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Gärten und ihre Gäste

Analysen, Fakten, Trends

0613
2022
978-3-7398-8021-1
978-3-7398-3021-6
UVK Verlag 
Christian Antz
Steffen Wittkowske
10.24053/9783739880211

Gärten und Parks sind Trendsetter der Zukunft Als Orte der Entschleunigung, als Gegenwelten der Ruhe und Sinnhaftigkeit sind Gärten und Parks die neuen alten Sehnsuchtsorte gestresster Städter:innen. Trotz dieser ungebrochenen Faszinationskraft hat die deutschsprachige Tourismusforschung das Thema der Gartenreise bisher meist stiefmütterlich behandelt. Hier leistet der vorliegende Sammelband wichtige Grundlagenforschung: Das Phänomen wird als Form des Slow Tourism erstmals interdisziplinär und umfassend beleuchtet. In den 25 interdisziplinären Beiträgen rückt der Garten dabei nicht nur als Ort der Entspannung in den Blick, sondern interessiert ferner in seiner touristischen, ökonomischen und nicht zuletzt gesellschaftlichen Dimension: Wie lassen sich etwa Bewahrung und zeitgemäße Nutzung historischer Parks zusammendenken? Wie wird der Gartentourismus zur Triebkraft in der Wertschöpfungskette einer Region? Diese und weitere Fragen diskutiert der Band anschaulich und sucht in Form von Anwendungsbeispielen stets den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Praxis.

Christian Antz / Steffen Wittkowske (Hrsg.) Gärten und ihre Gäste Analysen, Fakten, Trends Gärten und ihre Gäste Prof. Dr. Christian Antz ist Professor am Deutschen Institut für Tourismusforschung an der Fachhochschule Westküste in Heide. Prof. Dr. Steffen Wittkowske lehrt Didaktik des Sachunterrichts an der Universität Vechta. Christian Antz / Steffen Wittkowske (Hrsg.) Gärten und ihre Gäste Analysen, Fakten, Trends UVK Verlag · München DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783739880211 © UVK Verlag 2022 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7398-3021-6 (Print) ISBN 978-3-7398-8021-1 (ePDF) ISBN 978-3-7398-0506-1 (ePub) Umschlagabbildung: © AllesSuper21 | iStock Autorenfoto Christian Antz: © Elke Breuer Autorenfoto Steffen Wittkowske: © Universität Vechta, Pressestelle Icon Kapitelende: © djvstock | iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibli‐ ografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 11 13 39 51 73 91 111 127 145 159 Inhalt Geleitwort von Wolfgang Sobotka Zu gesellschaftlicher und touristischer Zukunft des Themas Garten . . . . . . . . . . . . Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Neumann Gärten und Parks im Wandel                                                          Vom Paradiesgarten Eden über die Renaissancegärten bis zum          IP-Gardening 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hansjörg Küster Gärten als Modelle der Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich J. Lübke Grünräume, Gärten und Gesundheit Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten in unendlichen Facetten . . . . . . Joachim Wolschke-Bulmahn Die Zukunft von Gärten für die Menschen von morgen                           Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Polster Garten und Kulinarik                                                            Parks als Nahrungsquelle und Restaurantinspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Wittkowske Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inken Formann und Bianca Limburg Historische Gärten als Lernorte                   Bildungs- und Vermittlungsangebote für Gartendenkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Hühn Von Immerblühern und Einjährigen    Der Gartenbuchmarkt im Wandel des Kundeninteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marianne Scheu-Helgert Gartenakademien in Deutschland         Mehr Freude und Erfolg im Garten durch Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 187 199 211 225 235 249 267 281 293 307 Philipp Sattler Netzwerk Garten & Mensch         Bürgerschaftliches Engagement für Gärten, Parks und Plätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reiner Nagel und Belinda Rukschcio Gärten als Teil der Baukultur     Die Rolle des Grüns für Klima, Lebensqualität und Urbanität der Stadt . . . . . . . . . Sibylle Eßer und Jochen Sandner Von der Sortimentsschau zur integrierten Stadtentwicklung Bundesgartenschauen (BUGA) und Internationale Gartenausstellungen (IGA) als Impulsgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Menke Die grüne Stadt Über die Bedeutung öffentlicher und privater Grün- und Freiflächen in Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schmidt Die Grün Berlin Gruppe Ein interdisziplinäres grünes Managementmodell für die Metropole Berlin . . . . . . Christian Rast und Lukas Melzer Landesgartenschauen Zwischen Spaßveranstaltung, Stadtentwicklung und Gesellschaftsrelevanz . . . . . . Felicitas Remmert Gartenträume Sachsen-Anhalt Ein Landesnetzwerk historischer Gärten als touristisches Produkt . . . . . . . . . . . . . Franz Gruber DIE GARTEN TULLN Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau für die Gäste von morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spanjer Vom Einzelgarten zum europäischen Austausch Das rheinländische Schloss Dyck und sein breites Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beate Reuber Gärten der Welt in Berlin Eine Geschichte vom Bewahren, Entwickeln und Verändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ronald Clark Gärten als Imagefaktor Das Beispiel der Herrenhäuser Gärten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 323 343 359 375 395 421 429 435 Susanne Gervers Offene Gärten - Neue Wege im Tourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hlavac Die Gartenbesucherinnen und -besucher Motive und Erfahrungen im 18. und 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim Gartentourismus Was sagt die Marktforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl Raml Gartenreisen in der Gruppe Die Entwicklung von Angebot sowie Kundinnen und Kunden im Wandel . . . . . . . Christian Antz Slow Tourism und Gartenreisen Über die neue Sehnsucht nach Langsamkeit, Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit . . . . Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Geleitwort von Wolfgang Sobotka Zu gesellschaftlicher und touristischer Zukunft des Themas Garten Ich gratulieren dem Autorenteam zu diesem Buch, in dem sie ein wichtiges Thema aufgreifen: die touristische Bedeutung von Gärten. Aber unsere Gärten haben nicht nur eine Bedeutung für den Tourismus, sondern auch für die Gesellschaft, für unsere Lebensqualität und für unsere Werte. Wir haben in Europa große Herausforderungen zu meistern. Einerseits hat uns die Pandemie den Garten einmal mehr als einen Wohl‐ fühlort nähergebracht. Andererseits stellen der Klimawandel, die demographischen Entwicklungen und die Digitalisierung besondere Anforderungen an die Menschen und die Gesellschaft. Aber nicht nur das. Wir stehen vor dem Problem, dass das Erfahrungswissen zur Gestaltung und Pflege von Gärten verloren gegangen ist. Als wir in den 1990er-Jahren Kindern die Frage stellten, woher denn die Tomaten kommen, bekamen wir als Antwort: „Aus dem Supermarkt.“ Diese Antwort führte uns vor Augen, wie weit wir uns von der Natur wegbewegt hatten. Erfahrungswissen wird in den Familien nicht mehr weitergegeben. Da wir Gärten als Möglichkeit zur Wiedererlangung und Verstärkung des Naturverständnisses in allen Altersgruppen sehen, haben wir in Niederösterreich 1999 die Aktion „Natur im Garten“ gegründet, die sich inzwischen zu einer europäischen Bewegung entwickelt hat. Ziel von „Natur im Garten“ ist es, den Menschen das Verständnis für die Natur und das Erfahrungswissen zum Arbeiten mit dem Kreislauf der Natur zurückzugeben, nach dem Motto: „Gesund halten, was uns gesund hält.“ Voraussetzung für das Arbeiten mit der Natur sind folgende Kernkriterien, die bis heute gelten: Gärtnern ohne chemisch-synthetische Pestizide und Düngemittel sowie Torf. Mit „Natur im Garten“ wird die Vielfalt im eigenen Garten und in öffentlichen Grünräumen gefördert und auf diese Weise werden neue Räume für die Förderung bzw. Erhaltung der Biodiversität geschaffen. Mit dem Thema ‚Garten‘ können wir Menschen die Ökologie und die Verantwortung für die Schöpfung näherbringen. Denn nur wovon ich selbst überzeugt bin, davon kann ich andere überzeugen. Dann braucht es keine Verbote, die Widerstand auslösen, und keinen erhobenen Zeigefinger. Hier können wir motivierend wichtige Themen als Gesellschaftsthema verankern. Natur muss man begreifen und erfahren, um sie gestalten zu können. Der Garten ist somit von entscheidender Bedeutung und bietet optimale Bedingungen, um Eigenverantwortung zu entwickeln und zu fördern. Der Garten eröffnet zudem die Möglichkeit, das, was um uns herum passiert, zu verstehen. Die Arbeit im Garten hilft auch, einen Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung zu finden. Hier können wir uns wieder erden und neue Kraft tanken. So hält uns der Garten gesund. Heute ist Gärtnern längst kein Trend mehr, sondern eine Grundhaltung. Gerade in Zeiten des Klimawandels gibt es besonders im Garten viele Möglichkeiten, das Kleinklima in der eigenen Umgebung positiv zu beeinflussen - ob mit einem schat‐ tenspendenden Baum oder durch die Begrünung des Dachs. In Zeiten des Klimawan‐ dels mit zunehmenden Hitze- und Trockenperioden sowie Starkregenereignissen ist der ökologische Beitrag von Grünräumen in Gemeinden und Städten unverzichtbar und Teil der Lösung. Sie dienen als Kohlenstoffsenker, Wasserspeicher, biologische Klimaanlagen und reinigen die Luft. Insbesondere das Mikroklima in der Umgebung von Gebäuden wird durch die richtige Gestaltung der grünen Infrastruktur positiv beeinflusst. Es kann jeder einen positiven Beitrag leisten zum Klimaschutz, zur CO 2 -Reduktion sowie CO 2 -neutral im eigenen Garten arbeiten. Gärten haben eine langjährige Geschichte und sind unser kulturelles Erbe. Deshalb ist es so wichtig, auch bestehende historische Parkanlagen zu erhalten und zeitgemäß zu nutzen. Gemeinden gestalten den öffentlichen Raum, erhalten Bäume, weil sie wissen, dass Grünflächen Lebensqualität bedeuten und wichtiger Aufenthaltsraum für die Bevöl‐ kerung sind. Das wussten auch schon die großen Gartenplaner und -künstler des 19. Jahr‐ hunderts wie der berühmte Peter Joseph Lenné. Gärten sind Spiegel sozialer und politi‐ scher Entwicklungen und Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Kulturen und Epochen. Durch Revitalisierung alter Gartenanlagen in peripher gelegenen Regionen werden Arbeitsplätze geschaffen und die Wertschöpfung in die Region gebracht. Es sind viele Berufsgruppen, die von Gartenanlagen profitieren: Gartenplanerinnen und -planer, Gartenbau, Staudengärtnereien, Baumschulen, Busunternehmerinnen und -unterneh‐ mer für Gartenreisen, Gastronomie und Hotellerie. Die Gärten für Besucherinnen und Besucher sind die Wirtschaftspartner in der Region und Impulsgeber für den Tourismus. Nicht zu vergessen: Gartentourismus ist nachhaltiger Tourismus! Für die Menschen ist es interessant, beim Besuch von Gärten jenen Persönlichkeiten nachzuspüren, die hinter den Gartenkonzepten stehen. Europa verfügt über eine Geschichte vielfältiger Gestaltung nutzergerechter Gärten aus den unterschiedlichen Perioden. Besonders der Besuch von Privatgärten bietet die Möglichkeit, mit den Gartenbesitzerinnen und -besitzern ins Gespräch zu kommen und sich inspirieren zu lassen, die eigene Wahrnehmung zu ändern. Die Gäste genießen die positive Gegenwelt und tauchen ein in den Kosmos naturnaher Gärten und deren unschätzbarem Wert. Wien, zu Ostern 2022 Wolfgang Sobotka Präsident des Österreichischen Nationalrats und Gründer von „Natur im Garten“ in Niederösterreich 10 Geleitwort von Wolfgang Sobotka Vorwort der Herausgeber Zum ersten Mal wird im deutschsprachigen Raum der Versuch unternommen, das Thema ‚Gartenreisen‘ aus interdisziplinärer Perspektive und in vielfältigen Facetten zu betrachten. Dabei werden einerseits die zu bereisenden Gärten in den Mittelpunkt gerückt, kleine und große, historische und neue, ephemere und bleibende, im deutsch‐ sprachigen und europäischen Kontext sowie in historischer wie zukünftiger Ausrich‐ tung. Andererseits zielt die Betrachtung nicht nur auf die Einzigartigkeit, den Schutz, das Kultur- und Naturgut ‚Garten‘, sondern gleichwertig werden die sich verändernden und sich entwickelnden Bedürfnisse, die Interessen und die Veränderungen bei den Besucherinnen und Besuchern in den Blick genommen. Und dabei interessiert nicht so sehr eine abstrakte Objekt-Subjekt-Korrelation, sondern die Besucherin und der Besucher als emotionales Wesen: „Gärten und ihre Gäste“. Gärten haben im Deutschlandtourismus immer ein stiefmütterliches Dasein gefris‐ tet, wurden als nettes Beiwerk im Rahmen des Kulturtourismus gerne mitgenommen und mitvermarktet. Im Vergleich zu England und Frankreich, wo Gartenbesuch mit gleichzeitigem Gartengenuss eine lange und feste Tradition hat, findet sich das Gartenreisen in Deutschland gerade erst im Aufbruch. Die Tourismusbranche sollte sich ihres Gartenpotentials bewusst sein, denn im letzten Jahrzehnt zieht neben der ge‐ sellschaftlichen auch die touristische Affinität der Kundinnen und Kunden für Gärten und Parks gerade im Zusammenhang mit einer breit ausgerichteten Sinnsuche an. Über alle Alters-, Generations- oder Geschlechtsklassen hinweg interessieren sich in ganz Deutschland ungefähr 50 % der Bevölkerung für einen Besuch in Gärten und Parks - ein sensationell hoher Anteil, wenn man bedenkt, dass sich nur 30 % für die Besichtigung von Denkmalen begeistern können. Neben der ästhetischen und kunstgeschichtlichen Bedeutung bietet gestaltetes Grün denn auch einen noch größeren Mehrwert als Kultur. Dieser reicht von Gesundheit über Aktivtourismus bis zu Entspannung und Genuss. Wenn sich Jugendliche in den österreichischen Bundesgärten nur dem Chillen hingeben wollen, so sind sie doch eine große und v. a. nachwachsende Zielgruppe und außerdem in guter Gesellschaft mit den angelsächsischen Kundengruppen älterer Generationen. In der globalen und virtuellen Welt werden Gärten zudem zur Antipode oder Alternative des iPads. Während das eine nur noch zart mit den Fingerspitzen berührt wird, bedarf das andere ganzen Körpereinsatzes. Mit den Händen in die Erde greifen, ganz haptisch, sinnlich und sinnvoll seine Freizeit gestalten, den Knopf an Rechner und Kopf ausschalten, einfach nur vor sich hin harken, all dies wird zur Gegenwelt des Workaholics am Beginn des 21. Jahrhunderts. Während Ältere, deren Kinder mittlerweile aus dem Haus sind, ganze Gartenlandschaften gestalten, hat sich daneben mittlerweile eine breite Klientel von jungen Leuten dem Thema ‚Garten‘ zugewandt. Ob Urban Gardening auf einer kleinen Balkonfläche, neue Datschenkultur, Gemein‐ schaftsgarten oder Guerilla Gardening, eine bisher kaum beachtete Klientel von unter 30-Jährigen wandelt sich zu Gartenenthusiastinnen und -enthusiasten. Gleichzeitig überschwemmen Gartenbücher zu jeglichen, auch noch so abseitigen Themen seit Jahren den Markt; auch der weiterwachsende Erfolg von Garten- und Landzeitschriften in dem insgesamt schwierigen Zeitschriftenmarkt ist den Zukunftsforscherinnen und -forschern mitunter ein Rätsel. So füllt der vorliegende Sammelband mit 25 interdisziplinären Beiträgen zur Gar‐ tenaffinität eine Lücke in der gartenwie tourismuswissenschaftlichen Forschung. Allen Autorinnen und Autoren ist für ihren spezifischen Zugang und ihren Beitrag zum Gesamtkontext der Gartenreisen herzlich zu danken. Pandemiebedingt hat sich die Fertigstellung des Sammelbandes verzögert; auch eine begleitende Ringvorlesung konnte nicht stattfinden. Als Netzwerker ist es uns dennoch geglückt, bundesweite Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis in diesem Sammelband zu Wort kommen zu lassen. Am Ende ist damit auch ein länder- und hochschulübergreifendes Kooperationsprojekt der Fachhochschule Westküste in Heide und der Universität in Vechta entstanden. Der Hartnäckigkeit meines Freundes und Kollegen Christian Antz, dem ich schon seit langem verbunden bin, ist es zu verdanken, dass das Werk nicht ins Stocken geraten und nun zu einem schönen Abschluss gekommen ist. Gemeinsam legen wir nun ein Buch vor, das eine Mischung aus grundlegenden und stärker praxisorientierten Beiträgen darstellt. Ein ganz großer Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung, aber auch für ihre Geduld und Bereitschaft zur Überarbeitung von Manuskripten. Ein Buch in der vorliegenden Form benötigt viele denkende Köpfe und helfende Hände. Wir danken insbesondere Skrollan Stine Möller und Alina Schankin für den Kontakt zu den Autorinnen und Autoren sowie für sämtliche Unterstützung bei der Erstellung und Überarbeitung des Manuskripts. Dem Wissenschaftsverlag UVK in München, insbesondere Rainer Berger, sei zum Abschluss herzlich gedankt für das immer offene Entgegenkommen beim Thema ‚Gartenreisen‘. Heide/ Magdeburg und Vechta/ Radebeul, zu Ostern 2022 Prof. Dr. Christian Antz Deutsches Institut für Tourismusforschung an der Fachhochschule Westküste in Heide Prof. Dr. Steffen Wittkowske Professur für Didaktik des Sachunterrichts an der Universität Vechta 12 Vorwort der Herausgeber Gärten und Parks im Wandel Vom Paradiesgarten Eden über die Renaissancegärten bis zum IP-Gardening 4.0 Klaus Neumann 1 Garten Eden und biblischer pairi daeza Gärten gibt es auf der Welt, seit die Menschen sesshaft wurden. Die Keimzelle jeder Kultur ist der Garten. Gärten haben sich im Laufe der Epochen verändert. Fast alle Schöpfungsgeschichten beginnen damit, dass Gott, nachdem er den Menschen schuf, einen Garten anlegte. Dieser Garten wird relativ genau beschrieben. Er liegt im Osten, im Land Eden, hat allerlei Bäume, verlockend anzusehen mit schmackhaften Früchten. (Luther Bibel 1545, 1 Mose 1,29-30) Die Beschreibung des Garten Eden nimmt in der Bibel einen großen Stellenwert ein. All unsere Paradiesvorstellungen laufen auf diesen Garten hinaus: Der erste Ort, den Gott auf Erden schuf, war ein Garten und das menschliche Leben begann in einem Garten. Mehr noch: Der erste Ort, wo Gott sichtbar und ansprechbar war, war ein Garten, das Paradies. Mit der ‚Urbarmachung‘ eines Stück Land beginnt Kultur, die Kultivierung. Das lateinische Wort colere, abgeleitet von cultura, bedeutet ‚pflegen‘ und ‚ernten‘. Es ist bezeichnend, dass Gott für den Menschen einen Obstgarten anlegt, den es entsprechend zu pflegen und zu kultivieren galt und in dem geerntet werden konnte. Der heute gebräuchliche Name für all jene von Menschen angelegten und bewirtschafteten Flächen ‚Garten‘ leitet sich ab vom Wort Gerte. Damit wurden das urbar gemachte Land und die angebauten Pflanzen geschützt. Ein solch geschützter Ort gibt Geborgenheit - in Zeiten überwiegender Wildnis und rauer Natur besonders wichtig. Dieser erste Garten, der biblische Garten Eden, das Paradies aus der Schöp‐ fungsgeschichte, ist das Urbild eines fruchtbaren, den Menschen ernährenden Raumes, in dem er sich geborgen fühlt. Paradies, abgeleitet aus dem arabischen pairi daeza, bedeutet umfriedeter Garten (vgl. Jepsen 2000). Der Garten ist anfangs Lebens- und Existenzgrundlage, reine Ziergärten sind moderner Luxus. Der Garten war und ist aber auch ein traditioneller Ort durchaus asketischer, religiöser und philosophischer Einkehr und ästhetischer Selbstverwirkli‐ chung. Blumen- und Obstgärten, Gärten in der Landschaft, Gärten hinter Hecken, aber auch Gärten hinter Mauern. Gärten, die Menschen angelegt haben als Orte des Rückzugs, der Sicherheit, der inneren Einkehr oder schlicht, um in den Qualen ihres Alltags und ihrer Umgebung zu überleben. Ob Mönch oder Millionär, Kaiser, Konkubine oder Häftling - sie alle waren in ihren Gärten ‚gefangen‘, ob freiwillig oder weil sie dazu verurteilt waren. Ob der politische Gefangene Nelson Mandela auf der gefürchteten Gefängnisinsel Robben Island in Südafrika, der Politiker Erich Honecker und der Showmaster Hans Rosenthal, die beide jeweils in einer Kleingartenanlage in Berlin den Krieg überlebten, ob der Apfelpfarrer Aigner im KZ Dachau, Sultan Süleyman der Prächtige und seine Haremsdamen, ob die Häftlinge von Leyhill, die bei der berühmtesten Gartenschau der Welt, der Chelsea Flower Show in London mit ihrem Gartendesign sensationell die Goldmedaille erringen, ob William Beckford, der exzentrische Millionär oder der Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, der ehemalige EU-Kommissar Van Miert, der bei der Gartenarbeit tödlich verunglückte, oder der Dirigent und Präsident des österreichischen National‐ rates Wolfgang Sobotka - sie alle lebten, überlebten dank des Gartens oder suchten dort Entspannung von den Herausforderungen des politischen Alltags. 2 Gärten als grüne Paradiese Die Geschichte der Gärten als grüne, paradiesische Hotspots für Mensch und Tier, aber auch als Foyer der Bau- und Gartenkunst, erzählt von der immerwährenden Suche des Menschen nach einem Raum der Abgrenzung und Besinnung, der Lebensfreude, des Überschwangs, aber auch nach einer Oase für Sicherheit und Versorgung; nach einer Stätte für Ruhe und Zufriedenheit, für Sicherheit und soziale Kontakte nach individuellem wie gesellschaftlichen Glücks. Immer galt es in den verschiedensten Formen, das jeweils so unterschiedliche Paradies für das Leben nachzubilden oder den blühenden Gefilden des Jenseits vorzugreifen. Den einen bedeutet er optischer Genuss oder kulinarische Nutzung, den anderen unerschöpfliche Vielfalt oder erzwungene Einfalt. 3 Die klösterliche Gartenkultur Nach der Antike blühte in Europa zunächst die klösterliche Gartenkultur auf. Ihre Anfänge gehen zurück auf Benedikt von Nursia, der im Jahr 529 in Süditalien ein Kloster gründete, welches sich später zum Mutterkloster des Benediktinerordens entwickelte. Die von ihm geschaffenen Ordensregeln gelten als Grundlage der späteren Klostergärten. In Kapitel 36 der Benediktinerregeln wurde festgelegt, dass die Sorge für 14 Klaus Neumann die Kranken vor und über allen anderen Pflichten zu stehen hat. Mit dieser eindeutigen Aufforderung begründete Benedikt indirekt die Klostermedizin und die Klostergärten. In Anwendung dieser Ordensregel wurden Gärten angelegt, die nicht nur für die Ernährung der Mönche Bedeutung hatten, sondern auch für die Versorgung, Betreuung und Behandlung der Kranken geeignet waren. Mönche und Nonnen brachten Pflanzen des Mittelmeergebietes über die Alpen und kultivierten diese in ihren Klostergärten. Später sammelten Pilger und Kreuzfahrer Pflanzen, die ihnen interessant erschienen, und brachten sie in die weltlichen Gärten. In den Klostergärten wurden aber auch Pflanzen aus der heimischen Flora angebaut, um sie als Würzmittel, Lebensmittel oder Zierpflanzen zu nutzen. Allerdings wurden in den Klöstern nicht nur große Kulturleistungen für den prakti‐ schen Gartenbau erbracht, über Jahrhunderte wurde auch wissenschaftlich gearbeitet. Man trug vorhandenes Wissen innerhalb und außerhalb der Klöster zusammen, beschrieb die Pflanzen und ihre Nutzung und gab den Pflanzen - meist aus dem Christentum, der Bibel oder von Heiligen abgeleitete, bis heute gültige Namen. Signi‐ fikante Beispiele sind: Alchemilla vulgaris (Muttergottesmantel, Frauenmantel), Bellis perennis (Marienblume), Gladiolus-Hybriden (Zwölf-Apostel-Blume) oder Euphorbia milii (Christusdorn) (vgl. Lukesch 2009). Vor allem die Kräuter- und Heilpflanzengärten pflegte man mit größter Sorgfalt (→ Abb. 1). Abb. 1: Klostergarten Frauenchiemsee 15 Gärten und Parks im Wandel Diese klösterlichen Gärten fanden später eine weltliche Verstärkung durch die Uni‐ versitäten. Im 16. Jahrhundert entstanden die botanischen Gärten, anfangs nach dem Vorbild der Klöster, als Horti Medici. Solange es die Botanik als selbstständige Wissenschaft nicht gab, nahm sich die Medizin des Fachs an. Im Laufe der Zeit blieb es jedoch nicht bei Arzneipflanzen und die heutigen Botanischen Gärten entwickelten sich. 4 Gärten als Statussymbol: Die höfische Gartenkultur Abb. 2: Garten als Signum politischer und wirtschaftlicher Macht; Schlossgarten Villandry an der Loire Vom Hochmittelalter an übernahm die höfische Gartenkultur die Führungsrolle. In der Interpretation der Menschen wurde der Garten immer häufiger zum Signum für finanzielle und gesellschaftliche Macht und Überlegenheit. Die Gärten waren für die Regentschaft angelegt und von ihr finanziert, das Volk blieb in der Regel außen vor. Zäune und Hecken waren von jeher die Regel, um dieses Paradies vor dem Rest der Welt zu schützen. Dabei träumten die einen von geometrischer Perfektion und vollkommener Beherrschung der Natur, die anderen vom immergrünen Arzneischrank (→ Abb. 2). Zunehmend begannen Künstlerinnen und Künstler, sich dieser säkularisierten Paradiesgärten anzunehmen. Die himmlische Assoziation wurde zwar beibehalten, 16 Klaus Neumann die Blickrichtung aber verschob sich eindrucksvoll vom Jenseits in eine neue Gesell‐ schafts- und Wirtschaftsordnung. Die tradierte Verwurzelung, die Schönheits- und Glücksideale des göttlichen Paradiesgartens verblassten. Sie gerieten allmählich in Vergessenheit, auch wenn die literarische und bildnerische Darstellung sich stets im Gedächtnis der Menschen zu halten versuchte. Der Garten war immer eine Allegorie im Diesseits des Paradieses im Jenseits. 5 Ausdruck von Macht: Barock- und Rokoko-Gärten Abb. 3: Geometrisch-gekünstelte Pflanzung im Schlossgarten Villandry/ Loire Der Aufbruch hin zu einem neuen Typus von Natur und Garten war nicht aufzuhalten. Die Gärten Eden, die göttlichen pairi daeza wurden besonders in der Gartenkunst des Barocks und Rokokos immer diesseitsbezogener. Die Eingriffe in die Natur, das Formen und Deformieren, das Schneiden und artifiziell figürliche Präsentieren der Natur im Großen und der Pflanzen im Kleinen wurde immer ungehemmter. Sträucher und Bäume wurden, entgegen ihrem natürlichen Habitus und ihrer charakteristischen Standortbedingungen, verfremdet, verformt und zurechtgestutzt. „Im Zeitalter der Absolution musste die Natur stramm in Reih und Glied stehen und salutieren“ (Weiss 1998). Die Gärten, die Gartenarchitekten sowie ihre Auftraggeberinnen und 17 Gärten und Parks im Wandel Auftraggeber wurden bei der Gestaltung ihrer Paradiese immer kapriziöser. Farblich und nach Blütezeit streng durchkomponiert, gedrechselt, gezählt, gekünstelt - das war nicht nur die Vorstellung von höchster paradiesischer Lust (→ Abb. 3). Dahinter steckt - teilweise noch in der Gegenwart erkennbar - die Absicht des Auf‐ traggebers und der Auftraggeberin, des Regenten, zur Selbstdarstellung von Reichtum und Macht über seine Untergebenen und das Volk, wie auch die Macht über die Natur. Das Beharren, die Restauration, der Rückzug in die private Idylle spiegelten sich im Garten wider. 6 Industrielle Revolution revolutioniert auch die Gärten Der fundamentale Wandel der Gesellschaft und damit der fundamentale Wandel von Garten und Natur waren nicht aufzuhalten. Politisches Engagement für Fortschritt und Revolution zeichneten sich auch im Garten ab. Die Industrielle Revolution brachte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts grundlegende wirtschaftliche und politische Veränderungen mit sich. Das Bürgertum erstarkte, der Wirtschaftsliberalismus führte zu ungehemmter wirtschaftlicher Konkurrenz. Zur neuen bürgerlichen Weltanschau‐ ung des Liberalismus gehörte das Recht ungehinderter Entfaltung des Individuums. Auch beim Garten im Kleinen und der Natur im Großen standen fundamentale und tiefgreifend nachhaltige Veränderungen an - allerdings zunächst nicht vom Gärtner oder der Gärtnerin initiiert, sondern von Philosophinnen und Philosophen sowie Literatinnen und Literatenwie Friedrich Hegel, der in seinen Werken einen anderen Umgang mit der Natur - eine neue ‚Naturphilosophie‘ - prägte. Es entstand eine neue Auffassung von Bau- und von Naturkultur, basierend auf den Ansätzen der Industriellen Revolution in England. Den an landschaftliche Weite gewöhnten Englän‐ derinnen und Engländer lag die klare Begrenztheit der bis dato üblichen symmetrischen Barockgärten nicht. 7 Gärten für das Volk statt für die Herrscher Die Gesellschaft verabschiedete sich von dem „Garten als moralische Anstalt“ (vgl. Leuschner 2020), dem Schönheitsideal der geometrisch mit Haupt- und Nebenachsen gegliederten, eingezäunten Natur, oftmals mit Treppenanlagen und Wasserkaskaden. Der tradierten erlebten Begrenztheit und dem Formalismus stand der Unendlichkeits‐ gedanke gegenüber. Gemäß Hermann Fürst von Pückler- Muskau soll ein Park „nur den Charakter der freyen Natur und der Landschaft haben, die Hand des Menschen also wenig darin sichtbar seyn, und sich nur durch wohlunterhaltene Wege und zweckmäßig verteilte Gebäude bemerklich machen. […] [D]a eine solche Anlage wohl Natur aber auch zum Gebrauch und Vergnügen des Menschen eingerichtete Natur darstellen soll“ (Pückler-Muskau 1977, S. 30 f.). 18 Klaus Neumann Diese Maxime ist bis heute beeindruckend erkennbar in den in dieser Epoche entstan‐ denen Parkanlagen, z. B. im von Peter Joseph Lenné gestalteten Landschaftspark Glienicke, im von Fürst von Pückler-Muskau gestalteten Landschaftspark Branitz (→ Abb. 4) oder im Berliner Volkspark Friedrichshain (vgl. Hinz 1989). Dies war der erste kommunale Park Berlins und damit das erste städtische Grün, das nicht vom Königshaus oder Adel und ausschließlich für das Volk geschaffen wurde. Abb. 4: Branitzer Landschaftspark, Blick vom Kugelberg über den Schilfsee auf das Branitzer Schloss 8 Literaten und Philosophen beflügeln die Gartenkultur Diese neue Auffassung von Park und Landschaft bedeutet, geistesgeschichtlich be‐ trachtet, nicht Formzerfall und Verwilderung. Es ist eine neue Interpretation von Natur und Garten, eine Weiterentwicklung und eine bis dato nicht gekannte Symbiose der Baukunst mit der Gartenbaukunst. Neue seelische Quellen sprudelten und gewannen für das Geistesleben der Völker neue Bedeutung: für Malerei, Musik, Dichtung und Philosophie. Goethe, Schiller, Kant, E. T. A. Hoffmann, Beethoven, Mozart, Zelter, Schinkel - alles Zeitgenossen dieser Epoche - sind in ihrer jeweiligen Kunst- und Kulturgattung beseelt von einem Aufbruch. Sie wirken und agieren individuell und gemeinschaftlich, sie bewirken eine neue Auffassung von Kunst und Kultur. Populär gemacht und in die Gesellschaft getragen wird die veränderte Auffassung von Kultur und Natur zunächst von Literaten wie Friedrich Gottlieb Klopstock (1724- 1803), Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Friedrich Schiller (1759-1805). 19 Gärten und Parks im Wandel Goethe bezieht eine klare Position zum neuen Umgang mit Natur und Garten. Er gibt sich nicht mit der damals geläufigen Wirkungsästhetik einer genuin deutschen Garten‐ kunst zufrieden, die sich sowohl der englischen wie der französischen Tradition ver‐ pflichtet. Er sucht eine neue Auffassung von ‚Schönheit‘. „Er bricht mit dem Vokabular der sentimentalen Gartenkunst. Er verabschiedet sich von den wirkungsästhetischen Regularien sentimentaler Gartenkunst“ (Groß 2005). „Auf Zierrat, auf überflüssige Allegorien - auf all diese nichtssagenden Formen und Gestaltungselemente, die nichts zur Natur der Sache beitragen, sei zu verzichten“ (Groß 2005). ‚Verzicht‘ - die fundierte Maxime Goethes. Er reklamierte den Genius des Ortes als Basis jeder Gestaltung. Es ist die Suche nach der natürlichen Einheit als Ganzes, dem ‚Ganzheitlichen‘. Auch Goethes Zeitgenosse und geistiger Mitstreiter Friedrich Schiller distanziert sich von den barocken Gestaltungsprinzipien. Er setzt diesem Ansatz seine Idee vom ‚Organischen‘ entgegen, denn einem Garten, der die Natur determiniert, kann er nichts abgewinnen. Schiller verlangt nach dem Ideal der Freiheit und nach der Einbettung desselben in die sinnliche Wirklichkeit des Gartens (vgl. Groß-Lobkowicz 2012). Diese kritische Reflexion, Schillers Suche zum Organischen ebenso wie Goethes Veto zum tradierten Schönheitsverständnis prägten Zeitgenossen, Baukunst und Gar‐ tenkunst. Sie brachte Goethe mit dem preußischen Baumeister Karl Friedrich Schinkel zusammen, mit dem er im Juli 1816 eine erste Begegnung in Weimar hatte. Goethes Kritik, der von ihm geforderte, gleichermaßen mit Rousseau im Einklang stehende Imperativ „Zurück zur Natur“ war es auch, der Gartengestalter wie Lenné und Pück‐ ler-Muskau begeisterte. Seine Kritik am sentimentalen Garten blieb wegweisend für die neuen Garten- und Parkgestaltungen, eine neue Epoche der Bau- und Gartenkunst. Es ist die Geburtsstunde einer neuen Auffassung von Natur und Garten, Freiraum- und Landschaftsgestaltung mit bis dato nicht bekannten Nutzungsoptionen für das Volk. Das Paradies sollte wieder mehr von Gottes Natur und Gottes Hand als von Menschenhand gestaltet werden. Gottes freie Natur, das vom Schöpfer geschaffene Paradies, der Garten Eden, kam wieder in Mode. Im Geiste dieser neuen Garten- und Naturdominanz entsteht Ende des 19. Jahrhun‐ derts in Anlehnung an die universitären botanischen Gärten ein neuer Gartentypus: der biologische Schulgarten, auch deutscher biologischer Schulgarten genannt, welcher auf der Internationalen Gartenbauausstellung in Dresden im Jahr 1896 vorgestellt wird. Er ist als Lehr- und Beobachtungsgarten angelegt. Ein weiteres Relikt dieser Epoche sind die heutigen Kleingärten, die ursprünglich Schrebergärten genannt wurden. 9 Gärten - Keimzelle der Freiraum- und Landschaftsgestaltung Die Anfänge dieser Interpretation von Natur und Garten sind zugleich die Anfänge einer genuin europäischen Garten- und Landschaftsgestaltung mit der Auseinander‐ setzung von urbanen Grün- und Freiräumen im Kontext gesellschaftlicher Veränderun‐ gen, neuen Stadtstrukturen und dem Umgang mit sozialen wie ethischen-moralischen Werten. Prägend sind: 20 Klaus Neumann ● für die Gartenkultur und Gartenarchitektur bedeutende Gartenkünstler und Land‐ schaftsgestalter wie Peter Joseph Lenné (1789-1866), Hermann Ludwig Heinrich Graf von Pückler-Muskau (1785-1871) und Friedrich Ludwig von Sckell (1750- 1823), ● für die enge Symbiose von Gebäuden und Gärten, von Stadt- und Grünentwick‐ lung, von Architektur und Bauen Persönlichkeiten wie der preußische Baumeister, Architekt und Stadtplaner Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), ● für das Verständnis ökologischer Zusammenhänge und die Erfassung wissen‐ schaftlicher Erkenntnisse beim Planen und Bauen die Forschungsreisenden und Wissenschaftler Friedrich Wilhelm (1767-1835) und Heinrich Alexander von Humboldt (1769-1859), ● das unabdingbare Erfordernis zu Aus-, Fort- und Weiterbildung bei der Bau- und Gartenkultur durch Persönlichkeiten wie den hohen Ministerialbeamten und Mitglied des Staatsrats Christian Peter Wilhelm Beuth (1781-1853). 10 Die heutigen urbanen Gärten Prachtvolle Kleinode zur Präsentation von Garten und Gartenkunst im Ambiente ehemals fürstlicher Guts- und Schlossparks prägen die urbane Gegenwart ebenso wie allerorts zu genießende Ensembles öffentlicher Garten-, Parkanlagen und Stadtplätze. Öffentliche Oasen, die heute für Fitness oder für multikulturelle Familienfeste genutzt werden (→ Abb. 5), gehören zur urbanen Lebensqualität in gleichem Maße wie das naturhafte Ökotop auf ehemaligen Gleisanlagen (→ Abb. 6) - oder die gärtnerische Präsentation anderer Lebens- und Religionskulturen, z. B. in japanischen (→ Abb. 7) oder chinesischen Gärten. Das alles zeigt die Vielfalt der Gärten, jener damals wie heute so behutsamen Paradiese pairi daeza. Abb. 5: Familienfest im Tiergarten Berlin Abb. 6: Park am Gleisdreieck Berlin 21 Gärten und Parks im Wandel Abb. 7: Japanischer Garten, Bad Langensalza Ein beeindruckendes raumplanerisch-kulturelles Erbe zur ebenso nachhaltigen öko‐ logischen wie kulturell anspruchsvollen Entwicklung ganzer Stadt- und Landschafts‐ räume und Regionen, um mit den Mitteln der gestalteten Natur ein ‚Gesamtkunstwerk‘ Stadt- und Kulturlandschaft zu schaffen. Heute vielfach geachtete und geschützte Bestandteile von Weltkulturerbe, Garten- und oder Baudenkmalen; immer naturale Schmuckstücke der Eigentümerinnen und Eigentümer sowie Nutzerinnen und Nutzer, ob nun im Privaten, in Stadt oder Region. Dieses grüne Natur- und Kulturguterbe des Gestern stellt heute eine besondere Qualität für Stadt und Land von morgen dar. 11 Gärten und Parkanlagen im Spiegel gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung Bei der Analyse der Entstehung langfristiger (Struktur-)Zyklen - auch von Park- und Gartenanlagen - stößt man auf den Ökonomen Nikolai Kondratieff (1892-1938). Er beobachtete langfristige Wirtschaftsschwankungen in Zyklen von 40 bis 60 Jahren und entwickelte in den 1920er-Jahren die ‚Theorie der langen Wellen‘: die sogenann‐ ten Kondratieffzyklen (Kondratieff 2013). Ausgangspunkt für die ‚langen Wellen‘ 22 Klaus Neumann 1 Der Begriff ‚Paradigmenwechsel‘ bezeichnet im Allgemeinen den Wandel wissenschaftlicher Grund‐ auffassungen und wurde 1962 von Thomas S. Kuhn geprägt. 2 Der Begriff ‚Investition‘ bezeichnet die Umwandlung von Kapital in Vermögen. sind Paradigmenwechsel 1 und damit verbundene innovationsinduzierte Investitionen. 2 Kondratieff postulierte, dass die grundlegenden wirtschaftlichen und gesellschaftli‐ chen (und damit auch die städtebaulichen) Entwicklungen immer durch produktivför‐ dernde Basisinnovationen initiiert werden und die wirtschaftlichen Entwicklungen in den Industriestaaten in Konjunkturzyklen bzw. langen Wellen erfolgt. In diesem Verständnis zur Korrelation gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Ent‐ wicklung werden fünf entscheidende Zyklen (Wellen) identifiziert (→ Tab. 1). Die Basisinnovationen sind es, die einer stagnierenden Wirtschaft immer wieder zu neuem Wachstum verhelfen. In Folge solcher Expansionsinnovationen entstehen - quasi im ‚Huckepack-Verfahren‘ - grundlegende Wandlungsprozesse in der Gesell‐ schaft. Für Stadt und Raum ebenso wie für den Umgang mit Natur und Garten. Diese Entwicklungen manifestieren sich sowohl im Negativen durch soziale Ungleichheit, Umwelt- und Naturzerstörung und Ressourcenverbrauch als auch im Positiven in neuen sozialen wie ökologischen Werten- und Nutzungsstrukturen oder Partizipati‐ onsprozessen. Korreliert man die Genese der Garten- und Parkanlagen mit diesen jeweiligen Zyklen, wird ein Verständnis für den tiefgreifenden Paradigmenwechsel im Umgang mit den grünen Werten Garten und Park vermittelt. Diese Betrachtungsweise ist bedeutsam, weil sie zu einem grundlegend anderen Blick mit anderen Wertigkeiten und anderen Lösungsansätzen im Umgang mit Grün- und Freiflächen führen kann. Kondra‐ tieffzyk‐ len 1. Kondra‐ tieff 2. Kondra‐ tieff 3. Kondra‐ tieff 4. Kondra‐ tieff 5. Kondra‐ tieff Zeitepoche ca. 1780-1830 ca. 1830-1880 ca. 1880-1930 ca. 1930- 1960/ 70 ca. 1960/ 70- 2010 Basisin‐ novtion, Erfindung Dampfma‐ schine, mechanischer Webstuhl, Kohle und Stahlproduk‐ tion Eisenbahn, Bessemer‐ stahl, Straßenbahn, Dampfschiff‐ fahrt Elektrizität, Chemie, Telegrafie Automobil, Luftfahrt, Petrochemie, Pharmazie Telekommu‐ nikation, Mikroelek‐ tronik, Nuklearener‐ gie, Digitalisie‐ rung Aktions‐ feld Industrielle Produktions‐ verfahren, vorrangig na‐ tionaler Han‐ del und Ge‐ werbe Massentrans‐ port, Überwindung von Handels‐ schranken, Baukul‐ tur-Gründer‐ zeit Massenpro‐ duktion, Telekommu‐ nikation, Schwerma‐ schinen Transnatio‐ nale individu‐ elle Mobilität, Elektronik, Automatisie‐ rung Globalisie‐ rung, Biotechnolo‐ gie, Ökologie, Umwelt‐ schutz, Dienstleis‐ tung 23 Gärten und Parks im Wandel 3 NatSchG = Naturschutzgesetz 4 FFH = Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie 5 UVP = Umweltverträglichkeitsprüfung Domi‐ nanz, Charakte‐ ristik von Garten und Park Repräsenta‐ tionsaspekt Gärten der wirtschaftli‐ chen, religiö‐ sen und poli‐ tischen Regenten, vorwiegend private Nut‐ zung Raum- und Glieder‐ ungsaspekt Funktional und räumlich gliedernde Elemente des beginnenden Städtewachs‐ tums mittels Alleen, Grün‐ gürteln und Stadtplätzen sowie groß‐ räumiger Landschafts‐ raumgestal‐ tung Sozialer As‐ pekt Gärten und Parks zur ‚so‐ zialen‘ Befrie‐ dung, meist öffentlich zu‐ gängliche An‐ lagen wie Volksparks, Stadtgärten, Kleingärten, Schul- und Kranken‐ hausgärten Versor‐ gungs- und Sicherheits‐ aspekt Haus-, Klein-, Stadt- und Schrebergär‐ ten zur indivi‐ duellen und gemein‐ schaftlichen Lebensmittel‐ versorgung in Kriegs- und Nachkriegs‐ zeit, zentrale Ele‐ mente, Aufbauphase mit deutli‐ chen Richt‐ wertvorga‐ ben, z. B. Wohnumfeld, Spiel- und Sportanlagen, Garten‐ schauen Schutzas‐ pekt Basierend auf den Erkennt‐ nissen des Club of Rome wächst das Erfordernis zu Umwelt- und Natur‐ schutz, wichtige Funktionen für Klima, Ar‐ ten und Bio‐ top, zentrale Ele‐ mente für rechtliche Ausgleichs- und Ersatz‐ maßnahmen gemäß NatSchG 3 , FFH 4 , UVP 5 Tab. 1: ‚Theorie der langen Wellen‘ (Kondratieffzyklen) mit Typologie von Gärten und Parks Der 1. Zyklus: Die Repräsentationsgärten im französischen und englischen Gartenstil als Ausdruck königlicher, fürstlicher und politischer Regenten. Garten- und Parkanla‐ gen im öffentlichen Stadtraum waren nicht existent. Prägend ist der Repräsentations‐ aspekt von Garten und Park. Der 2. Zyklus: Es ist der Einzug der Gärten und Parkanlagen als raumstrukturelles und gliederndes Element in der Stadt und Siedlungsentwicklung durch Baumreihen, Alleen, Grünzüge, städtische Gartenplätze und die durchgrünte Stadt. Die Alleen wurden meistens aus militärischen Gründen angelegt, damit die Soldaten eine bessere Orientierung und einen besseren Schutz hatten. Der 3. Zyklus: Gärten und Parkanlagen mit vorwiegend sozialer Funktion. Mobilität und neue Arbeitsplätze im beginnenden Städtewachstum bringen erhebliche soziale Ungleichgewichte mit sich. Neu geschaffene Volksparks, Kleingärten und Spielanlagen sollen bei der rasanten wirtschaftlichen und baulichen Expansion der Städte die hygie‐ 24 Klaus Neumann 6 Die Partei wurde am 12./ 13. Januar 1980 in Karlsruhe gegründet und schloss sich am 14. Mai 1993 mit Bündnis90 (gegründet 21. September 1991) zusammen. nischen und sozialen Lebensbedingungen verbessern. Parkanlagen und Kleingärten entstehen auch, um den sozialen Frieden zu gewährleisten. Der 4. Zyklus: Im zerstörten Nachkriegsdeutschland steht der Wiederaufbaugedanke mit der Schaffung urbaner Frei- und Grünräume, Park, Spiel- und Sportanlagen im Stadtraum und im Wohn- und Arbeitsumfeld im Mittelpunkt. Das prosperierende Wirt‐ schaftswachstum wird mit weitgehend architektonisch sehr anspruchsvoll gestalteter Naturkultur ergänzt. Wichtiges Element der Stadtentwicklung werden Gartenschauen. Zudem prägen unendlich viele quantitative Richtwerte und Soll-Vorgaben diese Epoche (je Eigenwert [EW] = 1 m² Kinderspielplatz). Im Vordergrund steht der Versorgungs‐ aspekt mit urbaner, wohnungs- und siedlungsnaher Natur. Der 5. Zyklus: Als Konsequenzen eines wachsenden Flächenverbrauchs und eines neu entstehenden Umweltbewusstseins, initiiert z. B. durch den Club of Rome und eine aufkommende, auch politische Ökologiebewegung (Partei Die Grünen 6 ), stehen ökologische Belange wie Artenschutz für Tiere und Pflanzen, Klima- und Luftschnei‐ sen, nachhaltige Wasserbewirtschaftung und städtische Biotop- und Brachflächen im Vordergrund. Zudem entwickeln sich Gärten- und Parkanlagen zum elementaren Be‐ standteil der gesetzlich verankerten Eingriffs- und Ausgleichsregelungen mit Kompen‐ sationserfordernissen aus nationaler wie internationaler Naturschutzgesetzgebung, europäischer Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) und Umweltverträglichkeitsprü‐ fung (UVP). Neben den grundlegenden räumlich-ästhetischen und nutzungsbedingten Erfordernissen an Garten und Park bekommt der (Natur-)Schutzaspekt eine immer wichtiger werdende Bedeutung. Der 6. Zyklus: Garten- und Park, vom Kosten zum Wertfaktor. Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist geprägt von tiefgreifenden Veränderungen in allen Sphären des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Noch vor wenigen Jahren dominierten Szenarien von schrumpfenden Städten mit Leerstand, von degressivem Bevölkerungswachstum und einem Überangebot an Grünflächen, insbesondere in Bereichen des wohnungsgebundenen Stadt- und Siedlungsgrüns. So verkündete das brandenburgische Ministerium für Infrastruktur und Raumordnung im März 2009 den Abriss weiterer Wohnungen in Brandenburg und die erforderliche Neuordnung von städtischem Grün; die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in Berlin analysierte als Basis der zukünftigen Stadtentwicklung im Flächennutzungs‐ plan 1999 eine Stagnation der Einwohnerentwicklung und einen insgesamt niedrige‐ ren Wohnungsbedarf als ursprünglich angenommen. Diese vorrangig degressiven Entwicklungsszenarien sind der Erkenntnis einer globalisierten, technisierten und digitalen Epoche mit signifikanten gesellschaftlichen Veränderungen gewichen. 25 Gärten und Parks im Wandel 7 Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs wird oft als ‚Brexit‘ bezeichnet und erfolgte am 31. Januar 2020. Einerseits fragen ganz Verwegene, ob überhaupt noch urbanes Grün, Garten- und Park‐ anlagen benötigt werden (vgl. Guratzsch 2015), oder machen sich Sorgen, dass es zu viele Garten- und Parkanlagen gibt, und warnen vor „einer Überdosis“ (Bratens 2015). Zunehmend werden bundessweit auch Forderungen laut, Grünflächen, Garten- und Parkanlagen, insbesondere Kleingärten und Friedhofsüberhangflächen, zu bebauen (vgl. Berliner Baukammer 2019). Andererseits lancieren Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik sowie zahlreiche, insbesondere junge, umweltbewusste Menschen die Forderung nach mehr Grün, nach mehr Natur (vgl. BMI 2020; BMUB 2017). Ob Klimawandel, Verlust der Biodiversi‐ tät, mangelnde Flächen oder Angebote für Naturerlebnis, Freizeit und Erholung - insbesondere in urbanen Verdichtungsgebieten etabliert sich immer intensiver die Sehnsucht und der Bedarf nach mehr Natur, Garten und Park. Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend: ① Ein Garten ist für viele das Gegenmodell zur aktuellen Politik. Hier gibt es keinen Wachstumsstreit. Wachstum ist prinzipiell gut; was zu viel ist und den Nachbarn stört, wird mit der Heckenschere gestutzt oder entfernt. Während die politische Welt oft nur die Wahl zwischen einer schlechten oder einer noch schlechteren Lösung hat (siehe die Diskussionen zum Brexit 7 ), kennt der Garten das Gefühl der Machtlosigkeit nicht. Es ist die Flucht in Garten und Park, die Suche nach dem individuellen pairi daeza. Und die hat oft - wie in der Geschichte der Garten- und Parkentwicklung - viel mit Politik zu tun (Reimers 2010). ② Die technisierte, digitalisierte und virtuell oftmals weitgehend anonymisierte Lebens-, Arbeits- und Naturumwelt führt förmlich zur Suche, oftmals zu einer Sucht nach realer Natur. Der Stadtsoziologe und Zukunftsforscher Peter Wippermann stellt fest: „Sie waren als Kind bereits in der Dominikanischen Republik, als Jugendliche mit Freunden in New York, sie kennen die Ferne aus dem weltweiten Gewebe und den globalen sozialen Netzwerken. Aber: die Idee, dass wir die Exotik der Nähe plötzlich als ‚aufregend empfinden‘, dass wir irgendwo ankommen wollen, dass wir ‚Heimat‘ haben wollen, ist etwas, was mit Globalisierung und mit der virtuellen Welt des Internet zu tun hat. Aus Sucht nach ‚weiter, schneller, höher, billiger‘ erwächst langsam aber sicher die Gegenbewegung: gesünder, qualitätsvoller, innere Entschleunigung, soziale Kommunikation und Naturnähe bilden hier das Vokabular“ (Wippermann 2013). 12 Stadtentwicklung - Stadtluft macht frei und ist teuer Mit dem neuen Jahrtausend ist das Zeitalter der Städte angebrochen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten. Die vergangenen hundert Jahre waren von einem beachtlichen Bevölkerungswachstum geprägt: Lebten im Jahr 1900 noch 1,6 Milliarden Menschen auf der Erde, waren es 1966 bereits 3,4 Milliarden, 1980 schon 4,4 Milliarden und 6 Milliarden Menschen im Jahr 26 Klaus Neumann 1999. Im Jahr 2011 wurde die 7-Milliarde-Grenze erreicht. Ab Mitte des Jahrhunderts wird sich die Weltbevölkerung vermutlich auf fast 10 Milliarden Menschen erhöhen (→ Tab. 2). Weltbevölkerung Menschen, die in Städten oder in städtischem Umfeld leben 1960 3,03 Mrd. ca. 30 % 1970 3,69 Mrd. ca. 35 % 1980 4,45 Mrd. 38,6 % 2005 6,42 Mrd. 49 % 2010 6,92 Mrd. < 50 % 2015 7,36 Mrd. 54,8 % 2050 9,55 Mrd. 66,3 % Tab. 2: Entwicklung der Weltbevölkerung und der Menschen, die in Städten leben Das Wissenschaftsformat Planet Wissen titulierte kurz und knapp: „Die Städte - die radikalste Umgestaltung der Erde“. Fast alle Städte gelten (noch) als verheißungsvolle Orte des guten Lebens, als Orte der Kultur-, als Arbeits-, Wohn- oder Wirtschafts‐ zentren. Sie üben eine immer größere Anziehungskraft aus. Der mittelalterliche Rechtsgrundsatz „Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag“ umschreibt die Anfänge der heutigen weltweiten Urbanisierung. Städte wurden immer beliebter, denn alle Bewohnerinnen und Bewohner waren freie Bürgerinnen und Bürger. Mit jeder Urba‐ nisierung verstärken sich die Umwelt- und Verkehrsprobleme. Gleichzeitig wächst der Druck auf Wohnraum, Infrastruktur und Arbeitsplätze. Aber auch die Erfordernisse für ein gesundes Lebensumfeld mit entsprechenden Frei- und Erholungsangeboten, für gutes Klima, saubere Luft und lebensnotwendige Biodiversität - alles unabdingbar verbunden mit Garten und Park, Grün- und Freiflächen. Jedoch ist die Flächenverfügbarkeit der limitierende Faktor jeder Ansiedlung. Dieses immer knapper werdende Gut ‚(Grundstücks-)Fläche‘ wird immer wertvoller. Der Druck hin zur rentablen Verwertung steigt permanent. Im wirtschaftlichen Bereich äußern sich Werte in Form von Preisen: Wer etwas wertschätzt, ist bereit, dafür einen Preis zu entrichten. Für den städtischen Garten und Park versagt dieser Mechanismus. Der Wert des städtischen Grüns schlägt sich nicht in Preisen nieder. Es entsteht ein ex‐ terner Nutzen, frei nach dem Motto: „Der eine (die Kommune) zahlt für die Investitions- und Unterhaltungskosten von Garten und Park - der andere (Wohnungseigentümer und -eigentümerin, Investor und Investorin) zahlt die Rendite.“ Das in kommunalem Marketing oder privater Werbung angepriesene Wohnen am Park, das Apartment am Stadtgarten, das Büro im Grünen markiert den Wert grüner urbaner Wohn- und Arbeitsquartiere und die damit verbundene Wertschöpfung für den Bauherrn und die 27 Gärten und Parks im Wandel Bauherrin, den Investor und die Investorin oder den Eigentümer und die Eigentümerin. Man leistet sich etwas und man zahlt indirekt durch Steuern dafür. Das Hauptproblem besteht darin, dass die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten einer Fläche wirtschaft‐ lich nicht gleichwertig sind. Während sich mit intensiven Nutzungsmöglichkeiten durch Bebauung oder Gewerbeflächen geldmäßige Erträge erwirtschaften lassen, ist dies für die extensive Nutzungsmöglichkeit einer Parkanlage nicht gegeben. Eine Preisexplosion dieses immer knapper werdenden Guts ‚Bauland-Fläche‘ ist die Folge. In Deutschland sind die Durchschnittspreise für Bauland von 1997 bis 2006 um über 80 % gestiegen (von 65 €/ m² auf 120 €/ m²). In Berlin haben sich nach Angaben des regierenden Bürgermeisters von Februar 2020 in den vergangen fünf Jahren (2015-2020) die Preise verzehnfacht. Nach Mitteilung des ehemaligen Münchner Oberbürgermeisters Hans-Jochen Vogel haben sich die Münchener Baulandpreise in sieben Jahren verdreifacht. Nutzen und Rendite mit Bauland sind klar zu erkennen und zu kalkulieren. Nutzen und Erträge von ‚Grün‘ zeigen sich nicht direkt im Finanz- und Haushaltsbudget. In der Rechnungslegung von Kommunen, Handel, Industrie oder im Immobiliensektor erscheinen nur die Kosten für Pflege und Unterhaltung. Somit erhöht sich der Druck auf den Grünraum, weil sich die intensiveren (d. h. geldmarktwerten) Nutzungen als die wirtschaftlicheren Alternativen darstellen und die Aufwendungen für den nicht geldmarktwerten Nutzen des Grüns als zu hoch und häufig unrentabel eingestuft werden. Während für die elementare Hardware des Grüns wie Bäume, Sträucher sowie Rasen monetäre Wertermittlungsverfahren Bedeutung haben (z. B. Ermittlung eines Baumschadens infolge einer Kfz-Beschädigung), entzieht sich die kulturelle, raum‐ bedeutsame, nutzungsorientierte und ökologische Wertigkeit solchen merkantilen Bewertungsmechanismen. Die Wertdarstellung des Grüns lässt sich daher vorwiegend vom Argumentationsfeld wohlfahrtsökonomischer Zielsetzungen leiten, die besonders dann zum überzeugenden Argument wird, wenn neben geringen eigenen Haushalts‐ mitteln externe Fördermittel greifbar sind. Ansonsten gilt das Grün der Stadt primär als Kostenfaktor. Man ist sich der Opportunitätskosten der alternativen Nutzung des Bodens bewusst, bindet jedoch kaum die Erholungs-, Schutz-, und Optionsfunktion oder den Existenz- und Vermächtniswert des Grünraums in fiskalpolitische Entschei‐ dungen ein. 13 Die veränderte Gesellschaft: Demografie und Soziodemografie Im Bereich der Bundesrepublik lebten 2013 ca. 49,2 Millionen Menschen im Erwerbs‐ alter. Im Jahr 2030 wird die Zahl auf ca. 44 Millionen sinken, für 2060 wird die Zahl der Erwerbstätigen auf etwa 38 Millionen Menschen prognostiziert, sofern der Wan‐ derungssaldo von rund 500.000 Menschen im Jahr 2014 stufenweise bis 2021 auf 200.000 sinkt und danach konstant bleibt. Dennoch: Selbst ein jährlicher Wanderungssaldo von 300.000 Personen kann die Schrumpfung der Bevölkerung im Erwerbsalter nicht aufhalten. 28 Klaus Neumann „Die Alterung der Bevölkerung in Deutschland wird sich trotz hoher Nettozuwanderung und gestiegener Geburtenzahlen weiter verstärken. In den nächsten 20 Jahren sind durch den aktuellen Altersaufbau ein Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter und ein Anstieg der Seniorenzahl vorgezeichnet“, so die amtliche Mitteilung des Statistischen Bundesamtes (2019). Aus dieser Entwicklung sind zwei Konsequenzen zu ziehen: ① Weniger Menschen müssen für immer mehr und immer älter werdende Menschen die Altersversorgung sichern. ② Nach Schlussfolgerung des Statistischen Bundesamtes werden jährlich mindestens 400.000 Zuwandererinnen und Zuwanderer benötigt, um den Folgen dieser degressiven Bevölkerungsentwicklung entgegenzuwirken. Bereits 2035 werden somit in Deutschland ca. acht Millionen Migrantinnen und Migranten mehr leben als heute. Deutschland ist das größte Ziel der neuen Völkerwanderung. Eine Analyse zu Projektionen der Vereinten Nationen (UN) zur Weltbevölkerung liest sich wie folgt: „Europa stirbt aus, Afrika entscheidet die Zukunft“ (Ehrenstein 2013). Umfassende Einwanderungs- und Eingliederungsstrategien sind somit unabdingbar. Wenn in die‐ sem Kontext des gesellschaftlichen Wandels mit einer globalen Migrationsentwicklung und einer neuen multiethnischen Gesellschaft über Schöpfung, Natur und Garten nachgedacht wird, gilt es zu verstehen, dass die so dringend benötigten Menschen eine völlig andere Genese, ein anderes Alter, eine andere Religion, eine andere Heimat und damit andere Sitten und Gebräuche auch im Umgang und im Nutzen mit Garten und Park mitbringen werden. Somit werden der tradierte Wertekodex und die aktuellen Regularien im Umgang mit der Natur und dem urbanen Grün zu hinterfragen sein. Die Adaptionen an neue multikulturelle Gesellschaftsstrukturen werden manch tradierte Verordnungen und Satzungen mit Nutzungsge- und verboten im Kleingartenwesen, vielfältige Vorgaben in öffentlichen Garten- und Parkanalagen oder manch althergebrachte Friedhofs- und Bestattungsordnung betreffen. Diese neue Gesellschaft wird neue Wertigkeiten, Ansprüche und Erwartungshaltungen und ihren eigenen Wertekodex nicht nur im Umgang mit Stadt, Wohnen und Einkaufen mit sich bringen, sondern auch in der Aneignung, und dem Nutzungs- und Schönheitsideal ihrer Herkunft. Zwar werden immer wieder Stimmen gegen diese Veränderungsprozesse, insbesondere im Kleingartenwesen, laut (z. B. „Kleingartenanlage will keine Migran‐ ten“, Kneist 2016). Dennoch ist mittlerweile durch zahlreiche nationale wie regionale Studien bekundet, dass das Kleingartenwesen zu den wichtigsten Elementen einer Integrationsarbeit zählt (vgl. Krause 2009). 14 Neue Arbeitswelt, Digitalisierung, Wandel tradierter Werte Die Entstehung neuer sozialer und technischer Dominaten führt neben veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu grundsätzlich neuen Umweltbedingungen. Die Ausbreitung von multimedialen Kommunikationsdiensten in Wirtschaft und privaten Haushalten mit Telearbeit, Teleshopping, Telekonferenzen und virtuellen Internetwel‐ ten prägt die Lebens- und Arbeitswelt im 21. Jahrhundert. Die Pflege per Roboter, 29 Gärten und Parks im Wandel die Hochzeitsnacht mit dem Rechner sind heute in Japan ebenso Realität wie das virtuelle Begräbnis in Skandinavien oder die weitgehend digitalisierten und virtuell gemanagten Grün- und Parkanlagen der future smart-city 4.0, z. B. in Santander (vgl. Neumann 2017). Der Münchner Stadtdirektor Stefan Reiß-Schmidt postuliert im Rahmen der „Perspektive München 2030“, die bevorstehenden Veränderungen werden zu einer Virtualisierung der Stadt und zu einer weiteren Mediatisierung der Öffentlichkeit führen. Dies werde einerseits eine dramatische Natur-Entfremdung mit sich bringen - und im Gegenzug eine immer größere Sehnsucht nach Natur entstehen lassen. Im urbanen freien grünen Raum werde sich das damit verbundene Prinzip Hoffnung der Stadtbewohner von morgen vorrangig widerspiegeln. Die dramatischen Veränderungen der Arbeitsgesellschaft führen außerdem dazu, dass das klassische Vollzeit-Erwerbsarbeitsverhältnis für immer mehr Menschen eher zur Ausnahme während ihres Berufslebens werden wird. Neue Formen der sinnstif‐ tenden Beschäftigung, der selbständigen Dienstleistungsarbeit und neue Systeme der Mindestversorgung und der Honorierung gesellschaftlich nützlicher ehrenamtlicher Betätigung werden auch zu anderen Anforderungen an den öffentlichen Raum führen. Signifikante Auswirkungen dieser Entwicklung: die Übernahme von Verantwortung vieler Bürgerinnen und Bürger für Garten und Park. Ob Urban Gardening, Bürgerpfle‐ gaktionen, Patenschaften oder Bürgerstiftungen für Garten und Parkanlagen - die Bereitschaft und das Interesse der neuen Gesellschaft zur bzw. an der Übernahme von Verantwortung im Bereich der urbanen Natur ist eine prägende Realität der Gegenwart. Im Kontext solch signifikanter Entwicklungen einer neuen Gartenkultur haben sich auch Friedensgärten, interkulturelle Gärten und ‚Mundraub-Gärten‘ als neue Gartentypologien entwickelt. Auch die Sichtbarmachung einer aktuellen Verantwortungsübernahme gegenüber Natur und Umwelt, manifest im Gartentypus ‚Klimagarten‘ oder ‚Naturgarten‘, spiegelt die veränderte Auffassung von Garten und Park wider. Gezeigt werden soll, dass es auch anders geht. Mit ortstypischen Wildblumen, Wildsträuchern, Blumenwiesen und Kräuterrasen, mit Totholzbeeten, lebenden Zäunen, Trockenmauern und Lesesteinhau‐ fen lassen sich Gärten und öffentliche Parkanlagen in Erlebensräume verwandeln, in denen Mensch und Tier gleichermaßen zu Hause sind. In diesem Geist erfasst die neue Garten- und Parkgestaltung vielfältige Gartenanlagen von Schulhöfen, Kindergärten, Hausgärten, Friedhöfen, Firmengärten bis zum Naturerlebnispark und Naturgarten (→ Abb. 8). Konträr zu dieser Hinwendung mit mehr Natur im Garten sind in den letzten Jahren zwei bemerkenswerte Entwicklungen nahezu unbemerkt stetig gewachsen. Besonders markant ist eine höchst fragwürdige Zunahme der ‚Versteinerung der Gärten‘ festzustellen (→ Abb. 9). 30 Klaus Neumann Abb. 8: Naturgartenanlage, Privatgarten in Delémont, Canton du Jura, Trockenmauern mit lokalem Jurakalk und mit standortheimischen Arten Abb. 9: Modetrend ‚Versteinerte Gärten‘ Diese prägen zunehmend sowohl den privaten als auch den öffentlichen Raum, d. h. Vorgärten, Straßenraumbegrünung, Areale bei öffentlichen Gebäuden. Diese „Gärten des Grauens“, so der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in einer Mitteilung vom 25.12.2019, sind großflächig mit Steinen bedeckte, asphaltierte 31 Gärten und Parks im Wandel Abb. 10: IP-Garten „Jeder Mensch verdient seinen eigenen Garten“ - Online gärtnern und real genießen und versiegelte Gartenflächen, in welcher Pflanzen nicht oder nur in geringer Zahl vorkommen. Begründet werden diese ‚versteinerten Paradiese‘ fast immer mit der (falschen) Hoffnung auf wesentlich geringeren Pflegeaufwand infolge des demokrati‐ schen Wandels, d. h., älter werdende Nutzerinnen und Nutzer können oder wollen ihren Garten nicht mehr in erforderlichem Umfang pflegen. Auch die globalisierte und mobilere Arbeitswelt mit häufig wechselnden Tätigkeitsbereichen und einem damit fehlenden Bezug zum eigenen Garten oder die Pflegekosteneinsparungen im kommunalen Haushalt werden als Grund für diese neue Auffassung von Natur und Garten benannt. Dieser „Trend mit vielen Fragezeichen - Schottergärten und Steinwüsten statt Artenvielfalt“ (SWR-Fernsehen, Landesschau Rheinland-Pfalz 2019) hat mittlerweile ein solches Ausmaß angenommen, dass zahlreiche Länder und Kom‐ munen eine Vorgartenpflicht mit Begrünung gesetzlich verankert haben, um solche 32 Klaus Neumann Abb. 11: ‚CardioWalk‘, Gesundheitsparcours im Stadtpark Ascona Versiegelungstendenzen zu unterbinden, z. B. die Städte Dortmund, Kaiserlautern und Xanten. Wie sehr die Dualität einerseits die Suche nach mehr Natur und andererseits die Empathie nach mehr technisierter, virtueller Digitalisierung, insbesondere junger Menschen, prägt, wird an den deutlichen Wachstumsraten des E-Gardening bzw. des IP-Gardening deutlich. Immer mehr Menschen wollen mehr Bezug zu Natur und Garten, gesunde Nahrungsmittel, regional, sozial und klimaschonend und ohne synthetische Dünger, Pestizide und Plastikverpackungen. Die Realisierung dieser Natursehnsucht kann mittlerweile im Online-IP-Garten erfolgen. Mit dem Slogan „Jeder Mensch verdient seinen eigenen Garten“ soll eine digitale Brücke zwischen Kundin bzw. Kunde und dem Garten gebaut werden und der Garten ins Wohnzimmer gebracht werden (→ Abb. 10). Es ist eine neue Interpretation von Natur, Garten und Park für eine neue Zeit und eine neue Generation. Ergänzt werden diese neuen Wertig‐ keiten von Garten und Natur durch ein stetig wachsendes Bewusstsein der Men‐ schen bezüglich Gesundheit, Wellness, Fitness, Entspannung und Entschleuni‐ gung als Gegenpol zu einer immer tech‐ nisierter werdenden Arbeitswelt. Immer häufiger entwickeln sich in diesem Kon‐ text Gärten und Parks zu naturalen Ge‐ sundheitszentren mit unterschiedlichsten Angeboten für Gesundheit und Wellness, ob in Form einer erklärenden Pflanzen‐ auswahl, unterschiedlichster Bodenbe‐ läge für Muskel- und Gelenkübungen mittels Venenpfad, eines Cardio-Gesund‐ heitswalk-Parcours im Stadtpark oder als Entschleunigungsmotivatoren (→ Abb. 11). Die Vielzahl und der Umfang der Veränderungsprozesse in nahezu allen Bereichen der gesellschaftlichen, wirt‐ schaftlichen, ökologischen und kulturel‐ len Gegenwart werden im Sinne der Theorie der langen Wellen (Kondratieffzyklen) als ein neuer Zyklus, eine neue Welle definiert: Erlebnis und Sicherheit, Sich-Wohl-Fühlen, die reale Naturwelt als Gegen‐ stück zur virtuellen Technikwelt. Natur als Bestandteil eines neuen Lebensgefühls erfassen, so die Charakteristik des neuen, 6. Zyklus (→ Abb. 12). 33 Gärten und Parks im Wandel Abb. 12: Die ‚langen Wellen‘, der 6. Kondratieffzyklus Diese 6. Welle wird umschrieben mit Biotechnologie, Gesundheit & Umwelt, Health-Wellness-Fitness und tiefgreifendem demografischem und Wertewandel. Eric Händeler beschreibt diese als die „Psychosoziale, Ganzheitliche“ und erläutert: „Der sechste Kondratieff-Zyklus wird sich vom derzeitigen technologischen Informations‐ markt deutlich unterscheiden. Künftig geht es nicht mehr vorrangig um die Informations‐ ströme zwischen Mensch und Technik, sondern um die Informationsströme zwischen und innerhalb von Menschen“ (Händeler 2012). Die Garten- und Parkanlagen im öffentlichen Raum befinden sich in einem Paradig‐ menwechsel. Nicht mehr Repräsentations-, Versorgungs- oder Kostenaspekte stehen im Vordergrund, sondern neue Nutzungs- und Qualitätsaspekte, neue Einsichten zum Verhältnis Mensch, Natur und Stadt. Sie lassen die Garten- und Parkanlagen zu einem urbanen Wertfaktor, zum weichen Standortfaktor werden für das Lebens- und Arbeitsumfeld, für Stadtmarketing, Tourismus ebenso wie für die Akquisition und die Standortpräferenz im Wettstreit von Regionen, Städten und Kommunen. In diesem Kontext entstehen sowohl grundsätzlich neue Garten- und Parktypologien wie auch neue Gartenorte. Signifikant sind die unterirdischen Gärten in New York und vertikale Gärten als Bestandteile neuer Cityarchitektur, die neu geschaffenen Garten- und Parkanlagen auf extra angelegten künstlichen Inseln oder die neuen Gärten auf ehemaligen Gleisanlagen wie der Park am Gleisdreieck in Berlin oder auf der ehemaligen U-Bahntrasse in New York (→ Abb. 13). 34 Klaus Neumann Abb. 13: Die 2,3 km lange Parkanlage High Line Park in New York, auf 1980 stillgelegter Hochbahn der West Side Linie 35 Gärten und Parks im Wandel 15 Wertfaktor Garten und Park Der Hintergrund einer Natur-, Garten- und Parkentwicklung mit Initialfunktion zu über 200 Jahren grüner Stadtentwicklung, weitgehend unter dem Obligo von Staat und Kommune, stellt für die Stadt- und Gesellschaftsentwicklung des 21. Jahrhunderts eine gewaltige Herausforderung dar. Wo im 19. Jahrhundert für Garten und Park die Sehnsucht des Herrschers nach Präsentation und Repräsentation vorherrschte, im 20. Jahrhundert der Fokus auf dem Nachkriegswiederaufbau und dem Zusammen‐ wachsen beider deutscher Staaten lag, steht nun im Rahmen der Spielregeln einer gesellschaftlichen Demokratie im globalen Wettstreit von Städten und Regionen die Identifizierung der Einwohnerinnen und Einwohner sowie Besucherinnen und Besu‐ cher im Mittelpunkt. Damit wird das Grün der Stadt, werden Gärten und Parkanlagen zu einem neuen naturalen Wertfaktor - ein Wert, der nicht jeder und jedem und nicht schnell in seiner Wertigkeit einsichtig ist. Aber Nachhaltigkeit im Umgang mit dem Grün bedeutet eben keine kurzfristige Rendite. In einer Epoche, in der in allerkürzester Zeit nahezu jedes Ziel auf der Welt kostengünstig zu erreichen ist, gibt es so gut wie keine unerreichbaren Ziele mehr. Wir können überall hinfahren, leben, arbeiten oder Urlaub machen. Nahezu alle Ziele stehen einem offen, weltweit. Es wird also nicht mehr darauf ankommen, ob wir überall hinfahren können. Entscheidend ist, ob es sich lohnt, dort anzukommen. Und dazu wird die Natur, werden Gärten und Parks als entscheidender Faktor für Lebens- und Umweltqualität immer wichtiger. Literaturhinweise Bartens, W. (2015): Natur auf Rezept. Online: www.sueddeutsche.de/ wissen/ umweltmed izin-natur-auf-rezept-1.2438082? reduced=true, letzter Zugriff: 08.05.2020. Berliner Baukammer (2019): Platz für 200.000 Wohnungen. Baukammer fordert mehr Bebauung von Kleingartenflächen. Online: www.berliner-zeitung.de/ mensch -metropole/ wohnungen-statt-kleingaerten-in-berlin-baukammer-fordert-mehr-wohn ungsbau-auf-schrebergarten-flaechen-li.35753, letzter Zugriff: 08.05.2020. Berliner Senat (2019): Parks in Berlin im Straftaten-Ranking. Wo die Polizei am häufigsten ausrücken muss - und wo gar nicht. Diebstahl, Drogenhan‐ del, Sexualdelikte. Zahlen zur Kriminalität in den Parks der Hauptstadt. 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Daraus wird klar: Sowohl in der abgeschlossenen Stadt als auch im abgeschlossenen Garten kann aus kultureller Sicht beschlossen werden, wie mit ihnen zu verfahren ist. 2 Nutzung und Übernutzung des Landes Im Mittelalter war die Strategie der Landnutzung in Mitteleuropa grundsätzlich umgestellt worden: Siedlungen wurden nicht mehr wie in vor- und frühgeschichtlicher Zeit regelhaft gegründet, aufgegeben und verlagert, sondern sie blieben am gleichen Ort bestehen. Das galt sowohl für die zahlreichen ländlichen als auch die wenigen städtischen Siedlungen, die seit dem frühen und hohen Mittelalter Bestand hatten. Im Laufe des Mittelalters kamen dann weitere Städte hinzu, von denen etliche, aber längst nicht alle, den Namen ‚Neustadt‘ tragen. Viele von ihnen wurden etwa im 13. Jahrhundert gegründet. Die Neugründung von Städten ging mutmaßlich mit einer Bevölkerungszunahme und einer Erhöhung der Landnutzungsintensität Hand in Hand (vgl. Küster 2012, S. 220-248). Seit dem späten Mittelalter kam es immer häufiger zu Krisen in der Versorgung mit Ressourcen wie Nahrungsmitteln und Holz, wobei häufig nicht klar ist, ob sie tatsächlich bestanden oder lediglich befürchtet wurden. Jedenfalls wurde im Laufe der Zeit der Wunsch nach einem Rezept gegen die Krise immer lauter. Eine Maßnahme der Krisenbewältigung war die 1368 einsetzende Saat oder Pflanzung von Bäumen im Wald durch den Nürnberger Kaufmann Peter Stromer (vgl. Stromer von Reichenbach 1968, S. 25-29). Der Wunsch, eine Übernutzung des Landes zu beenden, Versorgungsengpässe zu beseitigen und die Wirtschaftskraft zu verbessern, könnte eine der wesentlichen Ursachen für die Reformation gewesen sein. Denn der religiöse Bereich hatte im Bewusstsein der Menschen einen viel höheren Stellenwert. Man hoffte also auf religiöse Erneuerung und, damit verbunden, auf eine Verbesserung der allgemeinen Lebensbe‐ dingungen. Martin Luthers Wirkung war in den stark übernutzten Bergbauregionen im Harz und im Erzgebirge besonders groß; Länder, zu denen diese Gebiete gehörten oder die an diese Gegenden grenzten, waren unter den ersten, die sich dem lutherischen Bekenntnis anschlossen (vgl. Küster 2016, S. 39-45). Luther war einer der ersten Autoren der Hausväterliteratur, in der es ganz wesentlich um eine Verbesserung der Ressourcennutzung ging (vgl. Frühsorge 1984, S. 380-393). 3 Alternativen der Nutzung eines Gartens Ein wichtiges Gemälde aus der Reformationszeit zeigt wichtige Alternativen der Gartennutzung auf, und zwar das Bild Weinberg des Herrn. Epitaph für Paul Eber in der Stadtkirche der Lutherstadt Wittenberg von Lucas Cranach d. J. aus dem Jahr 1569. Hier soll es weder um die Darstellung des komplizierten biblischen Gleichnisses gehen noch darum, dass das Bild ein Epitaph für einen Reformator aus dem Umkreis von Martin Luther ist. Es spielt auch in unserem Zusammenhang keine Rolle, dass Lucas Cranach d. J. auf seinem Bild Partei für die Reformatoren und die Reformation ergriff. Vielmehr soll es um die Alternativen der Gartennutzung gehen. Lucas Cranach d. J. stellte den Weinberg zweigeteilt dar. Auf der linken Seite des Weinbergs ist die herkömmliche bzw. damals übliche Übernutzung eines Weingartens gezeigt. Das Land wird gerodet, der Zaun wird zerstört, vielleicht, um mit dem Holz zu heizen. Der Garten verliert dadurch seinen Schutz, der zu seinen wesentlichen Eigenschaften gehört. Auf der rechten Seite erkennt man dagegen die Reformatoren, unter ihnen Martin Luther und auch Paul Eber, wie sie die Reben anbinden und den Garten pflegen. Der Zaun wird repariert, sodass er dem Garten Schutz bieten kann. Da der Garten mit Hingabe gepflegt wird, kann er in jedem Jahr gleich aussehen. Der Übernutzung des Landes wird Einhalt geboten. Die Botschaft ist deutlich: Eine Reform der Landnutzung kann der Zerstörung von Land entgegenwirken, sie erfordert aber einen Einsatz des Menschen, einen Einsatz von Kultur (→ Abb. 1). 40 Hansjörg Küster Abb. 1: Lucas Cranach d. J., Weinberg des Herrn. Epitaph für Paul Eber, Stadtkirche Wittenberg Allerdings hielt die Reformation insgesamt die Zerstörung von Land nicht auf. Kriege‐ rische Auseinandersetzungen vom Bauernkrieg (1525) bis zum Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) führten zu weiteren Verwüstungen des Landes. 4 Der formale Garten Nur wenige Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges begann die Anlage von großen formalen Gärten in Mitteleuropa, deren Vorbilder in Frankreich und in den Niederlanden angelegt worden waren. In den Jahren nach 1651 entstanden Schloss und Garten Oranienburg, nach etwa 1669 Schloss und Garten Oranienbaum bei Dessau (vgl. Küster/ Hoppe 2010, S. 69) Zur gleichen Zeit, etwa seit 1666, begannen die Arbeiten am Schloss Herrenhausen bei Hannover und dem dazugehörigen Großen Garten (→ Abb. 2) (vgl. Bredekamp 2012, S. 17 f.). Das Bild, im Frühjahr aufgenommen, zeigt Gärtner bei der Arbeit. Man erkennt: Ein solcher Garten bedarf unbedingt der Pflege, genauso wie der rechte Teil des Weinbergs des Herrn. 41 Gärten als Modelle der Nachhaltigkeit Abb. 2: Großer Garten, Hannover-Herrenhausen Man kann diesen Einsatz für die Pflege eines immer möglichst gleichen oder wieder‐ kehrenden Zustandes eines Stücks Land als Eintreten für Nachhaltigkeit auffassen. Dies wurde zwar nicht gesagt, ist aber dem Ansinnen früher Förster vergleichbar, die mit der Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips einen immer gleichen Holzvorrat und damit ein immer gleiches Erscheinungsbild von Wäldern anstrebten. Interessanterweise ließen die in Hannover und Braunschweig herrschenden Welfen in derselben Zeit, in welcher der Große Garten von Herrenhausen entstand, ein umfangreiches kommentiertes Kartenwerk der Waldbestände im Bergbaugebiet des Harzes entwerfen, und zwar 1680 (vgl. Wieden/ Böckmann 2010). Darin ist zwar nicht ausdrücklich von Nachhaltigkeit die Rede, aber das Ansinnen von denjenigen, die die Anfertigung der Karten veranlassten, ist klar: Es ging um eine Bestandsaufnahme von Wäldern, die weiterhin in gleicher Weise genutzt werden sollten, was eine Bevorratung von Holzbeständen in den Wäldern voraussetzte, also das Nachhaltigkeitsprinzip. Der Große Garten von Herrenhausen und die Harzwälder lagen übrigens in Ländern, die sich früh der Reformation Martin Luthers angeschlossen hatten. In diesen Ländern hatte auch der Bergbau große Bedeutung, der zu einer drohenden Übernutzung von Wald führen konnte. Die bekannte frühe Formulierung des forstlichen Nachhaltigkeitsprinzips liest man in der Sylvicultura oeconomica von Hans Carl von Carlowitz aus dem Jahr 1713; in diesem Werk ist von nachhaltender Nutzung die Rede (vgl. Carlowitz 1713, S. 105). Carlowitz war übrigens kein Förster, sondern Kameralist und sächsischer Oberberg‐ hauptmann in Freiberg in Sachsen, der sich nicht nur um den Abbau von Erz, sondern auch um dessen Verhüttung zu kümmern hatte, und diese war nur unter Verwendung von viel Brennholz möglich. 42 Hansjörg Küster 5 Der formale Garten als Ziel Der formale Garten, den man immer wieder im gleichen Zustand halten konnte, muss auf die Menschen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und der Zeit danach eine große Wirkung gehabt haben. Es gab nun - nur wenige Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges - ein geordnetes Stück Land, das von einem Zaun (oder auch Damm und Wassergraben) umgeben war, in dem sich Erscheinungen der Natur in immer wieder gleicher Weise präsentierten. Diese Gärten unterschieden sich deutlich von anderen Ländereien, in denen die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges noch sichtbar waren. Auf dem Deckengemälde der Wallfahrtskirche Unserer Lieben Frau und Pfarrkirche Sankt Peter und Paul von Steinhausen im Landkreis Biberach sind zwei Gärten dargestellt, anhand derer sich eine damals erwünschte Entwicklung aufzeigen lässt. Die Kirche wurde von Dominikus Zimmermann gebaut, sein Bruder Johann Baptist schuf die Deckengemälde. Über der Orgelempore, im Rücken der Gottesdienstbesucher, stellte Johann Baptist Zimmermann das Paradies dar (→ Abb. 3), die Welt, aus der die Menschen kommen. Adam und Eva sind unter dem Baum der Erkenntnis zu sehen, der in der Mitte eines hainartigen Baumbestandes gewachsen ist. Zwischen den Bäumen des Hains sind die Tiere zu sehen. Bis zum unmittelbar bevorstehenden Sündenfall verändern sie sich nicht, sie wachsen nicht, sie sterben nicht, sie fressen einander nicht. Das ist die Vorstellung, die wir mit dem Paradies landläufig verbinden. Johann Baptist Zimmermann stellte das Paradies aber so dar wie einen von Tieren beweideten Wald der damaligen Zeit. Solche Wälder kannte er, denn es war damals üblich, die Tiere in die Wälder zu treiben, damit sie dort Futter suchten. Von Tieren beweidete Wälder, sogenannte Hude- oder Hutwälder, waren aber keine optimal entwickelten Gehölzbestände. Den Bäumen fehlten die unteren Äste, weil diese von den Tieren abgeknabbert worden waren, eine geschlossene Decke der Bodenvegetation war von den Tieren teilweise oder ganz zerstört. Wasser wurde in den längst nicht mehr geschlossenen Wäldern nicht mehr zurückgehalten, sondern lief unregelmäßig ab, sodass sich das Wasser zu bestimmten Zeiten reißend seinen Weg suchte und den Untergrund erodierte. Dann wieder trockneten die Bäche weitgehend aus, und aus den Fließgewässern wurden dünne Rinnsale. Die Welt, aus der wir kommen, ist also nicht nur das Paradies der Bibel, sondern auch die übernutzte Landschaft des Mittelalters. Das Paradies war im Rücken der Kirchenbesucherinnen und -besucher und damit als Element der Vergangenheit, der Welt, aus der sie kommen, dargestellt. Diese Welt kannte keine Zivilisation. Auf dem Deckengemälde in Steinhausen wird das auch dadurch deutlich gemacht, dass das Paradies von den beiden damals als ‚unzivilisiert‘ betrachteten Kontinenten eingerahmt wird: Afrika (→ Abb. 3, links) und Amerika (→ Abb. 3, rechts). 43 Gärten als Modelle der Nachhaltigkeit Abb. 3: Deckengemälde von Johann Baptist Zimmermann, Paradies, Steinhausen, Landkreis Biberach, Wallfahrtskirche Abb. 4: Deckengemälde von Johann Baptist Zimmermann, Hortus conclusus. Steinhausen, Landkreis Biberach, Wallfahrtskirche 44 Hansjörg Küster Abb. 5: Allee im formalen Park von Dessau-Mosigkau, Mitte 18. Jahrhundert Eine andere Gartendarstellung befindet sich in Blickrichtung der Kirchenbesucher, über dem Altar. Dort erkennt man einen Hortus conclusus, was sich auch in goldenen Lettern unterhalb des Bildes erläutert findet (→ Abb. 4). Dieser Garten ist derjenige, in den die Menschen in Zukunft gehen werden. Im Hortus conclusus gibt es keine Tiere und Menschen sind auch nicht zu sehen. Die Bäume sind in Reihen zu einer Allee gepflanzt, die Beete sind eingezäunt, das Wasser läuft durch einen Brunnen immer in gleicher Menge. Eingerahmt wird die Darstellung des Hortus conclusus von den beiden damals schon zivilisierten Kontinenten Europa (→ Abb. 4, links) und Asien (→ Abb. 4, rechts). Der Hortus conclusus muss als Garten im Jen‐ seits natürlich nicht durch Arbeitskraft erhalten wer‐ den. Aber es war den Men‐ schen bewusst, dass man einen solchen Garten - un‐ ter Einsatz von Arbeits‐ kraft - ins Diesseits holen kann. Dies war ein Ideal der Menschen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun‐ derts. Es wurde bei zahl‐ reichen Gartengestaltun‐ gen der damaligen Zeit aufgegriffen (→ Abb. 5). Der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bevorzugt angelegte Land‐ schaftsgarten englischen Stils betont die Ordnung weniger stark als ein for‐ maler Garten früherer Zeit. Aber in ihm ist die Einhal‐ tung von Ordnungsprinzi‐ pien durch entsprechende Pflege vonseiten der Men‐ schen mindestens ebenso wichtig. Sonst würden bei‐ spielsweise die kunstvoll anlegten Blickachsen sol‐ cher Parks in kürzester Zeit zuwachsen. 45 Gärten als Modelle der Nachhaltigkeit Abb. 6: Der Toleranzblick im Wörlitzer Park soll den Blick auf die (christliche) Wörlitzer Kirche, die Synagoge und die Goldene Urne ermöglichen Gut erkennen lässt sich das Problem im Wörlitzer Park bei Dessau am sogenannten Toleranzblick auf das christliche und das jüdische Gotteshaus; die Sichtachsen müssen regelmäßig freigeschnitten werden (→ Abb. 6). 6 Natur und Nachhaltigkeit An der regelmäßig erfor‐ derlichen Pflege von Parks wird deutlich, dass die Na‐ tur nicht nachhaltig ist. Sie verändert sich im Laufe der Zeit u. a. durch Wachstum und Absterben von Pflan‐ zen, durch das Verlanden eines Sees, durch Erosion und Sedimentation, durch Fressen und Gefressenwer‐ den, aber auch durch un‐ kontrollierte Nutzungen und Eingriffe des Men‐ schen. All dieses steht dem immer gleichen oder we‐ nigsten ähnlich zu halten‐ den Erscheinungsbild eines Gartens oder Parks entge‐ gen. Wenn immer wieder ähnliche Ansichten für ei‐ nen Park konstitutiv sind, ist regelmäßiges Eingreifen des Menschen notwendig. Das gilt für jede Form von Garten oder Park, handelt es sich dabei nun um eine formale oder landschaftli‐ che Gestaltung, um einen Ziergarten oder einen Ge‐ müsegarten. Von selbst er‐ halten bleibt ein Garten nur als Vorstellung oder im Jenseits, etwa als Hortus conclusus in Steinhausen. Das Anstreben eines immer gleichen Zustands in einem Garten kann man als Eintreten für Nachhaltigkeit auffassen. Nachhaltigkeit geht von wirtschaftlicher oder kultureller Seite aus. Es muss immer definiert werden, was man darunter verstehen will. Nachhaltigkeit kann der Forderung im Forst entsprechen, einem Baumbestand 46 Hansjörg Küster nie mehr Holz zu entnehmen, als zur gleichen Zeit nachwächst, wie es seit Hans Carl von Carlowitz immer wieder getan wurde. Man kann auch andere Definitionen von Nachhaltigkeit verwenden, etwa die von Gro Harlem Brundtland und ihrer Kommission: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ (Brundtland-Bericht 1987, S. 51) Entsprechend lässt sich das Bewahren eines Zustands in einem Garten oder einem Park als Bemühung um Nachhaltigkeit auffassen. Denn es soll Stabilität gezeigt werden, und selbstverständlich geht es darum, auch den künftigen Generationen einen möglichst identischen Blick auf einen Park oder Garten zu ermöglichen, der dem derzeitigen oder dem originalen entspricht. Gärten sind also Modelle der Nachhaltigkeit. Die Art und Weise des Umgangs mit ihnen kann durch ein Parkpflegewerk festgelegt werden. Die Nachhaltigkeit im Garten ist damit ein Gegenmodell zur Wildnis oder zu einer ungeregelten menschlichen Nutzung. Die Einführung von Prinzipien der Nachhaltigkeit war auf jeden Fall eine wichtige Reform der Landnutzung. Interessanterweise steht sie mit der Reformation des Glau‐ bens in Verbindung, wie sich beispielsweise am Wirken Martin Luthers zeigen lässt. Dies stellt Ulrich Grober (2010) in seinem Standardwerk zur Nachhaltigkeit heraus, v. a. aber auch in einer kleineren Schrift, die sich mit Paul Gerhardts Beziehungen zu Pflanzen und Gärten auseinandersetzt (vgl. Grober 2018). Darin ist von der Faszination die Rede, die der berühmte Kirchenlieddichter für Gartenpflanzen empfand: Den Tulipan, den er besang, kannte er nicht als Wildpflanze, sondern als Gartengewächs, dessen intensiver Anbau damals (wie auch heute noch) von den Niederlanden ausging, einem Land, in dem intensive Landreformen und Neulandgewinnungen im Sinne der Nachhaltigkeit von großer Bedeutung waren. Aber es wäre falsch, die Einführung von Nachhaltigkeit mit dem Protestantismus gleichzusetzen. Gleichzusetzen ist Nachhaltigkeit also nicht mit dem, was wir als Reformation des Glaubens bezeichnen, sondern mit einer Reform, die durchaus in die Reformation eingeschlossen sein konnte. Sie wurde von der herkömmlichen Kirche aufgegriffen; auch sie reformierte sich, und man spricht von einer Phase der Gegenreformation. Das zeigt sich in den Gartengemälden der Wallfahrtskirche Steinhausen in Oberschwaben ebenso wie in zahllosen bedeutenden Gartenanlagen. Sehr bekannt ist beispielsweise der formale Garten am Schloss von Nordkirchen im Münsterland, den Friedrich Christian von Plettenberg, Fürstbischof von Münster, bis 1734 anlegen ließ. Fürstbischof von Münster war auch Clemens August I. von Bayern, in dessen Regierungszeit 1737 bis 1747 das Jagdschloss Clemenswerth bei Sögel im Emsland entstand, das ebenso wie Nordkirchen von einem formalen Garten umgeben ist (→ Abb. 7). 47 Gärten als Modelle der Nachhaltigkeit Abb. 7: Am Schloss und im Park Clemenswerth bei Sögel im Emsland Ein besonders schönes Beispiel für die Darstellung von Nachhaltigkeit findet sich im Park der Würzburger Fürstbischöfe am Schloss von Veitshöchheim am Main. Die Fürstbischöfe hatten durch den Verkauf von Fichtenholz, das aus dem Fichtelgebirge auf dem Main stromabwärts geflößt wurde, große Mengen an Geld verdient, was zu deren enormem Reichtum beitrug. Als der Park in der Mitte des 18. Jahrhunderts neu gestaltet wurde, pflanzte man dort Fichtenalleen. So findet sich der zentrale Baum der nachhaltigen Waldbewirtschaftung in Deutschland, die Fichte, direkt in einer bedeutenden Parkanlage (→ Abb. 8). 48 Hansjörg Küster Abb. 8: Schloss und Park Veitshöchheim mit Fichtenallee 49 Gärten als Modelle der Nachhaltigkeit Stets gehören die Anlagen von Gärten und Parks und die Verwirklichung von Nach‐ haltigkeit als inhaltliche Prinzipien zusammen. Und es wird in Gärten und Parks besonders deutlich, was mit Nachhaltigkeit gemeint war und ist: Gezeigt werden sollte das Bestehenbleiben eines Bildes von Natur, und dies, obwohl das Land genutzt wurde. Dies war nur durch stetes Eingreifen des Menschen möglich, also durch einen Akt der Kultur. Literaturhinweise Bredekamp, H. (2012): Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter. Klaus Wagenbach, Berlin. Brundtland-Bericht (1987): Original: World Commission on Environment and Develop‐ ment: Our Common Future. Oxford University Press, Oxford. 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(Hg.): Die Geschichte der Gärten und Parks. Insel, Frankfurt am Main/ Leipzig, S. 11-24. Stromer von Reichenbach, W. (1968): 600 Jahre Nadelwaldsaat. Die Leistung des Peter Stromer von Nürnberg, in: Sperber, G. (Hg.): Die Reichswälder bei Nürnberg. Aus der Geschichte des ältesten Kunstforstes. Mitteilungen aus der Staatsforstverwaltung Bayerns, Heft 37. München/ Neustadt an der Aisch, S. 25-29. Wieden, B. bei der; Böckmann, T. (2010): Atlas vom Kommunionharz in historischen Abrissen von 1680 und aktuellen Forstkarten. Hahnsche Buchhandlung, Hannover. 50 Hansjörg Küster Grünräume, Gärten und Gesundheit Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten in unendlichen Facetten Heinrich J. Lübke 1 Die Ansprüche der Medizin orientieren sich am veränderbaren Naturverständnis der Gesellschaft Die Gartenkultur und das soziale Naturverhältnis haben in den verschiedenen Ländern und Kontinenten eine sehr eigene Entstehungsgeschichte und eine in der Vergangen‐ heit unterschiedliche Bedeutung für das Gemeinwesen und die Heilkunst. Die Gärten und die Grünlandschaften spiegeln in der Historie mit ihren Werte‐ wandlungen gleichzeitig die Veränderung und die Entwicklung der Medizin mit ihren Gewichtungen wider. Bisher stand in der modernen westlichen Medizin in der Arzt-Patienten-Beziehung der medizinisch-wissenschaftliche Ansatz der Pathogenese im Vordergrund. Bei dieser Betrachtungsweise steht nicht Gesundheit, sondern Krank‐ heit im Mittelpunkt. Gesundheit wird als Abwesenheit von Krankheit definiert. Es geht primär um die Heilung von Krankheit, objektiv neben dem subjektiven Aspekt des Krankheitserleben vorrangig um das Nichtvorliegen von Krankheit, das Fehlen einer medizinischen Diagnose. Zunehmend steht auch in der Frage nach dem ‚gelingenden, guten Leben‘, die ‚salu‐ togenetische‘ Gesundheitsfacette im Mittelpunkt (vgl. Antonovsky 1979). Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen (vgl. WHO). Gesundheit besitzt eine körperliche, psychische, soziale und ökologische Dimension und kann deshalb nicht allein durch naturwissenschaftliche und medizinische, sondern muss zusätzlich auch durch psychologische, soziologische, ökonomische und ökologische Analysen erforscht werden (vgl. Hurrelmann/ Razum 2016). Gesundheit und Krankheit sind nicht als einander ausschließende Zustände, sondern als Endpunkte eines Konti‐ nuums zu verstehen - Gesundheits-Krankheits-Kontinuum: Die Fragen nach Faktoren, welche die Gesundheit erhalten, verbessern und bedingen, prägen das Verhältnis Medizin-Mensch-Natur. Dabei kommen dem Umgang mit der Natur, der Nutzung und Ausstattung von Garten-, Grün und Parkanlagen physisch wie psychisch grundlegend neue Wertigkeiten zu. Seit den 1980er-Jahren findet in den westlichen Gesellschaften ein tiefgreifender ökonomischer, technologischer, kultureller und sozialer Strukturwandel statt - ein Epochenbruch. Nach Andreas Reckwitz hat sich in der ‚Spätmoderne‘ die Vorherrschaft des Allgemeinen und des Konformismus (z. B. in Kultur und Tourismus) in einen Im‐ perativ des Besonderen transformiert. Zentrale gesellschaftliche Bereiche richten sich heute am Originellen, Unverwechselbaren und Einzigartigen aus. Das betrifft sowohl das Privatleben als auch die Berufssphäre mit den gängigen Themen Work-Life-Ba‐ lance, Creative Economy, ‚Broterwerb‘, lovely jobs vs. lousy jobs, Projektarbeit u. v. m. - aber auch die Welt der Dinge, Ereignisse, Orte, Erlebnisse und Erwartungen (vgl. Reckwitz 2017). Die Natur, die es technisch zu bearbeiten und ökonomisch zu nutzen gilt, wird nach Hartmut Rosa nicht mehr nur psycho-emotional betrachtet, sondern als etwas, das möglichst nicht entfremdet von großen Teilen der kulturell geprägten Gesellschaft erlebt werden möchte: Die Natur wird als Resonanzoase am Feierabend und in den Ferien gesucht, im privaten Bereich wird der Konsum von Naturprodukten - unbehandelt, nicht toxisch sowie biologisch einwandfrei -propagiert (im Extrem als nervöse Orthorexie nach Steven Bratman). Allerdings gehört dazu für viele auch eine individualisierte Form der Naturvermittlung und -beherrschung (u. a. Berge bezwingen, luxuriöse Segeltörns, Safaris, Meere durchschwimmen, ‚Polarreise mit Polarlicht-Garantie‘). Das ist eine Form, mit der Welt in Kontakt zu treten, die auf Kontrollier- und Erreichbarkeit setzt (‚Paradigma des Verfügbarmachens‘) (vgl. Rosa 2016; Rosa 2019). Daneben erleben wir auch die Verbannung der Naturbegegnung in standardisier‐ ten Resonanzoasen (z. B. Parks, Gärten, Zoo). Naturbegegnung soll tunlichst ohne Organisation und Institutionalisierung möglich werden und drückt sich aus in Extrem‐ bergsteigen, individuellem Wüstenwandern, Skifahren abseits der Piste - Fragen der Natur-Zerstörung werden hier am Rande gewertet (Rosa 2016). Unabhängig und neben solch einer Naturerfahrung als Refugium der außeralltägli‐ chen, in sich gekehrten Weltbeziehung, bei der die aktive Anverwandlung von Natur fehlt, entwickeln sich urbane Naturareale, das Grün der Stadt mit den Gärten - Urban Gardening, vertikale Gärten - und Parkanlagen zu einem neuen alternativen und naturbezogenen Wertfaktor. „Die Resonanzbeziehung zur Natur als Wert etabliert sich dabei nicht über kognitive Lern‐ prozesse und rationale Einsichten, sondern sie resultiert aus praktisch-tätigen und emotional bedeutsamen Erfahrungen“ (Rosa 2016, S. 461). 52 Heinrich J. Lübke 1 Forsa ist ein privates Markt- und Forschungsinstitut mit Standorten in Berlin, Frankfurt am Main, Dortmund und Hamburg (vgl. Forsa). 2 Die PubMed Datenbank ist eine englischsprachige Datenbank medizinischer Fachartikel (siehe pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/ ? otool=idemulib, letzter Zugriff: 30.10.2021). Dieses Gut, das nicht jeder bzw. jedem und nicht schnell in seiner Wertigkeit einsichtig war und ist, hat aber gerade in den Monaten der Covid-19-Pandemie einen Paradig‐ menwechsel der Bewertung bestätigt und neu erfahren. Das Unverfügbare hat einen hohen subjektiven Stellenwert erhalten. Für rund die Hälfte (46 %) der Befragten einer repräsentativen Forsa-Umfrage 1 hat die Bedeutung städtischer Grünanlagen seit der Coronakrise zugenommen. Dies gilt besonders für Personen unter 30 Jahren (58 %) und Familien mit Kindern unter zehn Jahren (53 %). Mit der Bedeutungszunahme einher geht eine erhöhte Nutzung, denn jeder Vierte sucht Grünanlagen seit der Coronakrise häufiger auf. Im Vordergrund des Parkbesuchs steht dabei die Erholung und Entspan‐ nung durch Spaziergänge und sportliche Aktivitäten in naturnaher Umgebung (vgl. Grün in die Stadt 2020). Der Garten erweist sich als Schutzraum und Fluchtpunkt im Verlauf der Pande‐ mie mit Lockdown, Homeoffice, Kinderbetreuung und Homeschooling. Kleingärten seien bundesweit seit Beginn der Coronakrise besonders gefragt, heißt es auch beim Bundesverband der Kleingärtnerinnen und Kleingärtner. Es gäbe mindestens eine Verdopplung der Nachfrage im Vergleich zum Vorjahr. In Berlin, Hamburg oder München habe sich die Nachfrage teilweise sogar vervierfacht (vgl. Bundesverband Deutscher Gartenfreunde o. J.). Die erlebte anverwandelte Natur mit Gärten, Balkonen und Parks wird als entschei‐ dender Faktor für die Lebens- und Umweltqualität immer wichtiger (vgl. den Beitrag von Klaus Neumann in diesem Band). Freizeit- und Reiseverhalten haben in und nach der Pandemie die Chance für eine grundlegend entschleunigte Änderung bekommen. Die Pandemie hat aber auch nochmals den gesellschaftlichen und sozialen Rahmen aufgezeigt, in dem sich Änderungen vollziehen und insbesondere welchen Stellenwert der Gesundheit in einer Grenzsituation zugebilligt wird. Hier liegen die Ansätze für eine aktive gesundheitspolitische Auseinandersetzung, in der anhand von vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnissen und Denkmodellen die ‚gesundheitliche Systemrelevanz‘ von ‚Vitamin G‘ (G = Grüne Natur, Garten, Gärtnern) dargelegt und neue natur- und sozialwissenschaftliche Arbeitsfelder entwi‐ ckelt werden können. Das medizinisch-wissenschaftliche Interesse und Augenmerk für diese Fragen erfährt in den letzten Jahren - gemessen an der wissenschaftlichen Publikationsproduktivität - einen deutlichen Zuwachs: In der PubMed Datenbank 2 findet sich unter dem Stichwort garden medicine eine sprunghafte Zunahme der internationalen Literatur von ca. 130-300 Publikationen pro Jahr im Zeitraum 2010- 2013 auf 753 im Jahr 2019. Im Hinblick auf allgemeine Gesundheitsaspekte, spezifische Gesundheitsprävention - Salutogenese - und konkrete krankheitsbeeinflussende Faktoren sind sinnvoller‐ weise die unterschiedlichen Momente des Natur- oder Gartenerlebens separat zu 53 Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten betrachten und qualitative Beurteilungen von quantitativen beweisgestützten medizi‐ nischen Erkenntnissen zu unterscheiden. 2 Natur, Grün, Grünräume und Gärten bewirken Wohlbefinden Grundsätzlich erscheint Natur- und Grünerfahrung aus der Werteperspektive ambiva‐ lent. Die Rolle der Natur ist und war im Zugang überwiegend, aber nicht allein, positiv besetzt. Dies erscheint heute - anders als in der Antike und im Mittelalter - als Prämisse gerechtfertigt und wichtig, wenn die Wirkung von Natur und Grünerleben auf die psychische Gesundheit im Rahmen einer berechtigten und weitverbreiteten Arbeits- und Therapiestrategie eingesetzt wird (→ Tab. 1). In den wenigen Standardwerken der Natur-, Umwelt- oder Landschaftspsychologie deuten viele Befunde auf eine tiefgehende Verankerung von Naturbezügen in der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen hin. Wir registrieren relativ einheitliche Re‐ aktionen auf Reize aus der natürlichen Umwelt: Befinden und Ästhetik sind weitgehend in der Gefühlswelt verankert und lassen Natur als beglückendes bzw. erschreckendes Medium erscheinen. Rolle der Natur Zugang positiv negativ Befinden Quelle von: Erholung, Gesundheit, Geborgen‐ heit, Genuss, Glück, Erlebnis, Abenteuer Belastung durch: Arbeit, Gefahr, Krankheit, Tod, Stress, Schmerz, Schrecken Ästhetik Präsentation von: Formen, Farben, Vielfalt, Schön‐ heit, Harmonie Demonstration von: Unordnung, Monotonie, leere, Nacht, Nebel Sinn Zugang zu: Sinn des Lebens, „Schöpfung Got‐ tes“, Frieden, Gleichgewicht Opfer von: seelenlose Materie, Sinnlosigkeit, Vernichtung, Katastrophen Norm Lieferant von: Maßstäben, Vorbildern, Orientie‐ rung, Moral Konfrontation mit: Macht, Chaos, Recht des Stärkeren Erkenntnis Basis von: Wissen, Weltbild, Weisheit Verstellung des Zugangs zu: Wahrheit, Sicherheit, Sinn Nutzen Mittel zum: Überleben, Heilen, Schützen, Be‐ wahren Verführung zum: Beherrschen, Ausbeuten, Zerstö‐ ren Tab. 1: Wie wir Natur und Grünerfahrung bewerten Die heutigen emotional und ästhetisch positiv besetzten Auswirkungen der Natur auf unsere Gesundheit wird nicht nur von Millionen von Menschen durch das eigene 54 Heinrich J. Lübke Erleben wiederholt bestätigt, sie sind auch durch entsprechende wissenschaftliche Studien belegt (Hartig/ Kahn 2016). Dabei spielt der Anteil von Grünflächen und Parks am jeweiligen Wohngebiet und/ oder dessen Erreichbarkeit eine Rolle. Eine Aufenthaltsdauer von wöchentlich zwei oder mehr Stunden in der Natur geht mit einer signifikanten Verbesserung der selbst eingeschätzten Gesundheit und - in etwas geringerer Ausprägung - auch des allgemeinen Wohlbefindens einher. In einer englischen Studie mit einer großen, national repräsentativen Stichprobe von nahezu 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wird deutlich, dass die Zeit in der Natur auf die Gesundheit einen ähnlich großen positiven Einfluss hat wie ein hoher sozioökono‐ mischer Status, die Qualität der Wohnumgebung oder sportliche Aktivitäten. Effekte der Natur wirken für ältere (über 65 Jahre) und jüngere (unter 65 Jahre) Menschen gleichermaßen, ebenso für Männer wie für Frauen und für Menschen mit hohem gleichermaßen wie für Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status bzw. mit oder ohne Behinderung. Ob man einmal pro Woche zwei Stunden oder zweimal eine Stunde oder dreimal 40 Minuten in die Natur geht, hat ebenfalls keinen Einfluss auf die Wirkung (vgl. Alcock et al. 2019; Spitzer 2019). 3 Grün und Klima - Bedeutung für die Gesundheit Extreme Wetterereignisse wie Dürren, Überschwemmungen, Waldbrände und Wirbel‐ stürme wirken als Stressoren unmittelbar auf die menschliche Gesundheit ein, andere Extremwetterereignisse bedingen mit einer gewissen Latenz Störungen in der Wasser‐ versorgung und der Nahrungsmittelproduktion (Menge und Qualität). Hitzeperioden und Waldbrände verursachen Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen. Sie erhö‐ hen außerdem die Sterblichkeit und senken die Leistungsfähigkeit und Produktivität des Einzelnen - das menschliche Gehirn hat bei 22 °C seine optimale Funktion. Das Klima zu schützen, heißt also auch, unsere Gesundheit zu schützen. Bedin‐ gung ist die Transformation: Es müssen notwendige Maßnahmen ergriffen werden, um den Klimawandel einzudämmen, Anpassungen zu bewältigen und nachhaltige planetare Gesundheit zu schaffen. Der Ersatz fossiler Brennstoffe und die Senkung der Treibhausgasemission durch Umstellung auf eine zunehmend pflanzlich basierte Ernährung werden durch die Hinwendung von technikbasierten Mobilitätskonzepten zur Fortbewegung durch körperliche Aktivität (Laufen, Radfahren) in idealer Weise gesundheitsfördernd ergänzt (vgl. Traidl-Hoffmann 2020). Das urbane Grün und die unterschiedlichen Gärten können als umschriebener Schutzraum vor direkter geokli‐ matischer Exposition und vor der daraus resultierenden potenziellen Verwundbarkeit betrachtet werden. Mit angepassten Grün- und Gartenkonzepten können individuelle Einstellungen, Verhaltensweisen und urbane Infrastrukturen geändert und somit die Resilienz verbessert werden. 55 Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten 4 Gesundheitsprävention durch Grünräume und Gärten 4.1 Gesund leben oder krank werden - Städte und Arbeitsarchitektur entscheidend Es lohnt sich, mehr Anstrengungen für mehr Grünflächen und Gärten in der Stadt und in der Nähe dicht besiedelter Gebiete zu unternehmen. Im Jahr 2018 standen in den 14 bevölkerungsreichsten Städten Deutschlands mit mehr als 500.000 Einwohnerinnen und Einwohnern durchschnittlich 25 m² Grünanlagen-Fläche pro Kopf zur Verfügung, 1996 waren es noch 18 m² (vgl. DESTATIS Statistisches Bundesamt 2020) Die Grünflä‐ che pro Kopf ist allerdings um 20 % geringer als in den kleineren Großstädten. 70 % der Weltbevölkerung werden bald in Ballungsgebieten und Megacitys leben (vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs 2019). Dieser Trend verändert Konsummuster, Wertvorstellungen der städtischen Einwohner und Einwohnerinnen, Strukturen der Haushalte, vermehrt berufliche Unterschiede und ändert Raumstruk‐ turen. „Das ‚Crowding-Stresssyndrom‘ wird somit immer mehr zu einem Problem der Urbanität“ (Matzig, 2017) und der Agglomerationsräume. Veränderte Nutzung des naturgemäß endlichen städtischen Grund und Bodens und damit die Städtearchitektur entscheide darüber, ob Menschen gesund leben können oder krank werden. Matzig verweist sehr eindringlich darauf, dass sich die Geschoss‐ flächenzahl (GFZ), Baunutzungsverordnung § 20, von der auch der Bodenrichtpreis abhängt, in Zukunft zu einer strittigen Maßzahl für mögliche Grün- und Gartenanlagen und somit für räumliche Lebensqualitäten Deutschlands entwickeln werde (vgl. Bun‐ desministerium für Justiz und für Verbraucherschutz o. J.). Die GFZ könne als Indikator gelten, ob die städtebauliche (Nach-) Verdichtung glückt oder ob es Stress gibt. Stress und/ oder fehlender Zugang zu Grünräumen führt zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen, aber auch zu körperlichen Beeinträchtigungen wie Bluthochdruck. Grün im Umfeld der Wohngegend verlängert den täglichen Schlaf, verbessert die Schlafqualität und reduziert parallel störende Geräuschkulissen (vgl. Astell-Burt/ Feng/ Kolt 2013). Wer gestresst lebt, trägt ein höheres Risiko für Herzerkrankungen. Und auch die Rate an Personen, die an Schizophrenie erkrankt sind, erscheint in Städten höher als auf dem Land (vgl. Adli 2017). Mehr Natürlichkeit und kleine Gartenparzellen im Bürogebäude können den Ar‐ beitsalltag zwischen Schreibtisch und Konferenzraum zufriedenstellender und gesün‐ der machen. Dadurch soll bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Konzentration, Wohlbefinden und Engagement gesteigert und Stress deutlich reduziert werden. Tatsächlich gibt es unter diesen Bedingungen erste Anzeichen für eine veränderte Herzfrequenzvariabilität und Stressantwort sowie für mehr Produktivität (vgl. Mc Sweeney 2019): Neben der ‚Nachverdichtung von Städten‘ muss mehr über ‚Nachbe‐ grünungen‘ gesprochen werden. Die Diskussion um Nachverdichtung muss deshalb die Stunde der Architektinnen und Architekten, Städteplanerinnen und Städteplaner, der Gesundheitsexpertinnen und Gesundheitsexperten sowie die Ära des öffentlichen Grüns, der Plätze, Gärten und Parkanlagen sein (vgl. Adli 2017). 56 Heinrich J. Lübke 4.2 Die Gewissheit nimmt zu: Verbesserung der Gesundheit durch Grünräume und Gärten 4.2.1 Ein starkes Argument aus der Zwillingsforschung Der Begriff ‚Grünraum‘ ist typischerweise definiert als offenes, zugängliches unentwi‐ ckeltes Areal mit natürlicher Vegetation (vgl. Centres for Disease Control 2013). Er existiert zugleich auch für viele andere Formen wie städtische Parks und öffentliche Räume sowie für Straßenbäume und Ziergrün zwischen den Wohnblocks. Zwillingsstudien eignen sich besonders gut dafür, den genetischen Einfluss und die gemeinsame frühe Sozialisation von anderen Umgebungsrisiken und Faktoren zu unterscheiden. Eine amerikanische Forschergruppe in Seattle untersuchte an 4.338 Zwillingen die Beziehung zwischen dem Zugang zu Grünräumen und der individuellen psychischen Gesundheit. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass das Vorhandensein von Grünflächen in der täglichen Umgebung zu einer signifikanten Abnahme der Depres‐ sionsrate führte. Der Unterschied zeigte sich auch bei vergleichbarem Stresserleben, bei gleicher körperlicher Aktivität und vergleichbaren anderen sozioökonomischen Faktoren. Hieraus könnte vorsichtig geschlussfolgert werden, dass die Quantität des Nachbarschafts- oder Gartengrüns darüber entscheidet, ob aus Stress Depression entstehen kann. Aus der Kombination der Zwillingsforschung mit ergänzenden Längs‐ schnittuntersuchungen könnten ergänzende kausale Rückschlüsse gewonnen werden (vgl. Cohen-Cline/ Duncan/ Turkheimer 2015). 4.2.2 Evidenzbasierte Argumente Frühere epidemiologische Querschnittsstudien und Übersichten haben sich mit der Verknüpfung von Grünräumen und spezifischen einzelnen Gesundheitsmerkmalen und Ergebnissen, wie z. B. Mortalität einer Erkrankung (vgl. Gascon, 2016; Fong/ Hart/ James 2018), Übergewichtigkeit (vgl. Jones/ Lachowycz, 2011), Geburtsverlauf und -gewicht (vgl. Abelt/ McLafferty 2017) oder körperlichem Befinden, befasst. Eine grüne Wohn- und Schulumgebung, so zeigt eine spanische Verlaufsuntersuchung bei gesun‐ den Grundschulkindern, verbessert die Aufmerksamkeit und die Gedächtnisleistung (vgl. Dadvand 2015) sowie, entsprechend einer australischen Studie bei Adoleszenten, das prosoziale Verhalten (vgl. Astell-Burt et al. 2020). Die bisher umfangreichste zusammenfassende Recherche und Metaanalyse zu dem Thema erfolgte 2018 nach Durchsicht von 1.444 Studien aus 20 Ländern anhand einer Auswertung von 143 relevanten Arbeiten mit vorher definierten Qualitätskriterien - davon waren 103 Beobachtungsstudien und 40 sogenannte Interventionsstudien (vgl. Jones/ Twohig-Bennett 2018). Statistisch signifikante Unterschiede und gesundheitsfördernde Merkmale fanden sich bei Gruppen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit längerem Aufenthalt in Grünanlagen und Parks hinsichtlich selbst beurteiltem guten Gesundheitsgefühl, der Wahrscheinlichkeit eines Diabetes Typ II, der generellen Sterblichkeit und der Sterblichkeit an Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Höhe des diastolischen Blutdrucks, der Verbesserung von relevanten Laborwerten sowie hinsichtlich der 57 Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten Verringerung der Rate an frühen und untergewichtigen Geburten. Grünerleben lässt die Blutzuckerwerte sinken und reduziert die Kortisolkonzentration im Speichel, was als anerkannter Stressmarker gilt. Die Inzidenz - Häufigkeit neu auftretender Krank‐ heitsfälle innerhalb einer Zeitspanne - für Schlaganfallereignisse, für Bluthochdruck, Asthma und Arteriosklerose der Herzkranzgefäße sowie die Höhe des systolischen Blutdrucks wurden reduziert, erreichten in dieser Auswertung jedoch keine statistische Signifikanz (vgl. Jones/ Twohig-Bennett 2018). Eine meta-analytische Auswertung war aus Mangel an Studien und aufgrund der heterogenen Studienpopulationen für einige gesundheitsrelevante Ereignisse wie Krebserkrankungen, Sterblichkeit an Atemwegserkrankungen, neurologische Folgen und verschieden Biomarker nicht möglich. Allerdings beschäftigen sich drei neuere Arbeiten mit Krebsereignissen - sie zeigen ein signifikant niedriges Risiko für bösartige Prostatatumore (vgl. Demoury et al. 2017) und allgemein eine niedrigere Rate an auftretenden Krebserkrankungen. Gesundheitsgröße Anzahl Studien Anzahl Studienteil‐ nehmer Evidenzmaß für die Glaubwürdig‐ keit Gute Gesundheit (Selbsteinschät‐ zung) 10 41.873.103 p<0,001 Geburtsgewicht 6 1.593.471 p<0,001 Diabetes Typ II 6 463.220 p<0,001 Allgemeine Sterblichkeit 4 4.001.035 p<0,002 Bluthochdruck 4 112.28 p=0,91 Schwangerschaftsreife 4 1.576.253 p<0,001 Sterblichkeit Herz/ Kreislaufer‐ krankung 2 3.999.943 p<0,001 Schlaganfall 3 256.727 p=0.20 Fettstoffwechselstörung 2 5.934 p=0,56 Asthma 2 2.878 p=0,78 Arteriosklerose der Herzkranzge‐ fäße 2 255.905 p=0,26 Tab. 2: Signifikante (p0,002/ 0,001) und nicht signifikante gesundheitliche Verbesserungen bei länge‐ rem Aufenthalt in Grünanlagen und Parks Verschiedene Mechanismen werden als Hypothesen diskutiert, um die positiven Effekte von Grünräumen, Gartenanlagen oder naturbelassenen Außenwelten auf die Lebenserwartung und auf Krankheitsrisiken zu erklären: Manche werden am ehesten bestimmt durch das Vorhandensein von gesunden nachbarschaftlichen Grünflächen, 58 Heinrich J. Lübke andere Mechanismen mehr durch den aktiven Zugang zum Grün und damit durch gesteigerte körperlicher Aktivität. Die Kombination dieser beiden Faktoren ist am wahrscheinlichsten (vgl. Dadvand et al. 2015; Frumkin/ Hartig/ Mitchell/ de Vries 2014). 5 Gärten und Gärtnern als individualisierte Flucht aus gesellschaftlichen und ökonomischen Zwängen Kleingärten sollen der Erholung in der Natur sowie Stadtbewohnerinnen und Stadtbe‐ wohnern - nach dem Vorbild alter Bauerngärten - als Ort des Anbaus von Obst und Gemüse dienen, um dadurch, wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, eine quali‐ tativ bessere und günstigere Ernährung zu ermöglichen. Eine wesentliche Aufgabe der Kleingärten ist es, einen Ausgleich zum verdichteten Geschosswohnungsbau und einen Ersatz für zu wenig Gartenland am Wohngebäude bzw. für mangelnde nahegelegene Grünanlagen zu schaffen. Die Pächterinnen und Pächter der Kleingärten rekrutieren sich zu ca. 82 % aus Miethaushalten und zu mehr als 60 % aus mehrgeschossigen Wohnblocks. Der private Hausgarten ist die Luxusvariante, die zwar ohne räumliche Distanz den permanenten Zugang ermöglicht, jedoch die Vorteile von vielfältigen sozialen Beziehungen, wie zu den Nachbarinnen und Nachbarn in den Parzellen der Kleingärten, vielleicht weniger intensiv erfahren lässt. Der Gemeinschaftsgarten, dessen US-amerikanische Entstehung den 1920er-Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zugeschrieben wird und der erst allmählich in andere Länder transponiert wurde, ist anders als der private Garten in gewissem Sinn ein öffentlicher Garten mit einer Art demokratischer Kontrolle. Während zunächst Immigrantinnen und Immigranten, Kinder und die verarmte Unterschicht die Betreibe‐ rinnen und Betreiber dieser Gärten waren, florierten diese Victory Gardens im Zweiten Weltkrieg durch ihren wichtigen Anteil an der Nahrungsproduktion. Sie erlebten nach einem zwischenzeitlichen Rückgang seit den 1970er-Jahren und besonders nach der Rezession 2009 einen erneuten Boom. Gemeinschaftsgärten verwenden Brachland in den Innenstädten, das im Regelfall nur temporär Brachland sein kann, aber dafür kostenlos oder gegen geringe Miete befristet überlassen wird. Sehr oft werden mobile Gemeinschaftsgärten auf kontaminierten Böden angelegt, weil dieses Brachland erst durch eine aufwendige Sanierung als Bauland genutzt werden kann. Die mögliche Bo‐ denkontamination erfordert wegen der potenziellen Gesundheitsrisiken Augenmerk. Es gibt inzwischen eine Reihe von Arbeiten, die eine signifikant positive Beziehung zwischen dem aktiven Tun in diesen Gärten, der Gesundheit und einem gesunden Le‐ bensstil belegen. Beim Gärtnern kann in verschiedenen Ländern, auf allen Kontinenten, in entwickelten und unterentwickelten Ländern beobachtet werden, dass der Verzehr von Früchten und Gemüse und die körperliche Aktivität zu- und gleichzeitig der Body-Mass-Index (BMI), d. h. bestehende Übergewichtigkeit, abnimmt. Diese Merk‐ male verbessern sich wie auch das soziale Wohlergehen und die psychische Gesundheit sowohl bei den Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern als auch in deren Umfeld 59 Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten 3 Das Office Interantional du Coin de Terre et des Jardins Familiaux ist die größte Freizeitgärtner‐ organisation und wurde 1926 in Luxemburg gegründet (vgl. Bundesverband Deutscher Garten‐ freunde o. J.). (vgl. Machida 2019; Bógus/ Garcia/ Germani/ Ribeiro 2018; Al-Delaimy/ Webb 2017; Egli/ Oliver/ Tautolo 2016; Alaimo 2016) (→ Abb. 1). Die sozialen Funktionen und gesundheitsfördernden Ansprüche von Klein- und Gemeinschaftsgärten sind mannigfaltig beschrieben. Nicht alle diesen Gärten zuge‐ schriebenen Qualitäten sind belegt, als wissenschaftliche Hypothese in einem theore‐ tischen Ansatz aber hilfreich (vgl. Egli/ Oliver/ Tautolo 2016; Office International du Coin de Terre et des Jardins Familiaux 3 ). Die Kleingärten verbessern die allgemeine Lebensqualität in den Städten durch Lärmverringerung, Staubbindung, Durchgrünung, Auflockerung der Bebauung, Biotop- und Artenschutz, Lebensraumvernetzung und mikroklimatische Auswirkungen. Grünflächen können nachweislich Hitzestress min‐ dern. Große Parkanlagen sind besonders in der Hitzeperiode kühler als ihre bebaute Umgebung. Ob sich dieser kühlende Effekt auch bis zu einem gewissen Maß in die Umgebung bei Kleingärten ausbreiten kann, ob sogenannte Park Cool Islands (PCI) - Park-Kälteinseln - entstehen können, ist bisher nur im Ansatz untersucht. Einflussfaktoren, wie die spezifische Lage und Größe der Kolonien in der Stadt, die Oberflächen- und Vegetationsstruktur in und um die Kleingartenkolonien, die konkrete Menge an Bewässerung sowie Parameter der Energiebilanz müssen dabei beachtet werden (vgl. Bidjanbeg/ Liste/ Matscheroth/ Rost/ Seidel 2019). Folgen | psychisch Stress & Angst ↓ Depression ↓ Selbstbewusstsein ↑ positives Denken ↑ Wertschätzung ↑ Aufmerksamkeit ↑ Alltagsaktivitäten ↑ Funktionalität ↑ Stimmung ↑ Verhalten ↑ Lebensqualität ↑ Schlaf ↑ Folgen | physiologisch Cortisolspiegel ↓ Folgen | sozial, körperlich Isolation ↓ Soziale Netzwerke ↑ körperliches Wohlbefinden ↑ Zugang Gärten • Kleingärten • Gemeinschaftsgärten • Gärten für Rehabilitation • therapeutische Gärten Aktivität Gartenaktivität • generell • therapeutisch laufen • Gruppenberatung Ergebnis verbesserte psychische Gesundheit ↑ = Verbesserung/ Zunahme ↓ = Abnahme/ Verminderung Abb. 1: Logik-Modell. Der Beitrag der Gärten zur psychischen Gesundheit 60 Heinrich J. Lübke 4 EBM = Einheitlicher Bewertungsmaßstab. 5 OPS = Operationen- und Prozedurenschlüssel. 6 DRG = Diagnosebezogene Fallgruppen. Generell kann ein generationen- und kulturübergreifendes Wohlbefinden abgeleitet werden, das sich durch intensive Aufenthalte im Grünen, durch aktives Tun, durch Anverwandlung ästhetischer Vorstellungen und das belohnende Gefühl einer ‚guten Ernte‘ entwickeln kann. Wohlbefinden ist ein multidimensionales Konstrukt, das nicht das ureigene intendierte Ziel dieser Gemeinschaftsgartenkultur ist, das aber zuneh‐ mend von der Gesundheitsförderung wahrgenommen und gewichtet wird und von Regierungsinstitutionen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Indikator für soziale Zufriedenheit und Fortschritt gesehen wird. Individuelles und soziales Wohlbefinden ergänzt den erweiterten Gesundheitsbegriff und umfasst mindestens resiliente körperliche und psychische Verfasstheit, positive emotionale Erfahrungen und allgemeine Lebenszufriedenheit. Für Laien können die in der wissenschaftlichen Literatur abgefassten Vorteile und Auswirkungen der Teilhabe an Gemeinschaftsgärten in einem Schaubild modellhaft dargestellt werden. Hier werden die Schlüsselbotschaften und die beiden Säulen der Ernährungs- und Gesundheitsvorteile sowie die Faktoren des sozialen Umfelds zusammengeführt (vgl. Egli/ Oliver/ Tautolo 2016; Bailey/ Kingsley/ Torabi2019). 6 Grün und Gärten im Umfeld von Krankheitsrisiko und Krankheit 6.1 Naturerfahrung (‚Resonanzräume‘) und Gärten auch im Krankenhaus. Heilende Krankenhausarchitektur als eine Determinante von Therapie und Rekonvaleszenz Unterschiedliche Berufs- und Forschergruppen haben verschiedene Theorien und Ansätze zur Erklärung der Wirkung von Heilgärten und Therapeutischen Landschaften auf ihre Besucher bzw. Besucherinnen entwickelt: Das eigentliche Erleben des Gartenraums mit seiner Gesamtkonzeption und den einzelnen Komponenten wird von manchen als wesentlich erachtet: Die ‚kognitive Schule‘ betont die spezifische Wahrnehmungsfähigkeit, wohingegen die ‚Gartenthe‐ rapie-Schule‘ die gesundheitsfördernden Effekte von den eigenen körperlichen Akti‐ vitäten ableitet. Die Gartentherapie erweitert die motorischen, sensorischen, kogniti‐ ven und sozialen Kompetenzen für verschiedene Lebensbereiche. Diese aktivierende Therapieform wird folgerichtig als eine unterstützende und ergänzende Behandlungs‐ methode im Rahmen komplexer Therapien in der Psychiatrie, Suchttherapie oder Geriatrie eingesetzt. Obwohl diese fruchtbare Beziehung von Mensch und Natur seit vielen Jahrhunderten praktiziert wird, hat sie in unserer modernen Gesellschaft weder die allgemein wünschenswerte Umsetzung und Wertschätzung - wo gibt es noch Krankenhausgärten? - noch die monetäre Anerkennung erfahren - es gibt in unserem modernen Gesundheitssystem für diese aufwändige Therapie weder EBM 4 noch OPS 5 -Leistungsziffern oder DRG 6 -Abrechnungsziffern. 61 Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten Allerdings: Die Berührung durch Natur in einem Heilgarten erfolgt für die Besu‐ cherin und den Besucher sehr unterschiedlich und hängt von der aktuellen Lebenser‐ fahrung, von ihrer bzw. seiner Wahrnehmungsfähigkeit und von ihrer bzw. seiner psychischen Kraft und Verfasstheit ab. Ein Heilgarten sollte idealerweise konzeptionell die unterschiedlichen Phasen der psychischen Stabilität von der direkten Zurückgezo‐ genheit über die emotionale und aktiv-körperliche Beteiligung bis zur kontaktfreudi‐ gen, initiativen Mitwirkung berücksichtigen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ein Garten mit unterschiedlichen Gestaltungscharakteren und Räumen die Besuche‐ rinnen und Besucher besonders anzieht. Einige Studien beschreiben acht differente Gestaltungsräume, die einen solchen Garten ausmachen sollen und die mit der Kraft von Symbolen verschiedene Sinneswahrnehmungen - Sehen, Hören, Bewegung - ansprechen und damit kommunizieren (vgl. Berggren-Bärring/ Grahn 1995; Stigsdot‐ ter 2002) (→ Tab. 3). Gartenraumcharakter Raummerkmale Heiter und ruhig Frieden, Ruhe, Obhut; Geräusche von Wind, Wasser, Vögel, Insekten; keine Störungen Wild Faszination durch wildwachsende Natur; keine Bearbeitung, bemooste Steine/ Felsen; alte Wege Artenvielfalt verschiedene Pflanzen- und (Tier-)Spezies Weite beruhigendes Gefühl mit Zugang zu einer ‚anderen Welt‘, zu einem zusammenhängenden Ganzen (Typ Buchenwald) Gemeinschaftlich ein grüner offener Platz zum Besuchen und Verweilen Lustgarten abgeschlossener, sicherer Raum zum Ausruhen, Ungestörtsein, Experimentieren und Spielen Festgarten Treffpunkt für Festlichkeiten und Vergnügen Kulturgarten historischer Ort mit Faszination und Geschichte Tab. 3: Verschiedene Raumcharaktere von Heilgärten 6.2 Krankheit und Wahrnehmung der Umwelt Kranke haben ein anderes und intensiveres Architektur- und Umgebungsempfinden als Gesunde. Das trifft wahrscheinlich nicht für die Patientinnen und Patienten mit kurzer Verweildauer zu. Wichtiger ist diese Betrachtung aber bei einem längeren Krankenhausaufenthalt (Rekonvaleszenz nach längerer akuter Krankheitsphase), bei Wiederkehrerinnen und Wiederkehrern mit wiederholt notwendigen Behandlungen (chronische Erkrankungen wie Diabetes, Rheuma; onkologischen Therapien) und bei Langzeitliegerinnen und Langzeitliegern (psychische Erkrankungen, Palliativpatien‐ ten, Hospiz). Optik, Design oder Geräusche nehmen Kranke unterschiedlich wahr. Es bereitet den Patientinnen und Patienten Unbehagen, wenn die Umgebung im 62 Heinrich J. Lübke Krankenhaus nicht zum Wohlfühlen einlädt. Riechen ist Emotion. Geruchseindrücke bleiben besonders gut im Gedächtnis, aber nur dann, wenn sie mit einem emotionalen Erlebnis oder emotionsträchtigen Erinnerungen verbunden sind - ‚Proust- oder Made‐ leine-Effekt‘ (vgl. Keller 2019, S. 100). Daher unterscheiden sich Geruchsempfindungen durch hohe Löschungsresistenzen entscheidend von anderen Sinneseindrücken. Im Garten und im Wald ist die Luft rein und gleichzeitig so erfüllt von den frischen Düften der Natur: Nadelbäume, der Boden in Garten und Wald, das frische Moos signalisieren Energie, Frische und Abwechslung sowie Vertrautheit. Riechen ist mit Assoziationen und Dufterlebnissen aus der Kindheit verbunden. Fehlendes oder wenig Tageslicht, sehr kleine Behandlungszimmer, verbrauchte Luft oder Warteräume im Durchgangsverkehr können räumliche Enge verstärken und zum Stressfaktor werden (vgl. Vollmer 2015). 6.3 Hotspots benötigen eine heilende Krankenhaus- und Landschaftsarchitektur Das umgebungsbezogene Stresserleben einer Patientin oder eines Patienten ist u. a. abhängig von Art und Schwere seiner Erkrankung, seinem Alter und seinem Umgang mit der Erkrankung. Orte, die zu einem besonders hohen Stressempfinden bei Patien‐ tinnen und Patienten führen, sind die Wartezonen. Der Sichtkontakt zur Natur und zur Außenwelt ist die beste Möglichkeit, um schnell wieder Kontrolle über eine Situation zu gewinnen, Stress abzubauen und das Gefühl zu erhalten: ‚Ich kann jetzt hier raus.‘ Daher sollte die Patientin oder der Patient, wenn sie bzw. er aus dem Arztzimmer tritt oder warten muss, möglichst direkt nach draußen in eine vielfältige Grünfläche oder Natur blicken können. Außerdem sollte im Idealfall der Zugang zu einem angeschlossenen Garten ermöglicht werden. Das ist allerdings oft nur durch einen Neu- oder Umbau mit neuen Sichtachsen und grünen Innenhöfen zu erreichen, der sich jedoch aufgrund seiner hohen Wirksamkeit auf jeden Fall lohnt und deshalb überlegt werden sollte (vgl. Vollmer 2015). Gruppen mit einem besonders hohen Bedarf an Stressabbau infolge intensiver Patientenkontakte sind Pflegekräfte, Physiothera‐ peutinnen und -therapeuten und andere Therapeutinnen bzw. Therapeuten. Ebenso benötigen Angehörige ein ähnlich entlastendes Umfeld (vgl. Rawlings 2017). 6.4 Qualität der Umgebung und des Grüns für Krankheitsbewältigung, medizinische Betreuung sowie für den Heilungs- und Genesungsprozess Umgebungsfaktoren haben nach qualitativen Aspekten und individuellen Erfahrungen zweifelsohne positiven Einfluss auf Genesung, Gesundheitserhaltung und Wohlbefin‐ den. Aussicht auf Natur - eventuell als Naturrepräsentationen in Form von Videos, Gemälden oder Pflanzen - ermöglichen Angst-, Schmerz- und Anspannungsreduktion, eine angemessene Krankheitsverarbeitung sowie eine Verkürzung der Verweildauer im Krankenhaus. Ein direkter Zugang vom Krankenzimmer nach draußen mit Sichtkon‐ takt in eine Gartenanlage oder zu Grünflächen sichert ein Gefühl von Kontrolle und Orientierung, reduziert Anspannung und Angst und erhöht psychisches Wohlbefinden (vgl. TC Vollmer 2015). 63 Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten Verschiedene Disziplinen versuchen zu erklären, wie Natur und Landschaft - Gärten und Grün - über die prophylaktische Wirkung hinaus für einen Krankheitsfall positive, heilende Effekte entwickeln. Der Begriff ‚therapeutische Landschaft‘ wird traditionell für Landschaftseindrücke benutzt, denen ein nachhaltiger Ruf für eine körperliche, physische und spirituelle Wirkungskraft anhaftet (vgl. Gesler 1992). Die Theorie der Umwelt- (vgl. Ulrich 1999; Barnes/ Cooper-Marcus 1995) und Ökologie-Psychologie sowie die Gartentherapieschule (→ Kap. 6.1) betonen jeweils die wertvollen Merkmale von restaurativer Umgebung, von ästhetisch-affektiven Momenten sowie die Wichtig‐ keit des aktiven Tuns (vgl. Stigsdotter/ Grahn/ Stigsdotter 2002/ Jiang 2014). 