sätze insgesamt in keinem sinnvollen, d. h. für uns nachvollziehbaren, plausiblen Zusammenhang stehen. 5.1 Kohäsion und Kohärenz: Prinzipien der Vertextung 99 <?page no="100"?> Koreferenz Die Informationen von Textgrammatik und Textsemantik liefern dem Leser zwar in der Regel Hinweise für die Erstellung von Kohärenz, haben diese aber nicht notwendig zur Folge. Kohärenzrelationen in Texten werden zudem nicht immer durch kohäsive Ver‐ textungsmittel ausgedrückt. Auch nicht explizit verknüpfte Textsequenzen können kohärent sein: (139) Als sie zurück in die Stadt fuhren, tobte dort ein heftiges Gewitter. Papa Moll und Marie beeilten sich, um nach Hause zu kommen. (www.glueckaufschule-siegen.de) Auf der Textoberfläche in (139) wird formal keinerlei Verbindung zwischen den im ersten Satz und den im zweiten Satz geschilderten Vorgängen ausgedrückt. Die Sätze stehen unvermittelt nebeneinander. Durch die Aktivierung unseres Weltwissens, dass manche Menschen Angst vor Gewittern haben, wird jedoch ein kausaler Zusammen‐ hang erstellt. Papa Moll und Marie beeilen sich, weil sie dem Gewitter und womöglich heftigem Regen entkommen wollen und Schutz im Haus suchen. Die Kohärenz ist somit nur implizit im Text angelegt und vom Leser aktiv herzustellen. Die textreferenzielle Ebene ergibt sich aus dem Zusammenspiel von syntaktischer und semantischer Information (s. hierzu bereits die Ausführungen in Kap. 4.1). Die wichtigste Kohärenzrelation in Texten, die sich referenziell bestimmen lässt und die einen kontinuierlichen Zusammenhang anzeigt, ist die der Koreferenz. Koreferenz liegt vor, wenn zwei oder mehrere Ausdrücke dazu benutzt werden, um auf denselben Referenten Bezug zu nehmen (s. hierzu ausführlich Kap. 5.5 zur textuellen Anaphorik). (140) Ein einfacher junger Mann … Er … Hans Castorp … des jungen Mannes … seines Onkels und Pflegevaters … er … Familiensöhnchen und Zärtling … den Menschen - und gar den jungen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen … Hans Castorp … Er … (Thomas Mann, Der Zauberberg, 11 f.) Koreferenz betrifft Referenzidentität auf der außersprachlichen Ebene und ist nicht mit Synonymie, einem rein semantischen Phänomen, gleichzusetzen (und daher auch nicht der Isotopie zuzuordnen; auch nicht miteinander semantisch verbundene Lexeme können als textuelle Paraphrasen Koreferenz ausdrücken; vgl. Ein Mann … Der Dieb … Der Safeknacker …). Synonyme (wie Lift und Aufzug) können aber benutzt werden, um Koreferenz auszudrücken: (141) Der Aufzug bleibt stecken und niemand hört die Hilferufe. Tagelang nichts zu essen, nichts zu trinken - ein Albtraum, lebensgefährlich! Thomas Fleetwood (58) hat diesen Horror erlebt: Vier Tage war er im Lift seines eigenen Hotels gefangen. (www.bild.de, 21.04.2013) 100 5 Kohärenztheorie <?page no="101"?> Lexeme, Eigennamen und Pronomina, die Koreferenz ausdrücken, beziehen sich alle auf denselben Referenten und geben dem Leser damit eine Art roten Faden in der Textwelt (s. Kap. 5.5). Demzufolge gehört die Wiederaufnahme eines bereits etablierten referenziellen Bezugs zu den wichtigsten Textkonstitutionsprozeduren, die themati‐ sche Kontinuität gewährleisten. Aber auch eine im Text ausgedrückte Referenzidentität garantiert nicht per se Kohärenz und Akzeptanz: (142) Der Papst lebt im Vatikan. Er mochte schon immer die grüngestreiften Marsmen‐ schen besonders gerne. Seine Schuhe will er aber auf dem Mond kaufen. Als Oberhaupt der katholischen Kirche suchte der heilige Vater auch sehr gerne nach Insekten in seinen Knödeln. Bei diesem Text haben wir zwar (eine durch Pronomina und Umschreibungen ausge‐ drückte) Koreferenz, aber keine einheitliche Referenzdomäne. Unser allgemeines Weltwis‐ sen lässt uns den Text als inkohärent und sinnlos beurteilen, da wir wissen, dass es keine Marsmenschen gibt, man auf dem Mond keine Schuhe kaufen kann und normalerweise niemand in Knödeln nach Insekten sucht. Es fehlt also das Kriterium der konzeptuellen Plausibilität. Wir akzeptieren Texte als kohärent, wenn personale, lokale und temporale Referenz zueinander passen und in ein mentales Modell integriert werden können. Wie unterschiedlich Texte hinsichtlich der grammatischen, semantischen und refe‐ renziellen Informationen, die Kohärenz etablieren, sein können, sieht man an den folgenden Beispielen der Textsorte Gedicht: (143) Sah ein Knab ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden, War so jung und morgenschön, Lief er schnell es nah zu sehn, Sahs mit vielen Freuden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden. ( Johann Wolfang von Goethe, Heidenröslein, erste Strophe) Der Gedichtanfang (143) ist sowohl kohäsiv als auch kohärent: Die beiden Textrefe‐ renten Knab und Röslein werden mittels Pronomina und rekurrenter Nomina sowie Ellipsen kontinuierlich wieder aufgenommen, und auch inhaltlich stehen die referen‐ ziellen Sachverhalte in einem plausiblen Zusammenhang. Es fällt leicht, für den Text ein TWM zu etablieren. (144) Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar; Der Wald steht schwarz und schweiget, Und aus den Wiesen steiget Der weiße Nebel wunderbar. (Matthias Claudius, Abendlied, erste Strophe) 5.1 Kohäsion und Kohärenz: Prinzipien der Vertextung 101 <?page no="102"?> Auch (144) ist kohärent, obgleich der Text, außer Versform und Endreim, die man allerdings oberflächenstrukturell als kohäsionsanzeigend ansehen kann, nur ein ein‐ ziges kohäsives Mittel aufweist, den additiven Konnektor und. Dieser verbindet den vorletzten mit dem letzten Satz recht unspezifisch. Rekurrenzen kommen gar nicht vor (und auf Kohärenzebene auch keine erkennbaren Relationen). Dennoch hat der Text eine klare konzeptuelle Ordnung, die sich aus der Zugehörigkeit von Schlüsselwörtern zum selben Bedeutungsfeld ergibt: Zunächst werden Himmelserscheinungen genannt, dann Erscheinungen auf dem Boden (Wald, Wiesen), und schließlich verbindet der Nebel, der von unten nach oben steigt, beide Ebenen miteinander. Die beschriebenen Sachverhalte lassen sich alle einer referenziellen Domäne, AB E NDLAND S CHAF T , zuordnen. Dadurch stehen die grammatisch unverknüpften Sätze mit ihren Propositionen kon‐ zeptuell in einem plausiblen Zusammenhang. (145) Wer kommt denn da so morgenschön? Wer morgent da so schön heran? Wer schönt heran so morgenda? Dat wär schön so am Morgen? Wer kömmt da mor wer dennt da schön? Wer gent so mör wer sot so kömm? Wer hert wer wert denn sö? Kömmt da wer? Mört wer dä? Wer dä! Mörg (Oskar Pastior, wer kommt denn da so morgenschön? ) Dagegen enthält (145) zwar textgrammatisch betrachtet durchgängig Kohäsion, da in jeder Zeile Rekurrenzen und partielle Rekurrenzen des Wortmaterials aneinanderge‐ reiht werden, aber ein TWM lässt sich nicht einfach aufbauen. Der Text setzt spielerisch und lautmalend Formen auseinander und nebeneinander, kreiert neue Strukturele‐ mente ohne semantischen Inhalt und setzt auf das Erkennen der Intertextualität durch das Lexem morgenschön. Nicht ein einziges kohäsives Mittel weist (146) auf: (146) Herbst N ebelfetzen O hne Richtung V erstummte Vögel E ine vorwitzige Schneeflocke M odernde Blätter B lasse Sonne E ulenschrei R ieselnde Gedanken ( Judith Bernhardt, Herbst) Durch das Lexem Herbst im Titel wird jedoch eine übergeordnete Referenzdomäne vorgegeben (und zusätzlich durch das Akrostichon November bestätigt), der sich 102 5 Kohärenztheorie <?page no="103"?> Verhältnis von Kohäsion und Kohärenz konzeptu‐ elle Plausibilität alle nachfolgenden Informationen trotz der großen referenziellen Unterspezifikation plausibel zubzw. unterordnen lassen. Der Text ist insgesamt (global) kohärent (zur Unterscheidung von lokaler und globaler Kohärenz s. Kap. 5.3). Bei den meisten Texten ergibt sich die Kohärenz aus einem Zusammenspiel von grammatischen, semantischen und referenziellen Informationen. Zum Verhältnis von Kohäsion und Kohärenz lässt sich festhalten, dass die Kohäsion weder notwendig noch hinreichend für Kohärenz ist: Sie ist nicht hinreichend, da Texte kohäsive Mittel haben können und dennoch nicht kohärent sind. Und sie ist nicht notwendig, da es zahlreiche Texte gibt, die keine kohäsiven Mittel aufweisen und dennoch kohärent sind. In der neuesten Forschung besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass es nicht allein die sprachlichen Mittel und grammatischen Verknüpfungshinweise, sondern in erster Li‐ nie die im Text angelegten plausiblen Relationen und Weltwissensaktivierungen des Rezipienten sind, die für die Kohärenz entscheidend sind. Wenn also weder gramma‐ tische Verknüpfungsmittel noch semantische Überschneidungen zwischen den Wör‐ tern eines Textes ein Garant für die Kohärenz sind, sondern das Kriterium der kon‐ zeptuellen Plausibilität, stellt sich die Frage, wodurch die Plausibilität determiniert wird. Wir werden in Kap. 5.3 sehen, dass bei der Beantwortung dieser Frage das im LZG gespeicherte Weltwissen und die kognitive Aktivität des Lesers eine wichtige Rolle spielen. In Kap. 5.2 betrachten wir zunächst einige explizite und implizite Kohärenzrelationen genauer. Übungen und Denkanregungen zu 5.1 1. In einer als klassisch und typisch für die textstrukturelle Vorgehensweise zu erachtenden Definition von Harweg (1968: 148) wird Text als „ein durch unun‐ terbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten“ charakterisiert. Auf welche Ebene konzentriert sich diese Textdefinition und wie ist sie hinsichtlich der oben erfolgten Erörterung von Kohärenz zu bewerten? 2. Machen Sie sich anhand des folgenden Beispiels klar, dass Kohäsion weder hinreichend noch notwendig für die Kohärenz eines Textes ist. (147) Sie puppt mit Puppen Die Puppen puppen mit kleinen Puppen, Die kleinen Puppen puppen mit winzigen Puppen, Die winzigen Puppen puppen mit Püppchen, Die Püppchen puppen mit kleinen Püppchen, Die kleinen Püppchen puppen mit winzigen Püppchen, Die winzigen Püppchen puppen, Keiner puppt mit ihr. Ah, Du meine Puppe, Meine süße Puppe, Mir ist alles schnuppe, Wenn ich meine Schnauze 5.1 Kohäsion und Kohärenz: Prinzipien der Vertextung 103 <?page no="104"?> Auf die Deine - bauze. Püppchen Schnüppchen Puppe Schnuppe Schnuppe bauze. Die Bäuzchen, Püppchen, Puppenfraun Sie machen nur noch schnauze bauze. (Kurt Schwitters, Sie puppt mit Puppen) 3. Inwiefern zählen viele Textlinguisten auch Tempus in einem Text zur Kohäsion? 4. Sind die räumlichen Bestimmungen da, dort, hier Konnektoren so wie nachdem, während? Was ist der Unterschied? 5. Untersuchen Sie folgenden Zeitungsartikel auf Kohäsions- und Kohärenzmittel. Gehen Sie besonders ein auf: a) definite Nominalphrasen und ihre Funktion - dienen sie anaphorischen Wiederaufnahmen oder Referenten-Einführungen? b) Tempus als Mittel der zeitlichen Informationsstrukturierung. Sehen Sie Kohärenz‐ brüche? (148) Die schlimmen Befürchtungen nach dem jüngsten Schaf-Mord in Krefeld haben sich bestätigt: Es war wie vermutet wieder die 17-jährige Tier-Rip‐ perin, die das Schaf erstochen hat! Die Ermittlungen der Polizei haben ergeben, dass wieder die gleiche Täterin das Tier getötet hat. Das Mädchen wurde nach ihrer Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt und psychologisch betreut. Nun der Rückfall: Schon wieder hat das Mädchen offenbar ein Tier getötet. Doch diesmal bleibt es nicht in Freiheit: Die 17-Jährige wurde in eine geschlossene Psychiartrie eingewiesen. Die Ermittlungen der Polizei dauern an. (www.express.de, 12.08.2013) 6. Welche Kohäsions- und Kohärenzmittel finden sich in (149)? (149) Der Panther Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. (Rainer Maria Rilke, Der Panther, erste Strophe) 7. Bestimmen Sie in (150) und (151) kohäsive Mittel und Kohärenzrelationen: (150) Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Häwelmann. Des Nachts schlief er in einem Rollenbett und auch des Nachmittags, wenn er müde war; wenn er aber nicht müde war, so mußte seine Mutter ihn darin in der Stube umherfahren, und davon konnte er nicht genug bekommen. Nun lag der kleine Häwelmann eines Nachts in seinem Rollenbett und konnte nicht einschlafen; die Mutter aber schlief schon lange neben ihm in ihrem großen Himmelbett. (Theodor Storm, Der kleine Häwelmann) 104 5 Kohärenztheorie <?page no="105"?> Konjunktion Koordination und Subordi‐ nation (151) Die hübsche blonde Elli Link kam 1918 nach Berlin. Sie war 19 Jahre alt. Vorher hatte sie in Braunschweig, wo ihre Eltern Tischlerleute waren, angefangen zu frisieren. (Alfred Döblin, Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, 7) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 5.1 Ein Klassiker zur Kohäsion ist Cohesion in English von Halliday/ Hasan (1976); zur Unterscheidung von Kohäsion und Kohärenz s. de Beaugrande/ Dressler (1981, Kap. IV); s. Brinker ( 7 2010, Kap. 3.3 und 3.4) zu Kohärenz; Gernsbacher (1995, Sammelband, enthält verschiedene Analysen zu Kohärenz); Rickheit/ Schade (2000) geben einen Überblick; Schwarz (2001) und Schwarz-Friesel (2007a) erörtert grundlegende Aspekte. Einen kurzen Überblick über verschiedene, auch formalere Theorien zur Kohärenz bietet Averintseva-Klisch ( 2 2018). 5.2 Explizite und implizite Kohärenzrelationen Wir haben in Kap. 5.1 gesehen, dass Kohärenz als inhaltliche Kontinuität und Verbin‐ dung zwischen referenziellen Informationen explizit in Form von Kohäsionsmitteln gekennzeichnet oder implizit vermittelt und der Elaboration durch den Leser überlas‐ sen werden kann. Explizit ausgedrückt werden Relationen in Texten, wie in Kap. 5.1 kurz gezeigt, durch Junktoren (auch: Konnektoren). Auf diese Form der Konnexität gehen wir nun etwas genauer ein; es geht um einen Überblick über grammatische und lexikalische Mittel, Relationen zwischen Textteilen auszudrücken. Typische Mittel der expliziten Verknüpfung von Sätzen kennt man aus der Gramma‐ tik als Konjunktionen, schulgrammatisch „Bindewörter“. Grammatiken unterscheiden sie erstens nach syntaktischen Eigenschaften; so zum Beispiel nach den unterschiedli‐ chen Wortstellungen, die die unterschiedlichen Typen von Konjunktionen auslösen: (152) Sie schaffte sich keinen Hund an, weil/ obwohl/ nachdem ihr Freund Schluss gemacht hatte. (153) Sie schaffte sich keinen Hund an, denn/ aber/ sondern ihr Freund hatte Schluss gemacht. (154) Sie schaffte sich keinen Hund an, deshalb/ folglich/ allerdings/ zumindest hatte ihr Freund Schluss gemacht. Die Beispiele in (154) werden auch als unechte Konjunktionen oder Konjunktionalad‐ verbien bezeichnet. Auf syntaktisch-logischer Ebene kann man Konjunktionen danach unterscheiden, ob sie koordinierend (beiordnend) oder subordinierend (unterordnend) sind. Koordinierende Konjunktionen wie und, oder verknüpfen inhaltlich gesehen Gleichartiges, gleich Wichtiges; syntaktisch gesehen verbinden sie zwei Hauptsätze. Subordinierende Konjunktionen wie weil, dass leiten Nebensätze ein, und auch inhalt‐ 5.2 Explizite und implizite Kohärenzrelationen 105 <?page no="106"?> Konnektor lich erwartet man eine Unterordnung des Nebensatzes unter den Hauptsatz (so gibt z. B. ein weil-Satz einen Grund für das an, was im zugehörigen Hauptsatz gesagt wird). Für die Textlinguistik sind die inhaltlichen Verknüpfungen zwischen Sätzen natür‐ lich interessanter als die syntaktischen Verhältnisse, und die vielfältigen bis rätselhaf‐ ten Deutungsmöglichkeiten der Beispiele (152) bis (154) zeigen, dass es hier einiges zu untersuchen gibt. Dazu erweitert die Textlinguistik die grammatisch definierte Klasse der Konjunktionen noch etwas; wir sprechen von Konnektoren, Konnektiven oder Junktoren. Neben den Konjunktionen gehören dazu auch bestimmte andere Partikel‐ wörter, vgl. nur in (155), und unter Umständen sogar die Zeichensetzung, vgl. (156): (155) Sie schaffte sich keinen Hund an. Sie lieh sich nur im Tierheim manchmal einen aus. Die Partikel nur stellt eine kohäsive Verbindung zum vorherigen Satz her. Sie kenn‐ zeichnet, dass der Inhalt des zweiten Satzes in irgendeiner Hinsicht weniger ist als der des ersten. Der Leser hatte vielleicht erwartet, dass die Protagonistin sich einen eigenen Hund anschafft; das Ausleihen im Tierheim ist demgegenüber eine kleinere Lösung, an einen Hund zu kommen. (156) Der Mensch denkt; Gott lenkt./ Der Mensch denkt: Gott lenkt. (Bertolt Brecht, Mutter Courage) In der ersten Version sind die beiden Sätze durch ein Semikolon (möglich wäre auch ein Punkt) koordinierend verknüpft - menschliches Denken und göttliches Lenken sind beides faktische Vorgänge, die gleichzeitig ablaufen. Das Einfügen eines Doppelpunktes anstelle des Kommas stellt den Sinn der frommen Redensart auf den Kopf: Die Verknüpfung ist jetzt subordinierend; der Mensch bildet sich bloß ein, dass Gott lenke. Kommen wir nun zu den wichtigsten semantischen Unterscheidungen von Kon‐ nektoren. Zu deren Kategorisierung gibt es verschiedene Ansätze und Begrifflichkei‐ ten (z. B. Fabricius-Hansen 2000, Pasch 2003). Wichtig ist nur: Konnektoren sind sprachliche Mittel, die logische Grundoperationen unseres Denkens widerspiegeln. Mit diesen logischen Operationen verknüpfen wir Sachverhalte gedanklich, mit den entsprechenden sprachlichen Mitteln verbinden wir Teile von Texten. 1. Mit dem additiven Konnektor und und dem disjunktiven Konnektor oder werden Sätze verbunden, die syntaktisch und logisch auf gleicher Stufe stehen; die Sätze werden koordiniert. (157) Verärgere niemals Jessica Simpson - oder lebe mit den Konsequenzen. (www.news.at, 18.03.2010) 106 5 Kohärenztheorie <?page no="107"?> Die beiden mit oder verbundenen Ratschläge schließen sich gegenseitig aus: Entweder man befolgt den einen, oder man befolgt den anderen Rat. Logisch-semantisch ist der Unterschied zwischen und und oder ziemlich klar: a und b - beides trifft zu; a oder b - nur eins von beiden trifft zu (exklusives oder), vielleicht kann aber auch beides zutreffen (inklusives oder). In die Reihe der koordinierenden Konnektoren gehören auch die adversativen Konnektoren wie jedoch, doch, aber. (158) Sie hat damit gerechnet, Marianna nicht anzutreffen. Doch als sie an ihrer Tür klingelt, öffnet Marianna ihr und scheint gar nicht verwundert, sie zu sehen. (Angelika Klüssendorf, Das Mädchen, 156) (159) Ich bin arm und doch habe ich alles. (Zitat einer Nonne, www.kloster-hegne.de) Hier wird durch doch ein Gegensatz zwischen den beiden Sätzen ausgedrückt. Eine andere Möglichkeit wäre eine Einschränkung: (160) Ich helfe dir gerne beim Umzug, aber nur bis drei, dann muss ich weg. Manchmal ist der Unterschied zwischen Gegensatz und Einschränkung fließend: (161) Ich liebe ihn, aber ich muss loslassen. Bitte um Rat! (www.trennungsschmerzen.de) Schließen sich LI E B E N und L O S LA S S E N gegenseitig aus, oder ist das Loslassen-müssen nur eine Einschränkung der Aussage, ihn zu lieben? Die Diskussion im Trennungs‐ schmerzen-Forum zeigt, dass die Autorin sich hierin selber nicht sicher war, während die meisten Antworten doch eher von Trennung und Ende der Liebe ausgehen. Disjunktive und adversative Relationen werden eher selten implizit ausgedrückt: (157‘) Verärgere niemals Jessica Simpson, lebe mit den Konsequenzen. Die nicht angegebene Verbindung zwischen den beiden Sätzen würde eher als additiv interpretiert, also „Lebe mit den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, dass du Jessica Simpson nicht ärgern darfst.“ (161‘) Ich liebe ihn, ich muss loslassen klingt merkwürdig inkohärent, weil man hier eher eine kausale Relation wie Ich liebe ihn, wir werden heiraten erwarten würde. 5.2 Explizite und implizite Kohärenzrelationen 107 <?page no="108"?> propositi‐ ons- und sprechakt‐ bezogenes weil implizite Relationen 2. Andere Konnektoren schaffen eine logische Unterordnung. Dies sind kausale Konnektoren wie weil, deshalb, konzessive wie trotzdem, dennoch, die konsekutiven so … dass, und die finalen damit, um … zu. Hier ein Beispiel für Kausalität: (162) Wichtig ist, dass es [der Auftritt der Kanzlerin Merkel im Hochwas‐ ser-Katastrophengebiet] nicht nach Wahlkampf aussieht. Deshalb hat Angela Merkel die Gummistiefel zu Hause gelassen. (Matthias Geis, Tina Hildebrandt, Die Frau, die alle abschöpft, www.zeit.de , 06.06.2013) Deshalb und daher leiten Sätze ein, in denen eine Folgerung oder Wirkung genannt wird, während der Grund oder die Ursache schon im vorausgehenden Satz steht. Mit weil ist die umgekehrte Reihenfolge möglich, und grammatisch erhält man eine Nebensatzkonstruktion, die einer logischen Unterordnung entspricht: Dass Frau Merkel die Gummistiefel zu Hause gelassen hat, ist die wesentliche Aussage, die im Hauptsatz steht. Der Grund für die Aussage wird im Nebensatz wiedergegeben. (163) Angela Merkel hat die Gummistiefel zu Hause gelassen, weil wichtig ist, dass es nicht nach Wahlkampf aussieht. So eine Begründung kann sich sowohl auf den Inhalt der Aussage, die Proposition, beziehen wie in (162), (163) und (164), oder auf den Sprechakt selbst, also auf einen Grund, warum der Sprecher diese Aussage macht wie in (165). (164) Sie haben auf mich geschossen, weil Sie ein Idiot sind. [= Ihre Idiotie hat Sie dazu gebracht, auf mich zu schießen] (165) Sie sind ein Idiot, weil Sie auf mich geschossen haben [= dass Sie auf mich geschossen haben, bringt mich dazu, Sie einen Idioten zu nennen] (TV-Serie Dr. House, deutsche Fassung, Folge Widerspiel 2/ 24) Kausale Relationen bleiben häufig implizit; eine entsprechende Verknüpfung scheint als Schlussfolgerung naheliegend zu sein, wenn keine andere Relation ausdrücklich markiert ist. (166) Erich Kästner über seine Schultüte: „Sie war bunt wie hundert Ansichts‐ karten, schwer wie ein Kohleneimer und reichte mir bis zur Nasenspitze. Ich saß vergnügt auf meinem Platz, zwinkerte meiner Mutter zu und kam mir vor wie ein Zuckertütenfürst. Die Eltern, die Kinder und die Zuckertüten stiefelten gesprächig nach Hause. Ich trug meine Tüte wie eine Fahnenstange vor mir her. Manchmal setzte ich sie ächzend aufs Plaster. Manchmal griff meine Mutter zu. Wir schwitzten wie die Möbelträger. Auch eine süße Last bleibt eine Last.“ (Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war, 89 f.) 108 5 Kohärenztheorie <?page no="109"?> Wollte man hier alle Kausalrelationen explizieren, würde etwa folgender Text entste‐ hen: (166‘) Sie war bunt wie hundert Ansichtskarten, schwer wie ein Kohleneimer und reichte mir bis zur Nasenspitze. Ich saß vergnügt W E G E N D E S S C HÖN E N A U S ‐ S E H E N S D E R TÜT E U N D D E R M A S S E A N S Ü S S I G K E I T E N D A R I N auf meinem Platz, zwinkerte meiner Mutter zu und kam mir vor wie ein Zuckertütenfürst. Die Eltern, die Kinder und die Zuckertüten stiefelten gesprächig nach Hause. Ich trug meine Tüte wie eine Fahnenstange vor mir her. Manchmal setzte ich sie ächzend aufs Pflaster D A S I E S O S C H W E R W A R . Manchmal griff meine Mutter zu W E I L I C H A L L E I N E D I E TÜT E W E G E N I H R E S H O H E N G E W I C H T S N I C H T T R A G E N K O N N T E . Wir schwitzten W E G E N D E R S C H W E R E N T R A G L A S T wie die Möbelträger. D E N N auch eine süße Last bleibt eine Last. 3. Mit temporalen Konnektoren wie als, nachdem, bevor lassen sich die verschiedens‐ ten zeitlichen Verhältnisse zwischen zwei Ereignissen, Prozessen oder Zuständen ausdrücken; mit den konditionalen Konnektoren wenn, falls Bedingungen, unter denen eine Aussage gilt. Dass es ein temporales und ein konditionales wenn gibt, ist wohl kein Zufall, denn diese beiden Bedeutungen von wenn können manchmal zusammenfallen: (167) Eines Tages sagte Kapinga: „Ich will gehen.“ Die Eltern sagten: „Es ist gut. […] Wenn es regnet, dann kannst du wieder hierher kommen; komm aber nicht, wenn es nicht regnet.“ (Märchen Die Regenfrau, zit. aus Leo Frobenius) Das Regnen stellt hier gleichzeitig Bedingung und potenziellen Zeitpunkt für die Wiederkehr des Helden dar. Auch in (168) wirken temporale und kausale Interpretation zusammen. (168) Die [Tennis-]Partie musste kurz unterbrochen werden, als es zu regnen begann. Das Dach der Rod-Laver-Arena wurde geschlossen, danach konnte es weitergehen. (www.focus.de, 29.01.2012) Der Beginn des Regens stellt nicht nur ein gleichzeitiges Ereignis, sondern auch den Grund für die Unterbrechung der Partie dar. Auch danach ist nicht rein temporal („nachdem das Dach geschlossen worden war“), sondern das Schließen des Daches war eine Voraussetzung für die Fortsetzung. Explizit genannt ist also eine temporale Beziehung, eine kausale wird zusätzlich hineininterpretiert. Anders in (169): (169) Erinnert ihr euch noch an dieses ereigniss [9/ 11], oder an andere wirklich einschneidende sachen? als das wtc einstürzte[,] war ich mit dem hund unterwegs. (Internet-Forum, www.smartphone-daily.de) 5.2 Explizite und implizite Kohärenzrelationen 109 <?page no="110"?> implizite Zeitenfolge Hier markiert der als-Satz lediglich die Gleichzeitig zwischen den Ereignissen „Schreiber geht mit Hund raus“ und „World Trade Center stürzt ein“. Niemand würde hier einen anderen Zusammenhang als einen rein temporalen vermuten. Dass der Hund auf Spaziergang das WTC zum Einsturz gebracht haben soll, schließt der Leser per Weltwissen aus. Die bloße Aneinanderreihung von Sätzen mit gleichem Tempus, die Ereignisse beschreiben, wird je nach semantischem Gehalt als Nachzeitigkeit oder Gleichzei‐ tigkeit interpretiert, also die Sätze S1, S2, S3 usw. beschreiben referenzielle Sach‐ verhalte, die in der Reihenfolge RS1, RS2, RS3 … oder gleichzeitig geschehen sind. (170) Kalugin schläft und träumt, er sitze in einem Gebüsch und an dem Gebüsch vorbei gehe ein Polizist. Kalugin erwacht und schläft wieder ein, erwacht und schläft wieder ein, erwacht und schläft wieder ein, erwacht und beschließt, nicht weiterzuschlafen, und schläft doch wieder ein und träumt, er sitze hinter einem Polizisten und vorbei gehe ein Gebüsch. Kalugin schreit auf, aber aufwachen kann er nicht mehr. Er schläft vier Tage und Nächte und erhebt sich so abgemagert, daß man ihn in der Bäckerei nicht mehr erkennt und ihm heimlich Graustatt Weißbrot einpackt. (Daniil Charms, Kalugin) Dies ist mit dem Stilmittel der Rekurrenz von erwacht und schläft wieder ein ungewöhnliche Literatur, aber dafür ist besonders gut zu erkennen, wie unter‐ schiedlich der semantisch arme Konnektor und interpretiert wird: Bei Kalugin schläft und träumt sagt uns unser Weltwissen, dass beides gleichzeitig stattfindet. Ist erwacht und schläft wieder ein sowie erwacht und beschließt wird dagegen aufgrund des textsemantischen Gehalts als aufeinanderfolgend verstanden. Dass man den Helden in der Bäckerei nicht erkennt und ihm falsches Brot verkauft, dürfte kausal zusammenhängen; einen Stammkunden hätte man nicht betrogen. Ein berühmtes und finden wir in Goethes Faust: (171) [Mephistopheles zu Marthe: ] Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüßen. ( Johann Wolfang von Goethe, Faust I, Szene 10: Der Nachbarin Haus) Die referenziellen Sachverhalte sind hier ein Zustand (der des Todes des Mannes) und ein kommunikatives Ereignis (der Mann richtet Grüße aus). Die Default-An‐ nahme einer Vertextung in chronologischer Reihenfolge beider Sachverhalte führt hier zu einer inkohärenten Lesart, die mit dem Weltwissen nicht vereinbar ist: Die Grüße muss der Mann noch zu Lebzeiten ausgerichtet haben. (Die literarische Stilanalyse nennt das Phänomen Hysteron proteron, Umkehrung der richtigen Reihenfolge). Mit expliziten Kohäsionsmitteln (Konnektoren, Tempusfolge) wäre dergleichen kein Problem; sie lassen die Default-Annahme über die Chronologie nicht zustande kommen: 110 5 Kohärenztheorie <?page no="111"?> (171‘) Ihr Mann ist tot, zuvor hat er Sie grüßen lassen./ Ihr Mann ist tot, er hatte Sie noch grüßen lassen. 4. Schließlich sind modale oder instrumentale Konnektoren zu nennen: (172) Kann ich[,] indem ich keine Süßigkeiten esse[,] abnehmen? (www.gutefrage.net) (173) Gelegentlich kann der Schreibende dadurch, dass er ein Komma setzt oder nicht, deutlich machen, ob er die Adjektive als gleichrangig verstan‐ den wissen will oder nicht. (www.canoo.net) In (172) und (173) wird im Nebensatz mit indem bzw. dadurch, dass angegeben, mit welchen Mitteln oder Instrumenten oder auf welche Art und Weise (Modalität) die Handlungen vollzogen werden sollen, die im Hauptsatz angegeben sind. Auch solche Verknüpfungen sind in impliziter Form vorstellbar: (174) Der Schreibende hat ein Komma gesetzt. Er will beide Adjektive als gleichrangig verstanden wissen. Ein authentisches Beispiel dazu: (175) Keine Klümpchen in Soße oder Kakao: mit dem Sieb umrühren. (www.frag-mutti.de) Die knappe Überschrift wird so elaboriert, dass das Umrühren mit einem kleinen Sieb dazu dient, Klümpchen zu verhindern. Zusammenfassung von 5.1 und 5.2 Es gibt lexikalische und grammatische Kohäsionsmittel wie Konnektoren und Tempus, mit denen Texteile explizit auf der Textoberfläche verknüpft werden. Die systematische Beschreibung solcher Mittel ist eine Aufgabe an der Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Textlinguistik. Es wurde deutlich, dass die eigentliche logische bzw. plausible Kohärenzrelation zwischen den Textteilen auch ohne sichtbaren Ausdruck bleiben kann und in der Regel vom Leser erkannt wird. Bei solchen Elaborations‐ prozessen spielen Textsemantik und Weltwissen eine entscheidende Rolle. Mit den entsprechenden Prozessen beschäftigt sich der nächste Abschnitt. Übungen und Denkanregungen zu 5.2 8. Sehen Sie sich noch mal (156) an. Zu welcher Lesart führt ein Komma zwischen den Sätzen? Der Mensch denkt, Gott lenkt. 5.2 Explizite und implizite Kohärenzrelationen 111 <?page no="112"?> Plausibilität Weltmodell 9. Sind die räumlichen Bestimmungen da, dort, hier Konnektoren so wie nachdem, während? Was ist der Unterschied? 10. In vielen journalistischen Texten scheint der Unterschied zwischen und und oder gar nicht mehr so klar zu sein. In den beiden folgenden Beispielen wird oder verwendet, obwohl doch beide damit verknüpften Elemente gemeint sind. Wie ist oder hier gemeint? (176) Hobbyfahrer oder routinierter Sportler, alle waren dabei, um mit uns einen Sonntag voller Fahrspaß und ohne zu großen Wettbewerbsdruck zu verbringen. (www.msc-wurzen.de) (177) Promis wie Schlagerstar Michelle oder Jürgen Drews haben Millionen durch falsche Geldanlagen verloren. (www.virato.de, 03.07.2013) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 5.2 Zur Semantik von Konnektoren s. Blühdorn et al. (2004), zu inhaltlichen Relationen in Texten s. die Beiträge in Bublitz et al. (1999) sowie die Aufsätze von Sanford/ Moxey (1995), Sanders/ Spooren (1999) und (2001) zu Kohärenzrelationen. In Pappert/ Roth (2023) finden sich Analysen zur temporalen Referenz und Zeitlichkeit in der Textkom‐ munikation. Langlotz (2014) untersucht die Rolle von Konnektoren in der Schreibentwicklung von Kindern. 5.3 Kohärenz als das Ergebnis kognitiver Prozesse: Lokale und globale Kohärenz Die bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, dass Kohärenz die inhaltliche Kontinuität, den konzeptuellen Zusammenhang betrifft und alle im Text enthaltenen Relationen, die diesen Zusammenhang konstituieren, beinhaltet. Kohärenzrelationen können ent‐ weder durch Vertextungsmittel zwischen Sätzen explizit ausgedrückt oder über Se‐ mantik sowie Weltwissensaktivierung erschließbar sein. Die Kontinuität zwischen den Teilen eines Textes zu erkennen, bedeutet, plausible Relationen zu erkennen. Entschei‐ dend ist also das Kriterium der Plausibilität. Plausibilität ergibt sich kognitiv durch Schema-Aktivierung oder Inferenzziehung. Die textuellen Informationswerte werden in Relation zu im LZG gespeicherten Standardwerten gesetzt und (blitzschnell und unbewusst) vom kognitiven Prozessor auf Stimmigkeit bzw. Übereinstimmung geprüft. Die Kohärenz eines Textes hängt, wie wir bereits an einigen Beispielen (in Kap. 4 und 5.1) gesehen haben, wesentlich von unserer geistigen Aktivität und unserem im Ge‐ dächtnis gespeicherten Weltwissen ab. Was plausibel ist, richtet sich somit zunächst immer nach dem Reale-Welt-Modell im Kopf des Rezipienten, in dem Kenntnisse über Realitätsstrukturen in Form von Frames und Skripts repräsentiert sind. Aufgrund un‐ 112 5 Kohärenztheorie <?page no="113"?> kognitive Domäne serer Sozialisation sind diese Kenntnisstrukturen weitgehend homogen aufgebaut, d. h. sie variieren nicht etwa individuell von Rezipient zu Rezipient, sondern man kann davon ausgehen, dass Kohärenzetablierung von allgemeinen Standardannahmen, die in einer Sprachgemeinschaft von allen Teilnehmern geteilt werden, bestimmt wird. Diese Standardannahmen ermöglichen Konzeptualisierungen, die sich referenziell auf die Alltagswelt, die „reale Welt“ des Rezipienten beziehen (s. hierzu bereits Abbildung 3). Im Leseprozess werden automatisch und unbewusst die im Text geschilderten Sach‐ verhalte mit dem Standardwissen über die Welt verglichen. Diese Vergleichsprozesse können jedoch variieren, und Plausibilität ist somit eine relative Größe: Der menschliche Geist kann sich bei der Begegnung mit anderen Textwelten im Leseprozess (z. B. im Bereich der Fiktion) schnell an neue ontologische Gegebenheiten anpassen und z. B. fliegende Besen, sprechende Hunde und grinsende Hüte in der jeweiligen Textrealität akzeptieren. Das Textverständnis von Harry-Pot‐ ter-Romanen, Science-Fiction- und Fantasy-Literatur wird maßgeblich bestimmt durch die kognitive Akzeptanz der jeweiligen Textwelt-Modelle. Und entsprechend hängt dann auch die Akzeptanz von Kohärenzrelationen vom jeweiligen Text (und damit auch vom Textsortenwissen) ab: (178) So nahm der Soldat sein Feuerzeug und schlug Feuer, ein-, zwei-, dreimal! Da standen alle drei Hunde. (Hans Christian Andersen, Das Feuerzeug, 130) Die kausale Relation zwischen dem Entzünden des Feuerzeugs und dem Erscheinen der Hunde ist nur in dem spezifischen Textwelt-Modell des Märchens von Christian Andersen plausibel und zwar vor dem Hintergrundwissen, dass das Feuerzeug die magische Kraft besitzt, Hunde mit besonderen Eigenschaften herbeizuzaubern. Diese Konzeptualisierung entspricht nicht unserem Weltmodell (und dessen Plausibilitäts‐ kriterien) im LZG. Im Textwelt-Modell des Märchens jedoch (das sich als Textsorte dadurch auszeichnet, dass in den Darstellungen von der Realität abweichende Gesetz‐ mäßigkeiten normal sind) wird sie akzeptiert. Kohärenzetablierung und Textwelt-Modell-Aufbau sind somit untrennbar mitein‐ ander verbunden. Um also das Phänomen der Kohärenz umfassend erklären zu können, muss eine Kohärenztheorie über die textinternen Strukturen hinaus die textexternen kognitiven Phänomene der Weltwissensaktivierung und kognitive Konstruktivität beim Textverstehen berücksichtigen. In Kap. 4.3.2 hatten wir diesbezüglich erörtert, dass unser im LZG permanent gespeichertes Wissen in Form von Konzeptverknüp‐ fungen als komplexe Schemata repräsentiert wird. Diese beinhalten Standardannah‐ men über Gegenstände, Prozesse, Sachverhalte, Motive, Begleiterscheinungen, Folgen etc. Zusammenhängende Teile von repräsentierten Realitätsbereichen sind als kogni‐ tive Domänen zu charakterisieren, d. h. miteinander systematisch verknüpfte Kon‐ zepte, die referenzielle Informationen in einem gemeinsamen Netz integrieren. Die 5.3 Kohärenz als das Ergebnis kognitiver Prozesse: Lokale und globale Kohärenz 113 <?page no="114"?> Aktivierung dieser Wissenseinheiten ermöglicht uns das Verständnis von referenziell unterspezifizierten Texten wie den folgenden: (179) Sehr - wirklich sehr - gutes Restaurant! Das Stammlokal unserer Familie schon seit über 10 Jahren. Die Gerichte sind immer frisch und sehr lecker! Meiner Meinung nach der beste Grieche in Essen! Außerdem sind die Kellner sehr freundlich und das Essen kommt immer gleichzeitig. […] (www.probier-das-revier.de) In (179) wird durch den Ausdruck Restaurant das Schema R E S TAU R ANT als mentale Einordnungsinstanz für die weiteren Textinformationen vorgegeben. Requisiten- und Rolleninstanzen wie Kellner und Essen werden trotz ihrer Nicht-Vorerwähntheit definit bezeichnet und problemlos verstanden. Die als prototypisch erachteten konzep‐ tuellen Standardwerte von Schemata spielen eine wichtige Rolle bei der Etablierung und Akzeptanz von Kohärenz(-relationen). Die textuelle Kontinuität ist durch das aktivierte Skript gewährleistet, die Propositionen sind für den Rezipienten plausibel aufeinander bezogen. In (180) ist dagegen inferenziell zu erschließen, dass das Geschehen in einem Krankenhaus stattfindet, was uns aber auch nicht schwer fällt, da die textuellen Informationen uns diese Lesart als die einzig plausible nahe legen: (180) SIE HAT GUT GESCHLAFEN. So ohne Schläuche ist es schön. Zweimal hat sie aber schon vergessen, die Schwester zu rufen, obwohl der Knopf gleich neben der linken Hand auf dem Bettrand liegt. (Kathrin Schmidt, Du stirbst nicht, 28) Beim Lesen dieses Textes aktivieren wir bei der Rezeption von Schwester (mit der se‐ mantischen Instanziierung K R ANK E N S CHWE S T E R und nicht etwa Verwandte oder Nonne) das Krankenhaus-Schema und elaborieren die mentale Repräsentation passend dazu (zur konzeptuellen Elaboration im Textverstehensprozess s. Kap. 4.3.1). Betrachten wir nun den folgenden Witz: (181) „Von rechts kommt ein Trabbi“ - „Links auch frei! “ (zit. nach Schnotz 2006: 227) Um ein TWM aufzubauen, in dem die (extrem unterspezifizierten) referenziellen Sachverhalte des ersten und zweiten Satzes plausibel miteinander in Beziehung stehen, müssen wir eine ganze Reihe von Inferenzen ziehen: 114 5 Kohärenztheorie <?page no="115"?> 1. aktivieren wir das Skript AUTOV E R K E H R mit der Spezifikation K R E UZUN G , 2. aktivieren wir unser Wissen über den Autotyp Trabbi mit den Eigenschaften ‚nicht sehr stabil, besteht z.T. aus Pappe‘ etc., 3. setzen wir über die Semantik des Junktors auch den heranfahrenden Trabbi mit frei gleich (obwohl dies den logischen Gesetzen unserer Alltagserfahrung widerspricht), 4. legitimieren wir diese semantische Kontradiktion durch die Bewertung T RAB BI S S IND S O MI S E R AB E L G E BAUT , DA S S S I E NICHT D E N S TATU S ‚ AUTO ‘ HAB E N , 5. erschließen wir auf der Basis dieser Inferenzen den kommunikativen Sinn des Trabbi-Witzes: Lächerlichmachen dieser Automarke durch ontologische Verschie‐ bung; Trabbis sind in der Textwelt des Witzes keine Autos, sondern Nichts, sie sind wie Luft. Das Beispiel zeigt, dass die Aktivierung deklarativen Wissens, also der Abruf eines Schemas oft nicht ausreicht, um Kohärenz aufzubauen. Prozedurales Wissen kommt ebenfalls zur Anwendung. An einem (konstruierten) Beispiel wie (182) sieht man deutlich, dass die kognitive Aktivität bei der Kohärenzetablierung nun aber nicht rein subjektiv im „luftleeren Raum“ geschieht, sondern durch die im Text vorgegebenen grammatischen und semantischen Informationen gesteuert wird: (182) „Gerade geöffnet.“ „Kants Kategorien überholt! “ Text (182) ist für uns (ohne einen entsprechenden Kontext) nichts als eine lose, unplausibel zusammengestellte Ansammlung von zwei Sätzen, die auch durch große kognitive Anstrengung nicht kohärent wird (s. hierzu bereits Kap. 5.1). Nicht anders ist es bei den folgenden Gedichtzeilen (denen wir in einem Interpretationsprozess zwar einen übergeordneten Sinn zusprechen können, die jedoch keine erkennbare Kohärenz aufweisen; s. zur Abgrenzung von Kohärenz und Textsinn Kap. 6.2 und Schwarz-Friesel 2006): (183) Ins Dunkel getaucht Ins Dunkel getaucht sind die Kirschen der Liebe, zu spinnen gekrümmt mir die Finger: ungepflückt blieb der / Schatten der Schwalbe. Ihr Kleid einst unsichtbar. Ihr Schleier im Morgen gesponnen. Dem Herold des Schmerzes ein kostbar Geschenk, seiner / Schwinge zu schwer und entsunken unten im Tann, wo gelöst wird die Fessel des Mondstrahls. Geraubt sind dem Sommer die Herzen, das Obst, das dir reifte zum Dämmer, gehißt/ auf den zackigen Türmen der Luft. Über Zinnen aus Asche. In Gottes wölfischem Schoß. (Paul Celan, Ins Dunkel getaucht) 5.3 Kohärenz als das Ergebnis kognitiver Prozesse: Lokale und globale Kohärenz 115 <?page no="116"?> lokale Kohärenz Kohärenzbildung Dies zeigt, dass die viel und kontrovers diskutierte Frage in der Textlinguistik, ob Kohärenz eine interne Texteigenschaft oder das Ergebnis der geistigen Aktivität des Rezipienten sei, nur mit einem „sowohl als auch“ zu beantworten ist. Texte haben bestimmte formale und inhaltliche Merkmale, die kognitive Prozesse auslösen. Diese kognitiven Prozesse führen (auf der Basis der Textinformationen) zur Kohärenz. Die sprachlichen Strukturen sind, wie in Kap. 2.3 erörtert, Signale für den Rezipienten, die seine mentale Aktivität auf eine bestimmte Weise steuern. Dass wir textinterne und textexterne Faktoren sinnvoll aufeinander beziehen können, ist Teil unserer textuellen Kompetenz. Bislang haben wir Texte betrachtet, deren Kohärenz sich aus der linearen Abfolge miteinander verbundener Sätze bzw. Textteile ergibt. Hierbei handelt es sich um lokale Kohärenz. Ein Text T1 ist lokal kohärent, wenn die aufeinanderfolgenden Sätze S1 und S2 etc. Propositionen P1 und P2 etc. enthalten, deren referenzielle Werte im jeweiligen Textwelt-Modell in konzeptuell plausiblen Relationen stehen und somit eine inhaltliche Kontinuität gewährleisten. Im folgenden Text ist diese lineare Kontinuität sowohl inhaltlich durch die gleichblei‐ bende referenzielle Domäne CHA R L OTT E UND DI E O P IH R E R TO CHT E R als auch grammatisch auf der Textoberfläche durch zahlreiche kohäsive Mittel (die unterstrichen sind) angezeigt. Satz 2 bezieht sich rückbezüglich auf Satz 1, Satz 3 bezieht sich auf Satz 2 usw. Dadurch bestehen Interdependenzen der Art, dass das Verstehen von Satz 2 abhängig ist von der Kenntnis von Satz 1 usw. (184) Währenddessen schaut sich Charlotte Bilder von ihrer Tochter an und spricht in Gedanken mit ihr. Schließlich wird es ihr zu viel und sie will aufstehen, doch dann spürt sie ihre anderen zwei Babys. Jake kommt schließlich zu ihr und sagt, dass ihre Tochter immer noch im Operationssaal ist. Charlotte gibt sich die Schuld am Zustand ihrer Tochter und zwar, weil sie zu Anfang die Kinder nicht unbedingt wollte. Nun betet sie, dass die Kleine nicht stirbt. (Maria Schoch, Private Practice. Episode: Georgia (6.10)) Lokale Kohärenz kann aber auch, wie wir bereits an zahlreichen Beispielen in Kap. 5.1 und 5.2 gesehen haben, durch implizite Relationen ausgedrückt werden, dann ergibt sich der „rote Faden“ allein aus der Herstellung von Bezügen zwischen den Satzinhal‐ ten. Bezogen auf unser Gedächtnismodell (Abb. 4 in Kap. 4.3.1) lässt sich die Kohä‐ renzbildung auf lokaler Textebene prozedural als das Erkennen von Wiederaufnahme- und Anknüpfungseinheiten auf der KZG-Ebene erklären: Aktivierung und Re-Aktivierung wechseln sich ab; jede Informationsspanne im KZG hat rückbezüglich mindestens eine bereits aktivierte, bekannte Einheit, die mit der neuen Lesespanne re-aktiviert wird. Konkret am Beispiel: Schließlich bezieht sich auf eine Zeitspanne, die im ersten Satz erwähnt wird, ihr und sie re-aktivieren den Textreferenten CHA R L OTT E . Um diese Re-Aktivierungen vollziehen zu können, müssen die aktiven Elemente noch im KZG repräsentiert sein. 116 5 Kohärenztheorie <?page no="117"?> globale Kohärenz Überschrift als Einordnungsdomäne Gestaltprinzip Hierarchie zwischen Textteilen Betrachten wir nun einen Text wie (185), fällt auf, dass dieser zwar keine lokale Kohärenz, wohl aber eine globale (den Textinhalt als Ganzes betreffende) Kohärenz aufweist. Die Sätze sind beliebig vertauschbar (ohne dass der Sinn des Textes sich we‐ sentlich verändern würde) und bilden somit autonome Bedeutungseinheiten. Die In‐ halte der benachbarten Sätze weisen keine semantische Überlappung, keine konzep‐ tuelle Identitäts- oder Näherelation auf, aber der Text an sich ist dennoch nicht inkohärent: (185) Nachrichten vom 11. März 2025 Tanklaster kollidiert mit Straßenbahn im Kreis Karlsruhe Vorstoß zur Abschaffung von Ein- und Zwei-Cent-Münzen US-Ukraine-Treffen in Saudi-Arabien: Die Hoffnung von Dschidda Modehersteller Gerry Weber nach 2023 erneut insolvent (https: / / www.tagesschau.de/ archiv/ allemeldungen. Jede Zeile verlinkt zu einem Artikel.) Die Überschrift Nachrichten vom 11.3.2025 bietet eine den einzelnen Textteilen über‐ geordnete Einordnungsdomäne, quasi eine konzeptuelle Klammer für die an sich nicht miteinander verbundenen referenziellen Sachverhalte, die durch die Sätze dargestellt werden. Der Text hat globale Kohärenz durch das gemeinsame Thema. Dass dieses Thema nicht beliebig sein darf, sondern konzeptuell geeignet sein muss, um als hier‐ archische Struktur für die einzelnen Textteile zu fungieren, sieht man, wenn man statt Nachrichten vom… die Überschrift Kartoffelauflauf zubereiten oder Urlaub am Ostsee‐ strand vor die Sätze setzt. Weder unser im LZG gespeichertes Weltwissen noch eine zusätzliche kognitive Anstrengung in Form einer Inferenzziehung führen hier zu einer globalen Kohärenzstruktur. Ein Text T1 ist global kohärent, wenn sich die Propositionen P1 und P2 etc. der Sätze S1 und S2 etc. T1 oder einem einem Teil des Textwelt-Modells von T1, d. h. einer übergeordneten kognitiven Domäne, zuordnen lassen. Globale Kohärenz veranschaulicht hierarchische Zusammenhänge in Texten (s. hierzu auch den Punkt Textthema und Makrostrukturen in Kap. 5.4). Der Rezipient konzentriert sich hierbei nicht auf den Text als Sequenzanordnung, sondern überge‐ ordnet und ganzheitlich betrachtet als Struktur (nach dem psychologischen Gestalt‐ prinzip, dass das Ganze mehr und etwas anders ist, als die einzelnen Teile für sich genommen). Im Kohärenzprozess spielt nicht nur die Informationsrepräsentation auf der KZG-Ebene eine Rolle, sondern auch die konzeptuelle Struktur im Arbeitsgedächt‐ nis. Der Rezipient muss die lokalen Propositionen in Verbindung zum Textganzen set‐ zen. Die globale Kohärenzetablierung setzt also maßgeblich Abstraktions- und Klassi‐ fikationsleistungen voraus, die eine Hierarchie zwischen Textteilen und so den Zusammenhang herstellen. In (185) z. B. klassifizieren wir die referenziellen Sachver‐ halte der einzelnen Sätze als AKTU E LL E ( WE LT ) P O LITI S CH E G E S CH EHNI S S E und setzen (die individuellen Eigenschaften dieser Geschehnisse beiseite lassend) sie aufgrund dieses gemeinsamen Merkmals in die konzeptuelle Kategorie AKTU E LL E M E LDUN G E N D E S N EW ‐ 5.3 Kohärenz als das Ergebnis kognitiver Prozesse: Lokale und globale Kohärenz 117 <?page no="118"?> S TIC K E R S . Als Textganzes ergibt sich so eine übergeordnete Strukturebene, die einen globalen Zusammenhang gewährleistet. Viele (expressionistische und moderne) Gedichte zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Reihungsstil (Aneinanderreihung von kurzen, z.T. elliptischen Sätzen) gehalten sind und lediglich globale Kohärenz haben. Das bekannte Gedicht Die Dämmerung von Alfred Lichtenstein z. B. erhält allein aufgrund des Titels einen Zusammenhang: (186) Die Dämmerung Ein dicker Junge spielt mit einem Teich. […] Der Wind hat sich in einem Baum gefangen. An einem Fenster klebt ein fetter Mann. Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen. Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an. Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen. (Alfred Lichtenstein, Die Dämmerung, Anfang der ersten Strophe und dritte Stro‐ phe) Die Propositionen der Sätze stehen in keinem konzeptuell plausiblen Zusammenhang. Die Information Die Dämmerung jedoch ermöglicht globale Kohärenzetablierung mit der Inferenz ALL E R E F E R E NZI E LL E N AKTIVITÄT E N F IND E N S IMULTAN ZUM Z E IT P UNKT D E R DÄMM E R UN G S TATT . Alfred Lichtenstein (1913) selbst intendierte diese Lesart und äußerte sich entsprechend zur Struktur seines Gedichts: „Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen Grade notwendig.“ Ein anderer übergeordneter Zusammenhang (und auch eine andere Lesart des gesamten Gedichts) würde entstehen, wenn der Titel Leben in der Großstadt, Jugendzeit oder Zirkusleben lauten würde. Das zeigt, wie auch nicht standardmäßig im LZG gespeicherte kognitive Domänen beim Textverstehen konstruiert werden können und wie ein und derselbe Text aufgrund kontextueller Informationen unterschiedliche Auslegungsvarianten erhalten kann. Titel geben allerdings sehr oft bereits vorab das im Text dann entfaltete Thema an und lenken damit von Anfang an Textverstehen und Kohärenzetablierung (indem sie ein Schema als Einordnungsinstanz anbieten, das u. a. Erwartungen über den Inhalte des Textes steuert; s. hierzu auch Kap. 5.4). Das folgende Gedicht des expressionistischen Dichters August Stramm wurde in Seminaren verschiedenen Gruppen von Studierenden vorgelegt (die alle das Gedicht nicht kannten), und zwar entweder mit oder ohne Titel. Die Aufgabe lautete, anzuge‐ ben, worum es in dem Text geht. (187) Patrouille Die Steine feinden Fenster grinst Verrat Äste würgen Berge Sträucher blättern raschlig 118 5 Kohärenztheorie <?page no="119"?