6.5 Vorteile für die Akteurinnen und Akteure der Gesundheitsberufe und für den Genesungsverlauf der Patientinnen und Patienten Eine angemessene Arbeitsumfeldgestaltung für Therapeutinnen und Therapeuten sowie Pflegerinnen und Pfleger ermöglicht - so die wenig untersuchte These - die Re‐ duktion von Stress und Erschöpfbarkeit, die Rückgewinnung von Arbeitszufriedenheit, von Privat- und Erholungsräumen. Barnes und Cooper-Marcus (1995) schlussfolgern aus ihren Beobachtungen in vier verschiedenen Krankenhausgärten Kaliforniens, dass viele Beschäftigte im Gesundheitsbereich den Garten als angenehmen Fluchtpunkt nutzen, um Stress und widrige Bedingungen zumindest passager zu vermindern. Auch Patientinnen und Patienten sowie ihre Familien zeigen bei Nutzung von Gärten eine positivere Stimmung und insgesamt mehr Zufriedenheit mit der Patientenversorgung (vgl. Cooper-Marcus et al. 2001; Ulrich 004). Mittels heilender Krankenhausarchitektur werden die Voraussetzungen für einen angenehmen und eventuell auch kürzeren Krankenhausaufenthalt der Patientinnen und Patienten geschaffen. Es gibt Belege, dass eine Verminderung einer unangeneh‐ men Landschafts- und Geräuschkulisse, der ausreichende Einfall von hellem Licht - natürlich oder künstlich - das Behandlungsergebnis positiv beeinflusst. Ein höherer Geräusch- und Lärmpegel ist nachweislich nachteilig: Neugeborene auf Intensivstatio‐ nen reagieren mit einem Abfall der Sauerstoffsättigung im Blut, mit einer Blutdruck‐ anhebung und einem Anstieg der Atem- und Herzfrequenz (vgl. Johnson 2001). Ganz ähnlich zeigen Erwachsene Stressreaktionen - Puls- und Blutdruckerhöhung - und ein gestörtes Schlafmuster (vgl. Aronovich/ Ferraz/ Knobel/ Novaes 1997; Thompson/ Topf 2001). Temperatur- und v. a. Tageslichteinflüsse haben Auswirkung auf die Dauer des stationären Aufenthaltes, die Depressionswahrscheinlichkeit und das Schlafmuster bei einem breiten Spektrum von Erkrankungen, insbesondere auch bei Demenzkranken (vgl. Beauchemin/ Hays 1996; Barbini/ Benedetti/ Campori/ Colombo/ Smeraldi 2001; Bi‐ nus et al. 2000). Patientinnen und Patienten mit einer psychischen Erkrankung - z. B. bei bipolarer Störung - und einer Unterbringung in ostwärts, zum Sonnenaufgang hin eingerichte‐ ten Zimmern konnten im Schnitt 3,7 Tage früher entlassen werden als ihre Mitpatien‐ tinnen und -patienten, die in nach Westen ausgerichteten Zimmern untergebracht 64 Heinrich J. Lübke wurden. Naturbezogene nichtpharmakologische Interventionen (v. a. Gartentherapie) können bei Demenzkranken das Wohlbefinden verbessern und das Auftreten von störendem Verhalten mindern - dadurch wird der Bedarf an Psychopharmaka sowie die Wahrscheinlichkeit von schweren Stürzen reduziert und die Schlafqualität verbessert (vgl. Gonzalez/ Kirkevold 2014). Die freie Sicht auf eine naturnahe, parkähnliche Umgebung bewirkt positive Verän‐ derungen von Emotion und Kreislaufphysiologie, hier sind v. a. der Puls und Blutdruck zu nennen, die auf eine rasche Stresserholung hindeuten (vgl. Fiorito et al. 1991). Patientinnen und Patienten erleben nach einer Herzoperation in ihrem Krankenhaus‐ zimmer mit einem naturbetonten Landschaftsfoto, etwa mit Bäumen oder Wasser, weniger Angstmomente und benötigen einer schwedischen Studie zufolge weniger potente Schmerzmittel als das Vergleichskollektiv, das ohne ein Landschaftsbild im Zimmer behandelt wurde (vgl. Ulrich 1984). Nach einem chirurgischen Eingriff können sich Patientinnen und Patienten bei einer freien Natursicht auf Bäume und Grün rascher erholen als ihre Mitpatientinnen und -patienten, denen nur ein Ausblick auf eine naheliegende Mauer vergönnt ist. Bei besserem Allgemeinbefinden benötigen jene weniger hoch wirksame Analgetika (vgl. Fiorito et al. 1991). 6.6 Anforderung an Gärten für spezifische Therapieeinheiten Es gibt eine Reihe von Empfehlungen, wie unterschiedliche Kategorien von Gärten für verschiedene Patientenzielgruppen entworfen werden können (vgl. Kamperi/ Pa‐ raskevopoulou 2015). Drei Publikationen beschäftigen sich mit Gärten in San Diego und Binghamton (USA), die für Tumorpatientinnen und -patienten entworfen wur‐ den. Nach Befragungen der Gartennutzerinnen und -nutzer war die am häufigsten gewünschte Komponente das reichliche Grün. Die Verwendung von Pflanzen mit unterschiedlichen Blattformen, Farben und Oberflächen fasziniert und sorgt für Ab‐ wechslung. Spezielle Krankheitsbilder benötigen eine besondere Berücksichtigung ihrer speziellen Empfindlichkeiten. Leukämie-Patientinnen und -Patienten z. B. meiden die direkte Sonneneinstrahlung und Blendeffekte, andere sind wegen einer leicht auslösbaren Übelkeit empfindlich gegenüber Düften (vgl. Busa 2013; Valente/ Mar‐ cus 2015). Immungefährdeten sollte der Garten über eine offene Fenstersicht einsehbar und für ans Bett gebundene Patientinnen und Patienten sollte der Gartenkontakt über eine weite Flügeltür herstellbar sein. Hier wie auch bei Fragen des Rooming-in der Angehörigen bedarf es guter Lösungen vonseiten der Architektinnen und Architekten. Es ist schwer vorstellbar, eine adäquate Umgebung für Palliativpatientinnen und -patienten z. B. in einem höher gelegenen Stockwerk zu schaffen. Ein Grünkonzept, das für jede dieser speziellen Einrichtungen erstellt werden sollte, könnte folgende Vorschläge als Diskussion berücksichtigen: ● reiches Angebot an Pflanzen (Menge und Unterschiedlichkeit), ● Vermeiden von intensiven Pflanzen-Düften, 65 Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten 7 Für weitere Informationen über das Gartenkonzept und den Landschaftsgärtner Dan Pearson siehe: www.maggies.org/ our-centres/ maggies-manchester/ architecture-and-design/ (letzter Zugriff: 07.01.2021). ● Angebot an komfortablen Sitzmöglichkeiten, ● Integration von beschatteten Flächen, Vermeidung von Blendungen (Metall), ● Vorhalten von privaten Rückzugsräumen, ● Vermeiden von Lärmeinflüssen, ● Konstruktion von Wegen mit ebener Oberfläche, ● Barrierefreiheit ist selbstverständlich, ● die Überlegung, ob in der Nachbarschaft Tiere, wie Schafe oder Ponys, zu beob‐ achten/ erleben sind. 6.7 Modellprojekte Modellentwürfe aus Großbritannien zielen darauf ab, die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten mehr in den Fokus der Versorgung mit bedarfsgerechter Architektur und Grünanlagen zu stellen und dabei denkanstoßend öffentlich wirksam zu sein. Ein Beispiel dafür sind sogenannte Maggie’s Centers, benannt nach der Krebspa‐ tientin Maggie Keswick Jencks (1941-1995). Aus der Erfahrung ihrer bösartigen Erkrankung mit schlechter Prognose und dem Erleben von fensterlosen Korridoren mit schmuck- und grünlosen Warteräumen während ihrer Chemotherapie-Zyklen entstand die Idee von lichtdurchfluteten Räumen, in denen das Warten auf die Ergeb‐ nisse der nächsten Untersuchungsrunde und die Verarbeitung der Befunde in Ruhe und Zurückgezogenheit möglich wird. Maggie’s Centers sind in Krankenhäuser und in positiv anmutende grüne Landschaft integrierte Entspannungs- und Begegnungs‐ räume. Sie sollen Krebspatientinnen und -patienten Stress, Ängste und Unsicherheiten bei der Bewältigung ihrer Krankheit nehmen (vgl. Koppen/ Vollmer 2015). Seit Mitte der 1990er-Jahre sind bereits mehr als 20 solcher Zentren an Krankenhäusern ent‐ standen. Maggies Vision wurde und wird weiterhin kontinuierlich umgesetzt durch eine Reihe namhafter Architekten wie Frank Gehry, Zaha Hadid (1950-2016) und dem Architekturbüro Snøhetta. Norman Fosters Maggie-Projekt in Manchester mit barrierefreien Räumen zu ebener Erde ist mit einer an ein Zuhause erinnernden Größenordnung entworfen. Bücherei, Küche und Übungsräume sind integriert. Be‐ handlungs- und Besprechungsräume sind entlang der Ost-Fassade verteilt, wovon jedes Zimmer Anschluss an einen eigenen abgegrenzten Garten hat. Entworfen wurde das Gartenkonzept von dem hochdekorierten Landschaftsgärtner Dan Pearson. 7 Das ‚Grünhaus‘ ist ans sonnige Südende des Hauses platziert - es lädt Patientinnen und Patienten dazu ein, Blumen oder andere Pflanzen zu ziehen und wachsen zu lassen. Forster erklärt: „Ziel war es, ein Gebäude zu schaffen, das Willkommen und Freundlichkeit verspricht und keinen institutionellen Bezug zu einem Krankenhaus oder zu einem Gesundheitszentrum 66 Heinrich J. Lübke erkennen lässt - ein lichtgefüllter, heimischer Raum, in dem sich Menschen versammeln, miteinander sprechen oder einfach nachdenken können“. Im gesamten Gebäude wird Wert gelegt auf natürliches Licht, Begrünung und freie Sichtachsen. Das Konzept betont die therapeutischen Qualitäten der Natur und der gartenähnlichen Umgebung. 7 Fazit: Bedarf für neue Sichtweisen in Politik und Medizin Im Gesundheitsbereich bedarf es einer Anpassung der medizinischen Ausbildungs‐ curricula. In den Lehrplänen für medizinisches Personal und insbesondere für Medi‐ zinstudentinnen und -studenten muss die Relevanz von innerstädtischen Garten- und Grünstrukturen im Kampf gegen den Klimawandel und für die Gesundheit berücksichtigt werden. Dies muss sich durch das ganze Curriculum ziehen - mit Berücksichtigung aller klimarelevanten Erkrankungsfolgen und Maßnahmen (vgl. Traidl-Hoffmann 2020). Wir brauchen mehr Resilienz als Nachhaltigkeit. Die wissenschaftlichen Daten zeigen die politischen Schlussfolgerungen auf: Grün‐ räume und Gärten sind mehr als ein bloßer Luxus. Die Städteplanung muss dieser Sicherheit gerecht werden. Die politischen Verantwortlichen müssen die für die Gesundheit unverzichtbare Flächen an Grün bei städtebaulichen Entwicklungsfragen mit einbeziehen, wenn es um die Gesundheit der Älteren, der Jugend und der ökono‐ misch-wirtschaftlich benachteiligten Gruppen geht - wir müssen mit und von Soziolo‐ ginnen und Soziologen sowie Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern lernen. Wir benötigen die Verfügbarkeit von Grün in öffentlichen und nichtöffentlichen Einrichtungen unseres Gesundheitssystems. Wir wünschen uns die Öffnung von vorhandenen Gärten und eventuell deren vorsichtige Um- und Neugestaltung nach neuen Erkenntnissen der Architektur, der Psychologie und der Gartentherapie. Wünschenswert ist ein Grünkonzept für den Arbeitsplatz und für jedes Kranken‐ haus, das die Umgebungsfaktoren und die Patienten- und Mitarbeiteranforderungen berücksichtigt. Die Notwendigkeit, für diese Vorstellungen Finanzierungskonzepte zu entwickeln, richtet sich insbesondere wegen der Systemrelevanz an die primären Kostenträger (DRG, System, EBM-Katalog), aber auch an die Gestaltungskraft von privater Unterstützung (Sponsoring, Förderverein u. a. m.). 67 Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten Literaturhinweise Abelt, K.; McLafferty, S. (2017): Green Streets: Urban Green and Birth Outcomes, in: International Journal of Environmental Research and Public Health 14(7): 771. Online: pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/ 28703756/ , letzter Zugriff: 11.11.2020. Adli, M. (2017): Stress and the City. Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind. C. Bertelsmann, München. Al-Delaimy, W. K.; Webb, M. 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Lübke 1 Finanziert wurde das Forschungsprojekt „Nutzungsschäden in historischen Gärten“ durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt. Fachlich unterstützt wurde es durch Rainer Schomann vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege. „Ein wesentliches Ziel des Forschungsprojekts war es, einen sozialwissenschaftlichen Ansatz für die Gartendenkmalpflege fruchtbar zu machen. Im Rahmen des Forschungsprojektes Nutzungsschäden in historischen Gärten wurden 50 historische Gartenanlagen in Niedersachsen und darüber hinaus 25 Analgen im gesamten Bundesgebiet […] auf die dort stattfindenden Nutzungen, daraus resultierende Schäden und Möglichkeiten der Schadensvermeidung und -minimierung untersucht.“ (Leibnitz Universität Hannover, Institut für Landschaftsarchitektur 2015) Die Zukunft von Gärten für die Menschen von morgen Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks Joachim Wolschke-Bulmahn Der Erhalt von historischen Gärten macht nur Sinn, wenn sie auch der Nutzung durch die Menschen zugänglich sind. Die dem Wert und der Schutzbedürftigkeit solcher Gärten angemessenen Nutzungen sind sicherlich deutlich eingeschränkter als in nicht denkmalwerten Gartenanlagen. Trotzdem entstehen auch in historischen Gärten Schäden durch deren Nutzung, seien dies sachgerechte oder auch nicht sachgerechte Nutzungen. Der nachfolgende Beitrag basiert maßgeblich auf den Ergebnissen eines Forschungsprojektes, das 1999/ 2000 in Kooperation mit Wulf Tessin und Petra Widmer zu „Nutzungsschäden in historischen Gärten“ durchgeführt wurde. 1 Im Rahmen des Projektes wurde u. a. den Ursachen und dem Ausmaß von Nutzungsschäden in historischen Parks und Gärten durch alltägliche Nutzungen sowie Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung nachgegangen (vgl. Tessin/ Widmer/ Wolschke-Bulmahn 2000). 1 Zur historischen Dimension von Nutzungsschäden Nutzungsschäden in historischen Gärten sind allerdings kein ‚modernes‘ Problem. Schon bei einem kursorischen Studium von Beiträgen aus den vergangenen Jahrhun‐ derten lassen sich zahlreiche Äußerungen von historischen Gartenbesucherinnen und -besuchern über Fehlnutzungen und mutwillige Zerstörungen in historischen Gärten nachweisen, die heute mit Stichworten wie Vandalismus, Graffiti und Vermüllung bezeichnet werden. Auch die Park- und Gartenordnungen für Gärten des 18. und 19. Jahrhunderts deuten entsprechende Nutzungsprobleme an. In vielen dieser Garten‐ ordnungen findet sich bereits ein Zugangsverbot für Hunde. Sachbeschädigungen an Skulpturen waren seinerzeit ebenso ein Problem wie das Zertreten von Beeten und das Entwenden von Blumen. So heißt es beispielsweise in der um 1720 am Haupteingang des Großen Gartens in Hannover-Herrenhausen angebrachten Besucherordnung: „Jedermann ist es erlaubt sich im königl. garten eine veränderung zu machen gemeinen leuten wird jedoch bey leibes strafe verboten I. keine statüen und andere freystehende sachen zu beschädigen II. nicht nach den schwänen zu werfen oder solche auf ihren brüte-teichen zu beunruhigen III. keine hünde mit in den garten zu nehmen IV. die nachtigallen weder zu fangen noch zu stöhren“. Die Parkordnung von Clemens August für Augustusburg vom 17. Mai 1748 verbot u. a. das Mitnehmen von Hunden in den Brühler Park sowie das Betreten der „Scharmilien, Büschcagen und andere(r) abgeschlossene(r) Oerther“ und drohte so drastische Strafen wie die „Todtschiessung deren Hunden und anderer willkührlicher scharffer Andung“ (Kohrdt/ Bader 1965, S. 74) an. Die Besuchsordnung für den Schwetzinger Schlossgar‐ ten vom 4. August 1787 wurde erlassen, weil trotz der „gnädigen Erlaubnis Seiner Churfürstlichen Durchlaucht zu Pfalz“ (Besuchsordnung Schwetzinger Schlossgarten, 1787), dass jeder Aus- und Einheimische ohne Standesunterschied freien Zutritt zum Schwetzinger Schlossgarten habe, viele Schäden und Diebstähle von den Nutzerinnen und Nutzern verursacht wurden. Es wurde einleitend in der Besuchsordnung beklagt, dass „bis daher von geringer Gattung Leuten an dessen in- und äußeren Theilen sehr viele frevelhafte Handlungen, beträchtliche Beschädigungen und Diebereyen vorgegangen“ (Be‐ suchsordnung Schwetzinger Schlossgarten 1787). Die Schwetzinger Gartenordnung stellte Diebstahl ebenso wie das Übersteigen der Zäune und Palisaden, die Beschädigung und Entwendung von Einfassungen sowie von Bäumen, Gewächsen und Blumen, das Zerstören von Vogelnestern, das Fangen von Fischen in den Kanälen und Weihern, die Beschädigung oder Entwendung von Urnen, Statuen, anderen Verzierungen usw., das Bekritzeln von Statuen, Urnen, Mauern, Gebäuden sowie das Mitbringen von Hunden „größerer und mittlerer Gattung“ (Be‐ suchsordnung Schwetzinger Schlossgarten 1787) unter teils drastische Strafen. Absatz 15 der Besuchsordnung sagte aus: 74 Joachim Wolschke-Bulmahn 2 Am Beispiel der Stadt Hannover, siehe dazu Nutzungsschäden gegen Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert (vgl. Gröning/ Wolschke-Bulmahn 1990, S. 66-70. 3 Eines seiner Strichmännchen, den weiblichen Wassergeist Undine an der Fassade des Deutschen Seminars in der Schönbergstraße, ließ der Kanton Zürich 2004 restaurieren und konservieren. Das illegal entstandene Graffiti sprayte Naegeli 1978 an die Betonwand des Physikinstituts. Nach einem Umbau 1995 stufte die kantonale Baudirektion diese Sprayerei als erhaltenswert ein und schützte sie mit einer Holzabdeckung. Nun, mit der Konservierung von Undine, rehabilitiert die Stadt Zürich Harald Naegeli und bezeichnet seine „Schmiererei“ nunmehr als Kunst und Naegeli als Künstler (vgl. Wysling 2009). „Ebengenannte Patrouille gehet nächtlicher Weile mit scharf geladenem Gewehr und großen starken Hunden, und wann jemand auf ihr Anrufen nicht Antwort gibt, oder gar entweichet, so hat er sich selbst zuzumessen, wann er auf ein oder andere Art beschädiget wird“ (Besuchsordnung Schwetzinger Schlossgarten 1787). Auch Formen des Graffitis, heute ein besonderer Nutzungsschaden in zahlreichen historischen Anlagen, waren seinerzeit schon als Problem vorhanden. Bezüglich des Wörlitzer Parks klagte Carl August Boettiger 1797 über ‚Graffitis‘, die in ihrem Ausmaß heutigen Schäden in nichts nachzustehen scheinen. Er wies auf Kritzeleien im Nym‐ phaeum hin und schlug eine recht modern anmutende Schadensvermeidungsstrategie vor, nämlich die schnellstmögliche Beseitigung der Kritzeleien: „Statt der Nymphe, deren Bild man hier erwarten sollte, steht hier ein Abguß von der Hauptfigur in der Dresdner Antikengalerie, dem sich selbst salbenden Fechter, in der Mitte der Hinterwand, die aber, leider, so wie ringsherum die weißen Gipswände mit hundert Namen bekritzelt und beschrieben ist. Ein Sünder macht mehrere. Würden die ersten Versuche eines solchen Narrenstammbuchs gleich wieder überpinselt, so würden hundert gar nicht in die Versuchung kommen, hier ihr Andenken zu stiften“ (Boettinger 1797, S. 25). Es ist zu vermuten, dass diese Kritzeleien v. a. durch touristische Besucherinnen und Besucher des Wörlitzer Parks verursacht wurden. Dieser Liste an Verweisen auf frühe Nutzungsschäden und Vandalismus in Gartenanlagen, die heute als Kulturdenkmale geschützt werden, ließen sich zahllose weitere hinzufügen. Diesbezüglich scheint sich über die Jahrhunderte nichts Wesentliches geändert zu haben. 2 Dass bestimmte Formen des Graffitis, die noch vor wenigen Jahrzehnten als kriminell verfolgt wurden, inzwischen denkmalwürdig geworden sind, dafür steht das Beispiel des Sprayers von Zürich, Harald Naegeli. Dieser hatte Ende der 1970er-Jahre begonnen, an Hauswänden und Betonmauern in Zürich seine Graffitis in Form von kunstvollen Strichfiguren, die meist in kreativer Weise auch auf den jeweiligen Ort Bezug nahmen, anzubringen. Er stand 1981 vor Gericht und wurde wegen wiederholter Sachbeschädi‐ gung mit einer Geldstrafe und neun Monaten Haft bestraft. 3 Ein maßgebliches Ziel des 1999/ 2000 durchgeführten Forschungsprojekts „Nut‐ zungsschäden in historischen Gärten“ war es, den Hinweisen, von gartendenkmalpfle‐ gerischer Seite, auf Schäden in historischen Parks und Gärten, die durch deren alltäg‐ liche Nutzung entstehen, systematisch und wissenschaftlich fundiert nachzugehen. Trotz der zahlreichen diesbezüglichen Klagen über Nutzungsschäden in historischen 75 Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks Gärten fehlte bis dahin eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung, die dieses Problem am Beispiel einer repräsentativen Anzahl historischer Gärten in Deutschland zum Thema gehabt und die zahlreichen Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen sind, einer Beantwortung zuzuführen versucht hätte. Handelt es sich bei Nutzungsschäden in historischen Gärten um ein spezifisches Problem des ausgehenden 20. Jahrhunderts oder sind Nutzungsschäden in der Geschichte von Gärten nicht ein von Anfang an festzustellendes Phänomen? Wie begründet sind die Klagen über Nutzerinnen und Nutzer historischer Gärten, die in den vergangenen Jahrzehnten in zahlreichen Beiträgen geäußert worden sind? Eine Vielzahl weiterer Fragen zu Nutzungsschäden liegt auf der Hand. Welche Schäden verursachen Nutzungen und Nutzerinnen und Nutzer? Sind es mehr die alltäglichen Nutzerinnen und Nutzer oder sind es touristische Gruppen, die historische Parks besuchen? Verursachen Touristinnen und Touristen andere Schäden als Besu‐ cherinnen und Besucher, die den historischen Garten quasi als alltägliche Freifläche benutzen? Sind diese Schäden z. B. auf Unwissen der Nutzenden oder auf mutwilliges Verhalten zurückzuführen oder sind sie unvermeidbar und müssen als ganz normales Ergebnis, quasi als alltägliche Verschleißerscheinung eines historischen Parks durch eine in großen Teilen sachgerechte Nutzung hingenommen werden? Welchen Anteil an den Nutzungsschäden haben die Schäden, die durch Massenveranstaltungen wie Konzerte, Feuerwerke und Reitturniere verursacht werden? Wie gehen die für die Pflege und Erhaltung der Anlagen Verantwortlichen mit Nutzungsschäden um? Wer‐ den sie erfasst, gegebenenfalls in Schadensstatistiken, -katastern und -kartierungen dokumentiert, um Erkenntnisse über Schadensverursacherinnen und -verursacher sowie Schadensursachen systematisch auswerten zu können? Oder wäre das eine überflüssige und fruchtlose Anstrengung und nur die möglichst schnelle Beseitigung der Schäden verspricht Erfolg? Lassen sich eindeutige erfolgversprechende Strategien überhaupt herauskristallisieren? Diese und andere Fragen wurden im Forschungspro‐ jekt aufgeworfen und einige davon einer Beantwortung zugeführt. 2 Zum Stand der Forschung Systematische Untersuchungen über die vielfältigen Nutzungen in historischen Gärten und deren Auswirkungen auf ihren Erhaltungszustand waren - trotz der Klagen seitens der Gartendenkmalpflege über Nutzungsschäden - lange Zeit nicht vorhanden. Erst ab den 1970er-Jahren wurde dem Zusammenhang zwischen Nutzung und Erhaltung unter gartendenkmalpflegerischen Kriterien eine gewisse Beachtung geschenkt. Dies spiegelt sich in einer Reihe von einschlägigen Artikeln wider. Im Jahr 1972 ging Peter Jordan z. B. der Frage nach, „Wer geht wann und warum in welchen historischen Garten. Tendenzen von Besuchergewohnheiten“ ( Jordan 1972, S. 129-135). Jordan thematisierte in seiner Untersuchung, die er bescheiden „eine Momentaufnahme ohne handfeste wissenschaftliche Beweiskraft“ ( Jordan 1972, S. 129) nannte, am Beispiel der Gärten von Linderhof in den Bayerischen Alpen, Schleißheim, Nymphenburg, dem 76 Joachim Wolschke-Bulmahn Englischen Garten in München und Herrenhausen in Hannover u. a. Fragen nach der Herkunft der Besuchenden, nach den Gründen für den Besuch, nach dem Wissen um die jeweilige historische Anlage und nach der Zufriedenheit mit den vorhandenen Einrichtungen. Bezüglich der Vorstellungen der Institutionen der öffentlichen Hand „über die Wünsche und Zielvorstellungen der heutigen Besucher ihrer Gärten“ ( Jor‐ dan 1972, S. 129) verwies der Autor auf beträchtliche Unkenntnis, wenn er feststellte, „daß die Basis für die Entscheidungen der meisten Gartenverwaltungen auf Intuitionen und Vermutungen einzelner beruht, daß aber Untersuchungen größeren Stils über Besucherbe‐ wegungen, Besuchervorstellungen, Besuchercharakterisierungen, wie man sie zum Beispiel auf dem Wege der Meinungsumfragen auf anderen Fachgebieten längst vorgenommen hat, nirgendwo vorliegen. So bitter es klingt, so deutlich muss es gesagt werden: Die Verwalter Historischer Gärten wissen wohl einiges über die Materie Garten, mit der sie arbeiten, aber nichts über den Kundenkreis, über den Markt, auf dem sie ihr Produkt verkaufen“ ( Jordan 1972, S. 129). Ulrich Fingerhut veröffentlichte 1982 einen Artikel zum Nymphenburger Park unter dem Titel „Besucherverhalten in einer historischen Parkanlage. Theoretische Überle‐ gungen, empirische Untersuchung und freiraumplanerische Konsequenzen am Beispiel Nymphenburger Park“ (Fingerhut 1982, S. 161-166). Zur Nutzung durch Tourismus sei auf den Beitrag von Ludwig Trauzettel aus dem Jahr 1983 „Belastungen für die Denkmalpflege durch den Tourismus am Beispiel des Landschaftsparks Wörlitz“ (Trau‐ zettel 1983, S. 10-12) sowie von Bernd Modrow „Nutzungsansprüche an historische Gärten und Anlagen - Probleme durch Tourismus und Erholung“ (Modrow 1985, S. 104-110) verwiesen. Modrow äußerte sich 1985 zu den „direkten und indirekten Folgewirkungen“ (Modrow 1985, S. 106) des Tourismus für historische Anlagen und warnte u. a. vor einer Überfrachtung solcher Anlagen wie der Wilhelmshöhe in Kassel oder dem Schlosspark Biebrich mit zu vielen Nutzungsansprüchen (vgl. Modrow 1985, S. 106 f.). An direkten und indirekten Folgewirkungen des Tourismus beklagte er für die Wilhelmshöhe u. a. die zunehmende infrastrukturelle Erschließung durch Parkplätze und Buswendeschleifen, „starke Verunreinigungen sowie Zerstörungen von Pflanzenbewuchs und Rasenflächen“ (Modrow 1985, S. 106). Bestimmte Formen von Nutzungsschäden scheinen seinerzeit nicht unbedingt ein Spezifikum für die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik gewesen zu sein, sondern waren anscheinend auch in historischen Parks der Deutschen De‐ mokratischen Republik anzutreffen. So klagte Ludwig Trauzettel für den Wörlitzer Park über „Überbelastungen durch Besucher“ und über „Verschmutzungen bis hin zu Zerstörungen innerhalb des Parkes und seiner Randzonen“ (Trauzettel 1983, S. 10) durch Besuchergruppen und auch darüber, dass „Bestrafungen für die oft mutwillig beigebrachten Schäden durch Zerstörungen, Verschmutzungen und Diebstahl“ (Trau‐ zettel, 1983, S. 11) mühselig, praktisch kaum durchführbar und oft nicht wirksam seien. Der Potsdamer Gartendirektor Harri Günther berichtetet in einem Schreiben vom 20. Januar 1960 über Nutzungsschäden, dass „im Babelsberger Park durch Halbstarke 77 Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks 4 Siehe dazu Historische Parks und Gärten - ein Teil unserer Umwelt, Opfer unserer Umwelt. Doku‐ mentation der Tagung des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz anlässlich der Fachmesse „denkmal ’96“ (Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz 1997). Die Fachmesse denkmal ist eine „Europäische Leitmesse für Denkmalpflege, Restaurierung und Altbausanierung“ (Leipziger Messe 2020). mehr Schaden angerichtet wurde als durch Kriegseinwirkungen“ (Günther 1960). Ähnlich klagte Hermann Schüttauf in einem Bericht über die Besichtigung des Parks zu Neschwitz am 23. September 1954, dass von den dort vorhandenen Plastiken „in letzter Zeit wieder Teile mutwillig abgeschlagen worden“ (Bundesarchiv Koblenz 1951) seien. In den 1990er-Jahren scheint sich die Auseinandersetzung mit der Nutzung von historischen Gärten intensiviert zu haben. Die vom Arbeitskreis Historische Gärten der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL) 1990 veröffentlichten Leitlinien zur Erstellung von Parkpflegewerken verweisen u. a. auf die Bedeutung der „Ermittlung von Indizien für Übernutzung oder beeinträchtigende Nutzungen“ (Arbeitskreis Historische Gärten der DGGL 1990, S. 19) und heben die Notwendigkeit der „Untersuchung bisher noch nicht ausgeschöpfter denkmalverträg‐ licher Nutzungsmöglichkeiten“ (Arbeitskreis Historische Gärten der DGGL 1990, S. 19) hervor. Der Deutsche Heimatbund veröffentlichte 1996/ 97 ein Memorandum zur Verwahrlosung der historischen Parks und Gärten (Deutscher Heimatbund 1996/ 1997, S. 3-14). Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz organisierte anlässlich der Fach‐ messe denkmal ’96 eine Tagung zum Thema „Historische Parks und Gärten - ein Teil unserer Umwelt, Opfer unserer Umwelt“ (vgl. Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz 1997). 4 Besondere Aufmerksamkeit wurde in diesem Zusammenhang auch dem Aspekt ‚Tourismus‘ gewidmet, so im Beitrag Ludwig Trauzettels „Gartennutzung durch Tourismus - Erhaltungsprobleme im historischen Dessau-Wörlitz“ (Trauzettel 1997, S. 61-67). In diesem Beitrag schildert der Verfasser aus seiner Sicht die Beeinträchtigungen durch Massentourismus in Wörlitz, die dort nach der politischen Wende 1989 sprunghaft zugenommen hätten: „Das sich am stärksten negativ auswirkende Ergebnis dieser Veränderungen ist aber, dass die Masse von Menschen an Wochenenden durch ihre Ansammlung selbst nicht den Eindruck erkennen lässt, den die Wörlitzer Anlagen als künstlich und künstlerisch gestaltete Natur erzeugen wollen bzw. sollen. Die einmaligen Gärten sind wunderschön, wenn man sie so erleben kann, wie sie gedacht sind: als ruhiger Ort der Zurückgezogenheit, welcher Stimmungen anregen soll, wo Landschaft und Natur oder Tages- und Jahreszeiten zu erleben sind. Man soll sich hier bilden können und die Nützlichkeit des Schönen spüren. Acker-, Obstbau und Weidenutzung sollen diese Wirkung verstärken. Das alles ist inmitten des Massentourismus kaum zu erahnen. Die Natur mit ihren Vogelstimmen ist im Lärm der Besucher nicht zu hören, der Duft der Blüten und des frischen oder trocknenden Grases zwischen schwitzenden oder parfümierten Gästen nicht zu riechen. Der Spaziergänger blickt 78 Joachim Wolschke-Bulmahn 5 Tourismus als solcher war dabei allerdings kein spezifischer Untersuchungsaspekt, es wurde z. B. nicht gezielt nach Unterschieden betreffs Schäden durch eher touristische gegenüber quasi alltäglichen Parknutzerinnen und -nutzern gefragt. Bei der Auswertung der schriftlichen Befragung konnte sich das Projektteam auf 56 beantwortete Fragebögen stützen. zu Boden, um dem Vordermann nicht auf die Füße zu treten, an Brücken oder Bauwerken muß man anstehen, die Wege verbreitern sich automatisch“. (Trauzettel 1997, S. 63) Vandalismus war das Thema zweier Arbeiten von Doris Gstach. Im Jahr 1994 verfasste sie ihre Diplomarbeit zum Thema „Umgang mit Vandalismus in der Freiraumplanung am Beispiel Manchester“. In ihrem 1997 veröffentlichten Beitrag „Zur Vandalismu‐ sproblematik in historischen Parkanlagen“ macht dieselbe Autorin Aussagen zu den Motiven von Vandalismus, zu Vandalismus in historischen Parkanlagen und zu mög‐ lichen Gegenstrategien (vgl. Gstach 1997, S. 12). 3 Zur Methodik der Untersuchung Der Schwerpunkt des Forschungsprojektes lag auf der Untersuchung von historischen Gärten und Parks in Niedersachsen sowie im gesamten Bundesgebiet. Untersuchungs‐ gegenstand war die alltägliche Nutzung historischer Parks und Gärten durch die ortsansässige Bevölkerung wie auch durch den Tourismus. In Bezug auf Nutzung und Nutzungsschäden wurde sowohl die Sicht der Verwaltungen wie auch jene der Besuchenden erfasst. Nutzungsschäden, die durch Veranstaltungen entstehen, waren nur am Rande Gegenstand der Untersuchung und bedürften, dies kristallisierte sich im Verlauf des Forschungsprojektes heraus, aufgrund der anscheinend doch erheblichen Probleme, vor die sie viele Gartenverwaltungen stellen, einer eigenständigen Untersu‐ chung. Zu Beginn des Projektes wurde ein Fragebogen an die Verwaltungen bzw. Besitzerin‐ nen und Besitzer von 75 historischen Gärten geschickt; 50 davon in Niedersachsen und 25 von überregionaler Bedeutung im gesamten Bundesgebiet, darunter auch touristisch stark frequentierte Anlagen wie der Park in Wörlitz, die Anlagen in Schwetzingen und Veitshöchheim und der Englische Garten in München. 5 Über die schriftliche Befragung hinaus wurden verschiedene Anlagen wie der Oldenburger Schlosspark, der Hamburger Stadtpark, der Bremer Bürgerpark, Gesmold und Biebrich besucht, Gespräche mit den Verantwortlichen geführt und diese und weitere Anlagen unter Untersuchungsaspekten in Augenschein genommen. Die Fragen, die den Verwaltungen gestellt wurden, umfassten beispielsweise all‐ gemeine Informationen zur Anlage, zur Ausstattung der Anlage (u. a. landschaftsar‐ chitektonische und bauliche Elemente), zum jeweiligen Nutzungsangebot und zu Versorgungseinrichtungen, Zugänglichkeit, Bewachung und Eintritt. Des Weiteren wurden Ver- und Gebote (Parkordnung) erfasst und v. a. Fragen zur Nutzung der Anlage gestellt (Frequentierung der Anlage, Altersverteilung, Frage nach ‚problematischen‘ Nutzerinnen und Nutzern sowie Nutzungen, Anteil der Touristinnen und Touristen, 79 Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks 6 Davon bezeichneten 25 % diese mit „kaum“, 34 % mit „etwas“, 11 % mit „viel“ und 4 % mit „sehr viel“. Durchführung von Veranstaltungen usw.). Kernbereiche der Befragung der Gartenver‐ waltungen betrafen dann auch Nutzungsschäden (z. B. wo treten sie auf ? Welcher Art? Häufigkeit? Qualität? Wer verursacht? Motive? Reaktion der Besuchenden auf Schäden? Maßnahmen zur Schadensbekämpfung? Anteil der Kosten zur Beseitigung von Nutzungsschäden an den gesamten Pflege- und Unterhaltungskosten). In Wörlitz, im Bremer Bürgerpark und im Georgengarten in Hannover wurden zusätzlich anhand vorstrukturierter Fragebögen 340 Interviews mit Besucherinnen und Besuchern durchgeführt sowie das Park-Verhalten von 3.160 Personen durch sogenannte Kurzbeobachtungen erfasst. Den Besuchenden wurden u. a. Fragen nach ihrer Wahrnehmung von Schäden, nach den Einstufungen unterschiedlicher Schadens‐ arten (wie Trampelpfade, kahle Stellen im Rasen, herumliegender Müll, Hundekot, beschädigte Statuen usw. eingeschätzt werden) sowie nach ihrer Meinung zu nutzungs‐ einschränkenden Maßnahmen wie Verboten gestellt. Darüber hinaus wurde u. a. nach ihren Motiven für den Parkbesuch und nach ihrer Kenntnis der historischen Bedeutung der Anlage gefragt. 4 Zu einigen Untersuchungsergebnissen Im Folgenden sollen einige der Ergebnisse der Untersuchung kurz dargestellt werden. 4.1 Befragung der Gartenverwaltungen Die Ergebnisse beruhen maßgeblich auf den subjektiven Einschätzungen der Befragten, sie können insofern kein objektives Schadensbild ergeben. Wenn z. B. für 5 von 56 Anlagen angegeben wurde, dass dort durch die Nutzung der Anlage keine Schäden aufgetreten seien (beispielsweise in Großsedlitz und im Berggarten in Hannover), so muss dies nicht notwendigerweise auf vollkommene Schadensfreiheit schließen lassen, sondern kann durchaus auch auf subjektiv anders gefasste Schadensbegriffe bei den Befragten zurückzuführen sein. Generell erbrachte die Untersuchung keine vollkommen überraschenden Ergeb‐ nisse. Sie konnte im Durchschnitt auch keine unverhältnismäßig großen Schäden bestätigen. Immerhin fast 40 % der Befragten beantworteten die Frage „Wie würden Sie allgemein das Ausmaß der nutzungsbedingten Schäden in der Anlage bewerten? “ mit „sehr gering“ und „gering“, 23 % mit „stark“ bzw. „sehr stark“. Bezogen auf irreparable Schäden an der historischen Substanz der Anlagen gaben allerdings immerhin über 60 % der Befragten an, dass dort irreparable Schäden zu verzeichnen seien (von „kaum“ = 25 % über „etwas“ = 34 % bis „sehr viel“ = 4 %). 6 Die finanziellen Aufwendungen zur Beseitigung der Nutzungsschäden wurden von fast zwei Dritteln der Befragten mit unter zehn Prozent Anteil an den gesamten Pflege- und Unterhaltungskosten angegeben, nur je zwei Prozent schätzten sie mit 30-50 bzw. über 50 % Anteil ein. 80 Joachim Wolschke-Bulmahn 7 Es ist darauf zu verweisen, dass bei dieser und zahlreichen anderen Fragen Mehrfachnennungen möglich waren. Das Ausmaß der Schadensproblematik wurde allerdings von fast 40 % der Befragten als zunehmend beurteilt; bei den in der ehemaligen DDR gelegenen Anlagen gaben dabei 50 % eine Zunahme an. In fünf Fällen wurde von einem Rückgang des Schadens‐ ausmaßes berichtet. Interessanterweise ging das in vier Fällen mit einer Restauration bzw. einer Erhöhung des Pflegezustandes einher. Bei den Schadensgründen wurden „mutwillige Beschädigung“ und „unachtsames Besucherverhalten“ als recht problema‐ tisch angegeben. Auf die Frage „Wie schätzen Sie die Bedeutung folgender Aspekte für Ihre Anlage insgesamt ein? “ gaben immerhin 27 % mutwillige Beschädigung als mittleres und gar 16 % als Hauptproblem sowie je 16 % unachtsames Besucherverhalten als mittleres bzw. Hauptproblem an. Zu starkes Besucheraufkommen wurde von 27 % als mittleres und von 9 Prozent als Hauptproblem bewertet, von 29 % allerdings als kein Problem gesehen und von 20 % der Befragten als geringes. Der direkte Zusammenhang zwischen der Besuchsstärke und dem Schadensausmaß erscheint nicht weiter erstaunlich; allerdings scheint der Anteil der Touristinnen und Touristen keine Rolle für das Schadensausmaß zu haben. Hier könnte es sein, dass eine eventuell größere Belastung einer Anlage infolge der hohen Anzahl dieser Personen durch deren ‚gesitteteres‘ Verhalten ausgeglichen wird und alltägliche Nutzungen (wie Sport, Grillen usw.) belastender sind sowie mutwillige Beschädigungen (z. B. Graffitis) vielleicht auch nicht unbedingt von mit dem Bus anreisenden touristischen Gruppen ausgehen. Bezüglich der eher alltäglichen Nutzungen wurden u. a. folgende Tätigkeiten als „ist ein Problem“ bezeichnet: Hunde ausführen (61 %), Rad fahren (45 %), Tiere füttern (32 %), grillen (29 %). Spiel dagegen wurde nur von sieben Prozent als problematisch angesehen, Sport und Picknick dagegen noch von je 20 %. Bezüglich der vermuteten Motive der Verursacherinnen und Verursacher gaben immerhin 64 % Gleichgültigkeit und 62 % Mutwilligkeit an, nur 21 % sahen Unkenntnis als Grund für Nutzungsschäden an. 7 4.2 Befragung der Nutzerinnen und Nutzer Ähnlich stellte sich die Situation bei der Befragung von 340 Nutzerinnen und Nutzern im Park von Wörlitz, im Bremer Bürgerpark und im Georgengarten in Hannover dar. Hier ergaben sich signifikante Unterschiede u. a. durch die Tatsache, dass Wörlitz we‐ sentlich mehr ein touristisch besuchter Park als eine innerstädtische Parkanlage ist, die, wie der Georgengarten und der Bürgerpark, stärker für alltägliche Freizeitaktivitäten genutzt werden. In Wörlitz gaben 38 % der Befragten an, zum ersten Mal den Park zu besuchen, im Bremer Bürgerpark dagegen waren es nur 10 %. Die Tatsache, dass im Georgengarten in Hannover keiner der Befragten den Park zum ersten Mal besuchte, macht deutlich, dass der Georgengarten im Gegensatz zu Wörlitz bedeutungslos für 81 Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks den Tourismus ist. Weiterhin war das allgemeine Interesse an historischen Gärten bei den Wörlitzer Nutzerinnen und Nutzern deutlich höher. Als Gründe für den Besuch des Parks gaben in Wörlitz 40 % „Besichtigung“ an, also einen eindeutig touristischen Grund, der im Georgengarten und im Bürgerpark so gut wie keine Rolle spielte. Umgekehrt waren dort alltägliche Nutzungen wie mit dem Kind spazieren gehen oder den Hund ausführen von Bedeutung, die in Wörlitz von nur 2 % der Befragten genannt wurden. Nutzungsschäden wurden generell von den befragten Personen als ein wesentlich geringeres Problem bewertet als von den für die Gärten Verantwortlichen. Auch dies ist ein Ergebnis, welches nicht unbedingt überrascht. So sahen zusammen 86 % in Wörlitz das „Ausmaß der Schäden und Verunreinigungen“ im Park als kein bzw. als ein geringes Problem und nur 1 % als großes Problem. Im Georgengarten - mit seinen wesentlich stärkeren Nutzungsschäden wie zerstörte Rasendecken durch Sport, Graffitis am Leibniztempel (→ Abb. 1) - betrachteten immerhin 8 % der befragten Nutzerinnen und Nutzer dies als großes Problem und nur 50 % als kein bzw. ein geringes Problem. Abb. 1: Graffitis und Kritzeleien an den Säulen des Leibniztempels im Georgengarten in Hannover Bei der Frage nach der Einstufung von unterschiedlichen Nutzungsschäden („harmlos“, „noch akzeptabel“, „schon ärgerlich“, „fast schon kriminell“) zeigte sich eine hohe Ablehnung von Vandalismus und eine recht hohe Akzeptanz von Nutzungsschäden durch Abnutzungserscheinungen wie Trampelpfade, kahle Stellen im Rasen und ausgetretene Wegeränder, die von ca. 60 bis 80 % in den drei Anlagen als „harmlos“ bzw. „noch akzeptabel“ angesehen wurden. Immerhin sahen ‚nur‘ knapp drei Viertel (72 %) der Befragten eine ‚geköpfte Statue‘, als Resultat einer eindeutigen Sachbeschädigung eines historischen Kunstwerks, als „fast schon kriminell“ an; hier scheint also durchaus noch bei fast 30 % der Befragten eine gewisse Akzeptanz gegenüber Nutzungsschäden durch Vandalismus vorhanden zu sein. Die Akzeptanz gegenüber ‚herumliegendem Müll‘ war dagegen recht gering; als „harmlos“ bzw. „noch akzeptabel“ wurde dieser im Schnitt der drei Anlagen nur von ca. 9 % der befragten Nutzerinnen und Nutzern bewertet, dagegen von ca. 69 % als „schon 82 Joachim Wolschke-Bulmahn ärgerlich“ und noch von 20 % als „fast schon kriminell“. Die Akzeptanz von Hundekot gegenüber Müll war höher. So stuften Hundekot 19 % im Schnitt als „harmlos“ bzw. „noch akzeptabel“ ein, 59 % als „schon ärgerlich“ und 19 % als „fast schon kriminell“. Für ein generelles Hundeverbot in den Anlagen hatten 22 % Verständnis, 57 % lehnten dies dagegen eindeutig ab. Generell ergab die Befragung im stärker touristisch genutzten Wörlitzer Park tendenziell weniger Akzeptanz gegenüber Nutzungsschäden als im Bremer Bürgerpark und im Georgengarten in Hannover. Wörlitz scheint durch die spezifische Gruppe der Nutzerinnen und Nutzer deutlicher als Gartenkunstwerk wahrgenommen zu werden. Daher wird z. B. auf Schäden und Verunstaltungen sensibler reagiert. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Frage nach der Bewertung von Graffiti an einem Denkmal, die in Wörlitz von 82 % der Befragten als „fast schon kriminell“ eingestuft wurde gegenüber je 56 % in den beiden anderen Parkanlagen. Und immerhin hielten 10 % der Befragten im Georgengarten Graffiti an einem Denkmal für „noch akzeptabel“ gegenüber 3 % bzw. 1 % im Bürgerpark und in Wörlitz. 5 Strategien zur Vermeidung bzw. Minimierung von Nutzungsschäden Nutzungsschäden sind ärgerlich, verursachen Kosten, demotivieren die für die Pflege der Gärten Zuständigen, aber gehen in der Regel nicht an die Substanz des Gartens als eines Gartendenkmals. Die meisten und verbreitetsten Schäden wie Müll, Trampel‐ pfade, ausgetretene Wegeränder, Hundekot, ja selbst noch besprühte Hinweisschilder (da keine Originalsubstanz) treffen nicht die Kernsubstanz des Gartens als Denkmal. Sechs der befragten 56 Verwaltungen sahen keine Veranlassung für etwaige Schutz- und Gegenmaßnahmen. Rund die Hälfte hielten ihre bisherigen Maßnahmen (v. a. die regelmäßige Schadensbeseitigung) für ausreichend. Die anderen 40 % sahen Handlungsbedarf. Hinsichtlich erfolgversprechender Strategien bestanden bei den befragten Fachleu‐ ten teils recht unterschiedliche Auffassungen. Eindeutig erfolgversprechende Strate‐ gien im Umgang mit Nutzungsschäden ließen sich im Rahmen der Untersuchung nicht herauskristallisieren. Dies ist nicht weiter erstaunlich angesichts der teilweise recht unterschiedlichen Antworten auf die Fragen und Einschätzungen zur Problematik. So gab es z. B. bezüglich einer Verschärfung der Parkordnung oder einer Erhöhung der Anzahl von Parkwächterinnen und -wächtern keine einheitlichen Meinungen. Es herrschte auch eine relativ große Skepsis vor, dass man dem Problem überhaupt ange‐ messen beikommen könne. Die möglichen Strategien, die in unterschiedlicher Form von den Parkverwaltungen angewandt wurden, reichten von Aktivitäten in Bereichen wie Öffentlichkeitsarbeit, Parkaufsicht und Parkordnung, Parkpflege, Schutz-, Rück- und Umbaumaßnahmen bis hin zu Maßnahmen zur Produktprofilierung. Parks ohne Nutzerinnen und Nutzer wären Parks ohne Nutzungsschäden. Nutzungs‐ verbote bzw. gravierende Nutzungseinschränkungen erscheinen aber, zumindest für die sich in öffentlichem Besitz befindlichen Anlagen, keine Lösungsalternative bzw. 83 Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks 8 Das Niedersächsische Denkmalschutzgesetz (NDschG) ist auch zu finden un‐ ter: www.dnk.de/ _uploads/ media/ 1124_Nieders%C3%A4chsisches%20Denkmalschutzgesetz_aktuell e%20Fassung%202011.pdf (letzter Zugriff: 16.08.2021). gegebenenfalls nur in besonders sensiblen und gefährdeten Teilbereichen anwendbar. So weist beispielsweise auch das Niedersächsische Denkmalschutzgesetz (NDschG) in § 2 an: „Dem Land sowie den Gemeinden, Landkreisen und sonstigen Kommunalverbänden obliegt die besondere Pflicht, die ihnen gehörenden und die von ihnen genutzten Kulturdenkmale zu pflegen und sie im Rahmen des Möglichen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen“ (Niedersächsisches Denkmalschutzgesetz 2011). 8 Diesbezüglich ist meines Erachtens der Einschätzung von Ernst-Rainer Hönes zuzu‐ stimmen, der zur Erhaltung von Kulturdenkmalen, bei denen die Nutzung ein zentrales Problem sei, ausführt: „Hierbei ist zu bedenken, daß ein historischer Garten ebenso wie andere Kulturdenkmäler leichter die ihm zukommende allgemeine Wertschätzung finden und seinen Beitrag zur Bereicherung unserer historischen Kenntnisse sowie Umwelterfahrungen leisten wird, wenn er nicht nur durch wissenschaftliche Publikation ‚erschlossen‘ ist, sondern den Besuchern offensteht“ (Hönes 1997, S. 20). Besucherinteresse und Nutzung können also zunächst einmal auch Garant des Erhalts eines Gartendenkmals sein und erst in zweiter Linie eine Gefährdung darstellen. Und in einem Kommentar zum Nutzungsparagrafen (§ 9 NDschG) heißt es: „Selbstverständlich soll die Nutzung den Denkmalwert des Bauwerks nicht beeinträchtigen. Die Praxis zeigt aber, dass sich bei fast jeder Nutzung ein gewisser ‚Verbrauch‘ denkmalwerter Originalsubstanz nicht vermeiden lässt. Dies muss hingenommen werden“ (Schmaltz/ Wie‐ chert 1998, S. 110). Eine wesentliche Frage, die für jede einzelne Anlage zu klären ist, ist die nach den denkmalgerechten Nutzungen. Die verschiedenen Parkordnungen geben dazu vollkommen unterschiedliche Antworten. Dazu sollten unseres Erachtens Parkpflege‐ werke versuchen, eindeutigere Empfehlungen zu geben. Umgestaltungsmaßnahmen zum Zweck der Anpassung an nicht denkmalverträgliche Nutzungen und damit zur Vorbeugung von Nutzungsschäden (z. B. Asphaltieren von Trampelpfaden, Verhindern wilder Nutzungen durch Einrichten von Grillplätzen, Bolzplätzen) führen häufig zu gestalterischen Eingriffen in historische Gärten und können daher aus gartendenkmal‐ pflegerischer Sicht eine durchaus problematische Maßnahme darstellen. 6 Öffentlichkeitsarbeit Es sollte der jeweils besondere Wert, der spezifische Charakter einer Anlage vermittelt werden, sodass die Anlage der Bevölkerung als Markenartikel bewusst wird. In 84 Joachim Wolschke-Bulmahn 9 Das Strafgesetzbuch ist lesbar unter: www.gesetze-im-internet.de/ stgb/ (letzter Zugriff: 16.08.2021). zahlreichen Anlagen, die in die Untersuchung einbezogen waren, fehlten Hinweistafeln auf den denkmalpflegerischen Wert des Gartens. Die Herausgabe von Büchern, Bro‐ schüren, die Organisation von Führungen, Veranstaltungen und Festen zu besonderen Anlässen sind weitere Mittel der Öffentlichkeitsarbeit. Mindestens genauso wichtig wie die Information über die denkmalpflegerische Bedeutung eines historischen Gartens scheint die Schaffung eines Problembewusst‐ seins in Bezug auf Nutzungsschäden zu sein. Die befragten Besucherinnen und Besucher sahen das Ausmaß der Nutzungsschäden als viel weniger problematisch an als die für die Anlagen Verantwortlichen und hatten eine sehr hohe Toleranzschwelle z. B. gegenüber Trampelpfaden und ausgetretenen Wegerändern. Maßnahmen zur Bewusstmachung könnten Schadensmeldungen in der Presse, die Sichtbarmachung des Pflegeaufwands in Form von ‚Müllpräsentationen‘ u. v. m. sein. Verantwortungs‐ bewusstsein und Identifikation könnten durch Patenschaften, Spendenaufrufe, die Förderung ehrenamtlichen Engagements, die Gründung eines Vereins der Freunde etc. geweckt werden. 7 Parkaufsicht, Parkordnung Aufsichtspersonal in historischen Parkanlagen ist sicherlich eine erfolgversprechende Maßnahme, um Nutzungsschäden zu verringern, verursacht allerdings teils erhebliche Personalkosten. Im Bürgergarten in Bremen lagen recht gute Erfahrungen in Bezug auf Parkrangerinnen und -ranger, die im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingestellt werden konnten, vor. Eine reine Aufsicht reicht heute vermutlich nicht aus; denkbar wäre ein Rollenmix aus Parkaufsicht, gartenhistorischer Informantin bzw. gartenhistorischem Informanten, Animateurin bzw. Animateur, Reinigungskraft etc. Eine eventuell effektive Aktion wäre es, Aufsichtspersonal in ‚konzertierten‘ Aktionen zeitlich befristet und in bestimmten Intervallen in einzelnen Anlagen einzusetzen. Die Parkordnung war den Nutzerinnen und Nutzer in den meisten Anlagen nicht bekannt. Darüber hinaus weisen die für die einzelnen Anlagen existierenden Parkord‐ nungen sehr große Unterschiede auf. Die Bekanntmachung der Parkordnung in den Eingangsbereichen, zusammen mit dem Hinweis, dass die Anlage ein Gartendenkmal ist, sollte unbedingt erfolgen. Allerdings sahen nur wenige Verantwortliche in einer verschärften Parkordnung ein probates Mittel, Schäden zu reduzieren. Die Anwendung des Hausrechts nach § 123 Strafgesetzbuch (StGB) 9 setzt voraus, dass die Anlage ‚befriedetes Besitztum‘ im Sinne des § 123 ist, was bestimmte Formen der Einfriedung (Einzäunung) erfordert. Ganz aktuell wurde das Thema ‚Parkordnungen für historische Gärten‘ aus einer sprachwissenschaftlichen Sicht untersucht. Von der Autorin wurden die Parkordnun‐ gen vom Großen Tiergarten Berlin, vom Park Babelsberg und von den Wörlitzer und Branitzer Parks einer linguistischen Textanalyse unterzogen; sie schreibt dazu: 85 Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks „Für öffentlich zugängliche Parks und (historische) Gärten gibt es Parkordnungen, mit denen die Eigentümer bzw. Verwalter versuchen, das Verhalten der Besucher zu regulieren. Parko‐ rdnungen sind daher ein Mittel, um das Nutzungsverhalten von Besuchern in solche Bahnen zu lenken, dass der Bestand und das Erscheinungsbild eines historischen Gartens nicht durch Nutzungsschäden gefährdet werden. Parkordnungen dienen zudem als juristische Grundlage, um unerwünschtes Verhalten als Ordnungswidrigkeit ahnden zu können. Sie bilden aber auch zugleich Nutzungskonflikte ab: Während für die Eigentümer der Erhalt ihrer Anlage vorrangig ist, steht für die Nutzer das eigene (Freizeit)Verhalten im Vordergrund.“ (Tintemann 2019, S. 303-315) 8 Parkpflege Von allen Strategien wurde keine so häufig genannt wie die möglichst sofortige Schadensbeseitigung. In 35 der 56 untersuchten Anlagen wurde dies als wichtigste Strategie gesehen. Allerdings muss dies bei Graffitis nicht unbedingt erfolgverspre‐ chend sein, sondern kann im Gegenteil neue Schmierereien provozieren. Im Rahmen der Untersuchung sah jede und jeder vierte Befragte in kostenbedingten Pflegemängeln ein Hauptproblem für den Erhalt der Substanz des Gartens. 9 Schutz-, Rück- und Umbaumaßnahmen Die Einfriedung einer Anlage führt anscheinend nicht zur Reduzierung von Nut‐ zungsschäden, wohl aber die Abschließbarkeit der Anlage. Dies ist allerdings ein nur sehr begrenzt anwendbares Mittel (teuer, soziale Aspekte wie eingeschränkte Nutzbarkeit, Eintritt zahlen etc.), kann aber vielleicht exemplarisch oder für bestimmte Bereiche (z. B. Leibniztempel im Georgengarten in Hannover) und gegebenenfalls temporär Anwendung finden. Andere Maßnahmen wie das Befestigen von Einrich‐ tungsgegenständen (z. B. Abfalleimer, Bänke) oder der nutzergerechte Umbau (wie die Asphaltierung von Trampelpfaden, das Errichten von Grillplätzen, um wildes Grillen zu verhindern, das Ersetzen von Filigranem durch Stabiles) können dabei helfen, Schäden zu vermeiden, führen allerdings ebenfalls zu einem schleichenden gartendenkmalpflegerischen Substanzverlust. 10 Produktprofilierung Ein Drittel der befragten Gartenverwaltungen bzw. Gartenbesitzerinnen und -besitzer bewerteten ein zu hohes Besucheraufkommen als mitverantwortlich für beträchtliche Nutzungsschäden in der jeweiligen Anlage. Es wäre zu fragen, ob man Anlagen so profilieren kann, dass Leute, die dort beispielsweise nur joggen oder Ball spielen wollen, tendenziell wegbleiben. Dies wäre am ehesten durch Eintrittsgelder zu erreichen: Sie begrenzen die Anzahl der Besuchenden und verweisen qualitativ auf das Besondere des Parkbesuchs. Im nutzungsmäßig dominierten Wörlitz waren z. B. mehr als zwei Drittel 86 Joachim Wolschke-Bulmahn (72 %) der Befragten bereit, Eintritt zu zahlen. Damit soll allerdings keiner Erhebung von Eintrittsgeldern das Wort geredet werden; sie stellen v. a. einen beträchtlichen sozialen Eingriff in die Zugänglichkeit historischer Gärten dar und bringen andere Probleme mit sich (wie beispielsweise das Problem der Einzäunung, der Kontrolle, der Kassierung). 11 Fazit Die ideale Lösungsstrategie für die Vermeidung von Nutzungsschäden wird es wohl nie geben, man hat mit ihnen in gewisser Weise zu leben. Auch im Rahmen der 1999/ 2000 durchgeführten Untersuchung konnten diesbezüglich keine idealen Lösungskonzepte herausgearbeitet werden. Es wäre vielleicht an der Zeit, nach 20 Jahren neue Un‐ tersuchungen durchzuführen, die den vielfältigen Fragen nach der Nutzung von historischen Gärten und den daraus resultierenden Schäden in historischen Garten- und Parkanlagen in Deutschland und im Ausland nachgehen. Letztlich wird man aber wohl auch zukünftig mit einem gewissen Ausmaß an Nutzungsschäden leben und auf die Geduld und das Engagement der Gartenverwaltungen und des Pflegepersonals setzen müssen. Literaturhinweise Arbeitskreis Historische Gärten der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Land‐ schaftskultur e. V. (1990): Leitlinien zur Erstellung von Parkpflegewerken. Textreihe der DGGL, Heft 14. Berlin. Boettiger, C. A. (1988): Wörlitz im Jahre 1797, in: Boettiger, C. A. (Hg.): Reise nach Wörlitz 1797. Aus der Handschrift ed. u. erl. von Erhard Hirsch. 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Online: www.nzz.ch/ amp/ harald_na egeli_sprayer_zuerich_jelmoli_parkhaus-1.4391863, letzter Zugriff: 17.05.2021. 89 Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks Garten und Kulinarik Parks als Nahrungsquelle und Restaurantinspiration Michael Polster Essen - kaum ein Ritual ist in der Welt so lebendig wie das gemeinsame Essen. Damit einher gehen Befriedigung, Sättigung, Wohlbehagen und Sinnlichkeit. Ein definierter Ort für Essen und Trinken ist auch und gerade der Garten. Begriffe wie Biergarten, Weingarten, Gartenlokal, Gartenwirtschaft oder Ausflugslokale stehen nicht nur umgangssprachlich dafür. Sie sind Synonyme für Geselligkeit, Vergnügen und auch Unterhaltung. Diese ‚im Freien betriebenen Gaststätten‘ wie sie u. a. im Duden benannt werden, haben nicht nur eine eigene Geschichte, die davon berichtet, wie Gäste in einer Gemeinschaft essen und trinken. Sie sind Ausdruck einer bestimmten Form von Gemeinschaftsverpflegung, der wir im Folgenden nachgehen wollen. Gaststätten kamen bereits zeitgleich mit den Märkten und Messen auf, als die Handwerker und Bauern gezwungen waren, einige Tage von zu Hause und vom Hof wegzubleiben. In früher Vorzeit waren die Produkte aus den Gärten hauptsächlich zur Selbstver‐ sorgung gedacht. Obst und Gemüse wanderte auf dem kürzesten Weg in die Kochtöpfe und diente als Lebensmittel. Um die Arbeitskraft zu stärken und zu erhalten, wurde schwer und sehr deftig gekocht. Gemeinsam saß man um einen Topf oder eine Schüssel. Braten, Geflügel und andere Speisen wurden nach wie vor auch am Spieß über offenem Feuer oder der Glut zubereitet. Eine thematische Führung in den Priesterhäusern zur Koch-, Ess- und Trinkkultur in der sächsischen Stadt Zwickau mit Verkostung aus der alten Rußküche demonstriert dies für die Zeit des 16. Jahrhunderts kulinarisch sehr anschaulich (vgl. Stadtverwaltung Zwickau o. J.) Essen war Mittel zum Zweck, dem auch die zahlreichen Produkte aus dem Garten untergeordnet waren; dabei war man von den Erträgen der verschiedenen Vegetationszeiten im Jahr abhängig. Nach der Ernte mussten Vorräte angelegt bzw. die Produkte haltbar gemacht werden. Dazu wurden u. a. Vorratsspeicher und Mieten in den Herbstmonaten in den Gärten angelegt. Eine besondere Form der Konservierung von Früchten war die Herstellung von Dörrobst, dafür konnten alle Früchte aus den Gärten und Obstplantagen heran‐ gezogen werden (Polster 2017b, S. 22 f.) Einhergehend mit der Spezialisierung der Produktion, dem Entstehen der Städte mit ihren Zünften und Handwerkern und einem rasanten Wachstum der Bevölkerung reichten die kleinen Haus- und Hofgärten zur Versorgung nicht mehr aus. Über die Märkte wurden die Produkte ausgetauscht, die Differenzierung zwischen Stadt und Land erforderte eine zunehmende Planung der landwirtschaftlichen Produktion. Die Urbanisierung der Städte führte dazu, dass im Inneren immer weniger Raum für Haus und Hofgärten zur Verfügung stand. Vor den Toren der Stadt entstanden Siedlungsgebiete, die für die Kleinproduktion von Obst und Gemüse für den eigenen Bedarf geschaffen wurden. Deren Gestaltung war u. a. wesentlich durch die Anlage und Entwicklung der Klostergärten beeinflusst worden. Nonnen und Mönche entwickelten und pflegten über die Jahrhunderte nicht nur in den Klöstern Europas eine mannigfaltige Kochtradition. Das Kirchenjahr mit seinen Festtagen und Feierlichkeiten erforderte für das gemeinsame Mahl einen ab‐ wechslungsreichen Speisekalender, wofür Gartenprodukte in entsprechenden Mengen notwendig waren und auch vollwertige Zutaten planmäßig produziert werden mussten (vgl. Calis 2008, S. 4 f.) 1 Die Gärten der Klöster Es lohnt sich, dabei einen Blick auf die Pläne, wie z. B. den des St. Galler Klosters in der Schweiz, zu werfen. Das mittlerweile rund 1.200-jährige Dokument ist die früheste Darstellung eines Klosterbezirks aus dem Mittelalter und zeigt die ideale Gestaltung einer Klosteranlage zur Karolingerzeit. Er ist an den Abt Gozbert vom Kloster St. Gallen adressiert und entstand vermutlich zwischen 819 und 826 im Kloster Reichenau unter dem Abt Haito (ca. 762-836). Heute ist er im Besitz der Stiftsbibliothek St. Gallen und wird dort unter der Bezeichnung Codex 1092 (→ Abb. 1) aufbewahrt. Klostergärten haben eine lange und wechselvolle Geschichte. Ihre Anfänge reichen zurück bis ins 6. Jahrhundert und führen zu den Benediktinermönchen in Italien. Deren Ordensgründer Benedikt von Nursia, der um das Jahr 530 die erste klösterliche Gemeinschaft gründete, markierte mit der Niederschrift seiner Ordensregeln u. a. den medizingeschichtlichen Beginn der Klosterheilkunde. Neben seinem Leitspruch ora et labora postulierte er, dass es oberste Pflicht sei, sich um die Erkrankten zu kümmern (vgl. Flury-Rova 2004). 92 Michael Polster Abb. 1: Codex Sangallensis 1092 93 Garten und Kulinarik Der St. Galler Plan war das Vorbild für die meisten Klostergärten des Mittelalters (vgl. Geary/ Hendrix o. J.). Der Klostergarten war in einen Nutzgarten und einen Kräutergarten aufgeteilt: hortus und herbularius. Der Kräutergarten lag immer direkt hinter dem Klosterspital. Daneben befand sich meist ein kleines Lagerhaus für getrock‐ nete Pflanzen/ Kräuter. Seit jeher benutzen die Menschen Kräuter auch zur Heilung von Krankheiten. Kräuter waren und sind noch heute vielseitig einsetzbar; ob zur Würzung von Essen oder für Dufterlebnisse. Der Satz: „Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein und eure Heilmittel sollen eure Nahrungsmittel sein“, wird dem Griechen Hippokrates von Kos (460 bis ca. 377 v. Chr.) zugeschrieben. Er war Arzt und gilt bis heute als der Vater der Heilkunde. Als Kräuter galt zu dieser Zeit alles - sowohl Kohl und Salat als auch Möhren oder Zwiebeln. Es gab auch einen Obstgarten, der zugleich als Klosterfriedhof genutzt wurde, sowie einen Gemüsegarten. Egal ob Butter, Eier, Obst und Gemüse, Heumilch oder Joghurt - die Nonnen und Mönche in der Mitte des vergangenen Jahrtausends versorgten sich weitgehend selbst. Die Klosterküche verarbeitete Milchprodukte und produzierte Käse der unterschiedlichsten Sorten. Und es war die Klosterküche, die z. B. dem Käse zu seiner Vielfalt verhalf. Vollkornprodukte, frisches Obst und Gemüse sowie wertvolle natürliche Fette waren der Hauptbestandteil der Klosterküche, dagegen sollten weißes Fleisch, Fisch, Eier und rotes Fleisch nur zu festlichen Anlässen gereicht werden. Karl der Große (747-814) erkannte das Potenzial, das in dem überlieferten Wissen der Mönche lag, und erließ ein Gesetz, das Klöstern und Städten das Anlegen von Nutzgärten vorschrieb. Als Förderer der Heilkunde setze er v. a. auf Heil- und Gewürzpflanzen und legte mit dieser Reform im Reich der Franken die medizinische Versorgung kranker Menschen in die Verantwortung der Klöster (vgl. Fried 2013, S. 309 f.). Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind auch die Weingärten: Vor allem spielten Klöster und Stifte für Weinbau und dessen Ausbreitung eine wichtige Rolle, denn der Wein gehört zur Kirche. Die Wurzeln der Weinkultur liegen weit über 6.000 Jahre zurück. Der erste Weinbau wurde in Georgien betrieben. Später übernahm man die Tradition von den alten Griechen und Römern. Die kirchlichen Institutionen waren letztlich entscheidend für dessen Produktion. Mit den Klöstern verbreitete sich die Kunst des Weinbaus in Mitteleuropa. Weingärten wurden nicht nur für die Produktion des Messweines angelegt. Wein war fester Bestandteil an der Tafel und durfte bei Feierlichkeiten nicht fehlen (vgl. Deutsches Weininstitut o. J.). 2 Die Nutz- und Lustgärten In der Zeit des Absolutismus und des Hochadels schlug die Entwicklung der Gärten zwei sehr unterschiedliche Wege ein. Da waren zum einen die Küchengärten (auch Potager von französisch jardin potager genannt): Dabei handelte es sich um Obst- und Gemüsegärten zur Versorgung einer herrschaftlichen Küche, also einfache Nutzgärten. Der Küchengarten versorgte die herrschaftlichen Köche, Konditoren und Apotheker 94 Michael Polster mit Gemüse, Früchten, Kräutern und Heilpflanzen nach dem Gartenbauwissen der Klostergärten (vgl. Ricker 2013). Des Weiteren gab es die Lustgärten, welche der Erho‐ lung und Muse der adligen Gesellschaften dienten. Garten- und Landschaftsplanung erreichten ungeahnte Höhen und fanden ihre Vollendung in der Gartenanlage des Schlossparks von Versailles, die im 18. Jahrhundert für den Sonnenkönig Ludwig XIV. auf einer Fläche von 815 ha durch den Gartenbaumeister André Le Nôtre (1613-1700) verwirklicht wurde und trotz vieler Nachahmungen einzigartig geblieben ist. Zwei Kinofilme der besonderen Art veranschaulichen dies. Da ist zum einen der opulente Streifen Die Gärtnerin von Versailles: Der Film spielt im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Die selbstbewusste Landschaftsgärtnerin Sabine de Barra erhält die Chance ihres Lebens. Unter der Leitung von Le Nôtre soll sie einen Teil der Gärten von Versailles gestalten. Um den Sonnenkönig zufriedenzustellen, sollen die Gartenmeister selbst die Natur übertreffen und sie zur Vollkommenheit führen als einen Versuch, den Garten Eden wiederauferstehen zu lassen (vgl. Feldyoß 2015). Ganz anders nähert sich ein zweiter Film dem Thema ‚Garten und seine Gäste‘. Der Kinofilm Vatel handelt von einem Koch- und Zeremonien-Meister zu Zeiten des Sonnenkönigs und gewährt auf diese Weise in einem verschwenderisch ausgestatteten Kostümepos einen Blick hinter die Kulissen der Macht. Meisterkoch François Vatel - dargestellt von Schauspieler Gérard Depardieu -, ein Perfektionist des Genusses und der inszenierten Lebensfreude im Dienst des Prinzen von Condé in Chantilly, soll ein dreitägiges Fest für den Sonnenkönig ausrichten. Bei der Ausrichtung des Fests für den verwöhnten, überaus anspruchsvollen und launenhaften Sonnenkönig Ludwig XIV. steht der Ruf von François Vatel als Meisterkoch auf dem Spiel. Doch trotz des opulenten Augenschmauses wird man nicht satt: Denn eine dreitägige Festorgie zerstört die Lust an Garten und Essen (vgl. Joffé 2020). Die barocken Gärten wurden v. a. nach der Französischen Revolution im ausge‐ henden 18. und im 19. Jahrhundert von Gartenkünstlerinnen und -künstlern im überwiegenden Maße zu Landschaftsgärten umgestaltet. In Paris wurden Restaurants Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Institution, die sich um gesundheitlich geschwächte Menschen kümmerte, um sie zu ‚restaurieren‘. Neben den schon existierenden Wirts‐ häusern entstanden Gaststätten und Restaurants, in denen diese Köche ihre Dienste und kulinarischen Künste einem breiteren Publikum anboten. Sie wurden zu modernen Orten des Austausches. Nach der Französischen Revolution fand eine ‚gastronomische Revolution‘ statt, die auf eine vereinfachte Zubereitung der Mahlzeiten abzielte. Die Köche der Adligen, die arbeitslos geworden waren, eröffneten öffentliche Lokale mit einer Stammkundschaft. So setzten sich die Restaurants immer stärker von den alten Schenken ab und profilierten sich als Gaststätten, die sich durch Sauberkeit und exzellenten Service, v. a. jedoch durch das kulinarische Angebot auszeichneten. In seiner Abhandlung von 1825 definierte Brillat-Savarin (1755-1826), ein französischer Schriftsteller und bedeutender Gastrosoph, das Restaurant als einen für den Städter vorteilhaften und für die Entwicklung der Gastronomie notwendigen Ort (vgl. Rübe‐ samen 1976, S. 36 f.). 95 Garten und Kulinarik In dieser Zeit begann die französische Küche ihren Siegeszug durch die Gastronomie Europas. Georges Auguste Escoffier (1846-1935) gilt als Begründer der Haute Cuisine, der französischen Gourmetküche. Liberté, egalité, fraternité (‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘) revolutionierte auch den Gaumen von Generationen und bestimmt bis in die heutige Zeit die kulinarische Vielfalt in den Kochtöpfen von Paris bis Moskau. In den 1880erbis 1890er-Jahren führte Escoffier das Brigadensystem ein. Dafür entwickelte er einen Stellenplan, der die verschiedenen Tätigkeitsbereiche in den Gastronomieküchen bezeichnet. Erst im ausgehenden 20. Jahrhundert werden diese Strukturen durch die ‚jungen Wilden‘ auf die Müllhaufen der Kulinarik geworfen. Seit diesem Zeitpunkt wird in den Produktionsteams auf Augenhöhe gekocht (vgl. Schrämli 1991). In den 1960er-Jahren betonte eine neue Art des Kochens unter der Leitung von Küchenchef Paul Bocuse (1926-2018) und anderen Frische, Leichtigkeit und Klarheit des Geschmacks in einer Bewegung, die als Nouvelle Cuisine bekannt ist und die heute maßgeblich bestimmend ist (vgl. Klink 2009). Gegenwärtig bestimmt das Zeitalter des Internets nicht nur in Europa die Vielfalt und Buntheit der gastronomischen Angebote. Das überbordende Angebot von Früch‐ ten und Menükomponenten aus der ganzen Welt und deren Verfügbarkeit stellt heute die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit, wobei der Klimawandel und die zunehmende Armut ganzer Teile der Weltbevölkerung zum Überdenken der Nahrungskette führen. Wenn wir uns wirklich für die Zukunft unseres Planeten interessieren, sollten wir solche Lebensmittel essen, die in der Saison biologisch und von Kleinbauern vor Ort hergestellt werden: Saubere Produkte ohne künstliche Zusatzstoffe. Der Schlüssel zur Nachhaltigkeit liegt in unseren eigenen Händen; wir werden uns etwas einfallen lassen. Ein wesentlicher Bestandteil dabei ist die Kulinarik aus dem Garten, regional und sai‐ sonal. Menschen in ländlichen Gebieten - und dies beweist die Geschichte der Gärten - haben sich immer auf ihre persönlichen Netzwerke verlassen, um den Austausch von Informationen und Gütern zu erleichtern, ihre Ernährung zu diversifizieren, die Anbautechniken zu stärken und Hunger zu verhindern (vgl. Polster/ Wittkowske 2017, S. 4 f.) 3 Der Garten und das Bier Mit der Industrialisierung und dem Aufkommen der Arbeiterbewegung wurde dem Garten eine ganz neue Präferenz zugewiesen. Das Arbeiterleben, geprägt durch die Werksirenen, die Stechuhren und den damit verbundenen Arbeitsalltag in den Fabriken, wurde zur Basis einer Bewegung, die zum massenhaften Anwachsen der Bier‐ gärten und Gartenlokale in den industriellen Ballungsgebieten führte. Unmenschliche Behausungen, schwindsüchtige Kinder, feuchte Kellerwohnungen, Lärm und Gestank in den Fabriken und das massenhafte Leben zur Miete standen im Gegensatz zur ganz privaten Notwendigkeit der Wiederherstellung/ Reproduktion der Arbeitskraft der überwiegenden Masse der Menschen. Dem Feld der Freizeit und deren Gestaltung kam nun eine wesentliche Bedeutung zu. Lebensmittel wurden nicht mehr selbst erzeugt 96 Michael Polster oder als Deputat erworben - das zum Leben Notwendige musste gekauft werden. Eine Reihe von Tätigkeiten außerhalb der Arbeit konnte im wachsenden Maße frei gewählt werden. Um der Enge der Mietwohnungen zu entfliehen, ging es in die Kneipen und an sonnigen Tagen in die Bierlokale, welche zu den eigentlichen Freizeitorten wurden. Hier aß man mitgebrachtes Brot oder kaufte Würstchen, Sol-Eier, Harzer Käse oder Bouletten. Dazu wurde Bier und billiger Fusel getrunken. Geselligkeit, einfache Unterhaltung und v. a. die Gespräche mit anderen Arbeitern war ausschlaggebend für die Attraktivität der Biergärten und Ausflugslokale, denn hier gab es keine Unterordnung wie in der Arbeitswelt, man war Gleicher unter Gleichen, sie waren Umschlagplatz proletarischer Lebenserfahrungen. Überhaupt reichte die Spannweite hier organisierter Freizeittätigkeiten vom Tingel‐ tangel über die Abende der Theater-, Gesangs- und Sportvereine, von Bildungsvorträ‐ gen bis zur Tätigkeit der Arbeitersekretariate und zu politischen Versammlungen. Aber es gab auch eine Kehrseite, die aus der mehr oder weniger starken Abhängigkeit vom Alkohol folgte. Die Kneipe war der Ort, an dem im Alkoholrausch die elende Lage für Stunden vergessen werden konnte. Dabei war diese Abhängigkeit bei den unteren Schichten des Proletariats stärker als bei den besser verdienenden Arbeitern und setzte sich als Bedürfnis auch elementar gegen bessere Einsicht durch, da nun jeder selbst von Woche zu Woche über seine kargen Mittel zu verfügen hatte. Alkoholismus und Trunksucht waren die Folge sozialer Notlage und auch der Unfähigkeit, mit den neuen Lebensumständen in der kapitalistischen Großstadt zurechtzukommen. Die Kulturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts zeigt für fast alle europäischen Länder ein Ansteigen des Alkoholkonsums in sämtlichen Gesellschaftsschichten (vgl. Groschopp 1985, S. 28 f.). 4 Der Garten in der Laubenkolonie Es gehörte zu den charakteristischen Merkmalen deutscher Industriestädte mit ihren Massenmietshäusern, dass sie weithin von Kleingartenanlagen umgeben waren. Dort verlebten viele Arbeiter ihre Freizeit und nahmen an dem proletarisch, kleinbürgerlich geprägten Vereinsleben teil. Die Arbeiter in den Laubenkolonien waren - wie in den Mietskasernen der Arbeiterviertel - unter sich. So konnte das Leben in den Kleingärten zu einer spezifischen Form proletarischer Öffentlichkeit werden. Schon nach dem Krieg von 1870/ 71 war es durch die enorme Zuspitzung der Wohnungsnot zu einer sprunghaften Zunahme der Zahl der Laubenkolonisten gekommen. Parallel dazu entwickelte sich die Schrebergartenbewegung, die nicht, wie oft angenommen wird, vom Leipziger Arzt Moritz Schreber (1808-1861) begründet, sondern nur nach ihm be‐ nannt wurde. Die Dauerausstellung des Kleingärtnermuseum in Leipzig „Deutschlands Kleingärtner vom 19. zum 21. Jahrhundert“ bietet dazu einen anschaulichen Überblick (vgl. Mitteldeutscher Rundfunk 2019). Vor allem waren die gut entlohnten Facharbeiter in der Lage, ein Stück Land von einem der Generalpächter, meist einem Gastwirt, zu pachten. Im Besitz der Schankkon‐ 97 Garten und Kulinarik zession für ihre Kolonie ließen sich die Generalpächter von ihren Unterpächtern auch den ausschließlichen und ausgiebigen Verzehr von Schnaps und Bier aus ihrer Kantine oder Laubenkneipe vertraglichen. In Berlin waren es Bewohner der Arbeiterviertel, die im Frühjahr 1862 die ersten etwa 280 m² großen Parzellen zu bearbeiten begannen und darauf kleine Bretterbuden errichteten. Diese erste Laubenkolonie wurde von ihren Erbauern ‚Trockene Stulle‘ genannt. Sie existierte allerdings nur fünf Jahre, dann wurde auf diesem Terrain ein Städtisches Krankenhaus gebaut. Solche Kurzzeit-Existenzen sollten bis in die 1920er-Jahre unseres Jahrhunderts typisch bleiben für viele Berliner Laubenkolonien. Dass es überwiegend Arbeiter waren, die sich einen Garten pachteten, ist belegt (vgl. Coenen 1911, S. 15-26). Ende des 19. Jahrhunderts wurde Berlin oft als ‚Hauptstadt der Laubenpieper‘ bezeichnet. Hier entstanden Laubenkolonien der Arbeiterbewegung, des Roten Kreuzes oder der Eisenbahner. Diese Kleingärten entwickelten sich zu festen Bestandsgrößen des urbanen Raumes und nicht nur der Ballungsgebiete. Von dem deutschen Schriftsteller Erich Weinert gibt es dazu ein passendes Gedicht: Erich Weinert FERIENTAG EINES UNPOLITISCHEN (1930) Der Postbeamte Emil Pelle hat eine Laubenlandparzelle, wo er nach Feierabend gräbt und auch die Urlaubszeit verlebt. Ein Sommerläubchen mit Tapete, ein Stallgebäude, Blumenbeete, hübsch eingefaßt mit frischem Kies, sind Pelles Sommerparadies. Zwar ist das Paradies recht enge mit fünfzehn Meter Seitenlänge; doch pflanzt er seinen Blumenpott so würdig wie der liebe Gott. Im Hintergrund der lausch’gen Laube kampieren Huhn, Kanin und Taube und liefern hochprozent’gen Mist, der für die Beete nutzbar ist. Frühmorgens schweift er durchs Gelände und füttert seine Viehbestände. Dann polkt er am Gemüsebeet, wo er Diverses ausgesät. Dann hält er auf dem Klappgestühle sein Mittagsschläfchen in der Kühle, 98 Michael Polster Und nachmittags, so gegen drei, kommt die Kaninchenzüchterei. Auf einem Bänkchen unter Eichen, die noch nicht ganz darüber reichen, sitzt er, bis daß die Sonne sinkt, wobei er seinen Kaffee trinkt. Und friedlich in der Abendröte beplätschert er die Blumenbeete und macht die Hühnerklappe zu, dann kommt die Feierabendruh. Er denkt: „Was kann mich noch gefährden Hier ist mein Himmel auf der Erden! Ach, so ein Abend mit Musik, da braucht man keine Politik! Die wirkt nur störend in den Ferien, wozu sind denn die Ministerien? Die sind doch dafür angestellt, und noch dazu für unser Geld. Ein jeder hat sein Glück zu zimmern. Was soll ich mich um andre kümmern? “ Und friedlich wie ein Patriarch beginnt Herr Pelle seinen Schnarch. (Weinert 1963, S. 93) Nach den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts waren die Kleingärten für viele Städterinnen und Städter aufgrund von Armut und Zerstörung die letzte Bleibe vor einer drohenden Obdachlosigkeit und wurden somit zum ständigen Wohnsitz. Be‐ standsschutz garantiert heute vielen Kleingartenkolonien ihre weitere Existenz, wobei die Nachfrage nach einem Garten in vielen Fällen nicht gedeckt werden kann, sodass in zahlreichen Gartenvereinen lange Wartelisten heute Alltag sind. Die Ursachen hierfür sind vielfältiger Natur, wobei v. a. ökologische Fragen im Mittelpunkt stehen, denn sie betreffen die Zukunft unseres Lebensmittelsystems. Nachhaltigkeit und der Genuss natürlicher Produkte, frei von chemischen Zusätzen und industrieller Produktion, im eigenen Garten erzeugt, sind angesagt. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir (Klima-)Probleme allein mit Technologie nicht lösen können, ist die Rückkehr zu natürlicheren Systemen, im Sinne von ‚weniger‘ und ‚vielfältiger‘, der Schlüssel. Die Notwendigkeit einer nachhaltigeren und widerstandsfähigeren Nahrungskette ist seit einiger Zeit offensichtlich. Die ‚großen Störungen‘ des Jahres 2020, darunter die anhaltende Covid-19-Pandemie, haben die Unzulänglichkeiten unseres derzeitigen Systems jedoch mehr als verdeutlicht. 99 Garten und Kulinarik 1 „Der grüne MICHELIN Stern ist die neueste Auszeichnung des Guide MICHELIN und wird erst‐ mals im Januar 2020 bei der Auftaktveranstaltung des Guide MICHELIN Frankreich vorgestellt. Das Emblem ist ein neuer Maßstab für Kunden und Fachleute: Die Inspektoren vergeben die Auszeichnung an Restaurants innerhalb ihrer Auswahl, die sich am meisten für einen nachhaltigeren Ansatz in der Gastronomie engagieren. Indem der Guide MICHELIN das vorbildliche Handeln von Vorzeigebetrieben hervorhebt, möchte er Köchen und anderen engagierten Akteuren einen Rahmen geben, um die Öffentlichkeit, Unternehmen und die gesamte Branche für nachhaltige Themen rund um Gastronomie und Lebensmittel zu sensibilisieren.“ (Michelin Reifenwerke 2021a) 5 Die neue Lust auf Grün Garten und Landschaft erscheinen gegenwärtig in einem ganz neuen Licht. ‚Brutal lokal‘ vereint v. a. Gastronominnen und Gastronomen sowie Köchinnen und Köche auf der Suche nach den kulinarischen Antworten der Gegenwart. Vermeintlich geht es beim lokalen Essen um die Wiederherstellung dieser früheren Praxis: die Verlagerung. Dies hilft aber nicht dabei, die Bedeutung von ‚lokalem Essen‘ wirklich zu verstehen. ‚Lokales Essen‘ kann nur verstanden werden, wenn es als Teil eines Systems betrachtet wird, dessen Ziel es ist, lokale Nahrungsmittelsysteme zu schaffen. Lebensmittel werden produziert, verarbeitet, verteilt, konsumiert und verschwendet. All diese Pro‐ zesse können mehrmals von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren durchgeführt werden, z. B. vom Groß- und Einzelhandel. Je mehr unterschiedliche Prozesse innerhalb des lokalen Kreises stattfinden, desto lokaler ist das Nahrungsmittelsystem. Die geografische Nähe ist eine einfache Methode zur Messung der Lokalität: je geringer die Entfernung zwischen Produzentinnen bzw. Produzenten und Konsumentinnen bzw. Konsumenten, desto frischer. Die Qualität der Produkte kann am besten kontrolliert werden, wenn das Gemüse in der Nähe der Verarbeitung/ Küche angebaut wird. Auf diese Weise entwickelt sich eine enge Beziehung zur Erzeugerin bzw. zum Erzeuger, wodurch sich Qualität und Nachhaltigkeit erhöhen können. Doch ‚lokal‘ ist nicht nur eine geografische Größe, sondern auch eine soziologische. Es verbindet Begriffe wie Gemeinschaft und Ort. Je weniger Zwischenhändlerinnen und -händler involviert sind, desto stärker fühlt sich die Verbraucherin bzw. der Verbraucher mit der Herstellerin bzw. dem Hersteller der Lebensmittel verbunden. Verbraucherinnen und Verbraucher suchen nach ‚Einbettung‘, einem Gefühl, mit einem Ort verbunden zu sein. Dies ist oft eine Reaktion auf die Globalisierung, in der nichts an einen einzigen Ort eingebettet ist. Ein Bauernhof, der seine Produkte direkt an Landwirtinnen und Landwirte in seiner Nähe verkauft, kann nicht viele Beziehungen zu Kundinnen und Kunden unterhalten. Umgekehrt muss ein Restaurant, das von vielen lokalen Bauern bezogen wird, in einem größeren Gebiet einkaufen (vgl. Feagan 2007, S. 23 f.). Der Garten rückt damit gänzlich an die Gastronomieküchen heran, der Trend zur Versorgung mit Produkten aus dem eigenen Garten am Hotel oder dem Restaurant ist zum kulinarischen Alltag geworden. Der Trend zur Nachhaltigkeit setzt sich damit auch in der Spitzengastronomie fort. So ist es nur folgerichtig, wenn der Guide Michelin - einer der wichtigsten Restaurantführer - im Jahr 2020 eine Rubrik ‚Grüner Stern‘ 1 eingeführt hat. Insgesamt 53 der im Jahr 2021 ausgezeichneten Adressen in 100 Michael Polster Deutschland verfolgen mit zahlreichen Initiativen und konkreten Maßnahmen eine vorbildliche Nachhaltigkeitsvision. Die Initiativen können sehr unterschiedlich sein: von der Regionalität über den eigenen Anbau, die biologisch-ökologische Erzeugung der Produkte, die Saisonalität der Gerichte bis hin zum Abfall- oder Ressourcenma‐ nagement. Auch die Fähigkeit des Küchenchefs, die Gäste und sein Team für diesen Ansatz zu sensibilisieren, gehört hierzu (vgl. Michelin Reifenwerke 2021b). Der französische Koch Michel Bras gilt u. a. mit seinem Restaurant Le Suquet im französischen Laguiole als einer der Wegbereiter der naturnahen Gemüseküche. Heute wachsen in seinem Garten mehr als 200 Gemüsesorten. Der Berliner Sternekoch Michael Hoffmann hatte schon vor Jahren sein Restaurant Margaux darauf umgestellt. Sein Garten war der Beweggrund für die intensive Gemüseküche im Margaux. In seinem Gemüsegarten gab es schon früh völlig unbekannte Gemüsesorten. Ausschlag‐ gebend war für ihn dabei, dass er mit seinen Händen selbst in der Erde herumgewühlt habe. Dass er sich als Mensch sozusagen geerdet habe, betonte er, denn er musste selbst etwas tun für die Produkte, die er in seiner Küche verarbeiten wollte. Frische Wildkräu‐ ter, essbare Blüten, seltene Würzkräuter, rare Gemüsesorten und wildes Obst gehören heute zum Bestandteil einer zeitgemäßen Gourmetküche und die Fermentation von Produkten aus den Gärten bereichern so manche Menüangebote schon jetzt. Mit seiner Restaurantküche wollte Michael Hoffmann zeigen, wie wohlschmeckend, vielseitig und inspirierend Kräuter sind, welche kulinarischen Möglichkeiten und lukullischen Geheimnisse in ihnen stecken (vgl. Röger/ Pöppl 2014). Zu Recht betont die Organisation Slow Food Deutschland (SFD), dass Restaurants und Lokale mehr sind als ‚nur‘ Orte des Essens und Genießens. Sie sind Orte für soziales Miteinander und die kulinarischen Visitenkarten einer Region. Chefinnen und Chefs aus dem SFD-Netzwerk sind Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zwischen Erzeugung, Verarbeitung und Gast. Der Weg zum Ursprung ihrer Lebensmittel ist für ihre Gäste transparent. Indem die Köchinnen und Köche vielfältige, frische und regionaltypische Lebensmittel mit kurzen Transportwegen bevorzugen, tragen sie zum Schutz von Mensch, Tier sowie Umwelt und Klima bei (vgl. Slow Food Deutschland e. V. 2021) „Dieses Engagement habe Vorbildcharakter und verdiene Wertschätzung“ (Slow Food Deutschland e. V. 2021), meint Jens Witt, Leiter der Chef Alliance. „Wenn diese ‚Netzwerkgastronomie‘ weiter wächst, sich ihr immer mehr Köch*innen der Außerhausverpflegung anschließen, gewinnen wir an Strahlkraft und ermutigen eine wach‐ sende Anzahl an Menschen, ganzheitlich gesunde Ernährung mit guten Grundnahrungsmit‐ teln auch in den eigenen vier Wänden umzusetzen. Wir brauchen diesen Dominoeffekt für die so wichtige Ernährungswende, die wir nicht aufschieben können.“ (Slow Food Deutschland e. V. 2021) In den letzten 15 Jahren sind daneben gleichzeitig auf Kräuter spezialisierte Firmen unter dem Namen „Essbare Landschaften“ entstanden, aus deren Gärten und deren Umgebung die Produkte den Weg in die deutsche Top-Gastronomie finden. Zahlreiche Anregungen und Informationen gibt dafür auch das deutschlandweit einmalige Projekt 101 Garten und Kulinarik 2 Mit Recht weist einer der Herausgeber dieses Sammelbands, Steffen Wittkowske, darauf hin, dass Streuobstwiesen Orte der Biodiversität und unverzichtbar für das Naturerleben sind (vgl. Wittkowske 2019, S. 1). „Essbare Stadt“. Im Jahr 2009 wurde in Kassel der gleichnamige Verein gegründet, wel‐ cher sich mit der Nutzung urbaner Räume zum Anbau von Lebensmitteln beschäftigt (vgl. Essbare Stadt o. J.) Verbunden, aber nicht identisch mit dem Thema ‚essbare Stadt‘ sind: Urban Gardening (städtisches Gärtnern), urbane Landwirtschaft, essbare Landschaft, Ge‐ meinschaftsgärten, Bürgergärten, Stadtgärten, Kleingärten, Stadtgüter, Dachgärten, vertikale Gärten, Hofgärten, Mietergärten, Schulgärten, Gartenarbeitsschulen, Bal‐ kongärtnern, Stadtimkern, Stadternährung, nachhaltige/ enkeltaugliche Stadtplanung, regionale Ernährung und Ernährungsräte. Die Besonderheit der essbaren Stadt ist, dass all diese Aspekte in einem Konzept bzw. Projekt vereint sein können: kommerzielle und nichtkommerzielle Nutzung, öffentliche und private Flächen, gemeinschaftliche und individuelle Aktivitäten, Freizeit- und Berufsgärtnerei, Stadt und Umland, Nutzpflan‐ zen und Ästhetik, Landwirtschaft und Biodiversität (vgl. Rauterberg 2013). Ein dafür typisches Unternehmen ist die Spreewälder Kräutermanufaktur mit Spreewaldkoch Peter Franke (→ Abb. 2). Er hat die Landschaft und die Traditionen des Spreewaldes ergründet und in die Kochtöpfe der Wenden geschaut. In der kräu‐ terreichsten Gegend Berlins/ Brandenburgs, dem Spreewald, will er den kulinarischen Reiz der Kräuter seinen Gästen näherbringen. Dabei geht es ihm v. a. um Wildpflanzen für die Küche und Hausapotheke. Im Mittelpunkt stehen z. B. die Herstellung von Kräuterbutter und Kräuteressig, Meerrettich und ‚Unkrautbowle‘. Eine seiner Ideen: ein Wettbewerb, um die gute alte Streuobstwiese vor dem Vergessen zu bewahren, denn das Wissen um unsere geliebten Streuobstwiesen sei leider aus der Mode gekommen. Dem Thema ‚Erlebnis Streuobstwiese‘ widmet sich ein ganzes Heft der Zeitschrift Grundschulunterricht. Sachunterricht (vgl. Blaseio et al. 2019). 2 Das hohe Potenzial an Momenten des Erlebens, Erfahrens und Handelns macht Streuobstflächen zu idealen außerschulischen Lernorten. Dabei lässt sich neben den verschiedenen Obstsorten, ihrer Ernte und Verarbeitung auch etwas über den Grundaufbau einer Streuobstwiese erkennen (vgl. Polster/ Wittkowske 2019, S. 42-45). Der wichtigste Rat von Peter Franke ist der Vorrat. Die Kraft des Spreewaldes konserviert er durch Trocknen der Ernte in heimischem Rapsöl, Salz, Zucker, Essig und in geringem Umfang auch in Alkohol. Die Suche nach einer Verarbeitungsmöglichkeit, die den Wert des Gemüses und Obsts erhält oder gar steigert, führt zum Thema Fermentation. Fermentation ist der Prozess, der im Zusammenspiel von Lebensmit‐ teln und Mikroorganismen Lebensmittel haltbar macht. Dabei verändert sich das Ausgangsprodukt auf besondere Weise. In Deutschland sind z. B. das Sauerkraut und die Spreewaldgurke bekannte Beispiele für fermentierte Lebensmittel. 102 Michael Polster Abb. 2: Spreewaldkoch Peter Franke 6 Vom eigenen Garten auf den Teller Ästhetik und Nutzen - beides war in den Klostergärten von Bedeutung. Während der letzten Jahre hat die Kulinarik vielfältige Entwicklungen erfahren. Die bekannteste erfolgte im Jahr 2004 von 12 skandinavischen Köchen mit dem sogenannten ‚Neue Nordische Küchen Manifest‘. Bei ihrem Treffen in Kopenhagen im Jahr 2005 unter‐ stützten die Agrar- und Ernährungsminister des Nordischen Rates aus Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden und abhängigen Gebieten diese Entwicklungen und starteten das sogenannte ‚neue nordische Lebensmittelprogramm‘. Dies führte 2006 zu einer Finanzierung von drei Millionen Euro für eine Reihe damit verbundener Aktivitäten (Nilsson 2013, S. 21 f.). Durch frische Zutaten und eine Zubereitung, die dem nordischen Klima entspricht, sollen sich in den Gerichten der Neuen Nordischen Küche die Natur und die Landschaft Skandinaviens widerspiegeln. René Redzepi, einer der wichtigsten Initiatoren der ku‐ linarischen Revolution aus Nordeuropa, hat die letzten Jahre daran gearbeitet, sein Re‐ staurant Noma mit dieser Mission zu revolutionieren. Er wurde 1977 in Kopenhagen ge‐ boren, ist Küchenchef, Gründer und Mitbesitzer des Restaurants Noma in Kopenhagen, das in den Jahren 2010, 2011, 2012 und 2014 vom britischen Fachmagazin Restaurant als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet wurde (vgl. Schmindt-Wussow et al. 2011, S. 10 f.). Redzepi ging auf Reisen und eröffnete ein neues Restaurant im Februar 2018 - mit einem riesigen Garten, einer Versuchsküche und einem großen Fermentation 103 Garten und Kulinarik Lab. Das Konzept setzt verstärkt auf Gemüse aus dem eigenen Garten. Frische bedeutet dabei für ihn nicht mehr Tage, sondern Minuten: Viele der Lebensmittel werden in eigenen Gewächshäusern produziert, um das saisonale Fenster auszudehnen. Seither gibt in Redzepis Kopenhagener Restaurant Noma strikte Saisonalität die Richtung vor. Genauer gesagt: Sie bestimmt das Menü. Damit greift der Däne einen Trend auf, der sich in vielen Fine-Dining-Häusern wiederfinden lässt. Dieser rückt einerseits das Gemüse in den Fokus und anderseits auch dessen Selbstanbau. Es wird nicht mehr nur saisonal eingekauft, sondern gleich selbst gezüchtet. Redzepi hat sich dafür auf einem mehrere 1.000 m² großen Areal einen eigenen Garten mit Gewächshäusern errichten lassen, in dem sich auch das Restaurant befindet. Die radikale Beschränkung auf Produkte der Umgebung, der Purismus auf dem Teller, die legere Art, Gäste zu bewirten - all das hat viele junge Köchinnen und Köche in aller Welt inspiriert und das Noma und Redzepi zu den neuen Vorbildern der Gastronomie gemacht. In der Noma-Küche wird gekocht und geforscht, mit Fermentation experimentiert und alle Ergebnisse werden dokumentiert. Mindestens genauso wichtig wie sein Team sind Redzepi aber auch seine Lieferantinnen und Lieferanten. Unweit des alten Standortes verfügt Redzepi nun über ein 7.000 m² großes Areal, auf dem sich nicht nur eigene Gärten und Gewächshäuser befinden, sondern auch ein Labor, in dem akribisch an neuen Kreationen gearbeitet wird. Zudem gibt es eigene Räume für Fisch und Fleisch. Der Gastraum selbst bietet nur 40 Sitzplätze, dazu kommt ein Private-Dining-Room für 8-16 Gäste. Die Philosophie von Redzepis neuem Restaurant beruht einerseits auf der Suche nach den besten Geschmäckern und andererseits darauf, etwas für seine Gesundheit zu tun. Fermentation sei dabei die Schlüsseltechnik, die im Labor mit Leidenschaft und Akribie betrieben wird. Beinahe perfektioniert haben René Redzepi und sein Partner David Chaim Jacob Zilber die Fermentationsmethode. Chaim Jacob Zilber ist 1985 in Toronto geboren, seit 2014 im Noma und seit 2017 Leiter vom Noma Fermentation Lab. Er ist ausgebildeter Koch und begeisterter Fotograf. Fermentiert wird nahezu alles. Im Noma enthält jedes einzelne Gericht etwas Fermentiertes: einen spritzigen Schuss Essig, Miso oder schwar‐ zen, fermentierten Knoblauch mit seiner intensiven Süße. So wird hier die gut 6.000 Jahre alte Technik so weit vorangetrieben, dass neben der Milchsäurefermentation auch mit Schimmelpilzkultur sowie alkoholischer und Essigsäure-Fermentation expe‐ rimentiert wird. Neben dem Gemüse aus dem eigenen Garten fermentieren Redzepi und sein Team u. a. auch Fischabfälle, die so zu einer speziellen Fischsauce werden. Die Fermentation sei das Fundament des außergewöhnlichen Aromenspektrums des Restaurants. Zum Nachlesen und Nachfermentieren gibt es Das Noma-Handbuch Fermentation, welches im Jahr 2019 erschienen ist und sich mit seinen 456 Seiten schnell zur Fermentationsbibel entwickelt hat (vgl. Redzepi/ Sung/ Zilber 2018). „Brutal lokal“ ist das Motto des Berliner Gastronom Billy Wagner und seines Restau‐ rants in der Berliner Friedrichstraße. Das Sterne-Restaurant Nobelhart & Schmutzig wurde im Februar 2015 eröffnet und folgt ebenfalls einer lokalen Linie in seiner Küchenphilosophie. Hier wird mit dem gekocht, was das Umland gerade hergibt. 104 Michael Polster Von Anfang an wollten Küchenchef Micha Schäfer und Gastgeber Billy Wagner die Augen der Menschen für die reiche Natur in und um die Stadt Berlin öffnen. Sie verwenden nur regionale Produkte von kleinen lokalen Produzenten. So gibt es in diesem Restaurant kein Olivenöl, keinen Pfeffer, keine Zitronen, keinen Thunfisch, keine Vanille und keine Schokolade als Produkte der Menüzubereitung in der Küche. Dafür gibt es im wechselnden Angebot Sellerie, Blutwurst, junges Gemüse mit Quark oder Forelle mit Eisenkraut. Seine Küchenbrigade und er beschränken sich nicht nur auf die Auswahl regionaler Grundprodukte, sondern versuchen, den Gedanken zu Ende zu denken. Ein enger Kontakt zu den Erzeugerinnen und Erzeugern sowie ein gegenseitiges Verständnis dafür, was der Jeweilige tut, sieht Wagner als die Basis für seine Arbeit an, damit aus einem Produkt ein gutes Produkt wird. Nur das Wissen um die Herkunft der Lebensmittel verleiht den Produkten wieder ein Gesicht, eine Herkunft. Durch diese Kriterien definiert sich das Restaurant. Die Herausforderung für die Köchinnen und Köche besteht v. a. darin, im wahrsten Wortsinn saisonal zu kochen. So wie der Berliner Sternekoch Marco Müller sehen viele ambitionierte Köchinnen und Köche ihre Gärtnerinnen und Gärtner oder ihre Landwirtinnen und Landwirte nicht mehr einfach nur als Lieferanten für Obst und Gemüse. Die Küchenchefinnen und -chefs diskutieren mit den Erzeugenden über den Anbau und verlangen nach speziellen und seltenen Sorten - ein besonderer Dialog für besondere Zutaten. Viele Spitzenköchinnen und -köche betrachten ihre Gärtnerinnen und Gärtner nicht einfach als Lieferantinnen und Lieferanten frischer Produkte, sondern als Partnerinnen und Partner, mit denen sie gemeinsam über die Produkte des Anbaus entscheiden. Müller und seine Kolleginnen und Kollegen wollen nichts Geringeres als die Esskultur neu prägen und dazu gehört Frisches aus der Region bzw. aus dem eigenen Garten. Dass Gourmetrestaurants einen Teil ihrer Produkte selbst anbauen, ist eigentlich gar nicht so ungewöhnlich. Vom Drei-Sterne-Koch Eckart Witzigmann erzählt man sich, dass er in den Anfangszeiten seines Münchner Sternerestaurants Tantris (ca. 1971) im Garten des Hauses Kräuter anbaute, die auf den Märkten der Stadt nicht zu bekommen waren. Doch durch die Verwendung der falschen Erde wuchsen die Kräuter nicht so richtig und der Erfolg soll mehr als ernüchternd gewesen sein. Der Hamburger Koch Sebastian Junge betreibt sein Restaurant Wolfs Junge sogar nach dem Motto „land- und handgemacht“ und ist dafür selbst auf dem Gemüseacker tätig. Für das Restaurant baut er dort frisches Gemüse an, das später auf den Tellern seiner Gäste landet. Im Sommer kommt es frisch vom Feld und im Winter wird es fermentiert und eingelegt serviert. So ist er in der Lage, 40-50 % des eigenen Gemüsebedarfs zu decken. Das Schloss Hotel Fleesensee in Mecklenburg-Vorpommern (→ Abb. 3) und das hauseigene Gourmetrestaurant Blüchers, in dem der Küchenchef Georg Walther kocht, geht es um Rückbesinnung und traditionelle Küche mit Produkten aus der Region und dem hauseigenen Anbau. Die Basis bildet eine im Jahr 2015 initiierte resorteigene Landwirtschaft, deren Gemüsefelder sich direkt am Golfplatz auf einer Fläche von mehr als 3.000 m² befinden. Zwischen Göhren-Lebbin und Untergöhren gibt 105 Garten und Kulinarik 3 Weitere Informationen unter: www.vogtland-tourismus.de/ de/ tour/ wanderung/ vogtlaendischer-kn ollensteig/ 7232188/ (letzter Zugriff: 23.08.2021). es dazu ein 1.200 m² großes Gewächshaus, in dem die verschiedensten Gemüsesorten, auch alte, fast in Vergessenheit geratene Obst- und Gemüsesorten, sowie frische Kräuter angebaut werden. Eine eigene Herde von Angus-Rindern und die Zucht von südamerikanischen Araucana-Hühnern, welche durch ihre grünlichen Eier bekannt sind, gehören ebenfalls zum Projekt. Abb. 3: Fleesensee Ein anderes Beispiel dafür ist das erste deutsche Kartoffel-Hotel in der Lüneburger Heide, bei dem sich alles um die Kartoffel dreht. Im Hotel kommen Heidekartoffeln von den Bioland-Kartoffelbäuerinnen und -bauern zum Einsatz. Neben den kulinarischen Angeboten um die Kartoffel geht es hier um klassische Wellness- und Beauty-Anwen‐ dungen mit und ohne Kartoffeln. Es wird im Hotel ein wahrer Kartoffelkult betrieben. Vor über 350 Jahren begann im Vogtland, welches gerne als Kartoffelland bezeichnet wird, der feldmäßige Anbau der Kartoffel als Nahrungsmittel. Nachweislich sind es vogtländische Bauern gewesen, die als die ersten in Deutschland die Kartoffeln auf ihren Feldern anpflanzten. Um 1626 wurden bereits im Greizer Schlossgarten einige Beete mit ‚Erdäpfeln‘ bepflanzt, sodass laut Agrarhistorikerinnen und -historikern davon ausgegangen werden kann, dass die Knolle vom Vogtland aus ihren Weg zu den deutschen Bauern angetreten hat. Bis ca. 1750 ist in mehr als 50 Orten der Kartoffel‐ anbau nachweisbar. Besonders die kargen Böden und das raue Klima des Vogtlandes boten gute Bedingungen für den Anbau. Wer mehr über den Erdapfel im Vogtland erfahren möchte, sollte dem Vogtländischer Knollensteig, einem Kartoffel-Lehrpfad zwischen Hundsgrün und Tirschendorf folgen. 3 Seit einiger Zeit erlebt die Kartoffel nicht nur in der Küche der Vogtländer ein wahres Comeback. Das Vier-Sterne-Superior-Hotel König Albert in Bad Elster hat eine eigene Kartoffel, die exklusiv für das Haus angebaut wird. Es ist eine länglich-ovale, teils zapfenförmige Knolle, die unter der rötlichen Schale gelb, in der Mitte rot marmoriert ist und mehlig kocht. Sie stamme von einer Kartoffel ab, die schon vor 150 Jahren hier im Vogtland angebaut wurde. Die Idee stammt von Ulrich Wenzel, 106 Michael Polster 4 Weitere Informationen unter: knollen-und-co.de/ ueber-uns/ (letzter Zugriff: 23.08.2021). Abb. 4: Frank Schreiber dem Vorsitzenden des Vereins Vogtländischer Knollenring Tirschendorf und Begründer des Kartoffel-Lehrpfades. Der Knollen-Verein 4 hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Kartoffelanbau im Vogtland zu erhalten. Gezüchtet wurde die Kartofel von Ulrich Gündel, von Gündels Kulturstall in Reichenbach, der auf seinem Hof über 70 historische Kartoffelsorten sammelt, sie aus Samen züchtet, anbaut und vermarktet. Zu seinen Ab‐ nehmerinnen und Abnehmern gehören zahlreiche Gastronominnen und Gastronomen sowie Hoteliers aus nah und fern ebenso wie private Abnehmerinnen und Abnehmer. Im Naturpark Erzgebirge Vogtland gibt es das Restaurant & Hotel Forstmeister in Schönheide, welches auch als Kräuterhotel bekannt ist, da die Kräuter dort nicht nur in der Küche im Mittelpunkt stehen. Ein großer Kräutergarten am Hotel und die waldreiche Umgebung liefern die besten Ausgangsprodukte für das mittlerweile sehr bekannte Vogelbeereis bzw. das Sauerampfereis, welches mit in schwarzer Schokolade getauchten Fichtenspitzen serviert wird (vgl. Polster 2017a, S. 24-26). Auch Chef de Cuisine Frank Schreiber (→ Abb. 4) im Goldenen Hahn in der Sängerstadt Finsterwalde legt in seiner Küche großen Wert auf die Verwen‐ dung saisonaler Brandenburger Produkte und Spe‐ zialitäten aus der Niederlausitz. Er ist ein ausgemach‐ ter Kräuternarr und so finden die heimischen Garten- und Wildkräuter reichlich Verwendung in seiner Küche, ob Tannenspitzen, Gundermann oder Schaf‐ gabe. Aromatisierter Essig aus hauseigener Herstel‐ lung und hausgeräuchertes grobes Meersalz kann der kulinarisch interessierte Gast zum Abschluss als eine kleine Erinnerung an die schönen Stunden mit nach Hause tragen. Schreiber kocht mit Engagement und großer Hingabe seine ‚neue Lausitzer Küche‘ (vgl. Polster 2017a, S. 24-26). 7 Fazit Der eigene Garten als Teil des Restaurants ist schon länger eine schöne Geschichte rund um Regionalität und Nachhaltigkeit, die bei Gästen immer gut ankommt. Doch dahinter steckt noch mehr: Er schafft die Basis, sich ein Stück weit von der Masse abzuheben. Ob blaue Kartoffeln, Black-Zebra-Tomate, Meyer-Zitrone oder lila Süßkartoffel - außergewöhnliche oder alte, in Vergessenheit geratene Obst- und Gemüsesorten hat so schnell nicht jeder. Mit dem eigenen Garten geht aber auch eine persönliche Haltung einher, die sich in einem schonenden Umgang mit den Ressourcen der Natur ausdrückt - eine Lebenseinstellung, die die Verwendung lokaler und saisonaler Produkte bedingt. Produkte aus den Gärten unter dem Motto des kürzesten Weges vom „Acker auf den 107 Garten und Kulinarik Teller“ gehörten schon immer zu den Tafelfreuden sowie fanden und finden auch heute mehr denn je Verwendung, nicht nur in den Küchen der gehobenen Gastronomie. So hat sich die Stadt Berlin auf den Weg gemacht, das Thema systematisch und ressortübergreifend anzugehen und „das Ernährungssystem zukunftsfähiger, fairer, nachhaltiger und gesünder zu gestalten. Es gehe aber auch darum, Wertschöpfungs‐ ketten in der Region zu fördern“ (M&L MedienGesellschaft 2020), so Dirk Behrendt, Berliner Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung vom Bündnis 90/ Die Grünen. Nicht nur Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern v. a. die Frauen und Männer der weißen Zunft möchten die Herkunft genau kennen und kaufen zugunsten des Klimas lieber lokal als global, Manufaktur statt Industrie (vgl. Horbelt/ Spindler 2000, S. 8-10). Der Garten als Lieferant von Lebensmitteln ist mehr als nur ein Trend. Doch Trends darf man nicht mit Mode verwechseln. Es geht vielmehr um gesellschaftliche Entwicklungen, deren Ursachen sehr vielfältig sind. Um diese zu erkennen und zu verstehen, braucht es darüber hinaus einen Blick auf und in den Garten und seine kulinarischen Geschichten. Literaturhinweise Blaseio, B.; Kleinschmidt-Bräutigam, M.; Kurtzmann, G.; Naugk, N.; Neubert, B.; Witt‐ kowske, S. (Hg.) (2019): Die Streuobstwiese. Grundschulunterricht. Sachunterricht, Heft 3. Cornelsen, München. B&L MedienGesellschaft mbH & Co. KG (Hg.) (2020): Neue Berliner Ernährungsstrate‐ gie. 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Schließlich wird die Gestalt der Zukunft von denen wesentlich geprägt werden, die heute die Schulen besuchen. Und: Nie zuvor hat Bildung denen, die gut qualifiziert sind, derartig viele Chancen eröffnet. Die Kehrseite aber ist, dass ein heute unzureichendes Bildungsniveau künftig sinkende Lebensqualität bedeutet, sowohl für den Einzelnen als auch für Sozietäten. Dabei verschieben sich die Anforderungen an Bildungssysteme dramatisch. In der Vergangenheit konnten Schulen davon ausgehen, dass das Wissen, das sie vermitteln, für ein Arbeitsleben ausreicht. Heute ist es unverantwortlich, Schülerinnen und Schülern eine Arbeit auf Lebenszeit zu suggerieren. Je mehr Menschen Eigenverantwortung für ihre Lebens- und Karriereplanung sowie wirtschaftliche und soziale Absicherung übernehmen müssen, umso mehr darf man von Schule hier und heute, von Bildungslandschaften und ihren modernen Schulen erwarten, dass sie Heranwachsenden helfen, sich in einer sich immer schneller verändernden Welt zurechtzufinden; dass sie auf Berufe vorbereiten, deren Profile heute noch nicht alle gekannt werden; dass sie ihnen helfen, Technologien zu nutzen, die erst morgen erfunden werden; und dass sie dazu befähigen, strategische Heraus‐ forderungen zu bewältigen, von denen man heute noch nicht weiß, dass es sie gibt. Als Ergebnis schulischer Bildungsarbeit reicht die bloße Reproduktion von Fach‐ wissen für den Erfolg nicht mehr aus, zum einen, weil derartiges Wissen schnell veraltet, zum anderen, weil Arbeit, die digitalisiert oder automatisiert wird, in Zeiten rasanten gesellschaftlichen Wandels keine berufliche Zukunft mehr garantiert. Auch wenn heute teilweise große Veränderungen spür- und sichtbar werden, legt die Schule traditionell immer noch großes Gewicht darauf, fachliche Probleme immer weiter zu zerlegen und Schülerinnen und Schülern die Routinefähigkeiten zu vermitteln, die dabei entstehenden Teilprobleme zu lösen. Die großen Durchbrüche entstehen heute aber meist dann, wenn es gelingt, ver‐ schiedene Aspekte oder Wissensgebiete, zwischen denen Beziehungen zunächst nicht offensichtlich sind, zu synthetisieren. Je komplexer, je facettenreicher die Lebens- und Arbeitswelt wird, und je mehr der Umfang kodifizierten Wissens zunimmt, desto mehr gewinnen außerdem Menschen an Bedeutung, die die Komplexität nicht nur verstehen, sondern auch anderen zugänglich machen können. Fächerübergreifendes und fächerverbindendes Lernen wird in der Schule der Zukunft daher eine immer wichtigere Rolle spielen. Schon geraume Zeit lässt sich die Gesellschaft nicht mehr in Generalistinnen bzw. Generalisten und Spezialistinnen bzw. Spezialisten, in Kopf- und Handarbeitende einteilen. Bestimmt behalten Generalistinnen und Generalisten, die einen weiten Wissensbereich überschauen, ihre Bedeutung. Auch Spezialistinnen und Spezialisten, die vertieftes Wissen über einen begrenzten Bereich besitzen, werden weiterhin ge‐ sellschaftliche Anerkennung finden. Menschen werden zunehmend Dienstleistungen erbringen: Die dabei Handelnden werden jedoch bezüglich der Qualität der erbrachten „Leistung“ und nicht hinsichtlich des erbrachten „Dienstes“ beurteilt. Der Erfolg von Schule muss sich deshalb an der Fähigkeit und Motivation der Menschen messen, lebensbegleitend zu lernen, sich in einer sich verändernden Welt immer wieder neu zu positionieren, eigenständig und verantwortungsbewusst zu handeln und eigene Pläne und Projekte in größere Zusammenhänge zu stellen. Schule muss aus diesem Grunde die Voraussetzungen und die Motivationen vermitteln, die es erlauben, auch nach dem Ende der Schulzeit offen zu sein, immer wieder Neues hinzuzulernen. Dafür ist das Lernen so zu konzipieren, dass es erstens anschlussfähig ist für nachfolgendes Lernen, zweitens aber auch ein bildungstheoretisches Fundament hat, denn damit erst wird der Zukunftsbezug des Lernens gewährleistet. Die Betonung liegt auf orientierendem Basiswissen und auf Methoden, die es erlauben, Anpassungs- und Gestaltungsleistungen in Zukunft zu vollziehen, weiter zu lernen und einen Transfer auf neue Situationen zu leisten. Mittlerweile weiß man, dass eine derartige bildungstheoretische Orientierung curriculare, didaktische und organisatorische Kon‐ sequenzen haben muss. Sie akzeptiert die Schule als Lern- und Lebensort eigenen Rechts und entlastet sie von dem wenig Erfolg versprechenden Versuch, gegenwärtige Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen in der Schule abbilden oder zukünf‐ tige Anwendungssituationen vorwegnehmen zu wollen. Das schließt freilich nicht aus, an den gegenwärtigen Lebenssituationen anzuknüp‐ fen, ja macht ebendieses erforderlich. Wie sonst soll man einer modernen Bildungsthe‐ orie gerecht werden, die auf die „Vermittlung der Voraussetzungen gesellschaftlicher Kommunikation“, auf „Weltverstehen“, „Teilhabe und die Sicherung der Lernfähigkeit“ und „Weltwissen“ (Elschenbroich 2001) ausgelegt ist? Lernen ist ein aktiver und sozialer Prozess: Mit wem gelernt und gearbeitet wird, beeinflusst in entscheidender Weise, was gelernt werden kann. 112 Steffen Wittkowske Traditionell lernen die Schülerin bzw. der Schüler für sich. In der Gesellschaft immer entscheidender wird jedoch die Fähigkeit, gute und tragfähige Beziehungen aufzubauen, in Teams zu arbeiten, mit Konflikten umzugehen, sich in pluralistischen Kontexten einzubringen. Soziale Intelligenz, emotionale Sicherheit, Interesse und Offenheit sind einige der entscheidenden Dimensionen. Die Zukunft braucht Schulen, die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, miteinander und voneinander zu lernen. Ein Umdenken in der Organisation von Schule, in einer Art und Weise, die den indivi‐ duellen Lernfortschritt in den Mittelpunkt stellt und in der Schulen Verantwortung für ihre Ergebnisse übernehmen können, ist deshalb unumgänglich. Schulen dürfen heute erwarten lassen, dass sie das Potenzial aller Lernenden mobili‐ sieren und erkennen, dass ‚gewöhnliche‘ Schülerinnen und Schüler ‚außergewöhnliche‘ Fähigkeiten haben, unterschiedlich leben und lernen. Sie müssen dementsprechend individuell gefördert werden - durch Lehr- und Lernformen, die nicht defizitär angelegt sind und die Lernende damit ständig vor Misserfolge stellen, sondern die wirklich auf Einzelne zugeschnitten sind. Zudem stehen die Schulen in der Verantwortung, auf die verschiedenen Interessen, Fähigkeiten und sozialen Kontexte der Schülerinnen und Schüler mit konstruktivem und individuellem Umgang mit Vielfalt zu reagieren. Aktuell spürbar und weiter zu erwarten ist, dass Veränderungen in den Organisati‐ onsformen von Schule weitergehen: Die Schule wird künftig nur eine von mehreren Lernumgebungen darstellen. Es geht nicht mehr darum, die Schülerin bzw. den Schüler zur Schule zu bringen, sondern darum, Lernen und Lernumgebung zum Lernenden zu bringen, Lernen als Aktivität aufzugreifen, nicht als Ort. Dabei wird die Infrastruktur der zukünftigen Schule zwar noch örtlich bestehen, aber zunehmend digital geprägt sein. Neue Technologien werden neue Perspektiven eröffnen: Sie schaffen authentische Kontexte, die versprechen, viel spannender zu werden, als Unterrichtsalltag heute manchmal erahnen lässt. Wie keine andere Institution bietet Schule einerseits den Zugang zu fast allen Kindern und Jugendlichen und bestimmt andererseits einen relevanten Teil ihrer Lebenszugänge. Bedingt durch die allgemeine Schulpflicht treffen über ein Jahrzehnt und vermehrt sogar länger und ungeachtet ihrer sozialen und ethnischen Herkunft Kinder in Schulen zum gemeinsamen Lernen und Leben zusammen. Schule fokussiert dadurch zwar soziale Ungleichheit und familiäre Defizite, sie kann allerdings so auch pädagogische Chancen bieten. Die Schule will mit ihren Lernbereichen der Weltaneignung und Kulturbeherrschung dienen. Dafür muss sie einerseits einen gewissen Rahmen für die isolierte Einführung und Einübung bereitstellen. Andererseits muss ein ausreichend großes zeitliches und organisatorisches Budget für entdeckendes und forschendes Lernen zu Fragen bereitstehen, die den Kindern bedeutsam sind oder in ihren Bedeutungshorizont gehoben werden können. Dabei will Schule Unmittelbarkeit fördern, um Kreativität entfalten zu können, und den Schülern stets neue Gelegenheiten bieten, Erlebnisfähigkeit, Wertbewusstsein sowie Urteils- und Handlungsfähigkeit zu erwerben und zu entfalten (vgl. Wittkowske 113 Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen 2012, S. 50). Für die Schule ist dafür der Schulgarten ein fundamentaler und elementarer Erfahrungsraum mit einer den Menschen prägenden Wirkung (vgl. Kleber 1994). Und: Aus dieser Perspektive heraus ist der Schulgarten v. a. als ein bedeutsamer Lerninhalt anzusehen und zu profilieren. Diese Perspektive eröffnet den Blick auf seine Historie und seinen Bildungswert (vgl. u. a. Giest 2012, 2020). 2 Schulgärten haben Geschichte Bereits Jan Ámos Komenský betont den Wert des Schulgartens in seiner 1638 vollendeten Großen Unterrichtslehre, der Didactica magna: Bei der Schule „soll nicht nur ein Platz vorhanden sein zum Springen und Spielen, denn dazu muß man den Kindern Gelegenheit geben […], sondern auch ein Garten, in den man sie ab und zu schicken soll, daß sie sich am Anblick der Bäume. Blumen und Gräser freuen können“ (Comenius 2008, S. 99). Zur äußeren Gestaltung der Schule, die ein angenehmer und freundlicher, das Lernen erleichternder Aufenthaltsort sein soll, ist für Comenius ein Garten unentbehrlich; er sorgt einerseits mit für das Wohlbefinden der Kinder, andererseits können sie aber auch in ihm leicht im anschaulichen Erfassen der Naturelemente geübt und über diese belehrt werden (vgl. Walder 2002, S. 10). 1691 wird August Hermann Francke Pfarrer an der Sankt-Georgen-Kirche in Glau‐ cha, ein Jahr später Professor an der neu gegründeten Universität Halle. Bei seinen zwischen 1695 und 1698 eingerichteten Franckeschen Stiftungen zu Halle (früher: Glauchasche Anstalten) lässt er einen botanischen Garten anlegen, der als erster real überlieferter Schulgarten gilt. In ihm werden für die Schüler des Pädagogiums und der Lateinschule Naturkundestunden abgehalten, Pflanzen untersucht und Herbarien angelegt. Anfangs arbeiten nur die Schüler der niederen Schulen (Waisenhaus, Armen‐ schule) zur Übung nützlicher Handfertigkeit praktisch im Garten, später ist auch für die höheren Schüler Gartenarbeit vorgesehen. Die Philanthropen („Menschenfreunde“ → Reformbewegung mit nachhaltiger Dis‐ kussion der Ideen J. J. Rousseaus) J. B. Basedow, F. E. Rochow und Chr. G. Salzmann mit ihrem inspirierten, aufklärerischen Streben nach einer vernünftigen und natürlichen Erziehung der Jugend haben in den von ihnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründeten Erziehungsanstalten u. a. dem Schulgarten für das Leben und körperliche Arbeiten in der Natur sowie für eine lebensnahe, realistische Bildung eine Bedeutung zuerkannt. J. H. Campe, E. Chr. Trapp und J. Chr. Fr. GutsMuths knüpfen ebenfalls an Rousseaus Vorstellungen von einer „naturgemäßen“ Erziehung an, erweitern diese aber um die Komponente des „Vernunftgemäßen“ und wenden Rousseaus radikal individualistisches Konzept - abgebildet im Erziehungsroman Émile (1762), der isoliert von der Gesellschaft aufwachsen soll - ins Soziale. J. H. Pestalozzi widmet sich im letzten Drittel des 18. und im frühen 19. Jahrhundert mit seinen Projekten armen, verwahrlosten und verlassenen Kindern, um sie in einer geordneten, von ihm geleiteten Lebensgemeinschaft durch Arbeit und Unterricht zu 114 Steffen Wittkowske einem nützlichen und tätigen Leben zu erziehen. Seine „Idee der Elementarbildung“ erfordert eine naturgemäße Erziehung und Bildung, die die Kräfte und Anlagen des Kopfs (intellektuelle Kräfte), des Herzens (sittlich-religiöse Kräfte) und der Hand (handwerkliche Kräfte) in Harmonie entfaltet: Die u. a. im Garten arbeitenden Kinder sorgen mit für ihren eigenen Unterhalt und erhalten dazu die für ihre Zukunft nötige Ausbildung und einen auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen sowie eine religiöse Unterweisung. Für Fr. Fröbel ist das direkte Umgehen mit Natur im Garten Mitte des 19. Jahrhun‐ derts Bestandteil seines Bildungs- und Erziehungskonzepts. Die allgemeine Einführung der Naturwissenschaften im Unterricht führt zu einer ersten Schulgartenbewegung. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erscheint die Schulgartensituation in Deutschland „interessant, spannend und verwirrend zu‐ gleich“ (Walder 2002, S. 13), wo der „Schulgarten in die öffentlichen Schulen Einzug hält: Bis dahin hat er außerhalb der genannten u. ä. Modellanstalten, wie sie auf Initiative einzelner Pädagogen oder in deren Gefolge als Internatsschulen entstanden sind, für das allgemeine Schulwesen kaum eine Rolle gespielt. […] Diese Lage ändert sich nach der Reichsgründung von 1871 mit einer Schulpolitik, die auf das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts explosionsartige Aufblühen der Naturwissenschaften mit seinen technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgeerscheinungen reagiert. Die preußischen Bestimmungen für das niedere (1872) und dann auch für das höhere Schulwesen (1882) verstärken den Unterricht in den Realienfächern und fordern eine stärkere Berücksichtigung des Unterrichtsprinzips der Anschauung.“ (Ebd.) Die Entwicklung des Schulgartens als Unterrichtsmittel für den naturkundlichen Unterricht zum biologischen Schulgarten fand in Deutschland einen Höhepunkt mit dem in der 2. Internationalen Gartenbauausstellung 1896 in Dresden vorgeführten Garten (vgl. Winkel 1997, S. 9-24). Schulgärten, in den Städten gegründet, sind u. a. Liefergärten für das im Unterricht benötigte Pflanzenmaterial. Meist bieten sie einen Bienenstand, ein Alpinum und eine Wasserstelle. Ihre Anlage ist das Abbild Botanischer Universitätsgärten (Lehrgärten). Schulgärten sollen damals auch die Liebe zum heimischen Boden stärken helfen. Zeitgleich entwickelt sich der Schulgarten zum Erziehungsort und Anschauungsmittel bürgerlicher Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit, Pünktlichkeit und Sauberkeit. Gar‐ tenarbeit soll zur Arbeit, zur Gemeinsamkeit, zu gemeinnützigen Gefühlen und zu einer Genossenschaft zwischen Kindern und Lehrern (Arbeitsgarten) erziehen. Die Forderungen nach Selbsttätigkeit, inhaltlicher Vertiefung und Veranschaulichung im Biologieunterricht dieser Zeit führen auch in den Stadtschulen dazu, dass Handarbeit in der Schulgartenbewegung an Bedeutung gewinnt. Das ist auch eine Antwort auf die Verstädterung und Industrialisierung. Die Arbeitsschule führt zu einer zweiten Etappe der Schulgartenbewegung, in der das Betrachten und Beobachten, das Messen und Untersuchen den gleichen Stellenwert wie die körperliche Arbeit erhalten. In den Arbeitsschulgärten der 1920er-Jahre 115 Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen versuchten die Reformpädagogen, das Konzept eines Lernens mit „Kopf, Herz und Hand“ (der Pädagogik eines J. H. Pestalozzi) zu verwirklichen. Der Schulgarten ist nicht mehr nur Beobachtungs-, sondern auch Handlungsfeld, auf dem die Schüler selbst tätig werden und so eigene Naturerfahrungen, auch sinnlicher Art, machen konnten. Ab 1933 wird die zweite Schulgartenbewegung ihrer Vielgestaltigkeit beraubt. Insbesondere die Forderung individualisierender Arbeit im Schulgarten wird auf dem Erlasswege gestoppt. Der Schulgarten soll den Gemeinsinn fördern. Das Schüler- oder Eigenbeet wird abgelehnt. Er wird zum örtlichen Mustergarten; Steigerung der Leistung im Obst- und Gemüseanbau ist das Ziel. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten in der alten Bundesrepublik nur wenige Schulgärten eine Zukunft. Anders in der ehemaligen DDR: Hier bleibt der Schulgarten im Rahmen der polytech‐ nischen Bildung und Erziehung Bestandteil von Schule und Lehrerbildung. Ein Fach Schulgartenunterricht (zum ersten Mal in der Historie des deutschen Schulwesens) wird curricular verortet (31.05.1963). Dieses neue Fach und das daneben existierende Fach Werkunterricht sollten von Anfang an „produktiv“ gestaltet werden und dadurch die Schülerinnen und Schüler auf die Arbeit in der sozialistischen Produktion vorbe‐ reiten. Die sog. „praktisch gesellschaftlich-nützliche Arbeit“ der Kinder in der Natur stand im Mittelpunkt, um dadurch die Erziehung zur Liebe zur Arbeit zu fördern (vgl. Giest/ Wittkowske 2022, S. 223). „Bei der Schulgartenarbeit lernen die Schüler die körperliche Arbeit schätzen, die produktiv und schöpferisch sein muß. Die Schüler lernen bestimmte Fertigkeiten im Umgang mit Gartengeräten, in der Pflege und Ernte heimischer Kulturarten und bei der Anlage von Versuchen und ihrer Auswertung. … Zur ordnungsgemäßen Erledigung der Arbeiten sind Ar‐ beitsaufträge, Beobachtungsaufträge, Forschungsaufträge und Protokolle notwendig. Diese werden im Unterricht oder in den Veranstaltungen der Jugendorganisation ausgewertet. Bereits von der 1. Klasse an werden Schulgartenarbeitshefte geführt, in denen die agrobiolo‐ gischen und -technischen Termine, phänologische Beobachtungsergebnisse, Ergebnisse der Bodenuntersuchungen, Wetterbeobachtungen u. a. enthalten sind.“ (Wittkowske 1996, S. 107) Eine dritte Schulgartenbewegung kommt mit Beginn der 1980er-Jahre im deutschspra‐ chigen Raum in Gang. Ökologische Arbeitsgärten werden vermehrt zu Keimzellen des Ökologieunterrichts im Freiland; auf Schulgeländen werden Biotope eingerichtet. Die Schulgartenbewegungen in den zurückliegenden Jahrhunderten haben zu unterschied‐ lichen Formen von Schulgärten geführt. Bis in diese Zeit versuchte man Schulgärten in Zentralschulgarten, Liefergarten, Arbeits-, Lehr- oder Praxisgarten zu typisieren. Dieser Bewegung mangelte es jedoch über Jahrzehnte an Akzeptanz. Erst nach 1989 verweisen zunehmend Richtlinien und Lehrpläne auf die Notwen‐ digkeit der Einrichtung von Schulgärten. Impulse erwachsen der aktuellen Schulgar‐ tenbewegung aus mehreren Bundes- und Landesschulgartenwettbewerben. Beschlüsse und Resolutionen wissenschaftlicher Gesellschaften und Fachvereinigungen, wie der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft 1822 und der Gesellschaft für Didaktik des Sachun‐ 116 Steffen Wittkowske terrichts, verweisen auf die besonderen Synergien, die Schulgärten und das Umgehen mit Natur in der Schule entfalten können (vgl. Jäkel/ Wittkowske 2022, S. 510 ff.). Die Bundesarbeitsgemeinschaft Schulgarten e. V. (www.bag-schulgarten.de) unter‐ stützt, fördert und vernetzt seit 2011 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie andere Aktive in der Schulgartenarbeit. Dafür wurde ein bundesweites Kompetenz‐ netzwerk aufgebaut, das Fort- und Weiterbildung entwickelt und koordiniert, es wird an der Konzeption von Curricula mitgearbeitet, es werden Tagungen und andere Veranstaltungen zum bundesweiten und regionalen Erfahrungsaustausch veranstaltet und lokale Aktivitäten vor Ort unterstützt (vgl. Jäkel/ Wittkowske 2022, S. 510 ff.) 3 Schulgärten bieten Zukunft: Vom Umgehen mit Natur Naturbegegnungen sollten schon so früh als möglich bei Heranwachsenden angebahnt werden. Die Einstellung zur Natur beginnt sich bereits in jungen Jahren zu formen und es gibt in diesem Lebensabschnitt sogenannte „Schlüsselerlebnisse“, die eine Vorgeformtheit für die Verarbeitung künftiger Erlebnisse hinterlassen. Eine frühzeitige Begegnung mit der Natur kann solche positiven „Schlüsselerlebnisse“, d. h. Sich-Freuen, Staunen und Weiterfragen, vermitteln. Kinder stehen der Natur zumeist offen gegen‐ über, sie kennen noch keine Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Tiere, „nützliche“ und „schädliche“ Pflanzen. Es gilt, diese Offenheit der Kinder und ihre Fähigkeit, Schönes zu empfinden, Wunderbares zu bestaunen, unbefangen Fragen zu stellen und Unbekanntes erforschen zu wollen, aufzugreifen und zu befriedigen. Abb. 1: Vom Umgehen mit Natur 117 Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen Abb. 2: Kontaktaufnahme Überzeugend und wirkungsvoll kann die Schule eine solche Kontaktaufnahme zur Mitwelt unterstützen, wenn sie selbst ökologisches Lernen zulässt und verantworteten Umgang mit der Natur zu leben bereit ist (vgl. Jäkel 2021). Mit ihren Lernbereichen will die Schule insgesamt der Weltaneignung und Kulturbeherrschung dienen. Dafür muss sie jedoch einerseits einen gewissen Rahmen für die isolierte Einführung und Einübung bereitstellen. Andererseits muss ein ausreichend großes zeitliches und orga‐ nisatorisches Budget für entdeckendes und forschendes Lernen zu Fragen bereitstehen, die den Kindern bedeutsam sind oder in ihren Bedeutungshorizont gehoben werden können. Dann kann Schule eine frühe, intensive Naturbegegnung über den Lebens- und Lernort Schulgarten bieten. Der Schulgarten ist als kindlicher Er‐ lebnisraum für Erfahrungen und Emotio‐ nen, zum vorurteilsfreien Ausprobieren und Beobachten vorzüglich geeignet. Da‐ bei sind für die Heranwachsenden Faszi‐ nation, Charme, Anmut, Schönheit, Pfif‐ figkeit, Witz und Klugheit des Lebendigen im Garten auch die Orientierungspunkte für sich selbst. Im Schulgarten können Schülerinnen und Schüler eine ganz ei‐ gene Beziehung zu sich und zur Natur überhaupt aufbauen. Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher kön‐ nen ihnen dabei helfen, Unterricht und Freizeit - ein Tagesprogramm - in per‐ sönliche Lernerlebnisse umzuwandeln. Wie die Pflanzen im Beet heißen, interes‐ siert sie zuerst einmal weniger als das Le‐ ben im selbst angelegten und gepflegten Gemüsebeet: Wer frisst dort wen? Was kann der Mensch noch essen und warum? Im Garten lassen sich Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden. In dem Maße, wie Mädchen und Jun‐ gen dabei Natur und den Umgang mit ihr erfahren, weitet der Garten sich für Kinder zur Welt, Blick und Denken vermögen „über den Zaun“ hinauszugehen. Je mehr man von der Welt weiß, umso interessanter wird sie. Und: Nur wenn Heranwachsende Kontakt zur Natur haben, werden sie diese lieben und schützen können. Unzweifelhaft hängt die Entwicklung einer solchen positiven Haltung dabei ganz entscheidend davon ab, inwieweit und wie intensiv Kinder Möglichkeiten zur Naturbegegnung haben und wie früh und kontinuierlich diese Begegnungen für sie stattfinden. Ziel ist ein behutsamer und respektvoller Umgang mit sich, den anderen und mit der Natur. 118 Steffen Wittkowske Abb. 3: Wer frisst wen? Der ausdrücklich in Lehrplänen und Rahmenrichtli‐ nien für die Schule in verschiedenen Bundesländern ausgewiesene pädagogische Ansatz zur Öffnung über den Schulgarten und damit der Erhaltung und Rück‐ gewinnung eines bedeutenden vielschichtigen schuli‐ schen Lebens-, Lern- und Spielraumes ist in diesem Zusammenhang unbestritten. An diesem Ort kann Naturerziehung, Gesundheitsförderung, Ernährungs‐ bildung und Verbraucherorientierung eindrucksvoll angebahnt und unterstützt werden. Ökologisierung von Schule (vgl. Baier/ Wittkowske 2001) lässt sich einzigartig über den Schulgarten, der im Besonderen das Leben und seinen Prozess wider‐ spiegelt, verwirklichen. Hier kann in einem gewis‐ sen Schonraum über längere Zeiträume tatsächliche Handlungskompetenz entwickelt werden, hier können Schülerinnen und Schüler Konsequenzen des eigenen Planens und Gestaltens direkt erfahren. Gärtnern wird weniger als etwas rein theoretisch Erlernbares betrachtet, sondern vielmehr als eine praktische Fähigkeit, die durch die konkrete Erfahrung mehr und mehr entwickelt und entfaltet, aber auch reflektiert wird. Ins Gärtnern hineinwachsen heißt, im Austausch mit dem Garten Lebenserfahrung sammeln. Je besser Heranwachsende ihre diesbezüglichen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, desto kompetenter werden sie im Umgang mit der Natur. Gärtnern bietet produktiven und kreativen Naturkontakt. Gartenarbeit stellt eine Möglichkeit dar, um Kindern Primärerfahrungen in der Natur zu eröffnen (vgl. Jäkel/ Wittkowske 2022, S. 510 ff.). 