> Gellen Tod (August Stramm, Patrouille) Die am häufigsten genannten Referenzdomänen der Studierenden mit Gedicht ohne Titel waren F E IND S E LI G E NATU R , TOD E S E R E R F AH R UN G bzw. TOD E S AN G S T , NACHT S AU F D E M F R I E DHO F . Das Gedicht hat den Titel Patrouille. Entsprechend wurde die referenzielle Unterspezifikation von den Gruppen mit Titelangabe spezifischer elaboriert etwa durch s O LDAT G EHT DU R CH G E FÄH R LICHE LAND S CHA F T UND I S T IN T OD E S G E F AH R . Die surrealen Beschreibungen mit ihren grammatischen und semantischen Abweichungen wurden von beiden Gruppen als Stilmittel zur Verstärkung des Eindrucks des lyrischen Ichs akzeptiert. Zusammenfassung von 5.3 Kohärenz, als die konzeptuelle Kontinuität (die Menge aller plausiblen Relationen zwi‐ schen Textteilen), entsteht durch die Interaktion text- und wissensgeleiteter Prozesse im Kopf des jeweiligen Rezipienten. Kohärenzetablierung ist jedoch kein willkürlicher, kein hochgradig subjektiver Prozess, sondern verläuft weitestgehend vorhersehbar (und automatisch) nach bestimmten Prinzipien, die durch unsere textuelle Kompetenz und die an diese gekoppelte Konzeptualisierungsfähigkeit (auf der Basis unseres Weltwissens) determiniert werden. Zu unterscheiden sind lokale und globale Kohärenz. Lokale Kohärenz betrifft die konzeptuelle Kontinuität zwischen Textteilen, also die lineare Abfolge plausibler Relationen. Globale Kohärenz ergibt sich aus dem Blick auf den gesamten Text und liegt vor, wenn sich die Textteile einer übergeordneten kognitiven Domäne zuordnen lassen. Hierarchische Organisationsprinzipien sind hier relevant. Die globale Kohärenz spielt auch bei der Beschreibung und Erfassung des Themas von Texten eine wichtige Rolle. Mit der Themaerkennung befasst sich der nächste Abschnitt. Übungen und Denkanregungen zu 5.3 11. Vergleichen Sie die folgenden Aussagen miteinander. Welche Gemeinsamkeit, welchen Unterschied sehen Sie bei der Beschreibung von Kohärenz? (Ohne Lösungsangabe) „[…] if an expression […] is coherent it can be called a text.“ (Bokay 1985: 415) „The idea of coherence in text itself is meaningless. A text can only facilitate an interpretation […]“ (Sanford/ Moxey 1995: 183) „[…] coherence is not a text-inherent property at all (as are cohesion and connec‐ tivity). It is not given in the text invariantly and independently of an interpretation […] Hence, coherence is not a state but a process […]“ (Bublitz 1999: 2) 5.3 Kohärenz als das Ergebnis kognitiver Prozesse: Lokale und globale Kohärenz 119 <?page no="120"?> „Der Zusammenhang in einem Text ist also nicht in erster Linie auf linguistische Ausdrücke im Text selbst gegründet, sondern entsteht letztlich durch konzeptuelle Verknüpfungen […].“ (Spooren 1999: 185) „Coherence is a concept which in its complexity is still not fully understood and a matter of continuing debate.“ (Bublitz 1999: 1) „Ein […] Problem besteht darin, dass der Kohärenzbegriff so allgemein gehalten wird, dass sein sprachlicher Charakter verloren geht.“ (Rickheit/ Schade 2000: 277) 12. Welche Inferenz muss der Leser bei (62) ziehen? Inwieweit ist die Kausalitätsrela‐ tion abhängig vom TWM? (188) Nach einer Weile fiel es ihr wieder ein, daß sie noch die Stückchen Pilz in den Händen hatte, und sie machte sich sorgfältig daran, knabberte bald an dem einen, bald an dem andern, und wurde abwechselnd größer und kleiner, bis es ihr zuletzt gelang, ihre gewöhnliche Größe zu bekommen. (Lewis Carroll, Alice’s Abenteuer im Wunderland, 68) 13. In der Textsorte Witz finden sich oft zahlreiche, dem Alltagsverständnis nach unplausible Referenzialisierungen und Kohärenzrelationen, die wir im Normaldis‐ kurs unter Rekurs auf unser Weltmodell im LZG nicht akzeptieren würden, die aber als spezifisch textsortenabhängige, im Rahmen fiktionaler Textwelt-Modelle zu etablierende Relationen der Kontinuität aktiviert werden (vgl. Schwarz 2001: 22). (189) Ein Snob ist auf Kreuzfahrt den Nil herunter. Das Schiff kentert. Sofort kommen einige Krokodile angeschwommen. „Oh, wie edel“, ruft er entzückt, „sogar die Rettungsboote sind von Lacoste.“ (BB 9, 1995, 6) (190) Ein Kannibale sitzt im Restaurant eines Luxusdampfers. Der Kellner kommt und fragt, ob er die Speisekarte bringen soll. Sagt der Kannibale: „Nein, bringen Sie mir bitte die Passagierliste! “ (Hörzu 7, 1994, 16) Welche Inferenzen muss der Leser ziehen, um Kohärenz zu etablieren und den kommunikativen Sinn der Witze zu verstehen? 14. Lesen Sie das Gedicht Traum von August Stramm in: Pinthus, Kurt (Hg.). 1968. Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Leipzig: Reclam (Uni‐ versal-Bibliothek Band 404). Wodurch erhält dieses Gedicht Kohärenz? (Ohne Lösungsangabe) 15. Welches spezifische Weltwissen muss aktiviert werden, um (65) zu verstehen? Aktivieren oder konstruieren Sie eine bestimmte kognitive Domäne? Ist der Text lokal oder global kohärent? 120 5 Kohärenztheorie <?page no="121"?> (191) Eine Stimme fällt in die Stille des Morgengrauens ein: Zuerst Aufstellen der Wegweiser. Die Pfähle mit dem Hammer tief einrammen in den wei‐ chen Erdboden. Mit aller Kraft. Die Schilder dürfen nicht wegsacken. Die Befehle des Scharführers hallen über das Sportfeld. Auf Fingerzeig lösen sich einige Jungen mit Armbinden aus der Gruppe und machen sich an ihre Arbeit. Alle sind frisch getrimmt, bis auf die Ohren runter, mit ausra‐ siertem Nacken, wo stoppelübersäte Kopfhaut schimmert. Gestoppeltes. Am Ziel wäre man wohl erst, wenn man sie noch kupieren könnte. So sieht die Welpenarbeit heute aus. Rampen für Rollstuhlfahrer zimmern. Holzstege. Daß alle Krüppel bis in die vorderen Reihen geschoben werden können. Sollte der Regen stärker werden, darf niemand mit den Rädern im Schlamm steckenbleiben. (Marcel Beyer, Flughunde) 16. Nach van Dijk und Kintsch (1983) wird die globale Kohärenzbildung als Bildung einer sogenannten Makrostruktur gesehen. Wie kann man sich dies konkret vorstellen? 17. Können Sie den folgenden Texten lokale und/ oder globale Kohärenz zuordnen? (192) Es war weihnachten, der 1. mai. Vom Himmel fielen männer aus schnee und tonnen voll donner. Über der welt schwebten die drei letzten kalfaterten herzen: die freiheit, die gleichheit, die brüderlichkeit. (Hans Arp/ Vicente Huidobro, Drei und drei surreale Geschichten, Auszug) (193) Das Fenster Hänge meinen kopf zum Fenster raus Gebläuter Himmel Guten Morgen, Dach Das Rot ganz apart Nicht nur schiefen Schiefer Gibt’s hier oben Taubendreck Kopf ist Weg (Levrai, Das Fenster) 18. Inwiefern ist jeder lokal kohärente Text auch immer global kohärent, aber nicht umgekehrt auch jeder global kohärente Text auch lokal kohärent? Weiterführende und vertiefende Literatur zu 5.3 Schnotz (1994) und (2006) erörtert Aspekte der Schema-Aktivierung bei der Etablierung von Kohärenz im Textverstehensprozess, McKoon/ Ratcliff (1992) und Singer et al. (1994) sowie Singer (1994) erörtern Inferenzen beim Leseprozess, Sanford/ Moxey (1995) sowie Givón (1995) erläutern den kognitiv orientierten Ansatz einer Kohärenztheorie, in Schwarz (2001) und Schwarz-Friesel (2011) wird anhand zahlreicher Beispiele Kohärenzetablierung als kognitiver Prozess diskutiert. 5.3 Kohärenz als das Ergebnis kognitiver Prozesse: Lokale und globale Kohärenz 121 <?page no="122"?> Definitionen von Thema 5.4 Thema und Makrostrukturen: Wovon handelt der Text? Das Thema eines Textes oder Diskurses zu bestimmen und zu benennen, gehört zu den zentralen Aktivitäten in der Kommunikation. Die zahlreichen Wendungen wie ein interessantes, beliebtes, brisantes, aktuelles, historisches, literarisches Thema ansprechen, ein (Tabu-)Thema behandeln, auslassen, ignorieren, fokussieren, kein Thema sein, das Thema wechseln, auf ein Thema eingehen, aufgreifen, anschneiden, das Thema verfehlen, vom Thema abkommen, abschweifen, ablenken, zum Thema zurückkommen, das Problem, das Thema klar angeben etc. zeugen von der Relevanz des Konzeptes TH E MA sowie der Themenbehandlung sowohl in der alltäglichen als auch der öffentlichen, massenmedialen, der wissenschaftlichen und künstlerischen verbalen Interaktion. Kurz erwähnt sei hier, dass der Ausdruck Thema in der Sprachwissenschaft aller‐ dings mehrdeutig ist und sich allein in der Textlinguistik auf zwei verschiedene Aspekte von Textstrukturen bezieht: Zum einen (im Gegensatz zum Rhema) auf die als alt oder bekannt eingestufte Information; hierzu Kap. 5.5), zum anderen auf das dem Alltagsverständnis entsprechende Konzept des Kern- oder Hauptinhalts eines Textes (zur Diskussion s. u. a. Hoffmann 2000). Hier geht es zunächst um die zweite Lesart, also um die komprimierte Information, die den wesentlichen Inhalt eines Textes angibt und die Frage beantwortet, worum es in dem Text geht (s. hierzu auch den Quaestio-Ansatz von Klein/ von Stutterheim 1992, der Texte danach untersucht, was sie mitteilen, welche Antworten sie auf Fragen geben wie „Wovon handelt der Text, wer agiert mit wem, wo und wann findet etwas statt? “). Beim Lesen eines Textes sind das Thema und seine Entfaltung oft maßgeblich dafür verantwortlich, ob wir den Text als relevant, interessant, spannend, informativ und/ oder unterhaltsam einstufen und ob wir uns die Mühe machen, den Text (zumal, wenn er lang ist) zu Ende zu lesen. Wir haben bereits in Kap. 5.3 gesehen, dass das Thema eines Textes, wenn es als Titel oder Überschrift vorgegeben ist, eine entscheidende textorganisierende Funktion hat und als konzeptuelle Einordnungsin‐ stanz globale Kohärenz etablieren kann (s. die Bsp. (59) und (60)). Generell ist die Themenidentifikation als kognitiver Prozess, der text- und wissensgeleitet ist, ein zentraler Bestandteil des Textverstehens und somit ein wichtiger Untersuchungsaspekt der Textlinguistik. Es stellt sich die Frage, wie Leser das Thema eines Textes erkennen, wie sie den Kerninhalt eines Textes erfassen und mittels welcher Strukturen sie diesen beschreiben. Dass die Themenerkennung wie die Kohärenzetablierung allgemeinen Prinzipien folgt und nicht willkürlich geschieht, kann man sich an einem konkreten Text schnell klarmachen. (194) Gewaltig endet so das Jahr mit goldnem Wein und Frucht der Gärten. Rund schweigen Wälder wunderbar und sind des Einsamen Gefährten. (Georg Trakl, Verklärter Herbst, erste Strophe) 122 5 Kohärenztheorie <?page no="123"?> Auch ohne die Kenntnis der Überschrift werden alle Leser aufgrund der Textinforma‐ tion (endet das Jahr, goldnem Wein, Frucht der Gärten) und ihres Wissens über die Jahreszeiten zu dem Schluss gekommen sein, dass das Gedicht vom Herbst handelt. Sicher hat niemand als Thema Soßen andicken oder Frühlingsspaziergang ausgewählt. Unsere textuelle Kompetenz ermöglicht es zudem, ähnliche oder identische Themen in Texten zu erkennen, auch wenn die grammatischen und lexikalischen Eigenschaften der Texte sehr verschieden sind: (195) Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. (Rainer Maria Rilke, Herbsttag, erste Strophe) Das Thema zu erkennen, setzt also voraus, den Inhalt des Textes erfasst zu haben. Die Textsemantik ist ausschlaggebend. Diese stellt die Basis für die Extraktion der als wesentlich einzustufenden Hauptinformation des Textes. Was wesentlich ist, lässt sich in der Regel über die referenziellen Angaben und die Art ihrer Entfaltung erschließen. Bei bestimmten literarischen Texten kann die Themenerkennung aber auch durchaus schwierig sein, insbesondere bei sogenannter hermetischer Poesie, einer Lyrik, die eine eigene Textwelt schafft und für die es kein aktivierbares Schema gibt, so dass keine Standardkonzeptualisierung möglich ist: (196) Augenblicke, wessen Winke, keine Helle schläft. Unentworden allerorten, sammle dich, steh. (Paul Celan, Augenblicke) Der Text (196) ist syntaktisch und semantisch ungewöhnlich, extrem referenziell unterspezifiziert und versagt sich einer Kohärenzetablierung lokaler wie globaler Art, so dass es fast unmöglich scheint, ein Thema zu benennen, das intersubjektiv von allen Rezipienten auch als Kerninhalt gesehen wird. Weder auf allgemeine Fragen wie „Worum geht es in diesem Text? “, „Was steht im Mittelpunkt“ noch auf spezifische Fragen wie „Wer ist dich? “, „Wessen Winke sind gemeint? “, „Welche Augenblicke werden angesprochen? “ gibt es Antworten. Ähnlich ist es bei dem dadaistischen Text in (197): (197) Es war weihnachten, der 1. mai. Vom Himmel fielen männer aus schnee und tonnen voll donner. Über der welt schwebten die drei letzten kalfaterten herzen: 5.4 Thema und Makrostrukturen: Wovon handelt der Text? 123 <?page no="124"?> die freiheit, die gleichheit, die brüderlichkeit. (Hans Arp/ Vicente Huidobro, Drei und drei surreale Geschichten, Auszug) Auch in (197) lässt sich nicht erkennen, was das Thema, was eigentlich der zentrale Gegenstand oder Sachverhalt ist, über den im Text etwas gesagt wird, da jeder Satz neue Referenzdomänen (mit z.T. widersprüchlichen Informationen) anspricht. Wie die beiden letzten Beispiele zeigen, stehen globale Kohärenzetablierung und Themaerkennung offenkundig in enger, untrennbarer Relation: Könnten wir als Leser zu (196) und (197) eine globale Kohärenz konstruieren, wären wir auch in der Lage, das Thema der Texte zu benennen. Hätten wir ein übergeordnetes Thema, würde diese Kenntnis zur Kohärenz der Texte beitragen. Dies lässt sich sehr anschaulich anhand des folgenden Gedichtes vor Augen führen: (198) Blicklos geweitete Augen. Hinter der Stirn sinken die Wände der Zellen. Innen und Außen ein einziger flutender Raum. (Rainer Malkowski, Blicklos) Zunächst lässt sich kein Textwelt-Modell aufbauen; der Text ist weder lokal noch global kohärent, eine spezifische Referenzdomäne ist nicht aktivier- oder inferierbar. Hinsichtlich der auf das Thema ausgerichteten Frage, worum es in diesem Gedicht geht, vermögen Sie keine klare Antwort zu geben. Eventuell haben Sie aber eine erste Hypothese über das Thema des Textes gebildet, z. B. ‚Raumerfahrung eines blinden Menschen‘ (u. a. aufgrund des Wortes blicklos) oder ‚Denkprozesse‘ (hinter der Stirn). Der Titel des Gedichts lautet Musik. Lesen Sie den Text nun noch einmal, und Sie werden sofort erleben, wie die Bedeutung dieses Wortes Ihnen das Thema gibt, das als übergeordnete Informationseinheit nun auch Kohärenz etabliert sowie ein TWM entstehen lässt, das repräsentiert, wie jemand/ das lyrische Ich sich auf die akustischen Sinneseindrücke beim Musikhören konzentriert. Der Prozess der Themaerkennung verläuft hier als ein In-Bezug-Setzen der einzelnen Textelemente zu einer bestimmten konzeptuellen Kategorie. In der Alltagskommunikation ist es für uns normalerweise meist gar kein Problem, spontan anzugeben, was das Thema eines Textes ist (auch wenn wir vorher keine Überschrift oder Zusammenfassung erhalten), wenn der Text lokal kohärent ist: (199) Alles aus der Waschmaschine nehmen und sofort tropfnass aufhängen. Bügeln würde ich dann schon, wenn Sachen noch nicht knastertrocken sind, da wirds ein‐ fach glatter. Klamotten nicht bunt durcheinander in den Schrank werfen, sondern ordentlich zusammenfalten und dann sortiert in Schubladen legen. 124 5 Kohärenztheorie <?page no="125"?> Makro- und Mikrostruktur Bei (199) wird sofort die übergeordnete Informationseinheit ‚Wäsche waschen, bügeln und sortieren‘ konstruiert, die als Thema des Textes zu sehen ist. Die thematische Relevanz ergibt sich aus der Zuordnung der einzelnen Referenzinformationen zum kognitiven Schema WÄS CH E (vgl. hierzu auch Sanford/ Moxey 1995: 162). Das Thema der ersten Strophe des Gedichts (200) lässt sich ebenfalls unkompliziert angeben mittels der allgemeinen Proposition ‚Ein Adliger namens Ribbeck verschenkt an die Dorfkinder im Herbst seine reifen Birnen‘. (200) Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, Ein Birnbaum in seinem Garten stand, Und kam die goldene Herbsteszeit Und die Birnen leuchteten weit und breit, Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl, Der von Ribbeck sich beide Taschen voll, Und kam in Pantinen ein Junge daher, So rief er: „Junge, wiste ’ne Beer? “ Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.“ (Theodor Fontane, Herr von Ribbeck) Solche übergeordneten Propositionen fassen als semantische Makrostrukturen, d. h. allgemein gehaltene, komplexe Informationsrepräsentationen, den Inhalt einzelner spezifischer Propositionen zusammen, die als Mikrostrukturen zu sehen sind. Unsere textuelle Kompetenz ermöglicht es also in der Regel schnell und meist intuitiv, das Thema anzugeben. Wenn wir nun aber versuchen, über diese Intuition wissenschaft‐ liche Aussagen zu machen, d. h. mit Hilfe linguistischer Methoden zu erklären, wie wir als Sprachbenutzer genau zu dieser übergeordneten, allgemeinen Information, die wir als Thema bezeichnen, kommen, wird es problematisch. Wie kristallisiert sich das Thema im Kopf der Leser, und aufgrund welcher Prozesse kommt es zu einer Art inhaltlichen Destillation bzw. Kondensation? Dass semantisch übergeordnete und den Inhalt komprimiert zusammenfassende Makrostrukturen bei der Bestimmung des Themas eine wichtige Rolle spielen, zeigt ein Text(ausschnitt) wie (201): (201) „Meine Herrschaften. - Gut. Alles gut. Er-ledigt. Wollen Sie jedoch ins Auge fassen und nicht - keinen Augenblick - außer acht lassen, daß - Doch über diesen Punkt nichts weiter. Was auszusprechen mir obliegt, ist weniger jenes, als vor allem und einzig dies, daß wir verpflichtet sind, - daß der unverbrüchliche - ich wiederhole und lege alle Betonung auf diesen Ausdruck - der unverbrüchliche Anspruch an uns gestellt ist - - Nein! Nein, meine Herrschaften, nicht so! Nicht so, daß ich etwa - wie weit gefehlt wäre es, zu denken, daß ich - - Er-ledigt, meine Herrschaften! Vollkommen erledigt. Ich weiß uns einig in alldem, und so denn: zur Sache! “ (Thomas Mann, Der Zauberberg, 755 f.) Trotz der vielen Wörter und Phrasen, die jedoch lediglich Floskeln ausdrücken, ohne referenzielle Informationen zum Aufbau eines TWM zu geben, lässt sich für den 5.4 Thema und Makrostrukturen: Wovon handelt der Text? 125 <?page no="126"?> semanti‐ scher Kern Makroproposition Makroregeln Auslassung Generalisie‐ rung Redebeitrag, den Mynheer Peeperkorn gibt, kein Thema angeben, da nicht eine einzige vollständige Proposition vermittelt wird. Die Fähigkeit, Makropropositionen zu bilden und zu verbalisieren, spielt bei bestimmten Berufsausübungen eine eminent wichtige Rolle: So müssen z. B. Protokollführer auf der Basis vieler einzelner, z.T. heterogener und abschweifender Redebeiträge die zentralen Themenaspekte erkennen und im Ergebnis beschreiben. In vielen textsemantischen Ansätzen wird das Textthema als semantischer Kern ei‐ nes Textes gesehen, von dem aus der Text als Ganzes informationell entfaltet wird. Von der in der Generativen Grammatik vorgeschlagenen Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstruktur ausgehend, wird das Thema der sogenannten Texttiefenstruktur zugeordnet. Diese Tiefenstruktur wird als rein semantisch charakterisiert. All diesen Ansätzen gemeinsam ist dabei auch die Auffassung, dass der semantische Kern durch ein auf dem Text operierendes Analyseverfahren extrahierbar sei (s. van Dijk 1980a, b, van Dijk/ Kintsch 1983, Brinker 7 2010). Dieses Verfahren besteht aus Konzentration (auf das Wesentliche) und Abstraktion (von irrelevanten Informationen): Durch diesen Prozess gelangt man zum Wesentlichen des Textinhalts, dem Grund- oder Hauptge‐ danken, der als Makroproposition zu fassen ist. Nach van Dijk (1980a, b) ist entspre‐ chend das Textthema „eine Makroproposition auf einem bestimmten Abstraktionsni‐ veau“. Diese fungiert als Makrostruktur, die als Hyperinformation an der Spitze einer hierarchisch geordneten Zusammenstellung aller Propositionen eines Textes steht. Die in Bezug auf das Textganze übergeordnete Makrostruktur (eine semantische Text‐ größe) muss nicht in sprachlicher Form im Text vorkommen, sondern kann sich auf‐ grund kognitiver Prozesse als Resultat des Textverstehens ergeben (s. z. B. (201)). Die Makrostruktur eines Textes wird van Dijk zufolge (der bislang den wichtigsten Beitrag zur Themenextraktion für die Textlinguistik vorgelegt hat) mittels bestimmter Regeln aus dem Text abgeleitet. Die Makroregeln (nach van Dijk 1980a, b), zumeist automatisch ablaufende Prozesse, die das Thema eines Textes erfassen, lassen sich folgendermaßen bestimmen: Auslassung, d. h. alle nicht relevanten Propositionen werden weggelassen, d. h. nicht mehr aktiviert: (202) Peter flog von Köln nach Berlin. Peter ging in Köln zum Flugschalter. Er gab sein Gepäck auf. Er erhielt eine Boarding Card. Er ging durch die Sicherheitskontrolle. Er betrat das Flugzeug. Er setzte sich, aß etwas. Der Flug dauerte 40 Minuten. Er landete in Berlin. Der Text (202) lässt sich reduzieren auf die wesentliche Proposition ‚Peter flog von Köln nach Berlin‘. Generalisierung, d. h. eine Folge von Propositionen wird ersetzt durch ein überge‐ ordnetes Kategorienkonzept (ein Hyperonym). (203) Eine Puppe lag auf dem Stuhl. Eine Eisenbahn stand auf dem Tisch, Bauklötze waren auf dem Boden verstreut. 126 5 Kohärenztheorie <?page no="127"?> Integration, Konstruktion Regel der Abstraktion Text (203) lässt sich verallgemeinernd zusammenfassen als ‚Spielzeug befand sich im Zimmer‘. Die einzelnen Propositionen auf der Mikroebene werden so durch eine ein‐ zelne Proposition repräsentiert, die deren Inhalt auf einer höheren Abstraktionsebene zusammenfasst. Integration und Konstruktion, d. h. eine Reihe von Propositionen wird durch eine neue Proposition ersetzt, die eine Voraussetzung oder Folge der einzelnen Propositio‐ nen ist. (204) Ich ging ins KaDeWe, wo ich mir die neue Herbstkollektion ansah. Ich kaufte ein paar Schuhe bei Sports. Zwischendurch trank ich schnell einen Kaffee und durchstöberte ein Antiquariat nach einer Erstausgabe von Heinrich Manns Der Untertan. Schließlich ging ich noch in die Boutique an der Ecke, um ein Halstuch zu erwerben. Text (204) lässt sich durch die globale Proposition erfassen ‚Ich habe einen Einkaufs‐ bummel gemacht‘. Nach dem Prinzip der Reduktion auf das Wesentliche des Inhalts und der paraphra‐ sierenden Generalisierung erfolgt die Identifikation des Themas, dabei wird eine hier‐ archisch übergeordnete Makrostruktur gewonnen. Die drei genannten Regeln Auslas‐ sung, Generalisierung und Integration/ Konstruktion lassen sich nicht immer klar trennen, man könnte sie auch als Regel der Abstraktion zusammenfassen. Anhand bestimmter narrativer Texte mit einer klaren (und chronologischen) Erzählstruktur und bei erklärenden Texten mit einem Argumentationsmuster kann man die Makro‐ regeln gut zur Anwendung bringen: (205) Über die Wirkungsweise von Emotionen auf das Gedächtnis bzw. die kognitiven Funktionen der gedächtnisgetragenen Informationsverarbeitung legen neuere und neueste Untersuchungen (s. u. a. Schürer-Necker 1994, Dalgleish/ Power 1999, Dahl 2003, Kenny 2 2003, Isen 2004) die Annahmen nahe, dass emotionale Bewertungen die Aufmerksamkeit beeinflussen und dadurch auch die Gedächtnisleistung affizie‐ ren, dass subjektiv Bedeutsames, also emotional Evaluiertes, tiefer verarbeitet wird, dass über als subjektiv relevant Bewertetes ein besser ausgearbeitetes Vorwissen vorhanden ist, und dass Kenntnisse, die metakognitiv eine emotionale Bewertung erhalten haben, leichter verknüpft und integriert sowie aktiviert werden. In der Psychologie gelten emotionale Faktoren seit längerem als relevante Einflussgrößen hinsichtlich memorialer Prozesse (s. z. B. Doan 2010, Derakhshan/ Eysenck 2010). (Schwarz-Friesel, 2 2013, 114) Das Auslassen der spezifischen kognitiven Teilfähigkeiten, der zitierten Literatur und der Erwähnung der Forschung sowie die generalisierende Integration der ersten und der letzten Proposition im Text führt folgerichtig zur Makroproposition ‚Emotionen haben großen Einfluss auf kognitive Prozesse‘. Diese Methode hat allerdings auch Schwächen (die sich u. a. daraus ergeben, dass sie in erster Linie mit Hilfe künstlicher, eigens konstruierter, passender Textbeispiele wie (202) bis (204) exemplifiziert wurde): Die Regeln lassen sich keineswegs auf alle 5.4 Thema und Makrostrukturen: Wovon handelt der Text? 127 <?page no="128"?> Relevanz‐ prinzip natürlichen Texte anwenden, denn bei Texten wie (196) und (198) lässt sich nicht klar festmachen, was ausgelassen und was generalisiert bzw. integriert werden kann, um zum Thema zu gelangen. Was sollte beispielsweise bei Celans Augenblicke, wessen Winke ausgelassen, was integriert werden? Die Themenidentifikation gestaltet sich hier als schwierig, die Makroregeln allein helfen nicht weiter. Auch der Prosatext (206) ist diesbezüglich problematisch: (206) Bei Aldi Schlangen an der Kasse. Ich habe Schweinefilet, Kartoffeln, Champignons, Rotwein und Milch im Einkaufswagen. Rentnerinnen zahlen mit Centmünzen, Trainingshosenträger diskutieren mit Kassiererinnen übers Wetter. Buddhistische Geduld ist gefragt vor der Kasse. Naturlich verleitet mich das, noch DVDs mitzu‐ nehmen und einen Straus Blumen. Kleine hilflose rote Rosen. Eine blaue Blume brauchte ich. Dann noch zum Tabakhändler und die Vorräte aufgefrischt. (Leander Sukov, Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod) Das Ergebnis von Reduktion und Integration zur Makroproposition ‚Sie war einkau‐ fen‘ erfasst nicht alle wesentlichen Informationen (die implizit vermittelten Gefühle und Bewertungen der Protagonistin (hilflose rote Rosen) werden nicht erfasst, der intertextuelle Verweis auf das Symbol der Romantik blaue Blume fällt weg). Die Regel‐ anwendung kann also unter Umständen zu einer Nivellierung relevanter Textinhalte führen und eine Makrostruktur erzeugen, die eben nicht das Wesentliche repräsentiert. Wie die Identifizierung von wichtigen und weniger wichtigen Aspekten des Textinhalts für das Thema geschieht, wird durch die Makroregeln nicht präzise gefasst. Makroregeln müssen stärker kontextsensitiv, textsortenabhängig und wissensgelei‐ tet definiert werden (z. B. ist der intertextuelle Hinweis auf die blaue Blume nur von Rezipienten mit einem entsprechenden Hintergrundwissen als solcher zu verstehen). Der Leser versucht, das in der gesamten Kommunikation geltende Relevanzprinzip bei der Themenidentifikation stets zu berücksichtigen, (‚Sei relevant‘, ‚Verbalisiere nur, was in der Kommunikationssituation wesentlich für Dein Anliegen ist‘; s. hierzu Kap. 2.1 und 4.3); dies ist offensichtlich. Wie er dies tut und wie dies kognitiv als Prozess zu modellieren ist, bleibt bislang noch unklar. Bislang gibt es jedenfalls keine Methode zur eindeutigen Bestimmung von relevanten Textthemen, zur Filterung der Essenz von der Akzidenz, also des Wesentlichen vom Unwesentlichen. Komplexe Texte weisen nicht nur eine, sondern mehrere Makrostrukturen auf: So lässt sich z. B. für den Roman Buddenbrooks als hierarchieoberste Makroproposition an‐ geben ‚Aufstieg und Untergang einer Lübecker Kaufmannsfamilie im 19. Jahrhundert‘. Diesem komplexen Thema lassen sich weitere Makrostrukturen in Form von Hyper‐ propositionen zuordnen, z. B. kapitelweise organisiert als ‚Die Familienmitglieder und ihr Haushalt werden vorgestellt‘‚ ‚Die Jugendzeit Tonys wird erzählt‘ etc. Innerhalb dieser Domänen wiederum lassen sich erneut referenzielle Sachverhalte als Subthemen identifizieren, z. B. ‚Tonys Begegnung mit Hagenström‘, ‚Tonys Aufenthalt im Pensio‐ nat‘ usw. Es zeigt sich eine Themenhierarchie, d. h. aus dem Hauptthema lassen sich diverse Nebenthemen ableiten (s. zum Ableitbarkeitsprinzip auch Brinker 7 2010: 51 f.). 128 5 Kohärenztheorie <?page no="129"?> Diese Nebenthemen müssen hinsichtlich ihrer Relevanz gewichtet werden: Sind z. B. die Schilderungen von Tonys gescheiterten Ehen für das Gesamtthema des Romans so relevant wie die Beschreibungen des Todes von Thomas und Hanno? Organisations- und Reflexionsprozesse zum Thema ergeben sich somit auf den verschiedenen Ebenen der Textstruktur: MS Aufstieg und Untergang einer Kaufmannsfamilie Hierarchieoberste Makrostruktur MS1 Die Familie MS2 Tonys Jugend MS3 Makrostrukturen MS1 Tonys Aussehen MS2 Tonys Begegnung mit Hagenström MS3 Makrostrukturen S1 S2 S3 S4 Mikrostrukturen Abb. 6: Hierarchische Darstellung von Mikro- und Makrostrukturen im Roman Buddenbrooks Die Abbildung 6 zeigt für den Roman Buddenbrocks diverse Makrostrukturen auf unterschiedlichen Hierachie-Ebenen, von der hierarchiehöchsten, die das Thema des Romans erfasst, über untergeordnete Makrostrukturen auf Zwischenebenen bis zu den Mikrostrukturen auf der Satzebene (wobei zu beachten ist, dass sich selbstverständlich auch die Makrostrukturen auf den Zwischenebenen jeweils bis zu den Mikrostrukturen zurückführen lassen). Bei vielen komplexen und anspruchsvollen Texten gibt es zudem oft mehrere The‐ men, die auch auf der obersten Hierarchieebene angesiedelt werden können. Goethes Faust z. B. lassen sich als Hauptthemen zuordnen: ‚die Lage/ Existenz des Menschen in der Welt‘, ‚Erkenntnismöglichkeiten des Menschen‘, ‚der Mensch zwischen Körper und Seele‘, ‚das Böse in der conditio humana‘, ‚der wissbegierige Mensch zwischen Natur 5.4 Thema und Makrostrukturen: Wovon handelt der Text? 129 <?page no="130"?> Salienz und Gott‘, ‚Schuld und Sühne‘ etc. Welches Thema im Lese- und Interpretationsprozess jeweils dominant ist, inwiefern es eine besondere kognitive Salienz (einen Aufmerk‐ samkeitsfokus, einen besonderen Stellenwert bei der Repräsentation) erhält, hängt nicht nur von der Textstruktur, sondern auch maßgeblich vom Vorwissen des jeweili‐ gen Rezipienten und der Rezeptionssituation ab: So kann vor der Rezeption des Textes bereits eine Textzusammenfassung oder eine Interpretation mit bestimmten Schwer‐ punkten gelesen oder gehört worden sein, die Einfluss auf die Themenfokussierung nimmt; eine bestimmte Aufgabe („Bestimmen Sie Faust als Repräsentanten des Men‐ schengeschlechts“) kann eine spezifische Salienzstruktur hinsichtlich der Thematik etablieren. Die Themenidentifikation ist ein Prozess, der von vielen verschiedenen Faktoren bestimmt wird: Lexik, Syntax, Referenzstrukturen, lokale und globale Kohärenz, Text‐ sortenwissen, Kontext, allgemeines und spezifisches Weltwissen. Die Themafindung beinhaltet verschiedene Teilprozesse: Identifizierung relevanter Textinhalte, Einord‐ nung von Textinhalten in übergeordnete Struktureinheiten, Gewichtung relevanter Textinhalte nach ihrer Salienz. Es bleibt festzuhalten, dass die Themenidentifikation maßgeblich von informationsgeneralisierenden und -konstruierenden Prozessen ab‐ hängt, denn sie erfordert vom Leser stets Abstraktionsprozesse und die Konzentration auf die wesentliche Idee, die im Text vermittelt wird. Dabei laufen offensichtlich wissensgesteuerte und kontextuell abhängige Präferenzregeln ab, die entscheiden, was tatsächlich als relevant zu erachten ist. Die Bestimmung dieser Präferenzmecha‐ nismen muss in der zukünftigen Forschung intensiver vorgenommen werden. Wie Relevantes von Irrelevantem unterschieden, wie das Relevanzprinzip textspezifisch im themaorientierten Rezeptionsprozess zur Anwendung kommt, ist bislang noch nicht hinreichend erklärt worden. Im folgenden Abschnitt werden wir uns nun anschauen, wie die Themenentfaltung auf der Mikroebene des Textes vonstattengeht, d. h. nach welchen Prinzipien die Informationsverteilung sequenziell so elaboriert wird, dass Kohärenz gewährleistet ist. Zusammenfassung von 5.4 Die Textlinguistik untersucht kognitive Prozesse, in denen einzelne Informationen aus dem Text, sogenannte Mikrostrukturen, durch die Auswahl relevanter Informa‐ tionen und Verallgemeinerungen zu Makrostrukturen zusammengefasst werden. Die hierarchiehöchste, oberste Makrostruktur kann als Textthema angesehen werden. Die Prozesse, mit denen wir zu Makrostrukturen kommen und ein Textthema bestimmen können, sind aber nicht nur Vorgänge des Weglassens und Zusammenfassens. Sie sind abhängig vom Kontext und von der Textsorte und werden auch durch unser Weltwissen und oft auch durch Emotionen bestimmt. 130 5 Kohärenztheorie <?page no="131"?> Übungen und Denkanregungen zu 5.4 19. Lässt sich für den folgenden Text ein Thema identifizieren? Durch welche Infor‐ mation? Lassen sich Makrostrukturen innerhalb des Textes angeben? Ermöglicht die Themenerkennung, den Sinn des Gedichts zu erfassen? (207) bahn übern bogen (savignyplatz, berlin) -blinkt bar & busen blinkt buntgestreifte domina stellt sich auf, auf: die -straßen ohne regung, rollen lippen, licken, rollen schwarze strümpfe über hüften, lippen -warten ohne regung: straßen, lecken krusten ganz im strumpf semipermeabel schwarze linien -[…] (Ulrike Draesner, bahn übern bogen) 20. Wir haben festgestellt, dass der Rezipient das Thema beim Lesen durch semanti‐ sche Reduktion und Kondensation erschließt, d. h. Verdichtung des komplexen Inhalts auf wenige relevante Informationseinheiten. Wie muss man sich den Prozess der Themenentfaltung im Sprachproduktionsprozess vorstellen? 21. Manchmal gibt ein Thema-Satz komprimiert den Inhalt an, aber nicht immer. Wir haben gesehen, dass der Titel/ die Überschrift eines Textes das Verstehen entschei‐ dend determinieren kann (s. Bsp. (185)). Hilft uns der Titel Die Verwandlung bei dem Prosastück von Franz Kafka, den Text besser und schneller zu verstehen? Steuert die darin enthaltene Information unsere Erwartungen hinsichtlich des Verlaufs der Geschichte, hilft sie, das TWM aufzubauen? 22. Was versteht man in der Textlinguistik unter Superstrukturen? Inwiefern spielen sie eine Rolle beim Textverstehen? 23. Mit welchen Verweisen wird in komplexen Texten oft global auf Makrostrukturen Bezug genommen? 24. Wenden Sie auf (208) die Makroregeln nach van Dijk an. Welche Makroproposition erhalten Sie dann? Sehen Sie Probleme bei der Anwendung? 5.4 Thema und Makrostrukturen: Wovon handelt der Text? 131 <?page no="132"?> (208) Ovalau ist eine ca 180 qkm große Insel vulkanischen Ursprungs mit, von dichtem Urwald überzogenen Hügeln und Bergen. Ovalau liegt ca 50 km nordöstlich von Suva in der Provinz „Lomaiviti“ welches Zentral Fidschi bedeutet. Abseits von Fidschi’s Turismuscenters präsentiert sich ein na‐ türlich ursprüngliches Fiji das von Massen Tourismus noch weit weg ist. Ovalau Holiday Resort ist geeignet für Familien mit Kindern oder kleine Reisegruppen die Wert auf die Möglichkeit zur Eigenversorgung legen. Unterkunft besteht aus Garten Bungalows mit je zwei Schlafzimmer, Dusche WC, Küche, Wohnzimmer und eigener Veranda Das Restaurant bietet eine interesante Kombination aus Europäischer, Indische und Fijanischer Küche. Sauber, ruhig, reale Preise, neue Endeckungen und Spaß. Also Ovalau ist wirklich eine Reise wert, und vorallem sind die Einheimischen dort sehr nett und offen. Also wenn ich die Wahl hätte zwischen Deutschland und Ovalau …..dann beantwortet sich die Frage von selbst. (www.de.answers.yahoo.com) 25. Können Sie die Regeln genauso bei (209) anwenden? Sehen Sie bestimmte Gewich‐ tungen bei der Anwendung von Auslassung, Generalisierung und Integration? (209) Wenn wir genauer zusehen, ist es nicht der Bestand von zwei Systemen […], sondern von zweierlei Vorgängen oder Ablaufarten der Erregung […] Wenn wir also sagen, ein unbewußter Gedanke strebe nach Überset‐ zung ins Vorbewußte, um dann zum Bewußtsein durchzudringen, so meinen wir nicht, daß ein zweiter, an neuer Stelle gelegener Gedanke gebildet werden soll […]. Wenn wir sagen, ein vorbewußter Gedanke wird verdrängt und dann vom Unbewußten aufgenommen, so könnten uns diese dem Vorstellungskreise des Kampfes um ein Terrain entlehnten Bilder zur Annahme verlocken, daß wirklich in der einen psychischen Lokalität eine Anordnung aufgelöst und durch eine neue in der anderen Lokalität ersetzt wird. Für diese Gleichnisse setzen wir ein, was dem realen Sachverhalt besser zu entsprechen scheint, daß eine Energiebeset‐ zung auf eine bestimmte Anordnung verlegt oder von ihr zurückgezogen wird, so daß das psychische Gebilde unter die Herrschaft einer Instanz gerät oder ihr entzogen ist. (Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 473) 26. Welche Makropropositionen lassen sich aus folgendem Text durch welche Opera‐ tion gewinnen? (210) Als wir nach langer Fahrt in Livorno ankamen, suchten wir Taxis, um schnell zum Fährhafen zu kommen. Denn dort sollte in wenigen Minuten unsere Fähre nach Bastia abfahren. Bei der Suche sahen wir ein Feuerwerk. Dann kamen endlich die ersehnten Taxis. Sie fuhren wie die Wilden, doch leider sahen wir die Fähre aus dem Hafen fahren, als wir im Fährhafen ankamen. Wir überlegten, wo wir heute Nacht schlafen sollten. Wir gingen zum Schalter der Fährgesellschaft und fragten einen Mann, ob wir auf der Wiese übernachten dürften. Dann legten wir unsere Sachen unter freiem Himmel aus, nahmen einen kleinen Snack zu uns und gingen ins Bett. (Reisebericht einer Jugendgruppe, www.epb-georgsritter.de) 132 5 Kohärenztheorie <?page no="133"?> Informati‐ ons-Entfal‐ tung Informati‐ onsstruktur 27. Ist in diesem Text eine Makroproposition explizit oder implizit verbalisiert? Lässt sich das Thema des Textes auf diese Makroproposition reduzieren? (211) Der Fuchs und die Weintrauben Ein Fuchs erblickte auf einem hohen Baum mehrere Weintrauben, die ihn zum Genusse reizten. Er gab sich alle Mühe und versuchte mehrere Sprünge, aber es war ihm nicht möglich, sie zu erreichen. Da er nun sah, dass seine Mühe vergebens sei, so verbarg er seinen Verdruss und sagte im Weggehen: „Ich will diese Trauben nicht essen, sie sind mir zu grün und allzu sauer.“ So wird oft das Verdienst verkleinert, weil wir es nicht erreichen können. (Aesop, Der Fuchs und die Weintrauben) 28. Bilden Sie eine Makroproposition zu (212). Gibt es eine Salienzstruktur? Welche Information ist besonders relevant? (212) Jonas. Telefon. Nummer wählen. Warten. Auflegen. Jonas. Nummer wäh‐ len. Warten. Auflegen. Jonas. Nummer wählen. Warten. Nicht auflegen. (Leander Sukov, Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 5.4 Wulff (1979) geht auf die Relevanz von Titeln für das Textthema ein; van Dijk (1980a, b) erörtert Makroregeln und Makrostrukturen; von Stutterheim (1994) erläutert den themenorientierten Quaestio-Ansatz. Einen allgemeinen Überblick zur Thema-Proble‐ matik gibt Hoffmann (2000). Bärenfänger (2011) stellt in den ersten Kapiteln ihrer computerlinguistischen Arbeit grundlegende Fragen und Probleme der Thematik dar. 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 5.5.1 Progressionstypen und Themenentfaltung In Kap. 4 wurde erörtert, inwiefern Texte sich auf referenzielle Sachverhalte beziehen. Jeder Text berichtet auf eine spezifische Weise über etwas, vermittelt dem Rezipienten bestimmte Informationen über Personen, Dinge, Handlungen etc., gibt also Angaben zum Aufbau eines Textwelt-Modells. Wie wir in Kap. 5.4 gesehen haben, spielt dabei das übergeordnete Thema eines Textes eine entscheidende Rolle, da es die Entfaltung der Informationen bestimmt. Ein wichtiges Anliegen der Textlinguistik besteht darin, genauere Angaben über die Art und Weise der Informationsverteilung in Texten ma‐ chen zu können. Wie entfaltet sich die Information im Text? Wie ist das Verhältnis von bekannter, alter und unbekannter, neuer Information und entsprechend die Wechsel‐ wirkung von Aktivierung, Re-Aktivierung und De-Aktivierung? Wie die Sätze in einem Text Informationen vermitteln, wie sie jeweils die Information der vorherigen Sätze 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 133 <?page no="134"?> Thema-Rhema Themati‐ sche Pro‐ gression und Satzteile wieder aufnehmen und wie die Verknüpfung alter und neuer Informa‐ tionen dabei gegliedert wird, mit diesen Fragen beschäftigt sich die Thema-Rhema- Analyse oder die Theorie der Informationsstruktur(ierung). Zu beachten ist hier, dass der Terminus Thema in der Thema-Rhema-Analyse etwas anders definiert wird als der auch alltagssprachlich benutzte Terminus Thema (s. Kap. 5.4). Thema meint im Rahmen der Informationsstrukturanalyse einen bestimmten Informationswert, nämlich das Be‐ kannte, die alte Information, während Rhema das Unbekannte, Neue bezeichnet. Aus kognitiver Perspektive werden Thema und Rhema als Informations- oder Aktivierungszustände im Arbeitsgedächtnis des Lesers betrachtet. Übertragen wir dies auf die Konzeption des Textwelt-Modells, dann haben thematische Einheiten im Textwelt-Modell bereits eine Repräsentationseinheit und re-aktivieren diese nur, während rhematische Textelemente neue Einheiten im Textwelt-Modell etablieren oder erstmalig aktivieren. Wie wichtig die Verteilung und Organisation von Informationen ist, wenn man sinnvoll, effizient und erfolgreich kommunizieren will, zeigen die folgenden (konstru‐ ierten) Texte (wobei wir bereits natürliche Texte ähnlicher Art betrachtet haben): (213) Die Rosen im Garten blühen schon. Das Buch ist fertig. Unsere Uni ist pleite. Konrad liest Harry Potter. Der Mond ist aufgegangen. Sigi hört Chopin. Sie tanzen und tanzen. Er ruft „Komm! “ Ein Text, der wie (213) kontinuierlich nur neue Informationen aneinanderreiht, die in keinem erkennbaren lokalen oder globalen Zusammenhang stehen, ist nicht nur verwirrend, auf die Dauer ermüdet er auch und bietet keinen Anreiz, weiter gelesen zu werden. Ein Text, der nur bekannte Informationen aneinanderreiht, ist ebenfalls langweilig und komplett uninformativ: Der Leser kommt in eine Endlosschleife, die schnell kognitiv ermüdet. (214) Eine Rose ist eine Rose eine Rose eine Rose eine Rose, ist eine Rose. Eine Rose ist eine Rose … (frei nach Gertrude Stein) Manchmal wird allerdings gerade die eine oder andere gezeigte Form bewusst benutzt, um künstlerische, poetische Effekte zu erzielen (insbesondere in der visuellen Poesie; s. hierzu auch (2), (14) und (23)): Natürliche Texte (sehen wir einmal von konkreter Poesie, visueller Lyrik und Dadaistik etc. ab) zeichnen sich aber in der Regel dadurch aus, dass sie bekannte und unbekannte Information so miteinander verbinden, dass ein hinreichend hohes Maß an Informativität gewährleistet ist. Unter thematischer Progression versteht man dementsprechend die Entfaltung von neuer, unbekannter Information auf der Basis alter, bekannter Information. Typisch für 134 5 Kohärenztheorie <?page no="135"?> referenzielle Bewegung Themakonstanz die dynamische Progression ist, dass sie vom Bekannten (Thema) zum Unbekannten (Rhema) verläuft, wenn Informationsexpansion bewirkt werden soll. Vom Bekannten (Thema) zum Bekannten (Thema) verläuft die Progression dagegen, um Kontinuität zu bewahren. Man kann den Wechsel von Kontinuität und Progression auch als referen‐ zielle Bewegung oder referenzielle Dynamik bezeichnen. Thema und Rhema kommen also bei der Textkonstitution komplementäre Funktionen zu: Thematische Elemente sichern durch Wiederholung referenzielle Kontinuität, rhematische Elemente bringen durch Wechsel neue Repräsentationen in das TWM und erreichen damit Weiterent‐ wicklung und informationellen Zuwachs. Durch die beständige Interaktion von Kon‐ tinuität und Progression vollzieht sich die Themenentfaltung und Dynamik in einem Text. Bezogen auf unsere kognitive Modellvorstellung in Kap. 4.2 geht es prozedural um die Interdependenz von Aktivierungs-, Re-Aktivierungs- und De-Aktivierungs‐ phasen. Man kann verschiedene Typen thematischer Progression (als kontinuierliche Ent‐ wicklung der Informationen in Texten) unterscheiden, von denen wir uns nun die Wichtigsten anschauen: Bei einer Progression mit durchgehender Themakonstanz (Progression mit durchlaufendem Thema) wird der als rhematisch eingeführte Referent im nächsten Satz zum Thema: (215) Seit Mai 2012 ist das jüngste Schiff der AIDA Flotte, AIDAmar (RHEMA/ Aktivie‐ rung), auf den Weltmeeren unterwegs - und ist schon jetzt ein gefeierter Star. Am 22. November 2012 erhielt das Kreuzfahrtschiff (THEMA/ Re-Aktivierung) im Rahmen der diesjährigen „Cruise Night“-Gala in Hamburg den begehrten Kreuzfahrt Guide Award 2012 […] Es (Thema/ Re-Aktivierung) […] Es […] (www.aida.de, 23.11.2012) Gleichbleibendes Thema ist das Schiff Aidamar, das als Textreferent im Fokus bleibt, aber zugleich durch die prädikativ vermittelten rhematischen Informationen (gefeierter Star, erhielt Kreuzfahrt Award) spezifiziert wird. Wir sehen hier eine kontinuierliche Phase der thematischen Re-Aktivierung. Bei der linearen thematischen Progression wird das Rhema des ersten Satzes auch zum Thema des nachfolgenden Satzes, das Rhema des zweiten Satzes wird zum Thema des dritten Satzes usw. (216) Es war einmal in einem dunklen Sumpf (Rhema/ Aktivierung). Dort (Thema/ Re-Ak‐ tivierung) lebte ein hässliches grünes Monster: Shrek, der Oger (Rhema/ Aktivie‐ rung). Er (Thema/ Re-Aktivierung) lebte dort ganz alleine, […] (www.amazon.de) Aktivierung und Re-aktivierung wechseln sich also ab, das TWM wird durch immer mehr hinzukommende Textreferenten angereichert. In Beispiel (217) bleibt dieser Progressionstyp bis zur Einführung des Waldelbs und wechselt dann zwei Sätze lang zum Typ Themakonstanz (wobei es zu zwei Re-Aktivierungen kommt, einer kontinu‐ 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 135 <?page no="136"?> gespaltenes Thema/ Rhema Null- Anapher Hyperthema ierlichen, unmittelbar den Waldelb betreffend, und einer diskontinuierlichen, die alte Eiche wieder aufnehmend). Danach erfolgt wieder lineare thematische Progression: (217) Im Sommer ist im Nachbargarten eine Feenfamilie (Rhema) eingezogen. Sie (Thema) wohnen in der alten Eiche (Rhema) hinter dem verwilderten Rosenbeet. Früher wohnte dort (Thema) ein griesgrämiger Waldelb (Rhema). Der (Thema) ist schon vor einer Weile umgezogen. Dem (Thema) gefiel es dort (Thema) nicht mehr. Wegen den frechen Eichhörnchen (Rhema). Die (Thema) ärgerten ihn oft. (www.leselupe.de) Unterscheiden lässt sich auch Progression mit einem gespaltenen Rhema oder Thema, wobei Rhema oder Thema in mehrere Themen zerlegt, also gespalten werden: (218) Es war einmal eine Zauberin (Rhema1), die (Thema1) hatte drei Söhne (Rhema2), die (Thema2) sich brüderlich liebten: aber die Alte (Thema1) traute ihnen (Thema2) nicht und Ø (Thema1) dachte[,] sie (Thema2) wollten ihr (Thema1) ihre (Thema1) Macht rauben. Da verwandelte sie (Thema1) den ältesten (Teil vonThema2 = Thema2a) in einen Adler, der (modifiziertes Thema2a = Thema2a’) mußte auf einem Felsengebirge hausen und man sah ihn (Thema2a’) manchmal am Himmel in großen Kreißen auf und nieder schweben. Den zweiten (Teil von Thema2 = Thema2b) verwandelte sie (Thema1) in einen Wallfisch (Thema2b’), der (Thema2b’) lebte im tiefen Meer, und man sah nur, wie er (Thema2b’) zuweilen einen mächtigen Wasserstrahl in die Höhe warf. Beide (Thema2a’ + 2b’) hatten nur zwei Stunden jeden Tag ihre (Thema2a + 2b) menschliche Gestalt. Der dritte Sohn (Thema2c), da er (Thema2c) fürchtete sie (Thema1) möchte ihn (Thema2c) auch in ein reißendes Thier verwandeln, in einen Bären oder einen Wolf, so gieng er (Thema2c) heimlich fort. (Gebrüder Grimm, Die Krystallkugel) Text (218) zeigt, dass eine strikt binäre Einteilung der Satzinformation in ein Thema und ein Rhema nicht aufrecht zu erhalten ist: Im ersten Satz sind sowohl eine Zauberin als auch drei Söhne neue Information, die beide als Themakonstanz durch Pronomina und die Zauberin durch eine Umschreibung (die Alte) sowie eine sogenannte Null-Ana‐ pher (Ø, wobei die syntaktische Position der Anapher leer bleibt) wieder aufgenommen werden. Dann erfolgt die thematische Aufspaltung: Nicht alle Referenten werden plural gemeinsam als Thema fortgeführt, vielmehr erfolgt die Bezugnahme auf die einzelnen Referenten (den ältesten, den zweiten, der dritte Sohn). Wie wir nun bereits gesehen haben, muss ein Referent oder referenzieller Sachver‐ halt nicht notwendigerweise kontinuierlich aufgenommen werden, damit referenzielle Kontinuität in einem Text besteht. Die Progression mit abgeleitetem Thema zeichnet sich dadurch aus, dass eine übergeordnete Referenzdomäne, ein kognitives Schema die thematische Entfaltung bestimmt. In der Thema-Rhema-Analyse spricht man auch von einem Hyperthema. Die lineare Dimension des Textes reicht also allein nicht aus, um thematische Strukturen zu erklären (s. hierzu bereits die Makrostrukturenebene in Kap. 5.4). 136 5 Kohärenztheorie <?page no="137"?