4 Beim Gärtnern der Natur begegnen Ein Umgehen mit Natur im Schulgarten trägt zur grundlegenden Bildung bei, indem die ge‐ stalterischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler entwickelt, ihre Erlebnisfähig‐ keit erweitert, soziale Verhaltensweisen erprobt und entwickelt und ihr Selbstwertgefühl gestärkt werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die praktisch-gärtnerischen Tätigkeiten, durch die die Schülerinnen und Schüler systematisch Erfahrungen im Umgang mit Lebewesen, dem Boden und der Gartentechnik erwerben und erleben. Durch die prakti‐ schen Tätigkeiten werden Feinmotorik und Tastsinn sowie die handwerklich-technische Geschicklichkeit entwickelt und gefördert. Gleichzeitig verfeinern die Schülerinnen und Schüler ihre Sinne und ihr ästhetisches Empfinden, staunen und gewinnen Freude im direkten Umgang mit Pflanzen, Tieren und Naturerscheinungen. Besonders im Schulgarten bestehen zahlreiche Gelegenheiten, Erlebnisfähigkeit, Wertbewusstsein sowie Urteils- und Handlungsfähigkeit zu erwerben, zu entfalten und somit Gestaltungskompetenz zu entwickeln: Die Natur, ihre im Schulgarten 119 Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen zugänglichen Objekte und Erscheinungen, Lebens- und Entwicklungsbedingungen, deren Beeinflussbarkeit und die daraus erwachsende Verantwortung des Menschen sind unmittelbarer Gegenstand unterrichtlicher Auseinandersetzungen. Die aus der Begegnung mit der originalen Natur resultierenden Anstöße für das Lernen werden zu Ansätzen ökologischen Verständnisses und der Bereitschaft zum umweltgerechten Handeln. Im Schulgarten, der im Besonderen das Leben und seinen Prozess widerspie‐ gelt, kann in einzigartiger Weise die Ökologisierung von Schule unter der Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung verwirklicht werden. Dieses für alle Fächer gültige Prinzip lässt sich besonders effektiv verwirklichen. Die Schülerinnen und Schüler erfahren und erleben in der eigenen Tätigkeit den Wert und die Notwendigkeit planvoller gemeinsamer und gemeinschaftsbezogener Arbeit in, für und mit der Natur. Der Schulgarten ist offen für methodische Vielfalt und eignet sich besonders für entdeckendes, differenzierendes und projektorientiertes Lernen. Die Aufgabenbereiche eines modernen, zukunftsfähigen Unterrichts konstituieren sich in Bezug auf Inhalte und Verfahren einerseits aus dem Blickwinkel des Kindes, wozu z. B. Fragen, Interessen und Lernbedürfnisse von Kindern im Hinblick auf den jeweiligen Gegenstandsbereich gehören, andererseits als Perspektiven auf die Wissen‐ schaften und das kulturell bedeutsame Wissen, wozu z. B. auch die Vorbereitung späteren fachlichen Lernens durch die Erarbeitung grundlegender Wissensbestände und elementarer Verfahren gehört. Neben dem Aufbau grundlegenden Wissens geht es dabei auch um das Erarbeiten elementarer Methoden, wie z. B. um das Pflegen, Beobachten, Experimentieren, Konstruieren und Beschaffen von Informationen. Die entsprechenden verfahrensorientierten Ziele sind mit inhaltlichen Zielen zu verknüpfen, um Stofffülle zu vermeiden und sinnbezogenes Lernen zu ermöglichen. Unterrichtsaufgabe ist es, die jeweiligen inhaltlichen Themen und Methoden sinnvoll miteinander zu vernetzen, um bereichsübergreifende Zusammenhänge erfassbar zu machen. Wegen der Fülle der inhaltlichen Bezüge sind die Kriterien der Exemplarität, Ergiebigkeit und Zugänglichkeit bei der Bestimmung konkreter Themen von beson‐ derer Bedeutung. Die Ziele des schulischen Umgehens mit Natur werden durch Lernkompetenzen beschrieben. Die Formulierung von Lernkompetenzen präzisiert die Anforderungen an die Kinder als Könnensziele. Daraus folgt für den Unterricht, dass Wissen, Inhalte und Methoden nicht unabhängig voneinander gesehen werden können. Lernfortschritte erweisen sich mithilfe von Anwendungs- und Gestaltungs‐ aufgaben. Sie können durch bloßes Abfragen deklarativen Wissens nicht angemessen ermittelt werden: 4.1 Sozialkompetenz Die praktische Arbeit im Schulgarten bietet hervorragende Voraussetzungen, Arbeits‐ formen wie jahrgangs- und klassenübergreifendes, projektorientiertes oder generati‐ onenübergreifendes Lernen zu entwickeln und zu praktizieren. Sie eignet sich im Besonderen, Schülerinnen und Schüler mit Handicaps in die Lerngemeinschaft zu integrieren. Besonders Gemeinschaftsarbeiten, auch im Zusammenwirken mit anderen 120 Steffen Wittkowske Fächern, regen die Schülerinnen und Schüler an, sich gegenseitig zu helfen und eigene Fähigkeiten in den Dienst der Sache und der Gemeinschaft zu stellen sowie die Leistungen anderer anzuerkennen. Bei der Lösung gärtnerischer bzw. schulgartenbezogener Aufgabenstellungen ko‐ operieren sie miteinander, ordnen sich ein, helfen sich gegenseitig, entwickeln gemein‐ sam Ideen und lernen, sich unterstützend zu korrigieren und mit Kritik umzugehen sowie Regeln und Vereinbarungen bei Gruppenarbeiten einzuhalten. Beim Gestalten von Aufgaben und Präsentieren von gärtnerischen Lösungen entwickeln die Schüle‐ rinnen und Schüler Initiative und Verantwortung für sich und für die Gruppe. 4.2 Selbstkompetenz Die Schülerinnen und Schüler beginnen, sich mit der Natur, ihrer Pflege, ihrer Nutzung und Gestaltung im Schulgarten zunehmend selbstständig, gezielt und kritisch auseinanderzusetzen. Der Unterricht im Schulgarten schafft erste Situationen, in denen die Schülerinnen und Schüler Handlungsfähigkeit entwickeln und sich eigener Wertvorstellungen bewusst werden, dabei können sich vielfältige Interessen entfalten. Mit allen Sinnen erleben die Schülerinnen und Schüler im Schulgarten die Schönheit und Ästhetik der Natur. Sie erfahren vielfältige Zusammenhänge, über die sie staunen können und überwinden mögliche Berührungsängste. Beim Gärtnern lernen sie, verantwortungsvoll mit der Natur und sich selbst umzugehen, Gefahren für sich und andere zu erkennen und zu vermeiden, und können Freude an der Natur entwickeln, damit ihr Selbstwertgefühl stärken und stolz auf das Erreichte sein. Eigenschaften wie Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit, Sparsamkeit, Ausdauer und Anstrengungsbe‐ reitschaft werden ausgeprägt. 4.3 Methodenkompetenz Bei der praktisch-gärtnerischen Tätigkeit üben sich die Schülerinnen und Schüler im Betrachten, Beobachten, Untersuchen und Experimentieren. Dabei erlernen sie das Planen, Recherchieren, Durchführen, Auswerten, Dokumentieren und Präsentieren ihrer Handlungen. Durch geeignete Maßnahmen lernen sie, Natur zu gestalten, zu pflegen und zu schützen. Sie können zunehmend erlernte Arbeitstechniken und -verfahren sachbezogen und situationsgerecht anwenden. Beim Umgehen mit Natur erwerben die Schülerinnen und Schüler die Einsicht in die Notwendigkeit einer sach- und sicherheitsgerechten Durchführung von Arbeitsabläufen und deren stetiger Kontrolle und lernen, Handlungen im Umgang mit Pflanzen und Tiere zu bewerten, ihre Wertungen zu begründen und Konsequenzen abzuleiten. 5 Wege, die zu gehen es sich lohnt: Der gute Schulgarten Wege zu gehen, hin zum guten Schulgarten, dies fällt ein, wenn man sich erinnert. Erinnert an einen besonderen Film, das deutsches Fernsehdrama Die Lehrerin (2011). An dieser Stelle zur besonderen Handlung, zu den exzellenten Darstellerinnen und 121 Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen Darstellern, zur Regiearbeit, zur Musikauswahl etwas zu sagen, können andere viel besser tun. Dies ist ein besonderer Film, der sich einfacher Antworten völlig enthält. Und der dazu beiträgt, sich zu erinnern, wie sich eine Erwachsene den Ängsten von Kindern stellt. Wie sie aus purer Verzweiflung das wohl für einige recht uncoole Projekt der Anlage eines Schulgartens anstößt - schon Martin Luther wollte bekanntlich im Angesicht einer bevorstehenden Apokalypse schnell noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Das mag sinnlos sein, aber es kann trösten. Auch dies kann ein Schulgarten tun, er kann Begegnungen auslösen, berühren und anfassen, aber auch Zuversicht und Mut geben. Sich aufzumachen, anzufangen, zu gestalten und zu pflegen, sich selbst, die Natur, Pflanzen, Tiere und den Boden, auch das kennzeichnet das Umgehen mit Natur im Schulgarten. Abb. 4: Begegnungen auslösen Die darin gemeinsam handelnden Schulgarten-Aktiven - Lernende und Lehrende - sollten sich zu geeigneten Zeitpunkten Gedanken darüber machen, wie sie die Potenziale, die Schulgärten bieten, optimal ausschöpfen können. Dafür geeignet sind einerseits die Planungsphase eines Schulgartens (denn der Wunsch, im Schulgarten bestimmte Qualitätsziele zu erreichen, kann sich durchaus auch auf dessen räumliche Gestaltung auswirken) und dann noch einmal, wenn sich der Schulgarten eingespielt hat und man das Bedürfnis hat, seine eigene Arbeit zu reflektieren und gegebenenfalls etwas zu verändern (vgl. Goldschmidt/ Ohlig 2013, S. 99 f.) 122 Steffen Wittkowske Für das GenerationenSchulGarten-Projekt in Rheinland-Pfalz, das ökologisches und soziales Lernen im Sinne nachhaltiger Entwicklung miteinander verbindet, wurde gemeinsam mit den Schulen eine Qualitätszielkonzeption entwickelt, die illustriert, welche Potenziale Schulgärten - auch über Schule und Unterricht hinaus - bieten können und die es wert sind, Aufmerksamkeit zu erhalten. Qualitätsbereich Allgemeine Ziele Beispiele für Qualitätsziele Partizipation - Beteiligung in möglichst allen Prozessschritten - angepasste Beteiligungs‐ formen - weitgehendes Mitbestim‐ mungsrecht - gleichwertiges Stimmrecht für Schü‐ lerinnen und Schüler - gegebenenfalls getrennte Beteiligung für unterschiedliche Gruppen ( Jun‐ gen und Mädchen, Seniorinnen und Senioren, Eltern, Migrantinnen und Migranten etc.) Ökologie - biologischer Anbau - naturschutzgerechte Ge‐ staltung und Bewirtschaf‐ tung - umwelttechnische Opti‐ mierung - keine Pestizide und synthetischen Dünger - keine torfhaltigen Produkte - Erhaltung von Altbeständen und -strukturen mit hohem ökologischen Wert (Bäume, Trockenmauern etc.) - minimale Bodenbearbeitung, Kom‐ postwirtschaft, Mischkulturen etc. - Anbau samenfester Sorten - Verwendung einheimischer standort‐ typischer Arten bei Ziergehölzen, keine Sorten aus gärtnerischer Ausle‐ sezucht, sondern Wildtypen - vor Ort gesammeltes Niederschlags‐ wasser für die Wasserversorgung - erneuerbare Energien für die Ener‐ gieversorgung Inklusion - Einbeziehung von Senio‐ rinnen und Senioren in die Schulgartenarbeit - Integrationsangebote für benachteiligte Gruppen - seniorengerechte Gartengestaltung, - spezielle Integrationsangebote im Rahmen der Schulgartenarbeit für Migrantinnen und Migranten, kör‐ perlich und/ oder geistig Beeinträch‐ tigte, sozial benachteiligte Familien 123 Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen Bildung - „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ im Schulgar‐ ten - strukturelle Verankerung im Curriculum - Der Schulgarten wird als Lernort ge‐ nutzt für globales Lernen, soziales Lernen, Wertevermittlung. - Service-Learning als Tauschangebot: Seniortrainerinnen und -trainer bie‐ ten Mitarbeit im Schulgarten, Schüle‐ rinnen und Schüler bieten Service für Seniorinnen und Senioren. - Der Unterricht im Schulgarten wird verbindlich in Arbeitsplänen veran‐ kert. - Jede Schülerin bzw. jeder Schüler kommt innerhalb ihrer bzw. seiner Schulzeit kontinuierlich und konsis‐ tent mit dem Schulgarten in Kontakt: in unterschiedlichen Fächern, alters‐ angepasst, aufeinander aufbauend. Vernetzung - intensiver Austausch mit externen Institutionen - gemeinsames Lernen - strukturelle Verankerung der Kooperation - Kooperationen mit Schulen anderer Schulform - gemeinsamer Unterricht, Feste, Fort‐ bildungen, Hospitationen etc. - schriftliche Kooperationsvereinba‐ rung Tab. 1: Qualitätszielkonzeption Schulgarten Jedes Kind braucht zum Leben und Lernen nicht nur seine Schule, sondern auch seinen Schulgarten. Diese Forderung wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft Schulgarten mit ihrem „Cottbuser Appell“ (2015) zur Förderung von Schul- und KITA-Gärten artikuliert. Allerdings: Die öffentliche Anerkennung sowie die volle Unterstützung und finanzielle Förderung von Schul- und KITA-Gärten durch die Träger von Schule und Unterricht wird dem nicht gerecht. 124 Steffen Wittkowske Literaturhinweise Baier, H.; Wittkowske, S. (Hg.) (2001): Ökologisierung des Lernortes Schule. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. Comenius, J. A. (1657/ 2008): Große Didaktik: Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren, hg. und übers. von A. Flitner, 10. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart. Bundesarbeitsgemeinschaft Schulgarten (2015): Cottbuser Appell. Schulgärten fördern die Integration junger Menschen. Online: www.bag-schulgarten.de/ fileadmin/ BAG- Schulgarten/ Texte/ Pressemitteilung_zum_Cottbuser_Appell_MIT_LOGO_28_09_201 5.pdf, letzter Zugriff: 22.02.2022. Elschenbroich, D. (2001): Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. Goldmann, München. Giest, H. (2012): Kategoriale Bildung im Schulgarten - komplexe Lerngegenstände im fächerübergreifenden Unterricht, in: Pütz, N; Wittkowske, S. (Hg.): Schulgarten- und Freilandarbeit. Lernen, studieren und forschen. Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S. 13-39. Giest, H. (2020): Vorlesungen über Didaktik des Sachunterrichts. Ein Beitrag zur Konkre‐ tisierung kultur-historischer Didaktik. Lehmanns Media, Berlin, S. 431-457. Giest, H.; Wittkowske, S. (2022): Heimatkunde in der DDR, in: Kahlert, J.; Fölling-Albers, M.; Götz, M.; Hartinger, A.; Miller, S.; Wittkowske, S. (Hg.): Handbuch Didaktik des Sachunterrichts, 3., durchges. und aktual. Aufl. utb, Stuttgart/ Bad Heilbrunn, S. 220- 228. Goldschmidt, B.; Ohlig, E. (2013): Der gute Schulgarten, in: Pädagogisches Landesinstitut Rheinland-Pfalz (Hg.): Praxisratgeber Schulgarten. Bildung für nachhaltige Entwicklung. PL-Information 3/ 2013, Bad Kreuznach, S. 99 f. Online: nachhaltigkeit.bildungrp.de/ fileadmin/ user_upload/ nachhaltigkeit.bildung-rp.de/ Schulgarten/ PL_INFO_Pra xisratgeber_Schulgarten.pdf, letzter Zugriff: 22.02.2022. Jäkel, L. (2021): Faszination der Vielfalt des Lebendigen. Didaktik des Draußen-Lernens. Springer, Heidelberg. Jäkel, L..; Wittkowske, S. (2022): Schulgarten, in: Kahlert, J.; Fölling-Albers, M.; Götz, M.; Hartinger, A.; Miller, S.; Wittkowske, S. (Hg.): Handbuch Didaktik des Sachunterrichts, 3., durchges. und aktual. Aufl. utb, Stuttgart/ Bad Heilbrunn, S. 510-515. Kleber, E. W.; Kleber, G. (1994): Handbuch Schulgarten. Beltz, Weinheim/ Basel. Walder, F. (2002): Der Schulgarten in seiner Bedeutung für Unterricht und Erziehung. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. Winkel, G. (Hg.) (1997): Das Schulgarten-Handbuch. Kallmeyer, Seelze. 125 Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen Wittkowske, S. (1996): Sachunterricht und Schulgartenarbeit. Ein nicht nur historischer Exkurs zu Entwicklungen in der DDR, in: Glumpler, E.; Wittkowske, S. (Hg.): Sachun‐ terricht heute. Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S. 98-115. Wittkowske, S. (2012): Der Schulgarten - ein idealer Ort für nachhaltiges Lernen. Mehr als ein Plädoyer für die Ökologisierung von Schule. In: Grundschulunterricht 3(59), S. 4-7. 126 Steffen Wittkowske 1 ICOMOS-IFLA/ International Council on Monuments and Sites - International Federation of Lands‐ cape Architects. Die deutsche Fassung erfolgte erstmals 1985 und wurde im selben Jahr in Band 43 der Zeitschrift Deutsche Kunst und Denkmalpflege veröffentlicht. Historische Gärten als Lernorte Bildungs- und Vermittlungsangebote für Gartendenkmale Inken Formann und Bianca Limburg 1 Einführung 1981 wurde in der Charta von Florenz (Charta der historischen Gärten) festgehalten, dass das Interesse für historische Gärten durch alle Maßnahmen gefördert werden muss, die geeignet sind, das historische Erbe zur Geltung zu bringen und zu dessen besserer Würdigung zu verhelfen (vgl. ICOMOS-IFLA 1 1982, S. 146-148). Dies bedeutet, dass historische Gärten Angebote brauchen, in denen die Qualitäten der Gärten erläutert werden. Oft stehen dabei tourismusfördernde Maßnahmen und unterhaltungsorien‐ tierte Veranstaltungsangebote im Vordergrund. In letzter Zeit liegt der Fokus zu Recht zudem auf einer die sozialen Medien einbeziehenden Öffentlichkeitsarbeit und auf professionellem Marketing, um ein Bewusstsein für die vielfältigen Qualitäten der Gartenkunst zu schaffen. Notwendig ist es aber auch, die Gärten als Lernorte zu nutzen. Insbesondere für das Erreichen der globalen Nachhaltigkeitsziele im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) können Gärten, darunter auch historische Gärten und Parks, wichtige gesellschaftliche Beiträge leisten (vgl. Rohde 2020, S. 34; Schmidt 2020, S. 229). Historische Gärten und Parks sind nämlich nicht nur touristische Ziele, schöne Kulissen, Kunstwerke und angenehme Aufenthaltsorte. Mit ihrer abwechslungsreichen Gestaltung und ihrer vielschichtigen Historie können sie spezifische Bildungsinhalte im Sinne des lebenslangen Lernens für alle Altersklassen einbringen. Als Anschauung‐ 2 Wir danken Katharina Saul (Staatliche Schlösser und Gärten Hessen) und Dr. Hermann Schefers (UNESCO-Welterbestätte Kloster Lorsch) für wertvolle Anregungen. sorte einer jahrhundertealten gärtnerischen, nachhaltigen Nutzung durch den Men‐ schen spielen sie auch vor dem Hintergrund der nötigen gesellschaftlichen Verände‐ rungen im Zuge des menschengemachten Klimawandels für die Erwachsenenbildung und damit für die aktuelle Generation im Kontext von Umweltentscheidungen eine Rolle. Potenzial birgt ebenso der Bereich der (früh-)kindlichen Bildung. Der Wert eines häufigen Aufenthalts in Gärten, in dem positive Erfahrungen gemacht werden, die ein Leben lang nachwirken, darf nicht unterschätzt werden. Kinder sollten bereits im Kindergartenalter an Gärten herangeführt werden, zumal nicht alle Zugang zu einem Hausgarten, in dem Kräuter, Obst, Gemüse und Zierpflanzen angebaut werden, haben. Unter anderem können dies Schulgärten leisten. Sie werden aber nur selten tatsächlich angeboten - sei es aus räumlichen oder finanziellen Gründen oder weil Wissen, Zeit oder Verantwortliche fehlen. Daher ist zu fragen, ob nicht auch historische Gärten, die oft die einzigen Grünflächen in eng bebauten Gebieten sind, denkmalgerechte Lösungen bieten, um Umweltbildung - kombiniert mit Kunst, Geschichte und vielen weiteren Fächern - anzubieten. Im Folgenden wird zusammengestellt, woraus sich die Bildungsinhalte in histori‐ schen Gärten ableiten. Auch werden gelungene Angebote vorgestellt, Vorschläge zur Umsetzung gemacht und potenzielle Kooperationspartner aufgezeigt. 2 2 Wie entstehen Bildungsinhalte für historische Gärten? Historische Gärten unterscheiden sich hinsichtlich der Bildungsinhalte sowohl von Museen und Kunsthallen als auch von Wäldern, Nationalparks oder Naturschutzge‐ bieten. Sie bieten eigene Möglichkeiten, Wissen und Kompetenzen zu erwerben und haben einen unabhängig von Schulen wahrzunehmenden Bildungsauftrag. Die Bildungsinhalte sind für jede Anlage individuell zu identifizieren. Dazu ist Anlagen‐ forschung zu betreiben: Das bedeutet, dass zunächst eine intensive, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Park oder Garten, seinem Bestand und den überlieferten geschichtlichen Quellen erfolgen muss. Unterbleibt dies, läuft man Gefahr, Klischees zu wiederholen. Es reicht dabei nicht, die Anlagen nur hinsichtlich ihres Aussehens, der begehbaren Raumbilder, zu analysieren. Es muss vielmehr sehr stark wissenschaftlich und interdisziplinär gedacht werden. Die vielfältigen Fragen, die die Gärten aufwerfen, müssen durchdrungen und beantwortet werden. Dieser Denkmaldialog ist zunächst einzeln in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Bestand und den überlieferten Quellen zu führen. Nur so können Antworten auf die Frage ‚Was erzählt dieser Garten? ‘ gefunden werden. Hierzu braucht es qualifiziertes Personal, Zeit und Grundlagenlite‐ ratur. Bisher wurden die Beiträge, wie historische Gärten Bildung leisten können, nur ansatzweise definiert. Auch hat die Gartendenkmalpflege die Entwicklung von Bil‐ 128 Inken Formann und Bianca Limburg 3 Grundlagenliteratur (aber sämtlich nur noch antiquarisch erhältlich): Hennebo, D. (1985): Garten‐ denkmalpflege. Grundlagen der Erhaltung historischer Gärten und Grünanlagen. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart. Ähnlich: Rohde, M. (Hg.) (2008): Pflege historischer Gärten. Theorie und Praxis. Edition Leipzig, Leipzig; Rohde, M., Schomann, R. (2004): Historische Gärten heute, Edition Leipzig. Leipzig; Erika Schmidt, E.: de Jong, E. A. (Hg.) (2006): Der Garten - ein Ort des Wandels. Perspektiven für die Denkmalpflege. vdf-Hochschulverlag, Zürich. In Vorbereitung: Rolka, C., Volkmann, T. (Hg.): Handbuch Gartendenkmalpflege, Ulmer Verlag, Stuttgart. dungsangeboten bisher nur selten für sich beansprucht. Meist ist die Bewahrungspraxis mit Anlageforschung gegenüber der Vermittlung prioritär. Desiderate bestehen zu vielen Aspekten: Die Fachgruppe Gärten der Arbeitsgemeinschaft (AG) Deutsche Schlösserverwaltungen hat etwa zur Frage der Notwendigkeit von Wissenschaft und Forschung für Gartendenkmale erst jüngst ein Positionspapier veröffentlicht, in dem komplexe Fragestellungen und Themenfelder der staatlichen Gartendenkmalpflege in den Schlösserverwaltungen zusammengestellt werden und die Forderung nach gut ausgebildeten Gartenkonservatorinnen und -konservatoren, auch durch Verstärkung der wissenschaftlichen Ausbildung an den Hochschulen, formuliert werden (vgl. Fachgruppe Gärten der AG Schlösserverwaltung 2019). Erschwerend für das Erfassen der Gartenthemen kommt hinzu, dass viele wichtigen Grundlagenwerke zur Geschichte der Gartenkunst nicht in allgemeinverständlicher Sprache, digital abrufbar oder als laufend aktualisierte Forschungsdatenbanken vorlie‐ gen: Eine umfassende digitale Einführungsgeschichte zu Gehölzen existiert genauso wenig (vgl. Wimmer 2014, S. 11) wie fortlaufend aktualisierte Lehrbücher zu anwen‐ dungsorientierten Fragen zu Praxis und Techniken der Gartendenkmalpflege. 3 Auch der Versuch, eine von den Anfängen bis in die Gegenwart reichende Geschichte der Gartenkunst in leichter Sprache gezielt für Kinder und Jugendliche zu verfassen, wurde erst 2020 unternommen (vgl. Formann 2020, S. 5). Die Bildungsinhalte für historische Gärten leiten sich aus dem jeweiligen Bestand vor Ort ab - kombiniert mit der Möglichkeit des Einnehmens der historischen Perspek‐ tive. Dies betrifft u. a. die vorhandene und einstig vorhandene Vegetation: historische und teils vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten, darunter Bäume, Gehölze, Obst und Gemüse, Heil- und Gewürzkräuter, Wiesengesellschaften, Kübel- und Gewächs‐ hauspflanzen sowie Raritätensammlungen. Das Themenspektrum reicht hier von der Sammlungs- und Einführungsgeschichte der Pflanzen, ihrer natürlichen Verbrei‐ tung, der Bedeutung der Pflanzen für Biodiversität und Ökosystem über den Aufbau und die Botanik bis hin zur Bedeutung in der individuellen Gartengestaltung, ihrer Verwendung oder Symbolik. Weiter liefert der vorhandene und einstig vorhandene bauliche Bestand Anknüpfungspunkte zu den zugehörigen Schloss-, Burg-, Villen- oder Klostergebäuden mit allen zugehörigen Nebenbauten wie Mühlen, Wasserwerken, Brücken und Parkarchitekturen sowie Innenräumen wie Küchen, Apotheken oder Orangerien. Anknüpfungspunkte für Bildungsangebote bieten auch aktuelle und einstige Nut‐ zungen, soziale/ gesellschaftliche (Be-)Deutungen sowie Rezeptionen der Anlagen, genauso wie die vor Ort erforschbaren natürlichen Grundelemente Boden, Wasser, Luft 129 Historische Gärten als Lernorte 4 Für weitere Informationen und Recherchen: www.unesco.de/ kultur-und-natur/ welterbe/ welterbe-d eutschland/ gartenreich-dessau-woerlitz (letzter Zugriff: 30.10.2021). 5 Für weitere Informationen und Recherchen: www.hannover.de/ Herrenhausen/ Herrenh%C3%A4use r-G%C3%A4rten (letzter Zugriff: 30.10.2021). und die im Garten lebende Fauna. Ferner können die Anlagen und ihre Bestandteile in Beziehung zu typologisch ähnlichen Objekten und ihrer städtebaulichen Umgebung gesetzt werden. Ob nun Bildungsinhalte aus Kindergärten und Schule praxisnah im historischen Garten dargeboten werden oder eigene, nur in einer spezifischen Anlage mögliche Programme im Fokus stehen werden: Die Erkenntnis des Wissensgewinns, verknüpft mit einem erlebnisbasierten, positiv besetzten Aufenthalt im Garten, dürfte das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Erhaltung schärfen und zur respektvollen, bestandschonenden Nutzung der grünen Paradiese beitragen. Die Besonderheit historischer Gärten ist, dass ihre Gehölze - anders als Möbel, Bauwerke oder Fossilien - lebendige Fäden in die Vergangenheit herstellen. Auch aus den Jahresringen von Bäumen kann man allerlei Erkenntnisse gewinnen, die ansonsten verloren wären. Ferner sind die Gärten selbst lebendig: Sowohl im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten als auch im Fortschreiten der Zeit allgemein lassen sich immer wieder neue Aspekte erleben. Kein Gartenbesuch gleicht daher dem anderen. Die Gärten sind oft Teil eines baulichen Ensembles, für das schon früher die Bedeutung qualitätsvoller Vermittlung erkannt und in Führungen, Workshops und an‐ deren Angeboten sowie mit einem eigenen museumspädagogischen Personalbestand vermittelt wurde. In vielen Landschaftsgärten, wie etwa das UNESCO-Weltkulturerbe Gartenreich Dessau-Wörlitz 4 oder der barocke Große Garten Hannover-Herrenhau‐ sen 5 , haben sich bereits stark auf die Gärten bezogene Vermittlungsangebote etabliert. Gärten sind oft niedrigschwelliger zu betreten als museale Innenräume. Man passiert die künstlerisch gestalteten, dreidimensionalen und sinnlich erfahrbaren Bildräume en passant, während man etwa einen Hund ausführt oder täglich zur Arbeit spaziert. Ein weiterer Vorteil von Gärten ist, dass sie Kommunikationsorte sind, die Zusammen‐ künfte fördern und durch die deutlich sichtbare Kulturleistung Menschen Sicherheit geben. Neben allen von den Trägerinstitutionen gesteuerten Angeboten, die eine aktive Bereitschaft der Teilnahme der Adressatinnen und Adressaten voraussetzen, ist auch die Möglichkeit des ‚Lernens-im-Vorbeigehen‘ nicht zu unterschätzen. Reize und Lernerfahrungen können auch unterschwellig aufgenommen werden. Hier braucht es keinen denkmalunverträglichen Informationsschilderwald: Die im Garten arbeitenden Gärtnerinnen und Gärtner wecken auch während des Bepflanzens von Beeten den Impuls, wie wichtig und vielschichtig der Umgang mit Vegetation sein kann. In historischen Gärten kann nicht nur ein weites Wissensspektrum über die Na‐ turwissenschaften, Kunst und Kultur bis hin zu Themen der Geschichts- und Geistes‐ wissenschaften erklärt werden. Gärten eignen sich auch hervorragend zum Design- und Systemdenken bzw. dem in der Montessoripädagogik bekannten ‚kosmischen Denken‘. Das bedeutet, dass hier viele komplexe, teils sehr theoretische Themen 130 Inken Formann und Bianca Limburg 6 Für weitere Informationen und Recherchen zum Umgang mit Zeit siehe: www.haus-der-kleinen -forscher.de/ fileadmin/ Redaktion/ 1_Forschen/ Themen-Broschueren/ Broschuere-Zeit_2013_akt.pdf (letzter Zugriff: 30.10.2021). (oder Schulfächer) miteinander in Verbindung gebracht und in der Praxis angewandt werden können. Man kann etwa Pflanzen selbst aussäen (Biologie), dann durch tägliches Ausmessen die Daten erheben, wie viel sie pro Tag wachsen, und daraus eine mathematische Kurve zeichnen (Mathematik), schließlich die Blüten untersuchen oder Früchte ernten und weiterverarbeiten. Auch besteht die Möglichkeit der aktiven, sehr praktischen Teilhabe, indem eigene gärtnerische Erfahrungen gesammelt, Produkte aus dem Garten weiterverarbeitet oder Gefühle und alle Sinne angesprochen werden. Ein Lernaspekt ist hier das Erkennen der Selbstwirksamkeit (die Erkenntnis, dass ein Mensch durch sein Handeln etwas bewirken kann und auch in schwierigen, nicht vorhersehbaren Prozessen handeln kann). Dies betrifft selbst initiierte positive Erfahrungen - etwa, wenn eine ausgesäte Pflanze beginnt, Früchte zu tragen - genauso wie die im Garten nötige Fähigkeit, mit Wetterereignissen umzugehen. In Küchengärten etwa kann man das Scheitern lernen, wenn alle Radieschen weggefressen werden oder ein Starkregen das Beet verhagelt. Gleichzeitig lernt man auch Geduld, weil die Ernte nicht auf digitalen Knopfdruck eintritt. Gärtnern trägt damit zur psychischen Resilienz bei, hilft genauso, im Kontakt mit der Erde, Abstand vom hektischen Alltag zu gewinnen. Geschichtsvermittlung kann eine besondere Beziehung vom Menschen zum Garten herstellen, über aktive Teilhabe, aber auch über eine emotionale, die Sinne anregende Ansprache. Gerade im Kontext der Vermittlung von Geschichte ist dieser Aspekt interessant, da der Blick auf die Erfahrungen in Hochwie in Krisenzeiten verschiedene Perspektiven vor Augen führt. Der Blick in die Geschichte zeigt auf, dass die Menschen der Vergangenheit bereits mit ähnlichen Themen und Sorgen wie die Menschen von heute konfrontiert waren. Er weitet die Umwelt- und Selbstwahrnehmung. Das Vergleichen von Barockgärten und Landschaftsgärten als zwei sehr gegensätzlichen Gartenidealen etwa zeigt deutlich, wie unterschiedlich Menschen die Gesellschaft geprägt und sich ihre Zukunft vorgestellt haben. Da ein Garten sich oft erst nach mehreren Jahrzehnten so präsentiert, wie sich ihn seine Erschaffer und Schöpferinnen vorgestellt haben, ist er immer eine gepflanzte Zukunftsvision. In ihm liegt stets auch eine Hoffnung auf ein Morgen. Eine Zukunft, die aus den Fehlern und Herausforde‐ rungen der Vergangenheit lernt und sich lernend weiterentwickelt, gibt es nur, wenn die Geschichte über die Generationen bewahrt und weitergetragen wird. Bei historischen Gärten kommen gegenüber Schulgärten, in denen auch viele Fähigkeiten erworben werden können, der Zeitfaktor 6 , die Wirkungskraft der Vergan‐ genheit, hinzu: Das Rückblicken anhand von Baumgiganten, die seit Jahrhunderten an einem Fleck stehen und mehrere Generationen kommen und gehen gesehen haben, kann auch Respekt vermitteln, Abstand zu alltäglichen Problemen schaffen und dazu beitragen, eine umfassendere Weltsicht, statt einer Ich-Perspektive, einzunehmen. 131 Historische Gärten als Lernorte Die besondere Herausforderung ist es, Kinder für das kulturelle Erbe zu sensibili‐ sieren. Statt lange zuzuhören, zu laufen und Raumbilder anzuschauen, kann dies im Garten zusätzlich heißen: selber machen, forschen und Teil der lebendigen Geschichte werden. Auch die Erwachsenenbildung ist ernst zu nehmen. Gärten können Menschen jeden Alters begeistern - wenn es gelingt, ihre Inhalte adressatengerecht aufzubereiten. 2.1 Konkrete Bildungsthemen für historische Gärten am Beispiel der ehemaligen Benediktinerabtei Seligenstadt Hier setzt die Vermittlungsreihe „Wissen wächst im Garten“ der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen in der ehemaligen Benediktinerabtei Seligenstadt an. Die um das Jahr 830 gegründete Klosteranlage bietet mit ihren Gebäuden, ihrer wiederhergestellten Mühle, dem Apotheker- und Konventgarten mit seinen Zier- und Nutzpflanzen, der Orangerie mit großem Zitrusbestand, einem Ananashaus, einem Klosterhof mit altem Baumbestand sowie den zahlreichen auf dem Klostergelände lebenden Nutztieren (Schafe, Hühner, Tauben und Bienen) vielfältige Anknüpfungs‐ punkte für Bildungsangebote. Mit den richtigen Fragestellungen wird aus der über 1.000-jährigen Klosteranlage ein einzigartiger Ort, um sowohl historische und ökolo‐ gische als auch politische sowie soziale Fragen zu thematisieren, die sich in die Ziele der BNE einordnen. Die Vermittlungsreihe „Wissen wächst im Garten“, die sich vorwiegend an Kinder und Jugendliche richtet, legt dabei nicht nur Wert auf den Bezug zur Geschichte der Anlage, sondern auch auf einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Teilnehmenden. Im Mittelpunkt jeder Veranstaltung steht das aktive Erleben und Entdecken. Kinder und Jugendliche werden dabei zu Gartenforscherinnen und Gartenforschern oder Gartenkünstlerinnen und Gartenkünstlern. Mit all ihren Sinnen erkunden sie die Gärten des Klosters. Spähend, lauschend, tastend, riechend und schmeckend entdecken sie deren Vielfalt und setzen sich anschließend kreativ mit den Erkenntnissen und gewonnenen Sinneseindrücken auseinander. In einer wöchentlichen Umwelt-Werkstatt erforschen die Kinder und Jugendlichen beobachtend und experimentierend ausgewählte Umweltthemen. Dabei wird bewusst darauf verzichtet, den Forschenden vorgefertigte Antworten auf die gestellten Fragen zu liefern. Stattdessen erschließen sich die Kinder und Jugendlichen durch gemeinsame Gespräche, Beobachtungen und Experimente selbst die Antworten auf Fragen wie: Was machen Bienen im Winter? Wie viel Leben steckt im Erdboden? Gibt es Klimawandel auch bei uns? Auf spielerische Weise erweitern und vertiefen sie so ihr Naturverständ‐ nis und ihr Wissen über die Welt, in der sie leben. Gleichzeitig gewinnen sie dabei auch Eindrücke von der Geschichte und Lebenswelt des Klosters. Ganz nebenbei wird das Selbstvertrauen der Kinder und das Vertrauen in die eigene Problemlösekompetenz gestärkt. Im Konventgarten des Klosters können sie sich mit nachhaltiger Ernährung und dem Anbau von Nahrungsmitteln befassen. Wie wachsen Obst- und Gemüsesorten? Warum braucht die Natur Bienen? Wie fühlt sich Lehmboden an? Kann Erdboden 132 Inken Formann und Bianca Limburg kaputtgehen? Warum ist Vielfalt wichtig? Welche historischen Sorten wachsen hier und was unterscheidet sie von denen, die im Supermarkt verkauft werden? Der Apothekergarten bietet vielfältige Gesprächsthemen rund um Heilpflanzen und Medizin. Welche Bedeutung haben Pflanzen in der heutigen Medizin? Braucht man Heilpflanzen überhaupt noch? Warum stellt die Abholzung des tropischen Regenwal‐ des nicht nur eine Gefahr für unser Klima dar? Wie gehen wir mit Krankheiten und kranken Menschen um? Anhand der Mühle und des Brunnens kann beispielsweise der einstige sowie der heutige Umgang mit der kostbaren Ressource ‚Wasser‘ thematisiert werden. Wozu nutzten die Menschen das Wasser früher? Welche Bedeutung hat eine Versorgung mit sauberem Wasser für die Hygiene und Gesundheit der Menschen? Der alte Baumbestand der Klosteranlage kann dazu dienen, Kindern und Jugendli‐ chen das Phänomen ‚Zeit‘ näherzubringen. An ihnen lässt sich nicht nur der Wechsel der Jahreszeiten beobachten. Die Bäume sind zum Teil Zeugnisse längst vergangener Epochen. An ihnen können historische Ereignisse veranschaulicht werden. Kinder können sich aber auch mit dem Aufbau und der Funktionsweise der Bäume befassen. Die Baumentdeckerinnen und -entdecker im Seligenstädter Kloster (→ Abb. 1) betrach‐ ten, ertasten, vermessen und zeichnen die Bäume und bilden damit ihre individuelle Naturerfahrung und Wertschätzung der Baumindividuen. Abb. 1: Baumentdeckungen im Klosterhof Seligenstadt 133 Historische Gärten als Lernorte 7 Vgl. diverse Beiträge in: Rohde/ Schmidt 2020. 8 Siehe hierzu: Stiftung Kunst und Natur gGmbH, kunst-und-natur.de/ (letzter Zugriff: 30.10.2021). Die Orangerie und die exotische Pflanzensammlung des Klosters bieten die Möglich‐ keit, sich mit der ursprünglichen Herkunft von Pflanzen und Nahrungsmitteln zu befassen und einen Brückenschlag zu den Themen ‚Globalisierung‘ oder ‚Migration‘ zu schlagen. Kinder und Jugendliche können so lernen, Migration und Vielfalt als Bereicherung zu begreifen. Die Orangerie kann aber auch Anknüpfungspunkt für Themen wie technische Innovation und Wissenstransfer, barocke Gartenkunst und die griechische Mythologie sein. Schulführungen und Workshops, die den Wandel der Klosteranlage und ihrer Gärten betonen und die historischen Gartenanlagen als etwas Lebendiges, von der Natur wie von der Gesellschaft Geprägtes und damit stets Veränderliches präsentieren, können dazu beitragen, dass die Jugendlichen ihre Gestaltungsmacht erkennen und sich gleichzeitig ihrer eigenen Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen bewusst werden. Digitale Vermittlungsformen, wie interaktive Garten-Rallyes, ergänzen die kulturel‐ len Bildungsangebote der ehemaligen Benediktinerabtei Seligenstadt und bieten den Besuchenden einen niederschwelligen und jederzeit verfügbaren Zugang. 2.2 Welche Beispiele aus der Arbeit rund um historische Gärten stiften Zukunft? „Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.” (Konfuzius) Es gibt bereits viele spannende Ansätze, das Potenzial von historischen Gärten zu präsentieren, sie auch als Lernorte zu nutzen (vgl. Rhode/ Schmidt 2020, S. 58 ff. u. 315 ff.). 7 Spannende Bildungsprojekte sind u. a. jene, die das klassische Führen durch die Anlagen mit Teilhabe- und Aushandlungsprozessen ersetzen, d. h., offene Fragen stellen und das Lernen durch Forschen, Experimentieren, Aneignen und eigene Erfahrungen fördern. Besonders wirksam sind auch Angebote, die einen wiederholten Gartenbesuch möglich machen - sodass man nicht im erstmaligen Kennenlernen des Gartens verbleibt, sondern die verschiedensten Themen vertiefen kann. Im Rahmen eines Kulturjahres besuchen Grundschulklassen zusammen mit dem Sinclair-Haus in Bad Homburg v. d. Höhe (Stiftung Kunst und Natur) jede Woche für zwei Stunden das Museum und/ oder den Schlosspark Bad Homburg. 8 Mehrere Kulturpädagoginnen und -pädagogen betreuen zusammen mit einem großen Netzwerk von Künstlerinnen und Künstlern die Klassen in Kleingruppen zusammen mit den Lehrenden. Hier werden mehr Fragen gestellt als Antworten vorgegeben, etwa: Was ist Natur für dich? Sind alle Tiere gleich viel wert? Oder: Wie schmeckt der Garten? Denkanregungen laden zur eigenen Meinungsbildung ein. Aus den in den Wechsel‐ 134 Inken Formann und Bianca Limburg 9 Siehe hierzu: www.meriangaerten.ch (letzter Zugriff: 31.10.2021). ausstellungen gezeigten Exponaten und den unterschiedlichen Gartenpartien werden kreative Prozesse generiert. Oft werden dabei die Sinneswahrnehmungen einbezogen: Insektengeräusche werden etwa mit dem Mikrofon aufgenommen; zusammen mit Musikern entstehen daraus Sinfonien. Balletttanzende interpretieren mit den Jugend‐ lichen spielerisch Stimmungen im Garten, die wiederum in Gedichte und literarische Texte umgesetzt werden. In der Orangerie im Schlosspark entstehen aus vor Ort gesammelten Naturmaterialien schwebende Kunstwerke und Collagen, die im Rahmen einer Finissage am Ende des Kulturjahres den Eltern präsentiert werden. „Gartenspäher“ im Schlossgarten Schwetzingen war ein Pilotprojekt von Schulen, Universitäten, insbesondere der Studienrichtungen Kunst und Kunstgeschichte der TU Dortmund, musikwissenschaftlichen Fakultäten sowie den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg, bei dem in zwei Jahren 110 Jugendliche zu Gartenspäherin‐ nen und Gartenspähern ausgebildet wurden (vgl. Kreutchen/ Welzel 2019, S. 10). Sie haben sich dabei lesend, schreibend, zeichnend, musikmachend und mit anderen Sichtweisen dem Garten genähert. Wie bei der Erkundung einer Großstadt erleben die Jugendlichen das Gartenkunstwerk: als Flaneurinnen und Flaneure, über das Lesen von Karten, das Suchen von Beschreibungen, das Aufsaugen der Atmosphäre, das Schweifen-Lassen der Blicke, das Sich-Zeit-Nehmen, das Erspüren und Wirken-Lassen von Geschichten - und darüber, den Garten etwas mit sich machen zu lassen, eine Erfahrung zu machen und diese Erfahrung zu teilen. Es sind hier auch Modelle erprobt worden, die nicht darauf beruhen, dass eine Schlösserverwaltung Gästeführerinnen und Gästeführer bezahlt. Stattdessen haben sich Lehramtsstudierende mit den Schülerinnen und Schülern als angehende Lehrkräfte praktisch erprobt. Es war also nicht nur ein Vermittlungsprojekt, sondern zugleich auch für (Hoch-)Schulen ein Bildungsprojekt. Bemerkenswert ist auch die Bildungsarbeit der Merian Gärten in Basel 9 , die prak‐ tische Naturerfahrungsangebote für Kindergärten und Schulklassen anbieten. Die Kinder übernehmen selbst Verantwortung und lernen etwa in einem Landwirtschafts‐ projekt, was es braucht, damit Gemüse gut wächst, und wie Nutztiere gehalten werden. Ganz nebenbei üben sie sich im Säen, Jäten, Umgraben, im richtigen Gießen, Ernten u. v. m. In direktem Kontakt mit Pflanzen, Tieren und dem Erdreich machen Kinder elementare Naturerfahrungen. Genauso wie in Parkseminaren (vgl. Wecke 2019, S. 88- 93) werden die Schülerinnen und Schüler auch für die praktische Erhaltung der Anlage eingesetzt: Die regelmäßig in Stand zu setzenden, traditionellen Uferverbauungen des im Garten befindlichen Flusses werden jedes Jahr als Arbeitswoche mit einer Schulklasse erneuert. Das ist eine Gelegenheit für die Jugendlichen, das Klassenzimmer zu verlassen und draußen aktiv zu sein, aber auch Erfahrungen in Teamarbeit und Handwerk zu sammeln. Schon diese nur beispielhaft genannten, erfolgreichen Projekte zeigen, wie vielfältig die Annäherungen und Gartennutzungen sein können, auch dass nicht die Museen oder Naturschutz-Bildungszentren in ihrer Bildungsarbeit kopiert werden müssen. Im 135 Historische Gärten als Lernorte 10 Siehe hierzu: ‚Denkmal Europa‘, ein Projekt der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger (VDL). Online: denkmal-europa.de/ de_uebersicht/ (letzter Zugriff: 31.10.2021). 11 S. hierzu: www.haus-der-kleinen-forscher.de/ (letzter Zugriff: 31.10.2021). Abb. 2: Der Farbkasten der Natur im Eierkarton historischen Garten braucht es Angebote, die denkmalgerecht, d. h. zerstörungsfrei, stattfinden. Es geht beispielsweise nicht darum, Bienenhotels zu basteln und aufzustel‐ len, sondern vorhandene ökologische Nischen wie Trockenmauern oder Baumrinden zu nutzen, an denen der Lebensraum für Insekten beobachtet und gefördert wird. Es geht nicht darum, Kunst im Garten aufzustellen, sondern Kunst zu machen, die nur in diesem einen Garten entstehen kann. Entwicklungsmöglichkeiten bestehen auch hinsichtlich der Qualität digitaler Angebote. Einen sowohl gestalterisch wie auch inhaltlich überzeugenden An‐ satz und einen umfangreichen Metho‐ den- und Inspirationsschatz mit Wis‐ sensbausteinen und Impulsen für Kinder im Vorschulalter bis hin zu Jugendlichen in der Mittelstufe bietet das Projekt „Denkmal Europa“. 10 Die digitale Platt‐ form, auf Initiative der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger (VDL) ins Leben gerufen, richtet sich an alle, „die Denkmäler und ihre Botschaften in Bildungsprozessen nutzen möchten. Also für Vertreterinnen und Vertreter aus Kultur-, Heimat-, Glaubens- und Demokratievermittlung, sowie offener Kinder und Jugendarbeit, Schule und Kindergarten, aber auch für Eltern und Großeltern“ (VDL o. J.). Auch das „Haus der kleinen Forscher“, Projekte der gleichnamigen, gemeinnützigen Stiftung, bietet wertvolle Anregungen. 11 2.3 ‚Gesundheitliche Nebenwirkungen‘ Wissensgewinn, Erleben und Erfahrungen unter Einsatz des gesamten Körpers werden kombiniert mit gesundheitlichen Aspekten, die durch den Aufenthalt in einer von Pflanzen bestimmten Natur gefördert werden. Dies ist ein weiterer Mehrwert gegen‐ über dem Aufenthalt in Innenräumen. Forschungen zum Mehrwert von Gärten liegen etwa aus der Arbeitsgruppe „Gärten und Medizin“ der Deutschen Gartenbaugesellschaft 1822 e. V. vor. Auch existieren mit Gärten vergleichbare Forschungen unter dem Fokus (Park-)Wald, etwa zum Trend ‚Waldbaden‘. Schon ein 20bis 30-minütiger Aufenthalt im Wald kann das Stresshormon Cortisol deutlich senken (vgl. Hunter et. al 2019, S. 5) Dauerhaft erhöhte Cortisolwerte begünstigen z. B. Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen. Waldspaziergänge steigern unser Selbstwertgefühl. Am deutlichs‐ 136 Inken Formann und Bianca Limburg 12 Siehe hierzu auch das DGGL-Themenbuch Garten und Gesundheit. Online unter: www.dggl.org/ file admin/ media/ pdf/ dggl_jahrbuch_2008.pdf (letzter Zugriff: 31.10.2021). ten spüren dies junge Menschen oder Menschen mit psychischen Krankheiten. Ist zusätzlich ein Bach oder See in der Nähe, verstärkt dies die positive Wirkung auf die Psyche (vgl. Barton/ Patty 2010, S. 3946-3955) Zudem entlastet der Aufenthalt in der Natur die Atemwege, da Waldluft bis zu 99 % weniger Staubteilchen als Großstadtluft enthält. ‚Waldbaden‘ stärkt zudem das Immunsystem, weil der menschliche Körper bei Aufenthalten in geschlossenen Baumbeständen mehr körpereigene Killerzellen produziert, die Krankheitserreger und potenzielle Tumorzellen bekämpfen (vgl. Li 2010, S. 9-17) Diesen Effekt verdanken wir Terpenoiden, den Botenstoffen, über die Bäume - auch in großen Gärten und Parks - miteinander kommunizieren und sich z. B. vor Schädlingen warnen. Schließlich bieten Parkspaziergänge Ruhe. Statt rund 65 Dezibel Straßenlärm, erzeugt Blätterrauschen nur etwa zehn Dezibel. 12 Schon in der Gartenordung des Großen Gartens Herrenhausen aus dem Jahr 1777 heißt es, dass es jedermann erlaubt sei, „sich im Königl. Garten eine Veränderung zu machen“ (Hartig 2014). Diese Veränderung - so heißt es auch in Theorien des Land‐ schaftsgartens: eine Lernerfahrung, eine Bewusstseinsveränderung - ist ganzheitlich zu sehen und in den Diensten der BNE einzusetzen. Inhaltlich und qualitativ hochwertig durchgeführte Bildungs- und Vermittlungsan‐ gebote in historischen Gärten können zu einer Gesellschaft beitragen, die im Einver‐ nehmen mit ihren natürlichen und kulturellen Grundlagen lebt und die, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und eigenen Beobachtungen, mit Verantwortungs‐ bewusstsein und Respekt handelt. Kunst und Natur geben entscheidende Impulse für die Gestaltung einer solchen Gesellschaft. 2.4 Welche Formate von Vermittlung und Partizipation sind im Sinne gemeinsamer Zukunftsprojekte erfolgversprechend? Welche Formate für die Vermittlung der Qualitäten und Wissensthemen des spezifi‐ schen historischen Gartens geeignet sind, ist für jedes Objekt und Thema im Zuschnitt auf die zu erreichenden Personengruppen einzeln zu prüfen. Grundsätzlich kommen viele Formate in Betracht: Angebote, die sich von Mensch zu Mensch an Einzelgäste oder feste/ neu zusammenkommende Gruppen richten, Workshops, Permakultur- oder Urban-Gardening-Projekte, Lesungen oder Diskussionsrunden. Auch digitale Annäherungen mit Gamification-Konzepten, digitalen Rallyes, Virtual Reality und Escape-Spielen können erfolgversprechend sein. Voraussetzung ist, dass die Angebote denkmalverträglich und die dafür nötigen Einbauten reversibel sind sowie dass die Angebote nicht in Konflikt mit anderen Gartennutzungen stehen. Zudem scheint Bildungsarbeit oft besser in kleinen Gruppen zu funktionieren. Zentral ist die Frage, wie man Alltägliches aus den Gärten und auch sehr abstrakt Wissenschaftliches bzw. vermeintlich trocken Historisches so zugänglich macht, dass sie bleibende Erlebnisse generieren. Neue Zugänge zu schaffen, braucht den Mut, neue 137 Historische Gärten als Lernorte 13 Siehe hierzu: ackerdemia.de (letzter Zugriff: 31.10.2021). Techniken jenseits der üblichen 45-minütigen Gartenführungen zu erproben. Kinderferi‐ enworkshops, Umweltwerkstätten, Forscherlabore können genauso zu Erfolgen führen, wie Knowlegde-Café-Diskussionsrunden, Upcycle-Mitmachgärten oder Pflanzentausch‐ börsen. Auch können wiederverwendbare Werkstattkisten eingesetzt werden, bei denen statt ausgedruckter Arbeitsblätter wiederverwendbare Arbeitsmaterialien zum Einsatz kommen. Angestoßen werden muss auch ein gesellschaftlicher Dialog: Wie wollen wir mit der Gartenkunst und unserem historischen Gartenerbe umgehen? Welche Aneignungen sind möglich? Wo und warum definieren wir Grenzen? Manchmal kann es auch reichen, den Namen zu ändern. Gärtnern etwa klingt altbackener als ein Tamagotchi 4.0 zu pflegen (→ Abb. 3). 13 Abb. 3: Tamagotchi 4.0 - Interesse für Gärten zu wecken, ist auch eine Frage der (An-)Sprache und die Kampagnen PARKisART der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Hessen 138 Inken Formann und Bianca Limburg 14 Vgl. den YouTube-Kanal der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Playlist #ParkIsArt. 15 In Bayern gibt es etwa eine staatliche Landesstelle für nichtstaatliche Museen, die ein museums‐ pädagogisch geschultes Team unterhält, das mit einem Bus samt Arbeitsmaterialien Dorf- und Heimatmuseen bereist und die Häuser bespielt. Siehe hierzu die Homepage der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern: www.museen-in-bayern.de/ die-landesstelle/ die-landesstelle .html (letzter Zugriff: 30.10.2021). Zu lernen ist, genauso unterhaltsam und kurzweilig über Gärten zu berichten, wie über Filmstars oder das Wetter. Gut gemachte, einminütige Kurzclips etwa, die komplexe Themen auf leichte, unterhaltsame Weise präsentieren, können zielführend für einen veränderten Umgang mit Gärten und Parks sein. Die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg etwa bietet Kurzclips auf Instagram an, in denen z. B. in wenigen Worten, mit ansprechenden Bildern und sympathischen, fachkundigen Personen erklärt wird, was es mit den grünen Wassersäcken an den Baumstämmen auf sich hat und woran man die Folgen des Klimawandels im Baumbestand erkennt. Nicht wie in einem Lehrbuch, sondern ganz alltagsbezogen, wird hier vorgebracht, was im Garten sonst nur Fachleute sehen. 14 In der Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen braucht es nicht nur neue Formate, sondern v. a. qualifizierte Fachkräfte, die wissen, worüber sie reden und wie sie es schaffen, Menschen zu begeistern: Menschen, denen es gelingt, komplexe wissenschaftliche Sachverhalte klar und nachvollziehbar herunterzubrechen und zum Selberdenken anzuregen. Es reicht nicht aus, dass die Kulturschaffenden fachlich gebildet sind, sie brauchen für die Vermittlung auch Kenntnisse im Umgang mit Menschen, Führungsfähigkeiten, Empathie und pädagogische/ didaktische Kenntnisse. Dies setzt Lernbereitschaft und stete Weiterbildung, aber auch die Aushandlung eines zu erreichenden Qualitätsstandards voraus. 3 Wie gelingt es, die nötigen Strukturen zu schaffen? Nicht immer können die nötigen Strukturen und Finanzierungen geschaffen werden, um auch für kleine Anlagen das nötige Personal - sowohl für die Erstellung und Erforschung der Inhalte als auch für die Vermittlung und didaktische Arbeit selbst - zu schaffen. Hilfreich können hier Kooperationen mit regionalen Partnern sein, seien es Volks‐ hochschulen oder Kultureinrichtungen. Fachleute der Gartendenkmalpflege müssen sich noch stärker als Vermittlerinnen und Vermittler für Kooperationspartnerschaften verstehen. Nicht alle Aufgaben muss man aus dem eigenen Haus anbieten. Es kann auch sinnvoll sein, Cluster zu bilden: Freianlagen von Burgen oder einander ähnliche Landschaftsparks kann man auch von darauf spezialisierten Teams bespielen lassen, die unterschiedliche Anlagen im Wechsel bereisen. 15 Es gilt, nicht nur langfristig, anlagenbezogen und regional zu denken, sondern auch als Taskforce im Sinne einer für eine begrenzte Zeit gebildeten Arbeitsgruppe zur Lösung komplexer Probleme. Dies gilt für Personalstrukturen wie für das Raumangebot. In Kooperationen und 139 Historische Gärten als Lernorte 16 Siehe hierzu: gruenes-gewoelbe.skd.museum/ (letzter Zugriff: 31.10.2021). 17 Siehe hierzu: www.klassik-stiftung.de/ goethes-gartenhaus/ (letzter Zugriff: 30.10.2021). 18 Siehe hierzu: Klasse Klima - Her mit der coolen Zukunft! Online: www.klasse-klima.de (letzter Zugriff: 31.10.2021). Netzwerken zu denken, ermöglicht etwa die Nutzung nicht ausgelasteter kommuna‐ ler, privater oder auch kirchlicher Räume, wo eigene Räume nicht vorhanden oder eingerichtet sind. Auch Schulräume könnten nachmittags genutzt und mit AGs oder Nachmittagsbetreuungsangeboten verbunden werden. Eine weitere Hürde in der Planung und Gewährleistung von Vermittlungsangeboten ist oft die sehr viel Zeit und Manpower in Anspruch nehmende Buchungsorganisation. Vereinfacht werden kann dies über Online-Buchungssysteme wie sie etwa für den Besuch des Dresdner Grünen Gewölbes 16 oder Goethes Gartenhaus im Weimarer Ilmpark 17 u. v. m. genutzt werden. So werden nicht nur die Anmeldung, Bestätigung, Datenhaltung und Ter‐ minplanung automatisiert, auch die interne Verfügbarkeit von Personal, die Nachvollzieh‐ barkeit der Auslastung, die Verknüpfung mit der Homepage des Gartens, sozialen Medien oder Newslettern können unter Einhaltung der Datenschutzverordnungen vereinfacht werden. Hinzu kommt, dass durch Online-Angebote im Vorfeld über Downloads oder kleine Filme alle FAQ zur Teilnahme an den Angeboten ohne Mehraufwand kommuniziert und abgefragt werden können - sei es zum Treffpunkt, zur erforderlichen Kleidung oder zu Komptabilität bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten. 3.1 Partnerschaften für Bildung und Vermittlung in historischen Gärten Vermittlung muss - grundsätzlich und in historischen Gärten - heute zeitgemäß funktionieren. Die Erwartungen der Besucherinnen und Besuchersind hoch. Wichtig ist daher, Erfahrungen und Partnerschaften zu nutzen und sich Fördermöglichkeiten zu erschließen. Partner von Bildungsprogrammen können ferner die Geldgeber der Trägerinstitutio‐ nen sein, bei staatlich unterhaltenen Institutionen die übergeordneten Ministerien auf Länder- und Bundesebene. Als politische Partner stehen nicht nur die Wissenschafts- und Kunstministerien, sondern auch die Umwelt- und die Kultusministerien in der Pflicht. Die Themen ‚nachhaltige Entwicklung‘, ‚Biodiversität‘ und ‚Klimaschutz‘, die auch in historischen Gärten relevant sind, werden etwa mit diversen Förderprogrammen unterstützt. Insbesondere aus dem Bereich Klimaschutz gibt es spannende Ansätze, in denen Hochschulen zu Bildungsangeboten beitragen, indem sich etwa angehende Lehrkräfte oder Kulturmanagerinnen und -manager erstmals mit Gästen in der Praxis erproben und dabei nicht nur Lernerfahrungen weitergeben, sondern eigene erwerben. Ein fortschrittliches Projekt ist in diesem Feld etwa das vom Bundesumweltminis‐ terium im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative (NKI) geförderte Kooperati‐ onsprojekt „Klasse Klima - Her mit der coolen Zukunft! “. 18 Es entstand in Zusam‐ menarbeit der BUNDjugend, des netzwerk n. e. V. und der Initiative Psychologie im Umweltschutz (IPU). Im Rahmen des bis Anfang 2022 laufenden Projekts werden 140 Inken Formann und Bianca Limburg junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren zu Klimaschutz-Kommunikatorinnen und -Kommunikatoren ausgebildet, die anschließend für Schülerinnen und Schüler der 5. bis 13. Klasse Projekttage und AGs an Schulen gestalten. Dabei konzentriert man sich auf konkrete und besonders wirksame Handlungsmöglichkeiten in den Bereichen Mobilität, Konsum, Ernährung und Energie. Weiter können (Naturschutz-)Verbände und Ehrenamtliche wichtige Partner sein, da sie oftmals eine hohe Identifikation mit den Themen aufweisen und regional gut vernetzt sind. Ziel muss es sein, nicht nur für einen befristeten Projektzeitraum Angebote zu schaf‐ fen, sondern mit den Veranstaltungen auch langfristig Nachwuchsgartenliebhaberinnen und -liebhaber sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu gewinnen. Auch sind Partnerschaften mit Schulen und Kindergärten einzugehen bzw. mit allen Institutionen, die bereits einen Lehrauftrag (VHS, private Bildungsanbieter, Hochschulen, Vereine) wahrnehmen. Mit Rundum-Angeboten, die Lehrerinnen und Lehrer entlasten, aber in ihren Inhalten auf die zu erwerbenden Kompetenzen bzw. Lehrpläne abgestimmt sind und im zeitlichen Umfang in die Schulstrukturen passen, können Schulen gewonnen werden. Ähnlich ist es bei Kindergärten, wobei hier noch stärker als bei den Schulen die unmittelbare räumliche, fußläufige Entfernung eine große Rolle spielt. Abb. 4: Kreativ gestalten, den Umgang mit lebenden Werkstoffen üben und lernen, Verantwortung zu übernehmen: Mini-Garten für die Fensterbank 141 Historische Gärten als Lernorte Insbesondere wissenschaftliche Einrichtungen und Hochschulen, die Forschung und Didaktik betreiben, also etwa Lehramts- oder Kulturvermittlungsstudiengänge, sind interessante Partner für Projekte. Die Verantwortlichen für Gärten, auch Schlösserver‐ waltungen müssen Netzwerke aufbauen - regional mit den umliegenden Bildungsein‐ richtungen, aber auch überregional mit Förderern, die die Angebote inhaltlich begleiten können. Mögliche Partnerschaften könnten sich auch mit örtlichen Gastronomien oder Touristikunternehmen ergeben, die wirtschaftliches Potenzial in Angeboten entde‐ cken. Auch soziale Projekte, die etwa in Zusammenarbeit mit Brennpunktschulen mit Personen mit Migrationsbzw. anderem kulturellem Hintergrund arbeiten und Integration fördern, können interessante Partner sein. Genauso könnten das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ) oder das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) helfen, den Bereich Bildung und Vermittlung weiter voranzutreiben. 4 Fazit Verantwortung für Gärten zu übernehmen, d. h., dafür zu sorgen, dass sie - auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten und Zeiten gesellschaftlichen Wandels - erhalten bleiben und in bestmöglicher Qualität weiterentwickelt werden. Es bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass alle Menschen teilhaben können an ihren Qualitäten, in dem sie zu positiv besetzten Aufenthaltsorten und Orten des Weiterentwickelns und -bildens für Menschen werden. Die historischen Gärten stehen den gleichen Herausforderungen bei Bildung und Vermittlung gegenüber wie die UNESCO-Welterbestätten, Museen und anderen großen Kulturinstitutionen, die diese teilweise schon umgesetzt haben. Langfristig gesehen lohnt es sich, mehr und in höchstem Maße kenntnisreich, kurz‐ weilig und spannend über unsere historischen Gärten zu sprechen und die Menschen emotional für die Gartenqualitäten zu öffnen. Dies fördert die Bereitschaft zum Erhalt der Anlagen. Es lohnt sich auch, um ein verändertes Umwelthandeln, ein verbessertes und umfassenderes Verständnis der Geschichte und Wege für einen nachhaltigeren Umgang mit dem Planeten Erde zu erreichen. Dazu tragen Vermittlungsangebote von Mensch zu Mensch bei, genauso auch die professionelle Aufbereitung von gar‐ tenbezogenen Inhalten für die sozialen Medien (YouTube, Instagram, Facebook etc.), die insbesondere auch junge Menschen nutzen. Reine Marketing-/ Werbekampagnen mit der Produktion schöner Bilder schaffen dabei weniger bleibende Erinnerungen als personalisiertes, emotionalisiertes und unterhaltsam gemachtes Infotainment. Um erfolgreich zu sein, braucht es Kontinuität, Geduld und gärtnerisches wie gartenhistori‐ sches Fachwissen. Für Erhalt, Forschung und Vermittlung qualifiziertes und vorbildlich wirkende Personen zu finden, zu halten und Nachwuchs anzulernen, sind wichtige Herausforderungen. 142 Inken Formann und Bianca Limburg Literaturhinweise Ackerdemia e. V. (Hg.) (2021): GemüseAckerdemie, blackturtle „Alte Sorten für junges Gemüse“ und AckerPause, Potsdam. Online: ackerdemia.de, letzter Zugriff: 24.02.2021. Barton, J.; Petty, J. (2010): What is the Best Dose of Nature and Green Exercise for Improving Mental Health? A Multi-Study Analysis, in: Environmental Science and Technology 44(10), S. 3947-3955, doi.org/ 10.1021/ es903183r. Bayrisches Landesamt für Denkmalpflege - Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern (Hg.) (o. J.): Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern, München. 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Von Immerblühern und Einjährigen Der Gartenbuchmarkt im Wandel des Kundeninteresses Volker Hühn Im Jahr 2020 wurden über 1,6 Millionen Gartenbücher in Deutschland verkauft - eine überaus beachtliche Zahl. 1 Dass dies einem überdurchschnittlichen Anstieg von 5,5 % zu verdanken ist, ist Indiz dafür, dass in Zeiten zurückgehender Buchverkäufe der Gartenbuchmarkt boomt. Dies verwundert nicht, wenn man das gesteigerte Umweltbewusstsein, den Trend zum Natürlichen, zum Outdoor-Leben berücksichtigt. Dabei handelt es sich um Entwicklungen, die sich während der Coronapandemie fortgesetzt und noch verstärkt haben. 2 Woran liegt es aber, dass die Deutschen, die bekanntermaßen den Garten lieben, ein Medium wie das Gartenbuch so wertschätzen? Und das, obwohl es nicht blüht, nicht riecht und man sich beim Blättern auch nicht die Nägel schmutzig machen kann. Welche Faszination übt ein Gartenbuch für die Leserinnen und Leser aus? Welcher Ingredienzien bedarf ein Buch, um zu einem Bestseller zu werden, und welche Bücher braucht es heute einfach nicht mehr? Diesen Fragen soll nachgegangen werden, um ein wenig Licht in das Geheimnis eines guten Buches zu bringen. 3 Ein eindrückliches Beispiel der gewachsenen Begeisterung fürs Gärtnern ist etwa die Plattform: www.gartentechnik.de (letzter Zugriff: 14.12.2021). 1 Die Faszination Gartenbuch Die Deutschen lieben ihre Gärten und das Gärtnern 3 , dabei ist es erstmal zweitrangig, wo sie ihren grünen Daumen ausleben dürfen: im eigenen Hausgarten für den, der es sich leisten kann, oder im Schrebergarten, der aktuell eine enorme Renaissance erfährt (Merkelbach 2020). Laut aktueller Umfragen leben in Deutschland rund 20 Millionen Menschen ihren Traum vom Gartenglück, auf die eine oder andere Weise. Dabei wird der Durchschnitts‐ garten immer kleiner. Auf ca. 345 m2 wird intensiv gepflanzt und angebaut. Und die Deutschen lieben Gartenbücher. Der Vergleich mit den europäischen Nach‐ barländern zeigt: Nirgendwo ist der Konsum von Gartenbüchern so ausgeprägt wie in Deutschland - außer natürlich im Vereinigten Königreich, das jedoch bekanntlich der EU den Rücken kehrte. 0 5.000.000 10.000.000 15.000.000 20.000.000 25.000.000 30.000.000 0 200.000 400.000 600.000 800.000 1.000.000 1.200.000 1.400.000 1.600.000 1.800.000 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Absatz Wert Abb. 1: Der Gartenbuchmarkt im Zeitverlauf Nach einem Hoch im Jahr 2014, bei dem beinahe 1,7 Millionen Gartenbücher verkauft wurden, ist die Kurve nach einem Tiefpunkt im Jahr 2017 erneut deutlich im Steigen begriffen. Das gesteigerte Umweltbewusstsein der Deutschen und die Auswirkungen der Coronapandemie sind hier sicherlich die ausschlaggebenden Gründe. Es ist erstaunlich, wie viele Gartenbücher in allen möglichen Erscheinungsformen es gibt. Vergleicht man die Vielfalt mit anderen Hobby-Warengruppen wie Kochen, Sport oder Basteln, begegnet einem wohl nirgendwo sonst ein solcher Facettenreichtum an 146 Volker Hühn 4 Dies bestätigt eine Auswertung der Verkaufszahlen auf: www.mc-metis.de (letzter Zugriff: 14.12.2021). Buchtypen, die sich damit auch an sehr viele unterschiedliche Lesergruppen richten. Vielleicht liegt darin gerade ein Teil des Erfolges. So kann man seine persönliche Entwicklung als Gartenfreundin bzw. Gartenfreund Schritt für Schritt mit der passenden Literatur begleiten lassen. Beginnend bei der unüberschaubaren Menge an Einsteigerliteratur bis hin zu botanischen Spezialmono‐ grafien für Staudenfreunde findet jede und jeder das für sie bzw. ihn und das jeweilige Niveau passende Buch. Daneben steht für jede Art der Beschäftigung mit dem Garten eine große thematische Auswahl im Buchhandel bereit, der derzeit hauptsächlich von fünf bis sechs führenden Verlagen bespielt wird. Die drei nach Marktanteil führenden Verlage 4 GU, Ulmer und Kosmos streiten sich seit Jahren um die Bestsellerränge. Es ließen sich ganze Bücher mit der Betrachtung der unterschiedlichen Gartenberei‐ che und -themen und der dazugehörigen Literatur füllen. Für die Darstellung in diesem Sammelband sei deshalb eine Beschränkung auf einige wenige Titel vorgenommen, die aber genügen dürften, um einen fundierten Überblick über den Gartenbuchmarkt zu erhalten. Da wäre zunächst die prinzipielle Unterscheidung in Zier- oder Nutzgarten. Steht die Betrachtung der Pflanzen und ihr Wachsen und Werden im Vordergrund oder geht es vorrangig um die große Ernte? Sieht der einzelne den Garten eher als Wohlfühloase an und sucht deshalb die entsprechenden Bücher, um darin zu schwelgen oder sich zu verlieren? Oder sucht die Käuferin bzw. der Käufer Bücher, mithilfe derer man im Garten anpacken kann und die ganz praktisch weiterhelfen. Hinzu kommt die große Glaubensfrage nach konventionell oder bio - auch hier ist für jede Einstellung ausreichend Literatur vorhanden. Und sogar Spezialthemen wie Stauden, Kräuter oder die Frage nach dem richtigen Pflanzenschnitt erfreuen sich höchster Beliebtheit. Nachfolgend sei ein genauer Blick auf den Buchmarkt zu Stauden geworfen. So manche Garteneinsteigerin bzw. so mancher Garteneinsteiger weiß mit dem Begriff zuerst nicht viel anzufangen. Kennerinnen und Kenner wissen aber natürlich, dass es sich bei Stauden um mehrjährige Pflanzen handelt, die im Frühjahr austreiben und sich spätestens bei Frost wieder zurückziehen. In der Fachsprache lautet die Definition wie folgt: „Stauden sind mehrjährige, ausdauernde krautige Pflanzen, deren oberirdische Pflanzenteile im Gegensatz zu Bäumen und Sträuchern nicht oder nur wenig verholzen. Sie sind weich und sterben meist nach jeder Vegetationsperiode ab.“ (Kullmann 2021, S. 22) Der Gebrauch von Fachjargon spielt bei der Faszination für Stauden durchaus eine gewisse Rolle, sind Staudenbegeisterte doch meist Gärtnerinnen und Gärtner, die ihr Hobby sehr ernst nehmen. Niemand, der hin und wieder ein paar Unkräuter zupft 147 Von Immerblühern und Einjährigen 5 Weitere Informationen zur Gesellschaft der Staudenfreunde finden sich unter: www.gds-staudenfre unde.de (letzter Zugriff: 14.12.2021). 6 Siehe hierzu die Verbandshomepage: www.gartenbauvereine.de (letzter Zugriff: 14.12.2021). 7 Als Beispiele seien genannt Rolf Heinzelmann (2020): Das 1 x 1 des Obstbaumschnitts. Bild für Bild, 4. Aufl. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart sowie Hans W. Riess (2020): Obstbaumschnitt in Bildern. Kernobst - Steinobst - Beerensträucher - Veredlung, überarb. Neuaufl. Obst- und Gartenbauverlag des Bayerischen Landesverbandes für Gartenbau und Landespflege, München. und sich sonst vielmehr von weitem an den Blumen im Garten erfreut, wird sich als Stauden-Fan bezeichnen. Diese intensive Begeisterung bedarf selbstredend stets neuen Lesestoffs. Und da man stetig auf neue Inspiration, wichtige Infos über Neuzüchtungen und Staudensichtungen aus ist, versorgen die Verlage die Staudenfreundinnen und -freunde mit einer Vielzahl an Neuerscheinungen. Wer diese Bücher liest - und auch versteht -, wer sich hierfür begeistern kann und den vollen Mehrwert der Erkenntnisse nutzt, der fühlt sich stolz der Gesellschaft der Staudenfreunde 5 zugehörig - einer hochinformierten Schar von wenigen tausend Menschen. Diese Exklusivität spiegelt sich auch in den Büchern wider. Brillante Fotos sind ein Muss. Die Informationen müssen zwar gut aufbereitet sein, können jedoch gleichzeitig nicht anspruchsvoll genug sein. Hier wird nicht nur nach Inspiration, sondern nach echten Detailinformationen inclusive ästhetischem Anspruch gesucht. Die hohen Auflagen - im Vergleich zur Menge der Staudengärtnerinnen und -gärtner - führt vor Augen, dass für diese Zielgruppe Gartenbücher ein sehr wichtiges Medium sind. Eine Gruppe, die deutlich größer ist und ihrem Anspruch nach ganz anderen Lesestoff bevorzugt, sind die Obstgärtnerinnen und -gärtner. In hoher Anzahl finden sie sich in den Obst- und Gartenbauvereinen der Republik wieder. 6 Vor allem dem traditionellen Milieu entstammend, liegen sie altersmäßig deutlich über dem Durch‐ schnitt und bevorzugen deshalb eine ganz andere Art von Buch. Für sie muss das Buch praktisch daherkommen. Instruktion scheint wichtiger als Information, die Zeichnung besser geeignet als das Foto, der Preis wichtiger als die Ästhetik. Da die Mitglieder der Vereine für gewöhnlich den persönlichen Austausch durch das Gespräch oder die Schulung vor Ort bevorzugen, nehmen die Bücher vielmehr die Rolle eines Merkhefts, eines handlichen Nachschlagwerks ein. Hier wird über Generationen bekanntes und erprobtes Wissen weitergegeben. Davon zeugt schon allein die recht hohe Anzahl an Longsellern, die sich in x-ter Auflage großer Nachfrage erfreuen. 7 Ist in anderen Fällen die Neuerscheinung wichtig, um neue Begehrlichkeiten zu wecken, sind es hier hauptsächlich die immer wieder aufgelegten Klassiker, deren Wichtigkeit von Ohr zu Ohr, vom Vater zur Tochter weitergegeben wird. Ganz anders, obwohl auch hier oft wenig Neues vermittelt werden kann, sind die meist schmalen, preisgünstigen Bücher gestaltet, die einmal quer durch den Kräutergarten spazieren. Eine überschaubare Zahl an Kräutern wird dabei, in immer wieder neue Kombinationen verpackt, den Leserinnen und Lesern präsentiert - mal mit ein paar Exoten, mal ohne. Einmal handelt es sich um die großen Klassiker, mal sind ein paar unbekanntere Kräutlein dabei, die sich gut in der heimischen Kräuterspi‐ 148 Volker Hühn rale machen oder den aufgetischten Asia-Salat verfeinern. Hier sorgt sicherlich die Kombination mit Essensthemen dafür, dass Jahr für Jahr zehntausende Kräuterbücher über den Ladentisch gehen. Die Verbindung zur Kulinarik potenziert die Zielgruppe sofort und beinahe jeder Mensch, der einen kleinen Balkon hat, wird sich potenziell hiervon angesprochen fühlen. Bei einer solchen Nachfrage muss man den Eindruck gewinnen, als ob jede und jeder mit einem solchen Buch die herrlichsten Kräuter sein Eigen nennen kann. Dies waren drei nahezu willkürlich herausgegriffene Beispiele dafür, dass Garten‐ bücher mit ihrer unglaublichen Vielfalt sehr viele Bevölkerungsgruppen ansprechen. Diese kommen sehr häufig aus unterschiedlichen sogenannten Sinus-Milieus - eine Kategorisierung, die Verlage nutzen, um ihre Zielgruppen zu beschreiben und besser zu verstehen. Sinus-Milieus „liefern ein wirklichkeitsgetreues Bild der soziokulturellen Vielfalt in Gesellschaften, in dem sie die Befindlichkeiten und Orientierungen der Menschen, ihre Werte, Lebensziele, Lebensstile und Einstellungen sowie ihren sozialen Hintergrund genau beschreiben. Mit den Sinus-Milieus kann man die Lebenswelten der Menschen somit ‚von innen heraus‘ verstehen, gleichsam in sie ‚eintauchen‘. Mit den Sinus-Milieus versteht man, was die Menschen bewegt und wie sie bewegt werden können.“ (SINUS-Institut 2018, S. 1) Dabei konnte selbstverständlich nur ein kleiner Ausschnitt aus dem fast unerschöpf‐ lichen Themenspektrum aufgezeigt werden. Viel wäre noch zu sagen über weitere Gartenthemenbücher, etwa zu: ● Gartenplanung und -gestaltung, ● Pflanzenschutz, ● Teichen und Wassergärten, ● Zimmerpflanzen, ● Gemüsegärten. Die Zahl an neuen Titeln, die jedes Jahr auf den Markt drängen, geht in die hunderte. Nur jedem dritten oder vierten Titel ist eine Neuauflage vergönnt, und nur eine kleine Handvoll von ihnen hat das Zeug zum Bestseller und geht dann auch wirklich in einer Auflage von 10.000 oder 15.000 Exemplaren über die Ladentische. Was es ist, dass einen Bestseller ausmacht, und warum manche Bücher heute keine Bestseller mehr sind - darum soll es im nächsten Abschnitt gehen. 2 Wie funktioniert ein Bestseller Welches sind die Ingredienzien, die man miteinander vermischen muss, um einen Bestseller zu produzieren? Darüber zerbrechen sich viele kluge Menschen in den Verlagen ständig ihre Köpfe. Man sucht ständig nach der Formel, glaubt sie immer mal wieder erkannt zu haben und wird dann doch enttäuscht, wenn der erwartete Bestseller sich als Flop herausstellt und wie Blei in den Regalen liegt. 149 Von Immerblühern und Einjährigen 8 Vgl. etwa Annette Lepple (2020): Genießen statt Gießen. Trockenheitstolerante Gärten gestalten, 2. Aufl. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart. Kurz gesagt: Es gibt nicht dieses eine Rezeptbuch, das einem hilft, die Zutaten gut zu kombinieren und heraus kommt ein Bestseller. Man kann also bereits festhalten: Planbar ist er nicht. Aber vielleicht gibt es ein paar Dinge, die unbedingt beachtet werden sollten, damit das Buch viele Leserinnen und Leser findet. Hier wäre an erster Stelle das gewisse Maß an Originalität zu nennen, das ein Manuskript haben sollte. Dies kann Unterschiedliches bedeuten: ein neuer Zugang zu einem bekannten, weit verbreiteten Thema, ein neuer Aspekt, der das ganze Thema damit spannend und anders aufgreift oder gar ein neues Thema, das durch äußere Einflüsse plötzlich en vogue ist und sich dann ungeahnter Nachfrage erfreut. Man denke etwa an das Thema Klimaveränderung, mit dem alle Gärtnerinnen und Gärtner zu kämpfen haben und das Bücher über trockenheitstolerante Gärten auf die ersten Plätze der Bestsellerlisten trägt. 8 Ein neuer Ansatz zu einem neuen, noch unbekannten Thema ist allerdings weniger vielversprechend. Ein beliebter Satz, der bei der Beurteilung eines eingereichten Manuskripts oft fällt, lautet: „Der Titel spricht zwar eine Marktlücke an, aber die Tatsache, dass hier eine Lücke ist, spricht für sich.“ Für manch speziellen Zugang gibt es einfach keinen Markt, da mag der Schreiber auch über noch so viel Fachwissen verfügen. Was sich in Zeiten zunehmender Konkurrenz immer seltener durchsetzt, sind Bücher, die ein zwar beliebtes Thema aufgreifen, sich jedoch auf konventionelle, schon bekannte Inhalte oder Ansätze verlassen. Mochte früher über Direktversender noch das ein oder andere auf diese Art und Weise produzierte Buch Erfolg haben, so funktioniert dies heute schon lange nicht mehr. Gartenbuchleserinnen und -leser sind anspruchsvoller geworden. Sie möchten ernst genommen werden und nicht lediglich die Information vorfinden, die bei Google ebenso erhältlich ist. Billig oder umsonst heißt eben in den seltensten Fällen gut und Buchkäuferinnen und -verkäufer verlassen sich deshalb zunehmend auf Markennamen und die damit zu erwartende inhaltliche Qualität. 150 Volker Hühn Büch/ Gehm: Inspirationen für den Rosengarten. Stuttgart: Ulmer. Pelz/ Timm: Faszination Weite. Stuttgart: Ulmer. Heinzelmann/ Nuber: 1 x 1 des Obstbaumschnitts. Stuttgart: Ulmer. Kinmonth/ Traeger: Welt der Gärten. Stuttgart: Ulmer. 2021 2013 2008 1999 Zeit Abb. 2: Änderung der Cover-Ästhetik im Zeitverlauf Eine weitere Grundvoraussetzung ist heutzutage die herstellerische Qualität des Produkts. Durch Hochglanzmagazine, aber auch durch den Fortschritt in der Hobbyfo‐ tographie ist man an exzellente Bilder gewöhnt, sodass eine durchschnittliche Qualität hier eindeutig nicht genügt. Viele Menschen wissen aus Erfahrung, wie sich ein gutes Buch anfühlen muss. Die allermeisten können ein schnell dahingezimmertes Layout von einer überragenden Graphik und Typographie unterscheiden. Der Standard in der Buchherstellung ist in den letzten Jahren so immens gestiegen, dass es kaum mehr denkbar ist - zumindest im optisch anspruchsvollen Gartenbereich - dass sich ein Buch, welches den Lesegewohnheiten nicht entspricht, auf breiter Front durchsetzen wird. Die Billig- und Ramschausgaben früherer Jahre haben es deshalb zunehmend schwer, sich auf den großen Tischen in den Eingangsbereichen der Buchhandlungen zu verkaufen. Selbst dort ist mittlerweile ein Mindeststandard an Qualität gefragt. Neben spannend und nachvollziehbar aufbereitetem Fachwissen braucht ein Buch, das die Menschen dazu bringen soll, es auch wirklich zu lesen, ja gar zu lieben, einen Rhythmus, eine Story, profaner gesagt: eine ansprechende Gliederung. Nicht jede Autorin und jeder Autor, der ein spannendes Essay oder einen pointierten Kommentar 151 Von Immerblühern und Einjährigen verfassen kann, besteht auf der Strecke der Manuskripterstellung diese Qualitätsprü‐ fung. Ein Zeitschriftenartikel, auch ein langer, ist ein Sprint, eine Buchautorin bzw. ein Buchautor hingegen muss Langstreckenprofi sein. Hier greift in vielen Fällen das Verlagslektorat ein, welches das Potential eines Stoffes erkennt und in langer, oft mühevoller Arbeit mit den Autorinnen und Autoren den Weg erkundet, der zu einem erfolgreichen Buchprojekt führt. Die Lektorin bzw. der Lektor ist dabei Begleitung, Motivation, Korrektiv und Inspiration - in den besten Fällen. Und die besten Fälle und günstigsten Konstellationen braucht er, der Bestseller. Wenn diese Kombination gegeben ist, spielt der Markt noch eine nicht unerhebliche Rolle. Es gibt viele gelungene Bücher aus Selbstverlagen - originell, attraktiv, sehr gut konzipiert -, die sich aber, trotz Self-Publishing über Amazon, nie weit über den direkten Kontaktkreis der Autorin bzw. des Autors verkaufen. Der Grund hierfür liegt in der überbordenden Menge an Neuheiten, die jedes Jahr auf den Markt stürmen und dabei den Flaschenhals Buchhandel passieren müssen. Im Jahr 2019 waren es knapp 80.000 Neuerscheinungen (vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2020a). Diese immense Zahl führt dazu, dass Buchhändlerinnen und -händler sehr stark selektieren. Begrenzter Regalplatz und hohe Vorfinanzierungskosten für den Handel bringen es mit sich, dass Buchhandlungen immer weniger Mut für Experimente aufbringen und sich häufig auf die ihnen bekannten Lieferanten, sprich Verlage, verlassen. Hinzu kommt, dass Buchhändlerinnen und -händler zu wenig Zeit haben, um sämtliche Angebote, die sie auf digitalem oder postalischem Wege erreichen, zu sichten. Für einen großen Erfolg am Markt bedarf es deshalb weiterhin, trotz der Marktmacht des Online-Buchhandels, des stationären Buchhandels mit seinen 3.000-4.000 Verkaufsstellen in Deutschland. Dieses international einzigartige Netz an Buchhandlungen sorgt dafür, dass von zehn Büchern immer noch ca. sieben über die Ladentheke vor Ort gehen. Das ist erfreulich und darf ruhig so bleiben. Diesen Buchhandel allerdings so zu bearbeiten, dass sich ein Buch wirklich breit auf dem Markt durchsetzt, dazu braucht es eine eingespielte, starke Vertriebsabteilung. Das bedeutet im Einzelnen: eine gut funktionierende Auslieferung, die für die Logistik Sorge trägt, sowie ein attraktives Gesamtangebot für den Buchhandel, das bei den Händlerinnen und Händlern Vertrauen schafft und damit den Weg für ausreichend Präsenz in den Regalen bereitet. Damit einher geht ein ökonomisch interessantes Rabattsystem, damit auch der Buchhandel vom Umsatz profitieren und insbesondere engagierte Mitarbeitende im Innen- und Außendienst, die den Handel auf allen Kanälen - und nicht zuletzt face to face - von der Qualität der Bücher überzeugen. Das soll nicht heißen, dass nicht auch ein junger, unbekannter Verlag einen Bestseller landen kann oder dass sich nicht auch ein Buch viral übers Internet durchsetzen kann. Aber die Wahrscheinlichkeit ist deutlich geringer und die Erfahrung zeigt, dass die einschlägigen Bestsellerlisten in der Regel von bekannten, etablierten Verlagen mit einer großen Marktmacht beherrscht werden. 152 Volker Hühn Jahr Preisgekrönte Bücher Jahr Preisgekrönte Bücher 1957 Horst Koehler: Das praktische Gar‐ tenbuch 1958 Margot Schubert: Wohnen mit Blu‐ men 1959 Karl Foerster: Sein gesamtes schrift‐ stellerisches Werk 1960 Gerhard de Haas: Obst aus dem ei‐ genen Garten 1961 Franz Boerner: Blütengehölze für Garten und Park 1962 Hans-Wilhelm Smolik: Garten, ganz neu entdeckt 1963 Richard Hansen/ Friedrich Stahl: Unser Garten - Bunte Staudenwelt 1965 Elly Petersen: Elly Petersens prakti‐ sches Gartenlexikon 1966 Fritz Windscheif: Bastelbuch für Gartenfreunde 1967 Ingeborg Wundermann: Blumen, Blätter, Zweige - arrangiert in schö‐ nen Gefäßen 1969 Wilhelm Schacht: Der Steingarten und seine Welt 1970 Martin Stangl: Kleine Gärten - Große Freude Martin Stangl: Bunte Blütenpracht der Stauden 1971 Karl Heinz Hanisch: Sonntagsgärt‐ ner unter Glas 1976 Irmgard Lucht/ Christa Spangen‐ berg: Die grüne Uhr 1980 Antje Vogel-Steinrötter: Großes Buch für kleine Gärtner 1983 Martin Rauch: Schulhofhandbuch 1984 Marianne Beuchert: Sträuße aus meinem Garten 1985 Wilfried Hansmann: Gartenkunst der Renaissance und des Barocks 1986 Hartmut Bick/ Karl-Heinrich Hans‐ meyer, Gerhard Olschowy/ Peter Schmoock: Angewandte Ökologie - Mensch und Umwelt 1987 Hubert Hendel: Wasser im Garten 1988 Marie-Luise Kreuter: Der Biogarten 1988 Halke Lorenzen: Unser Dorfgrün - Sonderauszeichnung 1989 Erika Markmann/ Gisela Köne‐ mund: Gartenbuch für Kinder 1990 Fritz Köhlein: Kleine Pflanzen für kleine Gärten 1991 Wolfgang Kawollek: Handbuch der Pflanzenvermehrung 1992 Hermann Fürst von Pückler-Mus‐ kau (posthum): Andeutungen über Landschaftsgärtnerei (1834) 1993 Wolfgang Dietzen/ Hannelore Thiele: Jugend erlebt Natur 1994 Heinz Ellenberg: Bauernhaus und Landschaft 1996 Reinhard Witt/ Bernd Dittrich: Blu‐ menwiesen 1997 Anne und Walter Erhardt: PPP In‐ dex Pflanzen 1998 Erich Walter: Fränkische Bauern‐ gärten 1999 Bernd Schulz: Gehölzbestimmun‐ gen im Winter 153 Von Immerblühern und Einjährigen 2000 Manfred Fortmann: Das große Kosmosbuch der Nützlinge. Neue Wege der biologischen Schädlings‐ bekämpfung 2001 H. Walter Lack: Ein Garten für die Ewigkeit - Codex Lichtenstein 2002 Hans-Dieter Warda: Garten- und Landschaftsgehölze 2003 Heinz-Dieter Krausch: Kaiserkron und Paeonien rot. Entdeckung und Einführung unserer Gartenblumen 2005 Andrea Heistinger: Handbuch Sa‐ mengärtnerei. Sorten Erhalten, Viel‐ falt vermehren, Gemüse genießen 2006 Marianne Foerster: Der Garten mei‐ nes Vaters Karl Foerster 2007 Reinhard Witt: Nachhaltige Pflan‐ zungen und Aussaaten-Kräuter, Stauden und Sträucher 2008 Modeste Herwig: Kinderleicht - Fa‐ milienspaß im Garten. Modeste Herwig: Gemüse, Obst und Kräuter für kleine und große Gärtner 2009 Gesellschaft Deutscher Rosen‐ freunde e. V.: Rosenwelten - Ge‐ schichte, Kultur, Gärten, Persönlich‐ keiten 2010 Katarina Adams/ Petra Pelz: Gräser im Garten 2011 Carolyn Fry: Pflanzenschätze 2012 Katja Maren Thiel: Gärtnern - Grundkurs Grüner Daumen 2013 Hansjörg Haas: Pflanzenschnitt - Das große GU Praxishandbuch 2014 Andrea Heistinger/ Arche Noah: Das große Biogarten-Buch 2015 Jonas Reif/ Christian Kreß/ Jürgen Becker: Blackbox Gardening - mit versamenden Pflanzen Gärten ge‐ stalten 2016 Cathérine Vadon: Mythos Orchi‐ deen 2017 Eva Eberwein: Der Garten von Her‐ mann Hesse 2018 Tina Raman/ Ewa-Marie Rund‐ quist/ Justine Lagache: Dünger 2019 Hans Joachim Albrecht: Wildes Obst 2020 Christiane Jacquat: Die Pflanzenbil‐ der des I. H. 2021 Helga Schütz: Von Gartenzimmern und Zaubergärten 2022 Till Hägele: Die Welt in voller Blüte. Eine botanische Entdeckungsreise zu den schönsten Blütenpflanzen der Welt Tab. 1: Erste Preisträgerinnen und Preisträger des Buchpreises der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft 1957-2022 Die Deutsche Gartenbau-Gesellschaft 1822 e. V. zeichnet jährlich Autorinnen und Autoren aus, die durch ihre Veröffentlichungen aufzeigen, dass Pflanze, Garten, Landschaft und Mensch eine unteilbare Einheit bilden. Der DGG-Buchpreis soll Belange des Gartenbaus, der Gartenkultur und der Gartenkunst bewusst machen. 154 Volker Hühn 3 Wird das Gartenbuch digital? Die beliebteste Frage, die immer wieder gestellt wird, v. a. auch im privaten Bereich, lautet: „Sag mal, gibt es eigentlich in zehn Jahren immer noch Bücher oder wird alles nur noch digital gelesen? “ Tatsache ist, dass die Leselust der Deutschen seit Jahren allen Umfragen nach ungebrochen ist. Das Einzige, was zurückgeht, ist die Menge an gekauften Büchern. Das hat aber andere Gründe, deren Behandlung den Rahmen dieses Textes sprengen würde (vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2020b). Der Anteil an E-Books am Gesamtumsatz wächst allerdings seit Jahren nicht mehr so stark und liegt je nach Zählung zwischen 7 und 11 %, wobei Deutschland im internationalen Vergleich noch um einiges hinterherhinkt (vgl. Sürig 2019). Das darf wiederum auch nicht über den Befund hinwegtäuschen, dass es sehr wohl Bereiche wie das Fachbuch oder das studentische Lehrbuch gibt, bei denen der elektronische Umsatzanteil deutlich höher liegt. In Zeiten von Corona gilt all dies nur noch eingeschränkt und die E-Book-Umsätze haben deutlich an Fahrt aufgenommen (vgl. Börsenblatt 2020). Selbst bei manchen Ratgeberthemen dürfte der digitale Anteil schon deutlich höher liegen, nimmt man als Beispiel den Kochbuchmarkt, der sich schon lange digitaler Konkurrenz durch Chefkoch und Co. erwehren muss. Im Gartenbuchbereich stecken solche Entwicklungen allerdings noch in den Kinderschuhen. Die digitale Konkurrenz durch Gartenportale oder Bloggerinnen und Blogger ist hier relativ klein - ebenso wie der E-Book-Anteil, der bei Ulmer etwa 5 % ausmacht. Woran liegt es nun, dass das Gartenbuch als gedrucktes Buch ein so starkes Standing hat? Hierzu existieren leider noch zu wenige Untersuchungen, sodass der Verfasser des Beitrags auf eigene Erfahrungen und Einschätzungen zurückgreift. Einer der Gründe, der oft angeführt wird, lautet, dass Gartenfreundinnen und -freunde einen hohen ästhetischen Anspruch aufweisen. Das unterschiedliche Lese-Erlebnis zwischen ge‐ drucktem und digitalem Buch wird dabei als das zentrale Argument genannt. Hier wäre allerdings einzuwenden, dass E-Books mittlerweile technisch so weit sind, dass die Darstellungsform nichts zu wünschen übriglässt. Dies hängt nicht zuletzt mit der stark gestiegenen Qualität der Lesegeräte zusammen. Außerdem sind Gartenfreudinnen und -freunde ja nicht die einzigen Ästheten unter der Buchleserschaft, sodass dieser Grund allein nicht ausschlaggebend sein kann. Hilfreich könnte daher in diesem Kontext die Beantwortung der Frage sein, worin der genaue Unterschied zwischen E-Book und Print liegt. Offenkundig besteht dieser zunächst in der Haptik. Ein Buch vor sich aufgeschlagen liegen haben, das Papier zwischen den Fingern spüren - das ist sicherlich der große Vorteil eines gedruckten Buches. Ein Buch riecht bereits gänzlich anders als das Lesegerät, auf dem das E-Book aufgerufen wird. Gartenfreundinnen und -freunde sind ebenfalls haptische Menschen: Erdkrumen zwischen den Händen zu zerdrücken, zu spüren, ob der Boden trocken oder nass ist, das ist das, was sie lieben. Der Duft von Blumenwiesen, das Summen der Bienen im Garten - all das zeigt eindrücklich, dass die gewohnte Lebenswelt von Gärtnerinnen und Gärtnern eine natürliche ist, voller haptischer und olfaktorischer Erlebnisse. 155 Von Immerblühern und Einjährigen 9 Vgl. etwa exemplarisch: https: / / floraincognita.de (letzter Zugriff: 14.12.2021). Aber gilt dies nicht auch für Hobbyköchinnen und -köche oder Hobbytierhalterin‐ nen und -halter? Und warum sind dann die E-Book-Anteile bei Büchern für Hundebe‐ sitzerinnen und -besitzer besonders groß? Da sie ihr Lesegerät auf der Gassi-Runde mitdabeihaben? Genauso gut könnte man es dann ja auch mit in den Garten nehmen. Aber Hand aufs Herz: Wer hat das schon einmal gemacht? Es verbleibt folglich alles im Bereich des Ungewissen und man wird vermutlich auch in den nächsten Jahren weiter rätseln, warum dem E-Book kein großer Erfolg im Gartenbuchmarkt beschert ist. Man wird weiterhin wachsam bleiben und das Netz nach Apps, Blogs und grünen Themenportalen durchforsten müssen, nach Webinaren, E-Learning-Kursen und Bestimmungssoftware. Auch hier sind der Vielfalt keine Grenzen gesetzt. 9 All die hier aufgeworfenen Fragen, die Einblicke in das Marktgeschehen, in die Unterschiedlichkeit der Inhalte, der Leser- und Autorenschaft verdeutlichen, wie faszinierend der Gartenbuchmarkt ist, wie viel Dynamik in ihm steckt und warum das Arbeiten in einem Gartenbuch-Verlag wie Ulmer eine der erfüllendsten und spannendsten Aufgaben im deutschen Buchmarkt ist. 4 Fazit Wie wird der Gartenbuchmarkt im Jahr 2025 oder 2030 aussehen? Werden mehr oder weniger Bücher verkauft? Verliert das Buch seine dominierende Rolle als Leitme‐ dium? Wie werden sich die unterschiedlichen Themen entwickeln? Erscheinen neue Zielgruppen auf der Bildfläche? Auf Basis der vorliegenden Informationen kann man - auch ohne die Glaskugel allzu sehr zu bemühen - davon ausgehen, dass das Buch nicht so schnell von anderen Medien abgelöst wird. Der Zeitraum bis 2025 ist gut überschaubar und dürfte kaum große Überraschungen bereithalten. Ob sich 2030 noch dieselbe Situation zeigt, ist allerdings nicht absehbar. Dass das Gartenbuch auch bei sinkenden Absatzzahlen dennoch im Vergleich mit digitalen Angeboten seine führende Rolle behalten wird, bleibt zu hoffen. Was die Themen anbelangt, hat sich in den letzten Jahren eine Entwicklung abgezeichnet, die in Zukunft vermutlich noch an Fahrt aufnehmen wird: weg vom Zierhin zum Nutzgarten. Gründe hierfür sind der stärker werdende Wunsch in der Bevölkerung nach Selbstversorgung. Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten oder dem eigenen Baumstück ist für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit geworden. Nachhaltigkeit und Regionalität sind die Triebfedern für diese Entwicklung. Dies gilt auch für die wichtigste neue Zielgruppe: Die Neo-Ökos der sogenannten Generation Y sind zwischen 20 und 40 Jahre alt und haben die Abiturprüfung sowie eine höhere Ausbildung durchlaufen. Sie machen sich Gedanken über die Welt und ihren Einfluss darin, interessieren sich für politische und gesellschaftliche Themen, sind sozial eingestellt. 156 Volker Hühn Ihr Antrieb sind die Megatrends (langfristige Trends) zu Nachhaltigkeit, Regionalem, Upcycling, Recycling, Vintage, Urban Gardening, Selbstversorgertum, Grün in der Stadt, Klimaschutz, Gemeinschaftsgärtnern, mit Gärtnern die Welt retten etc. Die Liste ihrer Interessensgebiete führt vor Augen, dass sie sich ganz stark von den bisherigen Zielgruppen unterscheiden, die gerne einen schönen Staudengarten hinter dem Haus gepflegt hatten oder im Schrebergarten ein paar Tomaten angebaut haben. Neue Zielgruppen erfordern neue Bücher - Bücher, die sich ganz der Nachhaltigkeit verpflichten, sowohl im Inhalt als auch in der Produktion. Diese neuen Ansprüche gilt es zu vollumfänglich ernst zu nehmen und zu befriedigen. Die Konsumentinnen und Konsumenten werden kritischer und selbstbewusster und geben sich nicht mit halbherzigen Lösungen zufrieden. Die Herausforderungen für die Verlage werden also nicht geringer: Neue Zielgrup‐ pen, neuen Konsumentenbedürfnisse, neue Technologien werden die Verlagsarbeit in den nächsten Jahren bestimmen. Literaturhinweise Börsenblatt (2020): Corona-Krise lässt den E-Book-Markt florieren. On‐ line: www.boersenblatt.net/ news/ bestseller/ e-book/ corona-krise-laesst-den-e-bookmarkt-florieren-113865, letzter Zugriff: 14.12.2021. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (2020a): Wirtschaftszahlen Buchproduktion. Online: www.boersenverein.de/ markt-daten/ marktforschung/ wirtschaftszahlen/ buch produktion/ , letzter Zugriff: 14.12.2021. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (2020b): Das Buch in Zeiten von Corona - Veränderte Mediennutzung und Kaufverhalten. Sonder-Analyse zur Frankfurter Buchmesse. Heinzelmann, R. (2020): Das 1 x 1 des Obstbaumschnitts. Bild für Bild, 4. Aufl. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart. Kullmann, Folko (2021): Das perfekte Beet. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart. Lepple, A. (2020): Genießen statt Gießen. Trockenheitstolerante Gärten gestalten, 2. Aufl. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart. Merkelbach, B. (2020): Die Renaissance des Schrebergartens: Nicht nur Co‐ rona treibt die Maintaler ins Grüne, in: op-online.de vom 24.08.2020. On‐ line: www.op-online.de/ region/ main-kinzig-kreis/ maintal/ die-renaissance-des-schre bergartens-nicht-nur-corona-treibt-die-maintaler-ins-gruene-90029288.html, letzter Zugriff: 14.12.2021. 157 Von Immerblühern und Einjährigen Riess, H. W. (2020): Obstbaumschnitt in Bildern. Kernobst - Steinobst - Beerensträucher - Veredlung, überarb. Neuaufl. Obst- und Gartenbauverlag des Bayerischen Landesver‐ bandes für Gartenbau und Landespflege, München. SINUS-Institut (2018): Die Sinus-Milieus. Online: www.sinus-institut.de/ fileadmin/ user_data/ sinus-institut/ Bilder/ Sinus-Milieus_092018/ 2018-09-18_Sinus-Mi lieus_Website_UEberblick_slide.pdf, letzter Zugriff: 14.12.2021. statista (2021): Statistiken zum Buchmarkt. Online: de.statista.com/ themen/ 1069/ buchm arkt/ , letzter Zugriff: 14.12.2021. Sürig, D. (2019): Lies mal wieder, in: SZ vom 17.10.2019. Online: www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/ buchmarkt-lies-mal-wieder-1.4643056, letzter Zugriff: 14.12.2021. 158 Volker Hühn Gartenakademien in Deutschland Mehr Freude und Erfolg im Garten durch Bildung Marianne Scheu-Helgert 1 Gartenwissen - früher von Generation zu Generation Ein Garten steht für viele Kulturen am Beginn der Menschheitsgeschichte. Folgerichtig weckt der Garten bis heute die Sehnsucht nach einer paradiesischen Heimstatt im Menschen. Andererseits standen Privatgärten seit historischen Zeiten außerhalb der Aufmerksamkeit der Obrigkeit. Für die Erträge aus kleinen Gartenflächen ums Haus oder auch vor den Toren der Stadt wurde kein Zehnt erhoben und daher finden sich auch kaum systematische Aufzeichnungen zu den Gartenflächen und den dort angebauten Kulturen. Während für Ertragsflächen schon seit Jahrhunderten bereits früh im Jahr Ernteschätzungen von Amts wegen üblich waren, blieben die Gärten als Wirkstätte der Frauen außerhalb der Aufzeichnungen. Rührige und aufmerksame Haushaltsvorständinnen nutzten den Garten zur bestmöglichen und v. a. zur gesunden, durch Kräuter schmackhaften und preiswerten Nahrungsergänzung zur ansonsten recht eintönigen Verköstigung damals. Anbaumethoden oder neue Kulturen schaute man sich in der Nachbarschaft ab. Örtlich gab es seit weit über 1.000 Jahren, gebiets‐ weise wohl seit der Römerzeit, vorbildliche Klöster- oder Fürstenhöfe. Klöster waren nach Benedikts Vorgabe „Bete und arbeite“ oft Musterhöfe weit über die Selbstversor‐ gung hinaus. In späteren Jahrhunderten sorgten sehr gut ausgebildete ‚Lustgärtner‘ mit einem eigenen Mitarbeiterstab für die repräsentative Anlage und den planvollen Betrieb der Schlossgärten. Da die Landbevölkerung in den herrschaftlichen Gärten teils zur Dienstleistung oder gar zu Frondiensten eingeteilt war, drang das Wissen und vielleicht auch so manches Samenkorn oder Pflänzchen über die Gartenmauern hinaus aufs flache Land. Die Bauern aus Thüngersheim bei Würzburg waren z. B. speziell für 1 Weitere Informationen zu dem Verband finden sich unter: kreisfachberater.de/ die-kreisfachberater/ geschichte/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). die Raupenbekämpfung im großen fürstbischöflichen Küchengarten in Veitshöchheim zuständig (vgl. Struchholz 2012). Und die Erfahrungen hiermit gingen in den üblichen zwei bis drei Generationen in jedem Haushalt auf die Jüngeren über. 2 Über 200 Jahre Gartenberatung: Ernährungssicherung und Volksgesundheit Auf den Dörfern wurden bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts auf Weisung der Landesherren ‚Industriegärten‘ eingerichtet. Zu pflegen waren sie von den Schulmeis‐ tern mit ihren Schülern. Zum Beispiel befahl im Jahr 1789 Fürstbischof Franz Ludwig von Erthal (Würzburg), es sei in jedem Dorf ein ‚Industriegarten‘ anzulegen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts sorgten dann viele Landesfürsten für eine Förderung des Obstanbaues zur Mostbereitung, um die durch Peronospora und Reblaus katastrophal eingebrochenen Weinerträge zu ersetzen. Wein war bis dahin ein wichtiges Wirt‐ schaftsgut, teilweise diente Wein als Zahlungsmittel. Im Wortsinn zeigte sich das in dieser Bedeutung: „Drei Fuder Wein für ein Messgewand“. In Bayern brachten die sogenannten Wanderlehrer, die von Ort zu Ort zogen, um die Bevölkerung in der Pflege von Obstbäumen zu unterweisen, oft Edelreiser neuerer, besserer Sorten zum Veredeln mit. Ihre Vorgänger waren u. a. die Baumwärter, teils auch ‚Landgärtner‘ oder ‚Bezirkswegewarte‘ genannt, die schon seit dem Mittelalter Obstbäume entlang von Wegen pflegten. In Triesdorf fanden 1860 die ersten Obstbau- und Baumwartlehrgänge statt, im Jahr 1904 gab es dann bereits 635 Baumwarte in Bayern. Baden-Württemberg bildete u. a. in Reutlingen aus (vgl. Verband der Kreisfachberater für Gartenkultur und Landespflege in Bayern o. J.) Im 19. Jahrhundert formierten sich auch die ersten Obst- und Gartenbauvereine in Bayern: Der erste Gartenbauverein entstand 1829 in Coburg, der mittelfränkische Kreisverband und der oberfränkische Obstbauverein 1893 und schließlich 1894 der bayernweite Dachverband, zunächst mit Sitz in Nürnberg. Nachfahren der Wanderleh‐ rer sind die Kreisfachberaterinnen und -berater für Gartenkultur und Landespflege an jedem Landratsamt in Bayern bis zum heutigen Tag. Sie gründeten 1919 den Landesverband der Bayerischen Bezirksgärtner und feierten vor kurzem als Berufsver‐ band der Kreisfachberater für Gartenkultur und Landespflege in Bayern 1 100-jähriges Bestehen. Bis heute betreuen sie in erster Linie die Obst- und Gartenbauvereine in den einzelnen Gemeinden. Standen zunächst Sorgen um die Ernährungssicherung und die Volksgesundheit im Vordergrund, sind inzwischen Themen wie nachhaltige, umweltgerechte Gartenpflege und Förderung der Biodiversität in den Gärten in den Vordergrund gerückt. Der Arzt Moritz Schreber (1808-1861) propagierte ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert Gärten als Stätten der Volksgesundheit. Ihm war Bewegung im Freien wichtig für die 160 Marianne Scheu-Helgert Gesundheit, v. a. jene der Kinder, aber wenige Jahre nach der Eröffnung der ersten zur Ehre nach ihm benannten Flächen (nach 1864), die zunächst der Bewegungsthera‐ pie dienten, kamen Gemüsebeete dazu. Bald darauf entstanden Gartenparzellen für Industriearbeiter auf Flächen, die zumeist städtisch waren oder zum Unternehmen gehörten. Damit sollten sie sich nicht nur in gesunder Luft im Freien aufhalten und betätigen, sondern zusätzlich sollte das angebaute Gemüse und die Kräuter mit frischen Vitaminen für eine Verbesserung ihrer Ernährung sorgen. Aus dieser Initiative entstanden später die Kleingartenvereine. In der gleichen Zeit errichteten sich wohlhabende Bürgerinnen und Bürger vor der Stadt, z. B. in Augsburg, teils herrschaftliche Sommersitze - mit repräsentativen Gartenanlagen, durchaus aber auch mit Obstbäumen (Spalierobst) und Gemüserabatten. Im Jahr 1902 eröffnete die Königliche Wein-, Obst- und Gartenbauschule in der ehemaligen fürstbischöflichen Sommerresidenz in Veitshöchheim. Aus dem Jahr 1911 gibt es z. B. noch handschriftliche Unterlagen aus einem Einkochkurs in dieser damals noch neuen Einrichtung. Selbstversorgung wurde dann nochmals in den beiden Weltkriegen immens wichtig und das blieb auch so bis weit in die 1950er-Jahre hinein. In der Zeit des Wiederaufbaus gründeten sich die Obst- und Gartenbauvereine neu, nachdem sie gleich im Jahr 1933 mit ihrem gesamten Vermögen in den ‚Reichs‐ nährstand‘ eingegliedert worden waren. Mitte des 20. Jahrhunderts bemühten sich die Ämter für Landwirtschaft, Mustergärten in den Gemeinden zu initiieren, um die Bevölkerung, v. a. die Frauen, im erfolgreichen Anbau von Beerenobst und Gemüse anzuleiten. Die Mutter der Autorin, jung verheiratet als Bäuerin, hat um 1950 auf Wunsch und mit Unterstützung des Landwirtschaftsamtes des Landkreises einen ‚Mustergarten‘ mit einigen anderen Bäuerinnen eingerichtet. 3 Supermärkte lassen Gärten unmodern erscheinen Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder brachte Millionen neuer Wohnungen hervor, neue Fabriken ermöglichten den vielen Arbeitslosen eine neue Anstellung. Der Wohlstand erhielt Einzug und veränderte die Menschen zur Oberflächlichkeit und zum Materialismus (vgl. Misdorf o. J.) Im Gegenzug zu den aufkommenden Supermärkten schwanden dann ab den 1960er-Jahren die Gemüseflächen - „Haben wir doch nicht mehr nötig“ - und Blaufichten zeugten inmitten ‚sauberer‘ Rasenflächen von ebendiesem wachsenden Wohlstand. Ein ‚moderner‘ Hausgarten entstand, der sich auf diese Rasenflächen und einen Sandkasten für die Kinder beschränkte, um möglichst wenig Arbeit erforderlich werden zu lassen. Die ökonomische und kulturelle Anpassung der westlichen Gebiete an die USA zeigte sich u. a. in diesen Gärten, in denen Hollywoodschaukeln aufgestellt und zu Barbecues eingeladen wurde (vgl. Muntermann 2020). In der DDR etablierte sich insbesondere in der Schulgartenarbeit (vgl. den Beitrag von Steffen Wittkowske in diesem Band), orientiert an dem sowjetischen Pflanzen‐ züchter und Botaniker Iwan Wladimirowitsch Mitschurin (1855-1935), der Mitschu‐ 161 Gartenakademien in Deutschland 2 Mitschurin-Gärten wurden angelegt, um der Sowjetunion auch im Gebiet des Gärtnerns nachzurei‐ fen. Mitschurin züchtete frostresistente Obstsorten, die deren Anbau in russischen Gebieten mit niedrigen Temperaturen ermöglichten (vgl. Fath o. J.) 3 Ehemals Königliche Wein-, Obst und Gartenbauschule genannt. rin-Garten. 2 Mit dem Einzug des Schulgartenunterrichts in die Unterstufe sollten Kinder wieder an das Säen und Pflanzen sowie die Pflege herangeführt werden und produktive Arbeit erfahren (vgl. Eisenreich 2011, S. 55 f.). Somit blieben Gärten und ihre Erzeugnisse zwar in den letzten 150 Jahren immer präsent, in der von Waschbe‐ ton, Glasbausteinen und Zuckerhut-Fichten gekennzeichneten Zeit der 1970er-Jahre begann jedoch eine in der Vergangenheit kaum je dagewesene Abwendung vom Garten. Erinnert sei dabei an Bemerkungen wie: „Eigenes Obst und Gemüse? Ja das macht nur noch die Oma. Ich kaufe mir einfach, was ich brauche! “ 4 Gartenakademien entstehen Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann in der alten Bundesrepublik die Rückbe‐ sinnung auf den Wert der Gärten. Jahrzehnte der Abwendung vom Garten rissen jedoch eine Lücke in die traditionelle, generationenübergreifende Weitervermittlung von Gartenwissen. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass im Jahr 1986 mit der Informations‐ stelle für Haus- und Kleingärtner die erste landesweite, staatliche Beratungsstelle für Freizeitgärtnerinnen und -gärtner in Veitshöchheim eröffnet wurde, aus der dann 1994 die Bayerische Gartenakademie hervorging. Sie ist Teil der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau (LWG). 3 Anders als die übrigen Abteilungen der LWG sind nicht ‚Profis‘, also Erwerbsgärtnerinnen und -gärtner sowie Winzerinnen und Winzer, sondern Freizeitgärtnerinnen und -gärtner die Zielgruppe. In der Folgezeit entwickelte die Bayerische Landwirtschaftsverwaltung ‚erlebnisori‐ entierte Angebote‘. Dabei geht es um die Erwirtschaftung zusätzlicher oder alternativer Einkünfte für Landwirtinnen und Landwirte, und sowohl bei der Bewirtung von Gästen als auch bei Veranstaltungen auf Bauernhöfen spielen Gärten eine wachsende Rolle - sei es als interessante Umrahmung von Ferienwohnungen oder sei es als Veranstaltungsort für pädagogische Angebote. Der Hausgartenbau gehört ohnehin schon seit Jahrzehnten zu den Schulungsinhalten der Hauswirtschaftsschulen an den Ämtern für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, die es zu jener Zeit noch in jedem Landkreis gab. Das Interesse der Bevölkerung an Gärten entwickelte sich zwar langsam, aber stetig. Seit dem Jahr 2000 rückten Initiativen zum „Gärtnern in der Stadt“ zunächst in den Metropolen weltweit, kurz darauf auch in der Provinz in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung - auch durch Medien und schließlich durch die Politik. Urban Gardening in allen seinen vielfältigsten Erscheinungsformen bezeichnet die Rückkehr der Gärten zum Menschen, in die Städte. Nach der Bayerische Gartenakademie entstanden in kurzer Folge weitere Garten‐ akademien. Heute gibt es umfassende Angebote für private Gärtnerinnen und Gärtner 162 Marianne Scheu-Helgert 4 Siehe hierzu: www.mein-schoener-garten.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 5 Siehe hierzu: www.krautundrueben.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 6 Bayern hat z. B. 214.000 ha ‚Wohnbauflächen‘, davon werden 135.000 ha als Gartenflächen geschätzt (vgl. Bayerisches Landesamt für Statistik 2020, S. 13). in neun Bundesländern. Deutliches Zeichen für die steigende Nachfrage nach Rat und Anregungen sind Gartenzeitschriften: Mein schöner Garten  4 kam 1972, Kraut und Rüben  5 1984 auf den Markt. Heute nehmen Gartentitel oft mehrere Regalmeter im Zeitschriftenhandel ein. 5 Beratungsaufgaben werden komplexer Hinter gut 50 % der privaten Grundstücke dürfen Gartenflächen vermutet werden. 6 Derzeit wird sehr viel neu gebaut; damit entstehen neue Gartenflächen. Zugleich werden die vorhandenen Gärten jedoch anteilig kleiner, ältere Gartenflächen werden im Zuge der städtebaulich erwünschten Nachverdichtung verbaut. In vielen Metro‐ polen richten außerdem Investorinnen und Investoren ihr Augenmerk zunehmend auf Kleingartenflächen. Natürlich muss die Allgemeinheit Interesse daran haben, dass die verbleibenden grünen Flächen umweltfreundlich, nachhaltig und im Sinne des Gemeinwohls genutzt werden. In Zeiten des Klimawandels gilt es, weitere Ver‐ siegelungen zu vermeiden, mehr Wasser zu speichern und mehr ‚grüne Lungen‘ und Frischluftschneisen gerade in Ballungsräumen zu erhalten. Somit unterstützen die Länder die Einrichtung von Anlaufstellen für Interessierte und insbesondere für Verbände, zu deren Vereinszwecken (auch) die Gartennutzung gehört. Weil Dünge- und Pflanzenschutzfragen immer komplexer werden und somit schwie‐ riger mit guter Verständlichkeit zu beantworten sind, bleiben beratende Einrichtungen sinnvoll. Sie leisten neutrale, nicht von kommerziellen Eigeninteressen gelenkte Aufklärung. Eine bestmögliche, an Umweltschutz und Erhaltung einer vielfältigen Lebensumgebung (Biodiversität) ausgerichtete Beratungsarbeit bleibt weiterhin in öffentlichem Interesse. Qualitativ hochwertige und zugleich nachhaltige Beratungs‐ arbeit ist nur mit gut ausgestatteten Einrichtungen möglich. Dabei haben sich die Schwerpunkte der Beratungsarbeit in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben. In den 1980er-Jahren ließen sich annähernd die Hälfte der Anfragen unter dem Stichwort ‚Pflanzenschutz‘ abheften. Später rückten Fragen nach bestimmten Sorten und insbesondere nach robusten Sorten in den Vordergrund. Viele Fragen gibt es heute zur richtigen Bodenpflege und Düngung, neuerdings auch stärker gleich nach Tipps zur Gartenanlage. Die Beratungsarbeit ist zunehmend stärker durch Vorgaben aus Gesellschaft und Politik geprägt: Bei vielen Seminaren und in der Öffentlichkeits‐ arbeit geht es immer auch um umweltschonendes Gärtnern, um nachhaltiges und ressourcenschonendes Gärtnern (Wassersparen, Reduktion des Torfeinsatzes etc.), um das Zulassen von bzw. das Gestalten einer möglichst breiten Vielfalt im Garten (Biodiversität) und um die Anpassung der Gartenpflege an den Klimawandel. 163 Gartenakademien in Deutschland 7 Siehe hierzu: www.foerderer-der-gartenkultur.de/ entsteint-euch.html (letzter Zugriff: 17.08.2021). 8 Ein Imagefilm der Gartenakademien Deutschlands ist zu finden unter: www.youtube.com/ watch? v =_mieAPFLSIk&; t=16s (letzter Zugriff: 17.08.2021). 9 Die Schätzungen stammen aus einer Unterhaltung zwischen der Aurotin und verschiedenen Mit‐ gliederinnen und Mitgliedern der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau (LWG). Für weitere Informationen und Recherche siehe: www.lwg.bayern.de (letzter Zugriff: 18.08.2021). Schlagworte bzw. politische Botschaften wie ‚Entsteint Euch! ‘ 7 , ‚mehr Biodiversität‘ und ‚Gärten im Klimawandel‘, für die es hohe Medienaufmerksamkeit und in der Folge auch zahlreiche Forschungsprojekte gibt, werden in ihren teils komplexen Erkenntnissen nur nach entsprechender Aufbereitung auch für die Freizeitgärtnerin und den Freizeitgärtner verständlich sowie im eigenen Garten umsetzbar. Mit den verschiedensten Medienangeboten und Veranstaltungen unterstützen die Gartenaka‐ demien in verständlicher Form die einzelnen Zielgruppen. Mit der weltweit zunehmenden Verstädterung - die Landbevölkerung stagniert, nur die Städte wachsen - werden Gartenflächen immer wichtiger. Die Wertschätzung grüner Flächen steigt, gerade in den Städten, wo diese ‚grünen Lungen‘ anteilig weniger werden. Daher sind auch weiterhin viele Leute dazu bereit, Zeit und Geld in ihr eigenes kleines Grün - ob Balkon, Terrasse oder Kleingarten - zu investieren. Durch den weiteren Abbau der generationenübergreifenden Familienstrukturen wird das Wissen um die Pflanzenpflege kaum noch in der Familie weitergegeben. Umso stärker suchen junge Leute spätestens in der Phase der Familiengründung Gartenwissen. Dabei greifen sie immer stärker auf soziale Medien zurück. Diese neuen Medien werden auch die etablierten Beratungseinrichtungen stärker bespielen müssen, um die jeweils nachrückenden jüngeren Leute gut erreichen zu können. Erste Videoclips oder Online-Seminare stehen jetzt am Beginn einer wohl längeren Entwicklung. 6 Gartenakademien in Deutschland 8 Geschätzt 15 Millionen Freizeitgärtnerinnen und -gärtner bewirtschaften in Deutsch‐ land eine Fläche von knapp 1.000.000 ha. Dies entspricht 2,6 % der Gesamtfläche Deutschlands. Derzeit unterstützen staatlich geförderte Gartenakademien in neun Bundesländern die Freizeitgärtnerinnen und -gärtner bei der Pflege dieser Flächen. Sie liefern auch heute noch geschätzt 10 % des im Inland gezogenen Gemüses und Obsts. 9 Zugleich können sie ökologisch bedeutsame Grünoasen in den Siedlungsgebieten sein. Gartenakademien sind zumeist in staatlichen Versuchs- oder Forschungseinrichtungen eingebunden oder arbeiten eng mit ihnen zusammen. Sie sind damit kompetente, neutrale und unabhängige Ansprechpartner für Freizeitgärtnerinnen und -gärtner. Sie transportieren und ‚übersetzen‘ neue Forschungsergebnisse aus dem Erwerbsanbau für den Freizeitgartenbau. Ferner arbeiten sie eng mit den Verbänden des Freizeitgar‐ tenbaus und den kommunalen und berufsständischen Einrichtungen zusammen. Die Gartenakademien bieten ihre Inhalte in Form von Lehrgängen, Seminaren, Lehrfahr‐ ten, Fachtagungen, Führungen und Bildungsreisen vorrangig für Multiplikatorinnen 164 Marianne Scheu-Helgert Abb. 1: Staudenseminar mit Praxisteil „Anlegen eines Beetes“ bei dem Landbetrieb Landwirtschaft Hessen (LLH) Abb. 2: Eine Gruppe von Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern im obstbaulichen Lehr- und Schaugarten der Hessischen Gartenakademie in Geisenheim und Multiplikatoren, also berufliche oder auch ehrenamtliche Beratungskräfte in den Verbänden, aber auch für alle Interessierten an (→ Abb. 1 u. 2). Sie stellen ein umfängliches Sortiment an Veröffentlichungen über alle Medien (Print und On‐ line) zur Verfügung. Einige bieten persönliche Beratung am Gartentelefon an oder über Mailanfragen. Sie stellen sich den Fragen auf Informationsständen im Rahmen von Ausstellungen oder Messen. Und so präsentieren sich die Gartenakademien in Deutschland in den jeweiligen Bundesländern mit individuellen Schwerpunkten in ihrem Leistungsspektrum. 165 Gartenakademien in Deutschland 10 Siehe hierzu: www.gartenakademie.info/ cms/ , www.gartennetz-bw.de, gartennetz-bw.de/ Inhalt/ #K ategorie=0 (letzter Zugriff: 17.08.2021); www.schulgaerten-bw.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 6.1 Gartenakademie Baden-Württemberg e. V. 10 Die Gartenakademie Baden-Württemberg e. V. entstand im Jahr 2002 aus einer breit angelegten Initiative der Verbände des Freizeitgartenbaus, der gärtnerischen Berufsverbände, Kommunen, Unternehmen und des Ministeriums für Ernährung und Ländlichen Raum. Sie finanziert sich als eingetragener gemeinnütziger Verein über Mitgliedsbeiträge, Sponsoren und Dienstleistungsangebote. Ihr Sitz ist die Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau (LVG) in Heidelberg. Somit hat sie unmittel‐ baren Zugang zu aktuellen gartenbaulichen Fachinformationen, um diese auch dem Freizeitgartenbau zugänglich zu machen. In Baden-Württemberg gibt es rund 2,5 Millionen Gartenbesitzerinnen und -besitzer, ca. 200.000 sind in Vereinen organisiert. Wichtige Partner der Gartenakademie sind der Landesverband für Obstbau, Garten und Landschaft (LOGL), der Landes- und Bundesverband der Gartenfreunde, der Deutsche Siedlerbund, der Verband der Klein‐ gärtner, gärtnerische Berufsverbände, Kreisfachberater an den Landratsämtern sowie Ämter für Landwirtschaft, Landschafts- und Bodenkultur (ALLB). Zum Thema ‚Kind und Natur‘ gibt es eine enge Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Ernährung und Ländlichen Raum (MLR), dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport sowie mit Arbeitskreisen Schulgarten, der Bundesarbeitsgemeinschaft Schulgarten (BAGS), der Landesarbeitsgemeinschaft Schulgarten (LAGS), den Pädagogischen Hochschulen und den Schulämtern. Wichtige Aktivitäten sind die Fortbildung der Lehrenden und Erziehenden, die Erstellung von Informationsmaterial und Planungshilfen für Schulgärten, Schulgartenwettbewerbe und das Forum „Gärtnern macht Schule“ auf den Landesgartenschauen. Mit Kommunen, Grünflächenämtern, mit der Gartenamtsleiterkonferenz im Städ‐ tetag (GALK), dem Bund Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA), dem Verband für Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau, Kreisfachberatern sowie den gärtneri‐ schen Berufsverbänden geht es um Themen wie Planung, Gestaltung und Pflege von Grünflächen sowie um die Mitwirkung bei Wettbewerben wie dem Blumenschmuck‐ wettbewerb und der Aktion „Unser Dorf soll schöner werden - Unser Dorf hat Zukunft“ sowie um den „Tag der offenen Gartentür“ in privaten und öffentlichen Gärten. Zur Gartendenkmalpflege geht es in Zusammenarbeit mit der Abteilung Schlösser und Gärten, dem Bund Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA), der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL), dem Arbeitskreis his‐ torische Gärten, der Deutschen Gartenbaugesellschaft (DGG) und der Gartendenk‐ malpflege des Blühenden Barock Ludwigsburg um Themen wie historische Pflan‐ zenverwendung sowie Nutzung und Erhalt historischer Gärten unter besonderer Berücksichtigung regionaler Aspekte (vgl. den Beitrag von Joachim Wolschke-Bul‐ mahn in diesem Band). 166 Marianne Scheu-Helgert 11 Siehe hierzu: www.gartenakademien.de/ und: www.lwg.bayern.de/ gartenakademie/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). Um den Erhalt der Kulturlandschaften geht es bei der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Ernährung und Ländlichen Raum (MLR), den Naturschutzbehör‐ den, den Ämtern für Landwirtschaft, Landschafts- und Bodenkultur (ALLB), dem Landesverband für Obstbau, Garten und Landschaft (LOGL), dem Bund Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA), der Deutschen Gartenbaugesellschaft (DGG) sowie den Kreisfachberaterinnen und -beratern. Schwerpunktthemen sind an dieser Stelle Streuobst, Weinberge, Bäume und Hecken in der freien Landschaft. 6.2 Bayerische Gartenakademie 11 Die Bayerische Gartenakademie ist ein Arbeitsbereich im Institut für Erwerbs- und Freizeitgartenbau an er Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau in Veitshöchheim. Sie besteht seit 1994 und hat das Ziel, eine umweltverträgliche, nachhaltige Pflege in Bayerns Gärten zu unterstützen. Sie gibt ihrem Beirat, der sich einmal jährlich trifft, Rechenschaft über ihre Arbeit. Mitglieder im Beirat sind das Baye‐ rische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, die Hochschule Weihenstephan-Triesdorf (HSWT), der Verband der Kreisfachberater sowie sieben Verbände des Erwerbs- und Freizeitgartenbaus. Die Vernetzung mit Wissenschaft und Verbänden garantiert das hohe Niveau und die Praxisrelevanz der Arbeiten in der Bayerischen Gartenakademie. Auch die enge Nachbarschaft zu den Instituten mit praxisorientierter Forschung ermöglicht es, geeignete Forschungsergebnisse aus Arbeitsthemen für den Erwerbsanbau ganz schnell für den Freizeitgartenbau zu ‚über‐ setzen‘. Neueste Erfahrungen mit dem großtechnischen Einsatz von Hackrobotern sind eher uninteressant. Informationen über die am besten geeigneten Mulchmaterialien gegen verkrustete Böden im Sommer nutzt die Bayerische Gartenakademie im eigenen Schaugarten und stellt sie auch zeitnah in allen Medien zur Verfügung. Das Gartentelefon dient als Themen-Seismograf. Wochentipp und wöchentlicher ‚Gemüseblog‘ für Presse und Öffentlichkeit sind somit stets an die aktuellen Witte‐ rungsabläufe und an den Vegetationsfortschritt in den Gärten angepasst. Die klima‐ günstige Lage am Untermain ermöglicht es, Beobachtungen vor Ort an die meist um ein, zwei Wochen verzögerte Entwicklung in Südbayern und in den Mittelgebirgslagen anzupassen. Das Seminarprogramm richtet sich, zum Großteil und in Absprache mit den beteilig‐ ten Verbänden des Freizeitgartenbaues, an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in diesen Verbänden, teils aber auch an ‚Jedermann/ -frau‘. Weitere Spezialangebote gibt es für die Kreisfachberater für Gartenbau und Landschaftspflege an allen Landratsämtern in Bayern. Die Gartenakademie hat bisher knapp 130 Gartengästeführerinnen und -führer ausgebildet, die in ganz Bayern Gartenführungen vor Ort anbieten. Insgesamt steht die Bayerische Gartenakademie für Anfragen aller Medien zur Gartenpflege bereit. Gärten zum Genießen und ebenso zur Selbstversorgung stoßen 167 Gartenakademien in Deutschland 12 Siehe hierzu: www.gartenakademien.de/ , llh.hessen.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 13 Siehe hierzu: llh.hessen.de/ pflanze/ landesgartenschauen/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). auf derzeit stark wachsendes Interesse von Öffentlichkeit und Medien. Aus diesem Grund macht die Akademie Themen wie naturnahes Gärtnern, mehr Biodiversität in den Gärten, ressourcen-/ wassersparende Gartenpflege, Pflanzenschutz durch Sorten‐ wahl und bestmögliche Pflege sowie standortangepasste Gartengestaltung zu ihren Schwerpunkten. 6.3 Hessische Gartenakademie 12 Alle vier Jahre ist die Landesgartenschau (LGS) und der Beratungsgarten des Landes Hessen für Gäste von nah und fern für rund 163 Tage geöffnet. Den Gästen werden 60 Garten- und Umweltthemen dargeboten. Konzeption, Organisation sowie Durchfüh‐ rung ist einer der Arbeitsschwerpunkte der Gartenakademie. 13 Als Institution des Landesbetriebes Landwirtschaft Hessen (LLH) bietet die Aka‐ demie Beratung und Bildung im öffentlichen Interesse für gärtnerisch interessierte Leute sowie für Beschäftigte der kommunalen Verwaltungen im ‚öffentlichen Grün‘. Dazu wurde ein ‚Gartentelefon‘ sowie eine Sprechstunde eingerichtet. Außerdem werden Seminare und Führungen angeboten und es stehen Beratungsunterlagen im Internet zur Verfügung. Jährlich ermöglichen über 80 Seminare den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Praxisaustausch und Vertiefung ihres Wissens zu den Themen ‚Ro‐ sen‘, ‚Rasen‘, ‚Blumenwiesen‘, ‚Stauden‘, ‚Gemüsebeete‘ sowie ‚Obstbäume‘. Aktualität garantieren Themen wie Nachhaltigkeit, Klimaanpassung, biologische Vielfalt oder neu auftauchende Schaderreger. Die Kurse finden zum Teil im rund 2 ha großen obstbaulichen Lehr- und Schaugarten Monrepos statt. Speziell um die nachhaltige Bewirtschaftung in Kleingartenvereinen zu fördern, werden jährlich Kurse zur Ausbildung zur Fachberaterin bzw. zum Fachberater sowie zur Fachwartin bzw. zum Fachwart Obst und Garten durchgeführt; auch werden Lehr‐ gänge zum Erwerb der Sachkunde im Pflanzenschutz regelmäßig für Erwerbsgärtne‐ rinnen und -gärtner angeboten. Intensive Einzelberatungen finden in der Sprechstunde des ‚Pflanzendoktors‘ bei Pflanzenmärkten, gärtnerischen Ausstellungen, Messen und auf Landesgartenschauen statt. Die Hessische Gartenakademie wurde 1998 in Wiesbaden gegründet und war zunächst in Klarenthal untergebracht. Im Jahr 2002 siedelte sie in den Rheingau nach Geisenheim um, wo sie ihr Hauptdomizil auf dem Gelände der Hochschule Geisenheim hat. Ein weiterer Standort befindet sich in Kassel. Sie ist eine staatliche Bildungs- und Beratungseinrichtung des Landes Hessen und ist dem Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz nachgeordnet. Zum Fachbeirat der Hessischen Gartenakademie gehören Vertreterinnen und Vertreter der Verbände des Freizeitgartenbaues sowie des Städte- und Gemeindebundes. Dieser berät und unterstützt die Arbeit der Hessischen Gartenakademie. Getragen werden die Angebote von einem Team, dass sich aus neun Dozierenden und zwei Mitarbeiterinnen 168 Marianne Scheu-Helgert 14 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.gartenakademien.de/ (letzter Zugriff: 31.10.2021); www.lwk-niedersachsen.de/ index.cfm/ portal/ niedersaechsischegartenakademie/ nav/ 6 96.html (letzter Zugriff: 31.10.2021). 15 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.park-der-gaerten.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 16 Mündliches Zitat von Erika Brunken gegenüber der Verfasserin des Beitrags. 17 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.gartenakademien.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021); www.gartenakademie.rlp.de/ Gartenakademie/ Themen/ Aktuelles (letzter Zugriff: 17.08.2021). 18 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.hortipendium.de/ Portal: Freizeitgarten (letz‐ ter Zugriff: 17.08.2021). zusammensetzt sowie von Fremdreferentinnen und -referenten. Im Fokus der Seminare steht die Praxisnähe. Hier können die Teilnehmenden ihr theoretisch erworbenes Wissen direkt am Gartenobjekt erproben. 6.4 Niedersächsische Gartenakademie 14 Die Niedersächsische Gartenakademie gehört zur Landwirtschaftskammer Nieder‐ sachsen. Die Gartenakademie bietet niedersachsenweit Seminare und Pflanzen‐ schutz-Sachkunde-Fortbildungen für Erwerbsgärtnerinnen und -gärtner an. Weiterhin gibt sie allen Gartenliebhaberinnen und -liebhabern umfassende, hochwertige und un‐ abhängige Garteninformationen. Bei Seminaren, Gartenspaziergängen, Gartenfahrten und Vorträgen gibt sie Tipps, bietet vielfältige Gartenerlebnisse und damit zahlreiche Anregungen für den Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern im eigenen Nutzgarten. Aber auch vielseitige Ideen für die Gartengestaltung, Pflanzung und Pflege eines Ziergartens sind dort erhältlich. Neben den Beratungen vor Ort gibt es für Hobbygärt‐ nerinnen und -gärtner des Weiteren die Möglichkeit, am Gartentelefon Auskünfte von erfahrenen Gartenberaterinnen und -beratern zu erhalten. Die Niedersächsische Gartenakademie ist der Weiterbildungspartner in einem der schönsten Parks Deutschland, mit einer berauschenden Vielfalt an gärtnerischen und kulturellen Attraktionen, nämlich im Park der Gärten - Die Gartenschau in Bad Zwischenahn. 15 Führungen, Vorträge, Aktionstage zu besonderen Pflanzen und regelmäßige Gartenberatung stehen ebenso auf dem Programm wie Seminare mit viel Praxis. Beim Besuch des Parks der Gärten und der Gartenakademie bleiben keine Wünsche offen, so Erika Brunken, Leiterin der Niedersächsischen Gartenakademie. 16 6.5 Gartenakademie Rheinland-Pfalz 17 Die Gartenakademie Rheinland-Pfalz ist Teil der Dienstleistungszentren Ländlicher Raum des Landes Rheinland-Pfalz mit der speziellen Zielgruppe der Freizeitgärtnerin‐ nen und -gärtner. Sie betreibt ein äußerst vielseitiges Internetangebot. Dazu kommt ein länderübergreifendes Portal für den Freizeitgartenbau, nämlich ‚das grüne Lexikon‘ Hortipendium  18 mit einem weit gefächerten und inhaltlich übersichtlich gegliederten Themenspektrum, vom Boden über Obst- und Gemüsethemen, Krankheiten und Schädlinge, Gartengestaltung, Gesetze und Verordnungen. 169 Gartenakademien in Deutschland 19 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.gartenakademien.de/ , www.lwk-saarland.d e/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 20 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.gartenakademien.de/ , www.gartenakadem ie.sachsen.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 21 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.galabau-sachsen.de/ wettbewerb2020.aspx, letzter Zugriff: 17.08.2021. 22 Siehe hierzu: www.schulgarten.sachsen.de/ 7026.htm (letzter Zugriff: 17.08.2021). 23 Siehe hierzu: publikationen.sachsen.de/ bdb/ bdb (letzter Zugriff: 17.08.2021). Regelmäßig lädt die Gartenakademie zu Seminaren und Vorträgen ein. Weitere Schwerpunkte sind, wie bereits angedeutet, die Beratung und Pflanzendiagnose. Ratsuchenden und Interessierten ist es möglich, über das Gartentelefon Informationen zu erhalten. Einmal wöchentlich gibt es die Möglichkeit, das Gartenlabor zu besuchen, um Rat und Informationen zu erhalten. 6.6 Saarländische Gartenakademie 19 Die Saarländische Gartenakademie bietet Beratung per Gartentelefon. Unter anderem erhalten Ratsuchende und Interessierte Informationen zu Pflanzenschutz, Düngung, Kompost und Sorten. Im eigenen Labor können kranke Pflanzen nach telefonischer Anmeldung abgegeben oder per Post eingesandt werden. Dort werden die Pflanzen untersucht und anschließend die Halterinnen und Halter über das weitere Vorgehen beraten. Ein wichtiger Schwerpunkt ist die Unterstützung der gartenbaulichen Vereine durch Vorträge und Seminare. Vorträge können zu verschiedensten Themenbereichen gebucht werden. Referiert wird in 45 bis maximal 90 Minuten über Hoch- und Hügelbeete, Düngung im Haus‐ garten, Nützlinge, Mischkulturen und Fruchtfolgen, Gehölzschnitte u. v. m. 6.7 Sächsische Gartenakademie 20 Die Sächsische Gartenakademie zählt als ein Teilbereich des Landesamts für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie Sachsen mit Sitz in Dresden. Sie gibt Freizeitgärtnerin‐ nen und -gärtnern sowie Gartenfachberaterinnen und -beratern wertvolle Tipps zur umwelt- und standortgerechten Nutzung und Gestaltung der Klein- und Hausgärten. Zahlreiche Vereine und Verbände des Freizeitgartenbaus nutzen diese Informationen aus erster Hand und tragen zu ihrer Verbreitung bei. Die enge Verbindung mit den Fach- und Forschungsarbeiten des Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie sichert eine hohe Aktualität der Informationen für Freizeitgärtnerinnen und -gärtner. Die Sächsische Gartenakademie organisiert Lehrgänge, Schulungen und Vorträge für den Freizeitgartenbau. In einem 150-Stunden-Programm werden Gartenfachbera‐ terinnen und -berater ausgebildet. Wettbewerbe zur Grün- und Gartengestaltung, der Wettbewerb „Gärten in der Stadt“ 21 sowie Schulgartenwettbewerbe 22 werden angebo‐ ten. Über die Publikationsdatenbank des Freistaates Sachsen 23 lassen sich Merkblätter auch für den Freizeitgartenbau sowie aktuelle Gartentipps abrufen. Außerdem können über das Gartentelefon Ratschläge und Informationen eingeholt werden. 170 Marianne Scheu-Helgert 24 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.gartenakademien.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021); gartenakademie-sachsen-anhalt.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 25 Für weitere Informationen und Recherchen siehe: www.gartenakademien.de/ , www.gartenakadem ie-thueringen.de/ (letzter Zugriff: 17.08.2021). 6.8 gARTenakademie Sachsen-Anhalt e. V. 24 Die gARTenakademie Sachsen-Anhalt hat seit ihrer Gründung 2011 zum Ziel, Gärten und Parks als Begegnungsräume von kultureller und künstlerischer Bedeutung zu entwickeln sowie sie als Orte für Denkmal-, Landschafts-, Natur- und Umweltschutz den nachfolgenden Generationen zu erhalten. Sie bietet zu diesem Zweck Schulungen und Fortbildungen in Theorie und Praxis in den Bereichen Gartendenkmalpflege, Gartenkunst, Gartenbau und Gartentherapie. Besondere Schwerpunkte im Bildungsangebot für Jung und Alt sowie für Experte‐ ninnen und Experten sowie Laien liegen in der Gartendenkmalpflege, der anspruchs‐ vollen Park- und Gartenpflege im historischen Kontext, der Entwicklung von Gärten und Parks, der Umweltbildung für Kinder und Jugendliche sowie der Schaffung von Themengärten zur Veranschaulichung von biologischen, gärtnerischen, ökologischen und therapeutischen Zusammenhängen. Die gARTenakademie ist somit ein ‚grünes‘ Weiterbildungszentrum für Sachsen-Anhalt in der Hansestadt Gardelegen. Ihre Zielgruppen sind Eigentümerinnen und Eigentümer von historischen Garten- und Parkanlagen sowie alle Hobby- und Freizeitgärtnerinnen und -gärtner mit Haus- und Kleingärten oder Urban-Gardening-Projekten. Ihre Angebote richten sich auch an Verantwortliche für Grünflächen an Kindergärten und Schulen, in Städten und Dörfern, auf Friedhöfen, an Krankenhäusern, an Senioreneinrichtungen sowie für Gemüseanbauflächen und Obstwiesen. Seminarbesuchende sind Fachleute und Inter‐ essierte aus den Bereichen Garten- und Landschaftsbau, Planung, Ausbildung und Lehre, betriebliche und überbetriebliche Ausbildung, Beschäftigungs- und Qualifizie‐ rungsmaßnahmen, auch aus der Landwirtschaft. Oft sind es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Studierende, Schülerinnen und Schüler oder Kinder von Fachhochschulen, Hochschulen und Fachschulen bzw. von Schulen und Kindergärten. Neben den Semi‐ naren gibt es Workshops, Tagungen und Exkursionen. 6.9 GartenAkademie Thüringen 25 Die GartenAkademie Thüringen bietet an verschiedenen Veranstaltungsorten für alle Gartenfreundinnen und -freunde sowie Pflanzenliebhaberinnen und -liebhaber Seminare, kreative Workshops und kulinarische Kurse für kleine Gruppen mit maximal 16 Teilnehmenden an. Die Themen der Seminare sind vielfältig: ● praxisnahe und informative Gartenseminare zu Gestaltungsfragen, ● Pflanzenschutz, Pflanzenauswahl und -pflege, Gehölzschnitt, ● kreative florale Workshops in der Blumenwerkstatt, ● kulinarisch-genussvolle Kurse der Gartenküche. 171 Gartenakademien in Deutschland Außerdem werden Exkursionen zu sehenswerten Privatgärten und gartenbaulich interessanten Orten in der Blumenstadt Erfurt angeboten. Die GartenAkademie-Thüringen und ihre Referentinnen und Referenten sehen sich der Bildung zur nachhaltigen Entwicklung (BNE) verpflichtet. Ziel der Seminare und Workshops ist es daher, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für ein nachhaltiges Gärtnern zu motivieren, zu sensibilisieren und dafür das erforderliche Wissen zu vermitteln. Im Besonderen ist dies: ● Bodenpflege und schonende Bodenbearbeitung, ● Vermeidung von Bodenversiegelung, ● Kreislaufwirtschaft durch Kompostieren, Mulchen, Gründüngung etc., ● integrierter Pflanzenschutz (nach den Richtlinien des Nationalen Aktionsplans zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln im Haus- und Kleingarten‐ bereich), ● Ressourcenschonung (z. B. Umgang mit Regenwasser, Verzicht auf Torf), ● Verwendung von resistenten Sorten bei Obst, Gemüse- und Zierpflanzen, ● Förderung der Diversität, ● Schaffung von Lebensräumen für Insekten und Wildtiere, ● Anbau von Gemüse, Obst und Kräutern zur Selbstversorgung, ● gärtnerisches Wissen als Kulturgut, ● nachhaltige und zukunftsorientierte Gartenplanung, ● Verwendung von regionalen Materialien (Steine, Hölzer), ● klimaschonendes Gärtnern, ● Gartenarbeit als Gesundheitsvorsorge. Unterstützt wird die Arbeit der GartenAkademie-Thüringen von der Fachhochschule Erfurt (Studiengang Gartenbau in der Fakultät für Landschaftsarchitektur, Gartenbau und Forst) und von der Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau (LVG) Erfurt. Literaturhinweise Bayerisches Landesamt für Statistik (2020): Statistik kommunal 2019. Bayern. Online: ww w.statistik.bayern.de/ mam/ produkte/ statistik_kommunal/ 2019/ 09.pdf, letzter Zugriff: 17.08.2021. Bredenbeck, R. (Hg.) (o. J.): GartenAkademie Thüringen. Online: www.gartenakademie-t hueringen.de/ , letzter Zugriff: 30.06.2021. 172 Marianne Scheu-Helgert Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum Westerwald-Osteifel; Raum Eifel; Raum Rhein‐ landpfalz; Raum Mosel; Raum Rheinlandhessen-Naha-Hunsrück; Raum Westpfalz (Hg.) (o. J.): Gartenakademie Rheinland-Pfalz. Online: www.gartenakademie.rlp.de/ G artenakademie/ Themen/ Aktuelles, letzter Zugriff: 30.06.2021. Eisenreich, M. (2011): Zur Heimatkunde nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone bzw. ab 1945 in der DDR - Erfahrungen und Erkenntnisse aus meiner Lehrtätigkeit, in: Hempel, M.; Wittkowske, S. (Hg.): Entwicklungslinien Sachunterricht. Einblicke in die Geschichte einer Fachdidaktik. Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S. 49-64. Freistaat Bayern (Hg.) (o. J.): Bayerische Gartenakademie. Online: www.lwg.bayern.de/ g artenakademie/ , letzter Zugriff: 30.06.2021. gARTenakademie Sachsen-Anhalt e. V. (Hg) (o. J.): Gartenkunst und Landschaftspflege. Gestern - Heute - Morgen. Erhaltung und Entwicklung von Parks und Gärten im „grünen“ Weiterbildungszentrum für Sachsen-Anhalt. Online: gartenakademie-sachs en-anhalt.de/ , letzter Zugriff: 30.06.2021. Fath, J. (o. J.): Gartendenkmalpflegerische Zielstellung für den Mitschuringarten in Dresden. Online: tu-dresden.de/ bu/ architektur/ ressourcen/ dateien/ news/ abschlussar beiten-wise-20-21/ GdL_Fath_Janos_Poster-r.pdf ? lang=de, letzter Zugriff: 27.06.2021. Gartenakademie Baden-Württemberg e. V. (Hg.) (2021): Gartenakademie Baden-Würt‐ temberg. Online: www.gartenakademie.info/ cms/ , letzter Zugriff: 30.06.2021. Landesbetrieb Landwirtschaft Hesse (LLH) (Hg.) (2021): Gartenakademie. Beitragsarchiv. Online: llh.hessen.de/ gartenakademie/ , letzter Zugriff: 30.06.2021. Landwirtschaftskammer für das Saarland (Hg.) (o. J.): Gartenakademie. Online: www.lw k-saarland.de/ pflanze/ gartenakademie/ , letzter Zugriff: 30.06.2021. Landwirtschaftskammer Niedersachsen (Hg.) (2021): Niedersächsische Gartenakade‐ mie. Online: www.lwk-niedersachsen.de/ index.cfm/ portal/ niedersaechsischegartenak ademie.html, letzter Zugriff: 30.06.2021. Misdorf, H. (o. J.): Deutschland von 1945 bis 1960: Wiederaufbau. Online: derweg.org/ de utschland/ geschichte/ nachkriegszeit/ , letzter Zugriff: 27.06.2021. Muntermann, N. (2020): Gartenkultur. WDR. Online: www.planet-wissen.de/ natur/ pflan zen/ gartenkultur/ index.html, Online: 27.06.2021. Sächsisches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (Hg.) (o. J.): Säch‐ sische Gartenakademie. Online: www.gartenakademie.sachsen.de/ , letzter Zugriff: 30.06.2021. Struchholz, T. (2012): Veichtshöchheim. Eine Chronik aus Franken. Struchholz GbR., Veichtshöchheim. Verband der Kreisfachberater für Gartenkultur und Landespflege in Bayern (Hg.) (o. J.): Geschichte. Online: kreisfachberater.de/ die-kreisfachberater/ geschichte/ , letzter Zu‐ griff: 17.08.2021. 173 Gartenakademien in Deutschland 1 Für mehr Informationen zu dem Projekt „Netzwerk Garten & Mensch“ siehe: www.gartenundmens ch.org/ netzwerk/ ueber-uns.html (letzter Zugriff: 03.01.2021). Netzwerk Garten & Mensch Bürgerschaftliches Engagement für Gärten, Parks und Plätze Philipp Sattler 1 Ein Förderprojekt für kulturelles Grün Im gesellschaftlichen Diskurs hat die Beschäftigung mit dem Thema ‚(er-)lebbares und nutzbares Grün‘ in den letzten Jahren deutlich an Präsenz gewonnen. Über Grün in der Stadt wird medienweit berichtet, grüne Themen und speziell der Garten ist ‚in‘. Vor dem Hintergrund dieses Megatrends hatte die damalige Bundesumweltministerin Barbara Hendricks 2016 die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik zu mehr Engagement in diesem Bereich aufgerufen (Auftaktveranstaltung „Grün in die Stadt“, Mai 2016, Berlin, Potsdamer Platz; vgl. Taspo Online 2016). Bei der Vorstellung des Grünbuches zum Thema „Grün in der Stadt“ im Juni 2015 in Berlin wurde die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements sowie mehr Wissenstransfer bereits gefordert. Genau an diesem Punkt setzte das Vorhaben „Netzwerk Garten & Mensch“ (→ Abb. 1) an 1 , ein Förderprojekt, welches die Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschafts‐ kultur e. V. (DGGL) von Frühjahr 2017 bis Sommer 2019 durchgeführt hat. Mit seinem Thema ‚Bürgerschaftliches Engagement für Parks und Gärten‘ verknüpfte es sich mit dem seit 2014 laufenden Weißbuchprozess „Grün in der Stadt“ der Bundesregierung. 2 Für weitere Informationen zu der Initiative Bürgerverein Jenischpark siehe: www.jenischparkverei n.de/ links (letzter Zugriff: 04.01.2021). 3 Für weitere Informationen zu der Initiative Bürger für den Lietzensee siehe: lietzenseepark.de (letzter Zugriff: 04.01.2021). 4 Für weitere Informationen zu der Initiative Bürgerparkverein Bremen siehe: www.buergerpark.de (letzter Zugriff: 04.01.2021). Abb. 1: NG&M-Logo Schon damals engagierten sich Bürgerinnen und Bürger für das Thema „Grün in der Stadt“. Jedoch war ein derartiges Engagement in der Öffentlichkeit und in Teilen der Politik kaum bekannt. Vor diesem Hintergrund war die Deutsche Gesellschaft für Gar‐ tenkunst und Landschaftskultur der Meinung, dass dieses bürgerschaftliche Engagement zu heben und zu stärken sei. Initiativen wie der Bürgerverein Jenischpark in Hamburg 2 , die Bürger für den Lietzensee in Berlin 3 oder die Freunde der Herren‐ häuser Gärten in Hannover (vgl. den Beitrag von Roland Clark in diesem Band) mit ihren über 3.000 Mitgliedern stehen für die bundesweite Realität, dass Bürgerinnen und Bürger Verantwor‐ tung für die Erhaltung und Pflege grüner Oasen übernehmen. An Beispielen wie dem Bürgerparkverein Bremen 4 mit seinen rund 1.500 Mitgliedern und einer über 150-jährigen Tradition wird deutlich, wie nachhaltig ein solches Engagement sein kann. Ziel des Projektes war es, an diese Traditionen anzuknüpfen und diese mit einer stärkeren Vermittlung von Umweltthemen zu verbinden. Gerade lange existierende Anlagen garantieren in hoch verdichteten Siedlungsräu‐ men wesentliche ökologische Funktionen: Sie sind Kaltluftentstehungsgebiete und Nischen für Biodiversität, sie binden Feinstaub und halten Niederschläge zurück. Daneben bilden sie wichtige soziale Begegnungsorte im Großstadtleben und stellen klimaschonend erreichbare Erholungsgebiete dar. Das „Netzwerk Garten & Mensch“ wurde vom Bundesministerium für Umwelt (BMU) im Rahmen der Verbändeförderung finanziell unterstützt und vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) begleitet. Die Kernidee im Projektantrag sah vor, ein „Netzwerk zur Erfassung, Qualifizierung und Weiterentwicklung von bürgerschaftlichem Engagement bei Erhalt, Pflege und Entwicklung von gestalterisch und ökologisch bedeutsa‐ men Park- und Gartenanlagen in Deutschland zu initiieren“ (DGGL 2017). Dabei sollten zum ersten Mal in Deutschland bestehende ehrenamtliche Initiativen bundesweit erfasst und vernetzt werden, um diese mithilfe von Best-Practice-Beispie‐ len, Wissenstransfer und Maßnahmen zur Umweltbildung sowie begleitender Öffent‐ lichkeitsarbeit zu stärken und weiterzuentwickeln. Im Gegensatz zur sehr erfolgreichen Urban-Gardening-Bewegung (vgl. Müller 2016) existierte nämlich für das ‚kulturelle Grün‘ zu diesem Zeitpunkt noch keine gemeinsame Plattform. Hier sah sich die DGGL, als eine der ältesten deutschen Gartengesellschaften mit ihrem Bundespräsidium, den 176 Philipp Sattler 5 Vgl. hierfür: www.gartenundmensch.org/ start.html (letzter Zugriff: 03.01.2021). Abb. 2: Themenbuch Bürgerschaftliches Engagement 16 Landesverbänden und annähernd 2.000 Mitgliedern, für ein solches Vorhaben gut aufgestellt. Wesentliches Ziel des Vorhabens war die Förderung der Kommunika‐ tion zwischen den per definitionem lo‐ kal tätigen Akteurinnen und Akteu‐ ren. Zentrale Ergebnisse sollten neben der Etablierung einer Projekthome‐ page 5 , die Herausgabe eines abschlie‐ ßenden Projektbuches (→ Abb. 2; vgl. DGGL 2019) und eine große Anzahl von direkten Austauschforen, soge‐ nannten Regionaltagungen, sowie ein deutschlandweiter Wettbewerb sein. 2 Regionaltagungen In der Rückschau auf das gut zweijährige Förderprojekt haben sich die Regionaltagungen als der zentrale Impulsgeber des Netzwerks Garten & Mensch herausgestellt. Trotz der schier endlosen digitalen Kommunikationsmöglichkeiten war die direkte Begegnung von Akteurinnen und Akteuren auf den Regionaltagungen das zentrale Element in der Vernetzungsstrategie des Förderprojekts. Gleichzeitig wurde - wie später im Projektbuch - die enorme Vielfalt von Gärten wie auch der Art und Weise des Engagements auf den Treffen deutlich. Stichworte wie gemeinsamer Erfahrungsaustausch, menschliche Nähe, Lernen von Gleichgesinnten und emotionale Zusammengehörigkeit mögen den Prozess auf diesen Treffen umschreiben. In der Serie der Regionaltagungen etablierte sich bald ein probates Ablaufmodell: Nach Impulsvorträgen von lokalen Protagonistinnen und Protagonisten wurden Schwerpunktthemen - zum Teil in Workshopform - reflektiert und schließlich in einer Abschlussdiskussion zusammengeführt. Bewusst eingeplante, großzügige Pausen förderten den individuellen Austausch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. 2.1 Die 4 Ks - Kompetenzen, Kosten, Kommunikation und Kooperation Die wesentlichen Diskussionslinien lassen sich unter vier Hauptaspekten zusammen‐ fassen, den sogenannten 4 Ks: Welche Kompetenzen braucht ein Verein? Wo liegen Kostenprobleme? Wo machen Kooperationen Sinn? Wie bespielt man Kommunika‐ tionskanäle? Dieser grundsätzliche Ablauf wurde entsprechend der Schwerpunkte 177 Netzwerk Garten & Mensch 6 Siehe hierzu: www.gartenundmensch.org/ start.html (letzter Zugriff: 03.01.2021). in den Vorträgen auf der jeweiligen Regionaltagung für die Abschlussdiskussion modifiziert. Während Lokalkolorit und regionale Spezifik das jeweilige Programm differenzierten, gewährleistete der Netzwerkkoordinator die Kontinuität über den ge‐ samten Projektverlauf. Im Nachgang jeder Regionaltagung wurde eine Dokumentation der wesentlichen Ergebnisse an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer versandt und auf der Homepage eingestellt. 6 Dort sind auch alle Programme der Einzelveranstaltungen nachzulesen. Um einen Eindruck von der oben angesprochenen Vielfalt zu vermitteln, werden im Folgenden die Regionaltagungen kurz skizziert. 2.2 Es beginnt in Berlin Start der Serie war der August 2017, als in einem ‚Grünen Salon‘ der DGGL Berlin-Bran‐ denburg die Beta-Version des Modells ‚Regionaltagung‘ getestet wurde. In einer vom Netzwerkkoordinator moderierten Diskussion tauschten sich Vertreterinnen und Vertreter zweier Berliner Garteninitiativen, einer Stiftung für Schmuckplätze und ein Präsidiumsmitglied der DGGL auf dem Podium und später mit Initiativen im Publikum intensiv aus. Im Vordergrund stand die Frage nach möglichen Kooperationsmodellen von Ehrenamt einerseits und kommunaler Grünverwaltung andererseits. Es wurde deutlich, dass auf beiden Seiten verbindliche Vereinbarungen, Übung und viel Geduld nötig sind, damit Synergieeffekte möglich werden und nicht Abgrenzung dauerhaft bestimmend bleibt. 2.3 Auftakt auf Hamburgs größtem Friedhof Auf Basis des ersten Tests wurde die offizielle Auftaktveranstaltung im Forum Ohlsdorf in Hamburg für den Norden der Republik veranstaltet. Hier waren Protagonisten vom Friedhof Ohlsdorf, von Hamburger Parkvereinen, dem Bürgerpark Bremen, der Hamburger Hafencity und dem Bezirksamt Hamburg-Mitte eingeladen, ihre eigene Tätigkeit im Sinne eines fruchtbaren Erfahrungsaustauschs zu reflektieren. Nach dem Vortragsblock wurden in kleinen Gruppen vier Themenkomplexe, die schon genannten 4 Ks, intensiv diskutiert. 2.4 Rheinischer ‚Rededrang’ In Schloss Dyck fand im Dezember 2017 die zweite Regionaltagung für den Westen Deutschlands statt. Die Vortragenden kamen von Parkvereinen und Garteninitiativen aus Wuppertal, der Kölner Flora, Kamp-Lintfort, Schloss Dyck selbst, dem Arboretum Härle, der Burg Blankenberg und von den Bundesfreiwilligendiensten in Bonn. Wie in Hamburg entspann sich auch hier die Diskussion entlang der vier K-Begriffe, insbesondere der Kooperations- und Kommunikationsfragen. Die Kulisse des Barock‐ schlosses mit seinem Landschaftspark wirkte sich offensichtlich anregend auf die Gesprächsbereitschaft aus - trotz trüben Winterwetters tauschten sich die zahlreichen 178 Philipp Sattler Teilnehmerinnen und Teilnehmer bis weit über das angesetzte Veranstaltungsende hinaus sehr intensiv aus. 2.5 Tagen am Englischen Garten Die Seidlvilla, langjähriges Zentrum der Zivilgesellschaft in München-Schwabing, be‐ herbergte die südöstliche Regionaltagung im April 2018. Akteurinnen und Akteure vom Ammersee, aus Nymphenburg, von der Initiative Münchner Forum und dem Verein Green City diskutierten die unterschiedlichen Herausforderungen des Engagements in oberbayerischen Gemeinden wie auch in der Großstadt. Im Fokus stand das zentrale ‚Vereinsdilemma‘, also die Frage, wie sich ehrenamtliches Engagement dauerhaft zusammenhalten lässt. Was muss konkret dafür getan werden, damit nach dem großen Aufschlag nicht der schleichende Zusammenbruch folgt? Ansätze für Antworten waren: eine breite personelle Aufstellung von Beginn an, kreative Allianzen mit lokalen Playern, maßgeschneiderte Angebote für Unterstützerinnen und Unterstützer sowie eine individuelle Anerkennungskultur (vgl. Netzwerk Garten & Mensch o. J. b). 2.6 Skyline von ‚Mainhattan’ Die Regionaltagung in der Mitte Deutschlands fand auf Einladung des Amtsleiters im Grünflächenamt im Juni 2018 in Frankfurt am Main statt. Gewissermaßen als Kontrapunkt zum Thema ‚Gärten und Parks‘ bildetet die Skyline exemplarisch die maximal verdichtete Stadt ab. Zugleich war der Jahrhundertsommer auch im Inneren des Gebäudes spürbar. Impulsvorträge kamen aus Büdingen, Biebertal-Rodheim, Bad Homburg und Staden in der Wetterau. Intensiv wurde über die Chance gesprochen, Gärten und Parks nach ihrer (Wieder-)Herstellung attraktiv zu ‚bespielen‘: Grüne Orte also für Begegnung und Kulturgenuss so zu etablieren, dass daraus auch eine gute Finanzierungsbasis für das Vereinsengagement generiert werden kann. 2.7 Konzentration in Heidelberg Die Tagung in Heidelberg im November 2018 zeichnete ein buntes Bild an Aktivitäten für grüne Orte im Südwesten Deutschlands. Die Idee der Transition Towns als Orte für Permakultur wurde an einem Obstgartenprojekt in Heidelberg erläutert. Mit dem Garten der Religionen in Karlsruhe rückte Freiraum als Ort interkultureller und interkonfessioneller Begegnung und Verständigung in den Fokus. Dagegen bildet beim Förderkreis Ebertpark in Ludwighafen die städtische Wohnungsgesellschaft eine wichtige Stütze des Vereins. Gemeinsam war allen Beispielen die Konzentration auf die ‚Sinnfrage‘: In welchem Gesellschaftsmodell soll sich unser Zusammenleben abspielen und welche Rolle kann der Freiraum dabei übernehmen? 179 Netzwerk Garten & Mensch 7 Für weitere Informationen siehe: www.leipziggruen.de (letzter Zugriff: 04.01.2021). 8 Für weitere Informationen siehe: agra-park.info (letzter Zugriff: 04.01.2021). 9 Für weitere Informationen zum Förderprojekt „Rendezvous im Garten“ siehe: www.rendezvousimg arten.de/ (letzter Zugriff: 03.01.2021). 10 Für weitere Informationen siehe: hannover-voids.de (letzter Zugriff: 04.01.2021). 11 Für weitere Information siehe: www.gartenlotsen-herrenhausen.de/ informieren/ (letzter Zugriff: 04.01.2021). 2.8 Vollversammlung in Markkleeberg Im Süden der Bürgerstadt Leipzig fand im März 2019 die bislang größte Regionaltagung mit knapp 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. In Kooperation mit LeipzigGrün 7 und dem Kulturamt der Stadt Markkleeberg lud das Netzwerk Garten & Mensch ins Weiße Haus im agra-Park 8 ein, um sich über Bürgerengagement in städtischen und ländlichen Räumen wie auch in Gartennetzen in Sachsen und Sachsen-Anhalt auszutauschen. Die Vortragenden stammten aus Halle an der Saale, Markkleeberg, Wolkenburg, Ostrau, von der Initiative Gartenträume Sachsen-Anhalt (vgl. den Beitrag von Felicitas Remmert in diesem Band) und dem Gartenkulturpfad Oberlausitz. Diskus‐ sionsschwerpunkt war, wie sich ein Engagement auch in strukturschwachen Regionen aufrechterhalten lässt. Folgende stichpunktartig umrissene Antworten wurden dabei gefunden: Geduld und Beharrlichkeit bei Behörden, Ausschöpfen aller Fördermög‐ lichkeiten, kreative Kooperation mit Sponsorinnen und Sponsoren, eigenständige Finanzierungsquellen wie z. B. Gastronomie, kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit und bei allem Tun Stetigkeit und Dauerhaftigkeit. 2.9 Gartenregion Hannover Die letzte Regionaltagung hatte Mitte Mai Hannover zum Veranstaltungsort. Die große Gartenkultur in der Stadtregion Hannover stand zugleich für den Brücken‐ schlag zu einem weiteren DGGL-Förderprojekt, dem „Rendezvous im Garten“ 9 , das als deutsch-französisches Kooperationsprojekt seit 2018 jeweils am ersten Juniwoche‐ nende stattfindet. Auf der letzten Regionaltagung des Netzwerks Garten & Mensch spannten die Akteure dann noch einmal exemplarisch die gesamte Breite des bürger‐ schaftlichen Engagements für Gärten, Parks und Plätze in Deutschland auf: Neben Vertreterinnen und Vertretern der Freunde der Herrenhäuser Gärten kamen mit den Hannover VOIDS 10 oder den Gartenlotsen Herrenhausen 11 auch zwei kleinere, aber deswegen nicht weniger wichtige Initiativen zu Wort. 3 Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e. V. Gewissermaßen den Schlusspunkt des Projekts bildete der Wettbewerb zum Kultur‐ preis der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e. V. (DGGL) 2019 „Bürgerschaftliches Engagement für Gärten, Parks und Plätze“ (→ Abb. 3). Aus ganz Deutschland hatten sich 60 Projekte online beworben. Eine neunköpfige Jury 180 Philipp Sattler vergab insgesamt sieben Auszeichnungen - drei Preise und vier Anerkennungen. Anfang April 2019 fand die festliche Preisverleihung in Berlin statt. Abb. 3: Preisverleihung Kulturpreis Der DGGL-Präsident Jens Spanjer (vgl. den Beitrag von Jens Spanjer in diesem Band) konnte 120 Gäste zur feierlichen Zeremonie in der Rotunde des Allianz Forums am Pariser Platz begrüßen. In seinem Eingangsstatement machte er deutlich, dass die Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur wie keine andere Institution in Deutschland für die Förderung von grünem ehrenamtlichem Engagement prädestiniert sei. Neben vielen Fachleuten sind es unzählige Gartenbegeisterte aus allen Teilen der Gesellschaft, die sich in der DGGL mit ihren 2.000 Mitgliedern ehrenamtlich engagieren. Das „Netzwerk Garten & Mensch“ habe erwiesen, dass es in Deutschland tausende Engagierte für Gärten, Parks und Plätze gebe. Hauptanliegen des Projekts sei nun, den großen Umfang dieser zivilgesellschaftlichen Leistungen zu erfassen, um dieser Gartenbegeisterung zu mehr Präsenz in der gesellschaftlichen Debatte zu verhelfen. Jens Spanjer konstatiert: „Dass sich neben urban gardening und dem Naturschutz viele Menschen in Deutschland auch für Parks, Gärten und Plätze als kulturelles Lebensumfeld und wichtige Begegnungsorte engagieren, ist der Politik und bisweilen auch den Grünverwaltungen immer noch zu wenig bewusst. Die DGGL will hier auch in Zukunft eine Mittlerrolle einnehmen“ (Netzwerk Garten & Mensch, o. J. a). Insofern strebe es die DGGL an, ihr Engagement auf diesem weiten Feld fortzusetzen. 181 Netzwerk Garten & Mensch 12 Für weitere Informationen siehe: www.maecenata.eu/ ueber-uns/ die-stiftung/ (letzter Zugriff: 04.01.2021). 13 Für weitere Informationen siehe: kloster-kamp.eu/ team (letzter Zugriff: 04.01.2021). 3.1 Auf den Spuren von Albert Kahn Die Keynote des Abends sprach Rupert Graf Strachwitz von der Maecenata-Stiftung 12 zum Thema „Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft“. Ausgehend vom Garten des jüdischen Philanthropen Albert Kahn in Boulogne bei Paris in den 1910er-Jahren entwickelte er ein beeindruckendes Plädoyer für die Notwendigkeit von zivilgesellschaftlichem Engagement. Diese in Deutschland im Wesentlichen von Stiftungen und Vereinen erbrachten Leistungen würden entscheidend zum Funktio‐ nieren von Demokratie beitragen. Ehrenamtliche Aktivitäten für Gärten, Parks und Plätze seien ebenso wie Engagement auf anderen Feldern essenziell für ein friedliches Zusammenleben. Dies gälte umso mehr in einer Zeit, in der in Europa antidemo‐ kratische Bestrebungen und Ausgrenzung wieder an Boden gewännen. Die vom Redner beschriebene Vision des Elsässers Albert Kahn, nämlich die Verständigung von Menschen durch Wandeln und Miteinander-Reden in Gärten verschiedener Stile zu fördern - gewissermaßen ein Vorläufer der Berlin-Marzahner ‚Gärten der Welt‘ (vgl. den Beitrag von Beate Reuber in diesem Band) -, malte ein nachhaltig inspirierendes Bild (vgl. DGGL 2019, S. 140 ff.) 3.2 Vier Anerkennungen Zunächst wurden vier Projekte mit Anerkennungen ausgezeichnet. Eine Anerkennung für Innovation erhielt der Verein Hannover VOIDS für die „zum Teil unorthodoxen, aber vielversprechenden Ansätze der Auseinandersetzung mit grünem Lebensumfeld“. Ziel von hannover-voids.de ist es, ungenutzte Orte (voids) als Möglichkeitsräume sicht‐ bar und Hannover im Rahmen der „doppelten Innenentwicklung“ noch lebenswerter zu machen (Netzwerk Garten & Mensch 2019). Die Ehrenamtliche Arbeitsgemeinschaft Kloster Kamp 13 in Kamp-Lintfort erhielt eine Anerkennung für differenzierte Pflanzenverwendung, mit der im Kräutergarten die „Faszination klösterlicher Kräuter- und Küchenarten in ihrer Vielfalt erlebbar gemacht werden“ (Netzwerk Garten & Mensch 2019). Im historischen Umfeld der schützenden Mauern des ehemaligen Zisterzienserklosters präsentiert der Garten die Heilkräuter der Kneipp’schen Hausapotheke sowie Würz- und Heilkräuter der Volksheilkunde. Die dritte Anerkennung vergab die Jury an die Gartenlotsen im Großen Garten für ihre besondere Vermittlungsstrategie in Hannover-Herrenhausen, wo Besucherinnen und Besuchern das „richtige Geleit gegeben werde und so ganz selbstverständlich eine eingängige Weitergabe von gartenkünstlerischen Inhalten erreicht werde“ (Netzwerk Garten & Mensch 2019). An den Wochenenden in der Saison sind die Gartenlotsen mit viel Freude und großem Fachwissen dabei, den Besucherinnen und Besuchern ein sicheres Geleit durch den Großen Garten in Herrenhausen zu geben. 182 Philipp Sattler 14 Für weitere Informationen siehe im Internet: stadtparkverein.de (letzter Zugriff: 05.01.2021). 15 Für detailliertere Informationen zu der Stiftung (M)ein Englischer Garten siehe: m-einenglischerga rten.de/ (letzter Zugriff: 03.01.2021). Für den Aufbau einer lokalen umfassenden Netzwerkstruktur wurde der Förderver‐ ein Historische Parkanlagen Wuppertal mit einer Anerkennung geehrt. „Seit langem lege eine schlagkräftige Truppe, die nur 22 Mitglieder habe, ein sehr komplexes Enga‐ gement in allen Facetten an den Tag“ (Netzwerk Garten & Mensch 2019). Der Verein engagiert sich für zahlreiche grüne Anlagen in Wuppertal. Das Tätigkeitsspektrum beinhaltet Führungen, Vorträge, Konzerte oder Ausstellungen wie auch Bauforschung und Wiederherstellungen (vgl. Netzwerk Garten & Mensch 2019). 3.3 Drei Preise Nach den Anerkennungen, die einzelne Aspekte herausstellten, wurden die drei Hauptauszeichnungen des Kulturpreises überreicht. Die Kategorien waren hier: ‚Na‐ turschutz und Nachhaltigkeit‘, ‚Grün in der Stadt‘ und ‚Klassisches Bürgerschaftliches Engagement‘. 3.3.1 Ökologisches im Park Christiane Schell, Abteilungsleiterin für Grundsatzangelegenheiten des Naturschutzes im Bundesamt für Naturschutz in Bonn, würdigte in ihrer Laudatio die Leistungen des Stadtparkvereins Hamburg e. V. 14 für sein Projekt „Ökologisches im Park“. Die Jury des DGGL-Kulturpreises 2019 erachte dessen Ansatz als „beispielgebend für einen integrativen Umgang mit konkurrierenden Ansprüchen an urbane Freiräume in Zeiten von Nachverdichtung und Klimawandel.“ (Netzwerk Garten & Mensch o. J. a). Im Sinne des Volksparkgedankens „belebe und fördere der Verein in hervorragender Weise das gemeinnützige Engagement der Hamburger Bürgerinnen und Bürger und Institutionen“ (Netzwerk Garten & Mensch o. J.) für ihren Stadtpark und trage so zur Stärkung von Biodiversität und Nachhaltigkeit in der wachsenden Metropole bei. Für die Integration von ökologischen und gartendenkmalpflegerischen Überlegungen in einem der größten deutschen Volksparks erhalte deshalb der Stadtparkverein Hamburg e. V. den DGGL-Kulturpreis 2019 in der Kategorie ‚Naturschutz und Nachhaltigkeit‘. Heidi Gemar-Schneider, die Geschäftsführerin des Vereins, nahm die Auszeichnung dankend entgegen und betonte, wie wichtig solche Auszeichnungen für das Echo in der Öffentlichkeit, die weitere Arbeit mit der Verwaltung und besonders das Generieren neuer Finanzierungsmöglichkeiten seien (vgl. Netzwerk Garten & Mensch o. J. a). 3.3.2 (M)ein Englischer Garten Hagen Eyink, Referatsleiter für Grün in der Stadt im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, hob in seiner Ehrung die Stiftung (M)ein Englischer Garten 15 für ihr Projekt „Wiedervereinigung des Englischen Gartens“ in München hervor: „Aus der anfänglichen Idee von zwei Menschen ist - auch mit der Unterstützung der Allianz Umweltstiftung - eine stadtweite Bewegung geworden, die international Aufsehen 183 Netzwerk Garten & Mensch 16 Für weitere Informationen siehe: tinathal.org (letzter Zugriff: 05.01.2021). erregt hat.“ (Netzwerk Garten & Mensch o. J. a) Die Jury würdige dieses „nimmermüde Eintreten für ein Gartendenkmal von Weltrang. Der erfolgreiche Einsatz für grüne Lebens- und Erholungsräume und gegen die Folgen der autogerechten Stadt macht Mut und wirkt weit über München hinaus“ (Netzwerk Garten & Mensch o. J. a). Das Engagement der Stiftung (M)ein Englischer Garten für einen urbanen Freiraum, der durch Verkehrsbaumaßnahmen unter Druck geraten sei, jetzt aber wieder freier atmen könne, zeichne die Jury deshalb mit dem DGGL-Kulturpreis in der Kategorie ‚Grün in der Stadt‘ aus. Die beiden Geehrten Petra Lejeune-Grub und Hermann Grub schilderten anschaulich, wie lang ihr Atem sein musste, um schließlich über die Förderung einer Machbarkeitsstudie durch die Allianz Umweltstiftung zunächst die Münchnerinnen und Münchner und schließlich auch die Landeshauptstadt München von ihrem visionären Vorhaben überzeugen zu können. 3.3.3 Landschaftsgarten Seifersdorfer Thal Die letzte Laudatio des Abends hielt Jens Spanjer, Präsident der DGGL. In seiner Lobrede auf den Landschaftsgarten Seifersdorfer Thal - Denkmalpflege, Naturschutz und Kultur 16 machte er noch einmal deutlich, was für ehrenamtliches Agieren im grünen Bereich im besten Sinne kennzeichnend sei: „Initiativ, gemeinschaftlich, ge‐ schichtsbewusst und kontinuierlich - über alle Widrigkeiten hinweg“ (Netzwerk Garten & Mensch o. J. a) sei es in diesem Tal nördlich von Dresden gelungen, ein „sehr großes Park-, Wald- und Erholungsgebiet mit zahlreichen Gartendenkmalen der Ver‐ gessenheit zu entreißen und dieses wertvolle Zeugnis der Gartenkultur des 18. Jahrhunderts durch großen persönlichen Einsatz bis in die heutige Zeit zu retten“ (Netzwerk Garten & Mensch o. J. a). Damit habe sich der Verein den Preis in der Kategorie ‚Klassisches Bürgerschaftliches Engagement‘ verdient. Birgit Pätzig zeigte sich stellvertretend für den Verein gerührt von der Ehrung: „Das hilft uns, das hilft uns enorm, weil wir noch weitere Ziele haben. Wir wollen schon wieder neue Themen bei uns im Thal angehen, und eine Auszeichnung ist das beste Mittel, um bei der Presse und der Verwaltung mehr Aufmerksamkeit zu bekommen! “ (Netzwerk Garten & Mensch o. J. a) 4 Ausblick In der Rückschau wurden im Projekt „Netzwerk Garten & Mensch“ sicher mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden konnten. Und doch hat sich besonders in den Treffen auf den Regionaltagungen gezeigt, wie groß das Interesse von zivilgesell‐ schaftlich engagierten Menschen für Gärten und Parks in Deutschland ist, mit Gleich‐ gesinnten zusammen zu kommen und sich auszutauschen - oder auf Neudeutsch: ‚zu 184 Philipp Sattler netzwerken‘. In der Wiederholung von Aspekten wie den schon eingangs erwähnten 4 Ks haben sich zentrale Kernfragen ehrenamtlicher Tätigkeit für ‚kulturelles Grün‘ herauskristallisiert, die es aus Sicht der DGGL weiterzuverfolgen gilt. Der Kulturpreis der DGGL 2019 hat außerdem stellvertretend für alle Vereine, Initiativen sowie Akteurinnen und Akteure die enorme Vielfalt des bürgerschaftlichen Engagements für grüne Orte in Deutschland aufgezeigt. Zutage getreten ist dabei stets eine große Gartenleidenschaft - sowohl aufseiten der Gärtnerinnen und Gärtner als auch auf der ihrer Gäste. Nach dem großen Erfolg der Premiere ist es nun erklärtes Ziel der DGGL, auch den nächsten Kulturpreis 2022 wieder in Form eines Wettbewerbs für Bürgerschaftliches Engagements für öffentliches Grün zu vergeben und damit den Netzwerkgedanken fortzusetzen. Jedes Engagement steht dabei für einen konkreten Ort, sei es Garten, Park, Platz oder andere Grünfläche, wo sich Menschen ganz im Sinne Albert Kahns treffen und verständigen können. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ (Buber 1984, S. 15) Im Projekt „Netzwerk Garten & Mensch“ konnte man hiervon eine Ahnung bekommen, die Hoffnung für die Zukunft macht. Literaturhinweise Buber, Martin (1984): Das Dialogische Prinzip. Ich und Du, 5. Aufl. Heidelberg. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2017): Weißbuch Stadtgrün. Grün in der Stadt - Für eine lebenswerte Zukunft. Online: www.bmi.bund.de/ SharedDocs/ downloads/ DE/ publikationen/ themen/ bauen / wohnen/ weissbuch-stadtgruen.pdf ? __blob=publicationFile&; v=3, letzter Zugriff: 20.12.2020. Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL) e. V. (2017): Antrag auf Zuwendung aus Kapitel 1601, Titel 685 04 des Bundeshaushaltes. Zuschüsse an Verbände und sonstige Vereinigungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes, hier: „Garten und Mensch - Aufbau eines Netzwerks zu bürgerschaftlichem Engagement für Gärten und Parks“, unveröffentlicht. Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL) e. V. (Hg.) (2019): Bürgerschaftliches Engagement. Netzwerk Garten & Mensch. L & H, Berlin. Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL) e. V. (o. J.): Netzwerk Garten & Mensch. Online: www.gartenundmensch.org, letzter Zugriff: 20.12.2020. Müller, C. (2016): Urban-Gardening-Bewegung. Auf der Suche nach einem neuen Na‐ tur-Kultur-Verhältnis. Online: www.degrowth.info/ wp-content/ uploads/ 2016/ 06/ DIB _Urban-Gardening_.pdf, letzter Zugriff: 03.01.2021. 185 Netzwerk Garten & Mensch Netzwerk Garten & Mensch (o. J.): Über uns. Online: www.gartenundmensch.org/ netzw erk/ ueber-uns.html, letzter Zugriff: 03.01.2021. Netzwerk Garten & Mensch (o. J. a): Die Sieger stehen fest! „Bürgerschaftliches Enga‐ gement für Gärten, Parks und Plätze“ in Berlin geehrt. Online: www.gartenundme nsch.org/ fileadmin/ media/ PDF/ PM_DGGL-Kulturpreis_190410_k.pdf, letzter Zugriff: 08.04.2021. Netzwerk Garten & Mensch (o. J. b): Dokumentationen. Online: www.gartenundmensch .org/ service/ dokumentation.html, letzter Zugriff: 08.04.2021. Netzwerk Garten & Mensch (2019): Laudatio DGGL-Kulturpreis 2019, Manuskript, unveröffentlicht. Taspo Online (2016): Grün in die Stadt: BGL startet Roadshow. Online: gundv.de/ gruen-i n-die-stadt-bgl-startet-roadshow/ , letzter Zugriff: 03.01.2021. 186 Philipp Sattler Gärten als Teil der Baukultur Die Rolle des Grüns für Klima, Lebensqualität und Urbanität der Stadt Reiner Nagel und Belinda Rukschcio 1 Zur Einführung Das 21. Jahrhundert gilt schon jetzt als das Jahrhundert der Städte. Damit ist es gleichzeitig das Jahrhundert des öffentlichen Raums und des Grüns in der Stadt. Dies wurde besonders während der Maßnahmen aufgrund der Covid-19-Pandemie deutlich, als städtische Grünflächen zu Sehnsuchtsorten wurden. Generell liegen in öffentlichen (Grün-)Räumen und Gärten, insbesondere aufgrund des gesellschaftlichen Wandels, die wesentlichen Handlungsfelder für die Qualität städtischen Lebens. Für das Leitbild einer sozialen, klimagerechten und ökologischen Stadt erfahren sie aktuell einen systemischen Bedeutungszuwachs. Das Grün unserer Städte ist Lebens-, Erholungs- und Freizeitraum - und wird zunehmend auch als Naturraum begriffen. Wohnungsnahe, attraktive Freiräume, die sich vielfältig nutzen lassen und gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sind, gehören zur lebenswerten Stadt. Das städtische Grün aus Parks, Brachen, städtischen Wäldern, Gewässern und anderen Freiräumen übernimmt diese Aufgaben in unter‐ schiedlichem Maße. Dass die Kommunen für das öffentliche Grün verantwortlich sind, eröffnet ihnen also eine große Chance: Sie können die identitätsstiftende Wirkung belebter Freiräume und die Lebensqualität vor Ort stärken. In Anlehnung an die gleichnamige EU-Strategie hat sich seit 2013 der Begriff ‚grüne Infrastruktur‘ etabliert. Er zielt darauf, Grün- und Freiflächen als Teil der Stadt zu begreifen, der genauso essenziell ist wie ihre technische und soziale Infrastruktur. Denn grüne Infrastrukturen sind Teil der übergeordneten, öffentlich zugänglichen Wegeraumsysteme von Orten und Städten. Sie sind somit integraler Teil der Baukultur und des Städtebaus, der für ihre Weiterentwicklung und Qualifizierung die entscheidende Handlungsebene darstellt. Denn die Stellung von Gebäuden macht aus einer umgrenzten Fläche einen gefassten Raum. Öffentliche (Grün-)Räume sind somit das Rückgrat eines jeden Stadtteils. Kommunen sollten sie deshalb - genau wie die technische Infrastruktur - früh unter Anwendung eines Leitbilds im Rahmen von Stadtentwicklungskonzepten entwickeln. Wesentlicher Leitgedanke ist dabei u. a. die Vernetzung von Grünräumen. Kleinteilige, wohnortnahe Grünräume und Parks werden systematisch innerhalb des Siedlungsbestandes und mit übergeordneten Landschaftsräumen am Rande der Stadt verknüpft. Das schafft sowohl einen Mehrwert für den Naturschutz und die Biodiversität als auch für die nutzungsintensive Erholungsfunktion, indem neue, at‐ traktive Wegeverbindungen für Fuß- und Radverkehr erschlossen werden. Baukulturell ist öffentliches urbanes Grün auch deshalb von großer Bedeutung, weil es für ein spannungsvolles Wechselspiel zwischen Bebauung und Landschaft sorgt. Gleichzeitig trägt es zur Gestaltung, Raumbildung und Aufwertung konkreter Standorte bei und generiert damit zahlreiche Synergien: Wohnortnahe öffentliche Grünräume tragen wesentlich zur Attraktivität und Funktionsfähigkeit innerstädtischer Wohnquartiere bei. Sie werten das Wohnumfeld auf und wirken sich als weicher Faktor auf Standort- und Investitionsentscheidungen aus. Generell ebnen Rahmenpläne den Weg, um auf öffentlichen Flächen unterschiedliche Nutzungen zuzulassen. Denn sie prägen einen Stadtteil, noch ehe er gänzlich Form angenommen hat. Ausgangspunkt für die Planung neuer Stadtteile sollten daher Nutzungsangebote sein, die von gemeinschaftlichem Interesse sind. Besonders Parks und Gärten erfüllen diesen Anspruch. Ein positives Beispiel ist der 4,4 ha große Lohsepark im Ostteil der Hamburger HafenCity, der im Sommer 2016 eröffnet wurde. Die angrenzenden Quartiere waren da noch in der Entwicklung oder im Bau. 2 Grünflächen für ein verträgliches Stadtklima Öffentliche Grünflächen filtern Feinstaub, speichern Regenwasser und kühlen die Stadt durch Schatten und Verdunstung. Ihre Vegetation ist entscheidend für Gesundheit und Lebensqualität. Sie sind wichtig, um Städte und Gemeinden an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Zeitgemäß gestaltet und ausgestattet tragen sie zudem dazu bei, die Biodiversität der Tier- und Pflanzenwelt unserer Städte zu erhalten. Bei der Entwicklung baulicher Klimaanpassungskonzepte sind für die Planung auf kommuna‐ ler Ebene zunächst die Analyse und Kartierung von Bebauungsstrukturen, Topografie, Kaltluftaustausch und Mikroklimata entscheidend. Nur so lässt sich einschätzen, wo und in welchem Umfang Anpassungsmaßnahmen erforderlich und sinnvoll sind. Freiräume in der Stadt sollten gut miteinander verbunden sein und ein Netz bilden, das zur Stadtstruktur passt. Dabei sollten Grünräume als Cool Spots integriert und v. a. für die Nachbarschaft als leistungsfähige Grünanlage gesichert werden. Grün- und Wasserflächen zu sichern, zu erweitern oder neu zu schaffen, zählt zu den wichtigsten Anpassungsmaßnahmen im öffentlichen Raum und natürlich auch auf 188 Reiner Nagel und Belinda Rukschcio privaten Flächen. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Klimaanpassung und damit auch zur Risikovorsorge und sie sichern biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen. Von Bäumen und Pflanzen profitieren Stadtklima und Baukultur auf vielerlei Art: Sie spenden Schatten, filtern verschmutzte Luft, produzieren Sauerstoff, absorbieren Strah‐ lung, speichern Regenwasser und geben es zeitverzögert wieder an die Atmosphäre ab. Indem sie Wasser verdunsten, kühlen sie die Luft. Gleichzeitig sind sie als räumlich wirksame Kulisse für den Städtebau bedeutsam. Freiflächen gut zu gestalten, ist ein Beitrag zu qualitätvollem Städtebau und zur Klimaanpassung. Die Erderwärmung macht v. a. den Bäumen in der Stadt zu schaffen. Mehr und längere Dürreperioden, Stürme und Starkregenereignisse setzen dem Baumbestand zu und verändern seine Zusammensetzung. Die Trockenschäden sind nicht nur für die Bäume fatal, sie werden zur Gefahr im öffentlichen Raum. Kommunen sind verpflichtet, Vorsorge zu treffen, dass niemand zu Schaden kommt. Sogenannte Angstschnitte sind die Folge: Aus Furcht, für Schäden haftbar gemacht zu werden, lassen die Ämter oft weit mehr als nur potenziell gefährliche Äste, nämlich auch gesunde, große Bäume, entfernen. Dieser Verlust ändert aber das gesamte Erscheinungsbild und die Raumwirkung unserer Straßen, Plätze und Parkanlagen. Erhaltungsmaßnahmen oder gegebenenfalls schnelle Ersatzpflanzungen mit klimaresistenten Baumarten sind erforderlich. % der Gemeinden haben eine Baumschutzsatzung. % der Gemeinden empfinden Bäume als prägend für das Erscheinungsbild. wurden Bäume vorsorglich entfernt, um Baumwürfe zu vermeiden. Grafik: © Bundesstiftung Baukultur; Design: Heimann + Schwantes Abb. 1: Relevanz von Stadtbäumen 189 Gärten als Teil der Baukultur Platane, Linde, Ahorn und Kastanie sind die beliebtesten Stadtbäume. Sie machen etwa die Hälfte des städtischen Baumbestands aus. Für diese Arten könnte es aber bald zu trocken sein. Der Rückgang an Regentagen macht sich in Deutschland bereits bemerkbar. So betrug die Regenmenge im April dieses Jahres lediglich 5 % des üblichen Durchschnitts (vgl. Seidler 2020). Die Pflege von Stadtbäumen benötigt daher eine besondere Aufmerksamkeit. Für Berlin wurden auf der Onlineplattform Gieß den Kiez die Standorte und Arten von 625.000 Bäumen erfasst. Interessierte Bürgerinnen und Bürger können damit in ihrer Nachbarschaft Baum-Patenschaften übernehmen und diese nach Anleitung gießen (vgl. Technologie Stiftung Berlin o. J.). Um den Baumbestand gesund und funktionstüchtig zu erhalten, müssen Städte künftig Baumarten verwenden, die noch nicht einheimisch sind, aber gleichermaßen gut mit Trockenheit wie mit Frost und Schnee zurechtkommen. Die Bayerische Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau testet seit über zehn Jahren an mehreren Standorten Alter‐ nativen. Zu den geeigneten Arten zählen die in Südosteuropa beheimatete Silber-Linde, der Japanische Schnurbaum, Dreizahn-Ahorn, Purpur- und Manna-Esche, Persischer Eisenholzbaum, Zerreiche, Ginkgo, Ungarische Eiche und Schneeball-Ahorn. Dass gebietsfremde Bäume für einheimische Insekten weniger attraktiv sind, hat eine Studie der Universität Würzburg widerlegt. Kommunen sollten allerdings vermeiden, Alleen mit nur einer Baumart anzulegen. Mischalleen dämmen die Ausbreitung von Schädlingen und Krankheiten ein und sind daher robuster. 3 Lebensqualität und Gesundheit Weitere wesentliche Aufgaben der grünen Räume sind die Gewährleistung von Ge‐ sundheit und Bewegung, Begegnung und Integration sowie Bildung und Kultur. Allgemein führen Grün- und Freiflächen zu einer höheren Lebensqualität in den Städten. Das spiegelt sich auch in der Zufriedenheit der Bevölkerung wider. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist (sehr) zufrieden mit der Nähe zu großen Parks und der Natur in ihrem Wohnumfeld, die zunehmend auch als Sehenswürdigkeiten entdeckt werden. Immerhin knapp 40 % der Bevölkerung würde ihrem Besuch v. a. die örtlichen Parks oder Grünanlagen zeigen. Ein Drittel der Bevölkerung nutzt Parks und Grünflächen sehr häufig, weitere 40 % zumindest gelegentlich (vgl. Bundesstiftung Baukultur 2020a) Auch für Jugendliche sind Parks und Grünanlagen bevorzugte Orte, um Zeit miteinander zu verbringen (vgl. Bundesstiftung Baukultur 2020b). Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verbindet generell mit Natur und Grün ein Glücksgefühl bei gleichzeitigem Abbau von Stress, Angst und Konzentrationsproble‐ men (vgl. Husqvarna Group 2013). Grün, das gut über die Stadt verteilt ist, kann erheblich dazu beitragen, Stress zu minimieren und psychische Erkrankungen zu verhindern. Dies belegt eine interdisziplinäre Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) von 2019 (vgl. ZI 2019). Mit Blick auf eine deutschlandweit insgesamt zu hohe Flächeninanspruchnahme wird es daher zunehmend wichtiger, neue Erholungsflächen innerhalb des bestehenden 190 Reiner Nagel und Belinda Rukschcio Siedlungszusammenhangs zu schaffen. Das Leitbild der doppelten Innenentwicklung, bei dem Flächenreserven im Siedlungsbestand nicht nur baulich, sondern auch in Bezug auf urbanes Grün entwickelt werden, gewinnt an Bedeutung. 2016 hat die Bundesregierung den Freiflächenverlust je Einwohnerin bzw. Einwohner als neuen Indikator in die Neuauflage der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen. Von 2000 bis 2014 gingen bundesweit rund 470.000 ha innerstädtischer Freiraum verloren. Das entspricht in etwa einer Abnahme um 1,5 %. In kreisfreien Großstädten fiel der Rückgang mit gut 5 % besonders hoch aus. Bauvorhaben und Freiräume konkurrieren um die gleichen, oft knappen Flächen. Ohne Kompromisse geht es deshalb nicht. Städte und Gemeinden sollten aber in ihren Planungen die biologische Vielfalt und leistungsfähige Grünstrukturen stärker berücksichtigen. Eine hohe Bio‐ diversität im urbanen und ländlichen Kontext ist auch als ‚träge Masse‘ notwendig für den Fortbestand einer natürlichen Lebensgrundlage. Baukultur muss hier unter‐ stützend wirksam werden. Auch Bevölkerungsbefragungen zeigen die zunehmenden Wünsche nach Grün und Natur in der Stadt. Die Bundesregierung hat deshalb ihre Aktivitäten auf diesem Gebiet ausgeweitet. 2017 legte sie ein Weißbuch Stadtgrün vor. Mit der Weiterentwicklung der Städtebauförderung 2020 spielt das urbane Grün eine übergeordnete Rolle. Als zwingende Fördervoraussetzung sind Maßnahmen des Klimaschutzes und zur Anpassung an den Klimawandel künftig im Rahmen jeder städtebaulichen Gesamtmaßnahme umzusetzen. Zudem plant die Bundesregierung ein neues Förderprogramm zur Stadtnatur. Das Umweltbundesamt fordert derweil, das Leitbild der doppelten Innenentwicklung so bald wie möglich im Städtebaurecht zu verankern. Die konkreten Herausforderungen unterscheiden sich von Ort zu Ort. Die Art, wie man sie angeht, muss deshalb auf die lokale Situation ausgerichtet sein. Um identitätsstiftende, zukunftsfähige und baukulturell interessante Orte zu bewahren oder neu zu gestalten, ist es wichtig, die Freiraumplanung in jedes Vorhaben integrativ als Taktgeber einzubeziehen. Nachverdichtung und Ausbau öffentlicher Räume müssen zusammen gedacht werden - im Sinne einer baulichen und zugleich grünen Entwicklung. Entsprechend der doppelten Innenentwicklung bilden sowohl die Grünpflege als auch die Grüngestaltung eine wichtige Grundlage für qualitätsvolle öffentliche Räume. Diese Einschätzung wird von einer großen Mehrheit der Kommunen geteilt. Sie beurteilen auch die Qualität ihrer Grünanlagen positiv. Mehr als jede zweite Kommune ist der Ansicht, dass Gestaltungsqualitäten im öffentlichen Raum insbesondere in Parkanlagen zu finden sind (vgl. Bundesstiftung Baukultur 2014). Die Kehrseite bei der Erweiterung und Qualifizierung des Grünflächenanteils in der Stadt ist jedoch der damit einhergehende Pflege- und Unterhaltungsaufwand. Angesichts der strukturellen Unterfinanzierung vieler Kommunen haben das Erscheinungsbild, aber auch die Funktionsfähigkeit und nicht zuletzt die Sicherheit in öffentlichen Grünanlagen und Parks zum Teil bereits erkennbar Schaden genommen, zum Unmut vieler Bürgerinnen und Bürger. Für die Menschen ist der Zustand von Parks und Grünflächen besonders 191 Gärten als Teil der Baukultur wichtig, jedoch ist über ein Viertel damit wenig oder nicht zufrieden (vgl. Bundesstif‐ tung Baukultur 2020b). + Wassermanagement/ Reduzierung der Auswirkungen von Starkregenereignissen + Sauberes Wasser + Gliederung / Gestaltung von Verkehrsräumen + Lärmreduktion + Kühlung + Frischluftproduktion + Windschutz + Biodiversität Sozialer und ökologischer Mehrwert + Tourismus- und Naherholungsinfrastruktur Ökonomischer Mehrwert + Zunahme Einzelhandelsumsätze + Zunahme Bodenwert + Zunahme Immobilienwert + Adressbildung + Sozialer Zusammenhalt und Identität + Zunahme Produktivität + Reduzierung Energiekosten + Schallschutz + Dämmung + Regenwasserrückhaltung + Gemeinschaftsfläche + Mentale Gesundheit + Physische Gesundheit + Wohlbefinden + Verantwortungsbewusstsein € € € € € € Grafik: © Bundesstiftung Baukultur; Design: Heimann + Schwantes Abb. 2: Mehrwert durch Stadtgrün 4 Bauhistorische Bedeutung Dem Grün in öffentlichen Räumen kommt zudem eine bauhistorische Bedeutung zu: stadtgeschichtliche Epochen lassen sich an Parkanlagen, Wällen und weiteren Gartendenkmalen ablesen und verleihen der Stadt damit lokale Identität. Jede Phase der Urbanisierung hat auch unterschiedliche Freiräume hervorgebracht. Im Mittelalter fanden sich Gärten v. a. in Burg- oder Klosteranlagen. Im Barockzeitalter wurden rund um die Residenzen Gartenanlagen errichtet, zunächst als streng geometrische Barockgärten wie die Herrenhäuser Gärten in Hannover, später als Landschaftspark oder Landschaftsgarten mit fließenden Elementen wie beim Fürst-Pückler-Park Branitz in Cottbus oder beim Gartenreich Dessau-Wörlitz. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden neben den Hausgärten der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner auch zunehmend Bürgergärten und Gartenlokale außerhalb oder am Rande der Innenstädte. Dem öffentlichen Raum kamen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eher ästhetisch-re‐ 192 Reiner Nagel und Belinda Rukschcio präsentative Funktionen zu. Spätestens im Zuge der Industrialisierung wurde die Erholungsfunktion zum besonderen Anliegen. Die Idee der Gartenstadt entstand und in den immer dichter bebauten Städten diente der Volkspark als Erholungsraum. Die Nachkriegsjahre mit der Idee der gegliederten und aufgelockerten Stadt haben ebenfalls deutliche Akzente gesetzt. Ein Beispiel sind große Wohnsiedlungen des 20. Jahrhun‐ derts. Siedlungen, die nach dem Leitbild der aufgelockerten Stadt entstanden sind, bieten weite Grünräume und damit Potenzial zur Nachverdichtung. Nicht nur großzü‐ gige Grünflächen in den Siedlungen, sondern auch öffentliche Grünanlagen erfuhren in den 1950er- und 1960er-Jahren einen weiteren Bedeutungszuwachs. Offenheit, freie Formen, arten- und strukturreiche Pflanzungen, künstlerische Installationen und v. a. Brunnen zählen mit zu den spezifischen Ausstattungsmerkmalen von Parkanlagen der damaligen Zeit. Sie entstanden auch im Zuge von Bundesgartenschauen (BUGA) oder Internationalen Gartenbauausstellungen (IGA) und wurden als fließende Kul‐ turlandschaften konzipiert. So ist der Rheinpark in Köln, der bereits 1912 für eine Ausstellung angelegt wurde und 1957 für die BUGA Köln seine heutige Dimension erhielt, beispielhaft für viele dieser Anlagen. 5 Baukulturelle Instrumente der Stadtentwicklung Wichtige baukulturelle Instrumente der Stadtentwicklung sind Landes- (LAGA), Bun‐ des- (BUGA) und Internationale Gartenschauen (IGA) (vgl. den Beitrag von Sibylle Eßer und Jochen Sandner in diesem Band). Sie schaffen einen Ausnahmezustand auf Zeit und sind an ein festes Datum geknüpft. Damit ist von Anfang an ein klarer Zeithorizont für Planung, Bau und Eröffnung eines strategischen Stadtentwicklungsvorhabens abgesteckt. Oft ergibt sich die Gelegenheit, städtebauliche und infrastrukturelle Ent‐ wicklungen gleich mitanzustoßen oder sie im Huckepack-Verfahren zu verwirklichen. Bundesweit finden sich gelungene Projekte, die über den Zeitraum einer Gartenschau hinauswirken. So wurde durch die BUGA 2015 in fünf Gemeinden an der Havel über Verwaltungs‐ grenzen hinweg die ganze Havelregion neu vernetzt. Für die IGA Berlin 2017 wurde das Parkgelände zwischen den Stadtteilen Marzahn und Hellersdorf weiterentwickelt. Die dafür gebaute Seilbahn ist bis heute in Betrieb. Laut dem Nahverkehrsplan von 2019 prüft der Berliner Senat, ob diese dauerhaft in den öffentlichen Nahverkehr integriert wird. In Schmalkalden wurde für die thüringische Landesgartenschau 2015 ein Flussbett renaturiert, während die Landesgartenschau Bamberg 2012 das brach liegende Gelände einer Baumwollspinnerei revitalisiert hat. Ein bleibendes, preisge‐ kröntes Element der Landesgartenschau 2018 im baden-württembergischen Lahr ist die Ortenaubrücke. Als Fuß- und Radwegeüberführung verbindet sie die Parkteile Mauerfeld- und Stegmattenpark, die von zwei Bundesstraßen getrennt sind. Die schlanke, bogenförmige Stahlkonstruktion - ausgeführt als Schrägseilbrücke - schafft eine bleibende städtebauliche Dominante am Eingang zur Stadt. Gleichzeitig verleiht 193 Gärten als Teil der Baukultur Abb. 3: Stadtquartier Neckarbogen Heilbronn sie der räumlichen Situation aufgrund ihrer hellen Farbgestaltung samt orangem Akzent eine urbane Leichtigkeit (vgl. Henchion/ Reuter o. J.). Heilbronn ging mit der Bundesgarten‐ schau 2019 noch einen Schritt weiter und machte einen Teil des Gartenschauge‐ ländes zur Stadtausstellung. Als sich die Stadt Heilbronn 2007 zur Ausrichtung einer Bundesgartenschau entschloss, war bereits klar, dass man mehr als eine einmalige Großveranstaltung für Gar‐ tenfreundinnen und -freunde wollte. Vielmehr sollte im innenstadtnahen Ne‐ ckarbogen auf aufgegebenen Flächen des Binnenhafens ein neues Stück Stadt mit Bezug zum Fluss und zu neuen Grünräu‐ men entstehen. Dazu hatte die Stadt ein Areal auf der Rückseite des Hauptbahnhofs von der Bahn erworben. 2009 wurde ein städtebaulicher Wettbewerb ausgelobt, dessen Ergebnisse zwei Jahre später anhand eines Realisierungswettbewerbs konkretisiert wurden. Im Ergebnis wurden grüne und blaue Infrastrukturen geschaffen und drei bandartige Areale für die Bebauung vorgesehen. Eines der Areale war als bewohnte ‚Stadtausstellung‘ bereits Teil der Bundesgartenschau. Wesentliche Grünflächen blei‐ ben, ebenso wie zwei Seen, über die Dauer der BUGA hinaus erhalten. Dazu gehören das Neckarufer und der Hafenpark. Mit den 23 Gebäuden der Stadtausstellung wurde erstmals eine Bundesgartenschau auch zur Bauausstellung. Dass ein ganzer Stadtteil nur drei Jahre nach der Ausschreibung fertiggestellt werden konnte, ist nur zum Teil mit dem Termindruck durch das Großereignis zu erklären. Für strukturierte, kurze Entscheidungswege sorgte v. a. die Projektsteuerung durch die BUGA-Gesellschaft, die Architekten, Investoren und Verwaltung bei Planungsrunden stets an einen Tisch brachte. Für Heilbronn hat die BUGA nicht nur mediale Aufmerksamkeit und einen Prestigegewinn gebracht, sondern als Motor der Stadtentwicklung neue Kräfte freige‐ setzt. Drei weitere Baufelder sollen schon bald nach dem bewährten Modell vergeben werden. Während die Bundesgartenschau in Heilbronn den Auftakt zu weiterem Stadt-wachstum legte, diente die Landesgartenschau 2018 in Burg bei Magdeburg in Sachsen-Anhalt eher zur Konsolidierung einer bislang schrumpfenden Klein-stadt. Burg, das sowohl über eine gut erhaltene historische Altstadt als auch über eine sichtbare Industriegeschichte verfügt, hat seit der Wende etwa ein Drittel seiner Einwohnerinnen und Einwohner verloren. Mit der Bewerbung für die LAGA wurde 2011 diese Entwicklung akzeptiert und ein Paradigmenwechsel eingeleitet. Bereits vorhandene Freiräume wurden revitalisiert und durch neue Landschaften und Nut‐ zungen ergänzt. Es entstand eine räumliche Vernetzung, die den Stadtkern als Ort für Freizeit und Erholung stärkt. Im Zuge der Landesgartenschau wurden u. a. 194 Reiner Nagel und Belinda Rukschcio der Bahnhofsvorplatz erneuert und der angrenzende denkmalgeschützte Goethepark revitalisiert, ein Spielwäldchen für alle Generationen angelegt und ein Soldatenfriedhof in Stand gesetzt. Am östlichen Rand der Altstadt bildet der ebenfalls historische Flickschupark den Gegenpol. Als ‚Tor in die Landschaft‘ steht hier das Wasser im Mittelpunkt. Als Verbindung zwischen Goethe- und Flickschupark legte man durch die Altstadt hindurch einen Grünzug entlang des Flusses Ihle. Dabei wurde ein Weinberg rekonstruiert und zum Stadtbalkon ausgebaut. Obstbäume und andere Nutzpflanzen bringen hier die Themen ‚Essbare Stadt‘ und ‚Urban Gardening‘ in ein kleinstädtisches Umfeld. Die geöffneten historischen Weinkeller und ein Wasserturm sind der Stadt auch nach der Gartenschau als Veranstaltungsorte geblieben. Die Brache der Maschi‐ nenfabrik Samuel Aston wurde rund um den stehen gebliebenen Schornstein durch bepflanzte Schotterflächen und einen thematischen Spielplatz in ihrem industriellen Charakter betont. Auch die angrenzenden Ihlegärten entstanden durch Konversion einer langjährigen Brache. Bislang verborgene ‚Stadtimages‘ im wörtlichen Sinne setzen nachhaltige Impulse für die Stadtentwicklung, für den Tourismus, aber auch für die Bewohnerinnen und Bewohner Burgs, die ihre Stadt dank ihres konstruktiven Umgangs mit der Schrumpfung anders erleben und v. a. nutzen können. Abb. 4: Grünanlage in Burg Auch das Format einer Internationalen Bauausstellung (IBA) gibt Kommunen oder ganzen Regionen und Bundesländern Gelegenheit, sich über einen längeren Zeitraum einzelnen Aspekten der städtebaulichen (Freiraum-)Entwicklung zu widmen. Bauaus‐ 195 Gärten als Teil der Baukultur stellungen schaffen Raum für Experimente und haben Laborcharakter. Sie benötigen ein relevantes Thema, einen konkreten Raum oder Ort und innovative Planungs- und Bauprojekte. Durch ihre bundesweite, teils sogar internationale Ausstrahlung können sie Wissen aus vielen Bereichen bündeln. Die IBA Emscher Park gab dem Ruhrgebiet entscheidende Impulse für den Strukturwandel. Auf mehr als 800 km 2 entstanden zwischen 1989 und 1999 landschaftsplanerische und städtebauliche Projekte für den ökologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbau der Industrieregion. Prägend waren dabei die Leitbilder ‚Arbeiten im Park‘ und ‚Wohnen im Park‘. Ziel war es, den Strukturwandel grundlegend anders anzugehen: mithilfe von Flächenkonversionen. Ganze Industrieensembles wurden so zu identitätsstiftenden Anlagen. Heute sind sie Markenzeichen der Städtelandschaft an Rhein und Ruhr. Die IBA Hamburg (2006-2013) beschäftigte sich beim „Sprung über die Elbe“ auf der Elbinsel Wilhelmsburg mit den Themen ‚Bildung‘, ‚Klimawandel‘ und den inneren Peripherien der Metropolregion. Die zeitgemäße Gestaltung der Freiräume erarbeitete das IBA-Team gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Auch nach Ende der Bauausstellung ist die IBA Hamburg GmbH als städtisches Unternehmen ein wichtiger Akteur der Hamburger Stadtentwicklung geblieben. Von 2012 bis 2023 untersucht die IBA Thüringen - eben‐ falls in einem ganzen Bundesland - die Wechselwirkungen zwischen Stadt und Land. Beim Projekt „Der andere Park“ der IBA Heidelberg erhalten Grün- und Freiräume ungewöhnliche Nutzungen und unterschiedliche Atmosphären (vgl. Internationale Bauausstellung Heidelberg o. J.) „Der Fluss gehört allen“ ist das Motto der IBA27 StadtRegion Stuttgart für die Zukunft des Neckars. In unterschiedlichen Maßstäben kann das Format IBA die Augen für versteckte Potenziale öffnen und lokale Identität stärken - und somit über den Zeitraum der Ausstellung hinausweisen. Die Planung der Planung in Form einer echten Leistungsphase Null muss von Anfang an auf integrierte und fachübergreifende Planungs- und Bauverfahren ausgerichtet sein. Jeder Um- oder Ausbau einer Straße, Brücke oder Leitungsinfrastruktur muss eine Verbesserung und Verschönerung im Stadtbild erreichen. Nicht nur für sich, sondern auch für den umgebenden öffentlichen Raum. Die urbane Perspektive des Grüns in der Stadt benötigt also integrierte Prozesse, die konsistent gesteuert werden müssen. Gesamtraum, Strategieraum und Nahraum stehen dabei in einem sich zeitlich und inhaltlich ständig wechselseitig aufeinander beziehenden Wirkzusammenhang. Nur wenn es im Ergebnis gelingt, grüne Freiraumqualitäten auch in den Innenstäd‐ ten zu sichern oder neu zu schaffen, wird man auf dem gewünschten Weg der Qualitätssicherung zur Verbesserung der Lebensräume in der Stadt voranschreiten. Insofern sollte künftig eine Grünflächenentwicklung im Sinne von Gestalten und Machen im Fokus stehen. Angesichts einer sich dynamisch entwickelnden Welt liegen in den vielfältigen, flexiblen und wirkungsvollen Handlungsfeldern der öffentlichen Grün- und Freiflächen die wesentlichen Chancen, Themen und Instrumente für die Gestaltung von Stadt und Landschaft der Zukunft. 196 Reiner Nagel und Belinda Rukschcio Literaturhinweise Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2014): Baukultur Barometer. Gebaute Lebensräume der Zukunft - Fokus Stadt 2014/ 15. Potsdam. Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2020a): Baukulturbericht 2020/ 21. Öffentliche Räume, Potsdam. Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2020b): Bevölkerungsbefragung zum Baukulturbericht 2020/ 21. Potsdam. Husqvarna Group (Hg.) (2013): GLOBAL Green Space Report 2013. Exploring our relationship to forests, parks and gardens around the globe. Stockholm. Internationale Bauausstellung Heidelberg (Hg.) (o. J.): Der andere Park. Online: iba.heid elberg.de/ de/ projekte/ der-andere-park, letzter Zugriff: 13.12.2020. Seidler, C. (2020): Deutschland steuert auf die nächste Dürre zu. On‐ line: www.spiegel.de/ wissenschaft/ natur/ klima-deutschland-steuert-auf-die-naechste -duerre-zu-a-7010c682-ed0d-4634-816c-af3dd7e44783, letzter Zugriff 11.12.2020. Technologie Stiftung Berlin (Hg.) (o. J.): CityLAB Berlin „Gieß den Kiez“. Online: www.g iessdenkiez.de, letzter Zugriff: 13.12.2020. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) (Hg.) (2019): Studie: Grün‐ flächen in Städten fördern psychisches Wohlbefinden, Mannheim. On‐ line: www.zi-mannheim.de/ institut/ news-detail/ studie-gruenflaechen-in-staedten-fo erdern-psychisches-wohlbefinden.html, letzter Zugriff: 13.12.2020. Henchion, M.; Reuter, K. (o. J.): Ortenaubrücke, Landesgartenschau 2018. Online: w ww.henchion-reuter.de/ projekte/ fu%C3%9Fg%C3%A4ngerbr%C3%BCcke-lahr, letzter Zugriff: 13.12.2020. 197 Gärten als Teil der Baukultur Von der Sortimentsschau zur integrierten Stadtentwicklung Bundesgartenschauen (BUGA) und Internationale Gartenausstellungen (IGA) als Impulsgeber Sibylle Eßer und Jochen Sandner Gartenschauen haben in deutschen Städten eine 150-jährige Tradition. Von den Pflanzengesellschaften, die die ersten Blumenschauen entwickelten, über Spezialaus‐ stellungen, mit denen sich erstmals eine kritische Sortimentssichtung verband, bis zu den geradezu inflationär wachsenden Freiland-Schauen im 19. Jahrhundert: Pflan‐ zen, Bäume und Sträucher standen im Mittelpunkt und dienten der Darstellung der ‚Kunst- und Handelsgärtnereien‘ - später der Grünen Branche. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte man die Chancen, auch Erholungsflächen mit ihnen zu entwickeln. Im 21. Jahrhundert wurde damit begonnen, großflächig integrierte Stadt- und Regionalentwicklung zu betreiben. Seit dem Jahr 1951 finden Gartenschauen als Bundes- und Internationale Garten‐ schauen (BUGA/ IGA) in regelmäßigem Rhythmus statt - mit allen wesentlichen Merk‐ malen der heutigen Ausstellungen: dem gärtnerischen Wettbewerb, der Gestaltung eines Gesamtparks, der halbjährigen Dauer und der Darstellung aller Pflanzenbereiche bis hin zur Spezialschau. Die Deutsche Bundesgartenschau-Gesellschaft (DBG) vergibt seit 1993 die Lizenzen für ihre Marken BUGA und IGA (vgl. Deutsche Bundesgarten‐ schau-Gesellschaft 2019). Hinter der Deutschen Bundesgartenschau-Gesellschaft steht die geballte grüne Kompetenz des Landes, denn zu ihren ideellen Trägern zählen der Zentralverband Gartenbau e. V. (ZVG), der Bundesverband deutscher Baumschulen e. V. (BdB) und der Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau e. V. (BGL). Über die Mitglieder dieser Verbände wird alles organisiert, was grünt und blüht, nachhaltig grüne Quartiere in Städten schafft oder historisches Grün innerhalb des Gartenschaugeländes erhält. Sowohl BUGA als auch IGA stoßen heute Großprojekte mit städtebaulichen, ökologischen, demografischen, kulturellen und wirtschaftlichen Auswirkungen für die jeweilige Kommune und ihr Umland an. 1 Worüber definiert sich eine Bundesgartenschau? Ganz sicher ist sie temporär eine Leistungsschau des gärtnerischen Berufsstandes. Doch in der Überlassung des Geländes als BUGA-/ IGA-Park wird das Schaffen großer Gartenarchitektinnen und Gartenarchitekten sowie Architektinnen und Architekten deutlich, die an ihrer Entstehung mitgewirkt haben. Sie ließen grüne Oasen, Rückzugs- und Spielflächen im urbanen Raum entstehen. Vielfach sind wertvolle Natur- und Kulturräume entstanden - nachhaltige Parklandschaften für Generationen. Garten‐ schauen lösen heute integrierte Stadt- und Regionalentwicklungsprozesse aus. Sie verbessern sowohl die grüne Infrastruktur als auch die Verkehrsinfrastruktur, tragen dazu bei, dass Sportanlagen gebaut, Parkplätze unter die Erde gelegt oder Plätze vergrößert werden. Mit all dem wird eine vielfältige Bündelung von öffentlichen und privaten Investitionsmaßnahmen auf einen fixen Termin durchgesetzt. So hat sich die Bundesgartenschau aus ihrer Historie v. a. zu einem unverzichtbaren Instrument der städtebaulichen Erneuerung entwickelt, was sich gerade an zukünftigen Orten der Gartenschau ablesen lässt: Mannheim 2023 oder Rostock 2025. Es entstehen ein neues Quartier über 62 ha auf einer Militärbrache in Mannheim oder der Zugang zum Wasser für das Zentrum Rostocks an der Warnow. 2 Dekaden der Entwicklung Zeitraum Entwicklung 1951-1965 Parks als Bestandteil des Wiederaufbaus in Deutschland 1967-1993 Grün-Renovierung und Neuanlagen bieten Naherholung und Erlebnis 1995-2007 Stadtentwicklung in den neuen Bundesländern, Konversionsprojekte 2009-2015 Ökologische Aufwertung von Städten, Entwicklung von Metropolperiphe‐ rien, Öffnung zum Wasser 2017-2031 Dekadeprojekte in Landschaftsräumen Tab. 1: Entwicklung der Gartenschauen über die Zeit Die Erfolgsgeschichte der Bundesgartenschauen beginnt 1951 in der Wiederaufbau‐ phase deutscher Städte in Hannover. Nach den Zerstörungen des Krieges sehnen sich die Menschen nach Farbe, Schönheit und Blumenpracht. Die neu entstandenen Grünflächen in Zentren bieten die Chance, hässliche Baulücken zu schließen oder beschädigte Quartiere mit Grünflächen aufzuwerten. Der Aufbau neuer Parkanlagen leistet ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum. In der ersten Dekade ihrer Geschichte ist mit Gartenschauen konzeptionell v. a. die Chance für 200 Sibylle Eßer und Jochen Sandner eine zukunftsorientierte Stadtplanung gegeben. In Hannover entstand z. B. der erste BUGA-Park in enger räumlicher und zeitlicher Verbindung zum zukünftigen Congress Centrum, der heutigen Hannover Messe. Von Beginn an war die Anlage für weit mehr als nur als Grünfläche für temporäre BUGA-Veranstaltungen oder Präsentationen der Grünen Branche angedacht - auch die Nachnutzung für Bürgerinnen und Bürger sowie Messebesucherinnen und -besucher und der innerstädtische Erhalt des Grüns für nachfolgende Generationen wurden einbezogen: z. B. mit hochwertiger Kunst und integrierten Flächen zur Freizeitgestaltung. Plastiken von Georg Kolbe (1877-1947), Constantin Starck (1866-1939) oder Paul Schiffers (1903-1987) setzen Akzente im Gartenensemble. Entspannung findet noch heute am Wassergarten statt, Rentner spielen Boden-Schach, junge Familien genießen zwischen Hornveilchen und Oster‐ glocken die Frühlingssonne und bis zu 100 Personen treffen sich zu Fachführungen des Gartenamtes durch den Rosengarten mit 150 alten Sorten. Die ausschließlich gärtnerisch ausgerichteten Hannoverschen Pflanzentage ziehen seit 1999 jedes Jahr rund 25.000 Besucherinnen und Besucher an einem Wochenende an (vgl. Feege 2018). Entscheidend für diesen nachhaltigen Erfolg ist, dass die Planung auf späteren Dau‐ ernutzen angelegt war, der den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung entsprach. Wesentliche Elemente davon wurden bereits während der Bundesgartenschau wirksam und prägten sich ein. Der Stadtpark Hannover blieb im Stil der 1950er-Jahre erhalten, wurde viel genutzt und 1983 zum nationalen Gartendenkmal erklärt. Seither hat die Weiterentwicklung von Hannover als ‚Stadt der Gärten‘ in der Kommunalpolitik stets einen hohen Stellenwert gehabt. 3 Wiederaufbau deutscher Städte Durch das Medium ‚Gartenschau‘ werden in den 1950er-Jahren vier weitere großräu‐ mige Grünflächenplanungen entwickelt und realisiert. In die Wiederaufbauphase fallen so berühmte und heute noch als Volkspark genutzte Anlagen wie Planten un Blomen in Hamburg 1953, zu der die nahegelegenen Forstbaumschulen in Halstenbek, Rellingen und Pinneberg Bäume in reicher Sortenauslese lieferten (vgl. Allinger 1963). Fünf Millionen Menschen haben die IGA besucht. Auch alle führenden Vereinigungen des Gartenbaus und der Gartenkultur hatten sich eingefunden und tagten auf 150 Kongressen. In der Nachnutzung erwies sich diese internationale Gartenausstellung als ideales Medium der Grünflächenentwicklung Hamburgs: Mehr als 2.000 ha öffentliche Grünanlagen und rund 1.000 ha Friedhofsanlagen wurden zur IGA renoviert. Dazu gehörten der Ohlsdorfer Friedhof, der Hammer Park, der Hamburger Stadtpark, die Wallanlagen, der Volkspark Altona und der Alsterpark. Mit seiner Entstehungsge‐ schichte durch die Zusammenlegung großer Privatgärten mit altem Baumbestand verbindet sich - wie so oft bei BUGA und IGA - die Öffnung einer Stadt zum Wasser: Denn bis zur Schau reichten diese privaten Parkgrundstücke in Harvestehude bis an das Alsterufer. Das sogenannte Alstervorland der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben, ist als soziale Großtat des damaligen Ersten Bürgermeisters Max 201 Von der Sortimentsschau zur integrierten Stadtentwicklung Brauers (1887-1973) und seines Bausenators Gustav Oelsner (1879-1956) anzusehen. Der Gartenarchitekt Gustav Lüttge (1909-1968) gestaltete diesen Teil der IGA 1953 für die Kunst: Vor dessen imposanter Baumkulisse fanden Plastiken von Hans Arp (1868-1966) über Alexander Calder (1898-1976) bis zu Aristide Maillol (1861-1944) ihren Platz. Neue Wege zum Wasser erschloss sich in der Wiederaufbauphase auch der Rhein‐ park in Köln 1957 mit einer spektakulären Seilbahn über den Fluss (vgl. Meyer o. J.). Als weiteres herausragendes Beispiel dieser Zeit gilt die Karlsaue in Kassel, die noch 50 Jahre nach ihrer Durchführung als öffentlicher Freiraum genutzt wird - beispielsweise anlässlich der documenta, die sich vom Begleitprogramm der BUGA zur weltweit beachteten Präsentation für zeitgenössische Kunst entwickelt hat. Die Einwohnerzahl Kassels war zur Zeit der Entscheidung für eine Bundesgartenschau von ehemals 250.000 auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner zurückgegangen und die gesamte Altstadt war zerbombt. In der Folge hatte man die Karlsaue, eine großartige Barockanlage um das Fridericianum, die auf 15.000 m² von Bombentrichtern überzogen war, als Schuttablage genutzt. Zwei Millionen Kubikmeter Trümmer türmten sich auf und riegelten Fluss und Landschaft von der Stadt ab (vgl. Panten 1987). Doch genau hier wollten die Kasseler ihre Stadt wiederaufbauen. Die Gartenarchitektin Gerda Gollwitzer stellte 1954 dazu fest: „Welche große Baustelle! Kassel wird im Jahr der Bundesgartenschau noch keine neu erbaute Stadt sein, sondern eine werdende, die ihre Aufgaben an vielen Stellen, von vielen Seiten anpackt. Der Impuls zum neuen Werden dieser toten Stadt ging von einer Gartenschau aus! “ (Gollwitzer 1954) Alle genannten Anlagen der Wiederaufbauphase sind auch heute noch stark fre‐ quentierte Grün- und Erholungsflächen inmitten von Zentren. Unterschiedlichste Strömungen und Tendenzen der Grünflächenpolitik haben sie beeinflusst. Aus heutiger Sicht sind sie als Resultat des Geschmacks und des Stils der jeweiligen Zeit zu bewerten. 4 Sanierung des Parkbestandes in den 1970er-Jahren Die Phase zwischen 1965 und 1977 ist eine Phase der Sanierung überalterter Parks. Gartenschauen werden nun als Instrument zur Erweiterung oder Erneuerung bereits bestehender Grünflächen eingesetzt, um sie so vor dem Zugriff von Wohnungsbau oder Verkehrsplanern zu schützen. In Stuttgart wurde 1961 mit einer Bundesgartenschau das sogenannte Grüne U geschaffen: ein u-förmiger Grünzug von acht Kilometern Länge, der sich von den Schlossgärten bis zum Höhenpark Killesberg erstreckt. Brücken und Stege verbinden auch heute noch die Schlossgartenanlagen, den Park der Villa Berg, den Rosensteinpark und die Wilhelma, den Leibfriedschen Garten, den Wartberg und den Höhenpark Killesberg zu einer großen zusammenhängenden Parklandschaft. Realisiert wurde die Verknüpfung durch Professor Hans Luz (1926-2016) und die Planungsgruppe Luz-Eigenhofer-Lohrer-Schlaich. Die einzelnen Teile haben ihren 202 Sibylle Eßer und Jochen Sandner jeweiligen Charakter behalten und tragen die Handschrift unterschiedlicher Epochen und Personen. So ist das Grüne U nicht nur landschaftlich und gestalterisch reizvoll, sondern ermöglicht auch einen Streifzug durch die Gartenkultur und Gartengeschichte der Landeshauptstadt. Ein weiteres Beispiel für den Erhalt und die Verknüpfung bestehender Grünzüge durch eine BUGA oder IGA liefern die internationalen Hamburger Gartenschauen in dieser Dekade. Hier wurde 1963 wieder eine IGA gefeiert, die den alten Botanischen Garten und die Wallanlagen miteinbezog. 100 Jahre früher hatte bereits auf den alten Befestigungen der Stadt eine sehr reizvolle Grünanlage bestanden, inzwischen besaß lediglich der Botanische Garten noch diesen Charakter. Die Wallgräben hatte man mit dem Trümmerschutt des Zweiten Weltkriegs gefüllt. Eine Arbeitsgemeinschaft der Freien Landschaftsarchitekten Karl Plomin (1904-1986) und Günther Schulze (1927-1994), Hamburg und Heinrich Raderschall (1916-2010), Bonn, planten eine neue Verkehrsinfrastruktur für die verbindenden Achsen und Wege der verschiedenen IGA-Teile. Am Ende der IGA 1963 verfügte Hamburg über den durchgehenden Wall‐ ringpark vom Dammtor zum Millerntor, einen 4,5 km langen Grünzug, den keine Straßenkreuzung mehr durchtrennte. Dafür waren Tieferlegungen, Untertunnelungen und Überbrückungen von Straßen notwendig - ungewöhnlich für eine Zeit, in der andernorts ganze Zentren der ‚autogerechten Stadt‘ geopfert wurden. Plomin und Ra‐ derschall ersetzen die alten Gewächshäuser des Botanischen Gartens durch großzügige Pflanzenschauhäuser, Wasser wurde wieder zum Wegbegleiter der Wallanlagen, auf denen die internationalen Themengärten Platz fanden - das Planten-un-Blomen-Ge‐ lände schien eher für die pflanzlichen Themen prädestiniert. 5 Nutzwert für die Bevölkerung Doch kritisch betrachtet gelang die Gestaltung der Wallanlagen nicht: Zur Zeit der IGA konnten sie kaum mit der Attraktivität der Blütenmassen von Planten un Blomen konkurrieren. Zu abstrakt und skizzenhaft blieben vielen Besucherinnen und Besuchern die Gartenbeispiele, die sich hier konzentrierten. Nach dem Rückbau der Ausstellungelemente blieb eine zwar grüne, aber wenig inhaltsreiche Fläche, die von den Bürgerinnen und Bürgern kaum angenommen wurde. Das änderte sich erst mit der IGA 1973, als die Wallanlagen landschaftsarchitektonisch überarbeitet und für vielseitige Freizeitaktivitäten neu beplant und bebaut wurden. Vom Ausflugsgrün während der IGA wandelte sich das Interesse der Bürgerinnen und Bürger zum All‐ tagsgrün, das kontemplative und nützliche Funktionen zu erfüllen hatte. Jetzt blieben die üppige Pflanzen-Ausstattung und das Pflegeniveau erhalten. Nach Planungsvor‐ schlägen des japanischen Büros Araki und der Landschaftsarchitekten Hess/ Wegener, Norderstedt, überarbeitete man 1984 das Gelände und stellte den Parkcharakter wieder stärker heraus. Es entstanden ein Musikpavillon, ein Café und Parksee; die breiten Asphaltwege verschwanden und die Rosenpflanzungen wurden verjüngt. Flächen für Rollschuhläuferinnen und -läufer wandelten sich in Flächen für Skaterinnen und 203 Von der Sortimentsschau zur integrierten Stadtentwicklung Skater. Das Anspruchsverhalten junger Nutzergruppen hinsichtlich Unterhaltungs- und Spaßfaktor war deutlich gestiegen. Hier erwies sich, wie wichtig es ist, Parkflächen behutsam gegenwärtigen Nutzungsansprüchen anzupassen - ökonomisch, ökologisch und nicht zuletzt im Hinblick auf die zeitgemäße Lebensqualität seiner Besucherinnen und Besucher. „Diese Parks sind prominente Orte in der Stadtgeometrie, der Erholung, der Begegnung und des Austausches der Kulturen, des Sports, der Naturerfahrung und des ökologischen Ausgleichs. Sie bieten auch künftig den sprichwörtlichen Freiraum für die vielfältiger gewor‐ denen Bedürfnisse einer modernen und internationaler werdenden Stadtgesellschaft. Sie braucht neue Gestalt - und Gebrauchsqualitäten für die neue Mitte der Großstadtlandschaft. Ökologische Belange sind dabei ebenso zu berücksichtigen und zu thematisieren wie die Rolle der Landwirtschaft in der Großstadt. Bisherige gesetzliche Rahmensetzungen, wie etwa die Eingriffs- und Ausgleichsregelung, müssen flexibler, konzeptioneller und strategischer orientiert gehandhabt werden, um den Aufbau von Landschaft und Freiräumen offensiver zu unterstützen.“ (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 2005) 6 Mit BUGA und IGA entstehen Naherholungsgebiete In den 1980er-Jahren nutzen Gartenschaustädte BUGA und IGA mehr und mehr zur Neuanlage von Parks und stadtnahen Erholungsgebieten. Herausragende Beispiele sind die BUGA 1979 in Bonn, gestaltet durch den Landschaftsarchitekten Gottfried Hansjakob, mit dem der Rheinauenpark entlang des Rheins entstand, und die IGA 1983 in München, geplant von Peter Kluska (1938-2020), durch den der neue Westpark eröffnet werden konnte. Auch die BUGA 1985 in Berlin, die den Britzer Garten als viel genutzten Volkspark baute, gehört in die Reihe der Neuanlagen. Im Zentrum des 90 ha großen Areals, das für Hunde gesperrt ist, liegt ein großer See mit Stränden, Buchten, Brücken und Röhricht, mit anderen Worten: Hier kann man Natur pur erleben. Auch Wasserspiele und Themengärten sind heute beliebte Anziehungspunkte. Bei diesem Angebot wundert es nicht, dass der Britzer Garten 2002 zu einem der zehn schönsten Gärten Deutschlands gewählt wurde, der jährlich eine Million Besucher zählt. Die Bundesgartenschau-Parks der 1980er-Jahre sind jeder für sich wie ein einheitlicher Organismus gepflegt und erhalten geblieben, der nicht nur Funktionen erfüllt, sondern im Zusammenspiel aller Einzelelemente etwas ästhetisch Schönes, Besonderes, ein Kunstwerk darstellt: Gartenbaukunst eben, die auch nach den 180 Tagen eines som‐ merlangen Festes von den Bürgerinnen und Bürgern wie selbstverständlich in ihr Lebensumfeld einbezogen wird. 7 Nachhaltigkeit und Ökologie bestimmen die 1990er-Jahre In den 1990er-Jahren findet ein Umdenken im Gesamtverständnis von Stadt- und Landschaftsplanung statt. Nachhaltigkeit bei ökologischen und wirtschaftlichen Zielen gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die politischen Entwicklungen bewirken einen 204 Sibylle Eßer und Jochen Sandner neuen Planungsansatz für Bundesgartenschauen: Nun fördern sie die Umnutzung und Renaturierung verrotteter Industriegebiete, insbesondere stillgelegter Bergbaure‐ gionen oder verlassener Militärbereiche und Flughäfen. Die Bundesgartenschau in Gelsenkirchen 1997 auf einem alten Zechengelände, in Magdeburg 1999 auf einem ehemals russischen Exerzierplatz und in Potsdam 2001 auf früher militärisch genutztem Gelände sind Beispiele dieses neuen Ansatzes. Nach der Wende entwickeln sich BUGA und IGA als Motor für Stadt- und Landschaftsentwicklung in den neuen Bundesländern. In Ronneburg gelingt die Verwandlung von 90 ha Uranerz-Tagebau zu einem Landschaftspark auf eindrucksvolle Weise. Hier wird der Bevölkerung ein bis dato riesiger Sperrbezirk wieder zugänglich, eine Terra incognita wieder nutzbar gemacht. In dieser Größenordnung hat die BUGA eine großartige Leistung vollbracht. Man bewegt 184.000 Tonnen Erdreich, bis im vormals tristen Tal während der BUGA 2007 rund 55.000 Stauden erblühen und ein Arboretum aus 56 Baumarten und 131 Baumsorten entsteht. Außer einer Ausstellung erinnert heute nichts mehr an die düstere und zerstörerische Vergangenheit. In der Nachnutzung bleibt eine wiederhergestellte Landschaft, die prädestiniert ist für Radwanderungen und Famili‐ enausflüge. Ein weiterer Beleg für die Umwandlung von Konversionsflächen ist auch der neue Landschaftspark in München von 2005, der auf dem alten Flughafengelände in Riem eröffnet wurde. Ein mutiges, sehr weitläufiges und geometrisches Konzept fordert die Besucherinnen und Besucher heraus - hinter schnurgeraden Wegen und Baumpflanzungen in Reihe musste die private Inspiration für Gärten gesucht werden. Zu wenig Pflanzen und interessant gestaltete Beete und zu wenig Parkcharakter gab es, mehr weiträumige Landschaftsgestaltung, so urteilten die Besucherinnen und Besucher - die traditionalistische Erwartungshaltung konnte nicht befriedigt werden. Finanzielle Ergebnisse wurden in der Presse falsch berichtet. Am Ende waren die Zahlen in der Schlussrechnung besser als in der Prognose. Bei einem Gesamtbudget von 107 Millionen Euro (Durchführungs- und Investitionshaushalt) muss das Defizit von 161.000 Euro neu bewertet werden. Betrachtet man die BUGA nun als Teil einer umfassenden Stadtteilentwicklung und Inwertsetzung des Flughafengeländes in Riem, relativiert sich das Defizit. Die von Gilles Vexlard mit botanischen und land‐ schaftsarchitektonischen Highlights gestalteten Landschaften sind heute populäres Natur-Nahziel für die Erholungssuchenden aus den neu erschlossenen Wohngebieten in Münchens Norden. 8 Integrierte Stadt- und Regionalentwicklung Für die Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen z. B. 2009 und 2011 die innerstädtischen Parkgelände in Schwerin und Koblenz mit der Öffnung ihrer Kernbe‐ reiche zum Wasser. Und einer starken Ausstrahlung von über 20 Korrespondenzflächen in der Region. Ein auch demografisch bedingter Wechsel der Bevölkerung in der Einstellung zu Parks macht sich bemerkbar. Die älteren Stadtbewohnerinnen und -bewohner suchen Chancen, das Altersghetto vor den Toren der Stadt zu vermeiden 205 Von der Sortimentsschau zur integrierten Stadtentwicklung und im Zentrum - barrierefrei - weiterhin leben zu können. Junge Familien suchen grünen Freiraum für sich und ihre Kinder in der Stadt - nicht mehr unbedingt mit dem ‚Häuschen im Grünen‘ am Stadtrand. Jede grüne Nische im Zentrum wird besetzt. Mit Urban Gardening verwirklichen Akteure einer neuen Gartenbewegung ihre Sehnsucht nach Erdung bis zur nachbarschaftlichen Gestaltung eines Naturraumes. Die BUGA Schwerin macht 2009 den Anfang: Hier wurde der historische Kernbe‐ reich der Hauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns aufgewertet, alle grünen Ausstel‐ lungsareale befanden sich rund um das Schweriner Schloss in unmittelbarer Nachbar‐ schaft der Altstadt. Kurze Wege waren charakteristisch für diese BUGA und kurze Wege sind es auch für die Schwerinerinnen und Schweriner ins neu gepflegte Grün geblieben. Natur- und Denkmalschutz hat man von Anfang an einbezogen, als es darum ging, Sichtachsen wieder freizulegen und Ausgleichspflanzungen vorzunehmen. Die Neu‐ gestaltung der Uferzonen und eine schwimmende Blumeninsel sorgten für die Öffnung der Stadt zum Wasser und eine nachhaltig bessere Lebensqualität der Schwerinerinnen und Schweriner. In der Nachnutzung der BUGA 2011 in Koblenz macht das bipolare Flächenkonzept diesseits und jenseits des Rheins in drei Kernbereichen der Stadt beispielhaft deutlich, was der Investitionsschub einer Bundesgartenschau auslöst: neue Grünflächen im Zentrum, Parkplätze, die unter die Erde verlegt werden, restaurierte historische grüne Ensembles in fußläufiger Entfernung der Stadtmitte, eine renovierte Rhein- und Moselpromenade, durch die der Zugang zu den Flüssen auf neue Art möglich wurde. Und umgekehrt: Grünflächen, die in die Stadt diffundieren, ein umfassendes Nachhaltigkeitskonzept, das von der Kommunalverwaltung, dem Grünflächenamt und engagierten Bürgerinnen und Bürgern getragen wird. Die Seilbahn ist heute ein Nahverkehrsmittel, das das Zentrum mit der Festung Ehrenbreitstein auf der anderen Rheinseite verbindet. 2011 wurden drum herum noch die Fritsch-Kasernen genutzt. Nun wird um den BUGA-Parkteil auf der Festung ein ca. 12,5 ha großes Stadtquartier auf dem Gelände der ehemaligen Kasernen entstehen. 9 Die Peripherie der Metropolen gewinnt mit grünen Quartieren Auch wenn jede Bundesgartenschau oder Internationale Gartenausstellung ein regio‐ nales Unikat ist, stellt sich dieses besondere Park-Format gleichwohl den globalen Herausforderungen der Zukunft: Klimawandel und Zuzug vieler Nationen an der Peripherie von Metropolen. In Hamburg verband 2013 ein international thematisiertes Gartenschaukonzept, in das auch die Internationale Bauausstellung einbezogen war, zwei Städte am Wasser: Hamburg und Wilhelmsburg. „In 80 Gärten um die Welt“ lautet das Motto. Auf einem Gelände von ca. 100 ha Fläche begaben sich die Besucherinnen und Besucher wie bei Jules Verne (1828-1905) auf die Reise. Als Passagiere durch‐ querten sie auf einem Rundweg sieben verschiedene Themenwelten. In jeder dieser Passagen wurde ein anderes Reisethema durch gärtnerische, landschaftsplanerische und künstlerische Beiträge präsentiert. Eine wesentliche Rolle spielten die verschie‐ 206 Sibylle Eßer und Jochen Sandner denen, auch innovativen Sportangebote: vom Beachvolleyball über Europas größte Kletterhalle bis hin zu Aquasoccer. Die kulturelle Vielfalt des Stadtteils Wilhelmsburg mit einer überwiegenden Zahl von Migrantinnen und Migranten sowie die Internatio‐ nalität der Hansestadt Hamburg spiegelten sich im Publikum wider. Hier wurde der Versuch unternommen, Ansprüche von Alt und Jung und den Einwohnerinnen und Einwohnern aller Kulturen auf einem zentrumsnahen 106 ha großen Gelände Ausgleich und Entspannung zu bieten. In einem Referat zu IBA, „Sprung über die Elbe“ der Freien und Hansestadt Hamburg, Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt, 2006 hieß es: „Schon wie es das Rahmenkonzept der IBA in Hamburg vorsieht, ist auf die Verlagerung der Entwicklungsrichtung von den Rändern der Stadt zurück in die Stadtmitte zu rechnen und der Abkehr vom peripheren Flächenwachstum. Wachstum und Entwicklung finden in den gewachsenen Quartieren des urbanen Zentrums statt. Im Zusammenspiel mit der Inter‐ nationalen Gartenschau 2013 wird erstmals die Zukunft der Metropole mit all ihren Facetten thematisiert. Im Zentrum steht die Frage, welche besonderen Angebote eine Großstadt für ihre Einwohner, Unternehmen und Besucher für ein Leben im 21. Jahrhundert formulieren muss, damit Leistungsfähigkeit und Lebensqualität zu den herausragenden Standortfaktoren werden. Diese Themen sind zentrale Elemente unserer Strategie der wachsenden Stadt. Mit der Fokussierung auf diese Dialogfelder wagt Hamburg einen Gegenentwurf zur anscheinend unaufhaltsamen Auflösung der Stadt in die Region und widmet sich offensiv großstädtischen Zukunftsthemen.“ (Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt 2006) Heute gilt der Wilhelmsburger Inselpark als touristische Attraktion mit hoher Aufent‐ haltsqualität sowie Hamburgerinnen und Hamburgern diesseits und jenseits der Elbe als vielseitiger Sportpark, auch für internationale Wettbewerbe. Im Jahr 2019 erhielt der Park den Ehrenpreis für nachhaltige Parkbewirtschaftung. 10 Mut zum Experiment: Dezentrale Gartenschauen Mit einer Bundesgartenschau im Havelland 2015 wurden gleich fünf Städte entlang der Havel aufgewertet und ihre grüne Infrastruktur erweitert, der Wassertourismus angestoßen und mit dem Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU) ein großes Fluss‐ renaturierungsprogramm begonnen. Diese BUGA lieferte die Blaupause für weitere Überlegungen zu dezentralen Gartenschauen, die 2027 mit fünf großen Städten in der Metropole Ruhr und 2029 mit 57 Kommunen im Welterbe Oberes Mittelrheintal ihre Fortsetzung erfahren werden. Berlin hat 2017 mit der Internationalen Gartenausstellung an seiner Peripherie in Marzahn einen Bestandspark, die Gärten der Welt (vgl. den Beitrag von Beate Reuber in diesem Band), restauriert und ihn erweitert mit dem Kienbergpark, der zukünftig eine wichtige Rolle als Naherholungsgebiet für umliegende Quartiere sowie als Kältespeicher und Klimaschneise spielen wird. Eine Seilbahn, die auch hier als Nahverkehrsmittel genutzt wird, verbindet die Parkteile und diese weiter mit der U5 - sodass Besucherinnen und Besucher innerhalb von 25 Minuten im Zentrum der 207 Von der Sortimentsschau zur integrierten Stadtentwicklung Metropole am Alexanderplatz sind. Die Schaffung eines neuen Parkteils im Wuhletal geschah auch im Bewusstsein für die Biodiversität im Biotop- und Artenschutz, den Naturhaushalt und das Landschaftsbild. Zwei Jahre später entstand mit der BUGA in Heilbronn unter Einbezug einer ehemaligen Bahn-Konversionsfläche ein wichtiger Grünzug für ein neues Wohnquartier. Hier zeigte sich wieder einmal die Aufgeschlossenheit des Formates für das Experiment: Bauausstellung (Hochbauten in innovativer Bauweise) und Gartenausstellung (Klimathemen, Zukunftstechnologien für die Mobilität, moderne Themengärten) liefen zusammen und schufen das neue grüne Quartier am Neckarbogen. Die BUGA gab den Anstoß für die Öffnung der Uferzonen zum Fluss und polierte das Image Heilbronns als einer sehr lebens- und liebenswerten Stadt auf. Sie hatte für 2,3 Millionen Besucherinnen und Besucher eine große touristische Anziehungskraft. Wie Gästezahlen belegen, hält diese auch nach der BUGA an. 11 Werfen wir einen Blick in die fernere Zukunft In den Jahren des 21. Jahrhunderts werden v. a. 2027 und 2029 spannende Akzente in der nun 70-jährigen Geschichte des grünen Kulturformats setzen. Als internationales Schaufenster und Labor für Innovationen werden mit der internationalen Gartenaus‐ stellung IGA Metropole Ruhr Impulse für ein urbanes Zusammenleben der Zukunft gesetzt und für globale Fragestellungen lokale Lösungsansätze erarbeitet. In dieser de‐ zentralen IGA wird die ganze Metropolregion mit über fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern einbezogen. Von den großen prägenden Städten an der Emscher bis hin zu Korrespondenzflächen in kleinen Kommunen stellt man sich die Frage: Wie wollen wir morgen leben? In vier Handlungsfeldern kristallisieren sich die Themen ‚nachhaltige Mobilität/ Infrastruktur‘, ‚Kommunikation/ Digitalität‘, ‚Grüne Infrastruk‐ tur/ Klimaresilienz/ Ernährung‘ und ‚Partizipation/ Interkultur/ Inklusion‘ heraus. Mit der BUGA im Oberen Mittelrheintal wird v. a. versucht, eine touristisch einst zu Recht beliebte touristische Region Deutschlands mit seinen Burgen und Schlös‐ sern und der einzigartigen durch Weinanbau geprägten Flusslandschaft am Rhein wiederzubeleben: Bahn und Autos zu verbannen, mit Wassertaxen neue Ufer und mit schwimmenden Parks und Gärten eine ganz neue Sicht auf das Rheintal zu gewinnen. Die Deutsche Bundesgartenschau-Gesellschaft bietet mit ihren Marken BUGA und IGA allen Städten und Kommunen sowie den Beteiligten der Grünen Branche neue Formen ökonomisch und ökologisch erfolgreicher Zusammenarbeit. Mit Garten‐ schauen und daraus entstehenden Parks legt sie eine grüne Infrastruktur an, die für Generationen die Versiegelung unserer Städte oder die Zersiedelung unserer Land‐ schaft aufhalten kann. Bundesgartenschauen und Internationale Gartenausstellungen sind publikumswirksame Präsentationsplattformen für alle Zukunftsfragen an den Freiraum. Die genannten Beispiele dieses Beitrags zeigen: Sie sind in ihrer Anpassung an die Zeitläufe von langfristigem Nutzen und bleiben unverzichtbare Elemente für Stadt- und Regionalentwicklungsmaßnahmen in Deutschland. 208 Sibylle Eßer und Jochen Sandner Literaturhinweise Allinger, G. (1963): Das Hohelied von Gartenkunst und Gartenbau. 150 Jahre Garten‐ bau-Ausstellungen in Deutschland. Paul Parey, Berlin/ Hamburg. Deutsche Bundesgartenschau-Gesellschaft (2019): Alte Gartenliebe. Online: www.bunde sgartenschau.de/ ueber-die-dbg/ unsere-geschichte.html, letzter Zugriff: 13.12.2020. Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (2005): Entwurf des Flächennutzungsplans Tempelhofer Feld. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg - 18. Wahlperi‐ ode, Drucksache 18/ 3023, Blatt 3 u. 4, überarbeitete Ausgabe. Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (Hg.) (2006): Sprung über die Elbe, Hamburg auf dem Weg zur Internationalen Bauaustellung (IBA) Hamburg 2013. Freie und Hansestadt Hamburg. Feege, W. (2018): 20. Hannoversche Pflanztage im Stadtpark. Online: stadtreporter.de/ han nover/ news/ verschiedenes/ 20-hannoversche-pflanztage-im-stadtpark, letzter Zugriff: 13.12.2020. Meyer, J. (o. J.): Über den Wolken - die Kölner Seilbahn. Online: www.koeln-lese.de/ ind ex.php? article_id=185, letzter Zugriff: 13.12.2020. Panten, H. (1987): Die Bundesgartenschauen. Eine blühende Bilanz seit 1951. Ulmer, Stuttgart. 209 Von der Sortimentsschau zur integrierten Stadtentwicklung Die grüne Stadt Über die Bedeutung öffentlicher und privater Grün- und Freiflächen in Kommunen Peter Menke Infolge der Veränderungen durch den Klimawandel, aber auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der finanziellen Engpässe in vielen Kommunen werden in jüngster Zeit neue Leitbilder für die Stadt der Zukunft entwickelt. Begriffe wie ‚Resiliente Stadt‘, ‚Nachhaltige Stadt‘, ‚Autofreie Stadt‘ und ‚Grüne Stadt‘ deuten an, dass Umwelt- und Gesundheitsaspekte zunehmend Bedeutung erlangen. Die Erfahrungen während der Coronapandemie 2020/ 21 geben der Debatte noch eine weitere Dimension: Grüne Freiräume bewähren sich als wertvolle Ausgleichsräume für soziale und gesellschaftliche Spannungen und geben Menschen auch unter strengen Abstands- und Kontaktbeschränkungen die Möglichkeit, zumindest auf Zeit der Enge und dem Druck zu entfliehen. Wie wollen wir morgen leben? Wie sollen neue Erwartungen an Beteiligung organi‐ siert werden? Wem gehört die Stadt? - solche Fragen stehen symptomatisch für die sehr grundlegende Neuausrichtung des städtischen Miteinanders. Die Notwendigkeit zur Anpassung an den Klimawandel, damit einhergehend ein sensibleres und leistungsfähi‐ geres Wassermanagement oder Fragen der Mobilität und Luftreinhaltung, hoheitliche Aufgaben zur Gesundheitsförderung bzw. Seuchenbekämpfung und zur Sicherung des sozialen Friedens stellen Kommunen vor neue Aufgaben mit direktem Bezug zur Freiflächenplanung und zum Grün in der Stadt. Dass der öffentliche Grün- und Freiraum - von Parks und öffentlichen Gärten, Spielplätzen, Wasser- und Uferflächen über das Straßenbegleitgrün bis hin zu den Friedhöfen - in der Stadt der Zukunft eine zentrale Rolle spielt, liegt auf der Hand. Schon heute besteht ein enorm hoher Nutzungsdruck auf den vorhandenen Grünflächen. Dort - wo sonst? - treffen sich die Menschen frei, ohne Konsumzwang, erholen sich von Lärm und Hektik der Stadt, treiben Sport oder lassen ihre Kinder spielen. Die Erwartung an den Pflegezustand dieser Flächen ist hoch. Wenngleich der soziale und gesellschaftliche Wert unbestritten ist, so gibt es doch vorprogrammierte Nutzungskonflikte um Flächen: Wo Verdichtung Prinzip ist, wird Freifläche zum knappen Gut. Dies geschieht in Zeiten budgetärer Engpässe und erheblicher Sparzwänge aufgrund anderer Prioritäten in Kommunen. Um das vorhandene Grün bestmöglich zu erhalten und, wo möglich, zusätzliche Grünflächen anzulegen, sind neue Strategien gefragt, die das Bewusstsein für den Wert von Grün stärken. 1 Zur Einordnung Mehr als die Hälfte der Menschen weltweit lebt in Städten. Nach aktuellen Prognosen ist davon auszugehen, dass bis 2050 bereits zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten und Ballungsräumen leben (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Die Lebensform der Zukunft ist städtisch - dort verdichten sich Angebot und Nachfrage von Produkten und Leistungen, dort besteht eine gute Infrastruktur, dort gibt es Arbeit und Perspektiven. Wenngleich Städte nur 3 % der Erdoberfläche bedecken, werden in Städten 70-75 % der Energie verbraucht, 75-80 % des CO 2 emittiert und rund 75 % der Abfälle produziert (vgl. Huber 2017). Allerdings wird in Städten auch 80 % des globalen Bruttosozialprodukts erwirtschaftet (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Der enorm hohe Ressourcenverbrauch von Städten ist der Grund, weshalb auch im Nachgang zu dem im Dezember 2015 in Paris beschlossenen UN-Klimaschutzabkom‐ men der Fokus speziell auf Städte gelegt wird (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2017). Die Konzentration von Menschen und Wirtschaft in urbanen Zentren bietet zwar eine große Chance, aber diese enthält auch eine hohe Verantwortung von Kommunen für die globale Entwicklung: Städte und Ballungsräume sind als Orte des intensiven Verbrauchs von Energie, Gütern und Dienstleistungen eben auch Orte starker Belastung von Luft, Wasser und Boden. Sie sind deshalb auch die entscheidenden Orte für Maßnahmen zur Klimaanpassung. Diese Erkenntnis ist nicht neu, wie aus dieser Erklärung der Bundesregierung vom 29. November 1961 ersichtlich wird: „[D]ie Städte müssen aufgelockert und durchgrünt […] werden. Alle diese Maßnahmen sind ein wesentlicher Teil der nach Maßgabe der Verfassung dringlich in Angriff zu nehmenden großen Aufgabe der Raumordnung. […] Für diese Arbeit sind die gesetzlichen und finanziellen Voraussetzungen schnellstens zu schaffen.“ (Bundestag 1961) Diese grundsätzliche Aussage ist heute noch wichtiger als zu Anfang der 1960er-Jahre, zumal sich die Gesamtsituation in den Städten heute deutlich schwieriger gestaltet. 212 Peter Menke 2 Situation in Deutschland In Deutschland leben heute nahezu drei Viertel der Bevölkerung in Städten, auch hier ist die Tendenz weiter steigend (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit o. J.). Während sich insgesamt in Deutschland ein anhaltender Trend zur Urbanisierung zeigt, gibt es regional und lokal starke Unterschiede. Neben‐ einander bestehen die Phänomene wachsender und schrumpfender Städte - mit jeweils grundlegend anderen Problemen. Wachsende Städte sind neben anderen infrastruktu‐ rellen Engpässen mit dem ständigen Dilemma von notwendiger Innenverdichtung bei gleichzeitiger Freiraumentwicklung konfrontiert. Schrumpfende Städte haben dagegen ein Zuviel an Fläche, die sie weder entwickeln noch erhalten können. Kommunen haben darüber hinaus heute eine Reihe neuer Herausforderungen zu meistern, die mit bekannten Konzepten kaum zu bewältigen sind. Zu nennen sind beispielsweise starke Veränderungen in der Demografie, lokale und regionale Auswirkungen des weltweiten Klimawandels, politische Konflikte um die Prioritäten in der Stadt- und Regionalent‐ wicklung, Umstrukturierungen in der Verwaltung, Personal- und Materialknappheit, eine zunehmende Auslagerung freiwilliger Aufgabe u. a. m. (vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2012). Die im Dezember 2020 neu verabschiedete Leipzig-Charta der Europäischen Union nimmt darüber hinaus noch weitergehende Ziele in den Blick, die sich (auch) auf den Green Deal der EU beziehen. Hierzu die Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat Anne Katrin Bohle: „Keine der Herausforderungen unserer Zeit - sei es Migration, Klimawandel oder Pandemien - kann bewältigt werden, wenn man den Lebensraum der Stadt nicht mitdenkt. Mit der Neuen Leipzig-Charta legen wir deshalb die Weichen für die Stadtentwicklung von morgen: Nachhaltig, resilient und krisensicher.“ (BMI 2020b) 3 Integrierte Stadtentwicklung Es gilt, Städte als vernetzte Systeme zu begreifen und Stadtentwicklung als Prozess zu verstehen, der verschiedenste Aspekte integriert und gemeinsam plant. So ist eine hohe Bevölkerungsdichte in der Regel verbunden mit einem hohen Versiegelungsgrad und damit auch mit entsprechenden Problemen hinsichtlich Stadtklimatologie, beispiels‐ weise dem Phänomen von Hitzeinseln und Problemen im Wassermanagement. Es ist angezeigt, fachbereichsübergreifend zu denken und zu planen. Eine so verstandene Stadtentwicklung zielt auf eine nachhaltige Infrastruktur und umfasst alle Bereiche des Freiraums - Grau, Grün und Blau. Sie ist in erster Linie ausgerichtet auf ökologische und soziale Ziele, hat dabei aber immer auch ökonomische Aspekte im Blick. So ist beispielsweise das Thema ‚Wasser‘ für die integrierte Stadtentwicklung mit Grün im‐ manent wichtig: Genau wie Grün spielt auch das Naturelement Wasser eine bedeutende ökologische Rolle im Stadtraum und wirkt sich positiv auf das lokale Klima und das Wohlbefinden der Menschen aus. In jüngster Zeit kommt dem Wasser eine neue, 213 Die grüne Stadt bedrohliche Dimension zu: Beispielsweise stellt die Bewältigung von Starkniederschlä‐ gen, wie sie im Zuge der Klimaveränderung erwartet werden, Kommunen sowie Investorinnen und Investoren vor neue Aufgaben (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 2017). Die Gestaltung des Freiraums, die verwen‐ deten Materialien und Pflanzen, der Versiegelungsgrad und die Geländemodulation sind auch unter dem Aspekt eines nachhaltigen Wassermanagements zu sehen. Bei der Entwicklung neuer städtebaulicher Konzepte werden Wasser- und Grünprojekte deshalb heute gemeinsam geplant und verwirklicht. Es ist kein Zufall, dass sich insbesondere in den hochverdichteten Innenstädten eine Besinnung auf die Vorteile der Fassaden- und Dachbegrünung zeigt. Hamburg beispielsweise hat sich schon vor Jahren eine sogenannte Dachbegrünungs-Strategie auferlegt - Dächer werden wieder als riesige Potenzialflächen für Grün erkannt und als weit unterschätzter Beitrag zur Lösung von Fragen des Regenwassermanagements und Stadtklimas betrachtet (vgl. Behörde für Umwelt und Energie o. J.). Seit Sommer 2014 wird die Dachbegrü‐ nung bundesweit durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (Kf W) im Rahmen des Förderprogramms „Energieeffizient sanieren“ unterstützt, viele Kommunen haben eigene Förderprogramme aufgelegt (vgl. Kreditanstalt für Wiederaufbau o. J.). Aktuelle Informationen zur Wirkung und zur Förderung von Dach- und Fassadenbegrünung finden sich auf den Seiten des Bundesverband Gebäudegrün (BuGG) (vgl. BuGG e. V. o. J.). 4 Bürgerwünsche pro Grün Das Bedürfnis von immer mehr Menschen, in Städten fußläufig Grünflächen erreichen zu können, sich jenseits von Hitze, Verkehr und Lärm der Stadt in den Schatten von Bäumen setzen zu können, führt dazu, dass das Thema Stadtgrün seit einigen Jahren verstärkt auch auf der politischen Agenda steht. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war der im Mai 2017 in Essen vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit organisierte Bundeskongress „Grün in der Stadt - Für eine lebenswerte Zukunft“. Das dort vorgestellte Weißbuch Stadtgrün (vgl. Bundesmi‐ nisterium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2017) versteht sich als Positionsbestimmung der Bundesregierung und stellt die Bedeutung von Stadtgrün anhand von zehn Handlungsfeldern des Bundes auf. In der Einleitung heißt es: „Mit dem Weißbuch ‚Stadtgrün‘ schafft der Bund ein Angebot, das die Kommunen und andere Akteure bei ihrer Arbeit unterstützen soll. Schaffung, Entwicklung und der Erhalt urbanen Grüns sollen zum selbstverständlichen Aspekt der integrierten Stadtentwicklung und Stadtplanung werden.“ (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor‐ sicherheit 2017) Eine ‚grüne Stadt‘ - so nennen sich bundesweit hunderte von Städten - steht für Lebensqualität und Gesundheit, Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner sowie gilt als gutes Argument im touristischen Stadtmarketing. Erfolgreich in einem 214 Peter Menke qualitativen Sinne sind die Städte, die ein umfassendes Freiraumkonzept umsetzen, das sich ohne Erklärung vermittelt und in dem Grünflächen eine zentrale Rolle spielen. Die Grundlage ist eine frühzeitige und ganz selbstverständliche Integration der Grün- und Freiraumplanung in die Städteplanung, nicht (mehr) als Anhängsel, das wie ein Schmuckstück am Schluss noch für grünen Anstrich sorgen soll. Der im Frühjahr 2020 - vor der Coronapandemie und deren Folgen - veröffent‐ liche Baukulturbericht 2020/ 21 der Bundesstiftung Baukultur betont die besondere Bedeutung öffentlicher Räume, explizit auch grüner Freiräume, für die zukünftige Stadtentwicklung (vgl. Baukultur 2020). Die Coronapandemie 2020/ 21 hat diese bereits seit Jahren deutliche Entwicklung verstärkt: Der öffentliche Freiraum - v. a. öffentliche Grünflächen - waren für große Teile der Bevölkerung über weite Strecken die sichersten Räume jenseits der eigenen Wohnung. 5 Grün in der Stadt ist multifunktional Das lebendige Grün, von der Dach- und Fassadenbegrünung bis zum Grün in Parks und Gärten, ist das wichtigste Bindeglied zwischen allen Funktionen der Stadt, bei‐ spielsweise hinsichtlich Arbeit, Wohnen, Verkehr und Erholung (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung o. J. a). Dabei wirkt Grün positiv auf ökonomische wie auf ökologische und soziale Erfolgsfaktoren von Städten: Grün wertet Standorte und Immobilien auf und verbessert das Image einer Stadt. Es ist anerkanntermaßen das stärkste Instrument in der Stadtklimatologie, zudem Schadstoff- und Lärmfilter, Lebensraum für Tiere und Pflanzen, Erholungsraum für Menschen, sozialer Treffpunkt und als Naturerfahrungsraum insbesondere für Kinder unersetzlich. Parks fungieren als ‚grüne Lungen‘ in Städten. Offene Grünflächen und -schneisen sorgen als Frisch‐ luftentstehungsgebiete für eine verbesserte Luftqualität und leiten Kaltluft aus dem Umland in die Stadtzentren. Grünflächen nehmen außerdem Oberflächenwasser auf und entlasten so die Kanalisation, die v. a. bei Starkregen vielerorts überfordert ist. In vielen Städten und Gemeinden werden die Leistungen des Grüns konkret in kommunale Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Klimaanpassung eingebracht. Problematisch ist, dass das kommunale Grün oftmals immer noch negativ von der Kosten-, nicht dagegen positiv von der Nutzenseite betrachtet wird. Hier wird es darauf ankommen, bei Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, aber auch bei Entscheidungsträgerinnen und -trägern in Unternehmen sowie Organisationen und nicht zuletzt bei Bürgerinnen und Bürgern das Bewusstsein für den Wert von Grün zu wecken, ihnen Argumente für mehr und besseres Grün in den Städten an die Hand zu geben und sie zu gemeinsamem Engagement zu motivieren. 6 Stadtnatur - ein weites Feld ‚Stadt gleich Kultur‘ - ‚Land gleich Natur‘: Diese grobe Einteilung mag vor 200 Jahren noch zutreffend gewesen sein, die heutige Situation ist jedoch deutlich komplexer. Die 215 Die grüne Stadt Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen ist heute in Deutschlands Städten größer als in der freien Landschaft (vgl. NABU o. J.). Das liegt v. a. an der Art, wie inzwischen Landwirtschaft betrieben wird. Großflächige Monokulturen bestimmen das Bild, Hecken, Knicks, natürliche Bachläufe oder freistehende Bäume in der Landschaft sind eher die Ausnahme. Eine Folge dieser Entwicklung ist z. B. der europaweit deutliche Rückgang von Insektenpopulationen: Eine internationale Studie des Weltrats für Biodiversität kam schon Anfang 2016 zu dem Ergebnis, dass es Bienen, Schmetter‐ lingen und anderen Bestäubern schlecht geht (vgl. Sax/ Tertilt 2017). Weltweit sind in manchen Regionen sogar bis zu 40 % der Fluginsekten vom Aussterben bedroht (vgl. Flatlay 2020). Die Insekten werden nicht nur weniger, auch der Artenreichtum schrumpft. Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) gab im Mai 2017 bekannt, dass mehr als die Hälfte der 561 Wildbienenarten in ihrem Bestand bedroht sind und deshalb in der Roten Liste Deutschlands stehen (vgl. Bundesamt für Naturschutz 2017). Das Bewusstsein für die Problematik und die ökologischen Zusammenhänge wächst in der Öffentlichkeit. In diesem Licht wundert es nicht, dass das 2018 in Bayern durchgeführte Volksbegehren „Rettet die Bienen“ so eindeutige Ergebnisse erbracht hat (vgl. Bayerische Staatsregierung 2018). Wohlbemerkt: Der Artenschwund zeigt sich v. a. in ländlichen Gebieten (vgl. Kreiser 2016). In Städten dagegen gibt es ein sehr abwechslungsreiches Nebeneinander von Grünräumen: Dazu gehören z. B. Parks, Wasserflächen und Uferräume, Grünstreifen an Straßen, Spielplätze, Friedhöfe, Plätze bzw. Fußgängerzonen, begrünte Dächer und Fassaden, aber auch private Gärten. Dazu gehören auch Brachen, z. B. ehemalige Industrie-, Gewerbe- oder Verkehrsflächen, die teilweise schon viele Jahre sich selbst überlassen sind. Die so unterschiedlichen Grün- und Freiräume sind auch hinsichtlich ihres Lebensraumpotenzials für Pflanzen und Tiere sehr unterschiedlich zu bewerten. Beim Besuch eines gepflegten Stadtparks mit Rosenrabatten und in Form geschnittenen immergrünen Hecken ist der Begriff ‚Stadt‐ natur‘ sicherlich eher unpassend. Brachflächen dagegen stellen anerkanntermaßen ein bedeutsames Rückzugsgebiet für wild lebende Arten und sind geradezu natürliche Lebensräume. Die unterschiedlichen Grünräume in Städten bieten vielfältige Möglich‐ keiten zur Naturerfahrung und werden zunehmend auch als solche wahrgenommen und genutzt. Allgemein darf aber nicht übersehen werden, dass Städte aus vielen Gründen alles andere als natürliche Lebensräume für Tiere und Pflanzen sind. Wenngleich klein‐ teilige Brachflächen teilweise naturähnlichen Charakter annehmen können, bleibt die Stadt als Ganze mit ihrem hohen Versiegelungsgrad, der Verkehrsdichte, dem Lärm und der Schadstoffbelastung ein Problemstandort für Pflanzen und Tiere. In dieser Tatsache steckt eine besondere Verantwortung für Städte, ein Nebeneinander von nutzbaren, d. h., auch entsprechend gepflegten Grünräumen und naturnahen Rückzugsräumen für Wildtiere und -pflanzen zu schaffen bzw. zu erhalten. Auch die Tatsache, dass Stadtstandorte die Bepflanzung unter erheblichen Stress stellen - geringer Boden-/ Wurzelraum, unzureichende Wasserversorgung und höhere Tempe‐ raturen, zudem neue Krankheiten und Schädlinge -, führt dazu, dass die vorhandenen 216 Peter Menke 1 Am 7. November 2007 wurde in Deutschland die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ vom Bundeskabinett verabschiedet. Sortimente längst zur Disposition stehen. Die Gartenamtsleiterkonferenz (GALK) beim Deutschen Städtetag und der Bund deutscher Baumschulen (BdB) sind in diesem Zusammenhang hochaktiv in der Sichtung und Bewertung neuer Baumarten, die sich an Stadtstandorten bewähren (vgl. GALK 2020). 7 Städtische Freiräume qualifizieren Wo heute neue Städte entstehen - im Fernen Osten und in einigen arabischen Ländern -, werden sie mit hohem ökologischem Anspruch geplant. Diese Städte sind CO 2 -neutral und autark, sie beziehen ihre Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen. In Europa geht es dagegen nicht so sehr um die Neugestaltung als vielmehr um den Umbau der bestehenden Metropolen. Nebeneinander gibt es die Phänomene von wachsenden und schrumpfenden Städten. Betrachtet man Städte aus der Vogelperspektive, so zeigt sich, dass der Dichtegrad von Bebauung und Verkehrsflächen in Innenstadtbereichen am höchsten ist und sich dann nach außen hin mehr und mehr Grünflächen zeigen. In den nahezu vollständig versiegelten Stadtzentren gibt es - wenn überhaupt - einzelne Bäume auf Stadtplätzen, eher aber Pflanzungen in Gefäßen sowie Dach- und Fassadenbegrünung. Diese haben überwiegend dekorativen Charakter und sind nur bedingt als Naturräume zu bezeich‐ nen. Dennoch: Diese Pflanzungen sind wertvolle Inseln in einer ansonsten aus totem Material gebauten Umgebung. Kein Zufall, dass Straßencafés und andere Innenstadt‐ geschäfte mit lebendigem Grün auf sich aufmerksam machen und/ oder ihren Gästen Sitzplätze unter Baumkronen anbieten. In den sich anschließenden Lagen gibt es vermehrt Stadtparks und -gärten, Straßenbegrünung, Friedhöfe u. a. m. Insbesondere in wachsenden Städten und Metropolregionen wächst der Druck auf genau diese Flächen. Vielerorts werden Konzepte zur Nachverdichtung umgesetzt, in denen Grünflächen zur Bebauung freigegeben werden. Wenngleich durch Ausgleichsflächen kompensiert, gehen fußläufig erreichbare öffentliche, d. h. für jedermann nutzbare Grünflächen auf diese Art verloren. 8 Privater vs. öffentlicher Raum Wie oben bereits angedeutet ist die Verteilung von Grünflächen in Städten sehr unterschiedlich: Tendenziell ist festzustellen, dass in Stadtteilen mit überwiegend großen Wohnkomplexen und nur wenigen privaten Gärten auch die Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner mit öffentlichen Grünflächen suboptimal ist. Dabei hatte die Bundesregierung schon 2007 in der Nationalen Biodiversitätsstrategie 1 die Vision formuliert, dass urbane Landschaften nicht nur Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten, sondern durch vielfältiges Grün auch umfassende Möglichkeiten für Er‐ 217 Die grüne Stadt holung, Spiel und Naturerleben bieten sollen. Schon damals wurden ambitionierte Ziele vorgegeben: Zum Beispiel sollte bis zum Jahr 2020 die ‚Durchgrünung‘ der Siedlungen einschließlich des Wohnumfelds deutlich erhöht sein und öffentlich zugängliches Grün in der Regel fußläufig zur Verfügung stehen (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2015, S. 28) Hier besteht in vielen Städten noch deutlicher Nachholbedarf. Klar ist aber auch, dass Menschen, die keinen eigenen Garten zur Verfügung haben (insbesondere im Sommer) hohe Erwartungen an den öffentlichen Raum stellen. Teile des Freizeitlebens verlagern sich auf Plätze sowie Parks und Gemeinschaftsgärten. Der so steigende Nutzungsdruck auf das öffentliche Grün führt zu mehr und aufwändigeren Aufgaben für Kommunen - die gleichzeitig mit schwindenden Budgets und Stellenplänen im Grünbereich kämpfen. Hier drängt sich noch einmal der Blick auf die aktuellen Erfahrungen in der Coronapandemie auf: Glücklich, wer einen eigenen Garten, eine Terrasse, einen Balkon hat - alle anderen sind auf öffentliche Grünflächen angewiesen, um Freiraum im Wortsinn erfahren zu können. 9 Rettet den Vorgarten! Eine weitere Folge der erweiterten Sicht auf die grüne Infrastruktur der Städte und Gemeinden ist, dass die nichtbebauten bzw. versiegelten Flächen mehr und mehr als Gesamtsystem verstanden werden. Dies bezieht sich ganz konkret auf nahezu alle oben genannten Funktionen von Grünflächen, z. B. darauf, die Grünversorgung der Bürgerinnen und Bürger, die Vernetzung von Biotopen und das Management von Regenwasser zu optimieren. So führt die Notwendigkeit, Städte in Zeiten des Klimawandels resilient zu machen, u. a. dazu, dass beim Thema ‚Wassermanagement‘ sowohl längere Trockenzeiten als auch häufigere Starkregenereignisse bedacht wer‐ den müssen. Jeder Quadratmeter zählt, wenn es darum geht, die Kanalisation zu entlasten - versickerungsfähige Bodenbeläge, temporäre Wasserspeicher in Form von Dachbegrünung, v. a. aber sämtliche bepflanzten Flächen mit offenem Boden sind dabei wesentliche Bausteine eines integrierten Starkregenkonzepts. Je weniger graue Infrastruktur (Bebauung und Straßenräume) und je mehr grüne Infrastruktur (mit offenem Boden), umso besser ist das Stadtklima, auch was Lufttemperatur, Luftfeuchte sowie Luftqualität angeht. In diesem Zusammenhang ist die seit einigen Jahren zunehmende ‚Verschotterung‘ von Vorgärten, insbesondere in Neubaugebieten, sehr kritisch zu sehen. Wenngleich der einzelne Vorgarten meist nur eine kleine Fläche hat, so ergibt die Summe dieser kleinen Flächen in einer Stadt dann doch wieder eine große Gesamtfläche und diese liegt immer direkt im Lebensbereich der Bürgerinnen und Bürger. So erklärt sich, dass in mehr und mehr Kommunen die Gestaltung von Vorgärten intensiv diskutiert wird. Städte legen Vorgartenwettbewerbe auf, zeigen auf ihren Webseiten gute Beispiele und konkrete Tipps zur Vorgartengestaltung, Umweltverbände geben Broschüren heraus, im Internet, insbesondere in den sozialen Medien, gibt es eine intensive Debatte zum Thema (vgl. Kippenberger 2018). Der 218 Peter Menke Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau e. V. (BGL) hat bereits im Frühjahr 2017 die Initiative „Rettet den Vorgarten“ begründet und auf Basis einer repräsentativen Marktforschung eine intensive Öffentlichkeitsarbeit gestartet. Der Fokus der Initiative liegt auf Informationen und guten Argumenten, wobei auf Frei‐ willigkeit bzw. Einsicht und Beratung gesetzt wird. Kommunen können übergreifende Satzungen für die Gestaltung bestimmter Flächen, z. B. als Vorgartensatzung, erlassen. Rechtlich steht eine solche auf gleichem Niveau wie ein Bebauungsplan: Sie ist also verbindlich, hat aber in der Regel einen übergreifenden räumlichen Geltungsbereich. Die kommunalen Satzungen werden in den Stadt- oder Gemeinderäten politisch verhandelt und mehrheitlich beschlossen. Da sie in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen und diese beschränken können, müssen sie immer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Konkret zur Frage der Vorgartengestaltung ist zu berücksichtigen, wie weit ein kommunales Ge- oder Verbot die Eigentumsrechte betrifft (vgl. BGL o. J.). In vielen Kommunen bundesweit wurde das Phänomen in den politischen Gremien diskutiert, vielerorts wurden inzwischen Bebauungspläne mit einschlägigen Verboten beschlossen oder spezielle Vorgartensatzungen erlassen. In Baden-Württemberg wurde im Sommer 2020 mit der Novellierung des Naturschutz‐ gesetzes sogar ein ausdrückliches Verbot von Schottergärten bei der Gestaltung von privaten Gärten verabschiedet (vgl. Landtag von Baden-Württemberg 2020). 10 Grüne Firmengelände Das Grün in den Städten besteht bei weitem nicht nur aus dem öffentlichen Grün - ein großer Teil sind private Gärten und Grünflächen von Firmen. Viele Unter‐ nehmen präsentieren sich offensiv mit ihrem Firmengebäude und -gelände. Beide sind Aushängeschild und Visitenkarte und meist das erste, was Besuchende sowie Kunden wahrnehmen. Ob restaurierter Altbau oder moderne Glasfront, ob betonierter Parkplatz oder begrünter Eingangsbereich - Besucherinnen und Besucher nehmen unbewusst auch diese Botschaften auf. Besonders positiv wirkt sich ein gestalteter Außenbereich auf das Image einer Firma aus. Denn eine grüne Umgebung ist heute mehr denn je ein unternehmerisches und ökologisches Statement: Durch ihre Gärten präsentieren sich Unternehmen zeitgemäß, mitarbeiter- und umweltfreundlich - und sie sind es auch. Gepflegte Gärten und Parks besitzen zu Recht einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft und sind eine gute Gelegenheit, sich positiv abzuheben. Außerdem verbessern Firmengärten das Betriebsklima, fördern die Kommunikation der Beschäftigten untereinander und bieten ihnen Erholung und Entspannung (vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung o. J., S. 4). Nicht selten liegen jedoch Geschäftsräume in Industriegebieten oder mitten in der Stadt, also nicht eben im Grünen. Daher sind Firmengärten auch ökologisch höchst wirksam: Sie bieten Trittsteine für die Biotopvernetzung im bebauten Raum, womit sie einen Beitrag zum Artenschutz liefern und das städtische Kleinklima verbessern. Immissionen von Lärm und Staub werden vermindert, v. a. dann, wenn die Begrünung auch auf 219 Die grüne Stadt Dächer und Fassaden ausgedehnt ist. Dieser teilweise Ausgleich der Überbauung und des Ressourcenverbrauchs setzt ein positives Zeichen nach außen: Verantwortung für die Mit- und Umwelt. Mehrere Landesverbände des Bundesverbands Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau e. V. (BGL) haben Aktivitäten speziell für Firmengärten entwickelt - die Basis für einen Firmengartenwettbewerb wurde vom Landesverband Niedersachsen-Bremen in Kooperation mit der Bundesstiftung Umwelt entwickelt (vgl. Verband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau Niedersachsen-Bremen o. J.). 