> (219) Was ist Kino? (Rhema, aktiviert Schema K I N O ) Man geht an die Kinokasse (Thema durch Kino/ zugleich rhematisch durch Kasse), kauft sich eine Eintrittskarte vielleicht noch etwas Süßigkeiten und ein Getränk dazu (Rhemata), vor allen Dingen darf natürlich Popcorn (Rhema) nicht fehlen. Was wäre Kino ohne Popcorn (Thema)? Es klingt alles so einfach, man setzt sich in den Kinosaal (Thema durch Kino/ zugleich rhematisch durch Saal) und schaut auf die großen Bilder auf der Leinwand (Rhema, aber grammatisch durch bestimmten Artikel als Thema gekennzeichnet). Und nach dem Film (Rhema, aber grammatisch durch bestimmten Artikel als Thema gekennzeichnet) geht man wieder nach Hause und erinnert sich an das eben erlebte (Thema; fasst den gesamten Sachverhalt zusammen) oder auch nicht. (www.derchiemgauer.de) Kino ist das Hauptthema und führt als Schema zu referenziellen Informationen im LZG, deren globale Aktivierung es ermöglicht, zu der übergeordneten Referenzdomäne passende Referenten definit einzuführen, obgleich sie noch nicht vorerwähnt wurden. Der Leser hat kein Problem, diese Textreferenten im Schema KIN O kognitiv als Stan‐ dardwerte zu verankern und damit als re-aktiviert zu behandeln. Es handelt sich um rhematische Thematisierungen, da sie sowohl Kontinuität als auch Progression gewährleisten (s. hierzu auch das Phänomen der indirekten Anaphorik weiter unten in diesem Kapitel). Die Typen der thematischen Entfaltung zeigen Möglichkeiten auf, wie Informatio‐ nen in Texten verteilt und organisiert sein können. Die meisten natürlichen Texte weisen aber informationsstrukturell eine Vielfalt von Informationsorganisationen auf, d. h. sie sind durch unterschiedliche Kombinationen verschiedener Progressionstypen gekennzeichnet (wie man bereits in (217) und (218) gesehen hat). (220) „Was ist das. - Was - ist das …“ „Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle! “ Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armses‐ sel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt. „Tony! “ sagte sie, „ich glaube, daß mich Gott -“ Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachden‐ kend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein, wiederholte noch einmal: „Was ist das“, sprach darauf langsam: „Ich glaube, daß mich Gott“, fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: „- geschaffen hat samt allen Kreaturen“, war plötzlich auf glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam, den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben, anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu revidiert herausgegeben war. (Thomas Mann, Die Buddenbrooks, Anfang des Romans) Der Text beginnt unmittelbar mit zwei Äußerungen in direkter Rede, wobei der Leser je‐ doch nicht weiß, worauf sich die Ausdrücke das, die la question und die chère demoiselle 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 137 <?page no="138"?> beziehen (und die damit nicht zurücksondern vorwärtsverweisend sind), von wem die Redebeiträge stammen und welche Rolle sie im Geschehen der Geschichte spielen. Der Einstieg in die Textwelt erfolgt ohne Einleitung, ohne spezifische Themenanbindung. Es gibt noch keine Referenzdomäne lokaler, temporaler oder personaler Art. Für den Leser ist dieser Anfang aufgrund seiner informationellen Vagheit und referenziellen Unterspezifikation wie ein Rätsel. Die Informationen stehen sozusagen luftleer im mentalen Raum, lassen sich nicht verankern, da es noch kein TWM gibt. Aufgrund der Erwartungen, die an die Textsorte Roman gestellt werden sowie das Vertrauen in die Einhaltung des Relevanzprinzips gehen wir als Leser jedoch hypothetisch davon aus, dass uns im nachfolgenden Text dafür eine Erklärung und thematische Anbindung gegeben wird. Durch den Titel Buddenbrooks und Untertitel Zerfall einer Familie ist zudem wenigstens eine sehr globale Makroproposition vorgegeben, die antizipieren lässt, dass die beiden Äußerungen mit dieser Familie irgendetwas zu tun haben. Die Redebeiträge beziehen sich auf eine unvollständige, nicht zu Ende gebrachte Äußerung der kleinen Tony, die einen Artikel des Katechismus auswendig aufsagen soll, dabei aber stecken bleibt. Die Ausdrücke das und la question beziehen sich auf die Proposition von dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, die Tony nicht sofort eingefallen ist. Diese Auflösung der Unterspezifikation und die referenzielle Spezifizierung erfolgen aber erst spät, nachdem zuvor einige Familienmitglieder und ihr Mobiliar eingeführt wurden: Bis dahin bleibt im Textverstehensprozess eine gewisse Spannung und Antizipationshaltung (s. hierzu auch Kataphorik und Spannung). Die Informationsstruktur zeichnet sich durch eine Kombination von Themasprung, Themenkonstanz, linearer Progression und Progression mit abgeleitetem Thema aus. Die Repräsentation des konzeptuellen Texreferenten T ON Y , eingeführt zunächst mit der Informationseinheit kleine Tochter, wird sukzessive angereichert und erhält im TWM die Repräsentationseinheit ( T O CHT E R D E R KO N S U LIN B UDD E N B R O OK , HE I S S T ANTO NI E , G E NANNT T O N Y , I S T ACHT J AH R E ALT , ZA R T G E BAUT , T RÄG T E IN KL E IDCH E N AU S S E ID E , I S T HÜB S CH , HAT B L OND E HAA R E , G R AU B LAU E AU G E N ). Dieses Konzept wird im weiteren Leseprozess auf über 700 Seiten dann noch erheblich elaboriert. Die spezifische Anordnung von Informationen im Text gewährleistet nicht nur Informativität, Spannung, Kohärenz und Themenidentifizierung. Die jeweilige Plat‐ zierung und Hervorhebung, aber auch das Weglassen von Informationen tragen entscheidend dazu bei, dass bestimmte Perspektivierungen und Evaluierungen (Be‐ wertungen) ausgedrückt werden. Gerade im massenmedialen Diskurs kann dies der Persuasion, d. h. der Beeinflussung der Rezipienten hinsichtlich Bewusstseinsteuerung und Meinungsbildung dienen (s. hierzu ausführlicher Kap. 6.5). Zusammenfassung von 5.5.1 Der Erklärungsansatz der thematischen Progression orientiert sich an der satzbezoge‐ nen Thema-Rhema-Analyse, die die Informationsstruktur von Sätzen durch die beiden Informationswerte alt (bekannt)/ neu (unbekannt) gegliedert sieht und die Themenent‐ faltung in Texten durch die Interaktion zwischen diesen beiden Werten bestimmt sieht. 138 5 Kohärenztheorie <?page no="139"?> Thema und Rhema haben komplementäre Funktionen: Thematische Einheiten sind textkonstituierend und etablieren Kontinuität, während rhematische Einheiten neue Informationen in die Textwelt bringen und damit eine Erweiterung, eine Expansion und somit Progression bewirken. Es gibt verschiedene Progressionstypen, die jeweils im Wechsel bestimmte Aneinanderreihungen von Thema und Rhema aufweisen. Natürliche Texte zeichnen sich mehrheitlich aber dadurch aus, dass mehrere Typen der Informationsentfaltung miteinander kombiniert werden. Wir werden nun im Detail anhand des Phänomens der Anaphorik betrachten, wie und nach welchen Prinzipien die thematische Progression auf der mikrostrukturellen Textebene im Prozess der kognitiven Kohärenzetablierung verläuft. Dabei werden wir die strukturell ausgerichtete Theorie der Themenentfaltung und Thema-Rhema-Ana‐ lyse um die prozedurale Dimension erweitern und wichtige Aspekte des Textverste‐ hensprozesses in unsere Analysen einbeziehen. Übungen und Denkanregungen zu 5.5.1 29. Wie charakterisieren Sie die thematische Progression im folgenden Beispieltext? (221) Das Schwarze Meer ist eigentlich blau, aber es glitzert schwarz. Genau wie Mamas Haar. Irina hat Mamas Haar. Ich bin schneeblond. Klingt besser als wasserstoffblond. (Ulrike Almut Sandig, Salzwasser, 59) 30. Geben Sie an, welche verschiedenen Progressionstypen sich in (222) finden lassen: (222) Zwei Männer greifen Polizisten in Neukölln an Ein 26-jähriger Autofahrer und sein Beifahrer (19) hätten sich wohl andere Opfer für ihre Pöbelei aussuchen sollen. Die beiden Männer legten sich in Neukölln mit der Besatzung eines Streifenwagens an. Der Grund: Sie ärgerten sich darüber, dass die Polizisten ihrer Ansicht nach zu langsam fuhren. Gegen 16.50 Uhr wurden die Beamten zu einem Unfall in der Karl-Marx-Straße gerufen. Die Beamten suchten den Einsatzort und fuhren schließlich langsam in Richtung Grenzallee. An der Ecke Flughafenstraße hielten sie in zweiter Reihe an. Neben dem Streifenwagen stoppte der BMW mit den beiden Männern. Der Fahrer schrie die Beamten an, dass sie schneller fahren sollten, setzte sich danach vor den Streifenwagen und stoppte. Beide Männer stiegen aus und gingen auf die Polizisten zu. Es entwickelte sich eine Rangelei, bei der eine Polizistin (33) ins Gesicht geschlagen wurde. Nach dem Schlag wollten die beiden Männer fliehen. Daran wurden sie aber von weiteren Polizisten gehindert. (BZ-online, 30.08.2013) 31. Schlagen Sie James Joyce’ berühmten Roman Ulysses auf und schauen Sie, welche Themenentfaltung dort primär zu finden ist. Welche Erzählperspektive wird dadurch vermittelt? (Ohne Lösungsangabe) 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 139 <?page no="140"?> Definition Anapher Koreferenz 5.5.2 Anaphorik und Kataphorik: Direkte und indirekte Typen Anaphern sind die wichtigsten lokalen Kohärenzmittel in Texten, da sie dazu beitragen, dass satzübergreifend referenzielle Kontinuität besteht. Daher ist die Analyse und Er‐ klärung von anaphorischen Relationen das Herzstück jeder Kohärenztheorie. In der Textlinguistik versteht man unter Anaphern etwas anderes als in der Stilistik, wo Ana‐ pher jede Wiederholung am Anfang eines Satzes oder Verses in einem Text meint. Die textlinguistische Definition fasst jeden definiten Ausdruck, der einen bereits erwähn‐ ten Referenten sprachlich wieder aufnimmt, als Anapher. Anaphorische Ausdrücke drücken folglich Koreferenz (Referenzidentität) aus (s. hierzu bereits 5.1). Abb. 7: Drei-Ebenen-Modell des Anaphernverstehens Wie das Modell zeigt, sind bei der Analyse von Anaphern drei Ebenen zu unterscheiden: Auf der sprachlichen Ebene des Textes zeigen sich Anaphern als sprachliche Ausdrücke (definite Nominalphrasen, dazu gehören auch Pronomina), die grammatisch und se‐ mantisch exakt beschrieben werden können. Diese Ausdrücke verweisen auf denselben Referenten (oder bei Komplexanaphern auf einen referenziellen Sachverhalt) in der außersprachlichen Realität (wobei diese Realität die Alltagswelt oder eine fiktive Welt sein kann). Diese Funktion etabliert die Relation der Koreferenz. Zudem etablieren Anaphern auch auf der konzeptuellen Ebene des TWM Referenzeinheiten, die im Arbeitsgedächtnis der Rezipienten als mentale Informationsknoten gespeichert und im Laufe des Textverstehensprozesses sukzessive angereichert werden (können). Somit existieren, wie wir bereits in Kap. 4 erörtert haben, zwei Referenzebenen. 140 5 Kohärenztheorie <?page no="141"?> Dynamik Antezedens Salienz Aufmerksamkeitsfokus Eine zentrale Eigenschaft des TWM ist seine Dynamik: Im Laufe des Textverstehens verändert es sich, wird elaboriert, die Textreferenten werden modifiziert, verschwinden eventuell (ganz oder nur für eine Weile), werden wieder aufgenommen, neue Textre‐ ferenten kommen hinzu, tauchen in anderen Sachverhalten und Handlungen auf, und verändern sich (so wie zwei Söhne der Zauberin in (218) zu Tieren werden). In Kafkas Erzählung Die Verwandlung z. B. wird Gregor Samsa als Mensch eingeführt, der sich allerdings in ein Insekt verwandelt hat. Seine Familie bezeichnet ihn zunächst noch mit er, am Ende aber mit dem genusneutralen Pronomen es. Der schleichende Prozess der Dehumanisierung aus der Perspektive der Romanfiguren wird so verdeutlicht. Vgl. auch: (223) Wieder zurück im Freien verwandelt sich Lupin aufgrund des Vollmondes in einen Werwolf. Um die Menschen um sich zu schützen, verwandelt sich Sirius wieder in einen Hund und kämpft gegen seinen Freund. (www.de.wikipedia.org) (224) Während Betty 1 Bruce 2 telefonisch über das Gespräch mit ihrem 1 Vater informiert, wird Bruce 2 immer wütender und verwandelt sich schließlich in ein übermenschen‐ großes grünes Ungeheuer, den „Hulk“ 2 . … Auf seiner Flucht durch die Wüste wird der Hulk 2 von dem Militär gejagt. In San Francisco angekommen, kann ihn 2 erst Bettys 1 Anblick besänftigen; er 2 verwandelt sich in Bruce 2 zurück. (www.de.wikipedia.org) Die tiefgestellten Ziffern (sogenannte Referenzindices) in den Beispielsätzen zeigen formal die jeweiligen Koreferenzrelationen an. Der erstgenannte referenzielle Aus‐ druck wird das Antezedens oder in Anlehnung an die englische Terminologie auch der Antezedent genannt, wörtlich „das Vorausgehende“. Antezedenten erwähnen erstmalig im Text einen Referenten. Der Antezedent ist der Bezugspunkt für alle weiteren ana‐ phorischen Ausdrücke. In ihrem Informationsstatus sind anaphorische Ausdrücke im‐ mer ‚thematisch‘, da sie sich auf vorerwähnte, bereits aktivierte Referenten beziehen. Ihr Gebrauch setzt voraus, dass der Referent schon eine Repräsentation im Text‐ welt-Modell hat. Im TWM kommt es bei einer Anapher immer zu einer Re-Aktivierung des bereits repräsentierten Referenten. In kognitiven Ansätzen wird der Aktivierungsstatus solcher Referenten auch als Sali‐ enz (Auffälligkeit) beschrieben (s. Chafe 1976, Givón 1983). Saliente Textreferenten sind diejenigen, die die höchste kognitive Aufmerksamkeit erhalten, also im TWM am stärks‐ ten aktiviert sind. Daher sind sie im TWM die wahrscheinlichsten Anknüpfungspunkte für anaphorische Beziehungen. Prozedurale Salienz entsteht online während des Lese‐ prozesses. Ein Textreferent (auch wenn er eine Nebenfigur ist), ist salient, während er im KZG verarbeitet wird, er ist dann im Aufmerksamkeitsfokus. Ob er über längere Passa‐ gen der Textrezeption salient bleibt oder als Nebenfigur bald wieder de-aktivert wird, hängt von Texteigenschaften auf zwei Ebenen ab, nämlich der Ebene von Textgramma‐ tik und -semantik und der konzeptuellen Ebene: Auf der ersten Ebene tragen die syntak‐ tische Position und Funktion des Ausdrucks (z. B. als Erstglied eines Satzes und als Sub‐ 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 141 <?page no="142"?> Diskurstopik jekt), Agentivität (die semantische Rolle als Handelnder) und die Anzahl sowie die Art der Mehrfacherwähnung zur Erhaltung von Salienz bei. Je häufiger ein Textreferent in expo‐ nierter Stellung in der Agens-Rolle im Text erwähnt wird, desto salienter wird er. Auf konzeptueller Ebene ist ein Textreferent salient aufgrund seiner Relevanz in der Text‐ welt (auch wenn er eventuell über mehrere Sätze hinweg nicht erwähnt wird): Die Fami‐ lienmitglieder in den Buddenbrooks z. B. sind alle saliente Textreferenten, da sie die Haupt‐ figuren in der Romanwelt sind; sie sind sogenannte Diskurstopiks, für die Koreferenz-Ketten über den ganzen Text hinweg zu erwarten sind. Es steht eine Vielfalt an sprachlichen Mitteln zur Verfügung, um Koreferenz aus‐ zudrücken: Zur anaphorischen Referenz können Personal-, Possessiv- oder Demonst‐ rativpronomina wie in Beispiel (225) und (237, Anapher10) verwendet werden, des Weiteren die gleichen Ausdrücke, also Rekurrenz wie in (226) und (236), Null-Ana‐ phern (s. Ø im Märchentext Krystallkugel, Bsp. (218)), Synonyme wie in (227) und (228) und Quasi-Synonyme wie in (229) (Synonym auf unterschiedlichen Stilebenen), Hyperonyme wie in (230) (Musiker ist Hyperonym zu Schlagerstar), (231) und (232), Hyponyme (semantisch untergeordnete, also spezifischere Ausdrücke) wie in (233), Paraphrasen (Umschreibungen) wie in (234), textuelle Paraphrasen (d. h. Ausdrücke, die kontextgebunden nur im jeweiligen TWM Koreferenz ausdrücken wie in (235)) oder Eigennamen wie in (230) und (236): (225) Der Professor 1 ist über dem Studium der Schmetterlinge verrückt geworden. Er 1 wird zuerst in die Anstalt gebracht, nach zwei Jahren jedoch wieder entlassen, weil man darauf gekommen ist, daß seine 1 Verrücktheit für die Welt nicht gefährlich ist. (Thomas Bernhard, Der Professor) (226) Schneeballschlachten auf dem Schulhof sind verboten - ein Lehrer 1 machte trotz‐ dem mit. […] Ein Schneeball traf den Lehrer 1 direkt aufs Auge, das war kein harmloser Treffer. (www.spiegel.de, 07.01.2013) (227) Besoldung von Hochschullehrern 1 - Was dem Professor 1 gebührt (Der Tagespiegel, 12.01.2012) (228) Einen Albtraum im Fahrstuhl 1 haben zwei Männer 2 in Japan erlebt: Als die beiden Mitarbeiter einer Tokioter Transportfirma 2 in den Lastenaufzug 1 stiegen, schoss der Lift 1 plötzlich in die Höhe. (www.t-online.de, 10.07.2013) (229) Gegen Parkinson und andere Krankheiten ist ein Gras 1 gewachsen. Während in Deutschland die gesetzlichen Hürden für den medizinischen Gebrauch von Marihuana 1 nach wie vor extrem hoch sind, ist man in Israel eindeutig weiter. ( Jüdische Allgemeine, 04.07.2013) (230) Geklauter Zug kracht in Wohnhaus von Schlagerstar 1 . Richard Herrey 1 hörte zuerst ein Geräusch, dann ein lautes Krachen: Genau in diesem Moment fuhr eine 22-jährige Putzfrau einen Stockholmer Vorortzug mitten in das Haus des Musikers 1 , der einst mit seinen 1 Brüdern den Eurovision Song Contest gewann. (www.tagesschau.de) 142 5 Kohärenztheorie <?page no="143"?> (231) […] der Regen 1 zerplatzte auf der Terrasse vor dem Haus und fegte durch die Ebene des Ruppiner Landes. Das Wasser 1 floss vom Hausdach […]. (Louise Jacobs, Gesellschaftsspiele, 9) (232) Immer mehr Staatschefs entdecken Twitter 1 für sich, um mit dem Volk direkt zu kommunizieren. Nicht nur der Papst twittert - mittlerweile nutzen drei von vier Regierungen den Mikrobloggingdienst 1 , zeigt eine Studie. (www.berliner-zeitung.de, 07.01.2013) (233) Erneut kam es im Brodaer Holz zu Hetzjagden durch Hunde 1 . Diesmal waren zwei Pudel 1 unbeaufsichtigt im Wald unterwegs. (https: / / www.nordkurier.de/ regional/ neubrandenburg/ pudel-im-wald-ausser-rand -und-band-1200565, 14.11.2018) (234) Papst Franziskus 1 hat eine ruhige Nacht in der Klinik verbracht. Gegen 8.00 Uhr sei das Kirchenoberhaupt 1 aufgewacht, teilte das vatikanische Presseamt am Dienstag mit. (https: / / rp-online.de/ panorama/ religion/ ruhige-nacht-fuer-den-papst-nach-entwa rnung-der-aerzte_aid-125087453, 11.3.2025, gekürzt.) (235) Stefan Pinnows kundige Reisebegleiterin 1 ist die Journalistin Tatjana Reiff 1 . Die gebürtige Kölnerin 1 lebt seit über 15 Jahren in Stockholm. [Bildunterschrift] (www.wdr.de, 19.08.2012) (236) Was ist der Unterschied zwischen dem Großflughafen BER und dem Regierenden Bürgermeister 1 ? Antwort: Der Flughafen kann auch ohne Klaus Wowereit 1 , Wowe‐ reit 1 aber nicht ohne den Flughafen. (www.taz.de, 27.12.2012) Bei anaphorischer Wiederaufnahme mit Pronomina, nicht-textuellen Paraphrasen und rekurrenten sowie synonymen und hyperonymen Nominalphrasen wird in der Regel dieselbe Repräsentationseinheit im TWM re-aktiviert, ohne dass neue Informationen hinzukommen. Die Repräsentation des Textreferenten wird nicht spezifiziert oder elaboriert. Hyponyme, Eigennamen und textuelle Paraphrasen dagegen bringen neue Informationen in die Textwelt; die konzeptuellen Einträge der Textreferenten werden erweitert. In den meisten Texten finden sich mehrere Formen anaphorischer Wiederaufnahme miteinander kombiniert. Im nachfolgenden Text werden die jeweiligen Ausdrücke danach indiziert, ob sie auf der textgrammatischen Ebene Antezedent oder Anapher sind und auf welche Textreferenten sie sich beziehen. Im ersten Satz werden drei Textreferenten (TR) durch verschiedene Antezedens-Ausdrücke eingeführt, die dann in den nachfolgenden Sätzen mit anaphorischen Ausdrücken wieder aufgenommen werden. Entsprechend wird TR3 als erster mit einer Anapher (daher Anapher1) im Text re-aktiviert. (237) Am 02.05.2011 wurde [ein 76-jähriger Mann (Antezedent1/ TR1)] in [einem Bank‐ gebäude in Erlangen (Antezedent2/ TR2)] Opfer [eines unter Drogen stehenden Tatverdächtigen (Antezedent3/ TR3)]. [Der 25-Jährige (Anapher1/ TR3)] wird [dem Ermittlungsrichter (indirekte Anapher/ TR4)] vorgeführt. Gegen 11: 30 Uhr hatte 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 143 <?page no="144"?> Referenz‐ kette [der spätere Tatverdächtige, ein 25-jähriger, in Erlangen wohnhafter Mann (Ana‐ pher2/ TR3)], zunächst [den Kontoauszugsdrucker (indirekte Anapher/ TR5)] be‐ dient. Beim Verlassen [der Bank (Anapher3/ TR3) vergaß [er (Anapher4/ TR3)] offensichtlich [[seine (Anapher5/ TR3)] Geldbörse (Antezedent4/ TR6)]. Kurz darauf betrat [ein 76-jähriger Rentner aus Erlangen (Anapher6/ TR1)] ebenfalls [die Bank (Anapher7/ TR2)] und Ø (Null-Anapher/ TR1) begab [sich (Anapher8/ TR1)] zu [dem Kontoauszugsdrucker (Anapher9/ TR5)]. [Dieser (Anapher10/ TR1)] bemerkte [die Geldbörse (Anapher11/ TR6)] und Ø (Null-Anapher/ TR1) war in Begriff, [das Fund‐ stück (Anapher12/ TR6)] an [den Bankschalter (indirekte Anapher/ TR7)] zur Aufbe‐ wahrung zu bringen. In [diesem Augenblick (Anapher13/ Zeitreferenz)] betrat [der 25-jährige Mann (Anapher14/ TR3)] erneut [das Anwesen (Anapher15/ TR2)] und Ø (Null-Anapher/ TR3) schlug unvermittelt auf [den 76-Jährigen (Anapher16/ TR1)] ein. [Eine 57-jährige Bankbedienstete (Antezedent4/ TR8)] konnte zunächst einen weiteren Angriff auf [das bereits am Boden liegende Opfer (Anapher17/ TR1)] ab‐ wenden. Während [die Bankangestellte (Anapher18/ TR8)] beruhigend auf [den Ag‐ gressor (Anapher19/ TR3)] einredete und zeitgleich [die Polizei (Antezedent5 oder indirekte Anapher/ TR9)] verständigt wurde, sprang [der 25-Jährige (Anapher 20/ TR3)] unvermittelt erneut auf [den Rentner (Anapher21/ TR1)] zu und versetzte [ihm (Anapher22/ TR1)] gezielt [einen Fußtritt gegen [den Kopf (indirekte Anapher/ TR1)] (Neueinführung/ TR10], so dass [der noch sitzende Mann (Anapher23/ TR1)] erneut zu Boden ging. [Eine Streifenbesatzung der Polizeiinspektion Erlangen-Stadt (Ana‐ pher24/ TR9)] konnte [den Schläger (Anapher25/ TR3)] noch vor Ort festnehmen. [Die Beamten (Anapher26/ TR9)] mussten zu[r Festnahme (indirekte Anapher, TR10)] [körperliche Gewalt (Neueinführung/ TR11)] anwenden. Nach der Verbrin‐ gung zu[r Dienststelle (indirekte Anapher/ TR12)] stellte [ein hinzugezogener Arzt (Neueinführung/ TR13]) fest, dass [der Mann (Anapher27/ TR3)] offenbar unter dem Einfluss von Drogen stand. Nach Rücksprache mit [dem zuständigen Staatsanwalt (indirekte Anapher/ TR14)] ordnete dieser [die Vorführung bei[m Ermittlungsrich‐ ter (indirekte Anapher/ TR16)] zur Klärung der Haftfrage (indirekte Anapher/ TR15)] an. [Der 76-Jährige (Anapher28/ TR1)] wurde durch [den körperlichen Angriff (Anapher29/ TR10 und vorheriges)] glücklicherweise nur leicht verletzt und durch [den herbeigerufenen Rettungsdienst (indirekte Anapher/ TR17)] zu[r ambulanten Behandlung (indirekte Anapher/ TR18)] in [ein Klinikum (Antezedent 6/ TR19)] eingeliefert. [Dieses (Anapher30/ TR19)] konnte [er (Anapher31/ TR1)] mittlerweile wieder verlassen. (Pressportal.de, 03.05.2011, Hinweise: Zur Übersichtlichkeit wurden einige referen‐ zielle Ausdrücke nicht markiert. Einführungen von Referenten, die nicht wieder aufgenommen werden, sind als Neueinführung benannt.) Die textuelle Verbindungsfunktion anaphorischer Ausdrücke besteht, wie wir an (237) sehen, in der Weiterführung referenzieller Bezüge, auch über längere Textstrecken hinweg. Auf der mikrostrukturellen Textebene sieht man referenzielle Ketten mitein‐ ander in Beziehung stehender Anaphern. Diese Referenzketten in Texten, d. h. Abfol‐ gen von Antezedent zu Anaphern, sichern thematische Kontinuität, indem sie für den Leser wie ein „roter Faden“ fungieren. Dabei läuft eine Reihe von kognitiven Prozessen ab, auf die wir unten im Kapitel näher eingehen werden. Die Wahl des jeweiligen anaphorischen Ausdrucks ist kontext- und intentionsab‐ hängig, je nachdem was der Sprachproduzent im Text fokussieren will. Synonyme und Hyperonyme werden z. B. gewählt, um stilistisch zu variieren, Anaphern mit unter‐ schiedlichen oder teiläquivalenten semantischem Inhalt, um komprimiert neue Infor‐ mationen einzubringen. Viele Anaphern sind semantisch reicher als ihre Anteze‐ 144 5 Kohärenztheorie <?page no="145"?> Spezifikati‐ onsanapher anaphori‐ sche Rekurrenz dens-Ausdrücke, sie bringen zusätzliche Informationen ins TWM. Als Spezifikationsanaphern elaborieren sie die Einträge der Textreferenten: der 25-Jährige, der Rentner. Eine Sequenz wie (238) wäre informationell sehr eintönig: (238) Hanno Buddenbrook … Er ist … Er macht … Er sucht … Er … Er … etc. Manchmal werden anaphorische Ausdrücke aber auch (bewusst) nicht informations‐ anreichernd oder -abwechselnd, sondern „monoton“ als Rekurrenzen benutzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen (s. auch die Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert Das Brot, in der die beiden Eheleute durchweg immer nur mit er und sie referenzialisiert werden; dadurch wird ihnen eine individuelle Charakterisierung verweigert und ihre (austauschbare) Identität als Kriegshungernde betont). (239) Er hatte die Eigenart, mit einem Schmetterlingsfänger im Park herumzutänzeln, was sehr lustig aussieht; denn der Professor hat eine zierliche Figur. Er nimmt fast keine Mahlzeiten zu sich und auf seinen Wunsch läßt man in seinem Zimmer eine große schwarze Schultafel aufstellen, auf die er das Wort FREUDE schreibt. Immer, wenn er das Wort Freude darauf geschrieben hat, läutet er dem Anstaltsgehilfen, der es mit einem großen Schwamm wieder auslöschen muß. Jedesmal bekommt er dafür von dem Professor eine Münze, so daß er schon einen ganzen Sack solcher Münzen beisammen hat. Als der Professor die Anstalt verlassen muß, worüber er sehr traurig ist, bittet er, man möge das Wort FREUDE auf der Tafel stehen lassen. Er werde dem Gehilfen den Befehl zum Auslöschen zu einem Zeitpunkt geben, der noch sehr ferne sei. Tatsächlich sind die Angestellten der Anstalt nicht zu trösten, als der Professor abgeholt und auf das Landgut seiner Schwester gebracht wird. Dort kann er sich zwar frei bewegen, aber er lebt nur noch in der Erinnerung an den Aufenthalt in der Anstalt. […] (Thomas Bernhard, Der Professor) Die einzigen anaphorischen Mittel sind der Professor und er, mit denen auf den Protago‐ nisten Bezug genommen wird. So entsteht der Eindruck, dass die Person in der Textwelt primär über die soziale Funktions- und Berufsbezeichnung ihre Identität erhält. Es gibt auch Anaphern, die keine Koreferenz ausdrücken, aber dennoch kohärenzs‐ tiftend fungieren: Diese nennt man in der Forschung Faulheits-Pronomina (pronouns of laziness oder einfach lazy pronouns), da sie keine Referenz-Identität, sondern nur Äquivalenz oder eine funktionale Beziehung zu ihrem Antezedenten ausdrücken, also eine ungefähre Identität (sloppy identity). Sie werden aus Ökonomiegründen benutzt: Es ist einfach und bequem, diese verkürzte (faule) Verbalisierung zu wählen (statt auf komplexere grammatische Formen zurückzugreifen). (240) Letzte Woche war das Essen (Antezedent1/ TR1) in der Mensa ganz furchtbar. Heute schmeckt es (Anapher1/ TR2) richtig gut. (Hörbeleg) 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 145 <?page no="146"?> Das Pronomen es bezieht sich auf eine andere Entität als das Essen (obgleich diese Nominalphrase als Antezedent fungiert), es wird aber eine (intensionale) Äquiva‐ lenz, keine (extensionale) Identität ausgedrückt: Das Mensa-Essen letzte Woche und heute sind mit demselben verallgemeinernden, unspezifischen Ausdruck zu fassen, Mensa-Essen an der Uni X. Die koreferenzielle Lesart würde ein eher zweifelhaftes Bild der Essensqualität in der Mensa liefern. Grammatisch betrachtet unterscheiden sich Faulheits-Pronomina und Koreferenz etablierende Pronomina nicht voneinander. Sie zeigen eine Identitätsrelation an, und sie etablieren auch beide Kohärenz: Niemand wird aber ein TWM aufbauen, in dem in einer Mensa das Essen von letzter Woche wiedergekäut wird. Das bekannteste und immer wieder zitierte Beispiel für pronouns of laziness ist von Karttunen: (241) The man who gave his paycheck to his wife was wiser than the man who gave it to his mistress. „Der Mann, der seiner Ehefrau seinen Gehaltsscheck (Anteze‐ dent1/ TR1) gab, war weiser als der Mann, der ihn (Anapher1/ TR2) seiner Geliebten gab.“ (Beispiel aus Karttunen 1969: 114) Hier ist von zwei verschiedenen Männern die Rede, die folglich auch nicht densel‐ ben Gehaltsscheck zu vergeben haben. Die Anapher it/ ihn ist also nicht wirklich referenzidentisch mit ihrem Antezedenten his paycheck/ seinen Gehaltsscheck. Eine Relation zwischen Anapher und Antezedent besteht wiederum nicht in ihrer konkreten Referenz, sondern in der Zugehörigkeit beider Referenten zum selben übergeordneten, unspezifischen Konzept G EHALT S S CH E CK . Solche verkürzten Formulierungen sind beim anaphorischen Sprachgebrauch weit verbreitet und finden sich z. B. bei den Token-zu-Type- oder Type-zu-Token-Anaphern wie in (242) (s. auch die Beispiele in Schwarz 1997). (242) Manfreds Katze mag kein Futter aus der Dose. Eigentlich mögen sie so was doch. Mit Manfreds Katze wird auf ein konkretes, spezifisches Exemplar einer Katze referiert; mit dem Pronomen sie hingegen hier auf die Klasse aller Katzen. Das Phänomen der Faulheits-Verwendungen ist nicht auf Pronomina beschränkt; es gibt auch „bequeme Nominalanaphern“: (243) „Dr. House“ musiziert in Deutschland - Hugh Laurie gibt vier Konzerte (www.fernsehserien.de) Antezedens „Dr. House“ und Anapher Hugh Laurie drücken zwar Koreferenz aus, d. h. es ist tatsächlich jeweils derselbe Textreferent gemeint (denn die fiktive TV-Figur Dr. House musiziert nicht in Deutschland). Referenziell korrekt müsste der Antezedent Der Darsteller von Dr. House lauten. Die Referenz folgt hier aber dem Ökonomieprinzip: 146 5 Kohärenztheorie <?page no="147"?> Durch Nennung der bekanntesten Rolle Hugh Lauries (in Anführungszeichen) zur Einführung der realen Person wird auf bequeme Art an das Vorwissen von Lesern angeknüpft, die die TV-Serie Dr. House vielleicht kennen, aber nicht den Namen des Hauptdarstellers. Die Vermischung von fiktiver und realer Textwelt verhindert nicht die Kohärenzetablierung (s. hierzu Schwarz 2000a: 57 f.). Betrachten wir nun den Prozess des Anaphernverstehens (englisch anaphora reso‐ lution) etwas genauer. In Kap. 4.1 haben wir schon die Rolle des bestimmten Artikels erörtert; er macht eine Nominalphrase definit und signalisiert dadurch dem Leser, dass der jeweilige Referent für ihn identifizierbar bzw. erreichbar ist. Das gleiche gilt auch für Personalpronomina, die in diesem Sinne ebenfalls definite Nominalphrasen sind. Ein möglicher Grund für Identifizierbarkeit bzw. Aktivierbarkeit ist, dass der Referent bereits ins TWM eingeführt wurde und die Referenz also anaphorisch ist. Der bestimmte Artikel gibt dem Leser also die Anweisung, im TWM nach einem bestimmten, bereits erwähnten Referenten zu suchen und gibt damit Aufschluss über den Aktivierungszustand/ Status des Textreferenten im TWM. Prinzipiell verlangt jede Anapher bei ihrer Verarbeitung vom Rezipienten einen Zuordnungsprozess im TWM, bei dem die Identitätsrelation ‚Referent 2 ist identisch mit Referent 1‘, (bei längeren anaphorischen Sequenzen entsprechend ‚Referent 3 ist identisch mit R2 und R1‘ etc.) erkannt werden muss (s. hierzu ausführlicher Schwarz-Friesel 2011). (244) […] der Jugendliche, der nicht einsehen wollte, dass sein Baden-Württemberg-Ti‐ cket im IC nicht gilt - dabei hatte die Schaffnerin ihm schon angeboten, dass er einfach bei der nächsten Station aussteigt, obwohl sie genau so gut darauf hätte bestehen können, dass er auch für diese eine Station eine Fahrkarte kauft […]. (www.seemadel.wordpress.com, 05.08.2013) Hier hilft die grammatische Kategorie Genus bei der Zuordnung der Identitätsrelati‐ onen: Der Jugendliche als maskuliner Ausdruck kann sich auf denselben Referenten beziehen wie er, jedoch nicht auf denselben wie die Schaffnerin. Auch ohne konzeptuelle Plausibilität sind die Pronomina er und sie also eindeutig zuzuordnen. Auch lexikalisch-semantische Informationen der Kopfnomen in Nominalphrasen helfen beim Zuordnungsprozess weiter, da sie erkennen lassen, ob die Identitätsrelation überhaupt möglich (s. (245) und (245‘)) oder plausibel ist (246). (245) Kinder suchen sich, wenn sie wählen können, nach wie vor mehrheitlich Spielzeug aus, das ihrem traditionellen Rollenmuster entspricht. Mädchen lieben Puppen, Jungs bevorzugen Autos und Klötze, Erziehungsbemühungen hin oder her. (www.vaterfreuden.de, 30.11.2010) (245‘) Kinder suchen sich, wenn sie wählen können, nach wie vor mehrheitlich Spielzeug aus, das ihrem traditionellen Rollenmuster entspricht. Die Eltern dulden das. (246) Einbrecher sind zur Tatzeit in Münster unterwegs gewesen. Die Täter versuchten vergeblich die Haupteingangstür eines Bürogebäudes aufzuhebeln, wurden aber 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 147 <?page no="148"?> indirekte Anapher Anker von Polizisten überrascht. Unerkannt flüchteten die Ganoven vor den Beamten und ließen einen Sachschaden von etwa 500,- Euro zurück. (Konstruierter Text nach www.presseportal.de) Hier entscheidet entweder das semantische Wissen ((245): Mädchen und Jungen sind Anaphern zu Kinder; in (245‘) kann Eltern jedoch kann nicht eine Koreferenz ausdrü‐ ckende Anapher zu Kinder sein) oder das konzeptuelle Plausibilitätskriterium über die Zuordnung (also wird in (246) niemand die Ganoven als Anapher dem Antezedenten Polizisten zuordnen). Der grammatisch (bezüglich Genus und Numerus) kongruente, semantisch kompatible und konzeptuell passende Antezedent wird jeweils ausgewählt (zu den Restriktionen bei der Anapher-zu-Antezedent-Zuordnung s. Schwarz 2000a: Kap. 3.2.3). Insbesondere bei den semantisch armen pronominalen Anaphern, die keine hilfrei‐ chen Informationen wie lexikalische NPs bieten, kann der Rezipient aber oft allein aufgrund von Weltwissensaktivierung diese korrekte Zuordnung von Anapher zu Antezedent etablieren: (247) Das Tierheim ruft bei Frau Bummel an: „Ihr Mann 1 ist mit dem Hund 2 da und bittet uns, ihn 1/ 2? hierzubehalten. Ist das denn auch in Ordnung? “ „Klar, und den Hund 2 können Sie raus setzen, er 2 findet den Heimweg.“ Das Pronomen ihn ist grammatisch gesehen mehrdeutig, mit seinen grammatischen Merkmalen 3. Person, Maskulin, Singular kommen sowohl Ihr Mann als auch dem Hund als Antezedenten in Frage. Allein die konzeptuelle Plausibilität sagt uns, dass der Hund und nicht der Mann im Tierheim gelassen werden soll, da ein Tierheim ein Asyl für Tiere ist. Die Pointe liegt in der überraschenden, da konzeptuell wenig plausiblen Interpretation des Pronomens durch die Frau, womit natürlich auf Eheklischees der Art „Haustier ist wichtiger als Partner“ angespielt wird. Bei den NPs dem Ermittlungsrichter und den Kontoauszugsdrucker in Text (237) han‐ delt es sich um Anaphern, obgleich kein expliziter Antezedens-Ausdruck vorhanden ist und damit keine Koreferenz (im strikten Sinne einer totalen Referenzidentität) vor‐ liegt. Diese sogenannten indirekten Anaphern (in der Forschung manchmal auch brid‐ ging reference/ bridges, inferrables oder assoziative Anaphern genannt) beziehen sich auf einen Anker-Bezugsausdruck im Vortext (in (237) sind dies Tatverdächtiger und Bank‐ gebäude), zu dem sie in einer bestimmten semantisch-konzeptuellen Relation stehen. Wir können aufgrund unseres Weltwissens über Banken (und deren prototypi‐ sche Requisiten etc.) die folgende Zuordnung machen: ‚Kontoauszugsdrucker stehen in Banken. Dieser Drucker steht in dem vorerwähnten Bankgebäude.‘ Durch die Vorerwähnung der Bank ist im LZG das mentale Schema mit den entsprechenden Standardwerten global aktiviert worden. Dies ermöglicht die Verankerung, da die indirekte Anapher sich auf einen dieser Standardwerte bezieht. 148 5 Kohärenztheorie <?page no="149"?> Wie die direkten Anaphern fungieren indirekte Anaphern kontinuitätsweiterfüh‐ rend als Kohärenzmittel. Als definite Ausdrücke signalisieren sie dem Leser entspre‐ chend, dass der Textreferent im TWM aktiviert und erreichbar ist. Dieser Textreferent ist aber, anders als bei den direkten Anaphern, nicht explizit eingeführt worden. Vielmehr hat der Ankerausdruck eine kognitive Domäne aktiviert, die einen bereits zumindest latent aktivierten Referenten repräsentiert, der dann re-aktiviert wird und dadurch in den Fokus kommt. Dieser ganze Prozess ist gekoppelt an die in 4.2 und 4.3 erörterten Gedächtnisvorgänge der Vor-Aktivierung und Aktivierungsausbreitung in kognitiven Domänen. Es lassen sich semantisch-konzeptuell verschiedene Typen von indirekten Anaphern unterscheiden (s. ausführlich Schwarz 2000a und Schwarz-Friesel 2007b): Anker und indirekte Anapher stehen semantisch in der Teil-Ganzes-Relation (Me‐ ronymie) wie in dem folgenden Beispielen, wo den Kopf Teil des Rentners und die Augenhöhlen Teile des Kopfes benennen. (248) […] sprang der 25-Jährige unvermittelt erneut auf den Rentner zu und versetzte ihm gezielt einen Fußtritt gegen den Kopf […] (aus Bsp. (237)) (249) Darco Sangermano wurde an Silvester in den Kopf geschossen und hat nun die Kugel aus seiner Nase geschnäuzt. Das Unglück geschah, als er mit seiner Freundin durch die Stadt ging, die bekannt für Silvesterkrawalle aller Art ist. Die Kugel trat seitlich am Kopf - hinter die Augenhöhle ein - und verharrte in der Nasenzone. Wundersamerweise verletzte die Kugel den Mann nicht ernsthaft. Im Krankenhaus blutete er zwar heftig, konnte aber durch Schnäuzen die Kugel aus seinem rechten Nasenflügel heraus schleudern. Nach einer Operation an dem Auge konnte der Italiener bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden. (www.shortnews.de, 11.01.2011) Es gibt nicht allzu viele echte Meronymie-Relationen. Oft handelt es sich nicht um Teil-Ganzes-Beziehungen, sondern eher um funktionale Zuordnungen. So ist auch die Kugel in (249) eine indirekte Anapher mit dem Anker erschießen. Eine Kugel ist aber nicht wirklich ein Teil einer Pistole wie die Nase ein Teil des Gesichts ist, sondern nur die typische Requisite einer Pistole. Vgl. auch das folgende Beispiel, das zeigt, wie schwierig eine eindeutige Abgrenzung manchmal ist: (250) Drei Orte sollen der Erweiterung des Braunkohletagebaus Jänschwalde-Nord in der Lausitz weichen. Die Anwohner wehren sich. (www.welt.de, 06.01.2013) Die Anwohner sind in einem bestimmten Sinn Teil der Orte, sind aber keine Meronyme. Die Orte gibt es auch unabhängig von den Anwohnern (es gibt verlassene, menschen‐ leere Orte etc.), während ein Kopf ohne Mund, Nase, Ohren schwer vorstellbar ist. Die Teile sind konstitutiv für das Ganze. Offensichtlich sind die Übergänge zwischen semantischer Meronymie und konzeptuellen Schema-Werten jedoch oft nur graduell zu fassen. 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 149 <?page no="150"?> Verbsemantisch gebundene indirekte Anaphern besetzen eine Rolle im semantischen Argument-Schema eines Verbs: so ist z. B. in (251) die Instrumentrollenbesetzung von abschließen (abschließ (ich=Agens, Zimmertür=Objekt, Schlüssel=Instrument)), in (252) die Agens-Rolle von erschießen zu sehen. (251) Ich kann meine Zimmertür nich abschließen, da meine Mutter den Schlüssel verloren hat (www.gutefrage.net) (252) Aus nächster Nähe wurde am Samstag in einem Bremer Parkhaus ein 46-jähriger Geschäftsmann erschossen. Der Täter konnte fliehen. (www.bz-berlin.de, 02.09.2012) In (253) ist der Textreferent der indirekten Anapher die nette, junge Kellnerin im Schema GA S TWI R T S CHAF T zu erreichen: Schema-basierte indirekte Anaphern benennen typische Werte, Rollen, Requisiten etc. eines bestimmten Skripts: (253) Letzteres natürlich besonders bei der wohl verdienten isotonischen Kaltschale in der dem Sportcenter angeschlossenen Gastwirtschaft. Am Ende des Tages verabschiedete uns die nette, junge Kellnerin mit den durch die ganze Gaststube gerufenen Worten „Auf Wiedersehen! “ (www.rogowskis-welt.de, 02.11.2012) In (254) ist die NP ein Zirkus Anker für die nachfolgenden indirekten Anaphern der Löwendirektor, der Akrobat und der Zauberer. (254) Eines Tages kam ein Zirkus in die Stadt. […] Danach kam der Löwendirektor. Danach kam der Akrobat. Als letztes kam der Zauberer. (www.glueckaufschule-siegen.de, 04.09.2012) Bei inferenzbasierten indirekten Anaphern muss der Leser Inferenzen ziehen, um den Textreferenten verankern zu können (s. (230), hier wiederholt als (255)) (255) Geklauter Zug kracht in Wohnhaus von Schlagerstar. Richard Herrey hörte zuerst ein Geräusch, dann ein lautes Krachen: Genau in diesem Moment fuhr eine 22-jährige Putzfrau einen Stockholmer Vorortzug mitten in das Haus des Musikers, der einst mit seinen Brüdern den Eurovision Song Contest gewann. Die Behörden rätseln nun über die Hintergründe. (www.tagesschau.de, 15.01.2013) Der vorherige Text in (255) enthält keinen spezifischen Anker-Ausdruck für die indirekten Anaphern die Behörden und die Hintergründe. Damit die Sätze kohärent verbunden sind, muss der Leser die Inferenz ziehen, dass nach einem solchen Ereignis behördliche Ermittlungen stattfinden, um die Hintergünde zu klären. Ähnlich ist es 150 5 Kohärenztheorie <?page no="151"?> Zugänglich‐ keit rhemati‐ sches Thema Kataphorik Postzedent bei (256). Die Inferenzen ‚Es handelt sich um Mord. Bei Mord ermitteln Polizisten. Die Berliner Mordkommission hat Ermittlungen übernommen‘ werden gezogen. (256) In einer Wohnung in Oberschöneweide ist am Dienstagmorgen ein toter Mann gefunden worden. […] Die Leiche soll mehrere Messerstiche aufgewiesen haben. Die Mordkommission ermittelt. (Berliner Morgenpost, 18./ 19.05.2013) Dass eine neue Information, die definit kodiert wird, zu einer alten in Beziehung gesetzt werden muss, um verstanden zu werden, haben wir bereits anhand vieler Beispiele gesehen. Bei indirekten Anaphern ist die alte, die bekannte Information nicht auf der Textoberfläche, der Textgrammatik, sondern in der Textsemantik zu finden. Der Rezi‐ pient, der vom Kooperationsprinzip des Produzenten ausgeht, wird die definiten sprachlichen Mittel als Suchanweisungen verarbeiten, die ihm helfen, das TWM des Produzenten nachzuvollziehen und insgesamt den Text zu verstehen. Er geht also da‐ von aus, dass die Ausdrücke ihm problemlos ermöglichen, die Textreferenten zu finden. Dieser Aspekt wird in der Forschung auch Zugänglichkeit oder Erreichbarkeit genannt: Textreferenten sind zugänglich, wenn der Text, der Kontext und/ oder das Weltwissen eine Möglichkeit bieten, sie kognitiv zu erreichen und zuzuordnen. Indirekte Anaphern haben eine doppelte Funktion bei der Kohärenzetablierung und beim Aufbau des Text‐ welt-Modells: Sie führen einerseits progressiv neue Referenten ein und signalisieren andererseits auch referenzielle Kontinuität, da sie die Referenz der Ankerdomäne glo‐ bal fortführen. Sie sind somit als anaphorische Ausdrücke rhematische Themata. Eine besondere Form der Textreferenz, die Kontinuität bewirkt, ist die Kataphorik, wie sie am Anfang des folgenden Textes zu sehen ist: (257) Zwei Tage lang hatte er 1 wie tot auf seinem Büffelledersofa gelegen. Dann stand er 1 auf, duschte ausgiebig, um auch den letzten Partikel Krankenhausduft von sich 1 abzuwaschen, und fuhr nach Neuendorf. Er 1 fuhr die A115, wie immer. […] Neuendorf besaß neuerdings eine eigene Autobahnabfahrt - „neuerdings“ hieß für Alexander 1 immer noch: nach der Wende. (Eugen Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts, 7, Beginn des Romans) Der Rezipient weiß nicht, worauf das inhaltsarme Pronomen er, das mehrfach benutzt wird, um auf den neuen Textreferenten zu referieren, Bezug nimmt. Die Identität des Referenten bleibt unbestimmt, der Textreferent ist nicht im TWM zu etablieren. Das Pronomen führt eine Leerstelle ins TWM ein. Die Auflösung und Zuordnung kommt erst Sätze später durch den Postzedenten Alexander. Postzedenten sind die Äquivalente der Antezedenten, nur dass die Richtung der Erwartung jeweils anders ist. Über den Textreferenten Alexander erfährt der Leser dann im weiteren Verlauf mehr, die Leer‐ stelle im TWM wird sukzessive elaboriert (s. hierzu auch das Tony-Beispiel in (94), das zeigt, wie ein Textreferent allmählich im TWM Gestalt annimmt). Kataphern sind also Vorwärtsverweise, die einen Referenten mittels informationsarmer Ausdrücke einfüh‐ 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 151 <?page no="152"?> Pluralanapher ren (ansonsten aber wie Anaphern, die Rückwärtsverweise sind, fungieren; s. Consten (2004) zur Kritik am Kataphernkonzept). Dabei haben sie in Romanen und Zeitungs‐ artikeln die Funktion, Spannung aufzubauen, da der Leser bis zum Postzedenten warten muss, um eine eindeitige Referentenzuordnung im Textwelt-Modell vornehmen zu können: (258) Schnell gelebt, früh gestorben Sie sind jung, sie sind erfolgreich, sie leben auf der Überholspur, sie verglühen wie Sternschnuppen: Eine ganze Reihe von Jungstars, die früh zu Ikonen wurden, haben ihren Ruhm mit dem Leben bezahlt. […] Der deutsch-französische Kultursender Arte dokumentiert vier solcher Schicksale in einer Serie […] Den Auftakt macht an diesem Samstag um Mitternacht ein Film über John Belushi, einen der beiden „Blues Brothers“. (www.sz-online.de, 14.07.2012) (259) Boom in Brandenburg Jeder will einen haben! Der Lockdown führt zu einem Run auf Kleingärten (Überschrift https: / / www.berliner-kurier.de/ berlin/ jeder-will-einen-haben-derlockdown-fuehrt-zu-einem-run-auf-kleingaerten-li.146062, 14.3.2021) Bislang haben wir Anaphern kennengelernt, mit denen Sprecher auf einzelne Personen oder Gegenstände erneut Bezug nehmen. Betrachten wir nun komplexere Typen wie in den nachfolgenden Beispielen: (260) Nicht der eigene Wille, sondern ein Zaubertrank ließ Tristan und Isolde - unschul‐ dig - in sündiger Liebe entbrennen. Aus diesem Grund konnte König Marke, Isoldes Ehemann, dem Liebespaar wider Willen am Schluss auch großmütig verzeihen. (Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft, 125) (261) Jacob (*1785) und Wilhelm (*1786) waren die ältesten Söhne der Dorothea Grimm, geborene Zimmer, und des Hanauer Juristen und späteren Steinauer Amtmannes Philipp Wilhelm Grimm. In Hanau brachte Dorothea Grimm insgesamt neun Kinder zur Welt, drei von ihnen starben im Kleinkindalter. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1796 nahm sich Henriette Philippine Zimmer, die ältere Schwester der Dorothea Grimm und Hofdame am landgräflichen Hof in Kassel, der Familie an. (www.grimm2013nordhessen.de) In (260) werden die Referenten Tristan und Isolde zunächst einzeln (mit koordinierten NPs) eingeführt. Die Autorin könnte jeden der beiden mit einer normalen direkten Anapher wieder aufnehmen, z. B. während Tristan nicht weiter darüber nachdachte, hatte Isolde doch ein paar Gewissensbisse. Stattdessen wird aber aus den beiden Refe‐ renten mit dem Liebespaar wider Willen ein einheitlicher Referent gebildet, der im Textwelt-Modell wie ein einziges Objekt behandelt werden kann. So folgen dem Text‐ auszug (260) noch zwei Referenzen auf dieses Objekt (das Liebespaar, das an Trauer starb, den Liebenden). Wir nennen diese Art der Anaphorik Pluralanaphorik. Der ana‐ phorische Ausdruck kann grammatisch im Singular stehen (das Paar, die Gruppe, die Bande) oder im Plural (die Liebenden, die beiden, die Geschwister). Entscheidend ist, dass 152 5 Kohärenztheorie <?page no="153"?> Kombinati‐ onsanapher mehrere Referenten mittels einer Anapher zu einem Knoten im Textwelt-Modell zu‐ sammengefasst werden. In (261) ist es schwierig, den Antezedenten zur Pluralanapher der Familie im Text zu bestimmen. Insgesamt sind hier zwölf Personen erwähnt (die Grimmschen Eltern, ihre neun Kinder und die Schwester der Mutter). Die Familie, der die Schwester sich annahm, bestand nicht aus allen eingeführten Personen, sondern natürlich nur noch aus den überlebenden sechs Kindern und vermutlich auch deren Mutter. Die Referenten, aus denen der Knoten F AMILI E gebildet wird, werden so nicht vorerwähnt. Die Konstitution des Referenten der Pluralanapher der Familie ist hier also auch eine Sache des Weltwissens, dennoch wirkt der Text nicht unklar oder inkohärent. Pronominale Plural-Anaphern zeigen bestimmte konzeptuelle Beschränkungen: So müssen die Referenten entweder derselben ontologischen Kategorie angehören oder sich in einem gemeinsamen Konzept plausibel zusammenfassen lassen (s. hierzu auch Kaup et al. 2002). Vgl. (262) a) Sigi ging mit Jossi und Eli auf die Promenade. Sie hatten viel Spaß zusammen. - b) Sigi ging mit Ball und Rollschuhen auf die Promenade. *Sie hatten viel Spaß zusammen. Vgl. aber auch: - c) Sigi umarmte den Schimpansen ein letztes Mal. Sie waren dicke Freunde geworden. Werfen wir nun einen Blick auf (263) und (264): (263) Ab bestimmten Korngrößen werden die Zwischenräume beim Vermischen wichtig. Wenn Sie z. B. 1 m³ groben Kies (oder grobe Steine) mit 1 m³ Erde vermischen, wird das fertige Gemisch keine 2 m³ ergeben, sondern weniger. (Ratgeber eines Baustoffhändlers, www.baustoffe-liefern.de) (264) [Über ein seltenes, historisches Automodell] Man nehme die Fahrgastzelle des Austin 1800 mitsamt Türen, lasse bei Farina ein längeres Heck und eine andere Front entwerfen, implantiere einen Sechszylindermotor und versehe den Wagen mit Heckantrieb. Schließlich garniere man das Ganze mit Kunstledersitzen und einem hydrolastischen Fahrwerk und fertig ist der Austin 3 litre. (www.sueddeutsche.de) In diesen Beispielen geschieht noch etwas mehr als die bloße Summierung mehrerer vorerwähnter Referenten. Man benötigt auch ein dynamisches Element, also ein Ge‐ schehen oder Handeln, ausgedrückt in (263) durch das Verb vermischen, in (264) durch nehmen, entwerfen lassen, implantieren, versehen und garnieren. Die jeweiligen Refe‐ renten, benannt mit das fertige Gemisch bzw. das Ganze sind erschließbar aus den vor‐ erwähnten Einzelbestandteilen und den Handlungen, die damit vollzogen werden. Wir sprechen hier von Kombinationsanaphern. Dass (264) typische formale Merkmale eines Kochrezeptes aufweist (Man nehme …, vgl. Abschnitt 3.1), ist sicherlich eine stilistische 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 153 <?page no="154"?