11 Gemeinsame Aufgabe Städte sind, was Temperaturen, Wind und Trockenheit betrifft, von klimatischen Extremen geprägt. Dazu kommen weitere Belastungsfaktoren wie Feinstaub und Lärm. Die Grüne Infrastruktur der Städte kann wesentlich zur ‚Abpufferung‘ dieser Belastungen und somit zum aktiven Gesundheitsschutz beitragen. Es ist zu erwarten, dass die ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Leistungen von Grünflächen in der Zukunft von noch größerer Bedeutung sein werden, wenn sich unter den Vorzeichen des Klimawandels diese Extrembedingungen weiter verstärken. Insofern ist es kein Zufall, dass Stadtverwaltungen öffentliche Gartenanlagen und Parks heute ernster nehmen denn je. Aber auch Bürgerinnen und Bürger sowie lokale Initiativen beteiligen sich aktiv an der Gestaltung ihres Lebensumfelds. Dächer, Balkone und Ter‐ rassen werden zu Gärten, Schrebergärten erleben einen neuen Boom; Stadtteilgruppen schließen sich zusammen und legen Gemeinschaftsgärten an, für die sie kollektive Verantwortung übernehmen. So verändert sich das Gesicht unserer Städte. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, aber auch der Umweltsituation in den Städten, ist es wichtig, dass in Grün investiert wird. Viele Städte und Gemeinden sehen jedoch keine Möglichkeit, zusätzliche finanzielle Mittel für Freiräume einzusetzen. Im Gegenteil: Oftmals müssen die zuständigen Ämter Einsparungen erbringen, was in der Regel zu Einschränkungen bei der Pflege der Flächen führt. Zur Erhaltung der Qualität von Parkanlagen, Plätzen, Boulevards und Ähnlichem sind unter diesen Voraussetzun‐ gen Innovation, Kreativität, sinnvolle Ressourcenbündelung und mancherorts auch Querfinanzierungen aus anderen Ressorts oder durch Einwerbung von Spenden oder Sponsoring gefragt. Es gibt gute Gründe, dafür zu werben: Jegliche Infrastruktur be‐ nötigt regelmäßige Unterhaltung und Pflege - im Unterschied zu grauer Infrastruktur ist die Investition in grüne Infrastruktur allerdings dadurch gekennzeichnet, dass sie im Laufe der Zeit an Wert gewinnt. Durch Wachstum und mit zunehmendem Alter ergibt sich eine räumlich und strukturell größere Lebensraumfunktion. Aber auch durch die stärkere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sind Bäume und Grünflächen im Wort‐ sinn wachsende Wertanlagen. Es ist abzusehen, dass Kommunen im Bereich ‚grüne Infrastruktur‘ in Zukunft eher mehr als heute auf bürgerschaftliches Engagement, Kooperationen mit der lokalen Wirtschaft und nicht zuletzt auf konkretes Sponsoring und Förderung angewiesen sein werden. 220 Peter Menke Diese Tatsachen bestätigen auch neuere Initiativen und Aktionen von staatlichen Stellen, Umweltorganisationen und Verbänden. So hat beispielsweise das Bundesin‐ nenministerium 2020 mit dem Bundespreis Stadtgrün einen Preis ausgeschrieben, der außergewöhnliches Engagement für urbanes Grün, vielfältige Nutzbarkeit, ge‐ stalterische Qualität, innovative Konzepte und integrative Planungsansätze würdigt. Städte und Gemeinden in Deutschland konnten sich mit ihren Stadtgrün-Projekten bewerben, aber auch Planer, Bürgerinnen und Bürger, Initiativen oder Vereine waren dazu aufgerufen, ihre Projekte gemeinsam mit der Gemeinde einzureichen. Im Fokus des neuen Wettbewerbs steht der Mehrwert öffentlicher Grün- und Freiräume für die Menschen. Die Bedeutung solcher Räume betont auch der Bundesminister Horst Seehofer während einer Pressekonferenz: „Für lebenswerte Städte brauchen wir grüne Freiräume. Kinder brauchen Platz zum Spielen und Erwachsene zum Durchatmen. Der Bundespreis Stadtgrün fördert diese zukunftsorien‐ tierte Stadtentwicklung. Das ist gut für unser Miteinander, unsere Gesundheit und das Klima.“ (BMI 2020a) 12 Zukunft Grüne Stadt Im Jahr 2030 werden weltweit fünf Milliarden Menschen in Städten leben - v. a. die sogenannten Megacitys in Schwellenländern stehen vor riesigen logistischen Herausforderungen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung o. J. b). Allein die Aufgaben zur Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln, Trinkwasser und Energie, zur Beseitigung von Müll und Abwasser oder zur Organisation des innerstädtischen Verkehrs sind immens. Architektinnen und Architekten, Ingenieurinnen und Inge‐ nieure sowie Städteplanerinnen und -planer, aber auch Geografinnen und Geografen, Soziologinnen und Soziologen, Medizinerinnen und Mediziner, Versicherungen und nicht zuletzt Politikerinnen und Politiker sehen, dass sie die Stadt der Zukunft als gewaltige Herausforderung nur gemeinsam bewältigen können. Städten, die planlos und rasant wachsen, droht ein ökologisches und soziales Fiasko. In Europa und in Deutschland stellen sich die Fragen anders, jedoch sind auch hier riesige Aufgaben zu lösen. Es geht um nachhaltige Infrastrukturkonzepte - ökologische, ökonomische und soziale Aspekte müssen gemeinsam betrachtet und in ausgewogenen lokalen Lösungen zusammengeführt werden. Wenngleich diese Tatsa‐ chen in Fachkreisen unbestritten sind, ist die Alltagserfahrung der Verantwortlichen in Städten und Gemeinden oftmals geprägt von genau gegenläufigen Entscheidungen. Dennoch: Der Ansatz, dass sich die verschiedenen Disziplinen, die an der Städtepla‐ nung und -entwicklung beteiligt sind, miteinander vernetzen und auf Augenhöhe zusammenarbeiten, lässt hoffen, dass der Beitrag von Grün-, Wasser- und Freiflächen für die Lebensqualität und Gesundheit in den Städten der Zukunft angemessen berücksichtigt wird. 221 Die grüne Stadt Literaturhinweise Baukultur (2020): Bundesstiftung Baukultur 2020/ 21. Öffentliche Räume. Online: www.b undesstiftung-baukultur.de/ baukulturbericht-2020_21, letzter Zugriff: 07.04.2021. Bayerische Staatsregierung (2018): Volksbegehren ‚Rettet die Bienen! ‘. Online: bayern.d e/ volksbegehren-rettet-die-bienen/ , letzter Zugriff: 27.05.2020. Behörde für Umwelt und Energie (o. J.): Dachbegrünung. Leitfaden zur Planung. Online: www.hamburg.de/ gruendach/ 10603556/ leitfaden-dachbegruenung/ , letzter Zugriff: 27.05.2020. Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau e. V. (BGL) (o. J.): Für Kommu‐ nen. 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Die Finanzierung erfolgt größtenteils durch Zuwendungen des Landes sowie durch eigene Erträge. 2 Ziele und Aufgaben Die maßgeblichen satzungsgemäßen Ziele und Aufgaben der Unternehmensgruppe definieren sich im Kontext besonderer Projekte mit stadtpolitisch hervorgehobener Bedeutung in den folgenden Bereichen: Entwicklung, Realisierung und Betrieb grüner Infrastruktur, übergeordnete öffentliche Freiräume, Plätze und Parkanlagen, touristi‐ sche Projekte sowie nachhaltige Mobilitätskonzepte und Fahrradverkehrsinfrastruk‐ turen. Dabei unterstützt u. a. die Unternehmensgruppe als moderner, öffentlicher Dienstleister die jeweiligen Fachverwaltungen des Berliner Senats und die Bezirke. Der deutliche Aufgabenzuwachs in den vergangenen Jahren hat eine Aufgabendif‐ ferenzierung innerhalb der Unternehmensgruppe erforderlich gemacht, insofern dient diese in den Jahren weiterentwickelte Unternehmensstruktur der Sicherstellung einer effizienten und fachlich professionellen Dienstleistungserbringung für das Land. Die Handlungsfelder lassen sich mit den Begriffen ‚Projektentwicklung‘, ‚Projekt- und Baumanagement‘ sowie ‚Betriebs- und Liegenschaftsmanagement‘ beschreiben. In einer Geschäftsführung, zwei Stabstellen und sieben einzelnen Fachbereichen werden die erforderlichen Kompetenzen gebündelt (→ Abb. 2). Dabei übernimmt der Bereich Marketing und Kommunikation eine zunehmend wichtigere, strategische Rolle bei der Vermittlung des Projektes. Eine klare, professionelle Kommunikationsbe‐ gleitung dient zunehmend der Vermeidung von Konflikten im laufenden Prozess der Umsetzung, dies auch vor dem Hintergrund der besonderen, zunehmend komplexeren Anforderungen an Transparenz, Teilhabe und Partizipation. Ein zentrales Unterneh‐ menscontrolling ermöglicht eine gesellschaftsübergreifende effiziente Steuerung und Evaluierung der Prozesse, des Budgets und der Haushaltsvorgaben sowie der spezifi‐ schen Unternehmensziele. Abb. 1: Firmenverbund Grün Berlin Gruppe 2021 Abb. 2: Grafische Darstellung der Organisationsstruktur 226 Christoph Schmidt 3 Unternehmenskennzahlen In den vergangenen Jahren ist die Unternehmensgruppe deutlich gewachsen. So schließt die Gesamtbilanz in 2019 mit 131 Millionen Euro ab. Dies entspricht einer Stei‐ gerungsrate von gut 205 % im Vergleich zum Jahr 2015. Mit über 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden die Aufgaben der Unternehmensgruppe umgesetzt. Die rei‐ nen Baubudgets sowie die institutionellen Budgets beschreiben einen Gesamtaufwand von gut 56 Millionen Euro pro Jahr. Insgesamt werden über 800 ha Parkanlagen und öffentliche Räume sowie Infrastrukturen betrieben, davon viele ‒ wie die Gärten der Welt (vgl. den Beitrag von Beate Reuber in diesem Band) ‒ mit einem touristischen Schwerpunkt. Der Anteil an der Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur Förderung (GRW) beträgt bei den baulichen Investitionen in den vergangenen Jahren im Durchschnitt 13 Millionen Euro pro Jahr. Deutliche Steigerun‐ gen erfolgten auch im Kontext der Umsetzung nachhaltiger Mobilitätsstrategien des Landes, hier insbesondere der Fahrradverkehrsinfrastrukturen. Insgesamt begründen sich die Aufgaben- und damit Budgetzuwächse u. a. auch mit einer neuen Wertschätzung des öffentlichen Raums. Die besonderen umwelt- und verkehrspolitischen Zielsetzungen und Anstrengungen des Landes sowie der zustän‐ digen Verwaltungen gingen einher mit einer ausgeglichenen positiven Haushaltslage und wirtschaftlichen Entwicklung mit Wachstumsraten zwischen 2009 und 2019 von jahresdurchschnittlich 2,9 % (vgl. Amtliche Statistik Berlin Brandenburg 2020). Gleich‐ zeitig führten die Bevölkerungszuwächse von 2011-2019 von 10 % ‒ dies entspricht insgesamt mehr als 343.000 Menschen ‒ zu einem neuen Bevölkerungsrekord auf rund 3,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner im Jahr 2019 (vgl. Amtliche Statistik Berlin-Brandenburg 2020). Ein weiteres Wachstum bis 2030 wird prognostiziert (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2019). Die dadurch ausgelösten stadtentwicklungspolitischen Veränderungen hatten deutlichen Einfluss auf das wach‐ sende Aufgabenportfolio der Unternehmensgruppe. 4 Spezifische Herausforderungen und Kompetenzen Die aktuellen Herausforderungen im urbanen öffentlichen Raum lassen sich in einer Metropole wie Berlin zusammengefasst wie folgt darstellen: Sowohl die demografische Entwicklung, der digitale Wandel als auch insbeson‐ dere die Klimaveränderung haben unmittelbare Auswirkungen auf die Nutzung und Weiterentwicklung des öffentlichen Raums. Wiederkehrend und in zunehmenden Maßen bewegen wir uns in Zielkonflikten, wenn es um die Gestaltung, Nutzung oder Weiterentwicklung des öffentlichen Raums, seiner Plätze, Parks und Gärten geht. Dabei sind Flächenkonkurrenzen im Zuge von Bevölkerungswachstum, sozialer Nut‐ zungsdifferenzierung und erhöhten sozialen Nutzungsansprüchen, Nachverdichtung und Wohnungsneubau sowie der Anlage von erforderlichen, neuen und nachhalti‐ gen Mobilitätsinfrastrukturen und Ersatz- und Ausgleichsflächen vorprogrammiert. Das begrenzte öffentliche Gut ‚Freiraum‘ wird zu wertvoll, als dass zusätzliche An‐ 227 Die Grün Berlin Gruppe forderungen aus den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Klimaresilienz, aber auch Wirtschaftsförderung/ Tourismus direkt auf die Konzepte und Umsetzungsstrategien einwirken. Gleichzeitig bleibt die baukulturelle und stadtbildprägende Verantwortung des öffentlichen Bauherrn bestehen. Öffentliche Räume brauchen zukünftig eine deutlich stärkere baukulturelle Interessenvertretung, welche interdisziplinär aufgebaut ist. Auf der operativen Ebene bedeutet dies die Stärkung des Managements öffentlicher Räume, die Optimierung der Prozess- und Projektabläufe, der Gesamtkoordination und Organisation komplexerer Projekte sowie damit einhergehend die Stärkung der Bau‐ herrnkompetenz. Projekte müssen von der Phase 0 (Projektvor- und Bedarfsdefinition) bis zur Phase 10 (Betrieb, Bewirtschaftung, Instandhaltung) gedacht sowie möglichst einheitlich und konsistent geführt und umgesetzt werden. Die professionelle Kommu‐ nikation ist ebenso wichtig wie ein optimal durchgeführter Beteiligungsprozess. Dies spiegelt sich in der Unternehmensgruppe in nahezu 20 unterschiedlichen aka‐ demischen Berufsfeldern wider, dazu zählen u. a.: Architektur, Bauingenieurwesen, Be‐ triebswirtschaft, Wirtschaftswissenschaften, Politik- und Verwaltungswissenschaften, Landschaftsarchitektur, Verkehrs-, Umwelt-, Landschafts- und Raumplanung, Geogra‐ fie, Kommunikationswissenschaften, Biologie, Sprachwissenschaften, Agrarwissen‐ schaften, Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften, Kunst- und Kulturwissen‐ schaften, Rechtswissenschaften sowie entsprechende fachspezifische Qualifikation in den Bereichen Immobilienprojektentwicklung, Facility-Management, Liegenschafts‐ management. 5 Methoden der Projektentwicklung am Beispiel nachhaltiger touristischer Projekte Um vor den besonderen Herausforderungen und Ansprüchen an eine erfolgreiche Projektumsetzung bestehen zu können, bedarf es neuer Methoden und Tools für die Entwicklung von Parks und öffentlichen Freiräumen, dies insbesondere bei Anlagen, die in einem stärkeren wirtschaftlichen oder auch tourismusaffinen, thematischen Kontext stehen. Diese Anlagen sind dem Grunde nach Unikate, ähnlich einzuordnen wie Kulturimmobilien. Die üblichen, sehr planungs- und gestaltungsdominierten Vorgehensweisen reichen nicht aus. Die erforderliche Methodik wird aus dem Kontext, den in der Regel für diese Projekte verantwortlichen Berufsgruppen, noch zu wenig bedient, da u. a. die ausbildungsbezogenen Schwerpunktsetzungen der Hochschulen und Universitäten dafür nicht bzw. nicht ausreichend ausgelegt sind. Die Anwendung der Methoden der Projektentwicklung macht in struktureller und strategischer Hinsicht Sinn und wird mit teilweiser Ergänzung und Anpassung an den Freiraumkontext zu einem erfolgversprechenden Tool weiterentwickelt - auch vor dem Hintergrund einer in sich konsistenten gesamtheitlichen Betrachtung aller Aspekte, die für die Entwickelnden, Bauherrinnen und -herren und Betreibenden aus ökonomischer, aber zunehmend auch nachhaltig-ökologischer Sicht von entscheiden‐ der Bedeutung sind. Diese strategische Vorgehensweise erhöht die Plausibilitäten, 228 Christoph Schmidt welche u. a. für die erfolgreiche Mittelbeschaffung ‒ hier insbesondere im Kontext der öffentlichen Haushalte ‒ sowie die Überzeugung politischer Gremien und für verantwortliche Haushaltsgesetzgeber eine maßgebliche Rolle spielen. Grundsätzlich sind im Zuge der Projektrealisierung insgesamt 10 Phasen zu benen‐ nen: ● Phase 0: Voruntersuchungen, Projektdefinition, Beteiligung ● Phase 1-5: Planung ● Phase 6-9: Umsetzung ● Phase 10: Betrieb Dabei werden die Phasen 0-3 im Kontext der Grün Berlin Projekte als Projektent‐ wicklung definiert und sind neben der Phase 10 ‚Betrieb‘ mit einem besonderen Schwerpunkt und einer spezifischen Vorgehensweise versehen. 5.1 Projektentwicklung Spreepark Berlin Der gut 20 ha große Spreepark in Berlin wird als Themenpark im Kontext von Kunst, Kultur, Natur von der landeseigenen Grün Berlin GmbH entwickelt und ab 2024 phasenweise eröffnet (→ Abb. 3). Eine überregionale Alleinstellung ist dem Konzept zu eigen und es bedient sich auch einer tourismusaffinen Ausrichtung. Nach einer sehr wechselvollen Geschichte und dem Aus des seit der Wiedervereinigung bis 2001 privat betriebenen Vergnügungs- und Freizeitparks verfiel das Gelände nahezu 20 Jahre. Die Transformation des ehemals einzigen Vergnügungsparks der DDR begeistert sowohl eine mittlerweile internationale Community aus Lost-Place-Enthusiastinnen und -Enthusiasten als auch lokale und überregionale Akteurinnen und Akteuren aus der Kunstszene sowie Freizeit- und Kulturinteressierte. Der besondere Umgang mit den teilweise noch vorhandenen Gebäuden und Fahrgeschäften wie dem 60 m hohen Riesenrad, welches berlinweit als Ikone für den Spreepark steht, weist eine Methodik auf, bei der die Transformation und inhaltliche Überformung des Vorhandenen mit künstlerisch-architektonischen sowie landschaftsarchitektonischen, -szenografischen Mitteln hin zu einem neuen Parktypus gelingen soll. Die Wiedererrichtung eines klas‐ sischen Vergnügungsparks wird dabei nicht verfolgt. Als mögliche inhaltlich passende und erfolgreiche Referenzen dienen weltweit nur wenige Beispiele, mit Ausnahme der Île de Nantes in Frankreich. Dieses Projekt zeigt, wie ein ehemaliger Industrie- und Werftstandort sich mit den transformatorischen und ikonografischen Kräften der Kunst zu einem neuen Stadtquartier aus dem Nukleus eines Themenparks heraus entwickelt und damit der Gesamtstadt zu neuem nationalem und internationalem Renommee verhilft. 229 Die Grün Berlin Gruppe Abb. 3: Spreepark Berlin In Berlin stehen im Zuge der deutlich wachsenden Stadt und der damit einhergehenden Flächenkonkurrenzen immer weniger Schaffensräume und Flächen für Kunst, Kultur und Kreativität zur Verfügung. Dabei sind diese Orte bedeutend für den besonderen Charme und das internationale, kreative Image Berlins. Mit dem Spreepark entsteht ein einmaliges Konzept und neuer Parktypus, welcher auf Dauer gesichert und für die Metropole, seine Bürgerinnen und Bürger, aber auch für ein überregionales, internationales Zielpublikum von Interesse sein wird. Im Folgenden werden die Phasen der Projektentwicklung, beginnend bei den Phasen 0-3, erläutert: 230 Christoph Schmidt Um einen Ausschnitt und Teilschritt der komplexen Vorgehensweise der Projekt‐ entwicklung zu erläutern, liegt nachfolgend der Fokus auf der für die erfolgreiche Initiierung des Gesamtprojektes sehr wichtigen Ziel- und Bedarfsplanung. In dieser Phase werden ● der Projektkontext geklärt (u. a. Verfügbarkeit eines Grundstücks, politische finanzielle Rahmenbedingungen, betriebliche Vorgaben), ● die Projektstrategie erarbeitet (u. a. Definition der Vision, des Leit- und Zielbilds sowie übergeordneter Zielsetzungen, strategische Planung der Entwicklungs‐ phase, Priorisierung der Handlungsfelder), ● die Projektanalysen durchgeführt (u. a. räumlich-technische Analysen, Betriebs- und Nutzungsanalysen, Markt- und Konkurrenzanalysen, Potenzialanalysen, Be‐ darfsanalysen), ● die Projektkonzeption entwickelt (u. a. Ideenfindung zur räumlichen Konzeption, Nutzungs- und Betriebskonzeption, Fachkonzepte, Bedarfsplanung, Kostenrah‐ men, Terminrahmen), ● die Machbarkeiten überprüft (u. a. Umsetzungsmöglichkeiten, Wirtschaftlichkeits‐ untersuchungen, Besuchsprognosen, Absicherung der politisch-gesellschaftlichen Machbarkeit, der finanziellen Machbarkeiten und der terminlichen Machbarkeiten), ● Synthesen der Ergebnisse und Parameter in die Projektrealisierungsphase überführt. Ein Tool in dieser Phase der Projektentwicklung stellt die Design-Thinking-Methode dar. Design Thinking ist eine nutzerzentrierte und iterative Methode für die Lösung von komplexen Problemen bei der Projekt- und Produktentwicklung. Dabei stellen die Wirtschaftlichkeit und Machbarkeit wesentliche Kriterien dar. Insgesamt besteht diese Methode aus sechs aufeinanderfolgenden Schritten: ● Verstehen ‒ das Problem definieren, ● Beobachten ‒ Nutzerinnen- und Nutzerbedürfnisse verstehen, ● Standpunkt definieren, ● Ideen entwickeln ‒ Lösungen skizzieren, priorisieren, ● Prototyping ‒ Modellierung der besten Ideen, ● Testen ‒ Abgleich mit den Nutzerinnen- und Nutzerwünschen. Die Phase 10 wird am Beispiel des Betriebssystems G.A.S.T. (Gastmanagement, Attrak‐ tionen, Sicherheit, Trimmen) erläutert: Das Park- und Liegenschaftsmanagement ist im Verständnis von Grün Berlin eine eigenständige und vielschichtige Profession. Dabei wird bei den Aufgaben des Park- und Objektmanagements unterschieden zwischen den: ● Führungsprozessen (Haushaltsplanung und Controlling, Personalentwicklung, Öffentlichkeitsarbeit, Marketing, Partizipation, Qualitätsmanagement, Ziel- und Programmplanung), 231 Die Grün Berlin Gruppe ● Kernprozessen (Gastmanagement, Hospitality, Angebot, Besuchermonitoring, Angebotsevaluierung, Besucherinformation, Besucherversorgung, Sicherheit, Pflege und Sauberkeit, technisches Facility-Management), ● erweiterten Kernprozessen (Vermietung, Verpachtung, Eventmanagement) ● Support-Prozessen (z. B. Datenmanagement, Auftragsmanagement, Beschwerde‐ management). Innerhalb des vielschichtigen Betriebskonzeptes welches ökonomische, technische sowie qualitative Kriterien berücksichtigt, hat Grün Berlin mit G.A.S.T. eine eigene Service-Philosophie entwickelt. Abgesehen von den technischen Erfordernissen eines professionell betriebenen Facility-Management-Systems gilt es, alle Handlungs- und Ablaufprozesse an dieser Service-Philosophie auszurichten. Der hohe Anspruch an die Attraktivität der touris‐ tischen Destinationen und Parks von Grün Berlin bedeutet eine Service-Philosophie zu leben, die auf gemeinsamen Grundwerten basiert. Im Mittelpunkt steht der Gedanke der Gastfreundschaft und damit der Gast (→ Abb. 4). Abb. 4: Service-Radar 232 Christoph Schmidt 1 Für weitere Informationen und Recherchen: www.berlin.de/ senuvk/ umwelt/ stadtgruen/ charta/ dow nload/ Charta.pdf (letzter Zugriff: 08.10.2021). 2 Für weitere Informationen und Recherchen: www.ioew.de/ projekt/ stadtgruen_wertschaetzen/ (letz‐ ter Zugriff: 08.10.2021). Innerhalb des Konzeptes nimmt das Qualitätsmanagement eine wichtige Rolle ein. Die Werkzeuge des Qualitätsmanagements sind u. a. die Kundenzufriedenheitsanalyse, die Dienstleister- und Lieferantenbewertung sowie die Auditierung. 6 Bedeutungszuwachs des öffentlichen urbanen Raums Nicht nur im Kontext der Bedingungen der aktuellen Coronapandemie verzeichnen der öffentliche Raum, die Parks und Grünflächen einen enormen Bedeutungszuwachs. Allein in den von Grün Berlin betriebenen Anlagen stieg beispielsweise das Besucher‐ aufkommen mit Ausnahme der eintrittspflichtigen, touristischen Liegenschaften ab Mai 2020 deutlich an. Doch nicht nur überproportional mehr Erholungssuchende waren die Folge, sondern der öffentliche Freiraum spürte auch die Verlagerung von bisher indoor-betonten Freizeitaktivitäten in die öffentlichen Freiräume bis hin zu spontanen Veranstaltungen und Partys als besondere Herausforderung. Damit wurde, insbesondere in hochverdichteten Metropolen wie in Berlin, die Aufrechterhaltung und Bereitstellung des öffentlichen Freiraums, v. a. der Parks, zu einer systemrelevanten Aufgabe. Diese neue Erkenntnis führte auch in der Politik zu einer veränderten Bewusstseins‐ lage, auf welcher zukünftig strategisch aufgebaut werden sollte. Dabei wird in Berlin der jüngst vom Senat verabschiedeten „Charta für das Berliner Stadtgrün“ 1 als einer politischen Selbstverpflichtung zur besonderen Wertschätzung des Grüns mit dem übergeordneten Ziel, die grüne Infrastruktur zu einem Schwerpunktthema in der wachsenden Stadt zu machen, eine bedeutende Rolle zukommen. Das Forschungsprojekt „Stadtgrün wertschätzen ‒ Bewertung, Management und Kommunikation als Schlüssel für eine klimaangepasste naturnahe Grünflächenent‐ wicklung“ 2 , welches von dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) gemeinsam mit der Deutschen Umwelthilfe und dem Potsdam-Institut für Klimafol‐ genforschung durchgeführt wird, ist in dem Kontext ein weiteres wichtiges Vorhaben. In der Darstellung des Mehrwertes des Stadtgrüns bzw. seiner spezifischen Leistungen wird sich innerhalb dieses Forschungsprojekts ein hilfreiches Instrument für Politik und Verwaltung entwickeln. Mit sogenannten Reallaboren in den Parks ist auch die Grün Berlin GmbH an dem Vorhaben beteiligt. Reallabore sind eine neue Form der Kooperation zwischen Wissenschaft und Ge‐ sellschaft, bei der das gegenseitige Lernen in einem geschützten experimentellen Umfeld im Vordergrund steht. Sie sind speziell geschaffene Experimentierräume in der Wirklichkeit und bieten einen Ort zum Ausprobieren und Entwickeln von Ideen zum Umgang mit zentralen Problemstellungen in der Gesellschaft. Die Reallabore im 233 Die Grün Berlin Gruppe Projekt haben zum Ziel, sowohl Wissen für eine nachhaltigere urbane Flächennutzung zu erarbeiten als auch konkrete Veränderungsprozesse einzuleiten. 7 Strategische Partnerschaften Als landeseigenes Unternehmen geht Grün Berlin mit zahlreichen öffentlichen, priva‐ ten und zivilgesellschaftlichen Institutionen Kooperationen ein. Angestrebt wird, über Mitwirkende die Attraktivität und Qualität der Angebote in den Parks zu steigern, den Bekanntheitsgrad der Anlagen auszubauen und dadurch einen Mehrwert für die Besucherinnen und Besucher zu erzielen. Darüber hinaus setzt Grün Berlin bei der Auswahl von Kooperationen auf die breite Vermittlung von kulturellen und landschaftsarchitektonischen Inhalten sowie von Aspekten der Umweltbildung. Den Schwerpunkt der Kooperationen stellt eine enge gemeinsame Zusammenarbeit mit regionalen und kommunalen Mitwirkenden wie das Tourismusmarketing visitBerlin sowie touristischen Organisationen dar. Neben zahlreichen weiteren Mitwirkenden wie z. B. den Betreiberinnen und Betreibern anderer Freizeiteinrichtungen, Parks, Gärten und Ausflugszielen sowie Wohnungsgenossenschaften sind Schulen und Uni‐ versitäten für Grün Berlin wichtige Kooperationsbeteiligte. Literaturhinweise Amtliche Statistik Berlin-Brandenburg (Hg.) (2020): Bevölkerungsstand. Online: www.s tatistik-berlin-brandenburg.de/ bevoelkerung/ demografie/ bevoelkerungsstand, letzter Zugriff: 08.10.2021. Mohaupt, F. (o. J.): Stadtgrün wertschätzen. Bewertungen, Management und Kommuni‐ kation als Schlüssel für eine klimaresiliente und naturnahe Grünflächenentwicklung. Online: www.ioew.de/ projekt/ stadtgruen_wertschaetzen/ , letzter Zugriff: 08.10.2021. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen (Hg.) (2019): Bevölkerungsprog‐ nose für Berlin und die Bezirke 2018-2030. Online: www.stadtentwicklung.berlin.de/ planen/ bevoelkerungsprognose/ download/ 2018-2030/ Bericht_Bevprog2018-2030.pdf, letzter Zugriff: 01.02.2021. Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (Hg.) (o. J.): Charta für das Berliner Stadtgrün. Online: www.berlin.de/ sen/ uvk/ natur-und-gruen/ charta-stadtgru en/ , letzter Zugriff: 08.10.2021 234 Christoph Schmidt Landesgartenschauen Zwischen Spaßveranstaltung, Stadtentwicklung und Gesellschaftsrelevanz Christian Rast und Lukas Melzer Neben den seit dem Jahr 1951 im zweijährigen Rhythmus stattfindenden Bundesgar‐ tenschauen (BUGA) werden in den meisten Bundesländern auch im regelmäßigen Turnus Landesgartenschauen (LAGA) veranstaltet. Lediglich in den Stadtstaaten Ber‐ lin, Hamburg und Bremen sowie im Saarland finden keine Landesgartenschauen statt. Im Gegensatz zu Bundesgartenschauen werden Landesgartenschauen vorwiegend von Klein- und Mittelstädten ausgerichtet. Als besucherstärkste regelmäßige Veranstaltungen auf Landesebene wird deren Planung, Durchführung und Nachnutzung zum Dekaden‐ projekt, von dessen Effekten die jeweilige Stadt weit über das Austragungsjahr hinaus profitieren kann. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext fungieren solche Großveranstal‐ tungen immer auch als Brennspiegel aktueller Entwicklungen und Trends. Den daraus resultierenden Herausforderungen müssen sich auch Gartenschauen fortwährend stellen. Als Zukunftslabor reagieren sie aber nicht nur auf diese Entwicklungen, sondern können durch ihre Popularität auch selbst zukunftsfähige Impulse in verschiedensten Bereichen (Grün-, Freiraum-, Stadtentwicklung, Tourismus u. a. m.) setzen. 1 Angebot Die Tradition der Landesgartenschauen in Deutschland reicht bis zum Beginn der 1980er-Jahre zurück. Den Anfang machten Baden-Württemberg und Bayern mit einer gemeinsamen Gartenschau in Ulm/ Neu-Ulm im Jahre 1980 (vgl. Bayrische Landesgar‐ tenschau o. J. a). Im Folgejahr veranstaltete Baden-Württemberg in Baden-Baden eine eigene Gartenschau (vgl. bwgrün o. J.). In Nordrhein-Westfalen beginnt die Geschichte der Landesgartenschauen im Jahr 1984 (vgl. Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen 2009). In Bayern fand die erste eigene Gartenschau 1985 statt (vgl. Bayrische Landesgartenschau o. J. b). Hier wie auch in Baden-Württemberg werden seit 1995 meist alle zwei Jahre - im Wechsel mit den eigentlichen Landes‐ gartenschauen - auch Regionalgartenschauen, die sogenannten Grünprojekte bzw. Kleinen Landesgartenschauen veranstaltet. Der große Erfolg der Landesgartenschauen in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen hat dazu geführt, dass in den 1990er-Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends weitere Bundesländer mit der Durchführung regelmäßiger Landesgartenschauen begonnen haben: ● Hessen seit 1994, ● Sachsen seit 1996, ● Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Thüringen jeweils seit 2000, ● Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen jeweils seit 2002, ● Sachsen-Anhalt seit 2004, ● Schleswig-Holstein seit 2008. Mecklenburg-Vorpommern ist das einzige der genannten Bundesländer, das bislang lediglich eine Landesgartenschau ausgerichtet hat. Dafür fand aber im Jahr 2003 in Rostock eine Internationale Gartenbauausstellung (IGA) und im Jahr 2009 eine Bundesgartenschau in Schwerin statt (vgl. dbg 2019a; dbg 2019b). Im Jahr 2025 wird Rostock erneut Austragungsort einer Bundesgartenschau sein (vgl. den Beitrag von Sibylle Eßer und Jochen Sandner in diesem Band). In allen anderen Bundesländern wurde die Tradition - in der Regel bis heute - fortgesetzt. Der Rhythmus der Durchführung weicht in den einzelnen Bundesländern vonein‐ ander ab. In Niedersachsen sowie in Hessen und Thüringen, die über eine gemeinsame Gesellschaft zur Förderung von Landesgartenschauen verfügen, werden diese alle vier Jahre ausgetragen, in Nordrhein-Westfalen alle drei Jahre. In anderen Bundesländern wie Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen ist der Turnus unregelmäßig. Dort finden Landesgartenschauen in der Regel alle zwei bis acht Jahre statt. Die für das Jahr 2023 vorgesehene Änderung des Durchführungsrhythmus in Bayern ist Ausdruck des Erfolgsmodells ‚Landesgartenschau‘. Der zuvor zweijährige Turnus der Landesgartenschauen - mit Kleinen Landesgartenschauen in den Zwischenjahren - wird fortan auf ein Jahr verkürzt. Begründet wurde dieser Schritt mit den vergleichsweise größeren Effekten, die mit der Ausrichtung einer Landesgartenschau verbunden sind. Ein weiterer Indikator für deren Erfolg und das stete Interesse zahlreicher Kom‐ munen an der Ausrichtung sind auch die immer langfristiger angelegten Planungs‐ zeiträume. In Nordrhein-Westfalen läuft bereits das Bewerbungsverfahren für die Landesgartenschau im Jahr 2029 und in Baden-Württemberg werden die Zuschläge für die Gartenschauen bis 2036 voraussichtlich noch im Jahr 2021 erteilt. Die nachfolgende Karte zeigt zusammenfassend die Standorte der bereits durchge‐ führten bzw. die feststehenden Standorte für Landesgartenschauen sowie Grünprojekte und Kleine Landesgartenschauen: 236 Christian Rast und Lukas Melzer Abb. 1: Durchgeführte und geplante Landesgartenschauen in den Bundesländern bis 2029 237 Landesgartenschauen 2 Nachfrage Eine Betrachtung der durchschnittlichen Besucherzahlen seit dem Jahr 2000 zeigt, dass Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern hinsichtlich der Nachfrage die erfolgreichsten Landesgartenschauländer sind (→ Tab. 1). Mehr als 1,1 Millionen Menschen besuchten die zehn Landesgartenschauen in Baden-Württemberg in die‐ sem Zeitraum durchschnittlich. Damit verbunden ist auch ein entsprechend höherer Etat für die Durchführung der Veranstaltung, der in Baden-Württemberg zuletzt bei rund 10 Millionen Euro lag. Hinzu kommen Kosten für die mit der Gartenschau verbundenen investiven Maßnahmen, die dauerhaft erhalten bleiben, wie z. B. Rad- und Fußwegeinfrastrukturen sowie Spiel-, Sport- und Grünflächen. Diese sogenann‐ ten Investitionshaushalte schwanken stark in Abhängigkeit vom Standort und den geplanten baulichen Maßnahmen und liegen in der Regel im hohen siebenstelligen bis niedrigen achtstelligen Bereich. In einzelnen Fällen können diese auch deutlich darüber liegen wie beispielsweise bei der Landesgartenschau 2018 in Lahr mit einem Investitionsvolumen von rund 60 Millionen Euro (vgl. MLR o. J.). Bundesland Anzahl LAGAs bis 2020 Ø Besucher‐ zahl seit 2000 Ø Flächen‐ größe in ha seit 2000 Ø Durchfüh‐ rungshaushalt in Mio. € seit 2000 Baden-Würt‐ temberg 27 (inkl. Ulm/ Neu-Ulm) 1,14 Mio. 28,4 10,7 Bayern 19 (inkl. Ulm/ Neu-Ulm) 880.000 21,8 8,0 Nord‐ rhein-Westfalen 18 910.000 29,4 8,2 Sonstige 43 560.000 22,3 7,3 Tab. 1: Landesgartenschauen und ihre Kennwerte nach Bundesländern Baden-Württemberg ist ebenso Vorreiter neuer Veranstaltungsformate. Der Trend zu dezentralen Gartenschauen, der auf der Bundesebene mit der Bundesgartenschau 2015 in der Havelregion seinen Anfang nahm (vgl. den Beitrag von Sibylle Eßer und Jochen Sandner in diesem Band) und mit der IGA 2027 im Ruhrgebiet und der BUGA 2029 im Welterbe Oberes Mittelrheintal fortgesetzt wird, fand zuletzt auch seinen Weg auf die Landesebene. 16 Kommunen und drei Landkreise richteten im Jahr 2019 im Remstal das erste interkommunale Grünprojekt aus. Die erste dezentrale Landesgartenschau wird voraussichtlich im Jahr 2027 in Hessen stattfinden. Eine aus elf Kommunen bestehende Kooperation in der Region Oberhessen bekam im Frühjahr 2021 vom hessischen Kabinett den Zuschlag (vgl. Fördergesellschaft Landesgartenschauen Hessen und Thüringen mbH 2021). 238 Christian Rast und Lukas Melzer Darüber hinaus stehen Landesgartenschauen auch hinsichtlich ihrer Bekanntheit ihrem Pendant auf Bundesebene in kaum etwas nach. Während Bundesgartenschauen dem Namen nach 93 % der Deutschen bekannt sind, erreichen auch Landesgarten‐ schauen einen überaus hohen Bekanntheitsgrad von 87 % (vgl. dbg 2015a). Wie auch bei Bundesgartenschauen werden meist zwischen 25 % und 40 % der Besuche auf dem Landesgartenschaugelände von Bewohnerinnen und Bewohnern der jeweiligen Standortkommune getätigt. Analog dazu liegt der Anteil der Besuche mit Dauerkarten in der Regel bei rund 30 % oder sogar leicht darüber. Je nach Struktur des Einzugsgebiets und touristischer Attraktivität der ausrichtenden Stadt und ihres Umfelds sind rund neun von zehn auswärtigen Besucherinnen und Besuchern einer Landesgartenschau Tagesausflüglerinnen und Tagesausflügler, die zum Großteil aus einem Umkreis von bis zu zwei Stunden Fahrtzeit anreisen. Etwa 15 % der Besucherinnen und Besucher unternehmen einen solchen Ausflug im Rahmen einer Busreise. Rund 10 % der Gäste besuchen die Landesgartenschau im Rahmen einer Reise mit mindestens einer Übernachtung. Deren Anteil liegt bei Bundesgartenschauen in der Regel höher - 44 % der auswärtigen Besucherinnen und Besucher der Bundesgar‐ tenschau 2015 in der Havelregion verbrachten mindestens eine Nacht in der Region (vgl. Marketing- und Servicegesellschaft Allerpark mbH 2004; Landesgartenschau Rathenow 2006 GmbH 2006; Landesgartenschau Oranienburg GmbH 2009; dbg 2015b; Landesgartenschau Eutin 2016 gGmbH 2016; dbg 2019c). Auf dem Gelände einer Landesgartenschau verbringen die meisten Besuchenden zwischen drei und vier Stunden. Zusätzlich zum Eintritt tätigt die durchschnittliche Besucherin bzw. der durchschnittliche Besucher weitere Ausgaben auf dem Veran‐ staltungsgelände in Höhe von rund 15 Euro - beispielsweise für Speisen, Getränke und Souvenirs. Ein Teil der Gäste tätigt darüber hinaus auch Ausgaben außerhalb des Veranstaltungsgeländes. Dadurch werden weitere wirtschaftliche Effekte in der Stadt und ihrem Umfeld angestoßen, die sich zumeist auf die Landesgartenschau zurückführen lassen, da deren Besuch für einen Großteil der Besucherinnen und Besucher der Hauptanlass der Reise bzw. des Ausflugs ist (vgl. Marketing- und Servicegesellschaft Allerpark mbH 2004; Landesgartenschau Rathenow 2006 GmbH, 2006; Landesgartenschau Oranienburg GmbH 2009; Landesgartenschau Eutin 2016 gGmbH2016). 3 Zielsetzungen und Effekte Mit der Durchführung von Landesgartenschauen ist eine Reihe von unterschiedlichen Zielsetzungen verbunden, die standortspezifisch städtebauliche und landschaftsplane‐ rische Aufgaben lösen sollen. Landesgartenschauen sind Anstoß oder Impulsgeber zur Sanierung, Aufwertung oder Weiterentwicklung von Städten durch neue bzw. umge‐ staltete Freiräume und Grünflächen. Darüber hinaus erzielen Landesgartenschauen eine große Resonanz bei Besucherinnen und Besuchern sowie Medien und ermögli‐ chen somit Bekanntheitsgrad- und Imageeffekte für die durchführenden Städte und 239 Landesgartenschauen Unterstützung für deren lokale Wirtschaft. Preisler-Holl betont in diesem Zusammen‐ hang, dass zwar jedes Bundesland eine andere Gartenschautradition entwickelt hat und die Ziele von den jeweiligen Standortbedingungen abhängen, die nachhaltige Verbesserung der Aufenthalts- und Lebensqualität in den Veranstalterstädten jedoch vorrangiges Ziel bei allen Veranstaltungen darstellt (vgl. Preisler-Holl 2002, S. 161 f.). Hinzu kommt, dass jede Landesgartenschau auch ein gärtnerisches Event zur Demons‐ tration der Leistungs- und Innovationskraft des Garten- und Landschaftsbaus ist. Entsprechend sind Fachverbände bzw. die von ihnen getragenen Fördergesellschaften in die Organisation involviert. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Prioritäten bei der Zielsetzung von Landesgartenschauen verschoben. Als Leistungsschauen des Garten- und Land‐ schaftsbaus, bei denen v. a. ästhetische Aspekte im Vordergrund stehen, wurden Landesgartenschauen lange als Blümchenschauen oder Spaßveranstaltungen tituliert. Heute liegt der Fokus nicht, wie vordergründig zu erwarten war, auf dem rund sechs‐ monatigen Veranstaltungszeitraum und den in diesem Zeitraum generierten Zahlen an Besuchenden in mittlerer sechsbis niedriger siebenstelliger Höhe, sondern auf den nachhaltigen Effekten und Impulsen für das Stadtmarketing und die Stadtentwicklung in den ausrichtenden Städten. Die Einnahmen aus der Durchführung einer Landesgartenschau, z. B. aus Eintrit‐ ten, Sponsoring, Merchandising und Verpachtungen, sind nur selten kostendeckend, sodass damit in der Regel ein Zuschussbedarf durch die Kommune und das jeweilige Bundesland verbunden ist. Hinzu kommen Investitionen in die städtische und regionale Infrastruktur und begleitende Maßnahmen, die jedoch vielfach mit Mitteln aus landes‐ weiten Förderprogrammen und Zuschüssen kofinanziert werden. Dadurch können kommunale Infrastrukturprojekte realisiert werden, die sonst nicht oder erst wesent‐ lich später umgesetzt worden wären. Der Zuschuss des ausrichtenden Bundeslandes stößt in der Regel ein Vielfaches dessen an kommunalen und privaten Investitionen an. Landesgartenschauen werden somit zu einem wichtigen Bestandteil einer gezielten und strategiegeleiteten kommunalen Infrastruktur- und Stadtentwicklungspolitik (vgl. Funk 2007, S. 97). Die mit der Ausrichtung einer Landesgartenschau verbundenen, längerfristig wir‐ kenden Effekte können einem oder mehreren der sechs nachfolgend dargestellten Wir‐ kungsfelder zugeordnet werden. Den genannten Haupteffekten liegen verschiedene, thematisch passende Einzeleffekte zugrunde, wobei eine trennscharfe Abgrenzung der Haupteffekte und dazugehörigen Einzeleffekte nicht immer gegeben ist. Deutlich wird dies beispielsweise an den wirtschaftlichen und touristischen Effekten einer Landes‐ gartenschau, deren Trennung grundsätzlich schwierig und eher gedanklicher Natur ist, da der Besucherverkehr derart sichtbare und gleichzeitig gut messbare Auswirkungen auf die lokale und regionale Wirtschaft zeigt. Zu den stärksten und sichtbarsten Aus‐ wirkungen einer Landesgartenschau gehören sicherlich die Effekte auf den Städtebau und in abgeschwächter Form auf die Regionalentwicklung (→ Abb. 2). 240 Christian Rast und Lukas Melzer ift-consulting.de Landesgartenschauen, 1.6.2021 1 Wirkungen von Gartenschauen Wirkungen von Gartenschauen städtebaulich Stadtentwicklung, Entwicklung Grünflächen, Lebensqualität physisch-ökologisch Renaturierung, Bodenschutz, Nachhaltigkeit soziokulturell Tradition, regionale Identität, Bindung politisch-psychologisch Bekanntheitsgrad, Standortförderung wirtschaftlich Garten- und Landschaftsbau, Beschäftigungseffekte touristisch Besucherverkehr, Ausbau der Infrastruktur, bessere Qualität Abb. 2: Wirkungen von Gartenschauen Eine Landesgartenschau führt wie kaum ein anderes Projekt zu Veränderungen im Stadtbild, der Stadtbe‐ grünung und Grünentwick‐ lung der Region. In der Regel werden mit einer Landes‐ gartenschau neue, erwei‐ terte oder sanierte Grün‐ flächen in der Kommune geschaffen, nicht selten un‐ ter Einbeziehung vormals problematischer Areale wie Brach- und Konversionsf‐ lächen, deren Revitalisie‐ rung zu einer Belebung ganzer Stadtteile führen kann. Ferner fungieren Gar‐ tenschauen oftmals als Im‐ pulsgeber für komplexe stadt- und regionalplanerische Projekte, die das Gesamtbild der austragenden Stadt und Region, beispielsweise durch die Ausweisung neuer Wohn‐ quartiere bzw. Gewerbeflächen oder die Umsetzung innovativer Verkehrslösungen, nachhaltig verändern. Im Rahmen einer Gartenschau werden in der Regel eine Reihe flankierender Maßnahmen geplant und umgesetzt, die über das Gartenschaugelände hinausgehen und weite Teile der Stadt und Region umfassen. Dabei potenzieren sich die öffentlichen Investitionen durch private und gewerbliche Begleitmaßnahmen. In Trier 2004 überstiegen die privaten und gewerblichen Folgeinvestitionen aufgrund wirtschaftlicher und struktureller Impulse der Gartenschau das öffentliche Investitions‐ volumen um rund das Zehnfache (vgl. MWVLW 2018). Von den positiven Effekten dieses millionenschweren Konjunkturprogramms auf die Standort-, Aufenthalts- und Lebensqualität profitieren neben der ortsansässigen Bevölkerung auch die lokale und regionale (Tourismus-)Wirtschaft (vgl. Rast/ Storch 2018). Durch den Besucherverkehr mit mehreren hunderttausend bis hin zu über einer Million Besucherinnen und Besuchern innerhalb eines halben Jahres und den damit verbundenen Effekten für Bekanntheit und Image stehen die touristischen Effekte oftmals im Fokus des Interesses. Sie umfassen nicht nur die Auswirkungen auf die touristische Nachfragesituation durch vermehrte Gästebzw. Besucherzahlen im Tages- und Übernachtungstourismus - und damit letztlich verbundene monetäre und ökonomische Effekten, u. a. im Hotel- und Gastgewerbe und Einzelhandel -, sondern auch die Angebotssituation, z. B. durch Schaffung neuer Beherbergungskapazitäten, Rad- und Wanderwege oder zusätzliche touristische Angebote und Attraktionen. Durch eine Landesgartenschau steigt die Zahl der Tagesgäste in einer Kommune 241 Landesgartenschauen und Region im Veranstaltungsjahr in der Regel drastisch an, aber auch Effekte im Übernachtungstourismus im Veranstaltungsjahr sind in den Veranstaltungsstädten sowie ihrem Umland nachweisbar (vgl. u. a. Bitterle 2012, S. 35; Industrie- und Han‐ delskammer (IHK) Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim 2011, S. 7; Heuer 2004, S. 53). Je nach Zielsetzung und Konzeption einer Landesgartenschau können diese Effekte auch längerfristig andauern, sofern die Tourismuswirtschaft es versteht, die Marketingplattform Landesgartenschau optimal zu nutzen und der Ausbau touristi‐ scher Infrastruktur und Angebote zu begleitenden Investitionen bei den touristischen Leistungsträgern führt. Die Landesgartenschauen in Bad Essen 2010 oder in Bad Iburg 2018 im Osnabrücker Land in Niedersachsen sind exemplarische Beispiele dafür, wie sowohl der Tagesals auch der Übernachtungstourismus an den Standorten langfristig von den in diesem Rahmen geschaffenen Angebots- und Aufenthaltsqualitäten profi‐ tieren können (vgl. Bad Essen o. J.). Die touristischen Effekte einer Landesgartenschau sind somit gleichzeitig Teilmenge der wirtschaftlichen Effekte, welche die Produktions- und Wertschöpfungseffekte und damit verbundenen Beschäftigungseffekte umfassen. Landesgartenschauen bündeln und terminieren wirtschaftliche Maßnahmen in einer Stadt und Region so, dass von einer erfolgreichen Durchführung, wirtschaftlich gesehen, fast alle Branchen profitieren können. Die Umsetzung der bereits vorgestellten städtebaulichen und infrastrukturellen Projekte bedarf öffentlicher Investitionen in enormen Größenord‐ nungen auf dem Gartenschaugelände selbst, im sonstigen Stadtgebiet und Umland. Dabei schaffen Landesgartenschauen ein positives Investitionsklima und sind Auslöser privater Begleit- und Folgeinvestitionen, z. B. in Form einer Schaffung neuer bzw. Mo‐ dernisierung von Beherbergungskapazitäten, Wohnimmobilien, Freizeiteinrichtungen und privaten Gartenanlagen. In vielen Veranstalterstädten konnten daher im Zuge der Gartenschauplanungen positive Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt festgestellt werden, die direkt mit der Gartenschau in Verbindung gebracht werden konnten. Dabei fließen große Summen in die örtlichen Wirtschaftskreisläufe. In Bad Essen 2010 verblieben 80 % der Aufträge in der Region (vgl. IHK Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim 2011, S. 9). Ähnliches gilt an anderen Standorten, wie z. B. bei den Landes‐ gartenschauen in Oranienburg 2009 und Prenzlau 2013 in Brandenburg nachgewiesen wurde (vgl. MIL 2013). Die positive Wirkung von Landesgartenschauen auf die Innovationskraft der ‚Grün‐ branche‘ kann als wirtschaftlicher Effekt qualitativer Art angesehen werden. Die wirtschaftliche Bedeutung von Landesgartenschauen liegt immer auch in ihrer Funk‐ tion als Leistungsschau und Trendbörse hinsichtlich der Themen ‚Garten‘, ‚Grün‘ und ‚Natur‘, wenngleich monetäre Effekte hieraus schwer zu quantifizieren sind. Weitere positive, indirekt wirkende wirtschaftliche Auswirkungen auf die Standortkommune können sich durch die Ansiedlung von neuen Unternehmen in neu geschaffenen Gewerbe-/ Büroflächen und/ oder dem Zuzug neuer Bürgerinnen und Bürger in neue Wohngebiete ergeben. Zwar ist eine direkte Zuweisung in der Regel nicht alleine auf eine Landesgartenschau für eine gesamte Stadt möglich, jedoch gibt es einige Beispiele, 242 Christian Rast und Lukas Melzer bei denen Landesgartenschauen zumindest eine Rolle als Impulsgeber für derartige Effekte zugeschrieben werden kann. Zudem führen Landesgartenschauen durch die langfristigen Nachnutzungen zu dauerhaften wirtschaftlichen Effekten, z. B. in Form von Eintrittserlösen, Instandhaltungskosten oder Reinvestitionen. Ebenfalls eng mit den ökonomischen und touristischen Effekten verbunden sind die politisch-psychologischen Effekte. Dabei wird die überregional ausstrahlende Publi‐ kums- und Medienwirksamkeit von Landesgartenschauen gezielt für die Entwicklung eines modernen Stadt-, Standort- und sogar Regionalmarketings genutzt. Landesgar‐ tenschauen werden damit zu Instrumenten des modernen Erlebnismarketings, um das Profil und Image der Austragungsorte zu wandeln bzw. zu verbessern. Zwar lassen sich Intensität und Dauer der Werbe- und Imageeffekte nur schwer quantifizieren, je‐ doch ist unstrittig, dass Landesgartenschauen bei gelungener Durchführung aufgrund ihrer Publikums- und Medienwirksamkeit den Bekanntheitsgrad und das Image der Austragungsorte/ -regionen erheblich erhöhen bzw. festigen können und es vermögen, weitere Besucherinnen und Besucher anzuziehen (vgl. Freyer 1996, S. 226 ff.). Die große Bekanntheit von Bundes- und Gartenschauen wurde dabei durch eine repräsentative Studie der Deutschen Bundesgartenschau Gesellschaft empirisch nachgewiesen (vgl. dbg 2015a). Am schwierigsten fass- und messbar sind soziokulturelle Effekte von Landesgar‐ tenschauen, wenngleich unstrittig ist, dass Landesgartenschauen einen signifikanten Beitrag zur Steigerung der regionalen, kulturellen und sozialen Identität der Bürgerin‐ nen und Bürger sowie zur Förderung der Identifikation mit der Stadt leisten. Nicht ohne Grund werden heutzutage bereits in der Machbarkeitsprüfung und Bewerbungs‐ phase die Bürgerschaft und dazugehörige Institutionen (z. B. Wirtschaft, Vereine, sozial-karitative Organisationen, Kirchen und Kulturschaffende) in die Planungen eingebunden, um den dauerhaften Nutzen der Gartenschau für die Stadt sowie die Bewohnerinnen und Bewohner herauszuarbeiten sowie die Wünsche der Bürgerinnen und Bürger zu berücksichtigen. In den meisten Bundesländern werden im Rahmen der Ausschreibungsunterlagen zur Bewerbung um eine Landesgartenschau umfangreiche partizipatorische Begleitprozesse des bürgerschaftlichen Engagements gefordert, wie man exemplarisch den aktuellen Ausschreibungen der Landesgartenschauen 2026 und 2029 in NRW entnehmen kann (vgl. MULNV 2019). Diese frühen Beteiligungsformen schlagen sich bei der späteren Planung, Durchführung und Nachnutzung in zahlreichen aktiven Unterstützerinnen und Unterstützern aus der Bürgerschaft nieder, die sich langfristig für die Standortkommunen - z. B. in Form von Fördervereinen - engagieren (vgl. Rast/ Storch 2018). Ganz offensichtlich sind vielfach die physisch-ökologischen Effekte von Landesgar‐ tenschauen, insbesondere wenn ihre Areale ehemalige Brach- und Konversionsflächen umfassen oder zu Renaturierungen der Landschaft führen. Neben diesen positiven Effekten auf den Bodenschutz und auf Freiflächen spielt in den letzten Jahren das Thema ‚Stadtklima‘ eine immer größere Rolle. Die zunehmende bauliche Verdichtung der Städte und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur haben vielerorts nicht nur zu einer 243 Landesgartenschauen starken Versiegelung von Freiflächen und einem Defizit an öffentlichen Grünflächen geführt, sondern auch zu verstärkter Luftverschmutzung. Das Thema ‚Ökologie‘ und, damit verbunden, die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit spielen auch bei den dauerhaften Anlagen von Gartenschauen eine immer größere Rolle (vgl. MIL 2013; Rast/ Storch 2018). 4 Perspektiven und Zukunftsaussichten Als Großveranstaltungen mit zuletzt bis zu 2,5 Millionen Besucherinnen und Besuchern pro Jahr sind Landesgartenschauen ein Brennspiegel gesellschaftlicher Entwicklun‐ gen. Übergeordnete Megatrends, wie der Klimawandel, die Digitalisierung und der demografische Wandel bergen einerseits Chancen für das Produkt und Instrument Gartenschau, stellen dieses aber andererseits vor neue Herausforderungen. Dazu gehören auch angespannte öffentliche Haushalte und steigende Erwartun‐ gen der Besucherinnen und Besucher an die Qualität der Bausteine entlang der Customer Journey. Die sich bewerbenden Städte und ausrichtenden Gesellschaften reagieren darauf mit entsprechenden Maßnahmen in der Bewerbungs-, Planungs- und Durchführungsphase, die zu einem enormen Professionalisierungs- und Innova‐ tionsprozess geführt haben. Zu nennen ist an dieser Stelle z. B. der gezieltere und stärkere Einsatz neuer Digitalisierungstechnologien im Marketing und Vertrieb von Landesgartenschauen. In den kommenden Jahren werden zudem neue Konzeptansätze bei Gartenschauen erprobt: Dezentrale Bundesgartenschauen bzw. Internationale Gar‐ tenbauausstellungen wie die IGA Metropole Ruhr 2027 oder BUGA Welterbe Oberes Mittelrheintal 2029 werden das Bild von Gartenschauen in den kommenden Jahren prägen und stärker den Ansatz integrierter Regionalentwicklungsprozesse betonen - ein Trend, der sich aktuell auch mit neuen, dezentraleren Bewerbungsansätzen auf der Landesebene zeigt. Damit verbunden ist der Versuch, die organisatorische und finanzielle Last einzelner Kommunen zu reduzieren und gleichzeitig den Fokus vermehrt auf vernetzende Elemente in der Stadt- und Regionalentwicklung zu legen. Auch Gartenschauen, deren Besuchszahlen hinter den Erwartungen zurückbleiben, wie beispielsweise die Bundesgartenschau 2015 in der Havelregion, hinterlassen auf lange Sicht ein verbindendes und interkommunales Erbe, dessen Effekte die Region bis heute nachhaltig positiv prägen und vor dessen Hintergrund die Veranstaltung in qualitativer Hinsicht ganz anders bewertet werden kann. Mit dezentraleren Ansätzen gehen jedoch weitere Herausforderungen einher, insbesondere bei der Ressourcenausstattung durch deutlich höhere Ansprüche in den Bereichen Mobilität und Besucherlenkung sowie Vertrieb und Ticketing, denen zunehmend durch den Einsatz digitaler Technologien begegnet wird (vgl. Tourismusnetzwerk Brandenburg 2019). Dabei können Gartenschauen durchaus als Experimentierfeld und Vorreiter ge‐ samtgesellschaftlicher Entwicklungen gesehen werden. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Urbanisierung, des Klimawandels und eines zunehmenden Verlusts an Biodiversität können Gartenschauen durch innovative Ideen in der Gestaltung von 244 Christian Rast und Lukas Melzer Gärten, Parkanlagen, Straßengrün, Fassaden und Dächern und die dadurch angesto‐ ßene Sensibilisierung und Aktivierung der Bevölkerung einen wesentlichen Beitrag zur Antwort auf die Frage, wie wir künftig leben wollen, leisten. Auch in Anbetracht weiterer demografischer und gesellschaftlicher Transformationsprozesse und Frage‐ stellungen vermag Freiraum- und Grünflächenplanung Lösungen zu entwickeln. Dazu zählen sowohl vergleichsweise banale Infrastrukturen wie Mehrgenerationenspiel‐ plätze oder -parks, die zugleich als Begegnungs- und Kommunikationsort für Menschen unterschiedlichen Alters fungieren, als auch moderne und multimodale Verkehrswege- und Mobilitätskonzepte, welche die Verbindungen und Erreichbarkeiten in einer Stadt und deren Umfeld neu definieren (vgl. MLR 2020; Bayrische Landesgartenschau 2020). Doch auch in der gesellschaftlich relevanten Frage nach dem Umgang mit Migration und Integration können Gartenschauen Impulse setzen. Grünflächen und attraktive sowie leistungsfähige Infrastrukturen werten nicht nur das Wohn- und Arbeitsumfeld auf und tragen damit zur alltäglichen Lebensqualität bei, sondern entfalten durch eine breite Partizipation - sowohl in der Vorbereitung und Planung einer Gartenschau als auch in deren Durchführung - eine identitätsstiftende Wirkung und fördern den Gemeinschaftssinn und das Vereinsleben vor Ort. Mit Veranstaltungen, die ein wich‐ tiger Angebotsbestandteil einer jeden Gartenschau sind, wird eine Bühne geschaffen, die nicht nur überregional bekannten Künstlerinnen und Künstlern vorbehalten ist, sondern auch durch lokale Vereine und Gruppen bespielt wird. Zudem schaffen Garten‐ schauen öffentliche, aber zeitgleich geschützte Stadträume, die als Raum zur Entfaltung und Begegnung verschiedener Gruppen dienen. Als Naturerfahrungsraum in Form von Ausstellungen, Schulgärten, Grünen Klassenzimmern und Veranstaltungen werden diese Räume auch über den Veranstaltungszeitraum hinaus zu Lernorten der Umwelt- und Naturbildung (vgl. MLR 2020; Bayrische Landesgartenschau 2020). Bevor eine Stadt und/ oder Region jedoch von diesen positiven Effekten profitieren kann, steht ein längerer Planungsprozess an, der maßgeblich den späteren Erfolg einer Landesgartenschau beeinflusst. Basis dafür ist ein attraktives, standortspezifisches und nachhaltiges Bewerbungskonzept, dessen Inhalte in enger Abstimmung mit den Akteu‐ rinnen und Akteuren sowie Bürgerinnen und Bürgern vor Ort in einer Machbarkeits‐ studie erarbeitet werden. Je klarer dabei die konzeptionellen Grundlagen den Genius Loci treffen, je präziser die Besuchsprognose und Entwürfe des Durchführungs- und Investitionshaushaltes sind und je fundierter das langfristige Nachnutzungskonzept ist, umso besser ist die Aussicht darauf, eine erfolgreiche Gartenschau zu veranstalten, die Stadt und Region viele Jahre lang positiv prägt. Verbunden mit einem professionellen Management sowie einem auf die Zielgruppenbedürfnisse ausgerichteten und in der Region gut vernetzten Gartenschau-Marketing sind dann ideale Voraussetzungen für eine nachhaltig positiv wirkende Gartenschau für die veranstaltende Kommune und/ oder Region gegeben. Die positiven Effekte sind in zahlreichen Studien belegt (vgl. zum Forschungsstand insbesondere MIL 2013 oder MUNLV 2008). Dadurch werden Gartenschauen auch künftig einen wesentlichen Beitrag zur Zu‐ kunftsfähigkeit der sich bewerbenden und austragenden Städte und Regionen leisten. 245 Landesgartenschauen Über mehr als 40 Jahre sind Landesgartenschauen nun schon in der Lage, Antworten auf zukunftsweisende Fragen und Herausforderungen zu geben. Sind sie dies auch in Zukunft, werden sie nichts von ihrer Aktualität und ihrem Gestaltungspotenzial verlieren und die damit verbundene Erfolgsgeschichte fortschreiben. Literaturhinweise Bad Essen (o. J.): „Ein Bad im Blütenmeer“. Die vierte Niedersächsische Landesgarten‐ schau: Bad Essen und Schloss Ippenburg im Osnabrücker Land. Online: www.badesse n.de/ staticsite/ staticsite2.php? menuid=329&; topmenu=35, letzter Zugriff: 28.03.2021. Bayerische Landesgartenschau (Hg.) (2020): 40 Jahre Landesgartenschauen in Bay‐ ern. 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Über zwei Millionen Besucherinnen und Besucher kamen in die Landeshauptstadt, um die erste BUGA Sachsen-Anhalts zu erleben. Die Idee, den geschichtlich bedingt besonders großen gartenhistorischen Schatz des Landes zu heben und gleichzeitig die lokale und regionale Wertschöpfung durch umfangreiche Investitionen, durch die Einbeziehung von touristischen Dienst‐ leistungsketten und Kulturschaffenden sowie durch ein zielgerichtetes Marketing zu steigern, nahm Gestalt an. Initiiert wurde das Projekt durch die Landesregierung, federführend vertreten durch die Ministerien für Wirtschaft und Kultur. Fachliche Unterstützung kam u. a. vonseiten des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie und der Landesmarketinggesellschaft. Zu Beginn wurde gemeinsam eine Auswahl historisch bedeutsamer Gärten und Parks getroffen, die alle Regionen Sachsen-Anhalts, die Geschichte der Gartenkunst sowie die typologische Vielfalt der Gartendenkmale widerspiegelt. Damit wurde die Grundlage für die Landesinitiative „Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt“ gelegt. Beginnend mit 40 Anlagen im Jahr 2000 gehören heute 50 Parks und Gärten zum Gartenträume-Verbund. Die Erstellung von denkmalpflegerischen Rahmenkonzeptionen und die Akquirie‐ rung von Fördermitteln zur denkmalgerechten Sanierung sowie zum Aufbau einer touristischen Infrastruktur in den Parkanlagen gehörten zu den Hauptaufgaben in den ersten Jahren nach Gründung der Initiative. In Teilen dauern sie bis heute an. Die Finanzierung der bisherigen Maßnahmen erfolgte durch Projektförderungen des Landes, durch Mittel aus bestehenden Landes-, Bundes- und EU-Förderrichtlinien, durch Gelder von verschiedenen Stiftungen, Spendern und Sponsoren sowie durch den Einsatz von Eigenmitteln der Parkeigentümer. Ganz individuell musste und muss für jeden Park nach Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten gesucht werden. Im Jahr 2003 wurde der Verein Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt e. V. gegründet. Er ist Repräsentant und Interessenvertreter der Parks und kümmert sich um die Umsetzung, Weiterentwicklung und nachhaltige Sicherung des Netzwerks. Öffentlichkeits-, Lobby- und Vermittlungsarbeit, Beratung und Vernetzung gehören zu seinen Hauptaufgaben. Zudem ist er in Bezug auf die touristische Profilierung und Vermarktung des Produkts Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt ein wichtiger Partner der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH, der regionalen Tourismusverbände des Landes, der lokalen Tourismusinformationen und sonstigen Akteurinnen und Akteuren en der Tourismusbranche. Die Vorteile, die eine touristische Vermarktung für Gärten und Parks hat, sind vielfältig: Gartentourismus erhöht die Bekanntheit und das Image einer Anlage und steigert die Identifikation der Einheimischen mit dem Park. Ein Bewusstsein für den Wert des Objekts entsteht. Gartentourismus kann zudem Fördermittelquellen, z. B. für Sanierungsmaßnahmen, für die Verbesserung der touristischen Infrastruktur oder für Marketingaktivitäten, erschließen. Neben den direkten Einnahmen im Park, z. B. durch Eintritte, Gastronomie und Souvenirshops, ergeben sich durch die Ausgaben von Ausflüglerinnen und Ausflüglern sowie Touristinnen und Touristen für Übernachtung, Verpflegung und Einkäufe regionalwirtschaftliche Effekte, die schlagkräftige Argu‐ mente für Entscheidungsträgerinnen und -träger sowie Fördermittelgeldgeberinnen und -geber sein können. Seit der Jahrtausendwende haben sich über 20 (touristische) Garteninitiativen in Deutschland gegründet (→ Abb. 1). Das denkmalpflegerisch-touristische Netzwerk Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt gehörte zu den ersten Garten‐ verbünden in diesem Sinne. 2 Die Entwicklung des touristischen Produkts Gartenträume Sachsen-Anhalt Steinecke (2018, S. 78) definiert sieben Themenbereiche, die für die Positionierung von Parks und Gärten auf dem Tourismusmarkt von besonderer Bedeutung sind: ● Markenbildung, ● Netzwerkbildung, ● Produktentwicklung, ● Kommunikationspolitik, ● Qualitätsmanagement, ● Besuchermanagement, ● Binnenmarketing. 250 Felicitas Remmert Abb. 1: Garteninitiativen in Deutschland inklusive Gründungsjahr 251 Gartenträume Sachsen-Anhalt Abb. 2: Gartenträume-Logo Sie eignen sich auch, um die Entwicklung eines gesamten Gartennetzwerks, hier die Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt, hin zu einem touristischen Produkt aufzuzeigen. 2.1 Markenbildung Die Festlegung, dass die Initiative „Gartenträume in Sachsen-Anhalt“ nicht nur garten‐ denkmalpflegerische Ziele haben, sondern gleichzeitig zu einer touristischen Marke des Landes Sachsen-Anhalt entwickelt werden sollte, führte schnell zur Entwicklung eines Slogans und eines Logos (→ Abb. 2). Beides erhielt große Zustimmung bei den beteiligten Akteurinnen und Akteuren. Das Gartenträume-Logo weckt Assoziationen wie Laby‐ rinth, Schnecke oder grüner Weg. Der Slogan und gleichzei‐ tig die offizielle Bezeichnung der Initiative drückt mit dem Wort ‚Gartenträume‘ einerseits das Sinnliche und Sehn‐ suchtsvolle des Themas aus und kommuniziert andererseits sehr klar, was der Inhalt der Marke ist: ‚Historische Parks in Sachsen-Anhalt‘. Als eine der ersten Garteninitiativen in Deutschland hatte das Netzwerk Gartenträume Anfang der 2000er-Jahre nur wenige Mitbewerber. Das änderte sich je‐ doch in den Folgejahren, was die klare Profilierung des Ver‐ bunds, also historische Parks, umso wertvoller machte. Zu den operativen Maßnahmen der Markenbildung gehörten die Entwicklung einer Corporate Identity, die Produktentwicklung sowie die Markenkommunikation. Auf diese Punkte gehen die weiteren Ausführungen näher ein. Eine touristische Marke setzt voraus, dass sie erlebt werden kann und eine „über‐ schaubare, abwechslungsreiche und qualitativ hochwertige Produktpalette“ (Stein‐ ecke 2018, S. 72) bietet. Für die Gartenträume in Sachsen-Anhalt besteht die Produkt‐ palette aus unterschiedlichen Arten historischer Parkanlagen - vom Barockgarten bis zur modernen Anlage, vom Geheimtipp bis zum Besuchermagneten, vom ländlichen Gartenkleinod bis zur grünen Oase in der Stadt. 2.2 Netzwerkbildung Die Schaffung von Netzwerken im Zusammenhang mit Parks und Gärten boomt seit der Jahrtausendwende. Die Chancen, die sich aus dem Zusammenschluss sowohl für die einzelnen Anlagen also auch für eine ganze Region ergeben, führten auch in Sachsen-Anhalt zur Netzwerkidee. Zu deren Vorteilen gehört in erster Linie eine höhere Strahlkraft im Verbund, d. h. die Steigerung der Bekanntheit der beteiligten Parks und Gärten und damit die Stärkung des öffentlichen und touristischen Interesses für die Anlagen. Innerhalb des Netzwerks sind die gegenseitige Wissensvermittlung sowie Motivation und Inspiration durch Partner für eigene Herangehensweisen und Angebote große Vorteile für die Mitglieder. Dadurch verbessert sich die Qualität der Angebote, was wiederum der Tourismuswirtschaft zugutekommt. Die Entwicklung 252 Felicitas Remmert gemeinsamer Strategien im Bereich Sanierung und Erhaltung sowie die Hilfe im Be‐ reich Fördermittelakquise durch das Netzwerkmanagement stellen - insbesondere im Netzwerk Gartenträume - weitere Pluspunkte dar. Das Management stellt zudem durch eine überregionale und internationale Vernetzung sicher, dass aktuelle Entwicklungen, Trends und Kenntnisse im Bereich Gartentourismus und Gartendenkmalpflege für die Mitglieder zur Verfügung stehen. Für Gäste ergeben sich ebenfalls klare Vorteile durch Gartennetzwerke, denn sie erhalten nicht nur eine große Auswahl und viele Kombinationsmöglichkeiten attrak‐ tiver Angebote, sondern eine inhaltliche und qualitative Orientierung. Die Anlagen der Gartenträume Sachsen-Anhalt z. B. versprechen eine besondere historische Bedeutung und Authentizität sowie eine hohe Aufenthalts- und Angebotsqualität. Als Voraussetzung für ein erfolgreiches Gartennetzwerk sehen Brandt, Bothmer und Mangels (2007, S. 7) die Mischung aus Leuchtturmobjekten und unbekannteren Anlagen. Während die Top-Anlagen alleiniger Reiseanlass sein können und Menschen anziehen, die sich noch wenig in einer Region auskennen, sind die noch weniger bekannten Anlagen als ‚Geheimtipps‘ für Spezialinteressierte oder in Verbindung mit Leuchttürmen oder anderen touristischen Zielen attraktiv. Zu den Leuchtturmobjekten bei den Gartenträumen zählten von Beginn an das UNESCO-Welterbe Gartenreich Dessau-Wörlitz, das Europa-Rosarium Sangerhausen als größte Rosensammlung der Welt sowie das bereits erwähnte Bundesgartenschau‐ gelände, der heutige Elbauenpark in Magdeburg. Anlagen wie der Barockgarten in Hundisburg, die Schlossgärten in Blankenburg/ Harz oder die Klostergärten in Drübeck entwickelten sich zu weiteren Höhepunkten. Im Rahmen zweier Evaluierungen des Netzwerks Gartenträume 2010 und 2017 definierte der Evaluierungsbeirat Top-Anla‐ gen, die im Gartenträume-Faltblatt als besonders empfehlenswert markiert sind und insbesondere bei der überregionalen Kommunikation stärker in den Fokus gerückt werden. Laut Roth (2007, S. 27) brauchen Netze „Verbindungen und Beziehungen“ und „müssen mit Leben erfüllt werden, damit sie […] funktionieren“. Er betont, dass ein Gartennetz erst existiert, wenn es von gleichen Zielen, d. h. Ideen, Ideologien und Visionen der beteiligten Akteurinnen und Akteuren, getragen wird und wenn diese Visionen umgesetzt werden. Durch eine intensive Kommunikation - d. h. Regionalworkshops, Werkstattgespräche und Einzelgespräche, dem Aufstellen einer ‚Gartenträume-Philosophie‘, eines Handlungsplans und einer Qualitätscharta - wur‐ den die Mitglieder des Gartenträume-Verbunds zusammengeführt und entwickelten sich zu einer Gemeinschaft mit gleichen Zielen und Werten. Das Vorhaben Gartenträume wurde in den ersten Jahren durch ein Planungsbüro im Auftrag des Wirtschaftsministeriums entwickelt und koordiniert. Ab 2003 übernahm der Verein Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt e. V. die Aufgabe des ‚Netzwerkmotors‘ und -managers. Hinzu kommen die Investitions- und Marketingge‐ sellschaft Sachsen-Anhalt mbH, das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, verschiedene Landesministerien, maßgeblich das Wirtschafts- und das Kulturministe‐ 253 Gartenträume Sachsen-Anhalt rium, sowie das Landesverwaltungsamt. Die genannten Institutionen kümmern sich in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen um die Gartenträume und begleiten und steuern die Maßnahmen im ‚Gartenträume-Jour fixe‘. Der Gartenträume-Verein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge sowie mit Förder‐ mitteln und Kooperationen. Ohne mindestens eine hauptamtliche Arbeitskraft, die sich ausschließlich um das Netzwerk kümmert, ist ein erfolgreiches Bestehen eines aktiven Gartennetzwerks nur schwer möglich. Das zeigen auch die Erfahrungen anderer Garteninitiativen in Deutschland. 2.3 Produktentwicklung Bei den Gartenträumen Sachsen-Anhalts beschreibt bereits der Titel das Profil und den Inhalt des Produkts: traumhaft schöne historische, d. h. authentische Parks und Gärten im Bundesland Sachsen-Anhalt. Bei der ersten Beschäftigung mit diesem Produkt werden Interessierte über die Anzahl der beteiligten Parks und darüber, dass mit diesen Anlagen Gartenkunst aus rund 400 Jahren zu entdecken ist, informiert. Um das Produkt in diesem Sinne zu strukturieren, wurden die Anlagen 2010 in drei Kategorien eingeteilt: (1.) Gärten mit Spuren barocker Pracht, (2.) Parks mit Landschaften von Welt und (3.) Gärten mit botanischer Fülle. Im Zuge der Vorbereitungen zum 20. Geburtstag des Netzwerks in 2020 kam das Motto „Genießen, Erleben, Selber machen“ hinzu, das die vielfältigen Angebote im Netzwerk zielgruppenbezogen zusammenfasst (→ Abb. 3). Abb. 3: Keyvisuals 2020 „Genießen - Erleben - Selber machen“ Das kulturelle und touristische Angebot rund um die Parks und in den Anlagen hat sich seit der Gründung des Netzwerks beeindruckend entwickelt: Es finden jährlich mehrere hundert Veranstaltungen in den Gärten und ihren Gebäuden statt. Besonders beliebt sind atmosphärisch inszenierte Parkfeste in den Abendstunden, Musikereig‐ nisse, Pflanzenmärkte und Gartenseminare. Parkführungen, oft auch Führungen zu 254 Felicitas Remmert Spezialthemen oder mit historischen Persönlichkeiten, gehören zum Standard. In Schlössern, Herrenhäusern und sonstigen Parkarchitekturen finden sich Museen, Ausstellungen, Gastronomiebetriebe und Übernachtungsangebote. Ein großer Vorteil des Gesamtprodukts Gartenträume besteht in der großen Pro‐ duktpalette, d. h. der Erlebnis- und Angebotsbreite. Nicht in jeder Anlage gibt es Lichterfeste, im gesamten Netzwerk aber eine beachtliche Anzahl. Workshops und Seminare werden nur in einigen der Gärten angeboten, im Veranstaltungskalender des Gartenträume-Vereins liest sich das Angebot in der Gemeinschaft aber üppig. Heiraten, Museen oder historische Gebäude besichtigen, Sporttreiben, Spielplätze besuchen, in Parks übernachten oder tagen? Das Gartenträume-Netzwerk hat für unterschiedliche Wünsche das passende Angebot, ohne dass jede einzelne der Anlagen allen Ansprüchen genügen muss. Die Angebote ergänzen sich und bieten den Gästen eine attraktive Auswahl. Die Vielzahl an unterschiedlichen Anlagen ermöglicht es, zielgruppengerechte oder regionale Angebote miteinander zu verknüpfen. Gemeinsam mit Vertriebspartnern werden kontinuierlich Pauschalangebote und Routentipps entwickelt, die verschiedene Gartenträume-Orte miteinander verbinden bzw. Gartenträume-Parks mit anderen touristischen Zielen, z. B. mit UNESCO-Welterbestätten oder Orten an der Straße der Romanik, kombinieren. Beispiele für bereits entwickelte Routen/ Pauschalen: ● Baumriesen und Baumkuchen in der Altmark, ● Gartenkunst in der Börde - Burg, Magdeburg, Hundisburg, ● Gartenträume-Radreise im sanften Harzvorland, ● Wernigerode und die Harzer Klostergärten, ● Genießen wie die Bauhaus-Meister - Dessau und Wörlitz, ● Jungbrunnen und Gartentraum - Kurpark Bad Schmiedeberg und Irrgarten Alt‐ jeßnitz, ● Gartenträume an Saale und Unstrut - eine Reise in eine reiche Kulturlandschaft. Das Potenzial für neue Produkte ist auch nach 20-jährigem Bestehen der Gartenträume und einem weitgehend gleichbleibenden Basisprodukt (die 50 Gartendenkmale) groß. Das stellen neue Veranstaltungsformate, Ausstellungen und Themenführungen, aktu‐ elle Trends sowie neue Partner - z. B. attraktive Privatgärten oder Gärtnereien mit Spezialangeboten - sicher. 2.4 Kommunikationspolitik Kommunikative Aufgaben werden innerhalb des Netzwerks Gartenträume von ver‐ schiedenen Akteurinnen und Akteuren umgesetzt. Während die überregionale und internationale Kommunikation fast ausschließlich von der Investitions- und Marke‐ tinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH sowie in Teilen von den regionalen Tourismus‐ verbänden übernommen wird, kümmert sich der Gartenträume e. V. verstärkt um Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, die Gartenträume-Webseite, Social-Media-Aktivitä‐ 255 Gartenträume Sachsen-Anhalt ten und Sonderprojekte. Auch die Parkeigentümerinnen und -eigentümer selbst, lokale Tourismusinformationen oder Partner wie die beteiligten Ministerien und das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt verbreiten dauerhaft oder anlassbezogen Inhalte zu den Gartenträumen. Kommunikationspolitik im Tourismusmarketing umfasst alle Maßnahmen, die dazu dienen, potenzielle Gäste über die eigenen Produkte und Angebote zu informieren. Dafür kommen nach Freyer (2009, S. 348) meist Maßnahmen in vier Bereichen zum Einsatz: (1.) Corporate Identity (Festlegung der Botschaft der Unternehmung durch ein einheitliches Erscheinungsbild, eine ‚Philosophie‘), (2.) Verkaufsförderung (Aktivierung von Vertriebswegen), (3.) Öffentlichkeitsarbeit und (4.) Werbung. Anhand dieser werden einige der Kommunikationsaktivitäten im Gartenträume-Netzwerk im Folgenden aufgelistet. Infobox | Beispielhafte Maßnahmen im Bereich Corporate Identity • Entwicklung des Gartenträume-Logos und des Slogans. Auf die konsequente Nutzung des Logos musste man die Mitglieder v. a. in den ersten Jahren immer wieder aufmerksam machen, doch mit dem Erstarken des Netzwerks wuchs auch der Stolz, Teil dessen zu sein. Die Logoverwendung verselbstän‐ digte sich, • Ausformulierung der Gartenträume-Philosophie als Grundlage für alle wei‐ teren kommunikativen Aufgaben, • rasche Ausstattung aller Gartenträume-Parks mit dem gleichen Infotafelsys‐ tem. Infobox | Beispielhafte Maßnahmen im Bereich Verkaufsförderung • Inforeisen und -workshops für Reiseveranstaltende, • Recherche und Aktivierung von Vertriebspartnern (Incoming-Agenturen, Hotels, Tourismusinformationen), • Präsentation von Angeboten im Sales Guide Sachsen-Anhalt, • Publikation der Broschüre „Gartenträume-Bus- und Gruppenreisen“, jähr‐ liche Ergänzung und Aktualisierung von Pauschalangeboten und Touren‐ tipps, • Vertrieb auf Messen (z. B. RDA Group Travel Expo, Internationale Touris‐ musbörse Berlin), • Beratung von Reiseveranstaltenden, • Redaktion und Herausgeber der Broschüre „Tagen und mehr im Grünen“. 256 Felicitas Remmert Infobox | Beispielhafte Maßnahmen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit • Publikationen: Gartenträume-Faltblatt, Gartenträume-Zeitung/ -Magazin, Gartenträume-Veranstaltungskalender, Sonderpublikationen z. B. „Höhe‐ punkte 2020“, • Nennung der Gartenträume im Text und mit Logo im Reiselandhinweis Sachsen-Anhalt, • Integration von Gartenträume-Inhalten und -Angeboten in touristische Pu‐ blikationen (z. B. Reiseträume Sachsen-Anhalt, Wander- und Aktiverlebnisse in Sachsen-Anhalt, Kraftschöpfen aus der Natur), • Betrieb der Gartenträume-Webseite: www.gartentraeume-sachsen-anhalt.de, • Präsentation der Gartenträume auf www.tourismus-sachsen-anhalt.de und auf den Webseiten aller Partner inklusive gegenseitige Verlinkungen, • Präsentation der Gartenträume auf Facebook und Instagram, • Infostände bei Veranstaltungen, • Pressereisen, • Pressemitteilungen, Pressekonferenzen, Fototermine, • Storytelling, • Medienkooperationen, • Kooperation mit Verlagen (Reiseführer, Bildband), • Sonderprojekte wie Fotoshootings, Imagevideos, 360-Grad-Panoramen, • Events mit ‚Gartenträume‘ im Titel: z. B. MDR-Musiksommer Gartenträume, Gartenträume-Picknicktag, Gartenträume-Tournee. Infobox | Beispielhafte Maßnahmen im Bereich Werbung • Anzeigenschaltungen und Radiospots in zielgruppengerechten Medien, • Medienkooperationen mit zielgruppengerechten Medien, • Außenwerbung, • Station- und Mallvideos, • Cross-Marketing mit diversen thematisch verwandten Partnern (Gartenini‐ tiativen in Deutschland), • Cross-Marketing mit branchenfremden Unternehmen (EDEKA Sachsen-An‐ halt) Diverse Maßnahmen der Parkbetreiberinnen und -betreiber sowie der regionalen Tou‐ rismuspartnerinnen und -partner kommen hinzu. Im Jahr 2020 hat sich unter dem Dach der Gartenträume zudem eine Kooperation gegründet, die sechs Gartenschau-Stand‐ orte des Landes umfasst und schwerpunktmäßig ein gemeinsames Marketing zum Ziel 257 Gartenträume Sachsen-Anhalt hat. Realisiert wurden bereits eine Broschüre, Webpräsentationen und ein Imagefilm; Pressereisen sowie die Ansprache von Reiseveranstaltern u. a. m. sollen folgen. Im Jahr der Einführung des Themas „Gartenträume Sachsen-Anhalt“ 2006 auf dem internationalen Tourismusmarkt und 2020, hier anlässlich des 20. Geburtstags der Gartenträume, wurden die kommunikativen Maßnahmen deutlich erhöht. 2.5 Qualitätsmanagement Qualität zählt zu den wichtigsten Faktoren im wirtschaftlichen Wettbewerb. Sie ist entscheidend für die Zufriedenheit der Besucherinnen und Besucher. Zufriedenheit, besser noch Begeisterung, sind die Grundlage für treue Stammgäste und eine gute Mund-zu-Mund-Propaganda (vgl. Steinecke 2018, S. 93). Ein schlechter Pflegezustand oder andere große Mängel eines einzelnen Parks können in einem Gartennetzwerk, das als Marke und Qualitätssiegel etabliert ist und beworben wird („Die 50 schönsten und historisch bedeutendsten Parks Sachsen-Anhalts“), negative Wirkung auf alle anderen Netzwerkmitglieder haben. Aus diesem Grund kam schon frühzeitig ein Mix an Instrumenten zur Qualitätsverbesserung zum Einsatz, der immer wieder angepasst und erweitert wird. 2.5.1 Qualitätscharta Nach der Auswahl von 40 Gartenträume-Parks im Jahr 2000, die sich v. a. auf das kulturhistorische Potenzial der Parkanlagen bezog und die touristischen Anforderun‐ gen noch etwas zurückstanden, wurde 2003 eine Qualitätscharta entwickelt, die sich in erster Linie den Ansprüchen von Gästen widmet. Inhalte der Qualitätscharta bezie‐ hen sich auf Gartenpflege, Gartendenkmalpflege, Veranstaltungen, Besucherempfang, Führungen, Öffnungszeiten, Besucherinformationen und Internationalität. Die Charta wurde von allen Parkeigentümerinnen und -eigentümern unterschrie‐ ben, wirkt allerdings nur als Absichtserklärung, da eine Kontrolle, ob die formulierten Ziele verfolgt und von den einzelnen Parks erreicht wurden und werden, aufgrund fehlender Ressourcen nicht systematisch stattfinden kann. Trotzdem hat sich deutlich gezeigt, dass viele Park-Akteurinnen und -Akteure die Qualitätscharta als Leitlinie für ihre Aktivitäten und als Grundlage für Entscheidungsträgerinnen und -träger einsetzen. 2.5.2 Evaluationen Von 2008 bis 2010 und von 2015 bis 2017 wurde das Netzwerk Gartenträume evaluiert. Die Evaluierungen hatten im Wesentlichen zum Ziel, die Gesamtqualität des Netzwerks zu verbessern, indem Anlagen herausgenommen wurden, die den Mindestanforderun‐ gen nicht mehr entsprachen, und hochwertige Parks aufgenommen wurden. Acht der 40 Parks, mit denen das Netzwerk startete, sind heute nicht mehr Bestandteil des Verbundes. Insgesamt kamen 17 neue Gartenträume-Orte hinzu. Eine Parkanlage wurde ‚geteilt‘ (Herrenkrugpark und Elbauenpark Magdeburg), sodass seit 2017 50 Gartenträume-Orte kommuniziert werden. 258 Felicitas Remmert Die Evaluationen machten allen Parkeigentümerinnen und -eigentümern deutlich, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, Teil des Netzwerks zu sein und ein kontinu‐ ierliches Halten oder Verbessern des Pflegezustandes und der touristischen Angebote nötig ist, um Gartenträume-Ort bleiben zu können. Zu Beginn der letzten Evaluation (2015-2017) erhielten die Parkbetreiberinnen und -betreiber Fragebögen zur Selbsteinschätzung. Diese dienten in erster Linie dazu, das Bewusstsein für Qualitätsfragen zu steigern. Auf Basis der Ergebnisse und Erfahrungen des Evaluierungsbeirates - bestehend aus den Mitgliedern des interministeriellen Gartenträume-Jour fixe - wurden die bestehenden Anlagen bewertet. Mit den Verant‐ wortlichen der Parks, die die zuvor festgelegten Mindestanforderungen nicht mehr oder nur in wenigen Teilen erfüllen konnten, wurden Gespräche geführt und daraufhin Entscheidungen getroffen. Potenzielle neue Parks, die sich beworben hatten oder empfohlen wurden, wurden nach folgenden Kriterien bewertet: ● Hohe historische Bedeutung, ● Einzigartigkeit im Projekt „Gartenträume“, ● hohe Erscheinungsqualität, ● Pflege langfristig abgesichert, ● denkmalpflegerische Rahmenkonzeption liegt vor oder kann kurzfristig beauf‐ tragt werden, ● touristisch erschlossen, ● touristische Angebote vorhanden oder geplant, ● Bereitschaft zur Mitarbeit/ Einbringung im Netzwerk Gartenträume. Zur Bewertung gab es vier Abstufungen: Kriterium nicht erfüllt, Kriterium gering erfüllt, Kriterium erfüllt, Kriterium überdurchschnittlich erfüllt. Aus den Wertungen des Evaluierungsbeirates ergab sich überwiegend ein klares Bild. Am Ende schlug der Beirat eine Liste mit Herausnahmen und Neuaufnahmen von Parks vor, die durch das Landeskabinett beschlossen wurde. 2.5.3 Green Flag Award Der Green Flag Award wurde in Großbritannien ins Leben gerufen und hat sich zu einem europaweiten Gartenqualitätssiegel entwickelt (vgl. Keep Britain Tidy o. J.). Seit 2012 wird die Grüne Flagge im Turnus von zwei Jahren auch in Deutschland vergeben. Nach festgelegten Kriterien werden die teilnehmenden Parks auf Basis einer schriftlichen Bewerbung und eines Jurybesuchs vor Ort bewertet. Erreicht ein Park eine gewisse Punktzahl, erhält er den Green Flag Award. Die Kriterien beziehen sich u. a. auf Pflegezustand und Sauberkeit, Begehbarkeit und Barrierefreiheit, nutzerorientierte Angebote, Gastronomie, Spiel- und Sportanlagen, Nachhaltigkeit sowie Parkmanage‐ ment mit gutem Marketing. Der Gartenträume e. V. hat eine Beteiligung am Green Flag Award im Garten‐ träume-Verbund - insbesondere bei Parks, die Aussicht auf Erfolg hatten - intensiv 259 Gartenträume Sachsen-Anhalt beworben. Sieben Parks aus Sachsen-Anhalt haben bisher an der Green-Flag-Zertifi‐ zierung teilgenommen, zum Teil mehrfach, sodass die Auszeichnung von 2012 bis 2018 insgesamt 16-mal an Parks des Landes übergeben werden konnte (→ Abb. 4). Das entspricht gut 40 % aller in Deutschland erfolgten Green-Flag-Zertifizierungen. Abb. 4: Verleihung des Green Flag Awards an Parks in Sachsen-Anhalt 2016 im Elbauenpark Magdeburg Alle Parkeigentümerinnen und -eigentümer, die sich beteiligten, haben die Teilnahme an der Zertifizierung äußerst positiv bewertet. Zum einen, da sie sich im Rahmen der Bewerbung Zeit für die Reflektion über den eigenen Betrieb genommen haben und allein dadurch Schwachstellen sichtbar wurden und positive Prozesse angestoßen werden konnten. Die ausführlichen Protokolle der Jury mit Verbesserungsvorschlägen waren hierfür eine zusätzliche wertvolle Hilfe. Zum anderen stellten sich die Ergebnisse als wichtige Argumentationshilfe gegenüber Verwaltung und Politik dar. Auch ein Nichterreichen der Auszeichnung wurde genutzt: Im Elbauenpark Magdeburg wurde das Verfehlen der notwendigen Punktzahl bei der ersten Teilnahme als Ansporn zur Qualitätsverbesserung genommen; mit dem Ergebnis, dass die Zertifizierungsurkunde bei der nächsten Bewertungsrunde zwei Jahre später überreicht werden konnte. Aktuell pausiert die Vergabe des Green Flag Awards in Deutschland, da der britische Lizenzgeber Änderungen eingeführt hat, die sich nicht auf die Situation in Deutschland übertragen lassen. Es bestehen Planungen, ein ähnliches Qualitätsinstrument für Deutschland zu entwickeln. 260 Felicitas Remmert 1 Vertiefende Informationen unter: www.tourismusverband-sachsen-anhalt.de/ (letzter Zugriff: 15.08.2021). 2.5.4 Beteiligung an ServiceQualität Deutschland ServiceQualität Deutschland ist ein Schulungs- und Zertifizierungsprogramm für kleine und mittelständische Dienstleister im Tourismus, welches auch in Sachsen-An‐ halt eingesetzt wird. Ziel ist die Verbesserung der Servicequalität bei den teilnehmen‐ den Akteurinnen und Akteuren mit einem praxisnahen System (vgl. ServiceQualität Deutschland o. J.). In Kooperation mit den Koordinierungsstellen im Land (aktuell der Tourismusverband Sachsen-Anhalt e. V.) wurde und wird bei Gartenträume-Work‐ shops immer wieder für das Programm geworben. Etwa zehn Betriebe im Umkreis oder mit direktem Bezug zu Gartenträume-Anlagen wurden bisher zertifiziert. 1 2.5.5 Auszeichnung Natur im Garten Ökologisches Gärtnern hat sich zu einem Trend entwickelt, der mit der Natur-im-Gar‐ ten‘-Plakette zunehmend sichtbar und durch Natur-im-Garten-Schaugärten auch tou‐ ristisch genutzt wird. Eine Parkpflege, die ohne leichtlösliche Mineraldünger, ohne chemisch-synthetische Pestizide und ohne Torf auskommt, kann zum Wohlbefinden einer naturaffinen Zielgruppe beitragen und ist damit - mindestens für diese Ziel‐ gruppe - ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Die Aktion „Natur im Garten“ wurde 1999 in Österreich (Bundesland Niederösterreich) initiiert (vgl. den Beitrag von Carl Raml in diesem Band). Die gARTenakademie Sachsen-Anhalt e. V. ist seit 2013 Natur-im-Gar‐ ten-Lizenznehmerin und zeichnet Gärten und Parks mit der Natur-im-Garten-Plakette aus (vgl. Natur im Garten o. J.). Mehreren Gartenträume-Parks wurde das Schild bereits übergeben. Zu den Natur-im-Garten-Schaugärten gehören z. B. die Gartenträume-An‐ lagen in Drübeck und Michaelstein. Eine Ausweitung der Zertifizierungen innerhalb der Gartenträume ist geplant. 2.5.6 Zertifizierung Reisen für Alle Um Reisen nach und in Sachsen-Anhalt für Menschen mit Beeinträchtigungen so angenehm und einfach wie möglich zu machen, setzt sich Sachsen-Anhalt seit langem für barrierefreien Tourismus ein. Dazu gehört die Beteiligung an der deutschlandweiten Initiative „Reisen für Alle“. Das Programm beinhaltet die Prüfung von Betrieben innerhalb der touristischen Servicekette durch qualifizierte Prüferinnen und Prüfer und nach bundesweit einheitlichen Qualitätskriterien. Ausführliche Berichte, die mit der Zertifizierung Barrierefreiheit geprüft einhergehen, ermöglichen es den Gästen, sich über barrierefreie Angebote in ihrer Zielregion zu informieren (vgl. IMG o. J.). Innerhalb des Netzwerks Gartenträume wird für eine Beteiligung an dem Programm geworben. Bisher wurden fünf Gartenträume-Anlagen ganz oder in Teilen im Rahmen von Reisen für Alle (vgl. den Beitrag von Carl Raml in diesem Band) zertifiziert. 261 Gartenträume Sachsen-Anhalt 2.5.7 Lobbyarbeit und weitere Instrumente Damit die Pflegequalität in historischen Parks und Gärten gehalten bzw. verbessert wird und (Eigen-)Mittel für gartendenkmalpflegerische Sanierungsarbeiten und für touristische Infrastruktur eingesetzt werden, muss bei Parkeigentümerinnen und -eigentümern sowie Entscheidungsträgerinnen und -trägern ein hohes Bewusstsein für die Bedeutung der Anlagen vorhanden sein. Hier bedarf es immer wieder einer Sensibilisierung der betreffenden Personen und Gruppen durch Expertinnen und Experten, z. B. aus der Denkmalpflege und dem Tourismus. In Sachsen-Anhalt hat allein die Gründung der Landesinitiative „Gartenträume“ mit ihren vielfältigen Aktivitäten zu einer merklichen Steigerung des Bewusstseins für den Wert der Parkanlagen geführt. Doch es zeigt sich deutlich, dass eine gezielte Ansprache von Akteurinnen und Akteuren aus Politik und Verwaltung und von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren kontinuierlich nötig ist. Mit Informationsveranstaltungen, Vorträgen und persönlichen Gesprächen wird dies umgesetzt. Weitere Instrumente im Gartenträume-Qualitätsmanagement: ● Parkseminar: vom Gartenträume-Verein organisierter jährlicher Arbeitseinsatz mit rund 100 Freiwilligen. Hieraus ergeben sich vielfältige Impulse für die Akteure, lokal weiter aktiv zu sein, ● Gartenträume-Exkursionen und Einladung von Experten mit Best-Practice-Bei‐ spielen zu Gartenträume-Workshops. 3 Besuchermanagement Besuchermanagement dient dazu, Besucherinnen und Besuchern ein besonderes Erlebnis der Gartenanlage zu ermöglichen und Nutzungsschäden und Vandalismus zu vermeiden bzw. zu minimieren. Dafür muss Gästen Orientierung gegeben werden und sie müssen informiert sowie über den Wert der jeweiligen Anlage aufgeklärt, d. h., sensibilisiert werden. Zudem können verschiedene Maßnahmen der Besucher‐ lenkung eingesetzt werden, z. B. beschilderte Rundgänge, physische Barrieren oder Kontingentierung von Eintrittstickets. Diese Maßnahmen müssen in erster Linie von den Parkbetreibenden konzipiert und umgesetzt werden (vgl. Steinecke 2018, S. 97 ff.). Der Gartenträume-Verein unterstützt die Maßnahmen des Besuchermanagements der beteiligen Mitglieder insbesondere durch Öffentlichkeitsarbeit - Pressearbeit, Infostände, Vorträge - und Veranstaltungen. Das jährliche Gartenträume-Parksemi‐ nar beispielsweise aktiviert Anwohnerinnen und Anwohner, die durch den Arbeits‐ einsatz eine besondere Beziehung zu dem Park aufbauen und Hintergründe zur Gartendenkmalpflege verinnerlichen. Von 2002 bis 2007 wurden zudem verschiedene Projekte mit Kindern und Jugendlichen umgesetzt. Ziel war es, sie für die Anlagen zu interessieren und zu begeistern, denn, wie es so oft heißt: Nur was man kennt, das schützt man auch. 262 Felicitas Remmert 4 Binnenmarketing In der Definition von Steinecke (2018, S. 103) zielt das Binnenmarketing im Kontext von Gartentourismus darauf ab, „unterschiedliche Interessen […] miteinander in Einklang zu bringen und Konflikte zu vermeiden“. Als Anspruchsgruppen nennt er die Parkbetreiberinnen und -betreiber, die Gartenbauwirtschaft/ Grüne Branche, die Tourismuswirtschaft, Städte, Gemeinden und Destinationen, die einheimische Bevöl‐ kerung, Tagesausflüglerinnen und -ausflügler, Touristinnen und Touristen, Denkmal‐ pflege sowie Naturschutz (vgl. Steinecke 2018, S. 102). Diese Aufzählung deckt sich mit den Anspruchsgruppen innerhalb der Gartenträume Sachsen-Anhalts. Auf Netzwerkebene wurde von Beginn an darauf Wert gelegt, eng und abgestimmt miteinander zu arbeiten: „Es darf vor allem kein Rückfall mehr in die alten Gegensatzpaare von Denkmalpflege, Naturschutz und Tourismus geben. Denkmalpflege und Naturschutz, Wirtschaft und Touris‐ mus, Städtebau und Arbeitspolitik, Landwirtschaft und Dorfentwicklung verfolgen mit den ‚Gartenträumen‘ eine eher seltene harmonische Strategie“ (Antz 2007, S. 74). Die Gartenträume-Philosophie ergänzt: „[D]ie Gartenträume sind offen, zweck- und zielorientiert, lernfähig und transparent“ (Gartenträume o. J.). Im Gartenträume-Netzwerk liegt der Fokus auf einer Verständigung zwischen den handelnden Akteurinnen und Akteuren aus Denkmalpflege, Gartenbau und Tourismus. Gartenträume-Workshops haben immer sowohl touristische als auch gar‐ tendenkmalpflegerische Inhalte. Dadurch besuchen Akteurinnen und Akteure beider Gruppen die Veranstaltungen und erhalten automatisch Einblicke in die Sichtweise und Tätigkeiten des anderen Berufsfelds. Trotzdem sind Konflikte nicht auszuschließen. Hierzu gehören Schäden durch nicht denkmalgerechte Nutzungen wie Großveran‐ staltungen oder Dreharbeiten. Das Gartenträume-Netzwerk wirkt darauf hin, sich frühzeitig miteinander abzustimmen und gemeinsam nach Lösungen im Sinne des Gartendenkmals und im Sinne der Nutzerinnen und Nutzer zu suchen. Insbesondere in den ersten Jahren der Initiative, in denen massive Sanierungs‐ maßnahmen in vielen Parks stattfanden, waren Konflikte mit Anwohnerinnen und Anwohnern, z. B. aufgrund von Baumfällungen, zu erwarten. Die proaktive Reihe „Schaustelle Gartenträume“ (→ Abb. 5) sowie öffentliche Vorträge und Parkseminare waren und sind erfolgreiche Instrumente, um die Bevölkerung einzubeziehen. 263 Gartenträume Sachsen-Anhalt Abb. 5: Banner „Schaustelle Gartenträume“ im Kloster Drübeck im Jahr 2005 Im Vorfeld des 20. Jubiläums der Garten‐ träume wurde damit begonnen, die Kontakte zur Grünen Branche (d. h. Garten- und Land‐ schaftsbauende, Floristinnen und Floristen, Gärtnereien, Deutsche Gesellschaft für Gar‐ tenkunst- und Landschaftskultur, Bund deut‐ scher Landschaftsarchitekten und gARTen‐ akademie Sachsen-Anhalt) zu intensivieren. Ziel ist es, durch eine engere Vernetzung Syn‐ ergien herzustellen, ein neues Bewusstsein für das ‚Gartenland‘ Sachsen-Anhalt zu schaf‐ fen und zielgruppengerechte touristische Pro‐ dukte zu entwickeln. 5 Fazit: Ein Landesnetzwerk historischer Gärten als touristisches Produkt Die Gartenträume haben sich in 20 Jahren zu einer profilgebenden Landesmarke und zu einem etablierten und lebendigen Netzwerk entwickelt. Die Parkeigentümerinnen und -eigentümer sind stolz auf ihre Gartenträume-Mitgliedschaft und präsentieren diese nach außen. Die Akteurinnen und Akteure beteiligen sich engagiert an Projekten, Aktionen und Veranstaltungen. Sie lernen voneinander, teilen Erfahrungen, motivieren und inspirieren sich gegenseitig. Durch eine sehr konzentrierte und effektive Zusammenarbeit der beteiligten Landes‐ ministerien gemeinsam mit der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-An‐ halt, dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, dem Gartenträume e. V. und weiteren Partnerinnen und Partnern konnten die gesetzten Ziele erreicht werden. Die Anlagen präsentieren sich nach umfangreichen Investitionen authentisch und gepflegt, die touristische Infrastruktur ist oft frisch und modern. Hunderte Veranstal‐ tungen schaffen nachhaltige Erlebnisse. Digitale Angebote ergänzen die analogen Erfahrungen. Kontinuierlich wird weiter an der Qualität der Produkt-Einzelteile und am Gesamtprodukt Gartenträume gearbeitet. Gemeinsam begegnet man Herausforde‐ rungen wie den Auswirkungen des Klimawandels auf die Gärten. Die Gartenträume sind ein wesentliches Besuchsmotiv für Reisende sowie Aus‐ flüglerinnen und Ausflügler geworden. Umfragen bestätigen dies: Bei der letzten Permanenten Gästeumfrage (PEG) in Sachsen-Anhalt im Jahr 2016 gaben bei der Frage nach ihren Urlaubsinteressen 71 % der Befragten an, dass der Besuch von Parks und Gärten interessant (53 %) oder sehr interessant (18 %) sei. Nur die allgemeinen Themen ‚Städte‘, ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ erreichten bessere Umfragewerte. Noch erfreulicher 264 Felicitas Remmert waren die Ergebnisse bei der Frage nach den tatsächlich erfolgten oder geplanten Aktivitäten während des Urlaubes. Hier gaben 42 % der Befragten an, Parks und Gärten zu besuchen. Das waren 15 % mehr als bei der letzten PEG-Befragung 2011/ 12. Laut der PEG gehört der Besuch von Parks und Gärten damit zu den drei beliebtesten Aktivitäten der Gäste in Sachsen-Anhalt (auf Platz 1 der Gastronomiebesuch, auf Platz 2 Wandern; vgl. inspektour 2016, Folien 45, 68). In Presseartikeln zu einzelnen Parks gibt es nahezu immer den Zusatz, dass die jeweilige Anlage zum Gartenträume-Netzwerk gehört. Auch aktuelle MDR-Fernseh‐ produktionen wie ‚Unterwegs in Sachsen-Anhalt - 20 Jahre Gartenträume‘ oder Wun‐ derbares Schlagerland - Gartenträume in Sachsen-Anhalt sowie Radioaktionen, z. B. die Verlosung von Gartenträume-Picknickkörben und Gartenträume-Wochenenden, spiegeln das mediale Interesse am Verbund Gartenträume wider. Und: Die Gartenträume sind ein verkaufsfähiges Produkt. „5 Tage Gartenträume - Historische Parks und Gärten in Sachsen-Anhalt“, ‚“5 Tage Gartenträume im Lutherland“, „6 Tage Gartenträume in Sachsen-Anhalt“, ‚7 Tage Gartenträume im Harzvorland“ oder „Sachsen-Anhalt: Romanik, Gartenträume und Musik“ sind Titel von Reisen, die deutschlandweit von Reiseveranstaltern angeboten werden. Es gilt, den erreichten Status der Gartenträume als aktives Netzwerk, Qualitätsmarke und touristisches Produkt unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen und Trends zu erhalten und auszubauen. Die Rahmenbedingungen sind günstig: Nachhaltigkeit, Regionalität, Authentizität und Naturnähe bestimmen die derzeitigen Diskussionen rund um die Zukunft des Tourismus. All dies sind Kernthemen der Gartenträume und des Gartentourismus. Literaturhinweise Antz, C. (2004): Gartenträume. Ein Landesprojekt für Kultur und Natur, Tourismus und Image in Sachsen-Anhalt, in: Brickwedde, F.; Weinmann, A. (Hg.): Nachhaltiger Schutz des kulturellen Erbes - Umwelt und Kulturgüter. 9. Internationale Sommerakademie St. Marienthal. Erich Schmidt Verlag, Berlin (Initiativen zum Umweltschutz 59), S. 173- 189. Antz, C. (2006): Gartenträume auf dem Weg. Kulturträume wandeln sich in Sachsen-An‐ halt zu Gartentourismusräumen, in: Antz, C.; Hlavac, C. (Hg.): Vorwärts in's Paradies. Gartentourismus in Europa. Profil, München/ Wien (Schriftenreihe Integrativer Tou‐ rismus und Entwicklung 7), S. 91-126. Antz, C. (2007): „Gartenträume“ - Kulturräume wandeln sich in Sachsen-Anhalt zu Tourismusangeboten, in: Brandt, A.; von Bothmer, W.; Mangels, C. (Hg.): GartenNetze 265 Gartenträume Sachsen-Anhalt Deutschland: Entwicklung, Vernetzung, Vermarktung historischer Gärten. Hinstorff, Rostock, S. 61-75. Antz, C.; Hlavac, C. (2020): Gartentourismus. Geschichte und Zukunft einer kulturellen Reiseform, in: Dreyer, A.; Antz, C. (Hg.): Kulturtourismus. De Gruyter, Berlin/ Boston (Lehr- und Handbücher zu Tourismus, Verkehr und Freizeit), S. 217-232. Brandt, A.; Bothmer, W. von; Mangels, C. (2007): Einleitung, in: Brandt, A.; Bothmer, W. von; Mangels, C. (Hg.): GartenNetze Deutschland: Entwicklung, Vernetzung, Vermarktung historischer Gärten. Hinstorff, Rostock, S. 7-8. Freyer, F. (2009): Tourismus. Einführung in die Fremdenverkehrsökonomie. Oldenbourg, München. Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt (o. J.): Ziele und Philosophie. Online: www.gartentraeume-sachsen-anhalt.de/ de/ ueber-gartentraeume/ ziele-und-p hilosophie.html, letzter Zugriff: 28.09.2020. IMG - Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH (o. J.): Reisen für Alle. Sachsen-Anhalt barrierefrei erleben. 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J.): Unser Leitbild. Online: www.tourismusverban d-sachsen-anhalt.de, letzter Zugriff: 19.12.2020. 266 Felicitas Remmert 1 „Die Aktion ‚Natur im Garten‘ ist eine vom Land Niederösterreich getragene Bewegung, welche die Ökologisierung von Gärten und Grünräumen in Niederösterreich und über die Landesgrenzen hinaus vorantreibt. Die Kernkriterien der Bewegung ‚Natur im Garten‘ legen fest, dass Gärten und Grünräume ohne chemisch-synthetische Pestizide und Dünger und ohne Torf gestaltet und gepflegt werden.“ (Natur im Garten o. J. a) DIE GARTEN TULLN Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau für die Gäste von morgen Franz Gruber 1 Die Grundidee - Natur im Garten DIE GARTEN TULLN wurde im Mai 2008 als Niederösterreichische Landesgartenschau eröffnet. Bereits im Jahr 1999 war die Aktion „Natur im Garten“ 1 als umweltpolitische Initiative gegründet worden. Die Grundidee war es, das ökologische Bewusstsein möglichst breiter Bevölkerungsschichten zu heben, gleichzeitig viele Menschen zu ökologischem Handeln in ihrem Alltag zu motivieren und so einen relevanten Beitrag zur Ökobilanz des Landes zu leisten. Es lag nahe, sich in einem eher kleinstädtisch, teilweise auch sehr ländlich geprägten Bundesland an die ‚Gartler‘ zu wenden. Man konnte damit potenziell die fast 400.000 Gartenbesitzerinnen und Gartenbesitzer Niederösterreichs erreichen. In einem weiteren Schritt ging es auch um öffentliches Grün und darum, dass die öffentliche Hand, v. a. die Kommunen, dazu motiviert werden sollten, ihre Flächen ökologisch weiterzuentwickeln und zu pflegen. Noch vor einigen Jahrzehnten war das, was uns heute in den Gärten vertraut ist, noch keine Selbstverständlichkeit. Naturnahe Hecken, wilde Ecken, Mulchung, Hochbeete, Staudenbeete statt Wechselflor oder der Verzicht auf Chemie und Torf im Garten entsprachen nicht oder zumindest viel weniger als heute den ästhetischen 2 Die EMAS-Zertifizierung richtet sich an Unternehmen und Organisationen, die ihre Umweltleistung positiv verstärken und verbessern wollen. Es handelt sich um ein sehr ausdifferenziertes Umwelt‐ managementsystem, mit dessen Umsetzung Unternehmen einen gesellschaftlichen Beitrag zum Umweltschutz leisten und dabei eigens anfallende Kosten intelligent einsparen zu können (vgl. EMAS o. J.) Das Umweltkonzept ist in ausführlicher Fassung online zu fimden unter: diegartentulln.at/ use rfiles/ files/ downloads/ Umwelterklarung_2019_TUV_Sud.pdf (letzter Zugriff: 30.10.2021). und gärtnerischen Ansprüchen. Die Möglichkeit, einen Garten sinnvoll ausschließlich ökologisch pflegen zu können, wurde auch in Fachkreisen oft angezweifelt. Damit entstand sehr bald nach Gründung der Initiative „Natur im Garten“ der Gedanke, deren Ideen nicht nur digital sowie in Broschüren und Kursen, sondern ganz konkret in einem Schaugarten erlebbar und angreifbar zu machen. Den vielen Zweiflern galt es zu beweisen, dass konsequent ökologisch gepflegte Gärten genauso attraktiv sind wie herkömmliche und dass sie für die Nutzerinnen und Nutzer sowie für Fauna und Flora zusätzliche Attraktivität besitzen. 2 DIE GARTEN TULLN Gesellschaft Zur Umsetzung der Gartenschau wurde 2004 eine Gesellschaft gegründet, um DIE GARTEN TULLN zu errichten und nahhaltig zu betreiben. Gesellschafter sind die Initiative „Natur im Garten“ und die Stadtgemeinde Tulln. Damit übernimmt „Natur im Garten“ Verantwortung für seine Natur-im-Garten-Erlebniswelt und stellt sicher, dass sich Aktion und Gartenschau koordiniert weiterentwickeln. Für einen nachhaltigen Betrieb des Gartens ist es von großer Bedeutung, dass DIE GARTEN TULLN vor Ort verankert ist und regionale Impulse setzt. Hier geht es um die Positionierung der Stadt Tulln über das Gartenthema, aber auch darum, dass die Gartenschau zur regionalen Wertschöpfung einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Es geht weiter nicht nur darum, dass die operative Abstimmung und Kommunikation mit der Kommune funktioniert, sondern auch darum, dass die lokale Bevölkerung zur Gartenschau steht, sie annimmt und sogar stolz auf sie ist. DIE GARTEN TULLN versteht sich in ihrem Markenkern als die einzige ökologische Gartenschau Europas nicht nur als Vorzeigeprojekt für das Naturgärtnern, sondern auch als beispielgebend in ihrem Wirtschaften und ihrer gesamten Firmenkultur. So wurde im Jahr 2014 die EMAS-Zertifizierung 2 erlangt und im Jahr 2017 bekam DIE GARTEN TULLN den Niederösterreichischen Umweltpreis, der jährlich von der Landesregierung vergeben wird. Beim Bau des Motivations- und Eingangsgebäudes im Jahr 2019 wurde auf ökologisches Bauen und möglichst wenig Bodenversiegelung Wert gelegt: neben Regenwassernutzung, Gießwasserrückgewinnung und der Verwendung heimischer Baustoffe, erfolgt die Temperierung über die thermische Aktivierung des Baukernes und der Einbau einer Photovoltaikanlage war selbstverständlich. Wichtig ist den Verantwortlichen der Garten Tulln auch die ständige Sensibilisierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ökologische Themen. Damit wird sicherge‐ stellt, dass nicht nur bei Führungen und in der laufenden werblichen Kommunikation 268 Franz Gruber 3 Als Partner zahlreicher Naturschutzprojekte wird das ökologische Bewusstsein und eine nachhaltige Bildung in der Stadt Tulln großgeschrieben. Durch das umfangreiche Engagement der Stadt in Bezug auf die Themen ‚Natur‘ und ‚Umwelt‘ finden Schulklassen sowie Studentinnen und Studenten oder andere Gäste der Stadt ein ausgeprägtes Weiterbildungsangebot vor (vgl. Stadtgemeinde Tulln 2019). 4 Ein Naturgarten ist dabei grundlegend geprägt durch den Verzicht auf synthetische Pestizide und Dünger. „Ein Naturgarten wird ökologisch gepflegt und steht für bunte Vielfalt und Lebensqualität. Die naturnahmen Gestaltungselemente lassen ihn zu einem Paradies für Menschen, Tiere und Pflanzen werden.“ (Natur im Garten o. J. b) die Inhalte des Markenkerns und somit die Philosophie von Natur im Garten kommu‐ niziert werden, sondern auch im laufenden operativen Ablauf - sei es im Kassen- und Shop-Bereich oder direkt durch das Gärtnerteam. 3 Das Tullner Feld - Standort für eine besondere Gartenschau Das Land Niederösterreich evaluierte vor Planungsbeginn verschiedene Konzepte und Standorte für diese neuartige nachhaltige Gartenschau, die ursprünglich für ein zehnjähriges Bestehen konzipiert war. Die Stadt Tulln kristallisierte sich als idealer Standort heraus. Sie liegt sehr zentral in Niederösterreich, nicht weit entfernt von der Bundeshauptstadt Wien an der Donau im nach ihr benannten Tullner Feld. Dieses Gebiet ist ideal für den Gartenbau und verfügt über hoch kompetente traditionsreiche Baumschulen, Gärtnereien und Betriebe des Garten- und Landschaftsbaus. Seit den 1960er-Jahren findet hier auch alljährlich mit der Gartenbaumesse die größte gärtnerische Messeveranstaltung Österreichs statt. Inzwischen ist die Stadt Tulln auch die erste Natur-im-Garten-Stadt, die die Ideen der Aktion in Gestaltung und Pflege ihrer Grünräume vorbildlich umsetzt. 3 Als Gelände für die Gartenschau bot sich ein Augebiet nahe dem Stadtzentrum und dem Messegelände an. Dieses Gebiet war historisch als Reit- und Schießplatz genutzt worden. Somit mussten im Kernbereich für die Errichtung der Gärten keine Bäume gefällt werden. Im Umfeld wurden verlandete Nebenarme der Donau wieder vertieft und entsprechend mit Wasser dotiert. Damit entstand eine Auwald-Insel, die nun zum eintrittspflichtigen Bereich gehört. Die Wasserwege im so entstandenen neuen Wasserpark werden nun für Kanu- und Tretbootfahrten genutzt. 4 Die Gartenschau Grundidee der GARTEN TULLN war es, in sehr unterschiedlichen Gärten, nicht nur was die Größe, sondern auch was die Gestaltung betrifft, verschiedene Zugänge zum Thema ‚Naturgarten‘ 4 aufzuzeigen und gleichzeitig eine attraktive Gartendestination zu schaffen, die mit einem umfassenden Angebot eine Aufenthaltsdauer von bis zu einem Tag gewährleistet. Es ging auch darum, den Ansprüchen verschiedenster Zielgruppen gerecht zu werden und damit ganz im Sinn der Philosophie von „Natur im Garten“ breiteste Bevölkerungsschichten und Interessenlagen anzusprechen. Das 269 DIE GARTEN TULLN. Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau Abb. 1: Eingangsbereich des GARTEN TULLN architektonische Konzept sieht vor, dass in den durch Holzzäune klar voneinander abgetrennten Flächen Gärten entstehen (→ Abb. 1). Neben den ursprünglich 42 so konzipierten Schaugärten, die durch einen Rundweg verbun‐ den sind, wurde ein Baumwip‐ felweg mit einer Höhe von 35 m und einem weiten Ausblick in das Umland errichtet (→ Abb. 2). An einem zentralen Festplatz wurde eine Halle mit einer Bühne verortet, die bei Schön‐ wetter zum Garten ausgerichtet ist und bei Schlechtwetter auch indoor bespielt werden kann. Des Weiteren wurde im ur‐ sprünglichen Eingangsgebäude neben dem Kassen- und Shop-Bereich auch ein Restaurant mit einer großen Terrasse an einem Teich mit Wasserspielen erreichtet. Aufgrund der Tatsache, dass DIE GARTEN TULLN immer mehr für Vermittlungsprogramme und Seminare genutzt wurde, wurde der Bürobereich, der ursprünglich auch im Eingangsgebäude untergebracht war, umge‐ siedelt und ein attraktiver Seminarbereich entstand. Die Gartenschau war, wie bereits erwähnt, ursprünglich für einen Zeitraum von zehn Jahren konzipiert worden. Aufgrund der dynamischen Entwicklung der Aktion „Natur im Garten“, aber v. a. auch wegen des Erfolgs der GARTEN TULLN, die alljährlich über 230.000 Besucherinnen und Besucher anspricht, war bald klar, dass die Gartenschau zur Dauereinrichtung werden musste. Ein entsprechender Grundsatzbe‐ schluss wurde im Jahr 2014 gefasst. Zum 10-jährigen Jubiläum im Jahr 2018 beschloss die Niederösterreichische Landesregierung ein Sonderunterstützungsprogramm, um der GARTEN TULLN die Finanzierung von neuen Innovationen zu ermöglichen. Das größte Projekt im Rahmen dieses Programms war die Errichtung des eingangs beschriebenen Empfangsgebäudes, das die Funktion des Eingangsbereiches ideal mit Motivations-, Informations- und Orientierungszonen verbindet. Familien mit Kindern steht ein großer Naturspielplatz zur Verfügung. Das gesamte Gelände wurde barrierefrei konzipiert und bei Neu- und Umbauten, aber auch in Grafik und Wegweisung wird darauf Wert gelegt, die Anlage in diesem Sinn weiterzuentwickeln. 5 Die Gärten Kern der Gartenschau sind die inzwischen 70 Schaugärten, die in Kooperation mit Gartenpartnern entstanden. DIE GARTEN TULLN stellt diesen Partnern Gartenflächen zur Verfügung, die diese gestalten und damit auch das Basisinvestment übernehmen. 270 Franz Gruber Abb. 2: Baumwipfelweg im GARTEN TULLN 271 DIE GARTEN TULLN. Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau 5 Die einzelnen Partner sind auf einem Geländeplan einsehbar (vgl. Die Garten Tulln 2020b). Um auch ein Beispiel eines Landschafts- und Gartenbauunternehmens anzubringen, kann der Gesundheitswassergarten der Firma Kittenberger genannt werden (vgl. Kittenberger Erlebnisgärten GesmbH o. J.). 6 In dem Garten Naturapotheke der niederösterreichischen Apothekerkammer wurden verschiedenste Indikations- und Anwendungsgebiete durch die ca. 80 Arzneipflanzen berücksichtigt, denen zudem eine symbolische Kennzeichnung zugeordnet wurde (vgl. Österreichische Apothekerkammer o. J.). 7 Nennenswert ist dabei die Höhere Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau (HBLFA) Schönbrunn, die maßgeblich für die Entwicklung des Areals Garten im Klimawandel verantwortlich ist. „Schon seit vielen Jahren arbeitet die HBLFA Schönbrunn, Österreichs einzige Höhere Lehranstalt für den Gartenbau, an der Selektion geeigneter Sträucher und Stauden für das pannonische Klima.“ (Die Garten Tulln 2020c) 8 Weitere Informationen über die Österreichische Gartenbaugesellschaft sind auf folgender Internet‐ seite einzusehen: oegg.or.at, letzter Zugriff: 13.01.2021. Im Laufe der Zeit haben die meisten Partner ihre Gärten adaptiert, umgebaut oder zumindest in der Bepflanzung Änderungen vorgenommen. DIE GARTEN TULLN kümmert sich um die laufende Pflege, die im Vergleich zu klassischen Gartenschauen nicht ausgelagert wird. Damit wird sichergestellt, dass die Vorgaben der Aktion „Natur im Garten“ - keine Verwendung von Pestiziden, keine Verwendung von Kunstdünger und keine Verwendung von Torf - penibel eingehalten werden. Auch die Weiterent‐ wicklung des Gartens mit heimischen und standortgerechten Pflanzen liegt zu einem Großteil in der Verantwortung des Gärtnerteams, das im Diskurs mit Fachleuten und aufgrund praktischer Erfahrungen umfassendes Know-how zur ökologischen Pflege sammeln und die ökologische Qualität des gesamten Geländes weiterentwickeln konnte. Die Gartenpartner kommen aus unterschiedlichsten Bereichen. Schwerpunktmäßig präsentieren sich klassische Gartenpartner wie Garten- und Landschaftsbauunterneh‐ men, Baumschulen oder Schwimmteichbauer, die ihre Leistungen und Innovationen zeigen. 5 Zu den Partnern zählen aber auch die deutschen Bundesländer Bayern (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten o. J.) und Mecklenburg-Vorpommern (vgl. MLUV 2011) mit einem bayerischen Biergarten und einem Garten, der die Landschaft der Ostseeküste zitiert, und präsentieren sich so touristisch einem breiten Publikum in Österreich. Auch das Land Sachsen-Anhalt ist mit einer Präsentation im Eingangsbereich vertreten (vgl. Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt 2019). Die Niederösterreichische Apothekerkammer zeigt Heilpflanzen im Apothekergarten 6 , ein Produzent von Wurmkompost setzt sich in seinem Garten mit dem Boden und der Bedeutung von Substraten auseinander und Wohnbauträger stellen Ideen für kleine Reihenhausgärten und Balkone aus. Auch der Siedlerverband (vgl. Siedlerverband Landesorganisation Niederösterreich 2020) ist vertreten, die Landwirtschaftskammer präsentiert sich genauso wie Fachschulen 7 aus dem landwirtschaftlichen und gärtnerischen Bereich, ebenso ein Staudenproduzent oder die Holzbranche. Selbstverständlich ist auch die Österreichische Gartenbauge‐ sellschaft vertreten. 8 Am Gelände der GARTEN TULLN präsentiert sich auch ein 272 Franz Gruber 9 Der Bibelgarten ist in seiner Gestaltung an die Themen der biblischen Welt angelehnt, sodass in die Geschichte der Katholischen Kirche in Form einer Entdeckungsreise eingetaucht werden kann (vgl. Diözese St. Pölten o. J.). 10 Die Phänologie wendet sich den Entwicklungsstufen von Pflanzen zu. Bei Pflanzen werden also „die Eintrittszeiten charakteristischer Wachstumsstufen, die ‚phänologische Phasen‘ genannt werden“ (Buth, 2019), von Pflanzen beobachtet und analysiert. In phänologischen Gärten werden somit die jahreszeitlichen Wachstums- und Entwicklungserscheinungen thematisiert. Dies äußert sich durch die darin enthaltenen Zeigerpflanzen. „Jeder phänologischen Jahreszeit sind […] [derartige] Zeigerpflanzen zugeordnet“ (NABU o. J.). Weinbaubetrieb, der in einem als Heuriger gestalteten Bereich seinen Wein anbietet und so den Ab-Hof-Verkauf auf die Gartenschau verlegt hat. Mit einem Bibelgarten ist auch die Katholische Kirche vertreten. 9 DIE GARTEN TULLN hat einige Flächen selbst geplant und entwickelt sie weiter. Als Botanischen Garten beispielsweise zeigt sie in einer kleinen Sammlung niederös‐ terreichische Endemiten und im Teich vor der Restaurantterrasse hat sie die größte Sammlung von Seerosen Österreichs etabliert. Nachdem im und um das Gartenschaugelände im Sommer und Herbst 2018 auf‐ grund des Akutwerdens des Eschentriebsterbens umfangreiche Baumfällungen nötig geworden waren, entwickelte DIE GARTEN TULLN auf einer gerodeten Fläche ein Arboretum für seltene Gartensträucher und Kleinbäume, das nun alljährlich erweitert wird. Dieses Arboretum beheimatet auch einen Phänologiegarten 10 , in dem es darum geht, nicht nur Zeigerpflanzen für die Jahreszeiten zu präsentieren, sondern auch den Klimawandel zu thematisieren. Auf der Auwaldinsel wurde eine kleine Baumschule etabliert, in der der lokale Aufwuchs für die Verschulung verwendet wird und so langfristig lokal angepasste Bäume nachgepflanzt werden können. DIE GARTEN TULLN versucht überhaupt aktuelle Themen aufzugreifen. So werden seit dem Jahr 2010 verschiedene Systeme zur Bauwerksbegrünung gezeigt oder seit einigen Jahren wird an zentraler Stelle mit dem Garten im Klimawandel dieses brisante Thema aufgegriffen. Hier gilt es, nicht nur das Problem an sich darzustellen, sondern auch Anpassungsstrategien aufzuzeigen. 6 Verschiedene Angebote für Besucherinnen und Besucher Um den Besucherinnen und Besuchern die Anliegen der GARTEN TULLN näherzu‐ bringen, aber auch um viele Menschen anzuziehen, sind ‚Bespielung‘ und ‚Inszenie‐ rung‘ unabdingbar. Hier werden unterschiedliche Zielgruppen ihren Bedürfnissen entsprechend angesprochen. Für die Individualbesucher und -besucherinnen werden an den Wochenenden in Kooperation mit der Initiative „Natur im Garten“ Gratisfüh‐ rungen angeboten (vgl. Garten Tulln 2020). Ebenfalls an den Wochenenden gibt es unterschiedliche Programme für Kinder wie Kindertheater, Konzerte, aber auch öko‐ pädagogische Programme in Zusammenarbeit mit Umweltbildungseinrichtungen. An besonderen Tagen, wie z. B. Muttertag oder Vatertag, werden zusätzliche Aktivitäten gesetzt. Höhepunkte sind alljährlich der 15. August - Mariä Himmelfahrt - mit einem 273 DIE GARTEN TULLN. Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau großen Familienfest und die Österreichische Kürbismeisterschaft (vgl. Penz 2019). DIE GARTEN TULLN beteiligt sich an regionalen und landesweiten Aktionen und übernimmt bei den dahinterstehenden Kooperationsprojekten eine Vorreiterrolle. In diesem Zusammenhang finden jährlich zwei Gartensommer-Vollmondnächte statt, die im Rahmen der Natur-im-Garten-Schaugärten in Abstimmung mit der Niederös‐ terreich-Werbung und mit Unterstützung der Wirtschaftsagentur des Landes ecoplus entwickelt wurden. Auch am Projekt „Donaugärten“, in dessen Rahmen die wichtigsten Gartenziele entlang der niederösterreichischen Donau wie Schloss Hof oder Stift Klosterneuburg kooperieren, nimmt DIE GARTEN TULLN federführend teil. Überhaupt kooperiert DIE GARTEN TULLN im Rahmen der Natur-im-Gar‐ ten-Schaugärten mit den rund 100 niederösterreichischen Schaugärten und bietet Packages und Kombinationsangebote an, die gut angenommen werden. Damit wird ein Beitrag zur Positionierung des Bundeslandes Niederösterreich zum „ökologischen Gartenland Nr. 1“ (Zeiler 2016) geleistet. Gleichzeitig profitiert DIE GARTEN TULLN davon, dass viele private Gärtner in ihrem Umfeld die Idee des ökologischen Gärtnerns mittragen und so zu einem touristischen Gesamterlebnis und einer stimmigen Profi‐ lierung der Region beitragen. Sonderveranstaltungen und Aktivitäten in Kooperation mit Gartenpartnern und Destinationsmanagementgesellschaften ziehen nicht nur Besucherinnen und Besucher an, sondern finden auch in der medialen Berichterstattung ein großes Echo. Sie kommunizieren symbolisch und entfalten eine oft enorme Werbewirkung über die mediale Berichterstattung, aber auch durch Mundpropaganda. Neben den Program‐ men, die von der GARTEN TULLN selbst veranstaltet werden, wird sie auch von Gartenpartnern und verschiedensten Firmen und Organisationen für Veranstaltungen genutzt, die manchmal während der regulären Öffnungszeiten stattfinden und allen Besucherinnen und Besuchern offenstehen. Hier sei beispielsweise ein Gesundheitstag der Apothekerkammer genannt (vgl. Zeiler 2015). DIE GARTEN TULLN setzt sich auch mit dem durch die Digitalisierung geänderten Besucherverhalten auseinander. So wurde eine App für Kinder entwickelt, mit der diese spielerisch das Gelände entdecken können (vgl. Zeiler 2018). Für Erwachsene ist ab dem Jahr 2020 eine Führung mit einer App angeboten worden. Damit werden nicht nur klassisch garteninteressierte Besucherinnen und Besucher angesprochen, sondern es entsteht auch ein wichtiges Zusatzangebot für kleine Zielgruppen, wie z. B. Blinde und Sehschwache. Immer stärker wird DIE GARTEN TULLN auch für private Feiern, Firmen-, Pro‐ duktveranstaltungen und dergleichen gebucht. Es zeigt sich immer mehr, dass Gärten als besonders attraktiv empfunden werden. Zunehmend werden diese natürlichen Erlebniswelten als Kontrapunkt zu digitalen Erlebnissen wahrgenommen. Besonders gut hat sich DIE GARTEN TULLN als Hochzeitslocation entwickelt und im eigens gestalteten Hochzeitsgarten finden während der Saison jedes Wochenende Hochzeiten statt. Hochzeiten bedeuten zwar einen sehr hohen organisatorischen Aufwand, da die Paare ihre Feiern sehr individuell gestalten und damit Kreativität und 274 Franz Gruber 11 Dabei handelt es sich um vielfältige Lernsituationen für Kinder, in denen spielerisch forschendes Lernen und Entdecken im Fokus stehen sollen (vgl. Breitsprecher 2019). Die Natur dient dabei als Basis der Gestaltung diverser Angebote für Kinder. Durch die kreative Rahmung einer Entdeckungs‐ reise können die Kinder in Form von Gruppenarbeit ihr Wissen erweitern (vgl. Garten Tulln 2020a). ein vergleichsweise hoher Personaleinsatz gefordert sind. Gleichzeitig ist aber auch zu bedenken, dass Menschen immer wieder an den Ort ihrer Hochzeit zurückkehren und das auch für ganze Familien gilt. DIE GARTEN TULLN wird zudem immer stärker von Firmen für verschiedenste Events genutzt. Hier ist die ökologische Ausrichtung der Gärten ein Argument für die Wahl dieser Location. Dafür, dass sich Unternehmen, deren Haltung in Fragen von Ökologie und Nachhaltigkeit den Grundsätzen der GARTEN TULLN nicht entspricht, ein ‚grünes Mäntelchen‘ umhängen, steht die Gartenschau nicht bereit und es wurden - in wenigen Fällen - Buchungsanfragen zurückgewiesen. DIE GARTEN TULLN ist Hauptdrehort der in ORF und 3Sat ausgestrahlten Serie Natur im Garten, bei der Wissenswertes rund um die ökologische Gartenwelt prä‐ sentiert wird (vgl. Pressler 2017). Die Unterstützung der Produktion bedeutet für das gesamte Team einen hohen Koordinations- und auch logistischen Aufwand. Für den Bekanntheitsgrad und die Positionierung allerdings sind Fernsehproduktionen äußerst förderlich. Deshalb freut sich DIE GARTEN TULLN darüber, dass sie auch zunehmend für Fernsehproduktionen aus den österreichischen Nachbarländern als Drehort Verwendung findet. 7 Das Bildungsangebot Der GARTEN TULLN ist ihr ökopädagogisches Angebot 11 sehr wichtig. Ein besonde‐ res Anliegen ist es, Kinder anzusprechen. Neben den Programmen für individual besuchende Familien, werden ökopädagogische Programme angeboten, zu deren pro‐ fessioneller Abwicklung ein Pool an Ökopädagoginnen und -pädagogen zur Verfügung steht. Um bereits die Jüngsten anzusprechen, bezahlen Kindergärten keinen Eintritt und für Schülerinnen und Schüler werden attraktive Eintrittspreise angeboten, um Schulausflüge auf DIE GARTEN TULLN leistbar zu machen. Kindergruppen können zwischen verschiedenen Programmen, die sich beispielsweise mit dem Bodenleben, Kräutern, Gartenteichen oder dem Klimawandel auseinandersetzen, wählen. Im Jahr 2019 wurde DIE GARTEN TULLN so von 7.000 Kindern besucht. Neben den Kindern werden auch Gruppen von Erwachsenen angesprochen. Hier geht es darum, auch klassischen Busgruppen ökologische Inhalte näherzubringen. DIE GARTEN TULLN bietet mit ihrem Seminarbereich auch Möglichkeiten für umfassen‐ dere Vermittlungsprogramme und so veranstaltet die Aktion „Natur im Garten“ eine Vielzahl von Kursen auf der GARTEN TULLN. Auch ein Ausbildungsprogramm der Donau-Universität Krems findet teilweise auf der GARTEN TULLN statt. 275 DIE GARTEN TULLN. Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau Abb. 3: Kletterpflanzengarten im GARTEN TULLN Besonders freut sich DIE GARTEN TULLN auch über eine Vielzahl von Fachgruppen aus dem In- und Ausland, die für Exkursionsbesuche nach Tulln kommen. Hier ist man bestrebt, sehr flexibel und individuell den Anforderungen dieser Gruppen bei Führungen entgegenzukommen. 8 Die Gäste von Morgen DIE GARTEN TULLN sieht sich nicht nur als Schaugarten, sondern auch als Unterneh‐ men, das in den Bereichen Gärtnern, Ökologisches Wirtschaften und Dienstleistung Akzente setzt. Damit ist es wichtig, ständig gesellschaftliche Entwicklungen und die Entwicklung der Interessen der Besucherinnen und Besucher zu analysieren, v. a. aber zu antizipieren. Es zeigt sich, dass in einer immer individualistischer werdenden Welt die Ansprüche der Besucherinnen und Besucher immer diverser und diversifizierter werden. Entsprechende Angebote können mit der vielfältigen Gestaltung der Gärten gemacht werden. Erfreulicherweise werden die Besucherinnen und Besucher in Tulln auch immer internationaler. Darauf zu reagieren, ist manchmal nicht einfach, es wird allerdings danach getrachtet, dass die kulturelle Vielfalt im Team vergrößert wird. 276 Franz Gruber 12 Laut dem Duden handelt es sich um einen Lebensstil, der von Gesundheit und Nachhaltigkeit geprägt ist (vgl. Duden 2020b). 13 Bezeichnung für eine „Person, die mit digitalen Technologien aufgewachsen ist und in ihrer Benutzung geübt ist“ (Duden 2020a). Es zeigt sich auch, dass der Anteil der Menschen an der Gesamtbevölkerung, die ei‐ nen lifestyle of health and sustainibility  12 pflegen, immer größer wird. Diese Menschen stellen eine Hauptzielgruppe der GARTEN TULLN dar, da sie vom Markenkern der einzigen ökologischen Gartenschau angesprochen werden. Hier gilt es, DIE GARTEN TULLN auch im Sinne der laufenden Verbesserungen im Rahmen der EMAS-Zertifi‐ zierung konsequent weiterzuentwickeln. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es, dass DIE GARTEN TULLN die Idee des ökologischen Gärtners in der gesamten Firmenkultur lebt und kommuniziert. Damit sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Haltung von größter Wichtigkeit. So wird bei Neuaufnahmen nicht nur auf fachliche Kompetenz und Dienstleistungsorientierung geachtet, sondern auch darauf, dass die Haltung der Mitarbeiterinnen der des Unternehmens entspricht. Nur so bleibt DIE GARTEN TULLN langfristig bei ihren immer kritischer und bewusster werdenden Kundinnen und Kunden glaubwürdig. Auch die Ansprüche einer sich wandelnden Gesellschaft sind zu bedenken. In einer alternden Bevölkerung wird umfassend verstandene und in den Details laufend verbesserte Barrierefreiheit zusehends wichtiger. Ein von sozialer, ethnischer und weltanschaulicher Vielfalt geprägtes Publikum, das auch Menschen einschließt, die mit körperlichen oder kognitiv-geistigen Beeinträchtigungen leben, hat geänderte Ansprüche an Besucherführung und Vermittlung und hat ein vielfältiges Verständnis von Garten und Ästhetik. Und mit den Digital Natives 13 werden nicht nur für die Vermittlung, sondern auch für Art und Wege der Bewerbung viele neue Anforderungen an DIE GARTEN TULLN herangetragen. Besonderes Augenmerk wird DIE GARTEN TULLN in Zukunft auf das Thema Mobilität legen. Es zeigt sich, dass sich v. a. bei der Anreise die Verhaltensmuster ändern. Immer mehr Gäste reisen öffentlich an und die ökologische Mobilität wird nicht nur ein Imagethema, sondern wird ein entscheidenderer Erfolgsfaktor. Hier sind Lösungen wie Leihsysteme und die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs nötig. Auch wenn ein Betrieb wie DIE GARTEN TULLN hier kaum selbst ein Angebot erstellen kann, muss sie sich doch des Themas annehmen. Wer sich mit Tourismusgeschichte auseinandersetzt, wird feststellen können, dass Gärten die ältesten Freizeitbereiche sind, in die immer Orte für Entspannung und Erholung integriert waren. Auch wenn man sich mit der touristischen Inszenierung und der vermeintlich neuen Idee des Erlebnisdesigns auseinandersetzt, wird man sehen, dass es in Gärten schon seit Jahrhunderten darum geht. Auch Vermittlung und Bildung sind Themen, die in vielen Gärten seit Jahrhunderten wichtig sind. Gärten sind seit Jahrhunderten bewährte Wohlfühlorte, die auch für zukünftige Generationen relevant sein werden. 277 DIE GARTEN TULLN. Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau Die Gäste von morgen werden anders sein, als sie es heute sind. Wie und wer auch immer sie sein werden, sie werden in die Gärten und Parks strömen und sich wohlfühlen, wenn ihnen professionell angelegte sowie kompetent und ökologisch gepflegte Gärten angeboten werden. Literaturhinweise Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (o. J.): An‐ sturm im Bayerischen Biergarten in Tulln. Online: www.lwg.bayern.de/ landespflege/ 191455/ index.php, letzter Zugriff: 10.06.2020. Breitsprecher, V. (2019): Den Naturgarten mit allen Sinnen erleben - das ökopädagogische Angebot auf der Garten Tulln. Online: www.meinbezirk.a t/ tulln/ c-lokales/ den-naturgarten-mit-allen-sinnen-erleben-das-oekopaedagogische-a ngebot-auf-der-garten-tulln_a3583056, letzter Zugriff: 10.06.2020. Buth, C. (2019): Phänologie. Online: www.planet-wissen.de/ natur/ klima/ phaenologie/ in dex.html, letzter Zugriff: 10.06.2020. 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Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau Vom Einzelgarten zum europäischen Austausch Das rheinländische Schloss Dyck und sein breites Netzwerk Jens Spanjer 1 Der Weg vom Englischen Landschaftsgarten des Fürsten Joseph zum Zentrum für Gartenkunst und Landschaftskultur der Stiftung Schloss Dyck 1.1 Der englische Landschaftsgarten von Fürst Joseph und Fürstin Constance Schloss Dyck ist mit einer ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 1094, dem späteren Ausbau zu einem der größten barocken Wasserschlösser im Rheinland und der Entwicklung des bis heute vollständig erhaltenen Englischen Landschaftsgartens eine der herausragenden und kulturhistorisch bedeutendsten Anlagen im Rheinland. Für die meisten der heute rund 300.000 Besuchenden im Jahr sind Park und Gärten der Hauptanlass, die heute als Zentrum für Gartenkunst und Landschaftskultur betriebenen Anlagen der Stiftung Schloss Dyck zu besuchen. Der für die Anlage bedeutende Englische Landschaftsgarten in Schloss Dyck geht auf das botanische und gartenkünstlerische Wirken des Altgrafen und späteren Fürsten Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck (1773-1861) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Mit Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 1793 übernahm er die Verantwortung für Schloss Dyck und widmete einen Großteil seines Wirkens dem Aufbau einer umfangreichen Pflanzensammlung und einer begleitenden botanischen Forschung mit dem Ergebnis zahlreicher botanischer Veröffentlichungen, u. a. dem 1834 erschienenen Hortus Dyckensis, dem Verzeichnis der im Botanischen Garten zu Dyck wachsenden Pflanzen. Seine Sammelleidenschaft und die damit verbundene stetig wachsende Zahl an exoti‐ schen Bäumen veranlasste Fürst Joseph dazu, die räumlich begrenzten hausnahen Gar‐ tenanlagen zu einer größeren Parkanlage im Stil eines englischen Landschaftsgartens auszubauen(vgl. Hombach 2010, S. 103-113) Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts erste Planungen für das Orangerieparterre mit dem Düsseldorfer Gartenkünstler Maxi‐ milian Friedrich Weyhe (1775-1846) umgesetzt wurden, beauftragten Fürst Joseph und seine Frau Constance im Jahr 1819 den in Paris lebenden und arbeitenden schottischen Landschaftsarchitekten Thomas Blaikie (1750-1838) mit der Planung der Anlage (vgl. Wolthaus 2019, S. 72). Fürst Joseph und seine aus Paris stammende Frau Constance de Théis (1767-1845) pflegten in Paris, wo sie gemeinsam die Wintermonate verbrachten, umfangreiche Kontakte zu Künstlerinnen und Künstlern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Der mit der Familie von Constance verbundene Thomas Blaikie hatte in Paris bekannte Gartenanlagen wie die Bagatelle-Gärten im Bosis de Boulogne entworfen und teilte mit Fürst Joseph die Leidenschaft des Sammelns und Botanisierens von Pflanzen (vgl. Taylor 2001). Seine 1819 begonnenen Planungen zu einem englischen Landschaftsgarten in Schloss Dyck (→ Abb. 1), der v. a. der großen Pflanzensammlung des Fürsten Joseph eine Heimat bieten sollte, wurden bis zum Jahr 1834 umgesetzt. Wie eine Parkordnung aus der Zeit des Fürsten Joseph belegt, wurde bereits mit der Entstehung des Parks ein öffentlicher Besucherbetrieb entwickelt. Abb. 1: Plan Englischer Landschaftsgarten Schloss Dyck von Thomas Blaikie 1819-1834 282 Jens Spanjer 1.2 Vom Park der Fürstin Cecilie zur Gründung der Stiftung Schloss Dyck In der Zeit nach Fürst Joseph wurde der rund 50 ha große Englische Landschaftsgarten in seiner Grundstruktur bis in die 1960er-Jahre gepflegt und v. a. die Sammlung an seltenen Baum- und Straucharten erweitert. In seiner Grundstruktur wurde der Park dabei wenig verändert. Die Fürstin Cecilie zu Salm-Reifferscheidt Dyck (1911-1991) beauftragte im Jahr 1962 den Landschaftsarchitekten Hermann Mattern (1902-1972) mit einer Überarbeitung des englischen Landschaftsgartens. Ziel der in botanischen Fragen selbst gut bewanderten Fürstin Cecilie war es, die Attraktivität des Parks zu steigern und Besucherinnen und Besucher anzulocken (vgl. Bermbach 2001, S. 92) So entstanden in den 1960er-Jahren neue Pflanzungen, u. a. mit einer Vielzahl an Azaleen, Rhododendren, Pieris und Schmuckstauden. Fürstin Cecilie arbeitete nicht nur an der botanischen Attraktivität des Parks, sie öffnete Teile des Schlosses für Museumsbesuchende und schaffte eine besucherfreundliche Infrastruktur für die damals noch private Parkanlage. Dazu gehörten ein neuer Parkeingang mit Parkplatz, Kassenbereich und WC-Anlagen sowie ein öffentlich zugänglicher Cafébetrieb im Westflügel des Schlosses und auf der Schlossterrasse. Mit dem Tode von Fürstin Cecilie im Jahr 1991 stand die mehr als 900-jährige Geschichte von Schloss Dyck zunächst vor einer ungewissen Zukunft. Die Weitsicht und das gartenkulturelle Interesse der damaligen Erbin von Schloss und Park Dyck, Marie-Christine Gräfin Wolff Metternich (1932-2010), der ältesten Tochter von Fürstin Cecilie, führten 1999 zur Gründung der Stiftung Schloss Dyck. Auf Grundlage eines Konzeptes des Landschaftsverbands Rheinland traten das Land Nordrhein-Westfalen, der Rhein-Kreis Neuss, die Gemeinde Jüchen, der Landschaftsverband Rheinland und später die Sparkasse Neuss sowie die RWE AG dieser Idee und dann auch der Stiftung bei. Mit dem Stiftungszweck als Zentrum für Gartenkunst und Landschaftskultur wurde eine an die Geschichte von Fürst Joseph anknüpfende inhaltliche Funktion gefunden. Damit wurde die Grundlage geschaffen, das gartenkulturelle Erbe von Schloss Dyck zu sichern, weiterzuentwickeln sowie für eine wachsende Zahl an Besuchenden attraktiv zu gestalten und zugänglich zu machen. 1.3 Instandsetzung und Erweiterungen zur Landesgartenschau 2002 Nach nur zwei Jahren Vorbereitungszeit seit der Gründung der Stiftung Schloss Dyck wurde die Anlage bereits im Jahr 2002 Hauptstandort der dezentralen Landesgarten‐ schau in Nordrhein-Westfalen. Auf Basis eines Parkpflegewerkes des Landschaftsar‐ chitekten Gerd Bernbach wurde dazu der Englische Landschaftsgarten unter der Leitung des Aachener Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann behutsam in Stand gesetzt. Hallmann orientierte sich bei seinen Planungen für den Park und die Orange‐ riehalbinsel eng an den Ideen von Fürst Joseph und Thomas Blaikie. Der englische Landschaftsgarten von Schloss Dyck sollte v. a. als Pflanzensammlung des Fürsten erlebbar werden. Ebenfalls zur Landesgartenschau 2002 wurde der historische Park um einen neuen Eingangsbereich, eine Mustergartenanlage und um einen modernen Landschaftspark 283 Vom Einzelgarten zum europäischen Austausch. Das rheinländische Schloss Dyck auf dem Dycker Feld ergänzt, womit die Gesamtanlage auf 78 ha vergrößert wurde. Der Entwurf für das Dycker Feld durch den Bonner Landschaftsarchitekt Stephan Lenzen versuchte dabei nicht, die traditionellen Parkstrukturen auf die Erweiterung zu übertragen. Stattdessen findet die neue Landschaftsgestaltung ihre Vorbilder in der umgebenden, landwirtschaftlich geprägten rheinischen Kulturlandschaft. Lange Rasenachsen durchziehen ein wogendes Meer aus Chinaschilf und unterstreichen gemeinsam mit der angrenzenden alten Maronenallee die historische Verbindung zwischen Nikolauskloster, Dycker Weinhaus und Schloss. Mit diesem Konzept wurde dem englischen Landschaftspark in Schloss Dyck ein sowohl gestalterisch als auch inhaltlich gelungenes Pendant gegenübergestellt. Durch das bis zum Herbst auf 4 m Höhe anwachsende Chinaschilf entstehen jahreszeitlich variierende Raumbilder. Zudem kann das Chinaschilf als nachwachsender Rohstoff jährlich geerntet und z. B. für das Beheizen der Schlossanlage genutzt werden. 1.4 Entwicklung des Besucherbetriebs der Stiftung Schloss Dyck Die Landesgartenschau in Schloss Dyck war nicht nur aufgrund des außergewöhn‐ lichen Konzepts eine Besonderheit. Erstmalig wurde eine Stiftung privaten Rechts Träger einer Landesgartenschau und es galt von Anfang an, eine Strategie für einen dauerhaften, wirtschaftlich tragfähigen Betrieb zu finden. Bereits mit Gründung der Stiftung Schloss Dyck hatten die privaten und öffentlichen Stifterinnen und Stifter das Ziel formuliert, eine Einrichtung zu schaffen, die nach einer Aufbauphase ohne regelmäßige Zuschüsse für den laufenden Betrieb auskommt: ein ehrgeiziges und in Nordrhein-Westfalen (NRW) bisher einmaliges Ziel für eine Kulturreinrichtung mit direkter Landesbeteiligung. Öffentliche Unterstützung erhielt die Stiftung Schloss Dyck v. a. in den ersten Jahren der intensiven Aufbauphase, insbesondere in Form umfangreicher Investiti‐ onszuschüsse, vorrangig durch das Land NRW und den Rhein-Kreis Neuss, für die umfangreiche Sanierung von Schloss und Park. So konnten nach der erfolgreichen Lan‐ desgartenschau im Jahr 2002 bereits 2003 erste Schlossbereiche für den Besucherbetrieb geöffnet werden. Damit wurde die Einheit von Park und Schloss für den Besuchenden erstmalig als Gesamtensemble erlebbar. Wie eine Perlenkette zieht sich die auf vier Inseln gegründete Wasserschlossanlage durch den englischen Landschaftsgarten. In mehreren Gebäuden der Schlossanlage entstanden attraktive Ausstellungsbereiche, die sich der Geschichte des Schlosses, der fürstlichen Familie und dem englischen Land‐ schaftsgarten mit seiner Pflanzensammlung widmen. Die Wechselausstellungen der Stiftung konzentrieren sich heute im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals konsequent auf das bei den Besucherinnen und Besuchern beliebte Thema ‚Gartenfotografie‘ (vgl. Stiftung Schloss Dyck o. J.) Heute, mehr als 20 Jahre nach Gründung der Stiftung Schloss Dyck, kann ihr ehrgeiziges als erfolgreich betrachtet werden. Mehr als 300.000 Gäste besuchen die Anlagen jährlich und die Stiftung kommt, abgesehen von den Einschränkungen durch die Coronapandemie, heute ohne regelmäßige öffentliche Zuschüsse für den 284 Jens Spanjer Betrieb aus. Das erfolgreich umgesetzte Konzept der Stiftung Schloss Dyck gründet im Wesentlichen auf den folgenden drei Säulen: (1.) Besucherbetrieb, (2.) Zusatzangebote und (3.) Projekt-/ Netzwerkarbeit. Wichtigste Grundlage, um Park und Schloss dauerhaft auf hohem Niveau erhalten und präsentieren zu können, sind die Erlöse aus dem eintrittspflichtigen Besucherbe‐ trieb in Schloss Dyck. Dazu werden die touristisch und kulturell attraktiven Angebote in Park, Gärten, Schloss, Ausstellungen und Veranstaltungen konsequent weiterent‐ wickelt. Begleitet durch entsprechende Marketingmaßnahmen konnte die Anzahl der Besucherinnen und Besucher vom ersten vollen Betriebsjahr bis 2019 in etwa vervierfacht werden: von 78.000 Besuchenden im Jahr 2003 auf 328.000 im Jahr 2019 (→ Abb. 2). Etwa die Hälfte der Besucherinnen und Besucher erreicht die Stiftung heute über den Tagesbetrieb mit Park, Gärten, Ausstellungen und Schloss. Die andere Hälfte wird über besucherstarke Veranstaltungen wie Gartenmärkte, Lichtfestival und Schlossweihnacht erreicht. Abb. 2: Besucherentwicklung Stiftung Schloss Dyck 2003-2020 Von 2014 an wurden von der Stiftung ergänzende, wirtschaftlich orientierte Zusatzan‐ gebote geschaffen. Grundsatz war dabei, dass alle Aktivitäten dem Gesamtkonzept der Stiftung entsprechen und sich die Bereiche bestmöglich ergänzen sollten. Deshalb wurden auch keine Bereiche ausgelagert, sondern fast alles unter dem zentralen Dach 285 Vom Einzelgarten zum europäischen Austausch. Das rheinländische Schloss Dyck Abb. 3: Gartenlust Schloss Dyck der Stiftung organisiert. So wurde eine Gastronomie im Eigenbetrieb der Stiftung entwickelt und stetig ausgebaut, auch vor dem Hintergrund einer steigen Zahl an Besucherinnen und Besuchern sowie externen Veranstaltungen wie Tagungen und Hochzeiten. Im zentralen Eingangsbereich ist seit 2016 ein Shop mit dem heutigen Namen „Manufaktur Stiftung Schloss Dyck“ etabliert. Schließlich eröffnete im Jahr 2017 das Restaurant und das Hotel der Stiftung Schloss Dyck in der ehemaligen Remise der Schlossanlage. Zur überregionalen und internationalen Bekanntheit der Stiftung Schloss Dyck haben v. a. nationale und internationale Projekte zur Gartenkultur sowie verschiedene Aktivitäten zur Vernetzung beigetragen. Aktionen wie die „Offene Gartenpforte“ im Rheinland oder aktive Mitgliedschaften im Verein Schlösser und Gärten in Deutschland e. V. oder der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL) e. V. sowie dem Initiativbündnis Historische Gärten im Klimawandel sind nur einige Beispiele. International bedeutendes Projekt der Stiftung ist die seit 2003 betriebene Entwicklung des Europäischen Gartennetzwerkes European Garden Heritage Network (EGHN). Im Rahmen des von der Stiftung getragenen Netzwerks wird neben der Präsentation von inzwischen mehr als 200 Gärten aus 15 Ländern Europas seit 2010 der Europäische Gartenpreis jährlich verliehen (vgl. Clark 2017, S. 50-57; Spanjer 2017, S. 40-49). Alle drei Säulen der Entwicklungsstrategie der Stiftung Schloss Dyck sind eng miteinander verbunden und stehen im direkten Zusammenhang mit den erreichten Steigerungen der Besucherzahlen. Bei der Entwicklung des Besucherbetriebs spielte die Etablierung attraktiver Ver‐ anstaltungsformate v. a. in den ersten zehn Jahren eine wesentliche Rolle. Über neue, sehr unterschiedliche Veranstaltungen konnte schnell eine regionale und überregionale Bekanntheit erreicht und neue Zielgrup‐ pen erschlossen werden. In der Folge festigten sich die Besuchszahlen bei den Ver‐ anstaltungen. Im regulären Betrieb von Park, Gärten, Schloss und Ausstellungen stiegen die Besuchszahlen deutlich an: von 2014 bis 2019 etwa um das Dreifache (vgl. Spanjer 2019, S. 79-88). 286 Jens Spanjer Unterstützt wurde diese Steigerung der Gästezahlen nicht unerheblich durch eine Verbesserung der Angebote im Tagesbetrieb. Für Park und Gärten schafft die Stiftung fortlaufend jahreszeitlich unterschiedliche Blühaspekte. Ergänzend wird in der Regel alle zwei Jahre ein neuer Gartenbereich oder neuer Mustergarten präsentiert. So wurden 2018 ein neuer Asiagarten in Kooperation mit der Baumschule Lorenz von Ehren und 2020 ein neuer Küchengarten mit Unterstützung des Landschaftsverbands Rheinland geschaffen. Im Schloss werden jährlich zwei Wechselausstellungen zur Gar‐ tenfotografie präsentiert. Dabei zeigt die Reihe „Gartenfokus“ verschiedene Schwer‐ punkte der Gartenkultur, von Gärten in Japan oder Polen bis hin zu Landartprojekten in verschiedenen Gärten Europas. Um eine hohe Besucherzufriedenheit zu erreichen, spielt eine gute und zur Anlage passende gastronomische Versorgung eine große Rolle. Die Eröffnung eines Restau‐ rants mit großer Außenterrasse im historischen Ambiente der Remise des Schlosses hat der Anlage 2017 einen wichtigen zentralen Anlaufpunkt gegeben. Dabei sind, jahreszeitlich abhängig, aus der Schlossküche Speisen mit Salat, Kräutern und Gemüse aus dem eigenen Küchengarten erhältlich. Kuchen wird mit Obst aus dem eigenen Schlossgarten oder dem umliegenden Obstbau zu einem großen Teil selbst gebacken und zusammen mit fair gehandeltem Kaffee angeboten. Die Remise der Schlossanlage beherbergt inzwischen auch ein ansprechendes, von der Stiftung betriebenes Hotel mit neun Zimmern. In Verbindung mit den für Veranstaltungen zu mietenden Schlossräu‐ men konnte damit nicht nur das Thema ‚Heiraten in Schloss Dyck‘ ausgebaut, sondern auch ein attraktives gartentouristisches Angebot geschaffen werden (vgl. Spanjer 2019, S. 79-88). 2 Das Europäische Gartennetzwerk EGHN 2.1 Ausgangssituation der Stiftung Schloss Dyck für die Gründung eines Netzwerkes Für den im vorherigen Unterkapitel beschriebenen erfolgreichen Aufbau der Stiftung Schloss Dyck und den Besucherbetrieb mit jährlich rund 300.000 Gästen war die begleitende intensive Netzwerkarbeit von zentraler Bedeutung. Es gilt zu berücksich‐ tigen, dass Schloss Dyck bis ins Jahr 1999 hinein ein privater Familienbesitz mit einem begrenzten Besucherbetrieb war. Vor Stiftungsgründung besuchten rund 50.000 Gäste im Jahr die Anlagen. Auch wenn der ehemalige Fürstensitz bei den Expertinnen und Experten als eine der bedeutendsten Residenzen nördlich des Mains bekannt war, im touristischen Sinne spielte Schloss Dyck in der deutschen Schlösserlandschaft keine große Rolle. 287 Vom Einzelgarten zum europäischen Austausch. Das rheinländische Schloss Dyck Abb. 4: Schlossanlage der Stiftung Schloss Dyck, Träger des Europäischen Gartennetzwerkes EGHN Um mit der 1999 gegründeten Stiftung erfolgreich zu sein, musste schnell eine überre‐ gionale und internationale Bekanntheit erreicht werden. Hierzu brauchte es eine hohe Qualität vor Ort, eine entsprechende fachliche Anerkennung und ergänzende Formate mit überregionaler Strahlkraft. Zum Erreichen dieser Ziele war die Entwicklung des Europäischen Gartennetzwerks EGHN ab dem Jahr 2003 von entscheidender Bedeutung. Durch den Aufbau eines Netzwerkes mit vergleichbaren Anlagen in Europa und dem damit verbundenen fachlichen Austausch konnte schnell ein hohes Niveau an Kompetenz erreicht werden. Da es ein solches Netzwerk in Europa bis dahin nicht gab, hatte die Stiftung Schloss Dyck die ursprünglich an der Universität Dortmund entwickelte Idee eines europäischen Gartennetzwerks aufgegriffen und zusammen mit den Ideengebern des Projektes Ingelore Pohl und Christian Grüßen im Rahmen eines EU-Projekts entwickelt. 2.2 Grundlagen für ein Europäisches Gartennetzwerk Die Gartenkunst in Europa ist seit Jahrhunderten durch einen intensiven Austausch kultureller Strömungen geprägt. Beispiele hierfür lassen sich in nahezu allen garten‐ künstlerischen Stilrichtungen finden. Besonders gut ist dies an den Englischen Land‐ schaftsgärten des 18. und 19. Jahrhunderts ablesbar. Die Englischen Landschaftsgärten 288 Jens Spanjer 1 „Interreg […] ist Teil der Struktur- und Investitionspolitik der Europäischen Union. Seit mehr als 20 Jahren werden damit grenzüberschreitende Kooperationen zwischen Regionen und Städten unterstützt, die das tägliche Leben beeinflusse“ (Interreg o. J.). verbreiteten sich in fast allen Teilen Europas und darüber hinaus. Interessant ist, dass sich dabei je nach politischen, kulturellen oder klimatischen Bedingungen sowie nach Auftraggeberin bzw. Auftraggeber und Zeitpunkt der jeweiligen Gestaltung ganz unterschiedliche Ausprägungen entwickelten. Die Zeit der Aufklärung brachte nicht nur neue Gestaltungsideen. Beeinflusst durch Bildungs- und Entdeckungsreisen sowie die Sammelleidenschaft für Pflanzen aus aller Welt, hielt eine beeindruckende neue Pflanzenvielfalt Einzug in unsere Gärten und Parks. Die Begründung des Englischen Landschaftsgartens in Schloss Dyck als Pflanzensammlung des Fürsten Joseph, ver‐ bunden mit seinem Netzwerk in Paris zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus ganz Europa sind dafür ein gutes Beispiel. Die Einflüsse aus der Zeit der Aufklärung reichen bis in unsere heutige Landschafts‐ architektur hinein. Selbst wenn wir den Begriff ‚Gartenkunst‘ für aktuelle Planungen nicht länger verwenden und auch der Umgang mit der pflanzlichen Vielfalt heute weniger mutig erscheint als noch vor 200 Jahren, ist die Entwicklung zeitgenössischer Gärten und Parkanlagen in fast allen Ländern Europas ein aktuelles Thema. In der Regel stehen dabei heute eher soziale Aspekte, urbane Zusammenhänge oder Ansätze zur Förderung der Biodiversität und des Klimaschutzes im Vordergrund. Ob die Neuanlage oder Wiederentdeckung und Restaurierung historischer Anlagen - eine Stärkung des Bewusstseins für die kulturelle Bedeutung unserer Parks und Gärten fördert die europäische Gartenkultur. Netzwerke helfen dabei, eigene Potenziale zu erkennen, durch den Erfahrungsaustausch in Pflege, Weiterentwicklung, Management und Vermarktung voneinander zu lernen, Entscheidungsträger zu überzeugen oder schlichtweg mehr Besucherinnen und Besucher zu erreichen (vgl. Spanjer 2017, S. 40-49) 2.3 Aufbau des European Garden Heritage Network (EGHN) Auf diesen Grundlagen wurde das Europäische Gartennetzwerk EGHN zwischen 2003 und 2008 im Rahmen eines von der EU geförderten Interreg-Projekts 1 ins Leben gerufen und entwickelt. Neben der oben beschriebenen Netzwerkidee sollte eine besucherorientierte Informationsvermittlung im Vordergrund stehen. Hierzu wurden u. a. regelmäßig Plakate und Informationsbroschüren gedruckt und gemeinsame Messeauftritte organisiert. Darüber hinaus wurden übergeordnete, mehrsprachige Konzepte für Besucherleitsysteme in Parks und Gärten sowie Bildungsangebote für Schulen entwickelt. Zentrales Element des EGHN war und ist ein mehrsprachiger Internetauftritt, der die Anlagen des Netzwerks international präsentiert. Für die Besucherinnen und Besucher der Anlagen sind damit Informationen abrufbar, die über den Informationsgehalt üb‐ licher Gartenreiseführer hinausgehen. So findet man neben einer allgemeinen Einfüh‐ rung (Prolog) für jeden Garten eine ausführliche Erläuterung mit Wissenswertem zur Geschichte, zu dendrologischen Besonderheiten, zu Blühereignissen und Ähnlichem 289 Vom Einzelgarten zum europäischen Austausch. Das rheinländische Schloss Dyck 2 „Open spaces, ranging from natural heritage to derelict sites and from the urban core to the fringe and into the landscapes, are of increasing value for European municipalities. […] Consequently, local and regional policies to deal with these issues were agreed” (Interreg Europe, o. J.). sowie zur umgebenden Kulturlandschaft, zu Eintrittspreisen und Führungsangeboten. Insgesamt wird das EGHN damit zu einer gartentouristischen Plattform mit hohem Informationsgehalt, die den Zugang in die Gartenregionen entweder über regionale Gartenrouten, über interaktive Karten oder über Themenbereiche ermöglicht. Das neue an der Projektidee war, dass diese Themen über die klassischen Bereiche der Gartenkunstgeschichte hinausgehen sollten. So finden Besucherinnen und Besucher den Zugang zu den Gärten heute nicht nur geografisch oder über die Geschichte der Gartenkunst, sondern auch über Themen wie ‚Gärten berühmter Persönlichkeiten‘, ‚Fruchtbare Gärten‘, ‚Zeitgenössische Gärten‘ und ‚Grüne Stadtentwicklung‘. Ansatz des EGHN ist es, einen ganzheitlichen Blick auf die Gartenkunst zu rich‐ ten, also auch zeitgenössische Anlagen zu präsentieren und nicht nur die großen, sondern auch die kleineren, oft versteckt liegenden und geheimnisvollen Anlagen erlebbar zu machen. Das EGHN ist nicht, wie manchmal vermutet wird, als Netzwerk zur Gartendenkmalpflege angelegt. Auch wenn viele der Anlagen des EGHN Garten‐ denkmäler und einige sogar Weltkulturerbe-Stätten sind, ist das Netzwerk in erster Linie ein Zusammenschluss von privaten und öffentlichen Eigentümerinnen und Eigentümern sowie Betreiberinnen und Betreibern einzelner Anlagen sowie von gar‐ tentouristisch bedeutsamen Regionen. Während der EU-geförderten Aufbauphase war das Europäische Gartennetzwerk auf England, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Nordwestdeutschland beschränkt. Ab 2008 wurde es in der Trägerschaft der gemeinnützigen Stiftung Schloss Dyck für ganz Europa geöffnet und weiterentwickelt. So sind heute rund 200 Gärten aus 15 Ländern Europas als Partner in dem sich mittlerweile selbsttragenden Netzwerk zusammengeschlossen und die internationale Netzwerkarbeit wird kontinuierlich ausgebaut (vgl. EGHN o. J. a). 2.4 Projekte des Europäischen Gartennetzwerkes Ein Schwerpunkt des Netzwerkes ist es, sich in gemeinsamen Projekten mit aktuellen Themen intensiver zu befassen und den Netzwerkpartnern damit vertiefendes Wissen und Erfahrungen bereitzustellen. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt „Hybrid Parks“, in dem sich von 2012 bis 2014 ein Teil der Partner im Rahmen des bereits erwähnten von Interreg geförderten Projekts intensiv mit neuen Anforderungen und Nutzungen für Parks und Gärten in Europa beschäftigt haben. Im Vordergrund standen aktuelle soziale, kulturelle und ökologische Fragestellungen im Umgang mit Parks und Gärten. Ein weites Projekt ist das seit 2018 unter der Leitung des Landschaftsverbandes Rheinland im Rahmen des EGHN entwickelte Projekt „UrbanLinks 2 Landscape“ 2 - kurz UL2L -, welches im Rahmen von Interreg Europe gefördert wird (vgl. Interreg Europe o. J.). Das Projekt UL2L beschäftigt sich mit der Entwicklung von Übergangs‐ bereichen zwischen der Stadt und der Landschaft sowie mit der Vernetzung dieser Übergangsbereiche mit urbanem und ruralem Grün. Da der Nutzungsdruck auf Flächen 290 Jens Spanjer 3 „Der Europäische Gartenpreis bewertet mehr als nur spektakuläre Gartenkunst oder traditionelle Gartenelemente […]. Ganz in der Tradition des EGHN und seinen Kompetenzen und Zielen entsprechend, ist der Preis breit angelegt und querschnittsorientiert.“ (EGHN o. J. b) stetig steigt und insbesondere große Konkurrenz um Brachflächen und Flächen ohne Funktionsbelegung herrscht, ergeben sich vielfältige Fragen rund um die nachhaltige Entwicklung und Nutzung dieser Flächen. In einem europäischen Austausch setzen sich Partner aus sechs Ländern mit diesen Fragestellungen auseinander und entwickeln anhand von Good-Practice-Beispielen und eigenen Maßnahmen Handlungsvorschläge. Dabei wird besonderer Wert auf den Erhalt und die Stärkung von ökonomischen, sozialen und ökologischen Funktionen sowie auf die Einbindung lokaler Akteurinnen und Akteure gelegt. 2.5 Die Verleihung des Europäischen Gartenpreises Seit dem Jahr 2010 verleiht das EGHN jährlich den Europäischen Gartenpreis 3 in vier Kategorien. Eine international besetzte Jury bewertet dabei die beste Weiterent‐ wicklung eines historischen Gartens, das innovativste Konzept oder Design eines zeitgenössischen Gartens und das beste großräumige Grünkonzept sowie entscheidet über Sonderpreise der Stiftung Schloss Dyck mit wechselndem Themenschwerpunk‐ ten. In den Jahren 2018 und 2019 war der Europäische Gartenpreis ein Förderprojekt des Europäischen Kulturerbejahres und wurde dabei u. a. um die Kategorie der Kultur‐ landschaften erweitert. In inzwischen mehr als zehn Jahren wurden europaweit rund 100 Preisträger ausgezeichnet und präsentiert. Dazu gehören bekannte Anlagen wie Kew Gardens in England oder das renommierte Gartenfestival in Chaumont-sur-Loire in Frankreich sowie zahlreiche kleine und bisher wenig bekannte Anlagen. Durch die international und fachlich breit aufgestellte Jury für den Gartenpreis ist inzwischen eine umfangreiche Dokumentation der besten Projekte zur Gartenkultur in Europa - auch in Form einer Wanderausstellung - entstanden. Alle Preisträger und Informatio‐ nen dazu sind über die Unterseite der Homepage abrufbar (vgl. EGHN o. J. b). 2.6 Ein Netzwerk für Betreibende und Besuchende von Parks und Gärten Nicht zuletzt dank des Europäischen Gartenpreises werden immer wieder neue Gärten oder Gartenregionen in Europa auf das EGHN aufmerksam und treten dem unter dem Dach der gemeinnützigen Stiftung betriebenen Netzwerk bei. Das EGHN bietet seinen Partnern viele Möglichkeiten der aktiven Teilnahme: von Mitarbeiterqualifizie‐ rungen durch Austausch von Fachkräften über gemeinsame Präsentationen auf Messen und Flower Shows, Konferenzen und Workshops bis hin zu praktischen Fragen der Pflege von besonderen Gartensituationen. Ein wichtiger Ansatz des Netzwerks ist der Erfahrungsaustausch auf unterschiedlichen Ebenen. Deshalb will das Europäische Gartennetzwerk nicht nur die großen und bekannten Gartenanlagen präsentieren, sondern auch Gärten mitnehmen, die erst am Anfang eines Wegs stehen und sich mithilfe des Netzwerks und seiner partnerschaftlichen Unterstützung qualifizieren wollen. Der Service für ihre Gäste nimmt dabei oft eine wichtige Rolle ein. 291 Vom Einzelgarten zum europäischen Austausch. Das rheinländische Schloss Dyck Dem Europäischen Gartennetzwerk können auch ganze Regionen beitreten, wie zu‐ letzt die Bretagne, wo das Netzwerk mit den Akteurinnen und Akteuren in der Region eine touristische Gartenroute entwickelt und über Webseite und Gartenführer präsen‐ tiert hat. Neben einem in Europa weit verzweigtem Netzwerk für Expertinnen und Experten, Betreiberinnen und Betreibern sowie Eigentümerinnen und Eigentümern bietet das EGHN somit (potenziellen) Besucherinnen und Besuchern Informationen und Inspirationen, um die Gartenkultur in Europa touristisch zu erkunden, z. B. von Gunnebo in Schweden zur Villa Litta in Italien oder vom Sommergarten in Sankt Petersburg bis nach Monserrate im portugiesischen Sintra (vgl. Spanjer 2017, S. 40-49). Literaturhinweise Bermbach, G. (2001): Parkpflegewerk Schloss Dyck, unveröffentlicht. Clark, R. (2017): Gartenkunst als Marketinginstrument. Auf den Spuren des Gartentou‐ rismus, in: Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e. V. (DGGL) (Hg.): Themenbuch. Gartenkunst - Idee und Schönheit. Callwey, München, S. 50-57. European Garten Heritage Network (EGHN) (o. J. a): Europäisches Gartennetzwerk - EGHN. Online: www.eghn.org, letzter Zugriff: 29.03.2021. European Garden Heritage Network (EGHN) (o. J. b): Europäischer Gartenpreis. Online: wp.eghn.org/ de/ europaeischer-gartenpreis/ , letzter Zugriff: 29.03.2021. Hombach, R. (2010): Landschaftsgärten Rheinland. Wernersche Verlagsgesellschaft, Köln. Interreg (o. J.): Was ist Interreg? Online: www.interreg.de/ INTERREG2014/ DE/ Interreg/ WasistINTERREG/ wasistinterreg-node.html, letzter Zugriff: 05.03.2021. Interreg Europe (o. J.): UrbanLinks 2 Landscape. Project summary. Online: www.interre geurope.eu/ ul2l/ , letzter Zugriff: 29.03.2021. Spanjer, J. (2019): Stiftung Schloss Dyck im Jahresbericht Kultur 2019. Rhein-Kreis Neuss, Neuss. Spanjer, J. (2017): Vernetzte Gartenkunst, in: Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e. V. (DGGL) (2017): Themenbuch. Gartenkunst - Idee und Schönheit. Callwey, München, S. 40-49. Stiftung Schloss Dyck (o. J.): HISTORIE und LANDSCHAFT in Schloss und Stallhof. Online: www.stiftung-schloss-dyck.de/ schloss-und-park/ ausstellungen.html, letzter Zugriff: 29.03.2021. Taylor, P. (2001): Thomas Blaikie (1751-1838). Der ‚Capability’ von Frankreich. Tuckwell Press, Edinburgh. Wolthaus, M. (2019): Der Dycker Schlosspark in der Epoche des Fürsten Joseph. Jahrbuch des Rhein-Kreises Neuss, Neuss. 292 Jens Spanjer 1 Für weitere Informationen und Recherchen: www.gaertenderwelt.de/ (letzter Zugriff: 15.08.2021); Grün Berlin GmbH (2017): Gärten der Welt und Kienbergpark. L&H Verlag, Berlin. Gärten der Welt in Berlin 1 Eine Geschichte vom Bewahren, Entwickeln und Verändern Beate Reuber „Arkadien ist eine Idylle, die der Mensch ent‐ worfen hat, als er feststellen musste, dass er seine Beziehung zur Natur zu verlieren begann.“ (Schmidt nach: Ohlsen 2007, S. 188) Besuchen wir Gärten und Parks auf dieser Welt, können wir feststellen, dass trotz aller Unterschiede in Kultur, Religion, Ästhetik, sozialer Tradition und wirtschaftlicher Entwicklung in den weltweiten Gartenbildern das Verbindende zu überwiegen scheint. Gärten in ihrer vielfältigen Gestaltung sind überall Idealraum der Menschen und werden von jedermann, über alle Kulturgrenzen hinweg, als Orte der Harmonie, der Ruhe und der Kontemplation empfunden. Der Garten ist und bleibt ein Zufluchtsort für Träume, prägt Generationen und wird von ihnen geprägt. Mit den Gärten der Welt ist in Berlin eine mittlerweile international renommierte Parkanlage entstanden, eine Oase für die Seele und das Auge. Dieser Garten ist Natur, Kultur und Erlebnis zugleich. Er lädt Menschen ein, ihre Sehnsucht nach Frieden und Entspannung zu stillen und weckt doch gleichzeitig die Neugier auf Farben, Formen und Lebensart anderer Länder. Durch seine Einzigartigkeit regt dieser Park den interkulturellen Diskurs an und ist über die Grenzen hinweg Bindeglied unter‐ schiedlicher Kulturen, Glaubensrichtungen und Lebensweisen. Lassen Sie uns auf eine gemeinsame Reise durch die Gärten der Welt gehen, deren Anfänge und Entstehung 2 Damals Hauptstadt der DDR. 3 Mündliches Zitat von Herrn Gottfried Funeck (1993-2011), Landschaftsplaner und Gartenarchitekt sowie Direktor des Stadtgartenamtes in Ost-Berlin (1975-1990) gegenüber der Verfasserin des Beitrags. einen erheblichen Anteil an gesellschaftlichen und städtebaulichen Veränderungen erzielte. 1 Wie alles begann Entstanden sind die Gärten der Welt auf der Fläche der ehemaligen, mit viel Engage‐ ment errichteten Berliner Gartenschau im Ostteil der Stadt 2 , die 1987 zur 750-Jahrfeier als Geschenk des Magistrats an seine Bürgerinnen und Bürger eröffnet wurde. An‐ fänglich so gut besucht, dass die „DDR-Mark mit Wassereimern weggetragen werden musste“ 3 , ließ das Interesse mit dem Fall der Mauer erheblich nach. Die als Nachfolgegesellschaft des ursprünglichen Betreibers - dem Magistrat von Berlin - im Jahr 1991 für das Management und die Pflege benannte heutige Grün Berlin GmbH, eine landeseigene Gesellschaft, ‚kämpfte‘ fortan mit ständig schwindenden Zahlen von Besucherinnen und Besuchern und mehr als einmal stand die Frage nach der Auflösung der Parkanlage zur Debatte. Dies änderte sich im April des Jahres 1994 als die Bürgermeister von Berlin und Peking den Vertrag einer Städtepartnerschaft unter‐ zeichneten. Eines der wesentlichen Ziele des Vertrages, der kulturelle Austausch beider Völker, war gleichzeitig die Geburtsstunde des Chinesischen Gartens. Expertinnen und Experten und politisch Verantwortliche stimmten überein, dass dieser Garten kein pit‐ toreskes Schauobjekt, keine Nachbildung, werden sollte, sondern eine Neuschöpfung, deren Form und Gestalt dem entspricht, was Chinas jahrtausendealte Gartenkunst hervorgebracht hat. In diesem Sinn wurde der Garten des wiedergewonnenen Mondes (→ Abb. 1) nach einem Plan des Pekinger Instituts für klassische Gartenarchitektur erschaffen. In drei Bauabschnitten von 1997-2000 errichteten chinesische und deutsche Spezialistinnen und Spezialisten der unterschiedlichsten Fachrichtungen und unter Anweisung von Jin Bo Ling, dem planenden Architekten, und Yan Kai Xiang, dem Bauleiter, die 2,5 ha große Anlage. Ein entscheidendes Grundprinzip, welches allen zehn Themengärten zu eigen ist, ist die Authentizität und die traditionelle Bauweise des Gartens. Die Voraussetzung dafür war, dass alle Materialien, kostbare Hölzer, Steine, Felsen, Skulpturen und Möbel, aus Peking nach Berlin gebracht wurden und dass das über Jahrtausende erworbene Fachwissen der chinesischen Architektinnen und Architekten, Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Handwerkerinnen und Handwerker den Bau maßgeblich gestaltete. 2 Chinesische Bautradition trifft auf deutsche Bauvorschrift Diesem Anspruch gerecht zu werden und einen Garten zu schaffen, der der traditionel‐ len Bauweise mit steilen Rampen, niedrigen Geländern und Türschwellen entsprach, 294 Beate Reuber war nicht immer einfach - trafen doch chinesische Bautraditionen mit deutschen Bauvorschriften zusammen. Nur dem Vermögen aller Beteiligten aufeinander zu- und einzugehen, oftmals in Zeichensprache oder durch in den Sand gemalte Erläuterungen, ist es zu verdanken, dass der Garten des wiedergewonnenen Mondes in seiner heutigen Form entstehen konnte (→ Abb. 1). Abb. 1: Garten des wiedergewonnenen Mondes Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle die Neugier der Berlinerinnen und Berliner. Diese war bereits während des Baus so groß, dass eine Besucherplattform errichtet wurde, welche es ermöglichte, ‚am Bau teilzunehmen‘ und diesen damit aktiv zu begleiten. Jeder Mensch, ob Expertin bzw. Experte oder Auftraggeberin bzw. Auftraggeber, weiß, dass ein Bauwerk nie ohne Aufregung und Hektik errichtet wird. Die Zusam‐ menarbeit mit den chinesischen Spezialistinnen und Spezialisten zeichnete sich jedoch stets durch Heiterkeit, Betriebsamkeit und der für Europäerinnen und Europäer so wünschenswerten asiatischen Gelassenheit aus. Da erscholl immer mal die eine oder andere chinesische Weise oder Gelächter über den Bauplatz und die chinesischen Gäste sorgten stets dafür, dass niemand ‚sein Gesicht verlor‘. Auch die gemeinsamen ‚Shopping-Touren‘ zur täglichen Versorgung gestalteten sich äußerst spannend und lehrreich. Nicht selten wurde das Team beim Bäcker freundlich angelächelt und nach dem Baufortschritt gefragt. 295 Gärten der Welt in Berlin Entstanden ist ein klassischer chinesischer Gelehrtengarten, der sich durch Schlicht‐ heit und dezente Farben - vorrangig grau, weiß und rot - auszeichnet. Ein 4.500 m² großer See, der Himmelsspiegel, bildet das Zentrum und gibt Raum für eine Zickzack‐ brücke, mit verschlungenen Uferwegen, Inseln und für ein Teehaus, das Berghaus zum Osmanthussaft (→ Abb. 2). Abb. 2: Berghaus zum Osmanthussaft Durch den Garten und die dort stattfindenden Veranstaltungen ist in Berlin, über die politische Symbolik der Partnerschaft hinaus, ein Ort geschaffen worden, der nicht nur der chinesischen Gartenkultur, sondern auch der Kultur und Tradition des Landes eine Heimat gibt. Als der Garten am 15. Oktober 2000 bei recht trübem Wetter, aber mit fünf weithin sichtbaren großen roten Ballons eröffnet wurde, ahnte niemand, dass mit dem Garten des wiedergewonnenen Mondes der Grundstein für die Erfolgsstory der Gärten der Welt gelegt wurde. Bereits am ersten besucheroffenen Wochenende strömten mehr als 15.000 Gäste in den Garten und verdeutlichten erneut das Interesse für die asiatische Kultur, für das Außergewöhnliche, aber auch für die städtebauliche Entwicklung. 296 Beate Reuber 4 Der Japanische Wandelgarten ist ein Landschaftsgarten mit Gewässern zum Durchwandern und Rasten, der ab 1600 aufkam. 3 Japanische Kultur - ganz anders als erwartet Dieses Interesse und die Neugier auf ‚fremde Gärten‘, für unterschiedliche Traditionen und Kulturen einzelner Länder führte letztendlich den Entschluss herbei, einen weite‐ ren Garten aus dem asiatischen Kulturkreis zu errichten. So entstand der Japanische Garten des zusammenfließenden Wassers (→ Abb. 3). Abb. 3: Garten des zusammenfließenden Wassers In enger Zusammenarbeit mit dem Senat von Berlin, der Partnerstadt Tokio und der Japanischen Botschaft konnte 2001 der Gartendesigner und Hauptpriester des Tempels Kenkohji, Shunmyo Masuno aus Yokohama für diese Gartenidee gewonnen werden. Schon die ersten vorgestellten Entwürfe im Stil eines japanischen Wandelgartens 4 ließen erahnen, dass ein weiteres Gartenjuwel im Werden begriffen war. Allerdings zeigt sich auch ein weiteres Mal, dass das Wesen der asiatischen und im Besonderen das der japanischen Gartenarchitektur, für Europäerinnen und Europäer nicht ohne weiteres zu begreifen war. Erst mit dem im Werden begriffenen Garten konnte man ein wenig die japanische Philosophie und Lebensweise verstehen. Als im Herbst des Jahres 2001 die eigentliche Bauphase begann, dachte man ganz zuversichtlich, man wisse, wie es geht. Schließlich hatte man in drei Jahren Bauzeit 297 Gärten der Welt in Berlin 5 Japanisches Teehaus, im Garten der drei Harmonien ein offener Pavillon. mit chinesischen Spezialistinnen und Spezialisten vieles erfahren und lernen können. Ganz so einfach gestaltete es sich allerdings nicht. War der Bau des Chinesischen Gartens laut und quirlig, verlief der Bauablauf zum Japanischen Garten während der gesamten Zeit in großer Ruhe und Besonnenheit. Bereits die Auswahl der für den Garten so wichtigen Natursteine, welche durch großes Glück nach langer Suche in Crottendorf im Erzgebirge gefunden wurden, war ganz leise und ‚stilvoll‘. Es wurde nicht über mögliche Steine diskutiert oder beraten. Shunmyo Masuno deutete lediglich mit einer Hand auf die für ihn besonders wichtigen Steine, woraufhin diese mit Schlemmkreide vorsichtig markiert wurden. Als die ausgewählten Steine, wie ‚Gold‘ verpackt, auf der Baustelle ankamen, konnten man beobachten, dass Shunmyo Masuno den Gartenentwurf nicht nur zu Papier gebracht hatte, sondern dass dieser vollständig in seinem Kopf existierte. So entstand in zwei Baujahren ein Garten, dessen Leitidee - der Wunsch nach einem friedlichen Miteinander - sehr deutlich wurde. Dieser Grundgedanke entspricht dem fernöstlichen Wunsch: „In der Verschmelzung Harmonie zu finden, wie zusammenfließendes Wasser“ (Masuno nach Grün Berlin Park und Garten GmbH o. J., S. 10). Betritt man heute den Garten durch das kleine Tor, spürt man die Harmonie, die Kraft und die Ruhe, die dieser Garten ausstrahlt. Man tritt ehrfürchtig ein in eine Welt, die es den Besucherinnen und Besuchern ermöglicht, den Alltag für kurze Zeit zu vergessen. Findet man einen Sitzplatz auf den glatt polierten Holzbänken des Chayas 5 im Zentrum des Gartens und blickt auf den perfekt geharkten Zen-Garten, können auch Europäerinnen und Europäer ein wenig von der japanischen Lebensphilosophie verstehen. Manch ein Gast verlässt den Garten des zusammenfließenden Wassers in einer ganz anderen Stimmung als jener, in der er ihn betreten hat. Die Eröffnung im April 2003 war ein Startpunkt für steigende Zahlen der Besu‐ cherinnen und Besucher und erste Berichterstattungen mit einem positiven Image Marzahn-Hellersdorfs. Diese beiden Gärten vertraten Kulturen, die durch den Glauben an Konfuzius in China und den Buddhismus in Japan geprägt wurden. Die Entstehung von Gärten wird immer durch die vorherrschende Religion beeinflusst und Religion findet sich gleichzeitig immer in Gärten wieder. Somit waren im Erholungspark Marzahn bereits zwei große Weltkulturen und Weltreligionen vertreten, was lag näher, als ein weiteres Gartenbild aus einem dritten Kultur- und Religionskreis zu erschaffen - umso mehr, da die Zahlen der Besucherinnen und Besucher, ein nicht zu verachtendes Argument, dem Ansinnen Recht gaben. Nach der Eröffnung des Japanischen Gartens stiegen die Gästezahlen von 80.000 nach der Berliner Gartenschau auf 375.000 an. Darauf begannen die Bauvorbereitungen zu einem Garten aus dem hinduistisch-balinesischen Kulturkreis. 298 Beate Reuber Abb. 4: Balinesischer Garten 4 Eine kleine Insel mit großer Bedeutung: Garten der drei Harmonien Balinesien ist ein Kulturkreis, der das, was wir in Europa als Garten bezeichnen, nicht kennt. Definiert man jedoch den Garten als Lebensraum, in dem Balinesinnen und Balinesen die für sie so bedeutende Harmonie finden, dann ist er dort gleichsam Wohn- und Arbeitsraum, Raum für Feierlichkeiten und ein Ort, an dem den Ahnen mit Respekt begegnet werden kann. So entstand durch die Planung und die Baubegleitung von Putu Edy Semara, einem jungen balinesischen Architekten, der Balinesische Garten der drei Harmonien (→ Abb. 4). Er ist ein Gartenensemble, das alle wesentlichen Aspekte des Glaubens, einen Tempelbereich mit Schreinen, die traditionellen Gebäude eines Wohnhofes und eine tropische Bepflanzung in sich vereint. Dieser Garten, in einem Gewächshaus gelegen, ist der kleinste der Gärten der Welt. Das vorherrschende Klima, die tropische Bepflanzung und die typisch balinesischen Gebäude und Schreine zeigen eine Exotik, welche wir sonst nur aus Urlaubsländern kennen. Seine hohe Luftfeuchtigkeit, die aufgrund der tropischen Pflanzen erforderlich ist, lässt die roten Backsteinmauern und Schreine manchmal in einem mystischen Nebel verschwinden und die Baumfarne recken ihre majestätischen Wedel gen Himmel. Besonders an balinesi‐ schen Festtagen, wenn der Garten mit all seinem tradi‐ tionellen Schmuck verse‐ hen wird, wird die Erinne‐ rung an die Bauzeit deutlich. Der Bau war be‐ gleitet von der Fröhlichkeit und dem Gelächter der ba‐ linesischen Spezialkräfte, gleichzeitig aber auch durch deren Glauben, dass alles, was im Leben ge‐ schieht, vorherbestimmt sei. Eines stand jedoch immer im Vordergrund: die Harmonie. Um diese zu erreichen und um die Ahnen zu ehren, errichteten die balinesischen Spe‐ zialkräfte unmittelbar nach ihrer Ankunft einen Altar mitten im Rohbau. 5 Dialog der Kulturen wiederbeleben Als die Terroranschläge des 11. September 2001 die Welt veränderten und eine Verständigung einzelner Kulturen kaum noch möglich, ein friedliches Miteinander fast undenkbar schien, entstand die Idee eines Gartens aus dem islamischen Kulturkreis, des Orientalischen, der Garten der vier Ströme (→ Abb. 5). 299 Gärten der Welt in Berlin Abb. 5: Orientalischer Garten Ein Grundgedanke dieses Gartens war und ist, kulturelle, religiöse und zwischen‐ menschliche Grenzen zu überwinden und den Dialog der Kulturen wiederzubeleben. Zur Verwirklichung dieser Idee konnte Kamel Louafi, ein aus Algerien stammender und in Berlin lebender Landschaftsarchitekt, gewonnen werden. Er schien durch seine Kenntnisse des islamischen und des europäischen Kulturkreises bestens für diese Aufgabe geeignet. Es entstand ein typischer Riyâd, ein allseitig mit vier Meter hohen Mauern um‐ schlossener Gartenhof, der die wesentlichen und immer wiederkehrenden Grundsätze des Pairidaeza - des Paradieses - in sich vereinte. In nur zwei Jahren Bauzeit erschufen marokkanische und deutsche Expertinnen und Experten gemeinsam eine ganz eigene, farbenfrohe, nach Grundsätzen der Koransuren gestaltete Gartenwelt. Die Gemeinsamkeit zeigte sich jedoch nicht nur in der Handwerkskunst, sondern auch in einem menschlichen Miteinander. Jeden Morgen bereiteten die Marokkaner für alle am Bau beteiligten den traditionellen Pfefferminztee zu und begannen so das manchmal recht laute, aus Erzählungen und Gelächter bestehende Tagwerk. Die Eröffnung dieses Gartenteils führte einen erneuten Wandel herbei. Nunmehr waren an einem Ort vier Gärten aus unterschiedlichen Religions- und Kulturkreisen vereint. Die Marke Gärten der Welt etablierte sich immer mehr und führte erneut zu einem Imagewandel und zu einer sehr hohen Identifizierung innerhalb des Bezirks. 300 Beate Reuber 6 Fernöstliche Herausforderung - Gartenteil aus Korea Der Koreanische Seouler Garten (→ Abb. 6), ebenso einzigartig wie alle Gärten, gelangte auf ganz anderen Wegen zu den Gärten der Welt. Er wurde der Stadt Berlin und den Gärten der Welt geschenkt - und wie das so ist mit Geschenken, die man nicht wirklich kennt, stellte diese Idee das Team der Gärten der Welt vor eine große Herausforderung. Abb. 6: Koreanischer Garten Die Gedanken zu und Vorstellungen über die Gestaltung eines Koreanischen Gartens waren so diffus und von Unkenntnis geprägt, dass sich die Frage stellte, ob er nicht doch zu sehr einem chinesischen oder japanischen Garten gleichen würde. Das Ergebnis hat alle Beteiligten überrascht und präsentiert sich heute als ein Garten, der ebenso einzigartig ist. Innerhalb von nur sieben Monaten errichteten die koreanischen Spezia‐ listinnen und Spezialisten einen rund 4.000 m 2 großen Garten mit einer sehr bewegten Topografie und mehreren traditionellen Gebäuden. Die koreanischen Spezialisten und Spezialisten, die nicht nur die technischen Geräte selbst bedienten und steuerten, Fun‐ damente herstellten und Materialien orderten, waren sehr konzentriert, zurückhaltend und verschlossen. Wie sehr erstaunte da ein gemeinsames Mittagessen, zu dem die Verfasserin des Beitrags eingeladen wurde. In fröhlichster Weise präsentierte man die schärfsten Speisen und das Gelächter war groß, als die Verfasserin zu sehr nach Luft schnappen musste. 301 Gärten der Welt in Berlin Abb. 7: Karl-Foerster-Staudengarten Abb. 8: Italienischer Renaissancegarten 7 Was ist ein ‚deutscher Garten’? In den Jahren von 2007 bis 2008 folgten der He‐ cken-Irrgarten nach engli‐ schem und das Bodenlaby‐ rinth nach französischem Vorbild. Diese beiden räum‐ lich gegenüberliegenden und thematisch eng ver‐ bundenen Gartenelemente zeigen in ihrer Verschie‐ denheit eindrucksvoll den Lebensweg und die Suche nach der Mitte. Im Laby‐ rinth ist die persönliche Disziplin gefragt, dem Weg zur Mitte zu folgen und nicht ‚querfeldein‘ zu laufen. Im Irrgarten werden die Gäste immer wieder zur Neuorientierung ermuntert und vor eine Wege-Wahl gestellt. Der 2008 wiedereröffnete Karl-Foerster-Staudengarten (→ Abb. 7) spiegelt mit sei‐ nen Prachtstauden, Gräsern und Farnen das Schaffen des berühmten Staudenzüchters wider. Frei nach dem Motto „Es wird durchgeblüht! “ (Karl Foerster o. J.) schafft dieser Garten ganzjährig optische Besonderheiten. Mit seinen formalen und naturnahen Gartenreichen berührt der Karl-Foerster-Staudengarten das Herz einer jeden Gärtnerin und eines jeden Gärtners. Der ebenfalls 2008 eröffnete italienische Renaissancegarten Giardino della Bobolina (→ Abb. 8) zählt mit Terrakotten, Marmorstatuen, kunstvollen Formschnitten und sprudelnden Wasserspielen zu den frühesten gartenarchitektonischen Beispielen Eu‐ ropas. Er spiegelt eindrucksvoll die Wiedergeburt der Antike. Diese Gärten, die als Bei‐ spiele europäischer Garten‐ kunst bezeichnet werden können, verdeutlichen die gegenseitige Beeinflussung der Gartenkunst über alle kulturellen, sprachlichen und politischen Barrieren hinweg. Ohne das Vorbild der islamisch-maurischen Gärten hätten sich in un‐ seren abendländischen Re‐ naissancegärten kaum die 302 Beate Reuber 6 Nachzulesen unter: mhspv.de/ (letzter Zugriff: 15.08.2021). Abb. 9: Christlicher Garten prächtigen Wasserspiele entwickelt und ohne den Kontakt zur Gartenwelt Chinas wä‐ ren im englischen Landschaftsgarten viele Inszenierungen nicht entstanden. Der Gar‐ ten aus dem Morgenland, ohne den die Gärten ab 2011 niemals komplett gewesen wären, löste etwas aus, mit dem niemand gerechnet hatte. Diskussionen über die Frage: Was ist ein ‚deutscher Garten‘ und was sind deutsche Traditionen? Mit Unterstützung der Allianz Umweltstiftung, die bereits den Orientali‐ schen Garten kofinan‐ zierte, konnte ein erfolg‐ reicher Wettbewerb mit sehr spannenden Entwür‐ fen durchgeführt werden. Daraus ging der heutige Christliche Garten hervor (→ Abb. 9). Das Büro re‐ lais Berlin kreierte einen Garten, der die Urform des Kreuzganges in eine mo‐ derne Zeichensprache übersetzte und der mit sei‐ nen Texten im goldenen Wandelgang zu einem Raum der Sprache wurde (vgl. Grün Berlin o. J., S. 12-25). Vier Meter hohe Buchen bilden das umschließende Gebäude und der viergeteilte Garten wird durch Heckenkörper und Wassersteine geprägt. Als weiterer Raum für den Dialog der Kulturen steht er oft im Rampenlicht, wird jedoch von unseren Be‐ sucherinnen und Besuchern nicht immer geliebt, da man häufig den ‚Garten‘ ver‐ misst. Gestaltet als sehr kontemplativer Garten erinnert er mit seinem Spiel aus Licht und Schatten an meditative und sakrale Orte. Mit der Eröffnung des neunten großen Themengartens erschien das Gesamtkonzept ‚Gärten der Welt‘ bezogen auf den Grundgedanken der Authentizität und Einzigartigkeit vollständig - ein Irr‐ tum. 8 Landschaftsarchitektonisches Erbe Durch ein Geschenk der Städtepartnerstadt Halton 6 erhielt die Idee eines englischen Cottage-Gartens immer mehr Raum und so entstand ein Garten dessen landschafts‐ architektonisches Erbe weltweit bekannt und verbreitet ist (→ Abb. 10). Durch seine zentrale Bedeutung in der Landschafts- und Gartenarchitektur bereichert er die Parklandschaft und stellt eine ideelle Verbindung der im Park vertretenen Kulturen 303 Gärten der Welt in Berlin 7 Weitere Informationen zu der IGA (2017) sind zu finden unter: www.gaertenderwelt.de/ service-inf os/ ueber-uns/ iga-berlin-2017/ (letzter Zugriff: 15.08.2021). her. Entworfen durch das Planungsbüro Austin-Smith: Lord aus Manchester, reiht sich der Garten in die Perlenkette der Internationalität ein. Das traditionelle reetgedeckte Cottage, David-Austin-Rosen und die so typische English Border zeigen erneut das Verbindende von Gärten. Und in der Tat war die Beschreibung des Gartens in Briefform ungewöhnlich und sehr spannend. Diesen Brief sollte man unbedingt lesen. Abb. 10: Englischer Garten 9 Bewahren zum Entwickeln und zum Verändern Wer dachte, der Garten sei nun komplett, der irrt erneut. Ein Ereignis, das städtebaulich, technisch, gärtnerisch und medial weitreichende, aber wunderbare Veränderung mit sich brachte, nahm seinen Lauf. Die Internationale Gartenausstellung (IGA 7 ) Berlin fand im Jahr 2017 statt. 186 Tage blickten mehr als 1,8 Millionen Gäste und die Fachwelt auf ein Gartenfestival, das über den Wandel der städtischen Peripherie in Marzahn-Hellersdorf berichtete. Der Name war Programm: „Ein MEHR aus Farben“ stand für das Entstehen einer neuen internationalen Gartendestination. Das Miteinander und Mitmachen, das Lehren und Lernen, das Fördernde und Aufklärende wurden auf nahezu 100 ha umgesetzt und gelebt. Die Geschichte eines einzigartigen, grünen Stadtentwicklungsprojekts wurde 304 Beate Reuber erzählt. Das Gelände der Gärten der Welt wuchs auf 40 ha an, gleichzeitig entstand ‚gleich nebenan‘ ein neuer 60 ha großer Volkspark, der Kienbergpark. Durch die Weiterentwicklung der Gärten der Welt zu einer einzigartigen touristi‐ schen Destination und der behutsamen Ertüchtigung des Kienbergparks mit seinen Naturerfahrungsräumen, der Seil- und Bobbahn entstand ein Naherholungsraum mit ‚Leuchtfeuerkraft‘. Für die Gärten der Welt war die IGA Berlin 2017 eine einmalige Chance, ohne die diese Gartenanlage niemals ihr heutiges Gesicht erhalten hätte. Hier stehen Tradition und Moderne, Kultur und Religion in einem eindrucksvollen Dialog, deren Schwer‐ punkt und Ausprägung immer auf dem Garten liegt. Zeitgenössische Gartenkunst in den Gartenkabinetten und Wasserwelten stehen mit den tradierten Gärten im Einklang und laden so zum Verweilen, Träumen, Staunen und Erholen ein (→ Abb. 11). Sie zeigen ein friedliches Miteinander und die Möglichkeit, auch auf kleinstem Raum alle kulturellen und sprachlichen Unterschiede zu überwinden. Das beste Beispiel hierfür sind die Besucherinnen und Besucher aus vielen Kulturkreisen dieser Welt, die sich lachend und freundlich auf ihren Wegen begegnen. Abb. 11: Gartenkabinett - Thailand Und so ist jeder Rundgang eine Reise durch die Welt, die sich mit dem Leben in seinen unterschiedlichsten Formen und Farben auseinandersetzt. 305 Gärten der Welt in Berlin Literaturhinweise Ohlsen, Nils (2007): Garten Eden. Die Gärten in der Kunst seit 1900. Dumont, Köln. Grün Berlin (o. J.): Gärten der Welt. Broschüre. Grün Berlin GmbH (2017): Gärten der Welt und Kienbergpark. L&H Verlag, Berlin. 306 Beate Reuber 1 Weitere Informationen über die Touristikwebseite Tripadvisor sind zu finden unter: tripadvisor.me diaroom.com/ de-about-us (letzter Zugriff: 30.10.2021). Gärten als Imagefaktor Das Beispiel der Herrenhäuser Gärten Ronald Clark 1 Gartentourismus in Großstädten - Gradmesser für ihr Image? Tripadvisor 1 dürfte einer der weltweit größten Touristikwebseiten mit hunderten Millionen Nutzerinnen und Nutzern sein. Sie sind für Reisende bei der Vor- und Nachbereitung von Urlauben mittlerweile zu einer wichtigen Entscheidungsgrundlage geworden. Anders als bei den Unterkunftsportalen werden bei Tripadvisor auch Se‐ henswürdigkeiten bewertet - sogar mit einer eigenen Kategorie ‚Natur und Parks‘. Bei der Durchsicht der bedeutenden Sehenswürdigkeiten einer Großstadt auf Tripadvisor fällt auf, dass bei den weltweit wichtigsten Reisemetropolen Parks oder Gärten immer unter den Top Ten sind, so in New York (Central Park Platz 3), Paris ( Jardin du Luxembourg Platz 6), Singapur (Gardens by the Bay Platz 1 plus drei weitere Gärten unter den Top Ten) oder Tokio (Shinjuku Gyoen National Garden Platz 2). In London schafft es keiner der berühmten Parks unter die ersten zehn, aber Hyde Park, St. James’s Park und Regent’s Park kommen auf die Plätze 11 bis 20. In den letzten fünf Jahren sind die Parks und Gärten allerdings gegenüber neuen baulichen Attraktionen etwas zurückgefallen. In Deutschland ist das Bild differenzierter. In zahlreichen Großstädten sind Parks und Gärten unter den ersten 10 Sehenswürdigkeiten: Bremen, Dortmund, Dresden, Essen, Frankfurt, Hamburg, Hannover, München, Stuttgart und Würzburg. Berlins und Düsseldorfs Gärten sind auf die Plätze 18 und 20 abgerutscht; in Leipzig, Rostock und 2 Auf folgender Seite können die Sehenswürdigkeiten in den einzelnen Städten abgefragt werden: www.tripadvisor.de (vgl. Tripadvisor o. J. b). Nürnberg liegen sie am unteren Ende der Bewertungsskala. Immerhin werden die Grünanlagen in den allermeisten Großstädten Deutschlands von Einheimischen sowie Touristinnen und Touristen besucht und bewertet. Nur noch in Hannover liegen die Herrenhäuser Gärten auf Platz 1. Der Englische Garten auf Platz 2 in München hat etwa 18.000 Bewertungen und ist unter den ersten zehn am häufigsten bewerteten Sehenswürdigkeiten in Deutschland zu finden. 2 Bei den öffentlich einzusehenden Bewertungen nach Sprache ist zu erkennen, dass der deutschsprachige Anteil oft zwischen 50 und 70 % liegt, der englische bis auf den Englischen Garten in München immer an zweiter Stelle. Bei fast allen Städten liegt der Anteil an Bewertungen von Reisenden aus dem Ausland bei über 30 %. Allein diese schlichte Internetrecherche gibt viele Hinweise auf die Bedeutung der Parks und Gärten für den Städtetourismus (→ Abb. 1). Demnach wird fast jede Touristin und jeder Tourist bei ihrem/ seinen Aufenthalt einen Park besucht haben und sei es, dass man sich nach Kultur und Shopping einfach mal entspannen wollte. Daher ist es unverständlich, dass so wenige Städte ihre grünen Schätze offensiv vermarkten. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Anteil an den Kommentaren Deutsch Englisch Spanisch Italienisch Französisch Chinesisch Russisch Herrenhäuser Gärten Englischer Garten Insel Mainau Gruga Sanssouci Wörlitz Planten un Blomen Westfalenpark Wilhelma Brandenburger Tor Kölner Dom zum Vergleich Abb. 1: Tripadvisor-Kommentare in deutschen Gärten, häufigste Sprachen Wie wichtig ist deutschen Großstädten die Gartenkunst? Auf deren Internetseiten wirft das Stichwort ‚Gartenkunst‘ sehr unterschiedliche Trefferquoten aus, unabhängig davon, ob die Ergebnisse wirklich etwas mit dem Inhalt zu tun haben. Im Vergleich zur Erhebung 2016, welche im nachfolgenden Teil in den Klammern repräsentiert wird, hat v. a. Berlin, das schon damals weit vorne lag, noch einmal kräftig zugelegt. Berlin hat 308 Ronald Clark 3 Internetrecherche auf den offiziellen Seiten der Städte, Abfrage September/ Oktober 2020. 1.870 (680) Treffer, gefolgt von Düsseldorf mit 59 (46) Treffern und Hannover mit 58 (156) Treffern. Weitere Ergebnisse lauten wie folgt: München 31 (23), Hamburg 30 (28), Leipzig 30 (21), Köln 8 (54), Frankfurt am Main 15 (10), Bremen 2 (40) und Dresden 1 (0). Schlusslicht dieser nicht repräsentativen Suche ist Stuttgart, wo es weder unter dem Stichwort ‚Gartenkunst‘ noch unter der Kombination ‚Gartenkunst und Tourismus‘ einen Treffer gab. Da sind selbst kleinere Städte wie Bayreuth mit 11 (36) Nennungen besser vertreten. 3 Bei der Suchanfrage ‚Garten/ Gärten‘ gab es Verschiebungen im Vergleich zur ‚Gartenkunst‘. Hier ist Hamburg an zweiter Stelle - Berlin liegt auch hier mit fast sechsmal so vielen Nennungen auf dem ersten Platz. Schlusslichter sind Dresden, Leipzig und Bremen (→ Abb. 2). 23.400 237 172 2.682 1.904 4.189 1.367 413 237 1.330 1.774 Abb. 2: Suche mit Stichwort ‚Garten/ Gärten‘ auf den Internetseiten der Städte Auch die Suche nach Hinweisen auf bekannte Gartenanlagen auf den städtischen Internetseiten zeigte eine sehr große Spannbreite. Führend ist hier der Schlosspark Charlottenburg in Berlin mit 8.810 Nennungen. Es folgen der Englische Garten in München (2.740), die Herrenhäuser Gärten in Hannover (1.462) und der Park Sanssouci in Potsdam (1.431). Weit weniger Treffer haben folgende Gartenanalagen: der Westfa‐ lenpark in Dortmund (880), der Rheinpark in Köln (248) und der Schlosspark Benrath 309 Gärten als Imagefaktor in Düsseldorf (209). Abgeschlagen mit nur 9 Treffern ist der Schlossgarten Pillnitz in Dresden (→ Abb. 3). 8.810 123 880 9 209 1.462 248 2.740 1.431 218 Abb. 3: Suche mit Stichwort einzelner Anlagen auf den Internetseiten der Städte Teilweise sind die Kommunen nicht Eigentümerinnen und Eigentümer der Anlagen, aber für Internetznutzerinnen und -nutzer sowie Gäste der Gärten macht es keinen Unterschied, wem die Gärten gehören. Häufig haben die Ergebnisse nichts mit den eigentlichen Gärten zu tun, sondern sind Firmen, Einrichtungen und Artikel, die sich mit dem Namen oder der Nähe zu dem Objekt schmücken - insofern auch ein Hinweis auf die ökonomische Bedeutung der Anlagen weit über ihre eigentliche Fläche. Ob die Intensität der Internetnennungen auch mit der touristischen Relevanz der Parks und Gärten für die Städte korreliert, müsste in einer wissenschaftlichen Arbeit gesondert untersucht werden. Eine Internetrecherche über die Bedeutung von Parks und Gärten im Städtetourismus war bis auf eine Masterarbeit (vgl. Wilczek 2014), die als Schwerpunkt Düsseldorf hatte, erfolglos. 2 Höher, schneller, weiter Auch wenn es vielen nicht gefallen mag, die Wahrnehmung von Gärten und Parks hat nicht in erster Linie etwas mit ihrer kunsthistorischen Bedeutung oder der gartenkünstlerischen Qualität zu tun, sondern mit ihrer Vermarktung und Präsenz in den Medien. Dabei sollten die Gartenverwaltungen v. a. auf redaktionelle Berichte in Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen setzen, denn für Anzeigen dürften die Werbe-Etats in der Regel zu gering sein. 310 Ronald Clark Wer sind denn die zehn beliebtesten oder schönsten Gärten Deutschlands? Bei Geo-Reisen sind es Schlosspark Schwetzingen, Park der Gärten Bad Zwischenahn, Gartenreich Dessau-Wörlitz, Schau- und Sichtungsgarten Hermannshof, Landschafts‐ park Duisburg-Nord, Loki-Schmidt-Garten in Hamburg, Insel Mainau, Arboretum Ellerhoop-Thiensen, Palmengarten in Frankfurt am Main, Herrenhäuser Gärten (Berg‐ garten) Hannover (vgl. Merten o. J.). Der Varta-Freizeit-Guide hat eine ganz andere Zusammenstellung von den schöns‐ ten Gärten und Parks in Deutschland. Mit dabei sind der Englische Garten in München, der Palmengarten, die Blumeninsel Mainau, Planten un Blomen, die Herrenhäuser Gärten, der Japanischer Garten in Leverkusen, das Gartenreich in Dessau-Wörlitz, der Schlosspark Sanssouci, der Luisenpark in Mannheim, der Schlosspark Schwetzingen, der Fürst-Pückler-Park in Bad Muskau, der Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel, der Barockgarten Großsedlitz und der Höhenpark Killesberg in Stuttgart (vgl. Varta o. J.) Eine abweichende Auswahl der ‚sieben schönsten Gartenlandschaften‘ hat Focus Online im Mai 2017 veröffentlicht. Hier sind u. a. der Nepal Himalaya Park bei Regensburg, das Blühende Barock Ludwigsburg, die Mathildenhöhe Darmstadt, der Garten Adenauer in Bonn, der Landschaftspark Duisburg-Nord, der Fürst-Pückler-Park Bad Muskau und der Wörlitzer Park aufgeführt (vgl. FOCUS online 2017). Die Abfrage ‚zehn schönsten Gärten in Deutschland‘ bei Tripadvisor ergab im September 2020 folgende Reihenfolge: Herrenhäuser Gärten Hannover, Gärten der Welt Berlin, Großer Garten Dresden, Botanischer Garten Augsburg, Britzer Garten Berlin, Botanischer Garten Bochum, Botanischer Garten München-Nymphenburg, Japanischer Garten Leverkusen, Deutsch-Französischer Garten Saarbrücken und zu‐ letzt Botanischer Garten Berlin-Dahlem. Die Ergebnisse dieser Abfrage haben einen Schwerpunkt auf Botanische Gärten, von denen auf den nächsten Plätzen noch einige weitere folgen. Doch gerade bei Tripadvisor sind die Kriterien der Vergabe noch schwieriger zu durchschauen als bei den Zeitschriften. Zumal auf Platz 13 der schönsten Gärten das Café Königin43 in München auftaucht, später gefolgt von Apartmentwohnungen mit Garten. Werbeanzeigen sind auf diesem Portal leider häufig versteckt, an dieser Stelle aber ziemlich offensichtlich (vgl. Tripadvisor o. J. c) Die Recherche zu den Klicks, Likes und Links zu den großen historischen Garten‐ anlagen zeigt, wie unterschiedlich Gärten im Internet wahrgenommen werden. Leider sind die Kriterien der Rankings in der Regel nicht angegeben, wodurch sie nicht aussagekräftig sind. Aber sicherlich tragen sie neben Printmedien, Fernsehen und Radio stark zur Imagebildung bei. Auf YouTube sind die Aufrufe aber ziemlich gering im Vergleich zu Katzenvideos, die mehrere Millionen Klicks bekommen. Die ersten 13 vorgeschlagenen Videos zum Schlossgarten Sanssouci kommen zusammen gerade mal auf 150.000 Aufrufe, bei den Herrenhäuser Gärten ist die Zahl in etwa gleich. Davon sind fast 100.000 Aufrufe einem längeren NDR-Bericht zuzuschreiben. Insgesamt ist man in Hannover mit dem Ranking im Internet sehr zufrieden. Fast überall kommen die Herrenhäuser Gärten unter die ersten fünf Plätze. Als einzige 311 Gärten als Imagefaktor 4 Die „Repräsentativerhebung 2019“ der Landeshauptstadt Hannover steht auf folgender Internet‐ seite zum Herunterladen zur Verfügung: www.hannover.de/ Leben-in-der-Region-Hannover/ Verwaltungen-Kommunen/ Die-Verwaltungder-Landeshauptstadt-Hannover/ Dezernate-und-Fachbereiche-der-LHH/ Baudezernat/ Fachberei ch-Planen-und-Stadtentwicklung/ Stadtentwicklung/ Repräsentativerhebungen (letzter Zugriff: 13.01.2021). Gartenanlage Deutschlands landen sie bei den beliebtesten Sehenswürdigkeiten auf Platz 1. 3 Hannover - Großstadt im Grünen Schon vor dem Ersten Weltkrieg erfand der damalige Verkehrsverein den Slogan „Großstadt im Grünen“. Zu diesem Zeitpunkt war Hannover als zweitgrößte Garni‐ sonstadt Preußens geprägt von Beamtentum und Militär. Im damaligen Stadtgebiet lagen zentrumsnah die Herrenhäuser Gärten, der Stadtwald Eilenriede und eine Reihe kleinerer Parks und zahlreiche Straßenbäume. Der Slogan „Großstadt im Grünen“ hielt sich bis in die 1980er-Jahre und wird auch heute noch oft benutzt - gerne in der Verbindung mit der Aussage, dass die Eilenriede der größte Stadtwald Deutschlands oder gar Europas sei, was in dieser Form nicht stimmt. Die Aussage, dass der Wald bis in das Zentrum heranreicht und von der Stadt vollständig umschlossen ist, ist jedoch eine Erwähnung wert, da größere Wälder in anderen Städten zumeist in der Peripherie liegen. Aber das Beispiel zeigt ganz gut das Verhältnis der Hannoveranerinnen und Hannoveraner zu ihrer Stadt, die immer zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn schwingt. Aber sie sind stolz auf das Grün in der Stadt, was diverse Umfragen immer wieder zeigen. Laut der „Repräsentativerhebung 2019“ der Landes‐ hauptstadt Hannover 4 leben 90 % aller Einwohnerinnen und Einwohner gern oder sehr gern in Hannover, von denen 79 % mit dem Angebot und der Qualität der Parks und Grünflächen sehr zufrieden bzw. zufrieden waren - nur leicht übertroffen von den öffentlichen Verkehrsmitteln und der medizinischen Versorgung. Bei den besuchten Einrichtungen und Veranstaltungsorten sind die Herrenhäuser Gärten mit 65 % an erster Stelle weit vor dem Maschseefest (56 %) und Zoo (46 %). Noch 2005 waren die Gärten mit 43 % hinter dem Zoo (52 %) und Maschseefest (51 %) auf dem dritten Platz, holten bei der folgenden Erhebung 2008 auf und belegen seit 2011 den Spitzenplatz. 4 Das Beispiel Herrenhäuser Gärten „Nur mit den Gärten können wir prunken“ (Geerds 1913, S. 124) schrieb Kurfürstin Sophie, die maßgebliche Schöpferin des Großen Gartens kurz vor ihrem Tod 1714. Die Sommerresidenz der Welfen hatte sich seit den frühen 1690er-Jahren zu einem Musen‐ ort entwickelt mit einem verschwenderischen Heckentheater mit vergoldeten Figuren, 312 Ronald Clark einer prächtig dekorierten Galerie und einem Garten, der mit 50 ha Grundfläche so groß war wie das gesamte mittelalterliche Hannover. Die Stadt war vergleichsweise klein, eng bebaut und das Residenzschloss an der Leine lag eingeschlossen von Stadtmauer, Leine und kleineren Palais. In Sichtweite des Gebäudes standen auf einer Leineinsel dicht gedrängt alte Fachwerkbauten, darunter die Pferdetränke und ein Waschplatz - nicht gerade der Ort, um sich als neues Kurfürstentum zu präsentieren. Aber immerhin konnte das 1689 eingeweihte Opernhaus neben dem Leineschloss mit Superlativen glänzen, denn es war mit 1.200 Plätzen das größte Opernhaus nördlich der Alpen. Der kurfürstliche Karneval zog Gäste aus ganz Norddeutschland und Skandinavien an, die nun nicht mehr die beschwerliche Reise nach Venedig machen mussten. Im späten Frühjahr zog nun der Hof in das nur drei Kilometer entfernte Herrenhausen und hielt sich hier bis in den September auf, um dann in die Jagdschlösser zu wechseln. Der Große Garten war Schauplatz von Konzerten, Opernaufführungen, sommerlichen Maskenbällen und Politik fernab vom strengen Protokoll im Leineschloss. Zahlreiche Könige von Friedrich von Preußen bis Zar Peter dem Großen wurden hier empfangen. Auch die Personalunion ab 1714 zwischen Großbritannien und Hannover, bei der beide unabhängige Staaten von den Welfen regiert wurden, tat in den ersten Jahrzehnten der Bedeutung Herrenhausens keinen Abbruch. Georg I. (1660-1727) und Georg II. (1683-1760) besuchten bis in die 1750er-Jahre Hannover regelmäßig im Sommer und ließen Schloss und Garten wieder im festlichen Licht erstrahlen. Georg III (1738-1820) besuchte Hannover in seiner 60-jährigen Regierungszeit von 1760 bis 1820 nie, sorgte damit aber ungewollt für den Erhalt der barocken Anlage, denn es gab keinen Grund, sie in einen Landschaftsgarten umzuwandeln. Im 19. Jahrhundert wurde er ein sehr frühes Beispiel für Gartendenkmalpflege, „da das Streben der Königl. Gartendirectionen stets darauf gerichtet gewesen ist, diesen Garten, als ein ehrwürdiges Zeugnis einer alten, längst vergangenen Zeit, gleichsam als ein redendes Denkmal von der Anschauungsweise und den Sitten unserer Vorfahren, soviel als möglich in dem Zustande zu erhalten, in welchen er vor anderthalbhundert oder zweihundert Jahren die Herzen und Sitten der Besucher erfreute.“ (Wendland 1852, S. 11) In den folgenden Jahrhunderten wurden die Herrenhäuser Gärten, obwohl die Stadt Hannover sie erst im Jahr 1936 kaufte, als eines der Wahrzeichen der Stadt hervorge‐ hoben. Sie waren und sind Bestandteil des ‚grünen‘ Bewusstseins der Stadt. Auch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Gartenqualitäten Hannovers und allen voran die der Herrenhäuser Gärten gelobt: „In Hannover, der ‚Stadt im Grünen‘, gebührt den Herrenhäuser Gartenschöpfungen die Krone“ (Westphal vor 1956, S. 5). Einen kurzen, aber sehr medienwirksamen Auftritt hatte der Große Garten 1965, als Königin Elisabeth II. von Großbritannien ihn bei einer Stippvisite besuchte. Die Fernsehbilder von der Königin im Garten hatten bei vielen Menschen eine nachhaltige Wirkung, denn man wurde bei Führungen noch 30 Jahre danach regelmäßig darauf angesprochen. 313 Gärten als Imagefaktor 5 Erhebungen der Herrenhäuser Gärten und mündliche Auskunft der VolkswagenStiftung, unveröf‐ fentlicht. 6 Marketing für die Herrenhäuser Gärten, unveröffentlichte Marketingstudie der NORD/ LB Regional‐ wirtschaft, Hannover 2004, S. 107. 7 Monatliche Gästebefragungen der Herrenhäuser Gärten, unveröffentlicht. Ähnlich erging es Hannover und v. a. dem Großen Garten als Bundeskanzlerin Angela Merkel den US-Präsident Barack Obama im April 2016 zu einer Pressekonferenz in die Orangerie einlud und sie im Garten gemeinsam die Ehrengarde abschritten. Die tagelang ausgestrahlten Bilder des Aufenthaltes in Herrenhausen inklusive eines spontanen zweiten Treffens der beiden im Schloss mit den Staatschefs von Frankreich, Großbritannien und Italien waren für die Herrenhäuser Gärten eine Art Dauerwerbe‐ sendung, die weltweit über die Bildschirme lief. Für die Bekanntheit und das Image war es unbezahlbare Werbung. 5 Die Gärten als touristische Destination Die Einwohnerinnen und Einwohner Hannovers lieben ihre Herrenhäuser Gärten und sind besonders stolz auf den Großen Garten. Neben den diversen Veranstaltungen ist er eine Art ‚Gute Stube‘, die bei besonderen Anlässen und insbesondere bei auswärtigem Besuch gern und mit Stolz gezeigt wird. Und sie freuen sich besonders, wenn die Gäste sich verwundert zeigen, dass es so etwas Schönes in dieser Stadt gibt. In den letzten 20 Jahren (2001: 230.000 Besuche) wurden die Besuchszahlen konti‐ nuierlich gesteigert und stagnieren seit einigen Jahren um die 600.000 für den Großen Garten und den Berggarten zusammen. Hinzu kommen bei diversen Veranstaltungen und Vermietungen noch etwa 220.000 Gäste. Allein 65.000 Personen besuchen das Kleinkunstvergnügen Kleines Fest im Großen Garten, das sich jährlich über drei Juliwochenenden erstreckt. Es ist immer frühzeitig ausverkauft, hat aber größtenteils regionale Gäste. Der Internationale Feuerwerkswettbewerb kommt auf circa 55.000 Menschen an fünf Samstagen von Mai bis September. Hier ist der Anteil an überregio‐ nalen Besucherinnen und Besuchern schon größer - international ist es aber nicht relevant. Nur die Gäste der Tagungen und Kongresse der VolkswagenStiftung, die an 100 Tagen das Tagungszentrum im Schloss benutzt, hat ein internationales Publikum. 5 In einer von der Stadt Hannover beauftragten Marketingstudie der Norddeutschen Landesbank (NORD/ LB) von 2004 lag der Anteil der ausländischen Gäste im Großen Garten bei 2,3 %. Allerdings wurde eingeräumt, dass er wohl etwas höher wäre, da die Umfrage nur auf Deutsch erfolgte. 6 In den letzten 15 Jahren (zwischen 2005 und 2020) konnten die Zahlen massiv gesteigert werden. Von Mai bis Oktober sind im Durchschnitt etwa 16 % der Gäste aus dem Ausland, knapp 30 % aus Deutschland, ausgeschlossen Niedersachen. Von den 55 % aus Niedersachsen kommen etwa 40 % aus der Region Hannover. Im Berggarten sind die ausländischen Gäste nur mit 6 bis 8 % vertreten, was darauf schließen lässt, dass er touristisch noch nicht gut wahrgenommen wird. 7 314 Ronald Clark 8 Monatliche Gästebefragungen der Herrenhäuser Gärten, unveröffentlicht. Die Herkunftsländer unter den Top Ten sind relativ stabil. In den Jahren 2018 und 2019 führte China das Ranking an - in den Jahren davor Großbritannien. In den letzten fünf Jahren waren China, USA, Japan, Russland, Niederlande, Polen, Großbritannien und Frankreich immer dabei. Außerhalb Niedersachsens hat Nordrhein-Westfalen die Jahre über den stärksten Gästeanteil. 8 Da der Fachbereich Herrenhäuser Gärten ein nur geringes Marketingbudget hat, ist er neben der Mundpropaganda, journalistischen Artikeln und Sendungen sowie Mediaplattformen auf die Maßnahmen der Hannover Marketing Gesellschaft (HMTG) angewiesen, die auch den Internationalen Feuerwerkswettbewerb durchführt. Dabei gibt es ein immerwährendes Ringen darum, was vermarktet werden soll. Aus Sicht der HMTG sind es die Veranstaltungen, da man den Besuch gut terminieren und mit touristischen Paketen anbieten kann. Aus Sicht der Gartenverwaltung soll es aber nicht in erster Linie um ‚Peng! ‘ gehen, sondern um den normalen Gartenbesuch mit Entspannung und Genuss der Schönheit der Anlagen. Leider verstehen auch viele Hannoveranerinnen und Hannoveraner nicht, dass die Gartenverwalter von den großen Veranstaltungen nicht nur begeistert sind. „Ich kenne die Herrenhäuser Gärten, ich war schon mehrmals beim Klei‐ nen Fest“, bekommt die Gartenverwaltung oft zu hören. Aber bei einer Dauerbeschallung von 35 Bühnen gemeinsam mit 3.600 Personen, die von einer Attraktion zur anderen hasten, bleibt für das Erlebnis ‚Garten‘ keine Zeit und Muße. Da sich aber die Gästezahlen bei leicht ansteigenden Zahlen der Veranstaltungen in den letzten 20 Jahren fast verdreifacht haben, haben die Anstrengungen der Gartenverwaltung wohl gewirkt. Gut erkennbar auf der gemeinsamen Internetseite von Stadt und Region, Hannover.de, die nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik ist, sind die Herrenhäuser Gärten immer auf der Home-Seite unter den Rubriken ‚Park und Veranstaltungsort‘ und ‚Attraktionen‘ aufgeführt (→ Abb. 4). 6 Herrenhausen in der Pandemie Auch der Große Garten und der Berggarten hatten Mitte März ihre Tore geschlossen, nicht weil sie mussten, sondern da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Angst vor den Gästen und der möglichen Ansteckungsgefahr hatten. Am 23. April 2020 war die Wiedereröffnung auch des Berggartens, obwohl eigentlich botanische Gärten nach der zu dem Zeitpunkt aktuellen niedersächsischen Coronaverordnung nicht öffnen durften. Da aber ‚botanischer Garten‘ kein feststehender rechtlicher Begriff ist und der Berggarten laut Flächennutzungsplan als ‚Allgemeine Grünfläche‘ ausgewiesen ist, wurde er mit einer maximalen Besucherzahl von 1.000 Personen geöffnet. Eine von der Gartenverwaltung selbst festgelegte Zahl, ebenso wie die 2.000 Personen im Großen Garten. Es gab weder Widerspruch seitens des Landes noch des Gesundheitsamtes, obwohl über die Öffnung ausführlich in den lokalen Medien berichtet wurde. 315 Gärten als Imagefaktor Abb. 4: Screenshot der Startseite von www.hannover.de 67.137 71.335 58.486 75.646 51.718 39.247 54.074 48.880 70.068 67.212 57.120 43.970 Mai Juni Juli August September Oktober 2019 2020 Abb. 5: Besuche Herrenhäuser Gärten, Vergleich Mai bis Oktober 2019 und 2020 316 Ronald Clark 9 Monatliche Gästebefragungen der Herrenhäuser Gärten, unveröffentlicht. Im Mai war der Besuch noch zögerlich, doch er steigerte sich in den Folgemonaten immer mehr. Im dritten Quartal 2020 waren sogar deutlich mehr Gäste im Großen Garten und Berggarten als 2019 (→ Abb. 5). Der Anteil aus der Region Hannover war im Vergleich zu den Vorjahren höher und Anfang Mai und Ende Oktober mit um die 50 % am höchsten. Vergleichsweise waren die Unterschiede zwischen den beiden Jahren nicht sehr groß. Bei den Anteilen der Region Hannover und dem übrigen Deutschland schwankten sie nur um die 10 %, das übrige Niedersachsen ohne die Region Hannover stieg dagegen um fast 40 %. Ausländische Gäste gab es erwartungsgemäß nur wenige, durchschnittlich waren es nur 3,8 % gegenüber 16,3 % im Vorjahr - ein Rückgang um fast Dreiviertel. Ihr Anteil stieg immerhin im August auf 7 %, ging aber durch die verstärkte Ausweisung von Risikogebieten Ende Oktober wieder auf 3 % zurück (→ Abb. 6 u. 7). Nicht verwunderlich kamen diese Gäste nicht mehr aus den USA, China oder Japan, in dieser Saison waren die Niederlande, Polen und Dänemark die Top Drei. Däninnen und Dänen kamen zum ersten Mal in größerer Anzahl, wohl weil die sonst angefahrenen Länder nicht erreichbar oder sicher waren. 9 48 38 47 42 44 38 42 43 43 50 24 25 23 20 23 20 22 21 12 16 27 35 28 34 27 35 30 31 40 32 1 2 2 4 6 7 7 5 5 3 Region Hannover Übriges Niedersachsen Übriges Deutschland Ausland Abb. 6: Herkunft der Gäste des Großer Gartens, Mai bis Oktober 2020, Angaben in Prozent 317 Gärten als Imagefaktor 40,0 15,1 28,3 16,3 43,6 20,7 31,9 3,8 Hannover-Region Übriges Niedersachsen Übriges Deutschland Ausland 2019 2020 Abb. 7: Herkunft der Gäste des Großer Gartens, Vergleich April bis Oktober 2019 bis 2020, Angaben in Prozent Interessant ist eine neue Besucherzusammensetzung. Die größtenteils älteren Busrei‐ senden sind sehr reduziert, aber viele jüngere Paare oder Kleingruppen und Familien auch mit etwas älteren Kindern sind nun regelmäßig zu sehen. Und gerade der Berggarten wird von vielen Hannoveranerinnen und Hannoveranern neu oder zum ersten Mal entdeckt; erstaunlich, dass so viele Menschen, die schon lange in Hannover wohnen, noch nie hier waren. Und fast alle waren darüber begeistert, was ihre Heimatstadt zu bieten hat. So ist die Anzahl der Jahreskarten im Jahr 2020 um fast 20 % gestiegen. Aber nicht nur bei den Gartenöffnungen waren die Herrenhäuser Gärten in Hanno‐ ver und Deutschland wegweisend. Schon am 15. Juni wurde im Gartentheater von der Niedersächsischen Staatsoper mit Le Vin herbé von Frank Martin das erste Oratorium in der Originalbesetzung nach dem Lockdown deutschlandweit und vielleicht sogar europaweit aufgeführt. Anfang April, als an Veranstaltungen noch gar nicht zu denken war, wurde die Oper eingeladen ein Open Air zu spielen, sobald es wieder erlaubt wurde. Es war ein Projekt, das auf das Prinzip Hoffnung baute, denn erst kurz vor der Premiere war klar, dass die Vorstellung überhaupt stattfinden darf. Die Aufführungen waren ein großer Erfolg, der sogar in der New York Times Erwähnung fand. Der Redakteur schwärmte vom „Baroque ‚Gartentheater‘ of the magnificent Herrenhäuser Gardens“ (Goldmann 2020). 318 Ronald Clark Im Anschluss an die Staatsoper gab es den ganzen Juli und August über bis in den September hinein Kleinkunst, Konzerte, Poetry-Slams, Lesungen, Diskussionen und Kino im Gartentheater - insgesamt fast 100 Vorstellungen mit jeweils bis zu 250 Perso‐ nen - unter strengen Hygieneregeln, aber mit großer Freude bei den Künstlerinnen und Künstlern und beim Publikum. Fast 500 Personen konnten im Berggarten Ende August Stockhausens Sternklang auf sechs Bühnen verfolgen. Ein Stück, das hier überhaupt erst zum weltweit zwölften Mal aufgeführt wurde. Hannover hatte wieder ein Stück Lebensfreude und seine Gärten entdeckt. Mithilfe von einfachen Baulüftern auf dem Dachboden der Orangerie, die mit langen Schläuchen die Luft aus dem Saal nach draußen leiten, konnte am 21. Juni 2020 das erste Indoor-Konzert in Niedersachsen durchgeführt werden, an dem Tag, als die Verordnung in Kraft trat. Im September folgten die aus dem Mai verschobenen KunstFestSpiele Herrenhausen mit zahlreichen Konzerten, Theater und Installationen. Imposant und von vielen tausend Menschen besucht, war die Laser-Installation der Großen Fontäne Fountain Scan von Robert Henke. Diese Installation und auch eine Laternenillumination mit Herbstliedern für Kinder vom Band statt des beliebten Laternenumzuges waren nicht als Veranstaltungen deklariert, sondern als abendliche Gartenöffnungen mit spezieller Musik oder Beleuchtung. Bei Veranstaltungen hätten maximal 500 Personen teilnehmen dürfen und das auch nur auf festen Sitzplätzen. So war der Große Garten für bis zu 2.000 Gäste gleichzeitig geöffnet. Herrenhausen dürfte im vergangenen Sommer und Frühherbst in Deutschland einer der wenige Orte gewesen sein, wo man Kulturstress bekommen konnte. Die Erfolge der Öffnungen und der Veranstaltungen wurden regelmäßig von den lokalen Medien aufgegriffen, aber auch weit darüber hinaus. Diese Berichte waren für die Gärten insofern wichtig, als parallel der Doppelhaushalt 2021/ 22 beraten und festgelegt wurde. Die Haushaltsverhandlungen wurden durch die coronabedingten massiven Einnahmeverluste der Stadt, v. a. bei der Gewerbesteuer, und die hohen zu‐ sätzlichen Ausgaben für alle Fachbereiche der Stadt äußerst schwierig. Daher konnten die Herrenhäuser Gärten auf die großen Erfolge im Sommerhalbjahr hinweisen und blieben von größeren Kürzungen verschont. In gewisser Weise haben sich die Gärten selbst als systemrelevant erklärt. 7 Netze spinnen und auswerfen Die Herrenhäuser Gärten sind in zahlreichen Garten-Netzwerken engagiert, wie der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e. V. (DGGL), dem Verein Schlösser und Gärten Deutschlands e. V. (VSGD) und der Gartenregion Hannover. Dabei sind sie in so unterschiedlichen Aktionen aktiv wie „Gärten und Klimawandel“ oder „Rendezvous im Garten“ und dadurch in vielen Artikeln und Fernsehsendungen regional bis national präsent. Aber auch international werden die Maßnahmen und Erfolge regelmäßig publiziert, v. a. auf der Internetseite der European Route of Historic Gardens (ERHG), einem 319 Gärten als Imagefaktor 10 Für detailliertere Informationen siehe: www.coe.int/ en/ web/ cultural-routes/ -/ european-route-of-hi storic-gardens-certified-cultural-route-of-the-council-of-europe- und europeanhistoricgardens.eu/ e n/ (letzter Zugriff: 13.01.2021). Netzwerk von bedeutenden historischen Gärten mit Schwerpunkten in Portugal, Spanien und Italien, aber auch in Georgien und Polen. Die Herrenhäuser Gärten sind bislang die einzige historische Anlage in Deutschland, die Mitglied im ERHG ist. Die European Routes - in Deutschland: Kulturrouten des Europarats - sind reale oder virtuelle Verbindungen zwischen Orten und Stätten, die vom Europarat als Kulturroute zertifiziert wurden. Beispiele sind der Jakobsweg oder die Routen der Reformation. Diese transnationalen Wege sollen das gemeinsame kulturelle Erbe Europas aufzeigen und nachhaltigen Tourismus fördern. Ende Oktober 2020 wurde die neue Kulturroute Historische Gärten offiziell vom Europarat genehmigt. 10 Die Herrenhäuser Gärten erhoffen sich dadurch einen Imagegewinn, wenn sie in einer Linie mit den führenden Gärten Europas, darunter viele UNESCO-Weltkulturerbestätten, genannt werden. Eine Verlinkung der Herrenhäuser Gärten auf unterschiedlichen europäischen Garten- und Kulturseiten erfolgte schon im November - ein großer Erfolg, der die nicht geringe Jahresgebühr des ERGH von 1.500 Euro wettmacht. So wurden die Gärten in der Reisebeilage von El Mundo, der zweitgrößten Tageszeitung Spaniens, als einer der zehn schönsten historischen Gärten Europas aufgeführt (vgl. Mora 2020). Schon die Auszeichnung als Bester Garten Europas 2015 von dem zweiten bedeu‐ tenden Gartennetzwerk Europas, dem European Garden Heritage Network (EGHN), wurde national und international positiv wahrgenommen. Dieser Preis in der Kategorie ‚Beste Weiterentwicklung eines historischen Parks oder Gartens‘ wurde in den zehn Jahren seiner Verleihung nur an einen deutschen Garten vergeben (vgl. EGHN 2015). Durch die Mitarbeit in den zahlreichen Organisationen mit Vorträgen im In- und Ausland konnten sich die Herrenhäuser Gärten in den letzten 15 Jahren touristisch, aber auch in der Fachwelt einen guten Namen machen - letztlich auch ein wichtiger Imagefaktor für die Stadt Hannover. Doch die Vernetzung innerhalb einer großen Stadtverwaltung oder einem Ministerium ist noch wichtiger für die dauerhafte Finan‐ zierung einer großen Gartenanlage. Denn das Aufstellen von Haushaltsplänen wird nicht umsonst mit dem Feilschen auf einem Basar verglichen. Es ist ein Geben und Nehmen: die Gegenüber in Kämmerei und Personalverwaltung, aber auch in allen anderen Fachbereichen/ Ämtern/ Ministerien müssen sich ernst genommen fühlen. Sehr kostspielig ist eine fachliche Überheblichkeit gegenüber Verwaltungen, was sich sehr schnell rächen wird. Beamtinnen und Beamte und Angestellte können sehr kreativ sein, wenn man sie auffordert, eine gemeinsame Lösung zu suchen, aber können gleichzeitig alles verhindern mit dem Hinweis auf eng ausgelegte Dienstanweisungen. Die ganze Diskussion um den Imagefaktor eines Gartens ist überflüssig, wenn die Finanzen nicht stimmen. 320 Ronald Clark 8 Imagefaktor als Überlebensversicherung Nur wenige Großstädte werden so über einen Garten als Imagefaktor definiert wie Hannover. Damit steigern die Herrenhäuser Gärten nicht nur immateriell das Ansehen der Stadt. Obwohl sie einen Zuschussbedarf von über 10 Millionen Euro haben, rechnen sie sich volkswirtschaftlich durch Übernachtungen, Restaurantbesuche und Einkäufe in der Stadt. Auch bei der Ansiedlung neuer Firmen oder Anwerbung von interessanten Fachkräften kann ein Besuch der Gärten einen Beitrag leisten. Einige Firmen haben das bereits erkannt und bieten exklusive Besuche an. Nach innen ist das gute Image Herrenhausens für die Pflege und Entwicklung existentiell bedeutend. In den letzten 15 Jahren wurde der Zuschussbedarf verdoppelt, das Personal aufgestockt, aber auch die Besuchszahl fast verdreifacht. Das ist nur möglich geworden, da die Gärten permanent öffentlich präsent sind. Dabei müssen v. a. die lokalen Medien bedient werden, denn die meisten Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Verwaltung und Politik informieren sich noch über die althergebrachten Lokalzeitungen, was insbesondere bei kommunalen Gärten überle‐ benswichtig ist. Wenn es regelmäßig negative Berichterstattungen gibt, werden schon bald Rufe nach Kürzungen laut. Daher ist es gerade für eine Gartenleitung wichtig, persönlich im Fokus zu stehen. Immer gesprächsfähig zu sein, auch bei allgemeinen Gartenthemen: Egal ob Maulwürfe im Frühjahr, zu trockene oder zu nasse Sommer, Buchsbaumzünsler, Baumschäden oder die Wasserqualität in den Brunnen - nur mit einem persönlichen Zitat der Gartendirektorin oder des Gartendirektors wird ausführ‐ licher berichtet. Die sonst üblichen Pressemeldungen der städtischen Pressestelle mit Zitaten einer Pressesprecherin bzw. eines Pressesprechers werden in der Regel von den Redaktionen nicht so sehr beachtet. Abbildungen mit Personen gibt es ausschließlich mit den handelnden Personen aus den Gärten oder, bei besonderen Anlässen, mit der Dezernentin oder dem Oberbürgermeister. Das alte Prinzip „Tue Gutes und lasse (regelmäßig) andere darüber berichten“ erzeugt eine positive Grundhaltung bei den Medien. Und wenn mal irgendetwas schlecht gelaufen ist, sollte man dazu auch klar stehen und Besserung geloben. Und wenn es nicht mehr zu verheimlichen ist, dann sollte man aktiv auf den Fehler hinweisen. Das macht erfahrungsgemäß viel Eindruck bei den Redaktionen, sie wittern keine Geheimnisse und Skandale und geben sich meistens mit den Erklärungen zufrieden. Das sind persönliche Erfahrungen des Verfassers dieses Beitrags aus seiner über 30-jährige Erfahrung in Führungspositionen in Gartenverwaltungen. Am Image muss man immer arbeiten, in erster Linie natürlich durch die Qualität der Pflege und Ent‐ wicklung der Anlage. Aber ohne entsprechendes Marketing merkt es leider niemand. Personal und Sachmittel erhält man nur dauerhaft, wenn das Ansehen lokal, national und international stimmt. Somit sind die Herrenhäuser Gärten der Verwaltungsspitze, aber auch den politischen Gremien lieb - und teuer. Aber sie haben es sich verdient! 321 Gärten als Imagefaktor Literaturhinweise Europäisches Gartennetzwerk (EGHN) (2015): Europäischer Gartenpreis 2015. European Garden Award 2015. Online: wp.eghn.org/ de/ europaeischer-gartenpreis/ egp-2015/ , letzter Zugriff: 20.12.2020. FOCUS online (2017): Die schönsten Gartenreisen. Deutschlands grüne Paradiese: Diese 7 Parklandschaften sind jeden Umweg wert. Online: www.focus.de/ reisen/ deutschlan d/ gaerten-in-deutschland-erholung-pur_id_6916318.html, letzter Zugriff: 20.12.2020. Geerds, R. (1913): Memoiren und Briefe der Kurfürstin Sophie v. Hannover. Die Mutter der Könige von Preußen und England. Wilhelm Langewiesche-Brandt, Leipzig. Goldmann, A. J. (2020): Wagner in the Parking Lot as Opera Returns to Germany. On‐ line: www.nytimes.com/ 2020/ 07/ 15/ arts/ music/ opera-germany-virus.html? searchRes ultPosition=1, letzter Zugriff: 20.12.2020. Merten, T. (o. J.): Top Ten. Die zehn schönsten Gärten Deutschlands. Online: www.geo.de/ reisen/ top-ten/ 18689-bstr-die-zehn-schoensten-gaerten-deutschlands, letzter Zugriff: 20.12.2020. Mora, L. (2020): Los diez jardines históricos más bonitos de Europa. Online: www.elmund o.es/ album/ viajes/ europa/ 2020/ 11/ 15/ 5fa54128fdddff6d558b4688.html, letzter Zugriff: 20.12.2020. Tripadvisor (o. J. a): Über Triadvisor. Online: tripadvisor.mediaroom.com/ de-about-us, letzter Zugriff: 20.12.2020. Tripadvisor (o. J. b): Startseite. Online: www.tripadvisor.de, letzter Zugriff: 17.05.2021. Tripadvisor (o. J. c): 10 schönste Gärten. 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Über Probleme wie Overtourism lässt sich nicht hinwegsehen, auch die Absage der Inter‐ nationalen Tourismus-Börse (ITB) Berlin 2020 wegen der Coronainfektionen hatte Signalwirkung. In einer Krise entstehen aber auch neue Möglichkeiten, weil in der Schieflage überhaupt erst die Strukturen und grundlegende Zusammenhänge sichtbar werden. So eröffnen sich nun möglicherweise auch für den Tourismus neue Wege. Zwar verzeichnen viele Statistiken einen steten Anstieg touristischer Aktivitäten, weltweit und auch in Bezug auf Deutschland, aber das ‚Postulat einer nachhaltigen Lebensweise‘ setzt sich offenbar in der Mitte der Gesellschaft immer mehr durch. Und dies, obwohl nur wenige tatsächlich einen ökologisch und sozial verträglichen Lebensstil praktizieren. Für den Tourismus gilt dies besonders: Ideen, Utopien gar, wie denn ein ‚guter‘ Tourismus aussehen könnte, gab es nie so recht, und schon die Brüder Grimm stellten fest, dass es sich bei Tourismus vornehmlich um ein Vergnügen handle. 1 Vergnüglich sind die Erlebnisse heutiger Touristinnen und Touristen angesichts eng getakteter und übervoller Destinationen wohl eher selten. Und noch mehr Perfektion in der professionellen Planung, Organisation und Durchführung der Reisen intensiviert auch nicht unbedingt das touristische Erleben des Gastes. Dass Angebote der Sharing Economy hingegen so stark nachgefragt werden 2 , lässt den Schluss zu, dass authenti‐ 3 Siehe hierzu Gervers 2018, am Beispiel von Couchsurfing.org. 4 Zum Beispiel Campinmygarden.com, seit 2020 Teil von Campspace.com, und verschiedene kosten‐ lose Urlaubsangebote via Haustausch. 5 Pausen als Teil einer organisierten Reise haben nach Iso-Ahola (1983) den entscheidenden Vorteil, dass sie das Reiseerlebnis intensivieren und die Reise auch länger erscheinen lassen; sie sind demnach ein wichtiger Bestandteil eines ‚dialektischen‘ Optimierungsprozesses: des von ihm herausgearbei‐ teten Wechselspiels zwischen dem Bedürfnis, Neues zu erleben und sich gleichzeitig sicher zu fühlen - vertraute Dinge, Orte und Menschen spielen insofern beim Reisen eine wichtige Rolle. Seither wurde hierzu nichts Vergleichbares geschrieben, daher stellt dieser Aufsatz nach fast 40 Jahren noch ein ‚Muss‘ dar. 6 So im Kern auch Kienast, D. (2002): Die Poetik des Gartens. Über Chaos und Ordnung in der Landschaftsarchitektur. Birkhäuser, Basel/ Berlin/ Boston, S. 76, zitiert nach: Ohlsen 2009, S. 43; Weilacher 2010, S. 238. sches Erleben, persönliche Begegnungen und der Charme nicht ganz so professionel‐ ler, manchmal auch improvisierter Gastfreundschaft einen eigenen Reiz und mehr Vergnügen darstellen. Gleichzeitig entstehen hier auch neue Wertegemeinschaften. 3 So existieren mittlerweile eine Vielzahl neuer, digitaler Gastfreundschaftsnetzwerke, von denen einige auch Gärten miteinbeziehen. 4 Gärten stellen im System Tourismus ganz besondere Orte dar: Sie sind nicht nur als mögliche Attraktionspunkte wertvoll, sondern sie strukturieren auch die Reise, ermöglichen Pausen 5 , Entspannung, Naturerleben, positive Sinnesreize, auch Austausch mit Mitreisenden und Gastgebenden. Gärten symbolisieren Kultur, viel Arbeit und Wissen und sind an sich schon purer Luxus, denn sie benötigen Zeit und Raum sowie Zuwendung. 6 Dadurch spiegeln sie genau das, was viele vermissen und worum Verteilungskämpfe entbrennen. Interessanterweise zeigen Gärten aber auch ganz unterschiedliche Strukturen, sozusagen kulturelle Leitmotive: von der Abgrenzung, Einhegung über die vorsichtige Öffnung und Einladung an den Gast bis hin zur offenen Situation aktiver Mitgestaltung. Diese Bandbreite kultureller Verhaltensweisen kennzeichnet auch die überaus ambi‐ valente Gast-Gastgeber-Beziehung im Tourismus. Ausgehend von diesen interessanten Überschneidungen wäre im Anschluss zu fragen, welche besondere Rolle Gärten künftig im Tourismus spielen könnten, in einem erneuerten, ökologisch und sozial verträglichen Tourismus. Könnten neue Wege im Tourismus entdeckt werden, Wege aus der Krise mit gesellschaftlichem Mehrwert? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, werden in zwei Abschnitten jeweils separat die kulturellen Leitmotive ‚Einhegung‘ sowie ‚Einladung‘ und ‚Mitgestaltung‘ zunächst an einigen Beispielen von Gärten im jeweiligen historisch-politischem Kontext herausgearbeitet und dann in Beziehung gesetzt zu relevanten Aspekten für einen erneuerten, ökologisch und sozial verträglichen Tourismus. Um als echte Alternative attraktiv zu sein, müsste ein nachhaltiger Tourismus auch tatsächlich Gastgeberinnen bzw. Gastgeber und Gäste emotional begeistern, authentische Erlebnisse ermöglichen, Spaß, und nicht etwa Arbeit und Verzicht propagieren. Eine ‚Einladung zur Diskussion‘ benennt am Ende aus Sicht der Verfasserin wichtige Forschungsfelder. 324 Susanne Gervers 2 Einhegung - Entdeckung der Kultur Einhegen umfasst ein weites Bedeutungsspektrum: einzäunen, absichern, eine Grenze definieren, nicht als Selbstzweck, sondern um das Innere in den Fokus zu nehmen, etwas pflegen und wachsen lassen, Nützliches, aber auch ethisch Wertvolles, Schönes oder schlicht Angenehmes. Kultur entsteht nicht allein dadurch, setzt zunächst einmal jedoch die Definition des Eigenen voraus. Gärten symbolisieren in vielen Traditionen, gerade auch in der christlich-antiken, die eine Urform der Kultur. Einhegung, mühevolle Arbeit und Kampf gegen schwierige Bedingungen stehen hier am Anfang - und dieses Leitmotiv lässt sich in verschiedenen historisch-politischen Kontexten aufzeigen. Die Herausbildung und Bewahrung des Eigenen wären nicht denkbar ohne einen Gegenpart, ohne die wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit dem Fremden. An diesem Punkt zeigen sich interes‐ sante Gemeinsamkeiten: Gärten und Tourismus teilen elementare Voraussetzungen, wodurch sich neue kreative Möglichkeiten für die Gestaltung zukünftiger touristischer Angebote ergeben könnten. Für das Kulturphänomen ‚Tourismus‘ sind Grenzen und deren Überschreiten in vielfacher Hinsicht elementar. Sicherheit in beide Richtungen zu gewährleisten und Abläufe zu garantieren, Ruhe und Erholung sowie Auseinandersetzung mit kulturellen Themen zu ermöglichen, steht für alle professionell im Tourismus Tätigen immer an erster Stelle. Sicherheit muss für den Gast auch fühlbar sein, und zwar ganz konkret an einem Ort. Daran zu sparen, wäre fatal sowohl für Gastgeberinnen und Gastgeber sowie Gäste als auch für die diversen touristischen Anbieter. Ohne das Gefühl der Sicherheit wäre der Gast weder emotional zu begeistern noch aufnahmebereit für authentische Erlebnisse. 2.1 Sehnsucht nach dem Paradies Interessanterweise werden Gärten oft als ‚kleine Paradiese‘ beschrieben, etwa private Hausgärten mit besonderem Flair. Wobei als paradiesisch jedoch eher Zustände bezeichnet werden, welche ohne Arbeit und Mühe erlangt werden, also ohne eigenes Zutun entstehen - ein uralter menschlicher Traum und immer noch aktuell: 2019 fand das Gartenfestival in Chaumont-sur-Loire unter dem Motto „Gärten des Paradieses“ statt und schon im Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Land‐ schaftskultur (DGGL) 2012 wurden hier ‚die entscheidenden Potenziale‘ gesehen: „Der Garten als Bild des Paradieses wie auch die Landschaft als Surrogat eines verlorenen Ganzen erfahren eine weitgehende Rehabilitation. Gartenkunst zur Vermittlung von Ganz‐ heitserfahrungen ist mehr denn je en vogue.“ (Hoch 2012, S. 154) Ganzheitlichkeit erleben und sich rundum glücklich fühlen stellen wichtige Touris‐ musmotive dar. Nur wie gelangt man dahin? In der antiken Philosophie, etwa bei Aristoteles, musste das ganze Leben auf diese Ziele ausgerichtet sein. Glück wurde in der Nikomachischen Ethik als eine Tätigkeit der Seele, als eigene Aktivität gesehen - welche man keinesfalls vorfinden oder gar käuflich erwerben könne. Im kommerziellen 325 Offene Gärten - Neue Wege im Tourismus Tourismus werden hingegen paradiesische Zustände marktfähig: „Where happiness finds you“ (Tourism Fiji 2018). In der Genesis, dem christlichen Ursprungsmythos, erschien der Mensch als ein Spielball göttlichen Willens und wurde folgerichtig in dem Moment aus dem Paradies vertrieben, als er zu erkennen anfing und naiver Genuss paradiesischer Freuden nicht mehr möglich war. Danach bestand sein Leben aus Arbeit, Mühe und existenziellen Unsicherheiten. Insofern haben wir hier mit dem Bild vom Paradies ein ambivalentes Beispiel vor Augen: Die Einhegung, welche der Mensch vorfand, hielt ihn von seinem eigenen Wesen fern - um sich selbst zu erkennen, musste er sich daraus befreien. Gleichzeitig sehen wir heute darin aber auch die Tragik des menschlichen Lebens, das Unvermögen, diese ursprüngliche Harmonie auf Dauer zu errichten. 2.2 Entwicklungen im Innern In den durch Mauern begrenzten Gärten des Mittelalters nahmen die Bewohnerinnen und Bewohner den eingehegten Bereich in den Fokus und knüpften von der baulichen Anlage her an die griechisch-antike Idee des Nutzgartens an. Diese Orientierung nach innen unterschied sich auffällig von den Wohngärten der Römer, die, anders als die Griechen, die Natur in den häuslichen Bereich integriert hatten, was vom Prinzip her, sehr viel später, die Wohngärten der Moderne bestimmte. Repräsentation und Luxus standen bei den Römern im Vordergrund, aber auch das auf persisch-arabische Tradi‐ tionen zurückgehende ‚Lustgarten-Prinzip‘, das Genussideal paradiesischer Erlebnisse im Garten. Die christliche Umdeutung der antiken Vorbilder war radikal, oppositionell und neu - diese jedoch als ein kulturelles „Zurückfallen“ (Wiede 2015, S. 15) zu deuten, wäre nicht angemessen. Das ‚dunkle‘ Mittelalter gab es so nicht, es gab durchaus eine Vielfalt und die nachantike christliche Zeit war auch keineswegs nur lustfeindlich, denn es gab neben dem weltabgeschiedenen, klösterlichen hortus clausus oder hortus conclusus, welcher religiöser Besinnlichkeit diente, den reich bepflanzten hortus incl‐ usus der Stadtpaläste. Und es gab den hortus amoenus, den lieblichen Garten der Sinne, die christliche Version des Lustgartens voller Symbolik und Schönheit: Wasser und Kreuzform, dazu Blumen, v. a. Rosen und Lilien. Eine Markierung von Ruhepunkten und Abgrenzung als garantierte Leistung sind auch in der touristischen Leistungskette wichtig. Wellness, Entspannung und Erho‐ lung, Genuss, Bildung und Gesundheit - um diese touristischen Motive zu bedienen, bedarf es einiger Voraussetzungen, welche hier strukturelle Parallelen aufweisen: Hinter den Mauern eines Hotels oder auch sprachlich verdeutlicht eines Resorts tritt der Gast in eine eigene Welt ein, Raum und Zeit werden anders erlebt, Erholung und z. B. Genuss stellen sich leichter ein. In den letzten Jahren verbreiterte sich das kommerzielle Angebot deutlich, von Hotels für spezielle Zielgruppen bis hin zu Auszeiten als Gast religiöser Gemeinschaften, etwa in christlichen Klöstern, die ja immer schon als (ursprünglich nichtkommerzielle) Gastgeber fungiert haben. 326 Susanne Gervers 7 Ein überaus erfolgreicher, über 100 Jahre erhältlicher Buchtitel dieser Zeit, s. hierzu Rubel 2015, S. 110. Neben der Raumwirkung einer auf das touristische Angebot zugeschnittenen Archi‐ tektur enthält das Element Wasser im Tourismus eine reiche Symbolik. Auch dekorative Elemente sind wichtig, z. B. Blumen. Nicht nur in der Hotelanlage finden sich Ruhepole, werden eigene Räume definiert, in welchen sich touristische Erlebnisse kalkulieren lassen. Etwa auch in speziellen Transportmitteln: So entsteht bei einer Bus-Studienreise eine besondere soziale Situation, eine „Environmental Bubble“ (Cohen 1972, zitiert nach: Mundt 2006, S. 195), welche es der Studienreiseleiterin bzw. dem Studienreise‐ leiter ermöglicht, die Vermittlung kultureller Inhalte zu steuern, aber auch die sozialen Prozesse innerhalb der Reisegruppe gezielter zu beeinflussen. Die mit Mauern eingehegten Nutzgärten veränderten sich infolge der gesellschaft‐ lichen Entwicklungen. Im frühneuzeitlichen England, der Zeit von Queen Elizabeth I. (1533-1603) und William Shakespeare (1564-1616), entstand ein breiter Wohlstand innerhalb der ländlichen Elite, der Gentry. Diese sah in ihrem mit Mauern eingehegten ‚Küchengarten‘ (vgl. Rubel 2015, S. 96) nicht mehr nur den Aspekt der Nützlichkeit, eine Notwendigkeit, sondern v. a. soziales Prestige. Man kultivierte erlesene Sorten, Essen wurde ein Vergnügen und das Gärtnern Ausdruck der Sehnsucht nach dem Paradies: „the explicit dream of recreating an Eden in their own property“ (Rubel 2015, S. 97). Zu Beginn der Industriellen Revolution, in den 1760er-Jahren, verbreitete sich das role model der gärtnernden Gentry in weiten Teilen der Gesellschaft. Der eigene Garten wurde sozusagen zur Keimzelle von Freiheit und Wohlstand: „Everyman His Own Gardener“. 7 2.3 Kultivierung des Privaten England spielte als Vorbild für eine freiheitliche Lebensweise und bürgerlichen Wohl‐ stand eine wichtige Rolle in den deutschen Gebieten, die sich 1813 von Napoleon befreit hatten. John Locke (1632-1704) und Adam Smith (1723-1790) waren seit Jahrzehnten einflussreiche Vordenker wirtschaftlicher und politischer Freiheit und England stand für stabile und v. a. friedliche Verhältnisse im Innern. In ihrem Buch Das irdische Paradies. Bürgerliche Gartenkultur der Goethezeit führt Dülmen (1999) detailliert und anschaulich vor Augen, wie wichtig der Garten für das sich entwickelnde bürgerliche Selbstverständnis wurde, wie der Besitz und die Pflege eines Gartens Erholung, Selbstfindung, ein Freiheitsgefühl, Kreativität und v. a. auch viel Geselligkeit versprachen, denn der Garten zog neben der eigenen Familie auch viele Gäste an. Es wurden originelle, heute nicht mehr übliche Feste gefeiert, mit speziellen Aufführungen, Musik und Tanz. Der Garten wurde als Abbild der Natur gesehen, wo Empfindungen zu Hause seien, welche in der Alltagswelt keinen Platz hätten (vgl. Dülmen 1999, S. 14). Parallel hierzu entwickelte sich der bürgerliche Tourismus als neue kulturelle Praxis. Reisen war zwar zu jener Zeit enorm strapaziös, es erschien aber umso 327 Offene Gärten - Neue Wege im Tourismus lohnender aufzubrechen, um sich selbst zu finden und Freiheit zu erleben. Auf Grund der illiberalen politischen Verhältnisse nach dem Sieg über Napoleon erschien die Flucht in die Ferne ungemein reizvoll. Dieser Zusammenhang, auch die legendäre Suche nach der (irrealen) ‚blauen Blume‘ der Romantiker als Ausdruck einer Reise in die eigenen Gefühlswelten, ins tiefe Innere des Selbst, lässt an die eigenartige deutsche Innerlichkeit und an den tragischen deutschen Sonderweg denken. Der neue, bürgerliche Lebensstil der Begüterten bedeutete die Kultivierung eigener, privater Sehnsüchte, etwa um 1800 die Sehnsucht nach Süden und Freiheit (siehe Goethes Italienreise). Interessante Kontinuitäten lassen sich hier verzeichnen, wenn wir heute vom Megatrend Individualisierung oder von der ‚Sehnsucht nach der Sehnsucht‘ sprechen. Im Tourismus sind Emotionen seit der Goethezeit Dreh- und Angelpunkt. 2.4 Gärtnern als patriotische Pflicht Der bürgerliche Wohlstand der Goethezeit begünstigte die Kultivierung privater Idyllen: das Gärtnern und - parallel hierzu - das Reisen. Ohne Frieden und dement‐ sprechend Stabilität und relative Ruhe im Innern hätte die Biedermeierzeit (1815-1848) anders ausgesehen. Kriegerische Zeiten bewirken gerade das Gegenteil - so wurde das Gärtnern im Zweiten Weltkrieg zur patriotischen Pflicht erklärt: „The Victory Garden Campaign“ mobilisierte 1943 die US-Amerikaner, quer durch die Gesellschaft, Frauen wie Männer, bis ins Weiße Haus (vgl. Day 2015, S. 114). Das Ziel bestand darin, ertragreiche Selbstversorgergärten anzulegen, gemeinsam Schädlinge zu bekämpfen und für eine bessere Ernährung zu sorgen. Dieses veränderte die Gesellschaft und hatte auch demokratisierende Effekte. Vita‐ lität durch selbst erzeugte, frische und vitaminreiche Lebensmittel war eine wichtige Voraussetzung, den Krieg tatsächlich zu gewinnen. Gleichzeitig war diese Vitalität aber auch wichtig für die Industriearbeit und den Wettlauf der Systeme. Insbesondere unterstützten so auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ihre Mitarbeitenden und deren Familien. Mit der erfolgreichen Kampagne wurde auch ein klarer Bezug herge‐ stellt zum amerikanischen Wesen: wirtschaftliches Effizienzstreben seit Taylor, der Pioniergeist der ersten Siedler (vgl. Day 2015, S. 118) und „the American narrative of progress“ (Day 2015, S. 117) als Teil der nationalen Identität. Dabei handelte es sich um eine wiedererweckte Tugend, denn seit einer Generation, seit 1920, waren die US-Bürgerinnen und -Bürger mehrheitlich Städterinnen und Städter, geprägt durch eine urbane Lebensweise und die Arbeit in Fabriken. Industriell produzierte Lebensmittel, etwa Gemüsekonserven, hatten hier schnell die alten Methoden, Gemüse selbst anzubauen, verdrängt, weil es nicht zu dieser neuen Lebensweise passte. Auf den ersten Blick fällt der Tourismus heraus aus diesem Muster der Effizienz, wirtschaftlicher Optimierung und nationaler Ertüchtigung. Und Tourismus stellt ja auch eine kulturelle Praxis dar, welche friedliche Verhältnisse voraussetzt. In der Leistungsgesellschaft der Gegenwart mag es vielen aber geradezu als eine Pflicht erscheinen, mehrmals im Jahr unterwegs zu sein, Erlebnisse auf Reisen zu sammeln und das eigene Selbst dadurch zu optimieren. Rechtfertigen muss sich heute eher, wer nicht 328 Susanne Gervers besondere Orte, etwa ausgezeichnete Hotels, aufsucht, sondern andere Prioritäten setzt und sich hier ausklinkt. Das ewige Mantra vom Megatrend Individualisierung verdeckt dies ein wenig, denn es existieren hier einige tausend Wege der Selbstoptimierung durch Tourismus. 2.5 Würde und Menschsein Bildeten kriegerische im Gegensatz zu friedlichen, von Ruhe und Wohlstand geprägten Zeiten eine extreme Daseinsform, deren Gärten sich grundlegend vom bürgerlichen Idyll unterschieden, so existieren auch inmitten von Frieden und Wohlstand Formen extremer Unfreiheit und Ausgrenzung, welche mitunter Ausdruck finden in Gärten mit einem ganz besonderen, existenziellen Charakter. Den therapeutischen Wert des Gärtnerns auch z. B. in Haftanstalten zu nutzen, ist mittlerweile in der westlichen Welt Standard. Auch hier war England Vorreiter, wurden dort doch Zeichen gesetzt, indem etwa die Goldmedaille der Chelsea Flower Show im Jahr 2000 an das Team aus dem Leyhill-Gefängnis vergeben wurde (vgl. Hücking 2010, S. 284). Im Anschluss wurde diese Geschichte unter dem Titel „Green Fingers“ erfolgreich verfilmt und in der Haftanstalt ein gutgehendes Gartencenter eröffnet (vgl. Hücking 2010, S. 283 f.). Nelson Mandela war 27 Jahre in Haft, wobei ihm allein das Gärtnern „Begegnung mit der Natur, mit ihrer Schönheit und allem Lebendigen“ (Hücking 2010, S. 286) ermöglichte. Ein Hauch von Freiheit und dadurch menschliche Würde, das Gefühl, auch unter extremen Bedingungen etwas zu gestalten und dadurch Selbstwirksamkeit zu erfahren. Rosa Luxemburg imaginierte während ihrer vierjährigen Schutzhaft Natur‐ erlebnisse, führte Buch über alle Blumen, welche sie erhielt, und überstand Phasen der Verzweiflung durch intensive Zwiesprache mit der Natur (vgl. Hücking 2010, S. 288- 291). „Vor allem die Wolken“, so schrieb sie in einem Brief, erlebe sie als „eine ganze ferne Welt, in der unendliche Ruhe, Milde und Feinheit herrschten“ (Hücking 2010, S. 291). Wie Gärtnern in extremen Lebenssituationen als eine Art intuitive Selbsthilfe Posi‐ tives verstärkt, Schönes trotz alledem spüren lässt und dadurch die eigene menschliche Würde aufrechterhält, zeigen auch die vielen Beispiele von Wohnsitzlosen, die sich in Parks oder auf privaten Brachflächen eigene kleine Gärten anlegen. Sogenannte Obdachlosengärten werden illegal angelegt und selten lange geduldet. Die darin sichtbare Improvisationskunst und Fantasie wurden insbesondere von Künstlerinnen und Künstlern stark beachtet: So beschrieb Margaret Morton in New York City eine Vielzahl von Gärten „of those called ‚homeless‘“ (2015), welche letztlich alle zerstört wurden: so eindrucksvolle Beispiele wie ein selbst angelegter Goldfischteich, skurrile Gärten aus Fundstücken oder die kunstvoll geknotete Hütte von „Mr. Lee“ (vgl. Morton 2015, S. 294-298). Morton zeigte die Poesie dieser Gärten und die Individualität ihrer Besitzerinnen und Besitzer. Die immer folgende Zerstörung deutete sie als einen Akt der Barbarei, insofern ein Stück individueller Selbstvergewisserung vernichtet wurde: „It seemed as though his idyllic setting has never existed“ (Morton 2015, S. 298). 329 Offene Gärten - Neue Wege im Tourismus Im Tourismus spielen ethische Fragen eine wichtige Rolle, die Differenz von heimat‐ lich und fremd, von Inklusion und Exklusion, das Machtproblem. Beim Anspruch eines sozial nachhaltigeren Tourismus wären auch diese Fragen nicht zu vernachlässigen und gerechtere Verfahren zu entwickeln, um hier nicht Antworten schuldig zu bleiben. Die in den gezeigten Beispielen sichtbare Improvisationskunst ist auch im Tourismus wichtig, oft sogar sehr wichtig, nicht nur, um sich den Gegebenheiten anzupassen: Dienstleister vor Ort kultivieren und inszenieren diese geradezu, um Authentizität und ein besonderes Flair zu vermitteln. Die ‚garantierte Leistung‘ ist nicht alles, obwohl oder gerade weil sie perfekt eingeübt wurde. Das Ziel ist vielmehr den Gast zu überraschen, denn echte Begeisterung lässt sich aus Sicht der Gastgeberinnen und Gastgeber nur durch ‚unerwartete Qualität‘ erzielen. Dieses Offene der Situation bietet Raum für Emotionen, lässt aber viele Deutungen zu. 3 Einladung und Mitgestaltung Das Prinzip Offenheit besteht, kulturell gesehen, nicht von Anfang an, es bedarf bestimmter Voraussetzungen: eines Bewusstseins für das Eigene ohne das Gefühl einer Bedrohung durch das Andere, Fremde, eines starken Identitätsgefühls ohne ‚ideologi‐ sche‘ Muster, vielmehr eines Interesses an Neuem, Weiterentwicklung, Lernen, eines Optimismus in Bezug auf die Zukunft, ausgehend von einem wie auch immer gearteten Wohlstand (z. B. materiell, zeitlich), wodurch echte Begegnungen möglich werden. Gegebenenfalls stellen solche Begegnungen eine Gratwanderung dar, sind sie doch störanfällig, je nachdem, ob Sicherheiten und die Machtfrage selbst in Frage zu stehen scheinen. Der Umgang mit dem Anderen, Fremden als dem kulturellen Gegenpart stellt sich je nach historischer Situation anders dar: von einer vorsichtigen Öffnung und Einladung an den Gast bis hin zu einer offenen Situation aktiver Mitgestaltung. Gärten waren und sind gern besuchte Orte der Begegnung, sie bieten ein überaus angenehmes Ambiente, Sonne, Licht, Schatten, vielleicht Wasser, Blumen, Vögel usw. und verbinden das Haus der Gastgeberin bzw. des Gastgebers mit der Außenwelt. Gast-Sein kann viele Dimensionen haben, der Gast kann einen Mehrwert darstellen für die Gastgeberin bzw. den Gastgeber, in kultureller, (macht-)politischer oder gar in wirtschaftlicher Hinsicht. Umgekehrt kann auch der Gast stärker von der Begegnung profitieren. Oder die Beziehung bleibt unklar, illusionär. Offenheit mag nur symbolisch bestehen. Gärten bzw. deren Besitzerinnen und Besitzer inszenieren und gestalten Begegnungen, sie haben die Möglichkeit zu beeindrucken, die ungleiche Situation zu dominieren, an Zeremoniell, Ritualen festzuhalten oder Neues zu erleben. Die Gast-Gastgeber-Beziehung prägt das touristische Erleben insgesamt stark und dieses Erleben hängt vom Ambiente ab, bestimmten Orten, an denen der Gast sich aufhält, wo er sich entspannt und Zeit verbringt. Was für Gärten gilt, dass diese ganz unterschiedlich auf ihre Gäste wirken und Empfindungen verursachen, dadurch den Aufenthalt prägen, vielleicht sogar Veränderungen, Lernen bewirken - all dies gilt auch für Orte im Tourismus, wo sich der Gast aufhält. Dabei existieren natürlich 330 Susanne Gervers 8 Im Gegensatz zum Vergnügungscharakter ‚touristischer‘ Aktivitäten (mit französischer Sprachwur‐ zel, siehe oben) bezeichnet das deutsche Wort ‚Reise‘ „den Aufbruch, das Wegfahren“ (Mundt 2006, S. 2) und nicht, wie Tourismus, die Rückkehr zum Ausgangspunkt; vielmehr wurde ursprünglich im Altfriesischen (sichtbar auch im englischen Wort rise) eine positive Veränderung angedeutet („sich erheben, entstehen“; Mundt 2006, S. 2). 9 Einen ähnlichen Bezug stellt Wiede (2015, S. 13-15) her. Auch in der modernen Architektur wirken Fenster oft wie Bilderrahmen: Im Museum Frieder Burda (2004, Richard Meier) werden das Grün und die kostbaren Gehölze des Baden-Badener Kurparks inszeniert. verschiedene Vorstellungen seitens der Gäste, die ihre Reise schlicht als ein Vergnügen ansehen oder als eigenen Aufbruch. 8 3.1 Repräsentation und Illusion Gärten als Orte gesellschaftlicher Repräsentation, als Orte des Luxus, glanzvoller Feste und raffinierter Illusionen entstanden im antiken Rom, unter Rückgriff auf orientalische Vorbilder. Bei den pragmatischen Griechen hatten hingegen Luxus und Gastfreundschaft weitaus weniger gegolten, waren sie doch nur bedingt mit dem guten Leben vereinbar. In der Blütezeit Athens (ab ca. 500 v. Chr.) hatte sich gar die Auffassung durchgesetzt, „Fremde nur insofern anzuerkennen, als sie nützlich waren und die eigene Exzellenz erhöhten“ (Gervers 2018, S. 56). Es hatten die eigene Bildung und ethische Tugenden im Fokus gestanden. Ganz anders bei den Römern: Hier spielten ein luxuriöser Lebensstil, Prestige und Machtgewinn eine zentrale Rolle. Paradigmatisch war etwa, dass der Feldherr und Senator Lucullus (118-57/ 56 v. Chr.) als legendärer Gastgeber, der im luxuriösen Ambiente seiner Villengärten üppige Gelage veranstaltete, berühmt wurde und ihm viele nacheiferten (vgl. Giesecke 2015, S. 92). Lucullus prägte als Bauherr auch die Gartenkultur, er repräsentierte einen neuen, luxuriös offenen Gartenstil und sein Name wurde zum Synonym für kulinarischen Genuss. Das im antiken Rom Neue war die Öffnung nach außen, der Einbezug der Natur, „eine erste Form des Wohngartens, die im Garten der Moderne wieder neu entstehen [würde; Anm. d. Verf.]“ (Wiede 2015, S. 13). Licht, Luft, der Ausblick auf die umliegende Landschaft wurden wichtig. Der Wohnkomfort hatte sich durch anspruchsvolle technische Leistungen, etwa Fußboden‐ heizungen, entscheidend verbessert, was sicherlich auch zu dieser Entwicklung beitrug. Der Blick wurde frei für die Natur, welche nun offenbar weniger bedrohlich war und bald zum illusionären Wunschbild avancierte. In Pompeji (zerstört 79 n. Chr.) wurden üppig gestaltete Fresken mit wilden Tieren, Vögeln, Wasser und Orangenhainen freigelegt. Innere Bilder wurden zu Landschaften - und das eigene Fenster wurde zum Bilderrahmen. 9 Es zu verstehen, die Blicke zu lenken, bedeutete Macht, welche die römischen Gärten auch repräsentierten. Macht, sich durch Luxus darzustellen, aber auch Vergnügen und Unterhaltung zu bieten. Parallelen hierzu finden sich in der Epoche des Barock, einer von Krieg, Elend und Pest bestimmten Zeit, in welcher die Menschen aber auch nach sinnlichen Gelüsten gierten; eine etwa 80 Jahre währende Epoche in der Zeit von 1680/ 90 bis etwa 1760/ 70, deren wuchtige Formen mächtig und vereinnahmend wirkten, und in 331 Offene Gärten - Neue Wege im Tourismus 10 Eine besondere Rolle spielten in dieser Zeit die Naturwissenschaften und die Mathematik, Spinoza (1632-1677) unterwarf die gesamte Philosophie der mathematischen Methode; Frankreich wurde politisch, militärisch und kulturell führend; es bildeten sich starke staatliche Strukturen heraus. 11 In den 1980er-Jahren wurde der Bau tatsächlich als Moschee genutzt, bevor die Gemeinden im Umfeld eigene bauen konnten. welcher paradoxerweise Illusionen mehr denn je en vogue waren. Der barocke Stil entstand im päpstlichen Rom und verbreitete sich über Österreich nach Süddeutsch‐ land. „Der barock getrimmte Garten mit geschnittenen Bosketts war das nach außen sichtbare Zeichen der Unterdrückung“ (Chevallerie 2006, S. 9) oder der Eitelkeit der Herrschenden (vgl. Wormbs 2010, S. 172). Die Boskett-Alleen deuteten zwar auch schon ins Offene, Freie, „in die undefinierte Ferne des Jagdparks“ (Wiede 2015, S. 9), es dominierte aber noch der Bezug zur Architektur, zum herrschaftlichen Haus, die Idee der Repräsentation von Macht und Status. Der modischen Illusionsmalerei kam eine ambivalente Rolle zu: Einerseits wurden durch täuschend echte Fenster, Fassadenschmuck oder angebliche Natursteinarbeiten (die sogenannte Trompe-l’Œil-Malerei) der gesellschaftliche Status, Macht und Besitz herausgestellt, wenn auch erkennbar euphemistisch. Andererseits zeigte sich in den Perspektiven und Staffagebauten der Schlossgärten auch eine gewisse Ironie, Leich‐ tigkeit, ein Heraustreten aus der formalen Strenge des Barock. Illusionäre Freiheit sozusagen, ein Gegengewicht zur strengen Rationalität des Barock. 10 In Schwetzingen wurde der intime Badhaus-Bereich durch das ‚Ende der Welt‘ begrenzt, den vermeintlichen Ausblick in die Rheinebene. Nicolas de Pigage (1723- 1796), der das Badhaus baute, schuf heitere Wasserspiele und andere Garten-Folies, künstliche Ruinen, Tempel und sogar eine Moschee-Staffage, welche wohlmeinend dazu diente, in der Zeit der Aufklärung Weltoffenheit und Vernunft zu demonstrieren. 