> Komplexanapher Absicht des Autors. Er spielt mit intertextuellen Bezügen und will dadurch den Ein‐ druck vermitteln, das beschriebene Automodell sei aus fertigen Komponenten zusam‐ mengestellt worden wie eine Mahlzeit. Tatsächlich wird man Kombinationsanaphern häufig in instruktiven Textsorten wie Rezepten oder Bauanleitungen finden. Einen besonderen Subtyp der textuellen Anaphorik stellen die Komplexanaphern (wie Das Unglück in (249)) dar (auch abstract object anaphora oder situational anaphora genannt). ‚Unglück‘ findet sich als semantische Information noch nicht im Anteze‐ denssatz, sondern erst in der Komplexanapher. Im Textwelt-Modell entsteht somit ein ganz neuer konzeptueller Repräsentationsknoten für einen abstrakten Textreferenten. Komplexanaphern nehmen nicht Bezug auf einzelne Referenten, sondern auf komplexe Sachverhalte oder Prozesse. (265) Was war bloß am 04.10.2012 zur Gemeinderatssitzung in die CDU-Fraktion gefah‐ ren? Da lehnt sie die Aufnahme der Resolution auf die Tagesordnung ab, obwohl sie sie selbst mit unterschrieben hat. […] Nichts, gar nichts hat sich in wenigen Tagen so stark verändert, dass diese Handlungsweise einigermaßen verständlich wäre. (www.wsdh.de, 05.10.2012) Diese Handlungsweise ist eine direkte Komplexanapher, ihr Antezedent ist der gesamte zweite Satz des Textauszugs. Dieser Satz beschreibt den Referenten zum ersten Mal in diesem Text, nämlich ein bestimmtes Abstimmungsverhalten einiger Politiker. Weil dieser Referent ein Geschehen ist, das zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Ort stattgefunden hat, ist es nach Kategorien der Semantik ein Ereignis. Weitere solche Kategorien sind ‚Prozess‘ (in der Regel an einen Ort gebunden, aber nicht auf einen Zeitpunkt beschränkt) und ‚Zustand‘ (kann, muss aber nicht auf einen Ort beschränkt sein; kann, muss aber nicht, von beschränkter Dauer sein). Ereignis, Prozess und Zustand sind ‚ontologische Kategorien‘; die Ontologie ist ein Teil der theoretischen Philosophie, die ‚Lehre vom Sein‘, und versucht, konkrete und abstrakte Dinge aller Art zu ordnen. Dies ist dann auch manchmal für die Semantik nützlich, wo es darum geht, wie diese Dinge benannt werden. Komplexanaphern sind häufig, aber nicht immer Ausdrücke mit demonstrativem Artikel (dieser …) oder Demonstrativpronomen (dies). (266) und (267) zeigen Beispiele für Komplexanaphern mit Prozess- und Zu‐ stands-Referenten: (266) Der Werkstoffbrei wird nochmal zerkleinert, wobei sich die ersten standfesten E inheiten bilden. Nach diesem ersten wichtigen Qualitätskontrollvorgang kommt der noch unfertige Werkstoff in die erste Säurebadeinheit […]. In dieser Einheit werden übrig gebliebene Reste zersetzt und erste harte Vollverbindungen geknüpft. […]. Auch dieser Prozess nimmt wieder eine Stunde in Anspruch. [auch möglich: Auch dies nimmt wieder eine Stunde in Anspruch. Nicht möglich: Auch er nimmt wieder…] (www.stupidedia.org [mit kleineren Rechtschreibkorrekturen]) 154 5 Kohärenztheorie <?page no="155"?> Antezedent der Komplexanapher dieser Prozess ist der gesamte vorher zitierte Textab‐ schnitt. Es ist eine scherzhaft-technische Beschreibung der Kau- und Verdauungsvor‐ gänge einer Kuh. Der Vorgang ist nicht zeitgebunden, sondern im Prinzip immer wiederholbar. (267) Wenn man verletzt ist, ist man immer ziemlich alleine. Man kann nicht ins Geschehen eingreifen und hat das Gefühl, nicht mehr benötigt zu werden. […] Ich habe immer nach Lösungen gesucht und gehofft, dass ich bald wieder fit bin. Aber ich wurde nicht so schnell fit. Dieser Zustand hat mich fast aufgefressen. (Aus einem Interview mit dem Fußballer Matthieu Delpierre, www.stuttgarter-zeit ung.de, 05.05.2012) Wie in (266) kann der gesamte zitierte Vortext als Antezedent von dieser Zustand gelten. Mit der Komplexanapher referiert der Sprecher auf seinen Zustand des Verletztseins, wie er vorher ausführlich beschrieben wurde, und macht den abstrakten und komple‐ xen Sachverhalt dadurch als Textreferent greifbar. Die textuelle Funktion solcher Komplexanaphern ist folgende: Die Ereignisse, Prozesse oder Zustände werden durch die Sätze oder längeren Textpassagen, mit denen sie benannt werden, noch nicht zu Textreferenten, d. h. sie sind im Textwelt-Modell noch nicht als klar abgrenzbare, einheitliche Objekte handhabbar. Dies sieht man daran, dass sie noch nicht mit Personalpronomina wieder aufgenommen werden können so wie eingeführte Personen oder Dinge. Erst durch die Wiederaufnahme per Komplexanapher entsteht ein Textreferent, der im Diskurs dann wie ein konkreter Gegenstand behandelt werden kann. Danach ist auch eine Referenzkette mit Personalpronomina möglich. In (266) kann der gerade gebildete Prozess-Referent nun mit einem Personalpronomen aufgenommen werden, z. B. Wenn er abgeschlossen ist, geht alles von vorne los. Komplexanaphern leisten aber noch mehr als Bildungen von neuen Textreferenten. Vgl. die folgenden Beispiele: (268) Kurze Hosen lassen die meisten Männer einfach ein wenig lächerlich aussehen […]. Wenig bewusst war diese Tatsache dem damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der sich mit seiner Lebensgefährtin Gräfin Pilati im Pool planschend ablichten ließ. (www.sueddeutsche.de) Der erste Satz, Antezedent der Komplexanapher diese Tatsache, bezeichnet einen Zu‐ stand. Die Komplexanapher macht daraus einen anderen ontologischen Typ, nämlich einen Fakt. Der Sprecher legt sich damit explizit auf den Wahrheitsgehalt des ersten Satzes fest. Möglich wären aber auch: (268‘) Kurze Hosen lassen die meisten Männer einfach ein wenig lächerlich aussehen. Unbeeindruckt von diesem hartnäckigen Gerücht ließ sich der damalige Verteidi‐ gungsminister Rudolf Scharping mit seiner Lebensgefährtin Gräfin Pilati im Pool planschend ablichten. 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 155 <?page no="156"?> Hier hebt die Komplexanapher diesem hartnäckigen Gerücht die pragmatisch getroffene Annahme auf, dass der Sprecher den ersten Satz für wahr hält. Der komplexe Referent wird zur reinen Proposition, also zu einer sehr abstrakten referenziellen Struktur, die nicht an einen Wahrheitsgehalt gebunden ist. Je nach gedanklicher Welt, in der diese Proposition geäußert wird, könnte sie wahr oder falsch sein. (268‘‘) Kurze Hosen lassen die meisten Männer einfach ein wenig lächerlich aussehen. Mit dieser boshaften Lüge wollten seine Gegner Scharpings Ruf beschädigen, obwohl er auf den Poolfotos richtig gut aussah. In dieser Variante macht die Komplexanapher dieser boshaften Lüge aus dem Referenten des ersten Satzes einen negierten Fakt, also eine Proposition, auf deren Falschheit sich der Sprecher festlegt. Dazu ein authentisches Beispiel: (269) Und wie ist nun unser Bild vom Engel? Engel sehen nach unseren Vorstellungen immer bildschön aus. Dieser Irrtum hat sicherlich manchen für mich abgestellten Engel vorbeigehen lassen, ohne dass ich hingeschaut habe. (www.utopia.forumprofi.de, 02.02.2011) Eine Angabe des Wahrheitsgehaltes ist nicht alles, was Sprecher mittels Komplexa‐ naphern tun können. Sie dienen auch der Strukturierung des Textes, etwa indem vorherige Textstellen als These, Vorschlag oder Scherz kategorisiert werden. (270) „Die einzigen Belgier wohnen im Königspalast.“ Dieser Scherz kursiert in dem Beneluxland. Damit wird darauf angespielt, dass alle Mitglieder der Königsfamilie von Kindheit an fließend Niederländisch, Französisch und Deutsch sprechen - die drei Sprachen des Landes. (www.finanzen.net) Dass der erste Satz, der Antezedent der Komplexanapher dieser Scherz, ein Scherz ist, wird durch die Komplexanapher explizit gemacht. Schließlich noch ein Beispiel, das man als Komplex-Katapher ansehen könnte. Der Ereignis-Referent von ein Vorfall wie dieser und es wird erst in den nachfolgenden drei Sätzen spezifiziert. (271) Schülerlotsen erledigen einen wichtigen Job - und das ehrenamtlich. Darum macht ein Vorfall wie dieser bei uns in Niederbayern sprachlos. Es passiert an einer Schule in Passau. Hier verweigert ein Schülerlotse einem Autofahrer die Durchfahrt. Weil der Lotse nicht weichen will, fährt der Mann am Steuer auf den Ehrenamtlichen zu und schiebt ihn zur Seite. Bei dem Vorfall wird der Schülerlotse leicht verletzt. (https: / / www.maximal-radio.de/ autofahrer-geht-auf-schuelerlotsen-los-372901/ 13.1.2025) 156 5 Kohärenztheorie <?page no="157"?> Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Komplexanaphern dadurch auszeichnen, dass sie sich auf satzwertige, syntaktische Antezedenten (Antezedensfelder; s. Marx 2011) beziehen, abstrakte Textreferenten benennen und dass ihre Rezeption vom Rezipienten die kognitive Strategie der Komplexbildung verlangt. Mit Komplexana‐ phern konstituiert man nicht nur, sondern man kategorisiert auch Textreferenten (z. B. als These, Witz, Vorschlag, als wahr oder unwahr). Die in der Proposition des Vorgängersatzes genannten Vorgänge, Sachverhalte oder Zustände werden mittels der Komplexanapher informationell komprimiert (und zusätzlich oft mit einer spezi‐ fischen Evaluierung; s. hierzu Kap. 6.3.2) zu einem einheitlichen Text-Referenten zusammengefasst und sprachlich wieder aufgenommen. Komplexanaphern sind somit ein wesentliches Mittel für die Konstruktion von Kohärenz in Texten jeder Art. Zusammenfassung von 5.5.2 Wie kann man das anhand der Beispiele oben erörterte Phänomen der textuellen Anaphorik nun im kognitiv-prozeduralen Ansatz theoretisch erklären? Werfen wir zusammenfassend einen Blick auf die Beschränkungen, denen die kohärenzetablie‐ rende Verwendung von Anaphern unterliegt. Welche Bedingungen müssen für das erfolgreiche Verstehen von Anaphern in Texten gegeben sein? Die erste Voraussetzung ist, dass es im vorherigen Text einen Antezedenten gibt, der für den Leser problemlos auffindbar/ identifizierbar ist und der dabei hilft, den anaphorischen Ausdruck zu verstehen, d. h. im TWM zu verankern. Damit diese Auffindung problemlos ist, müssen die folgenden Bedingungen gegeben sein: Antezedent und Anapher stehen nicht zu weit auseinander: Der Antezedent-Aus‐ druck ist für den Rezipienten auf der grammatischen Oberfläche des Textes präsent, er ist syntaktisch rekonstruierbar, d. h. er befindet sich in der Bewusstseinsspanne des KZG. Dies ist ein strukturelles Kriterium. Oder der Textreferent ist konzeptuell salient in der Textwelt und hat damit einen besonderen Status im Arbeitsgedächtnis (AG). Dann kann er auch nach vielen Sätzen aufgenommen werden. Dies ist ein prozedurales Kriterium. Antezedent und Anapher stehen in einem plausiblen semantischen oder konzeptuel‐ len Verhältnis: Entweder ist die Relation zwischen den beiden Ausdrücken semantisch (z. B. durch Hyperonymie oder Synonymie) oder konzeptuell (durch TWM-spezifische Identität/ textgebundene Paraphrase) gegeben. Hier handelt es sich um eine seman‐ tisch-konzeptuelle Bedingung. Ausnahme: In der Textwelt gelten andere ontologische Regeln; z. B. können im Märchen, in Fantasy-Romanen etc. Personen zu Dingen, Dinge zu Personen werden, vgl. (218), (223) und (224). Typisch (aber nicht notwendig) ist, dass Anapher und ihr Bezugsausdruck auf densel‐ ben Referenten Bezug nehmen, also die Relation der Koreferenz ausdrücken. In diesem Fall heißt der Bezugsausdruck der Antezedent oder das Antezedens. Die referenzielle Bedingung der Koreferenz kann aufgehoben werden, wenn statt Referenzidentität eine andere konzeptuell plausible Relation etabliert werden kann; dann nennt man den Bezugsausdruck Anker. 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 157 <?page no="158"?> Übungen und Denkanregungen zu 5.5.2 32. In der Forschung werden Anaphorik und Deixis auch als endophorische und exophorische Referenz voneinander abgegrenzt. Was ist damit gemeint? 33. Erörtern Sie die referenzielle Ambiguität in den beiden Texten und geben Sie an, inwiefern unser Weltwissen mittels der Plausibilitätsannahme diese Ambiguität auflöst. (272) Doch dann bekommt der junge Mann Unterstützung von seinem dama‐ ligen Tanzlehrer Karsten. Er gibt ihm intensiven Tanzunterricht. (www.br.de) (272‘) Doch dann bekommt der junge Mann Unterstützung von seinem dama‐ ligen Tanzlehrer Karsten. Er freut sich über die Extrastunden. 34. Welche theoretischen Gemeinsamkeiten weisen die Diskursrepräsentations-Theo‐ rie DRT (s. Asher 1993, Kamp/ Reyle 1993), Mentale-Modelle-Ansätze (Mars‐ len-Wilson et al. 1982, Johnson-Laird 1983, Garrod 1995 u. a.) und der hier postulierte TWM-Ansatz auf ? 35. Welche Inferenz muss der Leser ziehen, um Koreferenz zwischen Referent 1 und Referent 2 zu etablieren? (273) Er brachte [sein altes Auto]1 zum Schrottplatz. Als er dann [das zusam‐ mengepresste Stück Metall]2 sah, war er traurig. 36. Liegt bei (274) Koreferenz zwischen Fieslinge in der Überschrift und Collins/ Hag‐ man vor? Inwiefern ist die thematische Progression mit gespaltenem Rhema zu erkennen? Wie sind die Doppelbezeichnungen der Referenten zu bewerten? (274) Treffen der Fieslinge Gleich und gleich gesellt sich gern, könnte man sagen: Bei der Verleihung der Goldenen Kamera standen 1999 „Denver-Biest“ Joan Collins und „Dallas-Ekel“ Larry Hagman zusammen auf der Bühne. (www.br.de, 24.11.2012) 37. Manchmal finden sich in Texten vage Referenzangaben auch bei direkten und indirekten Anaphern: Die Bundesbürger […] manche, einige, viele, wenige (vs. genaue Angaben wie alle, bei 32 Prozent der Bundestagsabgeordneten, die Hälfte, zweiundzwanzig). Verletzt der Sprachproduzent hier das Prinzip der Informativi‐ tät? 38. Welche Formen der Textreferenz liegen in (275) vor? (275) München, Hotel Bayerischer Hof. Er läuft, mit auf dem Rücken ver‐ schränkten Armen, um eine Sitzgruppe herum. Er sagt: „Ich habe mir 158 5 Kohärenztheorie <?page no="159"?> jetzt 100 Fragen an den Christian Wulff ausgedacht. Ist Ihnen das recht? “ Sein feines, weit vorne ausgesprochenes Münchnerisch. Helmut Dietl: der Meisterregisseur, Münchner Gentleman, die graue Eminenz des deutschen Films. (Moritz von Uslar, 99 Fragen an Helmut Dietl, ZEITmagazin, 19.01.2012) 39. Welche direkten und indirekten Anaphern finden sich in (276)? Erörtern sie den Status von indirekten Anaphern im Rahmen der textuellen Informationsanalyse anhand von Beispiel (276)! Inwiefern erfüllen sie informationsstrukturell zwei kognitive Funktionen? (276) London (dpa) - Horror im Urlaubsparadies Seychellen: Ein Hai hat einen 30 Jahre alten Briten vor den Augen seiner frischvermählten Ehefrau zerfleischt. Der Raubfisch riss dem Mann einen Arm ab fügte ihm schwere Bisswunden an einem Bein sowie an der Hüfte und am Oberkörper zu. „Er hat viel Blut verloren, er hatte keine Chance“, sagte ein Sprecher der Polizei. Das Paar hatte seine Flitterwochen auf der Seychellen-Insel Praslin vor der afrikanischen Ostküste verbracht und wollte am Sonntag wieder nach Hause fliegen. Das Unglück ereignete sich am Dienstagnachmittag (Ortszeit) vor dem Anse Lazio Beach. Die Ehefrau des Opfers war am Strand, als Fischer ihren Mann auf ein Boot zogen und an Land brachten. Augenzeugen berichteten, die Frau habe trotz der schweren Wunden bis zuletzt gehofft, ihr Mann überlebe den Angriff. (www.tagesspiegel.de, 17.08.2011) 40. Welcher Typ der indirekten Anaphorik ist in (277) enthalten? (277) Mikrokosmos Theater: […] Hinter der Bühne herrscht zugleich eine konzentrierte und unruhige Stimmung. Die Schauspieler, Tänzer und Maskenbildner fallen sich in die Arme, Techniker raunen sich ein „Toi, Toi, Toi“ über die linke Schulter. Auch die Regisseurin war gerade noch da. (www.abi.de) 41. Komplexanaphern sind insofern direkte Anaphern, als ihr Referent schon im Text vorerwähnt ist, wenn auch in Form eines Satzes oder mehrerer Sätze. Wie müssten indirekte Komplexanaphern aussehen? Suchen Sie Beispiele! 42. Inwiefern vermittelt die Spezifikationsanapher Der 31-jährige „Carolin-Rei‐ ber-Klon“ nicht nur zusätzliche Informationen über den Textreferenten, sondern auch eine (negative) Bewertung ? (278) unter großem Beifall als „größten Irrtum in der Fernsehgeschichte“ bezeichnet. Der 31-jährige „Carolin-Reiber-Klon“ und seine Sendungen seien für Gottschalk grenzwertig und fragwürdig zugleich, sagte der 62-Jährige im Hörsaal. (www.web.de) 5.5 Anaphorik und Informationsstruktur: Kontinuität und Progression 159 <?page no="160"?> Weiterführende und vertiefende Literatur zu 5.5.2 Murphy (1985), Gundel et al. (1993), Ariel (1990) zum Accessibility-Ansatz, kritisch dazu Consten (2004: 131-133); Sanford/ Garrod (1981) und Garrod (1995) zu direkten und indirekten Anaphern; Consten (2004) zu pronominalen indirekten Anaphern. Schwarz (2000a, b), Schwarz-Friesel (2007b, 2011) und Schwarz-Friesel/ Consten (2011) ausführlich zu direkten und indirekten Anaphern in Texten; zu Komplexanaphorik vor allem Marx (2011), aber auch Schwarz-Friesel et al. (2004) und Consten et al. (2009). 160 5 Kohärenztheorie <?page no="161"?> Sprachkritik Sprache als Machtinstrument 6 Angewandte Textanalyse 6.1 Textlinguistik als sprachkritische Disziplin Sprache ist Weltenerschafferin und Menschenzerstörerin (Schwarz-Friesel, Toxische Sprache und geistige Gewalt, 57) Bislang haben wir primär die Grundlagen der Textlinguistik, ihre theoretischen Grund‐ annahmen und Methoden erörtert sowie ihre wesentlichen Erklärungsansätze durch die Beschreibung und Analyse diverser authentischer Beispiele erläutert. In diesem Kapitel möchten wir nun exemplarisch anhand einiger ausgewählter textueller Kom‐ munikationsphänomene, die in vielen Disziplinen auf die eine oder andere Weise un‐ tersucht werden, zeigen, wie die textlinguistische Vorgehens- und Darstellungsweise helfen kann, diese Phänomene wissenschaftlich präzise(r) zu fassen und zu erklären. Wir haben bereits in den vorangegangenen Kapiteln erörtert, wie hilfreich textlingu‐ istische Kenntnisse bei der Beschäftigung mit Texten aller Art sind; am Ende dieser Einführung sollen zumindest einige weitere ausgewählte Fallbeispiele skizziert wer‐ den, um die interdisziplinäre Relevanz textwissenschaftlicher Analysen zu exemplifi‐ zieren. Wir konzentrieren uns dabei auf die Phänomene der interpretativen Textsin‐ nerschließung (eine Dimension der Textanalyse, die traditionell im Mittelpunkt der Literaturwissenschaft steht), der forensischen Linguistik, und der Facetten des persu‐ asiven Potenzials von Texten (die in allen medien- und kommunikationswissenschaft‐ lichen Untersuchungen eine wichtige Rolle spielen). Textlinguistik, so unser Resümee, ist weit mehr als die sprachwissenschaftliche Beschreibung grundlegender Texteigen‐ schaften; Textlinguistik gibt die Möglichkeit, alle funktional und sozial eingebetteten sprachlichen Phänomene der Kommunikation mit Hilfe ihrer Analysekategorien zu erklären, ihre jeweiligen Spezifika (mit ihrem Wirkungspotenzial) transparent zu ma‐ chen und sie exakt zu beschreiben. Ein wichtiges Anliegen dieses Kapitels ist dabei auch, die Relevanz des Emotionspotenzials von Texten in das Bewusstsein unserer Le‐ ser zu rücken: Die emotive Dimension von Texten, von Sprache allgemein, wurde (zu) lange aus der Sprachwissenschaft ausgeklammert, obgleich alle empirischen Untersu‐ chungen seit vielen Jahren eindrucksvoll belegen, wie stark Kognition und Emotion (nicht nur beim Textverstehen) interagieren und wie sehr die emotive Komponente von Texten deren Verarbeitung, Speicherung und Wirkung beeinflusst (s. hierzu den Text (205) in Kap. 5). Damit ist die moderne Textlinguistik dann auch immer eine Form der Sprachkritik. Der sprachkritische Ansatz würdigt sowohl die positive als auch die ne‐ gative Rolle und Relevanz der Sprache in allen gesesellschaftlichen Prozessen und In‐ teraktionen. Sprache wird dabei als Instrument zur Durchsetzung von Macht(ansprü‐ chen) gesehen. Fragen .zur Macht und Realitätskonstituierung der Sprache sind bereits in vielen philosophischen Abhandlungen der letzten Jahrhunderte zu finden, vor allem bei der Frage, welche Rolle die Sprache beim Denken und Wahrnehmen spielt (s. hierzu bereits Kap. 4. Text und Welt). <?page no="162"?> Sprachpurismus kritische Sprachanalyse Der berühmte Sozialphilosoph Max Weber hat Macht definiert als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“ Und daran geknüpft ist die Beeinflussungskapazität: Macht ist die Möglichkeit, andere Menschen maßgeblich zu beeinflussen, zu steuern und zu kontrollieren in ihrem Denken, Fühlen und Handeln. Da die Sprache ein kognitives System darstellt, ist sie ein geistiges Machtinstrument. Sprachkritik ist innerhalb der modernen Sprachwissenschaft die Disziplin, die sich dezidiert mit eben diesen durch Sprache bzw. Sprachgebrauch manifestierten Macht‐ strukturen kritisch auseinandersetzt. Die wissenschaftliche Sprachkritik ist deskrip‐ tiv-explanativ und abzugrenzen von populärwissenschaftlichen und präskriptiven An‐ sätzen, die einen bestimmten Sprachgebrauch vorschreiben wollen (wie dies etwa schon im Barock die Sprachpuristen wollten, die u. a. Fremd- und Lehnwörter durch deutsche Varianten ersetzten. Bis in die Gegenwart existiert diese Tradion durch die Aktivitäten des „Vereins Deutsche Sprache“, vgl. kritisch Stukenbrock (2005)). Vielmehr geht es der wissenschaftlichen Sprachkritik um Aufklärung, Reflexion und Bewusst‐ machung: Es soll sensibilisiert werden für Sprachgebrauchsmuster, die destruktiv, ma‐ nipulativ, diskriminierend und menschenverachtend sind. Aspekte der viel diskutierten (und immer wieder kritisierten) politischen Korrektheit und Aspekte der Tabuisierung und Sprachzensur spielen dabei in den Debatten auch eine Rolle (vgl. etwa die öffent‐ lichen Debatten um Gendersterne oder um die Bezeichnung Mohren-Apotheke oder die Umschreibung bzw. Vermeidung des Wortes Neger als N-Wort. Hurna 2021 wählt im Zusammenhang mit politischer Korrektheit von Sprache den abwertenden Begriff „Gutsprech“ und ordnet entsprechende Tabuisierungen und Forderungen dem Sprach‐ purismus zu). Die jährlich gekürten „Unwörter“ fallen darunter: Hierbei werden Wörter nominiert, die aufgrund ihrer Verwendung in bestimmten Kontexten zynische, men‐ schenverachtende oder diskriminierende Lesarten haben. In der Forschung lassen sich drei Ansätze voneinander unterscheiden, die sprachkri‐ tisch ausgerichtet sind und sich in ihren wesentlichen Annahmen treffen und letzlich ähnliche Fragestellungen verfolgen: Die Sprachkritik (aktuell u. a. Felder, Niehr, Schiewe), ein linguistischer Ansatz, der kritische Sprachanalyse als Aufklärung versteht, da Sprache immer eine Ma‐ nifestation von Macht- und Ideologieverhältnissen ist. Äußerungen werden nicht nur analysiert, sondern auch sprachwisssenschaftlich bewertet und damit Sprachbewusstheit geschaffen für einen verantwortungsbewussten Umgang mit spachlichen Mitteln und Strukturen. 162 6 Angewandte Textanalyse <?page no="163"?> Diskursanalyse kritische Kognitions‐ linguistik toxische Sprache Die (Kritische) Diskursanalyse (u. a. Foucault, Wodak, Warnke) analysiert Texte und Diskurse nach ihren Inhalten und Formen im Kontext ihrer sozialen und historischen Einbettung und fokussiert dabei ebenfalls die Interaktionen von Sprache, Macht und und Ideologie. Schließlich die Kritische Kognitionslinguistik (u. a. Schwarz-Friesel, Krom‐ minga, Fritzsche), ein kognitionswissenschaftlicher Ansatz, der methodisch interdisziplinär die (persuasive) Rolle der Sprache in der individuellen und massenmedialen Kommunikation untersucht. Schriftliche und mündliche Äuße‐ rungen werden als verbale Spuren mentaler Aktivität gesehen, die Einblick in den Geist und Aufschluss über Einstellungen/ Weltbilder etc. geben. Sprachproduzenten haben immer die Wahl zwischen verschiedenen sprachlichen For‐ mulierungsalternativen, und je nach Einstellung und Weltbild werden spezifische Wörter und Sätze gewählt, um Textwelt-Modelle entstehen zu lassen, in denen Men‐ schen als Feinde oder Freunde referenzialisiert sind, Sachverhalte positiv oder negativ bewertet werden. Wie dies konkret umgesetzt werden kann, haben Sie in den letzten Kapiteln gelernt. Die drei genannten Ansätze treffen sich hinsichtlich der Aufdeckung suggestiver/ persuasiver/ wissens- und realitätskonstruierender Mittel und Strategien in Diskursen und Texten. Und sie stellen die gleichen Fragen: Wie entsteht Wissen, wie wird es mittels der Spache in einer Gesellschaft vermittelt, und wie wird damit Macht ausgeübt? Wie kann eine kritisch reflektierende Sprachanalyse sozial-kognitive Machtverhältnisse und Machtetablierung aufdecken? Wie kann man eine Gesellschaft dafür sensibilisieren, mit sprachlichen Äußerungen andere Personen oder Gruppen nicht verbal auszugrenzen oder zu stigmatisieren? Der letzte Aspekt betrifft die po‐ tenzielle Toxik des Sprachgebrauchs: Sprache kann auf viele Arten und in unterschied‐ lichem Maße toxisch sein, d. h. über die Semantik von Texten destruktive Inhalte ver‐ mitteln und dadurch Schäden verursachen (s. hierzu historisch und aktuell das Phänomen des Verbal-Antisemitismus). Die Textlinguistik mit ihren interdisziplinären sowie anwendungsorientierten Analysen, Verknüpfungen und Methoden ist sprach‐ kritisch in dem Sinne, dass sie nicht nur die Strukturen und Funktionen von Texten erklärt, sondern auch ihr Beeinflussungspotenzial sowie die Prozesse der sprachlichen Macht- und Gewaltausübung in einer Gesellschaft. Sie deckt, wie die Diskurslinguistik, Zusammenhänge zwischen mentaler Wissenskonstitution und sozialer Machtstruktur, individueller und institutioneller Interaktionen bei kognitiven und emotionalen Pro‐ zessen auf. 6.1 Textlinguistik als sprachkritische Disziplin 163 <?page no="164"?> Zusammenfassung von 6.1 Die kritische Sprachanalyse und die kritische Kognitionslinguistik als Teil der Lingu‐ istik untersuchen Texte - insbesondere massenmediale - in Bezug auf ihr Potenzial zur Machtausübung und der Beeinflussung von Weltbildern und Ideologien. Wird Sprache zur Ausgrenzung und Stigmatisierung verwendet, kann man von „toxischer Sprache“ sprechen. Strategien für solche Funktionen von Texten werden in 6.3.1 am Beispiel aktueller politischer Diskurse vorgestellt. Weiterführende Literatur zu 6.1 Klein (2010) geht allgemein auf Sprache und Macht ein, Schlobinski (2017) erörtert Grundzüge von Sprache und Macht vor allem aus sprechakttheoretischer Perspektive. Liebert (2019) fasst kurz zusammen, wie man linguistisch die Sprache von Ideologien entlarvt. Fritzsche (2024) erörtert dies umfassend anhand der Propagandamagazine des IS. Ein weiteres Beispiel für eine linguistische Analyse eines politischen Diskurses ist Eggler (2006), der die Debatte um den Golfkrieg 1991 untersucht. Aspekte der modernen Sprachkritik erklären Kilian et al. (2016), Felder et al. (2017) und Felder (2018) sowie Schiewe (2022) und Niehr (2024a, b). S. hierzu auch Warnke et al. (2024). Ein Klassiker der kritischen Diskusanalyse ist Wodak (2002); Reisigl/ Wodak (2000) wenden die Analyse auf verbalen Rassismus und rechten Antisemitismus an. Schwarz-Friesel/ Reinharz (2013) und Schwarz-Friesel ( 2 2025) erläutern verbal-antise‐ mitische Strukturen in allen politischen Diskursen. 6.2 Auf der Suche nach dem Sinn: Lesen, Textsinnerschließung und interpretative Inferenzen Wenn Lesen sich auch da als nicht bequem erweist, sei’s ein Begegnen doch mit dieses Geistes Geist. (Rainer-Maria Rilke) In der Textlinguistik wird Textsinn sehr oft mit Kohärenz gleichgesetzt, so wie bei de Beaugrande/ Dressler (1981), wo Sinn aufgefasst wird „als tatsächlich durch Text‐ ausdrücke aktiviertes Wissen“ (: 8) und Kohärenz als „dem Text zugrundeliegende[r] Sinnzusammenhang“ (: 88) definiert wird. Kohärenz ist dementsprechend das „Ergebnis der Bedeutungsaktualisierung, die den Zweck der ‚Sinn-Erzeugung‘ verfolgt“ (: 117). Doch Kohärenz und Textsinn sind zwei voneinander zu unterscheidende Phänomene und eine Gleichsetzung dieser beiden Phänomene nivelliert wichtige Dimensionen von Textverstehensprozessen, textueller Kompetenz und Interpretation. Auch nicht-kohä‐ rente Texte sind mit entsprechendem kognitivem Aufwand und unter Berücksichti‐ gung eines bestimmten Kontextes interpretierbar, wir können ihnen zumindest einen 164 6 Angewandte Textanalyse <?page no="165"?> Textsinn digitales Lesen globalen Sinn zusprechen, obgleich sie inkohärent und auf den ersten Blick völlig unverständlich erscheinen (s. hierzu z. B. die Beispiele in 5.1 und 5.3). Die Menge der kohärenten Texte ist also nicht identisch mit der Menge der interpretierbaren Texte. Wir unterscheiden daher terminologisch und definitorisch zwischen Kohärenz und Textsinn (s. hierzu ausführlich Schwarz-Friesel 2006): Solange keine gravierenden Kohärenzbrüche im Text anzutreffen sind, verläuft der Vorgang der Kohärenzetablierung beim Lesen unbewusst und automatisch und wird von unserer textuellen Kompetenz gesteuert (s. 5.2 und 5.3). Der Textsinn ist dagegen eine der gesamten Textstruktur übergeordnete konzeptu‐ elle Auslegungsvariante, die auch die Hauptfunktion des jeweiligen Textes erfasst. Bei einem Gedicht über den Herbst z. B. wie (194) und (195) in Kap. 5 steht die ästhetische, die poetische Funktion im Vordergrund, bei einem politischen Gedicht wie (299) (in diesem Kap.) kommt die aufklärende, die agitative oder persuasive Funktion hinzu. Der Textsinn ergibt sich somit aus der kommunikativen Funktion in Verbindung mit der hierarchiehöchsten konzeptuellen Makroproposition. Bsp. (181) in Kap. 5 kann man dementsprechend den Textsinn ‚Trabbi-Witz, der Heiterkeit durch das Lächerlichma‐ chen dieser Automarke auslösen will‘ zusprechen, dem Arp-Gedicht (19) in Kap. 2.1 z. B. ‚dadaistisches Gedicht, das mittels einer surrealistischen Sprache ungewöhnliche Sinneseindrücke in der Nacht vermittelt‘. Bei diesen beiden Beispielen sieht man sehr deutlich, dass manchen Texten wesentlich schwerer ein bestimmter Textsinn zuzuord‐ nen ist als anderen. Den Textsinn zu bestimmen, ist oft nicht nur von unserer textuellen Kompetenz abhängig, sondern auch von enzyklopädischem Spezial- und Fachwissen, der Be‐ rücksichtigung von Textsortenwissen sowie bewusst und kontrolliert eingesetzten kognitiven Interpretationsstrategien. In der Alltagskommunikation müssen wir solche Interpretationen in der Regel gar nicht leisten: Niemand würde z. B. auf die Idee kommen, bei einer Aufbauanleitung, einem Kassenzettel oder einem Protokoll nach dem ‚tieferen Sinn‘ zu fragen, nach der kommunikativen Funktion zu suchen, da diese auf der Hand liegt. Anders ist es bei anspruchsvolleren, z. B. wissenschaftlichen oder medialen Texten, die eine komplexe Informationsstruktur haben. Hier müssen die Leser sich stärker konzentrieren, um am Ende angeben zu können, was die themati‐ sche Quintessenz und was die mutmaßlich intendierte kommunikative Absicht des Textproduzenten ist. Dass dies nicht automatisch beim Lesen entsteht, zeigen z. B. die Pisa-Studien, die sich mit der Fähigkeit des Textverstehens beschäftigen (und gezeigt haben, dass es vielen Schülern offensichtlich schwerfällt, zu einem angemessenen Textverständnis zu kommen bzw. die Hauptthemen eines Textes zu paraphrasieren, s. u. a. Beiträge in Abraham et al (Hg.) 2 2013). Die Veränderung des Leseverhaltens im digitalen Zeitalter ist hier ebenfalls zu be‐ rücksichtigen: Zwar ist digitales Lesen und das Hören von Büchern in den wesentlichen Aufnahme- und Verarbeitungsprozessen geistig nicht weniger fordernd als gedrucktes Lesen (s. Deniz et al. 2019 zum Lesen und Hören von Texten), doch konstatieren viele empirische Lese-Studien, dass Lesen auf Papier zu besseren Ergebnissen kommt als 6.2 Auf der Suche nach dem Sinn: Lesen, Textsinnerschließung und interpretative Inferenzen 165 <?page no="166"?> Rezeptionsästhetik Prinzip der Sinnsuche Lesen am Bildschirm (s. u. a. Baron 2021). Dies muss man differenziert betrachten: Während der Leseprozess an sich kaum Unterschiede hinsichtlich kognitiver Informa‐ tionsverarbeitung aufweist, wenn er im digitalen oder gedruckten Modus verläuft, sind die Tiefe des Verständnisses sowie die Behaltensleistung offensichtlich deutlich besser nach dem Rezeptionsprozess auf Papier. Dies liegt zum einen daran, dass man beim Lesen auf Papier deutlich mehr Notizen macht, v. a. im Text selbst, zum anderen aber auch an der physischen, nicht zu unterschätzenden Eigenschaft eines gedruckten Bu‐ ches, das taktil zum Anfassen und olfaktorisch zum Riechen ist (s. hierzu auch den Abschnitt 6.5.3). Ein Tipp für unsere studentischen Leser(innen): Es lohnt sich, am Druck zu lesen! Interpretative Prozesse laufen vor allem bei der Rezeption und Analyse von litera‐ rischen Texten ab, und im Deutschunterricht sowie in literaturwissenschaftlichen Uni‐ versitätsseminaren spielen gerade diese eine besonders wichtige Rolle (s. hierzu auch Consten/ Kirmse 2022). Eine Interpretation geht als kognitiver Prozess weit über die bloße Bedeutungszuordnung und Kohärenzetablierung hinaus. Kohärenzetablierung ist als Prozess der Kontinuitätserkennung beim Textverstehen daher von der Interpre‐ tation als Prozess der Sinnerkennung abzugrenzen. Die Sinnerkennung bei Literatur kann entweder als Rekonstruktion der potenziellen Autoren-Illokution erfolgen (nach dem klassischen Credo der werkimmanenten Auslegung ‚Was will der Autor uns mit diesem Text sagen‘) und/ oder als Sinnerzeugung, d. h. als Konstruktion einer mögli‐ chen, plausiblen Auslegungsvariante im Rahmen des Interpretationspotenzials des Textes. In der Literaturwissenschaft wird die zuletzt genannte Dimension vor allem seit den Arbeiten der Rezeptionsästhetik berücksichtigt, einem Ansatz, der die aktive Rolle des Lesers bei der Auslegung von literarischen Texten betont. Vgl. auch: „Denn interpretieren heißt: ‚sagen, was dies oder jenes für mich bedeutet‘“ (Bauriedl 1984: 75). Trotz aller Kreativität und Variabilität beim Interpretieren, sind auch hier durch den Text selbst gewisse Grenzen gesetzt: Ein Stadtgedicht wie (186) in Kap. 5 kann schwer‐ lich als ‚Anleitung zur Sterbehilfe‘ oder ‚metaphorisch ausgedrückte Bewältigung des Alters‘ interpretiert werden. Ziel des Textverstehens ist es immer, Sinn zu erzeugen. Diese Sinnerzeugung verläuft nach dem Prinzip der Sinnsuche (von Hörmann 2 1994 etwas irreführend das Prinzip der Sinnkonstanz genannt): Der Rezipient wird alle Informationen und geistigen Schlussfolgerungen benutzen, um dem Text einen Sinn zu verleihen. Meist geschieht auch dies automatisch. Wie wir bereits in den Kap. 5.1, 5.3 und 5.4 gesehen haben, gibt es jedoch zahlreiche Texte im Bereich der Literatur, die weder kohäsiv noch kohärent sind und sich einer schnellen Sinnzuschreibung entziehen. Dennoch akzeptieren wir sie als Texte, die mit einer Intention produziert wurden und versuchen, ihnen einen bestimmten globalen Sinn zuzusprechen. Wir nehmen an, dass sich der Produzent relevant geäußert und eine bestimmte Intention mit dem spezifischen Text verfolgt hat. Also werden wir versuchen, das jeweilige sprachliche Gebilde als thematisch relevant und kommunikativ sinnvoll zu interpretieren, sei es auch noch so seltsam, sei es auch ungrammatisch, semantisch kryptisch und referenziell ambig. 166 6 Angewandte Textanalyse <?page no="167"?> interpreta‐ tive Inferenz Die Suche nach der Relevanz und nach dem kommunikativen Sinn im Prozess der Textrezeption entspricht der Interpretation des Textes. Die Konstruktion von lokaler und globaler Kohärenz kann dabei maßgeblich helfen, sie ist jedoch keine notwendige Voraussetzung. Um den Sinn eines Textes zu erschließen oder zu konstruieren, müssen wir interpretative Inferenzen ziehen. Diese Prozesse laufen nicht auf der lokalen, der Mikrostrukturebene eines Textes ab (wie wir sie anhand der referenziellen Unterspe‐ zifikation in 4.3 beschrieben haben), sondern auf der hierarchiehöchsten Ebene, der höchsten Makrostruktur des Textes ab (s. hierzu 5.4). Bei den Buddenbrooks etwa gibt der Untertitel Untergang einer Familie als oberste Makroproposition des Autors eine wichtige übergeordnete Sinnlesart vor. Auf der Basis dieser globalen Information kön‐ nen dann weitere Sinnkonstruktionen erfolgen. Die kognitive Regel ‚abstrahiere‘ spielt bei interpretativen Prozessen eine maßgebliche Rolle. Weltwissens- und inferenzge‐ steuerte Generalisierungen auf der Basis der Textstruktur führen zu einer (oder meh‐ reren) Sinnauslegung(en). Oft gibt uns der Titel eine kognitive Domäne, die hilft, den Text zu interpretieren (s. hierzu bereits 5.4): (279) Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne Und trunken von Küssen Tunkt Ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. -Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und Wo den Sonnenschein Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. (Friedrich Hölderlin, Hälfte des Lebens) Dieses Gedicht von Hölderlin (1803 verfasst) weist insgesamt kaum Kohärenz auf: In der ersten Strophe wird über Sinnesadjektive und Nomina, die Früchte und Blumen bezeichnen, eine Landschaftsbeschreibung im Spätsommer gegeben. Die NPs gelbe Birnen und wilden Rosen vermitteln Sinneseindrücke, die das Reifen und Blühen der Natur in den Mittelpunkt stellen. Gewisse surreale und sakrale Züge fließen in diese referenzielle Domäne ein: Holde Schwäne, die wie Personen angesprochen werden und trunken von Küssen sind, das heilignüchterne Wasser enthält semantisch eine Antony‐ mie. Insgesamt entsteht jedoch der Eindruck, dass sich das lyrische Ich gefühlsmäßig in einem schönen und angenehmen Zustand befindet. In der zweiten Strophe erfolgt ein radikaler Wechsel, sowohl in der Beschreibung als auch im Gefühlsausdruck: Exklamativ erfolgt eine Klage (Weh mir), die Sorge und Furcht vor der Zukunft verrät. 6.2 Auf der Suche nach dem Sinn: Lesen, Textsinnerschließung und interpretative Inferenzen 167 <?page no="168"?> Der Eintritt des Winters wird als ein desolater Mangelzustand antizipiert, der sich durch das Fehlen von Licht und Wärme auszeichnet, die für jede Form des Lebens existenziell sind. Kalt und sprachlos sind Eigenschaften, die mit dem Tod assoziiert werden. Nimmt man die Information der Überschrift, ergibt sich globale Kohärenz: Die beiden Hälften des Lebens werden kontrastiv mittels der Metaphern Sommer und Winter beschrieben, das Älterwerden als Annäherung an den Tod, als das Ende des Lebens dargestellt. Die oberste Makroproposition lässt sich somit als ‚Furcht vor dem Alter und vor dem Tod‘ fassen. Ein ganz anderer Text liegt mit (280) vor: (280) Collage nach Oskar Pastior AUGEN AUF INTERESSANT , INTERESSANT von uns hat niemand für solch eine Bratpfanne die sozusagen Später war ich Notenständerfabrikant, Partiturlektor, Blechblasinstrumentenreinigungsassistent, in einer staubig chaotischen und transaxiomatischen Großstadt, die mit Philosophie zu tun hat; kurzum, was ich über mich erzählen kann, ist danach (das heißt interpretierend betrachtet) auch wieder symptomatisch, also ausschlaggebend; natürlich habe ich dann studiert, in Helsinki, und sogar in einem Konzerthaus gearbeitet; als Kurator war ich aber eher schwach. Nichtsdestotrotz, auch nach ein paar finanziell wichtigen Veränderungen und Einschnitten, überkommen mich noch immer unangenehme, das heißt freigeistige Bauch- und Trennungsschmerzen, wenn ich so sage: „Ich bin Musiker“ - oder gar „Memento mori“. Interessant, interessant. Denn von all den Ideen, die ich dann notiert habe, sind selbstverständlich viele verspätet, aber sogar die Manuskripte werden auf unverschämte Weise der Erwartungshaltung nicht gerecht. Außerdem erkläre ich hiermit, dass ich bei der Herstellung von Notenständern für Pianisten weniger gut bin als bei der Herstellung von Notenständern für Violinisten, bei denen ich es einmal auf sechzig Stück die Dreiviertelstunde gebracht habe. Lang lebe der Violinistennotenständer, er ist der Augapfel Gottes. „Betrachtetes ist einvernehmlich.“ Ja, ich frage mich immer wieder und wieder, was dahinter steckt. Fragen, Fetzen, Gedankenfragmente. Wenn der Sprössling die Eltern ohne deren Wissen über so manches sprechen hört: „… dann wird er mir abbrechen“, und daraufhin sich Bilder darbieten: der Erzeuger, die Arme über den Kopf zusammengeschlagen, neben ihm der zerborstene Dirigierstock, Splitter auf dem Fußboden verteilt. Wieso missverstanden? Kann man sich so verhören? Nein, in meiner Biographie haftet den Bildern, die ich von dieser Szene ausgehend gemalt habe, noch immer eine unverfälschte Schönheit an; und es ist nebensächlich, ob sie mir gefallen oder nicht - ich sehe ja die Farben, auch jetzt, von vorne und hinten, er wird abbrechen, immer wiederkehrend, sonst nichts. Woran ich festhalte, sind Kellen, Fotoalben, bestickte Bettdecken, deren Wesen sich mit den Bildern, denen ich all diese Fragen stelle, vereint hat. Es ist schon merkwürdig, um wie vieles klarer man bestimmte Bilder vor dem Inneren Auge sieht, je mehr Abstand man zu den Ereignissen gewinnt. Findest du nicht auch? Ich erinnere mich an so manches Erlebnis aus meiner Kindheit gerne zurück- Damals arbeitete meine Mutter noch in der Kantine. Mein Vater war Dirigent und probte regelmäßig in unserem Wohnzimmer. Als ich noch sehr klein war, verstand ich nicht genau, was er da machte. Es sah schon ziemlich bedeutsam aus, erhaben geradezu. Lange saß ich da und schaute ihm bei seinen Proben zu. Na ja, und dann geschah es einmal spät am Abend, als wir Kinder bereits schliefen, dass ich durch ein Geräusch erwachte. Ich schlug die kunstvoll bestickte Bettdecke zur Seite, stand auf und ging über die weiß glänzenden Dielen in Richtung Wohnzimmer, da hörte ich ihn leise flüstern: „Er bricht mir ab“. Vater kauerte auf dem Fußboden, in sich zusammengesunken. Überall lagen Holzsplitter… Und inmitten meiner kindlichen Naivität, ich erinnere mich, hörte ich das erste mal jemanden weinen. Ich hielt am Gefühl fest. Es ließ mich nicht los. Autobiographischer Text Wenngleich mein Vater nicht nur Dirigent war, sondern sich meistens vor dem Schlafen ins Bett legte, hat meine Mutter mir zwar sowohl am Abend als auch während wir noch in Rostock lebten, aber doch vieles beigebracht. Ähnlich komplizierte Sachverhalte haben seitdem über die Jahre dazu beigetragen, dass ich nicht nur musikalisch tätig bin, sondern auch andere Instrumente nicht beherrsche. Möglicherweise ist alles darin begründet, dass ich während meiner Ausbildung - Mozarts Betrieb natürlich; wo nachgefragt wird, wann immer, dem droht sie - nicht mitgeschrieben habe, wie Cindy und Bert sich zu Sonny und Cher verhalten (wie Musiker nämlich, einerseits, doch andererseits biographisch, jeweils wie wechselseitig), und zwar weil ich gerade damals neben den Faxgeräten Schichtdienst hatte, um gegen Glanz und Elend ein wenig retrospektiv und ein wenig unempfindlich zu werden. Im Memoieren dem Betrachteten auf die Spur kommen, wobei die Untersuchungsinstrumente, Sinn und Erkenntnis, trügerischer und doch auch erhellender sind als der Gegenstand, den sie nicht nur untersuchen, sondern letztlich auch entstehen lassen und darstellen: mentale Bilder, so und nur so, das Betrachtete. Bloß: die totale Erkenntnis gibt es nicht. Und jede Beschreibung verfälscht das Ergebnis. Dieses Hindernis bleibt als Quelle, womöglich Antrieb. Dieser Text, der in Anlehnung an einen Text von Oskar Pastior konzipiert wurde, ist für den Rezipienten sowohl hinsichtlich Kohärenz als auch Sinnzuordnung kompliziert, da hier in einem Text gleich mehrere, ganz verschiedene Texte unterschiedlicher Textsorten in einer Art Collage zusammengefügt sind. Diese neben- und übereinan‐ derstehenden Texte durchbrechen die Regeln der uns bekannten Superstrukturen und bieten auf zwei Buchseiten viele heterogene Informationen mit unterschiedlichen Strukturen. Nach der Rezeption stellt sich die Frage, was diese Darbietung verwirrender Eindrücke zu bedeuten hat, welche Intention damit realisiert werden soll. Auch hier gibt der Titel als Makroproposition eine Interpretationshilfe: Augen auf bzw. im Original Jalousien aufgemacht aktiviert die kognitive Domäne B LICK AU S D E M F E N S T E R . Ein TWM wird aktiviert, in dem die verschiedenen Informationseinheiten dieser Domäne global kohärent untergeordnet werden. Durch die Regel der Abstraktion und das Wissen, das die Texte von Oskar Pastior sich stets besonders durch Sprach‐ spielereien und -experimente auszeichnen, entsteht als mögliche Textsinnvariante 168 6 Angewandte Textanalyse <?page no="169"?> ‚Sprachspielerische Prosa, die mittels verschiedener Textsortenexemplare den Strom von möglichen Eindrücken auf den Geist vermittelt‘. In (281) bietet die Semantik des Titels, anders als in (279) und (280) keine entschei‐ dende Makroproposition, die bei der Textsinnfindung hilft. (281) Nördlicher Juni Die Nächte haben ihre Eigenschaften verloren: Weiße Stufen die Horizonte mit Rostroten Tüchern. Wer hier hinaufspringt Kann glücklich werden. Dreimal rufe ich dich aber Du bist nicht Auf Erden. (Sarah Kirsch, Nördlicher Juni) Zwar gibt Nördlicher Juni eine referenzielle Einordnungsinstanz und gewährleistet damit globale Kohärenz, aber um den übergeordneten Sinn des Gedichtes zu erfassen oder zu konstruieren, müssen weitere, bewusste Prozesse bemüht, interpretative Inferenzen gezogen werden. Strategiegeleitet können hierbei Kenntnisse über Entste‐ hungszeitpunkt und Kontext des Textes, die Biografie der Autorin, über andere Werke von Sarah Kirsch hinzugezogen werden. Letztlich fließt auch das gesamte Vorwissen des Rezipienten, seine Erfahrungs- und Einstellungswelt, seine Motivation, sich auf den Text intensiver einzulassen, eine entscheidende Rolle. Kohärenzetablierung und Sinnzuordnung müssen keineswegs hintereinander, son‐ dern können auch zeitlich parallel ablaufen, d. h. während des Textverstehens beginnt auch gleichzeitig für die bereits gelesenen Textteile eine übergeordnete Sinnsuche (wenngleich die meisten bewussten Interpretationsaktivitäten in der literaturwis‐ senschaftlichen Praxis nach der Textrezeption beginnen). Die Textlinguistik kann insbesondere im didaktischen Bereich der Literaturanalyse mit ihren präzisen Be‐ schreibungs- und Erklärungskategorien helfen, für unterschiedliche Prozesse und Analyseschritte beim Textverstehen und Interpretieren zu sensibilisieren und den Vorgang der Textsinnzuordnung explanativ transparenter zu machen. Dadurch kann auch eine Brücke zwischen den oft als separat empfundenen Diszi‐ plinen Linguistik und Literaturwissenschaft geschlagen werden, und Methoden einer integrativen Textwissenschaft können ihre Anwendung finden. Zusammenfassung von 6.2 Verstehen und Interpretieren sind voneinander als kognitive Prozesse zu unterschei‐ den, ebenso Kohärenz als konzeptuelle Kontinuität und Textsinn als Erstellung einer Auslegungsstruktur, einer der Textstruktur übergeordneten konzeptuellen Deutungs‐ variante. Interpretative Inferenzen basieren auf der hierarchiehöchsten Makropropo‐ 6.2 Auf der Suche nach dem Sinn: Lesen, Textsinnerschließung und interpretative Inferenzen 169 <?page no="170"?> sition und erzeugen den Textsinn auf dieser Basis unter Berücksichtigung der primären Funktion des Textes. Vom Rezipienten werden im Prozess der Sinnsuche alle ihm zur Verfügung stehenden textuellen, situativen, enzyklopädischen Informationen benutzt, um das Ziel der Textsinnkonstruktion zu erreichen. Der Rezipient berücksichtigt dabei die Funktion des Textes und versucht (wenn möglich), die mutmaßliche Absicht des Sprachproduzenten zu rekonstruieren. Unabhängig von dieser Autorenintentionsre‐ konstruktion haben literarische Texte aber auch das Potenzial, für den Rezipienten eine subjektive Sinnauslegung bereit zu halten. Die Textlinguistik kann zeigen, wie durch eine Interaktion von textinternen Informationen und textexterner kognitiver Aktivität eine solche Sinnzuordnung entsteht. Übungen und Denkanregungen zu 6.2 1. Welchen Textsinn sehen Sie in (282)? Überlegen Sie, wie Sie zu diesem Sinn kommen. Welche Textinformationen, welche Inferenzen haben Sie dazu gebracht? (282) Hollywood Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen Gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden Hoffnungsvoll Reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer. (Bertolt Brecht, Hollywood) 2. Schlagen Sie Peter Handkes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt auf. Betrachten Sie die Texte, vor allem Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968. Welche Informationen gibt Ihnen der Text? Können Sie Kohärenz erkennen? Was für ein Texttyp liegt vor? Was ist der mutmaßliche Sinn des Textes? Was sagt Ihnen dieser Text persönlich, was für bewusste Inferenzen löst er aus? (Ohne Lösungsangabe) 3. Können Sie beim Lesen von (283) ein TWM aktivieren, das Ihnen hilft, den Text zu verstehen und zu interpretieren? (283) Im Schatten der sieben Wachtürme, durchleben wir unseren ewig grauen Tag, abends befiehlt uns die Sirene den Schlaf, morgens verjagt sie aus unseren Augen den Traum. (František Jan Kadlec, Im Schatten der sieben Wachtürme) 4. Lesen Sie jetzt das Gedicht noch einmal, aber mit der Hintergrundinformation, dass František Jan Kadlec Häftling im KZ Dachau war. Welches TWM entsteht jetzt? Welcher Textsinn wird von Ihnen konstruiert? Ist es überhaupt möglich, die Intention eines Produzenten zu rekonstruieren? Denn Texte haben keine Intentionen, das haben nur Menschen, die Texte produzieren. 170 6 Angewandte Textanalyse <?page no="171"?> Verschwö‐ rungserzäh‐ lungen 5. Der amerikanische Schriftsteller Philip Roth hat in einem ZEIT-Interview (14.09.2000, 49-50) über Literatur Folgendes gesagt: „Literatur bietet eigenständige Wirklichkeit […] Literatur vermittelt ein Bild, das eine alternative Sicht der Dinge vermittelt […] führt zur Ausweitung des Bewusstseins durch eine Aktivität des Geistes und der Fantasie.“ Was meint er damit? 6. Werbungstexte lehnen sich, um persuasiv zu wirken, oft an Gestaltungsmuster von literarischen Texten an und benötigen z.T. strategische Inferenzen, um verstanden zu werden. So muss der Rezipient bei dem Bionade-Slogan „Gut in Bio. Schlecht in Chemie“, die Inferenz ziehen, dass mit schlecht in Chemie ‚ohne chemische Zusatzstoffe‘ gemeint ist. Ist es daher berechtigt davon auszugehen, dass nicht nur bei literarischen Texten interpretiert werden muss, um zum Textsinn zu gelangen? Weiterführende und vertiefende Literatur zu 6.2 Jakobson (1979) als Klassiker zur poetischen Funktion von Sprache; Hörmann ( 2 1994) zum Prinzip der Sinnkonstanz (bei uns: Sinnsuche), Fix (2003) zum Verhältnis von Linguistik und Literaturwissenschaft, Schwarz-Friesel (2006) zur Unterscheidung von Kohärenz und Textsinn, Textverstehen und Textinterpretation; Gardt (2007) zur Interpretation aus linguistischer Sicht. Winkler (2011), Winkler et al. (2010) und Consten/ Kirmse (2022) zu didaktischen Aspekten der Textanalyse. 6.3 Perspektivierung und Evaluierung „Doch, es gibt die Welt da draußen. Aber Sie sind nie dort gewesen, nicht mal zu Besuch. Der einzige Ort, an dem Sie je waren, ist in Ihrem Kopf.“ (Stephen Macknick, Neurowissenschaftler, Barrow Neurological Center, Phoenix. WDR-Sen‐ dung „Die Macht des Unbewussten“ vom 09./ 16.12.2011) 6.3.1 Evidenz und Schein-Evidenz in populistischen Texten: Perspektivierung und De-Realisierung Sprache bildet Realität nie nur ab, Sprache ist nie nur Spiegel der Gesellschaft, Sprache konstituiert und konstruiert auch Realität. Je nach Ideologie und Einstellung des Sprachproduzenten entstehen durch die Wahl der sprachlichen Mittel eigene mentale Welten, in denen Menschen(gruppen) entweder diskriminiert und z. B. durch dehuma‐ nisierende Metaphern entwertet oder aber aufgewertet und als Heilsbringer hypostasiert werden. Besonders deutlich sieht man dies z. B. in Verschwörungserzählungen: Eine alternative Welt wird dargestellt, in der ominöse Mächte, in der Regel eine kleine Machtelite die Fäden der Welt zieht und alles beherrscht. Der folgende Text wurde von einer Userin im Kommentarbereich des Facebook-Accounts eines AfD-Politikers ge‐ postet: „der Teufel Soros steckt hinter allen Projekten, die ein Land und ganz besonders 6.3 Perspektivierung und Evaluierung 171 <?page no="172"?> Perspekti‐ vierung Deutschland zerstören. Unsere machtgeilen Politiker sind die Hofschranzen dieses Teufels…. [AfD_Halbritter_FB_03032019_S4]“ (https: / / www.facebook.com/ photo.php ? fbid=10157191772599914&set=a.10150157941434914&type=3). Der jüdische Philantrop Soros wird dämonisierend als Teufel referenzialisiert, der als destruktive Macht omnipotent zum Schaden Deutschlands agiert. Das Textwelt-Modell weist ein geschlossen antisemitisches Weltbild mit Verschwörungsdenken auf, in dem die politischen Vertreter/ Regierenden als willige Helfershelfer diskreditiert werden. Aber auch jeder massenmediale Text kann je nach Sicht und Bewertung des Jour‐ nalisten massive Realitätsverdrehungen (sogenannte De-Realisierungen) enthalten, bei denen Realität und sprachlich konstruiertes Textwelt-Modell nicht kompatibel sind und ein Missverhältnis aufweisen Jeder Text stellt einen referenziellen Sachverhalt immer perspektiviert dar (s. hierzu Kap. 4). Dies ergibt sich zwingend, denn Wahrnehmung und Versprachlichung der wahrgenommenen Eindrücke ist immer subjektiv und er‐ folgt damit stets durch eine spezifische Perspektive, die eine Person, ein Objekt oder ein Ereignis vom Blickwinkel des Betrachters aus erfasst. Perspektivierung ist somit als ein grundlegendes Prinzip im kognitiven System des Menschen angelegt. Perspek‐ tivierung spiegelt sich maßgeblich in Texten wider und lässt sich dort als sprachliches Phänomen in seinen diversen Manifestationen untersuchen (s. Klein/ von Stutterheim 2007, Köller 2004, Schwarz-Friesel 2017a und 2022). Ein Textproduzent hat stets sehr viele Möglichkeiten, seine Sicht der Dinge, also seine Konzeptualisierung und seine Einstellung zu einem Sachverhalt zu verbalisieren. Durch den Einsatz spezifischer Wörter und informationsstruktureller Mittel kann er eine bestimmte Perspektive ex‐ plizit (z. B. mittels sinnesausdrückender Lexeme) oder implizit (z. B. durch das Auslas‐ sen von Informationen bei gleichzeitiger Fokussierung bestimmter Aspekte oder durch Implikaturen) vermitteln (Schwarz-Friesel 2 2013: 214 ff.). Eine perspektivierte Verbalisierung referenzialisiert also selektiv bestimmte Aspekte eines Sachverhalts auf eine spezifische Weise und führt somit zu einem TWM, das eine sehr eigene Realität abbildet. Dabei können die spezifischen Referenzialisierungen von Ereignissen beim Rezipienten Konzeptualisierungen von E R E I G NI S S E N (d. h. Vorstellun‐ gen von Ereignissen) erzeugen. Diese mentalen Realitätskonstrukte werden oft als wahr, als objektiv und authentisch ausgegeben, seien sie auch noch so grotesk, falsch und absurd. So behauptete Alice Weidel, bei der Bundestagswahl 2025 die Kanzlerkandidatin der rechtsextremen Partei AfD, in einem Livestream-Gespräch mit Elon Musk am 9. Januar 2025, Hitler sei ein Kommunist gewesen (https: / / www.youtube.com/ watch? v=0cfnLBU WpRE). Das ist Geschichtsfälschung, denn Hitler hasste als rechtsradikaler Nationalist den Kommunismus als „jüdisches Bolschewikenbollwerk“. Und es liegt eine doppelte Täter-Opfer-Umkehr vor: Im historischen Sinne, denn zum einen waren die Kommu‐ nisten unter den ersten, die nach Hitlers Machtübernahme ermordet oder in die KZs geworfen wurden, sowie im aktuellen Sinne, da Weidel auf diese Weise den negativen Fokus der rechtsextremistisch-völkischen Ideologie ihrer Partei auf die linke Politik‐ sphäre lenkt. So wurden krude Fake News als „alternative Fakten“ für ein internatio‐ 172 6 Angewandte Textanalyse <?page no="173"?> Evidenz Evidentiali‐ tät Schein- Evidenz De- und Re-Kontextualisierung nales Millionenpublikum in den Raum gestellt und als Fakt, als Evidenz ausgegeben. Evidenz gilt allgemein als das Existierende, das glaubhaft Bewiesene. Verbale Evidenz‐ vermittlung gehört damit als Tatsachenbezug zu den wichtigsten Strategien für kom‐ munikative Glaubwürdigkeit (was insbesondere in Texten aus Politik und Medien von höchster Relevanz ist). Evidenz in Texten und Gesprächen soll das Augenscheinliche, das unmittelbar Er‐ sichtliche vermitteln. Evidentialität drückt aus, woher ein Sprecher diese Evidenz schöpft. Sie kennzeichnet in Texten also die Quelle der Information, aus welcher der Textproduzent das Wissen über die ausgedrückten Propositionen hat. Dieses Wissen kann aus den im Langzeitgedächtnis gespeicherten Schemata stammen und damit en‐ zyklopädisches Wissen sein, das allgemein in einer Sprechergemeinschaft als Fakt ak‐ zeptiert wird. Es kann sich aber auch auf Wahrnehmungen und Situationen beziehen und durch Wahrnehmungsverben augedrückt werden, etwa als Wie ich gehört/ gesehen/ erlebt habe. Modalwörter sind ebenfalls wichtige Evidenzmarker, z. B. offenkundig, offensichtlich, augenscheinlich, sichtlich, anscheinend, wirklich, tatsächlich. Ein Sprecher gibt somit eine Beschreibungsperspektive an und legitimiert so die referenziellen Sach‐ verhalte, die er ausdrückt. Oft erweist sich aber Evidenz als bloße Schein-Evidenz: Schein- oder Pseudo-Evi‐ denzen basieren auf sprachlichen Mitteln der Evidentialität, die nur grammatisch oder lexikalisch Evidenz ausdrücken, ohne dass dies referenziell (durch Entsprechungen in der Realität haben) gedeckt wäre. Satzkonstruktionen wie Es ist wahr, dass … oder Ohne jeden Zweifel ist … oder Das ist so …, mit denen sich der Sprachproduzent auf die Wahrheit und Glaubwürdigkeit seiner Aussagen festlegt, obgleich es de facto keine ernsthaften Belege, Argumente oder Fakten dazu gibt, sind typisch für textuelle Schein-Evidenz (s. Klein 1994, Peters 2013). Weidel versucht, ihre haltlose Behauptung als wahr und objektiv mittels der Strategie der Schein-Evidenz darzustellen, indem sie auf die Wortzusammensetzung von natio‐ nalsozialistisch verweist. „The nationalsocialists, as the word says, they were socialists“, und Hitler referenzialisiert sie als „He was a communist.“ Sie fokussiert damit die Be‐ deutung des Wortes sozialistisch in ihrer im politischen Diskurs üblichen Lesart „links“. Somit dreht sie die Bedeutung des Kompositums nationalsozialistisch, das in der Ge‐ schichte für rechtsextrem-nationalistisch-völkisch steht, um und weist ihm ihre per‐ sönliche, nicht faktische, ahistorische Lesart zu. Das sozialistisch in nationalsozialistisch wird also von Weidel zuerst de- und dann re-kontextualisiert interpretiert. In Ergän‐ zung zu dieser geschichtsverfälschenden Aussage behauptet sie, dass in der Nach‐ kriegszeit Hitler dann als konservativ ausgegeben wurde, obgleich er ein „sozialisti‐ scher Typ“ war. Durch diese Strategie löst sie die AfD (und alle rechten Parteien) von der eigenen historischen Belastung und schiebt die Verantwortung sowie das Nazitum den linken Parteien zu. Sie beendet den Diskurs mit „Full stop. No more comment on that.“ sowie „And we are the exact opposite“, schließt folglich im imperativischen Be‐ fehlsmodus jedweden Zweifel oder Widerspruch aus und legitimiert die AfD als frei‐ 6.3 Perspektivierung und Evaluierung 173 <?page no="174"?> Framing Populismus Simplifizie‐ rung Polarisie‐ rung Wir- und Ihr-Gruppen heitlich-liberal-konservative Partei ohne Bezug zur national-völkischen Ausrichtung Hitlers. Sie postuliert also „Faktizität“, wo keine existiert, allein aufgrund der pseudo-evidenten Schein-Argumentation. Die assertiven Kommentare unter dem Vi‐ deo zeigen, dass sie bei vielen Zuhörern offensichtlich sehr erfolgreich damit war. Dadurch, dass sprachliche Strukturen perspektivisch bestimmte Sichtweisen, Deu‐ tungsmodelle und sogar Weltbilder transportieren und kreieren, die Gedanken und Gefühle von Rezipienten lenken und bestimmen können - man spricht hier auch von Framing, also Rahmensetzung -, haben Texte ein enormes Macht- und Beeinflussungs‐ potenzial (s. hierzu auch Kap. 6.5.1 zu Persuasion). Das Beispiel zu Alice Weidels Rea‐ litätsverdrehung führt uns zum Phänomen des Populismus. Populismus nennt man politische Haltungen, Bestrebungen und Aktivitäten, die vorgeben, für „das Volk“ (vox populi) zu sprechen und zu handeln, sich in Opposition zum bestehenden Macht- oder Regierungsgefüge im Staat positionieren und Sachverhalte mittels einfacher sowie emotionsaktivierender und opportunistischer Aussagen darstellen. Als immer wieder‐ kehrende Muster lassen sich die folgenden identifizieren: Simplifizierung, d. h. syntaktisch und semantisch einfache Strukturen vermit‐ teln plattitüdenhaft Aussagen wie Ausländer sind schädlich oder Migranten nehmen Deutschen Arbeitsplätze weg. Dies sind Behauptungen, die sich im rechts‐ populistischen Diskurs frequent finden und die komplexen Zusammenhänge monokausal erklären. Doch es gibt auch linken Populismus, der alle gesellschaft‐ lichen Probleme auf Klassenkampf, Imperialismus und soziale Ungerechtigkeit reduziert (Umverteilung ist sozial gerecht oder Reiche Besteuern! oder Gerechtig‐ keit statt Kapitalismus! ). Bei der Lexik ist die Benutzung von Schlagwörtern auffällig: Diese drücken komprimiert politische Einstellungen im öffentlichen Kommunikationsraum aus und werden beständig reproduziert (etwa Freiheit statt Sozialismus, Gegen Imperialismus, Deutschland dem deutschen Volke). Polarisierung, d.h. strikte Gegenüberstellung von Wir- und Ihr-Gruppen in Gesellschaft und Politik. Dies spiegelt sich in Aussagen wie Wir kämpfen für Euch gegen den Machtmissbrauch der anderen oder America first. Es findet eine simple Aufteilung der Welt statt, die zwischen Gut und Böse, wahr und falsch ohne Zwischenstufen unterscheidet. Daher gibt es oft rigide Schuldzuweisungen, die den Gegner komplett delegitimieren. So behauptete etwa Trump (trotz guter wirtschaftlicher und stabiler sozialer Verhältnisse), die Biden-Regierung habe Amerika wirtschaftlich und moralisch ruiniert. Diese „alternativen Fakten“ ba‐ sieren auf Faktizitätsausblendung. Damit einher geht dann die Selbsterhöhung zum Retter des Landes oder der Welt (I will make America great again; „again“, weil zurzeit Amerika nicht groß ist, so die Lesart). 174 6 Angewandte Textanalyse <?page no="175"?> Affektmobi‐ lisierung Vulgarisie‐ rung Tabubrüche Affektmobilisierung, d. h. Emotionen und nicht rationale Argumente und Fakten stehen im Fokus. Melodramatische Beschwörungen (und zum Teil Ver‐ schwörungsfantasien) von einem drohenden Chaos oder Untergang werden evoziert. Diese werden kontinuierlich wiederholt, um ihre Wirkung zu erhöhen und ein Angstszenario zu intensivieren. Floskeln wie am Abgrund stehen, vor dem Zusammenbruch sein, im Chaos versinken werden benutzt, um Ängste zu schüren, oft verbunden mit der Evokation eines Ohnmachtsgefühls (ausgeliefert sein, verloren sein - ohne die Stimme des Retters: Wir kümmern uns! ). Vulgarisierung und Tabubrüche, d. h. es werden bewusst Regeln des Anstandes und kommunikative Normen des politischen Umgangs missachtet. Die als Gegner konzeptualisierten Personen werden beschimpft und mit beleidigenden Ausdrü‐ cken referenzialisiert (s. hierzu Reden und Facebook-Einträge von AfD-Politikern). Donald Trump perfektionierte diese Strategie in seiner Rhetorik. Er benutzte ins‐ besondere die Taktik, Namen häufig mit negativ bewertenden und diffamierenden Adjektiven in Verbindung zu bilden. Er nannte etwa im Präsidentschaftswahl‐ kampf 2016 wiederholt seinen innerparteilichen Konkurrenten Ted Cruz „lying Ted“, seine demokratische Konkurrentin Hilary Clinton bezeichnete er fortwäh‐ rend als „crooked Hilary“, und er ließ seine Anhänger perpetuierend „Lock her up“ rufen, referenzialisierte sie also als Kriminelle. Obama wurde zu „cheatinʼ Obama“, und Präsident Biden verhöhnte er als „sleepy Joe“ (eine diskriminierende Anspie‐ lung auf das Alter Bidens). Er machte sich im Wahlkampf über behinderte Men‐ schen lustig, äußerte frauenfeindliche und sexistische Kommentare und behaup‐ tete, Migranten äßen Hunde und Katzen (und dergleichen mehr). Der Vollzug dieser Tabubrüche in einer Welt, in der politische Korrektheit seit Jahren eine wichtige Rolle im kommunikativen Umgang spielt, ist eine mit Kalkül durchgeführte persu‐ asive Strategie des Populismus (und Extremismus). Populismus ist ein internationales und diskursübergreifendes Phänomen, das sich nicht nur in der Politik, sondern auch in den Medien (v. a. im Boulevard) und zum Teil in der Wissenschaft findet (wenn es etwa um Hoheitskämpfe bei Definitionen geht). Auch Sprachlenkung wird bewusst eingesetzt, um Tatsachen zu leugnen (so verlangt US-Präsident Donald Trump 2025 aus geopolitischen Gründen, den Golf von Mexiko als Golf von Amerika zu bezeichnen) oder nach Kalkül in Täter-Opfer-Umkehr darzustellen. Ein Beispiel: Nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine war es in Russland im öffentlichen Kommunikationsraum verboten, das Lexem Krieg zu benutzen. Stattdessen wurde die Phrase militärische Sonderoperation dafür benutzt. Als Grund für den usurpatorischen Einfall in das Nachbarland wurde angegeben, 6.3 Perspektivierung und Evaluierung 175 <?page no="176"?> dort seien Neonazis an der Macht (der ukrainische Präsident Selenskyj ist Jude und demokratisch gewählt) und man müsse die russische Minderheit schützen. Dieses Narrativ wurde von Trump, nachdem er Präsident wurde und mit Putin telefoniert hatte, ohne Prüfung übernommen. Er delegitimerte Selenksy als Diktator, ridikülisierte ihn als „mäßig erfolgreichen Komödianten“ und schob der Ukraine die Schuld am Krieg zu („Sie hätten ihn nie anfangen sollen“). Ein fiktives Textwelt-Modell der De-Realisierung wurde konstruiert, in dem die Agens- und Patiens-Rollen durch Täter-Opfer-Umkehr umgedreht sind. Dadurch wird die Ukraine ein zweites Mal viktimisiert: Erst in der Realität, dann in der verbalen Diffamierung. So wird mit Wörtern und Pseudo-Argumenten gelogen und die Realität verzerrt. Fundierte textlinguistische Analysen können helfen, diese sprachlichen Taktiken transparent zu machen und ihr Beeinflussungspotenzial kritisch zu erklären. Zusammenfassung von 6.3.1 In 6.3.1 wurden Strategien gezeigt, die Texte als Instrumente der Evaluierung und der Prägung von Weltbildern und Denkweisen wirken lassen: Unter Evidentialität versteht man lexikalische und grammatische Mittel, mit denen man angibt, woher Informationen stammen, welche Quellen für die Wahrheit einer Behauptung sprechen. Haben diese Mittel keine reale Entsprechung, liegt Schein-Evi‐ denz vor, also Falschbehauptungen mit dem Anschein des Faktischen. Falsche Behauptungen können zu einer De- und Re-Realisierung von Konzepten führen, d. h., diese werden zunächst der Realität enthoben und dann mit einem anderen Inhalt gefüllt. Eine Simplifizierung von Zusammenhängen ebenso wie die sprachliche Konstitution von Wir-Gruppen, die in einer simplen, polarisierenden Dichotomie gegen Ihr-Gruppen (Fremd-Gruppen) stehen, sind ein Merkmal des Populismus. Häufig werden hierdurch Affekte wie Angst mobilisiert. Die sprachliche Lenkung von Gefüh‐ len und Denkweisen durch Texte nennt man auch Framing. Weiterführende Literatur zu 6.3.1 Allhop (2017) erörtert das „Märchen-Narrativ“ von Donald Trump (das sich aus textlin‐ guistischer Sicht als ein in sich konzeptuell geschlossenes Textwelt-Modell beschreiben ließe). Zu den beleidigenden Schimpfnamen Trumps s. https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_nicknames_used_by_Donald_Trump. Zur Politolinguistik s. Girnth/ Hofmann (2016), Niehr (2024a,b) und grundlegend Klein (2009). Schwarz-Friesel 2 2025: Kap. 2 zur Rolle der Sprache als „Weltenerschafferin und Menschenzerstörerin“ in der Hassspra‐ che). Zu den Evidenzmarkern im Deutschen s. Socka (2008) und anwendungsorientiert Fábián (2023) zu Modalverben. Peters (2013) und Kijko (2013) befassen sich mit Evidenz und Modalität in Pressetexten, West (2022) mit sprachtypologischen Aspekten von Evidentialität. Wie sich Wissen im Gespräch zeigt, analysiert Deppermann (2018). Zur AfD-Rhetorik und zum Phänomen des rechten und rechtsextremen Populismus s. Kämper (2017) und Niehr (2024c). Flinz (2019) und Kämper (2024) erörtern die Sprache 176 6 Angewandte Textanalyse <?page no="177"?> und die Rhetorik der Rechten in Deutschland. Zu rechten Verschwörungsphantasien in Rapsongs s. Schwarz-Friesel/ Fritzsche (2021). Zum Framing in der Sprache der Politik s. die Beiträge in Roth/ Wengeler (2022) und das Interview Ziem/ Fritsche (2019). 6.3.2 Emotionspotenzial und Evaluierungen Da Perspektivierung allen Texten inhärent ist, spielt dieses Phänomen entsprechend auch in allen Textsorten eine entscheidende Rolle. In der Literatur wird z.T. die bewusst eingesetzte Perspektivierung als Strategie benutzt, um auf die Konstruiertheit von scheinbar objektiven Realitäten kritisch hinzuweisen und das Konzept von Wahrheit zu reflektieren. Kaum ein Text aus der Weltliteratur stellt die Fragilität und Doppeldeu‐ tigkeit von Realität so in den Vordergrund wie Kafkas Auf der Galerie, in den zwei völlig unterschiedlichen Versionen eines außersprachlichen Sachverhalts in einem Text miteinander verbunden werden: (284) Auf der Galerie Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwin‐ genden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wie‐ gend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind - vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters. Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hinge‐ bungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will - da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen. (Franz Kafka, Auf der Galerie) In dieser kurzen Erzählung stehen unmittelbar untereinander im Text zwei Realität‐ sperspektiven ein und desselben Ereignisses. Im ersten Teil erhält der Leser die realis‐ tische Variante von dem Auftritt einer Kunstreiterin im Zirkus, schonungslos deckt die Referenzialisierung die miserable Arbeitssituation auf. Im zweiten Teil dagegen 6.3 Perspektivierung und Evaluierung 177 <?page no="178"?> erscheint das Ereignis aus der Perspektive der Zirkusbesucher, denen eine gekonnt inszenierte Illusion vorgespielt wird. Dass die Galeriebesucher hinter dem schönen Schein unbewusst die Wahrheit ahnen und damit die Verlogenheit der Inszenierung fühlen, wird (referenziell unterspezifiziert) am Ende zumindest angedeutet. Der folgende politische Witz aus der NS-Zeit ist ein weiteres Beispiel für einen Text, der zwei konträre Perspektiven in einem TWM referenzialisiert: (285) 1934 im Zirkus Sarrasani: Ein brüllender Löwe springt aus der Manege in den Zuschauerraum auf eine Gruppe Kinder zu. Panik. Beherzt springt ein junger Mann dazwischen und schlägt dem gefährlichen Raubtier mit einem Stuhl auf den Kopf. Dieser sinkt bewusstlos zu Boden. Ein anwesender Reporter eilt herbei: „Sie sind ein Held! Wie ist Ihr Name? “ „Moishe Cohen“. Am nächsten Tag steht im Völkischen Beobachter: „Frecher Judenlümmel verletzt edles Tier.“ (zit.n. Schwarz-Friesel 2 2025) Mit solchen Witzen führten in der NS-Zeit Kritiker des Regimes die Absurdität des ideologisch geprägten Hasses auf Juden vor Augen. Aus einer mutigen Heldentat wird das Delikt der Tierverletzung. Für den modernen Leser von heute erschließt sich dieser NS-kritische Textsinn nur, wenn entsprechendes Weltwissen über die historische Phase des Nazi-Regimes bekannt ist: So muss der Rezipient z. B. wissen, dass der Volksbote das primäre Publikationsorgan und Sprachrohr der rassistischen und antisemitischen Na‐ tionalsozialisten war und dass Judenfeindschaft zum allumfassenden Weltbild gehörte, die alle Ebenen des sozialen Lebens prägte. Bekannt muss auch sein, dass Moishe Cohen ein typisch jüdischer Name ist. Nur auf der Basis dieser Kenntnisse kann die Pointe, kann der Textsinn dieses politischen Witzes inferiert werden. Der Text (286) vermittelt ebenfalls zwei Perspektiven: (286) Wer solche totalitären Praktiken aufdeckt, ist natürlich ein Verräter und Staatsfeind Nummer eins. Nämlich für die Überwacher. Für alle Menschen, denen ihre Indivi‐ dualität, ihre Privatheit, ihre Freiheit noch etwas bedeutet, ist Edward Snowden ein Wohltäter der Menschheit. (Peter Zudeick: Edward Snowden: Staatsfeind oder Wohltäter, www.radiobremen.de) Die Funktion dieser Zusammenstellung ist es, Kritik an der Haltung und Handlung der USA in Bezug auf ihre Überwachungs- und Abhörstrategien zu vermitteln: Die kontrastive Darstellung gibt zunächst die Sicht der USA. Diese Perspektive wird aber ironisch vermittelt. Die Distanzhaltung des Sprachproduzenten wird durch das Lexem totalitär transparent. Seine eigene Meinung kommt erst im zweiten Teil des Textes zum Ausdruck. In (287) wird nur eine Sicht auf einen komplexen Sachverhalt (die wirtschaftliche Lage Deutschlands 2005) vermittelt. Die perspektivierte Darstellung fokussiert durch die Aufzählung von Mängelzuständen (arbeitslos, überholt, zu wenig etc.) und den hyperbolischen Intensivierungsausdruck nie da gewesenen den Ernst der Lage (aus der Sicht des Sprachproduzenten): 178 6 Angewandte Textanalyse <?page no="179"?> perspekti‐ venabhän‐ gige Refe‐ renzialisierung Evaluierung Einstellung (287) Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft […] steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen kritischen Lage. Die bestehende […] Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten. In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. (Horst Köhler, Fernsehansprache zur Auflösung des Bundestages in Berlin, 21.07.2005, https: / / www.blaetter.de/ ausgabe/ 2005/ september/ unsere-zukunft-steht-auf-dem-s piel) Die Komplexanapher dieser ernsten Situation in (287) fasst die einzelnen Propositionen komprimiert evaluierend zusammen. Ein amüsantes Beispiel für die perspektivenab‐ hängige Referenzialisierung eines Sachverhalts in der Presse liefert (288): (288) Zwei Girlies in Microröckchen und Overknees bahnen sich den Weg durch den ÖPNV-Catwalk, versichern sich ihrer Wirkung und trauern seufzend um "Take That". (Für unsere etwas älteren Leser: Zwei junge Mädchen, bekleidet mit knappen Unterhemden und über die Knie reichenden Strümpfen, schieben sich durch die Sitzreihen, albern hemmungslos herum und trauern um eine dieser kurzlebigen Popmusikgruppen.) (Kölner Stadtanzeiger 53, 2./ 3.3.96, 13) Der Journalist gibt in der Klammer eine Beschreibung für Leser, die mit der erstge‐ nannten Referenzialsierung in Jugendsprache nicht vertraut sind bzw. nicht vertraut sein könnten und macht sich dabei über das Geschilderte lustig. Auch im alltäglichen Sprachgebrauch sind Texte auf der lexikalischen Ebene stark geprägt von Perspektivierungen: Für ein und dasselbe Objekt können unterschiedliche Ausdrücke zur Benennung benutzt werden (Hund, Köter, Fiffi, Vieh; s. hierzu bereits 4.1). Wir sehen an diesen Lexemen, dass Perspektivierung mit Evaluierung in einer engen Symbiose steht. Evaluierung liegt vor, wenn im Text explizit und/ oder implizit eine Bewertung zu einer Person, einem Sachverhalt oder Ereignis aus Produzentenperspek‐ tive vermittelt wird. Evaluierungen basieren immer auf Einstellungen, d. h. konzeptu‐ ellen Bewertungsrepräsentationen hinsichtlich bestimmter Referenzbereiche. Es sind kognitive Bestandteile der Emotion des Menschen, die als komplexes, mehrdimensio‐ nales Bewertungssystem gesehen wird. In der kognitiven Linguistik wird keine strikte Trennung von Emotion und Kognition vorgenommen, sondern eine wechselseitige Beeinflussung angenommen. Kognitive Prozesse zeichnen sich generell dadurch aus, dass sie eine bewertende Dimension beinhalten, emotionale Einstellungen determi‐ nieren alle Kategorisierungs-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse. Diese An‐ nahme entspricht neuesten empirischen Forschungsergebnissen aus der Neurowis‐ senschaft: Kognition und Emotion stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Kognition, als die Gesamtheit der geistigen Aktivitäten, wird maßgeb‐ lich von emotionalen Strukturen und Prozessen begleitet oder determiniert (s. 6.3 Perspektivierung und Evaluierung 179 <?page no="180"?> Emotionspotenzial Emotionali‐ sierung Schwarz-Friesel 2 2013: Kap. 4). Diese Erkenntnis ist auch für die Textverarbeitungs‐ forschung von Relevanz: Lange Zeit konzentrierte man sich in der Leseforschung aus‐ schließlich auf die rein kognitiven Prozesse beim Textverstehen und klammerte die emotionalen Faktoren kategorisch aus. Mit der emotiven Wende hat sich dies geändert: Erforscht wird nun auch seit Jahren die affektive Dimension des Lesens (s. u. a. Hiel‐ scher 2003, Schrott/ Jacobs 2011). Dass das Lesen von Texten auch ein emotionaler Pro‐ zess ist, leuchtet intuitiv sofort ein: Wir erleben je nach Text Spannung, Aufregung, Langeweile, Wut oder Freude, entwickeln Mitleid und Empathie oder Abneigung. Texte informieren nicht nur, sie bewegen uns, rühren uns zu Tränen, machen uns glücklich. Texte mit emotional bewegenden Themen werden schneller gelesen, besser und länger behalten als neutrale Texte. Als emotional eingestufte Texte werden zudem bei glei‐ chem kognitiven Schwierigkeitsgrad als besser verständlich eingestuft als Texte ohne diese affektive Dimension. Wann aber ist ein Text emotional für uns? Angesichts der enormen Bandbreite reaktiver Möglichkeiten auf der Rezipientenseite in Bezug auf einen Text scheint es schwierig, diese Frage wissenschaftlich zu beantworten. Das tex‐ tuelle Emotionspotenzial lässt sich jedoch präzise mittels linguistischer Kategorien als textinhärente Eigenschaft beschreiben: Auf der lexikalischen Ebene tragen emotions‐ ausdrückende und -darstellende Lexeme (Interjektionen wie Ach, pejorative Wörter wie flennen, Penner, emotionsbezeichnende Lexeme wie Wut, hassen, glücklich etc.) dazu bei, das Emotionspotenzial eines Textes zu erhöhen. Auf der syntaktischen und satzübergreifenden Ebene spielen informationsstrukturelle Aspekte und anaphorische Verweise mit evaluativen Informationen eine wichtige Rolle. Das Emotionspotenzial eines Textes konstituiert sich durch die Menge aller Informationen, die prinzipiell be‐ sonders geeignet sind, Leser zu emotionalisieren (s. hierzu Schwarz-Friesel 2017b und 2019). Es ist aber, wie gesagt, nur ein Potenzial, das als solches lediglich die prinzipielle Möglichkeit für eine emotionale Wirkung beinhaltet. Das Emotionspotenzial ist nicht identisch mit der Emotionalisierung, d. h. dem individuellen Prozess, der bei einem Rezipienten durch einen Text ausgelöst wird. Ein Text mit einem nachweislich hohen Emotionspotenzial kann bei einem Rezipienten emotionalisierend wirken, bei einem anderen aber nicht. Die empirische Rezeptionsforschung zu Trivial- und Heftchenli‐ teratur zeigt z. B., wie ein „Arztroman“ bestimmte Lesergruppen gefühlsmäßig und identifkationsbildend hoch emotional anspricht, der bei anderen Lesern nur Lange‐ weile, Belustigung oder kritische Abwehr erzeugt. Texte mit einem niedrigen Emoti‐ onspotenzial können manche Leser hingegen sogar stärker emotionalisieren als Texte mit einem hohen Emotionspotenzial (s. Schwarz-Friesel 2 2013: Kap. 6). Emotionalisie‐ rungen lassen sich hypothetisch postulieren in der Art „Der Text XY wird aufgrund seines hohen Emotionspotenzials eine intensive Emotionalisierung bei den Lesern evozieren“. Letzlich jedoch sind sie nur empirisch durch Rezeptionsstudien überprüf- und nachweisbar. Die Interaktion von Perspektivierung und Evaluierung, die sich kognitiv und sprach‐ lich kaum strikt trennen lassen, da jede Perspektivierung immer auch eine gewisse Evaluierung beinhaltet, trägt maßgeblich zum Emotionspotenzial eines Textes bei. 180 6 Angewandte Textanalyse <?page no="181"?> Evaluierung durch Komplexanaphern Insbesondere Spezifikations- und Komplexanaphern sind wichtige Vertextungsmittel, um komprimiert evaluierende Informationen zu vermitteln. Dabei geben Anaphern Evaluierungen zu einzelnen Objekten oder Personen, wie in (289) und (290): (289) Friedrich betrat mit den Herren das Rauchzimmer. Er hatte in dem Sprecher 1 bereits den Mann ohne Arme 1 erkannt. Dieser Krüppel 1 war, wie Friedrich später durch Hahlström erfuhr, weltbekannt. (Gerhard Hauptmann, Atlantis, 440 f.) In diesem Beispiel vermittelt zudem der Ausdruck Krüppel, der nach heutiger Sprach‐ empfindung nicht politisch korrekt und wenig sprachsensibel ist, für den modernen Leser eine zusätzliche negative Konnotation. (290) [Maria Sterzer: ] Der Amelie ist es nicht gut gegangen. Die ist beim Danner 1 gar nicht gut behandelt worden. Zum Essen hats fast nichts gekriegt von dem alten Geizhals 1 und arbeiten hats müssen wie ein Ochse. (Andrea Maria Schenkel, Tannöd, 81) Komplexanaphern (wie das Unheil, die Tragödie, dieser Prozess) fassen komprimiert ganze Sachverhalte wieder auf und bewerten sie (s. hierzu bereits Kap. 5.5). (291) In der Astrid-Lindgren-Straße im Münchener Stadtteil Riem filmten Schweighöfer und sein Produktionsteam am vergangenen Donnerstagabend Szenen für den Film „Vaterfreuden“. Seine Begeisterung für das Filmset wurde einem vietnamesischen Jungen, der gemeinsam mit seiner Familie dort in einer Wohnung lebte und mit seinen beiden Brüdern aus einem Fenster zuschaute, zum Verhängnis: Offenbar war das Kind auf das Fensterbrett geklettert, um besser sehen zu können, verlor aber den Halt - und stürzte ganze zehn Meter tief auf die Straße. Die schweren Kopfverletzungen des Jungen wurden direkt vom Notarzt behandelt, noch vor Ort wurde er reanimiert und anschließend per Hubschrauber auf die Intensivstation eines nahegelegenen Krankenhauses gebracht. Doch alle Hilfe kam zu spät: Vier Stunden später erlag der Junge dort seinen schweren Verletzungen. Matthias Schweighöfer und der Rest der Film-Crew sind selbstverständlich tief betroffen über diese Tragödie […]. (www.promiflash.de) Die Komplexanapher diese Tragödie leistet eine - wenn auch nicht überraschende - Bewertung des komplexen, abstrakten Textreferenten. Dieser Textreferent wird ein‐ geführt in einem längeren Bericht, der spätestens mit dem zweiten Satz des Textauszugs beginnt (die Dreharbeiten selbst, die der erste Satz erwähnt, gehören nicht unbedingt zur Tragödie dazu). Die Gesamtheit der geschilderten Ereignisse wird nicht nur zu einem einheitlichen Referenzobjekt zusammengefasst, sondern auch als Tragödie eva‐ luiert, wobei diese Evaluierung aus der Perspektive des Autors und nicht der Beteiligten zu kommen scheint. In (292) dagegen wird eine Evaluierung mitzitiert: 6.3 Perspektivierung und Evaluierung 181 <?page no="182"?> Perspekti‐ vierung durch Kom‐ plexanaphern (292) Das Straßenverkehrsamt des Landkreises Vorpommern-Greifswald schließt am Dienstag, 31. Januar, und am Mittwoch, 01. Februar 2012, ganztägig die Zulas‐ sungsstellen an den Standorten Pasewalk und Anklam. Die Mitarbeiter benötigen diese zwei Tage, um die Ausgabe der neuen amtlichen Kennzeichen für den Landkreis mit dem Kürzel „VG“ vorzubereiten. „Es ist notwendig, die örtlichen Register für die Zuteilung der neuen Nummernschilder zusammenzuführen und die Computerprogramme entsprechend anzupassen“, sagte Kreissprecher Achim Froitzheim. […] „Wir bitten die Bürgerinnen und Bürger, sich auf die Schließung einzustellen und hoffen auf Verständnis für diese notwendige Maßnahme“, sagte der Sprecher. (www.kreis-vg.de) Was der Behördenleiter durch seinen Sprecher als diese notwendige Maßnahme bezeich‐ nen lässt, könnten unabhängige Journalisten vielleicht als bürgerfeindliche Bummelei oder bürokratische Unverschämtheit benennen. In literarischen Texten lassen sich verschiedene Erzählhaltungen anhand evaluieren‐ der Anaphern und Komplexanaphern erkennen. Die Evaluierungen geben Aufschluss über die jeweilige Perspektive, die in der Textwelt dominant ist: (293) Die Gesellschaft war der Messe wegen glänzend und die heutige Darstellung des Don Juan der Gegenstand des Gesprächs. Man pries im allgemeinen die Italiener und das Eingreifende ihres Spiels; doch zeigten kleine Bemerkungen […], daß wohl keiner die tiefere Bedeutung der Oper aller Opern auch nur ahnte. […] Donna Anna war einem zu leidenschaftlich gewesen […] der Italiener sei viel zu finster, viel zu ernst gewesen […]. Des Gewäsches satt, eilte ich in mein Zimmer. (E.T.A Hoffmann, Don Juan, 138 f.) In (293) ist die Zusammenfassung und Wertung des Gesprächs durch die Komplexana‐ pher des Gewäsches auf den Ich-Erzähler, eine Figur in der Textwelt zurückzuführen und erhält für den Rezipienten den Status starker Subjektivität. In (294) verrät die Komplexanapher, dass die personale Erzählperspektive (die aus der Sicht der Figuren in der Textwelt Sachverhalte schildert) gegeben ist: (294) „Wir lebten in den Neunzigern. Sämtliche Tante-Emma-Läden waren bereits von Schlecker, Ihr Platz und Aldi eliminiert gewesen. Auf dem Friedhof trafen sich die älteren Herrschaften und diskutierten über diese skandalösen Erneuerungen.“ (Gerald Gries, Am blauen Himmel) Die Perspektive der älteren Herrschaften wird vermittelt, der Erzähler transportiert mit der Komplexanapher seine Belustigung. (295) Seine Natur war nicht unedel, aber er gewöhnte sich, die innere Schande der äußeren vorzuziehen. Man darf nur sagen, er gewöhnte sich zu prunken, während seine Mutter darbte. Diese unglückliche Wendung seines Charakters war indessen das Werk mehrerer Jahre […]. (Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche, 508) 182 6 Angewandte Textanalyse <?page no="183"?> In (295) vermittelt die Komplexanapher diese unglückliche Wendung seines Charakters dagegen eine Evaluierung aus der Perspektive des sogenannten auktorialen, also des der Textwelt übergeordneten Erzählers, der Sachverhalt wird komprimiert als negativ bewertet etabliert. Da es ein die Dinge überblickender Erzähler ist, der die Bewertung abgibt, ist für den Leser diese Wertung verbindlicher als aus der Ich-Perspektive einer Textweltfigur. Ebenso in (296), wo sich der Erzähler mit der Spezifikationsanapher den jungen Narren der Liebe lustig über die Verliebtheit seiner fiktiven Textwelt-Person macht: (296) Friedrich war eigentlich nach Paris gereist, um eine Leidenschaft loszuwerden […]. Die Zustände des unglücklich Liebenden sind für seine Umgebung entweder verborgen oder lächerlich. Ein solcher Mensch wird abwechselnd von lichten Illusionen verzückt oder von dunklen gefoltert. Ruhelos trieb es den jungen Narren der Liebe trotz Wind und Kälte ins Freie hinaus und durch die Straßen und Gassen des Hafenstädtchens. (Gerhart Hauptmann, Atlantis) Auktorial erzählt, aber die Perspektive der Protagonistin in der Textwelt berücksichti‐ gend, ist (297), wo die evaluierende Information die Perspektive des Kindes Pünktchen verrät: (297) Der Lehrer schluckte einmal und sagte dann: „Na, da komm mal rein.“ Sie folgte ihm, und sie kamen in ein großes Zimmer mit vielen Stühlen. Auf jedem der vielen Stühle saß ein Lehrer, und Pünktchen kriegte bei diesem schauerlich schönen Anblick Herzklopfen. (Erich Kästner, Pünktchen und Anton, 79) Komprimierte Bewertungen mittels Komplexanaphern zu vermitteln, findet sich auch häufig in den Texten der Presse: (298) Der Fall Grass: Was bleibt von den „Flakhelfern“ und „Schülersoldaten“? […] Einige aus jenen Jahrgängen, die man als Generation der Flakhelfer zu bezeichnen pflegt, scheint das Stillhalten und Abseitsstehen notorisch schwer zu fallen. Der Moraltrompeter Günter Grass befindet sich in prominenter Gesellschaft. […] Walser sah wieder einmal seine Lieblingsthese vom Meinungsterror bestätigt. So kocht im Falle Grass jeder sein Süppchen - Hauptsache, es brodelt möglichst lange […] Den Gipfel des Grotesken erklomm der Soziologe Heinz Bude […]. Es ist nun wirklich genug. Der elende Streit fügt unserem Bild von Grass nichts wesentlich Neues hinzu. (Die Zeit, 24.08.2006) Günter Grass wird negativ und sarkastisch mittels der Spezifikationsanapher der Moraltrompeter klassifiziert, wobei der Leser diese Bewertung in ihrem über den spezifischen Kontext hinausgehenden Ausmaß versteht, wenn er sowohl um die Nazi-Vergangenheit des Schriftstellers als auch seine selbst gewählte und oft in Szene gesetzte Pose als Moralist weiß. Die Komplexanaphern Den Gipfel des Grotesken und 6.3 Perspektivierung und Evaluierung 183 <?page no="184"?> Der elende Streit intensivieren den Eindruck der kritischen Haltung des Journalisten und geben dem konkreten Ereignis eine zusätzliche Sachverhaltsbewertung. Wir erweitern also unser Textwelt-Modell (Abb. 3) um die Komponente der Evalu‐ ierung, da diese - bestimmt durch das Emotionspotenzial eines Textes - maßgeblich ist für dessen Wirkung. Text 1 S1 S2 S3 S4 Sätze (Grammatische Textstruktur) P1 P2 P3 P4 Propositionen (Textsemantik) E1 E2 E3 E4 Evaluierungen RS1 RS2 RS3 RS4 Textreferenzielle Sachverhalte (TMW) R1 R2 R3 R4 Außersprachliche Welt: Referenten Abb. 8: Um Evaluierung erweitertes Textwelt-Modell Die über die textsemantischen Strukturen vermittelten Propositionen geben nicht nur Informationen, sondern auch Evaluierungen, die die Referenzialisierung, also die Auswahl der jeweiligen Lexeme und Satzstrukturen bestimmen. Zusammenfassung von 6.3.2 Bestimmte Ausdrücke in Texten können für eine Perspektivierung sorgen und ei‐ nem Text ein Potenzial für eine emotionalisierende Wirkung verleihen. Zu diesen Ausdrücken gehören insbesondere Komplexanaphern - Anaphern, die einen ganzen Sachverhalt, ein Ereignis o.ä. komprimierend wieder aufnehmen und durch ihre semantische Bedeutung kategorisieren und bewerten können. Übungen und Denkanregungen zu 6.3 7. Welche Perspektive wird in (299) vermittelt? Was wird besonders in den Vorder‐ grund gestellt? 184 6 Angewandte Textanalyse <?page no="185"?> (299) Fragen eines lesenden Arbeiters: Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon - Wer baute es so viele Male auf ? In welchen Häusern Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war die Maurer? Das große Rom Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang die Ersaufenden nach ihren Sklaven. Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch, bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte Untergegangen war. Weinte sonst niemand? Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer Siegte außer ihm? Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus? Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen? So viele Berichte. So viele Fragen. (Bertolt Brecht, Fragen eines lesenden Arbeiters) 8. Inwiefern finden sich in (300) und (301) zwei konträr gegenüberstehende Perspek‐ tiven verbalisiert? Warum? (300) Homöopathie Heilung oder Humbug? (3sat, 21.03.2013) (301) Homöopathie Medizin oder Mogelpackung? (Herbert Hackl, Faszination Wissen, Bayerisches Fernsehen, 22.04.2013) 9. Vergleichen Sie die beiden Rezensionen zu dem Buch Feuchtgebiete miteinander. Durch welche sprachlichen Mittel wird die jeweils positive oder negative Bewer‐ tung ausgedrückt? (302) Mein Urteil: Genial, lesenswert und nicht zu Unrecht ein Bestseller! Lies es, lieber Mensch, der gerade diese Rezension überfliegt. (www.amazon.de) 6.3 Perspektivierung und Evaluierung 185 <?page no="186"?> (303) Abartig und unlesbar (www.amazon.de) 10. Welche Perspektive vermittelt (304)? (304) Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Flieder‐ bäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her! (Heinrich Mann, Der Untertan, 5, Romananfang) 11. Welche politische Einstellung erkennen Sie in dem folgenden Text? Inwieweit ist der Text perspektiviert? Welche explizite oder implizite Evaluierung ist in (305) enthalten? Wie bewerten Sie das Emotionspotenzial? (305) Mehr Kindergartenplätze und soziale Absicherung deutscher Familien! Die von den Altparteien betriebene Familienpolitik ist familien- und kinderfeindlich. […] Die derzeitige Benachteiligung der deutschen Fami‐ lie gegenüber Alleinstehenden muß unverzüglich beendet werden. […] Kein deutsches Paar soll von seinem Kinderwunsch Abstand nehmen müssen, weil die Finanz- und Wohnraumsituation dies nicht zulassen. […] Die Familie ist die Keimzelle eines jeden Volkes. Mit der Zunahme kinderloser Paare, sinkender und späterer Geburten rechtfertigen die Altparteien ihre Zuwanderungspolitik. Seit Jahrzehnten findet deshalb eine Politik der Umvolkung und Überfremdung statt. […] Deutschland hat das Land der Deutschen zu bleiben und dort, wo dies nicht mehr der Fall ist, wieder zu werden. Angesichts der jüngsten Tatarenmeldung aus dem multikulturellen Absurdistan hat die nationale Opposition ihren Landsleuten eine Warnformel einzuimpfen: „Heute tolerant und morgen fremd im eigenen Land“. (www.npd.de) 12. Hat (306) ein hohes Emotionspotenzial? (306) Seit Jahren haben sich die Hellenen hemmungslos verschuldet. Auch Portugal, Irland, Italien und Spanien wackeln - und könnten uns um unser Geld bringen. Die Griechenland-Pleite, […] (www.focus.de) 186 6 Angewandte Textanalyse <?page no="187"?> Textmuster Weiterführende und vertiefende Literatur zu 6.3.2 Hielscher (2003) gibt einen Überblick zu emotionalen Aspekten der Textrezeption; Klein/ von Stutterheim (2007); Köller (2004) und Schwarz ( 3 2008, Kap. 6.5) erörtern sprachliche Perspektivität; Schrott/ Jacobs (2011) diskutieren Ebenen des (affektiven) Textverstehens; Schwarz-Friesel ( 2 2013, besonders Kap. 3.6; 4.9.2; 5 und 6) erläutert die Relevanz emotionaler Einstellungen bei Textproduktion und -rezeption, beschreibt die wesentlichen Aspekte des textuellen Emotionspotenzials und analysiert diese anhand von Fallbeispielen aus den Kommunikationsbereichen Trauer, Todeserfahrung, Liebe, Hass. Zum Emotionspotenzial s. auch Schwarz-Friesel (2017b) und (2019). Schwarz-Friesel ( 2 2025) erörtert die konzeptuell geschlossenen Textwelt-Modelle des antisemitischen Denkens und Fühlens. Kromminga (2022) erörtert Wir-Konstruktio‐ nen im Kampf-der-Kulturen-Diskurs und Fritzsche (2024) die in den Propagandama‐ gazinen vermittelten Textwelt-Modelle des islamistischen IS, Goll (2024) hat narrative Emotionsdarstellungen in Werbefilmen der Carsharing- und Automobilwerbung ana‐ lysiert. 6.4 Spuren im Text = Spuren zum Täter? Forensische Linguistik - Ein Anwendungsfeld für die Textlinguistik Konstanze Marx-Wischnowski Was macht einen Text zum Text? Welche typischen Merkmale muss ein Text aufweisen, um einer spezifischen Textsorte zugeordnet werden zu können? In den voranstehenden Kapiteln 2 und 3 sind diese Fragen ausführlich beantwortet worden. Thema dieses Kapitels sind nun Texte, die bekannte Textmuster nutzen, um krimi‐ nelle Absichten zu verfolgen. Es handelt sich hierbei um sogenannte inkriminierte Schreiben. Dazu zählen Erpresserschreiben, Drohbriefe aber auch Abschiedsbriefe, deren Echtheit angezweifelt wird. Das Forschungsgebiet, das sich die Analyse dieser Texte mit dem Anliegen, Autor: innen und Sprecher: innen zu identifizieren, zur Auf‐ gabe gemacht hat, heißt „Forensische Linguistik“. Forensisch bezieht sich hier darauf, dass die Linguistik eingesetzt wird, um gerichtlichen oder kriminologischen Zwecken zu dienen (s. u. a. Kniffka 1990, Olsson 2004). Weitere Arbeitsfelder der forensischen Linguistik sind das Sprachverhalten vor Gericht und die verbesserte Verständlichkeit der Gesetzessprache. Auch die mögliche Verwechselbarkeit von Markennamen ist Gegenstand des Forschungsgebiets. Die digitale forensische Linguistik beschäftigt sich mit hochproblematischen Kommuni‐ kationspraktiken, wie Desinformation, Hassrede (z. B. De Smedt/ Jaki 2018, Hüsün‐ beyi/ Didar/ Özgür 2022 oder Marx 2020), aber auch mit Plagiaten (Uka/ Berger 2024). Im Arbeitsrecht kommt die forensische Linguistik dann zum Einsatz, wenn „versteckte“ also über Implikaturen vermittelte Bedeutungen, z. B. in Arbeitszeugnissen, untersucht 6.4 Spuren im Text = Spuren zum Täter? Forensische Linguistik 187 <?page no="188"?> Stil- und Fehleranalyse werden sollen. Die forensisch-linguistische Analyse hat also nicht ausschließlich Straftaten zum Untersuchungsgegenstand. Dennoch wird die Tätigkeit in der forensischen Linguistik häufig konkret mit der im Bundeskriminalamt in den Abteilungen Autorenerkennung und Sprechererkennung verrichteten Analysearbeit assoziiert. Diese steht auch im Mittelpunkt des vorliegen‐ den Kapitels. Die forensische Linguistik kann zwar hinsichtlich ihrer Forschungsziele „nicht bescheiden genug sein“, wie es Kniffka (2000: 68) formuliert, dennoch gibt es Fragen, zu denen durchaus Aussagen gemacht werden können. Diese sind: Ist der Autor Muttersprachler? Aus welcher Region stammt er oder sie? Welchen Bildungsgrad kann man annehmen? Auf welche Berufsgruppen kann man schließen? Handelt es sich um einen oder mehrere Autor: innen? Welches Alter kann man annehmen? Hält sich der Urheber eines Textes beispielsweise nicht an die neuen Rechtschreibregeln, könnte eine Vermutung sein, dass er (oder sie) die Rechtschreibung vor 1996 gelernt hat. Damit könnte auch das Alter eingegrenzt werden. Einigkeit besteht in der Forschungsliteratur darüber, dass keine Aussagen über das Geschlecht und die Ernsthaftigkeigkeit oder Glaubwürdigkeit gemacht werden können. Im konkreten Fall wird jeweils davon ausgegangen, dass die Drohungen ernst gemeint sind (s. hierzu auch Schall 2004: 559 f.). Im Folgenden soll dargestellt werden, wie bei der Autorenidentifizierung bislang vorgegangen wurde. Besonderes Augenmerk soll dabei auf dem Beitrag liegen, den die Textlinguistik in diesem Anwendungsfeld der Linguistik leisten kann. Die Analyse in diesem Rahmen ist selbst in einer Zeit hilfreich, in der textgenerierende Tools, wie z. B. ChatGPT oder Gemini, gibt, die für die sprachliche Variation in inkriminierten Schreiben zum Einsatz kommen könnten. Die Forensische Linguistik greift im Wesentlichen auf die Methoden Stil- und Fehleranalyse zurück. Fehler sind hauptsächlich orthografischer und grammatischer Natur, sie betreffen kaum satzübergreifende Phänomene und spielen daher aus text‐ linguistischer Perspektive eine eher untergeordnete Rolle. Betrachten wir daher die Stilanalyse genauer. Sie fällt in den linguistischen Forschungsbereich der Stilistik, die wiederum ein Teilgebiet der Textlinguistik ist. Stil als „Art der sprachlichen Gestaltung“ (Fleischer et al. 1993: 14) setzt Textualität voraus (s. hierzu Kap. 2), er entsteht überhaupt erst im Zusammenhang des Textes (s. Fix 2007: 449 und auch Fix et al. 3 2003) und wird abhängig von relevanten globalen Textmustern erfasst (Heinemann/ Viehweger 1991: 256 und Kap. 3). Für die Forensische Linguistik gilt der Stil als „Mittel sprachlicher Selbstdarstellung“ (Schall 2004: 552), er sollte also möglichst individuelle Elemente aufweisen. Hinweise auf einen spezifischen Stil finden sich auf allen sprachlichen Beschrei‐ bungsebenen, sind aber erst im Zusammenspiel auf der Textebene erkennbar und eng an Muster gebunden, die uns durch Textsorten vorgegeben sind. Brinker (2000: 42) bevorzugt deshalb auch den Terminus Musterrealisierung. Wird z. B. einmal eine Konstruktion wie Mitteilung machen statt mitteilen verwendet, die typisch für die Ver‐ waltungssprache ist, kann noch nicht von einem Nominalstil gesprochen werden. Auch ein singulär verwendetes jugendsprachliches Lexem (wie z. B. dissen) ist noch kein 188 6 Angewandte Textanalyse <?page no="189"?