11 Gesellschaftliche Repräsentation und Luxus sind in der Gegenwart vorrangig mit Tourismus als vorherrschender kultureller Praxis verbunden. Als symbolischer Kon‐ sum repräsentieren touristische Aktivitäten Macht und Status, Exklusivität, aber auch Zugehörigkeit, Bildung und Leistung. Hotels bieten allen erdenklichen Komfort und oft auch üppige Gelage wie bei Lukullus. Ihre halböffentlichen und nur scheinbar allen zugänglichen Annehmlichkeiten spiegeln auf raffinierte Weise die sich öffnenden herrschaftlichen Gärten. Die im Tourismus sichtbare Öffnung gegenüber anderen Kulturen, über Grenzen hinweg, ähnelt allerdings auch barocker Selbsterhöhung und Selbstbespiegelung, wobei Sehnsüchte der Reisenden an illusionäre Garten-Wunsch‐ bilder erinnern. Die Blicke zu lenken, gar die Bedürfnisse der Gäste zu steuern, stellen die üblichen Ziele von Werbung und Tourismus-Marketing dar und werden nicht als manipulativ angesehen. Barocke Daseinsfreude hing mit den Erfahrungen von Tod, Krieg und Elend zusam‐ men. Auch die Reiselust der Deutschen in den 1950er-/ 1960er-Jahren hatte nicht nur mit wirtschaftlichem Wohlstand, sondern auch mit dem Trauma von Krieg und Heimatverlust zu tun: Reisen dienten auch der Verdrängung, sie entwickelten eine eigene Suggestivkraft. Eine leichte, unbeschwerte Zeit, etwa an der italienischen Adria, 332 Susanne Gervers 12 Der Hofgarten wurde 1795 von französischen Revolutionstruppen verwüstet. 13 Am 14. Juli hatte sich in Paris mit dem Sturm auf die Bastille das symbolische Ende der absolutisti‐ schen Monarchie ereignet. war das, worauf viele das ganze Jahr hinarbeiteten. Sich dem zu entziehen, war fast nicht möglich, Urlaubsreisen, v. a. ins Ausland, waren lange ein gesellschaftliches Muss. Dabei erschaffen sich Reisende ihre eigene Welt (vgl. Glüher 2018, S. 23), wobei dem unbestimmten Gefühl der Freiheit etwas Illusionäres anhaftet. Das ‚Ende der Welt‘ im Barock repräsentierte aber auch einen starken Sinn für Ironie, eine Leichtigkeit, welche für das touristische Erlebnis (Holy Days) vernichtend wäre. 3.2 Offene Gärten als Weg zu sich selbst In England hatte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Idee des naturnahen Landschaftsgartens herausgebildet. Dabei handelte es sich jedoch nicht um echte Annäherungen an die Natur, sondern eher um malerische Ansichten der Natur, um begehbare Gemälde. In bewusstem Kontrast zum formalen Barockgarten in Frankreich wurde Offenheit als gesellschaftliches Credo inszeniert. Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz (1724-1799) veranlasste bereits 1769 aus dem Geist der Aufklärung heraus die Öffnung des Düsseldorfer Hofgartens. Das Stadtvolk war begeistert und die neu ausgebaute Promenade avancierte zu einem touristischen Attraktionspunkt. 12 Auch später, als König von Bayern, handelte Karl Theodor in diesem Sinne, als er im August 1789 13 anordnete, in München, wo sich seine Residenz befand, einen Volkspark anzulegen, den späteren Englischen Garten. In England, eigentlich Vorreiter, fand diese Öffnung in die Gesellschaft erst in der späten viktoriani‐ schen Zeit statt, mit der Gründung des National Trust im Jahre 1895. Ausschlaggebend waren hier v. a. die property rights, die starke Betonung des Privateigentums. Die Auflösung der Allmende hatte die Industrielle Revolution angetrieben, parallel dazu aber auch die Entstehung großer Landschaftsgärten ermöglicht. Nach der Öffnung von kulturgeschichtlich bedeutsamen Orten, Herrenhäusern und Parks, Kunstsammlungen und Bibliotheken für ein breites Publikum zeigten insbesondere auch bürgerliche Kreise karitatives Engagement: 1927, in einer Zeit wirtschaftlicher Not, entstand die Idee der „Offenen Gartenpforte“. Privatleute öffneten ihre Gärten für fremde Besucherinnen und Besucher gegen Eintritt, um für einen Hilfsfond des Queen’s Nursing Institute zu sammeln, wodurch in Armenvierteln fehlende Krankenpflege finanziert wurde. Im ersten Jahr wurden in England und Wales bereits 609 offene Gärten sowie 12 Millionen Gäste verzeichnet. Schnell breitete sich die Aktion durch eine eigens gegründete Stiftung auf den britischen Inseln und nach dem Krieg auch auf dem Kontinent aus, zunächst in Belgien und den Niederlanden, nach der Wiedervereinigung auch in Deutschland: In Hannover, historisch eng mit England verbunden, wurde die Idee 1991 aufgegriffen und verbreitete sich danach v. a. in norddeutschen Städten, weniger im Süden. Im Unterschied zu England spielte dabei das Einnehmen von Spenden nie eine Rolle (vgl. Hlavac 2011, S. 70), vielmehr ging es um Einblicke in fremde Gartenreiche, das Erleben von Kreativität (vgl. 333 Offene Gärten - Neue Wege im Tourismus 14 Die vorindustrielle gemeinschaftliche Nutzung natürlicher Ressourcen und Flächen wurde symbo‐ lisch wiederbelebt, nachdem die Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom 2009 den Wirtschaftsnobel‐ preis erhalten hatte. Die Hasetal Touristik GmbH erhielt z. B. den Deutschen Tourismuspreis 2014 für die Kampagne „Mundraub im Hasetal“ in symbolischer Nutzung der geistigen Allmende des Internets (mundraub o. J.): Eine Karte verzeichnete ‚Fundstellen‘, v. a. Obstsorten, und im Hasetal drehte sich alles um eine schon länger bestehende Obstbaumallee, wo die Gäste ermuntert wurden, sich zu bedienen. Andernorts, z. B. im badischen Walldorf (dem Wohnort der Verfasserin) pflanzte man daraufhin überhaupt erst eine Obstbaumallee, welche bei den ‚Mundraub-Aktionen‘ massiv Schaden nahm, weswegen die Frage der Nutzung durch alle in den folgenden Jahren restriktiv gehandhabt wurde. Lucenz-Bender 2016, S. 57) und das gesellschaftlich fundamentale „Kommunikations‐ bedürfnis“ (vgl. Klaffke-Lobsien/ Klaffke 2010, S. 85). „Der gegenseitige Gartenbesuch wird zum gesellschaftlichen Moment, der Garten selbst zum Symbol für Gastfreundschaft und ein harmonisches Miteinander.“ (Krug-Gbur 2006, S. 41) Die „Offene Gartenpforte“ förderte das gesellschaftliche Miteinander, hatte dadurch demokratisierende Effekte, sowohl in England als auch in Deutschland, auf je andere Art. Allerdings erwies sich die „geniale Einfachheit“ (Oppermann, 2012, S. 172) auch als verletzlich, etwa durch kommerzielle Anbieter oder wirtschaftlichen Nutzen suchende Gartenbesitzerinnen und -besitzern selbst (vgl. Jardins-privés.com o. J.). Der kommerzielle Geist zeigte sich aber durchaus auch auf der Ebene von Politik und Verwaltung, wenn das Engagement privater Gastgeber oder auch die alte Idee der Allmende 14 benutzt wurden, um die eigene Stadt als Marke zu positionieren. Gärten zu öffnen, bedeutete aber auch, es mehr Menschen zu ermöglichen, selbst zu gärtnern. In der Lebensreformzeit, um 1900, entstanden eine Reihe sozialer Inno‐ vationen, etwa die Gartenstadtbewegung: die Idee einer „Gartenkultur für alle“ (Pe‐ schel 2011, S. 39). Die gegenwärtigen Diskussionen um Mietergärten (vgl. Spalink-Sie‐ vers 2011), neue Kleingartenmodelle (vgl. Spieß 2011), Internationale Gärten (u. a. Internationale Gärten e. V. Göttingen) oder Gärten für Studierende (z. B. Universität Würzburg o. J.) tragen diese grundlegende Idee weiter in die Zukunft. Sonderformen der Gärten für alle stellen etwa Therapiegärten im Umfeld psychiatrischer Kliniken dar oder Bibelgärten, welche anders als traditionelle Pfarrgärten eher als „literarische Themengärten“ (Stückrath 2012, S. 23) anzusehen sind. Bibelgärten betonen „medita‐ tive, selbstvergessene und nicht-zweckrationale Erfahrungen“ der Gartenarbeit (vgl. Stückrath 2012, S. 399). Natur erleben und zu sich selbst finden, das sind auch im Tourismus starke Motive, wobei das Leben der anderen, der Menschen in den Destinationen, zurücktritt. Begehrte Ziele werden regelrecht geflutet und es profitieren nicht alle von den Gästen, was zu sozialen Verwerfungen führt. Dass Bürgerinnen und Bürger in den eigenen Garten einladen und dadurch bei sich und für die Gesellschaft eine Willkommens- und Gastgeberkultur etablieren, eröffnet neue Möglichkeiten: im Kern das zu erleben, was Tourismus darstellt, die Begegnung mit anderen Menschen, Kulturen, das eigene Umfeld zu verlassen und Neues kennenzulernen. Dieses Neue enthält immer auch 334 Susanne Gervers 15 Das heißt „von der Wurzel (lat. radix) her neu ausrichten“ (Oppermann 2012, S. 174). Optionen für das eigene Leben, verändert die eigene Wahrnehmung. Touristische Erfahrung beinhaltet also im Kern die Möglichkeit, zu lernen und sich zu bilden. Durch die Offenen Gärten profitieren mehr Menschen, touristisches Erleben wäre etwa auch (wieder) zugänglich für Hochbetagte, die nicht mehr mobil sind. Dieser ‚Tourismus für alle‘ wäre nicht nur barrierefrei, er wäre auch ökologisch und sozial in mehrfacher Hinsicht nachhaltiger. 3.3 Integration, Provokation und Desiderat Eine Willkommens- und Gastgeberkultur der Offenen Gärten hätte, wie angedeutet wurde, vielfältige positive Effekte für die ganze Gesellschaft. Den durch neoliberale Wirtschaftsförderung verstärkten sozialen Gegensätzen (vgl. Gemmiti 2019, S. 10-12) würde nicht nur symbolisch etwas entgegengesetzt: Gärten und Gartenkultur für alle zugänglich zu machen, würde Begegnungen ermöglichen, gesellschaftliche Spaltung überwinden und gemeinsame Werte stärken. Die hier erlebte Selbstwirksamkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hätte ebenfalls stärkende Effekte. Auch so etwas Privates wie der eigene Garten würde eine gesellschaftliche Rolle spie‐ len - und umgekehrt würde die bürgerliche Mitgestaltung des öffentlichen Raums ein starkes Thema werden. Die Zeichen stehen auf dynamischen Wandel, neue Initiativen haben Potenzial, die Gartenkultur zu „radikalisieren“ 15 (vgl. Oppermann 2012, S. 174). In der Geschichte finden sich eindrucksvolle Beispiele für bürgerschaftliches Engage‐ ment, etwa die Gestaltung eines Promenadenrings durch Leipziger Bürgerinnen und Bürger ab 1777, mit dem Rückbau der Befestigungsanlage, und dadurch die Entstehung des ersten städtischen Landschaftsparks Deutschlands. Themen und Probleme sind heute andere, bei der Rückeroberung des urbanen Raums steht die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel zunehmend im Zentrum. Konkret ging es in den Initiativen neben ökologischen Fragen, beispielsweise grüne Oasen für Mensch und Natur und Gemüseanbau in der Stadt, auch um soziale Fragen, etwa um die Neudefinition von sozialem Raum, auch von Wohnraum als der neuen sozialen Frage unserer Zeit. In verschiedenen Initiativen standen Kreativität und Spontaneität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Vordergrund. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es eine gartenkulturelle Entwicklung von unten am Rande der Industriezentren: Die wilden Gartensiedlungen im Ruhrgebiet und in Berlin (Laubenpieper) wurden später in die bestehenden Struk‐ turen integriert (vgl. Spitthöver 2010, S. 91) und dadurch der Grundstein für die typische deutsche Kleingartenbewegung gelegt, der jedoch ab den 1960er-Jahren ein eher angestaubtes Image anhaftete. „Die Ansprüche an städtisches Grün sind vielfältiger, diversifizierter und multico‐ dierter“ geworden: „Raumpioniere, Zwischennutzer und junge Start-ups eignen sich Freiräume mit einfachen, aber kreativen Mitteln an“ (Becker/ Hübner 2010, S. 97). So entwickelte sich in Berlin seit den 1990er-Jahren eine besondere Open-Air-Party-Szene, 335 Offene Gärten - Neue Wege im Tourismus wobei transatlantische Vorbilder eine wichtige Rolle spielten. Diese Vorbilder waren zwar libertär agierende grass roots, welche aber der Tatsache, dass ihre Ideen von Konzernen als Greenwashing benutzt wurden, wenig entgegenzusetzen hatten. „Ur‐ ban Agriculture“ (Roehr 2011, S. 74) kam beispielsweise so sehr in Mode, dass der US-Konzern Hilton auf dem Dach eines seiner Hotels in London eine eigene Imkerei werbewirksam in Szene setzte. Die Inszenierung ländlicher Idyllen im urbanen Kontext war in jenen Jahren ein globales Phänomen (Landhausstil). Unter Kultusminister Jacques Lang in Paris gab es eine Reihe staatlicher organisierter Events, welche stilbildend waren, etwa ein zum Feiern animierendes Erntespektakel („La Grande Moisson“ 1990 auf den Champs-Élysées). Noch im November 2009 gab es am Prenzlauer Berg eine Kuhkoppel mit Milchbar (vgl. Becker/ Hübner 2010, S. 98). Diese ‚Gags‘ haben weitaus ältere Vorbilder im französischen Rokoko, als die Aristokratie das ländliche Leben, frei nach Rousseau, als Schäferidylle feierte. In den USA und Kanada, aber auch in Berlin entwickelte sich eine gut funktionie‐ rende Kooperation zwischen Bürgerinitiativen und öffentlicher Verwaltung: In Van‐ couver z. B. wandelten Bürgerinnen und Bürger einen städtischen Park in eine sozial integrativ bewirtschaftete Gemüsefarm um, wodurch auch Kosten für die Gesellschaft verringert wurden (vgl. Roehr 2011, S. 75 u. 79). Die erfolgreiche Umgestaltung von ärmeren, vernachlässigten Quartieren führte jedoch auch zu einer Gentrifizierung (gentrification). Die Viertel wurden chic und immer teurer, die Protagonistinnen und Protagonisten dieser Entwicklung, Künstlerinnen und Künstler sowie andere sozial engagierte Gruppen, mussten wegziehen (vgl. Rosol 2010, S. 211). Die Frage einer sozialen Spaltung stellte sich also wieder neu. Schon zuvor, in den 1970er-Jahren, hatten provokative grüne Guerilla-Kunstaktio‐ nen zwar das Bewusstsein verändert, aber genau diesen Prozess unbeabsichtigt in Gang gesetzt. Die als Guerilla Gardening bezeichneten illegalen Pflanzaktionen und Samenbomben-Attacken der New Yorker Künstlerin Liz Christy (1950-1985) waren ab 1973 heimlich erfolgt, um eine offene Konfrontation zu vermeiden (vgl. Bucher 2010, S. 79), und der Witz hatte gerade darin bestanden, dass diese „attack on privatization“ (Weintraub 2015, S. 173) so ruhig und friedlich die okkupierten Orte verschönert und die Nachbarschaften inspiriert hatte und daher alles andere als unmoralisch erschienen war. Der Guerillakrieg gegen ein hässliches Wohnumfeld und für soziales Miteinander in der Stadt hatte letztlich aber auch dazu geführt, dass die Quartiere immer beliebter und teurer wurden. Es war ein neuer, unkonventioneller Chic entstanden, welcher auch etwas Befreiendes hatte. Die Aktionen von Liz Christy und anderen waren wohl deshalb so wirkungsvoll, weil sie „unberechenbarer und sympathischer“ (Konefke 2010, S. 230) waren als das, was sie bekämpften. Plötzlich und unerwartet eröffneten sich neue Wege, sich durch kreatives Tun in einem als wenig inspirierend oder gar als 336 Susanne Gervers 16 Auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Flashmobs berichten von einem intensiv-sinnlichen, vom Alltag abgesetzten Erleben (vgl. Schieder 2011, S. 213 u. 224), was selbst für die bürgerliche Variante noch gilt, dem „Dîner en blanc“ (vgl. Gebhardt/ Waldeyer 2011, S. 239-241 u. 243). „entwürdigend“ (Konefke 2010, S. 231) angesehenen Alltag mit einem Mal (wieder) als Mensch zu erleben. 16 Die neuen gartenkulturellen Initiativen verleihen touristischen Destinationen das gewisse Etwas: Sie ermöglichen authentische Begegnungen mit Einheimischen, bein‐ halten überraschende Momente und führen in interessante junge Viertel, und all das gratis für die touristischen Anbieter oder den Gast selbst. Die hier sichtbare Kreativität tritt hinter die aufregende Kulisse zurück, es werden ganz andere Aspekte wichtig. Der touristische Blick lässt sich nur vorübergehend auf das Andere, Fremde ein, auf andere Lebensentwürfe, die hier anzutreffen sind. Die Ziele einer ökologisch und sozial nachhaltigen Entwicklung, welche in gärtnernden Communitys oberste Priorität erhalten, werden im Tourismus selten ernsthaft angestrebt, die Probleme gerne ausgeblendet. Tourismus richtet sich entweder auf das Vergnügen oder auf etwas vergleichbar Vorübergehendes, wurzelt nicht selbst - das würde seinem Wesen widersprechen. Demgegenüber bedeuten alle gärtnerischen Aktivitäten, selbst der Green Guerilla, immer auch Erdung. 4 Einladung zur Diskussion Diese Erdung wäre vermutlich das, was den touristischen Aktivitäten wieder mehr Intensität - und auch Dauer - verleihen könnte. Gärten zeigen das ganze Spektrum des Mensch-Seins. Dieser riesige Erfahrungsschatz wäre gerade für das Design touristi‐ scher (oder anderer kultureller) Erlebnisse von besonderem Wert. Die Herausforderung würde aber darin bestehen, die Spontaneität und die Lebendigkeit des sozialen Mit‐ einander zu bewahren. Im Tourismus lässt sich die weit verbreitete Überforderung studieren, die viel zu hohen Erwartungen an die freie Zeit fernab des Alltags. Gärten bieten Orte der Ruhe, der Entspannung, Wege zu sich selbst, aber auch Orte der Begegnung, die Möglichkeit aus sich herauszugehen, neue Projekte. Hier wären viele Anknüpfungspunkte zu sehen für einen erneuerten, ökologisch und sozial nachhaltigeren Tourismus. Die Wertfrage wäre auch wieder neu zu stellen, die tieferen Zusammenhänge aufzufinden: etwa auch jene zwischen Gesundheit und Tourismus, worüber wir noch viel zu wenig wissen. 337 Offene Gärten - Neue Wege im Tourismus Literaturhinweise Airbnb (o. J.): Kurzinfos. Online: news.airbnb.com/ de/ fast-facts/ , letzter Zugriff: 09.01.2020. Becker, C. W.; Hübner, S. (2010): Selbermachen. 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Gartentouristinnen und -touristen als unbekannte Wesen bezeichnen; viel zu wenig kennen wir deren Motive, Wünsche und Erfahrungen. 1 Diese Erkenntnis bezieht sich nicht nur auf die Zeit des Tourismusbooms nach dem Zweiten Weltkrieg und das Heute, sondern auch auf jenen Zeitraum, in dem es noch keine nummerierten Ein‐ trittskarten, automatische Zählstationen, QR-Codes oder wissenschaftlich fundierte Umfragen gab. Wir sprechen von jenen Zeiten, in denen auswertige Gartenbesuche‐ rinnen und -besucher noch zu Fuß, mit der Kutsche oder - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - mit der Eisenbahn reisten, um einen Park oder Garten besichtigen zu können. 1 Gartenbesucher ist nicht gleich Gartenbesucher Es ist im Folgenden zu unterscheiden, ob Menschen private oder öffentliche Grünan‐ lagen besichtigten, denn öffentlich zugängliche Anlagen (bzw. eine Öffentlichkeit), wie wir sie heute kennen, bildeten sich erst im Laufe des 18. Jahrhundert aus, als Adelige ihre privaten Anlagen öffneten. Erst im 19. Jahrhundert errichteten in Kontinentaleu‐ ropa die Stadtkommunen die ersten eigens für die breite Öffentlichkeit zugänglichen Parkanlagen. Ebenfalls zu unterscheiden ist zwischen einheimischen und auswärtigen Besucherinnen und Besuchern sowie zwischen beruflich und nicht beruflich bedingten Besuchen (Laien und Fachbesucherinnen und -besuchern), da die Gründe des Besuches unterschiedlich sein konnten: Für Einheimische wird der Erholungsfaktor größer anzusetzen sein als für Auswärtige, bei Fachbesucherinnen und -besuchern spielte die aktuelle Pflanzenkultur und -vielfalt sowie das Kennenlernen neuer Techniken im Gartenbau eine größere Rolle als bei Laien. Das grundsätzliche Problem bei der Frage nach den Motiven, dem Verhalten und den Erfahrungen der Gartenbesucherinnen und -besuchern in früheren Jahr‐ hunderten liegt darin begründet, dass wir über die Mehrzahl der Besucherinnen und Besucher keine Informationen haben, da diese keine (schriftlichen) Spuren hinterlassen haben. Diese Situation veränderte sich erst im Laufe des 18. Jahr‐ hunderts: Nun berichteten Reisende höherer Gesellschaftsschichten in Briefen, Reisejournalen oder Tagebüchern von den besuchten Gärten und Parks. Manche dieser Quellen sind erst im 20. Jahrhundert veröffentlicht oder ausgewertet worden. Die gesellschaftliche Stellung ist von großer Relevanz, denn meist sind es Adelige, über deren Reiserouten wir heute dank zahlreicher Veröffentlichungen Bescheid wissen. Als Beispiele seien die Italienische Reise von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und die Reisen von Leopold III. Friedrich Franz Fürst von Anhalt-Dessau (1740-1817), die er teils gemeinsam mit seinem Baumeister Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (1736-1800) und seinem Hofmeister Georg Heinrich von Berenhorst (1733-1814) unternahm, genannt. Ebenfalls zu beachten ist die wenig überraschende Erkenntnis, dass über öffent‐ lich zugängliche Gärten und Parks mehr Berichte vorliegen als über private. In den Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt aufkommenden Reisehandbüchern, die sich an das Bürgertum richteten, wurden v. a. öffentlich zu betretende Garten- und Parkanlagen vermerkt und auch private, die mittels Anmeldung besichtigt werden konnten. Unzugängliche Gärten und Parks wurden - wenn überhaupt - nur in einer Randnotiz erwähnt. Ein Seltenheitsfall ist gegeben, wenn für einen Garten oder Park ein Gästebuch geführt wurde und dieses erhalten ist. Einer dieser wenigen Fälle ist jener der Eremitage von Arlesheim, die als bedeutendster Landschaftsgarten in der Schweiz gilt. Hier sind die Gästebücher aus den Jahren 1787 bis 1792 vollständig erhalten. Aus der Zeit nach der Wiedereröffnung der Eremitage im Sommer 1812 existieren jedoch nur lückenhaft erhaltene Gästebücher (vgl. Hug 2008, S. 500). Auch wenn diese Gästebücher - außer Namen, Beruf und Wohnort - keine speziellen Informationen über die Besucherinnen und Besucher aus dem Adel, Bürgertum und Handwerk festhalten, ermöglichen sie uns, den gesellschaftlichen Stand der Reisenden, den Ausgangspunkt der jeweiligen Reise und die geografische Anziehungskraft der besuchten Anlage in Arlesheim zu bestimmen. Über die Motive der Besucherinnen und Besucher sowie deren Verhalten sagen sie hingegen nichts aus. 344 Christian Hlavac 2 Öffnung herrschaftlicher Gärten Die allmähliche Öffnung herrschaftlicher Gärten und Parks im 18. Jahrhundert ermöglichte einerseits den Zugang für viele Gesellschaftsschichten und verstärkte andererseits das Interesse an deren Besichtigung (pull and push). Oft wird jedoch übersehen, dass man schon am Ende des Hochbarocks vereinzelt Anlagen für die breite Gesellschaft zugänglich machte: So wurde beispielsweise im Jahr 1727 unter Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen (1670-1733) der zentrale Teil des Sächsischen Gartens in Warschau samt dem Großen Salon für die Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner geöffnet (vgl. Sächsische Schlossverwaltung 1997, S. 42). Dass die Begehbarkeit von herrschaftlichen Gärten im 18. Jahrhundert differenziert betrachtet werden muss, zeigt das Beispiel des Großen Gartens in Dresden: Gegen die Annahme, dieser Barockgarten sei im frühen 18. Jahrhundert einer breiteren Öffentlichkeit verschlossen gewesen, sprechen zahlreiche schriftlich festgehaltene Einschränkungen für Besuche in der Zeit zwischen 1715 und 1719. Cornelia Jöchner spricht in diesem Zusammenhang von einer „Art kontrollierter Öffentlichkeit des Gar‐ tens“ ( Jöchner 2001, S. 80) zu jenen Zeiten, in denen dort keine Feste stattfanden. Erst der Befehl von Friedrich August I., den ganzen Garten mit einer „Verwachungsmauer“ zu versehen, stellte eine „Einschränkung des Gartenbesuchs auf Personen von Stand dar.“ ( Jöchner 2001, S. 80). Schließlich wurde 1815 der bedingt öffentlich zugängliche Hofgarten vollständig „zum Vergnügen des Publicums“ (Blanke 2001, S. 21) geöffnet, wie es in einem Hofakt heißt. Hingegen waren die Anlagen des Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau in Wörlitz schon immer für jedermann zugänglich; einen umgrenzenden Zaun oder eine Mauer, welche den Zutritt verwehrt hätte, gab es nie. Ausgenommen waren nur Zweckbauten und Wirtschaftsbereiche, die den Besucherinnen und Besuchern versperrt blieben oder kontrollierbar sein mussten (vgl. Trauzettel 1993, S. 58). Aus‐ drücklich wurde jedoch untersagt, die Wege zu verlassen und ein Picknick im Grünen abzuhalten (vgl. Rode 1798, S. 10). Bei der Beschäftigung mit dem Thema, wann herrschaftliche Gärten und Parks für die Öffentlichkeit geöffnet wurden, besteht die Gefahr, einer urban legend an‐ heimzufallen, die besagt, viele dieser Anlagen wären erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die breite Öffentlichkeit zugänglich gewesen. Ein Klassiker unter diesen Legenden handelt vom Wiener Augarten, der durch Ankauf angrenzender Liegenschaften unter Kaiser Leopold I. (1640-1705) vergrößert wurde. So erwähnt der preußische Freiherr Karl Ludwig von Pöllnitz 1729 nach seinem Besuch in Wien: Der kaiserliche Augarten enthält die „anmuthigsten Spatzier-Gänge“ und wird v. a. des Abends von „ehrbaren Leuten“ besucht (Pöllnitz 1739, 2. Teil, S. 39). Es hält sich hartnäckig die Meinung, der Augarten wäre vor der allgemeinen Öffnung durch Kaiser Joseph II. im Jahre 1775 nur Angehörigen des Kaiserhauses und des höchsten Adels zugänglich gewesen. Doch hält diese Geschichte einer näheren Untersuchung stand? Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung ist ein Avertissement vom 8. April 1775: 345 Die Gartenbesucherinnen und -besucher „Da die Zeit herannaht, daß der Augarten, welchen Ihre k. k. Majestäten zur Ergötzung des allhiesigen Publikums allergnädigst gewiedmet, und zu desselben Eröfnung den letzten dieß Monats Aprils bestimmt haben, so wird solches dem allhiesigen Publikum mit dem Beysatze zu wissen gemacht, daß selber ohne Ausnahme das ganze Jahre zu allen Tagen, Vor- und Nachmittag offen stehen, und darinn alles dasjenige zu handeln erlaubt seyn würde, was eine vernünftige Polizey gestatten kann, und in allen übrigen Tanzsälen oder Gärten erlaubt ist.“ (Wienerisches Diarium, Nr. 28, 8. April 1775, S. 7) Dass der Augarten bereits vorher stark besucht war, zeigt u. a. eine Nachricht in der Tageszeitung Wienerisches Diarium vom 7. Dezember 1774: „Da seit ein paar Jahren her, Ihre Majestäten wahrgenommen haben, daß das Wiener Publikum unterschiedlichen Standes, sich vorzüglich des im Augarten erlaubten öffentlichen Spatzierganges häufig bediente; so haben Allerhöchstdieselbe entschlossen, diesen Garten, samt seinen Gebäuden gänzlich dem Publiko zu seiner Unterhaltung zu widmen“ (Wieneri‐ sches Diarium, Nr. 98, 7. Dezember 1774, S. 8). Anscheinend akzeptierte das Kaiserhaus mit dieser Maßnahme lediglich die realen Verhältnisse, nämlich dass der Augarten zahlreich und von verschiedenen sozialen Schichten benutzt wurde. Bereits der Thüringer Johann Basilius Küchelbecker schrieb 1730 über die Residenzstadt Wien: „Eine sehr schöne und angenehme Promenade ist der so genannte Au-Garten, oder die alte Kayserliche Favorita, welcher den gantzen Sommer hindurch offen stehet, und derjenige Ort ist, allwo man gegen Abend le beau monde de Vienne gemeiniglich antrifft.“ (Küchelbe‐ cker 1730, S. 386) Ähnlich äußerte sich der Deutsche Johann George Keyßler im Jahr 1741: „Der Au-Gar‐ ten steht zu aller Jahres-Zeit offen, und ist wegen seiner angenehmen Gänge, Hecken und luftigen Wäldlein niemals ohne vornehme Leute.“ (Keyßler 1741, S. 941) Diese und andere zeitgenössischen Publikationen zeigen, dass erstens der Augarten allen sogenannten vornehmen Leuten - ohne dass genau bestimmt werden kann, wer konkret mit diesem Begriff gemeint ist - sehr wohl schon vor 1775 offenstand und zweitens auch Personen anderer Schichten und Reisende diese Grünfläche vor 1775 betreten durften. Im Gegenzug stellt sich die Frage, ob der Augarten ab Mai 1775 tatsächlich für alle Menschen zugänglich war. Johann Pezzl meint dazu im Jahr 1789 entwaffnend: „Da der Pöbel aber neben den unzähligen reich und schön gepuzten Weibern und Männern eine gar elende Figur machen würde, so bleibt er von selbst weg.“ (Pezzl 1789, S. 699) Diese soziale Beschränkung hatte mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch mit der Eingangskontrolle zu tun. Der Zutritt zum Augarten wurde nämlich - wie es 1779 heißt 346 Christian Hlavac 2 Gemeinnütziges Schema der kaiserl. königl. Haupt- und Residenzstadt Wien 1779, o. S. Siehe auch den eigenhändigen Befehl von Kaiser Joseph II. betreffend den einen der beiden Portiere vom 31. Juli 1776 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Sign. 3.1.3.A1.728). - an den beiden Eingängen von je einem „kaiserlichen Portier“, der „Ordnung wegen und um Bettler und unnützes Gesindel abzuhalten“ 2 , kontrolliert. Das Instruction und Verhaltungs Reglement 1753 für den Gärtner des in Sachsen-An‐ halt gelegenen Hundisburger Schlossgartens zeigt, dass im 18. Jahrhundert unspe‐ zifisch zwischen den beiden Polen ‚Personen von Stand‘ und ‚einfachen Leuten‘ unterschieden wurde. Es dürfte demnach im Ermessen der vor Ort verantwortlichen Gärtner gelegen haben, eine Differenzierung vorzunehmen. Jedenfalls heißt es in Punkt 19 des Reglements: „Denen Frembden und Persohnen vom Stande und Condition so etwa unsern Garten besehen und sich darin Recreation machen, hat er mit aller Höfflichkeit zubegegnen, ihnen was sie zusehen verlangen zu zeigen, keines weges aber allerley schlechte Leute und verdächtige Persohnen oder liederliches Gesindel auff den Garten zulaßen“ (Blanke 2007, S. 59). 3 Das Verhalten der Besucherinnen und Besucher sowie ihre Reglementierung In der Zeit der Aufklärung wird der neue, menschenfreundliche Ansatz, nämlich die Öffnung der herrschaftlichen Gärten, auch in manchen Besucherordnungen er‐ sichtlich, wie das Beispiel des Schwetzinger Schlossgartens aus dem Jahr 1787 zeigt. Demnach ist Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz (1724-1799) „keineswegs entgegen, sondern vielmehr gnädigst gesonnen[,] einem jeden Aus- und Einhei‐ mischen ohne Unterschied des Standes den freyen Zutritt in den Schwezinger Herrschafftli‐ chen großen Lust-Garten wie vorher mildest zu gestatten.“ (Mannheimer Geschichtsblätter 11 (1910), S. 116, zitiert nach: Szymczyk-Eggert 1993, S. 149) Trotzdem lesen wir ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vonseiten der Eigentümer, Verwalter oder zuständigen Gärtner so gut wie nie positive Nachrichten über die Besucherinnen und Besucher aus niederen sozialen Schichten. Im Gegen‐ teil: Informationen zu den Aktivitäten von Garten- und Parkbesucherinnen bzw. -besuchern erhalten wir fast ausschließlich mittels negativer Erfahrungen, welche die Eigentümer, Verwalter oder hauptverantwortlichen Gärtner machten. Wenn damals über Besucherinnen und Besucher berichtet wurde, dann fast immer in einem negativen Kontext: Wenn Gehölze beschädigt sowie Blumen ausgerissen wurden oder sonstiger Unfug passierte. Direkte Folge dieser negativen Erfahrungen waren in vielen Anlagen sogenannte Gartenordnungen, die festhielten, was im Garten erlaubt und was zu unterlassen ist. Diese führen - so die These - all jene Aktivitäten an, die im jeweiligen Garten ausgeübt wurden und verboten werden mussten, sei es, weil Dinge beschädigt wurden oder das sittliche Empfinden gestört wurde. Dabei wird 347 Die Gartenbesucherinnen und -besucher 3 Kopie des Schreibens (ohne Signatur) vom 17. Mai 1808 im Nachlass von Franz Weber (Baden bei Wien), Transkript erstellt vom Verfasser des Beitrags. man - wie auch heute üblich - Erfahrungswerte von anderen Gärten übernommen haben. Diese Erfahrungen könnten die Eigentümer bzw. hauptverantwortlichen Gärtner mittels eigener Anschauung in fremden Anlagen gesammelt oder über Briefe sowie bei persönlichen Gesprächen untereinander ausgetauscht haben. Urte Stobbe hat in diesem Zusammenhang jedoch berechtigt darauf hingewiesen, dass Gartenordnungen als normative Texte nur bedingt darüber Auskunft geben, wie sich Besucherinnen und Besucher tatsächlich verhielten, also wie das gewünschte Verhalten in der Praxis aussah (vgl. Stobbe 2011, S. 250). Das erwünschte Verhalten wurde nicht nur den Besucherinnen und Besuchern mittels Hinweistafeln an den Eingängen kundgetan, sondern auch dem Personal vor Ort durch Dienstanweisungen. Beispielsweise teilte 1808 der Obersthofmeister des österreichischen Kaisers Franz I. (1768-1835) den Wachen in Schönbrunn bei Wien Folgendes mit: „Auf allerhöchsten Befehl, ist der Eintritt nur anständig gekleideten Personen, welche keine Packete und dergl. tragen, gestattet; und ist verbothen, die Vasenplätze [= Rasenplätze] und Bosquets zu betreten, Taback zu rauchen, große Hunde mit sich zu führen, Bäume, Spaliere, oder Blumenbeete zu beschädigen, und der Gartenwache, welcher hierüber die strengsten Befehle ertheilt sind, entgegen zu handeln.“ 3 In manchen Fällen wurden eigens Parkwächter eingestellt, um das Verhalten der Be‐ sucherinnen und Besucher zu regulieren. So existiert aus dem Juni 1807 ein Runderlass von Nikolaus II. Fürst von Esterházy, der für den Eisenstädter Schlosspark (Burgenland) eine Parkordnung für Hofangestellte und deren Angehörige festlegte: „Um die hiesige Englische Anlage von allen Schaden zu bewahren, sind auf hochfürstlichen Befehl eigene Garten Wächter aufgestellet, wie wohlen es in keinen Zweifel gezogen werden will, dass Alle welche die hohe Gnade haben in hochfürstlichen Dienst zu stehen samt Ihren angehörigen die fürstliche Gnade welche Ihnen den Zutritt in den Hofgarten zu Ihrer Erholung und Unterhaltung frey gestattet, danknehmig anerkennen, und solche ja nicht missbrauchen werden, so will man doch zum Uiberfluss erinnern [, dass nicht abseits der Wege gegangen und der Rasensaum betreten werden darf sowie das Pflücken von Blumen und das Mitführen von Hunden verboten ist.]“ (Harich, 1934, S. 38, zitiert nach: Prost, 2001, S. 53 f.) Beim Regulieren des Verhaltens der Besucherinnen und Besucher im Park Schönbusch in Aschaffenburg (Bayern) spielten hingegen die zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle. Der Park des Kurfürsten und Erzbischofs Friedrich Carl Joseph von Erthal (1719-1802) war bis auf einen kleinen Privatgarten beim Schloss ab spätestens 1783 öffentlich zugänglich. Die eigens aufgestellte Parkwache hatte dafür zu sorgen, dass die „sittliche bürgerliche conduite“ nicht durch „ruhestörendes Berauschen“ oder gar 348 Christian Hlavac 4 Mit der Schnecke ist eine Gartenarchitektur gemeint. durch „Ausschweifungen beiderlei Geschlechtspersonen“ (Gartenordnung 1783, zitiert nach: Helmberger 2010, S. 18) gestört werde. Von Missbrauch und Fehlverhalten durch Einheimische im sogenannten Welschen Garten bei Weimar berichtet der sächsisch-weimarische Kammerpräsident Karl Alex‐ ander von Kalb. Er beklagt im Mai 1775, es sei von dem dort angestellten Gärtner „darüber häufige Beschwerde geführt worden, daß so viele Einwohner hiesiger Residenz Stadt Kinder und Domestiquen in dem ihm übergebenen Garten eindringen, darin alle in einem Herrschaftl. Garten zu beobachtende Wohlanständigkeit ihre Hunde mitnehmen, die Hecken durchstreichen, die Schnecke 4 verunreinigen, den Nachtigallen nachstellen, und durch allerley Unfug dasjenige, was er in guten Stand zu setzen bemüht sey, freventlich wiederum ruiniren“ (Müller-Wolff 2007, S. 27). Glaubt man Joseph Rückert und seinem 1800 veröffentlichten Reisebericht über die Residenzstadt Weimar und den Park im Ilmtal, so hatte sich 25 Jahre später die Situation geändert: „Jedem, Einheimischen und Fremden, ist der freiste Genuß des Parks gewährt. - Man liest die Humanität des Besitzers auf der einzigen Veto-Tafel des ganzen Gartens, welche am Wege die Vorübergehenden bittet, Blumen und Bäume zu verschonen; welches dann auch zur billigen Folge hat, daß im ganzen Jahr nicht das Mindeste beschädigt und keine einzige Schönheit des Ortes entweiht wird.“ (Müller-Wolff 2007, S. 215) Zu beachten ist dabei, dass der ehemalige Mönch und spätere Philosophieprofessor seinem Lob über den humanen Fürsten ein Plädoyer für die Erziehung zur Mündigkeit folgen lässt. Es stellt sich daher die Frage, ob das eigenverantwortliche Verhalten der Besucherinnen und Besucher mehr Wunsch des Autors als Realität war. 4 Einschränkungen für Besucherinnen und Besucher Im Gegensatz zu heute konnten im späten 18. und im 19. Jahrhundert viele Gärten und Parks nicht alleine besichtigt werden bzw. waren nicht rund um die Uhr und nicht täglich für die Allgemeinheit geöffnet, wie die folgenden Beispiele zeigen. In Machern nahe Leipzig war der gräfliche Landschaftsgarten laut einer einst am Eingang angebrachten Tafel ausschließlich sonntags für Besucherinnen und Besucher geöffnet, er durfte aber dann nur in Begleitung eines der diensthabenden Gärtner besichtigt werden, die „von dem Grafen den Befehl erhalten, den ankommenden Gästen mit Gefälligkeit zuvor zu kommen, und die Cicerone des Gartens zu seyn“ (Thiele 1798, S. 25, zitiert nach: Winter 2018, S. 227), wie es 1798 in einem Reiseführer heißt. Auch im Landschaftsgarten des Johann Philipp Graf von Cobenzl (1741-1810) nahe bei Wien standen den Besucherinnen und Besuchern Führer zur Verfügung. So berichtet Joseph Carl Rosenbaum am 31. Mai 1801 in seinem Tagebuch, dass ihnen der 349 Die Gartenbesucherinnen und -besucher Cobenzlʼsche Verwalter beim Besuch einen Gärtner als Führer durch den weitläufigen Garten mitschickte (vgl. Prokop 2016). Ab 1798 entstand in einer Erweiterungsfläche des Schlossparks Laxenburg bei Wien eine neogotische Burgveste (Franzensburg) samt umliegender Parklandschaft als so‐ genannter Rittergau, der die Vermittlung jahrhundertelanger Tradition habsburgischer Herrschaft zum Inhalt hatte. Dementsprechend öffnete man dieses Areal bereits nach der Fertigstellung dem Publikum, wobei der Zutritt nur „distinquirten und reinlichen Leuten“ (zitiert nach: Hanzl-Wachter 2001, S. 252) gestattet war, wie es in einem Bericht des Schlosshauptmannes Johann Sebastian Michael Riedl vom März 1799 heißt. Im Jahr 1799 wurde eigens ein Zimmerwärter angestellt, der auch Fremde im Park und den Parkgebäuden herumzuführen hatte (vgl. Schober 2006, S. 304). Der herrschaftliche Garten von Joseph Carl Graf von Dietrichstein (1763-1825) und seiner Frau Elisabeth in Merkenstein (Niederösterreich) war vom Frühjahr an für jedermann zugänglich, wobei es an den Eingängen Hinweistafeln mit einer Art Parkordnung gab, die einige Maßregeln für den Hausmeister und Gärtner wiedergaben. Der Gärtner als auch der Hausmeister hatten die Gäste im Garten zu begleiten und bei Interesse die Lusthäuser aufzusperren (vgl. Pichler 2002, S. 296 f.). Durch die Anweisung, dass Besucherinnen und Besucher die Gärten nur mit einem Gärtner betreten durften bzw. durch das Angebot, einen Führer zu nehmen, konnten die Eigentümer bis zu einem bestimmten Grad die Wahrnehmung durch die Besucherinnen und Besucher sowie somit die (ver-)öffentliche Meinung über die jeweilige Anlage steuern. Andererseits dürfte diese Maßnahme auch dazu gedient haben, die steigende Zahl an interessierten Besucherinnen und Besuchern zu regeln. Der Park von Blenheim Palace (England) ist ein Beispiel für festgelegte Besuchs‐ zeiten. Erzherzog Johann von Österreich notierte dazu in seinem Tagebuch über seine 1815/ 1816 erfolgte England-Reise: „Gleich [beim Gasthaus] erblickt man die Ankündigung, daß der Parc und das Schloß für jedermann zu sehen und die Stunden von 3 bis 6 Uhr nachmittags seyen“ (Erzherzog Johann von Österreich 2010, S. 213). Dass manche Anlagen nur an bestimmten Tagen geöffnet waren, zeigen zwei weitere Beispiele. So war der herzogliche Park in Gotha im Jahr 1786 unter Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745-1804) nur während seiner Abwesenheit und nur „Donnerstags und Sonntags bloß für die Noblesse und für die Honoratiores zum freien Spaziergang“ (Beck 1870, S. 63, zitiert nach: Müller-Wolff 2007, S. 189) geöffnet. Sein Nachfolger Herzog Friedrich IV. (1774-1825) gestattete den Gothaer Bürgerinnen und Bürgern, den Park einschließlich des Orangeriegartens zu besuchen, zunächst jedoch nur an jedem Freitag (vgl. Scheffler 2013, S. 30). Für die Berliner Pfaueninsel hatte im Mai 1821 das Hofmarschallamt bekannt gemacht: „Es wird hierdurch zur öffentlichen Kenntnis gebracht, daß jetzt die Königliche Pfaueninsel nur an 3 Tagen in der Woche und zwar am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag vom Publikum besucht werden kann.“ ( Jühlke 1872, S. 240, zitiert nach: Seiler 2020, S. 91) In der 1837 erschienenen Ausgabe des Wegweiser auf der Pfaueninsel von Gustav Adolph Fintelmann (Hofgärtner und Kastellan) heißt es, dass die Pfaueninsel „den 350 Christian Hlavac Bewohnern von Berlin, Potsdam und der Umgegend an zweien bestimmten Tagen der Woche: Dienstag und Donnerstag“ (Fintelmann 1986, S. 35) offenstehe. Ausgenommen von dieser Einschränkung waren hingegen „Reisende[, denn diesen durfte] auch an jedem andern Tage der Eintritt erlaubt werden, wenn nicht die Allerhöchsten Herrschaften hierselbst verweilen, oder Sr. Majestät in diesem Falle zu befehlen geruhen, dass die angemeldeten Fremden herumgeführt werden.“ (Fintelmann 1986, S. 36). Hier zeigt sich, dass in manchen Anlagen deutlich in Einheimische und Reisende unterschieden wurde. 5 Herrschaftliche Gartenbesucherinnen und Gartenbesucher Im Laufe des 18. Jahrhunderts gingen immer mehr Adelige auf Bildungsreise, die sie zuerst v. a. nach Italien, im Laufe der Jahrzehnte verstärkt jedoch auch oder nur auf die Britischen Inseln führte. So machte z. B. Lord Burlington, Erbauer von Chiswick House, in den Jahren 1714/ 1715 eine Grand Tour nach Italien; Horace Walpole, Schriftsteller und Eigentümer von Strawberry Hill, folgte im selben Jahr; Charles Hamilton (1704-1786), späterer Schöpfer von Painshill Park (England), fuhr im Jahr 1725 auf seine erste Grand Tour nach Italien, der 1732 eine zweite - ebenfalls nach Italien - folgte (vgl. Painshill Park Trust o. J., S. 1 u. 18); Henry Hoare II. (1704-1785), Schöpfer von Stourhead Garden, ging 1738 für drei Jahre auf seine Grand Tour, die er hauptsächlich in Italien verbrachte (vgl. Woodbridge 2002, S. 12). Sie alle schufen nach ihrer Rückkehr Gärten und Parks im landschaftlichen Stil, die Jahre später für die Kontinentaleuropäerinnen und -europäer zur Referenz wurden. Einer der bekanntesten deutschsprachigen Adeligen, der zu den Stätten der Antike und den englischen Landsitzen reiste und der später für seine eigenen Gartenanlagen berühmt wurde, war der bereits erwähnte Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Des‐ sau. Er unternahm zwischen 1763 und 1785 vier Reisen ins Ausland: nach Belgien, Holland, Frankreich, Österreich, Schweiz, Schottland, viermal nach England und dreimal nach Italien. Des Fürsten erste Reise 1763/ 1764 nach England galt ausdrücklich auch dem Interesse an großartigen Bauwerken, Parks und dem Gartenbau. Auf dieser Reise besichtigte er - laut den Reisenotizen seines Reisebegleiters Erdmannsdorff, die aufgrund seines Berufs insbesondere der Architektur gewidmet sind - u. a. die Parks von Greenwich, Hampton Court sowie die Landschaftsgärten von Stowe, Claremont, Blenheim, Chatsworth und Rousham (vgl. Erdmannsdorf 2001, S. 11). Eine Reise durch die Gärten Englands war ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine Institution im britischen Königreich. Es wurde Mode, von Garten zu Garten zu reisen, um selbst zu sehen und zu erleben, was die neuen Anlagen zu bieten hatten. Die Gar‐ tenbesitzerinnen und -besitzer richteten sich mit Unterkünften in eigens errichteten Logierhäusern und eigenen kleinen Pferdefuhrwerken darauf ein. So wurde im Jahre 1756 im Castle Howard ein eigener Seitenflügel als Logierraum für Gartentouristinnen und -touristen geschaffen. Im Garten von Rousham gab es einen separaten Eingang 351 Die Gartenbesucherinnen und -besucher für Besucherinnen und Besucher sowie eigene Besuchstage (vgl. Rogger 2004, S. 47). Urte Stobbe geht davon aus, dass reisende Gartenbesitzerinnen und -besitzer nicht nur Anregungen für ihre eigenen bestehenden oder geplanten Gärten mitbrachten, sondern vor Ort auch die jeweiligen Zutritts- und Besucherregeln kennenlernten und gegebenenfalls übernahmen (vgl. Stobbe 2011, S. 249). Auch Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785-1871), der für die mitteleuropäi‐ sche Gartenkunstentwicklung bedeutend ist, begab sich auf Reisen. Seine Ziele waren England, Wales, Irland, Frankreich, Holland und Deutschland. Wie seine Aufzeichnun‐ gen belegen, interessierte ihn dabei auch die Anlegung von Park- und Gartenanlagen unter verschiedenen klimatischen und geologischen Bedingungen. Allein bei seinem langen Englandaufenthalt zwischen 1826 und 1829 besuchte Pückler über 70 Landsitze und beschrieb diese ausführlich. Er betrachtete englische Landsitze niemals nur unter dem Aspekt der Architektur, der Sammlungen oder des Gartens, sondern immer in ihrer Ganzheit. Dass er sich jedoch besonders für Gärten samt Gewächshaustechnik interessierte, hing mit seinen eigenen Planungen für Muskau zusammen. Dieses Reisemotiv teilte der fachlich versierte Fürst in gewisser Weise mit allen Gärtnern, die sich aufgrund ihrer Profession nach England begaben (vgl. Brey/ Brey 2005, S. 69). Im Reigen der reisenden Adeligen, die einen starken Fokus auf die Gartenkunst legten, ist Fürst Pückler-Muskau jedoch insofern eine Ausnahme, als von ihm Aufzeichnungen aus eigener Hand über seine Reise erhalten sind; in den meisten anderen Fällen liegen keine Details über die Reiserouten, die Anzahl der besuchten Anlagen, die Dauer des Besuchs, die Eindrücke der Reisenden oder andere relevante Daten vor. 6 Schriftliche Äußerungen von Gartenbesucherinnen und Gartenbesuchern Wie schon oben angemerkt, sind schriftliche Augenzeugenberichte über Gärten und Parks im betrachteten Zeitraum selten. Selbst vom kunstaffinen Goethe erfahren wir sehr wenig darüber, was er bei seiner Reise durch Italien in den einzelnen Grünanlagen tat. Von seinem Besuch des Gartens Giusti in Verona im September 1786 schreibt er nur, dass er von dort einen Zweig von einer der zahlreichen, damals bereits sehr alten und über mehrere Reisebeschreibungen bekannten Zypressen mitgenommen habe (vgl. Goethe, Nachdruck 2000, S. 54). Im Botanischen Garten von Padua ging er umher und machte sich dabei „botanische Gedanken“ (Goethe, Nachdruck 2000, S. 64) um die Ent‐ stehung der Artenvielfalt. Bei vielen anderen Anlagen - als Beispiel sei der Königliche Garten von Caserta bei Neapel genannt - können wir aus seinen Beschreibungen nicht herauslesen, was er konkret vor Ort gesehen und wie lange er sich dort aufgehalten hat (vgl. Goethe, Nachdruck 2000, S. 224). Dieser geringe Informationsgehalt lässt sich auch bei anderen Reisebeschreibungen von Bildungsreisenden beobachten, wie die Grand Tour von Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau in der Zeit von 1765 bis 1767 durch Italien und Frankreich zeigt. Im Reisejournal seines Begleiters Berenhorst erfahren wir von mehreren Besuchen bekannter Gärten, wie z. B. Caserta (1766), Villa d’Este (1766) oder Fontainebleau (1766); doch nur beim Besuch der Boboli-Gärten im 352 Christian Hlavac 5 Handschriftlicher, unpaginierter Bericht über die Studienreise von Josef Vesely, datiert mit 22. Okto‐ ber 1882. Österreichisches Staatsarchiv, Signatur AT-OeStA/ HHStA HA OMeA 1061-34/ 3. Transkript durch Verfasser des Beitrags. Juni 1766 wissen wir - immerhin -, dass zumindest Berenhorst diese bis zum höchsten Punkt erklommen hat (vgl. Losfeld/ Losfeld 2012, S. 117). 7 Gärtner als Fachbesucher Beruflich bedingte Reisen von Gärtnern sind als eine Form des Kulturaustauschs und der Wissensaneignung zu verstehen. Zu unterscheiden sind für den hier zu betrachteten Zeitraum unterschiedliche Typen von Fachreisen (vgl. Seiler/ Wimmer 2004, S. 164-173): ● Gesellenreisen, die oft vom späteren Arbeitgeber finanziert wurden und als Ausbildungsreisen gelten, ● Dienstreisen, welche oft der Begleitung von Pflanzentransporten dienten, ● ab dem späten 19. Jahrhundert Weiterbildungsreisen - beispielsweise zum Besuch von Kongressen. Im 18. und 19. Jahrhundert waren die Reiseziele der deutschsprachigen Gärtner fast immer Deutschland, Ostösterreich, Holland, Belgien, Frankreich und Großbritannien. Empfehlungsschreiben waren auf diesen Reisen übliche Türöffner und die Anmeldung beim hauptverantwortlichen Gärtner einer herrschaftlichen Anlage obligatorisch. Genaue Daten über diese Gärtnerreisen sind leider rar. Die wenigen erhaltenen Reiseberichte - meist für die Dienstgeber der Gärtner als Beweis der Reisetätigkeit und der Wissensaneignung gedacht - ermöglichen heute nicht nur einen Blick auf den Zustand und die Ausstattung der jeweils besuchten Gärten, Parks, Baumschulen und Gärtnereien, sondern sie geben auch Auskunft über das Wissen der reisenden Gärtner hinsichtlich der Pflanzen, deren Anzucht und Pflege, über aktuelle Gestaltungsmo‐ den, moderne Gewächshaustechnik usw. sowie über ihr berufliches Netzwerk (vgl. Hlavac 2020, S. 109-117). Sie geben auch Auskunft über den Erfahrungsschatz, den die Gärtner beim Besuch von und bei der Arbeit in Gärten und Parks sammelten. So hält z. B. der spätere k. k. Hofgärtner Josef Vesely (1841-1911) in seinem Bericht über seine zweimonatige Studienreise 1882 durch Europa für das Obersthofmeisteramt in Wien fest, „dass wir immer nur das Wichtigste vor Augen hatten, nämlich uns möglichst schnell über Sachen zu informieren, aus denen wir für unseren Dienst den möglichst grössten Nutzen ziehen konnten; denn nach ganz unscheinbaren Dingen lernt man oft den Gärtner, lernt man besser seine Gärtnerei kennen; man entdeckt manchmal Gegenstände, die man umsonst selbst tagelang in einem Garten gesucht.“ 5 Ähnlich äußerte sich der Bremer Gärtner Carl Kommer (1815-1865), der nach seiner dreijährigen Lehre in Oldenburg für sieben Jahre (1833-1840) auf Wanderschaft ging 353 Die Gartenbesucherinnen und -besucher 6 Schreiben von Adolph Vetter vom 29. März 1887, Österreichisches Staatsarchiv, Signatur AT-OeStA/ HHStA HA OMeA 1129-34/ B/ 8. 7 Bericht des k. k Hofgärtners Anton Umlauft, über seine Studienreise durch Deutschland, Holland und Belgien im Mai und Juni 1887, Österreichisches Staatsarchiv, Signatur AT-OeStA/ HHStA HA OMeA 1129-34/ B/ 8. und u. a. als Gehilfe im Garten des Lustschlosses Belvedere nahe Weimar und im Garten von Schönbrunn nahe Wien arbeitete. Über seine Tätigkeit in Schönbrunn schreibt er in einem Brief an seine Mutter: „Ich darf wohl sagen, dass ich hier so viel, als mir nur irgend möglich war, meine Kenntnisse bereichert habe, und jede Gelegenheit habe ich dazu mit Freuden ergriffen.“ (Kommer, zitiert nach: Hollanders, 1996, S. 92) Reisezweck von Fachbesuchern waren die Aneignung von Wissen für sich selbst und indirekt auch für den Dienstgeber sowie das Kennenlernen von und das Gespräch mit anerkannten Fachkollegen im In- und Ausland. Dieser Aspekt ist auch heute noch bei der „Offenen Gartenpforte“ bzw. „Offenen Gartentür“ und somit bei Laien von Relevanz: Es heißt die Gelegenheit nutzen, mit anderen Gartenbegeisterten ins Gespräch zu kommen und zu fachsimpeln. Doch kommen wir auf die Fachreisen zurück. Eine beachtliche, aber nicht genau festzulegende Zahl deutschsprachiger (Hof-)Gärtner unternahm im 18. und 19. Jahr‐ hundert im Auftrag und somit im Interesse des Dienstherrn eine beruflich bedingte Bildungsreise. Zwei Gärtner sind als bekannte Beispiel zu nennen: Friedrich Ludwig von Sckell (1750-1823) unternahm im Auftrag seines Landesfürsten Karl Theodor in den Jahren 1773 bis 1776 eine Bildungsreise nach England. Der spätere preußische Gar‐ tendirektor Peter Joseph Lenné (1789-1866) wurde vom preußischen König ebenfalls nach England entsandt, wo er im Spätsommer/ Herbst 1822 zahlreiche Gartenanlagen studierte (vgl. Wimmer 2016, S. 179). Im Unterschied zu Laien war die zu wählende Route von Gärtnern in den allermeis‐ ten Fällen genau geregelt. Beispielsweise hat sich die vom Vorgesetzten vorgegebene Reiseroute des k. k. Hofgärtners Anton Umlauft (1858-1919) zu einer „Studienreise im Gartenbaufache für das Deutsche Reich und Holland in der beiläufigen Dauer von 4 bis 5 Wochen“ 6 erhalten. Durch die in Dresden am 7. Mai 1887 eröffnete internationale Blumenausstellung war Umlauft „als erstes Reiseziel der Besuch dieser Ausstellung geboten.“ 7 Zu besuchen waren nicht nur Hofgärten und Privatgärten, sondern auch Handelsgärtnereien und Samenzuchtanstalten, wie z. B. in Erfurt. Auch wenn so manche Neuigkeit in den damals existierenden Fachzeitschriften vorgestellt wurde, war für die Gärtner das Sehen vor Ort - also die eigene Anschau‐ ung - wichtig. Dies galt v. a. für den Gewächshausbau: Nur dadurch konnte man die Konstruktionsweise verstehen und für die eigene Arbeit nutzbar machen. So besichtigte beispielsweise Josef Vesely auf seiner Europareise 1882 das damals weit über die Landesgrenzen bekannte, zwischen 1836 und 1841 errichtete Palmenhaus von Chatsworth House in England. Er notierte in seinem Bericht, dass die ganze Glasfläche des „aus Glas, Holz und Eisen bestehenden“ Gewächshauses aus „rechtwin‐ kelig gegenüberstehenden Gläsern (Ridge et Furrow-System)“ aufgebaut ist, welche 354 Christian Hlavac 8 Handschriftlicher, unpaginierter Bericht über die Studienreise von Josef Vesely, datiert mit 22. Okto‐ ber 1882. Österreichisches Staatsarchiv, Signatur AT-OeStA/ HHStA HA OMeA 1061-34/ 3. Transkript durch Verfasser des Beitrags, o. S. die Pflanzen „gegen die senkrecht fallenden Strahlen der Mittagssonne schützen.“ 8 Der spätere preußische Hofgärtner Emil Sello (1816-1893) hatte das Gewächshaus im August 1840 auf seiner dreijährigen Europareise noch als (fast fertige) Baustelle gesehen. Er sah hier „[ihm] bis jetzt ganz neue Constructionen der Fenster, welche hier in dem nebligen England von ganz vorzüglichem Nutzen sein mögen, weil ein jeder Sonnenblick aufgefangen [wird] und den Pflanzen zugute kommt“ (Wimmer 2020, S. 246). Bei diesen beiden Berichten wird deutlich, dass der Nutzen von Gärtnerreisen in der Sammlung von Fachwissen lag, das man in den Anlagen seines Dienstherrn einzusetzen hatte; von Erholung in den besuchten Gärten und Parks war - auch schon aufgrund der äußerst engen Zeitpläne der Reisen - keine Rede. Literaturhinweise Antz, C.; Hlavac, C. (2020): Gartentourismus. Geschichte und Zukunft einer kulturellen Reiseform, in: Dreyer, A.; Antz, C. (Hg.): Kulturtourismus, 3., völlig neu bearb. Aufl. De Gruyter, Berlin, S. 217-232. Berger, E. (2013): Menschen und Gärten im Barock. Das Leben und Treiben in Lustgärten vornehmlich in der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Wien. Wernersche Verlags‐ gesellschaft, Worms. Blanke, H. 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Con‐ nell 2004, S. 229). Bezogen auf Deutschland gilt allerdings: „Erst in jüngerer Zeit konnte sich der Gartentourismus zu einem wichtigen Marktsegment im Tourismus entwickeln“ (Steinecke 2018, S. 15). Gärten entsprechen als „Orte der Ruhe und Lang‐ samkeit“ (Hlavac 2011, S. 171) aktuellen slow-touristischen Trends 1 wie Entspannung, Entschleunigung, Wohlbefinden sowie Wellness (vgl. Antz/ Schmudde 2017, S. 74) und fungieren insbesondere im Rahmen der Naherholung und des Kurzzeittourismus als Attraktionen im Sinne von touristischen Anziehungspunkten (vgl. Antz/ Hlavac 2020, S. 229 f.). Als Wachstumstreiber des Gartentourismus in Deutschland gelten auch professionelle Bemühungen von Destinationen, die jeweiligen endogenen Potenziale zu erschließen und in eine Erweiterung ihrer Produktpalette zu überführen, sowie die 2 Steinecke bezieht sich hierbei auf das Canadian Garden Council (2015, S. 10). 3 Vgl. Bauer-Krösbacher/ Payer 2012, S. 18. Hierbei clustern sie die Ergebnisse zu den verschiedenen Motiven aus fünf unterschiedlichen Studien. 4 Ballantyne/ Packer/ Hughes (2008, S. 439 ff.) stellen fest, dass sich die von ihnen befragten Besuchende botanischer Gärten weniger für Naturschutzthemen interessieren als Besuchende von anderen learning settings wie Museen, Kulturerbestätten, Zoos u. a. m. 5 Tourismusformen gliedern den Tourismus nach dem Reiseverhalten oder äußeren Merkmalen (z. B. nach Altersgruppen, gewählten Unterkunftsarten oder Reisezielen). Bei Tourismusarten wird der Tourismus nach unterschiedlichen Motiven (Zweck, Anlass) der Reise unterteilt (vgl. Eisenstein 2021a, S. 26 ff., ursprünglich zurückgehend auf Bernecker 1962, S. 12 ff.). 6 Vgl. auch Hlavac 2006, S. 28. Suche reiseerfahrener Touristinnen und Touristen nach Abwechslung (variety seeking) und besonderen Erfahrungen (vgl. Brandt 2007, S. 15; Steinecke 2018, S. 15). Eine motivational abgeleitete, allgemeingültige Definition des Gartentourismus kann nicht vorgelegt werden; zu unterschiedlich können die Motive für den Garten‐ besuch ausfallen. Brandt (2004, S. 19) führt an, dass Motive wie ● Ruhe und Erholung sowie ● der Wunsch nach Naturleben eine wichtige Rolle für den Gartenbesuch spielen. Steinecke (2018, S. 61) 2 führt drei wichtige Motivgruppen der Gartenbesucherinnen und -besucher an: ● Naturnähe und Sinnlichkeit (sinnlicher Genuss des Ambientes, der Pflanzen und der Ruhe), ● Geselligkeit (Zeit mit anderen im Freien verbringen), ● Neugierde (Suche nach Anregungen für den eigenen Garten). Bauer-Krösbacher und Payer (2012, S. 18) schließlich führen vier Hauptkategorien der Motive für Gartenbesuche an: 3 ● Naturnähe (Natur und Garten genießen, herumspazieren, im Freien sein), ● Wissensdurst (sich über Gartengestaltung und -geschichte informieren) 4 , ● Entspannung (Erholung, Ruhe), ● soziale Motive (Zeit mit anderen verbringen, jemandem den Garten zeigen). Welche der angeführten Motive in welchem Maße den Besuchen der Gartentouristin‐ nen und -touristen zugrunde liegen, bleibt zunächst weiterhin offen. Unabhängig von den im Einzelfall zutreffenden Motiven handelt es sich um die Tourismusform 5 des Gartentourismus immer dann, wenn Reisende ihre gewohnte Umgebung verlassen (vgl. Eisenstein 2021a, S. 16 ff.), um sich im Rahmen der Reise zeitlich befristet in einem Garten oder Park aufzuhalten. Für die Definition des Gartentourismus spielt weder die Entstehungszeit noch der Träger der Garten- oder Parkanlage (öffentlich oder privat) eine Rolle (vgl. Hlavac 2002, S. 12 6 ). Auch die Dauer des befristeten Aufenthaltes ist 360 Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim 7 Es gibt zwar keine zeitliche Untergrenze, aber im Rahmen technischer Definitionen des Tourismus muss die Aufenthaltsdauer weniger als ein Jahr betragen, damit der Aufenthalt noch dem Tourismus zugeordnet werden kann (vgl. UNWTO 2010, S. 10). 8 Eine Ausnahme stellt der Beitrag von Roth (2007, S. 23 ff.) dar, in dem mit Bezug auf den (mittlerweile eingestellten) Deutschen Reisemonitor für das Jahr 2004 von 19 Millionen inländischen Übernachtungs‐ reisen in inländische Gärten und Parks und weiteren 270 Millionen Tagesreisen der Deutschen in inländische Gärten und Parks ausgegangen wird. „Damit liegt der Anteil von Parks und Gartenreisen an allen Inlandsreisen bei etwa 10 Prozent […] Damit liegt der Anteil von Parks und Gartenreisen an allen Tagesreisen ebenfalls bei 10 Prozent“ (Roth 2007, S. 25). Inwiefern die hier angeführten Größenordnungen realistisch und plausibel sind, lässt sich nicht überprüfen. Auch liegen keine Vergleichsstudien (z. B. im Zeitverlauf) vor, die die genannten Größenordnungen validieren könnten. 9 Siehe z. B. die Darstellungen von Steinecke 2018, S. 27 ff. und von Müller 2011, S. 108 ff. für die Definition unerheblich 7 , allerdings wird auch im Gartentourismus zwischen Tages- und Übernachtungstourismus unterschieden (vgl. Hlavac 2011, S. 171). Zumeist stellt der Gartenbesuch keinen primären Reiseanlass für Touristinnen und Touristen dar, sondern ist größtenteils eine Aktivität unter mehreren während der Reise (vgl. Carvalho/ Silva 2015, S. 102). Während in England und Frankreich bereits seit einigen Jahren Marktforschung zum Thema ‚Gartentourismus‘ betrieben wird, wurden der Gartentourismus und insbesondere dessen Volumen 8 hierzulande bisher nur selten gesondert betrachtet und untersucht (vgl. Antz/ Hlavac 2020, S. 226). Zwar sind bei BUGAs, IGAs (vgl. den Beitrag von Sibylle Eßer und Jochen Sandner in diesem Band) und LAGAs in der Regel die Zahlen der Besuchenden bekannt, doch da viele Gärten und Parks keinen Eintritt verlangen - und somit keine Tickets, die gezählt werden könnten, verkauft werden (vgl. Steinecke 2018, S. 17) -, liegen in Deutschland keine flächendeckenden Zahlen zum Besuch von Gärten und Parks vor (vgl. Antz/ Hlavac 2020, S. 228), geschweige denn, es ist bekannt, wie hoch die Anzahl der Touristinnen und Touristen unter den Besuchenden und damit das Volumen des Gartentourismus ist. Es besteht Forschungsbedarf zum Gartentourismus, besonders um Nachfragepo‐ tenziale zu eruieren und die unbekannte Gartentouristin bzw. den unbekannten Gartentouristen näher definieren zu können (vgl. Hlavac 2011, S. 171 f.; Steinecke 2018, S. 58; Antz/ Hlavac 2020, S. 217). Dabei steht die wissenschaftliche Analyse des Gartentourismus in Deutschland vor zwei zentralen Problemen (vgl. Steinecke 2018, S. 18, 58 u. 64): ● Zum einen liegen nur wenige Daten zum Gartentourismus vor. Es existieren nur wenige empirische Befunde, bei denen es sich zumeist um Fallstudien handelt, die nicht generalisierbar sind, ● zum anderen stellt sich die Angebotsstruktur zum Gartentourismus als sehr heterogen dar. 9 Die einzelnen Angebote können sich erheblich unterscheiden, was ebenso die Generalisierbarkeit von Ergebnissen der wissenschaftlichen Marktfor‐ schung erschwert. Im Folgenden werden Daten und Ergebnisse vorgestellt, die einen Beitrag zur Beant‐ wortung folgender Fragestellungen zum Gartentourismus leisten können: 361 Gartentourismus 10 Im Rahmen der Internationalisierung der Studienreihe wurden zunächst punktuell (vgl. Eisenstein/ Koch 2011, S. 85 ff.; Eisenstein/ Koch/ Köchling 2015, S. 157 ff.; Böhling/ Eisenstein/ Seeler 2018, S. 185 ff.) und seit dem Jahr 2018 regelmäßig auch nachfrageseitige Wahrnehmungen deutscher Reiseziele in diversen ausländischen Quellmärkten gemessen sowie die auf dem deutschen Quellmarkt vorliegenden Wahrnehmungen verschiedener ausländischer Destinationen erhoben (vgl. Koch 2021). 11 „Im Rahmen der DestinationBrand-Themenstudie wird das allgemeine Interessentenpotenzial an‐ hand des prozentualen Anteils der Top-Two-Box auf der Skala von ‚5 = sehr großes Interesse‘ bis ‚1 = gar kein Interesse‘ gemessen“ (Eisenstein et al. 2017, S. 276). 12 Die Erhebung ist repräsentativ für die in Privathaushalten lebende deutschsprachige Bevölkerung im Alter von 18 bis 74 Jahren (vgl. inspektour [international] GmbH 2021). ● Wie groß ist das Interesse der deutschen Bevölkerung am Besuch von Gärten und Parks im Urlaub? ● Welche Reiseziele in Deutschland gelten für den Besuch von Gärten und Parks als besonders geeignet? ● Wie lassen sich die typischen Interessenten für einen Garten-/ Parkbesuch im Urlaub beschreiben? ● Mit welchen anderen Aktivitäten oder Themen könnte das Thema ‚Garten-/ Park‐ besuch‘ angebotsseitig verknüpft oder kombiniert werden? Die dargestellten Ergebnisse konnten im Rahmen der DestinationBrand-Studienreihe gewonnen werden. Die DestinationBrand-Studienreihe ist eine seit dem Jahr 2009 von der inspektour GmbH Hamburg durchgeführte (vgl. Eisenstein/ Heubeck/ Müller 2009) jährlich lau‐ fende Untersuchung zur nachfrageseitigen Wahrnehmung von über 130 inländischen Reisezielen (vgl. Eisenstein et al. 2017, S. 267). 10 Die Studienreihe besteht aus mehreren Modulen, wobei bereits seit 2010 auch die auf dem deutschen Quellmarkt bestehenden Interessentenpotenziale 11 zu einer ganzen Reihe von Themen und Aktivitäten, die für den Urlaub relevant sein können, ermittelt werden (vgl. IMT der FH Westküste 2010). Die DestinationBrand-Studie im Jahr 2020 umfasste 19.000 Probandinnen und Pro‐ banden (vgl. inspektour [international] GmbH 2021). Erfreulicherweise fand in der Erhebung auch die Urlaubsaktivität ‚Gärten/ Parks besuchen‘ Berücksichtigung (vgl. inspektour [international] GmbH/ DITF 2020). 2 Interessentenpotenzial Bereits erwähnt wurde, dass Gärten und Parks eine große Anziehungskraft auf Touristinnen und Touristen ausüben können. So ist es wenig überraschend, dass nur ein einstelliger Anteil der mittels der Studie im Jahr 2020 repräsentierten deutschen Bevölkerung 12 angibt, „gar kein Interesse“ am Besuch von Gärten und Parks während des Urlaubs zu haben (→ Abb. 1). Hingegen äußerten 38 % durchaus Interesse und weitere 21 % gar „sehr großes Interesse“. 362 Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim 13 Anteilswerte in Prozent der Fälle; Fallzahl = 19.000 Personen; Quellmarkt: Deutschland; Fragestel‐ lung: „In der folgenden Frage geht es um Ihr allgemeines Interesse an Urlaubsaktivitäten, d. h. unabhängig von einem bestimmten Reiseziel. Wie groß ist Ihr Interesse, in Ihrem Urlaub mit mindestens einer Übernachtung folgenden Aktivitäten nachzugehen? “ 21% 38% 29% 8% 4% 5 = sehr großes Interesse 4 = 3 = 2 = 1 = gar kein Interesse Top-Two-Box 12 % 59 % Bottom-Two-Box Abb. 1: Interessentenpotenzial der Urlaubsaktivität ‚Gärten/ Parks besuchen‘ im Jahr 2020 13 In absoluten Zahlen ausgedrückt äußerten im Jahr 2020 hochgerechnet 36,6 Millionen Deutsche Interesse an dem Besuch von Gärten und Parks im Urlaub. Es wird deutlich, dass das Thema ‚Gartentourismus‘ kein Nischenthema (mehr) ist, sondern sich einer breiten Beliebtheit erfreut. Bestätigt wird dies auch beim Vergleich mit dem Interes‐ sentenpotenzial anderer Themen und Aktivitäten: Lediglich sechs der untersuchten 41 weiteren Themen bzw. Aktivitäten stoßen auf ein größeres Interesse (→ Tab. 1). Ranking der untersuchten Urlaubsthemen zum allgemeinen Interessentenpotenzial % der Fälle Hochrechnung* 1. Entspannung und ausruhen 78 % 48,5 Millionen 2. Sich in der Natur aufhalten 75 % 46,7 Millionen 3. Kulinarische/ gastronomische Spezialitäten genießen 71 % 44,2 Millionen 4. Baden und am Strand aufhalten 66 % 40,8 Millionen 5. Städtereise unternehmen 63 % 39,0 Millionen 7. Gärten/ Parks besuchen 59 % 36,6 Millionen 9. Wandern 49 % 30,4 Millionen 363 Gartentourismus 14 Prozentuale Anteilswerte der Top-Two-Box auf einer Skala von 5 = sehr großes Interesse bis 1 = gar kein Interesse. Ranking der untersuchten Urlaubsthemen zum allgemeinen Interessentenpotenzial 12. Wellnessangebote 45 % 27,7 Millionen 19. Freizeitparks besuchen 36 % 22,5 Millionen 28. Angebote zur Industriekultur besuchen 29 % 17,9 Millionen 40. Segeln 15 % 9,4 Millionen 41. Motorrad fahren 15 % 9,3 Millionen Tab. 1: Einordnung im Vergleich zu den Interessentenpotenzialen weiterer Themen und Aktivitäten Die Betrachtung konkreter Vergleichsbeispiele kann die Bedeutung des Gartentou‐ rismus weiter verdeutlichen: So ist das Interessentenpotenzial für Urlaubsbesuche von Gärten und Parks zehn Prozentpunkte höher als das der Urlaubsaktivität ‚Wandern‘ (mit 49 % auf Rang 9) und 14 Prozentpunkte höher als das Interesse an der Nutzung von Wellenessangeboten. Auch die Vergleichswerte für Freizeitparkbesu‐ che und für Besuche von Stätten der Industriekultur fallen deutlich niedriger aus. Im Vergleich beispielsweise zu den Potenzialen von Segeln oder Motorradfahren beträgt das Interessentenpotenzial für den Besuch von Gärten und Parks sogar ein Vielfaches (→ Tab. 1) Im Zeitverlauf betrachtet erreichte das Interessentenpotenzial des Gartentourismus im Jahr 2020 den bislang höchsten (Top-Two-Box-)Wert. Während die Werte bis Mitte des letzten Jahrzehnts als relativ stabil bezeichnet werden können, erhöhte sich der Anteil der Interessierenden in der Bevölkerung in der zweiten Hälfte der Dekade deutlich (→ Abb. 2). 59% 54% 49% 45% 47% 48% 48% Gärten & Parks besuchen 2020 2019 2018 2017 2016 2013 2010 Abb. 2: Interessentenpotenzial der Urlaubsaktivität ‚Gärten und Parks besuchen‘ im Zeitverlauf 2010- 2020 14 364 Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim 15 „Der Gartentourist - ein unbekanntes Wesen? Dieser Gedanke drängt sich bei der Literatur- und Datenrecherche durchaus auf, denn im Vergleich zu anderen touristischen Zielgruppen liegen zu den Besuchern von Park- und Gartenanlagen gegenwärtig nur wenige empirische Untersuchungen vor.“ (Steinecke 2018, S. 58) 3 Profile von Interessierenden sowie Touristinnen und Touristen Befragte der DestinationBrand-20-Erhebung, die äußerten, während eines Urlaubs ein sehr großes Interesse am Besuch von Gärten und Parks zu haben, können als ‚Kern-Interessierende‘ des Gartentourismus bezeichnet werden. Anhand der soziode‐ mografischen Angaben der Befragten kann deren Profil abgeleitet werden. Dieses lässt sich wie folgt darstellen (vgl. inspektour [international] GmbH/ DITF 2020): ● Die Kern-Interessierenden der Urlaubsaktivität ‚Gärten und Parks besuchen‘ sind mehrheitlich weiblich (bis zu 62 %). ● Sie sind mehrheitlich über 44 Jahre und überdurchschnittlich häufig zwischen 45 und 64 Jahre alt. ● Sie wohnen in allen Ortsgrößen, sind aber mit zunehmender Einwohnerzahl des Wohnortes überdurchschnittlich häufig zu finden. ● Sie leben sowohl mehrheitlich als auch überrepräsentativ häufig in Ein- und Zweipersonenhaushalten. ● Die größten (absoluten) Potenziale sind erwartungsgemäß in den bevölkerungs‐ reichen Bundesländern vorzufinden (Nordrhein-Westfalen [19 %], Bayern [18 %] und Baden-Württemberg [11 %]), doch kommen die Kern-Interessierenden im Vergleich zur Bevölkerungszahl relativ häufig aus den östlichen Bundesländern. Damit liegen zwar Daten zu den Interessierenden für den Quellmarkt Deutschland vor, doch bleibt die (praktizierende) Gartentouristin bzw. der (praktizierende) Gartentourist eher ein unbekanntes Wesen. 15 Dies gilt zumindest für Deutschland. Im internationalen Kontext haben Bauer-Krösbacher und Payer (2012) ein Profil zu Gartentouristinnen und -touristen vorgelegt, das auf einen länderübergreifenden Ansatz zurückgreift. Dabei konnten Ergebnisse aus Erhebungen in Bulgarien, Rumänien, Österreich und Ir‐ land (vgl. Bauer-Krösbacher/ Payer 2012, S. 25 f.) berücksichtigt und zusammengeführt werden (→ Tab. 2). Profile of a Garden Tourist Age around 40 years old Gender female Kind of visitor local/ national tourist Education high level education, university degree Profession managerical/ clerical position, supervisory 365 Gartentourismus 16 Fox (2017, S. 45 ff.) stellte fest, dass die Begeisterung von Hobbygärtnerinnen und -gärtnern zwar einen Einflussfaktor für die Präferenz eines Gartenbesuchs darstellt, das Interesse an Gartenarbeit allerdings nicht der wichtigste Erklärungsfaktor für Gartenbesuche sein kann. Profile of a Garden Tourist Motivation holiday/ leisure, in more detail: time with family and friends, to spend a day outside, to relax, enjoying a garden Source of Information recommended by friends or family Interests cultural tourism, national cuisine, horticulture Type of garden palace, castle, botanical and flower gardens Dwell two hours Companionship partner, spouse Other characteristics owns a garden 16 Tab. 2: Beispiel für ein Profil eines „Garden Tourist“ auf Grundlage von Daten aus Bulgarien, Rumänien, Österreich und Irland 4 Reiseziele Aus Sicht der Destinationen ist von Interesse, inwieweit die deutsche Bevölkerung der jeweiligen Destination eine Kompetenz für den Themenbereich ‚Gärten und Parks‘ zuschreibt. Durch eine ungestützte Spontanabfrage können die sogenannten Top-of-Mind-Destinationen festgestellt werden (vgl. Eisenstein et al. 2017, S. 274 f.). Dies erfolgte letztmals im Rahmen der DestinationBrand-Studie des Jahres 2016. Als geeignete Reiseziele für eine ‚Reise zu Gärten/ Parks‘ wurden neben dem Bundesland Bayern (Rang 4) insbesondere Städte wie München, Potsdam, Berlin, Hannover, Dresden und Hamburg genannt, die über bekannte Gärten verfügen bzw. in jünge‐ rer Zeit Gartenschauen ausrichten konnten (→ Tab. 3). Diese Ziele sind bei der deutschen Bevölkerung bzw. Teilen davon als Destinationen des Gartentourismus positioniert. Themeneignung Top of Mind ‚Reise zu Gärten‘/ Parks: Top-Ten-Destinationen % der Befragten* 1 München (78)/ Englischer Garten (München) (3)/ Botanischer Garten (München) (2)/ Nymphenburg München (2) 18,9 % 2 Potsdam (67)/ Sanssouci (13)/ Park Sanssouci (1)/ Schloss Sans‐ souci (1) 18,3 % 3 Berlin (74)/ Schloss Bellevue (1) 16,7 % 4 Bayern 15,4 % 366 Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim 17 Auf die in der Praxis für die Entscheidungsfindung relevante Information der Kompetenzzu‐ schreibung im Vergleich zur alternativ oder additiv möglichen Themenpositionierung der Destination (siehe z. B. Eisenstein/ Koch/ Köchling, 2015, S. 187 ff.) kann verzichtet werden, da dies an dieser Stelle nicht von Relevanz ist. Themeneignung Top of Mind ‚Reise zu Gärten‘/ Parks: Top-Ten-Destinationen % der Befragten* 5 Hannover (35)/ Herrenhäuser Gärten Hannover (9) 9,8 % 6 Dresden (27)/ Pillnitz (2) Schloss Pillnitz (1) 6,7 % 7 Hamburg (22)/ Planten un Blomen (Hamburg) (1)/ Wilhelms‐ burg (1) 5,3 % 8 Wörlitz (10)/ Wörlitzer Park (7)/ Dessau (6) 5,1 % 9 Bodensee 4,5 % 9 Brandenburg 4,5 % 9 Mainau 4,5 % Tab. 3: Inländische Top-Ten-Reiseziele zur ungestützten Themeneignung zu ‚Reisen zu Gärten/ Parks‘, Top of Mind bei der deutschen Bevölkerung Die Festlegung der touristischen Themen, mit denen die Destination am Markt agie‐ ren möchte, gehört zu den wichtigsten Teilentscheidungen, die für die strategische Ausrichtung der Destination zu treffen sind (vgl. Eisenstein 2017, S. 19). Inwiefern eine Positionierung der Destination mittels des Themas ‚Gärten und Parks‘ strate‐ gisch sinnvoll ist, hängt dabei nicht nur von der Konkurrenzsituation (im Sinne der relativen Wettbewerbsplatzierung), sondern auch von der Marktgröße (im Sinne des themenspezifischen Interessentenpotenzials) ab. 17 → Abb. 3 zeigt ein fiktives Beispiel einer Destination, die über eine sehr gute Möglichkeit verfügt, sich mittels des Themas ‚Gärten und Parks‘ im Wettbewerb zu positionieren, da nicht nur das Interesse an dem Thema vergleichsweise hoch ist (Marktgröße), sondern zudem die im Vergleich zur Konkurrenz positive Situation (relative Wettbewerbsplatzierung) dafür spricht. 367 Gartentourismus 18 Fiktives Beispiel, zudem um eine Dimension gekürzt (gestützte themenspezifische Kompetenzzu‐ schreibung an die Destination). 19 Zitiert nach: Steinecke 2018, S. 56. Interessentenpotenzial je Thema (Top-Two-Box) Gesundheit Wandern Kulinarik Baden/ Strand Wellness Landurlaub Industriekultur Freizeitparks besuchen Gärten/ Parks Segeln Motorrad 15 % 30 % 45 % 60 % niedrig durchschnittlich hoch relative Wettbewerbsplatzierung 75 % Abb. 3: Beispiel eines Analysequadranten mit möglicher strategischer Positionierung der Destination mittels des Themas ‚Gärten und Parks‘ 18 5 Potenziale zur Verknüpfung mit anderen Themen Beim Gros der Gartenbesuchenden handelt es sich um Low-Involvement-Gäste (vgl. Navrátil et al. 2016, S. 308) 19 und nur wenige der Gartenbesucherinnen und -besucher benötigen vor Ort zusätzliche touristische Leistungen (vgl. Hlavac 2011, S. 171; Stein‐ ecke 2018, S. 56). Vor diesen Hintergründen und in Anbetracht der Tatsache, dass der Gartenbesuch eher selten einen primären Reiseanlass darstellt, scheint es sinnvoll, das Angebot für den Besuch von Garten- und Parkanlagen mit weiteren Möglichkeiten der Urlaubs- und Freizeitgestaltung zu verknüpfen. Es gilt, das gartentouristische Angebot als komplementäres Element in das Leistungsbündel der Destination zu integrieren (vgl. Eisenstein 2021b, S. 374 ff.). Hierzu ist eine angebotsseitige und gegebenenfalls organisatorische Kombination des Garten- und Parkangebots mit ausgewählten ande‐ ren Themenbereichen der Destination empfehlenswert (vgl. Eisenstein 2018, S. 114 ff.). Dabei stellt sich die Frage, bei welchen Themen die erfolgversprechendsten Kombina‐ tionen vorliegen. 368 Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim 20 Fallzahl = 11.224 Personen; je höher der Korrelationsquotient, desto stärker der Zusammenhang, Korrelationsberechnungen basierend auf den Top-Two-Boxen des jeweiligen Interesses an der Urlaubsaktivität. 21 Auf Basis der DestinationBrand-Daten wird die statistische Korrelation anderer Themen mit dem allgemeinen Interessentenpotenzial am Urlaubsthema ‚Gärten/ Parks besuchen‘ untersucht. Dabei sind die Gärten/ Parks-Gesamt-Interessenten (Top-Two-Box, Befragte mit großem und sehr großem Interesse an Gärten und Parks) die Basis zur Untersuchung der Zusammenhänge zu anderen Themen, um aussagen zu können, welche anderen Urlaubsthemen für diese Personen auch interessant sind. 22 S. auch Eisenstein 2018, S. 122. 0,170 0,170 0,182 0,187 0,187 0,228 0,235 0,286 0,298 Wandern Nachhaltigen Urlaub/ nachhaltige Reise machen Kulinarische/ Gastronomische Spezialitäten genießen Städtereise unternehmen UNESCO-Welterbestätten besuchen Kulturelle Einrichtungen besuchen/ Kulturangebote nutzen Museen, Ausstellungen oder Kunstmuseen besuchen Sich in der Natur aufhalten Burgen, Schlösser und Dome besuchen Abb. 4: Beispiel für ein Ergebnis bei der Ermittlung thematischer Verknüpfungspotenziale auf dem deutschen Quellmarkt im Jahr 2020 20 Gute Hinweise zur Beantwortung dieser Frage bieten Korrelationsanalysen, mittels derer angezeigt werden kann, über welche weiteren Interessen die Personengruppe verfügt, die Interesse für einen Besuch von Gärten und Parks im Urlaub geäußert hat. 21 Ein Ergebnisbeispiel für ausgewählte Bereiche ist in → Abb. 4 dargestellt. Auf Grundlage der Ergebnisse der Datenanalyen zu den DestinationBrand-Erhebun‐ gen des Jahres 2020 sowie der Analyse aus den Jahren zuvor lassen sich drei Kategorien von Themenbzw. Aktivitätsbereiche ableiten, die günstigste Verknüpfungspotenziale mit der Urlaubsaktivität des Gartenbesuchs mit sich bringen 22 - und die entsprechend auf eine gute Kombinationsmöglichkeit mit Angeboten des Gartentourismus hindeuten: ● Themenbereich 1: (Historische) Architektur wie Burgen, Schlösser, Dome und Herrenhäuser, ● Themenbereich 2: Anspruchsvolle Naturerlebnisse (durchaus mit Bildungscharak‐ ter; Informationen zur Natur, spektakuläre Landschaften), ● Themenbereich 3: Ausgewählte kulturbezogene Themen wie UNESCO-Kulturer‐ bestätten, aber auch Museen und Ausstellungen. 369 Gartentourismus 23 In der Literatur sind verschiedene Segmentierungen oder Typologien der Gartenbesucherinnen und -besucher zu finden. Doch wird teilweise nicht stringent zwischen Touristinnen und Touristen sowie Nichttouristinnen und Nichttouristen unterschieden (siehe u. a. Nord LB/ Regionalwirtschaft 2002, S. 65). Teilweise mangelt es (noch) an einem empirischen Beleg für die Typologie (siehe u. a. Steinecke 2018, S. 60). 6 Fazit Die DestinationBrand-Studienreihe kann in einigen Bereichen interessante und wich‐ tige Aspekte zum Gartentourismus beitragen. So geben die Daten Aufschluss darüber, wie groß das Interesse an einem Besuch von Gärten und Parks im Urlaub auf dem deutschen Quellmarkt ist und wie sich dieses Interesse im Zeitverlauf verändert. Durch den Vergleich des Interessentenpotenzials der gartentouristischen Aktivitäten mit den Interessentenpotenzialen anderer Urlaubsthemen und Urlaubsaktivitäten kann eine Annäherung zur relativen Einordnung der Größe und Relevanz des Gartentourismus erreicht werden. Auch kann durch das Profil der Kern-Interessierenden des Gartenbesuchs im Urlaub die anzusprechende Klientel ‚greifbarer‘ gemacht werden, freilich ohne, dass dies ein adäquater Ersatz für ein Profil oder Stereotyp der praktizierenden Gartenbesucherin‐ nen und -besucher sein könnte. Und auch wenn aufgezeigt werden konnte, welche innerdeutschen Destinationen auf dem deutschen Quellmarkt bereits einen Top-of-Mind-Status als Gärten und Parks-Reiseziel erlangt haben und mit welchen Themenbereichen sich eine Kombina‐ tion für gartentouristische Angebote als besonders empfehlenswert erweisen könnte, so bleibt doch vieles offen, weil im Mittelpunkt der Studienreihe Interessentenpoten‐ ziale und Kompetenzzuschreibungen stehen. Vieles bleibt letztlich weiterhin unbekannt, beispielsweise wie häufig Touristinnen und Touristen Gärten besuchen und nutzen, wie häufig Gärten dann doch als primärer Reiseanlass fungieren oder welche unterschiedlichen Typen in der Praxis des Garten‐ tourismus tatsächlich empirisch belegbar sind. 23 Es können somit weder mögliche Gaps zwischen Interesse und tatsächlicher Nutzung analysiert werden noch können ziel‐ gruppenspezifisch ausgefeiltere Produktentwicklungen und Marketingmaßnahmen abgeleitet werden. Ohne Frage: Viele weitere offenen Punkte und Aspekte ließen sich an dieser Stelle anführen; liegen doch noch viele Potenziale der wissenschaftlichen Forschung und praxisrelevanten Marktforschung zum Gartentourismus vor uns. 370 Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim Literaturhinweise Antz, C.; Eisenstein, B.; Eilzer, C. (Hg.) (2011): Slow Tourism. Reisen zwischen Langsam‐ keit und Sinnlichkeit. Meidenbauer, Frankfurt am Main. Antz, C.; Hlavac, C. 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D. h. unter Touristik wird die Gesamtheit von erwerbswirtschaftlichen sowie auch Non-Profit-Or‐ ganisationen verstanden, die touristische Dienstleistungen produzieren“ (Gabler Wirtschaftslexi‐ kon 2019). 2 Eine Pauschalreise ist „ein Dienstleistungspaket, bestehend aus mindestens zwei aufeinander abgestimmten Reisedienstleistungen, das im Voraus für einen noch nicht bekannten Kunden erstellt wurde und zu einem Gesamtpreis vermarktet wird, so dass die Preise der Einzelleistungen nicht mehr identifizierbar sind“ (Hebestreit 1992; Mundt 1996). 3 Eine Gruppenreise ist eine Reiseform, die in der Praxis aus üblicherweise mindestens zehn Personen besteht, die entweder als Einzelbucherin und Einzelbucher ein und dasselbe angebotene Reisear‐ rangement zum selben Reisetermin buchen und auf der Reise als Gruppe meist unter Leitung eines vom Veranstalter beigestellten Tourleaders bzw. einer bereitgestellten Reiseleiterin/ eines bereitgestellten Reiseleiters auftreten oder eine gewünschte Reiseidee für eine bereits bestehende Gruppe von Reiseinteressentinnen und -interessenten sowie deren Gruppenleiterin bzw. -leiter von einem Reiseveranstalter bzw. touristischen Leistungsträger entwickeln lassen (vgl. Raml 2020). Gartenreisen in der Gruppe Die Entwicklung von Angebot sowie Kundinnen und Kunden im Wandel Carl Raml 1 Gärtnern als Gruppenreise-Motiv In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden in der Touristik 1 von innovativen Reisever‐ anstalterinnen und -veranstaltern verstärkt thematische Reisemotive ins Zentrum einer Pauschalreise 2 für Reisegruppen 3 gestellt. Neben den damals schon bekannten Themen wie Studienreisen, Badereisen und Fotoreisen gesellten sich Hobbys wie Musik, Opern, Wein, Kulinarik und andere dazu. Das Hobby Gärtnern wurde Anfang der 1990er-Jahre von breiteren Schichten im deutschen Sprachraum wiederentdeckt. Somit war der weitere Weg aufgrund einer touristischen Maxime - die Nachfrage schafft sich ein Angebot - eigentlich vorgezeich‐ 4 Great Dixter House & Gardens, siehe: www.greatdixter.co.uk (letzter Zugriff: 30.10.2021). net, wenngleich es anfangs nur sehr wenige waren, die solch ein Angebot suchten. Es bedurfte aber auch einzelner Pioniere, einerseits aufseiten der Reiseveranstalterinnen und -veranstalter, andererseits aufseiten der Ideenbringerin bzw. des Ideenbringers sowie der Reiseleiterin bzw. des Reiseleiters, damit dies auch erfolgreich umgesetzt werden konnte, wie Österreichs heute bekanntester TV-Biogärtner Karl Ploberger aus eigener Erfahrung erzählt: „Als ich vor nunmehr fast 30 Jahren die erste Gartenreise plante, war ich ein Exot am Reise‐ markt. Sowohl Veranstalter als auch Teilnehmer stellten damals vieles in Frage. Weinreisen, Opernreisen - das alles gab es. Aber Garten! Auch ich war mir unsicher. Als ich aber dann auf der allerersten Reise den ersten Garten (es war Great Dixter 4 ) betrat, wussten wir alle: Solche Reisen sind ein Hit. Wenn sich Garten-Leidenschaft mit dem Reisefieber vereinen, dann wird daraus schnell eine Sucht.“ (Ploberger o. J.) Damit sind bereits die entscheidenden Faktoren für Gartenreisen in der Gruppe angesprochen: ● Gartenkultur, ● Gartenleidenschaft und Reiselust, ● das Wir-Gefühl. 1.1 Gartenkultur als Reise- und Freizeitmotiv Im Zeitraffer (vgl. den Beitrag von Klaus Neumann in diesem Band): Die Gartenkultur (abgesehen von den Ansätzen in der Antike - römische Villengärten sowie Kräuter- und Ziergärten) hat sich in der Renaissance durch das Interesse an der Botanik und die geänderte Einstellung zur Natur von Italien ausgehend auch in Mitteleuropa durch Schloss-, aber auch Bürgergärten entwickelt. Im Barock und Rokoko stand der Garten für die Machtdemonstration der Herrschenden. Im 19. Jahrhundert blühte dann die Gartenkultur aufgrund der neuen Herangehensweise, das Wirken des Menschen im Einklang mit der Natur zu betrachten, insbesondere in England, so richtig auf. Der englische Landschaftsgarten war geboren. Im deutschen Sprachraum ist u. a. Karl Foerster (1874-1970) zu nennen, der sogenannte Erste Biogärtner am Festland, der sich in seinem langen Leben stets mit dem Thema ‚natürliche Bepflanzung‘ maßgeblich auseinandersetzte. England hatte aber nicht nur beim Thema ‚Garten‘ eine entscheidende Vorbildwir‐ kung, sondern auch beim Reisen waren die Briten tonangebend: Im Jahr 1874 erfand Thomas Cook die Pauschalreise. Und wieder war es in England, wo in den 1920er-Jah‐ ren die Idee geboren wurde, private Gärten für Besucherinnen und Besucher zu öffnen und dafür Spenden zu vereinnahmen, die wohltätigen Zwecken zur Verfügung gestellt wurden und bis heute werden. Im Jahr 1931 erschien dann die erste Ausgabe des Yellow Book als Beilage der britischen Zeitschrift Country Life, wo bereits 1.000 376 Carl Raml 5 „The National Garden Scheme gives visitors unique access to over 3,700 exceptional private gardens in England and Wales, and raises impressive amounts of money for nursing and health charities through admissions, teas and cake“ (The National Garden Scheme o. J.). 6 Zum National Trust siehe: www.nationaltrust.org.uk (letzter Zugriff: 30.10.2021). 7 „Verhaltensform, die im Rückzug von der komplexen, bedrohlichen und unkontrollierbaren Umwelt in die eigenen vier Wände besteht.“ Der Begriff wurde von der US-amerikanischen Trendforscherin Faith Popcorn in den 1980er-Jahren geprägt (vgl. Popcorn 1992). Gärten in England und Wales dargestellt waren, die am sogenannten National Garden Scheme 5 teilnahmen. Im Jahr 1948 wurden auch die Gartenanlagen des National Trust 6 , dessen Aufgabe es u. a. ist, wichtige Gärten zu restaurieren und zu konservieren sowie diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mitaufgenommen. Dies führte zu einem wahren Boom an Gartenbesuchen und in der Folge zu einem gelebten nationalen Selbstverständnis. Allein im Jahr 2019 wurden dank der Großzügigkeit der Gartenbesitzerinnen und -besitzer, -helferinnen und -helfer sowie -besucherinnen und -besucher 3 Millionen Pfund gespendet. Im nach 1945 zerstörten Kontinentaleuropa war daran nicht zu denken. Die Grund‐ stücke wurden stattdessen zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse zur Sicherstellung der Versorgung genutzt. Der darauffolgende ehrgeizige Wiederaufbau konzentrierte sich vorrangig auf die Wiederherstellung der bereits Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffenen Volksgärten mit großen Rasenflächen und die Schaffung anderer städ‐ tischer Grünflächen wie Kinderspielplätze bzw. Kleingartenflächen. Aus den USA wurde nicht der schöne Ziergarten oder Nutzgarten (das Gemüse kaufte man zuneh‐ mend im Supermarkt), sondern der Wohngarten (Hollywoodschaukel, Pool, Grill etc.) importiert. Mit dem Aufkommen des Umweltbewusstseins und der Ökologiebe‐ wegung der 1980er-Jahre begann man sich wieder auf den guten alten Nutzgarten zurückzubesinnen und der Biogarten, ohne Einsatz von Chemikalien und mit einer Vielfalt von Pflanzenarten, blühte im wahrsten Sinne des Wortes auf. Das führte zu einem neuen Gartenbewusstsein und zur Suche nach neuen Ideen und Tipps von erfahrenen Gärtnerinnen und Gärtnern. Der Blick nach England, wo dies bereits Inbegriff der Gartenkultur war, machte neugierig, diese Gärten auch mit eigenen Augen zu sehen. Die erste Nachfrage nach Gartenreisen war geboren. Auch die Idee, die eigene Gartentür zu öffnen, wurde aufgrund der selbstgemachten Erfahrungen und der Begeisterung dafür aus England in den 1990er-Jahren nach Mitteleuropa importiert. 1.2 Gartenleidenschaft und Reiselust Im 21. Jahrhundert führt nun ein einsetzender gesellschaftlicher Wandel infolge von geänderten Bedrohungslagen, durch Korruption erzeugter Politikverdrossenheit, ver‐ stärktem sozialen und wirtschaftlichen Druck und der allgegenwärtigen Globalisierung hin zu einem Wunsch nach mehr Privatem, nach Entschleunigung im Leben und mehr Wahrhaftigkeit und damit auch hin zu einem wertebewahrenden neuen Biedermeier (vgl. Antz et al. 2011). Dieses gesellschaftliche Phänomen, auch als Cocooning 7 bezeich‐ net, erzeugt einen Run auf Einrichtungs- und Gartenmärkte, um das eigene Heim und den eigenen Garten attraktiver und schöner zu gestalten. Verstärkt wird dieser Trend 377 Gartenreisen in der Gruppe 8 Die einschlägige Literatur der 1980er- und 1990er-Jahre zeigte dieses Dilemma ausführlich auf und wies darauf hin, dass zwar ‚unberührte Natur‘ als eines der wichtigsten Reisemotive genannt wurde, diese es aber nicht fortbestehen werde, wenn die Touristinnen und Touristen diese auch besuchten (vgl. Hahn/ Kagelmann 1993; Kramer 1997; Egger/ Herdin 2007). heute durch die Auseinandersetzung mit dem bedrohlichen Bild des Klimawandels und einer sich entwickelnden Gegenkultur zur traditionellen postindustriellen Dienstleis‐ tungs- und Konsumgesellschaft, deren Dogma das Wachstum um jeden Preis ist. Eine ‚Weniger-ist-Mehr-Gesellschaft‘, deren oberstes Gebot ein nachhaltiger Umgang mit der Natur und den weltweiten Ressourcen ist, begibt sich auf die Suche nach einem Ausweg. Eine Kreislaufwirtschaft, wie man sie auch von einem Biogarten kennt, ist sicherlich ein richtiger Ansatz, der aber mit der sich etablierten Erlebnisgesellschaft in Einklang zu bringen ist. In unseren modernen Gesellschaften schlagen mehrere Herzen in derselben Brust: erstens der unbändige Drang nach Erlebnissen sowie Glück, Neugier und Freizeitvergnügungen, zweitens das Bedürfnis nach Mobilität und Reisen in alle Welt und drittens der Wunsch nach Frieden, intakter Umwelt und ewiger Gesundheit - ein Dilemma, welches das Wesen Mensch meistern muss, denn es geht dabei auch um seine Existenz. Diese oben dargestellte neue My-Home-is-my-Castle-Bewegung und die damit ein‐ hergehende existenzielle Suche nach dem Schönen und einer neuen Leichtigkeit lässt heute nicht nur die Medien fast monatlich neue Magazine und Formate entwickeln, sondern auch Kunst- und Kultureinrichtungen wieder mehr ins Zentrum der Freizeit‐ aktivitäten rücken. Dies hat natürlich auch großen Einfluss auf die Reisenachfrage. Die Reiselust der Menschen ist, abgesehen von echten Bedrohungsszenarien (wie etwa die Coronapandemie), ungebrochen und wird es auch bleiben. Authentische Erlebnisse, Echtheit und Natürlichkeit werden mehr denn je nachgefragt. Die Menschen beginnen sich gegen das Oberflächliche wie auch die Flut an Fake News, die mittlerweile den Alltag mehr und mehr beeinflussen, zu formieren. Die sich in den letzten Jahrzehnten etablierende Alltagsgegenwelt des Urlaubs, die ebenso Fixbestandteil des Lebens geworden ist, verlangt nach einer heilen und gesunden Welt. Es gibt aber auch jene, die sich danach sehnen, durch begeisternde Events in für sich abgeschlossenen Resorts und künstlichen Erlebniswelten den Alltag vergessen zu machen. Das ist legitim und auch sinnvoll, wenn Massentourismus konzentriert und abgegrenzt stattfindet. Denn auch diesen Reisenden ist durchaus bewusst, dass unberührte Natur durch das Bereisen seine Unberührtheit verliert. 8 Unberührt sind heute kaum mehr Gebiete auf dieser Welt. Jene, die es heute noch sind, sollte man auch als solche schützen. Im Wunschbild der Reisenden geht es, wie Kundenbefragungen des Verfassers zeigen, um intakte Natur, die aktiv vom Menschen nachhaltig genutzt werden soll. Es geht primär darum, die Belastungen durch Quantitätsbeschränkungen zu minimieren bzw. durch Gegenmaßnahmen so auszugleichen, dass negative externe Effekte durch Einhaltung von vorgeschriebenen Aktivitäten absorbiert werden. Dazu gehört u. a. die Müllvermeidung bzw. das Müllrecycling, Energiesparmaßnahmen, Investitionen in 378 Carl Raml 9 Eine Delegationsreise ist eine vorab organisierte Gruppenreise von Organisationen, staatlichen Einrichtungen oder auch Privatpersonen, deren primärer Reisezweck es ist, aus gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen, ökologischen, politischen und/ oder wissenschaftlichen Gründen eine De‐ stination zu bereisen, und das Ziel verfolgt, Projekte vor- und Kontakte herzustellen, Partnerschaften und Netzwerke zu stärken, Öffentlichkeit bzw. Bekanntheit zu gewinnen, Vertrauen zu schaffen oder Unterstützungen bzw. in der Destination direkt ankommende Einnahmen zu lukrieren (vgl. Raml 2020). erneuerbare Energie, Lärmschutz, Wiederaufforstung und Tierschutz - finanziert aus touristischen Abgaben. Auch die Entwicklung neuer Reiseformen wie Delegationsrei‐ sen 9 mit Besuch von ökologischen Projekten tragen zur Minimierung der Belastungen bei. Der Biogarten steht heute, wie kaum etwas anderes, für eine solche ökologisch heile Welt im Kleinen, die positive Energie, Entschleunigung, frohe Farben und gesunde Nahrung stiftet - vorrangig natürlich der eigene Biogarten, und wenn es nur der winzige, aber feine Balkongarten ist. In zweiter Linie macht auch ein Besuch in Gärten der anderen glücklich. Man ist unter Gleichgesinnten, bestaunt neugierig die neuen Ideen und nimmt diese für das eigene Gartenreich, die eigene heile Welt, mit. 1.3 Wir-Gefühl Eine Gruppenreise hat eigene Gesetze. Es laufen eine Vielzahl von gruppendynami‐ schen Prozessen ab, die, sozialpsychologisch betrachtet, sehr interessante Erkennt‐ nisse, insbesondere für die Reiseveranstalterin bzw. den Reiseveranstalterin zutage fördern. Schmidt (1993, S. 402 ff.) stellt dar, dass soziale Motive bei den Gruppenrei‐ senden noch viel tiefer verankert sein mögen als etwa durch klassische Befragungen ermittelbar. Die Reisegruppe kann als „thematisch-interaktionelle Gruppe“ aufgefasst werden, „die sich auf die Dreiheit Ich-Wir-Thema zentriert, das heißt auf das ICH (die Persönlichkeit) des einzelnen Angehörigen der Reisegruppe, das WIR, das heißt die Gruppe aller an der Reise unmittelbar Beteiligten, und das THEMA, mit dem sich der einzelne und die Gruppe auseinandersetzt. In Form eines Prozesses bewegen sich die Gruppenmitglieder von einer Ich-Basis über eine Wir-Orientiertheit zu einer themenbezogenen Gruppe“ (Cohn 1988, S. 404 f.). Das Ich ist die jeweilige Existenz der einzelnen Reisenden, des Reiseleiters oder der Reiseleiterin sowie jeder anderen an der Gruppe teilhabenden Person mit ihren individuellen Eigenarten, Werthaltungen und Motiven. Das Wir der Gruppe ergibt sich aus dem verknüpften Band eines Themas - Reisevorhaben. Das Thema ist der Bezugspunkt der Gruppe, es stellt das Medium für die Beziehungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer untereinander dar. Bei einer echten Themenreise, wie die Gartenreise eine ist, ist das Wir noch stärker ausgeprägt, da das Reisevorhaben über die klassischen gruppentouristischen Aspekte wie gemeinsame Nutzung eins Verkehrsmittels, Reisedestination, Unterkunft und Mahlzeiten sowie Besichtigungsprogramm hinausgeht und das Thema im Sinne eines gemeinsamen 379 Gartenreisen in der Gruppe 10 Begründet durch ein neues Selbstverständnis bei jüngeren Menschen und durch einen laufenden Anstieg der Scheidungsrate (die etwa in Metropolen wie Wien mittlerweile bei 60 % und höher liegt) auch bei der klassischen Gruppenreise-Zielgruppe 50 + leben immer mehr Menschen alleine und suchen auf Reisen Kontaktmöglichkeiten. Hobbys darüber hinaus verbindet. Gruppendynamisch ist dabei zu beachten, wie heterogen oder homogen die persönlichen Einstellungen und Erfahrungswerte der ein‐ zelnen Gruppenmitglieder gelagert sind. Eine Lagerbildung innerhalb der Gruppe kann dieses Wir-Gefühl beeinträchtigen bzw. schwächen. Deshalb sind bei Gruppenreisen generell Reiseleiterin und Reiseleiter (sie kümmern sich neben dem Organisatorischen auch um die thematische Leitung der Reise - bei Themenreisen unverzichtbar) oder Reisebegleiterin und Reisebegleiter (sie sind wie die bzw. der Reiseleitende für das Organisatorische verantwortlich, geben aber die thematischen Parts an lokale Reiseleitende und Führende ab) in ihrer sozialen Funktion der ausgleichende Faktor. Sie bzw. er gibt einerseits in einer autokratischen Form die Linie - das Programm - vor und ist andererseits stets bemüht, dieses Wir-Gefühl zu unterstützen bzw. durch ihre bzw. seine eigene Kommunikationsfähigkeit auch zu formen. Wichtige, zu beachtende Elemente einer gelungenen Gruppenreise sind etwa das erste gemeinsame Abendessen, die Pünktlichkeit aller Teilnehmerinnen und Teilneh‐ mer sowie das rasche Ausfindigmachen einzelner Führungspersönlichkeiten bzw. etwaiger Einzelgänger unter den Gruppenmitgliedern. Des Weiteren liegt es auch am thematischen - fachlichen - Know-how der Reiseleiterin bzw. des Reiseleiters, inwie‐ weit sie bzw. er allein eine natürliche Autorität genießt oder ob sie bzw. er hauptsächlich durch ihre bzw. seine sozialen Fähigkeiten für die Gruppe punktet. Es hängt sehr stark von der Art und dem Thema der Reise, aber auch von den Teilnehmenden selbst ab, welcher der beiden Aspekte für die jeweilige Reise relevanter ist. Gartenreisen können Reisen sein, die hauptsächlich Fröhlichkeit, Glück und Unterhaltung bieten wollen oder z. B. echte Studienreisen, wo der Wissenserwerb der Reisenden mit vielen Details und Hintergrundinformationen im Zentrum steht. Dazu später noch mehr. Natürlich steht diese Ich-Wir-Thema-Einheit nicht losgelöst von der konkreten Um‐ welt, sondern sie ist stets eingebettet in die räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten sowie in das nähere und weitere soziale Umfeld, mit dem, je nach Gruppenzusammen‐ halt, mehr oder weniger geschlossen kommuniziert wird. In der Praxis ist seit 2010 ein signifikant feststellbarer Trend hin zu Themenreisen in der Gruppe festzustellen, wobei sich eine Idealgruppengröße von 15 bis 20, maximal 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmern herauskristallisiert hat. In einer immer unverbindlicher werdenden Welt und durch den immer größer werdenden Anteil der Single-Haushalte 10 , ist eine Sehnsucht nach persönlichen Kontaktmöglichkeiten sowie der sozialen Geborgenheit unter Gleichgesinnten nachvollziehbar. Die Scheu vor neuen Kontakten wird durch die vorweggenommene Gewissheit, ein gemeinsames Thema bzw. Hobby zu haben, stark gemildert. Man ist sich schon vorher sicher, von den anderen verstanden und in der Gruppe aufgenommen zu werden, da das gemeinsame Interesse am Thema ‚Garten‘ und ‚Gärtnern‘ eben verbindet. Dies stiftet nicht nur jenes Sicherheitsgefühl, das eine 380 Carl Raml 11 An dieser Stelle wird auf Branchengespräche des Verfassers dieses Beitrags zurückgegriffen. 12 Die einzelnen Gartenreisetypen, die auch weiter gefasst sind, werden im folgenden Kapitel darge‐ stellt. Hier sind die Gartenreisenden in der Gruppe im engeren Sinn gemeint, die auch der Zielgruppe der spezialisierten Gartenreise-Veranstalter entspricht. Gruppenreise unter der Leitung eines Reiseleitenden an sich erzeugt, sondern bereits zum Zeitpunkt der Reiseentscheidung die dazu förderliche Vorstellung, sicher in die Gruppe integriert zu werden. 1.4 Nachfragende und ihre Motive Nicht die Gartenbetreiberinnen und Gartenbetreiber oder die Gartenreiseveranstalter‐ innen und Gartenreiseveranstalter erzeugen die Nachfrage nach Gartenreisen, es sind die Gäste selbst, die durch ihre Nachfragewünsche dieses touristische Segment mit allen Ausprägungsformen geschaffen haben und stets nach Neuem streben. Dieser Nachfrage auf der Spur zu sein, ist das tägliche Geschäft der (Garten-)Touristikerin bzw. des (Garten-)Tourisitkers. Je nach gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung sowie je nach Wertemodell sind Zielgruppen auszumachen und Trends zu antizipieren. Wesentlich geprägt wird dies dabei von einer Reihe grundsätzlicher touristischer Motive, die bei Gartenreisen zu beobachten sind, und in ihrer Gewichtung und Ausprä‐ gung sowohl aus psychologischer - den Reisenden betreffend - als auch soziologischer Sicht - die den Reisenden beeinflussende Gesellschaft betreffend - einem ständigen Wertewandel unterliegen: ● Entdeckersowie Sammlergeist, ● Suche nach Erholung und Entschleunigung, ● Sinneserlebnis, ● Naturverbundenheit, ● Kunstgenuss, ● Kontakt mit Gleichgesinnten und Geselligkeit, ● Neugierde und Ideensuche, ● nachhaltiges Denken und Handeln. 1.5 Gartenreisende in der Gruppe Auf Basis ständiger Kundenbefragungen der Reisebranche 11 ist festzustellen, dass typische Gartenreisende 12 in Gruppen über 50 Jahre alt und, je nach Herkunftsmarkt, zu zwei Dritteln bis drei Vierteln weiblich sind. Herren werden meist nur ‚mitgenommen‘, gehen praktisch nicht allein auf Gartenreise, ganz im Gegensatz zu Frauen, die sowohl einzeln als auch mit Freundin oder in kleinen Gruppen eine große Freude daran zu haben scheinen. Aus der Praxis eines Gartenreiseveranstaltenden kann das von Paula Almquist in ihrem Artikel gezeichnete Bild über typische Gartenreisende vollauf bestätigt werden (vgl. Almquist 2016). Die Erfahrung des Verfassers dieses Beitrags zeigt, dass 381 Gartenreisen in der Gruppe bei den Gartenreisefans die Besuche von Privatgärten besonders gefragt sind, wo neben genügend Zeit für das eigene Entdecken insbesondere das Fachsimpeln mit der Eigentümerin bzw. der Eigentümer oder der verantwortlichen Gärtnerin bzw. dem verantwortlichen Gärtner sein soll. Idealerweise im entspannten Ambiente im Garten sitzend oder ins Herrenhaus geladen, menschelt es während dem gleichzeitigen Verkosten von selbstgemachten Gartenleckereien besonders gut. Ganz wichtig ist es auch, die Möglichkeit vorzusehen, Mitbringsel wie Pflanzensamen, Stecklinge oder Pflanzen sowie besondere Gartenaccessoires erstehen zu können. Hierfür genügend Platz im Gepäck vorzusehen, darauf wird ein renommierter Gartenreiseveranstaltender natürlich schon vor der Reise hinweisen. Die wichtige Rolle einer versierten Gartenreiseleiterin und eines versierten Garten‐ leiters ist es, den dramaturgisch aufgebauten roten Faden der Gartenreise entsprechend zu inszenieren, für ein homogenes Gruppenerlebnis Sorge zu tragen und natürlich sämtliche organisatorischen Details und administrativen Tätigkeiten im Hintergrund abzuwickeln. Die Reisenden lieben es, geführt zu werden und sich keine Sorgen um den Zeitplan machen zu müssen. Wichtig dabei ist es, genügend Zeit für notwendige Pausen einzuplanen und den Gästen auch individuelle Freiräume zu lassen. Ein erfüllter Gartenbesuch ist eben keine Besichtigung einer Sehenswürdigkeit, sondern ein umfassendes Sinnerlebnis, bei dem es darum geht, Raum, Landschaft, Farben, Düfte und Geräusche in der Natur aufzunehmen. Dies gilt nicht nur für Privatgärten, auch große englische Landschaftsgärten oder französische Schlossgärten mit ihren Sichtachsen und Wasserspielen versuchen den Raum mit Rabatten, Gewächsen und Bäumen erlebnisreich zu inszenieren. Gleiches gilt auch für fernöstliche Gärten, wo die Geometrie und die Erzeugung eines Gleich‐ gewichts eine zentrale Rolle spielt. Eine Sonderform ist dabei der Steingarten, der sich auch in subtropischen Gebieten immer größerer Beliebtheit erfreut. 1.6 Destinationen für Gartenreisegruppen In Europa sind die bevorzugten Länder v. a. die Britischen Inseln mit England und Wales sowie immer mehr auch Schottland und das Nachbarland Irland, gefolgt von Deutschland, Frankreich, Italien sowie den Niederlanden und Österreich. Auch die Gärten in Tschechien, Ungarn und Polen werden immer beliebter. Bekannte Insel-Gar‐ tenreiseziele sind Madeira - die Blumeninsel im Atlantik - die Balearen, die Kanaren und Zypern sowie Malta und einzelne griechische Inseln. Speziell auch Dachgärten und geheime Gärten in Europas Metropolen ziehen immer mehr Gartenreisende an. Exotische Gärten wie in Marokko, La Réunion, Mauritius, Südafrika sowie in Sri Lanka und auf den Karibischen Inseln sind in den letzten Jahren neu entdeckte fernere Gartenreiseziele. Die Kirschblüte in Japan mit dem Besuch berühmter spiritueller Gärten ist im Fernreisesegment ein außergewöhnliches Erlebnis. 382 Carl Raml 1.7 Gartenreisen vs. Gartentourismus Wesentlich für eine tiefergehende Betrachtung der einzelnen Gartenreisetypen ist die abgrenzende Begriffsbestimmung ‚Gartenreise‘, wie bereits eingangs dargestellt, als Pauschalreise im Sinne der Touristik, zum weiter gefassten Begriff ‚Gartentourismus‘ generell. Unter Gartentourismus wird laut Hlavac (2006, S. 28) jener Tourismus verstanden, „dessen geografische bzw. thematische Ziele Gärten oder Parks sind, unabhängig von der Entstehungszeit der Gartenbzw. Parkanlage, und unabhängig ob die Anlage im öffentlichen oder privaten Besitz steht“. Dieser Begriff umfasst einerseits sämtliche Aktivitäten der Park- und Gartenbetreiber selbst, andererseits, neben den Gartenreisenden im engeren Sinn, auch Ausflüglerinnen und Ausflügler sowie Touristinnen und Touristen, für die „der Besuch nicht das primäre und einzige Reisemotiv darstellt; vielmehr wird die Besichtigung von Park- und Gartenanlagen in der Regel mit anderen Freizeit- und Urlaubsaktivitäten verknüpft“ (Steinecke 2018, S. 55 ff.). Diese Touristinnen und Touristen unternehmen ihre Garten- und Parkbesuche zur überwiegenden Zahl auch individuell - also nicht als Gruppe - und auch nicht über ein Touristik-Unternehmen gebucht. „Aufgrund der Vielzahl von Besuchsmotiven und Urlaubsaktivitäten weist der Gartentourismus also inhaltliche Schnittstellen zu mehreren anderen Tourismusarten auf “ (Steinecke 2018, S. 56, inklusive Abb. 19), wie Steinecke dies auch plakativ darstellt: ● Naturtourismus (englische Landschaftsgärten), ● Kulturtourismus (historische Parkanlagen), ● Städtetourismus (Volks- und Bürgerparks), ● Shopping-Tourismus (kommerzielle Gartenerlebniswelten), ● Erlebnistourismus (Events in Park- und Gartenanlagen), ● Dark Tourism (Friedhöfe). Ganz generell haben Gartentouristinnen und -touristen in ihren Wunschvorstellungen und Verhaltensweisen zwei Pole, die sie stärker oder schwächer anziehen: ● der Garten- und Parkbesuch selbst, ● eine touristische Reise (davon grenzen sich Ausflüglerinnen und Ausflügler ab, deren Besuch nicht mit einer auswärtigen Nächtigung in Zusammenhang steht). Gartenbesuche aufgrund rein wirtschaftlicher Motive (z. B. Gartenmessen) werden hier im Weiteren nicht berücksichtigt. Es handelt sich dabei meist um Geschäftsbzw. konsumorientierten Eventtourismus. 2 Gartenreisetypen und Angebote Albrecht Steinecke stellt die Typologie der Gartenbesucherinnen und -besucher anhand zweier Dimensionen dar: ① nach der Intensität der gärtnerischen und kulturhistori‐ schen Kenntnisse und ② nach dem Stellenwert von Park- und Gartenanlagen in Freizeit und Urlaub (→ Abb. 1). 383 Gartenreisen in der Gruppe 13 Der Verfasser dieses Beitrags beschäftigt sich im Rahmen seiner bisher bereits 40-jährigen Berufs‐ laufbahn als Reiseveranstalter seit fast 30 Jahren ebenfalls mit Gartenreisen in den Unternehmen Raml Reisen, nachfolgend sabtours Touristik GmbH und widmete sich dem Thema seit Aufkommen des Gartentourismus auch wissenschaftlich im Rahmen des Forschungskreises für Tourismus und Freizeitwissenschaft FORT von 1994-2001 bzw. darüber hinaus als Referent bei einschlägigen Organisationen und Veranstaltungen. Tourismus, Parks und Gärten Stellenwert von Park- und Gartenanlagen in Freizeit und Urlaub gärtnerische/ kulturhistorische Kenntnisse hoch hoch niedrig niedrig pflichtbewusste Besichtigungstouristen (Sightseeing) aufgeschlossene Entdecker (neue Erfahrungen) erholungssuchende Städter (Naturnähe) kulturinteressierte Touristen (Informationen) passionierte Gartenliebhaber (Anregungen) Unterhaltungsorientierte Ausflügler (Abwechslung) Abb. 1: Typologie der Gartenbesucherinnen und -besucher Sind im unteren Segment (→ Abb. 1) mit beiderseits geringer Intensität erholungssu‐ chende Städterinnen und Städter bzw. unterhaltungsorientierte Ausflüglerinnen und Ausflügler zu finden, sind jene im oberen Segment mit beiderseits höherer Intensität die passionierten Gartenliebhaberinnen und Gartenliebhaber sowie kulturinteressierte Touristinnen und Touristen vertreten. Dazwischen liegen einerseits die pflichtbewuss‐ ten Besichtigungstouristinnen und -touristen (mit höherem Stellenwert zum Thema ‚Garten und Parks‘) bzw. andererseits auf mittlerem Niveau der kunsthistorischen/ gärt‐ nerischen Kenntnisse die aufgeschlossenen Entdeckerinnen und Entdecker (unabhän‐ gig von deren Stellenwert zum ‚Thema Garten und Parks‘). Eine andere, aber durchaus ähnliche Typisierung festgestellter Zielgruppen unter den Gartentouristinnen und -touristen bzw. Gartenreisenden, die im Laufe der Zeit aus der Erfahrung eines Praktikers im Bus- und Flugreiseveranstalterbereich entwickelt wurde, sollte aus Sicht des Verfassers dieses Beitrags ebenfalls mitbetrachtet werden: 13 ● Ausflüglerinnen und Ausflügler, ● Land- und Leute-Entdeckerinnen und -Entdecker, 384 Carl Raml ● Studienreisende, ● Hobbygärtnerinnen und Hobbygärtner, ● Gartenenthusiastinnen und Gartenenthusiasten. Die ersten beiden Typen sind nicht zu den Gartenreisenden im engeren Sinn zu zählen. Dennoch ist die Darstellung dieser beiden Typen für ein grundsätzliches Verständnis der Thematik ‚Gartenreisen in Gruppen‘ notwendig. Studienreisende, Hobbygärtnerinnen und -gärtner sowie Gartenenthusiastinnen und -enthusiasten sind Gartenreisende im engeren Sinn. Entscheidend für die Entwicklung von Gartenreisen durch einen Gruppen-Reisever‐ anstalter ist eine eingehende Beobachtung des eigenen Herkunftsmarkts. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass die unterschiedlichen Wünsche und Vorstellungen der potenziellen Gartenreisenden auch je nach Region, Herkunft, Bildungsstand sowie Geschlecht und Familienstand stark variieren. Daher muss eine Diversifizierung des Angebots neben den oben dargestellten unterschiedlichen Typen auch unter Berück‐ sichtigung dieser Faktoren erfolgen. Wichtig ist zu entscheiden, welche Zielgruppen überhaupt bearbeitet werden sollen. Oft wird versucht, für ein bereits bestehendes Angebot eine Zielgruppe zu finden, ohne sich vor Angebotsentwicklung jemals mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Motive von potenziellen Gästen auseinandergesetzt zu haben. Dies wird nur sehr schwer oder gar nicht zum Ziel führen. Nachfrageorientiertheit ist nicht nur ein theoretischer Begriff, sondern gehört zum Einmaleins eines modernen Marketings bzw. einer zielgerichteten Angebotsentwicklung. 2.1 Ausflüglerinnen und Ausflügler Bei den Ausflüglerinnen und Ausflüglern handelt es sich um Tagesbesucherinnen und -besucher, die einen Garten bzw. einen Park - meist sind es Schaugärten, botanische Gärten, Gartenschauen sowie Gartenanlagen bei Schlössern und sonstigen Sehenswür‐ digkeiten - als Ausflugsziel gewählt haben. Das Hauptmotiv der Besucherinnen und Besuchern ist nicht, sich der Gartenthematik an sich zu widmen, sondern die Freizeit mit Partner, Familie, Kindern, Großeltern, Verwandten und/ oder Freunden zu verbrin‐ gen. Die Gartenanlage wird zum Zeitvertreib besucht, der Unterhaltungswert steht dabei im Vordergrund. Es handelt sich dabei meist um Individualbesucherinnen und -besucher. Bei Seniorengruppen sind Tagesausflugsfahrten sehr beliebt, das Reiseziel selbst punktet besonders durch den Neuheitswert. Ein neues Ausflugsziel im Kreis einer netten Gesellschaft zu besuchen und Spaß zu haben, ist dabei das Hauptmotiv. Diese Zielgruppe sind keine Gartenreisenden im engeren Sinn wie oben bereits dargestellt. Um diesen Besucherinnen und Besuchern gerecht zu werden, sind für Gartenbetrei‐ bende besonders folgende Faktoren wichtig: ● moderne, behindertengerechte Infrastruktureinrichtungen, Parkplatz, Toiletten‐ anlage, Restaurant bzw. Café, Shop, 385 Gartenreisen in der Gruppe 14 „Kundenbeziehungsmanagement […] bezeichnet eine Strategie zur systematischen Gestaltung der Beziehung und Interaktion einer Organisation mit potenziellen Kunden. […] [H]ilft Unternehmen dabei, mit ihren Kunden in Verbindung zu bleiben, Prozesse zu optimieren und Rentabilität zu steigern.“ (salesforce o. J.) ● Orientierungsplan, Wegführung, Transportmittel für Menschen mit einge‐ schränkter Mobilität, Chill-Möglichkeiten, Ruhezonen bzw. ein Angebot an sonstigen Aktivitäten - sanfte Sportmöglichkeiten wie etwa Kanufahren, falls Wasserläufe vorhanden sind, ● Guides sind nicht essenziell, erhöhen aber die Verweildauer in der Anlage, ● auch ein Schlechtwetterprogramm wie z. B. Museum, Kino, Gastronomiebetriebe und Spielecke für Kinder sind notwendig. Kundenbindungsmaßnahmen, etwa durch Jahresbzw. Dauerkarten, Wiederbesuchs‐ nachlässe, Gutscheine, Kindergeburtstage, Sonderaktivitäten zu Feiertagen, und ein professionelles Customer Relationship Management (CRM) 14 erhöhen die Besucherfre‐ quenz. 2.2 Land- und Leute-Entdeckende Hierbei handelt es sich um Nächtigungstouristinnen und -touristen, die unter dem Motiv ‚Land und Leute kennenlernen‘ eine Region bereisen - also klassischer Besichti‐ gungs- und Städtetourismus, wo Sehenswürdigkeiten besucht und diverse touristische Infrastruktur, zu denen auch Gartenanlagen und Parks gehören, genutzt werden. Das Hauptmotiv ist der Besuch einer bestimmten vom Reisenden vorab ausgewählten Destination. Laut Bieger wird „mit dem Begriff Destination das jeweilige, für eine bestimmte Zielgruppe relevante Zielgebiet umschrieben“ (Bieger, 2006, S. 141). Die Welttourismus‐ organisation definiert die Destination als „Ort mit einem Muster von Attraktionen und damit verbundenen Tourismuseinrichtungen und Dienstleistungen, den ein Tourist oder eine Gruppe für einen Besuch auswählt und den die Leistungsersteller vermark‐ ten“ (WTO 1993, S. 152). Aus dieser Definition geht hervor, dass die Destination als Reiseziel und Tourismus‐ produkt für eine Zielgruppe zu verstehen ist (Raml 2013, S. 14 ff.). Daraus folgt, dass die Touristin bzw. der Tourist entscheidet, was sie bzw. er als Destination ansieht. Dies kann einmal ein ganzes Reiseland, eine Region, ein Ort oder auch nur ein Hotelresort bzw. eine Erlebnisanlage (z. B. auch ein Schaugarten) sein. Die Destination kann für verschiedene Gästegruppen unterschiedliche Kernprodukte und unterschiedlichen Nutzen generieren. Wesentlich ist dabei, dass eine Destination aus der Perspektive einer Kundengruppe abgegrenzt werden muss. Je spezifischer der Reisezweck ist, desto fokussierter und kleiner wird der Bewegungsraum sein (z. B. für Gartenreisende im engeren Sinn ein relevanter Garten, für Besichtigungsreisende eine Region mit dem gesamten touristischen Leistungsangebot). 386 Carl Raml 15 Storytelling bedeutet übersetzt ‚Geschichten erzählen‘. Nach Hillmann (2011, S. 63 f.) ist es „eine Methode, die systematisch geplant und langfristig ausgelegt Fakten über ein Unternehmen in Form von authentischen, emotionalen Geschichten vermittelt, die bei den wichtigen internen und externen Bezugsgruppen nachhaltig in positiver Erinnerung bleiben“. Land- und Leute-Entdeckende reisen gerne in Gruppen (z. B. per Bus und/ oder Flugzeug), aber auch individuell (meist mit PKW oder Bahn und vor Ort mit dem ÖPNV) und besuchen in Form von Rundreisen, Sternfahrten (sternförmige Ausflüge von einem Quartier aus) bzw. Aufenthaltsreisen (z. B. Erforschung des kulturellen An‐ gebots sowie Küche und Keller) die Destination. Interessiert sind diese Besucherinnen und Besucher von Gartenanlagen an regionalspezifischen Aspekten, an Fotomotiven und Zusatzleistungen wie geführten Rundgängen, Gastronomien, Verwertungen von Früchten aus dem Garten, Shopping, aber auch Entspannung und Erholung. Sehr wichtig ist ein Angebot an professionellen mehrsprachigen Guides bzw. Audio-Guides, eine gruppenadäquate Infrastruktur sowie Parkplätze für Reisebusse und oben ange‐ sprochene Zusatzleistungen, die ein längeres Verweilen sinnvoll erscheinen lassen. Die weitgehende Organisation dieser Reisen durch Reiseveranstaltende ist ökonomisch gesehen für Gartenbetreiberinnen und -betreiber durchaus sinnvoll, per Definition aber nicht zwingend notwendig. Es handelt sich auch bei diesem Typus nicht um Gartenreisende im engeren Sinn. 2.3 Studienreisende Bei Studienreisenden steht stets ein konkret gewähltes oder vorgegebenes Rahmen‐ thema im Vordergrund - sowohl bei der Reiseauswahl durch den Reisenden als auch beim Reiseerlebnis selbst. Ist das Thema gartenspezifisch und mit historischem bzw. wissenschaftlichem Hintergrund gewählt, handelt es sich grundsätzlich um eine Garten-Studienreise. Die Reisenden, ausschließlich Nächtigungstouristinnen und -touristen in der Region, meist - aber nicht notwendigerweise - in Reisegruppen sind besonders interessiert an historischen Gartenanlagen, deren Architektur, Ge‐ schichte und wissenschaftlich belegten Hintergründen. Anhand der Schlossgärten, Herrenhäuser, öffentlichen Einrichtungen und Parks wird die Geschichte wieder lebendig. Wahrheitsgetreues Storytelling 15 im Rahmen professioneller Führungen und Detailinformationen über Zweck, Nutzung, Entstehung, Eigentümerinnen und Eigentümer sowie auch Bepflanzungen sind gefragt. Wie schon dargestellt spielt bei Studienreisen eine versierte Reiseleiterin oder ein versierter Reiseleiter mit fundiertem historischem und architektonischem Fachwissen eine besonders wichtige Rolle. Ihr bzw. ihm kommt auch die Aufgabe zu, den roten Faden des Reisethemas sowie die historischen Querverbindungen und vielfältigen kulturellen Aspekte der besuchten Region zu einem großen Ganzen zusammenzuführen. 2.4 Hobbygärtnerinnen und Hobbygärtner Die emotionale Bindung zum Thema ‚Garten‘ ist bei dieser und der folgenden Ziel‐ gruppe am höchsten und bestimmt auch deren Verhaltensweisen. Hobbygärtnerinnen 387 Gartenreisen in der Gruppe 16 Weitere Informationen zur Chelsea Flower Show sind zu finden unter: www.rhs.org.uk/ shows-eve nts/ rhs-chelsea-flower-show (letzter Zugriff: 31.10.2021). und -gärtner haben einen eigenen Garten, den sie auch selbst bewirtschaften und pflegen. Diese Menschen lieben ihren Garten und haben ihn sich zum Hobby gemacht. Dieser Gartenreisetypus hat auch am meisten dazu beigetragen, dass das Thema ‚Gärtnern‘ ab den 1990er-Jahren wieder en vogue war. Sie waren von Beginn an interessiert, Reisen zu bekannten nationalen Gartenschauen - z. B. den BUGAs in Deutschland und GARTEN TULLN in Niederösterreich (vgl. den Beitrag von Franz Gruber in diesem Band) -, aber v. a. auch zu internationalen Gartenevents wie zur englischen Chelsea Flower Show 16 zu unternehmen. Hobbygärtnerinnen und -gärtner sind häufig Gäste von Gärten und Gartenschauen, die aus der eigenen Region stammen, hinzu kommen Fachausflüglerinnen und -aus‐ flügler, aber in steigendem Maße auch Nächtigungstouristinnen und -touristen auf Gartenreisen. Sie reisen sowohl individuell bzw. im Rahmen von Hobbygärtnergrup‐ pen, in Gruppenfahrten von Siedlungsvereinen, selbstorganisiert als auch über Reise‐ veranstalterinnen und -veranstalter. Das zentrale Reisemotiv dieser Zielgruppe ist es, Ideen und Tipps von Profis für den eigenen Garten zu sammeln und sich fachlich auszutauschen. Sie sind besonders interessiert an technischen Tipps, die sowohl die Methodik (Einsatz von Hilfsmitteln, Techniken der Anpflanzung, Pflege etc.) als auch die grundsätzliche Philosophie (z. B. Bio-Gardening) des Gärtnerns betreffen. Auch neue Pflanzentypen kennenzulernen und der Erwerb von Setzlingen und Samen ist ein wichtiger Aspekt. Besonders gefragt ist auch das Kennenlernen der Gärtnerinnen und Gärtner bzw. der ‚Seele des besuchten Gartens‘, um sich persönlich auszutauschen. Meist entsteht dabei eine erfüllende emotionale Bindung. Man fühlt sich bestätigt in seinem Tun und es entsteht ein Wir-Gefühl, das weiter dazu motiviert, neue Projekte im eigenen Garten anzugehen. 2.5 Gartenbegeisterte, sogenannte Gartenenthusiastinnen und Gartenenthusiasten Die Zielgruppe der Gartenenthusiastinnen und Gartenenthusiasten hat die höchsten Ansprüche an das Gartenreiseprodukt, ja sie definieren durch ihre Wünsche und Verhaltensweisen Gartenreisen im engsten Sinn. Sie haben ebenso eine sehr hohe emotionale Bindung zum Thema ‚Garten‘, sind entweder Hobbygärtnerinnen und -gärtner oder Gartenliebhaberinnen und -liebhaber, die Gärten mit all ihren Sinnen erleben wollen. Der Garten wird zur perfekten Wunschwelt, die es zu verwirklichen oder zu besuchen gilt. Die idealtypische Gartenreise ist mehrtägig, wird von einem professionellen Gar‐ tenreiseveranstaltenden erstellt, führt primär zu ausgewählten Privatgärten, wo ein Kennenlernen bzw. Aufeinandertreffen mit der ‚Seele des Gartens‘ stattfindet, und wird von einer Garten-Fachreiseleitung - Gartenreiseleitung oder Gartenfachfrau bzw. -mann - geführt. Es handelt sich vorwiegend um Gartenenthusiastinnen, die 388 Carl Raml mit Freundin oder verwandter Person zu zweit oder zu mehreren in Gruppen reisen. Alleinstehende Damen und Paare sind immer häufiger anzutreffen, Solo-Männer kaum. Von dieser Zielgruppe wird auf einer Gartenreise Folgendes besonders geschätzt: ● ein herzlicher, persönlicher Empfang durch die Inhaberin oder den Inhaber, die sogenannte Gartenseele, ● persönlich geschilderte Geschichten über den Garten, angefangen bei der Entste‐ hung über die Motivation der Gründungsperson bis hin zur gesamten Historie des Gartens bis zum heutigen Tag, ● ein gemächlicher, geführter Rundgang durch den Garten mit Darlegung der Philosophie, der Ideen dahinter und diverser Anekdoten, ● genügend Zeit für alleiniges Spazieren und Entdecken, ● die Möglichkeit zu chillen, etwa zum Entspannen in der Wiese oder in dafür geschaffenen Gartenecken, ● die Verkostung von Früchten und Erzeugnissen aus dem Garten, ● die Reflexion des Erlebten durch die Gartenreiseleitung. Gartenenthusiastinnen und -enthusiasten wollen ihre Liebe und Freude an Gärten auf Reisen ausleben, sich mit Gleichgesinnten austauschen und diese Reise im Sinne eines durch das Hobby geprägten Urlaubs in allen Zügen genießen. Die Gruppen-Gartenrei‐ sen für diese Zielgruppe dauern bei Kurzreisen zwei bis dreiTage, hauptsächlich sind es vier bis sechs Tage. Es werden aber auch längere Reisen bis zu etwa zehn Tagen, je nach Reiseziel und Anreiseform, angefragt. Weitere notwendige Leistungsbestandteile sind: ● die Anreise mit Bus, Flugzeug oder, erstmals stärker nachgefragt, auch mit der Bahn, ● eine zum Thema ‚Garten‘ passende Unterkunft und leichte Kulinarik - Flexibilität bei den Mahlzeiten ist bei den Reisegästen gerne gesehen, ● ergänzende, das Gartenbesichtigungsprogramm anreichernde, touristische Be‐ sichtigungen, Boots- und Schifffahrten, insbesondere bei längeren Reisen. 3 Authentischer und nachhaltiger Tourismus 3.1 Die Zukunft der Gartenreisen Die Gesellschaften befinden sich in einem umfassenden Wandel. Seit geraumer Zeit wirken Globalisierung und Digitalisierung auf die Menschen weltweit ein. Zusätzlich bedroht ein Klimakollaps erstmals die Menschheit als Ganze. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn man den Aussagen der meisten seriösen Wissenschaftlerinnen und Wis‐ senschaftlern Glauben schenkt, bis irreversible Prozesse in unserer Umwelt einsetzen, die der Mensch nicht mehr aufhalten kann. Daraus folgen Unverständnis, Ärger, Wut, Widerstand, aber auch Hilflosigkeit einerseits, Beharrungsvermögen, Machtbesessen‐ heit und Ignoranz andererseits. Auch die bis dato entwickelten sozialen und politischen 389 Gartenreisen in der Gruppe Ausgleichsmechanismen in und zwischen den Gesellschaften beginnen sich mehr und mehr aufzulösen oder werden gar per Federstrich kurzerhand abgeschafft. Das alles hat natürlich gleichermaßen Auswirkungen auf die heutige Freizeitgesell‐ schaft und beeinflusst damit das Urlaubs- und Reiseverhalten massiv. Wie stark das sein wird, ist heute noch nicht ganz absehbar. Auch die seit dem Jahr 2020 auftre‐ tende Coronakrise zeigt die Fragilität des Tourismus auf. Dienstleistungen sind nicht lagerfähig, sie sind ein immaterielles Wirtschaftsgut. Treten gesamtgesellschaftliche Krisen und damit verbundene gesetzliche Restriktionen in Kraft oder regiert Angst die Gesellschaft, verlieren die Menschen die Lust am Reisen. Die Macht der digitalen Informationsflut, die täglich Bilder über Kriege, Anschläge, Katastrophen und Epidemien stündlich piepend in unser Leben pusht, strapaziert auch den Optimismus der Hartgesottensten. Es zeigt, wie leicht unsere globalisierte Welt und damit auch die realwirtschaftlichen Grundfesten augenblicklich erschüttert werden können, die Tourismuswirtschaft existentiell bedroht wird und die Börsenkurse der Finanzwirtschaft ins Unermessliche abstürzen können. Abschottung um jeden Preis wird zum Gebot der Stunde, ‚Ellbogenküsse‘, Skype-Konferenzen und Homeoffice werden zum Ersatz, Abstand halten und Depersonalisation ist die Folge. Sind wir noch zu retten? Nein, sind wir eigentlich nicht, denn es steht fest: das Leben kann das Leben kosten. Wir befinden uns auf unbekanntem Terrain. Wir sind es nicht gewohnt, mit ständig wechselnden Bedrohungslagen und Feindbildern, neuen Realitäten und gleichzeitigen Fake News umzugehen. „Das 21. Jahrhundert wurde von verschiedensten Seiten bereits als ‚Gesundheitszeitalter‘ bezeichnet. Noch nie konnten die Menschen bei so guter Gesundheit so alt werden wie heute [...]. Allerdings gibt es heute in zunehmendem Maß auch unerfreuliche Auswüchse: Immer mehr Menschen fühlen sich erst dann gesund, wenn ihnen der Ausschluss einer ernsthaften Krankheit mittels Hightech-Medizin garantiert wird.“ (Morschitzky/ Hartl 2014, S. 22 ff.) Und das möge analog auch für sichere Orte, natürliche Räume, gesunde Welten gelten. „Gerade in Zeiten des Übergangs, der Erosion, sehnen sich Menschen nach ‚bedeu‐ tungsvollen‘ Orten, an denen sie sich selbst wieder neu entdecken und ihre Identität spielerisch neu zusammensetzen können“, ist Zukunftsforscher Andreas Reiter über‐ zeugt (Reiter 2020). „Eine Sehnsucht nach begehbaren Geschichten, nach ‚Walkable Stories‘ verändert nicht nur die Selbstdarstellung von Menschen und Marken, sondern auch die Anforderungen an Handel und Freizeitwirtschaft, an Stadtmarketing und Destinationen“ (Reiter, 2020). Den Gedanken dieser Walkable Stories weiterspinnend, bieten sich Gärten und Garten‐ anlagen als Medium für solche begehbaren Geschichten geradezu an. Ist bei Reiter von Aspekten wie Stadtentwicklung und Gestaltung von Attraktionen die Rede, machen auch heute schon ‚Storys‘ im Rahmen von Markenbildungsprozessen und Werbung 390 Carl Raml Furore. Die Konsumentinnen und Konsumenten wollen Geschichten erfahren, wollen unter die Oberfläche einer bloß plakativen Werteschau der Marke blicken und das Produkt selbst erleben, verinnerlichen, es als Freund gewinnen und in ihr Leben lassen. Produktvertrauen gibt Sicherheit, Fakes sind out - Authentizität ist in. Heimat und Geborgenheit werden gesucht, eine umfassende Nachhaltigkeit kann dies bieten. Befasst man sich touristisch mit dem Thema ‚Nachhaltigkeit‘, muss man sich unweigerlich neben der Frage der Mobilität - dieser Aspekt wird hier ausgeklammert - auch intensiv mit dem Thema von Aufenthaltsräumen - im Sinn einer Reiseroute - auseinandersetzen. Sehen wir diese als Raum, als Ort, wo man sein will, wohin man sich sehnt, wohin man in den Urlaub fahren möchte, den man bereisen will. Verlieren wir uns ein wenig in einer touristischen Vision: Nehmen wir uns den Garten als Vorbild. Architektinnen und Architekten hatten ihn schon zur Zeit der Römer entdeckt und in der Renaissance so richtig hochleben lassen. Der Garten - laut Duden: mittelhochdeutsch garte, althochdeutsch garto, eigentlich: ‚das Umzäunte‘, verwandt mit lateinisch cohors (Gardine). Der Garten ist vom Wortstamm her also etwas Umgrenztes und Schützendes. Dies zu bewahren, was schützt, liegt in der Natur der Sache. Der Garten ist somit ein Sinnbild für das Bewahrenswerte. Nachhaltiger Tourismus setzt ebenfalls beim Bewahrenswerten an. Nicht nur die Natur, auch die Gesellschaft, das ökonomische, soziale und politische Handeln muss nachhaltig ausgerichtet sein, wollen wir eine Zukunft haben. Bewahrenswertes zu erhalten bzw. Nichtbewahrenswertes durch nachhaltige Innovationen zu verändern, wird das Hauptziel sein. Ja natürlich, Gartenreisende suchen - wie hier versucht wurde zu zeigen - im Garten genau das: eine heile und beglückende Welt, Räume, wo sie entspannen, abschalten und sich regenerieren können und das, wenn möglich, gleich mit allen Sinnen. Nachhaltig‐ keit ist auch das Grundprinzip des Biogartens (Stichwort ‚Kreislaufwirtschaft‘) und Gartenreisen im engsten Sinne heißt Gartensammeln: nachhaltige Eindrücke erleben, Ideen mitnehmen, gesund bleiben wollen, im Gleichgewicht leben u. a. m. Verbindet man nun die oben dargestellte philosophische Betrachtung des Gartens nun modellhaft mit den aufgezeigten zukünftigen Reisebedürfnissen in der paradig‐ menwechselnden Umbruchszeit des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts, weist dies in die Richtung einer neuen Form des Tourismusverständnisses. Es postuliert ein Neues Reisen im Sinne eines Raumbzw. Gartensammelns umfassend, individuell gestaltbar und nachhaltig. Eine Aneinanderreihung von nachhaltigen Raumerlebnissen, wo sich der Reisegast auch in seiner Identität neu wiederfindet. 3.2 Epilog - das Reisen neu erfinden Die Touristik in Europa war bis zur Coronakrise im Jahr 2020, bildlich gesprochen, mit offenem Visier unterwegs Richtung Betonwand. Neben einem beinharten Verdrän‐ gungswettbewerb der Anbieterinnen und Anbieter, verschleuderten Flugtickets und einer ungezügelten Ausbeutung der Natur- und Personalressourcen zu Hochsaisonzei‐ ten agierten die Reiseveranstalterinnen und -veranstalter, verdammt zur Expansion, 391 Gartenreisen in der Gruppe mehr und mehr am schmalen Grat der Rentabilität. „Wie bei allen Tendenzen der Globalisierung sind die Bewegungen horizontal, expansiv und fast ausschließlich wachstumsorientiert. Was dabei untergeht, ist die vertikale Dimension des Erlebens.“ (Kufeld 2005, S. 11) Nach einem weltweiten Lockdown ab dem Frühjahr 2020 und mitten in einer weltumgreifenden Pandemie ist die Touristik in einer früher nicht vorstellbaren Geschwindigkeit zum Stillstand gekommen. Dem Trägheitsgesetz folgend werden zwar nach wie vor massentouristische Produkte vertrieben. Diese Pyrrhussiege fallen jedoch laufend durch staatlich verordnete Grenzschließungen wieder wie Asche in sich zusammen. Jetzt ist die Zeit, das Reisen neu zu erfinden und die Touristik für die Zukunft auszurichten, einen rentablen und nachhaltigen, damit zukunftssicheren Pfad einzu‐ schlagen, ohne dabei nach rein quantitativen Maßstäben und ressourcenvernichtenden Wachstumsmaximen zu handeln. Folgende Schlüsse können schon jetzt gezogen werden: ● Die noch folgende, unausweichliche Branchenbereinigung lässt weniger Akteu‐ rinnen und Akteure am Markt zurück. ● Die digitalen direkten Kommunikationsbeziehungen zwischen Leistungsträgerin‐ nen und Leistungsträgern (Destinationen, Hotels, Verkehrsträgern etc.) und den Nachfragenden (Reisegäste) verfestigen sich. ● Ein Mehr an Kostenwahrheit (auch externe Effekte, Ökosteuern etc.) und ein daraus resultierender Anstieg des Preisniveaus ist prognostiziert. ● Die Reisemittlerinnen und -mittler (vgl. Kaspar 1996, S. 88; u. a. Reiseveranstalter und Reisebüros) müssen sich vollkommen restrukturieren und ihre Leistungen für den Markt nachfrageorientierter, offensiver und transparenter aufzeigen, wollen sie im touristischen Geschehen weiter mitmischen. ● Eine Abkehr von einer quantitativen Expansionsstrategie, die wie bisher auf Masse und Preiskampf setzt, hin zur qualitativen Durchdringung, die Authentizität und Empathie nachhaltig in den Vordergrund stellt, ist notwendig. ● „Ziel sollte die Entwicklung einer ästhetisch geprägten Perspektive sein“ (Ku‐ feld 2005, S. 12). Es gilt, Abstand zu nehmen von der antiquierten Form der Eroberung der Räume hin zu mehr Bewusstsein und der Schaffung eines erfüllten Sinnerlebnisses. Die touristische Zukunft hält also für die Reisemittlerinnen und -mittler die essenzielle Aufgabe bereit, die Ästhetik des Reisens herauszuarbeiten und den Reisenden „das dia‐ lektische Spannungsfeld des Reisens zwischen poetisch-sinnlicher Motivation einerseits und real greifender Gefährdung andererseits“ (Kufeld 2005, S. 14) darzulegen. Einmal mehr sind es die fachlich fundierte und ehrliche Beratungsleistung sowie ein Werte und Erfüllung schaffendes Produkt, die Bindungen zu Kundinnen und Kunden erzeugen. Mündige und emanzipierte Touristinnen und Touristen entscheiden, was sie wollen und wo sie die gewünschten Informationen abrufen bzw. schlussendlich buchen. 392 Carl Raml Massentouristische Hochburgen als Urlaubsparadiese zu vermarkten, wird mehr und mehr durchschaut werden. Umfassend digital informierte Touristinnen und Touristen verlangen nach konkreten Entscheidungshilfen der touristischen Anbieterinnen und Anbieter und lassen sich kaum mehr emotional überrumpeln. Die Zukunft wird somit ein Mehr an Produkt und ein Weniger an Werbung bringen. Die Metapher ‚Paradies‘ zeigt dabei die dem Reisen innewohnende Zweischneidig‐ keit treffend auf: „Einerseits gelten Paradiese als höchster Ausdruck der Sehnsucht und Ursprünglichkeit […], andererseits können Paradiese nur solche bleiben, wenn man sie nicht betritt beziehungsweise verlässt“ (Kufeld 2005, S. 13). Die Touristik sowie die Touristinnen und Touristen müssen sich diesen Widerspruch vor Augen halten. Es gilt, Wege zu finden bzw. bereits vorhandene Angebote mehr zu nutzen, um der Natur und Kultur mit Respekt zu begegnen und sie gleichzeitig zu bewahren. Ein Mehr an Qualität schafft bei Bereisten und Reisenden auch ein Mehr an Wertschöpfung bzw. Erfülltheit. Beide Marktteilnehmenden sollten bereits rein aus Eigennutz den Schutz der Paradiese durch nachhaltiges Denken, Planen und Handeln gewährleisten. Gärten sind - wie aufgezeigt - mit allen Sinnen erlebbare Räume, sie sind auch erlebbare Paradiese. Gartenreisen im engeren Sinn sind nachhaltige Angebote in Erlebnisräumen, die sowohl den Gartenbetreiberinnen und -betreibern als auch ihren Besucherinnen und Besuchern Wertschöpfung und Erfüllung bescheren, persönliche Kommunikation ermöglichen und gegenseitiges Verständnis schaffen. Nachhaltige Reisen können somit von Gartenreisen im engeren Sinn lernen und umgekehrt. Erleb‐ bare Natürlichkeit, Authentizität und persönliches Kennenlernen der Gastgebenden, Empathie, Sinneserlebnis und Wege zur Selbstfindung sind wesentliche Bausteine eines nachhaltigen Reiseprodukts. Kombiniert mit möglichst nachhaltiger Mobilität durch Einsatz von ressourcensparenden und emissionsarmen Verkehrsmitteln dienen Gartenreisen somit als Leitfaden für eine zukunftsweisende touristische Produktge‐ staltung. Wir müssen es wollen und wir müssen es tun. Die Zeit ist mehr als reif dafür. Literaturhinweise Almqvist, P. (2016): Warum Gartenreisen boomen, GEO Saison 5. Antz, C.; Eilzer, C.; Eisenstein, B. (2011): Slow Tourism. Reisen zwischen Langsamkeit und Sinnlichkeit. Schriftenreihe des Instituts für Management und Tourismus (IMT), Band 6. Peter Lang, Frankfurt am Main. Antz, C.; Hlavac, C. (2006): Vorwärts ins Paradies, Gartentourismus in Europa, Schriften‐ reihe Integrativer Tourismus & Entwicklung, Band 7. Profil, München. Bieger, T. (2006): Tourismuslehre - Ein Grundriss. Haupt, Bern. Egger, R.; Herdin T. (2007): Tourismus - Herausforderung - Zukunft. LIT, Münster. 393 Gartenreisen in der Gruppe Forschungskreis für Tourismus (FORT) - Schriftenreihe tourismus panorama (2000): Special Interest, Jg. 6, Heft 19. Eigenverlag. Günther, A. (1998): Reisen als ästhetisches Projekt, in: Hartmann, H. A.; Haubl, R. (Hg.): Freizeit in der Erlebnisgesellschaft. Amüsement zwischen Selbstverwirklichung und Kommerz. Westdeutscher Verlag, Opladen. Hahn, H.; Kagelmann, H. J. (1993): Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie - Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft. Quintessenz, Berlin. Hlavac, C. (2006): Gartentourismus - Ein kurzer historischer Abriss, in: Antz, C.; Hlavac, C. (Hg.): Vorwärts in’s Paradies. Gartentourismus in Europa. Schriftenreihe Integrativer Tourismus & Entwicklung, Band 7. Profil, München. Kaspar, C. (1996): Die Tourismuslehre im Grundriss, 5., bearb. und erg. Aufl. Haupt, Bern. Kramer, D. (1997): Aus der Region - Für die Region. Deuticke, Wien. Kufeld, K. (2005): Die Erfindung des Reisens. Edition Splitter, Wien. Morschitzky, H.; Hartl, T. (2014): Die Angst vor der Krankheit verstehen und überwinden. Patmos, Ostfildern. Mundt, J. W. (2001): Einführung in den Tourismus. Oldenbourg, München. Mundt, J. W. (1996): Reiseveranstaltung. Oldenbourg; München. Opaschowski, H. W. (1994): Einführung in die Freizeitwissenschaft. Leske + Budrich, Leverkusen. Ploberger, K. (o. J.): Biogärtner Karl Ploberger. Online: www.biogaertner.at, letzter Zugriff: 13.08.2020. Popcorn, F. (1992): The Popcorn Report: Faith Popcorn on the Future of Your Company, Your World, Your Life. Harper Paperbacks, New York. Pröbstle, Y. (2014): Kulturtouristen. Eine Typologie. Kulturmanagement und Kulturwis‐ senschaft, ohne Band. Springer VS, Wiesbaden. Raml, C. (2013): Leistungsträger im Tourismus - Skriptum für den Tourismusmanage‐ ment-Lehrgang an der JKU Linz. Eigenverlag. Raml, C. W., ÖGAF (1993): Personalmanagement und Ausbildung im österreichischen Reisebürogewerbe, Schriftenreihe ÖGAF. Salesforce (o. J.): Was ist CRM? Online: www.salesforce.com/ de/ learning-centre/ crm/ wh at-is-crm/ , letzter Zugriff: 13.08.2020. Springer Gabler Fachmedien Wiesbaden (Hg.) (2019): Gabler Wirtschaftslexikon. Gabler, Wiesbaden. Steinecke, A. (2018): Tourismus, Parks und Gärten. UVK, München. Welttourismusorganisation (WTO) (1993): Eigenverlag. 394 Carl Raml Slow Tourism und Gartenreisen Über die neue Sehnsucht nach Langsamkeit, Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit Christian Antz 1 Zur Einführung „Die Zukunft des Reisens - näher, sanfter, smarter: Aufbruch in eine neue Urlaubszeit“ titelt das Geo Magazin im Juli 2021 und die Zeitschrift AW Architektur und Wohnen macht im gleichen Monat „Orte der Sehnsucht - das kostbare Gefühl von Freiheit und Geborgenheit“ zu ihrem Titelthema. Reisewelten, Reisethemen und Reisemotive verändern sich grundlegend zu Beginn des 21. Jahrhunderts und diese Tendenz wurde durch die Coronapandemie 2020/ 21 nochmals verstärkt. Neben der immer perfekter agierenden Reiseindustrie entsteht eine ‚Andere Form des Reisens‘, die bereits jetzt einen ernst zu nehmenden Markt ausmacht und die auf den Themen ‚Langsamkeit‘ und ‚Geborgenheit‘ fußt. Unter der wissenschaftlichen Dachmarke ‚Slow Tourism‘ zusammengefasst, werden diese Reisearten der Muße nicht kurzfristige Moden, sondern langfristige Trends werden, die auch die Reiseindustrie nachhaltig beeinflussen wird. Slow Tourism entsteht jedoch nicht losgelöst von gesamtgesell‐ schaftlichen Entwicklungen in den westlichen Industrienationen. Globalisierung und Individualisierung, Fortschrittsgläubigkeit und Schnelllebigkeit, Klimawandel und Krankheitserreger haben durch einschneidende Krisen seit der Jahrtausendwende grundlegende Wandlungen bei Individuen und Gesellschaft hervorgebracht, zu denen auch der Slow Tourism gehört. Um dies zu untermauern, werden zunächst die gesellschaftlichen und wirtschaftli‐ chen Grundlagen und Veränderungen in den westlichen Gesellschaften hin zur Slow Economy dargestellt, aus denen sich parallel die neuen Trends im Tourismus entwi‐ ckeln. Dass sich viele dieser Reisearten unter den Begriff ‚Slow Tourism‘ subsumieren lassen und dass in ihrer Bündelung ein breiter Zukunftsmarkt entsteht, wird nur aus der Gesamtbetrachtung heraus plausibel. Nach der Darstellung der Grunddispositionen des Slow Tourism wird die Reiseform des Gartentourismus in den Gesamtreisemarkt der Langsamkeit eingeordnet, obwohl auch andere Slow-Bewegungen im Wander-, Genuss-, Natur- oder Religionstourismus in den Gartentourismus hineinspielen. Ab‐ schließend führt der Weg wieder zum Gesamttrend und zur Perspektive des Reise‐ markts Slow Tourism zurück. 2 Modernisierung und Globalisierung zwischen Fast und Slow Society Alles begann mit dem 11. September 2001, der Zerstörung der beiden Türme des World Trade Centers in New York durch einen unbeschreiblichen Terrorakt, bei dem ungefähr 3.000 Menschen starben. Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ist von Beginn an geprägt von Krisen: Naturkatastrophen wie der Tsunami im Indischen Ozean 2004, Terroranschläge wie 2004 in Madrid, Atomunfälle wie in Japan 2011, weltweite Wirtschafts- und Finanzkrisen ab 2007 und die Flüchtlingskrise 2015. Im Gegensatz zu früheren Katastrophen, die nach immer kürzerer Zeit wieder aus dem Gedächtnis der Bevölkerung verschwanden, hat sich in den Menschen tiefenpsycho‐ logisch etwas verändert. Bereits vorher haben in Deutschland Umfragen nach dem Wichtigen und Wesentlichen im Leben 80 Prozentpunkte für Vertrauen, Familie oder Glück ergeben. Und schon vor dem Jahr 2000 hat der Zukunftsforscher Horst Opa‐ schowski ein Gleichgewicht von Wohlstand und Wohlbefinden bei den Wünschen der Deutschen festgestellt (Opaschowski 2003). Aber die einschneidenden und massiven Katastrophenmeldungen, an denen der einzelne Mensch wie ganze Gesellschaften nichts ändern können, haben die Grundeinstellung in den Industrienationen verändert. Hinzu kommt ein ebenfalls ohnmächtig hinzunehmendes alltägliches Lebensumfeld aus Globalisierung und Digitalisierung, Multioptionalität und Individualisierung, Kom‐ merzialisierung und Spekulation, Hypermedialisierung und Informationsflut. Am Ende des 18. Jahrhunderts war den westlichen Nationen noch eindeutig klar: In Freiheit und Fortschritt, in Wachstum und Modernisierung, in Schnelligkeit und Indus‐ trialisierung liegt die positive Zukunft der Welt. Der Traum eines vom Menschen auf Erden selbst zu schaffenden Paradieses sollte damit endlich Wirklichkeit werden. Damit einher ging selbstredend die Abkoppelung des Menschen von dem, was ihn Jahrtausende geprägt hat, vom Rhythmus der Natur (Jahreszeiten, Landwirtschaft, Lebensrhythmus) und von der Gläubigkeit an ein Jenseits (Gott, Christentum, Jahreskreis). Müßiggang in jedweder Form wurde gleichzeitig abqualifiziert und denunziert. Der Genussfreudigkeit machte bereits die Reformation, dann Pietismus und Preußentum den Garaus. Da nutzten auch die frühen Gegenstrategien der Romantiker nichts, wo bereits die heutigen Reise‐ themen der Langsamkeit wie Naturerfahrung (Tieck), Muße (Eichendorff), Spiritualität (Novalis) oder Wandern (Seume) vorgeprägt wurden. Die Furcht vor der Schnelligkeit der neuen Zeit wurde aber auch damals schon reflektiert, selbst die beim Reisen. Neben 396 Christian Antz Abb. 1: Das Innen und das Außen - Wohnhaus und Garten Johann Wolfgang von Goethes in Weimar den Produktionsmethoden der Industrialisierung entsetzten die Zeitgenossen die qual‐ menden und lärmenden Eisenbahnen, die globalisierende Telegrafie, die internationalen Meldungen der Zeitungen, Länder- und Städtereiseführer oder Pauschalreisen. Doch der ‚Zug‘ des Fortschritts fuhr in sich steigernder Geschwindigkeit weiter und überwand selbst internationale Kriege und Krisen. Die Errungenschaften der letzten 200 Jahre für die Bevölkerung der westlichen Industrienationen dürfen nicht nur schlecht geredet werden. Doch der eigentli‐ che positive Effekt für den Menschen durch die Zeiter‐ sparnis, mittels des Fort‐ schritts mehr Genuss, Freude, Muße zu erlangen, erfüllte sich nicht. Ganz im Gegenteil: „Der Traum vom schnellen Geld und von un‐ begrenztem Konsum, von rasantem Wachstum und von steigenden Renditen“ (Neuhaus 2009) führte zu Unfreiheit und Selbstbetrug. Die durch die Industrialisie‐ rung ersparte Arbeitszeit wurde auch nach 2000 ei‐ nerseits durch mehr und konzentriertere Arbeit auf‐ gefüllt, die letztlich zur Aus‐ weitung von psychischen Krankheiten führte. Motiva‐ tion und Innovation in Ruhe und Verantwortung mittels langfristiger Strategie und für gesamtgesellschaftlichen Nutzen galten bei Wirtschaft und Politik als veraltet. Heuschrecken-Firmen mit kurzfristigen Gewinnmitnahmen, demoti‐ vierender Fusion oder sinnloser Aufspaltung standen allein im Vordergrund. Anderer‐ seits kam ein weiterer Teil der ersparten Arbeitszeit auch wirklich den Menschen zu‐ gute: Sie erhielten Freizeit und Urlaub. Aber auch hier war mittlerweile von Ruhe und Genuss nichts mehr zu spüren. Bau-, Garten-, Autozubehör- oder Medien-Märkte, un‐ terstützt von Print- und Fernsehmedien, fordern uns so eindringlich auf, in unserer Frei‐ zeit effizient, täglich und konsumorientiert weiterzuarbeiten, dass man bei einigen Leu‐ 397 Slow Tourism und Gartenreisen ten im Carport wohnen und von der Autoauffahrt essen könnte. So perfektioniert wie das freizeitliche Wohnumfeld wird auch die Urlaubszeit in Angriff genommen. Auch hier ist von Muße und Freude kaum etwas geblieben. Von der Frühbucherplanung, der Schnäppchenjagd, der Auswahl des außergewöhnlichsten Reiseziels über den Reisevor‐ bereitungs-, den Ein- und Auspack-Stress sowie der eigentlichen Urlaubszeit mit Insze‐ nierungs-, Bräunungs-, Foto- und Videoanstrengungen bis hin zur kommunikativen Nachbereitung in Social-Media-Portalen (‚mein Hotel, mein Jeep, mein Boot, mein Buf‐ fet …‘), die freie Zeit wird zur Arbeits-Freizeit. So sind die Menschen in den westlichen Industrienationen trotz und wegen des Fortschritts ganztägig und ‚ganzlebig‘ voll Un‐ ruhe und Anspannung. 3 Turnaround zu Slow Society und Slow Economy Nun aber scheint es einen Ruck in der Gesellschaft zu geben, wie ihn - jedoch in einer aktiveren Art und Weise - Roman Herzog als Bundespräsident bereits 1997 gefordert hat. „Die Menschen fühlen, denken und erleben anders als vor 10 Jahren“, stellt auch das Kölner Rheingold Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen von Jens Lönneker fest. Es dreht sich um das, was wirklich wichtig ist. Trotz aller Individualisierungs- und Profilierungstendenzen in der Gesellschaft besinnen sich die Menschen im Angesicht der Erfahrung der genannten inneren und äußeren Krisen. „Dieses Wesentliche ist in den Augen fast aller Befragten: Das Leben und - man wagt es fast nicht auszuschreiben - die Liebe! “ Die Spaß- und Konsumgesellschaft hat einen feinen, aber ernst zu nehmenden Riss bekommen. Nach den Umfragen von Rheingold ist die Gesellschaft insgesamt und gerade die Wirtschaft mit betroffen. „[Denn] inzwischen haben diese neuen wichtigen Gefühle Auswirkungen auf den Alltag der Menschen. Ohne es genau zu wissen, warum sie das tun, bewerten Menschen nicht nur Menschen, sondern auch Unternehmen, Produkte, Werbung und Marken danach, ob sich hier ein genereller Respekt vor dem Leben findet“ (Ritter 2011). Die Wertschätzung des Lebens erfasst alle Gesellschaftsbereiche, sodass Wellness und Bio auf dem Vormarsch sind. Hier findet auch der dritte Megatrend ‚Gesundheit‘ seinen Platz, der zu einem ganzheitlich auf Gesundung ausgerichteten Lebenswandel mutiert, und den das Wiener Zukunftsinstitut von Matthias Horx ausgemacht hat (vgl. Kirig/ Gatterer 2011). Auch das Hamburger Opaschowski Institut für Bildung durch angewandtes Training (BAT) sah schon vor zehn Jahren bei den Wünschen und Bedürfnissen der Deutschen nach Befragungen ‚Geborgenheit‘ auf Platz 1 und ‚Freiheit‘ ganz weit hinten abgeschlagen (vgl. Opaschowski 2003). Und die Bielefelder Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwis‐ senschaftler, die die Shell-Jugend-Studie 2010 vorgelegt haben, sind perplex, dass die kommende Generation diese Tendenz zu Geborgenheit und Beständigkeit, Verlässlichkeit und Wertigkeit bestätigt und somit zum Kontinuum werden lässt. „Eine pragmatische Generation behauptet sich“ (Albert/ Hurrelmann/ Quenzel/ Schneekloth 2010), und zwar 398 Christian Antz nicht mit klassischen kapitalistischen Prinzipien. Die nachwachsende Generation, die in der Shell-Jugend-Studie 2006 noch unter Druck und mit Angst auf die neuen Herausfor‐ derungen reagiert hat, sieht jetzt eher gelassen, dass die Idee des grenzenlosen Wachstums als Mythos entlarvt wurde und die Saturiertheit der Gesellschaft ihren Höhepunkt bereits erreicht hat. Mit verbindlichen Werten, sozialen Beziehungen, gesellschaftlichem Engagement, kontinuierlichen Strategien soll der Unberechenbarkeit des Weltgeschehens begegnet werden. Denn das ist das Spannende und Zukunftsweisende auch bezüglich der Entwicklung des Konsum- und Reisemarkts: Die Jugendlichen begegnen trotz der undurchsichtigen Realität der ungewissen Zukunft mit Optimismus. Dies analysieren auch die Trendforscherinnen und Trendforscher von Rheingold. Nicht nur durch die Erfahrung eines Gemeinschaftsgefühls bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat sich Deutschland von einer Schwere befreit, das Leben nicht nur wertzuschätzen, sondern sich auch daran zu erfreuen. „Die Deutschen blicken heute sogar optimistischer in die Zukunft als zu Zeiten der Spaßgesellschaft“ (Ritter 2011). Die Befragungsergebnisse der Shell-Studien von 2015 und 2019 zeigen auch, dass diese Entwicklung keine Mode, sondern ein kontinuierlicher Trend geworden ist. Nun aber Schluss mit den allzu schönen Idealgesellschaften, die in Zukunft auf uns zu wachsen. Denn daneben platzieren sich auf Platz 1 der Megatrends von Matthias Horx ‚Globalisierung‘ und auf Platz 4 ‚Individualisierung‘. Auch Andreas Steinle vom Zukunftsinstitut bestätigt diese Prognose in Richtung Individualisierung. Denn parallel zur Ausrichtung auf Wesentliches, auf Geborgenheit, auf Werte, auf Langsamkeit wird auch die Individualisierung immer kleinteiliger und emotionaler (vgl. Kirig/ Gatterer 2011). Der Suche nach dem Unikat, der Endstrukturierung der Tagesabläufe, der Sehnsucht nach Genuss, dem Wissen über Regionales und Handwerkliches oder dem Verknüpfen mit per‐ sönlichen Geschichten begegnet die Wirtschaft, insbesondere die Konsumgüterindustrie, offensiv mit neuen Strategien. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Ausrichtung auf Werte fordern die Kundinnen und Kunden der Zukunft eine Art ‚Neuen Luxus‘. Nach den Analysen der Hamburger Thomsen Group aus dem Jahr 2011 achten 88 % der Befragten beim Einkauf auf Qualität und Einzigartigkeit. „Produkte sollen eine Geschichte erzählen“, sagt Bernd Thomsen, denn „Shopping ist nicht einkaufen“ (Ritter 2011). Aber auch hier geht es nicht um aufgesetztes Erlebnis-Shopping in anonymisierten Shoppingcentern, sondern um ‚Qualitime-Shopping‘, wo sich individuelle Kundinnen und Kunden wohlfüh‐ len, verweilen, entspannen, genießen. Darauf wird sich denn auch der Tourismus künftig einstellen müssen: je authentischer, desto besser. Im Kölner Globetrotter können die Kun‐ dinnen und Kunden mit der Kleidung aus der Anprobe eine Winterurlaub vortäuschende Kältekammer aufsuchen, mit Sauerstoffflaschen und Ausrüstung im Wassersportbecken abtauchen oder im Berliner Sportscheck-Flagship-Store echte Skihütten-Atmosphäre genießen. Die Zielgruppen werden dabei nicht nur im Konsumgüterbereich immer kleiner, unübersichtlicher und individueller. Aber auch hier geht der Trend nach Thomsens Überzeugung hin zu ‚Stilgruppen‘, in denen sich altersunabhängig und -übergreifend Lebensstile entfalten (vgl. Ritter 2011). 399 Slow Tourism und Gartenreisen Selbst vor der Kombination mit E-Commerce machen die Individualisierung und Gruppenbildung nicht halt. Authentisches und Selbstgemachtes kann über Internet‐ plattformen wie DaWanda.de und Etsy.de virtuell eingekauft werden. Die ‚Globali‐ sierung‘ als von Horx identifizierter Megatrend auf Platz 1 macht also auch beim Wesentlichen und Authentischen nicht halt. Wie diese Kombination mit Individuali‐ sierung und Globalisierung funktionieren kann, demonstriert beispielhaft auch die Otto-Tochter Mirapodo. Die Orientierung an der Kundin bzw. am Kunden läuft beim Portal für Schuhfans über eine Vermessung von Schuh und Wadengröße, die im Kun‐ denkonto abgelegt wird, über eine virtuelle Schuhanprobe bis zu Mitarbeitenden, die keinem anonymen Callcenter entspringen, sondern eine persönliche Schuhgeschichte erzählen. Selbst Google-Chef Eric Schmidt erkannte, dass das Internet immer globaler, aber auch immer sozialer, mobiler und kleinteiliger wird. Die zukünftige Lebenswelt der Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer ist denn doch nicht so eindeutig, wie anfangs gedacht. Einerseits wird die Beschleunigung der gesamtgesellschaftlichen Lebensabläufe in der Globalisierung nicht abnehmen, andererseits suchen wir nach der Entschleunigung der individuellen Erfahrungswelten. Und außerdem tragen Kon‐ sumentinnen und Konsumenten der Zukunft Doppelgesichter: Sie erwarten, dass die Wirtschaft ihre neuen Ansprüche an Leben, Geborgenheit und Langsamkeit erfüllt. Sie selbst sehen sich da weniger in der Pflicht; mit den Öko-Alternativen der ersten ‚Grünen-Generation‘ haben sie kaum mehr etwas gemein. Sie kaufen bei ALDI ein, tragen einen Designerpullover, buchen über das Internet das günstigste Hotel, sind mit einem gebundenen Literaturreiseführer von Wagenbach unterwegs und speisen in einem von Slow Food empfohlenen Dorfgasthof. Die ‚Consumer Confusion‘, die Si‐ monetta Carbonara 2008 als Ergebnis der hedonistischen Tretmühle der ‚Zuvielisation‘ konstatiert, führt trotzdem zu einem neuen Lebensstil der Glücklichkeit, weg von einer Ökonomie des materiellen Reichtums hin zu einer Ökonomie der Bedeutsamkeit. Da passt sich auch die Suche nach der Work-Life-Balance in den neuen Arbeitswelten ein. David Bosshart vom Gottlieb Duttweiler Institut bezeichnete schon 2010 - zunächst für Handel und Industrie - die Zeit des Weniger-ist-mehr nach diesem radikal veränderten Paradigmenwechsel als „Age of Less“ (vgl. Bosshart 2011). 4 Slow Tourism und Slow Mobility als Reisetrend der Zukunft Die Uneindeutigkeit in den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsperspektiven der westlichen Industrienationen kennzeichnet auch die momentane Entwicklung der Rei‐ sebranche. Einerseits läuft die Tourismusindustrie mit ihren breit angelegten Kampa‐ gnen und Katalogen konform den Fortschritts- und Globalisierungsprämissen weiter. Andererseits entwickeln sich in den Nischen und Zwischenräumen neue oder alte, auf jeden Fall andere Formen des Reisens, die von Geborgenheit und Muße, Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit geprägt sind. Parallel zu Begriffen wie ‚weit‘, ‚billig‘, ‚Abenteuer‘, ‚all-inclusive‘, ‚Künstliche Ressorts‘, ‚Zielgebiet-Hopping‘, ‚Flug-Städte-Kurz-Reise‘ treten Begriffe aus dem Umfeld von Langsamkeit in den Fokus. 400 Christian Antz Abb. 2: Der Verfasser im Kaiserli‐ chen Park von Laxenburg in Nie‐ derösterreich Aber diese Kundinnen und Kunden sind ebenfalls nicht mehr mit irgendwelchen Aussteigertypen der 1970er-Jahre zu vergleichen, die mit einem alten VW-Bus schwitzend auf Feldwegen nach abgelegenen Weingütern in der Toskana suchten. Sie wollen die Vorteile der Globalisierung aus Bequemlichkeit nutzen und gleichzeitig ‚anders reisen‘, wie es die Reiseführer‐ reihe von Ludwig Moos bereits seit den 1980er-Jahren verspricht. Es sind weniger Öko-, sondern mehr Life‐ style-Gruppen, die sich auf die neue Reise der Lang‐ samkeit machen. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzei‐ tigen führt zur Kombination scheinbar unvereinbarer Reisemittel. Mit einem historischen Baedeker von 1910 erkundet man Provence und Riviera, wo man zuvor per Internet Anreise und Hotels gebucht hat. Mit dem Flugzeug in einem Billigflieger geht es nach Pisa, um von dort die Fußwallfahrt über die Via Francigena nach Rom anzutreten. In einem von Slow Food prämierten Dorfgasthof im Rioja werden per iPad-Sprachüberset‐ zer Wein und Tapas bestellt. Von einer schwitzigen Toskana-Landwanderung kehrt man gerne in einem klimatisierten Wagen in das historische Agriturismo Castello mit Swimming Pool zurück. Oder im finnischen Abenteuerurlaub wird mittels Geocaching der nächste Urlaubsschatz geortet. Virtuelle Reisevorbereitung und -begleitung sind mit sinnlicher Reiseerfahrung wie selbstverständlich kombinierbar. Insgesamt bleibt der Trend zum Reisen ungebrochen. Mehr als 60 % der über 14-jährigen Deutschen haben mindestens eine Urlaubsreise in den vergangenen drei Jahren gemacht (vgl. Winkler/ Aderhold/ Lohmann 2009). Matthias Horx setzt das Thema ‚Mobilität‘ sogar auf Platz 2 seiner ausgemachten gesamtgesellschaftlichen Megatrends, nach ‚Globalisie‐ rung‘, aber vor ‚Gesundheit‘ und ‚Individualisierung‘. Bezüglich des Reisens verdeutlichen seine Travel-Trends, dass der Reisemarkt zwischen Krisen und Globalisierung ebenfalls immer individueller wird. Seine sechs wichtigsten großen Trendfelder offenbaren ein nicht gerade einheitliches Bild. Pad ‚N’ Breakfast (Geschäftsreisen zwischen Fun und Function) und Bonus-Jäger (Schnäppchenreisen zwischen Low-Budget und Pleasure-De‐ luxe), Wege-Feuer (Urlaub zwischen Überall-Zuhause und Nirgendwo-Daheim) und View-and-Watch (ungewöhnliche Ziele und extra Effekte im Extrem-Sightseeing) treffen auf Es-gibt-keine-App-dafür (Offline-Ferien als Sehnsucht nach dem Haptischen gegen die Virtualisierung des Lebens) und Allconvenience (neuer Luxus der Nische mit hohem Well‐ being-Effekt). Gerade die beiden letztgenannten weltweiten Trends weisen den Weg zum Slow Tourism. Das Wiener Zukunftsinstitut verdeutlicht, wie der oben genannte Wunsch der Menschen nach dem guten Leben das Reisen beeinflussen wird (vgl. Kirig/ Gatte‐ rer 2011). Der Tourismusmarkt wird neben den obligaten Fortschrittsthemen denn auch geprägt von soziokulturellen Driving Forces, auf die später noch detaillierter einzugehen 401 Slow Tourism und Gartenreisen Abb. 3: Kinder in die Gärten - Schlosspark von Sanssouci in Potsdam sein wird. Tourismus wird urbaner (Stadtkultur-Tourismus), wird zu einer Reise zu sich selbst (spiritueller Tourismus), sehnt sich nach mehr Natur (Natur- und Gartentourismus), hat gesünderes Leben vor Augen (Gesundheits-, Wander- und Genuss-Tourismus), ist voll Weisheit und Kreativität und folgt weiblichen Prinzipien (kreativer und authentischer Nischentourismus). Der Zukunftsforscher Horst Opaschowski hat schon vor zehn Jahren die‐ sen Reisetrend vorausge‐ sagt. In seiner Periodisie‐ rung der Reisewellen in Mitteleuropa seit 1945, die er teils selbst vor Jahrzehn‐ ten prognostiziert hat, folgt auf die Erholungsori‐ entierung der 1950er-/ 1960er- und die Konsum‐ orientierung der 1960er-/ 1970er-Jahre, die Erlebnis‐ orientierung der 1980er-/ 1990er- und die Wellness‐ orientierung der 1990er-/ 2000er-Jahre, schlüssig darauf aufbauend eine starke und nachhaltige Sinnorientierung (Opaschowski 2003). Parallel entwickelte Matthias Horx den Begriff des ‚Selfness‘, der ebenfalls auf dem Wellness-Trend aufbaut (Horx 2005). Während Wellness eher eine passive und äußerliche Anwendung ist, setzen die krisengeschüttelten Menschen An‐ fang des 21. Jahrhunderts auf ihre aktive Rolle, auf innere Gesundheit, auf dauerhafte Selbstveränderung. Als Indikatoren hat das Zukunftsinstitut neben dem Simplify- (Vereinfachung des Lebens vor der Kompliziertheit der Welt) und dem Glücks-Boom (Life-Management-Beratung im Angesicht von Globalisierung und Pluralisierung) be‐ sonders den Ratgeber- (mit den Kernbereichen Glaube und Glück neben Ernährung, Liebe und Gesundheit), den Biografie- (Interesse an Individualität und Authentizität) und den Garten-Boom (persönliche Naturerfahrung) ausgemacht. Die letztgenannten drei Wachstumsmärkte weisen den Weg des Tourismus ebenfalls in Richtung spiritu‐ ellem, Genuss- und Gesundheits-, Geschichts- und Kultursowie Garten- und Natur‐ tourismus. Sinnsuche und Selbstveränderung sind Aspekte, die unter der Dachmarke Slow Tourism und deren individuellen und diversifizierten Motivwelten eine bedeu‐ tende Rolle spielen. Während die gesellschaftlichen und touristischen Zukunfts- und Trendforscherin‐ nen und -forscher die großen Linien sowie über Befragungen stärker die Nachfra‐ gerseite im Fokus haben, hat Susanne Leder bereits 2007 den Angebotsmarkt des Muße-Tourismus im Speziellen unter die Lupe genommen. Trotzdem kommt sie 402 Christian Antz zu gleichen Ergebnissen (vgl. Leder 2007). Die internationalen, diversifizierten und kleinteiligen Reiseangebote von Atemtherapie über Heilfasten bis Qigong implizieren bei Kundinnen und Kunden trotzdem eine einheitliche Grundhaltung im Wunsch nach äußerer Langsamkeit und innerer Ruhe. Neun Kernaussagen fassen die Bedürfnisse der Muße-Reisenden zusammen: ● physisch und psychisch entspannen, ● etwas für Körper und Aussehen tun, ● Abgeschiedenheit und Einsamkeit erleben, ● (auf die eigene Person) besinnen, ● Kultur und Landschaft rein erfahren, ● Ruhe und Stille, Gemeinschaft fühlen, ● Urlaub vom Alltag oder Atmosphäre statt Zivilisation. Die neuen Themen des Muße-Tourismus spiegeln einerseits Wünsche nach Vereinfa‐ chung der Lebenssituation in die Zukunft und andererseits Wünsche nach Ursprüng‐ lichkeit in die Vergangenheit. Das Return-Modell wie das Desire-Modell des Urlaubs positioniert sich nach Befragungen von Susanne Leder als Gegensatz zum Alltag, wodurch den künftigen Reisemanagerinnen und Reisemanger sowie Reiseveranstalter‐ innen und Reiseveranstalter mehr als nur organisatorische Aufgaben zufallen werden. Während das Zuhause von wachsender Komplexität, zunehmender Beschleunigung, medialer und technischer Übersättigung, Überangebot in Konsum und Freizeit sowie vom Verlust vertrauter Strukturen geprägt ist, erwarten die Muße-Touristen auf Reisen Reduktion und Askese, Entschleunigung und Langsamkeit, Transzendenz, Spiritualität und Religion, Ursprünglichkeit und Tradition, Relaxen und Wellness sowie Natur und Landschaft. All dies sind Motive, die sich in den verschiedenen Facetten des Slow Tourism widerfinden Ob die unter Slow Tourism zusammengefassten Reisethemen ein stetig wachsender Trendmarkt sein werden, wird die Marktforschung zeigen müssen. Bisher wird das Marktvolumen in fast allen Bereichen unterschätzt, deshalb auch wenig erfragt. Wird aber großräumig analysiert und befragt, wie beim Wandertourismus, ergeben sich ungewöhnlich eindeutige Ergebnisse auch für den Gesamtmarkt des Slow Tourism. Durch bislang ungenügende Ergebnisse der touristischen Forschung muss bei den Reisetrends insgesamt intensiver auf die Marktforschung der Industrie, insbesondere der Konsumgüterindustrie und des Handels, zurückgegriffen werden, die schon länger den Trend zu Langsamkeit und Geborgenheit erkannt und in ihre Produktentwicklung und ihr Marketing eingebunden haben (vgl. Wenzel/ Rauch 2007). Die Markenführer bauen auf Milieu- und Lebensstilforschung, analysieren Lifestyle und Demografie und buhlen um die Lohas (Lifestyle of Health and Substainability). Mitglieder dieser 2007 auch in Deutschland festgemachten Gesellschaftsgruppe wollen über ihren Konsum Gesundheit und Nachhaltigkeit fördern, haben ein überdurchschnittliches Einkommen, sind Natur-Urlauberinnen und -Urlauber sowie Bio-Einkäuferinnen und -Einkäufer. Streit ist darüber entbrannt, ob es sich um ein kurzfristiges, von der 403 Slow Tourism und Gartenreisen Konsumindustrie schnell zu vereinnahmendes Zeitgeistphänomen oder um einen neuen, aber bleibenden Moralismus handelt. Als gesellschaftliche Hauptzielgruppe in der touristischen Marktforschung werden beispielsweise für das Wandern ebenfalls die kommenden Best Ager (2010-2040) und dabei die Weltoffenen festgemacht (vgl. Quack/ Hallerbach/ Hermann 2010). Mit den Kritischen, den Anspruchsvollen und den Realistischen zusammen gehören sie zur Megazielgruppe der Wertorientierten und grenzen sich ab von den Bodenständigen, die früher gewandert sind, plus den Häusli‐ chen, den Träumerinnen und Träumern sowie den Abenteurerinnen und Abenteurern. Wie die Lohas werden sich die Wertorientierten in der Lebenswelt des einfachen Lebens der Lovas (Lifestyles of Voluntary Simplicity) wiederfinden. Nachhaltiger Konsum und Slow Tourism werden künftig also keine Fanatikerinnen und Fanatiker oder Liebhabe‐ rinnen und Liebhaber des Extremen als Hauptzielgruppen gewinnen; ihre Kundinnen und Kunden wollen wieder alles gleichzeitig, Ego und Öko, Genuss und Gewissen, Slow und Global, gutes, einfaches Leben und Reisen im Designer-Appartement bzw. -Hotel. 5 Slow Food als Initialzünder zwischen Regionalität und Genusskultur Ein wichtiger Strang der Sehnsucht nach dem guten, dem einfachen, dem langsamen Leben begann 1989 mit der Gründung von Slow Food, das auch Namens- und Inhalts‐ geber von Slow Tourism geworden ist. Carlo Petrini gründete die strikt auf örtlichen und regionalen Produkten basierende Initiative in Italien, einem Land und einer Kultur, die gegen jede Internationalisierung scheinbar gewappnet scheint, dann aber doch mit einem Vereinsnamen englischer Sprache wirbt (vgl. Petrini 2007). Unter den drei Grundsätzen „Gut, Sauber, Fair“ soll ein ‚Menschenrecht auf Genuss‘ eingefordert werden, das in vielen Industrienationen durch Fast Food und Convenience Industry ersetzt worden ist. Petrini ging und geht es nicht so sehr um lebensmitteltechnologische Begriffe wie Bio oder Demeter, sondern um Herkunftsbezeichnungen wie Denomina‐ zione di Origine Controllata (DOC) oder Specialità Traditionale Garantita (STG). Seine Ziele sind der Erhalt und die Pflege der regionalen Kultur des Essens und Trinkens und dem damit zusammenhängenden engen Kontakt zwischen Produzentinnen und Produzenten, Händlerinne und Händlern sowie Konsumentinnen und Konsumenten. Mittlerweile ist Slow Food weltweit aktiv, besitzt eine Slow Food Stiftung, hat eine Arche des Geschmacks zur Bewahrung wertvoller Lebensmittel, Nutztierarten und Kulturpflanzen gegründet, unterhält Akademien, organisiert weltweit Genuss-Messen wie den Turiner Salone del Gusto mit Terra Madre, einem offenen Netzwerk für eine lokale Wirtschaft, oder zeichnet Städte mit dem Prädikat Città Slow als Orte besonderer Gastfreundschaft und Genussfreude aus. Mit ihren heutigen Forderungen zur Erhal‐ tung von Biodiversität, zu gewachsenen Landschaften, zu regionalen Produkten und zu traditionellen Methoden ist auch Slow Food immer weniger Öko und immer mehr Lifestyle geworden. Dies führt auch Stefano Sardos Dokumentarfilm Slow Food Story von 2013 vor Augen: „Die Geschichte einer Revolution durch Genuss“. 404 Christian Antz Den europäischen Trend weg von Bio und hin zu Regionalität und Lebensart bestätigt auch die eigentlich nicht gerade auf Regionalität orientierte Nestlé-Studie zum Essverhalten der Deutschen 2011. Das Wissen um Frische, Herkunft und Nachhaltigkeit wird immer wichtiger. Genuss-Kultur steht im Vordergrund, worauf auch die Vergabe des Welterbe-Labels der UNESCO an die Französische Küche 2011 hinweist. In die Tat umgesetzt hat das Prinzip im Nahrungsmittelhandel bereits 2006 die österreichische Hofer-Aldi-Kette. Der Pionier der biologischen Landwirtschaft in Österreich, Werner Lampert, setzte zukunftsorientiert nicht auf eine Bio-Ecke im Discounter, sondern entwickelte das neue Produktlabel ‚Zurück zum Ursprung‘, wo sich die Kunden ganz auf Herkunftsregion, -ort und -bauer konzentrieren können. Diese langfristige Entwicklung der ‚Ernährung in der Wissensgesellschaft‘ haben José Luthenberger und Franz-Theo Gottwald bereits 1999 zur EXPO 2000 in Hannover als übergeord‐ nete These postuliert: „Global denken, lokal essen - Think globally, eat locally“ (Lutzenberger/ Gottwald 1999). Und die EXPO 2015 in Mailand steht ganz unter dem Thema ‚Ernährung‘: „Feeding the Planet, Energy for Life“, wenn auch am Ende mit eher fraglichen Ergebnissen. Auch in der Öffentlichkeit wird heute das Engagement für regionale Landwirtschaftskreisläufe positiver konnotiert als Glamour und Erfolg. Dass Wendelin Wedeking als Porsche-Vorstand mit Leidenschaft Kartoffelanbau alter Sorten in Baden-Württemberg betrieb, sich Düsseldorfer Unternehmer gemeinsam Mosel-Steillagen kaufen und dort Kraft anstrengend Weinflächen rekultivieren oder Fernsehmoderator Dieter Mohr mit seiner Frau einen Bio-Bauernhof in Brandenburg erwarb und bewirtschaftet, sind Themen, die die Menschen mittlerweile interessieren. Während Europa die Nahrungsmittel auf der einen Seite immer noch globalisiert, nivelliert, homogenisiert, normiert und delokalisiert, entsteht auf der anderen Seite der Wunsch nach dem Einzigartigen, dem Regionaltypischen, dem Bodenständigen, dem Heimatlichen, dem, was im Weinbau auch in Deutschland spätestens seit Reinhard Heymann-Löwensteins Manifest 2003 in aller Munde ist und einem sprichwörtlich auf der Zunge zergeht: Terroir. Gerade die Tourismuswirtschaft, als ein weiter international wachsender, vielleicht sogar der größte ‚Industriezweig‘ der Welt, hat in den vergangenen Jahrzehnten viel zur Indifferenz und Internationalität der Speisen, zu Standardisierung und Einheitlichkeit, Einfältigkeit und Langweiligkeit beigetragen. Nicht nur dass die Ausstattung von Kettenhotels in Amerika, Asien, Europa so einheitlich war, dass man sich beim Aufwachen vergewissern musste, in welcher Stadt, ja sogar auf welchem Kontinent man sich befand, auch die Restaurantspeisekarte war international, also nivelliert, im besten Fall Französisch. Warum sollte man da noch mobil werden? Das, was jetzt kommt, kann nach Roland Robertson auch im Reisemarkt ‚Glokalisierung‘ genannt werden, bei der die Kundinnen und Kunden wieder gleichzeitig alles haben wollen und bekommen (vgl. Robertson 1998). Die angenehmen globalisierten Standards bleiben einerseits im Hintergrund bestehen: Man kennt sich aus in der Welt wie in seiner Westentasche. Andererseits suchen die kommenden Touristinnen und Touristen den 405 Slow Tourism und Gartenreisen besonderen lokalen Genuss, ein individuelles und authentisches Erlebnis, eine sinnli‐ che Gaumenerfahrung, etwas Einfaches und doch Exklusives und damit Luxuriöses. Selbst die noch spröden Reiseanalysen in Deutschland haben den emotionalen Reisenden der Zukunft schon entdeckt und quantifiziert: Die ‚Anspruchsvollen Ge‐ nießerinnen und Genießer‘ machen gemäß der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) 2009 bereits 9 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands und 42 % der Urlauberinnen und Urlauber mit Kurzreiseintensität aus (vgl. Winkler/ Aderhold/ Loh‐ mann 2009). Und von den fünf Wohlfühlfaktoren des Gasts, die dieser nach dem De‐ sign-Kontor Schleswig-Holstein bei Gastgeberinnen und Gastgeber 2007 anzutreffen hofft, finden sich neben Charme und Persönlichkeit, Abwechslung und Großzügigkeit auch bereits Ursprünglichkeit und Charakter des Urlaubsdomizils sowie sinnliches Erleben. Es muss etwas sein, das bleibt, natürlich etwas, dessen man sich erinnern und von dessen Konsum man erzählen kann. Aber neben das oberflächlich Erlebte tritt der Wunsch nach innerer Aufnahme, nach einer Veränderung durch den Genuss an sich selbst. Das einfache, bessere, authentische Genießen der bodenständigen Speisen und Getränke einer Landschaft soll Reisende am liebsten zu besseren Menschen machen. Wie die Wochenzeitschrift Die Zeit seit 2010 ihre Zeit-Reiseangebote ‚Genussreisen‘ nennt, so setzen viele Anbieter auf die Sehnsucht der Reisenden, Landschaft in ihrer Ursprünglichkeit zu schmecken. Die Toskana-Fraktion oder der Wagenbach-Verlag der 1970er-Jahre kann sich glücklich schätzen, Vorreiter des (italienischen) Terroirs gewesen zu sein. Jetzt wollen alle Reisende, in welchem Land auch immer, ein Stück Gastronomiegeschichte für sich abhaben, mit nach Hause nehmen, aber auch verinnerlichen. „Das schmeckt genau wie das, was meine Oma vor 50 Jahren gemacht hat“, ist das größte Lob von Einheimischen, das sich Gianluca Paoli, Betreiber und Koch der Florentiner Trattoria Coco Lezzone, wünscht. Und so fasst er 2007 das Bedürfnis der Slow Touristinnen und Touristen der Zukunft nach Ursprünglichkeit und Langsamkeit zusammen: „Die Menschen mögen heutzutage das Wort ‚Immobilità‘ (Bewegungslosig‐ keit) nicht. Aber das ist der Begriff, der diesen Ort am besten beschreibt. Ich versuche, das Aroma und die kulinarische Tradition eines Florenz zu bewahren“. 6 Gärten und Parks als Wachstumsmarkt der Sinnlichkeit In einer globalisierten und virtuellen Welt werden insbesondere Gärten zur Antipode oder Alternative des iPads. Während das eine nur noch zart mit den Fingerspitzen berührt wird, braucht das andere ganzen Körpereinsatz. Mit den Händen in die Erde greifen, ganz haptisch arbeiten, sinnlich und sinnvoll seine Frei- und Reisezeit gestalten, den Knopf an Rechner und Kopf ausschalten, einfach nur vor sich hin harken - dies wird am Beginn des 21. Jahrhunderts zur Gegenwelt des nur noch am Bürostuhl geerdeten Workaholic. Während Ältere, deren Kinder mittlerweile aus dem Haus sind, ganze Gartenlandschaften gestalten, hat sich daneben auch eine breite Klientel von jungen Leuten dem Thema ‚Garten‘ zugewandt. Ob Urban Gardening auf einer kleinen Balkonfläche, neue Datschenkultur, Gemeinschaftsgärten 406 Christian Antz (Selbstversorgung im städtischen Gemüsebeet) oder Guerilla Gardening, eine bisher kaum beachtete Klientel von unter 30-Jährigen wandelt sich zu Gartenenthusiastin‐ nen und -enthusiasten. Gleichzeitig überschwemmen seit Jahren Gartenbücher zu verschiedensten, auch abseitigen Themen den Markt. Der weiterhin wachsende Erfolg von Garten- und Landzeitschriften im insgesamt schwierigen Zeitschriftenmarkt ist den Zukunftsforscherinnen und -forschern ein marktwirtschaftliches Rätsel. Mit einer Auflage von ungefähr einer Million Exemplaren überflügelt das Magazin LandLust sowohl seine Konkurrenten wie auch die eigentlich auf breitere Bevölkerungsschichten ausgerichteten Nachrichten- und Lifestyle-Magazine Focus, Bunte oder Gala um ein Vielfaches. Mit einem authentischen Dreiklang aus Natur, Produkten und Kultur bedient das Magazin v. a. die Zielgruppe der Lohas, jene Städterinnen und Städter mit gehobenem Einkommen und einer Sehnsucht nach dem einfachen und nachhaltigen Leben. Außerdem ist das Liebe-Land-Heimat-Lust-Glück-Segment nicht nur via Buch oder Zeitschrift nett anzusehen, sondern auch ein harter Wirtschaftsfaktor. Nur für Gartenbedarf wurden 2010 in den Gartenmärkten Deutschlands 7,4 Milliarden Euro umgesetzt, für Home und Garten 2011 insgesamt sogar 63 Milliarden Euro. Abb. 4: Kooperation zwischen Österreich und Deutschland im Rahmen der Aktion „Natur im Garten“ - Christian Antz, der heutige österreichische Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka, Sabine von Süsskind und Jochen Sandner 407 Slow Tourism und Gartenreisen Europaweit verstärkt sich in den letzten zwanzig Jahren das Interesse der Menschen an Gartenkunst und Gartenreise. Auf jeden Fall ist der Trend zum ‚Garten‘ als kultur- und freizeittouristisches Thema spürbar. Gärten zu nutzen und anzuschauen, zu bewirtschaften und zu besuchen, ist ein alter Wunsch des Menschen. Er durchzieht die gesamte Menschheitsgeschichte, scheint aber gerade im globalisierten und techni‐ sierten Heute ein tieferes Bedürfnis zu sein. „Lust auf Garten“ titelte schon im Jahr 2000 das Lufthansa-Magazin und dokumentiert somit, was nicht nur in der sprunghaft angewachsenen Zahl von Gartenmagazinen deutlich wird: Freizeitgärtnern ist in Deutschland ein Wachstumsmarkt. Auch der im Magazin zitierte Hamburger Trend‐ forscher Peter Wippermann bescheinigt dem Thema Garten eine ‚große Zukunft‘. Neben Gärtnern und Gartenlektüre erleben Gartenreisen in historische und neue Parks und Gärten einen Boom. Für die Touristinnen und Touristen sind Schauen und Nachmachen wichtige Gründe für einen solchen Besuch. Befragungen bestätigen die Prognosen der Experten: Die Gäste wollen in erster Linie Blumen sehen und Pflanzen bestaunen, spazieren gehen und Ruhe, Erholung und Entspannung empfinden sowie Cafés, Restaurants und eventuell Veranstaltungen in Gärten besuchen. Wenn auch der wachsende Markt des Freizeitgärtnerns nicht direkt mit dem Gartentourismus verglichen werden darf, sind dessen Zahlen doch beeindruckend. Und diese Werte decken sich mit den positiven Prognosen der Demoskopinnen und Demoskopen, die den Deutschen bereits 2002 eine ungebrochene Leidenschaft für Gärten attestierten: 58 % der Bevölkerung besitzen einen Garten, weitere 7,4 Millionen Menschen hegen einen bisher unerfüllten Wunsch nach einem eigenen Garten. Dass spezielle Gartenreisen boomen, ist anscheinend evident. Doch fehlen wegen einer ungenügenden Marktforschung und eines fehlenden interdisziplinären Ansatzes, der Denkmalpflege, Konsumgüterforschung, Kultur- und Gartentourismus zusammen‐ führen müsste, aussagefähige Daten über Nachfrage, Motive und sogar Angebote. Bei der weiteren Untersuchung hilft vorweg eine Begriffsdefinition: Unter Gartentou‐ rismus versteht sich im folgenden Tourismus, dessen geografische bzw. thematische Ziele Gärten oder Parks sind, unabhängig von der Entstehungszeit der Gartenbzw. Parkanlage und unabhängig davon, ob die Anlage im öffentlichen oder privaten Besitz steht (vgl. Hlavac 2002). Die Bandbreite reicht daher vom quadratkilometergroßen Park von Versailles bis zum kleinen Privatgarten, der z. B. im Zuge der „Offenen Garten‐ pforte“ besucht werden kann. Sinnvollerweise wird eine Gartenreise nur dann diesen Namen verdienen, wenn der Besuch von alten (historischen) und neuen (modernen) Gärten und Parks im Zentrum des Reiseprogramms steht. Mit Ausnahme von Landes-, Bundes- und Internationalen Gartenschauen werden in der Regel Gebäude (Schloss bis Stadt) als Besichtigungs- oder Staffageobjekte mitberücksichtigt. Obwohl eher die Pauschalreisen von Reiseveranstaltern von mengenmäßiger Relevanz sind, ist jener Anteil an Personen, die individuell auf eigene Faust eine Reise mit dem Schwerpunkt ‚Garten‘ unternehmen, nicht zu unterschätzen. Im Zuge des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg und dem folgenden Aufbruch breiter Gesellschaftsschichten in den Urlaub - samt Wiederaufkommens 408 Christian Antz der Kultur- und Bildungsreise - gewannen Garten- und Parkanlagen an touristischer Bedeutung. Die Hauptziele haben sich über die Jahrhunderte jedoch nicht wesentlich geändert: das Sonnenreich von Ludwig XIV. in Versailles, das ‚preußische Arkadien‘ Friedrichs des Großen und Friedrich Wilhelms IV. in Berlin und Potsdam, die Renais‐ sancegärten rund um Florenz und Rom, das kaiserliche Sommerschloss Schönbrunn und das Belvedere Eugens von Savoyen in Wien, die Wörlitzer Anlagen und die Landschaftsgärten in England stehen nach wie vor im Zentrum des Intereses. Besu‐ cherzahlen in einer Bandbreite von mehreren hunderttausend bis Millionen Besuchern pro Jahr (z. B. der Belvedere-Garten in Wien mit rund 2,8 Millionen Besucherinnen und Besucher) zeigen das Interesse, aber auch die Gefahr einer Zerstörung durch touristische Nutzung. Neben den traditionellen Gartenreisen nach England und Frankreich, in den ver‐ gangenen Jahren auch nach Holland und Belgien, entstehen auch in Deutschland in zunehmendem Maße diverse Gartenrouten und Gartennetzwerke. Quer zum virtuellen Zeitgeist wächst wieder verstärkt die Neigung zu Gärten - anschauen, genießen, gärtnern, kreativ sein. Dabei führt die ältere Generation deutlich die Zielgruppe an - das aber über Jahrzehnte konstant. Und dies bedeutet perspektivisch, dass die Garten‐ begeisterung mit dem Alter zunimmt und dass dadurch das Gartenthema die einzige in den nächsten zwanzig Jahren rasant wachsende Altersgruppe bestens bedient. Auch deshalb wird Gartentourismus v. a. mit Pauschalreisen in Verbindung gebracht, bei der ein Reiseveranstalter eine Gesamtheit von Reiseleistungen zu einem Gesamtpreis und im eigenen Namen anbietet. Erste ‚Garten-Pauschalreisen‘ gab es aber bereits Anfang des 20. Jahrhunderts: Es lassen sich zahlreiche diesbezügliche Bildungsreisen von Gärtnervereinigungen ins Ausland nachweisen. So reiste beispielsweise ein Gruppe Schönbrunner Gärtner 1912 von Wien zu einer Gartenausstellung nach London. Diese Fachreisen wurden jedoch noch intern ohne externe Vermittlerinnen und Vermittler organisiert. Reiseveranstalter, die für Laien eigene Special-Interest-Reisen zum Thema ‚Gärten‘ anbieten, lassen sich im deutschsprachigen Raum hingegen erst in den frühen 1990er-Jahren im Zuge des Booms von Themenreisen (z. B. Weinreisen) nachweisen. Als Phänomen sind Gartenreisespezialanbieter daher relativ jung. Im Unterschied zum 18. und 19. Jahrhundert werden kaum noch Einzelpersonen oder Kleinstgruppen von betriebseigenem Fachpersonal, wie Gärtnerinnen und Gärtnern, durch die jeweilige Gartenanlage geführt: Heute geleiten in den meisten Fällen Fremdenführerinnen und Fremdenführer, Reiseleiterinnen und Reiseleiter oder eigens geschulte Angestellte große Reisegruppen von bis zu 50 Personen durch öffentliche oder große private Gärten und Parks (vgl. Antz/ Hlavac 2020). Ein besonderes Phänomen, das am Ende des 20. Jahrhunderts aufkam und auch als weiterer Schritt zur Demokratisierung der Gartenkultur bezeichnet werden kann, entstand als Wunsch der Nachfragenden wie als Angebot der Garteneigentümerinnen und Garteneigentümer: der Besuch von Privatgärten im Rahmen von Gartentages‐ reisen. Die Idee der „Offenen Gartenpforten“ ist einfach: Gartenbesitzerinnen und Gartenbesitzer gestatten an bestimmten Tagen im Jahr interessierten Besucherinnen 409 Slow Tourism und Gartenreisen und Besuchern einen Blick in ihre grünen, privaten Paradiese. In Deutschland sind die „Offenen Gartenpforten“ seit nunmehr 25 Jahren nicht mehr wegzudenken. Die zahl‐ reichen lokalen und regionalen Initiativen sind von unten her entstanden. Der Wunsch von Gartenbesitzerinnrn und Gartenbesitzern, gemeinsam mit anderen Menschen ihre Gärten für Interessierte zu öffnen, war und ist Motor fast aller Initiativen. Der Ansporn für die Besucherinnen und Besucher (meist Tagestouristinnen und -touristen) ist Neugier: Das Betreten privater Gärten ist ein Ausflug in sonst versperrtes Terrain, wo sich Privates verbirgt. Zudem besteht die Gelegenheit, mit anderen Gartenbegeisterten ins Gespräch zu kommen und zu ‚fachsimpeln‘. „Offenen Gartenpforten“ zeigen die Demokratisierung der Gartenkultur im 20. Jahrhundert auf. Vereinfacht ausgedrückt war Gartenkultur lange Zeit dem Erbbzw. Geldadel und dem Großbürgertum vor‐ behalten. Auch wenn seit der Renaissance viele Anlagen offen zugänglich waren (wie die Villa Borghese in Rom), waren gewisse Gesellschaftsschichten (aus Standesbzw. finanziellen Gründen) vom Besuch ausgeschlossen. Durch die erstmals breite Möglichkeit, private Gärten besichtigen zu können, darf man das 20. Jahrhundert pointiert formuliert als „Jahrhundert der privaten Gartenentdeckungen“ (Hlavac 2011) bezeichnen. 7 Gartenreisen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland Die noch vergleichsweise kleinen Pflänzchen eines breiten Gartentourismus in Deutschland, die es neben den wenigen punktuellen Gartentourismuszentren (wie Sanssouci in Potsdam und Nymphenburg in München) gibt, bewirken bereits jetzt deutliche wirtschaftlich-touristische Effekte. Doch hier sind Deutschland die Kollegin‐ nen und Kollegen aus den beiden Ländern Frankreich und Großbritannien einen Schritt voraus, gerade auch auf dem Gebiet der Marktforschung und wirtschaftlichen Analyse. Die Gärten Großbritanniens und Frankreichs sind bereits weit über ihre Landesgrenzen hinaus bekannt und besitzen gesamttouristische Traditionen. In beiden Ländern bilden sie ein zentrales Thema der touristischen Vermarktung für Besucherinnen und Besu‐ cher aus dem In- und Ausland. Dies zeigt sich auch in den beachtlichen Besucherzahlen und Wachstumsraten, die v. a. seit Ende der 1980er-Jahre stark angestiegen sind. So werden britische Gärten derzeit von rund 16 Millionen und französische von ca. 15 bis 17 Millionen Touristinnen und Touristen pro Jahr besucht. Aber auch in Deutschland zeichnet sich in jüngster Zeit eine Tendenz ab, Gärten zum touristischen Thema zu machen. Aufgrund dieser relativ jungen Entwicklung sind sie als eigenes touristisches Marktsegment in Deutschland bisher aber kaum untersucht worden. Die Tatsache, dass Gärten v. a. in Großbritannien seit Mitte der 1990er-Jahre zur Modeerscheinung geworden sind, zeigt sich dort u. a. in der großen Popularität und ständig wachsenden Vielfalt von Gartensendungen im Fernsehen, im Zeitschriften‐ markt mit über 25 Gartenmagazinen oder in der Nachfrage von Veranstalterinnen und Veranstaltern und Regionen, die Parks vermehrt als Kulisse und Aushängeschild zu nutzen. Dieses Interesse am Garten kann einem generellen Trend zu natur- und 410 Christian Antz gesundheitsorientierten Lebensstilen zugeordnet werden, der sich in vielen Industrie‐ nationen feststellen lässt. Für die British Tourism Authority sind historische Parks ein Kerngeschäft der Vermarktung im Ausland, die neben dem Königshaus und dem britischen Kulturerbe als Hauptreisemotiv gelten. Von den rund 4.000 Gärten in Groß‐ britannien, die Eintrittsgelder nehmen, stehen 775 in inhaltlichem und räumlichem Zusammenhang mit Herrenhäusern. Sie ziehen deshalb als Ensemble die Besucherin‐ nen und Besucher an. Erfahrungswerte des National Trust zeigen, dass der Anteil der reinen Gartenbesucherinnen und -besucher - ähnlich dem Gartenreich Dessau-Wörlitz - mit zwei Dritteln wesentlich höher liegt als der Anteil von Menschen, die sowohl Gebäude als auch Gärten besichtigen. Die Zahl der regelmäßigen Besucherinnen und Besucher von Gartenanlagen wird auf 45 % der britischen Bevölkerung geschätzt. Gerade in der Tourismusstatistik des English Tourism Council zeigt sich ein Aufwärtstrend: die Gästezahlen sind von 1989 bis 1999 im Gartentourismus um 22 % gestiegen. Gärten weisen damit die dritthöchste Wachstumsrate unter den tourismusrelevanten Sehenswürdigkeiten auf. Im Jahr 1999 verzeichnete das Marktsegment Gärten mit 16 Millionen Besucherinnen und Besuchern in 339 reinen Gartenanlagen sogar die höchste Wachstumsrate im Vergleich zum Vorjahr. Unter diesen Gärten sind über 30 Anlagen mit mehr als 200.000 Besucherinnen und Besuchern pro Jahr zu verzeichnen. Die tatsächlichen Zahlen sind aber noch weit höher anzusiedeln, wenn die ca. 2.500 bis 3.000 eintrittsfreien Gärten hinzugenommen werden. Allein für die neun königlichen Parkanlagen in London werden jährlich insgesamt 30 Millionen Aufenthalte geschätzt. Auch in Frankreich verzeichnet die Marktforschung seit Mitte der 1990er-Jahre ein vermehrtes Interesse am Gärtnern und an Gartenkunst. Hobbygärtnern ist die dritt‐ stärkste Freizeitaktivität der Franzosen, wobei im Norden eine deutlichere Ausprägung zum Nutzgarten und im Süden zum dekorativen Garten zu erkennen ist. Die Ausgaben für das Hobbygärtnern stehen auf gleichem Niveau wie die für den TV-Hifi-Sektor. Ähnlich positive Entwicklungen sind in Frankreich im Bereich des Gartentourismus ablesbar. Eine Differenzierung von Garten- und Schlossbesucherinnen und -besuchern ist hier - im Gegensatz zu Großbritannien - schwierig, da die Eintrittsgelder meist nicht getrennt erhoben werden. Umfragen zeigen aber, dass 70 % der Besucherinnen und Besucher sowohl Schloss als auch Garten besichtigen wollen und die Sehenswürdigkeit als Ensemble wahrnehmen. In Frankreich zeigt sich eine hohe Popularität der Gärten bei der Besuchsmotivation unter den touristischen Attraktionen, da 50 % der Befragten als häufig besuchte Ziele Gartenanlagen, 42 % landschaftliche Sehenswürdigkeiten, 30 % historische Gebäude und 24 % Museen angeben. Frankreich besitzt eine hohe Dichte an sehenswerten, öffentlich zugänglichen Parks, deren Zahl von 500 im Jahr 1993 auf 784 im Jahr 2000 stark angestiegen ist. Für die zuerst genannten 500 Anlagen wurden circa 15 bis 17 Millionen Besucherinnen und Besucher pro Jahr geschätzt. Dabei zeigen sich vier Gärten als Ausnahmeerscheinung mit je über einer Million Besucherinnen und Besuchern, eine kleine Top-Gruppe (neun Anlagen) mit 300.000 411 Slow Tourism und Gartenreisen bis eine Million und elf weitere Anlagen mit 100.000 bis 300.000 Besucherinnen und Besuchern jährlich. Gärten sind auch deutschlandweit im Kommen. Ob im Inlandstourismus oder bei der Zeitschriftenlektüre, ob im Gartenmarkt oder bei den Fernsehprogrammen - Parks und Gärten sind Ausdruck einer unausgesprochenen Suche nach Ursprung und Glück. In der momentanen Entwicklung der Erlebniszur Sinngesellschaft können Gärten eine zentrale Rolle spielen. Nach englischem Vorbild begeben sich immer mehr interessierte Besucherinnen und Besucher auf landschaftliche Spurensuche. Gartentouristisch bietet Deutschland dabei noch weitgehend ungenutzte, aber hoch‐ karätige Potenziale. Touristisch aufbereitete Gartenrouten, jährliche Veranstaltungen, kontinuierliche und qualitative Parkpflege, interdisziplinäre Weiterbildungsangebote oder grenzüberschreitender Erfahrungsaustausch können Deutschland in seiner gar‐ tenkulturellen Vielfalt weiter erschließen. In Deutschland lassen sich noch kaum flächendeckende Zahlen zum Gartentouris‐ mus ermitteln, obwohl das Thema ‚Garten und Gärtnern‘ ähnlich wie in Frankreich und Großbritannien auf Wachstumskurs ist und die Deutsche Zentrale für Tourismus das Thema 2006 zu ihrem nationalen Jahresthema gemacht hat. Meist sind die Besu‐ cherzahlen nur geschätzt, da kein Eintritt verlangt wird; die Nutzungsart sowie die ländliche oder städtische Lage ergeben jedenfalls ein sehr differenziertes Bild. Von Sanssouci in Potsdam mit über zwei Millionen und dem Bürgerpark in Bremen mit über einer Million bis zum Großen Garten in Hannover-Herrenhausen mit 600.000 und den Pückler-Gärten in Bad Muskau mit über 250.000 Besucherinnen und Besuchern reichen die jährlichen Zahlen in Deutschlands Zentren der Gartenkunst. Auch für die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Gartenmarketings und indirekt der Garten‐ investitionen in Deutschland liegen bisher nur punktuelle Betrachtungen von Einzel‐ gärten vor. Über eine Million Besucherinnen und Besucher kommen beispielsweise pro Jahr in den Wörlitzer Park und suchen dort touristische Dienstleistungen, obwohl - ähnlich wie in Großbritannien - ‚nur‘ 451.000 zahlende Gäste in den sieben Gärten der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz (2005) registriert wurden. Neben den ungefähr 200 befristeten, wie unbefristeten Mitarbeitenden der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz lässt sich aus dem Gartenreich Dessau-Wörlitz auf Basis der Besucherzahlen und der durchschnittlichen Ausgaben der Tages- und Übernachtungsgäste für das Land Sach‐ sen-Anhalt ein wirtschaftlicher Primärimpuls von 14,9 Millionen Euro und ein daraus entstehender Beschäftigungseffekt von rund 430 Arbeitsplätzen pro Jahr berechnen. Diese Ausgaben liegen überwiegend im Bereich Verpflegung und Übernachtungen, deren Zahl sich statistisch in Wörlitz auf 48.000 und in Dessau auf 132.000 in Hotels und Pensionen (über acht Betten) im Jahr 2004 beläuft (vgl. Brandt 2002). Vor diesem Hintergrund ergibt sich bei der sektoralen Verteilung der Produktions-, Wertschöp‐ fungs- und Beschäftigungseffekte im Gartenreich Dessau-Wörlitz ein Schwergewicht im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie in der Bauwirtschaft. Das hohe Potenzial des Gartenreiches Dessau-Wörlitz als Standort-, Image- und Wirtschaftsfaktor reicht also über den Tourismus weit hinaus. Diese Einheit von Wirtschaft und Kultur hat Fürst 412 Christian Antz Abb. 5: Vordenken über die Initiative „Gartenträume“ in Sachsen-Anhalt - Christian Antz, Christa Ringkamp und der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker Franz von Anhalt-Dessau, der Begründer der Kulturlandschaft Dessau-Wörlitz schon im 18. Jahrhundert verstanden und selbst auf dem Sterbebett nochmals formuliert: „Man muss für Arbeit sorgen, darauf kommt alles an! “ 8 Perspektiven von Gartenreisen im Slow Tourism Die Trends in Großbritannien und Frankreich haben gezeigt, dass der Garten an sich sowohl als Freizeitbeschäftigung als auch hinsichtlich der Tourismusnachfrage en vogue ist. Mit jährlichen Besucherzahlen im Bereich von 15 Millionen verzeichnen beide Länder eine hohe Nachfrage im Gartentourismus. Das Interesse der typischen Gartenbesucherinnen und -besucher liegt schwerpunktmäßig auf dem generellen Bedürfnis nach Ruhe, Idylle, Ästhetik und Natur. Die Mehrheit der Besucherinnen und Besucher will einfach einen erholsamen Tag in attraktiver (! ) Umgebung verbringen. Sie sind keine Gartenspezialistinnen und -spezialisten, sind oftmals in Zusammenhang mit einem eigenen Garten am Thema ‚Gärtnern‘ interessiert, spüren jedoch unterbewusst die hohe ästhetische Qualität und Authentizität sowie das distanzschaffende Anders‐ sein der historischen Gartenanlagen. So brachte auch Franz Sattlecker, damaliger Ge‐ schäftsführer des Schlosses Schönbrunn in Wien, die Chancen des Gartentourismus auf den Punkt: „Den Konsumenten geht es nicht nur darum, ihre Bedürfnisse abzudecken, sondern um Wünsche und Träume.“ (Sattlecker 2006) Gärten üben in einer globalisier‐ 413 Slow Tourism und Gartenreisen ten und hektischen Welt v. a. für die Naherholung und den Kurzzeittourismus eine hohe Anziehungskraft aus, wobei wie in Frankreich und England auch in Deutschland bedeutende Gartenanlagen existieren, die in Kooperation überregional als Motiv für eine Reise stehen können. Dies zeigt sich bereits im Gartenreich Dessau-Wörlitz, das einerseits einen hohen Stammkundenanteil aus dem Nahbereich aufweist und andererseits überregional natur-, kultur- und erlebnisorientierte Gäste anzieht. Gerade im Tourismus macht sich diese gesellschaftliche und wirtschaftliche Gar‐ tenaffinität bemerkbar. Trotzdem sind im Vergleich zu England und Frankreich, wo Gartenbesuche mit gleichzeitigem Gartengenuss eine lange und feste Tradition haben, die Marktdaten erheblich geringer. Selbst die zehn besucherstärksten Parks in Deutsch‐ land wissen nicht so genau, wie viele und welche Besucherinnen und Besucher ihr Grün lieben. Auch die ungefähr 2,1 Millionen Besucher pro Jahr im UNESCO-Welterbe Schlosspark Sanssouci in Potsdam oder die 3,5 Millionen im Englischen Garten in München sind nur geschätzt; und über deren gartentouristische Motive und Potenziale wissen wir so gut wie gar nichts. Allein die Steigerungsraten der letzten Jahre lassen jedoch den Markt des Gartentourismus als zukunftsrelevant begreifen: Von 2008 bis 2014 wuchs etwa die Besucherzahl in den Herrenhäuser Gärten in Hannover - parallel zum Schlossneubau - von 200.000 auf 600.000 an. Im Gegensatz zu den gartentouristischen Dauerbrennern wie der Insel Mainau oder dem UNESCO-Welterbe Gartenreich Dessau-Wörlitz sind wir bei den vielfältigen Gärten und Parks, die über ganz Deutschland verteilt sind, noch weniger informiert. Mehr als 1.500 private und öffentliche Gärten verzeichnet das Standardwerk des deutschen Gartenreiseführers (Ronald Clark, mehrere Auflagen seit 1998), von denen die meisten in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg zu finden sind. Damit bietet die Angebotsseite ein enorm großes, breit gefächertes und bereits geschaffenes Potenzial, welches es in marktfähige Produkte umzumünzen gilt. Auf der anderen Seite stieg im letzten Jahrzehnt neben der gesellschaftlichen auch die touristische Affinität der Kundinnen und Kunden für Gärten und Parks an. Über alle Alters-, Generationen- oder Geschlechtsklassen hinweg interessieren sich in ganz Deutschland ungefähr 50 % der Bevölkerung für einen Besuch in Gärten und Parks - ein sensationell hoher Anteil, wenn man bedenkt, dass sich nur 30 % für die Besichti‐ gung von Denkmalen begeistern können. Mit fast 60 % liegen Berlin und die neuen Bundesländer neben dem Saarland noch weiter vorne (vgl. Antz/ Schmudde 2017). Neben der ästhetischen und kunstgeschichtlichen Bedeutung bietet gestaltetes Grün auch einen noch größeren Mehrwert als Kultur. Dieser reicht von Gesundheit über Aktivtourismus bis zu Entspannung und Genuss. Wenn sich Jugendliche in den österreichischen Bundesgärten nur dem Chillen hingeben wollen, so sind sie doch eine große und v. a. nachwachsende Zielgruppe und außerdem in guter Gesellschaft mit den angelsächsischen Kundengruppen älterer Generationen. Garteneigentümerinnen und -eigentümer, -denkmalpflegerinnen und -denkmal‐ pfleger sowie -touristikerinnen und -touristiker müssen umdenken, um das garten‐ touristische Potenzial in der Gesellschaft - ähnlich wie beim Gartenbuch- oder 414 Christian Antz Gartenfilmmarkt - zu heben. Wie neue Zielgruppen angesprochen werden bzw. wie Parks auf neue Trends reagieren können, zeigt beispielhaft der Erfolg neuerer Bundes- und Landesgartenschauen (BUGA/ LAGA) in Deutschland. Waren die Bun‐ desgartenschauen (seit 1951) Jahrzehnte lang reine ‚Blümchenschauen‘ mit dem bis heute anhaltenden Besuchermagneten Friedhofsgestaltung, so haben sie sich in den letzten 25 Jahren zu Motoren einer nachhaltigen Stadtentwicklung gewandelt. Neben den Hauptzielgruppen Familien und 55 + werden durch die BUGAs mehr und mehr Garten- und Kulturinteressierte jüngerer Generationen angesprochen. Insgesamt 2,4 Millionen Besucherinnen und Besucher kamen 1999 zur BUGA nach Magdeburg, 1,9 Millionen 2009 nach Schwerin und gar 3,6 Millionen 2011 nach Koblenz. Entscheidend für den Gartentourismus ist die Steigerung der Gästeankünfte: Im BUGA-Jahr 2009 kamen in Schwerin im Vergleich zum Vorjahr 24 % mehr Gäste. 57 % der Garten‐ schaubesucherinnen und -besucher äußerten den Wunsch, wieder nach Schwerin zu kommen. Die Langfristigkeit des Gartentourismus wurzelt deshalb in gesellschaftli‐ chem, strukturellem und im wirtschaftlich-touristischem Boden. Gerade die besonders zukunftsrelevanten Gartenregionen Bayern sowie Berlin-Potsdam-Wörlitz haben in Deutschland ihr Angebotspotenzial im Gartentourismus bisher nur ansatzweise an die Gäste vermittelt (vgl. Antz/ Weis 2021). Gartenreisen, eingebettet in den breiten Strom des Slow Tourism, reagieren also auf die Unübersichtlichkeit der alltäglichen Welt, auf Globalisierung und Mobilität, aber auch auf die Spaßgesellschaft, sie wollen einen Gegenalltag anbieten, ohne ihn neu zu schaffen. Die Reisemotive kreisen um Langsamkeit und Nachhaltigkeit, Regionalität und Qualität, Werteorientierung und Kreislaufwirtschaft, Wohlfühlen und Entspannen, Zeitlosigkeit und Rhythmisierung, Balance und Innehalten, Entschleunigung und Gesundheit, Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit. Es sind teilweise Begriffe, die auf immer im Sprachgebrauch verloren gegangen zu sein schienen, wie Leben und Liebe. Die neue Sehnsucht nach dem guten und einfachen Leben lässt sich künftig vielleicht in zwei Kategorien zusammenfassen. Da wäre ① Geborgenheit, womit auch Heimat, Zurück, Natur, Regionales, Werte, Sinn zu verstehen sind. Muße, Kleinteiligkeit, Wohlfühlen, Sinnlichkeit können ② unter dem Oberbegriff ‚Langsamkeit‘ gebündelt werden. Gebor‐ gen und langsam, back und slow sind also keine neuen, künstlichen Reisekategorien, sondern sind authentisch, auratisch, autochthon. Wie die evangelische Zeitschrift Neues Leben 2009 in ihrer Eigenwerbung schreibt: „Kein neuer Tratsch, Keine neuen Rezepte, Kein Bla Bla, Keine Tops und Flops - die Reiseangebote des Slow Tourism können nicht neu erfunden und dann billig vermarktet, sondern nur gehoben werden. Sie liegen sozusagen nicht auf der Straße, aber vor unseren Augen offen da. Neben den Mainstream-Travel-Trends werden die Reisetrends des Slow Tourism in Zukunft Erfolgsmotoren im Tourismus werden. Urlaubsthemen des Zuhauses (Heimat, Balkonien), der Natur (Sinnlichkeit), des Wassers (Treiben-Lassen), des Wanderns (Langsamkeit), der Spiritualität (Gott, Ich), der Kultur (Authentizität), der historischen Städte (Urbanität, Flanieren), der Gärten (Versöhnung Mensch und Natur), der Gesund‐ heit (Wohlfühlen, Muße), des Essens und Trinkens (Terroir, Genuss) sind meist nicht 415 Slow Tourism und Gartenreisen für sich allein, sondern in Kombination miteinander nicht ein Nischen-, sondern ein wachsender Zukunftsmarkt. Die touristischen Trendforscherinnen und -forscher sind gut beraten, nicht nur auf das zu schauen und zu analysieren, was sich bewegt, sondern auch auf das, was bleibt. „Nichts auf der Welt ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ - nach Viktor Hugos Diktum beginnt nicht nur im Reisemarkt die Epoche von Sinn und Sinnlichkeit, Langsamkeit und Geborgenheit. Slow Tourism fungiert dabei als Terminus technicus, zur Überbrückung von Sprach‐ barrieren, als touristische Dachmarke für Forschung und Tourismus, nicht jedoch als Slogan für Endkundinnen und -kunden. Jener sucht Emotionen und keine Floskeln. Unter der wissenschaftlichen Dachmarke Slow Tourism lassen sich aber - ausgehend von langfristigen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen - vielfältige Themen und Trends der Reisemobilität zwischen Langsamkeit und Geborgenheit, Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit zusammenfassen, die ein ursprüngliches und authentisches Reise‐ erlebnis vorhersagen. Ausgehend vom Wellness-Trend zwischen Wohlfühlen und Gesundheit am Ende des 20. Jahrhunderts wird den Themen des Slow Tourism parallel zu Globalisierung und Individualisierung im 21. Jahrhundert eine stetig wachsende Entwicklung vorausgesagt. Bisher suchten Kundinnen und Kunden auf Reisen das Fremde im Eigenen, künftig mehr das Eigene im Fremden bzw. im Eigenen. Et in Arcadia ego - und auch ich in Arkadien: Das Paradies des künftigen Reisenden ist wahrscheinlich einfacher und ehrlicher, gesünder und näher. Darin offenbaren sich alte, aber anders vermittelte Wahrheiten über die diversifizierten Medien des Natur- und Kultur-, Städte- und Gesundheits-, spirituellen und Heimattourismus. Slow Tourism lässt uns künftig wahrscheinlich weiterhin global denken, aber häufiger lokal reisen. Literaturhinweise Albert, M.; Hurrelmann, K.; Quenzel, G.; Schneekloth (2010): Jugend 2010. 16. Shell Jugendstudie. Hg. von Universität Bielefeld; TNS Infratest Sozialforschung. Frankfurt am Main. Antz, C. (2004): Gartenträume. Ein Landesprojekt für Kultur und Natur, Tourismus und Image in Sachsen-Anhalt, in: Brickwedde, F.; Weinman, A. (Hg.): Nachhaltiger Schutz des kulturellen Erbes - Umwelt und Kulturgüter. Initiativen zum Umweltschutz, Band 59. Erich Schmidt Verlag, Berlin, S. 173-189. Antz, C. (2008): Kulturtourismus. 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Grundlagen - Praxisbeispiele - Fallstudien. ITD-Verlag, Hamburg. Winkler, K.; Aderhold, P.; Lohmann, M. (2009): FUR Reiseanalyse 2009. Kiel. 419 Slow Tourism und Gartenreisen Beiträgerinnen und Beiträger Prof. Dr. Christian Antz | geb. 1961, Kunsthistoriker und Kulturmanager. Nach Studium und Promotion war er 1992-1998 Referent und 1998-2021 Referatsleiter im Wirtschaftsministerium Sachsen-Anhalts in Magdeburg und arbeitet seit 2011 als Honorarprofessor an der Fachhochschule Westküste in Heide. 1992-2006 hat er für Sachsen-Anhalt die touristischen Landes- und Netzwerkprojekte „Straße der Roma‐ nik® - Reise ins Mittelalter“, „Blaues Band® - Wassertourismus in Sachsen-Anhalt“ und „Gartenträume® - Historische Parks in Sachsen-Anhalt“ aufgebaut. Außerdem hat er national seit 2000 gemeinsam mit den christlichen Kirchen in Deutschland die Kon‐ zeption des Zukunftsthemas ‚Spiritueller Tourismus‘ und seit 2009 die Erforschung des Wachstumsmarkts Slow Tourism entwickelt. 2017-2021 beriet er die Landeshauptstadt Magdeburg bei ihrer Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025. Kontakt: antz@fh-westkueste.de Ronald Clark | geb. 1956, Dipl.-Ing., Gartenbauer, Landespfleger und Parkmanager. Nach seinem Studium der Gartenbauwissenschaften und der Landespflege war er in den Jahren 1987-1992 stellvertretender Abteilungsleiter in den Herrenhäuser Gärten, danach bis 2002 Abteilungsleiter für die Pflege des Öffentlichen Grüns beim Grünflä‐ chenamt Hannover. 2002-2005 war er Leiter des Grünflächenamtes Hannover und seit 2005 ist er Direktor der Herrenhäuser Gärten in Hannover. Zudem ist er seit vielen Jahren in der DGGL (Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e. V.) u. a. als Vizepräsident ehrenamtlich engagiert. Neben zahlreichen Büchern und Publikationen hat er fast 20 Jahre am ersten Gartenreiseführer Deutschlands mit gut 1.400 Gärten geschrieben. Kontakt: ronald.clark@t-online.de Sarah Sophie Dornheim | geb. 1997, seit 2021 Projektmitarbeiterin des Deutschen Instituts für Tourismusforschung (DITF). Sie absolvierte von 2016-2019 den Bachelors‐ tudiengang „International Tourism Management“ an der Fachhochschule Westküste in Heide und studiert seit 2019 den Master „International Tourism Management“. Ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind Wandertourismus und Tourismusakzeptanz der Destinationsbevölkerung. Kontakt: dornheim@fh-westkueste.de Prof. Dr. Bernd Eisenstein | geb. 1965, seit 2020 Direktor des Deutschen Instituts für Tourismusforschung (DITF) und seit 1997 Professor für Touristische Nachfrage an der Fachhochschule Westküste sowie seit 2020 Extraordinary Professor an der North-West University in Potchefstrom/ Südafrika. Er studierte Geografie, Betriebssowie Volkswirtschaftslehre und promovierte an der Universität Trier. Er hat rund zwei Dutzend Bücher herausgegeben und zahlreiche Publikationen verfasst. Gegenwärtig ist er Vorstandsmitglied im Arbeitskreis Tourismusforschung der Deutschen Gesellschaft für Geographie und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft (DGT). Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind die Tourismusakzeptanz der Destinationsbevölkerung, touristische Marktsegmentierungen, das Verhalten von Ge‐ schäftsreisenden, Projekte zum Destinationsimage und zu Destinationsmarken, die Folgen des Tourismus sowie Steuerungssysteme zur Destinationsentwicklung. Kontakt: eisenstein@fh-westkueste.de Sybille Eßer | geb. 1954, Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Deutschen Bundesgartenschau-Gesellschaft. Studium in Bonn. Volontariat in einem Magazinverlag und daran anschließende Tätigkeit als Projektleiterin. Sie entwickelte Medien im Corporate Publishing, später auch als freie Journalistin. Danach Einstieg bei Hubert Burda Media im Corporate Publishing, wo sie 2004 auch ein Magazin für die BUGA München mitentwickelte, ehe sich 2010 aus der großen Leidenschaft für Gärten und Parks die Leitung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ergab. Kontakt: esser@bundesgartenschau.de Dr. Inken Formann | geb. 1976, seit 2009 Leiterin des Fachgebiets Gartendenkmal‐ pflege, Staatliche Schlösser und Gärten Hessen. Nach Studium der Landschafts- und Freiraumplanung an der Leibniz Universität Hannover Promotionsstipendium am dortigen Zentrum für Gartenkunst (CGL), Promotion zum Dr. Ing. 2005-2009 wissen‐ schaftliche Mitarbeiterin am Lehrgebiet Geschichte der Landschaftsarchitektur der TU Dresden. Lehrbeauftragte an der Hochschule Geisenheim und zusammen mit Bianca Limburg Initiatorin des Bildungs- & Vermittlungsprogramms für Gartenkunstwerke „WissenwächstimGarten“. Kontakt: inken.formann@schloesser.hessen.de Prof. Dr. Susanne Gervers | geb. 1964, Professorin für Tourismusmanagement an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen. Nach dem Studium von Politischer Wissenschaft, Jura, Soziologie und Geschichte Promotion zum Doktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Danach war sie elf Jahre tätig als Gründerin und Geschäftsführerin eines innovativen Kulturreiseveranstalters. Aktuelle Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Kreativität, Bildung und interkul‐ turelles Lernen, innovative Tourismusformen, Tourismus als Gesellschaftslabor, soziale Innovationen und ethische Fragen im Tourismus. Gesellschaftliches Engagement für liberale Werte, u. a. als Mitgründerin und Vizepräsidentin von LibDeLa. Kontakt: susanne.gervers@hfwu.de Franz Gruber | geb. 1967, Geschäftsführer der GARTEN TULLN, Besuch des Touris‐ mus-Kollegs in Krems, Coachingausbildung, Arbeitsaufenthalte in Italien und Deutsch‐ land, Arbeit in Tourismusinformationsstellen. Anschließend Geschäftsführer in touris‐ tischen Destinationsorganisationen auf Orts- und Regionalebene beim Verkehrsverein Göstlinger Alpen, Tourismusverband Ötscherland und bei der Tourismus-Destination 422 Beiträgerinnen und Beiträger Waldviertel und Tätigkeit als Bereichsleiter bei der Niederösterreich-Werbung. Ab 2007 Geschäftsführung der Gärten Niederösterreichs, Schwerpunkt auf Angebots- und Produktentwicklung im Bereich Gärten und Gartenökologie mit Vernetzungstätigkeit auf europäischer Ebene. Kontakt: gruber@diegartentullln.at Dr. Christian Hlavac | geb. 1972, Landschaftsplaner und Gartenhistoriker sowie Publizist. 1999-2006 wissenschaftlicher Angestellter am Institut für integrativen Tou‐ rismus und Freizeitforschung. Seit 2007 Inhaber des Büros GALATOUR - Zentrum für Garten, Landschaft und Tourismus. Zahlreiche Publikationen und Aufsätze zur Garten(kunst)- und Gartentourismusgeschichte. Kontakt: christian.hlavac@galatour.at Volker Hühn | geb. 1966, Programmleiter Buch und Ökonom. Nach Ausbildung zum Verlagsbuchhändler und Studium der Wirtschaftswissenschaft führte er eine Buch‐ handlung im Schwäbischen als Geschäftsführer. 1999-2009 leitete er die Geschicke der UTB - Uni-Taschenbücher GmbH ebenfalls als Geschäftsführer. 2010-2014 fungierte er als Verleger des Theiss Verlages, bevor er schließlich das Lektorat im Verlag Eugen Ulmer übernahm. Kontakt: vhuehn@ulmer.de Prof. Dr. Hansjörg Küster | geb. 1956, Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz-Universität Hannover. Studium der Biologie und Promotion 1985 an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Von 1981-1998 war er wissenschaftli‐ cher Mitarbeiter, zuletzt Akademischer Oberrat am Institut für Vor- und Frühgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er eine Arbeitsgruppe für Vegeta‐ tionsgeschichte aufbaute und leitete. Nach Habilitation 1992 nahm er verschiedene Lehraufträge an der TU München und an den Universitäten Regensburg, Würzburg, Potsdam, Freiburg/ Breisgau und Zürich wahr. Neben seiner Professur für Pflanzen‐ ökologie, die er seit 1998 innehat, ist er u. a. seit 2004 ehrenamtlicher Präsident des Niedersächsischen Heimatbundes und Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Naturschutzgeschichte in Königswinter/ Rhein. Kontakt: kuester@geobotanik.uni-hannover.de Bianca Limburg | M. A., geb. 1979, seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Bildung & Vermittlung am Fachgebiet Gartendenkmalpflege, Staatliche Schlösser und Gärten Hessen. Während des Studiums der Geschichtswissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt war sie Stipendiatin des Studienförderwerks Klaus Murmann der Stiftung der deutschen Wirtschaft sowie wissenschaftliche Hilfskraft im DFG-Forschungsprojekt „Korruption in der europäischen Moderne“. Projektkoordina‐ torin des gemeinsam mit Dr. Inken Formann initiierten Bildungs- und Vermittlungs‐ programms für Gartenkunstwerke „WissenwächstimGarten“. Kontakt: Bianca.Limburg@schloesser.hessen.de 423 Beiträgerinnen und Beiträger Prof. Dr. Heinrich J. Lübke | geb. 1952, Facharzt für Innere Medizin und Lehrbeauf‐ tragter. Nach dem Studium der Medizin Facharztausbildung und wissenschaftliche Tä‐ tigkeit in Bad Hersfeld, an den Universitäten Marburg und Düsseldorf. Promotion zum Dr. med. Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie und Ernährungsmedizin. 1990 Habilitation und Venia Legendi Innere Medizin und 1996 Ernennung zu apl. Professor. 1994-2017 Chefarzt Innere Medizin - Gastroenterologie, Onkologie, Diabetologie an der HELIOS-Klinik Behring, Berlin-Zehlendorf. Seit 2017 Beiratsmitglied „Garten und Medizin“ der DGG 1822 e. V. 2021 Lehrauftrag an der Hochschule für Technik (ehemals Beuth) im Fachbereich V (Urbanes Pflanzen- und Freiraum-Management). Kontakt: h.luebke@t-online.de Lukas Melzer | M. Sc., geb. 1991, Consultant bei der ift Freizeit- und Tourismusbe‐ ratung GmbH in Köln, Studium des Sporttourismus und Erholungsmanagements. Gemeinsam mit Herrn Rast berät und begleitet er Städte und Kreise bei der Bewerbung und Ausrichtung von Gartenschauen. Dazu zählten neben mehreren Bundesgarten‐ schauen zuletzt auch Landesgartenschauen in vier verschiedenen Bundesländern. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der Erstellung von Besuchsprognosen sowie der Ermittlung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Effekte von Gartenschauen und weiteren touristischen Großprojekten. Kontakt: melzer@ift-consulting.de Peter Menke | geb. 1962, Journalist bei NED.WORK Agentur + Verlag in Düsseldorf. Gartenbau-Studium an der Universität Hannover nach mehreren Jahren praktischer Arbeit als Baumschulgärtner in Deutschland und Frankreich. Zweites Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen. Berufliche Stationen führten ihn von der Marketingberatung zur PR. Sein Schwerpunktthema ist der Grün- und Freiraum in Stadt und Land - vom öffentlichen Grün der Kommunen über die Gärten von Unternehmen und Privatleuten bis zur Dach-, Fassaden- und Innenraumbegrünung. Kontakt: peter.menke@nedwork.de Reiner Nagel | geb. 1959, Architekt und Stadtplaner. Er arbeitete seit 1986 in verschiedenen Funktionen auf Bezirks- und Senatsebene für die Freie und Hansestadt Hamburg, zuletzt ab 1998 in der Geschäftsleitung der HafenCity Hamburg GmbH. Ab 2005 war er Leiter der Stadtentwicklung, Stadt- und Freiraumplanung Berlins und ist seit 2013 Vorstandsvor‐ sitzender der Bundesstiftung Baukultur. Zudem Lehrbeauftragter an der TU Berlin und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung DASL, des Bundes Deutscher Architekten BDA und der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Kontakt: mail@bundesstiftung-baukultur.de Prof. Dr. Klaus Neumann | geb. 1950, Landschaftsarchitekt und Prof. em. im Studi‐ engang „UrbanesPflanzen- und Freiraummanagement“ der Berliner Hochschule für Technik.Arbeitsschwerpunkte: materielle und immaterielle Inwertsetzung undRendi‐ tebetrachtungen von Grün- und Freiflächen, Zukunftsstrategien der urbanenGrün- und Freiraumentwicklung. Umfangreiche Vortrags-, ProjektundLehrtätigkeiten, u. a. 424 Beiträgerinnen und Beiträger in Johannesburg, Nairobi, Budapest, Bratislava, AbuDhabi, Rio de Janeiro, Suncheon (Südkorea), Caracas und Luxemburg. 1999-2008Vizepräsident der Forschungsgesell‐ schaft Landschaftsentwicklung Landschaftsbau(FLL). 2014 Berufung als Gutachter in die ÖsterreichischeForschungsförderungsgesellschaft, Wien zum europäischen For‐ schungsprogramm „SmartCity“, Stadt der Zukunft. Seit 2016 Präsident der Deutschen GartenbauGesellschaft (DGG). Kontakt: k.neumann@dgg1822.de Dr. Michael Polster | geb. 1952, Publizist und Gastrofachjournalist. Studium der Philosophie und Promotion im Fach Wirtschaftswissenschaften an der HU Berlin. Vor‐ sitzender des Deutschen Netzwerkes Schulverpflegung e. V. (DNSV), Ehrenpräsident des Institute of Culinary Art (I.C.A.). Kontakt: michael.polster@t-online.de Carl Raml | geb. 1963, Mag., Betriebswirt und Touristiker. Studium der Betriebswirt‐ schaft mit Schwerpunkt Tourismus- und Freizeitwirtschaft an der Wirtschaftsuniver‐ sität Wien. Mehrjährige Tätigkeit als freier Werbeberater und Layouter. Leitung des interdisziplinären Forschungskreises für Tourismus und Freizeitwissenschaft FORT und Schriftenleiter des Magazins tourismus panorama 1994-2001. Intensive Beschäf‐ tigung mit touristischen Nischenprodukten, v. a. Gartenreisen. Geschäftsführender Gesellschafter Reiseveranstalter Raml Reisen GmbH 2001-2004, Büroleiter im Reise‐ büro sabtours in der PlusCity bei Linz und Produktleiter Gartenreisen 2005-2010, seit 2011 Marketingleiter der sabtours Touristik GmbH und seit 2016 zusätzlich Leiter des Veranstalterbereiches sab-reisen im sabtours-Konzern. Kontakt: c.raml@live.at Christian Rast | geb. 1971, Diplom-Geograph, Mitglied der Geschäftsleitung bei der ift Freizeit- und Tourismusberatung GmbH in Köln. Nach seinem Geographiestudium 1998-2000 Tätigkeit als Gesellschafter und Projektleiter bei der Fineis Institut GmbH in Deidesheim sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Westküste in Heide im Fachbereich Betriebswirtschaftslehre am Lehrstuhl Tourismus. Seit seinem Wechsel zu ift im Jahr 2000 bildet der Bereich Gartenschauen einen seiner Arbeits‐ schwerpunkte. In den letzten Jahren hat er mehr als 50 Beratungsprojekte im Bereich Landes- und Bundesgartenschauen durchgeführt, die von Machbarkeitsstudien und Bewerbungsverfahren für Kommunen über Begleitberatungen für Durchführungsge‐ sellschaften bis hin zu Studien zur Nachnutzung von Gartenschaugeländen reichen. Kontakt: rast@ift-consulting.de Felicitas Remmert | Dipl.-Ing., geb. 1976, Geschäftsstellenleiterin des Vereins Gar‐ tenträume. Studium der Landschafts- und Freiraumplanung an der Leibniz Univer‐ sität Hannover mit Vertiefung Freiraumkulturmanagement. Seit 2003 kümmert sie sich als Geschäftsstellenleiterin des Vereins Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt e. V. um die Sicherung und Weiterentwicklung des denkmalpflege‐ risch-touristischen Netzwerks „Gartenträume Sachsen-Anhalt“. Im bundesweiten In‐ 425 Beiträgerinnen und Beiträger teressenverbund u. a. Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL) e. V. und stellvertretende Sprecherin des Gartennetz Deutschland in der DGGL e. V. Kontakt: remmert@gartentraeume-sachsen-anhalt.de Beate Reuber | Dipl. Ing. (FH), geb. 1963, Parkbotschafterin Gärten der Welt. Sie ist seit 1991 bei der Grün Berlin GmbH beschäftigt, übernahm 1992 die Leitung der heutigen Gärten der Welt. Sie begleitete sehr eng die Entstehung der nationalen und internationalen Themengärten. Im Jahr 2007 kamen die Bereiche Marketing, Kommunikation und Veranstaltungen hinzu. Während der IGA Berlin 2019 war sie zuständig für protokollarische Angelegenheiten. Seit März 2019 hat sie eine neue Aufgabe im Management inne. Als Ambassadorin der Grün Berlin GmbH repräsentiert sie auf nationaler und internationaler Ebene die vielfältigen Parkanlagen und etabliert als Gesicht und Stimme deren Marken. Kontakt: Beate.Reuber@gruen-berlin.de Belinda Rukschcio | geb. 1973, Geschäftsführerin des Werkraum Bregenzerwald. Sie absolvierte eine höhere Lehranstalt für Mode- und Bekleidungstechnik mit Abitur und Gesellenprüfung. Anschließend Studium der Architektur an der TU Wien. Nach sieben Jahren in der Architekturpraxis erfolgte 2007 der Wechsel als Projektleiterin an das Haus der Architektur in Graz. Anschließend verantwortete sie die Gesamtkoordination des Österreich Pavillons im Rahmen der 11. Architekturbiennale in Venedig. 2009-2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Wien, der Bauhaus-Universität in Weimar und an der BTU Cottbus. 2014 Dokumentarfilm Precise Poetry über die italienisch-brasilianische Architektin Lina Bo Bardi. Ab 2016 Projektleiterin der Baukulturberichte der Bundesstif‐ tung Baukultur mit Sitz in Potsdam. Seit 2021 führt sie die Geschäfte des Werkraum Bregenzerwald, ein Verein innovativer Handwerksunternehmen im Bregenzerwald. Kontakt: belinda.rukschcio@werkraum.at Philipp Sattler | geb. 1966, selbstständiger Landschaftsarchitekt und seit 2019 Ge‐ schäftsführer der Stiftung Die Grüne Stadt in Berlin. Landschaftsgärtnerlehre in Mün‐ chen, Studium der Landschaftsarchitektur an der TU Berlin und der École Nationale Supérieure du Paysage in Versailles (F). Nach Praxisjahren in Berliner Planungsbüros seit 2001 als selbständiger Landschaftsarchitekt in Berlin tätig. Gastprofessor u. a. an der Uni Kassel. Vorsitzender der DGGL Berlin-Brandenburg und stellvertretender Vorsitzender des bdla Berlin/ Brandenburg. 2017-2019 Leiter des DGGL-Projekts „Netz‐ werk Garten & Mensch“. Seit Januar 2019 Geschäftsführer der Stiftung Die Grüne Stadt in Berlin. Seit Februar 2020 neben seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der Stiftung Die Grüne Stadt außerdem Geschäftsführer des „Initiativbündnis Historische Gärten im Klimawandel“. Kontakt: sattler@gaertenimklimawandel.de Jochen Sandner | geb. 1954, Geschäftsführer der Deutschen Bundesgartenschau GmbH in Bonn seit 2010. Nach Studium ab 1979 erste Berufspraxis als Werbeberater in 426 Beiträgerinnen und Beiträger einer mittelständigen Marketingagentur in Köln, danach Wechsel nach Niedersachsen als Leiter eines kommunalen Kur- und Fremdenverkehrsbetriebes. Ab 1988 ist er als Geschäftsführender Gesellschafter der Ift Freizeit- und Tourismusberatung GmbH (Köln und Potsdam). mit der Realisierung zahlreicher touristischer Aufgabenstellun‐ gen für öffentliche und private Auftraggeberinnen und -geber betraut. Seit 1993 Tätigkeitsschwerpunkt in der Projektierung und Umsetzung von Bundes- und Landes‐ gartenschauen in unterschiedlichen Planungs- und Realisierungsphasen als Gutachter, Berater, Projektsteuerer und Koordinator. 1997-2002 Geschäftsführer bei der BUGA Potsdam 2001 GmbH und 2005-2010 der BUGA Schwerin 2009 GmbH. Kontakt: sandner@bundesgartenschau.de Marianne Scheu-Helgert | geb. 1957, Diplom-Agraringenieur (univ.) und Leiterin der Bayerische Gartenakademie. Nach einer Ausbildung zur Zierpflanzengärtnerin und dem Studium wechselte sie an die Bayerische Landesanstalt für Weinbau und Garten‐ bau (LWG). Sie baute dort die Informationsstelle für Haus- und Kleingärtnerinnen und -gärtner auf, aus der später die Bayerische Gartenakademie hervorging, die sie seit 2020 leitet. Ihr Engagement im Ehrenamt für verschiedene Vereine und Verbände sowie nicht zuletzt ihre eigenen Gärten zeigen ihre enge Verbindung von Theorie und Praxis. Kontakt: marianne.scheu-helgert@lwg.bayern.de Christoph Schmidt | geb. 1968, Diplom-Ingenieur im Bereich Landschaftsarchitektur. Studium an der TU Berlin. Zudem ist er Fachingenieur Projektentwicklung und studierte Projektmanagement/ Baumanagement an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit 2008 Geschäftsführer der Grün Berlin GmbH und seit 2013 Vorstandsvorsitzender der Grün Berlin Stiftung. 2010-2018 Geschäftsführer der IGA Berlin 2017 GmbH sowie 2017-2018 Vorsitzender der Geschäftsführung der GB infraVelo GmbH. Vor seiner Tätigkeit bei der Grün Berlin GmbH war er 2003-2008 als Senior-Projektmanager und Bereichsleiter bei der HafenCity Hamburg GmbH beschäftigt. Bis 2002 war er in verschiedenen Positionen in Berlin als Projektleiter und Büroleiter tätig. Kontakt: christoph.schmidt@gruen-berlin.de Wolfgang Sobotka | geb. 1956, Mag., Historiker, Dirigent und ehemalige Lehrer, seit 2017 Abgeordneter und Präsident des österreichischen Nationalrates. Studium der Musik und Geschichte in Wien, Lehrer in Waidhofen an der Ybbs. 1982-1998 Gemeinderat, Stadtrat und Bürgermeister der Statutarstadt Waidhofen. 1998-2016 Landesrat und 2009-2016 Landeshauptmannstellvertreter der Landesregierung von Niederösterreich. 2016-2017 Bundesminister des Inneren der Republik Österreich. Er hat als Initiator 1999 die europaweit singuläre Aktion „Natur im Garten“ in Niederösterreich ins Leben gerufen, die sich seitdem zu einer europäischen Bewegung für das umweltbewusste Gärtnern entwickelt hat. Wolfgang Sobotka ist Präsident des europäischen Dachverbandes, dem Verein European Garden Association - Natur im Garten International. Kontakt: wolfgang.sobotka@parlament.gv.at 427 Beiträgerinnen und Beiträger Jens Spanjer | geb. 1968, Landschaftsarchitekt und Regionalmanager. Nach Gärtner‐ ausbildung und Studium tätig in der Entwurfsplanung in einem Landschaftsarchitek‐ turbüro sowie Leitung der Touristik und Marketing Bad Lippspringe GmbH. Seit 2001 Geschäftsführer und seit 2009 Vorstand der Stiftung Schloss Dyck, Zentrum für Gartenkunst und Landschaftskultur im Rheinland. Im Rahmen dieser Tätigkeit seit 2003 Leitung des European Garden Heritage Network (EGHN) mit der jährlichen Verleihung des Europäischen Gartenpreises. 2014-2020 Präsident der Deutschen Ge‐ sellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL). Seit 2015 im Vorstand des Vereins Schlösser und Gärten in Deutschland und seit 2020 Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Die grüne Stadt mit Sitz in Berlin. Kontakt: j.spanjer@stiftung-schloss-dyck.de Prof. Dr. Steffen Wittkowske | geb. 1958, Professur für Didaktik des Sachunterrichts an der Universität Vechta. Studium der Biologie und Chemie an der Martin-Luther-Uni‐ versität Halle-Wittenberg, Diplom-Lehrer. 1986 Promotion ‚Gesundheitserziehung‘ an der Pädagogischen Hochschule Dresden. Seit 2004 Universitätsprofessor an der Universität Vechta, seit 2014 Leiter des Kompetenzzentrums Schulverpflegung, Bot‐ schafter des Deutschen Netzwerks Schulverpflegung (DNSV). Sonja-Bernadotte-Preis für Wege zur Naturerziehung (2006). Lehraufträge und Gastprofessuren an den Uni‐ versitäten Hamburg und Leipzig, der TU Dresden und den Pädagogischen Hochschulen Vorarlberg (Feldkirch) und Burgenland (Eisenstadt)/ A, Forschungen zur Didaktik des Sachunterrichts, der Theorie und Praxis der Schulgartenarbeit sowie zur Bildung für nachhaltige Entwicklung im Kontext von Ernährungsbildung, Verbraucherorien‐ tierung und in der Gesundheitserziehung. Herausgeber bzw. Autor von zahlreichen Publikationen (Monografien, Herausgeberbände, Unterrichtswerke, Beiträge in Fach‐ zeitschriften und weitere Materialien), Mitherausgeber (2002 bis 2020) der Zeitschrift Grundschulunterricht Sachunterricht (München: Oldenbourg). Kontakt: steffen.wittkowske@uni-vechta.de Prof. Dr. Joachim Wolschke-Bulmahn | geb. 1952, Vorstandsmitglied Freunde der Herrenhäuser Gärten und Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL). Studium der Landschaftsarchitektur an der Universität Hannover. 1989 Promotion Dr.-Ing. an der Hochschule der Künste Berlin. 1989/ 90 Stipen‐ diat Abteilung Studies in Landscape Architecture, Dumbarton Oaks/ Trustees for Har‐ vard University. 1991-1996 Direktor der Abteilung Studies in Landscape Architecture, Dumbarton Oaks/ Trustees for Harvard University. 1996-2021 Professor am Institut für Landschaftsarchitektur der Leibniz Universität Hannover. Mitbegründer des Zentrums für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur (CGL) der Leibniz Universität Hannover und 2003-2021 Vorstandsvorsitzender. 2000-2008 Mitglied der Expertenkommission zur Neukonzeptionierung der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Zahlreiche Buchpublikationen und Artikel zur Geschichte der Gartenkultur und Landschaftsarchitektur. Kontakt: wolschke-bulmahn@ila.uni-hannover.de 428 Beiträgerinnen und Beiträger Abbildungsnachweise Klaus Neumann: Gärten und Parks im Wandel. Vom Paradiesgarten Eden über die Renaissancegärten bis zum IP-Gardening 4.0 Abb. 1 | Klostergarten Frauenchiemsee; Foto: © Klaus Neumann 2018. Abb. 2 | Garten als Signum politischer und wirtschaftlicher Macht; Schlossgarten Villandry an der Loire; Foto: © Klaus Neumann 2010/ 11. Abb. 3 | Geometrisch-gekünstelte Pflanzung im Schlossgarten Villandry/ Loire; Foto: © Klaus Neumann 2011. Abb. 4 | Branitzer Landschaftspark, Blick vom Kugelberg über den Schilfsee auf das Branitzer Schloss; Foto: © Wecke 2017. Abb. 5 | Familienfest im Tiergarten Berlin; Foto: © Klaus Neumann 2011. Abb. 6 | Park am Gleisdreieck Berlin; Foto: © Klaus Neumann 2016. Abb. 7 | Japanischer Garten, Bad Langensalza; Foto: © Klaus Neumann 2019. Abb. 8 | Naturgartenanlage, Privatgarten in Delémont, Canton du Jura, Trockenmauern mit lokalem Jurakalk und mit standortheimischen Arten; Foto: © Steiger 2015. Abb. 9 | Modetrend ‚Versteinerte Gärten‘; Foto: © Klaus Neumann 2017/ 18. Abb. 10 | IP-Garten „Jeder Mensch verdient seinen eigenen Garten“ - Online gärtnern und real genießen; Quelle: ipgarten 2020. Abb. 11 | ‚CardioWalk‘, Gesundheitsparcours im Stadtpark Ascona; Foto: © Klaus Neumann 2019. Abb. 12 | Die ‚langen Wellen‘, der 6. Kondratieffzyklus; Quelle: Nefiodow, L. A./ Nefi‐ odow, S. (2014): Der sechste Kondratieff: Die neue, lange Welle der Weltwirtschaft. 7. Aufl. Rhein-Sieg-Verlag, St. Augustin. Abb. 13 | Die 2,3 km lange Parkanlage High Line Park in New York, auf 1980 stillgelegter Hochbahn der West Side Linie; Foto: © Klaus Neumann 2011. Hansjörg Küster: Gärten als Modelle der Nachhaltigkeit Abb. 1 | Lucas Cranach d. J., Weinberg des Herrn. Epitaph für Paul Eber, Stadtkirche Wittenberg; Quelle: Gemeinfrei, WikiCommons. Abb. 2 | Großer Garten, Hannover-Herrenhausen; Foto: © Hansjörg Küster. Abb. 3 | Deckengemälde von Johann Baptist Zimmermann, Paradies, Steinhausen, Landkreis Biberach, Wallfahrtskirche; Foto: © Hansjörg Küster. Abb. 4 | Deckengemälde von Johann Baptist Zimmermann, Hortus conclusus. Steinhau‐ sen, Landkreis Biberach, Wallfahrtskirche; Foto: © Hansjörg Küster. Abb. 5 | Allee im formalen Park von Dessau-Mosigkau, Mitte 18. Jahrhundert; Foto: © Hansjörg Küster. Abb. 6 | Der Toleranzblick im Wörlitzer Park soll den Blick auf die (christliche) Wörlitzer Kirche, die Synagoge und die Goldene Urne ermöglichen; Foto: © Hansjörg Küster. Abb. 7 | Am Schloss und im Park Clemenswerth bei Sögel im Emsland; Foto: © Hansjörg Küster. Abb. 8 | Schloss und Park Veitshöchheim mit Fichtenallee; Foto: © Hansjörg Küster. Heinrich J. Lübke: Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten in unendlichen Facetten Abb. 1 | Logik-Modell. Der Beitrag der Gärten zur psychischen Gesundheit; Quelle: in Anlehnung an Brettle, A./ Hardman, M./ Howarth, M./ Maden, M. (2020): What is the evidence for the impact of gardens and gardening on health and well-being: a scoping review and evidence-based logic model to guide healthcare strategy decision making on the use of gardening approaches as a social prescription, in: BMJ Open 10. Online: pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/ 32690529/ , letzter Zugriff: 11.11.2020. Joachim Wolschke-Bulmahn: Die Zukunft von Gärten für die Menschen von morgen. Von Nutzung, Gestaltung und Übernutzung historischer Parks Abb. 1 | Graffitis und Kritzeleien an den Säulen des Leibniztempels im Georgengarten in Hannover; Foto: © Joachim Wolschke-Bulmahn 2021. Michael Polster: Garten und Kulinarik. Parks als Nahrungsquelle und Restau‐ rantinspiration Abb. 1 | Codex Sangallensis 1092; Foto: © St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 621: Historiarum adversum paganos libri VII (https: / / www.e-codices.unifr.ch/ de/ list/ one/ c sg/ 0621). Abb. 2 | Spreewaldkoch Peter Franke; Foto: © Hotel „Zum Stern“ Werben. Abb. 3 | Fleesensee; Foto: © SCHLOSS Hotel Fleesensee. Abb. 4 | Frank Schreiber; Foto: © Michael Polster. Steffen Wittkowske: Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen Abb. 1 | Vom Umgehen mit Natur; Foto: © Johanna Marth 2017. Abb. 2 | Kontaktaufnahme; Foto: © Johanna Marth 2017. Abb. 3 | Wer frisst wen? Foto: © Johanna Marth 2017. Abb. 4 | Begegnungen auslösen; Foto: © Johanna Marth 2017. Inken Formann und Bianca Limburg: Historische Gärten als Lernorte. Bil‐ dungs- und Vermittlungsangebote für Gartendenkmale Abb. 1 | Baumentdeckungen im Klosterhof Seligenstadt; Foto: © Bianca Limburg 2020. Abb. 2 | Der Farbkasten der Natur im Eierkarton; Foto: © Bianca Limburg 2020. Abb. 3 | Tamagotchi 4.0 - Interesse für Gärten zu wecken, ist auch eine Frage der (An-)Sprache; Foto: © Instagram, blackturtle „Alte Sorten für junges Gemüse“/ Acker‐ demia e. V. Potsdam, 17.02.2021 sowie die Kampagnen PARKisART der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Hessen; Foto: © Jürgen Hohmutz/ SPSG, Instagram, 04.04.2020. 430 Abbildungsnachweise Abb. 4 | Kreativ gestalten, den Umgang mit lebenden Werkstoffen üben und lernen, Verantwortung zu übernehmen: Mini-Garten für die Fensterbank; Foto: © Bianca Limburg 2020. Volker Hühn: Von Immerblühern und Einjährigen. Der Gartenbuchmarkt im Wandel des Kundeninteresses Abb. 1 | Der Gartenbuchmarkt im Zeitverlauf; Quelle: eigene Darstellung auf Basis der abgerufenen Verkaufszahlen auf: www.mc-metis.de, letzter Zugriff: 14.12.2021. Abb. 2 | Änderung der Cover-Ästhetik im Zeitverlauf; Quelle: Verlag Eugen Ulmer. Marianne Scheu-Helgert: Gartenakademien in Deutschland. Mehr Freude und Erfolg im Garten durch Bildung Abb. 1 | Staudenseminar mit Praxisteil „Anlegen eines Beetes“ bei dem Landbetrieb Landwirtschaft Hessen (LLH); Foto: © Helmut Müller. Abb. 2 | Eine Gruppe von Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern im obstbaulichen Lehr- und Schaugarten der Hessischen Gartenakademie in Geisenheim; Foto: © Helmut Müller. Philipp Sattler: Netzwerk Garten & Mensch. Bürgerschaftliches Engagement für Gärten, Parks und Plätze Abb. 1 | NG&M-Logo; Quelle: DGGL e. V. Abb. 2 | Themenbuch Bürgerschaftliches Engagement; Quelle: DGGL e. V. Abb. 3 | Preisverleihung Kulturpreis; Foto: © Ute Bauer. Reiner Nagel und Belinda Rukschcio: Gärten als Teil der Baukultur. Die Rolle des Grüns für Klima, Lebensqualität und Urbanität der Stadt Abb. 1 | Relevanz von Stadtbäumen; Quelle: Kommunalumfrage zum Baukulturbericht 2020/ 21. Abb. 2 | Mehrwert durch Stadtgrün; Quelle: Bundesstiftung Baukultur 2019; ARUP 2014. Abb. 3 | Stadtquartier Neckarbogen Heilbronn; Foto: Andreas Meichsner, © Bundes‐ stiftung Baukultur. Abb. 4 | Grünanlage in Burg; Foto: Andreas Meichsner, © Bundesstiftung Baukultur. Christoph Schmidt: Die Grün Berlin Gruppe. Ein interdisziplinäres grünes Management Modell für die Metropole Berlin Abb. 1 | Firmenverbund Grün Berlin Gruppe 2021; Quelle: Grün Berlin GmbH 2021. Abb. 2 | Grafische Darstellung der Organisationsstruktur; Quelle: Grün Berlin GmbH 2021. Abb. 3 | Spreepark Berlin; Foto: © die-grille | selbständige Landschaftsarchitekten. Abb. 4 | Service-Radar; Quelle: Grün Berlin GmbH 2021. Christian Rast und Lukas Melzer: Landesgartenschauen. Zwischen Spaßver‐ anstaltung, Stadtentwicklung und Gesellschaftsrelevanz Abb. 1 | Durchgeführte und geplante Landesgartenschauen in den Bundesländern bis 2029; Quelle: Darstellung der ift GmbH 2021, unveröffentlicht. 431 Abbildungsnachweise Abb. 2 | Wirkungen von Gartenschauen; Quelle: in Anlehnung an ift GmbH 2021, verän‐ dert nach ift GmbH 2015. Online: ift-consulting.de/ news/ fachbeitraege/ 236-gartensch auen-als-instrument-der-tourismus-und-stadtentwicklung, letzter Zugriff: 02.06.2021. Felicitas Remmert: Gartenträume Sachsen-Anhalt. Ein Landesnetzwerk histo‐ rischer Gärten als touristisches Produkt Abb. 1 | Garteninitiativen in Deutschland inklusive Gründungsjahr; Quelle: eigene Darstellung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Abb. 2 | Gartenträume-Logo; Quelle: Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung des Landes Sachsen-Anhalt. Abb. 3 | Keyvisuals 2020 „Genießen - Erleben - Selber machen“; Quelle: Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH. Abb. 4 | Verleihung des Green Flag Awards an Parks in Sachsen-Anhalt 2016 im Elbauenpark Magdeburg; Foto: © Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt e. V. Abb. 5 | Banner „Schaustelle Gartenträume“ im Kloster Drübeck im Jahr 2005; Foto: © Gartenträume - Historische Parks in Sachsen-Anhalt e. V. Franz Gruber: DIE GARTEN TULLN. Das niederösterreichische Konzept einer nachhaltigen Gartenschau für die Gäste von morgen Abb. 1 | Eingangsbereich des GARTEN TULLN; Foto: © GARTEN TULLN GmbH. Abb. 2 | Baumwipfelweg im GARTEN TULLN; Foto: © GARTEN TULLN GmbH. Abb. 3 | Kletterpflanzengarten im GARTEN TULLN; Foto: © GARTEN TULLN GmbH. Jens Spanjer: Vom Einzelgarten zum europäischen Austausch. Das rheinländi‐ sche Schloss Dyck und sein breites Netzwerk Abb. 1 | Plan Englischer Landschaftsgarten Schloss Dyck von Thomas Blaikie 1819- 1834; Quelle: Stiftung Schloss Dyck. Abb. 2 | Besucherentwicklung Stiftung Schloss Dyck 2003-2020; Quelle: Stiftung Schloss Dyck. Abb. 3 | Gartenlust Schloss Dyck; Foto: © Stiftung Schloss Dyck. Abb. 4 | Schlossanlage der Stiftung Schloss Dyck, Träger des Europäischen Gartennet‐ zwerkes EGHN; Foto: © Stiftung Schloss Dyck. Beate Reuber: Gärten der Welt in Berlin. Eine Geschichte vom Bewahren, Entwickeln und Verändern Abb. 1 | Garten des wiedergewonnenen Mondes; Foto: © Peter Tiedt. Abb. 2 | Berghaus zum Osmanthussaft; Foto: © Peter Tiedt. Abb. 3 | Garten des zusammenfließenden Wassers; Foto: © Konstantin Börner. Abb. 4 | Balinesischer Garten; Foto: © Konstantin Börner. Abb. 5 | Orientalischer Garten; Foto: © Grün Berlin. Abb. 6 | Koreanischer Garten; Foto: © Konstantin Börner. Abb. 7 | Karl-Foerster-Staudengarten; Foto: © Grün Berlin. Abb. 8 | Italienischer Renaissancegarten; Foto: © Konstantin Börner. 432 Abbildungsnachweise Abb. 9 | Christlicher Garten; Foto: © Thomas Kossmann. Abb. 10 | Englischer Garten; Foto: © Grün Berlin. Abb. 11 | Gartenkabinett - Thailand; Foto: © Grün Berlin. Ronald Clark: Gärten als Imagefaktor. Das Beispiel der Herrenhäuser Gärten Abb. 1 | Tripadvisor-Kommentare in deutschen Gärten, häufigste Sprachen; Quelle: eigene Darstellung, Recherche bei Tripadvisor.de im September 2020. Abb. 2 | Suche mit Stichwort ‚Garten/ Gärten‘ auf den Internetseiten der Städte; Quelle: eigene Darstellung, Internetrecherche im September 2020. Abb. 3 | Suche mit Stichwort einzelner Anlagen auf den Internetseiten der Städte; Quelle: eigene Darstellung, Internetrecherche im September 2020. Abb. 4 | Screenshot der Startseite von www.hannover.de; Quelle: eigene Aufnahme. Abb. 5 | Besuche Herrenhäuser Gärten, Vergleich Mai bis Oktober 2019 und 2020; Quelle: Statistik Herrenhäuser Gärten, unveröffentlicht, November 2020. Abb. 6 | Herkunft der Gäste des Großer Gartens, Mai bis Oktober 2020, Angaben in Prozent; Quelle: Statistik Herrenhäuser Gärten, unveröffentlicht, November 2020. Abb. 7 | Herkunft der Gäste des Großer Gartens, Vergleich April bis Oktober 2019 bis 2020, Angaben in Prozent; Quelle: Statistik Herrenhäuser Gärten, unveröffentlicht, November 2020. Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim: Gartentourismus. Was sagt die Markt‐ forschung? Abb. 1 | Interessentenpotenzial der Urlaubsaktivität ‚Gärten/ Parks besuchen‘ im Jahr 2020; Quelle: in Anlehnung an inspektour (international) GmbH/ Deutsches Institut für Tourismusforschung (DITF) der FH Westküste (Hg.) (2020): DestinationBrand. 20. Studie zur Markenstärke von Urlaubszielen und zur Auswirkung der Coronavi‐ rus-Pandemie auf Destinationsmarken. Analyse zum allgemeinen Interessentenpoten‐ zial der Urlaubsaktivität „Gärten/ Parks besuchen“ auf dem Quellmarkt Deutschland, unveröffentlicht. Abb. 2 | Interessentenpotenzial der Urlaubsaktivität ‚Gärten und Parks besuchen‘ im Zeitverlauf 2010-2020; Quelle: in Anlehnung an Institut für Management und Tourismus (IMT) der FH Westküste (Hg.) (2010): DestinationBrand. 10. Studie zur Themenkompetenz deutscher Reiseziele, unveröffentlicht; Institut für Management und Tourismus (IMT) der FH Westküste (Hg.) (2013): DestinationBrand. 13. Studie zur Themenkompetenz deutscher Reiseziele, unveröffentlicht; inspektour GmbH (Hg.) (2016): DestinationBrand. 16. Studie zur Themenkompetenz deutscher Reiseziele, unveröffentlicht; inspektour GmbH (Hg.) (2017): DestinationBrand. 17. Analyse zum allgemeinen Interessentenpotenzial der Urlaubsaktivität „Gärten/ Parks besuchen“. Hamburg; inspektour (international) GmbH/ IMT der FH Westküste 2018/ 2019; inspek‐ tour (international) GmbH/ Deutsches Institut für Tourismusforschung (DITF) der FH Westküste (Hg.) (2020): DestinationBrand. 20. Studie zur Markenstärke von Urlaubszie‐ len und zur Auswirkung der Coronavirus-Pandemie auf Destinationsmarken. Analyse 433 Abbildungsnachweise zum allgemeinen Interessentenpotenzial der Urlaubsaktivität „Gärten/ Parks besuchen“ auf dem Quellmarkt Deutschland, unveröffentlicht. Abb. 3 | Beispiel eines Analysequadranten mit möglicher strategischer Positionierung der Destination mittels des Themas ‚Gärten und Parks‘; Quelle: in Anlehnung an inspektour GmbH (Hg.) (2016): DestinationBrand. 16. Studie zur Themenkompetenz deutscher Reiseziele, unveröffentlicht; Eisenstein, B./ Koch, A./ Müller, S./ Seeler, S. (2011): DestinationBrand 10-Themenstudie: Interpretation durch den Analyse-Qua‐ dranten, unveröffentlicht. Abb. 4 | Beispiel für ein Ergebnis bei der Ermittlung thematischer Verknüpfungspoten‐ ziale auf dem deutschen Quellmarkt im Jahr 2020; Quelle: in Anlehnung an inspektour (international) GmbH/ Deutsches Institut für Tourismusforschung (DITF) der FH West‐ küste (Hg.) (2020): DestinationBrand. 20. Studie zur Markenstärke von Urlaubszielen und zur Auswirkung der Coronavirus-Pandemie auf Destinationsmarken. Analyse zum allgemeinen Interessentenpotenzial der Urlaubsaktivität „Gärten/ Parks besuchen“ auf dem Quellmarkt Deutschland, unveröffentlicht. Carl Raml: Gartenreisen in der Gruppe. Die Entwicklung von Angebot sowie Kundinnen und Kunden im Wandel Abb. 1 | Typologie der Gartenbesucherinnen und -besucher; Quelle: Steinecke, A. (2018): Tourismus, Parks und Gärten. UVK, München, S. 60, in Anlehnung an Pröbstle, Y. (2014): Kulturtouristen. Eine Typologie. Kulturmanagement und Kulturwissenschaft, ohne Band. Springer VS, Wiesbaden, S. 304. Christian Antz: Slow Tourism und Gartenreisen. Über die neue Sehnsucht nach Langsamkeit, Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit Abb. 1 | Das Innen und das Außen - Wohnhaus und Garten Johann Wolfgang von Goethes in Weimar; Foto: © Christian Antz. Abb. 2 | Der Autor im Kaiserlichen Park von Laxenburg in Niederösterreich; Foto: © Christian Hlavac. Abb. 3 | Kinder in die Gärten - Schlosspark von Sanssouci in Potsdam; Foto: © Christian Antz. Abb. 4 | Kooperation zwischen Österreich und Deutschland im Rahmen der Aktion „Natur im Garten“ - Christian Antz, der heutige österreichische Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka, Sabine von Süsskind und Jochen Sandner; Foto: © Franz Gruber. Abb. 5 | Vordenken über die Initiative „Gartenträume“ in Sachsen-Anhalt - Christian Antz, Christa Ringkamp und der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker; Foto: © Christian Antz. 434 Abbildungsnachweise Tabellennachweise Klaus Neumann: Gärten und Parks im Wandel. Vom Paradiesgarten Eden über die Renaissancegärten bis zum IP-Gardening 4.0 Tab. 1 | ‚Theorie der langen Wellen‘ (Kondratieffzyklen) mit Typologie von Gärten und Parks; Quelle: eigene Darstellung. Tab. 2 | Entwicklung der Weltbevölkerung und der Menschen, die in Städten leben; Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2007; Statista, Weltbevölke‐ rung von 1950-2019. Heinrich J. Lübke: Grünräume, Gärten und Gesundheit. Eine Partnerschaft zwischen Mensch und Garten in unendlichen Facetten Tab. 1 | Wie wir Natur und Grünerfahrung bewerten; Quelle: Brämer, R. (1999): Varianten des Naturbegriffs. Versuch einer Orientierung. Online: www.wanderforsch ung.de/ files/ varbegriff1318319355.pdf, letzter Zugriff: 28.10.2020. Tab. 2 | Signifikante (p<0,002/ 0,001) und nicht signifikante gesundheitliche Verbesse‐ rungen bei längerem Aufenthalt in Grünanlagen und Parks; Quelle: Jones, A./ Two‐ hig-Bennett, C. (2018): The health benefits of the great outdoors: A systematic review and meta-analysis of greenspace exposure and health outcomes, in: Environmental Research 166, S. 628-637. Online: pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/ 29982151/ , letzter Zugriff: 11.11.2020. Tab. 3 | Verschiedene Raumcharaktere von Heilgärten; Quelle: Berggren-Bärring, A. M./ Grahn, P. (1995): Importance of the single park area on experienced characteristics. Ecological Aspects of Green Areas in Urban Environments. IFPRA World Congress Proceedings, Belgium. Steffen Wittkowske: Schulgärten: Orte zum Leben und Lernen Tab. 1 | Qualitätszielkonzeption Schulgarten; Quelle: in Anlehnung an Goldschmidt, B.; Ohlig, E. (2013): Der gute Schulgarten, in: Pädagogisches Landesinstitut Rhein‐ land-Pfalz (Hg.): Praxisratgeber Schulgarten. Bildung für nachhaltige Entwick‐ lung. PL-Information 3/ 2013, Bad Kreuznach, S. 99 f. Online: https: / / nachhaltigkei t.bildung-rp.de/ fileadmin/ user_upload/ nachhaltigkeit.bildung-rp.de/ Schulgarten/ PL_I NFO_Praxisratgeber_Schulgarten.pdf, letzter Zugriff: 22.02.2022. Volker Hühn: Von Immerblühern und Einjährigen. Der Gartenbuchmarkt im Wandel des Kundeninteresses Tab. 1 | Erste Preisträgerinnen und Preisträger des Buchpreises der Deutschen Garten‐ bau-Gesellschaft 1957-2022; Quelle: eigene Darstellung. Sibylle Eßer und Jochen Sandner: Von der Sortimentsschau zur integrierten Stadtentwicklung. Bundesgartenschauen (BUGA) und Internationale Garten‐ ausstellungen (IGA) als Impulsgeber Tab. 1 | Entwicklung der Gartenschauen über die Zeit; Quelle: eigene Darstellung. Christian Rast und Lukas Melzer: Landesgartenschauen. Zwischen Spaßver‐ anstaltung, Stadtentwicklung und Gesellschaftsrelevanz Tab. 1 | Landesgartenschauen und ihre Kennwerte nach Bundesländern; Quelle: Darstellung der ift GmbH 2021, unveröffentlicht. Bernd Eisenstein und Sarah Dornheim: Gartentourismus. Was sagt die Markt‐ forschung? Tab. 1 | Einordnung im Vergleich zu den Interessentenpotenzialen weiterer Themen und Aktivitäten; Quelle: eigene Darstellung nach inspektour (international) GmbH/ Deutsches Institut für Tourismusforschung (DITF) der FH Westküste (Hg.) (2020): DestinationBrand. 20. Studie zur Markenstärke von Urlaubszielen und zur Auswirkung der Coronavirus-Pandemie auf Destinationsmarken. Analyse zum allgemeinen Inte‐ ressentenpotenzial der Urlaubsaktivität „Gärten/ Parks besuchen“ auf dem Quellmarkt Deutschland, unveröffentlicht. Tab. 2 | Beispiel für ein Profil eines „Garden Tourist“ auf Grundlage von Daten aus Bulgarien, Rumänien, Österreich und Irland; Quelle: Bauer-Krösbacher; C./ Payer, H. (2012): Profiling the European Garden Heritage Tourist. Literature Review, Survey & Garden Expert Results, Report, Krems, S. 69. Tab. 3 | Inländische Top-Ten-Reiseziele zur ungestützten Themeneignung zu ‚Reisen zu Gärten/ Parks‘, Top of Mind bei der deutschen Bevölkerung; Quelle: eigene Darstellung nach inspektour GmbH (Hg.) (2016): DestinationBrand. 16. Studie zur Themenkompe‐ tenz deutscher Reiseziele, unveröffentlicht. 436 Tabellennachweise Layout Layout Prof. Dr. Christian Antz ist Professor am Deutschen Institut für Tourismusforschung an der Fachhochschule Westküste in Heide. Prof. Dr. Steffen Wittkowske lehrt Didaktik des Sachunterrichts an der Universität Vechta. www.uvk.de ISBN 978-3-7398-3021-6 Gärten und Parks sind Trendsetter der Zukunft Als Orte der Entschleunigung, als Gegenwelten der Ruhe und Sinnhaftigkeit sind Gärten und Parks die neuen alten Sehnsuchtsorte gestresster Städter: innen. Trotz dieser ungebrochenen Faszinationskraft hat die deutschsprachige Tourismusforschung das Thema der Gartenreise bisher meist stiefmütterlich behandelt. Hier leistet der vorliegende Sammelband wichtige Grundlagenforschung: Das Phänomen wird als Form des Slow Tourism erstmals interdisziplinär und umfassend beleuchtet. In den 25 interdisziplinären Beiträgen rückt der Garten dabei nicht nur als Ort der Entspannung in den Blick, sondern interessiert ferner in seiner touristischen, ökonomischen und nicht zuletzt gesellschaftlichen Dimension: Wie lassen sich etwa Bewahrung und zeitgemäße Nutzung historischer Parks zusammendenken? Wie wird der Gartentourismus zur Triebkraft in der Wertschöpfungskette einer Region? Diese und weitere Fragen diskutiert der Band anschaulich und sucht in Form von Anwendungsbeispielen stets den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Praxis.