> Textsorte „Epresser‐ brief“ Indikator für einen jugendsprachlichen Stil. Der Nachrichtenstil würde beispielsweise durch eine klare Sprache, kurze Sätze und einen Textaufbau gekennzeichnet sein, in dem die wichtigsten Informationen zuerst gegeben werden. Stile werden nach sozialer Sphäre (Wissenschaftsstil, Verwaltungsstil), nach sozialen Gruppen (Gruppenstil), nach geografischen Räumen (Regionalstil), nach Personen (Individualstil) oder Zeit (Zeitstil) unterschieden (vgl. Fleischer et al. 1993, Dern 2009: 43). Individuelle Elemente können nur identifiziert werden, wenn allgemeingültige Muster bekannt sind und als Bezugselement, als Vergleichsbasis herangezogen werden. Das heißt, dass das Wissen über spezifische Textsorten als Grundlage dient und bei der Analyse eines Schreibens entsprechend eingeordnet werden muss. Um es an einem ganz einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Wenn in einem Kochrezept Zutaten aufgezählt werden, die für das Gericht benötigt werden, kann das nicht als Indikator für Individualität herangezogen werden, es entspricht schlicht dem allgemeinen Muster, das ein Kochrezept aufweist. Wenn für diese Zutaten aber außergewöhnliche, vom Muster abweichende (markierte, vgl. Brinker 2000) Umschreibungen gefunden werden, wie z. B. süßer Kristallregen für Zucker und die Kochanweisungen als fantasievolle Erzählung formuliert werden, kann ein spezifischer Stil identifiziert werden. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist, dass nicht verschiedene von einem verdächtigen Verfasser formulierte Textsorten (z. B. ein privater Brief, ein Kochrezept und eine geschäftliche Hausmitteilung) miteinander verglichen werden dürfen. Die Textsorte „Erpresserbrief “ weist nun die folgenden Merkmale auf (Brinker 2000: 40): ● Textfunktion: Drohung bestehend aus Aufforderung (appellative bzw. direktive Komponente) und Handlungsaufforderung (kommissive bzw. selbstverpflichtende Komponente) ● Zusätzliche (fakultative) funktionale Komponenten: Versicherung der Ernsthaftig‐ keit, Glaubhaftigkeit, Entschlossenheit u.ä.; Zuschreibung von Verantwortung ● Multifunktionale (fakultative) Komponente: Selbstdarstellung Diese Komponenten lassen sich zum Beispiel am Erpresserschreiben, das im Zusam‐ menhang mit der „Entführung“ des Wahrzeichens der Firma Bahlsen in Hannover in den Medien kursierte, nachweisen (307). Es wurde am 29. Januar 2013 an die Hanno‐ versche Allgemeine Zeitung gesendet. Die inhaltliche und die sprachliche Umsetzung der Merkmale, die für die Textsorte „Erpresserschreiben“ typisch sind, eröffnet für die Autoren einen „Gestaltungsspielraum, [der] Entscheidungen […] fordert und ein Einfließen individualtypischer Verhaltensweisen begünstigt“ (Dern 2009: 39). Für die Forensische Linguistik ist also die Frage relevant, wie etwa ein solches Schreiben sprachlich umgesetzt worden ist. Hat sich der Autor oder die Autorin möglicherweise an einer anderen Textsorte orientiert? Wurde das Muster modifiziert und wenn ja, wie? Inwiefern wird von einer Norm abgewichen? Welcher Stil wurde gewählt? Inwieweit kann sich der Autor oder die Autorin konsequent an diesen spe‐ zifischen Stil halten? Das sind Fragen, die inzwischen auch gestützt durch KI-Anwen‐ 6.4 Spuren im Text = Spuren zum Täter? Forensische Linguistik 189 <?page no="190"?> dungen beantwortet werden können. Dabei bleibt die Identifikation der nachgenannten Merkmale vermutlich weiterhin der menschlichen Textkompetenz vorbehalten. So sieht Brinker (2000: 39) Merkmale, die in ein Täterprofil einfließen können, vor al‐ lem in der Zuschreibung der Verantwortung und der Versicherung der Ernsthaftigkeit. Brinker (2000) geht davon aus, dass es für Autor: innen eines Erpresserschreibens nicht leicht ist, diese Komponenten stilistisch unmarkiert zu realisieren. Das ist allerdings notwendig um anonym zu bleiben. Dabei die Singularität und besondere Bedeutung seiner (oder ihrer) Forderung zu betonen, ist jedoch eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Im vorliegenden Erpresserschreiben (307) sind ebenfalls beide Komponenten umge‐ setzt: die Versicherung der Glaubwürdigkeit als Floskeln auf lexikalischer Ebene (Echt, Das ist ernst! , Wirklich! ! ! ), auf der Ebene der Interpunktion (insgesamt vier Ausrufezei‐ chen) und durch die inhaltliche Wiederholung mittels Paraphrasen (Echt und Wirklich). Die Zuschreibung der Verantwortung ist in die Versicherung der Ernsthaftigkeit eingebettet, eingeleitet durch sonst (Satz 10), das den Fall des Nicht-Kooperierens beinhaltet. Dass der Keks zu Oskar in die Mülltonne befördert wird, wird also als Folge des Nicht-Kooperierens dargestellt, damit liegt die Verantwortung bei der erpressten Firma. Abb. 9: Bilder: Michael Thomas (Hannoversche Allgemeine Zeitung, www.haz.de) 190 6 Angewandte Textanalyse <?page no="191"?> (307) (-1) null Kekse (-2) ich habe den keks! (-3) ihr wollt ihn haben. (-4) und DesW[w? ]egen wollt ihr an einem Tag im Februar Allen Kindern im Krankenhaus Bult Kekse schenken. [Drohung: direktiv] (-5) Aber die mit Voll Milch nicht Die Mit schwarzer Schokolade und nicht die ohne Schokolade und einen goldenen Keks für die Kinder Krebs Station. (-6) Sonst geht Das Nicht! (-7) Und dazu wollt Ihr die 1000 Euro Belohnung an das tierheim in Langenhagen Spenden. [Drohung: direktiv] -(8) Also hoffentlich habt [Ihr? ] den Keks so lieb WIE ich [partielle Selbstdarstellung] und wollt desHAlb wirklich Großz[Z? ]ügig sein! (-9) Echt und Das ist ernst! [Versicherung der Ernsthaftigkeit] (-10) Sonst: kommt der zu oskAr in die Mülltonne [Drohung: kommissiv] Wirklich! ! ! [Versicherung der Ernsthaftigkeit und Zuschreibung der Verantwortung] (-11) Wenn ihr das alles gemac[ht] Habt schreibe ich wieder einen Brief. (-12) DA steht Dann DRIN WO[wo? ] der Keks ist (-13) krüMelMonster Selbstdarstellerische Elemente sind in diesem Brief regelrecht zu suchen. Lediglich in Satz (307-8) gibt es einen Hinweis darauf, dass der Autor des Textes „den Keks lieb hat“. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass sich ich hier auf das Alter Ego des Autors bezieht: Naturgemäß hat das Krümelmonster den Keks lieb. Der Autor tritt also hinter der Geschichte, die er hier erzählt, zurück. Relevant für die Erstellung eines Profils könnte sein, welche Forderungen er hat: Vollmilchschoko-Kekse für kranke Kinder und Geld für ein Tierheim, das sind nicht die Forderungen eiskalter Krimineller. Diese Vermutung wird auch durch die formale Umsetzung des Schreibens gestützt, diese erinnert an eine Parodie auf kindliche Vorstellungen, wie ein Erpresserbrief aus‐ sieht. Erpresserbriefe, die aus geklebten Zeitungsausschnitten bestehen, machen nur einen kleinen Prozentsatz im Gesamtspektrum von eingehenden Erpresserschreiben aus. Die meisten Erpresserschreiben entstehen an der Schreibmaschine, am PC oder werden unter Zuhilfenahme von Schablonen angefertigt (Artmann 1996: 29). In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die Identität der Täter: innen nicht ermittelt werden konnte, wenngleich es noch zu weiteren Schreiben und zur Rückgabe des goldenen Kekses kam und sich die vermeintliche Tätergruppe laut Spiegelbericht „Hihi, wir sind das Krümelmonster“ vom 14.2.2013 in Sturmhauben und mit Sonnenbrillen im Fernsehen zur Tat geäußert hat. Das Verfahren wurde eingestellt. (308) zeigt den Versuch, eine Kommunikationsabsicht als Rechnung(sbrief) zu realisie‐ ren. Das ist bereits an der äußeren Form ersichtlich, denn das Schreiben weist ein Absen‐ der- und ein Adressatenfeld sowie eine Betreffzeile auf, die das Lexem Rechnung enthält. Als Grußformeln wurden die für offizielle Schreiben übliche Anrede und Verabschiedung gewählt. Das Schreiben ist wie eine typische Rechnung aufgebaut, indem zunächst die erbrachten Leistungen und aufgewendeten Materialien zusammengefasst und dann der Preis mit der geläufigen Phrase Zahlbar innerhalb von 14 Tagen […] gefordert wird. Dabei hält sich der Autor des Schreibens sogar an die allgemein übliche Zahlungsfrist und bietet vergünstigte Konditionen für Sofortzahler an (Skonto). Die Übergabebedingungen werden in einem Absatz spezifiziert, der in die Zahlungsbedingungen eingegliedert ist. Die geplanten Brandanschläge werden als „Einbruch- und Brandschutztests“ verklausuliert. Es handelt sich hierbei um stilistisch markierte Handlungsanweisungen (vgl. Brinker 2000: 43, der ein ähnliches Beispiel diskutiert). Diese dürfen hinsichtlich der Selbstdarstellung 6.4 Spuren im Text = Spuren zum Täter? Forensische Linguistik 191 <?page no="192"?> Stil- Imitation und Interaktionsmodalität interpretiert werden, vgl. auch Sandig ( 2 2006), die den Stil, den ein Individuum wählt, an seinem Bedürfnis, sich sozial zu integrieren oder abzugrenzen, misst. Eine geplante Straftat wird mit dem Lexem Test als für das Opfer Vorteil bringend eingestuft, für die geforderte Geldsumme wird Skonto in Aussicht gestellt. Diese sprach‐ liche (und inhaltliche) Umsetzung signalisiert eine spöttische Distanz, die die Assoziation mit einer selbstsicheren, arroganten Person motiviert und für das Täterprofil bedeutsame Informationen liefert. (308) Beispiel für einen Erpresserbrief (Bundeskriminalamt, KT54-Autorenerkennung) Einbruch- und Brandschutzexperte An Rechnung über Einbruch- und Brandschutztest Sehr geehrte Damen und Herren, in den nächsten Wochen/ Monaten werde ich bei einer oder mehreren Filialen, einen kombinierten Einbruch- und Brandschutztest durchführen. Es geht mir in erster Linie darum, um zu sehen wie schnell die Polizei und die Feuerwehr vor Ort ist. Bei ca. 2.400 Filialen (gemäß ) a 400€ (für Werkzeugt, Brandbeschleuniger, Fahrtkosten, Kleidung) beläuft sich die Rechnung auf 960.000€. Zahlbar innerhalb von 14 Tagen nach dem ersten Test, wie folgt: das Geld (gebrauchte, unmarkierte, je im drittel in 50, 100 & 200 Euro Scheine) ist in einer Jutetasche, bei folgenden Koordinaten ° ‘ . “ N und ° ‘ . “ O, zu hinter legen. Die Tasche ist oben, mit den Trageschlaufen zu verknoten und mit einem Schnepp-Karabiner am Zaun zu befestigen. Wenn sie innerhalb von 14 Tagen, nach Erhalt dieser Rechnung zahlen, gewähre ich Ihnen einen Nachlaß von 50% und die Tests entfallen. Wenn sie innerhalb von 7 Tagen nach Erhalt dieser Rechnung zahlen, gebe ich Ihnen noch mal 3% Skonto Mit freundlichen Grüßen Jutetasche, bei folgenden Koordinaten ° ‘ . “ N und ° ‘ . Jutetasche, bei folgenden Koordinaten ° ‘ . “ N und ° ‘ . Eine weitere Frage, die für die forensisch-linguistische Analyse relevant ist, lautet: Versucht sich der Autor oder die Autorin eines Schreibens möglicherweise zu verstel‐ len, also einen Stil zu imitieren? 192 6 Angewandte Textanalyse <?page no="193"?> thematische Entfaltung Dass die Verstellung durchaus eine Herausforderung darstellt, hat Dern (2008) in einem Experiment gezeigt, das sie mit Studierenden durchführte. Sie untersuchte in drei Teilaufgaben, ob Verstellungsversuche beim Verfassen eines Erpresserbriefes spontan unternommen werden und welche Verstellungsstrategien gewählt werden. Die Studierenden sollten zunächst ein Erpresserschreiben formulieren und in einem zweiten Schritt, ihre Sprache so verändern, dass sie nicht erkannt werden. Die dritte Aufgabe bestand darin, die Sprache eines Nicht-Muttersprachlers zu imitieren. Als häufigste Strategie unspezifischer Verstellung kristallisierte sich das Absenken der Stilebene hin zu umgangssprachlich-salopp bis vulgär heraus. Wenn Fehler eingebaut wurden, dann auf orthografischer oder grammatischer Ebene, die Wortstellung war in keinem der Schreiben betroffen. Bei der dritten Aufgabe orientierten sich nur sechs Prozent der Versuchsteilnehmer: innen an einer konkreten anderen Sprache, alle anderen verstellten sich sprachunspezifisch, klischeehaft und anhand des Einbringens von Fehlern (s. Dern 2008 und Dern 2009: 88). Geht man davon aus, dass Textproduzent: innen Konventionen beherrschen und es Teil ihrer sprachlichen Kompetenz ist, verschiedene Textsorten umzusetzen und zwischen verschiedenen Stilen zu wechseln (vgl. Kap. 3 und u. a. Brinker 2000: 43), stellt sich die Frage, inwieweit ein Individualstil überhaupt identifiziert werden kann. Gibt es einen sprachlichen Fingerabdruck? Hierin ist sich die Forschung einig: Nein, einen sprachlichen Fingerabdruck, der mit der Beweiskraft eines genetischen Fingerabdrucks vergleichbar wäre, gibt es nicht. Nein, einen sprachlichen Fingerabdruck, der mit der Beweiskraft eines genetischen Fingerabdrucks vergleichbar wäre, gibt es nicht. Zwar konnten Scheffler/ Kern/ Seemann in einer 2023 veröffentlichten korpuslinguistischen Studie zeigen, dass die Nutzung von Modalpartikeln und Intensivierern in Sozialen Medien und Blogs nicht nur textsortenspezifisch, sondern auch individuell motiviert ist. Die Euphorie, die von manchen „Sprachprofilern“ mitunter durch populärwissenschaftliche Veröffentlichungen geschürt wird, muss aber darauf reduziert werden, die Möglichkeiten des Faches realistisch zu bewerten. Die linguistische Analyse eines inkriminierten Textes bildet ein Puzzleteil im komplexen Aufklärungsprozess für eine Straftat, bislang ist kein Straftäter allein aufgrund eines linguistischen Gutachtens verurteilt worden. Damit dieses Puzzleteil an Substanz gewinnt, sich also Hinweise auf ein Autoren‐ profil verdichten, genügt es nicht, die Oberflächenmerkmale (orthografische und grammatische Fehler) zu beschreiben. Vielmehr lohnt ein Blick darauf, wie der Text insgesamt aufgebaut ist. So geben die Ergebnisse des von Dern (2008) durchgeführten Experiments Anlass zu der Hypothese, dass je höher die Stilebene ist, desto schwieriger sich die Verstellung gestaltet. Eine zweite Hypothese geht auf Brinker (2000) zurück, der annimmt, dass Merkmale der Textoberfläche leichter manipuliert werden können als die textuelle Tiefenstruktur (was sich auch im Experiment von Dern spiegelt). Die textuelle Tiefenstruktur (s. dazu auch Kap. 5, in dem der Terminus Textstruktur kritisch diskutiert wird) lässt sich anhand der oben für den Erpresserbrief typischen Kompo‐ nenten und der thematischen Entfaltung (s. hierzu bereits Kap. 5.5) beschreiben, Brin‐ ker ( 7 2010: 56 ff.) unterscheidet hier vier Typen: 6.4 Spuren im Text = Spuren zum Täter? Forensische Linguistik 193 <?page no="194"?> 1. deskriptiv (kommunikative Funktion: informieren, es wird ein raumzeitlicher Zusammenhang dargestellt, z. B. bei einer Nachricht, bei einem Bericht oder einer Gebrauchsanweisung); 2. narrativ (kommunikative Funktion: informieren und belehren im Sinne einer Moral, z. B. in Alltagserzählungen); 3. explikativ (kommunikative Funktion: erklären, z. B. in wissenschaftlichen Texten); 4. argumentativ (kommunikative Funktion: appellieren, überzeugen, z. B. in Kom‐ mentaren). Wie also gehen Autor: innen eines Erpresserbriefes vor, um ihr kommunikatives Ziel zu erreichen? Welche Strategien setzen sie ein und mit welchen sprachlichen Mitteln werden diese umgesetzt? Kann man bei Erpresserbriefen hinsichtlich der Informationsstruktur ein bestimmtes Muster erkennen; sind Erpresserbriefe z. B. eher explikativ oder argumentativ? Möglicherweise ist in der Art und Weise der Informati‐ onsentfaltung eher eine individuelle Komponente zu erwarten (vgl. Brinker 2000: 44). Praktisch gestaltet sich eine solche Analyse oftmals als schwierig, weil die Mehrzahl inkriminierter Schreiben recht kurz (weniger als 200 Wörter) ist (Schall 2004: 553). Hierzu ein Beispiel: (309) Schall (2004: Begleit-CD-ROM) Achtung ! Achtung ! Bomben versteckt in ■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■ und Internaten und Schulungsgebäuden aber nicht sein Gefahr für Krankenhaus wir leid tun kranke Leute Forderung: Leute von ■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■ schicken heim wegen Gefährlichkeit. Landesregierung zahlen uns 2 Millionen Mark (deutschmark). Termin für übergabe Mittwoch 11.13.■■■■ Bestätigung in Radio und Fernsehen Nach geben Geld wir sagen wo und wieviel Bomben Nach Mitteilung in Radio und Fernsehen wir uns melden und sagen wann und wo geben Geld Ihr nicht suchen Bomben oder arbeiten an Bomben großes gefahr 194 6 Angewandte Textanalyse <?page no="195"?> Der Text beginnt mit der Schilderung einer bereits begangenen Handlung. Die kommis‐ sive Komponente der Drohung bleibt hier implizit und muss aufgrund von Weltwissen über Bomben in der spezifischen Kommunikationssituation erschlossen werden. Der Text ist also referenziell unterspezifiziert (s. Kap. 4.3). Der Hinweis auf versteckte Bomben in einem solchen Schreiben bedeutet, dass die Absender diese zünden werden, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Es folgt eine Selbstdarstellung, in der deutlich wird, dass es sich um eine Gruppe handelt (wir). Im Anschluss wird die direktive Komponente der Drohung explizit mit Forderung eingeleitet, wobei der Geldforderung die Forderung vorangestellt wird, diejenigen Personen, die sich in den Gebäuden befinden, zu evakuieren. Hiermit wird auch die Komponente „Versicherung der Ernsthaftigkeit“ implizit umgesetzt, ebenso durch die mehrfache Nennung von Lexemen aus der Referenzdomäne G E F AH R (Gefahr, Gefährlichkeit, großes gefahr). Die Übergabemodalitäten werden nur teilweise vorgegeben, so fehlt die Angabe eines Übergabeortes. Schwierig gestaltet es sich, die darauffolgende Information „Bestätigung in Radio und Fernsehen“ einzuordnen. Werden die Adressaten des Erpresserschreibens aufgefordert, ihre Kooperationsbereitschaft über den Rundfunk zu signalisieren? In diesem Falle läge hier eine weitere direktive Komponente vor. Verpflichten sich aber die Autoren des Schreibens über den Rundfunk Kontakt mit den Adressaten aufzunehmen, handelt es sich um eine kommissive Komponente der Handlungsaufforderung. Möglich ist auch die Interpretation als Umsetzung der „Versicherung der Ernsthaftigkeit“, indem die Tätergruppe ankündigt, ihre Drohung öffentlich zu machen. Es gelingt ihnen an dieser Stelle nicht, die Forderung klar und präzise zu strukturieren. Im Folgenden wird der zeitliche Ablauf der Übergabe diskontinuierlich dargestellt. Die Autoren verpflichten sich zunächst, Einzelheiten über die deponierten Bomben preiszugeben, wenn die Geldübergabe erfolgt ist. Danach findet sich erneut die Mitteilung im Rundfunk als Voraussetzung dafür, dass Ort und Zeit der Geldübergabe übermittelt werden. Am Ende wird noch einmal auf die Komponente der „Versicherung der Ernsthaftigkeit“ rekurriert, indem davor gewarnt wird, die Bomben selbst zu suchen und zu entschärfen. Zusammenfassung von 6.4 In ein Autorenprofil (eines mutmaßlichen Täters) fließen Ergebnisse einer Fehlerana‐ lyse und einer Stilanalyse inkriminierter Schreiben ein. Gerade im Hinblick auf die Stilanalyse kann die Textlinguistik einen wichtigen Beitrag leisten. Sie geht darüber hinaus, orthografische oder grammatische Auffälligkeiten zu benennen. Vielmehr wird der gesamte Text als Produkt eines Schreibers und damit seiner Art und Fähigkeit, Texte zu strukturieren und Themen zu entwickeln, Gegenstand der Analyse. Textsorten, die in der textlinguistischen Forschung beschrieben werden, dienen hier als Bezugs‐ element, um Abweichungen von Textmustern als individuelle Komponente des Autors eines Erpresserbriefes identifizieren zu können. 6.4 Spuren im Text = Spuren zum Täter? Forensische Linguistik 195 <?page no="196"?> Übungen und Denkanregungen zu 6.4 13. Rekapitulieren Sie noch einmal, wie sich die thematische Entfaltung in den Beispielen (307) und (308) gestaltet! Vergleichen Sie die Erpresserbriefe (307), (308) und (309)! Wo sehen Sie Unterschiede, die für ein Täterprofil relevant sein könnten? 14. Dem ersten Erpresserschreiben (307) folgten die beiden unten abgebildeten Schreiben (310) und (311). Was fällt Ihnen hinsichtlich des Stils an diesen Schreiben auf? Wie würden Sie vorgehen, um herauszufinden, ob es sich um den gleichen Autor handelt? Abb. 10: 4 Bilder: Michael Thomas (Hannoversche Allgemeine Zeitung, www.haz.de, 04.02.2013) 196 6 Angewandte Textanalyse <?page no="197"?> Persuasion (310) Weil der Werni den Keks so lieb Hat Wie ich und Der jetzt immer weint und den KEKS GanZ dolle verMisst geb ich den zurück! ! ! Halt Polizei (311) der Keks ist zurück UnD DER WERni FREut sich GANZ DoLLE. ABER denke drAN: NiCHt DIE OHNE SCHOKOLADe! 16. Übung und Denkanregung: Eine kurioser Einsatz moderner forensischer Lingu‐ istik ist in einem Spiegel-Artikel vom 27.9.2025 dokumentiert. Erzählt wird die Geschichte von Malte Bayer, der vor sieben Jahren eine Flaschenpost auf Sylt fand. Es gelang ihm mit Hilfe von ChatGPT und weiteren KI-Tools die Absenderin zu ermitteln. Selbst die Reiseroute von der Themsemündung in die Nordsee konnte so berechnet werden. (https: / / www.spiegel.de/ panorama/ sylt-ki-entziffert-flaschenp ost-aus-england-a-3f0e6a05-50ab-4607-a24c-34dab8f521d3? dicbo=v2-DKhVFcD#r ef=recom-outbrain) Überlegen Sie, wie Malte Bayer vorgegangen ist, um zu diesen Ergebnissen zu gelangen. Ihm lag lediglich ein Zettel mit verblasster unleserlicher Schrift vor. Formulieren Sie dafür konkrete Prompts und testen Sie Ihre Methode mit einem kreativen Dokument, das Sie selbst erstellt haben. Weiterführende und vertiefende Literatur zu 6.4 Das Narr Studienbuch von Fobbe (2011) bietet einen Überblick über die Forensische Linguistik und zahlreiche Anwendungsaufgaben. Ebenfalls in einem Narr-Studienbuch hat sich Thormann (2024) spezieller mit der Täter-Identifizierung befasst. Dern (2009) geht detailliert auf die Theorie und Praxis der linguistischen Tatschreibenanalyse ein. In Baldauf (2000) sind frühe Forschungsergebnisse der Forensischen Linguistik zusammengefasst. Eine Beispielanalyse eines Erpresserschreibens legt Würstl (2004) vor. Marko (2023) gibt einen kompakten aktuellen Einblick in Anwendungsbereiche und Potenziale der linguistischen Teildisziplin, der auch die Cyberkriminalität umfasst. 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten Wie wir in Kap. 2 und 3 erörtert haben, werden Texte in den unterschiedlichsten kom‐ munikativen Situationen mit z.T. sehr verschiedenen Funktionen benutzt. Eine wich‐ tige Funktion sowohl in der alltäglichen als auch der massenmedialen Kommunikation ist die Persuasion. Die ars persuasionis, also die Kunst, beim Hörer Überzeugung aus‐ zulösen, galt schon in der Antike als wichtiges Ziel der Rhetorik. Bei Platon ist die ars persuasionis „Das Gewinnen des menschlichen Geistes durch Worte“. In der Kommu‐ nikation gehen jedoch die Prozesse des bloßen Überredens und des geistigen Überzeu‐ gens oft fließend ineinander über. Texte können als Persuasionsinstrument Menschen kognitiv wie emotional in ihren Einstellungen und Entscheidungen prägen. Hier geht es um das meinungsbeeinflus‐ sende und bewusstseinssteuernde Potenzial der Sprache. Texte haben insofern Macht, 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 197 <?page no="198"?> Massenmedien persuasive Strategien als sie ein Mittel zur Lenkung unserer Gedanken und Gefühle sind, weil durch sie Wünsche geweckt, Ängste geschürt oder Weltbilder konstruiert werden, die bestimmte Handlungen nahelegen oder auslösen können (s. hierzu bereits Abschnitt 6.3.1 zu Evidenz und Schein-Evidenz). 6.5.1 Texte als wissenskonstituierende und meinungsbildende Strukturen: Narrative als rekurrente Textwelt-Modelle „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. … Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können.“ (Luhmann 1996: 9) Diese medienkritischen (und auch heute noch höchst aktuellen) Aussagen schrieb der berühmte Soziologe Niklas Luhmann vor dreißig Jahren, um dafür zu sensibilieren, wie sehr wir von den massenmedialen Berichten abhängig sind, um etwas über die Welt‐ geschehnisse zu erfahren, obgleich diese keineswegs immer objektiv und neutral über Sachverhalte berichten. Vielmehr konstituieren sie aus der Perspektive des jeweiligen Journalisten allzu oft eigene Wissensstrukturen im Textwelt-Modell, die nicht den tat‐ sächlichen Referenten und Sachverhalten entsprechen. Doch im Glauben an Neutralität und Objektivität eines seriösen Journalismus in den Qualitätsmedien vertrauen wir weitgehend konsensual darauf, dass in den Nachrichten und Pressetexten keine Lügen oder Realitätsverzerrungen kommuniziert werden. Um Rezipienten von etwas zu überzeugen, werden persuasive Strategien eingesetzt. Persuasive Strategien sind kommunikative Verfahrensweisen, die spezifisch rezipien‐ tenbeeinflussend, d. h. intentional auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtet sind. Die wichtigsten persuasiven Strategien sind: ● auf regelhafte Beziehungen referieren (Zwangsläufig …; Es ist ein Gesetz der Natur …), ● auf kausale Faktoren referieren (Wenn noch mehr XY, dann …; Die Ursache hierfür …), ● auf Teil-Ganzes-Relationen referieren (Ich bin ein Vertreter des deutschen Volkes …; Bayern gehört zu Deutschland), ● auf Autoritäten und Experten berufen (Wie schon Goethe sagte …; Die Wissenschaft betont …; Ich zitiere den bekannten XY…), ● Analogien (Wie eine Flutwelle …; Er hat das Aussehen und die Gesinnung eines Skinheads …; Einem Tsumami gleich kommen sie …), ● Sympathieträger präsentieren (Unsere Kinder …; Auch unsere Kleinsten …; Friedli‐ che, hart arbeitende Bürger wie XY …), ● Atmosphäre präsentieren (Unser schönes Vaterland …), ● kontrastieren (Hier die fleißigen, dort die faulen; Sauberkeit versus Schmutz), 198 6 Angewandte Textanalyse <?page no="199"?> referenzielle Überspezifi‐ kation ● hervorheben (Und besonders …; Zu betonen ist hier …; Vor allem …), ● Einbeziehung des Rezipienten (Wir …; Unsere Interessen …; Wollen Sie das? ). Je nach Textsorte und sozialem Bereich, in denen sie Anwendung finden (vgl. u. a. Werbung, Politik oder Presse), kann ihr Einsatz divergieren, da sich aus der jeweiligen Wirkungsintention unterschiedliche argumentative und strukturelle Anforderungen ergeben. Aus der großen Palette persuasiver Vertextungsmittel und -strategien wählen wir Referenzialisierung und Informationsstrukturierung aus und erläutern an exem‐ plarischen Beispielen aus dem massenmedialen Diskurs deren Persuasionspotenzial: Der bewusste Einsatz referenzieller Unterspezifikation und die Antizipation von spezifischen Inferenzen werden häufig benutzt, um eine persuasive Wirkung zu erzielen. Das folgende Beispiel aus dem Wahlkampf 1995 zeigt die diffamierende Dimension eines politischen Werbeslogans der rechtsgerichteten und nationalistisch geprägten FPÖ. (312) Jelinek und Peymann - oder Kunst und Kultur (FPÖ-Wahlslogan in Österreich) (https: / / www.onb.ac.at/ koop-poster/ projekte/ Oesterr_Plakatgeschichte.pdf): Um diesen Text zu verstehen, muss der Rezipient das Weltwissen aktivieren, dass Elfriede Jelinek eine sehr bekannte österreichische Schriftstellerin und Peymann ein prominenter Regisseur und Intendant ist, dass beide politisch als linksliberal einzustu‐ fen sind und ihre Kunst modern-avantgardistisch ist. Durch den Konnektor oder, der eine Alternative ausdrückt, wird ein Kontrast zwischen Jelinek und Peymann, beides Künstler und Kulturschaffende, und den allgemeinen Phänomenen Kunst und Kultur etabliert. So entsteht die Lesart, dass die Schriftstellerin Jelinek und der Intendant Peymann keine Kunst und Kultur betreiben. Der Rezipient muss die Inferenz ziehen, dass diese Vertreter des Kulturbetriebs so grottenschlecht und miserabel sind, dass man ihren Produkten/ ihrer Tätigkeit das Merkmal Kunst/ Kultur absprechen muss. Die Äußerung ist somit auf der Basis von Inferenzziehungen diffamierend. Da es sich um einen Text im Wahlkampf handelt, besteht die persuasive Funktion darin, dem potenziellen Wähler die FPÖ als attraktive und qualitätssichernde Alternative anzubieten. Der Text ist persuasiv, da der Rezipient selbst kognitiv konstruktiv zu der drastischen Bebzw. Entwertung kommt (der Erkenntnis folgend, dass eigenständig entwickelte Erkenntnisse oder Lernergebnisse effizienter sind als von Außen aufer‐ legte/ vorgegebene). Aber auch referenzielle Überspezifikation kann persuasiv eingesetzt werden: Refe‐ renzielle Überspezifikation liegt vor, wenn mehr Informationen als nötig zur Darstel‐ lung eines referenziellen Sachverhalts benutzt werden. Der Einsatz von Modalwörtern verdeutlicht dies: Modalwörter wie offensichtlich, unzweifelhaft, eventuell vermitteln die Einstellung des Sprachproduzenten zu einem Sachverhalt. Die Sachverhaltspropo‐ sition wird also eingebettet in eine epistemische Bewertung. Dabei fokussiert der Pro‐ duzent (zusätzlich zum durch Textgrammatik und -semantik ausgedrückten Sachver‐ halt) seine Kompetenz, seine Glaubwürdigkeit, sein Wissen. Evidenz(anspruch) und 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 199 <?page no="200"?> Wahrhaftigkeit wird überspezifiziert markiert, wenn Modalwörter wie tatsächlich, wirklich oder natürlich benutzt werden (denn der Rezipient geht ja normalerweise schon davon aus, dass der Sprachproduzent die Wahrheit sagt und über hinreichend Kenntnis verfügt). Scheinbar und angeblich dagegen drücken Zweifel an der Richtigkeit einer Proposition aus und können so die Faktizität eines Sachverhalts abschwächen (s. hierzu 6.3.1 zur Schein-Evidenz). (313) Pink-Floyd-Veteran Roger Waters zeigt aufblasbares Schwein mit Judenstern. The Wall: Jüdische Gemeinde will Boykott. Der frühere Pink-Floyd-Bassist und Israel-Kritiker Roger Waters wird nun auch in Deutschland scharf wegen angeblich antisemitischer Symbolik in seiner Bühnenshow „The Wall live“ kritisiert […] (Märkische Allgemeine, 30.08.2013) Durch das Modalwort angeblich wird die Klassifikation ‚ein aufblasbares Schwein mit Judenstern ist ein antisemitisches Symbol‘ quasi aufgehoben bzw. deutlich abge‐ schwächt, da durch die Semantik von angeblich (‚vermeintlich‘, ‚nicht sicher‘) Zweifel in die Epistemik (d. h. die Einstellung bezüglich Sicherheit oder Unsicherheit eines Er‐ eignisses) in das TWM geholt wird. Persuasiv im Sinne von bewusstseinsbeeinflussend ist diese Strategie insofern, als Rezipienten, die nicht wissen, dass verunglimpfende Abbildungen des Judensterns (insbesondere in Verbindung mit Bildern von Schweinen) zur langen Tradition typisch antisemitischer Diffamierungen und Stigmatisierungen gehören, womöglich aufgrund dieser semantischen Einschränkung nichts Verwerfli‐ ches an der Aktion sehen könnten und eine Relativierung bzw. Bagatellisierung eintritt. Dabei trat und tritt Roger Waters bis heute immer wieder mit Antisemitismen (also antisemitischen Äußerungen) in Erscheinung, was der Produzent von (313) jedoch nicht als Information einfließen lässt. Zwar ist den meisten Rezipienten mehr oder weniger bewusst, dass gerade massen‐ mediale Texte das Ziel haben, sie in ihrem Denken und Handeln (z. B. Kaufverhalten, Wahlentscheidungen, Einstellungsstabilisierung) zu beeinflussen und dass Journalis‐ ten dabei nicht immer das Gebot der Objektivität einhalten. Durch die institutionelle Monopolstellung der Massenmedien in der Gesellschaft, die seit Jahrzehnten die primäre Informationsquelle für die meisten Menschen sind, wird die konstruierte Me‐ dienrealität jedoch allzu leicht und unhinterfragt als „real und verbindlich“ angesehen. Insbesondere bei Pressetexten über Geschehnisse, Konflikte etc. in der entfernten Welt kann der Rezipient sich meist kaum persönlich davon überzeugen, ob ein Berichterstattungstext tatsächlich der Realität entspricht oder nicht vielmehr stark subjektiv gefärbt von der Einstellung des Sprachproduzenten ein TWM bietet, das mit den Tatsachen wenig gemeinsam hat (s. hierzu auch Kap. 4.1). Dass über Perspektivie‐ rungen und komprimierte Evaluierungen mit textuellen Anaphern sehr spezifische Realitätskonzeptualisierungen erzeugt werden, haben wir im vorigen Kapitel bereits erörtert. Als drittes persuasives Mittel betrachten wir die Informationsstrukturierung: Die spezifische Anordnung sowie Platzierung und damit Hervorhebung, aber auch die 200 6 Angewandte Textanalyse <?page no="201"?> Auslassung von Informationen kann maßgeblich zu bestimmten Deutungen der au‐ ßersprachlichen Realität führen. Rezeptionsstudien zeigen z. B., dass Schlagzeilen, und auch der letzte Satz am Ende eines Pressetextes, einen besonderen Aufmerksamkeits‐ status erhalten und daher bevorzugt wahrgenommen sowie behalten werden. Daher haben diesen Informationseinheiten textuelle Salienz. Wenn also ein Text, der über ein umstrittenes Video berichtet, mit der Meinung einer Konfliktpartei in Form von direkter Rede den Text abschließt, wird eine starke Präferenz für die Wahrhaftigkeit oder Glaubwürdigkeit dieser Partei insinuiert (s. hierzu auch den Anfang des Textes in den Übungen): (314) Umstrittenes Gaza-Video: Israel weist Schuld an Tod von Zwölfjährigem zurück […] Der israelische Bericht sei „komplett gefälscht“. „Die Israelis lügen und versuchen, die Wahrheit zu verschleiern“, sagte er. (www.spiegel.de, 20.05.2013) Wenn in der Konfliktberichterstattung einer länger andauernden Krise kontinuierlich Schlagzeilen produziert werden, die eine Konfliktpartei in der Agens- und Aggressor‐ rolle platzieren, kann dies zu einem de-realisierenden Feindbzw. Aggressorbild bei den Rezipienten führen: (315) Vergeltungsschläge: Israel greift Ziele im Gazastreifen an 03.04.2013. Zum ersten Mal seit der Militäroffensive im November 2012 hat die israelische Armee wieder Ziele im Gazastreifen angegriffen. Zuvor waren von dort aus mehrere Granaten auf den Süden Israels abgefeuert worden. (Hans-Christian Rössel, www.faz.net, 03.04.2013) In (315) wird nicht die natürliche Chronologie der Ereignisse in der außersprach‐ lichen Realität eingehalten, vielmehr erscheint eine Abfolge im Text, die die Ursa‐ che-Wirkung-Relation durch die Informationsstruktur umkehrt. Durch die Schlagzeile wird eine Agens-Patiens-Relation in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt. Erst durch die Rezeption des klein gedruckten Fließtextes erfährt der Leser, der durch diese Informationsstruktur Israel als Agens und als Initiator der militärischen Handlung konzeptualisiert hat, dass die Aktion tatsächlich eine Reaktion war. Vgl. entsprechend auch (316): (316) Nahost: Israelische Luftwaffe beschießt Gaza-Streifen Israel hat auf den Raketenbeschuss durch militante Palästinenser reagiert: Die Luftwaffe des Landes flog Angriffe auf den Gaza-Streifen - es seien zwei Terrorziele attackiert worden, teilte die Armee mit. (www.spiegel.de, 06.09.2012) Dass der Beschuss der Luftwaffe eine Reaktion auf Terrorattacken aus dem Gazastrei‐ fen und keine Initiativ-Handlung war, erfährt der Leser nicht in der Schlagzeile, die 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 201 <?page no="202"?> die Makropropostion des Textes sein soll, sondern erst im Fließtext. Die übergeordnete Proprosition des Titels erfasst nicht angemessen das tatsächliche Ereignis. Es fällt immer wieder auf, dass Journalisten bei der Berichterstattung Antisemitis‐ mus entweder nicht erkennen oder bagatellisierend durch Euphemismen umdeuten: (317) „Aktivitäten auf Campus … Es wurden Slogans wie ‚Tod den Juden gerufen‘ … Die pro-palästinensischen Aktivitäten …“ (DLF. 28.4.24 Nachrichten - Bericht über Ausschreitungen an amerikanischen Universitäten) Der Vortext und die Spezifikationsanapher pro-palästinensische Demonstrationen sind semantisch nicht kompatibel, denn Aktivitäten, bei denen Tod den Juden gerufen wird, sind antisemitisch und nicht hilfreich für Palästinenser. Durch solche Sprachkonstruktionen wird Judenhass marginalisiert bzw. als solcher nicht benannt. Journalisten kodieren manchmal auch selbst (teils bewusst, teils unbewusst) Antisemitismen, wenn z. B. die Phrase Auge um Auge aus dem Kontext gerissen und als alttestamentrische Rache-und Vergeltungsprinzip rekontextualisiert und auf Israel projiziert wird. Diese Strategie der Intertextualität deutet der tatsächlichen, ursprünglichen Bedeutung der Phrase eine negative zu. Dabei kann man sogar im entsprechenden Wikipedia-Eintrag nachlesen, dass diese Formel historisch das Gegenteil, nämlich die Abschaffung der Rachepraxis bezeugt. Unsere Rechtsprechung basiert letztlich auf diesem jüdischen, damals modernen Gesetz des Schadensausgleichs. Dennoch gehört die de- und rekontextualisierte Referenz mittels dieser Phrase zu den frequentesten in der Nahostkonfliktberichterstattung, wobei Israel als atavistisch und aggressiv konzeptualisiert wird. In den letzten Jahren haben zahlreiche Korpus-Analysen belegt, dass im deutschen medialen Diskurs ein ausgeprägt negatives Israelbild vermittelt wird, das der Realität oft nicht entspricht, da es einseitig perspektiviert und auch dann Israel in der Agens-Rolle als Agressor referenzialisiert, wenn es sich um Verteidigungsreaktionen auf vorher erfolgte Angriffe handelte (s. z. B. Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013: Kap. 7.3, Beyer 2016, Schwarz-Friesel 2 2025: Kap. 16, Hessenauer 2024). Die massenmedialen Konflikberichtstexte basieren also oft auf einem monoperspektivischen Narrativ. Dies führt uns zu dem wichtigen Themenfeld Krisen- und Kriegsberichterstattung und zum Narrativ-Begriff. In den Medien überschlagen sich Krisen- und Katastrophenmeldungen auf eine oft in‐ flationäre Art und Weise. Was zeichnet Krisen- und Konflikt-Diskurse im massenmedia‐ len Kommunikationsraum aus, und auf welche textuellen Mittel und Strukturen greifen Journalisten zurück, um über Kriege, Pandemien, Flutwellen zu berichten? Inwieweit in‐ szenieren und evozieren die Medien ein spezifisches Katastrophen-Bewusstsein und Angst-Narrativ? Dies ist ein Themenfeld, das zwischen Medien- und Textlinguistik steht und alle bislang im Buch erörterten Phänomene involviert: Perspektivierung, Informati‐ onsstruktur, Evaluierung und Emotionspotenzial sowie deren Umsetzung auf der Mikro‐ eben mittels Anaphora, semantischer Relationen und kohäsiver Mittel. In diesem Zusam‐ menhang spielt der Ausdruck Narrativ eine wichtige Rolle. Über Narrative sprechen und schreiben viele im öffentlichen und massenmedialen Kommunikationsraum, doch was 202 6 Angewandte Textanalyse <?page no="203"?> Narration und Narrativ genau ist damit gemeint? Allgemein formuliert ist ein Narrativ die Darstellung eines Re‐ alitätsbereichs, die ein bestimmtes Muster aufweist. Das Narrativ ist abzugrenzen von der Narration. Denn hierbei handelt es sich um eine bestimmte Form des Erzählens im de‐ skriptiven Modus. Es dominieren episodische Informationen. Von einem Narrativ dage‐ gen spricht man, wenn ein bereits etabliertes oder bekanntes Erzählmuster zu erkennen ist. Beim Narrativ dominieren entsprechend ähnliche Orts-, Zeit- und Objektreferenzen als Standardwerte sowie Kausal-Strukturen und auch Bewertungen in einer sehr spezifi‐ schen thematischen Ausgestaltung. Das Erzählmuster beinhaltet typische konzeptuelle Bestandteile (ähnelt damit den Defaults eines Scripts; s. 4.3.2) und referenzielle Rollen in spezifischen Besetzungen und typischen Handlungsabfolgen. So sind etwa beim Angriffs‐ krieg Russlands gegen die Ukraine die Agens-Rolle des Aggressors mit Russland bzw. Putin besetzt, die Patiens-Opfer-Rolle mit der Ukraine. Je nach Ideologie und Weltbild bzw. politischem Kalkül kann diese Referenzialisierung aber auch anders gestaltet sein: Im russischen Propaganda-Narrativ ist eine Täter-Opfer-Umkehr zu erkennen, die Rollen sind entsprechend in Verdrehung besetzt. Kurz nachdem Donald Trump 2025 zum zwei‐ ten Mal US-amerikanischer Präsident wurde, übernahm und kommunizierte auch er die‐ ses Narrativ der De-Realisierung - zum Entsetzen der westlich-demokratischen Wertege‐ meinschaft. Zwischen Textwelt-Modellen und Narrativen besteht ein untrennbares Verhältnis: Narrative entstehen, wenn ähnliche oder identische Textwelt-Modelle wie‐ derholt im Diskurs produziert und rezipiert werden und sich somit als Referenz- und Deutungsstrukturen konsolidieren. Damit ist ein Narrativ ein kollektives, überindividuel‐ les Textwelt-Modell-Schema, das in geringfügigen Variationen reproduziert wird. Je nach politischer oder ideologischer Weltsicht entstehen Narrativ-Gemeinschaften in Gesell‐ schaften: Beim Ukraine-Krieg z. B. steht das Narrativ des russischen Angriffskriegs in der westlichen Wertegemeinschaft gegen das Propaganda-Narrativ Russlands. Allerdings können auch innerhalb einer Gesellschaft verschiedene Erzählgruppen existieren: So ist das Narrativ der rechtsextremistischen AfD eher russlandaffin. Die kognitive Textlinguistik kann mit ihren Beschreibungskategorien alle wesentli‐ chen Charakteristika von Narrativen erfassen und kritisch erklären. Übungen und Denkanregungen zu 6.5.1 15. Klein beschreibt die persuasiven Strategien zur Absicherung von Bewertungen, welche er als „positive oder negative Stellungnahmen zu Sachverhalten oder Personen, zu Dingen oder zu Handlungen“ wissen möchte (Klein 1994: 3). Er unter‐ scheidet ferner zwischen argumentativen und suggestiven persuasiven Strategien. Inwieweit stimmt dies mit unseren Ausführungen zur Interaktion von Emotionund Kognition überein? 16. Welche persuasive Strategie ist bei (318) benutzt worden? (318) Subaru: Think. Feel. Drive. 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 203 <?page no="204"?> 17. Welches Textualitätsmerkmal wird bei (319) persuasiv eingesetzt? Wie wirkt (319) auf Sie? (319) Fatih Unser (Ankündigungsplakat für eine Kabarettshow von Fatih Çevikkollu in Berlin, Juli 2013) 18. Welche Perspektive wird in (320) vermittelt? Inwieweit erzeugen die unterstri‐ chenen sprachlichen Mittel den Eindruck von Faktizität oder Zweifel? (Ohne Lösungsangabe) (320) Vor den Augen der Welt starb im September 2000 der Palästinenserjunge Mohammed al-Durra. Sein Tod wurde zum Symbol der Intifada - doch eine Untersuchungskommission bestreitet jetzt, dass der Zwölfjährige durch israelische Kugeln ums Leben kam. Das habe eine Video-Analyse ergeben. […] Israel hat die Umstände schon häufig in Frage gestellt, die am 30. Septemb er 2000 zum Tod des Jungen führten. Auch einige internationale Beobach‐ ter bezweifeln inzwischen die ursprüngliche Version der Geschehnisse. Es gibt sogar Behauptungen, al-Durra sei noch am Leben. Tatsächlich ist im Bericht der Untersuchungskommission von „zahlreichen Hinweisen“ die Rede, dass weder der Junge noch sein Vater Jamal überhaupt von Kugeln getroffen worden seien. Ballistischen Untersuchungen zufolge sei es auch „extrem zweifelhaft“, dass Einschusslöcher in der gefilmten Umgebung von israelischen Soldaten verursacht wurden. (www.spiegel.de, 20.05.2013) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 6.5.1 Ein Einführungsbuch zur linguistischen Diskursanalyse ist das Narr-Studienbuch Bendel Larcher ( 2 2023). Van Dijk (2006) schreibt zu manipulativen Aspekten im Diskurs, Bednarek (2006) zu Evaluierung in Pressetexten, Stenvall (2008), Nabi/ Wirth (2008), Dillard/ Miraldi (2008) zu Persuasion, Peters (2013) zu Schein-Evidenz als persuasive Strategie, Schwarz-Friesel ( 2 2013, Kap. 6.3 und 6.4) zum Emotionspotenzial von massenmedialen Texten und Schwarz-Friesel/ Kromminga (2014) zur persuasiven Funktion von Metaphern im Diskurs über Terrorismus. Beyer (2016) erörtert detailliert antisemitische und israelfeindliche Elemente in Texten der deutschen Presse anhand von Perspektivierungs- und Evaluierungsstrukturen. Schwarz-Friesel ( 2 2025: Kap. 16) analysiert Texte der Nahost-Berichterstattung hinsichtlich ihrer einseitigen Narrativen und antisemitischen Lesarten. Schon früh gab es auch in der Presse Berichte über Gewalt, Leid und Tod; vgl. hierzu z. B. Nagel (2015). Ziem/ Wengeler (2014) skizzieren Aspekte von Krisen-Verbalisierungen, Schwarz-Friesel (2017) erörtert Krisen- und Katastrophen-Referenzialisierungen im Rahmen der Textwelt-Modell-Theorie. Liebert (2019) erklärt Narrative in Bezug auf extremistische Diskurse als „kollektive Deutungs‐ muster“. Ruan (2021) hat kontrastiv deutsche und chinesische Berichte zur Tianjin-Ex‐ 204 6 Angewandte Textanalyse <?page no="205"?> textuelles Spannungs‐ potenzial plosion analysiert. Fritzsche (2024) erklärt Propaganda-Narrative der islamistischen IS. Zu unterschiedlichen Kriegsnarrativen zum Ukraine-Konflikt s. Löffelholz et al. (2024). 6.5.2 Bewusstseinslenkung: Spannung als Wissensaufbau im Textwelt-Modell Zu den persuasiven Strategien gehört es auch, Rezipienten in Spannung zu versetzen. Die Leser sollen eine gewisse mentale Atemlosigkeit empfinden und in den Zustand der ungeduldigen Erwartung versetzt werden. Wenngleich dieses Phänomen nicht nur in der Textsorte Kriminalroman anzutreffen ist, sondern z. B. auch in der Werbung, konzentrieren wir uns hier auf die Frage, wie die spezifische Gruselspannung in Krimis textuell erzeugt wird. Spannung ist bislang fast ausschließlich ein Untersuchungsgebiet der Literaturwissenschaft (s. jedoch die linguistischen Abhandlungen Fill 2 2007 und Cheng 2011 sowie Schwarz-Friesel 2018 und Hausenblas 2018), kann aber textlinguis‐ tisch präzise im Rahmen der Textwelt-Modelltheorie erklärt werden. Dabei muss die Aussage von Ohler und Nieding (1996: 129) „cognition […] plays the dominant role in predicting the experience of suspense […]” ergänzt bzw. modifiziert werden: Emotion und Kognition sind ausschlaggebend für das Zustandekommen und das Erleben von Spannung. Spannung ist zunächst als mentales Phänomen zu charakterisieren, das sich aus der neugierigen und evtl. ängstlichen Antizipation, d. h. der Interaktion vom Gefühl der Erregung und kognitiver Erwartung ergibt. Wie entsteht dieser Zustand im Leser? Welche sprachlichen Mittel und Strukturen, sind besonders geeignet, Spannungsele‐ mente zu kreieren? Es geht also um das textuelle Spannungspotenzial. Dieses lässt sich im Rahmen der TWM-Theorie als sukzessiver Wissensaufbau, als spezifische Progres‐ sion von Informationen im Wechsel von Aktivierung und De-Aktivierung, von Refe‐ renzialisierung mit systematischer Unterspezifikation erklären. Betrachten wir hierzu folgendes Beispiel: (321) Jetzt riss sie die Augen weit auf und versuchte die Schwärze des Zimmers zu durchdringen. Sie fuhr mit den Händen zum Gesicht, doch etwas packte sie an den Handgelenken und riss ihre Arme nach oben. Das Krachen des Donners … in dem Licht … die Gestalt … ( Jilliane Hoffmann, Cupido, 38) Die Protagonistin erwacht, und die kognitive Domäne DUNK E LH E IT (die Schwärze des Zimmers) gibt bereits einen referenziellen Sachverhalt, der ein starkes Emotionspoten‐ zial für die meisten Menschen hat, da er mit visueller Einschränkung einhergeht. Durch die Aktivierung des abstrakten Textreferenten E TWA S , dessen Identität nicht konkreti‐ siert wird (ist es ein Tier, ein Mensch, eine Schlingpflanze? ), entsteht referenzielle Unterspezifikation: Im TWM bleibt die konzeptuelle Einheit unspezifisch, ist nichts als ein Platzhalter für eine unheimliche Kraft, die der Protagonistin Gewalt zufügt. Es findet also keine Instanziierung des Textreferenten (TR) statt (s. zu den Elaborationsst‐ 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 205 <?page no="206"?> Verzöge‐ rungsprinzip rategien bei referenzieller Unterspezifikation Kap. 4.3.1). Dieses Informationsdefizit wird erst einige Sätze später aufgehoben, da es zunächst einen Topik-Wechsel (also eine De-Aktivierung der beiden Textreferenten im Fokus) durch Das Krachen des Donners … gibt. Wir haben bereits anhand der kataphorischen Referenz in 5.5 erörtert, wie nach diesem Verzögerungsprinzip (also der Vorenthaltung von Informationen) Spannung erzeugt wird (s. hierzu auch Cheng 2011 und Schwarz-Friesel 2018). S. entsprechend (322): (322) Andara spürte es, Augenblicke, ehe das Glühen begann und das Wasser sich kräuselte. Etwas kam. Etwas Unbeschreibliches, Großes, das den Ruf vernahm, draußen, tief in den lichtlosen schwarzen Tiefen des Meeres, etwas Namenloses, das lauernd und geduldig dort draußen gelegen hatte und nun die Krallen aus dem Schlamm zog, ein Titan, zu entsetzlich, um mit einem Namen bedacht zu werden. Es kam. Es kam! ! (Wolfgang Hohlbein, Der Hexer 01: Auf der Spur des Hexers) Das Unbekannte, nicht Identifizierbare, aber Gefürchtete, das nicht Benennbare, aber sinnlich Wahrnehmbare erzeugt einen Zustand der Furcht, der nervösen, ungeduldigen Anspannung und Erregtheit, und zwar sowohl in der Perspektive der Figur im TWM als auch beim Leser. Die über mehrere Sätze hinweg erfolgende Re-aktivierung von informationsarmen, d. h. semantisch und konzeptuell unterspezifizierten Textreferen‐ ten, deren Spezifizierung verschoben wird, verletzt somit das Prinzip der Informativität, um Spannung zu erzeugen. Das Wissen, die Lücken und Vagheiten im Text zu schließen, wird vorenthalten. Das Kooperationsprinzip (hinreichend Informationen zu geben) wird ausgesetzt: Der Leser erhält nicht alle Informationen, um den Sachverhalt vollständig zu rekonstruieren. Dieser Zustand kann als besonders intensiv erlebt werden, wenn der Sachverhalt unerwartet (im Text durch plötzlich explizit ausgedrückt) im Geschehen des TWM auftritt: (323) Plötzlich wurde ihm kalt im Nacken. Aus dem nichts heraus spürte er eine Eiseskälte. Er spürte einen Blick, einen furchteinflößenden Blick. Aber hinter ihm waren nur Bäume und dann lange nichts. […] Er konnte nicht nach vorne in die Schule schauen und er konnte nicht nach hinten schauen und herausfinden, wer oder was ihn anstarrt. Seine Atmung wurde lauter, sein Herz schlug schneller […] Er spürte die kalte Luft in seinem Nacken, als würde sie ihn direkt anatmen. (Matthias Ratzer, www.chads-geschichten.de) Der Referenzdomänenwechsel geht mit dem Prozess der De-Aktivierung einher, da die Re-Aktivierung der bisherigen Textreferenten abrupt unterbrochen wird. Solche spannenden Textstellen verletzten also das Kontinuitätsprinzip. Wir haben mit (321), (322) und (323) textuelle Stellen gesehen, die einerseits Sach‐ verhaltsinformationen liefern, die präzise genug sind, um auf eine gewisse Gefahr oder 206 6 Angewandte Textanalyse <?page no="207"?> Informati‐ onszurück‐ haltung etwas Unvorhersehbares für eine Figur im TWM hinzuweisen, andererseits aber derart referenziell unterspezifiziert bleiben, dass die vollständige Sachverhaltsrepräsentation im TWM nicht möglich ist. Die Antizipation einer Bedrohung lenkt das Bewusstsein der Rezipienten mit progressiver Leserichtung und dem Bedürfnis, das TWM elaborieren zu können. Die Informationsstrukturierung des Textes spielt nicht nur auf der lokalen Ebene eine entscheidende Rolle. Als letzter Satz am Ende eines Kapitels, in dem Ereignisse mit mehreren Textreferenten geschildert wurden, kommt (324): (324) In der Ecke des Raumes lag eine Leiche. ( Janet Evanovich, Einmal ist keinmal) Dann muss sich der Leser über viele Seiten hinweg gedulden, bis es zur Instanziierung von Leiche kommt. Bis zu dieser Textstelle im nächsten Kapitel ist nicht klar, ob sich Leiche anaphorisch auf einen bereits eingeführten Textreferenten bezieht oder ein neuer Textreferent aktiviert werden muss. Diese Informationszurückhaltung, die sich ebenfalls als Interaktion von Aktivierung und De-Aktivierung erklären lässt, betrifft die Makrostruktur von zwei Kapiteln des Textes. Eine Informationslücke kann sich auch über den Gesamttext (globale Makrostruktur) erstrecken, wenn z. B. erst am Ende der Geschichte die Information präsentiert wird, welcher Textreferent den Mord bzw. die Morde im TWM begangen hat. Referenzielle Unterspezifikation dieser Art geht oft einher mit dem Bruch von Lesererwartungen, die veranlassen, das TWM zu modifizieren (s. hierzu Kap. 4.3). In Dürrenmatts Der Verdacht wartet Bärlach auf den Arzt Emmenberger, der abends zu ihm kommen und ihn töten will. Es besteht also bereits eine Erwartungshaltung hinsichtlich einer extremen Bedrohungssituation. Der Ausdruck riesige, dunkle Gestalt wird gemäß der bisherigen Textwelt als Anapher zu Emmenberger verstanden: (325) So zählte er, plappernd mit weißen, blutleeren Lippen, so starrte er, eine lebende Uhr, nach der Türe, die sich nun öffnete, nun, um sieben, mit einem Schlag: die sich ihm darbot als eine schwarze Höhle, als ein geöffneter Rachen, in dessen Mitte er schemenhaft und undeutlich eine riesige, dunkle Gestalt ahnte. (Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht, 328) Diese Zuordnung erweist sich jedoch als Irrtum: Gestalt ist nicht re-aktivierend in Bezug auf Emmenberger, sondern in Bezug auf den Bekannten von Bärlach, Gulliver, zu verstehen. Das TWM muss modifiziert, die Sachverhaltsrepäsentation konzeptuell re-interpetiert und neu bewertet werden. Dieser Prozess wird noch zusätzlich dadurch intensiviert, dass durch den Einschub des Kinderliedes (also einer De-Aktivierung der salienten Textreferenten), eine Informationsverzögerung eintritt. (326) Doch war es nicht Emmenberger, wie der Alte glaubte; denn aus dem gähnenden Schlund dröhnte höhnisch und heiser dem Kommissär ein Kinderlied entgegen: 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 207 <?page no="208"?> „Hänschen klein/ ging allein/ in den großen Wald hinein“, sang die pfeifende Stimme, und im Rahmen der Türe, sie füllend, stand mächtig und breit, im schwarzen Kaftan, der zerfetzt an den gewaltigen Gliedern herunterhing, der Jude Gulliver. (Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht, 328 f.) Das Phänomen der textuellen Spannung, als Mischung aus referenzieller Unterspezi‐ fikation und Antizipation etwas Bedrohlichen, das durch die Interaktion von Kognition und Emotion zustande kommt, lässt sich im Rahmen der Texwteltmodell-Theorie präzise fassen und erklären. Übungen und Denkanregungen zu 6.5.2 19. Cheng (2011: 176) beschreibt das narrative Prinzip des Spannungsaufbaus als „Konkurrenz von planmäßiger Verdunkelung und planmäßiger Erhellung bei der Wissensvermittlung“. Inwieweit entspricht dies den kognitiven und emotionalen Vorgängen beim Wissensaufbau im TWM? 20. Beschreiben Sie, wie in (327) und (328), von Amateurautoren produziert, durch die Informationsstruktur Spannung erzeugt wird! (327) Gerade als Gulia langsamer gehen wollte, spürte sie einen warmen Hauch an ihren Nacken. Unwillkürlich fing sie an zu rennen. Irgendwohin. Hauptsache weg von den Schritten und dem Atem. Kurze Zeit später blieb sie keuchend an einem Baum stehen. Sie stützte sich daran ab. Gulia erstarrte und das Herz pochte ihr bis zum Hals, als sie spürte wie eine kalte Hand ihre nackte Schulter berührte. (www.simforum.de) (328) Ich hörte knirschende Schritte im Schnee. Ich spürte wie jemand an mir zerrte. Schmerzen schossen wieder durch mein Bein. Dann war nur noch Dunkelheit. (André Reichert, www.geschichtennetz.de) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 6.5.2 Fill ( 2 2007) zu allgemeinen Aspekten von Spannung/ Suspense aus linguistischer Sicht, s. hierzu auch den Aufsatz von Schmöe (2011) und das Buch von Hausenblas (2018); Cheng (2011) erörtert textlinguistisch anhand des Romans Tannöd Prinzipien des narra‐ tiven Spannungsaufbaus. Schwarz-Friesel (2018) erläutert Spannungselemente in Kri‐ minalromanen mittels struktureller und prozeduraler Eigenschaften im Textwelt-Mo‐ dell-Ansatz. Mahnke (2024) analysiert den Spannungsaufbau in True Crime-Podcasts und zeigt, wie die textlinguistischen Anlysekategorien auch für mündliche Sprachfor‐ men benutzt werden können. 208 6 Angewandte Textanalyse <?page no="209"?> Semantik der Sinne Qualia 6.5.3 Textsorte Werbung und Persuasion: Semantik der Sinne und multisensorisches Marketing „Wie ist das so? Wie schmeckt so etwas? Beschreiben Sie es, wie Hemingway! “ „Es schmeckt so wie - eine Birne. Sie wissen nicht, wie eine Birne schmeckt? “ „Wie sie für Sie schmeckt, das weiß ich nicht.“ „Saftig, und süß, sie ist auf der Zunge weich und körnig, wie zuckriger Sand zergeht sie im Mund. Wie hört sich das an? “ „Wundervoll.“ (http: / / www.filmzitate.info/ indexlink.php? link=http: / / www.filmzitate.info/ suche/ film-zitate .php? film_id=541) Sowohl die multimodale Text-Analyse, die neben der Sprache weitere Informations‐ manifestationen wie Bilder und Filme berücksichtigt, als auch die transdisziplinäre Text- und Diskurslinguistik, die Aspekte der qualitativen und quantitativen Korpus‐ analyse aufeinander bezieht, um Erkenntnisse über kommunikative und kognitive Prozesse bei der Textproduktion und -rezeption zu erhalten, haben in den letzten Jahren zunehmend an Relevanz in der Sprachwissenschaft gewonnen. Dadurch verbinden sich interdisziplinär Analysekategorien der traditionellen Textlinguistik mit Aspekten und Methoden anwendungsorientierter wie auch sprachkritischer Ansätze. Seit einigen Jahren etabliert sich in diesem Rahmen auch das Forschungsfeld Semantik der Sinne (s. Bieler/ Runte 2010, Majid/ Levinson 2011, Staniewski 2016 und 2021). Dieser Ansatz beschäftigt sich mit den Fragen, wie wir uns mit sprachlichen Einheiten und Strukturen auf unsere Sinneseindrücke (Sehen, Schmecken, Hören, Riechen, Tasten) beziehen und sie für andere referenzialisieren. Dies ist durchaus problematisch, denn Wahrnehmun‐ gen weisen Qualia auf, sind also subjekt-bezogene individuelle Erfahrungen, die ich-ge‐ bunden sind und sich nicht ohne weiteres objektivierbar kodieren lassen. Dies wird in dem oben aufgeführten Zitat aus dem Film „Stadt der Engel“ anhand der Frage Wie schmeckt eine Birne? deutlich: Man umschreibt das Geschmackserlebnis mittels diverser sprachlicher Konstruktionen, doch ob das einmalige Schmecken im Mund tatsächlich nachvollzogen werden kann, bleibt fraglich. Qualia bedeutet somit, dass jeder Mensch einmalig fühlt, schmeckt, riecht. Der Philosoph David Hume (in seinem Treatise on Human Nature) befand daher schon 1739 „We cannot form to ourselves a just idea of the taste of a pineapple, without having actually tasted it.“ Sie können das an sich selbst testen: Lassen Sie sich einen Ihnen unbekannten Duft oder Geschmack beschreiben und schmecken oder riechen Sie danach tatsächlich. Entspricht die Verbalisierung ex‐ akt ihrem olfaktorischen oder gustatorischem Eindruck? Die Semantik der Sinne erklärt, wie Sprache zum einen benutzt wird, um Qualia-Ei‐ genschaften zu kommunizieren und zum anderen, wie Sprache Sinneserfahrungen determinieren kann. Hierbei ist u. a. relevant, dass es Wechselwirkungen von Sinnes‐ reizen gibt. Sinnesempfindungen können andere intensivieren oder abschwächen: Dies spiegelt sich etwa in der Redensart Das Auge isst mit wider. Geschmackserlebnisse können maßgeblich von visuellen oder olfaktorischen Begleitwahrnehmungen tangiert werden. Ein visuell ansprechendes Essen schmeckt besser, ein unangenehmer Geruch oder gar Gestank kann das Geschmackserlebnis massiv beeinträchtigen. Und auch die 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 209 <?page no="210"?> Werbetexte Sprache kann Sinnesempfindungen beeinflussen. Experimentell wurde etwa nachge‐ wiesen, dass das Lesen bestimmter Lexeme bestimmt, ob ein (und derselbe) Geruch als angenehm oder unangenehm bewertet wird. Probanden, die ein Geruchsgefäß entweder mit dem Label Cheddar-Käse oder mit Körpergeruch erhielten, bewerteten das zweite deutlich schlechter, obgleich die Geruchsprobe bei beiden gleich war (Araujo et al. 2005). Dieser Unterschied zeigte sich neuronal auch in der Gehirnaktivität der Probanden. Bei einer funktionellen Magnetresonanztomografe aktivierten als Cheddar-Käse deklarierte Gerüche andere Areale des Cortex und limbischen Systems als Körpergeruch (Araujo et al. 2003). Die Semantik der Sinne untersucht das Verhältnis von sprachlichem Ausdruck und Sinneswahrnehmung und spielt insbesondere bei der persuasiven, also intentional adressatenbeeinflussenden Textsorte Werbung, eine wichtige Rolle: Werbetexte sollen Lebensgefühl evozieren, durch Textwelt-Modelle, die Sehnsüchte und Begierden kon‐ zeptualisieren, in denen das beworbene Produkt so attraktiv wie möglich (und als un‐ bedingt anschaffenswert) referenzialisiert wird. Im internationalen Wettbewerb kämp‐ fen Werbung und Marketing um die Aufmerksamkeit der potenziellen Kunden und müssen Texte kreieren, die kognitiv und emotional verführen. Daher sind „Multisen‐ sorik in der Markenführung oder multisensory branding … die Themen der Zukunft im Marketing“ (https: / / corporate-senses.com/ marken-und-sinne/ ). Allgemein ist bei Werbetexten intendiert, Aufmerksamkeit (Attention) zu erlangen, Interesse (Interest) zu wecken, den Wunsch/ das Verlangen (Desire) nach dem Produkt zu aktivieren und schließlich zum Produktkauf bzw. der Bereitschaft, das Produkt zu erwerben, führen (Action; vgl. die AIDA-Formel). Sinnesaktivierungen sind dabei von hoher Relevanz (s. auch Wahl et al. 2020 und https: / / abg-marketing.de/ blog/ m ultisensorisches-marketing-das-zusammenspiel-der-fuenf-sinne/ ). Die Werbung von Lindt beispielsweise spricht direkt und explizit alle Sinneserfahrungen an, die mit dem Schokoladengenuss verbunden sein sollen (s. u. a. https: / / www.lindt.de/ maitres-choco latiers/ fuenf-sinne) und verwendet das Lexem Sinne in nahezu jedem Werbetext: (329) „Zwei der größten Muntermacher der Natur, Kaffee und Schokolade, vereinen sich zu einem unübertroffenen Geschmacksprofil, das die Sinne weckt“ (https: / / www.lindt.de/ onlineshop/ marken/ excellence) 210 6 Angewandte Textanalyse <?page no="211"?> Metaphern und Vergleiche Ähnlich ist es bei bei der folgenden Werbung für Innenausstattung und Wohnkultur: (330) „Wir alle erfahren das Leben durch unsere fünf Sinne: Sehen, Fühlen, Riechen, Hören und Schmecken. Eine ausgewogene Inneneinrichtung sollte in der Lage sein, alle diese fünf Sinne zu wecken. Wenn ihr das bei euch zu Hause erreicht, dann steht einer harmonischen Wohnatmosphäre nichts mehr im Wege“. (https: / / www.nvgallery.com/ de-de/ blog/ eine-innendekoration-fur-alle-funf-sinne? srsltid=AfmBOoq3J4TvSxwepbBVBuKqGJB2_Fqd6zMjZ_HjqJ21hc7_7UzPB-6b) Dabei werden in diesem Text auch Erkenntnisse aus der Semantik-der-Sinne-For‐ schung eingebunden und persuasiv ins TWM integriert: „Über unsere fünf Sinne nehmen wir als Individuen Informationen auf, wodurch wir ein Bewusstsein (Wahr‐ nehmung) erlangen. Anschließend verarbeiten wir diese Informationen, um sie zu ver‐ stehen (Kognition) - das formt dann unsere Realität.“ So wird der Werbetext zum Kauf von Einrichtungsgegenständen referenziell überspezifiziert und durch Informationen elaboriert, die der Textsorte „wissenschaftliche Abhandlung“ angehören. Dadurch wird mittels der Strategie des autoritativen Expertenbezugs die Relevanz des Kaufs sinnlich passender Gegenstände in den Fokus gerückt. Werbung, die die Semantik der Sinne fokussiert, ist referenziell oft überspezifiziert durch Metaphern und Vergleiche, deren Bedeutungen mit dem Produkt und seiner Konsistenz oder Funktion nichts zu tun haben, dadurch aber Textwelt-Modelle kreie‐ ren, die Erleben als puren Genuss konzeptualisieren. Weinwerbung beispielsweise evoziert Textwelt-Modelle, die Erlebnisse des Weingeschmacks mit Emotionen wie Freude und Glück (Genuss, der glücklich macht) verbinden oder an Kindheitserinne‐ rungen anknüpfen (wie im Garten ihrer Großmutter). Oft finden sich auch Referenzia‐ lisierungen von Landschaften (wie in der Toskana) und Entspannungsszenarien (wie ein Urlaub am Meer). Die beworbenen Weine werden häufig personalisiert als Verführer, Muntermacher oder Glückserzeuger, die „traumhafte, entspannte, sensorische Erlebnisse“ bescheren. Solche Texte haben entsprechend ein hohes Emotionspotenzial. Viele Werbetexte folgen aber auch dem Prinzip der Unterspezifikation und lassen über die vom Rezipienten zu vollziehenden Inferenzen persuasive Wirkung entstehen: 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 211 <?page no="212"?> (331) Der Alptraum jedes Gummibärchens! Storck-Riesen. Bei (331) handelt es sich um eine Werbeanzeige für schokoladige Toffeebonbons. Der Text ist referenziell unterspezifiziert und sein Verständnis hängt von Inferenzziehun‐ gen ab, die von dem Bild eines überdimensional großen dunklen Riesenkaubonbons unterstützt werden: Die Gummibärchen werden personifiziert, indem sie als fühlende und Alptraum erlebende Wesen referenzialisiert werden. Inferenziell ist u.a.: ‚Gummibärchen sind 212 6 Angewandte Textanalyse <?page no="213"?> Verbale Synästhesie eine beliebte Süßigkeit‘ und ‚größte Konkurrenz ist das Toffee‘. Auf humorvolle Weise wird so der Bonbon von anderen Leckereien als besonders verführerisch abgegrenzt. Gustatorische Eindrücke der Zunge werden in Lebensmittelwerbung oft mittels Vergleiche (wie frisch gebacken), Metaphern (Geschmackswonne) und Synästhesien (wie in herber, lieblicher oder duftiger Geschmack oder knackige Kühle) verbalisiert. Vergleiche (wie ein Garten/ nach Sand und Wasser), Metaphern (frischere Version/ Frische auf neue Art) und insbesondere Synästhesien (sonnig, süß, unbeschwert/ grünen Noten) sind dominant auch in der Parfumwerbung: (332) TRÉSOR IN LOVE (Lancôme) - Blütenmeer. Eine neue, frischere Version des Klassikers […]. Duftet wie ein blühen‐ der Garten irgendwo in Kalabrien: sonnig, süß und herrlich unbeschwert. (Douglas Magazin: 41) (333) „Frische auf neue Art mit grünen Pflanzennoten und einem Duft nach Sand und Wasser.“ ( Jean-Claude Ellena Parfum, https: / / www.hermes.com/ de/ de/ product/ un-jardin-su r-le-nil-eau-de-toilette-V20396/ ) Bei der verbalen Synästhesie werden mindestens zwei Lexeme aus unterschiedlichen perzeptuellen Phänomenbereichen kombiniert, also zu einer multimodalen Struktur zusammengezogen wie in süßlich schwer, frisch leicht, dunkel bitter, Adjektiv-No‐ men-Kombinationen wie süßer Duft, spritziger Duft, weicher Duft, gelbe Frische, dunkle Wärme, blumige grüne Frische, heißer Duft, pudriger Duft sind besonders häufig. Innerhalb der Textlinguistik gibt es jede Menge spannende und interessante Themen, die Semantik-der-Sinne-Fragestellungen anzuwenden: z. B. kann man die Textsorte Speisekarte kontrastiv analysieren hinsichtlich ihres Potenzials, den Appetit und die Bereitschaft, ein Gericht zu bestellen, durch olfaktorische, gustatorische und visuelle Referenzialisierungen zu intensivieren. Hinsichtlich Sprache und Geschmack lassen sich die diversen textuellen Eigenschaften erfassen, die Eindrücke der Zunge lexika‐ lisch verbalisieren z. B. in Bezug auf Süßigkeiten und Brotwerbung. Kosmetikwerbung (z. B. Nagellack oder Lippenstifte) lässt sich in Bezug auf Farbbezeichnungen und ihre spezifische Kontextualisierung untersuchen. Oder man überprüft die Relevanz von Intertextualität hinsichtlich Sprichwörterverwendung in der Werbung wie Liebe geht durch den Magen, der Hunger ist der beste Koch. Man kann verschiedene Werbe‐ texte untersuchen, die mit Geruch zu tun haben, nicht nur Parfum, sondern z. B. Toilettenreiniger in Bezug auf die Verwendung bzw. Vermeidung und euphemistische Umschreibung von Geruchs- und Gestankausdrücken sowie Inferenzziehung aufgrund von Unterspezifikationen. Übungen und Denkanregungen zu 6.5.3 21. Schauen Sie sich den legendären Werbespot Eatkaraus von Edeka an: https: / / www.youtube.com/ watch? v=To9COZq3KSo 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 213 <?page no="214"?> Was steht im Vordergrund? Welche Wahrnehmung(en) ist/ sind salient? Wie wirkt der Spot auf Sie? Welche Intention lässt sich rekonstruieren? Wie sind die AIDA-Merkmale umgesetzt? (ohne Lösungsangabe) 22. Mit welchen Semantik-der-Sinne-Mitteln bewirbt dieser Text das Parfum? (ohne Lösungsangabe) (334) Un Jardin sur le Nil ist ein impressionistischer Spaziergang durch die Garteninseln auf dem Nil bei Assuan, der Ausgangspunkt für diesen neuen Duftstreifzug. In dieser erfrischenden Ode dreht sich alles um grüne Mango, Lotusblüte, Weihrauch, Kalmus und Sykomore. Als olfak‐ torische Spaziergänge durch verschiedene Bereiche des Hauses zeugen die Jardins von den authentischen Begegnungen zwischen der Hermès Philosophie, der Besonderheit eines Ortes und seinem Erschaffer. (https: / / www.hermes.com/ de/ de/ product/ un-jardin-sur-le-nil-eau-de-to ilette-V20396/ ) 23. Was fällt Ihnen bei diesem Text auf ? (ohne Lösungsangabe) (335) BRUNO BANANI MADE FOR MEN (Banani) - Attention, Ladies! Männlich, sexy, sehr entspannt. Ein echter Verführer eben. […] Mit kühl-softem Herz aus Geranie und aquatischen Noten. (Douglas Magazin: 30) Weiterführende und vertiefende Literatur zu 6.5.3 Majid/ Levinson (2011) und Speed/ Majid (2019) erörtern allgemeine Aspekte des The‐ menfelds Semantik der Sinne. Zur Relevanz der fünf Sinne s. Noppeney (2018). Staniewski (2016 und 2021) hat sich ausführlich mit Geruch und seiner Verbalisierung beschäftigt. Janich (2013) und Krieg-Holz (2018 und 2021) beschreiben Aspekte der Werbesprache; in Janich et al (2023) finden sich Beiträge zu Werberhetorik. Wahl et al. (2020) gehen auf multimodale Strategien in der Werbung ein. Meier-Vieracker (2024) betrachtet im Rahmen der kulinarischen Onomastik Adjektive in Speisekarten. Zusammenfassung von 6.5 Texte können das Bewusstsein lenken, die Aufmerksamkeit steuern, starke Gefühle wecken und Gedanken beeinflussen. Entsprechende Strategien wurden bereits in 6.3 beschrieben. Mit solchen Strategien werden Narrative erzeugt; das sind Erzählmuster, die eine bestimmte (manchmal auch irreale) Interpretation und Beurteilung einer Situation erzeugen und durch ständige Wiederholung festigen. Hier werden Prozesse der Kognition und der Emotion gleichermaßen angeregt, um das Bewusstsein von Leserinnen und Lesern zu lenken, so wie es auch beim Aufbau von textueller Spannung geschieht. Im Rahmen der Textwelt-Modell-Theorie kann Span‐ 214 6 Angewandte Textanalyse <?page no="215"?> nungsaufbau als eine besondere Art der Informationsentwicklung im Textwelt-Modell beschrieben werden. Eine ganz andere Strategie der Persuasion, die uns insbesondere in der Werbung begegnet, ist die Aktivierung sinnlichen Erlebens durch eine ‚Semantik der Sinne‘. Die textlinguistische Analyse massenmedialer Texte ist besonders geeignet, um eine solche persuasive, d. h. die meinungsbeeinflussende und bewusstseinssteuernde Funk‐ tion der Sprache transparent zu machen und gleichzeitig zu sensibilisieren für einen kritischen Umgang mit meinungsbildenden Texten. Die Aufdeckung der persuasiven Mittel und Strategien gibt somit auch Aufschluss über grundlegende Diskursstrategien und Verbalisierungsmuster im öffentlichen Kommunikationsraum und hat eine breite gesellschaftliche Relevanz. 6.5 Zum Persuasionspotenzial von Texten 215 <?page no="217"?> Anhang Lösungen zu Übungen und Denkanregungen Kapitel 2 1. Der Text, der nicht einmal Buchstaben aufweist, ist in der Situation eines Gewerk‐ schaftsstreiks erwartbar und angemessen, also situational und akzeptabel. Die Intention des Autors (oder Plakatträgers), 6,5% mehr Lohn zu fordern, ist erkenn‐ bar, der Text ist somit intentional und, soweit die Intention für den Betrachter neu ist, informativ. Intertextualität dürfte nur in einem weiten Sinn, als Bezug auf bekannte Formen von Streik und Demonstration, gegeben sein. Kohärenz und Kohäsion betreffen Beziehungen zwischen Teilen des Textes. Da der Text keine verschiedenen Teile hat, sind diese Merkmale nicht gegeben. Durch das satzschließende Ausrufezeichen ist allerdings eine Art formale Geschlossenheit gegeben; der Text ist zwar elliptisch, wirkt aber nicht unvollständig. 2. Für eine Sammlung mehrerer Texte sprechen: Ganz unterschiedliche Textsorten wie Lyrik (Psalmen), Erzählungen, Abstammungslisten; verschiedene Autoren; Entstehung über einen langen Zeitraum (ca. 1200 Jahre) hinweg; Übersetzung aus verschiedenen Sprachen (Aramäisch, Hebräisch, Griechisch). Der Inhalt der Bibel ist also sehr heterogen. Für eine Sichtweise als einheitlichen Text spricht, dass die Bibel im Christentum eben so kanonisiert und tradiert wurde (größtenteils unter Einbeziehung der viel früher kanonisierten jüdischen Glaubensschriften). Die Texte des sogenannten Alten Testaments umfassen die heiligen Schriften des Judentums. Physisch erscheint die Bibel dementsprechend in einem einzigen Buch unter einem einheitlichen Titel, die Buchdeckel sind die äußersten Textbe‐ grenzungsmarkierungen. Durch dieses kohäsive Merkmal wird in der Regel auch eine Rezeptionshaltung erweckt, die globale Kohärenz über den ganzen Text erwartet. Diese ist zu finden in der gläubigen Annahme, alle Textteile seien von Gott inspirierte Zeugnisse göttlicher Offenbarung in einer sich entwickelnden Kultur; aus historischer Sicht erkennt man zumindest Zeugnisse des Ringens der abendländischen Kultur um ihren Gottesglauben und die Abgrenzung bzw. Etablierung ihrer Religion. 3. Dieselbe Information wird dreimal gegeben. Das geht einher mit einem hohen Maß an Kohäsion (z. B. Rekurrenz von der Mann und tot) und Kohärenz (wiederholte Bezüge auf den Mann), aber mit einem geringen Grad an Informativität (der Text als Ganzes ist nicht informativer als der erste Satz, die übrigen Sätze sind redundant). Akzeptabel ist der Text daher nur, wenn man die hohe Redundanz für zweckmäßig hält, etwa um auch unaufmerksamen Zuhörern den Sachverhalt zu vermitteln (was übrigens ein Strukturprinzip von Telenovelas ist). 5. Der Text berichtet deutlich perspektiviert über die Vorgänge in der Türkei. Wertungen wie Beschönigung der Polizeieinsätze, systematische Denunziation und <?page no="218"?> Schleimspur-Sender sind deutliche Indikatoren für die kritische Einstellung des Journalisten gegenüber Erdogan und die staatliche türkische Presse, geben also Aufschluss über seine mentale Konzeptualisierung der Sachverhalte. Zugleich ist der Text ein indirekter Appell für Meinungsfreiheit und eine unabhängige, souveräne Presse. 6. Sie erstellen zunächst ein Korpus von geeigneten Texten, d. h. eine repräsentative Auswahl von Kriminalromanen (wobei Sie z. B. die Werke eines Autors mit einem anderen oder Kriminalromane des frühen 20. Jh. mit denen Ende des 20. etc. vergleichen können), die Sie dann systematisch textlinguistisch analysieren (s. hierzu Kap. 4 und 5). 7. S. Garrod ( 2 2006: 252 f.). 8. S. Bsp. (150) in Kap. 5.1 (in den Übungen); zu (40): (40‘) Bald trat eine Intoleranz gegen Licht und Töne hervor, beunruhigender als die bisherige Verstimmung. Er schien das Geräusch in den Hof einfahrender Wagen, den Stimmklang der Leute als übermäßig zu empfinden. „Sprecht leise! “ bat er und flüsterte selbst, wie um ein Beispiel zu geben. Nicht einmal die zierliche klimpernde Spieldose wollte er hören, sprach rasch sein gequältes „’habt, ’habt“, stoppte eigenhändig das Werk und weinte dann bitterlich. So floh er den Sonnenschein jener Hochsommertage in Hof und Garten, suchte das Zimmer, saß dort gebückt und rieb sich die Augen. Schwer war es zu sehen, wie er, sein Heil suchend, von einem, der ihn liebte, zum anderen ging und ihn umhalste, um bald wieder ungetröstet von jedem abzulassen. (Thomas Mann, Dr. Faustus) Die Lücken im Text von Storm sind wesentlich einfacher, da vorhersehbarer zu füllen als in dem syntaktisch und semantisch komplexeren Text von Thomas Mann. 9. Es war Noah, nicht Moses. Falls Sie dies nicht bemerkt haben, sind Sie nicht die/ der Einzige. In einem Experiment zur sogenannten Moses-Illusion fielen viele Proban‐ den darauf hinein und antworteten ohne Zögern mit zwei (s. van Oostendorp/ de Mul 1990). Dies würde sicher nicht passieren, wenn in der Frage statt Moses Manfred stehen würde. Moses ist ein biblischer Name aus dem Alten Testament und passt daher in das Textwelt-Modell von (42), ist kontextuell plausibel und stört den Prozess des Textverstehens nicht, da er semantisch-konzeptuell integriert werden kann (s. hierzu Kap. 4). 10. Sie verfassen einen Fragebogen inklusive Rating-Test, lassen die Versuchspersonen aber nicht wissen, dass es um die Wirkung geht, sondern verschleiern die Frage‐ stellung dadurch, dass Sie der Untersuchung einen anderen Namen geben (und eventuell ablenkend einige Fragen einbauen, die nichts mit dem Thema zu tun haben). 11. Da „stilistische Akzeptabilität“ ein subjektives Merkmal ist, ist eine Fragebogen‐ studie mit möglichst vielen Probanden angebracht. Sie präsentieren mehrere kurze Texte, die es in zwei Varianten gibt, einmal ohne und einmal mit Metaphern (dies ist die unabhängige Variable). Dazu könnten Sie reale Texte nehmen und 218 Anhang <?page no="219"?> daraus alle Metaphern entfernen und durch nicht-metaphorische Bezeichnungen ersetzen (z. B. Er versprach ihr das Blaue vom Himmel herunter durch Er versprach ihr unrealistische Dinge.) Jeder Proband erhält vier Texte, zwei mit und zwei ohne Metaphern, nicht aber den gleichen Text in zwei verschiedenen Versionen. Fragebogen A könnte dann die Texte 1 und 3 mit Metaphern und die Texte 2 und 4 ohne Metaphern enthalten, Fragebogen B genau umgekehrt. Sie können dann kontrollieren, ob Akzeptanz-Effekte vielleicht gar nicht von den Metaphern ausgehen, sondern von anderen Eigenschaften des Textes (z. B. wenn Text 3 unabhängig von den Metaphern schlechter abschneidet als Text 2). Was genau Sie die Probanden fragen, wird die Ergebnisse stark beeinflussen. „Finden Sie den Text spannend? “ wird ein anderes Ergebnis bringen als „Finden Sie den Text gut verständlich? “ Probieren Sie in einem Pretest mit wenigen Probanden aus, welche Frage die besten Ergebnisse bringt. Das Verhalten der Probanden ist dann die abhängige Variable. Kapitel 3 1. Die Texte sind in funktionaler Hinsicht medial und konzeptionell schriftliche, monologische Texte. Die Möglichkeit einer sofortigen Rückmeldung durch den Hörer ist nicht gegeben. Sie sind Informationstexte aus der Alltagskommunikation; der Verfasser ist in der Expertenposition und gibt dem Leser Anweisungen, die dieser (freiwillig und zu eigenem Nutzen) befolgt. Formal wird hieraus ein bestimmter Stil folgen, nämlich eine möglichst präzise Sprache mit Verwendung von Imperativsätzen (Drehen Sie die gelbe Seite …) oder Infinitiven in Imperativ‐ funktion (Die gelbe Seite drehen …) oder Passivkonstruktionen (Die gelbe Seite wird gedreht …). Notwendiges Fachvokabular wird eventuell vorher definiert. Eine künstlerische Ausformung, z. B. mit Metaphern, ist nicht zu erwarten. Der Einsatz von Bildern oder Grafiken ist bei diesem visuellen Gegenstand zu erwarten. In ei‐ nigen Anleitungen sind Text und Bild redundant, also geben dieselbe Information, in anderen komplementär, also ergänzen sich notwendig. In manchen Anleitungen wird die Information fast ausschließlich über Bilder vermittelt. 2. Unterschiede sind im inhaltlichen Aufbau zu erwarten: Die Würfel-Anleitung leitet zu einem Handeln an, dessen einzelne Teile in zeitlich linearer Abfolge durchzuführen sind; am Ende steht das gewünschte Ergebnis. Die Kamera-Bedie‐ nungsanleitung ist eher ein Katalog von einzelnen Handlungsanweisungen, die relativ unabhängig voneinander sein können (wenn ich ein Belichtungsprogramm wähle, muss ich nicht wissen, wie man Datum und Uhrzeit einstellt); außerdem sind innerhalb der Kamera-Anleitung auch Rechtstexte zu erwarten, die den Kunden vor unsachgemäßem Umgang warnen (z. B. Akkus nicht in der prallen Sonne liegen lassen) und den Hersteller dadurch haftungsfrei stellen. 3. Zunächst einmal sind beides Medien, also technische Mittel, Texte zu verschicken. In gewissem Rahmen sind beide offen für die verschiedensten Textsorten: Per SMS Lösungen zu Übungen und Denkanregungen 219 <?page no="220"?> kann man ein Gedicht verschicken, eine Beziehung beenden oder Urlaubsgrüße senden. SMS sind immer noch „short messages“, kurze Nachrichten, aber die berühmte Beschränkung auf 160 Zeichen gilt längst nicht mehr. Bewerbungs‐ schreiben mit allen Dokumenten sind mittlerweile per E-Mail üblich; genauso kann man aber auch durch schnelles Hin- und Hermailen eine Art Chat per Mail beschreiben. Die Medien sind offen für konzeptionell mündliche, dialogische Textsorten, werden aber nicht ausschließlich dafür genutzt. Für eigene Textsorten SMS und E-Mail spricht, dass sich gewisse lexikalische und andere formale Merkmale in diesen Medien herausgebildet haben, z. B. gewisse Abkürzungen wie GN8 für „Gute Nacht“ in SMS; in E-Mails die Absenderadresse als Fußtext am Schluss der Nachricht statt wie in Papierbriefen oben im Briefkopf. Kapitel 4 1. (117) Das Kätzchen schnurrt, weil es sich wohl fühlt. Referenziell, anaphorisches Personalpronomen (s. Kap. 5). Es bezieht sich auf das vorerwähnte Kätzchen und ist koreferent mit das Kätzchen. (118) Es hat den ganzen Tag geregnet. Nicht referenziell, sog. unpersönliches es. Es bezieht sich auf nichts in der Welt (*Das Wetter regnet/ *Der Regen regnet). Witterungsverben benötigen semantisch kein Subjekt, syntaktisch muss aber eine entsprechende Position besetzt werden. (119) Es ist kaum zu glauben, dass du das nicht weißt. Referenziell, sog. Korrelat-es. Es ist koreferent mit dem Nebensatz dass du das nicht weißt. Ersetzungsprobe: Dass du das nicht weißt, ist kaum zu glauben. Referenzobjekt ist der Zustand des Nichtwissens, in dem der Hörer sich befindet - ein komplexer, abstrakter Referent, aber doch ein Referent. (120) Es irrt der Mensch, solang er strebt. Nicht-referenziell, sog. expletives es. Es dient nur der Vorfeldbesetzung, da das Subjekt aus stilistischen Gründen ins Mittelfeld bewegt wurde (Der Mensch irrt … oder Solang er strebt, irrt der Mensch). 2. Die unterstrichenen Ausdrücke sind mehrdeutig. Sie können sich auf spezifische, konkrete Referenten (sog. Token-Konzepte) beziehen oder auf abstraktere Ty‐ pen-Konzepte. Welche Lesart intendiert war, wird erst in a)/ b) klar. 3. Offensichtlich wird mit der ersten und der zweiten Nennung von Universität auf verschiedene Konzepte referiert, ansonsten wäre der Satz logisch widersprüchlich (a ist kein a). Zuerst wird auf real existierende Universitäten referiert, dann auf ein (früheres) Idealbild von Universitäten. 4. Zu (123): (123‘) Ich befahl ( J E MAND E M ) mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener ( D E R DI E N E R D E S ICH - E R ZÄHL E R S HAT D E N B E F EHL B E K OMM E N ) verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es ( DA S P F E R D ). In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn ( D E N DI E N E R ), was das ( T R OM P E T E N B LA S E N ) 220 Anhang <?page no="221"?> bedeute. Er ( D E R DI E N E R ) wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore ( DA S T O R D E S HO F E S D E S ICH - E R ZÄHL E R S ) hielt er ( D E R DI E N E R ? ) mich auf und fragte: „Wohin reitest Du, Herr? “ ( HINWE I S AU F DI E N E R ) „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier ( VOM HO F ), nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“ „Du kennst also Dein Ziel ( DA S ZI E L S E IN E S AU S R ITT S )? “ fragte er ( D E R DI E N E R ). „Ja“, antwortete ich, „ich sagte es doch, ‚Weg-von-hier‘, das ist mein Ziel.“ „Du hast keinen Essvorrat mit“, sagte er ( D E R DI E N E R ). „Ich brauche keinen ( E S S VO R R AT )“, sagte ich, „die Reise ( D E S ICH - E R ZÄHL E R S ) ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheuere Reise ( D E S ICH - E R ZÄHL E R S ).“ (Franz Kafka, Der Aufbruch) Zu (124): Im ersten Satz wird weder die referenzielle Rolle des Agens ( E NT FÜH R E R ) noch die des Patiens ( O P F E R ) verbalisiert. Die kausale Relation zwischen den beiden Sätzen (dass Jakob von Metzler vom Entführer ermordet wurde) wird ebenfalls nicht explizit ausgedrückt. 5. Zu (125): Mit Rad ist ein Fahrrad gemeint. Dieses war an einen Schildermast ange‐ kettet, der von den dreisten Dieben abgesägt wurde, um das Fahrrad zu stehlen. Zu (126): Das Zusammentreffen von Strom und Wasser ergibt die Gefahr eines elektrischen Schlages bei der Reparatur. Die Handschuhe sollen vor Verletzungen durch die scharfen Kanten schützen, aber auch vor Stromverletzungen. 6. Nein, Unterspezifikation ist nicht unkooperativ, soweit der Sprecher das kon‐ zeptuelle Wissen des Hörers berücksichtigt, also seine Fähigkeit, ein TWM zu elaborieren und Inferenzen zu ziehen. Referenzielle Unterspezifikation ist normal und ergibt sich aus dem Prinzip, nur Relevantes zu verbalisieren und Redundanz zu vermeiden. Die kognitiven Prozesse, die dem Hörer dadurch zugemutet werden, verlaufen unbewusst und kosten ihn nur Millisekunden. Würden dagegen alle Informationen explizit ausgedrückt, würden Texte quantitativ explodieren, und der zusätzliche Hörbzw. Leseaufwand wäre sehr viel größer. Kapitel 5 1. Es handelt sich um einen textgrammatischen Ansatz, der weder alle natürlichen Texte erfassen, noch das Phänomen der Kohärenz erklären kann. S. hierzu auch die Erörterungen zu Textdefinitionen in Kap. 2. 2. Text (147) zeichnet sich durch eine Vielzahl von Rekurrenzen rund um Puppe aus, außerdem durch häufige Verwendung der 1. und 2. Person. Dennoch könnte man nicht zusammenfassen oder nacherzählen, welchen Inhalt dieser Text hat oder welches seine Hauptreferenten sind. Ein TWM lässt sich nicht aufbauen. Der Text ist inkohärent. 3. Durchgehendes Tempus, z. B. Erzähl-Präteritum, ist ein textgrammatisches Merk‐ mal, das einem Text formale Geschlossenheit gibt. Tempuswechsel dienen dazu, Lösungen zu Übungen und Denkanregungen 221 <?page no="222"?> temporale Verhältnisse zwischen Teilen des Textes zu markieren (Vor- und Nach‐ zeitigkeit) und haben damit eine ähnliche Funktion wie temporale Konnektoren. 4. Da, dort und hier sind keine Konnektoren, denn grammatisch verbinden sie keine Sätze. Sie können allerdings Ortsangaben aus dem vorherigen Text anaphorisch wieder aufnehmen (In München steht ein Hofbräuhaus. Da ist jeden Abend Party.) und fungieren so als Kohäsionsmittel. 5. Zu a): Definite Neueinführungen von Referenten im ersten Abschnitt weisen darauf hin, dass vom Leser Vorwissen aus früheren Artikeln erwartet wird (die schlimmen Befürchtungen nach dem jüngsten Schaf-Mord in Krefeld, die 17-jährige Tier-Ripperin). Entsprechende Referenten werden im konzeptuellen Wissen des Lesers, das er aus früheren Artikeln haben soll, aktiviert und in das aktuell entstehende Textwelt-Modell eingeführt. Anschließend finden wir anaphorische Wiederaufnahmen innerhalb desselben Textes (die gleiche Täterin, das Mädchen, ihrer, das Mädchen, es, die 17-Jährige bilden als direkte Anaphern mit dem An‐ tezedenten die 17-jährige Tier-Ripperin eine durchgehende, dichte anaphorische Kette zur Hauptreferentin; das Tier ist eine indirekte Anapher mit dem Anker dem jüngsten Schaf-Mord in Krefeld). Das durch Schaf-Mord aktivierte MO R D -Skript beinhaltet ein Mordopfer, das hier als Erstglied des Kompositums erwähnt wird, während der Ausdruck insgesamt aber natürlich nicht auf das Schaf, sondern den Mord referiert. Zu b): Den Satz Das Mädchen wurde nach ihrer Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt und psychologisch betreut wird man zeitlich auf Geschehnisse nach dem aktuellen Schaf-Mord beziehen, da keine Hinweise auf Vorzeitigkeit gegeben werden. Erst die Fortsetzung mit Nun der Rückfall sowie die Information, dass das Mädchen diesmal nicht in Freiheit bleibt, führen zur Re-Interpretation, dass der Satz auf eine frühere Zeitebene referiert. Er hätte dafür aber im Plusquamperfekt stehen müssen: Das Mädchen war (damals) …worden. 6. Zu den Kohäsionsmitteln kann man die Anordnung in Versen und den Endreim zählen, denn sie geben dem Text einen formalen Zusammenhalt. Außerdem fällt natürlich die zweimalige Rekurrenz von Stäbe auf, beide Rekurrenzen mit tausend quantifiziert. Auf Kohärenzebene lässt sich klar der im Titel genannte Hauptreferent in einer durchgehenden anaphorischen Kette verfolgen: Der Panther - sein - ihm. Ein eher lokaler anaphorischer Bezug besteht zwischen Sein Blick und er (sofern man annimmt, dass es der Blick ist, der nichts mehr hält, also nichts mehr wahrnehmen kann, und nicht der Panther). 7. Die Übung kann nach der Lektüre von Kap. 5.1 und 5.2 beantwortet werden. 8. Ein Komma als verknüpfendes Element führt zu einer Mehrdeutigkeit zwischen den beiden Lesarten, die zu (156) genannt wurden. Das Komma kann eine ko‐ ordinierende Wirkung haben, d. h. es werden zwei gleichrangige referenzielle Sachverhalte genannt wie in der Version mit Semikolon oder Punkt. Es kann aber auch als subordinierend gelesen werden wie in der Version mit Doppelpunkt. Eine 222 Anhang <?page no="223"?> solche Verwendung des Kommas in Äußerungen des Sagens oder Denkens ist üblich (Sie hat gesagt, sie versteht das nicht/ Ich glaube, ich gehe heute früh ins Bett). 9. Da, dort und hier sind keine Konnektoren, denn grammatisch verbinden sie keine Sätze. Sie können allerdings Ortsangaben aus dem vorherigen Text anaphorisch wieder aufnehmen (In München steht ein Hofbräuhaus. Da ist jeden Abend Party) und fungieren so als Kohärenzmittel. 10. Entgegen der wörtlichen Bedeutung soll oder hier angeben, dass die genannten Referenten nur eine beispielhafte Auswahl aus einer größeren und nur vage angebbaren Menge von Referenten darstellen. Dies wird deutlich in den Verknüp‐ fungen mit wie (177): Michelle und Jürgen Drews sind (ziemlich beliebige) Beispiele für Promis. (176) ist eventuell eine Verkürzung des Ausdrucks egal, ob jemand Hobbyfahrer oder routinierter Sportler ist, er war dabei. 12. Die Lösung finden Sie in folgendem Aufsatz: Schwarz (2001). 13. Die Lösung finden Sie in folgendem Aufsatz: Schwarz (2001). 15. Das Lexem Scharführer wird beim kundigen Leser die Domäne NAZIZ E IT aktivieren. Wenn auch sonst keine sehr spezifischen Ausdrücke zu dieser Domäne verwendet werden, so lässt sich doch der Rest des Textes (‚Befehle hallen, Jungen mit Armbinden und Kurzhaarfrisuren‘) kohärent einer solchen Domäne zuordnen. Dadurch wird der Text sowohl lokal als auch global kohärent. 16. S. Erklärung in Kap. 5.4. 17. S. Erklärung in Kap. 5.3. 18. Wenn ein Text an jeder Stelle lokal kohärent ist, weist er zumindest keine Kohärenzbrüche auf, auch wenn er vielleicht in dynamischer Progression von Thema zu Thema fortschreitet. Globale Kohärenz ist hingegen auch ohne lokale Kohärenz erzielbar, etwa wenn Textteile nur durch eine gemeinsame Domäne, die durch die Überschrift aktiviert werden könnte, verbunden sind. 19. S. Kap. 6.5. 20. Bei der Textgestaltung (Produktion) geht der Sprecher/ Schreiber vom Textthema als Basis seiner Konzeptualisierung aus, entfaltet dieses dann nach dem Prinzip der Elaboration und Expansion in der Formulierung (s. hierzu Brinker 7 2010: 49 ff.). 21. Der Titel hilft nicht besonders. Verwandlung hat vielfältige Bedeutungen; es kann eine physische oder psychische Verwandlung sein. Die im Text beschriebene Verwandlung eines Menschen in einen großen Käfer ist nicht erwartbar, denn sie entspricht nicht dem Standardweltwissen, wie Menschen sich möglicherweise verändern können. Um den literarischen Text zu verstehen, reicht eine Kohären‐ zetablierung aufgrund von Weltwissen daher nicht aus, es bedarf zusätzlicher Interpretation. S. Kap. 6.2. 22. Superstrukturen betreffen textsortenspezifische Muster. Bei narrativen Texten z. B. beinhaltet die Superstruktur die globale Organisation (Einführung von Figuren, Entwicklung und Auflösung des Plots etc.), bei Lyrik auch die formale Organisa‐ tion, z. B. die festgelegte Form eines Sonetts. Auch hierdurch werden Erwartungen des Lesers gesteuert, wie im Kapitel über Textsorten schon beschrieben wurde. Lösungen zu Übungen und Denkanregungen 223 <?page no="224"?> 23. Zum generalisierenden Verweis auf Makrostrukturen eignen sich Komplexana‐ phern (s. Kap. 5.5.2) wie all dieser Ärger (als Zusammenfassung für ein zuvor aus‐ führlich beschriebenes Geschehen). Sollte die Komplexanapher Gliederungsmerk‐ male des Textes benennen (die These des vorigen Kapitels, die Zusammenfassung am Ende dieses Abschnitts), spricht man auch von Textdeixis oder metatextuellen Verweisen. Vgl. auch Schnotz (1986). 24. Der Titel des Textes ist: Mein schönster Urlaub war vor 2 Jahren auf Ovalau/ Fiji Inseln. Dies entspricht schon einer Makroproposition wie ‚Mein Urlaub auf Ovalau war sehr schön‘. Die relativ unpersönliche Beschreibung im Text, die auf Einrich‐ tungen am Urlaubsort und weniger auf persönliche Erlebnisse abzielt, lässt sich durch Weglassung der geografischen Information am Anfang und Integration der übrigen Fakten aber eher zur Makroproposition ‚Ovalau ist als Urlaubsziel empfehlenswert‘ abstrahieren. 25. Der Text ist semantisch so dicht, dass man ihn nicht bzw. nur sehr schwer weiter zusammenfassen kann, d. h. nichts auslassen oder integrieren, ohne dass wesentliche Bedeutungsdimensionen verloren gehen. Hier greift nur die Regel der Abstraktion, die zur Makrostruktur ‚Es geht um bewusste und unbewusste Prozesse‘ führt. 26. Durch Auslassung unwichtiger Propositionen wie ‚Gruppe sah ein Feuerwerk‘ und Integration gelangt man zu den Makropropositonen ‚Die Gruppe verpasste ihre Fähre‘ und ‚Die Gruppe übernachtete am Hafen im Freien‘. 27. In der Textsorte Fabel wird die Makroproposition explizit als Moral an den Schluss des Textes gestellt. Diese ist eine Generalisierung; es wird vom konkreten Aktanten und der raumzeitlichen Einbettung seiner Geschichte abstrahiert. Die Makroproposition ist in diesem Fall also keine Zusammenfassung. Das Textthema würde man eher mit ‚Fuchs versucht, Trauben zu erreichen‘ angeben. 28. Durch die elliptische Struktur und die Rekurrenzen wird der referenzielle Sach‐ verhalt ‚Wiederholtes Anwählen von Jonas‘ fokussiert. Nicht erfasst wird hierbei jedoch die wichtige, inferenziell zu erschließende Information, dass sich die Protagonistin in einem emotional aufgeregten/ nervösen Zustand befindet. 29. Es handelt sich um eine lineare thematische Progression mit wechselnder Aktivie‐ rung und Re-Aktivierung. 30. Wir stellen Themenkonstanz fest bezüglich der wichtigsten Textreferenten, wie sie schon in der Überschrift genannt werden, zwei Männer und Polizisten (unbe‐ kannter Zahl). Diese werden re-aktiviert mit die beiden Männer, sie, den beiden Männern usw., bzw. mit der Besatzung eines Streifenwagens (worunter wir uns typischer Weise zwei Polizisten vorstellen), die Beamten usw. An einigen Stellen kommt es aber auch zur Spaltung der beiden Rhemata: Ein 26-jähriger Autofahrer und sein Beifahrer (19) schlüsselt ZWE I MÄNN E R näher auf, ohne dass aber die beiden Referenten getrennt handeln. Dies ist erst weiter unten der Fall, wo mit der Fahrer einer der beiden Referenten herausgelöst wird und als Einzelperson handelt. Ebenso wird mit eine Polizistin (33) eine einzelne Person von der zuvor benannten 224 Anhang <?page no="225"?> Gruppe der Polizisten abgespalten. Etwas überraschend wirkt weiteren Polizisten am Ende, wodurch die Lesart entsteht, es seien (mittlerweile) doch mehr als die zwei Beamten, die typischer Weise eine Streifenwagenbesatzung bilden, anwesend. 32. Diese Unterscheidung findet sich seit Halliday/ Hasan (1976). Endophorische Re‐ ferenz meint anaphorische und kataphorische Bezüge innerhalb von Texten, exophorische Referenz Bezüge auf die außersprachliche Welt. Endophorische Referenz ist aber zugleich immer auch exophorisch. 33. In beiden Beispielen muss die implizite Kohärenzrelation etabliert werden, dass die im ersten Satz genannte Unterstützung in den Tanzstunden besteht, die im jeweils zweiten Satz erwähnt werden. Er und ihm können aufgrund ihrer gram‐ matischen Merkmale (3. Person, Singular, maskulin) Anaphern zu den möglichen Antezedenten der junge Mann und seinem damaligen Tanzlehrer Karsten sein. In (272) zeigt der zweite Satz eine prototypische Rollenverteilung: Der Tanzlehrer ist Agens (d. h. er gibt den Unterricht, also referiert das Subjekt er auf den Tanzlehrer), so dass der andere Referent, der junge Mann, noch als Referent für das Objekt ihm übrig bleibt. In (272‘) dagegen ist sowohl die Annahme plausibel, dass der junge Mann sich als Schüler über Extrastunden freut, als auch, dass der Lehrer sich (wegen des Honorars) darüber freut. Im zweiten Beispiel bleibt das Pronomen er also mehrdeutig. Eine eindeutige Referenz auf Karsten wäre mit der oder dieser möglich. 34. Auch die DRT arbeitet mit einem zweistufigen Referenzmodell, insofern sie eine von der realen Welt abgehobene mentale Modellwelt annimmt. Der Suchraum für Referenten ist also ebenfalls ein mentaler Diskurs-Textraum. Die DRT kann aber nur sehr begrenzt den natürlichen Reichtum anaphorischer Relationen und den Prozess ihrer Verarbeitung erfassen, da sie anstatt mit natürlichen Sprachdaten mit kurzen, künstlichen, zumeist zurechtgestutzten Satzsequenzen arbeitet. Die Rolle des konzeptuellen Wissens, wie es zur Beurteilung von Plausibilität einer anapho‐ rischen Relation erforderlich ist, ist durch den sehr formelhaften Algorithmus der Anaphernzuordnung nicht abbildbar. Empirisch orientierte Modelle berücksichti‐ gen sowohl Weltwissen als auch Inferenzen im Rahmen von Gedächtnismodellen. 35. Der Leser muss inferieren, dass das erwähnte Auto zwecks Verschrottung zum Schrottplatz gebracht wurde und in die Metallpresse gekommen ist. Man kann sagen, dass der Referent 1 eine gravierende ontologische Veränderung erfahren hat, um zu Referent 2 zu werden, aber im materiellen Sinne sind es dieselben Referenten. 36. Der ziemliche unbestimmte, plurale Referenzknoten aus der Überschrift wird im Text aufgespalten in zwei einzelne Referenten. Diese werden (in einer gramma‐ tischen Konstruktion namens enge Apposition) jeweils mit ihrer bekanntesten TV-Rolle, also einem Verweis auf eine fiktive Welt, und ihrem Namen bezeichnet. Fieslinge nimmt ausschließlich Bezug auf die TV-Rollen. 37. Nach dem pragmatischen Prinzip der Kooperation sollte der Sprecher möglichst genaue Angaben machen. Wenn er dies nicht tut, kann dies bedeuten, dass er nicht Lösungen zu Übungen und Denkanregungen 225 <?page no="226"?> mehr weiß. Möglich ist aber auch, dass er nicht voll kooperiert und Genaueres verschweigt, weil er sich nicht festlegen will (z. B. in Wahlkampfreden). 38. Zunächst wird der Referent kataphorisch mit zwei Pronomina (er) eingeführt, dann näher spezifiziert durch den Postzedenten Helmut Dietl. Darauf folgt eine Aufzählung von Spezifikationsanaphern. Das in Ist Ihnen das recht? ist eine Komplexanapher, ihr Antezedent ist der Satz davor. 39. S. Kap. 5.5. 40. Mit der Bühne, die Schauspieler, Tänzer und Maskenbildner finden sich schema-ba‐ sierte indirekte Anaphern. Sie benennen typische Rollen und Requisiten des Skripts Theater; Theater ist somit der Anker. 41. S. Bsp. (178) und (179) in Schwarz (2000a: 131). 42. S. hierzu Kap. 6.3. Kapitel 6 1. Der Titel aktiviert eine bestimmte Domäne, das Schema HO LL YWO OD ( T R AUM F AB R IK / F ILMME T R O P O L E etc.). Die dadurch entstehenden Erwartungen werden jedoch nicht bestätigt, denn in der ersten Zeile wird das MA R KT -Schema aktiviert. Diese Diskre‐ panz führt zur Verfremdung, intensiviert durch die semantische Deviation von Lügen kaufen. Die Inferenz ‚Der Showbusinessbetrieb von Hollywood lebt von Lügen und Illusionen‘ ist zu ziehen, damit die sozial-politische Kritik erkannt wird. 3. Ohne kontextuelle Informationen können wir diesem Gedicht viele verschiedene interpretative Lesarten zuordnen: Eine davon könnte (wenn wir uns allein an die Textsemantik halten) lauten: Das Gedicht beschreibt den Hilferuf zweier oder mehrerer Kinder, die unter dem strengen Regiment ihrer Mutter (die Sirene), einer Zeugin Jehovas (Wachttürme; in der Lesart von sieben relevanten Wachturmzeit‐ schriften) ihr Leben fristen. Das Gedicht ist ein Plädoyer aller Kinder für eine liebe- und verständnisvollere Behandlung von Kindern seitens der Eltern, die nicht durch andere Dinge wie Beruf oder Religion beeinflusst werden darf. 4. Die Autorenintention zu rekonstruieren, indem man alle Inferenzen hinzuzieht, die uns dabei helfen können, bleibt immer ein Versuch. Das Moment der Subjektivität bleibt bestehen. Jeder Leser bringt sich mit in den Interpretationsprozess ein. Jeder Text hat aber durch Textgrammatik und -semantik ein bestimmtes intersubjektives Sinnpotenzial, das allzu willkürlichen und individuellen Auslegungen Grenzen auferlegt. Die Textsemantik schränkt das Auslegungspotenzial ein: Ein Gedicht über Astern wird nie als Kochanleitung, Dantons Tod nicht als politische Rede über das 20. Jahrhundert interpretiert werden. 5. Siehe Kap. 4. und 5.3. 6. Um den kommunikativen Sinn solcher (erfolgsorientierten) Werbetexte zu verste‐ hen, müssen auch Inferenzen gezogen werden, aber dies sind keine interpretativen Inferenzen. Zwar ist eine ästhetische Dimension nicht ausschließlich in literari‐ 226 Anhang <?page no="227"?> schen Texten zu finden, aber nur hier eröffnet sich das kommunikative Bedürfnis, den Text zu deuten, ihn auszuloten, seine poetische Funktion zu erspüren. 7. Die monumentalen Ereignisse der Menschheitsgeschichte werden aus der (in der Geschichtsschreibung vernachlässigten oder ausgeklammerten) Sicht der „kleinen Leute“, der arbeitenden Bevölkerung gesehen. Dadurch wird fokussiert, dass große Taten/ Bauwerke durch viele Menschen zustande kommen; das Gedicht erhält eine sozial-politische Dimension. 8. Da Homöopathie umstritten ist, werden positive und negative Sicht (Anhänger und Gegner) referenzialisiert. Die Beiträge sollen so den Eindruck von Meinungs‐ pluralität vermitteln. 9. Die Lösung finden Sie in Kap. 6.3 und in Schwarz-Friesel ( 2 2013: Kap. 5). 10. Hier liegt eine Symbiose aus auktorialer und personaler Erzählstruktur vor. So wird der Protagonist einerseits übergeordnet wertend und klassifizierend eingeführt, z. B. durch ein weiches Kind, andererseits wird subjektiv aus Sicht des Kindes berichtet, was durch deiktische Ausdrücke wie dort drüben deutlich wird. 11. Der Text beinhaltet eine deutschnationale und rechtsextreme Einstellung. Diese wird implizit durch Ausländerfeindschaft und Entwertung von Migranten in Deutschland vermittelt sowie durch Fokussierung des Deutschen. Mittels stark evaluativer Anaphern wie der jüngsten Tatarenmeldung, dem multikulturellen Absurdistan wird versucht, Furcht vor „Überfremdung“ zu schüren. 12. Der Text hat ein hohes Emotionspotenzial, da durch die Kontrastierungsstrategie (die verschuldeten Europäer versus wir) sowie die düstere Prognose (evtl. Geld‐ verlust) Furcht geweckt wird. 13. Legen Sie zunächst eine Synopse an, in die Sie die von Brinker (2000) formulierten Komponenten eintragen. Ordnen Sie diesen dann die Textstellen zu, in denen die jeweiligen Komponenten sprachlich umgesetzt worden sind. Im Vergleich wird Ihnen auffallen, dass sowohl in Beispiel (307) als auch in Beispiel (308) Ironie eine große Rolle spielt, während die Schreiben (308) und (309) inhaltliche Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Schwere der angedrohten Tat aufweisen. In (307) wird eine ironische Distanz zur Tat selbst etabliert. Das geschieht dadurch, dass der Gegenstand der Forderung letztlich nicht moralisch zu verurteilen ist. Hinzu kommt, dass der Schreiber einen Sympathieträger als Alter Ego gewählt hat und mit der äußeren Form des Erpresserbriefes eine Art Persiflage auf eine Straftat wie Erpressung konstruiert. In (308) entsteht der Eindruck von Ironie zunächst dadurch, dass das Erpresserschreiben in die Form einer Rechnung gebracht wurde. Die Komponente „Drohung/ direktiv“ wird zweimal durch Angebote, die Geldfor‐ derung zu reduzieren (Skonto), revidiert. Wie bereits im Kapitel erwähnt, trägt auch die Lexemwahl (Brandschutztest für Brandanschlag) zu einer spöttischen Wirkung bei. In (309) ist die diskontinuierliche Themenentfaltung insbesondere im Hinblick auf die Komponente „Drohung/ direktiv“ auffällig. Eine Handlungsanweisung muss der Empfänger des Briefes mühsam rekonstruieren. Lösungen zu Übungen und Denkanregungen 227 <?page no="228"?> 14. Zunächst ist festzustellen, dass die Texte (310) und (311) keine Erpresserschreiben sind. Bei (310) handelt es sich um eine Ankündigung, dass der Keks zurückgegeben werden soll, bei (311) um die Mitteilung, dass der Keks zurückgegeben wurde. Dennoch enthält (310) eine typische Komponente eines Erpresserbriefes, die als „Drohung/ direktiv“ aufzufassen ist: Halt Polizei. Wenn also in (307) der Eindruck entstand, der Autor des Schreibens wolle eine Persiflage auf Erpresserschreiben kreieren, findet sich in dieser Hinsicht in (310) eine Gemeinsamkeit. Da der Brief keine Angaben zur Übergabe enthält, sondern lediglich eine Ankündigung, ist eine Forderung wie „keine Polizei“ hier redundant. Der Autor des Schreibens setzt sie aber trotzdem ein und karikiert damit die Textsorte Erpresserbrief. Auffällig in (310) und (311) sind die Verniedlichungsform Werni für den Chef von Bahlsen, Werner Michael Bahlsen und Äußerungen, die an eine kindliche Sprache erinnern: der jetzt immer weint, (freut sich) ganz dolle, der (Werni). Sowohl in Beispiel (307) als auch in Beispiel (310) kommt die Wendung lieb haben in Bezug auf den Keks vor. In allen drei Schreiben wurde eine Klebetechnik verwendet. 15. Da eine strikte Unterscheidung von Emotion und Kognition aus kognitionswissen‐ schaftlicher Sicht nicht gegeben ist, scheint auch eine Trennung von argumenta‐ tiven und suggestiven Strategien nicht sinnvoll. Die Praxis zeigt, wie argumentativ eingestufte Strategien tatsächlich pseudo-rational sind und suggestiv wirken, umgekehrt suggestive Strategien eher argumentative Züge tragen können. 16. Es wurde die Strategie der referenziellen Unterspezifikation nach dem Prinzip „Weniger ist mehr“ genutzt sowie eine Art der Klimax, die das Fahren besonders fokussiert und positiv bewertet. 17. Es handelt sich um das Merkmal der Intertextualität, eine Anspielung auf das Vater Unser. Zur persuasiven Funktion von Intertextualität in der Werbung s. Schwarz-Friesel (2003). 19. Es ist dies die Interaktion von Referenzialisierung mit der Aktivierung eines Bedrohungsgefühls und referenzieller Unterspezifikation. 20. S. Abschnitt 6.5.2. 228 Anhang <?page no="229"?> Tipps für Studienarbeiten Wie finde ich ein Thema für eine textlinguistische Seminar- oder Abschlussarbeit, wie gehe ich an die Aufgabe heran? Dozent/ inn/ en lassen einem unterschiedliche Freiheiten, was die Themenwahl für eine Seminararbeit betrifft. Ein Thema weitgehend selbst zu bestimmen, ist eine große Verantwortung: Der Erfolg Ihrer Arbeit wird schon durch die Themenwahl vorbestimmt. Natürlich wird jede/ r Dozent/ in erwarten, dass Ihr Thema in klarem Zusammenhang mit dem Seminarthema steht - sei es inhaltlich oder sei es methodisch. Sprechen Sie das ab - kreative Vorschläge Ihrerseits kommen in der Regel besser an als Interesselosigkeit. Zunächst einmal sollten Sie ein Thema wählen, das Sie wirklich interessiert, und keines, das Sie für „das Einfachste“ halten. Nutzen Sie schon das laufende Seminar für Denkanregungen! Dann überlegen Sie: Arbeiten Sie gerne mit viel Forschungsliteratur, die Sie auswerten und aufeinander beziehen müssen? Dann kommt eine theoretisch ausgerichtete Arbeit in Frage, und das Thema sollte in der Forschungsliteratur schon entsprechend diskutiert worden sein, am besten kontrovers, damit Sie Raum für eine eigene Stellungnahme finden. Wenn Sie dagegen lieber unbehelligt von allzu großen Bücherbergen mit eigenen Daten arbeiten wollen, suchen Sie besser ein Nischenthema, bei dem Sie innovativ sein können. Solche Themen, die am Rand der Linguistik zu liegen scheinen, können durchaus interessant sein und die Linguistik weiterbringen: So sind Liveticker auf Internetseiten oder im Videotext, die über den Verlauf eines Fußballspiels informie‐ ren, sicherlich kein zentrales Textphänomen. Als Textsorte, die visuelle Ereignisse sehr zeitnah in eine äußerst knappe sprachliche Form bringen muss, sind solche Fußball-Liveticker aber ein interessanter Analysegegenstand, an dem man exempla‐ risch Strategien der sprachlichen Visualisierung oder etwa stilistische Verknappung durch zeitlichen Produktionsdruck und das Emotionspotenzial zeigen kann (und dies ist bloß ein Beispiel von Hunderten; s. zur Fußballlinguistik https: / / fussballlingui stik.de/ ). Online-Influencer-Kommunikation, Shitstorms oder online-Dating-Profile hinsichtlich ihrer texuellen und persuasiven Eigenarten zu untersuchen, kann ebenfalls ein spannendes und innovatives Thema sein (s. z. B. Thamke 2018). Zunächst sollten Sie also recherchieren, ob ein Thema schon viel bearbeitet ist oder eher Neuland - dabei hilft der Bibliothekskatalog ebenso wie Recherchetools (z. B. a cademia.edu, Research Gate oder Google Scholar. Hilfreich sind die BLL. Bibliografie Linguistischer Literatur (1976 ff.), CCL. Current Contents Linguistik. Inhaltsverzeich‐ nisse linguistischer Fachzeitschriften (1974 ff.), und GERMANISTIK. Internationales Referatenorgan mit bibliografischen Hinweisen (1960 ff.) sowie KOBV: https: / / www.k obv.de/ . Sehen Sie in das Literaturverzeichnis von Einführungsbüchern oder auch Seminar‐ plänen und finden Sie von dort aus die Spezialliteratur zu Ihrem Thema. Für die Erstellung des Literaturverzeichnisses können Literaturtools wie Citavi (kostenpflich‐ tig, vielleicht hat Ihre Uni eine Campuslizenz! ) oder Zotero (kostenfrei) hilfreich sein. Vermeiden Sie auf jeden Fall, bloße Zusammenfassungen auf Einführungsniveau oder Tipps für Studienarbeiten 229 <?page no="230"?> gar aus Fachlexika wiederzugeben - diese kann man schon an genug anderen Stellen finden. Formulieren Sie am Anfang Ihrer Arbeit eine ganz konkrete Fragestellung oder Hypothese, die sich als roter Faden durch Ihren ganzen Text ziehen muss. Lassen Sie sich nicht von der Forschungsliteratur treiben, sondern werten Sie sie im Hinblick auf Ihre Fragestellung aus. Arbeitshypothesen könnten z. B. lauten „In massenmedialen Texten zur Krisenberichterstattung Trump als USA-Präsident finden sich frequent negativ evaluierende Spezifikations- und Komplexanaphern“ oder „In online-Dating-Plattformen dominieren suggestive Textstrategien der positiven Selbstdarstellung“ oder „Der Spannungsbogen in den Kriminalromanen von Volker Kutscher wird durch den Einsatz von Kataphern an den Kapitelanfängen intensiviert“. Eine Arbeitshypothese sollte also sowohl das linguistische Phänomen als auch den gewählten Untersuchungsgegenstand präzise benennen. Eine theoretische Arbeit, die keine eigenen Datenanalysen enthält, sollte einen umfassenden Überblick über die Forschungslage geben und - als eigene Leistung - Forschungspositionen ordnend zusammenfassen, z. B. zum Thema Textwelt-Modelle: „Alle textlinguistischen Ansätze nehmen eine inhaltliche Repräsentation des Textes an, die abstrakter ist als sein Wortlaut. In kognitiven Ansätzen stehen die mentalen Prozesse im Vordergrund, die bei der Entstehung einer solchen Repräsentation wäh‐ rend der Rezeption ablaufen, und die entsprechenden Theorien erheben Anspruch auf psychologische Plausiblität.“ Nun nennen Sie konkret die Autor/ inn/ en und Begriff‐ lichkeiten, die Sie dieser Richtung zuordnen, z. B. Textwelt-Modell-Theorie, mental models. „Im Gegensatz dazu sind formalsemantische Ansätze darum bemüht, eine möglichst enge, formal beschreibbare Beziehung zwischen der inhaltlichen Repräsen‐ tation und der syntaktisch-semantischen Struktur des Textes herzustellen“ (z. B. die Diskurs-Repräsentationstheorie). Damit haben Sie die zunächst unübersichtliche Fülle der Forschungsliteratur in zwei Gruppen geteilt und sich selbst und Ihren Lesern einen Überblick verschafft. Nun sollten Sie zu eigenen Bewertungen kommen. Es geht nicht darum, den einen Ansatz gut und den anderen schlecht zu finden. Prüfen Sie, welcher Ansatz Ihnen für Ihre spezielle Fragestellung geeignet erscheint, und geben Sie keine Geschmacksurteile ab, sondern differenzierte Argumente. Wenn Ihr Thema „Die Rolle des Weltwissens bei der Verarbeitung indirekter Anaphern“ war, werden Sie wahr‐ scheinlich einer kognitiv orientierten Theorie wie der Textwelt-Modell-Theorie den Vorzug geben, wo Prozesse der Integration von Weltwissen und textueller Information eine zentrale Rolle spielen, während formale Ansätze gerade erst beginnen, über die reine syntaktisch-semantische Struktur hinauszublicken. Geht es Ihnen jedoch um eine computerlinguistische Anwendung, werden Sie vielleicht feststellen: Formalisierungen bringen zwar keinen psychologischen Gewinn, und ihre Anwendung auf natürliche Sprache ist problematisch, formale Ansätze sind aber doch eine handfestere Grundlage für Ihre Anwendung. Wenn Sie wissenschaftliche Texte lesen, sollten Sie sich also darüber im Klaren sein, aus welcher Forschungstradition diese kommen und dass sie Dinge sehr einseitig dar‐ stellen könnten. Sie müssen sich aber nicht von solchem Lagerdenken vereinnahmen 230 Anhang <?page no="231"?> lassen: Besonders innovativ wäre es, Nützliches aus verschiedenen Ansätzen zu einem neuen Modell zusammen zu bringen. So gibt es z. B. computerlinguistische Arbeiten, die den theoretischen Vorsprung kognitiver Theorien in Sachen Weltwissen nutzen und in ein formales Modell einzubauen versuchen. Im Prinzip gilt das gerade Gesagte für jede theoretische Auseinandersetzung in einer wissenschaftlichen Arbeit, auch dann, wenn eigene Daten erhoben und analysiert werden. Je aufwändiger die Datenarbeit, desto überschaubarer kann aber die Theorie‐ diskussion dimensioniert werden. Auf keinen Fall sollten Sie in einer empirischen Arbeit eine Theoriediskussion beginnen, die nichts mit Ihren Daten zu tun hat. Sollte eine Arbeit einen „theoretischen Teil“ mit vielen Literaturzitaten haben und dann einen „empirischen Teil“, der auf die Forschungsliteratur gar nicht mehr zurückkommt, so ist die Arbeit vermutlich inkohärent. Sprechen Sie also nur theoretische Fragen und Kontroversen an, zu denen Sie anhand Ihrer Daten auch Stellung beziehen können, und bringen Sie am Ende Theorie und Ihre Erkenntnisse aus Ihren Daten zusammen. Eine Möglichkeit ist, empirisch ungeprüfte Forschungsaussagen aus der Literatur zu nehmen und selbst mal zu testen. Beispiel: In einer Schulgrammatik lesen Sie, dass Anaphern immer bedeutungsärmer sind als ihr Antezedent. Schon mit einer kleinen explorativen Korpusstudie werden Sie das Phänomen der Spezifikations-Anaphern entdecken (Ein Mann … der 38-Jährige) und diese Behauptung widerlegen. In den meisten Fällen mündet eine empirische Überprüfung aber in einer Differenzierung der Aussage, z.B.: Ironisch formulierte Kritik wirkt freundlicher als nicht-ironische (Schwarz-Friesel 2009). Eine Fragebogenstudie ergibt: Dies bestätigt sich für informelle, private Situationen. Für die Kritik in formellen Situationen, etwa eines Abteilungslei‐ ters an einem Untergebenen, scheint jedoch das Gegenteil zu gelten. Natürlich kann man auch eine eigene Idee oder Fragestellung verfolgen. Auch dies geht natürlich nicht ohne etwas Recherche in der Literatur, schließlich wäre es peinlich, wenn die vermeintlich eigene Idee ein alter Hut und schon viel publiziert ist. Ansonsten brauchen Sie genügend Literatur, um Ihr spezielles Thema im Forschungszusammen‐ hang zu verorten. Auch hier gilt: Keine seitenweisen Zusammenfassungen aus der Einführungsliteratur! Dann überlegen Sie sich, wie man Ihre Fragestellung oder These so exakt formuliert, dass sie mit Daten getestet werden kann (s. „Operationalisierung“ im Methodenkapitel 2.4). Welche Daten sind geeignet, z. B. Fragebogen oder Korpus? Wenn Korpus: Für welche Textsorte soll Ihre These gelten, und welche Datenquelle bietet sich für diese Textsorte an? Es sollte klar sein, dass eine Korpusstudie niemals „die deutsche Sprache“ repräsentieren kann, sondern immer nur eine Stichprobe aus einer bestimmten Textsorte ist. Arbeiten Sie lieber mit einem engen Anspruch (z. B. mit einer Hypothese über das Emotionspotenzial in der Berichterstattung der Bild-Zeitung über die Eurokrise statt in Zeitungstexten allgemein), und gehen Sie dafür mehr in die Tiefe. In einem Fazit oder Schlusswort können Sie dann prospektiv Gedanken über die Generalisierbarkeit Ihrer Ergebnisse und Anwendungen auf andere Textsorten äußern. Eine Korpusstudie im Rahmen einer Seminararbeit kann nur selten eine so große Datenmenge verarbeiten, dass ihre Ergebnisse statistisch belastbar sind. Legitime Ziele Tipps für Studienarbeiten 231 <?page no="232"?> quantitativer wie qualitativer Studien (hierzu s. Kap. 2.4) können auch sein: Ist mein Verfahren überhaupt geeignet, die entsprechenden Variablen zu erfassen? Kann ich z. B. in einem Korpus von Zeitungsartikeln überhaupt Strategien der Emotionalisie‐ rung finden und systematisieren? Ist mein Fragebogentest geeignet, die Persuasivität eines Textes zu messen? Kommt etwas heraus, das zumindest systematische Tendenzen erkennen lässt? Man nennt solche Untersuchungen Pretest, also den Test vor dem Test. Im Vordergrund steht die methodische Diskussion des Verfahrens selbst. Ein weiterer Nutzen solch kleiner Studien ist eine Rückkopplung zwischen theore‐ tischen Termini und empirischer Forschung: Sind die Begriffe, die die Forschungslite‐ ratur bereitstellt, scharf und klar genug für meine Studie? Schon exemplarische Studien mit einer relativ kleinen Datenmenge können helfen, Defizite in terminologischen Systemen aufzudecken, Kategoriensysteme zu verfeinern und Beschreibungslücken zu schließen. Wenn Sie sich entschieden haben, mit Daten aus der aktuellen öffentlichen Kom‐ munikation zu arbeiten, bieten sich die Online-Ausgaben der großen deutschen Tages‐ zeitungen oder Journale an (z. B. www.spiegel.de). Mit der Datenbank wiso (www. wiso-net.de), die viele Hochschulen deutschlandweit lizenziert haben, können Sie in Archiven von Tages- und Wochenzeitungen sowie Fachzeitschriften mit konkreten Suchaufträgen recherchieren. Hilfreich ist auch Nexis Uni. Die Seite des Deutschen Bundestags (www.bundestag.de) bietet Manuskripte von Reden, Protokolle von Plenardebatten. Beachten Sie, dass solche Dokumente nicht wie Transkripte gesprochener Sprache behandelt werden können; sie haben Überar‐ beitungsschritte hin zur Verschriftlichung durchlaufen. Wenn Sie gesprochene Sprache aus der öffentlichen Kommunikation untersuchen wollen: Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten verfügen über gute Mediatheken (z. B. unter www.ard.de), wo Sendung mindestens sieben Tage nach Ausstrahlung gratis abrufbar sind. Die Transkription mündlicher Diskussionen kann etwas mühsam sein. Mit Transkriptionstools kann man sich den ersten Aufwand erleichtern (z. B. mit dem AmberScript). Für textlinguistische Zwecke sind in der Regel keine phonetischen Transkriptionen notwendig, wenn es aber etwa um Emotionalisierung geht, sollten Merkmale wie Sprechlautstärke, Pausen und Überlappungen mit notiert werden. Die gebräuchlichste Konvention hierfür ist GAT2 (Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem, eine aus‐ führliche Anleitung finden sie hier: www.mediensprache.net/ de/ medienanalyse/ trans cription/ gat/ gat.pdf). Daten aus nicht-aktueller Mendienkommunikation für Vergleiche historischer Pha‐ sen sind schwieriger zu besorgen, da in Deutschland kein zentrales Pressearchiv existiert. Es gibt aber kostenlose Online-Archive von Tageszeitungen und Journale, z.B. www.spiegel.de/ spiegel/ print/ Dieses Archiv enthält Spiegel-Texte seit 1947. Auch die Bundestagsseite bietet ein Archiv mit Protokollen seit 1949: www.bundestag.de/ dokumente/ protokolle/ index.html. 232 Anhang <?page no="233"?> Auch einige fertige Korpora stehen online zur Verfügung. Man muss sich anmelden, aber i. d. R. nichts bezahlen, z. B. beim Institut für Deutsche Sprache (www.ids-mann heim.de/ kl/ corpora.html). Hier gibt es Korpora zu verschiedensten Textsorten, auch transkribierte mündliche Kommunikation, auch älteren Datums. Für Fragen an der Schnittstelle zwischen Grammatik und Textlinguistik gibt es syntaktisch vorannotierte Korpora, deren vollständige Nutzung Kenntnisse in der jeweils verwendeten Software verlangt, z. B. das TiGer-Corpus, das Texte aus der Frankfurter Rundschau aus den 1990er Jahren enthält (www.ims.uni-stuttgart.de/ fors chung/ ressourcen/ korpora/ tiger.html). Für die Erstellung und Analyse u. a. von massenmedialen Texten gibt es kostenfreie Analysetools wie Catma (https: / / catma.de/ ) und AntConc (besonders für quantitaive Aspekte relevant). Fragen Sie bei Ihrer Universität, ob sie diese kostenpflichtigen Tools wie Maxqda oder Sketch Engine lizenziert hat. Ein sehr spezialisiertes Lehrbuch zu Statistik in quantitativen linguistischen Arbeiten ist Baayen 2008. Ausführliche Tipps zur Gewinnung von und Umgang mit Daten in gesprächslingu‐ istischen Arbeiten finden Sie auf einer Seite der Uni Jena: https: / / www.gw.uni-jena.d e/ 176/ infos-fuer-studierende. Allgemeine Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten in der Linguistik liefert das Narr-Studienbuch Rothstein et al. ( 2 2022). Denken Sie bei Ihrer Datenarbeit daran, nicht den Bezug zu Ihrer Fragestellung und zur zuvor diskutierten Forschungsliteratur zu verlieren. Ein bloßes kommentierendes Nacherzählen Ihrer Texte bringt wenig Gewinn, und Kohärenz sollte auch für Ihre Arbeit das wichtigste Textualitätskriterium sein. Die folgende Liste gibt Beispiele, wie man Phänomene, auf die man Texte untersucht, nach linguistischen Beschreibungsebenen (von kleinen zu großen) ordnen kann. Linguistische Analyse- Ebene Phänomen Morpheme und Lexeme Semantische Merkmale, Denotation (Grundbedeutung)/ Kon‐ notation (emotive Zusatzbedeutung), Isotopie, Schema- und Skript-Aktivierung durch einzelne Lexeme, Referenzialisierung und lexikalische Evaluierung (z. B. durch Pejorativa wie Karre, Köter, abkratzen, flennen), Lexeme sinnlicher Wahrnehmung (dunkel, laut, süß, zart), Konnektoren und Rekurrenz (Wortwiederholung) als Kohä‐ sionsmittel. Hyperonymie/ Hyponymie (semantische Über- und Unter‐ ordnung). Definitheit (z. B. durch bestimmten Artikel, Personal‐ pronomen), Emotionspotenzial durch emotionsbezeichnende (Angst, ängstlich) und -ausdrückende (ih, scheußlich) Lexeme, durch Hochwertwörter (Freiheit, Frieden) und Stigmawörter (Terro‐ rismus, Diktatur). Satz und Satzglieder Mikrostrukturen und ihre Propositionen, grammatische At‐ tribute und Satzarten, Tipps für Studienarbeiten 233 <?page no="234"?> syntaktische Textsortenmerkmale (z. B. Anfangs- und Schluss‐ formeln wie Es war einmal, mit freundlichen Grüßen), Evidenzmarkierungen (z. B. offensichtlich, nach Augenzeugen‐ berichten). Text (satzübergreifend) Thema-Rhema der Informationsstruktur mit thematischer Progression, Diskurstopik, Makroproposition(en) und Text‐ thema, lokale und globale Kohärenz. Komplexes Textwelt-Modell durch Aktivierung, Re-Akti‐ vierung und De-aktivierung von Text-Referenten, Typen von Anaphorik, semantische und konzeptuelle Rela‐ tionen, Emotionspotenzial durch Perspektivierung, Evaluierung. Nar‐ rative und Framing. Persuasivität. Extra-textuelle Verweise Intertextualität, Situationalität. Rekonstuktion von Inten‐ tionalität und kommunikativem Textsinn, Implikaturen, Inferenzen, Elaboration des Textes durch außer‐ sprachliches Wissen (Top down-Prozesse). 234 Anhang <?page no="235"?> Glossar AIDA-Formel: beschreibt Prozesse der Werbung als Attention, Interest, Desire und Action. Affektmobilisierung: wenn Texte vor allem Gefühle beim Rezipienten aktivieren sollen, z. B. über ein hohes → Emotionspotenzial. Aktivierung: neuropsychologisch beschreibbarer Vorgang im Arbeitsgedächtnis. Durch A. werden Informationseinheiten (→ Konzept, → Textreferent) aus dem → Langzeitgedächt‐ nis bewusst gemacht und können weiterverarbeitet werden, insbesondere zum Aufbau eines → Textwelt-Modells. Anapher (die), direkte: Ausdruck, mit dem der → Sprecher einen bereits eingeführten → Referenten nochmals aufgreift. Bezugsausdruck ist der → Antezedent. Bsp. Ein Hund [Antezedent] … er [direkte A.] … ihm [direkte A.] … das Tier [direkte A.]. Anapher (die), indirekte: Ausdruck, mit dem der → Sprecher einen neuen → Referenten einführt, der nur abhängig vom vorausgehenden Text identifiziert werden kann. Bezugsaus‐ druck ist der → Anker. Bsp. Ein Hund [Anker] … das Fell [indirekte A.] … die Leine [indirekte A.] … das Herrchen [indirekte A.]. Anaphora (die): → Anaphorik Anaphorik (die): Art der → Referenz. Phänomen der Wiederaufnahmen von Referenten in Texten. → Anapher Anker: Bezugsausdruck für indirekte Anaphern. (→ Anapher, indirekte) Antezedent (der), Antezedens (das): Bezugsausdruck für direkte Anaphern. (→ Anapher, direkte) Ausdruck: Allgemeine Bezeichnung für sprachliche Einheiten, z. B. Wörter oder Sätze. Aus‐ drücke haben wörtliche → Bedeutung und grammatische Eigenschaften. Äußerung: → Ausdruck, der in einem bestimmten → Kontext geäußert, also schriftlich oder lautlich realisiert wird. Ä. ist somit eine Einheit der → Pragmatik. Bedeutung, wörtliche, semantische: Je nach fachlicher Tradition existieren unterschiedliche B.definitionen. In der kognitiven Linguistik (→ kognitiv 2.) der Ausschnitt konzeptuellen Wissens (→ Konzept, → konzeptuelles Wissen), der durch einen → Ausdruck aktiviert werden kann. Die wörtliche B. ist eine Eigenschaft eines Ausdrucks und unabhägig von einer Äußerungssituation (→ Semantik). Bedeutung, nicht-wörtliche, pragmatische: Der Ausschnitt konzeptuellen Wissens (→ Konzept, → konzeptuelles Wissen), der durch eine → Äußerung aktiviert werden kann und im Kontext dieser Äußerung entsteht. Dieser kann über die wörtliche B. hinausgehen (→ Implikatur). Common ground: von Sprecher und Hörer geteiltes → konzeptuelles Wissen. Default: Normalfall, unmarkierter Fall. Bei der Aktivierung mentaler → Skripts Besetzung einer Rolle mit einem typischen Objekt. Z. B. wird im Skript K A F F E E T R I N K E N als Default angenommen, dass das Gefäß eine Tasse oder ein Becher ist und kein Cocktailglas und dass mit einem Kaffeelöffel umgerührt wird und nicht mit einem Stift. <?page no="236"?> Definitheit: grammatisch gekennzeichnete, referenzielle Eigenschaft einer → Nominalphrase, deren Referent für den Hörer identifizierbar ist (im Fall von → Anaphorik, weil schon im Text erwähnt, im Fall von → Deixis, weil in der außersprachlichen Umgebung erkennbar). Deixis: Die Art der → Referenz, die vom → Kontext abhängig ist und auf den Kontext verweist, insbesondere Personaldeixis (die Referenz von ich ist abhängig davon, wer gerade spricht), Raumdeixis (die Referenz von hier ist abhängig vom Ort des Sprechers), Zeitdeixis (die Referenz von heute ist abhängig vom Zeitpunkt der Äußerung). De-Kontextualisierung: Herauslösen einer Textstelle aus dem ursprünglichen Ko- und Kon‐ text und Einsetzen an einer anderen Stelle, wodurch deren kommunikativer Sinn verändert wird. De-Realisierung: Missverhältnis von Sprache und Ralität, de-realisierende Texte sind realitäts‐ verzerrend, kodieren alternative Fakten, oft Täter-Opfer-Umkehr. Determinans (das), Determinierer (der): Ausdrücke, die Substantive als näher bestimmt kennzeichnen, insbesondere der bestimmte Artikel. → Definitheit Diskurstopik: wichtigster → Textreferent, der über einen längeren Textabschnitt oder den ganzen Text hindurch im → Textwelt-Modell aktiviert bleibt (→ Aktivierung) oder immer wieder reaktiviert wird. Domäne, kognitive: Bereich zusammenhängender Konzepte (→ Konzept), die sprachlich aktiviert werden. Evidenz: das als wahr und glaubwürdig Angenomme, wird durch → Evidentialiät grammatisch ausgedrückt. Evidentialität: grammatische und lexikalische Angaben im Text, von welcher Quelle der Sprachproduzent sein Wissen bezieht. elaborieren: lat. „ausarbeiten“. (Meist unbewusstes) Ergänzen eines Textgehaltes durch → kon‐ zeptuelles Wissen während der Rezeption. → Inferenz, → Textwelt-Modell, → Unterspezi‐ fikation Emotionspotenzial: Die Menge aller sprachlichen Mittel (z. B. emotionsausdrückende und -bezeichnende Lexeme, Interjektionen, affektive Lexeme, evaluative Anaphern, Informati‐ onsstruktur) im Text, die eine Emotionalisierung des Lesers bewirken kann. empirisch: auf systematischer Beobachtung beruhend. Z. B. sind Sprachwissenschaft, Soziolo‐ gie und Naturwissenschaften empirische Wissenschaften, Philosophie und Mathematik nicht. evaluieren: bewerten. explizit: Ausdrücklich, im Text wörtlich gesagt. Gegenteil: → implizit. forensische Linguistik: angewandter Bereich der Linguistik, der sich mit der Aufklärung oder Prävention von Straftaten befasst. Frame: engl. „Rahmen.“ komplexe mentale Wissensstruktur, → Schema. Framing: Nahelegen einer bestimmten Sichtweise oder Interpretation durch (Re-)Aktivierung von Narrativen und Denkmustern durch textuelle Evaluierung oder Perspektivierung. Generische Referenz: Referenz auf Kategorien und Typen. Z. B. Der Hund ist der beste Freund des Menschen, im Gegensazu zu individueller Referenz Der Hund Struppi ist Tims bester Freund. Hörer: in der Linguistik Sammelbezeichnung für weibliche und männliche Rezipienten münd‐ licher wie schriftlicher Äußerungen, also Hörer/ innen und Leser/ innen. 236 Glossar <?page no="237"?> Hyperonym: semantisch übergeordneter Ausdruck (umgangssprachlich Oberbegriff), Bsp. → Hyponym. Hyponym: semantisch untergeordneter Ausdruck (umgangssprachlich Unterbegriff), z. B. ist Wellensittich ein Hyponym von Vogel und Vogel ein Hyponym von Tier. Gegenteil: → Hyperonym. Implikatur (die): (Gesprächsimplikatur, konversationelle Implikatur) - Konzept der → Prag‐ matik. Über die wörtliche → Bedeutung einer Äußerung hinausgehende Schlussfolgerung, die Hörer/ innen und Leser/ innen auf Grund ko- und kontextueller Information ziehen (→ Kotext, → Kontext). implizit: Nicht ausdrücklich, im Text nicht wörtlich gesagt, sondern durch → Implikatur oder → Inferenz zu erschließen. Gegenteil: → explizit. Inferenz (die): Schlussfolgerung bei der Textrezeption auf Grund von → konzeptuellem Wissen, wodurch neue Information erzeugt wird. → Unterspezifikation, referenzielle Informations-Entfaltung: Abfolge von bekannter Information (→ Thema (2)) und neuer Information (→ Rhema) in einem Text. Intertextualität: Eigenschaft eines Textes, sich auf andere Texte zu beziehen. Bei I. im engeren Sinne betrifft dies ausdrückliche Verweise auf andere Texte (z. B. durch Zitate) oder implizite Verweise (z. B. in Parodien anderer Texte). I. im weiteren Sinne betrifft auch die Verwandtschaft aller Texte, die derselben → Textsorte angehören und daher gewisse Eigenschaften teilen. Isotopie: Verbindung zwischen Textteilen durch Wörter, die zu demselben semantischen Feld gehören, z. B. Schach-Turm-Bauer. Hier wird man von Kohärenz ausgehen und annehmen, dass mit den vieldeutigen Lexemen Turm, Bauer Schachfiguren gemeint sind. Junktor: → Konnektor. Katapher: Ausdruck, mit dem der → Sprecher einen noch nicht eingeführten → Referenten unterspezifizierend benennt (→ Unterspezifikation, referenzielle). Der folgende, näher spe‐ zifizierende Bezugsausdruck ist der Postzedent. Kognition (die): Sammelbegriff für geistige Fähigkeiten des Menschen einschließlich der Kompetenz zu ihrer Anwendung. Auf neuronaler Ebene entspricht die Kognition den ‚höheren Hirnfunktionen‘, also dem bewussten oder unbewussten Denken, nicht aber z. B. Steuerung der Atmung. kognitiv: 1. (im Zusammenhang mit geistigen Eigenschaften oder Prozessen) die → Kognition betreffend. 2. (im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Fächern, z. B. kognitive Textlingu‐ istik) relativ unscharfe Bezeichnung für das Interesse eines Faches, seinen Gegenstand (z. B. Text, Sprache) im Rahmen eines Modells geistiger Fähigkeiten des Menschen zu untersuchen. Kohärenz (die, Adjektiv: kohärent): konzeptueller oder semantischer Zusammenhang zwi‐ schen Teilen eines Textes. Wichtigstes Kriterium für → Textualität. Kohärenz, globale: → Kohärenz, die den Text als Ganzes betrifft. Ein Text ist global kohärent, wenn alle seine Teile sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Kohärenz, lokale: → Kohärenz, die den Zusammenhang zwischen benachbarten Sätzen betrifft. Glossar 237 <?page no="238"?> Kohäsion (die, Adjektiv: kohäsiv): formaler, oberflächlicher Zusammenhang zwischen Teilen eines Textes, z. B. durch Wiederholung desselben Ausdrucks an mehreren Textstellen, Ge‐ brauch von Konnektoren (→ Konnektor), ferner durch Reim oder einheitliche Formatierung des Schriftbildes. Komplexanapher: direkte oder indirekte → Anapher, mit dem der → Sprecher auf proposi‐ tionale → Referenten (→ Proposition) wie Ereignisse, Prozesse oder Zustände referiert. → Antezedent bzw. → Anker einer KA ist entsprechend ein satzwertiger Ausdruck (z. B. ein Satz, ein erweiterter Infinitiv oder ein längerer Textabschnitt). Bsp.: Der Gärtner hat seine Frau ermordet [Antezedent]. Das [Komplexanapher] habe ich selber gesehen. Konnektor, Konnektiv: Wort, das eine logische Verknüpfung zwischen zwei Sätzen oder Teilsätzen schafft, z. B. weil, obwohl, nachdem, um … zu. Konnexität: formaler Zusammenhang zwischen benachbarten Textteilen (→ Kohäsion). Kontext: außersprachlicher Zusammenhang, in dem eine → Äußerung steht, darunter auch geteiltes → konzeptuelles Wissen von Sprecher und Hörer. Konzept: Informationseinheit im → LZG. In Form von Konzepten speichern wir unser Wissen über die Welt. → konzeptuelles Wissen Konzeptualisierung: die spezifische mentale Auswahl und Sichtweise eines →Referenten oder referenziellen Sachverhalts (die je nach Sprachproduzenteneinstellung erheblich differieren kann, z. B. die Konzeptualisierung von Migration als G E F A H R oder U N G LÜC K oder C H A N C E oder M E N S C H E N R E C H T S P F L I C H T ) konzeptuelles Wissen: individuelles oder kulturelles Wissen, enzyklopädisches oder episodi‐ sches Wissen, das im → LZG gespeichert ist. → Konzept Im engeren Sinne wird der Begriff im Gegensatz zu „sprachliches Wissen“ gebraucht. Konzeptuelles Wissen wird aktiviert beim Verstehen unterspezifizierter Referenz (→ Unterspezifikation, → Inferenz). Koreferenz: → Referenz zweier oder mehrerer Ausdrücke auf denselben → Referenten. Kotext: sprachlicher Zusammenhang, in dem eine → Äußerung steht; d. h. der übrige Text. Lexem: Wort als Eintrag im mentalen Lexikon (→ Lexikon, mentales). Lexikon, mentales: Teil des → LZG, in dem Wissen über Wörter gespeichert ist. Linguistik: meist Synonym für Sprachwissenschaft, selten Bezeichnung für die strukturell orientierten Kernbereiche der Sprachwissenschaft. LZG, Langzeitgedächtnis: Funktion des Gehirns, Informationen über lange Zeit zu speichern. Makroproposition: ein Hauptgedanke oder eine Hauptaussage eines Textes. → Thema (1), → Proposition mental: geistig, gedanklich, auf kognitive Prozesse bezogen. → kognitiv Meronymie: Teil-Ganzes-Beziehung. Metasprache: Sprache, die auf Sprache Bezug nimmt, z. B. Hund (= das Wort Hund) hat vier Buchstaben, im Gegensatz zu Objektsprache: Ein Hund hat vier Beine. Nominalphrase (NP): syntaktische Einheit, Satzglied, dessen Kopf ein Nomen ist (z. B. ein Substantiv mit dazugehörigem Artikel, Adjektiven, Relativsatz …). Narrativ: etabliertes und/ oder bekanntes Erzählmuster, das als kollektives Deutungsschema fungiert; entsteht, wenn ähnliche oder identische Textwelt-Modelle wiederholt im öffentli‐ chen Diskurs produziert und rezipiert werden. 238 Glossar <?page no="239"?> Operationalisierung: In der experimentellen Forschung Übertragung einer theoretischen Konzeption in eine praktisch beobacht- und messbare Eigenschaft. Perspektivierung: Beeinflussung der → Referenzialisierung im Text durch subjektive Sicht‐ weisen. → Framing Persuasivität/ Persuasion: Ausmaß, in dem ein Text geeignet ist, Rezipienten von etwas zu überzeugen; intentional adressatenbeeinflussender Sprachgebrauch. Populismus, verbaler: Sprachgebrauch, der auf Simplifizierung und Komplexitätsreduktion sowie →Affektmobilisierung setzt. Postzedent: Bezugsausdruck einer → Katapher. Pragmatik: linguistische Teildisziplin, die sich mit kommunikativem sprachlichem Handeln und somit mit nicht-wörtlichen → Bedeutungen von → Äußerungen befasst. Progression, thematische: → Informations-Entfaltung Proposition: Beschreibungseinheit der → Semantik für den Kerngehalt eines Satzes. Eine P. besteht aus einem Verb und seinen Mitspielern (z. B. (essen (Eva, Kuchen))). Prototyp: Konzept, das eine Kategorie durch charakteristische Merkmale besonders gut reprä‐ sentiert. Auch: Vertreter einer Kategorie, der die häufigsten Merkmale von Exemplaren dieser Kategorie in sich vereinigt. Referent: Objekt (auch abstraktes oder fiktives), auf das sich ein → Sprecher mittels Sprache bezieht. Referenz: Prozess, bei dem ein → Sprecher sich mittels Sprache auf ein Objekt (im weitesten Sinne) bezieht. Der → Hörer muss diesen Prozess nachvollziehen. Referenzialisierung: aus Produktionsperspektive: Versprachlichung von Objekten, Sachver‐ halten. Aus Rezeptionsperspektive: Identifizierung von Objekten, Sachverhalten, auf die ein → Sprecher sprachlich Bezug nimmt. referenzieller Sachverhalt: Allgemeiner Begriff für Fakten, Zustände, Ereignisse, auf die in einem Text Bezug genommen und die Teil des → Textwelt-Modells werden. Rekurrenz: wörtliche Wiederholung eines Ausdrucks (nicht zu verwechseln mit → Korefe‐ renz: In Mein Auto ist schneller als dein Auto ist Auto rekurrent, aber nicht koreferent). Rhema: neue, nicht schon erwähnte Information im Gegensatz zu → Thema (2). Salienz: Eigenschaft eines → Textreferenten, im → Textwelt-Modell besonders auffällig und damit schnell (re-)aktivierbar zu sein, insbesondere Hauptfiguren eines Textes oder im Text aktuell erwähnte Objekte. Schema: mentale Wissensstruktur bestehend aus aufeinander bezogenen Konzepten, die → konzeptuelles Wissen über typische Situationen und Handlungsmuster repräsentieren. → Konzept, → Skript Semantik: linguistische Teildisziplin, die sich mit der wörtlichen → Bedeutung von → Aus‐ drücken befasst. Semantik der Sinne: analysiert, wie Sinneseindrücke (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten) mittels Sprache verbalisiert werden. Skript: im → LZG gespeichertes mentales → Schema, das dynamische Handlungselemente enthält und in dem typische Rollen von Fall zu Fall besetzt werden, z. B. im Skript Restau‐ rantbesuch die Rollen für Gäste, Kellner. → Default Glossar 239 <?page no="240"?> Spezifikationsanapher: direkte → Anapher, durch deren wörtliche → Bedeutung der → Re‐ ferent näher spezifiziert oder bewertet wird. Bsp.: Ein Mann [Antezedent] … der 67-Jährige [SA] … der clevere Betrüger [SA]. Sprache, toxische: ein Sprachgebrauch, der Menschen ausgrenzt, diskriminiert, stigmatisiert. Sprachkritik: Diziplin, die verbal ausgedrückte Machtstrukturen analysiert und für (ge‐ schichts)bewussten (diskriminierungsfreien) Sprachgebrauch sensibilieren will. Sprechakt: Beschreibungseinheit der → Pragmatik, kleinste Einheit komunikativen Handelns. Sprechakte werden nach ihrem Zweck unterschieden, z. B. Behauptungen, Bitten, Verspre‐ chungen, Ausdruck von Gefühlszuständen, Festsetzungen. Sprecher: in der Linguistik Sammelbezeichnung für weibliche und männliche Produzenten mündlicher wie schriftlicher Äußerungen, also Sprecher/ innen und Schreiber/ innen. Text: abgeschlossene → Äußerung, typischerweise mehr als einen Satz umfassend. Im engeren Sinne werden nur schriftliche Äußerungen als Text bezeichnet, im weiteren Sinne auch mündliche. Textgrammatik: Summe grammatischer Verknüpfungen in einem Text. → Kohäsion Textmuster: Typisches Exemplar einer → Textsorte. Textreferent: → Referent als mentale Einheit im → Textwelt-Modell. Textsemantik: Summe semantischer Informationen in einem Text (→ Semantik), darstellbar in Form von → Propositionen. Textsinn: übergeordnete Deutungsvariante, kommunikativer Sinn; Eigenschaft eines Textes, die in der Regel erst durch Interpretation des → Hörers im Kontext zustande kommt. T. kann auch ohne → Kohärenz bestimmt werden. Textsorte: Klasse von Texten, die formale und/ oder funktionale Merkmale gemeinsam haben, z. B. Kochrezept, Liebesbrief, wissenschaftlicher Aufsatz. Zur T.-Klassifizierung bestehen in der Textlinguistik unterschiedliche Ansätze. Textualität: Ausmaß, in dem eine → Äußerung die typischen Merkmale eines Textes aufweist, insbesondere → Kohärenz und → Kohäsion. Textwelt-Modell, TWM: mentale Repräsentation von Sachverhalten, auf die in einem Text referiert wird. Im Sprachproduktionsprozess versprachlicht der/ die Schreiber/ in bzw. Spre‐ cher/ in seine/ ihre Konzeptualisierungen mittels spezifisch perspektivierter und evaluieren‐ der → Referenzialisierungen. Beim/ bei der → Leser/ in bzw. Hörer/ in entsteht das TWM kontinuierlich während der Textrezeption, dabei wird der eigentliche Gehalt des Textes elaboriert (→ elaborieren) und durch → konzeptuelles Wissen ergänzt. Thema: (1) durch Abstraktion vom Unwesentlichen zu bestimmender Sachverhalt, dem alle Teile eines Textes sich unterordnen lassen, (2) bekannte, schon vorerwähnte Information im Gegensatz zu → Rhema. Themen-Entfaltung: → Informations-Entfaltung. Unterspezifikation, referenzielle: Eigenschaft von Texten, nicht alle Informationen zu geben, die für die → Referenzialisierung und Aufbau eines → Textwelt-Modells benötigt werden. → Inferenz Weltwissen: → konzeptuelles Wissen. 240 Glossar <?page no="241"?> Notationsverzeichnis K A P I TÄL C H E N Konzepte, konzeptuelle Strukturen kursiv metasprachliche Bezüge - unterstrichen Hervorhebungen im Text ‚…‘ ‚Bedeutungsangaben, semantische Einheiten und Strukturen‘ <?page no="243"?> Zitierte Literatur Textquellen Aesop. 3 1989. 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Anker-148ff., 157, 235 Antezedent-141, 143f., 146, 148, 154-157, 231, 235 Bedeutung-11, 15, 79, 82, 84, 96f., 124, 235 Bedeutung“-65f., 68, 71, 78 Common ground-235 Definitheit-236 Definitheit“-67, 71 Deixis-236 Deixis“-68f. De-Kontextualisierung-236 De-Realisierung-172, 176, 203, 236 Determinans-236 Determinans“-66 Diskurstopik-142, 236 Domäne, kognitive 80, 102, 113, 116-119, 149, 167f., 205, 236 Elaboration 39, 83ff., 89, 105, 114, 145, 207, 236 Emotion-161, 179, 205, 208 Emotion“-56 Emotionspotenzial-36, 39, 180, 184, 187, 202, 204f., 211, 229, 231, 235f. Evaluierung-157, 179-184, 202, 204, 236 Evaluierung“-73 Evidentialität-173, 176, 236 Evidenz-173, 176, 199, 204, 236, 256 Frame-87, 112, 236 Framing-23, 174, 177, 236 Hyperonym-98, 126, 142, 237 Hyponym-15, 98, 237 Implikatur-237 Inferenz-85f., 114, 118, 150, 167, 199, 237 Intertextualität-23ff., 102, 202, 213, 217, 237 Katapher-138, 140, 151, 156, 237 Kognition-11f., 161, 179, 205, 208, 211, 237 Kohärenz-12, 21, 25, 27, 80, 93, 96f., 99ff., 103, 105, 112f., 116, 119, 124, 157, 164f., 167, 169, 171, 237, 257 Kohärenz, globale-96, 117ff., 122ff., 127, 130, 137f., 167, 207, 237 Kohärenz, lokale-96, 101, 116f., 119, 130, 237 Kohärenz, lokale“-64, 72 Kohäsion-21, 25, 93, 95ff., 102f., 105, 111, 238, 257 Komplexanapher-140, 154-157, 159, 179, 181ff., 230, 238 Konnektor-102, 106, 110, 199, 238 Konnexität-95, 97, 105, 238 Konzeptualisierung-21, 113, 172, 238 Konzeptualisierung“-65, 71-74 Koreferenz-100f., 140, 142, 145f., 148, 157, 238 Lexikon, mentales-17, 43, 79f., 98, 238 Lexikon, mentales“-65 Linguistik, forensische-161, 187, 192, 236 LZG, Langzeitgedächtnis-10, 17, 48, 79-82, 85ff., 89, 98, 103, 112f., 117f., 137, 148, 238 LZG, Langzeitgedächtnis“-74, 76 Makroproposition-126ff., 138, 165, 167-170, <?page no="264"?> 238 Meme“-58f. Meronymie-98, 149, 238 Multimodalität-10, 26, 209 Multimodalität“-60 Mündlichkeit-54f. Mündlichkeit“-56ff., 61 Narrativ-176, 202-205, 238 Operationalisierung-32f., 37, 41ff., 231, 239 Perspektivierung 172, 177, 179f., 182, 202, 239, 253 Perspektivierung“-72f. Persuasion 25, 38f., 138, 197, 199, 204, 211, 239 Populismus-174ff., 239 Postzedent-151, 239 Pragmatik-51, 239 Progression, thematische-134-139, 205, 239 Proposition-108, 126f., 156f., 239 Proposition“-75, 78 Prototyp-21, 239 Referenz-89, 97, 101, 142, 203, 239 Referenz, generische-236 Referenz, generische“-66 Referenz“-63-72, 75, 77 Referenzialisierung 91, 177, 179, 184, 199, 203, 205, 239 Referenzialisierung“-65, 71f., 76 Rekurrenz-95f., 110, 142, 145, 239 Rhema-122, 134ff., 138f., 239 Salienz-130, 141, 201, 239 Schema 87f., 112, 114, 118, 121, 123, 125, 136f., 148ff., 203, 239 Schriftlichkeit-54 Schriftlichkeit“-56, 61 Semantik-91, 111f., 154, 239 Semantik der Sinne-209ff., 213f., 239 Skript-87f., 114f., 239 Sktipt-87 Spannung-138, 152, 208 Spannung“-78 Spezifikationsanapher-145, 183, 202, 240 Sprache, toxische-163, 240 Sprachkritik-161f., 164, 240, 253 Sprechakt-49, 108, 240 Textgrammatik-94, 97, 100, 141, 151, 240 Textmuster-24, 187f., 195, 240 Textsemantik-85, 100, 111, 123, 151, 240 Textsinn-18, 164f., 167ff., 171, 178, 240 Textsorte-23, 25, 37, 47-50, 52f., 113, 138, 187, 189, 210f., 229, 231, 240 Textsorte“-56-60 Textualität-21, 25, 27, 39, 240 Textwelt-Modell-40, 85, 89, 91, 113, 116, 124, 141, 152, 172, 184, 203f., 230, 240 Textwelt-Modell“-67f., 71, 75, 77 Thema-95, 117f., 122-126, 128, 130, 133-136, 138f., 151, 240 Unterspezifikation, referenzielle-78, 82ff., 89, 103, 119, 138, 199, 205-208, 211, 240 Wissen, konzeptuelles-40f., 85, 238 264 Register <?page no="265"?> ISBN 978-3-381-14161-6 Texte spielen eine wichtige Rolle in der Wissenschaft wie im alltäglichen Leben. Wir tauschen durch sie Gedanken aus, etablieren soziale Beziehungen, erfahren Neues über die Welt, tradieren kulturelles Wissen, markieren Machtansprüche, konstruieren Wissen, evaluieren Sachverhalte, beeinflussen massenmedial Meinungen und Einstellungen. Die aktuelle Textlinguistik beschäftigt sich mit Struktur, Funktion und Verarbeitung von satzübergreifenden Phänomenen, der Konstitution von Bedeutung in kognitiven Prozessen sowie anwendungsorientiert mit Phänomenen wie Perspektivierung, Evaluierung und Persuasion. Diese Einführung zeigt die wesentlichen Erkenntnisse, Theorien und Methoden leicht verständlich anhand authentischer Beispiele in diversen Kommunikationsbereichen und Textsorten auf. Übungsaufgaben leiten zur eigenständigen Arbeit und zum Verfassen einer textlinguistischen Seminararbeit an. „Diese Einführung hält überzeugend, was sie verspricht, indem sie nicht nur theoretisches Wissen vermittelt, sondern auch zu praktischem Können verhilft.“ - Info DaF 2/ 3 (2016) Schwarz-Friesel / Consten Textlinguistik Textlinguistik Eine Einführung 2., vollständig überabeitete und erweiterte Auflage Monika Schwarz-Friesel / Manfred Consten